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Antike Dichtungslehre

2012
978-3-7720-5462-4
A. Francke Verlag 
Roman Müller

Die antike Dichtungslehre zählt zu den Arbeitsfeldern, auf denen die literaturwissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte die größten Erkenntnisfortschritte verbuchen konnte. Von der Poetik des Aristoteles bis zu den von der Antike inspirierten poetologischen Werken der Renaissance und des Barock ist ein reiches Quellenmaterial teils neu ediert, kommentiert und bearbeitet, teils überhaupt erstmals bekannt und zugänglich geworden, sodass sich jetzt ein abgerundetes Bild der antiken Dichtungslehre gewinnen lässt. Es kritisch zur Darstellung zu bringen, ist das Ziel dieses Buchs, das nach Themenkreisen vorgeht und außer den Lehrschriften im weitesten Sinn auch die »Autorenpoetik«, die metapoetischen Texte oder Textpassagen in den Dichtungen selbst, ergänzend in die systematische Betrachtung einbezieht. Das Buch kommt breiterem kulturhistorischem und literaturästhetischem Interesse entgegen, denn die antike Poetologie hat bis ins 18. Jh. hinein, bis zum Paradigmenwechsel durch dieGenieästhetik, der europäischen Dichtung die Regeln der Kunst vorgegeben. sie ist noch heute ein Fundament, auf dem das Verständnis von Dichtung gründet.

Roman Müller Antike Dichtungslehre Themen und Theorien Antike Dichtungslehre Themen und Theorien Roman Müller Antike Dichtungslehre Themen und Theorien Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8462-1 Inhaltsverzeichnis 1 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie 9 1.1 Das archaische Grundkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Auf- und Ausbau des Begriffssystems der Theorie . . . . . . . . . 13 1.3 Fundierung der Dichtungstheorie und der Terminologie in Rom durch Varro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.4 Ideelles und terminologisches antikes Erbe . . . . . . . . . . . . . 21 2 Dichtung und Prosa 27 2.1 Unterscheidung nach der Redeform . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.2 Das Charakteristikum der Dichtkunst nach Aristoteles: Mimesis . 31 2.3 Verwischende Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.4 Roms R ¨ uckkehr zur formalen Differenzierung . . . . . . . . . . . 38 3 Dichtung und Rhetorik 45 3.1 Fr ¨ uhe Dichtung und vorsystematische Rhetorik . . . . . . . . . . 45 3.2 Distanz zwischen Dichtung und Rede . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.3 N ¨ ahe zwischen Dichtung und Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.4 Poetisierung der Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.5 Rhetorisierung der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4 Poetologie der Gattungen 71 4.1 Das Dreierschema Epik - Lyrik - Drama . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.2 Hauptkategorien der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.3 Gattungsunterscheidung nach der Versform . . . . . . . . . . . . 81 4.4 Gattungsunterscheidung nach dem Darstellungsmodus . . . . . . 87 4.5 Ausbau der platonisch-aristotelischen Gattungsdifferenzierung . 91 5 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit ¨ at 95 5.1 Der Stoffder Dichtung: Wahrheit oder Erfindung . . . . . . . . . . 95 5.2 Wirklichkeit und Dichtung nach Aristoteles . . . . . . . . . . . . . 102 5.3 Legitimierung der Fiktionalit ¨ at in hellenistisch-r ¨ omischen Theorien der Dichtungsstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.4 Das Horazische Gebot der Glaubw ¨ urdigkeit . . . . . . . . . . . . . 111 5.5 Das Ende der Kontroverse: ”Die fruchtbare Freiheit der Dichter“ . 114 6 Qualifikationsprofile des Dichters 119 6.1 G ¨ ottliche Inspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6.2 Sekund ¨ are Quellen der Inspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6.3 Angeborenes Talent - erworbenes K ¨ onnen . . . . . . . . . . . . . . 139 6.4 Nachahmung und ¨ Uberbietung von Musterautoren . . . . . . . . 154 6 7 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele 165 7.1 Das archaische Programm: Kunde geben, Freude stiften, Wissen vermitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 7.2 Information und Belehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 7.2.1 Die Gattungsproblematik der Lehrdichtung . . . . . . . . 172 7.2.2 Lehrfunktion und Poetizit ¨ at der Lehrdichtung . . . . . . . 175 7.3 Propagierung von Verhaltensnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 7.4 Wirkung auf die Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 7.4.1 Seelenlenkung (Psychagogie) . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7.4.2 Erregung von Mitleid und Furcht in der Trag ¨ odie . . . . . 201 7.4.3 Zuspruch von Trost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 7.4.4 Wecken von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 7.5 Freude und Vergn ¨ ugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 7.5.1 Freude und Vergn ¨ ugen, ein altes Ziel . . . . . . . . . . . . 217 7.5.2 Freude und Vergn ¨ ugen in hellenistischer Dichtungskritik . 221 7.5.3 Vergn ¨ ugen akustisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 7.5.4 Die Lusttheorie des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . 235 7.5.5 Freude und Vergn ¨ ugen in r ¨ omischer Perspektive . . . . . . 238 Bibliographie 247 Index 265 Zu diesem Buch Die antike Dichtungslehre (Poetologie) z ¨ ahlt zu den Arbeitsfeldern, auf denen die literaturwissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte die gr ¨ oßten Erkenntnisfortschritte verbuchen konnte. Den Auftakt gaben drei ’klassische‘ Publikationen: das dreib ¨ andige Kommentarwerk Horace on Poetry von C. O. Brink (Cambridge 1963-1982), die von R. Kassel unternommene moderne Edition der Poetik des Aristoteles (Oxford 1965) und die erste Fassung der Einf ¨ uhrung in die antike Dichtungstheorie von Manfred Fuhrmann (Darmstadt 1973), die in ¨ uberarbeiteter Form unter dem Titel Die Dichtungstheorie der Antike: Aristoteles - Horaz - ’Longin‘ . Eine Einf ¨ uhrung seither zwei Neuauflagen erfordert hat (Darmstadt 1992, D ¨ usseldorf 2003). Der Impetus h ¨ alt an, hat sich sogar noch verst ¨ arkt. Nach einer Vielzahl von Textausgaben, ¨ Ubersetzungen und Studien mit dem Fokus auf den Poetiken von Aristoteles und Horaz sind gerade letzthin große Werke zur Dichtungstheorie erschienen, die neue Horizonte er ¨ offnet haben: The Aesthetics of Mimesis von Stephen Halliwell (Princeton/ Oxford 2002), zum Schl ¨ usselbegriffder europ ¨ aischen darstellenden Kunst; die Aristotelische Poetik im Rahmen des Editionsprojektes Aristoteles, Werke in deutscher ¨ Ubersetzung, ¨ ubertragen und mit einem 700-seitigen Textkommentar neu erl ¨ autert von Arbogast Schmitt (Berlin 2008). Einem Quantensprung im Erkenntnisgewinn kommt schließlich die Rekonstruktion und Herausgabe der B ¨ ucher 1, 3 und 4 der Schrift ¨ Uber Gedichte (Philodemus, Περ ποιημ των ) des zur Zeit Ciceros bei Herculaneum wirkenden Philosophen, Kritikers und Literaten Philodemos von Gadara durch Richard Janko gleich (Philodemus, On Poems Book 1, Oxford 2000; Philodemus, On Poems, Books 3-4, Oxford 2011). Dank der philologisch bewundernswerten Textherstellung aus Papyrusfetzen, dank auch der gr ¨ undlichen Kommentierung haben wir jetzt einen ergiebigen Zugang zu hellenistischen Dichtungstheorien zwischen den Eckpfeilern Aristoteles und Horaz. Das unter der F ¨ uhrung von Janko und der Mitwirkung von D. L. Blank und D. Obbink laufende Projekt, die ¨ asthetischen Werke des Philodemos insgesamt zu rekonstruieren, ist ein Beweis f ¨ ur die fortdauernde Aktualit ¨ at der poetologischen Forschung, zugleich eine Ank ¨ undigung weiterer spektakul ¨ arer Ergebnisse. Parallel zu den Fortschritten in der Erschließung der antiken Dichtungslehre haben auch in deren Nachbargebieten große wissenschaftliche Leistungen den Rahmen ver ¨ andert, vor allem die Herausgabe der Aristotelischen Rhetorik, des Gegenst ¨ ucks zur Poetik, ¨ ubersetzt und kommentiert von C. Rapp (Berlin 2002), der Abschluß des von G. Ueding geleiteten Projektes Historisches W¨ orterbuch der Rhetorik (9 B ¨ ande, 1992-2009) und als Kr ¨ onung der Bem ¨ uhungen, das Fortwirken 8 der antiken Dichtungslehre in den Renaissance- und Barock-Poetiken ins Licht zu heben, die zweisprachige, kommentierte Publikation von J. C. Scaligers Poetices libri septem (1561) durch L. Deitz und G. Vogt-Spira (6 Bde.; Stuttgart u.a. 1994- 2011). Wie der Untertitel seiner Einf ¨ uhrung von 1992 verdeutlicht, hat Fuhrmann den Blick auf drei S ¨ aulen der Dichtungstheorie gerichtet: Aristoteles, Horaz und ’Longin‘ . Eine derartige Konzentration der Perspektive ist noch immer die Regel, soll aber hier ¨ uberschritten werden. Es ist das Ziel des Buches, eine breitere Synthese zur Dichtungslehre zu bieten, wobei die bekannten Standpunkte der ’Großen‘ weniger zu Wort kommen sollen als das Nachdenken vor, neben und nach ihnen. Insbesondere zur Poetik des Aristoteles ist durch die Werke von Fuhrmann, Halliwell, Schmitt, zuletzt (2009) durch den von O. H ¨ offe herausgebrachten Sammelband kompetenter Darstellungen soviel Wesentliches vorgetragen worden - z. B. zur Trag ¨ odien- und Epentheorie -, daß oft nur noch zu wiederholen w ¨ are, was schon wiederholt gesagt ist. Um das Spektrum der Anschauungen zu vervollst ¨ andigen, werden, wo es geboten erscheint, auch Selbstzeugnisse der Dichter in die Betrachtung einbezogen. In der Form von metapoetischen ¨ Außerungen oder von textimmanenter ’Autorenpoetik‘ liefern sie ein reichhaltiges Quellenmaterial, ohne dessen Auswertung ein deutliches Bild poetologischer Reflexion kaum zu erreichen w ¨ are. Behandelt wird die Materie in den Themenkreisen, die der antike Diskurs selbst in den Mittelpunkt ger ¨ uckt hat. Arbeiten zur antiken Dichtungslehre legen nicht nur theoretische Fundamente der alten literarischen Kunst frei, sondern Grundlagen der europ ¨ aischen Dichtung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, bis zur Abl ¨ osung der Regelpoetik durch die Genie ¨ asthetik. Das griechisch-r ¨ omische Poesieverst ¨ andnis hat ¨ uber Renaissance- und Barockpoetiken sowie klassische Musterautoren die europ ¨ aische Dichtung gepr ¨ agt, in der Terminologie bis heute, wie das 1. Kapitel einf ¨ uhrend veranschaulichen wird. Das Buch wendet sich daher auch an einen gr ¨ oßeren literatur- und kulturwissenschaftlichen Interessentenkreis. Mit R ¨ ucksicht auf dieses Leserpublikum, namentlich aus den Bereichen der neueren Literaturen, sind der Darstellung erkl ¨ arende Erg ¨ anzungen beigegeben worden (Lebensdaten von Autoren, Charakterisierung von Werken usw.), und die Zitate aus griechischen und r ¨ omischen Quellen werden in ¨ Ubersetzung geboten, unter Beif ¨ ugung des Originaltextes, wie es inzwischen verbreitet gehandhabt wird. Die bibliographischen Angaben sind aus ¨ okonomischen wie aus praktischen Gr ¨ unden auf das Wichtige und Aktuelle hin ausgerichtet. Der am Thema Interessierte aus Nachbarwissenschaften findet zu jedem Kapitel die Titel genannt, die ihm weiterhelfen; wer ”vom Fach“ ist, bedarf im Zeitalter der Ann´ ee philologique und spezieller Datenbanken ohnehin nicht mehr der Fußnotenparaden von ehedem. Auf h ¨ aufiger zitierte Werke wird mit Abk ¨ urzungen verwiesen (Verfasser, Publikationsjahr). 1 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie 1.1 Das archaische Grundkonzept Geht man vom heutigen Begriffvon Dichtung aus, obwohl er mit den Vorstellungen in der fr ¨ uhen Antike nicht ¨ ubereinstimmt, so begegnet als ¨ alteste Bezeichnung des Objektbereichs das schon bei Homer (in der unkontrahierten Form οιδ ) belegte δ ( ¯od´¯e ), ’Lied‘ . Es geh ¨ ort zur Familie ε δειν ’singen‘ und erinnert an die urspr ¨ ungliche Einheit von Verskunst und Gesang. Jede der auf archaische, in ¨ altester Zeit nur m ¨ undlich tradierte, allm ¨ ahlich verfestigte Vorformen zur ¨ uckgehenden Ependichtungen aus den Anf ¨ angen der verschriftlichten Literatur in Griechenland ist das ’Lied‘ eines von der Gottheit inspirierten ’S ¨ angers‘ ( οιδ ς aoid ´ os), geschaffen f ¨ ur den instrumental begleiteten Vortrag an Herrenh ¨ ofen, zum Ruhme der G ¨ otter und zur Verherrlichung großer, beispielhafter Taten der Vergangenheit. Brachte schon die Verschriftlichung des m ¨ undlichen Liedgutes in den Homerischen Epen des 8. Jahrhunderts v. Chr. einen einschneidenden Wandel, weil die ’Lieder‘ von da ab nicht nur fixiert bewahrt, sondern ’Literatur‘ im eigentlichen Wortsinn geworden (litterae = ’Buchstabenfolgen‘ ), auch gelesen und kopiert werden konnten, so trat im 7. Jahrhundert mit dem Rhapsoden neben dem sch ¨ opferischen Dichters ¨ anger ein reproduzierender Vermittler der epischen Kunst auf den Plan. Aber auch das Publikum der Liedvortr ¨ age wandelte sich: Im Zuge der sozialen Entwicklung verlagerte sich der Zuh ¨ orerkreis von den Adelsgesellschaften der F ¨ urstenh ¨ ofe zu den B ¨ urgergemeinschaften der Poleis, die aus Anlaß von Festen S ¨ anger und Rhapsoden auftreten ließen. Ebenfalls mit einem Namen f ¨ ur ’Lied, Weise‘ , mit μ λος (m´ elos), wurde in alter Zeit im Griechischen ein Teil der Dichtung gekennzeichnet, die seit der alexandrinischen Aufarbeitung der Literatur (3.-1. Jh. v. Chr.) unter dem Titel ’Lyrik‘ subsumiert wird. Erstmals erscheint μ λος in einer Ode Pindars (5. Jh.), in der von einem ”Gesang des Archilochos“ die Rede ist. 1 Wegen der musikalischen Grundbedeutung m ¨ ußte die ’melische Dichtung‘ alle nichtepische und nichtdramatische Poesie umfaßt haben, die singend oder rezitierend, im allgemeinen instrumental begleitet zum Vortrag gebracht wurde. Die Abgrenzungen bleiben jedoch f ¨ ur uns unscharf, weil die Darbietungsweisen der einzelnen Dichtungsarten nicht mit Sicherheit bestimmt werden k ¨ onnen. Es muß aber auch schon fr ¨ uh, wohl von Anfang an, Unentschiedenheit geherrscht haben, wie weit die Melik 1 Pindar, Olympische Ode 9, 1: Τ μ ν Αρχιλ χου μ λος . In der wissenschaftlichen Literatur, die sich die Nachpr ¨ ufung von Stellenangaben erspart, wird f ¨ alschlicherweise Archilochos selbst als Zeuge des Wortgebrauchs angegeben. 10 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie reicht, denn Elegie und Epigramm wurden ihr in der Regel nicht zugeschlagen, obwohl Gesang und Instrumentalbegleitung ¨ ublich waren. ’Lied, Gesang‘ im weitesten Sinn, der anfangs sogar eine epische Dichtung inkludieren konnte, war schließlich eine Vorstellung, die auch das griechische μνος (h ´ ymnos) in der Fr ¨ uhzeit vermittelte. Der Erstbeleg in der Odyssee 8, 429 liefert die Best ¨ atigung: Der Phaiakenk ¨ onig l ¨ aßt wertvolle Geschenke f ¨ ur den unbekannten, gastfreundlich aufgenommenen Fremdling zum Abendgelage herbeischaffen, damit er heiter gestimmt ”am Mahl sich freue und lausche dem Lied ( μνος ) des S ¨ angers“. Das Lied, das Demodokos vortragen wird, wird besingen, wie die Griechen mit Hilfe des h ¨ olzernen Pferdes Troia ¨ uberw ¨ altigt haben. μνος bezieht sich demnach hier eindeutig auf den Gesangsvortrag einer Ependichtung. Die Spezialisierung auf - solistisch oder im Chor aufgef ¨ uhrte - Lieder f ¨ ur bzw. an G ¨ otter sowie außerdem auf Lobpreisungen hervorragender M ¨ anner hat sich erst um das 5. Jh. v. Chr. ergeben. Trotz tiefgreifender Ver ¨ anderungen in der Gedichtbehandlung im Lauf der Zeit - im Darbietungsmodus die Niederschrift, die Verbreitung durch Kopien, der ¨ Ubergang zum Sprechvortrag und zum Vorlesen; in der Rezeption die Lekt ¨ ure -, obendrein auch trotz der wachsenden Konkurrenz der Begriffsgruppe πο ησις (po´ı ¯ esis) hat die auf ’Lied, Gesang‘ zur ¨ uckweisende terminologische Basis sich ¨ uber die Antike hinaus vielfach behaupten k ¨ onnen. Von Kallimachos (320/ 303 bis nach 245 v. Chr.), dem Vorbild von Catull und Horaz, gibt es zum Fortbestand des alten Konzepts in einer ver ¨ anderten Wirklichkeit ein sehr bezeichnendes Zeugnis. In der Elegiensammlung Aitia, in der er sein poetisches Credo niedergelegt hat, nennt er sich von Apollon berufen und inspiriert, ist er als Dichter nur ’S ¨ anger‘ ( ε δω ’ich singe‘ ), seine Dichtung ist ’Gesang‘ ( οιδ ). Doch einmal durchbricht er die traditionell aufrechterhaltene Illusion: Er l ¨ aßt wissen, daß das Dichten Schreibarbeit bedeutet; ihr Ergebnis ist - so bleibt zu folgern - f ¨ ur die Lekt ¨ ure bestimmt. Enthalten ist der Einbruch der Realit ¨ at in den Worten, mit denen er auf seine Anf ¨ ange zu sprechen kommt: ”Als ich zum ersten Mal eine Schreibtafel auf meine Knie legte. . .“. 2 Im r ¨ omischen Diskurs ¨ uber Dichtung ist die griechische Begrifflichkeit ¨ ubernommen, ja sogar gefestigt worden. Die Entlehnung war unumg ¨ anglich, weil das Lateinische auf Grund seines sp ¨ aten Aufstiegs aus der Bauern- und Kriegersprache Latiums kein eigenes, dem Griechischen ebenb ¨ urtiges Instrumentarium f ¨ ur das wissenschaftlich-theoretische Denken bereitstellen konnte. Bis hin zur Ausbaustufe, die mit dem sog. Klassischen Latein erreicht wurde, haben Generationen von Dichtern, Fachgelehrten und Grammatikern daran gearbeitet, die patrii sermonis egestas (”die D ¨ urftigkeit unserer Sprache“, Lukrez 1, 832) zu beheben, großenteils durch Wort- und Bedeutungsentlehnungen aus der Nachbarsprache 2 Kallimachos, A´ıtia, frg. 1 Pfeiffer = 1 Asper. Das archaische Grundkonzept 11 oder durch Lehnbildungen nach deren Mustern. Im Zuge der terminologischen Auff ¨ ullung des Lateinischen hat die r ¨ omische Poetologie zur Charakterisierung ’lyrischer‘ Dichtungsarten vom griechischen Adjektiv μελικ ς unter anderem auch die Bezeichnung ’melisch‘ bezogen: melicus. Cicero nutzte sie f ¨ ur eine Typologie der Poesie; er unterschied mit ihrer Hilfe das tragische, das komische, das epische, das dithyrambische und das ’melische‘ Poem (poema melicum). 3 Die Abgrenzungen zwischen ’melisch‘ und ’lyrisch‘ blieben in der r ¨ omischen Dichtungslehre genauso fließend wie in der griechischen. Geradezu mit H ¨ anden zu greifen ist vom Griechischen aus gesehen die Kontinuit ¨ at, vom Lateinischen aus betrachtet die stereotype ¨ Ubernahme der Zuordnung der Dichtung zum Gesang. Daß der r ¨ omische Ependichter in der Homer- Nachfolge an den Anfang seines Werkes die Bitte stellt, es m ¨ oge die Gottheit ’singen‘ bzw. zu ’singen‘ inspirieren, was kundzugeben sei, oder, wie Vergil in der Aeneis (1, 1) mit dem Eingangsvers Arma virumque cano. . . als erstes benennt, was er mit dem Beistand der Musen ’besingen‘ will, ist dabei ein gattungsspezifischer Er ¨ offnungstopos. Doch auch außerhalb der Epik herrscht in Rom weiter die Konvention, vom ’Dichten‘ als ’Singen‘ zu sprechen. Belege von canere in dieser Funktion sind schon von Ennius ab (239-169 v. Chr.) ¨ uberliefert; sp ¨ ater, im erweiterten Sinn, bedeutet canere ’ein poetisches Werk schaffen‘ , was wir bei Apuleius finden: canit enim Empedocles carmina, Plato dialogos, Socrates hymnos. 4 Zu canere ist ein ganzer Kranz poetischer Bezeichnungen gebunden worden: F ¨ ur ’Gedicht, Dichtung‘ cantus, eine Form, die Vergil mit dem Musenanruf cantumque movete ’und f ¨ uhrt den Gesang aus‘ sanktioniert hat; 5 f ¨ ur ’Gedicht, Dichtung‘ aber vor allem carmen , dessen Herleitung von ∗ can-men die Zusammengeh ¨ origkeit mit dem Verb canere beglaubigt. Schließlich ist noch cantare hinzugekommen, die Basisform des Verbs in den romanischen Sprachen. Dokumentiert wird sie zugleich mit carmen von den ber ¨ uhmten Versen des auf seine poetische Originalit ¨ at 3 Cicero, De optimo genere oratorum, 1. 4 Apuleius, Florida 20, 11f. Catull und die augusteischen Dichter (u. a. Vergil, Horaz, Ovid) verwenden zuweilen auch dicere f ¨ ur ’(be)singen, dichten‘ , meistens in feierlichem, gehobenem Ton, oft in Zusammenhang mit g ¨ ottlicher Inspiriertheit oder Musenanrufen, vgl. Horaz’ Bitte an Kalliope, durch seinen Mund ein langes Lied anzustimmen: dic age. . . longum melos (carm. 3, 4, 1f.). Zur Stilh ¨ ohe von dicere von Albrecht, Zum Metamorphosenprooem Ovids, in: RhM 104, 269-278. Gleichzeitig, aber stilistisch weniger anspruchsvoll, erscheint auch loqui, vgl. Horaz, carm. 3, 25, 18: nil mortale loquar. ”Nicht will ich besingen, was sterblich ist“. Der Gebrauch von loqui, der damit begonnen hatte, daß Musikinstrumente ’redeten, sangen‘ (vgl. Lukrez 4, 981: chordas. . . loquentes / auribus accipere ”sprechende/ singende Saiten. . .“), hat sich in der sp ¨ atlateinischen Dichtung sehr ausgeweitet. 5 Vergil, Aeneis 7, 641; 10, 163. 12 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie stolzen Horaz: Carmina non prius / Audita Musarum sacerdos / Virginibus puerisque canto (”Lieder, wie sie nie zuvor geh ¨ ort wurden, will ich als Musenpriester den Knaben und M ¨ adchen singen“). 6 Carmina nennt Horaz seine Oden. Aber neben dem Bezug auf ’Lyrik‘ , den sein Titel bezeugt, hat carmen im weiteren Sinn Werke der Verskunst ¨ uberhaupt bezeichnen k ¨ onnen. Aus diesem Grund durfte Quintilian schreiben, daß viele es dahin gebracht h ¨ atten, etwas aus dem Stegreif zu schaffen, ”und dieses gl ¨ uckliche Ergebnis haben viele nicht nur in der Prosa erreicht, sondern auch in der Verskunst“ (etiam in carmine). 7 Die hier bezeugte Ausweitung des Begriffs hatte schon in der Fr ¨ uhzeit der lateinischen Literatur begonnen. Wenn n ¨ amlich die Gattung ’Epos‘ zur Sprache kam, wurden griech. δ , οιδ (’Lied, Gesang‘ ) und "πος (’Rede, Erz ¨ ahlung‘ , ’Epos‘ ) mit carmen wiedergegeben, was sich insofern anbot, als das lateinische Wort von Hause aus religi ¨ ose Ges ¨ ange und Hymnen, in der Regel gleichfalls in metrischer Form, bezeichnete. So war schon f ¨ ur Accius (geb. 170 v. Chr.) die Ilias ein carmen. 8 Man versteht, daß auch die sp ¨ atantiken christlichen Dichter carmina die zahlreichen, meist hexametrischen Erz ¨ ahlungen nannten, die von Glaubenswundern, frommen M ¨ annern und Taten sowie der Verdammnis der Heiden berichteten. Bei solch umfangreicher Aneignung und Anverwandlung griechischer Begrifflichkeit f ¨ allt auf, daß dem Dichters ¨ anger οιδ ς in Rom nichts Gleichwertiges aus der Schwestersprache an die Seite gestellt worden ist. Das ist zum einen damit zu erkl ¨ aren, daß die Kunstpoesie im Lateinischen von Anfang an weitestgehend als Schrift- und Buchpoesie realisiert wurde, lediglich Trag ¨ odie und Kom ¨ odie boten regelm ¨ aßig Verse mit Gesang, doch war der Vortrag Sache der Schauspieler, der Autor hatte nur den Text zu liefern. Zum anderen wurde wohl versucht, hier eine einheimische Benennung zur Geltung zu bringen. Wenn historisch zutrifft, was Varro berichtet, dann h ¨ atte schon im fr ¨ uhesten Lateinischen vates, anfangs belegt f ¨ ur ’Weissager, Seher‘ , auch als Bezeichnung f ¨ ur den ’Dichter‘ gedient. 9 6 Horaz, Carmina 3, 1, 2ff. 7 Quintilian, Institutio oratoria 10, 7, 19. 8 Accius (bei Gellius, Noctes Atticae 3, 11, 5): cum in principio carminis Achillem esse filium Pelei diceret. 9 Varro, De lingua Latina 7, 36: antiquos poetas vates appellabant a vorsibus viendis. [Einige Herausgeber ¨ andern antiquos in antiqui]. Die Herleitung a versibus viendis [”benannt nach dem Flechten der Verse“], deren Wiederholung in De poematis Varro gleichzeitig ank ¨ undigt, ist nat ¨ urlich reine Erfindung. Zugrunde liegt eine indogerm. Wurzel ∗ u “ ¯ at, ’innerlich angeregt sein; dichterische Begeisterung, Aufregung‘ (Walde-Hofmann II, 1982: 738f.). In mehreren indogerm. Sprachen hat die Wurzel Bezeichnungen f ¨ ur ’Dichter‘ , ’Gesang‘ , ’Poesie‘ ergeben. Im Altlateinischen w ¨ are demnach ein vates ’Dichter‘ auch m ¨ oglich gewesen, obwohl zun ¨ achst, von Plautus ab (Miles 911), nur ’Seher, Prophet‘ ¨ uberliefert ist. Auf- und Ausbau des Begriffssystems der Theorie 13 Semantisch leuchtet die Assoziation durchaus ein, besaßen doch Dichter und S ¨ anger nach ¨ alterer Auffassung ebenso wie Weissager und Seher dank g ¨ ottlicher Inspiration die Gabe des h ¨ oheren Wissens und der Prophetie. Das Fehlen einer Lehnform aus dem Griechischen scheint die eigenst ¨ andige Terminologiebildung des Lateinischen mit vates zu best ¨ atigen. Dennoch ist nicht auszuschließen, daß vates erst durch Varros Gunst als poetischer Terminus verbreitet worden ist. Großen Zuspruch fand er bei den Augusteern, weil er die Auserw ¨ ahltheit und Berufung des Dichters betonte. Diese Note schwingt mit, wenn Horaz in der Widmungsode der Carmina den Freund und F ¨ orderer Maecenas bittet, ihn unter die lyrici vates, die altgriechischen ’Lyrikdichter‘ , einzuordnen und durch sein Lob zu den Sternen emporzuheben. 10 Soziologisch bot vates den Augusteern die M ¨ oglichkeit, den ’berufenen‘ , von seiner Sendung und seinem K ¨ onnen ¨ uberzeugten, in hohem Ansehen stehenden Dichter abzuheben vom Versproduzenten, f ¨ ur den der inzwischen gel ¨ aufige und daher indifferente Gr ¨ azismus poeta zur Verf ¨ ugung stand. Umgekehrt zu Ennius, der seinerzeit dem effektvolleren Neologismus poeta den Vorzug gegeben hatte, sch ¨ atzte man nun wieder den vates h ¨ oher ein. Hierauf werden wir noch einmal zur ¨ uckkommen, wenn wir im folgenden dasjenige Begriffssystem betrachten, das bis heute das Nachdenken und Reden ¨ uber Dichtung gew ¨ ahrleistet hat. 1.2 Auf- und Ausbau des Begriffssystems der Theorie Im 5. Jh. v. Chr. hatte sich im Griechischen anstelle der Familie ε δω , attisch #$δω , ’singen, besingen‘ , ein vom Verb ποιε%ν (poie´ın) ’herstellen, schaffen‘ ausgehendes Vokabular im Objektfeld ’Dichtung‘ durchgesetzt. Die terminologische Entwicklung etablierte πο ησις (po´ı ¯ esis) ’sch ¨ opferische T ¨ atigkeit‘ im engeren Sinn als Ausdruck f ¨ ur ’Dichtung‘ und ποιητ ς ( poi¯et´¯es ) ’Sch ¨ opfer, Urheber, T ¨ ater‘ als Wort f ¨ ur ’Dichter‘ , daneben πο ημα (po´ı ¯ ema) ’Erzeugnis, Werkzeug‘ f ¨ ur ein einzelnes ’Gedicht‘ sowie das Adjektiv ποιητικ ς (poi ¯ etik ´ os) ’schaffend, sch ¨ opferisch‘ f ¨ ur die Pr ¨ adikation ’dichterisch‘ . Letzteres begegnet auch in der Bezeichnung τ χνη ποιητικ (t ´ echn ¯ e poi¯etik´¯e ) ’poetische Kunst‘ , der Ausgangsform f ¨ ur ars poetica im Lateinischen und - ¨ uber deren elliptische K ¨ urzung - f ¨ ur dt. Poetik, franz. po´ etique, engl. poetics usw. Im poetologischen Bezeichnungssystem, das die R ¨ omer aus dem Fundus des Griechischen holten, begegnet die auf πο ησις zur ¨ uckgehende zentrale Lehnform poesis erstaunlich sp ¨ at. Erstmals faßbar f ¨ ur uns wird sie in einem Fragment des Satirikers Lucilius, das zugleich mit der Begriffserl ¨ auterung von poesis und poema 10 Horaz, Carmina 1, 1, 35. Verwendung und Funktion von vates in der augusteischen Dichtung analysiert J. K. Newman, The concept of vates in Augustan poetry, Bruxelles 1967. Unabh ¨ angig von ihm, mit grundlegender Untersuchung der Anf ¨ ange der Bezeichnung, Suerbaum 1968: 257ff. 14 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie hellenistische Unterschiede festh ¨ alt, die auf Theophrast zur ¨ uckgehen d ¨ urften. In dem vom sp ¨ atlateinischen Grammatiker Nonius Marcellus (sp ¨ ates 4. oder fr ¨ uhes 5. Jh. n. Chr.) ¨ uberlieferten Fragment der zwischen 132 bis sp ¨ atestens 103 v. Chr. verfaßten Saturae 11 definiert Lucilius: ”poema ist nur ein kleiner Teil der poesis; auch ist jede Epistel in Versen, die nicht lang ist, ein poema. Poesis aber ist ein Gesamtwerk, wie zum Beispiel die Ilias oder die Annalen des Ennius, Einheit von θ σις und "πος , und ist viel gr ¨ oßer als das, was ich eben poema nannte.“ 12 Lucilius hat die Auslegung mit der Du-Anrede an einen Adressaten eingeleitet, der noch nicht wisse, was die Bezeichnungen bedeuteten und wie sie sich unterschieden. Gekleidet ist das Ganze in die Form einer Belehrung, die ein Kenner der Materie an einen Erkl ¨ arungsuchenden, wohl einen Sch ¨ uler, richtet. Da poesis ebenso verf ¨ ugbar angesprochen und semantisch abgegrenzt wird wie poema, muß der Terminus in der r ¨ omischen Dichtungstheorie auch schon vor l ¨ angerer Zeit heimisch geworden sein, wahrscheinlich nicht sp ¨ ater als poeta und poema. Die Lektion, die Lucilius erteilt, weist auf Unsicherheiten im Gebrauch der Ausdr ¨ ucke hin. Ergeben hatten sie sich zum Teil aus der Tendenz hellenistischer Theoretiker, mit πο ημα vorzugsweise von den vers- und sprachkompositorischen (formalen) Aspekten eines Werkes zu reden und πο ησις im besonderen im Zusammenhang mit der thematisch-stofflichen (inhaltlichen) Ausgestaltung zu verwenden. Zugrunde lag diesen Begriffserweiterungen die Erfahrungsregel, daß kleine Gedichte eher durch die Form beeindrucken als durch den Inhalt, w ¨ ahrend bei gr ¨ oßeren Werken umgekehrt der Inhalt durch seine F ¨ ulle und seine Variation die st ¨ arkere Wirkung hinterl ¨ aßt. Der von Cicero hochgesch ¨ atzte stoische Philosoph Poseidonios (ca. 135-ca. 51 v. Chr.) hat die in πο ημα und πο ησις hineingelegte Form-Inhalt-Unterscheidung am klarsten beschrieben. Unter πο ημα will er eine metrisch oder rhythmisch organisierte, kunstvoll gemachte Wortfolge verstanden wissen, die die Prosa ¨ ubersteigt; unter πο ησις dagegen die sinntragende Seite der Dichtung, in der die Mimesis (’Nachbildung‘ ) von G ¨ ottlichem und Menschlichem geboten wird. 13 Varro (116-27 v. Chr.) hat in einer anderen fr ¨ uhen und wichtigen Definition diese Auffassung mit der Interpretation wiedergegeben, daß poema die lexis (die Wortanordnung), poesis aber das perpetuum argumentum (den Stoffkomplex) betreffe. 14 11 Die Lebensdaten des Lucilius sind nicht sicher bestimmbar. Die angegebene Datierung der Satirendichtung ist die von Krenkel: Lucilius I (1970), 23f. ermittelte. 12 Frg. 376-85 Krenkel: primum hoc, quod dicimus esse ’poema‘ : / pars est parva ’poema‘ < poesis > ˘ ¯ ˘ ˘ ¯ ˘ / < metrica > epistula item quaevis non magna poema est. / illa ’poesis‘ opus totum, ut tota Ilias una est, / una θ σις sunt Annales Enni atque πος unum, / et maius multo est quam quod dixi ante ’poema‘ . 13 Frg. ¨ uberliefert bei Diogenes La ¨ ertios, VII, 60 [= F44 Kidd (Posidonius, Fragments) = Long 1964]: πο ησις δ (στι σημαντικ ν πο ημα, μ μησιν περι χον θε ων κα νθρωπε ων. 14 In einem Frg. von Varros Menippeischer Satire Parmeno, deren Entstehungszeit in die Auf- und Ausbau des Begriffssystems der Theorie 15 Die Nachwelt hat die hellenistisch-fr ¨ uhr ¨ omische Begriffstrennung nicht beibehalten. In Erweiterung der bei Lucilius bereits vorhandenen quantitativen Differenzierung hat sie poema insbesondere f ¨ ur ’kleines Gedicht‘ gesetzt und poesis prim ¨ ar f ¨ ur das ’große‘ sowie f ¨ ur die Funktion, die ’Dichtung im generellen Sinn‘ und die ’poetische Kunst‘ zu bezeichnen. Hier ist nun noch auf einen besonderen poetologiehistorischen Aspekt der Form-Inhalt-Teilung des Gedichts einzugehen. Der bei Herculaneum lebende Philosoph und Literaturtheoretiker Philodemos, ein Zeitgenosse Ciceros, hat sie in seinem Opus ¨ Uber Gedichte ( Περ ποιημ των ) grunds ¨ atzlich verworfen, zumal da einige Zunftgenossen als drittes konstitutives Element 15 die Pers ¨ onlichkeit und das K ¨ onnen des Dichters herausgestellt hatten. Die Folge war gewesen, daß die Dichtungstheorie außer der Dichtung auch den Dichter selbst in den Blick nahm, 16 wozu ja wohl bereits Aristoteles mit dem (verlorenen) Dialog ¨ Uber Dichter, jedenfalls aber mit Ausf ¨ uhrungen zur Korrespondenz von Autor und Werk in seiner Poetik einen ersten Anstoß gegeben hatte. 17 Philodemos tritt f ¨ ur die vollkommene konzeptionelle und performative Einheit des Gedichts ein; sie ließe sich weder produktionspoetologisch noch aspektual aufteilen in πο ημα (Sprach- und Verskomposition), πο ησις (Inhalt und dessen Arrangement) und ποιητ ς (Dichterpers ¨ onlichkeit). Erschien ihm die Trennung der Faktoren sachfremd, so verurteilte er die Herausstellung des Autors gar als eine absurde Idee. Speziell richtete sich Philodemos’ scharfe Kritik gegen Neoptolemos von Parion (3. Jh. v. Chr.). Sie gewinnt dadurch an Interesse, daß dessen (verlorene) Poetik die Ars poetica des Horaz nach antikem Zeugnis unmittelbar beeinflußt haben soll. Hier dr ¨ angt sich die Frage auf, ob die Drei-Kategorien-Doktrin, die Spanne zwischen 80 und 60 v. Chr. f ¨ allt, heißt es: poema est lexis enrythmos, id est verba plura modice in quandam coniecta formam, [ . . . ] poesis est perpetuum argumentum e rhythmis, ut Ilias Homeri et annalis Enni. (Varro, Saturae Menippeae, frg. 398 Astbury). 15 Philodemos spricht in Buch 5, col. XIV, 24 und col. XV, 28 von ε)δη (Mangoni: Filodemo V, 1973). Mangoni, 223, interpretiert ε*δος als ’specie (di un genere, parte, forma)‘ ; Brink I, 1971: 58 als ’part, element, aspect‘ . 16 ¨ Ubersicht ¨ uber die Schriften, die sich in der Folge mit dem Dichter befaßten, bei R. Janko, Philodemus’ On Poems and Aristotle’s On Poets, in: Cronache Ercolanesi 21 (1991), 58. 17 Aristoteles, Poetik 1448b25, verbindet Dichtung mit dem Charakter der Dichter: ”Die Ernsthaften ahmen sch ¨ one Handlungen und die ebensolcher Charaktere nach, die Leichtfertigen das Handeln gew ¨ ohnlicher Charaktere.“ A. Schmitt: Aristoteles, Poetik, 2008: 286ff., dessen Version ich wiedergebe, weist entgegen der Auslegung, es handle sich um ein Fehlurteil, mit einer auf die Gef ¨ uhlsebene gest ¨ utzten Argumentation nach, daß Aristoteles eine Affinit ¨ at zwischen dem Dichter und seinem Werk zu Recht annehmen konnte. 16 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie Neoptolemos seiner Poetik zugrundegelegt haben muß, unmittelbare Spuren bei Horaz hinterlassen hat. Sie ist nicht eindeutig zu beantworten, zumal da Horaz es ingeni ¨ os verstanden hat, die Themenkreise der Ars zu einer einheitlich wirkenden Oberfl ¨ achenstruktur zu verweben. 18 Immerhin ist bemerkenswert, daß im zweiten Hauptteil seiner Lehrepistel, ab v. 295, die Person des Dichters das eigentliche Thema bildet. 19 Horaz hat der seinerzeit aktuellen Erweiterung der Poetologie auf das Verh ¨ altnis Autor - Werk offenkundig Rechnung getragen, sei es in direkter Abh ¨ angigkeit von Neoptolemos, sei es in Anpassung an eine poetologische ’Mode‘ . Schriftlich bezeugt ist die Entlehnung der poetologischen Grundbegriffe ins Lateinische vom Ende des 3. Jhs. v. Chr. ab, und zwar nach vorherrschender Meinung mit Beginn bei Naevius (ca. 265 bis Anfang des 2. Jhs. v. Chr.), der sich selbst den Namen poeta als Auszeichnung beigelegt zu haben scheint, 20 sicher aber bei Ennius (239-169), der außer f ¨ ur poeta 21 und poema 22 auch noch f ¨ ur ein 18 C. Jensen, der Buch 5 von Philodemos’ Schrift ¨ Uber Gedichte rekonstruierte, l ¨ oste die von Norden 1905 angesetzte Zweiteilung ars/ τ χνη (v. 1-294): artifex/ τεχν της (v. 295-476) in eine Dreiteilung mit folgenden Abschnitten auf: πο ησις / res (v. 1-44), πο ημα / facundia (45-294), ποιητ ς / poeta (295-476). (Jensen, Philodemos 5, 1923: 143). Auch Brink (I, 1963: 72f.) geht in seinem Kommentar zur Ars poetica von einer Dreiteilung des Werkes aus, w ¨ ahrend Manfred Fuhrmann ( 2 1992: 127ff.) f ¨ ur die Teilung in einen ”werk ¨ asthetischen“ Teil (1-294) und einen ”produktions- und wirkungs ¨ asthetischen“ (295-476) pl ¨ adiert. 19 So auch Fuhrmann 3 2003: 128. 20 Wie Gellius unter Berufung auf Varro mitteilt, habe Naevius das in den Noctes Atticae (Gell. 1, 24, 2) ¨ uberlieferte Grabepigramm mit der W ¨ urdigung des Naevius poeta selbst verfaßt. Die Frage der Autorschaft behandelt ausf ¨ uhrlich Suerbaum 1968: 31-41 [Schlußfolgerung: ”. . . nicht unm ¨ oglich, daß das Naevius-Elogium wirklich (wie es Gellius betont) vom Dichter selbst stammt“]. Eine Best ¨ atigung, daß Naevius den Titel poeta zur Selbstbezeichnung verwandt hat, ist m ¨ oglicherweise in der Drohung der Metelli gegen Naevius poeta und in der sp ¨ ater stereotypen Koppelung seines Namens mit der Dichterbezeichnung zu sehen. 21 Mit dem hohen Anspruch, eine neue Dichtkunst zu vertreten, hat Ennius f ¨ ur die Vorg ¨ anger nur Verachtung ¨ ubrig. Von ihren Werken spricht er als Versen quos olim Fauni vatesque canebant (ann. 214 Vahlen). Cicero hat uns ¨ uberliefert, daß vates vor allem auf Naevius zielte (Brut. 71-76). Das Wort bezeichnete im gegebenen Kontext einen altmodischen, nicht mehr zeitgem ¨ aßen Versifikator. Die absch ¨ atzige Verwendung geht insbesondere daran auf, daß Ennius den Titel poeta sehr wohl gekannt, aber nur f ¨ ur zwei Tr ¨ ager reserviert hat: f ¨ ur sich (sat. 6 Vahlen: Enni poeta salve) und f ¨ ur Homer (ann. 6: visus Homerus adesse poeta). 22 In einem Annalen-Fragment (ann. 3/ 4 Vahlen), dem ersten Zeugnis f ¨ ur die Ruhmeserwartung eines Dichters, das die r ¨ omische Literatur kennt, gibt Ennius kund, daß seine Dichtungen - poemata nostra - weithin Bekanntheit und Ber ¨ uhmtheit erlangen werden. Es ist dies der erste ¨ uberlieferte Gebrauch des Gr ¨ azismus poema im Lateinischen. Ennius Auf- und Ausbau des Begriffssystems der Theorie 17 kurzlebiges Verb, poetari ’Verse machen, dichten‘ 23 , einsteht. Aus der Tatsache, daß Naevius sich den Beinamen poeta zugelegt zu haben scheint, Ennius aber seinem Vorg ¨ anger diesen Namen gerade versagte und durch vates ersetzte, sich selbst und Homer dagegen poeta nannte 24 , l ¨ aßt sich das anfangs h ¨ ohere Prestige dieser Gr ¨ azismen gegen ¨ uber den einheimischen Bezeichnungen erschließen, ebenso das gesteigerte Selbstwertgef ¨ uhl einer neuen, von Ennius angef ¨ uhrten Dichtergeneration, die sich mit dem Ehrentitel poeta von den Vorangegangenen abzuheben suchte. Zum poetologischen Grundwortschatz aus der Familie von ποιε%ν geh ¨ ort schließlich lat. poetice, -es f. ’Dichtung‘ . Die Entlehnung ist vermutlich Varro zuzuschreiben. Es handelt sich um eine Kurzform zu gleichbedeutendem griech. ποιητικ τ χνη , der dieser im Anschluß an die Erkl ¨ arung von poema und poesis die Definition gegeben hatte: poetice est ars earum rerum. 25 Als eine der griechischen Fachterminologie sehr nahekommende Bildung konnte sie sich neben der Lehn ¨ ubersetzung poetica ars / ars poetica behaupten, f ¨ ur die in fragmentarischer ¨ Uberlieferung bereits ein Nachweis beim ¨ alteren Cato (234-149 v. Chr.) beigebracht werden kann. 26 Erst seit Quintilian begegnet ars poetica mit der Bedeutung, die man heute mit der Bezeichnung verbindet: ’Lehrschrift ¨ uber Dichtung‘ , und zwar bezieht sich Quintilian ausdr ¨ ucklich auf das Werk des Horaz. 27 Der hatte es wahrscheinlich als Epistula ad Pisones herausgebracht; der Titel Ars poetica ist ihm offenbar von Kritikern und Lesern im Nachhinein zugeteilt worden. Auch sachlich ist er falsch, weil Horaz statt eines systematisch angelegten, trockenen Lehrbuches eine im gehobenen Plauderton gehaltene Er ¨ orterung poetologischer Verfahrensfragen f ¨ ur ein literarisch gebildetes Publikum, nicht bloß f ¨ ur Dichter verwendet ihn anstelle von carmen, das er gleichfalls kennt, um sein Werk auf einer anspruchsvolleren Stufe der Verskunst als der seiner Vorg ¨ anger zu situieren. Die wertsteigernde Konnotation von poema ist ebenso offenkundig wie die von poeta. 23 Das Verb poetari, vermutlich Eigenbildung von Ennius, wird im allgemeinen den Satiren zugeordnet, und zwar kommt es in einem scherzhaften Kontext vor, in dem der Dichter wissen l ¨ aßt, er dichte nur, wenn das Podagra ihn treibe (sat. 64 Vahlen). Die Diskussion dar ¨ uber, ob poetari als ernsthafte oder als spaßige Ableitung gemeint war, ist offen (vgl. Suerbaum 1968: 261 Fn. 743). Wegen des hohen Prestiges, das Ennius mit den Lehnformen zu griech. ποιε%ν sonst verbindet, außerdem auch wegen seiner herausgehobenen poetischen Selbsteinsch ¨ atzung, kann ein Sprachscherz, der das Dichten auf griechischer Wortbasis depreziativ glossierte, kaum seine Absicht gewesen sein. 24 Siehe Fn. 21. 25 Der zitierte Satz schließt an den in Fn. 14 wiedergegebenen Text unmittelbar an. 26 Cato maior, Carmen de moribus 2 (Jordan): poeticae artis honos non erat. siquis in ea re studebat aut sese ad conuiuia adplicabat, grassator uocabatur. 27 Quintilian, Institutio oratoria, praef. 2; 8, 3, 60. 18 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie von Beruf, unternommen hat. In Fortsetzung der urspr ¨ unglichen Funktion, die ’Dichtkunst‘ zu bezeichnen, ist zur ars poetica noch die Ellipse poetica gebildet worden. 28 Cicero hat sie mehrfach benutzt, was ihre Verbreitung f ¨ orderte. Die besprochenen Termini machen deutlich, daß das f ¨ ur die Ausbildung der r ¨ omischen Dichtungstheorie erforderliche Grundinventar der Begriffe und Benennungen von der Mitte des 1. Jhs. v. Chr. an bereitstand - autorenbezogen ausgedr ¨ uckt: von Varro an. 1.3 Fundierung der Dichtungstheorie und der Terminologie in Rom durch Varro M. Terentius Varro (116-27 v. Chr.), den Universalgelehrten und doctissimus Romanorum (Seneca), von dessen 74 bekannten Buchtiteln die H ¨ alfte Themen der Literatur und der Sprache abhandelte oder in antiquarische Studien einbezog, als Exponenten der Theorieentwicklung in Rom herauszustellen, ist mehr als gerechtfertigt. Er hat ihr festen Grund verschafft und die entscheidenden Impulse f ¨ ur ihren Ausbau gegeben, wie auch die mehrfach angef ¨ uhrten Zitate aus Buchfragmenten gezeigt haben. In Ann ¨ aherung an die alexandrinische Philologie und Grammatik, obendrein angeregt durch gelehrte Griechen, die teils als Sklaven in vornehmen r ¨ omischen H ¨ ausern Bildung vermittelten, teils als freie Lehrer Unterricht erteilten, Vortr ¨ age hielten, Gedichtlesungen mit Texterkl ¨ arungen boten, hatte sich zwischen 150 und 50 v. Chr. in Rom die Grammatik als ’wissenschaftliche‘ Disziplin ausgeformt. Wie Cicero best ¨ atigt, geh ¨ orte zu ihren Teilgebieten die ’gr ¨ undliche Besch ¨ aftigung mit Dichtern‘ (poetarum pertractatio). 29 Auf dieser Grundlage entstanden nach Kommentaren und Erkl ¨ arungen ¨ alterer literarischer Werke, wie sie auch Varros Lehrer L. Aelius Stilo geschaffen hatte, die ersten poetologisch relevanten Schriften. Das entsprechende Œuvre Varros war ¨ uberragend, doch da von seinen vielen Schriften nur ein Werk ¨ uber die Landwirtschaft (De re rustica) und die B ¨ ucher 5-10 der sprachlichen Abhandlung De lingua Latina gut ¨ uberliefert sind, vom ¨ Ubrigen bloß einzelne Fragmente f ¨ ur die Auswertung zur Verf ¨ ugung stehen, ist man bei der Beurteilung der dichtungstheoretischen Relevanz der verschiedenen Publikationen vielfach auf W ¨ urdigungen Dritter und auf Annahmen angewiesen. 28 Noch in der sp ¨ atantiken Terminologie standen poetice und poetica gleichwertig nebeneinander, vgl. die Definitionen von Aphthonios (4./ 5. Jh.): poetice est ars ipsa (Keil GL VI, 56, 16) und Diomedes (4. Jh.): poetica ars ipsa intellegitur (Keil GL I, 473, 16). Bei uneinheitlicher Text ¨ uberlieferung, aber auch bei ¨ Ubereinstimmung der Kopien ist es im Falle von poetice : poetica schwer zu bestimmen, welche der Formen die des Autors gewesen ist. 29 Cicero, De oratore 1, 187. Fundierung der Dichtungstheorie und der Terminologie in Rom durch Varro 19 So k ¨ onnen die zwei B ¨ ucher De poetis, die eine Geschichte der fr ¨ uhr ¨ omischen Literatur in Form von Dichterbiographien darboten, theoretische Erw ¨ agungen zum poetischen Stil enthalten haben. Erst recht k ¨ onnte dies von der aus drei B ¨ uchern bestehenden Schrift De proprietate scriptorum gelten, die die stilistischen Eigent ¨ umlichkeiten der Autoren zum Thema hatte. Ob auch die Schrift περ χαρακτ ρων ( ¨ Uber Charaktere) die Stilproblematik betraf, n ¨ amlich die drei genera dicendi in der Dichtung, wie Dahlmann meinte, ist ungekl ¨ art. 30 Festen Boden erreichen wir bei der Auswertung der erhaltenen B ¨ ucher von De lingua Latina. Das siebente dieser B ¨ ucher handelt von den W ¨ ortern, die von den Dichtern eingesetzt werden. 31 Von der historischen Kommentierung eines Einzelwortes schreitet Varro dort ¨ ofters fort zu deskriptiv-systematischen Feststellungen, die zusammengenommen die erste Theorie des poetischen Wortschatzes im r ¨ omischen Schrifttum ergeben. Varros Aussonderung der poetarum vocabula aus dem Sprachmaterial war eine zukunftweisende Entscheidung. Sie nahm die Sonder- und Fachsprachenthematisierung der Moderne vorweg, die gezeigt hat, daß das wesentliche Merkmal fachlichen Redens das je spezifische Vokabular ist. Die Dichtersprache hebt sich nach Varros Befund als die Sprache Einzelner von der Sprechweise des Volkes (consuetudo populi universi) ab, die einem schnellen Wandel unterliegt, also W ¨ orter und Bedeutungen, die außer Gebrauch gekommen sind, fortlaufend aufgibt (9, 17). Kennzeichnend f ¨ ur die poetische Sprache ist dagegen der hohe Anteil weiter genutzter alter oder veraltender Formen und Bedeutungen. In der Dichtung bleiben diese aktuell, zumal sie ihr ein feierliches Gepr ¨ age geben (9, 17). Archaismen tragen nach Varro in besonderem Maß zu Qualit ¨ aten bei, die den Wortschatz der Dichter außerdem charakterisieren: Er ist reich an Ausdrucksvarianten, an seltenen und an expressiven Formen. Des Dekors wegen darf die Dichtersprache mit Varros Zustimmung in gr ¨ oßerem Umfang auch Entlehnungen aus dem Griechischen und aus dem technischen Vokabular der verschiedenen Berufe nutzen. Schließlich ist die poetische Sprache nach der Erkenntnis des Antiquars die Quelle, aus der die Sprache der Allgemeinheit seit alters fortgebildet und verj ¨ ungt worden ist. Den Dichtern obliegt daher die Aufgabe, nach den gegebenen Regeln neue W ¨ orter zu bilden und ’dem ganzen Volk‘ (populus universus) zur Ausdruckserweiterung des Lateinischen zu vermitteln. ¨ Uber den Wortschatz hinaus soll die Dichtersprache durch ihr Vorbild f ¨ ur die Korrektheit und die st ¨ andige 30 H. Dahlmann, Studien zu Varro ’De poetis‘ , Abh. Akademie Mainz, 1962: 115-119. D. st ¨ utzte seine Argumentation auf Gellius 6, 14, der sich in seiner Skizze der Vertreter der drei genera ausdr ¨ ucklich auf Varro berufen hatte. Cardauns 2001: 66 schließt sich ihm an. Abweichend K. Sallmann, DNP 12/ 1, 2002: 1134 [Die Schrift habe die Buchstaben der Graphie oder die Typen des Charakters betroffen, ”am wahrscheinlichsten die Typen der Wortbildungsformen.“]. 31 Varro, De lingua Latina 7, 5: Dicam in hoc libro de verbis quae a poetis sunt posita. 20 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie Verbesserung des Lateinischen sorgen. In die Pflicht nimmt Varro vor allem die Dramatiker; sie k ¨ onnen und sollen ¨ uber ”die Ohren des Volkes“ regelwidrigen Sprachgebrauch in die richtigen Bahnen lenken (9, 17). Mit der Erhebung der Dichtersprache zum Modell, nach dem die Norm des Lateinischen zu justieren sei, hat Varro ein Regulierungsprinzip von nachhaltiger Wirkung aufgestellt. Denn nicht nur das ’gute‘ Latein wurde fortan daran gemessen, ob es in Wortschatz, Grammatik und Stil dem Vorbild literarischer Autorit ¨ aten - inzwischen auch der Kunstprosa - entsprach. Sogar bei der Standardisierung der modernen europ ¨ aischen Sprachen hat oft das Beispiel eines Dichters oder der ’sch ¨ onen Literatur‘ den Maßstab daf ¨ ur geliefert, was als ’gut‘ (und ’richtig‘ ) oder ’schlecht‘ (und ’falsch‘ ) zu gelten habe. 32 Wenn die Dichtersprache als Quelle der st ¨ andigen Ausdruckserneuerung und -verj ¨ ungung fungieren sollte, mußte sie selbst mit sprachlichen Neuerungen voangehen d ¨ urfen. Deshalb, und weil er die Dichter als Sprachsch ¨ opfer in der Nachfolge der alten K ¨ onige sah, die dem Volke die ersten Worte und deren korrekte Verwendung beigebracht h ¨ atten, erkannte er der Dichtung und ihren Sch ¨ opfern im Umgang mit der Sprache die gr ¨ oßtm ¨ ogliche Freiheit zu. Das Volk m ¨ usse in seinem ganzen Wortgebrauch regelgem ¨ aß verfahren, dekretiert Varro; ein Redner d ¨ urfe den Ausdruck etwas freier handhaben (um den Stilanforderungen zu gen ¨ ugen), doch ”der Dichter kann alle Grenzen straflos ¨ uberspringen.“ 33 Das dichtungstheoretisch wichtigste Werk Varros sind aber zweifellos die drei B ¨ ucher De poematis gewesen. Nach De lingua Latina entstanden, doch bis auf kleine Fragmente leider verloren, haben sie die sp ¨ athellenistisch-peripatetische Poetologie auf die r ¨ omische Dichtung ¨ ubertragen. Ob Varro in dem Werk die Hauptkategorien der Dichtkunst nach damaligem Verst ¨ andnis, n ¨ amlich poeta, poetica, poema und poesis, systematisch behandelt oder punktuell angesprochen 32 Bekannt ist die Fixierung der italienischen Schriftsprache nach dem Florentinischen unter dem Einfluß der Werke Dantes, Petrarcas und Boccaccios. Aber auch das Spanische ist im 18. Jh. nach dem Vorbild literarischer ’Autorit ¨ aten‘ des ’goldenen Zeitalters‘ lexikalisch normiert worden (Diccionario de Autoridades, 1726-39). Im Franz ¨ osischen wurde im 17. Jh. der bon usage der besten Autoren der Zeit zur Richtschnur erkl ¨ art. Zitate aus den Werken der Musterautoren erl ¨ autern noch heute in den normativen Lexika (Robert, Grand Larousse de la langue franc¸aise, jedoch nicht Akademie-W ¨ orterbuch) die Wortdefinitionen. Wie f ¨ ur des Englische Chaucer mit den Canterbury Tales (1387- 1400) als Wegbereiter der Standardisierung gilt, so Luther mit der Bibel ¨ ubersetzung f ¨ ur das Deutsche. Im 18. Jh. ist hier die Leitbildfunktion an die Großen der deutschen Klassik ¨ ubergegangen. Unter der Wirkung der Massenmedien hat die Literatursprache im europ ¨ aisch-amerikanischen Kulturraum jetzt allerdings, nach 2000 Jahren, ihre normsetzende Kraft verloren. 33 Varro, De lingua Latina 9, 5: itaque populus universus debet in omnibus verbis uti analogia et, si perperam est consuetus, corrigere se ipsum, cum orator non debeat in omnibus uti, quod sine offensione non potest facere, cum poeta transilire lineas impune possit. Ideelles und terminologisches antikes Erbe 21 hat, ist nicht entscheidbar, 34 letzten Endes auch zweitrangig gegen ¨ uber der f ¨ ur uns wichtigen Feststellung, daß Varro mit De poematis sein Bem ¨ uhen gekr ¨ ont hat, der r ¨ omischen Dichtung einen mit der griechischen Poetologie vergleichbaren theoretischen und terminologischen Unterbau zu geben. 1.4 Ideelles und terminologisches antikes Erbe Das antike Nachdenken ¨ uber Dichtung ist so grundlegend gewesen, daß seine Wirkung bis in die Neuzeit reicht. Besonders augenf ¨ allig ist die Fortdauer in den Dichtungslehren der Renaissance und des Barock, deren pr ¨ agender Einfluß auf die poetische Produktion sich vom 14. Jh., von der Poetologie des Paduaners Albertino Mussato ( † 1329), bis ans Ende des 18. Jhs. erstreckt. Als beispielgebender lateinisch schreibender Autor verfaßte Mussato Geschichtswerke im Stil von Livius, Sallust und Caesar, Lyrik - Episteln, Elegien, Eklogen, Soliloquien - in N ¨ ahe zum Vorbild Ovid sowie zwei Trag ¨ odien in Nachahmung Senecas, mit denen er das Renaissance-Drama etablierte. Sein Ziel, durch die Aneignung des Regelapparates der antiken Poetologie und der Rhetorik sowie durch die Imitation von Musterautoren die Dichtung, die Prosa und die lateinische Sprache selbst zu erneuern, ist f ¨ ur die ganze Renaissance zum verbindlichen Programm geworden. Mussato hat schließlich mit einer ganz auf die Antike gest ¨ utzten Dichtungslehre die große Reihe der Renaissance-Poetiken er ¨ offnet. 35 Die in Italien an der Schwelle zur Neuzeit entstehenden lateinischen Dichtungslehren laufen anfangs auf Horaz-Verschnitte hinaus. Mit der ausgedehnteren Kenntnis der Aristotelischen Poetik dank der editio princeps in Druckform (Venedig 1508) und der ersten großen Kommentare zu dem Werk (ab 1481) nimmt das Bem ¨ uhen zu, die Lehren der beiden Autorit ¨ aten miteinander zu verbinden. Adressat dieser Poetiken, auch des bedeutendsten Opus, Julius Caesar Scaligers Poetices libri septem (Lyon 1561), 36 ist der neulateinische Dichter, dem vorschwebt, das 34 Die Quellenauswertung bringt zu De poematis wenig ein, vgl. H. Dahlmann, Varros Schrift De poematis und die hellenistisch-r ¨ omische Poetik, 1953; F. Sbordone, Sul De poematis di Varrone, 1976; Sallmann 2002: 1134. 35 Die Bedeutung Mussatos f ¨ ur die Entstehung der an antiken Vorbildern orientierten neulateinischen Poetologie ist ins Licht gehoben worden von August Buck, Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance, T ¨ ubingen 1952. Eine Erweiterung der Thematik auf franz ¨ osische, spanische, englische und deutsche Poetiken in Abh ¨ angigkeit von den lateinischen und italienischen bietet A. Buck 1972. In dieser Studie geht der Verf. im besonderen auf die literar ¨ asthetische Problematik der Renaissance-Poetologie ein. 36 Vorz ¨ ugliche Ausgabe: J. C. Scaliger, Poetices libri septem. Sieben B ¨ ucher ¨ uber die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von M. Fuhrmann hgg., ¨ ubersetzt, eingeleitet und erl ¨ autert von L. Deitz und G. Vogt-Spira, 5 B ¨ ande, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994-2011. 22 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie augusteische Zeitalter der lateinischen Poesie wiederaufleben lassen zu k ¨ onnen. Das Studium der Dichtungslehre und der Rhetorik sowie der dichterischen Praxis der klassischen Musterautoren - in erster Linie Vergil, Horaz und Ovid - erscheint ihnen als Mittel, nicht nur dieses hohe Ziel zu erreichen, sondern die Antike sogar eines Tages ¨ uberbieten zu k ¨ onnen. ¨ Ahnlich orientiert und ¨ ahnlich ambitioniert zeigt sich das humanistische Bildungsideal , das hinter der Poetologie steht, bis in die Schulp ¨ adagogik hinein, wo bis zum Ende des 18. Jhs. die Besch ¨ aftigung mit den antiken Autoren und der Erwerb einer an den Vorbildern Cicero und Caesar ausgerichteten passiven und aktiven Beherrschung des Lateinischen einen Schwerpunkt des Programms bildet. Den Weg in die Moderne hat die antike Dichtungslehre aber auch ¨ uber landessprachliche Poetiken genommen, wiederum zuerst in Italien. Dort wurden nach Mussato die Bem ¨ uhungen intensiviert, die humanistische Lehre auf die Hebung der einheimischen Dichtung und der Landessprache zu ¨ ubertragen. Auf die italienischen Poetiken folgten franz ¨ osische, spanische, englische, und f ¨ ur die Dichtung im Deutschen vergleichsweise sehr sp ¨ at Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey (1624). Die lateinischen und die landessprachlichen Poetiken der Renaissance und des anschließenden Barockzeitalters stimmen, was die Grundlinien der poetischen Theorie und der Praxis betrifft, gemeinhin ¨ uberein. Sie verk ¨ unden unisono die Vorbildhaftigkeit der f ¨ ur kanonisch erkl ¨ arten antiken Musterautoren. Von diesen lernen, ihnen nacheifern, heißt f ¨ ur den Poeten die Devise, in konsequenter Aktualisierung des seinerzeitigen Appells, den Griechen nachzueifern, den Horaz in der Ars poetica 268f. den r ¨ omischen Dichtern zugerufen hatte. Damit die Imitation der großen Alten aber nicht die dichterische Originalit ¨ at minderte, forderten die Poetiken an Stelle des simplen Kopierens die einfallsreiche formale variatio. Bei der Frage nach dem Dichtungszweck legten die Poetiken gem ¨ aß gut r ¨ omischer Tradition auf das Belehren gr ¨ oßeren Wert als auf das Erfreuen. 37 Im Besitz einer besonderen Inspiriertheit - wie schon die fr ¨ uhe Antike lehrte - steht der Dichter ¨ uber der Gesellschaft und ¨ uber seiner Zeit; Scaliger stilisiert ihn gar zum alter Deus. Die ars, die zum ingenium hinzukommen muß, ist nach einhelliger Meinung lehr- und lernbar. Deshalb r ¨ aumen die Poetiken der mit zahlreichen Musterzitaten unterf ¨ utterten Darstellung der Wort-, Satz- und Gedankenfiguren sowie der Stillehre den gr ¨ oßten Umfang ein, in der Regel in normativer Darlegung. Doch gab die antike Theorie und Praxis der Dichtkunst nicht Antwort auf alle Fragen, die sich den Poetologen der Renaissance stellten. Alle Poetiken, lateinische wie landessprachliche, hatten ihre liebe Not mit Gattungen, f ¨ ur die sich in den Lehren der Alten keine hinreichende Legitimation fand, was insbesondere von 37 Bezeichnend ist hier z. B. die Zielangabe J. C. Scaligers. Er fordert von der Dichtung die mit Annehmlichkeit verbundene Belehrung sittlich-moralischer oder intellektueller Art. Kunstvolle Ausdrucksgestaltung (variatio) bewirke dabei Vergn ¨ ugen (delectatio) (Buch 1, Einleitung, S. 48f., und Buch 3, Kap. 27, der genannten Ed.). Ideelles und terminologisches antikes Erbe 23 der Tragikom ¨ odie, dem Roman und den vom Petrarkismus propagierten lyrischen Formen der Kanzone, der Ballade und des Sonetts galt. Die landessprachlichen Poetiken mußten dar ¨ uber hinaus L ¨ osungen f ¨ ur den Ersatz der quantitierenden Metrik entwickeln. Wegen des Wegfalls der L ¨ ange-K ¨ urze-Opposition in der Silbenstruktur aller Tochtersprachen des Lateinischen blieb als Ausweg nur, auf das Prinzip der Silbenz ¨ ahlung oder auf Tonsilbenregeln ¨ uberzugehen. Ersch ¨ uttert wurde die Allmacht der auf die Antike gest ¨ utzten Poetologie zuerst in Frankreich, wo im Jahre 1687 in der sog. Querelle des anciens et des modernes der Streit um die Rechte der Moderne gegen ¨ uber dem Traditionskult aufflammte. Die Idee des Fortschritts und die aufkommende ¨ asthetische Doktrin, die Kunst habe sich nicht in der Nachahmung zu ersch ¨ opfen, sondern solle frei gestaltend das Sch ¨ one sichtbar machen, k ¨ undigten den Paradigmenwechsel an, dem im darauffolgenden Jahrhundert die romantische Bewegung zum Durchbruch verhalf. Obwohl die lateinischen und die landessprachlichen Poetiken ihre Bindekraft im 18. Jh. verloren, ist zwischen den von der griechisch-r ¨ omischen Antike gepr ¨ agten Kulturr ¨ aumen in der Poetologie - und in der Literaturwissenschaft im allgemeinen - eine feste Einheit auf der begrifflich-terminologischen Ebene erhalten geblieben. Sie beruht auf der massiven ¨ Ubernahme des fachterminologischen Apparates der Antike, durch welche die nationalen Idiome vom 12. Jh. ab angereichert worden sind, um spezialsprachlichen Anforderungen zu gen ¨ ugen. Die lateinischen Poetiken und das bis ins 18. Jh. lebendige Gelehrtenlatein haben den Prozeß des terminologischen Ausbaus der Nationalsprachen nicht nur gef ¨ ordert, sondern so gleichgerichtet gehalten, daß das poetologische Grundvokabular der Antike in ihnen heute in der Form von Internationalismen weiterlebt. Vorangegangen in der Aneignung der antiken Begriffswelt der Poetologie in den europ ¨ aischen Sprachr ¨ aumen ist das Franz ¨ osische, dessen Literatur im 12. und 13. Jh. die der Nachbarn ¨ uberragte. Vom 12. Jh. an nimmt das Franz ¨ osische das poetologische Erbe auf, nat ¨ urlich in gelehrter Form. 38 Italienisch, Englisch und Deutsch folgen, 39 letztere meistens mit Anleihen beim Franz ¨ osischen, die die Schrittmacherrolle Frankreichs best ¨ atigen. 38 Po` ete (1155), po` eme (1213), po` eterie (ca. 1270), po´ esie (1350), po´ etique adj. (1315) (W. v. Wartburg, Franz. etymologisches W ¨ orterbuch, Bd. 9, 1959: 114ff.). 39 Ital. poeta, poema, poesia (Dante, vor 1321), poetico (Adj.) (vor 1330) (M. Cortelazzo / P. Zolli, Dizionario etimologico della lingua italiana, Bd. 4, 1985). Engl. poet (vor 1300), poesy (14. Jh.), poetry (ca. 1384), poetical (ca. 1384), poem (1548). (Oxford English Dictionary, Bd. XI, 2 1989). Von Poet abgesehen, werden die franz ¨ osischen Formen erst sp ¨ at ins Deutsche ¨ ubernommen: Poesie, Poem, poetisch sind Erwerbungen des 16. Jhs. (Datierungen zum Deutschen im wesentlichen nach F. Kluge, Etymologisches W ¨ orterbuch der deutschen Sprache, bearb. von E. Seibold, 23 1999: 118, 638). 24 Die begrifflich-terminologischen Grundlagen der Poetologie Im Deutschen hat der Terminologieausbau unter dem Einfluß des Franz ¨ osischen mitunter Doppelbezeichnungen hervorgerufen. Das Deutsche kannte bereits seit dem 9. Jh. das vom lat. dictare entlehnte Verb dihton ’den Text eines Schriftst ¨ ucks verfassen, dichten‘ und hatte von ihm tihter, tihtare abgeleitet (12. Jh.), die Benennung f ¨ ur den ’Dichter‘ , als ¨ uber das Franz ¨ osische der Poet (13. Jh.) hinzukam. Von da an bildeten sich zwei terminologische Reihen aus: Dichter, Dichtung, Gedicht, dichterisch - und Poet, Poesie, Poem, poetisch. Im 17. und beginnenden 18. Jh. gerieten aber die Termini aus dem Franz ¨ osischen, die als Modew ¨ orter zun ¨ achst Fortune gemacht hatten, ins Hintertreffen, was zum Teil - so beim Poet - semantisch eine Pejorisierung einschloß. Herbeigef ¨ uhrt hat den Wandel eine kulturgeschichtlich tiefgreifende Neuorientierung: Abkehr der Klassik und der Romantik von franz ¨ osischen Literaturvorbildern, Ablehnung der sog. ’Fremdw ¨ orter‘ , literatur ¨ asthetisch an Stelle von Virtuosentum und Formalismus Forderung nach dichterischem Ausdruck pers ¨ onlicher Gef ¨ uhlsbewegung. Herders Lehre von der Einheit von Volksseele, Sprache und Dichtung tat ein ¨ ubriges, die altdeutschen Bezeichnungen dichten, Dichter, Dichtung, Gedicht, dichterisch mit einer nationalen Aura zu umgeben, die ihnen Vorrang verschaffte. Als die normative Kraft der lateinischen und der landessprachlichen Poetiken im 18. Jh. schwand, endete keineswegs der pr ¨ agende Einfluß antiker Vorbilder auf die Dichtung. Es kam im Gegenteil zu einer neuen Erfahrung der Antike. Begleitet war sie von der Begeisterung f ¨ ur die griechisch-r ¨ omische Plastik, die in der Deutung gipfelte, die Winckelmann der fig ¨ urlichen Darstellung in seiner epochalen Geschichte der Kunst im Altertum (1764) gab. An ihr entwickelte er gegen das s ¨ akulare Fortschrittsdenken und gegen die christliche Jenseitigkeitsperspektive das Ideal eines im Diesseits vollkommenen, in der Einheit von K ¨ orper und Geist vollendeten, wahrhaft humanen Menschentums. Die Vision einer im Leben jedes Einzelnen sich verwirklichenden Humanit ¨ at, die wie die antike Plastik nach Winckelmanns ber ¨ uhmter Formel sich durch ”edle Einfalt und stille Gr ¨ oße“ auszeichnete, ist eine der Leitvorstellungen der deutschen Sp ¨ atklassik geworden. Vor solchem Hintergrund ist die antike Dichtung im 18. und 19. Jh. wiederentdeckt, eifrig ¨ ubersetzt und imitiert worden, doch statt an poetologischen Normsetzungen orientierte man sich bei der Hinwendung zu antiken Gedichtformen von jetzt ab unmittelbar an Musterautoren: In der Hymnendichtung an Pindar, bei Oden an Pindar und Horaz, bei Epigrammen an Martial, bei Elegien an den fr ¨ uhgriechischen Lyrikern, beim Epos nat ¨ urlich an Homer. Die normative Dichtungslehre mit Totalit ¨ atsanspruch machte Programmschriften der verschiedenen poetischen Richtungen oder einzelner Autoren Platz. Das Begriffs- und Wortinventar der antiken Poetologie aber ist ¨ uber allen Wandel hinweg sehr konstant geblieben: Es ist mit der Mehrzahl den besprochenen Basisformen sowie mit den Ideelles und terminologisches antikes Erbe 25 alten Bezeichnungen, die wir in den folgenden Kapiteln noch zu behandeln haben, schließlich im 19. Jh. in die Nomenklatur der sich zu dieser Zeit konstituierenden Literaturwissenschaft eingegangen. Es bildet das begrifflich-terminologische Fundament und die Erkenntnisbasis, auf der die Literaturwissenschaft arbeitet. 2 Dichtung und Prosa 2.1 Unterscheidung nach der Redeform Das Nebeneinander von Poesie und Prosa hat schon seit vorliterarischer Zeit bestanden. Poesie, die gebundene Rede, diente als Medium der religi ¨ osen Feier und der Pflege der kollektiven Ged ¨ achtniskultur; Prosa, ungebundene Sprache, fungierte als Redeform der Mitteilung im Alltag, aber die ¨ altesten Inschriften zeigen, daß es außer der allgemeinen Gebrauchsprosa sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen eine stilistisch gehobene Amts- und Gesetzesprosa gab, die der Kunstform der Poesie wie eine Vorstufe zur Kunstprosa gegen ¨ uberstand. In der Literaturverschriftung sind die Poesietexte den Prosatexten mit großem Abstand vorausgegangen. Im Griechischen setzte die Aufzeichnung von Dichtung schon im 8. Jh. v. Chr. mit der Fixierung des Epenstoffes der Ilias ein. Als erstes literarisches Prosawerk gilt nach antiker ¨ Uberlieferung die um die Mitte des 6. Jhs. verfaßte, als Gegenst ¨ uck zu Hesiods poetischem Werk konzipierte Theogonie des Pherekydes von Syros. Auch bei der r ¨ omischen Literatur liegen die Daten entsprechend auseinander. Hier beginnt die skripturale Tradition der Poesie um 240 v. Chr. mit der Epen- und Dramendichtung des Livius Andronicus und des Naevius nach griechischen Vorlagen; die Prosa folgt ein bis zwei Generationen sp ¨ ater mit dem Schriftencorpus des ¨ alteren Cato maior (234-149 v. Chr.), der als erster seine Reden ver ¨ offentlichte, etwa von 170 ab die erste Darstellung der r ¨ omischen Geschichte in lateinischer Sprache schrieb und außerdem eine vielseitige Fach- und Traktatliteratur schuf. Der Mythos von Orpheus als erstem S ¨ anger und Dichter sowie die historische Ungleichzeitigkeit der beiden Textformen verleiteten zu der Meinung, daß die Prosa aus der Poesie hervorgegangen sei. Diese Meinung vertritt noch Strabon (ca. 62 v. Chr. - ca. 24 n. Chr.) in den Γεωγραφικ (Geographik´ a). Nach ihm h ¨ atten Kadmos, Pherekydes und Hekataios zun ¨ achst nur auf das Metrum verzichtet, die poetische Diktion jedoch bewahrt; sp ¨ atere Autoren h ¨ atten durch fortschreitende Reduktion der dichterischen Elemente die Ausdrucksform ”von der H ¨ ohe herab“ in die gegebene Prosa umgewandelt. 1 Im 17. und 18. Jh. brachte die in Blackwells Homer-Buch kulminierende Hinwendung zum Studium der fr ¨ uhgriechischen Epik die These von der Abkunft der Prosa von der Poesie wieder in die Diskussion, nachdem Vico sie zuvor aufgegriffen hatte. Zu ihren Anh ¨ angern z ¨ ahlte auch Herder. 2 1 Strabon, Geographica, 1, 2, 6: κατ γαγον 1ς 2ν π ψους τιν ς. 2 Karl-Heinz Barck im Artikel ’Prosaisch-Poetisch‘ , in: ¨ AGB 5 (2003), 96. 28 Dichtung und Prosa Einen Beweis f ¨ ur den nach- und untergeordneten Status der Prosa sah Strabon auch in dem neben der Bezeichnung ψιλ ς λ γος (psil ´ os l ´ ogos) ’einfache, schlichte Sprache‘ im Griechischen verbreiteten Namen πεζ ς λ γος (pez ´ os l ´ ogos) ’zu Fuß gehende Sprache‘ , lat. sermo pedester. Der Ausdruck r ¨ uhrt daher, daß der Poet, der zu dichten beginnt, nach einer seit Pindar bekannten Vorstellung auf den Musenwagen ( δ φρος μοισ5ν ) steigt, der Prosaist also ’laufen‘ muß. Die lateinische Nomenklatur verdeutlicht nochmals die angenommene Abh ¨ angigkeit der Prosa von der Poesie, denn oratio soluta, die ¨ altere Benennung (neben einfachem oratio oder sermo), meint mit ’aufgel ¨ oster Rede‘ die vom metrischen Regelzwang der oratio vincta entbundene Sprache. Ausgangsform f ¨ ur dt. Prosa und die ¨ Aquivalente in den modernen Sprachen ist ein lateinisches elliptisches pro(r)sa gewesen, ein K ¨ urzel zu pro(r)sa oratio ’geradeaus gerichtete Rede‘ , das von Quintilian ab nachweisbar ist. 3 ’Geradeaus gerichtet‘ , das heißt auch hier: bezogen auf die poetische Diktion, die ja erst hinter dem Schleier metrischer Verkleidung sowie des Wort- und Figurenschmucks die ¨ Ubermittlung der Information leistet. Cicero hielt deswegen im Orator fest, es gehe den Dichtern im Gegensatz zu den Rednern mehr um die Formulierungen als um die Sache selbst. 4 Daß der Unterschied zwischen Poesie und Prosa nur gradueller, nicht prinzipieller Natur ist, bescheinigt auf der einen Seite die vom 5. Jh. v .Chr. ab betriebene Herausbildung der sog. Kunstprosa, auf der anderen die Lockerung der metrischen Regelstrenge, die am Ende, im 19. Jh., zuerst in er franz ¨ osischen Literatur, das Prosagedicht (po` eme en prose) hervorgebracht hat, das nur noch durch die versartige Gestaltung des Schriftbildes die Verwandtschaft mit den Formgesetzen der Poesie zu erkennen gibt. Der Beginn der theoretischen Gegen ¨ uberstellung von Poesie und Prosa im antiken Denken verbindet sich nach den erhaltenen Zeugnissen mit dem Namen des gew ¨ ohnlich den Sophisten zugerechneten Gorgias von Leontinoi (etwa 480-380 v. Chr.). Er erhob das Versmaß zum entscheidenden Merkmal, durch welches die Dichtung sich von der Prosa sondere. Dichtung ist nach seiner Definition ’Rede, die ein Metrum hat‘ : τ6ν πο ησιν 7πασαν κα νομ ζω κα 8νομ ζω λ γον "χοντα μ τρον (Helena, 8f.). Antithetisch weitergedacht, hat Gorgias damit die Prosa als ’Rede ohne Metrum‘ bestimmt. Dem muß man freilich hinzuf ¨ ugen, daß er als Schrittmacher der Kunstprosa und der Rhetorik auch f ¨ ur die Rede die Rhythmisierung forderte, doch eben ohne das strenge Gleichmaß sich wiederholender 3 Der erste Beleg f ¨ ur prorsa oratio bei Columella im Prooemium von Buch 10, 4, wo der Autor seinem Nachbarn Silvinus, dem er De re rustica widmet, zugesteht, ¨ uber das Kapitel des Gartenbaus sich wunschgem ¨ aß in Versen (poeticis numeris) auslassen zu wollen. Elliptisches prorsa findet sich erstmals bei Quintilian inst. 1, 5, 13, bleibt aber im Sp ¨ atlateinischen recht selten (vgl. ThLL X, 2, 2155). 4 Cicero, Orator 68: ego autem, etiamsi quorundam grandis et ornata vox est poetarum, tamen in ea cum licentiam statuo maiorem esse quam in oratoris faciundorum iungendorumque verborum, tum etiam nonnullorum voluntate vocibus magis quam rebus inserviunt. Unterscheidung nach der Redeform 29 Versf ¨ uße vorauszusetzen, das die Dichtung verlangte. Bemerkenswert erscheint, daß Gorgias weder inhaltliche noch funktionale Gesichtspunkte in die Unterscheidung einbezog, hatten doch gerade die Sophisten zu seiner Zeit aus ihrer p ¨ adagogisch-moralischen Intention heraus die Wirkungsabsicht und den Nutzen der Dichtung zur Frage erhoben. Wie er in seiner Lehre von der kunstm ¨ aßigen Gestaltung der Rede die Seite der Technik herausstellte, so betrachtete er bei der begrifflichen Trennung von Poesie und Prosa die formale Differenz als den maßgeblichen Faktor. 5 Gest ¨ utzt und erh ¨ artet wurde die formale Argumentation von seinem Sch ¨ uler Isokrates. Beim Vergleich des Redners mit dem Dichter fand dieser nicht nur die gr ¨ oßere Gestaltungsfreiheit und die reicheren Mittel der Ausdruckssteigerung in der Hand des Dichters, sondern sah im Metrum einen besonderen Trumpf. Es verm ¨ oge sogar, stilistische M ¨ angel und gedankliche Schw ¨ achen zu ¨ uberdecken. Um die Wirkungsmacht des Versmaßes unter allen Ressourcen zu demonstrieren, die dem Dichter zu Gebote stehen, gab er zu bedenken, wie sehr ber ¨ uhmte poetische Werke an Ansehen verl ¨ oren, wenn man zwar die sprachliche und die inhaltliche Gestaltung beibehielte, aber das Metrum aufl ¨ oste. 6 Das gedankliche Experiment erschien so ¨ uberzeugend, daß es wiederholt in die Waagschale geworfen wurde. In Platons Gorgias 502d konfrontiert Sokrates den Gorgias-Sch ¨ uler Kallikles mit der Suggestivfrage: ”Wenn man von der Dichtkunst Melodie, Rhythmus und Versmaß abz ¨ oge, so bleibt nichts weiter ¨ ubrig als Reden? “ 7 Kallikles stimmt lebhaft zu und folgt dadurch Sokrates in den Nachweis, daß die Dichtung nichts Besseres sei als eine dem Vergn ¨ ugen dienende, schmeichlerische Variante der ethisch minderwertigen Redekunst. Schließlich ist Horaz auf die Versprobe zur ¨ uckgekommen, mit Einschr ¨ ankung auf die Kom ¨ odie, deren Status als Dichtung in Zweifel gezogen worden sei, ”weil ihr der spr ¨ uhende Geist, die wuchtige Kraft in Stoff und Sprache fehlt“. Aber wie seinerzeit f ¨ ur Gorgias, ist f ¨ ur Horaz der Pr ¨ ufstein f ¨ ur ’Dichtung‘ die geregelte metrische Form; sie, nur sie, gibt den Ausschlag, daß die Kom ¨ odie zu ihr z ¨ ahlt: ”Wenn nicht bestimmtes Versmaß sie von der Alltagsrede unterschiede, w ¨ ar’s reine Prosa.“ 8 5 Treffliche Darstellung der literaturtheoretischen Anschauungen des Gorgias unter den Pr ¨ amissen des epistemologischen Nihilismus bei Kannicht 1980: 27ff. [”Alles Reden, Schreiben, Dichten ist immer nur bezaubernde Paraphrase des Scheins, ¨ uberredende Beschw ¨ orung des Als-Ob“. Wirkungsziel: das reine Vergn ¨ ugen]. 6 Isokrates, Orationes 9, 11 (Euagoras): 9ν γ ρ τις τ: ν ποιημ των τ: ν ε; δοκιμο<ντων τ= μ ν 8ν ματα κα τ=ς διανο ας καταλ πη>, τ δ μ τρον διαλ<ση>, φαν σεται πολ? καταδε στερα τ@ς δ Aης Bς νCν "χομεν περ α; τ: ν. 7 Platon, Gorgias 502d: Φ ρε δ , ε) τις περι λοι τ@ς ποι σεως π σης τ τε μ λος κα τ ν Eυθμ ν κα τ μ τρον, #λλο τι 9 λ γοι γ γνονται τ λειπ μενον; S. auch Politeia 10, 601b. 8 Horaz, Saturae 1, 4, 45ff.: idcirco quidam comoedia necne poema / esset, quaesivere, quod acer spiritus ac vis / nec verbis nec rebus inest, nisi quod pede certo / differt sermoni, sermo merus. 30 Dichtung und Prosa Die Sprache in regelm ¨ aßiger metrischer Form darzubieten, macht, rein formal gesehen, das Wesen dichterischer T ¨ atigkeit auch nach Platon aus: Als Sokrates in der Politeia 393a-394a direkte Rede vom Beginn der Ilias in erz ¨ ahlende Prosa umformt, um am Unterschied von Darstellung und Bericht seine Mimesis- Konzeption zu erl ¨ autern, kommentiert er die Art seiner Wiedergabe mit dem bezeichnenden Vorbehalt: ”Ich muß sie jedoch ohne Silbenmaß vortragen, denn ich bin nicht dichterisch.“ 9 Zu denken gibt aber, was Sokrates und sein Dialogpartner Glaukon im 10. Buch der Politeia von den Dichtern erwarten. Vom Zukunftsstaat ausgeschlossen, es sei denn, sie sch ¨ ufen ”Ges ¨ ange an die G ¨ otter und Lieder auf treffliche M ¨ anner“ (607a), weil diese Werkgattungen f ¨ ur den Staat und das menschliche Leben f ¨ orderlich seien, sollten sie Gelegenheit erhalten, sich zu rechtfertigen und zu verteidigen, damit man unbefangen das Urteil ¨ uberpr ¨ ufen k ¨ onne, daß die Dichtung an die Philosophie nicht heranreiche. Wie h ¨ atte die Verteidigung zu geschehen? Durch Widerrede, wie vor einem Gericht, doch hat der Sokrates Platons einen recht seltsamen Verfahrensmodus im Sinn: Den Freunden und F ¨ ursprechern der Dichter solle verg ¨ onnt sein, in ungebundener Rede, in ”Sprache ohne Metrum“ (607d: #νευ μ τρου λ γος ) zu argumentieren; die Dichter jedoch h ¨ atten ihre Sache in gebundener Form zu vertreten: ”im Lied oder in irgendeinem anderen Metrum“. 10 Das ist grimmige Ironie gegen ¨ uber den Vertretern einer Kunst, die nach Platons Auffassung zu einseitig den Gesetzen der Form huldigt und nicht anders als die Rhetorik ihre Mittel f ¨ ur alles einsetzen kann und einsetzt, aber dabei das moralisch-ethische Ziel, ”f ¨ ur die Staaten und das gesamte menschliche Leben f ¨ orderlich zu sein“, mißachte. Daß die Verteidigung nicht gelingen wird, ist vorhersehbar. Es ist die einseitige Betonung der metrischen Form als Merkmal der Dichtung, auf die Platons Kritik haupts ¨ achlich zielt. F ¨ ur ihn ist es nicht damit getan, daß Dichtung metrisch sein muß. Im Zusammenhang mit ¨ Außerungen zur musikalischen Kunst und zum Tanz fordert der f ¨ ur ihn sprechende Athener Dialogteilnehmer in den Nomoi 669c-d eine wirklichkeitsgem ¨ aße Nachahmung von Sprache, Rhythmus und Melodie. Anders als die Musen begingen die Dichter und die Vortragenden viele Fehler, die zu r ¨ ugen seien. Unstatthaft mischten sie Rede von M ¨ annern in deren Metren mit der andere Silbenmaße fordernden Rhythmik und Tongebung von Frauen, sowie Melodien und Ausdrucksformen, die freien Menschen eigen sind, mit der Rhythmik von Sklaven und Unfreien, was sprachlich und metrisch nicht zusammenpasse. An sp ¨ aterer Stelle (Nomoi 700d) erweitert Platon seinen Fehlervorwurf an die Adresse der - wie er sagt - Recht und Gesetz der Musen nicht verstehenden und nur auf die Lust zielenden Dichter zu dem Tadel, sie h ¨ atten sich ¨ uber die Regeln der Korrespondenz zwischen Liedart 9 Platon, Politeia 393d: φρ σω δ #νευ μ τρουG ο; γ ρ εHμι ποιητικ ς. 10 Platon, Politeia 607d: Ο; κοCν δικα α (στ ν ο τω κατι ναι, πολογησαμ νη (ν μ λει J τινι #λλω μ τρω ; Das Charakteristikum der Dichtkunst nach Aristoteles: Mimesis 31 und verbindlichem Metrum hinweggesetzt. ”Sie vermengten das Klagelied mit dem Hymnus, den Paian mit dem Dithyrambus [ . . . ] und stellten alles mit allem zusammen.“ 11 Die Ablehnung von Kunstwerken, in denen bloß Worte in Metren gesetzt, aber ohne Musik geschaffen werden, wie auch die Darbietung von Rhythmen mit Musik, jedoch ohne Worte (669d-e), legt offen, daß Platon eine Konzeption der Dichtung aufrechtzuerhalten suchte, in der noch metrisch geformte Sprache, Rhythmik und Melodik eine Einheit bildeten. Die Gattungen, die Platon guthieß, n ¨ amlich der G ¨ otterhymnus und das Preislied, entsprachen diesem Leitbild. Un ¨ ubersehbar ist dabei, daß in Platons Vorstellung von Dichtung das an Sprache gebundene Metrum nur im Zusammenwirken mit Rhythmus, Melodie und ethisch nutzbringendem Stoff (oder Thema) Rede zur Dichtung formen kann, die er bejahen w ¨ urde. 2.2 Das Charakteristikum der Dichtkunst nach Aristoteles: Mimesis Deutliche Abwertung als Merkmal der Poesie erf ¨ ahrt das Metrum in der Kunstkonzeption des Aristoteles, wenn auch nicht konsequent. Denn im 3. Buch der Rhetorik wird f ¨ ur die Rede der Satzrhythmus mit der Mahnung gefordert, daß er nicht auf der Grundlage eines festen Metrums zustandekommen d ¨ urfe, sonst werde die Prosarede n ¨ amlich zum Gedicht. 12 W ¨ ahrend die Rhetorik also ganz gorgianisch die Dichtung von der Prosa durch das Kriterium des metrisch gestalteten Verses trennt, hatte die vorausgegangene Poetik diese Differenzierung nicht nur nicht benutzt, sondern sie ausdr ¨ ucklich außer Kraft gesetzt. Hierzu erw ¨ ahnt Aristoteles in der Poetik, daß ”eine verbreitete Auffassung“ das Dichten mit metrischer Sprache assoziiere, und daß Elegiendichter ( (λεγειοποιο<ς ) und Epiker ( (ποποιο<ς ) noch durch ihren Namensunterschied die herk ¨ ommliche Bedeutung der Versarten f ¨ ur die Bestimmungen poetischer Werke vor Augen f ¨ uhrten. 13 Die Unbrauchbarkeit des Verses f ¨ ur die Bestimmung, was Dichtkunst ist und was nicht, demonstriert Aristoteles in der Poetik an medizinischen und naturwis- 11 Platon, Nomoi 700d: κερανν<ντες δ θρ νους τε μνοις κα πα ωνας διθυρ μβοις, κα α; λω δ ας δ6 τα%ς κιθαρω δ αις μιμο<μενοι, κα π ντα εHς π ντα συν γοντες, 12 Aristoteles, Rhetorik 1408b30: δι Eυθμ ν δε% "χειν τ ν λ γον, μ τρον δ μ G πο ημα γ=ρ "σται. 13 Aristoteles, Poetik 1447b14f.: πλ6ν οL #νθρωπο γε συν πτοντες τ: μ τρω τ ποιε%ν (λεγειοποιο? ς το? ς δ (ποποιο? ς 8νομ ζουσιν, ο; χ 1ς κατ= τ6ν μ μησιν ποιητ=ς λλ= κοιν@> κατ= τ μ τρον προσαγορε<οντες. ’Elegiendichter‘ und ’Ependichter‘ wurden auf Grund der unterschiedlichen Versmaße ihrer Werke auseinandergehalten: ’Elegiendichter‘ verfaßten die Verse in Distichen, ’Ependichter‘ die ihren in Hexametern. 32 Dichtung und Prosa senschaftlichen Darstellungen in metrischer Form. Sie behandelten Sachfragen und Wissen in rein beschreibender Perspektive, k ¨ onnten deshalb trotz der Darbietung in Versen nicht zu den mimetischen Sch ¨ opfungen, also zur Dichtung und im weiteren Sinne zu den K ¨ unsten, gerechnet werden. F ¨ ur diese ist das Kennzeichen nach Aristoteles die Mimesis ( μ μησις ), die Nachahmung charaktergeleiteten menschlichen Handelns. Hinsichtlich ihres Verh ¨ altnisses zur Mimesis h ¨ atten Homer und der Naturphilosoph Empedokles, der seine Lehren ebenso in Hexametern vortrug wie der Ilias-Dichter den Stoffdes Troia-Geschehens, nichts Gemeinsames, der metrischen ¨ Ubereinstimmung zum Trotz; daher w ¨ are es ”richtig, den einen als Dichter zu bezeichnen, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter“. 14 An anderer Stelle (1451b1-2) weist Aristoteles die Bedeutungslosigkeit des Verses am Beispiel eines historiographischen Textes nach: W ¨ urde man die Werke Herodots in Verse setzen, so erg ¨ aben sie trotz Metrisierung keine Dichtung, sondern blieben Geschichtswerke, weil sie nur berichteten, was zu einer bestimmten Zeit geschehen ist. Auch in Versen w ¨ urden sie kein allgemeing ¨ ultiges Handeln in seiner einzelcharakterlichen Motivierung darstellen, was doch das Wesen der mimetischen Kunst ausmachte. Aristoteles gr ¨ undet seine ¨ Uberlegungen zur Dichtkunst auf die Erkenntnis, daß es nicht m ¨ oglich ist, diese ”Kunst“ auf Grund der sprachlichen Gestaltungsformen, in denen sie begegnet, zu definieren. An Stelle des ¨ außerlichen Kriteriums des Verses erhebt er eine bestimmte Weise der Darstellung, die Mimesis nach seinem Begriff, zum Maßstab, ob ein sprachlicher Text zur Dichtung zu z ¨ ahlen sei oder nicht. Ihrer Natur nach sieht Aristoteles die Dichtkunst eng verbunden mit dem Fl ¨ oten- und Kitharaspiel sowie mit dem Tanz, weil die drei Gattungen zwar je verschiedene Gegenst ¨ ande auf je verschiedene Weise zur Darstellung bringen, aber darin ¨ ubereinstimmen, daß sie Handeln ”nachahmen“. Die Tanzkunst benutzt dazu den Rhythmus, das Fl ¨ oten- und Kitharaspiel den Rhythmus und die Melodie, die Dichtkunst noch zus ¨ atzlich oder auch allein die Sprache. Die Dichtkunst ist somit die sch ¨ opferische Gattung, die Mimesis mit Hilfe des Mediums Sprache schafft. 15 Den Mimesis-Begriffhat Aristoteles von Platon ¨ ubernommen, aber vom Negativen ins Positive gewendet. 16 Denn w ¨ ahrend Platon in seiner auf der Ideenlehre 14 Aristoteles, Poetik 1447b18: ο; δ ν δ κοιν ν (στιν MΟμ ρω κα Εμπεδοκλε% πλ6ν τ μ τρον, δι τ ν μ ν ποιητ6ν δ καιον καλε%ν, τ ν δ φυσιολ γον μ5λλον 9 ποιητ ν. 15 Der Abschnitt faßt den f ¨ ur uns relevanten Inhalt der beiden ersten Kapitel der Poetik zusammen (1447a13-1448a13). Ausf ¨ uhrliche Interpretation bietet der Kommentar von Arbogast Schmitt: Aristoteles, Poetik 2008, 195-258, mit umfangreichen Literaturangaben (229, 258). 16 Zu Platons Mimesis-Begriff: U. Zimbrich, Mimesis bei Platon, Frankfurt a. M. 1984; Stephen Halliwell 2002 [speziell im Kap. Representation and Reality: Plato and Mimesis, 37- Das Charakteristikum der Dichtkunst nach Aristoteles: Mimesis 33 fußenden Ontologie in jeder k ¨ unstlerischen Darstellung nur das nochmalige Abbild eines Abbildes der Idee sah, also in der Mimesis eine weitere Degradation, polte Aristoteles sie um zu einer Form der k ¨ unstlerischen Welterfahrung und -vergegenw ¨ artigung von fast philosophischem Rang. Denn was Aristoteles in der Abgrenzung der Dichtkunst mit ’Mimesis‘ meinte, ¨ ubersteigt die g ¨ angigen Vorstellungen, welche die Bezeichnung im gewohnten Griechischen wie auch in den ¨ Ubersetzungsbehelfen (lat. imitatio, dt. Nachahmung, Nachbildung usw.) repr ¨ asentiert. 17 Der in der Dichtungsbestimmung verwandte Begriffvon Mimesis bezieht sich nur darauf, daß Menschen in ihrem Handeln zur Darstellung kommen. 18 Er umfaßt nicht die Wiedergabe von Naturobjekten (imitatio naturae). Eine weitere Eingrenzung nahm Aristoteles mit der Bindung des Handelns an den - guten oder schlechten - Charakter des Menschen vor: Der Charakter bestimme die Handlungsentscheidung, er muß bei der Darstellung des Einzelfalles, um die es immer nur gehen kann, als bewegende Ursache des So-und-nicht-anders-Handelns eines Menschen erkennbar werden, wie aus der mehrfachen Hervorhebung der charakterlichen Motivierung alles Tuns in der Poetik zu folgern ist. Die Mimesis ist nach Aristoteles eine f ¨ ur den Menschen wesentliche Bet ¨ atigung; sie liegt in seiner Natur, hebt ihn ¨ uber alle Lebewesen hinaus, ist auch der Grund f ¨ ur die Entwicklung dichterischer und allgemein k ¨ unstlerischer Aktivit ¨ aten. Ihrem Wesen nach versteht Aristoteles die Mimesis als eine Form des Erkennens. Im Gegensatz zur Historiographie, welche (mehr) das Einzelne, Besondere festh ¨ alt, erkennt die mimetische Kunst im Singul ¨ aren zugleich das Allgemeine und stellt dar, was ein Mensch auf Grund seines Charakters in einem bestimmten Einzelfall mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit sagt, tut oder erf ¨ ahrt. 19 Das Verstehen des Einzelnen als Verwirklichung eines Allgemeinen r ¨ uckt die Dichtkunst in die N ¨ ahe der Philosophie; sie ist nach Aristoteles ”philosophi- 71. Fundamentale Darstellung zur Entwicklung der Kategorie in der abendl ¨ andischen ¨ Asthetik]. ¨ Uber die Aristotelische Mimesis Schmitt, op. cit. 258-268, et passim. Gut informierende Gesamtdarstellungen mit umfangreichen Literaturangaben: Russell 1981, Chapter Seven: Mimesis, 98-113; Fuhrmann 1992: 82-89 [ ¨ Uberwiegend zu Platon]; U. Zimbrich, Artikel ’Mimesis‘ , in: DNP 8 (2000), 196-198; A. Eusterschulte, Artikel ’Mimesis‘ , in: Ueding, Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik, 5 (2001), 1232-1327 [Antike: 1232-1249]; J. K ¨ upper, Dichtung als Mimesis (Kap. 1-3), in: O. H ¨ offe (Hg.), Aristoteles, Poetik, 2009, 29-47. 17 Hierzu ausf ¨ uhrlicher A. Schmitt, op. cit., im Abschnitt ’Zur ¨ Ubersetzung von Mimesis‘ (209-213). [Alle Ausdr ¨ ucke beachten nicht, ”den besonderen Sinn, den Aristoteles in der Poetik mit ’Nachahmung‘ verbindet“. (Ebda. 209)]. 18 Aristoteles, Poetik 1448a1: Επε δ μιμοCνται οL μιμο<μενοι πρ ττοντας,. . . 19 Aristoteles, Poetik, 1451a36-b11. Hierzu empfiehlt es sich, den Kommentar von A. Schmitt (Aristoteles, Poetik, 2008), S. 387-392 heranzuziehen. 34 Dichtung und Prosa scher“ als die Geschichtsschreibung, die er als Paradebeispiel nichtmimetischer Darstellungsformen anf ¨ uhrt. 20 Da nach der Aristotelischen Psychologie jede Erkenntnis von Lust begleitet ist, Erkenntnis dem Menschen sogar die h ¨ ochste Lust selbst dann verschafft, wenn das Objekt unerfreulich oder gar abstoßend erscheint, schließt der Begriffder Mimesis stets den Gef ¨ uhlsaspekt ein. 21 Bei der mimetischen ’Nachahmung‘ sind Erkennen, Verstehen und Lernen immer mit Freude und Vergn ¨ ugen gekoppelt. Dies gilt auch f ¨ ur den Rezipienten, der den mimetischen Prozeß r ¨ uckw ¨ arts entschl ¨ usseln muß (”Das ist jener“) und bei der Verarbeitung des Dargestellten mit Erkenntnis- und Lustgewinn belohnt wird. Die Absage an den metrischen Vers als distinktivem Merkmal hatte zur Folge, daß nicht nur die traditionelle Grenze zwischen Poesie und Prosa aufgehoben, sondern die Unterscheidung selbst problematisch wurde. Das Kriterium der Mimesis steckte eine neue Abgrenzung ab; es trennte die sch ¨ opferisch-erkennende mimetische Darstellung, nun ’Dichtung‘ (im aristotelischen Sinn des Begriffs), von der nichtmimetischen, der sonstigen sprachlichen Repr ¨ asentation. Es lag in der Konsequenz der Neubestimmung der Dichtkunst, daß Aristoteles ihr den gesamten, reichen Komplex der Lehrdichtung absprach. Andererseits erweiterte er sie um die in Sizilien heimischen Mimen des Sophron und des Xenarchos (5./ 4. Jh. v. Chr.), um Volkstheaterpossen in Prosadialogen, sowie um die sokratischen (in der Regel Platonischen) Dialoge, mit denen eine weitere große Prosaliteratur der ’Dichtung‘ zugeschlagen wurde. Trotz gattungsm ¨ aßiger und stilistischer Unterschiede stimmten Mimen und sokratische Dialoge darin ¨ uberein, daß sie, wie von Aristoteles gefordert, Weisen des charaktergeleiteten Handelns darstellten: ”Die Mimen ahmen ein Handeln nach, wie es in der Wirklichkeit des t ¨ aglichen Lebens vorgefunden werden kann, die Platonischen Dialoge stellen dar, wie die menschlichen F ¨ ahigkeiten optimal aktiviert werden m ¨ ussen, um zu einem Handeln, das wirklich gl ¨ ucklich macht, zu f ¨ uhren.“ 22 Die Neudefinition der Dichtung auf der Basis seines Mimesisbegriffs hat Aristoteles veranlaßt, auch auf die rednerische Prosa und die sog. Kunstprosa im besonderen einzugehen. Darauf zu sprechen kommt er in der - nach der Poetik entstandenen - Rhetorik, wobei ihm daran liegt, das Stilisierungsbed ¨ urfnis der 20 Aristoteles, Poetik, 1451b5-8: ”Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“ 21 Zur Lust und Freude an der Erkenntnis speziell bei der Mimesis vgl. A. Schmitt: Aristoteles, Poetik 2008: 268f., 278-281, et passim. Halliwell 2002: 177-206 bietet ein breit ausgef ¨ uhrtes Kapitel The Rewards of Mimesis: Pleasure, Understanding and Emotion in Aristotle’s Aesthetics: [Wichtig die Unterscheidung zwischen dem ’Allgemeinen‘ der mimetischen Erkenntnis und philosophischen Universalien]. 22 So A. Schmitt: Aristoteles, Poetik, 2008, 217. Verwischende Grenzen 35 gehobenen Rede zu unterstreichen, aber auch Grenzen zu ziehen. Um der Klarheit willen solle die rhetorische Kunstprosa normalerweise die mittlere Stilh ¨ ohe nicht ¨ uberschreiten, auf ¨ Uberfrachtung mit Figurenschmuck und auf lexikalisches Raffinement verzichten. 23 Obwohl Aristoteles mit der Weisung, die Rede zu rhythmisieren, 24 sie der Dichtung ann ¨ ahert, h ¨ alt er an einer Stilunterscheidung fest: Es ist ”der Stil der Rede von dem der Dichtung verschieden“. 25 Nach alledem scheint Aristoteles die Grenze zwischen Poesie und Prosa umlegen zu wollen auf die Trennung zwischen mimetischer sprachlicher Darstellung (’Dichtung‘ ) und rhetorischer oder allgemeiner Repr ¨ asentation (’Rede‘ ). Dichtung und rhetorische Rede sind mimetisch sekund ¨ ar und stilistisch strikt auseinanderzuhalten. 2.3 Verwischende Grenzen Was Aristoteles bei der Gegen ¨ uberstellung von Homer und Empedokles sowie bei den Darlegungen zur Mimesis-Theorie ¨ uber die Dichtung und den Dichter sagte, ist in der hellenistischen Poetologie kaum in seinem Sinn fortgef ¨ uhrt worden. Vor allem hat das Kernst ¨ uck seiner Lehre, das Mimesis-Konzept, keinen namhaften Anh ¨ anger gefunden, der es sich zur Aufgabe gemacht h ¨ atte, es fortzuentwickeln und zu vertreten. Zwar gew ¨ ahren nur wenige Bruchst ¨ ucke Einblick in den Fortgang der poetologischen Diskussion zwischen dem 3. und dem 1. Jh. v. Chr., doch geben sie immerhin zu erkennen, daß in dieser Spanne nach modifizierten Begr ¨ undungen und Abgrenzungen des Poetischen gesucht wurde. Sichtbares Indiz dieser Tendenz ist die - noch durch Aristoteles in Gang gebrachte - scharfe Trennung des wahren Dichters vom Verseschreiber. In einem Fragment seines Traktats Περ ποιημ των ( ¨ Uber Gedichte) macht sich Philodemos (1. Jh. v. Chr.) die Unterscheidung des ’Poeten‘ ( ποιητ ς ) vom ’Versemacher‘ ( (μμετροποι ς ) zu eigen, mit dem Hinweis, er folge mit ihr Pausimachos, einem Theoretiker vom Ende des 3. oder vom Anfang des 2. Jhs. v. Chr., von dem er selbst die einzigen uns bekannten Lehrs ¨ atze ¨ uberliefert. 26 Die Daten legen nahe, die Teilung der in Versen schreibenden Autoren in exzellierende Dichter auf der einen Seite und Verseknechte auf der anderen als Fernwirkung von Aristoteles’ Homer-Empedokles-Unterscheidung zu betrachten. Aus unserer Blickrichtung heraus ist bedeutsam, daß damit die Dichtung und ’das Poetische‘ von der Identifikation mit metrischer Form erneut losgesprochen worden sind. 23 Aristoteles, Rhetorik 1404b1-3. Folgerung 1404b4f.: ”der poetische Stil ist nun wohl nicht niedrig, aber f ¨ ur die Prosarede nicht passend.“ Bereits Platon hatte sich mehrfach dagegen ausgesprochen, Rede in dichterische Prosa zu kleiden (Phaidros 261-267, Symposion 198c, Gorgias 450-456, Philebos 58a-b). 24 Aristoteles, Rhetorik 1408b21f. 25 Ebda. 1404a29 26 Janko: Philodemus 1 (2000), 46, 1f. (S. 236): ο; [πο]ητ ν, (μμετροποι ν [δO "]σεσθαι. 36 Dichtung und Prosa Weil das Metrum nicht mehr distinktiv erschien, wurde die von Aristoteles’ Mimesis-Konzeption ¨ uberdeckte Grenze zwischen Poesie und Prosa in der hellenistischen Dichtungstheorie weiter verwischt, ja sogar theoretisch aufgehoben. Zu beobachten ist dies in der von Philodemos ¨ uberlieferten Lehre des Herakleodoros (sp ¨ ates 3. Jh. v. Chr.), auch die Prosa k ¨ onne poetisch sein; namentlich die Werke von Demosthenes, Xenophon und Herodot k ¨ onnten als ”Dichtungen“ ( ποι ματα ) gewertet werden. 27 Diese Bewertung st ¨ utzte Herakleodoros auf sein Urteil, das wesentlich Poetische an einem Text sei die auf ¨ uberlegter Wortwahl beruhende sprachliche Komposition ( σ<νθεσις ), sie erzeuge Wohlklang; selbst die Qualit ¨ at einer Dichtung resultiere aus der Qualit ¨ at der Komposition. 28 Auch das Lob, das der unbekannte Autor der rhetorisch-philosophischen Schrift Vom Stil ( Περ Pρμηνε ας ) 29 Platon, Xenophon, Herodot und Demosthenes wegen des poetischen Effekts spendet, hebt als Poesie und Prosa einendes Element die ¨ Ubereinstimmung in der kunstvoll ausgebauten Komposition, der Synthesis, hervor. 30 Dionysios von Halikarnassos, Zeitgenosse von Horaz, wird die Klammerfunktion des kultivierten Stils, der gute Dichtung und gute Prosa aneinander angleichen k ¨ onne, vor allem an Reden des Demosthenes vorf ¨ uhren, ”denn sicher w ¨ urde niemand leugnen, daß die Reden des Demosthenes mit den vortrefflichsten Gedichten und Liedern zu vergleichen sind“. 31 Seine Schrift Περ συνθ σεως 8νομ των (De compositione verborum) ist ganz darauf gerichtet, die wortkompositorische, gleicherweise das Ohr ansprechende Gestaltungskunst guter Poesie und gehobener Prosa als Einheit in wechselnder Form darzustellen. Kennzeichen von Dichtung - womit Dionysios nur die gute Dichtung meint - ist statt des als ¨ Außerlichkeit angesehenen Versmaßes nun der gesuchte Stil. Wie die Erhebung des erlesenen Stils zum Kennzeichen guter Poesie, brachte auch die Hinwendung zum Kriterium des Wohlklangs sowohl eine Minderbewertung der metrischen Seite sprachlicher Kunst mit sich wie auch eine tendenzielle, bei einigen κριτικο offenkundige Aufhebung des Unterschieds von Poesie und Prosa. Nach der Theorie der Verfechter der Euphonie ( ε; φων α ), der im 2. und 1. Jh. v. Chr. vorherrschenden poetologischen Doktrin, war nichts als der sch ¨ one, 27 Janko: Philodemus 1 (2000), 20ff. (S. 428): ’ πο] ματα‘ φ σκων ’ τ= [Δη]μοσθ νους κα [τ= Rενο]φ: ντος, μ5λλον [δ κα ] τ= MΗροδ του.‘ 28 Ebda. F 31 (S. 162). 29 Das Werk wurde unsicher Demetrios von Phaleron zugeschrieben (Mitte 4. - Anfang 3. Jh. v. Chr.), ist aber j ¨ ungeren Datums. 30 Demetr. eloc. 181: Κ2ν μετροειδ@ δ U>, τ6ν α; τ6ν ποι σει χ ριν [ . . . ] κα πλε%στον μ ν τ τοιοCτον ε%δ ς (στι παρ= το%ς Περιπατητικο%ς κα παρ= Πλ τωνι κα παρ= Rενοφ: ντι κα MΗροδ τω , τ χα δ κα παρ= Δημοσθ νει πολλαχοC. 31 Dionysios v. H., De compositione verborum 25, 10: φ ρε δ6 τ ς ο; κ 2ν Vμολογ σειεν το%ς κρατ στοις (οικ ναι ποι μασ τε κα μ λεσι το? ς Δημοσθ νους λ γους; Verwischende Grenzen 37 das Ohr faszinierende Sprachklang das Merkmal guter Dichtung. Poesie definierte sich auditiv, als sprachlich-akustischer Reiz besonderer Qualit ¨ at, ganz unabh ¨ angig von der Form und vom Inhalt eines Werkes. Herakleodoros, der zu den fr ¨ uhen Advokaten der Euphonie z ¨ ahlt, gestand selbst unverst ¨ andlichen oder in fremder Sprache dargebotenen Wortfolgen poetischen Rang zu, sofern sie Wohlklang erzeugten. 32 Ob Vers oder Prosa, war f ¨ ur ihn ohne Belang, wenngleich er einr ¨ aumte, daß der Vers dem Ohr sehr schmeichle. Der etwas j ¨ ungere Pausimachos (ca. 200 v. Chr.), nach der Kritik bei Philodemos zu schließen, der radikalste der Euphonisten, stellte den Unterschied zwischen Poesie und Prosa mit dem Doppelargument in Abrede, diese Kategorien stimmten inhaltlich und funktional ganz und gar ¨ uberein. Es gehe inhaltlich der Prosa ebenso wenig um Wahrheit und Wirklichkeit wie der Poesie, und auch die Wirkungsziele seien gleich: Vielen ein Vergn ¨ ugen bereiten. 33 Damit negierte er den bisher noch nie ernstlich bestrittenen Lehrsatz, daß die Prosa realistische Sachinformation biete, daher objektiv belehre, wohingegen Poesie Wahres und Fiktives mische und in erster Linie bloß unterhalten wolle. In euphonistischer Sicht war die Kom ¨ odie ein eklatantes Beispiel f ¨ ur die Unsinnigkeit der bestehenden Poesie-Prosa-Unterscheidung, vor allem aber f ¨ ur die Unbrauchbarkeit des Vers-Kriteriums. Sie wurde wegen der gebundenen Rede herk ¨ ommlicherweise der Dichtung zugerechnet, erf ¨ ullte aber mit ihrer alltagsnahen Diktion bei weitem nicht die Anforderungen an den Wohlklang, die die Euphonisten mit ihrem Begriffvon Dichtung verbanden. Es erschien widersinnig, ausgefeilte ’sch ¨ one‘ Reden bloß weil ihnen die Metrisierung abging, als Prosa zu deklarieren, die Kom ¨ odie jedoch als ’Poesie‘ zu feiern. Wie die Sache die Gem ¨ uter bewegte, wie der euphonistische Einspruch gegen die gewohnte Gleichsetzung der Dichtung mit dem Vers fortwirkte, zeigt noch eine Meinungs ¨ außerung Ciceros im Orator. Er sieht in der Rhythmisierung der Rede, die bei Ber ¨ ucksichtigung seiner Empfehlungen ”so lebendig klingt und den prachtvollsten Wortschmuck verwendet“, eine Ann ¨ aherung an die Poesie; bei manchen hinterlasse sie den Eindruck, die Reden Platons und Demokrits h ¨ atten eher als Dichtung zu gelten als die Reden in Kom ¨ odien, die lediglich durch die Versform von der Sprache des Alltags abwichen. 34 32 Fragmente 19 und 20 in der Zusammenstellung R. Jankos in Janko: Philodemus 1 (2000): 165-189 et passim. 33 Janko: Philodemus 1 (2000): 49, 1ff. (S. 238f.) und Kommentar S. 168 [”a uniquely radical position“]. 34 Cicero, Orator 67, 4ff.: itaque video visum esse nonnullis Platonis et Democriti locutionem, etsi absit a versu, tamen, quod incitatius feratur et clarissimis verborum luminibus utatur, potius poema putandum quam comicorum poetarum apud quos, nisi quod versiculi sunt, nihil est aliud cotidiani dissimile sermonis. 38 Dichtung und Prosa 2.4 Roms R ¨ uckkehr zur formalen Differenzierung Auf den ersten Blick will es scheinen, daß Horaz beim Dichtungsbegriffdas Rad der Entwicklung mit eindeutiger Entschiedenheit um Jahrhunderte zur ¨ uckgedreht und ihn wieder an das voraristotelische Verst ¨ andnis angeschlossen hat. Denn f ¨ ur ihn gilt laut mancher Erkl ¨ arung offenbar, daß die Versform, obschon ein ¨ außerliches Merkmal, die Scheidelinie zur Prosa bestimmt. So beglaubigt er in der Satire 1, 4, 45ff., die Zuordnung der Kom ¨ odie zu den poetischen Gattungen, wenngleich auch seiner Meinung nach außer dem Metrum nichts zu finden sei, was die Sprache eines solchen B ¨ uhnenst ¨ uckes von der des Alltags abhebe. Man nehme nur die Zornesausbr ¨ uche eines von seinem leichtlebigen Sohn entt ¨ auschten Vaters auf der B ¨ uhne: Jeder erboste Vater wettere im wirklichen Leben genauso. Nur am festen Versmaß (pede certo) h ¨ ange es, daß man nicht von einer rein allt ¨ aglichen Redeweise (sermo merus) sprechen k ¨ onne. Ganz ¨ uberzeugt ist Horaz von der fraglosen Beweiskraft der Versform nicht: ”In schlichten Worten einen Vers zusammenschreiben, reicht nicht“ (Satiren 1, 4, 54). 35 Daß er trotzdem von der metrischen Form als einer conditio sine qua non ausgeht, ist einer der zahlreichen Widerspr ¨ uche in seiner Poetologie. Daß er f ¨ ur ’Dichtung‘ in der Ars poetica metrisch gebundene Sprache voraussetzt, erh ¨ artet die Skizze der Gattungen (83-85). Sie ber ¨ ucksichtigt bezeichnenderweise nur die Arten der fr ¨ uhgriechischen Dichtung; an sie soll man sich halten (Ars 86: descriptas servare vices): Epik, Elegie, Iambendichtung, Kom ¨ odie, Trag ¨ odie und die Lyrik, die ”die Muse den Saiten gab“ (83ff.), mit Liedern auf die Himmlischen, auf Sieger im Wettkampf, auf die Liebe und den Wein. Formstrenge erfordert die Beschr ¨ ankung jeder Versart auf bestimmte Gattungen und Inhalte, mit dem Ziel, daß Metrum, Stil, Gedichtform und Thema nach den Gesetzen der Angemessenheit ¨ ubereinstimmen. Mit der Elle der Formstrenge gemessen, kommt die r ¨ omische Dichtung der Vergangenheit bei Horaz schlecht weg; sie sei eine Abfolge von lauter M ¨ angeln, ”denn Roms Dichter genießen eine Freiheit, die wenig Ehre macht“ (Ars 264). Der Vorwurf zielt insbesondere auf den Wechsel und die Vermischung von Versformen, auch auf ¨ Uberschreitungen des alten Gattungskanons, was alles vom Vorbild abweicht, das die Griechen gesetzt haben und das nun Verbindlichkeit erh ¨ alt: ”Nehmt euch die Griechen als Muster zur Hand, bei Tage und bei Nacht“ (Ars 268f.). Am Urteil ¨ uber Ennius l ¨ aßt sich ablesen, inwieweit Horaz zuweilen die Versform auch als Wertmesser poetischer Qualit ¨ at betrachtet hat: Dem Trag ¨ odiendichter im ¨ Alteren kreidet er in Ars 259-262 fehlende Sorgfalt beim Versbau an. In der 35 ¨ Ubersetzung, auch in der Folge, nach: F ¨ arber, H. / Faltner, M. (Hgg.): Horaz, S ¨ amtliche Werke, M ¨ unchen 1960. Roms R ¨ uckkehr zur formalen Differenzierung 39 Epistel II, 1, 50ff., einem Sendschreiben an Augustus ¨ uber den literarischen Zeitgeschmack, macht er Front gegen die critici, die den Autor der Annales als ”zweiten Homer“ (alter Homerus) r ¨ uhmten. Zwar habe Ennius Weisheit und dichterische Kraft, doch zeige er sich nicht gen ¨ ugend bem ¨ uht - leviter curare videtur -, seine Verheißungen einzul ¨ osen, was sich darauf bezieht, daß Ennius in einem Traum von Homer zu dessen Reinkarnation erhoben worden sein will, wie er im Prooemium mit hohem Anspruch betont. Horaz spricht ihm vor allem hinsichtlich des Sujets die Ebenb ¨ urtigkeit mit Homer ab, zumal die Annales keine in sich abgerundete Handlungsfolge bieten k ¨ onnten und damit gegen ein Grundgesetz perfekter Epik verstießen. Anerkennung zollt Horaz an anderer Stelle der lexikalischen Meisterschaft des ”Vater Ennius“ (Epist. 1, 19, 7). Er und Cato h ¨ atten durch ihr Vorbild der ¨ uberkommenen Sprache neue Ausdrucksressourcen verschafft, das Vokabular durch Innovationen bereichert (Ars 56-58), so daß man auch ihm, Horaz, und den anderen Autoren der Zeit das Recht zugestehen m ¨ usse, der Wortwahl ”den Stempel der Gegenwart“ aufzupr ¨ agen (58f.). Dreh- und Angelpunkt der Kritik an Ennius ist aber die Frage, was das Gedicht zum Gedicht macht, also auch gegen die Prosa abgrenzt. Bei der Er ¨ orterung dieser Frage zeigt sich Horaz von einer Seite, die die Forderung der Versform aufrechterh ¨ alt, sie jedoch nicht als die einzige Bedingung behauptet. Wie sich aus dem Gesamtspektrum der Aussagen ergibt, bildet die Versform im Zusammentreffen mit h ¨ ochster sprachlich-stilistischer Vollendung und ethosgerichteter Thematik sogar das schw ¨ achste Glied der poetischen Elemente. Ausdr ¨ ucklich h ¨ alt Horaz in Satire 1, 4 40ff. fest, daß der Dichtername mehr verlange als Verse machen: ”Nur wer von sch ¨ opferischer Phantasie erf ¨ ullt, von g ¨ ottlicher Begeisterung einen Hauch versp ¨ urt und in erhabenen T ¨ onen singt, nur dem magst du die Ehre dieses Namens g ¨ onnen.“ Statt vom Verskriterium erwartet Horaz hier von der Stilprobe zuverl ¨ assige Auskunft, ob ein Text als Dichtung zu bewerten sei, d. h. als Kunstwerk auf der H ¨ ohe der Anforderungen, die er nun einmal mit dem Begriffverbindet. Er demonstriert sein Pr ¨ ufverfahren an einem Versst ¨ uck, das nach Porphyrios Mitteilung aus den Annales stammt: L ¨ ost man dessen Form und Rhythmus auf, stellt man W ¨ orter um und auseinander, so wie der K ¨ orper des Orpheus nach der T ¨ otung des S ¨ angers dem Mythos nach zerst ¨ uckelt worden ist, aber dennoch fortwirkte, so wird man noch immer die ”zerrissenen Glieder eines Dichters erkennen“ (Satire 1, 4, 62). 36 W ¨ ahrend die Kom ¨ odie und auch die Satire im Stil des Lucilius reine Prosa erg ¨ aben, n ¨ ahme man ihnen bloß die St ¨ utze der Versform, und deshalb sogar die Frage aufwerfen, ob sie ¨ uberhaupt echte Poesie sind, zeige die Aufl ¨ osungsprobe eines vollkommenen poema, daß die dichterische 36 Zum Beweis daf ¨ ur, daß gute Dichtung erkennbar bleiben w ¨ urde, zitiert Horaz den - auch von Vergil (Aeneis VII, 607ff.) aufgenommenen - aufgel ¨ osten Ennius-Vers von der ¨ Offnung des Ianus-Tempels in kriegerischen Zeiten: postquam Discorda taetra / belli ferratos postes portasque refregit (1, 4, 60f.). 40 Dichtung und Prosa Gestaltungskraft dort ein jedes Teil des Ganzen so kunstvoll geformt hat, daß es auch f ¨ ur sich noch immer poetischen Rang hat und auf ein großes Werk weist. Nichts best ¨ atigt so deutlich wie der Rekurs auf die Aufl ¨ osungsprobe, daß Horaz an Stelle der metrischen Form den exzellenten Sprachstil zum Hauptkriterium von Dichtung erhebt, ganz auf der Linie der Aufwertung der σ<νθεσις , lat. compositio, in den sp ¨ athellenistisch-r ¨ omischen Dichtungslehren. In letzter Konsequenz h ¨ atte Horaz als Folgerung aus der Anhebung des Stils zum eigentlichen Kennzeichen des Poetischen, wie sie in der Satire 1, 4 verk ¨ undet, in der Ars ausgef ¨ uhrt wird, die Grenze zwischen Dichtung und Prosa neu bestimmen m ¨ ussen. Doch diesen Schluß wollte der traditionsverpflichtete Autor der Ars poetica nicht ziehen. So zeigt Horaz das charakteristische Verhalten Roms: die gegen bessere, theoretische Einsicht aufrechterhaltene Trennung zwischen Poesie und Prosa nach dem bloßen Formkriterium. M ¨ oglicherweise geht das starre r ¨ omische Festhalten am metrischen Kriterium auf Terentius Varro zur ¨ uck. Von dessen Schrift De poematis w ¨ are Erhellendes zu erwarten gewesen, doch leider sind nur Bruchst ¨ ucke ¨ uberliefert. 37 Immerhin bezeugt das Frg. 398 aus der Menippea Parmeno, daß unter einem Poem ”rhythmisch (=metrisch) gebundene Sprache“ zu verstehen sei: poema est lexis enrhythmos, id est, uerba plura modice in quandam coniecta formam. Schon ein aus zwei Versen bestehendes Epigramm bilde ein Poem. Auch bei einem gr ¨ oßeren, poesis zu nennenden Werk mit umfangreicherer, aber zusammenh ¨ angender Darstellung ist das metrische Gef ¨ uge das bestimmende Element: poesis est perpetuum argumentum ex rhythmis, ut Ilias Homeri et Annales Enni. 38 Varros Unterscheidung von poema und poesis schließt an die Gepflogenheit der hellenistischen Theoretiker an, ihren Schriften Definitionen der Grundbegriffe der Dichtungslehre (poema, poesis, poetice, poeta) voranzustellen. Der fragmentarische Rest einer Begriffsfestlegung von der Hand Varros, in der poesis, dem schwankenden Gebrauch folgend , im engeren Sinn als Dichtungsgattung gesehen wird, gen ¨ ugt, um zu erh ¨ arten, daß man in Rom Dichtung grunds ¨ atzlich mit Vers verband. Im Vers, in nichts Weiterem, erkannte auch Cicero das distinktive Merkmal der Dichtung. Bei der Abgrenzung der Rhetorik von der Sprachkunst der poetae 37 Hellfried Dahlmann hat die Fragmente in: Varros Schrift ’De poematis‘ und die hellenistisch-r ¨ omische Poetik (Akad. Mainz, Abh. der geistes- und sozialwiss. Klasse, Nr. 3 (1953)) hinsichtlich der Verbindungslinien zur hellenistischen Dichtungstheorie ersch ¨ opfend analysiert. 38 M. Terentii Varronis Saturarum Menippearum fragmenta, ed. Raymond Astbury, Leipzig 1985, p. 67. Kommentar in der Ausgabe von Jean-Pierre C` ebe, Varron, Satires M´ enipp ´ ees, Rome 1994. Die in Fn. 37 genannten Forschungen Dahlmanns gaben den Anstoß zur Diss. von Helmut Geller, Varros, Menippea ’Parmeno‘ , K ¨ oln 1966, auf deren Ergebnisse sich C` ebe gest ¨ utzt hat. Roms R ¨ uckkehr zur formalen Differenzierung 41 im Orator 66ff. h ¨ alt er fest, daß die Rhythmisierung der Rede zwar inzwischen bei den Rednern ebenfalls die w ¨ unschenswerte Beachtung erfahre, so daß sie den Dichtern nahek ¨ amen, doch bliebe als poetisches Spezifikum, somit als klar trennendes Element von Dichtung und Prosa, die Versform. Obwohl Cicero sein ganzes Gewicht f ¨ ur die Rhythmisierung der Rede in die Waagschale wirft, warnt er, die Trennlinie zur Metrisierung zu ¨ uberschreiten: Der metrische Versbau geh ¨ ort dem Dichter, in der Rede w ¨ are er ein Regelverstoß (vitium). Selbst in puncto Sprachgestaltung, wo die hellenistischen Theoretiker von Konvergenz zwischen Dichtung und gehobener Rede ausgegangen waren, weil ja in der einen wie in der anderen Kunst ein großer Aufwand an Sprachschmuck gefordert war, arbeitete Cicero mehr das Unterscheidende als das Verbindende heraus. Von der Auflage der sorgf ¨ altigen Ausdruckswahl abgesehen, dem einzigen Ber ¨ uhrungspunkt mit den Erfordernissen guter Rede, haben die Dichter in seinen Augen mehr Freiheit bei der Wortneubildung und Wortkomposition, mit dem Ergebnis, daß es bei ihnen mehr um sch ¨ one Formulierungen als um die Sache gehe. In Ciceros Vorstellung soll der ideale Redner ¨ uber Qualit ¨ aten verf ¨ ugen, die ihn unter den gebildeten Zeitgenossen herausheben: ”dialektischen Scharfsinn, philosophischen Gedankenreichtum, das Ged ¨ achtnis von Juristen, die Stimme von Trag ¨ oden, die Geb ¨ ardensprache der Besten unter den Schauspielern“ und [hier ans Ende gesetzt] ”eine schon beinahe poetische Ausdrucksweise“ (De oratore 1, 128). Angesichts solcher Voraussetzungen, angesichts auch des Zwangs, die Ausschm ¨ uckung der Rede mit dem Gebot ihrer Verst ¨ andlichkeit fortw ¨ ahrend ausbalancieren zu m ¨ ussen, und schließlich in Anbetracht des Problems, bei der Rhythmisierung jedesmal das rechte Maß zu treffen, vertritt Cicero den Standpunkt, daß es ”viel schwieriger ist, Prosa zu verfassen als Verse“. Bei der Prosa sei so gut wie nichts festgelegt, also sei man auf sich gestellt; bei Versen dagegen herrschten bestimmte, genau definierte Gesetze - er meint die Regeln der Metrik -, die ganz einfach zu befolgen seien. 39 Es ist offenkundig, daß Cicero beim Vergleich der k ¨ unstlerischen Bedingungen seinen Redner m ¨ achtig heraushebt: Brillante rhetorische Prosa l ¨ aßt Poesie ¨ asthetisch hinter sich. Dieses forsche Urteil stellte die traditionelle Lehre, daß die Poesie die anspruchsvollere Kunstform sei, auf den Kopf. In der Kaiserzeit gewann dann auch in der Literatur die Prosa f ¨ ur einige Jahrhunderte die Oberhand ¨ uber die Poesie. So ist nicht verwunderlich, daß man bem ¨ uht war, ihren Primat auch kulturhistorisch zu rechtfertigen. Die entsprechende Theorie hierzu entwickelte Plutarch (ca. 45 bis vor 120 n. Chr.). Der als 39 Orator 198: quo etiam difficilius est oratione uti quam versibus, quod in illis certa quaedam et definita lex est, quam sequi sit necesse; in dicendo autem nihil est propositum, nisi ut ne immoderata aut angusta aut dissoluta aut diffluens sit oratio. 42 Dichtung und Prosa Verfasser zahlreicher philosophischer und biographisch-historischer Schriften ber ¨ uhmte Prosaist schildert im Dialog De Pythiae oraculis die Eindr ¨ ucke und Gedanken einer Reisegruppe von Freunden, die die heiligen St ¨ atten Delphis besucht. Auf die Weissagungen eingehend, fragen sich die Freunde, warum die Pythia ihre Orakelspr ¨ uche seit langem nicht mehr in Versen, sondern nur noch in d ¨ urrer Prosa verk ¨ unde, zumal da Delphi der Ort zu sein beansprucht, wo Apollon selbst oder die Pythia erstmals den Hexameter erklingen ließ. Nach einer Notiz Ciceros h ¨ atte Apollon schon zur Zeit des K ¨ onigs Pyrrhus, also um 300 v. Chr., mit der Gewohnheit gebrochen, seine Orakel in Versen auszuformulieren. 40 Den Wechsel von der Poesie zur Prosa rechtfertigt Plutarch mit einem Wandel des menschlichen Wesens. Die urt ¨ umliche Menschheit habe eine leib-seelische Neigung f ¨ ur alles Musikalische, Poetische und Exzentrische gehabt, die jederzeit durch Wein, Liebe, Jubel, aber auch durch Jammer und Trauer gesteigert werden konnte. Doch nach und nach h ¨ atten das Leben und das Geschehen das Wesen des Menschen ver ¨ andert, er habe gelernt, das Maßvolle, Schlichte, Einfache h ¨ oher zu sch ¨ atzen als den ¨ Uberschwang, den Prunk und die ¨ Uppigkeit. Auch der Sprachstil des Menschen habe den Wandel mitgemacht. Rudolf Kassel, der auf die evolutionstheoretische Erkl ¨ arung ausf ¨ uhrlich eingegangen ist, faßte die Position, aus der heraus Plutarch argumentiert hat, treffend in dem Satz zusammen: ”Der Vers hat seine Zeit gehabt, eine ern ¨ uchterte Menschheit findet an der Prosa ihr Gen ¨ ugen und f ¨ ahrt gut damit.“ 41 Dennoch haben produktions ¨ asthetische und kulturhistorische Motive es nicht vermocht, der Prosa in der Sp ¨ atantike auf Dauer ein h ¨ oheres oder auch nur gleich hohes Prestige wie der Poesie zu verschaffen. Man sieht das deutlich bei den fr ¨ uhen christlichen Autoren, die die Sprache der Bibel, ob Hebr ¨ aisch, Griechisch oder Lateinisch, dadurch zu nobilitieren meinten, daß sie sie f ¨ ur ’poetisch‘ erkl ¨ arten. Und noch besser erkennt man es an der eiligen Umsetzung von Bibelteilen in Hexameterdichtungen. Die Evangeliorum libri IV des Hispaniers Iuvencus er ¨ offnen schon kurz nach 325 die Serie der ’Bibelepen‘ , neben denen sich eine reiche Bibeldichtung nacherz ¨ ahlenden Inhalts und eine noch das ganze Mittelalter ausf ¨ ullende Vitenpoesie ¨ uber Leben und Leiden Christi, der M ¨ artyrer und Heiligen entfaltete. Sogar die s ¨ akulare Ependichtung erlebte in der Sp ¨ atantike eine erstaunliche Nachbl ¨ ute. In jener Epoche entstand mit den - griechisch verfaßten - Dionysiaka des Nonnos (5. Jh.), einer Lebens- und Wirkungsgeschichte des Dionysos, das gr ¨ oßte uns erhalten gebliebene antike Epos. Mit 21382 hexametrischen, im vergilischen Stil komponierten Versen in 28 B ¨ uchern, ebenso 40 Cicero, De divinatione 2, 116. 41 Rudolf Kassel ¨ uber Plutarch in: Dichtkunst und Versifikation bei den Griechen [Nachdruck einer Vortragsver ¨ offentlichung von 1981 in: Rudolf Kassel, Kleine Schriften, hgg. von Heinz-G ¨ unther Nesselrath, Berlin - New York 1991. Der Titel dort auf den Seiten 99-120, der zitierte Wortlaut auf S. 119]. Roms R ¨ uckkehr zur formalen Differenzierung 43 vielen wie Ilias und Odyssee zusammen, dokumentiert es auch f ¨ ur den Bereich der weltlichen Literatur das ¨ uberragende Prestige, das die Poesie an der Schwelle zum Mittelalter wieder genoß. 42 42 Das Thema des Kapitels mit Fortf ¨ uhrung bis ins 20. Jh. behandeln im ¨ Uberblick und mit bibliographischen Angaben C. Kallendorf im Artikel ’Dichtung‘ in: Ueding, Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 2 (1994), Definition und Antike 668-676; K. Weissenberger, Artikel ’Prosa‘ , in: Ueding, Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 7 (2005), 321-348. Zur Entwicklung der Prosa: G. Kennedy, The Evolution of a Theory of Artistic Prose, in: Ders. (Hg.), The Cambridge History of Literary Criticism, Bd. I: Classical Criticism, Cambridge 1989, 184-199. 3 Dichtung und Rhetorik 3.1 Fr ¨ uhe Dichtung und vorsystematische Rhetorik In den Geographica, der um die Zeitenwende entstandenen Beschreibung der damals bekannten Welt mit reicher kulturkundlicher Information f ¨ ur das bildungsinteressierte Leserpublikum, hat Strabon die Redekunst der Dichtkunst zugeordnet; bei beiden gehe es um den Ausdruck. 1 Obschon das Urteil im Zusammenhang mit den in Kap. 2 behandelten sp ¨ athellenistischen Tendenzen zu sehen ist, den Begriffder Dichtung auch auf anspruchsvoll gestaltete und wohlklingende Prosa auszudehnen, formuliert es im Kern eine nie in Zweifel gezogene Tatsache: Poesie und Rhetorik sind gleichermaßen durch kunstvolle Formung aus der Rede herausgebildet worden. Daß sie sich im allgemeinen in den Wirkungszielen aber deutlich unterschieden, schlug f ¨ ur Strabon nicht zu Buche. Als Stoiker konnte er das rhetorische Ziel, die Persuasion, als ¨ Uberredung eines Menschen zum Guten interpretieren, und bei dieser Auffassung gab es eine ¨ Ubereinstimmung mit dem Anliegen der ethisch-moralischen Belehrung und Besserung, das die Dichtung nach stoischer Funktionsbestimmung zu verfolgen hatte. Schon die fr ¨ uhesten Zeugnisse der Literatur besagen, daß Dichtung und Redekunst miteinander verschwistert sind, auch im Effekt zusammenwirken. Man braucht nur die Homerischen Epen zu betrachten: Wann immer jemand in einer Versammlung der F ¨ ursten, vor dem Heer oder vor einer Volksmenge eine Ansprache h ¨ alt, sind seine Worte wohlgeordnet und in einer Diktion verfaßt, die die Gebrauchssprache des Alltags weit ¨ ubersteigt, ganz abgesehen von der Versform, die obendrein die Poetizit ¨ at der Rede verb ¨ urgt. Die Zuh ¨ orer erwarteten einen gehobenen, der besonderen Stellung des Redners entsprechenden Stil, und der Autor vergaß auch nicht, auf die eine oder die andere Qualit ¨ at des Vortrages selbst lobend hinzuweisen. Kein hinreißender Redner war nach der Beschreibung in der Ilias 3, 213ff. der K ¨ onig Menelaos, aber positiv vermerkt wird, daß er ”klar und hell“ sprach, sich auch nicht in vielen Worten erging und ”kein Schw ¨ atzer war“. Wohlklingend mußte die Rede sein, weshalb Nestor, der ”t ¨ onende Redner von Pylos“ in 1, 247ff. ein Extralob daf ¨ ur einstreichen kann, daß er in der erregten Heeresversammlung der Griechen nicht nur ”sanft“ sprach, sondern auch akustisch ¨ uberaus angenehm: ”Ihm floß von der Zunge die Stimme s ¨ ußer als Honig“. Eine gute Rede zu halten, setzt l ¨ angere Erfahrung voraus, weil man die n ¨ otige Technik erst lernen muß. Deshalb ist die Qualifikation in der Regel mit einem 1 Strabon, Geographica I, 2, 6: δι τι πηγ6 κα ρχ6 φρ σεως κατεσκευασμ νης κα Eητορικ@ς Wπ@ρAεν X ποιητικ . 46 Dichtung und Rhetorik gewissen Alter verbunden. Von daher ist zu verstehen, daß in der Odyssee 8, 165 Odysseus dem ihn schm ¨ ahenden Euryalos entgegnet: ”Freund, Du sprichst nicht sch ¨ on, Du scheinst mir ein trotziger J ¨ ungling.“ Telemachos, Odysseus’ Sohn, der auf der Suche nach dem noch nicht heimgekehrten Vater in Pylos vom K ¨ onig Nestor gastfreundlich aufgenommen wird, versteht es trotz seiner Jugend, sein Anliegen, das Vermißtenschicksal aufzukl ¨ aren, so beredt vorzutragen, daß der alte Nestor darin den Vater wiederzuerkennen glaubt und bewundernd ausruft: ”Man m ¨ ochte nicht meinen, daß ein j ¨ ungerer Mann so passend zu reden verst ¨ unde“ (3, 124f.). Rednerisches K ¨ onnen zeichnet den Helden ebenso aus wie sein K ¨ ampfertum. Das eine ist wie das andere ein Merkmal von Gr ¨ oße, so daß die Ilias 18, 252 bei einem Vergleich von Polydamas, dem Gef ¨ ahrten und Ratgeber Hektors, der auch als guter K ¨ ampfer geschildert wird, mit Hektor selbst Superiorit ¨ at bei dem einen wie bei dem anderen feststellen kann: ”Er war mit dem Reden, doch der mit der Lanze ihm weit ¨ uberlegen“. Als einstiger Erzieher des Achilleus kann der alte Phoinix bei der Bittgesandtschaft es wagen, den grollenden Helden dar ¨ uber zu belehren, welche Doppelaufgabe im Kampf um Troia man von ihm erwartet: ”Redner von Worten zu sein sowie Vollbringer von Taten“ (Ilias 9, 443). Greise F ¨ uhrer des Volkes, ”durch ihr Alter des Kampfes entbunden“, bleiben nach der Ilias 3, 146ff. noch immer ”im Rate treffliche Redner“, behalten also Macht und Einfluß allein dank ihrer oratorischen Kraft, und dies, obwohl ihre Stimmen schon so gebrochen sind, daß der Dichter sie mit dem schrillen Zirpen von Zikaden vergleicht. Die Odyssee steigert das herausragende rednerische K ¨ onnen zu einer g ¨ ottlichen Gabe. So kann Antinoos, ein Wortf ¨ uhrer der Freier, erstaunt ¨ uber die Redegewalt, mit der der junge Telemachos sich gegen ¨ uber Mutter, Dienern und l ¨ armenden Brautwerbern als Herr im Hause des ausgebliebenen Odysseus durchsetzt, nur auf eine von den Himmlischen verliehene Redekunst schließen: ”Dich, Telemachos, lehrten gewiß sie selber, die G ¨ otter, / Große Worte zu t ¨ onen und mutige Reden zu halten“ (1, 384f.). Am klarsten kommt die Auffassung von der Gottgegebenheit guten rednerischen K ¨ onnens in der Replik zum Ausdruck, die der Dichter Odysseus beim Gelage am K ¨ onigshof der Phaiaken in den Mund legt, um die Schm ¨ ahungen durch Euryalos zur ¨ uckzuweisen: ”Liebenswertes verleihen also die G ¨ otter nicht allen / M ¨ annern, weder an Wuchs noch Verstand, noch an Gabe der Rede. / Ist doch der eine Mann zwar unansehnlich im ¨ Außern, / Aber ein Gott erf ¨ ullt mit Gestalt seine Worte, und alle / Blicken erfreut auf ihn; er redet treffend und sicher / Mit gewinnender Scheu und sticht hervor in der Menge; / Wenn durch die Stadt er geht, betrachten sie ihn einem Gott gleich“ (8, 167-173). Es zeichnet sich eine vielsagende ¨ Ubereinstimmung ab, freilich mit ungleicher Belegdichte: Wie die F ¨ ahigkeit, Sprache poetisch ausformen zu k ¨ onnen, zu ’dichten‘ , ist also auch Fr ¨ uhe Dichtung und vorsystematische Rhetorik 47 das Verm ¨ ogen, Sprache rhetorisch aufzubereiten und gut zu ’reden‘ zu verstehen, letztlich ein Effekt g ¨ ottlicher Inspiration. 2 Die große Bedeutung, die der Rede und ihrer Technik im Raum des Griechischen schon fr ¨ uhzeitig beigemessen wurde, ist auch an der klassischen Trag ¨ odie ablesbar. Aischylos, ihr Vollender, hat bezeichnenderweise die vorgefundene Form, den Tanzgesang eines Chores, dem ein hypokr´ıtes, eigentlich ein ’Erkl ¨ arer‘ , mit Sprechversen gegen ¨ uberstand, um eine zweite, schließlich nach Sophokles’ Vorangang, um eine dritte Schauspielerfigur erweitert. Dadurch wurde die B ¨ uhne, ohne daß dies von vornherein beabsichtigt gewesen w ¨ are, zum Schauplatz von Reden und Gegenreden. Es entfaltete sich der Dialog, und mit ihm der argumentative Wettstreit, der wiederum Verfahrensregeln aufbrachte, wie die eigene Sache am wirksamsten zu vertreten sei. Grundlegende rednerische Praktiken wurden hier vorgef ¨ uhrt. Vom sog. Botenbericht abgesehen, der als spezifischer Redevortrag in der klassischen Trag ¨ odie Hunderte von Versen umfassen konnte und nach der Terminologie der Regelrhetorik mit dem Redeteil der Tatsachendarstellung (narrativ) zu verbinden w ¨ are, sind vor allem Verh ¨ or- und Gerichtsszenen bei Aischylos Indizien schon vorsystematischer Gestaltungsprinzipien des Redeverhaltens. In der auf 458 v. Chr. datierbaren Trag ¨ odie Agamemnon, die den Gattenmord zum Thema hat, rechtfertigt Klytaimnestra ihre Tat vor dem sie beschuldigenden Chor der argivischen Alten in einer Partie, die in der Wechselrede im Kern bereits alle Punkte zur Sprache bringt, die sp ¨ ater in der Stasis-Lehre der Rhetorik, der Lehre von den vier Grundfragen, die im Strafprozeß zu kl ¨ aren sind, ihre Fixierung erhalten haben. 3 2 Die vorsystematische Redekunst behandelt im besonderen K.-J. H ¨ olkeskamp, Zwischen Agon und Argumentation. Rede und Redner in der archaischen Polis. In: C. Neumeister / W. Raeck (Hg.), Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen, M ¨ ohnesee 2000, 17-43. Generell zur Rhetorik in den Homerischen Epen M. Janka, Helena und Menelaos: Meister der verstellten Rede. Rhetorik im Gewand homerischer Redepraxis, in: W ¨ urzburger Jahrb ¨ ucher f ¨ ur die Altertumswissenschaft 25 (2001), 7-26. Beachtenswert hierzu auch E. Heitsch, Verst ¨ andigung im Gespr ¨ ach, in: Ders., Wege zu Platon, G ¨ ottingen 1992, 102-116. 3 Die Stasis-Lehre betrifft die Vorgehensweise des Richters, sich zu Beginn eines Prozesses ein Bild von der Ausgangslage (griech. στ σις , lat. status, constitutio, ’Stellung, Stand‘ ) zu verschaffen. Er tut dies durch Statusfragen. Die erste der vier Statusfragen hat zu kl ¨ aren, ob und wie eine Tat begangen wurde (Klytaimnestra bekennt sich zur Ermordung, beschreibt ihr Vorgehen). Die zweite Statusfrage zielt auf die Definition des Vorgangs (Klytaimnestra erkl ¨ art die T ¨ otung als S ¨ uhne f ¨ ur die Opferung der Tochter Iphigenie und f ¨ ur den fortgesetzten Ehebruch des Gatten). Die dritte Statusfrage umfaßt die Ermittlung, wie die causa zu beurteilen ist (Klytaimnestra legt dar, pflichtgem ¨ aß gehandelt zu haben, ohne Schuld, besteht auf Freispruch). Die vierte Statusfrage gilt der Pr ¨ ufung der Zust ¨ andigkeit des Gerichts und des korrekten Verfahrensablaufs 48 Dichtung und Rhetorik In der letzten seiner erhaltenen Trag ¨ odien, den Eumeniden von 458, hat Aischylos in poetischer Form sogar eine Gerichtsverhandlung unter dem Vorsitz der G ¨ ottin Athene in Szene gesetzt. Der B ¨ urgergerichtshof (Areopag) verhandelt in Reden und Gegenreden die causa Orest, den an Klytaimnestra zur S ¨ uhne des Gattenmordes begangenen Muttermord. Nach den Pl ¨ adoyers der Ankl ¨ ager, der Erinyen, der Orest Tag und Nacht verfolgenden blutd ¨ urstigen Rachegeister, und des Verteidigers Apollon, der seinen Sch ¨ utzling zur Tat angetrieben hatte, entscheidet das Gericht mit der Mehrheit einer Stimme, der der G ¨ ottin Athene, f ¨ ur Freispruch. Aischylos setzt in dem Drama, das den Mythos der Orestie mit Athen verbindet, Recht und Rechtsprechung der B ¨ urgergemeinde an die Stelle der Blutrache nach archaischem Brauch, die Mord um Mord generiert hatte. Der Schluß ist auch als Lob f ¨ ur die B ¨ urgerverfassung Athens zu sehen. Obendrein gereicht es bei Aischylos der Stadt zum Ruhm, daß die Erinyen sich am Ende zu ’segenbringenden‘ Geistern - Eumeniden - wandeln und in ihr dauerhaft als Gl ¨ ucksboten Wohnung nehmen werden. Die Verteidigungsstrategie des W ¨ achters in Sophokles’ Trag ¨ odie Antigone von 442, wenig sp ¨ ater, zeigt ebenfalls, wie prozessuale Rede bereits in festen Bahnen abl ¨ auft und wie die B ¨ uhnendichtung sie spiegelt. Dort unterzieht K ¨ onig Kreon den Diener, dem er Pflichtvers ¨ aumnis vorwirft, weil die Leiche des Polyneikes entwendet und bestattet werden konnte, einem anklagenden Verh ¨ or (238ff.). Hommel 1981: 340f. hat bis in den Wortgebrauch hinein nachgewiesen, daß Sophokles dem W ¨ achter Verteidigungsreden in den Mund gelegt hat, die nach dem Schema der Statusfragen organisiert sind: Er habe mit dem Vorgang nichts zu tun (Statusfrage 1); deshalb entfalle eine Definition und Beurteilung des Vorgangs in Bezug auf ihn (Statusfrage 2); er sei folglich gerechterweise nicht zu bestrafen (Statusfrage 3). Die Epen- und Trag ¨ odiendichtung bezeugt so die hohe Wertsch ¨ atzung des Redenk ¨ onnens wie auch die fr ¨ uhe Ausbildung von Erfahrungsregeln, wie ein Vortrag, der gelingen soll, aufgebaut sein m ¨ usse. Die Lebenspraxis mit der f ¨ ur die Griechen typischen Freude auch am Wettstreit der Worte bot zudem von Anfang an Gelegenheit f ¨ ur Rednerauftritte und Zuh ¨ orerversammlungen, zeitigte außerdem ein ganzes Spektrum von Redetypen, je nach dem Anlaß. Im System der Rhetorik wurden sp ¨ ater in der Regel drei Genera unterschieden: die Gerichtsrede, die Beurteilungsrede und die lobende oder tadelnde Rede. 4 (Klytaimnestra zieht die Objektivit ¨ at der Versammlung auf Grund fr ¨ uherer Parteilichkeit in Zweifel). Ich folge der Interpretation von H. Hommel 1981: 340. Zu den vier status, von denen bei der Behandlung einer causa im Gerichtsverfahren auszugehen ist, ausf ¨ uhrlich Lausberg 3 1990: 64-85. 4 Die entsprechenden Fachbezeichnungen: δικανικ ν γ νος (Aristoteles, Rhetorik 1358b8), lat. genus iudiciale (Rhetorica ad Herennium 1, 2, 2; συμβουλευτικ ν γ νος (Aristoteles, Rhetorik 1358b11), lat. genus deliberativum (Rhetorica ad Herennium 1, 2, 2); (πιδεικτικ ν Fr ¨ uhe Dichtung und vorsystematische Rhetorik 49 Offenbar hat die Demokratisierung des politischen Lebens die Bedeutung und den Ausbau der ¨ offentlichen Rede erheblich gef ¨ ordert. Es konnte nicht ohne R ¨ uckwirkung bleiben, daß bereits die Solonischen Gesetze von 534 v. Chr. jedem Athener B ¨ urger das Recht einr ¨ aumten, ¨ offentlich vor dem Geschworenengericht Anklage zu erheben, wenn er meinte, eine Rechtsverletzung erlitten oder von einer Kenntnis erhalten zu haben. F ¨ ur die Staatsverfassung brachten die Solonischen Gesetze die Neuerung, daß die Archonten und die Schatzmeister von der Volksversammlung zu w ¨ ahlen waren und daß die Volksversammlung auch die Mitglieder des neu eingesetzten ’Rates der Vierhundert‘ zu bestimmen hatte, einer Volksvertretung im Kleinen. Nach einigen R ¨ uckschl ¨ agen konnten bis zur Mitte des 5. Jhs. demokratische Regelungen auf allen Ebenen durchgesetzt werden. Nominell ¨ ubertrugen sie die Regierungsgewalt den vom Volk gew ¨ ahlten R ¨ aten, Aussch ¨ ussen der Geschworenengerichte und letztlich der Volksversammlung, in der Unterschiede der Teilhabe an ¨ Amtern auf Grund der Besitzklasse, der einer angeh ¨ orte, nun aufgehoben waren. Die Macht, die in diesem System der persuasiven Rede zukam, schloß nicht aus, daß Demagogen (eigentlich ’Volksf ¨ uhrer‘ ) mit Redemacht die Stimmen der Mehrheit erringen und mißbrauchen konnten. Es war f ¨ ur den einzelnen n ¨ utzlich, in manch eigenem Fall, bei der Bewerbung um ein ¨ offentliches Amt sogar unerl ¨ aßlich, ¨ uberzeugend reden zu k ¨ onnen oder eine wortgewandte Unterst ¨ utzung der eigenen Sache an der Seite zu haben. Von daher entwickelte sich im 5. Jh. die Redelehre als Unterrichtsgegenstand spezieller Vermittler der τ Aνη , die privat oder in Schulen ihre Kenntnis der Materie gegen guten Lohn weitergaben. Der Praxis folgte die theoretische Vertiefung: der Ausbau der ’Rhetorik‘ zur Wissenschaft. Der rasante Aufschwung der Redelehre vom sp ¨ aten 5. Jh. an in Athen sowie der Beginn der Systematisierung der Kunst wurden schon in der Antike mit dem Namen des Sizilianers Gorgias verbunden. Von heimischen Lehrern im Reden geschult, war Gorgias im Jahr 427 v. Chr. als Gesandter in die Stadt gekommen und hatte hier mit praktischer Unterweisung, wie man durch ¨ uberlegte Redegestaltung Sympathie gewinnen und Ziele durchsetzen kann, aber auch mit fiktiven Musterreden bedeutender literarischer oder historischer Personen enthusiastischen Zuspruch f ¨ ur die neue Kunst gefunden. Die fortschreitende theoretische Systematisierung gipfelte im folgenden Jahrhundert in der Rhetorik des Aristoteles. Entgegen vielstimmiger Ablehnung, auch schon durch Sokrates und Platon, stellte dieser die theoretisch durchgeformte Rhetorik als Wissenschaft an die Seite der Poetik und der Philosophie. Mit dieser Nobilitierung ist sie zu einem Grundpfeiler der abendl ¨ andischen Bildung geworden. 5 γ νος (Aristoteles, Rhetorik 1358b8), lat. genus demonstrativum (Rhetorica ad Herennium 1, 2, 2). 5 Eine gelungene ¨ Ubersicht ¨ uber die Rhetorik bietet Christine Walde im Artikel ’Rhetorik‘ (DNP 10, 2001: 958-978), dessen umfangreiche Literaturangaben hier ein bibliographi- 50 Dichtung und Rhetorik 3.2 Distanz zwischen Dichtung und Rede Mit dem ber ¨ uhmten Satz: ”Die πο ησις insgesamt betrachte und benenne ich als Rede, die Versmaß hat“, 6 hat Gorgias den ersten nachhaltigen Versuch unternommen, Poesie und Prosa exakt zu trennen. Auf Grund des metrischen Kriteriums ordnete seine Definition die kunstvoll gestaltete Rede, die seit E. Nordens Studie (1898) unter dem Namen der ’Kunstprosa‘ subsumiert wird, der Prosa zu. Doch konnte die Differenzierung die Gemeinsamkeiten zwischen Dichtung und Redekunst, den beiden Manifestationen des m ¨ achtigen λ γος in Gorgias’ Denken, nicht aus der Welt schaffen. In der Folge ist bald die Distanz zwischen Dichtung und Rhetorik, bald die N ¨ ahe betont worden. Es ist verst ¨ andlich, daß in der Theoriediskussion im allgemeinen die Tendenz ¨ uberwog, die Unterschiedlichkeit von Dichtung und Rede herauszustellen. Dies geschah anfangs, um die in Gorgias’ Werken und Musterreden unscharf gebliebenen Grenzen zum poetischen Stil pr ¨ azis zu bestimmen sowie ¨ uber die Versform hinaus stichhaltige Kriterien der Gattungsunterscheidung zu entwickeln. Sp ¨ ater, namentlich bei den R ¨ omern Cato, Cicero und Quintilian, kam die Ambition großer Redelehrer zum Tragen, eine absolut autonome Dom ¨ ane zu vertreten. Es ¨ uberwogen daher die Stellungnahmen, die darauf gerichtet waren, den Abstand von Seiten der Rhetorik zu betonen. Mit der Behauptung, sie beginne schon bei Homer, gab Quintilian der Rhetorik auch eine historische Legitimation, die uralte Selbst ¨ andigkeit beschwor. 7 Die Kunst der Prosarede zu definieren, sie vor allem eigengesetzlich von der Dichtkunst abzugrenzen, stellte sich als vordringliche Aufgabe den Sch ¨ ulern und Nachfolgern des Gorgias. Hier hat Isokrates (436-338 v. Chr.), der prominenteste, auch politisch aktivste unter ihnen, die entscheidenden Stildirektiven f ¨ ur die Rede gegeben. Durch sie gilt er als der Sch ¨ opfer der klassischen Prosaperiode im Griechischen. W ¨ ahrend er mit der gezielten Rhythmisierung der Prosarede und der Hiatvermeidung im Satzgef ¨ uge die N ¨ ahe zur Dichtung akzentuierte, war er andererseits bedacht, den ¨ uberbordenden poetischen Redeschmuck der gorgianischen Rhetorik als Relikt der Poesie abzubauen. Hierzu setzte er bei der Wortwahl an; bei ihr habe der Dichter Gestaltungsfreiheit, der Redner habe sie nicht: ”Den Dichtern sind viele Ausschm ¨ uckungen gegeben [ . . . ]; sie k ¨ onnen nicht nur die gebr ¨ auchlichen W ¨ orter verwenden, sondern auch fremde, neue sches Resumee er ¨ ubrigen. Als Erg ¨ anzung folgt dort 978-987 ein Artikel von Michael Weissenberger: ’Antike Redner und Redekunst‘ . [Neben der Kurzcharakteristik der gut bekannten Redner konzentriert sich das Interesse auf die Darstellung der Stilrichtungen]. Am aktuellsten und informativsten Ueding (Hg.), Rhetorik: Begriff - Geschichte - Internationalit ¨ at, 2005. 6 Gorgias, Helena; Frg. 82 B 11, 9 (Diels-Kranz): τ6ν πο ησιν 7πασαν κα νομ ζω κα 8νομ ζω λ γον "χοντα μ τρον . 7 Quintilian, Institutio oratoria 2, 17, 8. Distanz zwischen Dichtung und Rede 51 sowie Metaphern, und nichts auslassen, sondern mit allen Arten ihre Dichtung schm ¨ ucken [ . . . ] Rednern sind derartige Mittel nicht erlaubt; sie m ¨ ussen streng beachten, nur W ¨ orter zu verwenden, die zur Polis geh ¨ oren, und Gedanken, die sich an Fakten orientieren.“ 8 Drei lexikalische Merkmale differenzieren also die Rede von der Dichtung: Die Beschr ¨ ankung auf das gebr ¨ auchliche Standardvokabular, der Verzicht auf Neologismen, seien es Eigenbildungen oder Entlehnungen aus anderen Sprachen, und schließlich die Vermeidung ausgefallener Metaphern. Die lexikalische Abgrenzung, die Isokrates vornahm, ist in das Regelwerk der Rhetorik eingegangen; sie kehrt bei den Autorit ¨ aten der Redelehre im wesentlichen unver ¨ andert wieder. Aristoteles erkl ¨ art in er Rhetorik die poetische Prosarede des Gorgias f ¨ ur eine Fehlentwicklung, r ¨ aumt aber ein, daß die Mehrheit der Ungebildeten den dichtungsnahen Stil am sch ¨ onsten finde. F ¨ ur die Rede passend, die zuoberst Klarheit verlange, ist nach Aristoteles nur der Gebrauchswortschatz, denn: ”Von den Substantiva und Verba bewirken die gebr ¨ auchlichen die Klarheit der Rede“. Die Forderung der Gebr ¨ auchlichkeit schließt Eigenbildungen, Lehnw ¨ orter und die f ¨ ur ”frostig“ erkl ¨ arten Dialektformen als weitere Ressourcen aus. Bei den Metaphern r ¨ at Aristoteles ebenfalls zur Orientierung am Usus: sie d ¨ urfen nicht weit hergeholt sein. Der Vermischung der Ausdrucksweisen stellt er den Grundsatz entgegen: ”Es ist vielmehr der Stil der Rede von dem der Dichtung verschieden.“ 9 In der r ¨ omischen Rhetorik mahnt Cicero die Beachtung des Unterschieds an. In De oratore 1, 12 lehrt er noch allgemein, in der Dichtung rage hervor, ”was von der Einsicht und Denkweise der Leute am weitesten entfernt ist, w ¨ ahrend es beim Reden ein ganz massiver Fehler w ¨ are, gegen die ¨ ubliche Ausdrucksweise und die Gewohnheit des allgemeinen Empfindens zu verstoßen.“ 10 Im Orator 8 Isokrates, Evagoras, 9f.: Το%ς μ ν γ=ρ ποιητα%ς πολλο δ δονται κ σμοιG [ . . . ] δηλ: σαι μ6 μ νον το%ς τεταγμ νοις 8ν μασιν, λλ= τ= μ ν A νοις, τ= δ καινο%ς, τ= δ μεταφορα%ς, κα μηδ ν παραλιπε%ν, λλ= π5σιν το%ς ε)δεσιν διαποικ%λαι τ6ν πο ησινG [ . . . ] το%ς δ περ το? ς λ γους ο; δ ν "Aεστιν τ: ν τοιο<των, λλO ποτ μως κα τ: ν 8νομ των το%ς πολιτικο%ς μ νον κα τ: ν (νθυμημ των το%ς περ α; τ=ς τ=ς πρ Aεις ναγκα% ν (στιν χρ@σθαι. 9 Die Anweisungen zur Stiltrennung, denen auch die Zitate entstammen, finden sich im 3. Buch der Rhetorik, 1404a28-1404b37; 1405b35-1406b19. Um den Widersinn, eine Rede mit poetischem Wortschmuck aufbessern zu wollen, mit einem schlagkr ¨ aftigen Argument aus der Praxis vor Augen zu f ¨ uhren, verweist Aristoteles darauf, daß die Trag ¨ odiendichter, also Poeten selbst, um der Klarheit willen diejenigen W ¨ orter aufgegeben hatten, die ”außerhalb des Sprachgebrauchs liegen“ (1404a33f.). Ohne die Rhetorik eigens zu erw ¨ ahnen, unterscheidet Aristoteles in der Poetik 1458a18ff. zwischen einer aus gel ¨ aufigen W ¨ ortern bestehenden Form, die zwar klar, aber sprachlich banal sei, freilich auch in gewissen Dichtungen vorkomme, und einer poetischen, die erhaben wirke, weil sie fremdartige (d. h. un ¨ ubliche) Lexien aufbiete. 10 Cicero, De oratore 1, 12: in dicendo autem vitium vel maximum sit a vulgari genere oratio- 52 Dichtung und Rhetorik folgt die Pr ¨ azisierung, daß Redner bei Metaphern, Archaismen und Neologismen Zur ¨ uckhaltung ¨ uben m ¨ ussen, w ¨ ahrend die Dichter beim Wortschatz wie bei der Anordnung der W ¨ orter freiz ¨ ugiger verfahren k ¨ onnen: ”Diese Dichter machen aber in beiderlei Beziehung h ¨ aufigeren und freieren Gebrauch: sie verwenden W ¨ orter in ¨ ubertragenem Sinne ¨ ofter wie auch k ¨ uhner, sie gebrauchen bereitwilliger archaisierende Wendungen und neugeschaffene freiz ¨ ugiger.“ 11 Das wirklich Unterscheidende liegt f ¨ ur Cicero im Wortschatz, der den einen, den Dichtern, grenzenlos, den anderen, den Rednern, nur beschr ¨ ankt f ¨ ur die Ausschm ¨ uckung zur Verf ¨ ugung stehe. Die Institutio oratoria Quintilians subsumiert das in der Rede zu meidende Wortmaterial unter dem Begriffder verba impropria, der nichteigentlichen Ausdr ¨ ucke, die ihren Ort eher in der Dichtung als im rhetorischen Auftritt h ¨ atten. Dazu z ¨ ahlt Quintilian vor allem die un ¨ ublich gewordenen Bezeichnungen (verba ab usu remota: 8, 2, 12), die Eigenbildungen (verba ficta: 8, 3, 24), die Dialektismen und Entlehnungen (verba regionibus quibusdam magis familiaria: 8, 2, 13) und die Fachtermini (verba artium propria: 8, 2, 13). Mehrfach warnt Quintilian den Redner, es dem Dichter in der Freiheit des Wortgebrauchs gleichtun zu wollen. 12 Seinen Regeln zufolge sollen die Bereiche der Sprachk ¨ unste deutlich getrennt bleiben, trotz der manifesten Tendenz gegenseitiger Durchdringung: ”Folgender Irrtum ist zu vermeiden, der sehr verbreitet ist, die Meinung n ¨ amlich, wir d ¨ urften in der Rede Dichter und Geschichtsschreiber, in diesen Gattungen aber Redner und Deklamatoren nachahmen.“ 13 Begr ¨ undet wird das Postulat, in der Rede statt der Glanzlichter des poetischen Vokabulars den Gebrauchswortschatz in seiner gegebenen Form zu verwenden, mit der Notwendigkeit, die Klarheit und Verst ¨ andlichkeit zu wahren, die eine Voraussetzung daf ¨ ur sei, daß die beabsichtigte Wirkung eines Auftritts erreicht werden k ¨ onne. Sprachliche Klarheit (griech. σαφ νεια , lat. perspicuitas) galt zusammen mit der gedanklichen Klarheit in der Rhetorik als h ¨ ochster Vorzug des Redestils, wie Aristoteles best ¨ atigt. 14 Auf r ¨ omischer Seite formuliert Quintilian genau so wie der Grieche: ”Die Haupttugend der Beredsamkeit ist die Klarheit.“ 15 nis atque a consuetudine communis sensus abhorrere. Auf Ciceros Weisung beruft sich Quintilian, Institutio oratoria 8, pr. 25, um der Entlehnung ausgefallener Figuren und Metaphern aus der Dichtung entgegenzutreten. 11 Cicero, Orator 202: sed in utroque frequentiores sunt, in altero liberiores poetae; nam et transferunt verba cum crebrius tum etiam audacius et priscis lubentius utuntur et liberius novis. 12 Quintilian, Institutio oratoria 8, pr. 25; 8, 6, 17f.; 10, 1, 28; 10, 2, 21. 13 Quintilian, Institutio oratoria 10, 2, 21: Id quoque uitandum, in quo magna pars errat, ne in oratione poetas nobis et historicos, in illis operibus oratores aut declamatores imitandos putemus. 14 Aristoteles, Rhetorik 1404b1. 15 Quintilian, Institutio oratoria 2, 3, 8: Nam et prima est eloquentiae uirtus perspicuitas. Distanz zwischen Dichtung und Rede 53 Daß zwischen dichterischer und rhetorischer Gestaltung ein Unterschied bestehe, belehrt auch ausdr ¨ ucklich der anonyme, als ’Pseudo-Longinos‘ gef ¨ uhrte Verfasser des Traktats Περ ψους ( ¨ Uber das Erhabene, 1. Jh. n. Chr.) seinen Sch ¨ uler: ”Daß jedoch die rhetorische Phantasie etwas anderes will als die dichterische, wird dir nicht entgangen sein“. Und mit dem anschließenden Satz ”auch nicht, daß das Ziel der dichterischen Phantasie Ersch ¨ utterung ist, das der rhetorischen aber Deutlichkeit“ 16 , macht er ihm - und uns - zugleich den Hauptunterschied bewußt: den der Wirkungsabsicht. Dichtung habe nach alter Auffassung die Funktion zu n ¨ utzen, worunter auch die genannte seelische Bewegung des H ¨ orers oder Lesers f ¨ allt, und/ oder zu erfreuen, zu unterhalten. Die Rhetorik dagegen bestehe in der Kunst der ¨ Uberzeugung (gr. πειθY , lat persuasio). Der Redner zielt darauf ab, die Zuh ¨ orerschaft in der Angelegenheit, die er vertritt, f ¨ ur die Parteinahme in seinem Sinn (bzw. im Sinn seiner Auftraggeber) zu gewinnen. Da das griechische Basisverb πε θειν und dessen lateinische Entsprechung persuadere sowohl ’ ¨ uberzeugen‘ als auch ’ ¨ uberreden‘ meinen konnten, beinhaltete die Zielangabe auch die ¨ Uberredung, deren negative Praxis der Rhetorik die bekannte Gegnerschaft Sokrates’ und Platons eingetragen hatte. Quintilian tritt in der Institutio oratoria 10, 1, 28 den Empfehlungen Theophrasts und Ciceros entgegen, der Redner solle immer wieder bei den Dichtern Einkehr halten, mit der Mahnung zur Vorsicht entgegen, damit nicht in die Rhetorik ¨ ubernommen werde, was mit ihr unvereinbar ist: Unvereinbar ist die Freiheit im Wort- und Figurengebrauch; unvereinbar ist die oberste Zielsetzung, mit dem Vergn ¨ ugen (voluptas) auf der einen Seite, der der Dichtung, und der persuasio auf der anderen, der Seite der Rhetorik; unvereinbar ist schließlich die thematische Ausrichtung, weil der res des Redners, der Behandlung eines Sachverhalts der Lebenswirklichkeit, in der Dichtung nicht nur der Schein der Wirklichkeit, sondern sogar die Darstellung des Unwahren und Unglaublichen gegen ¨ uberstehe. 17 In der letzten dieser Differenzierungen kommt Quintilian unter dem Eindruck der expandierenden Fiktionalit ¨ at im poetischen Schaffen auf ein Argument zur ¨ uck, das die Sophisten ins Feld gef ¨ uhrt hatten, um die Dichtung gegen ¨ uber der Philosophie zu deklassieren: Sie gebe nicht die Wirklichkeit wieder, sondern eine Illusion der Wirklichkeit. Statt der gew ¨ ohnlich zum Vergleich herangezogenen Philosophie kommt f ¨ ur Quintilian die Rhetorik der Wirklichkeit n ¨ aher als die Dichtung. 16 Anonymus, Περ ψους 15, 2: ο; δO Zτι τ@ς μ ν (ν ποι σει τ λος (στ ν "κπληAις, τ@ς δO (ν λ γοις (ν ργεια. 17 Quintilian, Institutio oratoria 10, 1, 28: Meminerimus tamen non per omnia poetas esse oratori sequendos, nec libertate uerborum nec licentia figurarum: genus ostentationi comparatum, et, praeter id quod solam petit uoluptatem eamque [etiam] fingendo non falsa modo sed etiam quaedam incredibilia sectatur. 54 Dichtung und Rhetorik 3.3 N ¨ ahe zwischen Dichtung und Rede Das Gemeinsame von Rhetorik und Poesie ist in der Antike jedoch immer bewußter wahrgenommen worden als Trennende. Im System der artes ordnete man beide zusammen den poietischen (herstellenden) K ¨ unsten zu; innerhalb dieser Kategorie erkannte man ihre besondere Affinit ¨ at darin, daß ein artifex, ob Dichter oder Redner, Werke aus dem Rohmaterial ’Sprache‘ schuf. Cicero hebt im Orator auch auf das verbindende Merkmal der Produktion von Sprachkunstwerken ab: ”Bei beiden handelt es sich um Stoff und Verarbeitung. Der Stoffbesteht in den W ¨ ortern, die Bearbeitung in ihrer Anordnung“. 18 Von Einschr ¨ ankungen abgesehen, die sich die Waage halten - bei dem einen die Abh ¨ angigkeit vom Verszwang, beim anderen die limitierte Wortverwendung -, stimmen nach Ciceros Urteil in De oratore Dichter und Redner nahezu v ¨ ollig ¨ uberein im grunds ¨ atzlichen Anspruch auf k ¨ unstlerische Freiheit und in der M ¨ oglichkeit, sie nach eigenem Ermessen nutzen zu k ¨ onnen: ”Der Dichter n ¨ amlich steht dem Redner nahe, etwas gebundener im Rhythmus, aber frei in der Ungebundenheit der Sprache; in vielen Formen schm ¨ uckender Gestaltung ist er sogar sein Gef ¨ ahrte und ihm fast gleich; in dem Punkt jedenfalls stimmt er gewiß beinahe mit ihm ¨ uberein, daß er durch keine Grenzen sein Recht beschneidet und begrenzt, sich mit demselben Spielraum und Reichtum des Ausdrucks zu bewegen, wo er will.“ 19 Nat ¨ urlich hatte es auch vorher im griechischen Nachdenken ¨ uber die Werke der Sprache nicht an Stimmen gefehlt, welche die Dichtung und die Rhetorik eng miteinander verbanden. Hervorzuheben, weil sie die ¨ ublichen stilistischen Argumente ¨ uberstieg, ist die Lehre des Aristoteles-Sch ¨ ulers Theophrast. Ihr zufolge g ¨ abe es zwei Klassen von ’Rede‘ : eine, die sich auf die Fakten beziehe (Philosophie, Wissenschaften), sowie eine andere mit Bezug auf die Zuh ¨ orer, die die Dicht- und Redekunst gemeinsam umfasse. 20 F ¨ ur N ¨ ahe zur Dichtung sorgte schon das Erziehungsmodell f ¨ ur den k ¨ unftigen Redner. Die Lekt ¨ ure und die intensive Verarbeitung poetischer Werke nahmen im Bildungsprogramm einen Vorzugsplatz ein. Die Anbindung an die Poesie begann bereits mit dem fr ¨ uhen Rhetorikunterricht. Cicero mahnt in den rhetorischen Schriften immer wieder, die Dichter zu lesen, und zwar von Kind auf, gleichlaufend mit der Unterweisung in Sprachlehre, denn die Regeln des korrekten 18 Cicero, Orator 201: est enim in utroque et materia et tractatio: materia in verbis, tractatio in collocatione verborum. 19 Cicero, De oratore 1, 70: Est enim finitimus oratori poeta, numeris astrictior paulo, verborum autem licentia liberior, multis vero ornandi generibus socius ac paene par; in hoc quidem certe prope idem, nullis ut terminis circumscribat aut definiat ius suum, quo minus ei liceat eadem illa facultate et copia vagari qua velit. 20 Dosi 1960: 627; Russell 1981: 94. N¨ ahe zwischen Dichtung und Rede 55 Sprachgebrauchs werden ”durch die B ¨ ucher oder die Lekt ¨ ure der alten Redner und der Dichter noch gefestigt.“ 21 Einen detaillierten Studienplan verdanken wir Quintilian. Er sieht vor, daß der Knabe in der fr ¨ uhkindlichen Phase beginnen soll, Werke großer M ¨ anner und ”ausgew ¨ ahlte Stellen, vor allem aus Dichtern“ spielerisch auswendig zu lernen. Darauf folgt die vom grammaticus geleitete Dichtererkl ¨ arung, mit intensiver Durcharbeitung der Lekt ¨ ure, um den gebotenen Wissensstoff und musterg ¨ ultige Sprachformen aufzunehmen. Die Besch ¨ aftigung mit Dichtertexten m ¨ undet schließlich in die Umsetzung von Versen in Prosa, sowohl in einfacher Diktion als auch in gehobenen Stilformen, wobei der Sch ¨ uler in der Paraphrasierung das eigene Gestaltungsverm ¨ ogen erproben und fortbilden kann. Der Redner soll die f ¨ ur ihn anregende, lehrreiche Besch ¨ aftigung mit der Lekt ¨ ure der Dichter, aber auch die anderer Autoren - Rhetoren, Historiographen, Philosophen -, bis ins Alter fortsetzen. Zur richtigen Textwahl verhilft ihm Quintilian mit kritischen ¨ Ubersichten ¨ uber das griechische und das r ¨ omische Schrifttum. Verglichen mit Ciceros Empfehlungen, bei der Fortbildung musterg ¨ ultigen alten Rednern ebenso viel Platz einzur ¨ aumen wie beispielhaften Dichtern, h ¨ alt es Quintilian ganz offenkundig eher mit der Poesie als Vorbild. Das k ¨ onnte eine Verbeugung vor Theophrast sein, der gemeint hatte, das meiste bringe den Rednern die Lekt ¨ ure der Dichter ein. Quintilian selbst zitiert diese Auffassung zur Bekr ¨ aftigung der eigenen Empfehlungen. 22 Die fortlaufende Besch ¨ aftigung mit der Dichtung erschien nicht nur unabdingbar f ¨ ur die Perfektionierung von Sprache und Stil des Redners; sie war auch eine Voraussetzung daf ¨ ur, daß dieser in seinem Pl ¨ adoyer die Argumentation, den zentralen Teil der Sympathiegewinnung, effektvoll auszubauen in der Lage war. Denn der Nachweis der Glaubw ¨ urdigkeit des eigenen Standpunktes wurde außer durch Sachbeweise großenteils durch Vergleichsbeispiele erbracht, die die anh ¨ angige Sache von einem poetisch oder historiographisch verb ¨ urgten Fallmuster aus beleuchteten, einem exemplum, gr. παρ δειγμα . 23 Weil sie Erz ¨ ahlstoff, also auch Unterhaltung boten, waren geschickt vorgetragene exempla f ¨ ur das Publikum ’Zugnummern‘ , f ¨ ur den Redner Garanten des Erfolgs. Deshalb mahnte Quintilian, dem Redner m ¨ ußten Beispiele in H ¨ ulle 21 Cicero, De oratore 3, 48: Praetereamus igitur praecepta Latine loquendi quae puerilis doctrina tradit et subtilior cognitio ac ratio litterarum alit aut consuetudo sermonis cotidiani ac domestici, libri confirmant et lectio veterum oratorum et poetarum. 22 Quintilian, Institutio oratoria, behandelt den Platz der Dichtung im Bildungsprogramm des k ¨ unftigen Redners vor allem an folgenden Stellen: 1, 1, 36 [fr ¨ uhkindliches Auswendiglernen von Dichterworten]; 1, 4, 4 [Erwerb von Wissen und Wortschatz]; 1, 8 [ganzes Kapitel ¨ uber Lekt ¨ ure]; 1, 9, 2 [Paraphrasierungs ¨ ubungen]; 10, 1, 27 [Rekurs auf Theophrast]. ¨ Ubersicht ¨ uber die ”der Lekt ¨ ure w ¨ urdige“ griechische Dichtung 10, 1, 46-72 [73-84: Historiographen, Redner, Philologen]; ¨ Ubersicht ¨ uber die entsprechende r ¨ omische Dichtung 10, 1, 85-131. 23 Zum Begriff Aristoteles, Rhetorik 1356b15f., Quintilian Institutio oratoria 5, 11. 56 Dichtung und Rhetorik und F ¨ ulle aus allen Bereichen zur Verf ¨ ugung stehen; keineswegs d ¨ urfe er dabei die vernachl ¨ assigen, ”die von allen ber ¨ uhmten Dichtern erdichtet worden sind“. 24 Viel Affinit ¨ at der beiden K ¨ unste resultierte nat ¨ urlich auch daraus, daß wesentliche Arbeitsteile des Redners denen des Dichters glichen oder ¨ ahnelten. Dies traf nach der Terminologie der Rhetorik, die uns hier mit einer besser ausgebauten Systematik zu Hilfe kommt, in besonderem Maß f ¨ ur drei Arbeitsschritte zu: die inventio (das ’Finden‘ der zu behandelnden Gedanken), die dispositio (die Ordnung dieser Gedanken) und die elocutio (die sprachliche Ausformung). Sowohl in den Poetiken als auch in den Rhetoriken nehmen die Ausf ¨ uhrungen zur sprachlichen Ausformung der Werke sehr viel Platz ein, den gr ¨ oßeren in den B ¨ uchern der Redelehre, weil die jahrhundertelange Unterrichtspraxis und die auf sie gegr ¨ undete Theoriebildung ein bis ins Kleinste durchorganisiertes Lehrgeb ¨ aude hervorgebracht hatten. Die ins Hintertreffen geratene Poetologie hat sich an die systematischere Rhetorik angeh ¨ angt, zumal beide Kunstarten im Prinzip die gleichen Mittel des Ornats zur Verf ¨ ugung hatten. Namentlich bei den Tropen und Figuren halten nur wenige, eher quantitative als qualitative Verwendungsunterschiede davon ab, von einer ¨ Ubereinstimmung der poetischen und der rhetorischen Ausschm ¨ uckung von ’Rede‘ sprechen zu k ¨ onnen. Eine auff ¨ allige Ann ¨ aherung der Rhetorik an die Dichtung hat der Ausbau des sog. Prosarhythmus mit sich gebracht. Schon Gorgias hat das Grundkonzept jener Rhythmisierung ersonnen, die unter diesem Namen ein markantes Element der Kunstprosa geworden ist. Beim Prosarhythmus stimmt die Kunstrede mit der Dichtung darin ¨ uberein, daß die Abfolge langer und kurzer Silben, die den Rhythmus erzeugt, im Gegensatz zur normalen Sprechweise bestimmten Regeln unterliegt. W ¨ ahrend aber in der Dichtung das ganze sprachliche Kontinuum einem im Prinzip festen Abfolgeschema unterworfen ist - dem gew ¨ ahlten Metrum -, beschr ¨ ankt sich die Kunstrede auf die regelgeleitete rhythmische Gestaltung bestimmter Redeteile. In Betracht kommen in erster Linie Perioden-, Kolon- und selbst Kommaschl ¨ usse, wo die Rhythmisierung oft gedankliche Gipfel einer ¨ Außerung h ¨ orbar hervorhebt. F ¨ ur die Gestaltung der rhythmischen Schlußpartien - der ’Klauseln‘ (clausulae) - hat die Rhetorik die strengsten, aber auch die variantenreichsten Pr ¨ azepte entwickelt. Generell muß der Prosaautor beachten, in den Klauseln die Norm von zwei aufeinanderfolgenden, aber grunds ¨ atzlich unterschiedlichen ’F ¨ ußen‘ (pedes) nicht zu ¨ uberschreiten. Regeln der Umfangsbegrenzung und der Kombination verschiedenartiger ’F ¨ uße‘ sollen daf ¨ ur sorgen, daß die Rhythmen der Rede und der Kunstprosa (die numeri) den Abstand zum Vers mit seinem Gleichmaß und seiner Vollrhythmisierung (dem metrum) wahren. 25 24 Quintilian, Institutio oratoria 12, 4, 1: [exempla] quae sunt a clarioribus poetis ficta. . . 25 Zum Prosarhythmus jetzt A. Dihle im gleichnamigen Artikel des DNP 10 (2001) 433- 437 [Fundierte problemgeschichtliche Darstellung, mit umfangreichen Literaturanga- N¨ ahe zwischen Dichtung und Rede 57 Gorgias hatte der Dichtung eine Prosa gegen ¨ ubergestellt, die zwar auch auf Tropen und Figuren zur ¨ uckgriff, jedoch in der Rhythmisierung nur den Effekt parallel gebauter kurzer S ¨ atze ausspielte, oft mit nahezu gleicher Silbenzahl. Gebunden wurden die Kola gern durch Gleichklang der letzten Stellen (Homoioteleuton) oder durch Assonanz. Der Schritt von den rhythmischen Parallels ¨ atzen zum Rhythmus der numeri wurde in der Antike dem Sophisten und Rhetoriker Thrasymachos (2. H ¨ alfte des 5. Jhs. v. Chr.) zugeschrieben; er sei der Sch ¨ opfer der rhythmischen Periode mit dem Paeon als bevorzugter Rhythmuseinheit gewesen. 26 Aristoteles trat f ¨ ur die Rhythmisierung der Rede mit dem an das pythagoreische Prinzip der Seinserkl ¨ arung erinnernden Argument ein, es werde alles durch eine Zahl begrenzt: F ¨ ur den sprachlichen Ausdruck sei die Zahl mit dem Rhythmus gegeben. Andererseits setzte Aristoteles in der Politik eine ”gewisse Verwandtschaft der Seele zu Harmonie und Rhythmus“ voraus, die auch zu den Bedingungen der M ¨ oglichkeit k ¨ unstlerischer Mimesis geh ¨ ore. 27 Im Kapitel ¨ uber den Rhythmus in der Rhetorik legt er trotzdem großen Nachdruck darauf, daß Rede und Dichtung getrennt gehalten werden; nicht rhythmisch, sondern metrisch gestaltet werde Rede zu Dichtung. Damit es nicht zum Aufgehen in der anderen Gattung komme, wird der Rede zugestanden, daß die Rhythmisierung nicht peinlich genau eingehalten werden muß. Aus gleichem Grund seien manche Rhythmusarten zu meiden, die teils f ¨ ur die Rede ungeeignet erscheinen, teils nicht in Betracht kommen, ”weil sie Versf ¨ uße sind“, somit Verbindung zur Dichtung schaffen. Damit keine Vermischung der Gattungen unterl ¨ auft, beendet Aristoteles die Besprechung der Rhythmustypen mit der ausdr ¨ ucklichen Weisung: ”Nur der Paeon ist zu verwenden, denn von allen genannten Rhythmen ist nur er kein Versmaß.“ 28 Gehalten haben sich die Redner an die strenge Weisung nicht. Nach den Mitteilungen Ciceros im Orator zu schließen, der uns dort nebenbei wissen l ¨ aßt, es h ¨ atte vor ihm niemand so ausf ¨ uhrlich ¨ uber rhythmisierte Prosa gehandelt, muß die sp ¨ athellenistische und r ¨ omische Rhetorik sich dem Ausbau der Rederhythmik weit ge ¨ offnet haben. Auf Grund der Entwicklung akzeptiert ben] und Lausberg 3 1990 §§ 977-1054 [Terminologische Grundfragen, Typologie der vorkommenden Formen, insbes. der Klauseln]. 26 Nach Dionysios von Halikarnassos, Περ τ@ς Δημοσθ νους λ Aεως 3, der sich auf Theophrast als Gew ¨ ahrsmann beruft. Der Paeon war eine aus einer langen und drei kurzen Silben bestehende Rhythmuseinheit mit den Varianten ¯ ˘ ˘ ˘ und ˘ ˘ ˘ ¯ (Quintilian, Institutio oratoria 9, 4, 47). Der numerus ¯ ˘ ˘ ˘ galt als besonders geeignet f ¨ ur Satzanf ¨ ange, wof ¨ ur ihn Aristoteles, Rhetorik 1409a12ff., empfahl. 27 Aristoteles, Rhetorik 1408b28ff.; Politik 1340a14-b19. Zum Sinn f ¨ ur Rhythmus und Harmonie als ”den Menschen auszeichnende Bef ¨ ahigung f ¨ ur k ¨ unstlerische Aktivit ¨ at“ A. Schmitt: Aristoteles, Poetik 2008: 284. 28 Aristoteles, Rhetorik 1409a8. 58 Dichtung und Rhetorik Cicero jeden Rhythmentyp: ”Also, fragt man, welcher der Rhythmen der Prosa eigen sei, so lautet die Antwort: jeder, jedoch ist der eine besser geeignet als ein anderer.“ 29 Mit der Feststellung, daß s ¨ amtliche Versf ¨ uße auftreten k ¨ onnen, ”gewissermaßen vermischt und verschmolzen“, setzt er sich ausdr ¨ ucklich ab von Aristoteles und Rhetoriklehrern, die diesem folgten. 30 Um die Vielfalt der m ¨ oglichen Versfußkombinationen, die zur Verf ¨ ugung standen, den Rednern und Prosaschreibern zur Steigerung ihrer Kunst zu vergegenw ¨ artigen, hat Cicero im Orator die Abschnitte 168-236, speziell 204-233, f ¨ ur die eingehende Einzelbesprechung der Rhythmustypen genutzt. Nach ihm hat es analog Quintilian in der Institutio oratoria 9, 4 getan. Obwohl auch Cicero und Quintilian argumentierten, daß Rede und Dichtung durch die Unterschiede von Teil- und Vollrhythmisierung sowie Versfußwechsel und -gleichmaß auseinanderzuhalten seien, meldet sich bei ihnen doch auch die Empfindung einer sehr großen ¨ Ubereinstimmung. Die Erkl ¨ arung Ciceros, es existierten keine sprachlichen Rhythmen außerhalb der von Versf ¨ ußen getragenen und poetisch genutzten, auf die sich eben auch die Rhythmisierung der Rede zu st ¨ utzen habe, 31 r ¨ uckt die Rhetorik nahe an die Dichtung heran. Noch deutlicher in diese Richtung weist sie die Bemerkung, es k ¨ amen in einer stark rhythmisierten Prosarede zuweilen sogar ganze Verse zustande wie in der Poesie, freilich unbeabsichtigt. 32 Zusammen mit der These, Kunstprosa zu verfassen, sei ein schwierigeres Gesch ¨ aft als das Dichten von Versen, 33 sowie mit der Behauptung, der Redner mache k ¨ unstlerisch dasselbe wie der Dichter, vermeide lediglich die ¨ Ahnlichkeit seiner Sch ¨ opfungen mit Gedichten, 34 geh ¨ ort das engagierte Eintreten Ciceros und Quintilians f ¨ ur den Ausbau des Prosarhythmus zu dem Bestreben, die Redekunst der Dichtkunst als vollkommen gleichrangige ars an die Seite zu stellen. Die Rhythmisierung der Rede, die die gef ¨ alligen Effekte des Versebenmaßes wettmachen sollte, schloß eine Ann ¨ aherung an das Metrum, also an die Poesie ein. Dies beinhaltete auch, daß die Rede nach der Konzeption Ciceros und seiner 29 Cicero, Orator 203: Ita si numerus orationis quaeritur, qui sit: omnis est, sed alius alio melior atque aptior. 30 Cicero, Orator 194f. 31 Cicero, Orator 188. 32 Cicero, Orator 189. 33 Nach Meinung Ciceros (Orator 198) und Quintilians (Institutio oratoria 9, 4, 60) sei es viel schwieriger, kunstvolle Prosa zu verfassen als Poesie. W ¨ ahrend der Dichter n ¨ amlich festen Rhythmusgesetzen folgen kann, muß der Redner oder Prosaautor die Rhythmisierung Satz f ¨ ur Satz variierend gestalten. Auch eine gleichbleibende L ¨ ange von Versen zu bearbeiten, erfordere weniger K ¨ onnen als die Formung der im allgemeinen recht ausgedehnten Perioden. 34 Cicero, Orator 201: eadem cum faciamus quae poetae, effugimus tamen in oratione poematis similitudinem. Poetisierung der Rhetorik 59 Schule eben dann am besten war, wenn sie mit maximaler Rhythmisierung der Versrhythmik akustisch am n ¨ achsten kam. Somit lief die nachdr ¨ ucklich propagierte Rhythmisierung letzten Endes auf eine Poetisierung der Rede hinaus. Diese Poetisierung leitete einen langen Zeitraum gegenseitiger Durchdringung von Rhetorik und Poesie ein. 3.4 Poetisierung der Rhetorik Quintilians Lehrsatz, daß Homer, der erste Dichter, auch die Kunst der Rede erfunden habe, bringt zum Ausdruck, daß Poesie und Rhetorik als eng verwandte artes gesehen worden sind. Das Bem ¨ uhen, sie jedoch formal und funktional zu differenzieren, auch theoretisch getrennt zu halten, wich in der Kaiserzeit einer Tendenz zur gegenseitigen Angleichung. Es f ¨ uhrte dieser Vorgang zur Poetisierung der Rhetorik und zur Rhetorisierung der Poesie. Daß sich die Sprachk ¨ unste gegenseitig durchdringen, war punktuell von Anfang an gegeben; in der Kaiserzeit aber wurden bisher beachtete Grenzen fließend. Beigetragen zur Ver ¨ anderung hat der radikale Umbau des Rechtswesens mit Beginn des Prinzipats, denn er wirkte sich unmittelbar auf die Rhetorik aus. Hier war ein Funktionsverlust sowohl der Gerichtsrede (genus iudiciale) wie auch der Beratungsrede (genus deliberativum) eingetreten. Beide Arten, bisher die in der Praxis wichtigsten, hatten unter Augustus begonnen, ihre Bedeutung einzub ¨ ußen; die Gerichtsrede, weil nach dem ¨ Ubergang der Jurisdiktion in Straf- und Zivilsachen in das Kognitionsverfahren und die Rechtsprechungskompetenz eines kaiserlichen Beamten f ¨ ur sie kein Platz mehr war; die Beratungsrede, weil Volks- und Ratsversammlungen ihre Entscheidungsbefugnisse an den Herrscher und die von ihm ausgew ¨ ahlten Ratgeber verloren. Analog dazu bildeten sich auch in den Provinzen autoritative Regierungsstrukturen mit einer Beamtenhierarchie heraus, die die regionalen und munizipalen Gremien aufhoben. Die Verfahrens ¨ anderungen scheinen bis zum Ende des 3. Jhs. im wesentlichen vollzogen gewesen zu sein; 342 n. Chr. hat eine kaiserliche Verf ¨ ugung beim Straf- und Zivilrecht das Formularverfahren endg ¨ ultig abgeschafft. Volks- und Ratsversammlungen hatten bereits mit Beginn des Prinzipats ihre Macht verloren; Augustus hatte z. B. wichtige Entscheidungsbefugnisse vom bislang zust ¨ andigen Senat auf ein consilium principis, eine Art Kronrat, ¨ ubertragen, der fortan dem Kaiser ratgebend und Beschl ¨ usse vorbereitend zur Seite stand. 35 35 M. Kaiser, Das r ¨ omische Privatrecht, 2. Abschnitt: Die nachklassischen Entwicklungen, M ¨ unchen 2 1975, kommt an folgenden Stellen auf den ¨ Ubergang vom Formularverfahren zum Kognitionsverfahren zu sprechen: 16f., 65f., 323f. Die ausf ¨ uhrlichste Darstellung zum Kognitionsverfahren in allen Bereichen der Rechtsprechung liefern M. Kaiser / K. Hackl, Das r ¨ omische Zivilprozeßrecht, M ¨ unchen 2 1996, 435-472. Zur kaiserlichen Jurisdiktion in Straf- und Zivilsachen siehe J. M. Kelly, Princeps iudex, Weimar 1957. 60 Dichtung und Rhetorik Der ¨ Ubergang der Rechtsprechung sowie der administrativen und politischen Entscheidungsabl ¨ aufe in die kaiserliche, von Beamten wahrgenommene Regie bedeutete f ¨ ur die Rhetorik eine tiefe Z ¨ asur. Denn da sowohl die Rede in Gerichtsverhandlungen wie auch die Beratungsrede in B ¨ urgergremien immer weniger gebraucht, am Ende mit den Institutionen aufgegeben wurden, gingen der Redekunst gerade die Praxisfelder verloren, auf denen sie am meisten brilliert hatte. Erhalten blieb ihr die Epideixis, die Funktion, zu loben oder zu tadeln. 36 Die epideiktische Redegattung (genus demonstrativum) zielte nicht auf einen Urteilsspruch oder eine Entscheidung, zu der das Publikum und eine Beschlußinstanz ¨ uberredet werden sollten. Ihr officium bestand vielmehr darin, das lobw ¨ urdige Gute und Sch ¨ one zu preisen und das tadelnswerte H ¨ aßliche zu brandmarken, im vorausgesetzten Einklang mit der Mehrheit der Zuh ¨ orer. Statt Argumenten f ¨ ur die Urteilsfindung erwartete das Publikum bei dieser Gattung die Demonstration der Ruhmesw ¨ urdigkeit verbunden mit der Glorifizierung einer Gottheit, einer Person, eines Objektes oder eines Sachverhalts, bzw. umgekehrt den Tadel von Unzul ¨ anglichkeiten und Fehlhandlungen. Weil der Lobpreis von G ¨ ottern eine große Rolle spielte und weil in der Sp ¨ atzeit auch noch der Kaiserkult bedient werden mußte, hat mit den Jahren die enkomiastische Oratorik ¨ uberwogen. Als h ¨ ochste rhetorische Auszeichnung verlangte die Lobrede den h ¨ ochsten Aufwand an Ornat, also außergew ¨ ohnlichen lexikalischen Glanz sowie reichen Tropen- und Figurenschmuck. Wie das Objekt des Lobes nach zugrundegelegter Auffassung die Grenzen des ¨ Ublichen ¨ uberstieg, so durfte gem ¨ aß der Regel der Angemessenheit (des aptum) auch der Stil der Rede in diesem Fall das rhetorisch ¨ Ubliche hinter sich lassen. Hier war sogar das Gebot der Klarheit außer Kraft gesetzt. Priorit ¨ at hatte die virtuos ausgefeilte sprachliche Form. Sie sollte selbst Bewunderung ausl ¨ osen, so daß das Spenden von Lob immer die Erwartung des Redners einschloß, mit exzeptioneller Rhetorik auch viel Lob f ¨ ur sich ernten zu k ¨ onnen. Es lag im Wesen der r ¨ uhmenden Epideixis, die Sprachform zu steigern, also auch zu ¨ ubersteigern. Die freiz ¨ ugige Verwendung von Wort- und Figurenschmuck r ¨ uckte sie jedoch zwangsl ¨ aufig nahe an die epideiktische Dichtung heran. Bloß noch die unterschiedliche rhythmische Struktur schied die epideiktische Rede vom epideiktischen Vers. Als Verwandte der Lobrede entwickelte sich in der Kaiserzeit die Ekphrasis, die ’Beschreibung‘ , zu einem Redeelement und zu einem speziellen Genre großer Beliebtheit. Als literarische Mode der Epoche beherrschte sie die allgemeine Kunstprosa und die Poesie selbst. Inspiriert von der ber ¨ uhmten Homerischen Beschreibung von Achilleus’ Schild, war es ihr Ziel, mit sprachlicher Kunstfertigkeit ’auszumalen‘ , was sich den Sinnen und der Imagination darbot: ein imposantes 36 Quintilian, Institutio oratoria 3, 7, 1 gibt als officia der epideiktischen Gattung an: constat laude ac vituperatione. Statuiert hatte dies schon Aristoteles mit dem Satz, die Festrede gliedere sich in Lob und Tadel (Rhetorik 1358b12). Rhetorisierung der Dichtung 61 Bauwerk, eine Statue, eine Stadt, ein Seesturm, ein Meeresungeheuer usw. Es gibt viele Belege daf ¨ ur, daß der Redner in der Ekphrasis ganz poetisch sprechen durfte, 37 selbst wenn sie nur einen Teil seines Vortrages ausmachte. Tacitus l ¨ aßt im Dialogus de oratoribus sein Vorbild Aper erkl ¨ aren, daß auch bei der Rhetorik allgemein eine poetische Diktion h ¨ ochsten Niveaus zu fordern sei: ”Verlangt wird n ¨ amlich auch schon vom Redner dichterischer Schmuck [ . . . ], der aus dem heiligen Schrein des Horaz, des Vergil und des Lukan geholt sein will.“ 38 Mit Ornat nach Art der r ¨ omischen Klassiker will Aper, der Repr ¨ asentant einer modernen Konzeption, die zeitgem ¨ aße Rede ausgeschm ¨ uckt sehen; sie soll wie die Tempel der Epoche nicht karg wirken, sondern - bildlich ausgedr ¨ uckt - dauerhaft auch in Marmor schimmern und in Gold strahlen. 39 Hier wird die Grundstimmung faßbar, mit der vom 2. Jh. ab die Poetisierung nachdr ¨ ucklich betrieben worden ist. 3.5 Rhetorisierung der Dichtung So wie die beste Rede poetisch sei, so sei die beste Poesie rhetorisch, lehrte der zur Zeit des Augustus in Rom lebende Literaturtheoretiker, Rhetoriker und Historiograph Dionysios von Halikarnassos. 40 Da er als Anh ¨ anger der kulturellen Dreischrittdoktrin (Bl ¨ utezeit - Niedergang - Wiederaufstieg) die alte griechische Dichtung des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. idealisierte und nach dem supponierten Verfall im Hellenismus von der ¨ Ara des Augustus die Wende zu neuer klassischer Gr ¨ oße erwartete, muß er in der wechselseitigen Durchdringung von Rede und Dichtung das zu seiner Zeit f ¨ ur beide Seiten geeignetste Mittel gesehen haben, die Ausdrucksqualit ¨ at zu optimieren. Im Grunde hatte die Rhetorik, wie schon oben erw ¨ ahnt, schon immer einen festen Platz in der Gestaltung der direkten Rede im Epos sowie in der Rededichtung par excellence, dem Drama, gehabt. Eine Dom ¨ ane rhetorischer Ausformung war nat ¨ urlich die Trag ¨ odie, denn die Forderung eines h ¨ oheren Dialogstils brachte außer der Technik des Redeaufbaus den ganzen Fundus des oratorischen Sprachschmucks ins Spiel. Wie Quintilian 37 Auf die Ekphrasis als poetisches Element der Rede hat bereits E. Norden, Die antike Kunstprosa 5 1958 ( 1 1898) 285f. mit Stellenzitaten zum Sonderstil hingewiesen, ebenso auf die allgemeine Tendenz der Poetisierung (286-290). Zur literarischen Ekphrasis im allgemeinen s. die ¨ Uberblicksdarstellungen von M. Fantuzzi (Griech.) und Ch. Reitz (Lat.) in: DNP 3 (1997) 942-947. 38 Tacitus, Dialogus de oratoribus 20, 5: exigitur enim iam ab oratore etiam poeticus decor [ . . . ] ex Horatii et Virgilii et Lucani sacrario prolatus. 39 Ebda., 20, 7: quid enim, si infirmiora horum temporum templa credas, quia non rudi caemento et informibus tegulis exstruuntur, sed marmore nitent et auro radiantur? 40 Dionysios von Halikarnassos, De compositione verborum 25f. 62 Dichtung und Rhetorik berichtet, ist Accius, einer der fr ¨ uhesten Autoren lateinischer Trag ¨ odien, bezeichnenderweise gefragt worden, warum er nicht in Prozessen vor Gericht auftrete, wo sich doch in seinen Werken soviel Kraft zeige, sehr gut f ¨ ur etwas eintreten zu k ¨ onnen. Accius habe die Entscheidung f ¨ ur das Drama mit der dichterischen Freiheit begr ¨ undet, die dieses ihm gew ¨ ahre; auf der B ¨ uhne k ¨ onne er sagen, was er wolle, auf dem Forum dagegen w ¨ urden die Gegner sagen, was er am wenigsten wolle. 41 Quintilians Bericht illustriert, wie eng die Verbindung zwischen der Rededichtung der Trag ¨ odie und der Rhetorik seit jeher gesehen worden ist. Die rhetorischen Elemente in der Dichtung und in der Literatur im allgemeinen bieten der Forschung ein geradezu unersch ¨ opfliches Arbeitsgebiet. Generationen von Doktoranden sind darauf angesetzt worden, sie aus den Werken der einzelnen Autoren ans Licht der literaturwissenschaftlichen Betrachtung - oder auch nur der tabellarischen Erschließung - zu heben. Bei der Metaphorik ist die Hochsaison der Werkanalysen immer noch nicht vor ¨ uber. Seit man sich mit den poetologischen Lehrschriften intensiver auseinandersetzt, erkennt man, daß auch die Poetik des Aristoteles und die Ars poetica des Horaz, erst recht nat ¨ urlich die Lehrschriften sp ¨ ateren Datums, nicht ohne den Anteil zu verstehen sind, den rhetorisches Gedankengut in ihnen einnimmt. Auf eine fundamentale Verschr ¨ ankung von Dichtung und Rhetorik weist Aristoteles im 19. Kapitel seiner Poetik (1456a35ff.) selbst hin. Das bei der Handlungskomposition der Trag ¨ odie zum Tragen kommende Bauprinzip der Gedankenf ¨ uhrung (di ´ anoia), welches alle dem Redner zu Gebote stehenden argumentativen Mittel betrifft, sein Ziel zu erreichen, im besonderen das Beweisen und Widerlegen, das ¨ Uberzeugen von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Sache und sogar die Affekterregung, geh ¨ ort f ¨ ur ihn origin ¨ ar zum Bereich der Redekunst. Statt in eine Abhandlung zu diesem Komplex einzutreten, setzt er die Kenntnis dessen voraus, was sich dar ¨ uber ”in den Schriften zur Rhetorik findet“, denn es handle sich um einen Teil jener Disziplin. 42 Im Kapitel 6 der Poetik, 1450b5ff., bringt Aristoteles abermals die Trag ¨ odie mit der Rhetorik in Verbindung. Dort spricht er von einer Konzeptions ¨ anderung, durch die sich die Dichtung seiner Zeit von der fr ¨ uheren unterscheide: ”Die alten Dichter ließen die Personen politische Reden f ¨ uhren, die jetzigen lassen sie rhetorisch reden.“. Was Aristoteles damit sagen wollte, wird unterschiedlich ausgelegt. Es ließe sich wohl bestimmen, wenn wir außer klassischen Trag ¨ odien auch die seiner Zeit zum Vergleich zur Verf ¨ ugung h ¨ atten, doch da klafft in der ¨ Uberlieferung eine große L ¨ ucke. So bleibt offen, ob Aristoteles mit der Charak- 41 Quintilian, Institutio oratoria 5, 13, 43. 42 Es ist nicht entscheidbar, ob Aristoteles ein eigenes, uns nicht bekanntes Werk, Konzepte der Rhetorik in Anfangstadien der Niederschrift oder Ausarbeitungen anderer meint. Werkchronologisch hat Aristoteles die ¨ uberlieferte Rhetorik sp ¨ ater fertiggestellt als die Poetik. Rhetorisierung der Dichtung 63 terisierung ”rhetorisch“, dem allgemeinen Gebrauch der Bezeichnung folgend, einen ¨ Ubergang der Trag ¨ odie zur Demonstration effektvoller Redetechnik feststellen wollte, oder ob er, seinem Verst ¨ andnis von ”Rhetorik“ entsprechend, das Eigent ¨ umliche der zeitgen ¨ ossischen Gattungsform darin zu sehen lehrte, daß sie das Glaubw ¨ urdige und ¨ Uberzeugende in jeder Sache ermittelte und darstellte, wodurch das Handeln motiviert w ¨ urde und gerechtfertigt erschiene. So betrachtet, h ¨ atte der Wechsel von der ”politischen“ zur ”rhetorischen“ Trag ¨ odie bedeutet, daß die handelnden Personen die Begr ¨ undung f ¨ ur ihr Verhalten nicht mehr aus der ethisch-charakterlichen Verfaßtheit und der Orientierung am Wohl der Gemeinschaft ableiteten, sondern aus der Erforschung aller Umst ¨ ande, die ihnen recht gaben, so zu handeln, wie sie es tun wollen und tun. 43 Welche Interpretation man dem problematischen Satz auch gibt: Mit ihm hat Aristoteles dokumentiert, daß eine rhetorische Ausrichtung einen transformierenden Einfluß auf die Trag ¨ odiendichtung erlangt hat. Im ¨ ubrigen besteht Einvernehmen dar ¨ uber, daß Aristoteles der Dichtung ¨ uberhaupt, doch indirekt, rhetorische Grundz ¨ uge zugeschrieben hat. 44 Anf ¨ uhren lassen sich daf ¨ ur insbesondere die Anforderungen an Ethos und Charakter des Autors, das Postulat der Angemessenheit des Handelns und der Sprache je nach der Situation und der Person, schließlich die drei Kapitel (20-22) einnehmende Darstellung der sprachlichen Gestaltungsmittel, die großenteils als rhetorische wiederkehren werden; auf alles ist Aristoteles in der Rhetorik vertiefend zur ¨ uckgekommen. 43 Im großen und ganzen stimmen die Kommentare darin ¨ uberein, daß sie unter den ’politischen‘ Reden der ¨ alteren (Trag ¨ odien-)Dichtung Diskurse verstehen, die aus dem Ethos und dem Charakter der Personen resultierten. Hat man bei den ’rhetorischen‘ Reden zun ¨ achst nur an die stilistisch-formale Seite gedacht, die die Oberhand gewonnen habe [So Vahlen 1914, Gudemann 1934, Lucas 1968, Fuhrmann in der Ed. der Poetik 1994, S. 111 Anm. 18], so gehen neuere gr ¨ oßere Kommentare eher von der - nach Aristoteles ’dianoetischen‘ - F ¨ ahigkeit einer Person aus, die Gr ¨ unde f ¨ ur Entscheidungen und Handlungen zu erkennen und zu bewerten und die Rede danach einzurichten, somit ’rhetorisch‘ zielwirksam anzulegen. Else 1957 glaubte bereits, aus dem Satz des Aristoteles den Wechsel der Trag ¨ odie von der Darstellung des Charakters (character) zur Darstellung des Denkens (thought) herauszulesen. F ¨ ur Halliwell 1987 ist die Trag ¨ odie von den ethischen Zielen des Lebens zu einer ”intrinsic rhetoric“ hin ver ¨ andert worden; sie bewege die Personen ”to explain, defend or justify themselves, or to state their attitudes to one another“ (S. 96). Am ¨ uberzeugendsten ist die Interpretation, die A. Schmitt: Aristoteles, Poetik, 2008: 354-361 auf der Grundlage der Aristotelischen Unterscheidung von ¯ ethos und di´ anoia als den beiden Teilen des Charakters entwickelt hat und der ich oben folge. 44 Zur Forschungslage J. Walker 2000: 278: ”One can argue, moreover that Aristotle at least obliquely recognizes the basically rhetorical character of all poetic discourse.“ Und 281: ”the Poetics offers an implicitly rhetorical account of poetry and cannot be fully understood without the Rhetoric“. 64 Dichtung und Rhetorik Die fortschreitende Rhetorisierung der Dichtung tritt in der Dichtungslehre klar zutage, wenn man der Poetik des Aristoteles die Ars poetica des Horaz gegen ¨ uberstellt. Von einem Werk, das ¨ uberwiegend produktions ¨ asthetisch angelegt war, ist die Entwicklung weitergegangen zu einer Dichtungslehre, in der der wirkungs ¨ asthetische Aspekt in den Vordergrund tritt. Die Frage, welche Wirkung erreicht wird, ist eine eminent rhetorische, ja das Grundproblem bei jeder Rede. Der Rhetorik verpflichtet ist sodann die Idee der Lernbarkeit eines guten Teils des dichterischen K ¨ onnens durch das Studium und die Nachahmung von Mustern ber ¨ uhmter Autoren, die ’rhetorische Mimesis‘ , wie Fuhrmann formulierte. 45 Doch das folgenreichste Zugest ¨ andnis an die Rhetorik ist darin zu sehen, daß Horaz, der auch die eigene Poesie rhetorisch vollendet ausformte, 46 den Schwerpunkt der Poetologie von der Strukturanalyse auf die Stillehre verlagerte. Die sprachliche Variation, die ¨ außere Form, die Technik der Ausgestaltung des Gedankens gewannen die Oberhand, w ¨ ahrend Aristoteles noch darauf bestanden hatte, daß die Form prim ¨ ar die dienende Aufgabe habe, das Gemeinte, das Mitzuteilende erkenntnisf ¨ ordernd darzustellen. An der Dichtung selbst zeigte sich die Tendenz der Rhetorisierung generell am deutlichsten darin, daß rhetorische Stilkonzepte auf sie ¨ ubertragen wurden. Diese waren erst nacharistotelisch, wahrscheinlich auf Grund von Differenzierungen des Aristoteles-Sch ¨ ulers Theophrast, 47 zur sog. Dreistillehre (vereinzelt auch Vierstillehre und weitere Stufungen) ausgebaut worden. Faßbar ist uns die Dreistillehre in systematischer Darstellung erst von der Rhetorica ad Herennium 4, 11-16 ab (1. H ¨ alfte des 1. Jhs. v. Chr.). Ziel der Stillehre war es, dem Redner f ¨ ur die passende sprachliche Ausgestaltung seiner Rede eine Stufenordnung des jeweils geeigneten Ornats vorzugeben. Statt Schmuckmittel wahllos einzusetzen und damit bei den Adressaten 45 M. Fuhrmann 32 2003: 154 charakterisiert mit der Bezeichnung die in der Rhetorik seit je ¨ ubliche Praxis, große stilistische Vorbilder produktiv nachzuahmen und m ¨ oglichst zu ¨ uberbieten. Im 1. Jh. v. Chr. weitete sich diese Praxis nach Fuhrmann zum ”Programm der rhetorischen Mimesis“. 46 Vgl. J. Walker 2000: 304. Eine ¨ altere Studie von W. Ralph Johnson in: The Idea of Lyric: Lyric Modes in Ancient and Modern Poetry, Berkeley 1982, 92-95 und 123-145, behandelt im ¨ Uberblick die rhetorischen Elemente in reihender Betrachtungsweise. Demgegen ¨ uber arbeitet Gregson Davis, Polyhymnia: The Rhetoric in Horatian Lyric Discourse, Berkeley 1991, die persuasiven Strategien heraus, nach denen Horaz in den Oden und Epoden dem Leser das philosophische Gedankengut nahezubringen sucht. 47 Auf Grund einer entsprechenden Erw ¨ ahnung bei Dionysios von Halikarnassos (ca. 60 - nach 7 v. Chr.) wird Theophrast oft als Begr ¨ under der Dreistillehre betrachtet. Mit seiner von Aristoteles abweichenden Feststellung, daß es in der Rede mehrere Stile gebe, hat er ihrer Fixierung aber den Boden bereitet. [Siehe auch Dosi 1960: 622; G. Calboli, Artikel ’Genera dicendi‘ , in: DNP 4 (1998), 911-913]. Rhetorisierung der Dichtung 65 Ablehnung zu provozieren, sollte der Redner durch eine Stilklassifikation in Stand gesetzt werden, leicht die f ¨ ur sein Thema, seine Wirkungsabsicht, seine Zuh ¨ orerschaft und sein pers ¨ onliches Prestige richtige Ausdrucksform zu finden. In der Dreistillehre, der Regelanweisung, lehrte die Rhetorik, drei Ausdrucksniveaus zu unterscheiden (griech. χαρακτ ρες bzw. πλ σματα τ@ς λ Aεως , lat. genera dicendi, elocutionis genera): den einfachen, niedrigen Stil (genus subtile), den mittleren (genus medium) und den hohen (genus grande). Trotz mancher Erweiterung bis zu einer Vielzahl von Stilen, zu der auch Quintilians Anmerkung Anlaß bot, man f ¨ ande in Wirklichkeit ”fast unz ¨ ahlige Arten“ (12, 10, 67), hat sich die von Cicero und dem Autor der Institutio vertiefte Lehre von den drei ”Stilgruppen richtigen Redens“ (Quintilian 12, 10, 58) als maßgebende Doktrin ¨ uber die Antike hinaus und sogar bis in die Neuzeit behauptet. 48 Bei Aristoteles finden sich lediglich Ans ¨ atze zu einer Mehrstillehre. Ihm geht es nur um die Definition der bestgeeigneten Sprachform f ¨ ur die Weitergabe von Mitteilungsinhalten. Nach der Rhetorik 1404b1-5 hat die beste Sprachform den h ¨ ochsten Vorzug der Klarheit; sie ist ”weder niedrig, noch allzu w ¨ urdevoll, sondern angemessen“. Die Bedingung der Angemessenheit wird erf ¨ ullt, wenn die Lexis, der sprachliche Ausdruck, der Sache entsprechend gew ¨ ahlt ist, die emotionale Gestimmtheit treffend wiedergibt, die mit der Sache verbunden ist, sowie mit dem Charakter des Handelnden und mit der Situation vereinbar ist (Rhetorik 1408a10ff.). Demnach gibt es nicht eine bestimmte beste Sprachform, auch nicht eine ideale mittlere, wie manche Interpreten meinen, sondern f ¨ ur jede Rede und jeden Redeteil eine je eigene optimale Ausdrucksweise, die zu bestimmen und zu applizieren dem Genie des Redners obliegt. Allerdings hat Aristoteles an anderer Stelle der Rhetorik (1414a) zwischen politischen Reden, Gerichtsreden und Festreden Unterschiede der Form und der Darbietungsweise festgehalten, was auf den Ansatz von Gattungsstilen hinausl ¨ auft. Es ist nun von Bedeutung, daß Aristoteles der Definition der besten Sprachform f ¨ ur die Rede einen Nachsatz angeh ¨ angt hat, der rhetorische und poetische Diktion strikt auseinanderzuhalten mahnt, obwohl sich die Niedrigkeit des Ausdrucks f ¨ ur die eine wie f ¨ ur die andere verbietet: ”Der poetische Stil ist nun wohl nicht niedrig, aber f ¨ ur die Prosarede nicht passend“ (Rhetorik 1404b4). Die beste Sprachform f ¨ ur die Dichtung ist nach der Er ¨ orterung der Stilfrage im 22. Kapitel der Aristotelischen Poetik zwar auch ”klar und zugleich nicht allt ¨ aglich“ (1458a18), auch immer nur eine, die jeweils angemessene, doch unterscheidet sie sich von 48 Die wichtigen Publikationen zur Stillehre verzeichnet der eben genannte Artikel von G. Calboli sowie das - dort noch nicht aufgef ¨ uhrte - Res ¨ umee von K. Spang, Dreistillehre, in: Ueding: Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 2 (1994), das nach dem Altertum (921- 925) das Fortwirken bis ins 20. Jh. beschreibt. ¨ Uber das formelle Regelwerk informiert am besten Lausberg 3 1990, §§ 1078-1082. Die Bezeichnungen der Stilstufen variieren etwas gegen ¨ uber den angegebenen, meistgebr ¨ auchlichen Termini; ¨ Ubersicht dazu ebenfalls bei Lausberg. 66 Dichtung und Rhetorik der f ¨ ur die Rhetorik maßgebenden besten Ausdrucksweise durch eine vom Wort- und Figurenschmuck bewirkte kunstvolle Abgehobenheit von der sprachlichen Konvention. Ohne daß die Verst ¨ andlichkeit verloren geht, sind gewohnte und ungewohnte Ausdrucksweise in ihr so vermischt (1458a32), daß die sprachliche Ausformung die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf sich zieht und sein Interesse am Erkenntnisgehalt weckt. Die Grundsatzforderung, die beste Sprachform m ¨ usse dem Gegenstand in jedweder Hinsicht angemessen sein, schließt Variation nach den Gattungsbesonderheiten von Trag ¨ odie, Kom ¨ odie, Epos und Lyrik ein. Aristoteles vertritt nach alledem keine Einstil- und keine Vierstillehre, sondern das Prinzip einer optimalen Ausdrucksform, die der Dichter f ¨ ur jedes seiner Werke und f ¨ ur jede Zeile, die er schreibt, neu bestimmen muß. Der Einbruch der Stilstufenlehren der Rhetorik in die Poetologie hat diese aristotelische Doktrin in der peripatetischen Schule aber alsbald ¨ uberdeckt. Fuhrmann hat herausgestellt, daß Horaz’ Gedanken ¨ uber Dichtung immer wieder um zwei Hauptmotive kreisen: ”um die Form, den Stil, und um das richtige Ethos, die richtige Haltung“. 49 Der Stil, f ¨ ur den Horaz pl ¨ adiert, entspricht im Ganzen dem von Aristoteles vorgegebenen Ideal der Abgehobenheit vom sprachlich ¨ Ublichen, Allt ¨ aglichen, bei der die Verst ¨ andlichkeit und die Angemessenheit gewahrt bleiben m ¨ ussen. Das Aristotelische Postulat der klaren Verst ¨ andlichkeit kehrt wieder als Mahnung an den Dichter, die ihm gegebene Freiheit des Umgangs mit dem poetisch besonders effektvollen Wortgut nur zur ¨ uckhaltend in Anspruch zu nehmen. Feinf ¨ uhlig und vorsichtig m ¨ usse er das eine w ¨ ahlen, das andere lassen. 50 Ebenso muß er bei aller Wahrung einer erlesenen Ausdrucksweise nach der Grundregel der Angemessenheit wissen, welcher Stil zu welcher Gattung, welcher Affektlage, welcher Personenkonstellation und welcher Situation paßt und seine Verse danach ausformen. Daß Horaz in der Auffassung der Stilarten bereits der Stiltheorie der Rhetorik verpflichtet ist, verdeutlichen in poetische Form gekleidete Rekurse auf die Dreistildoktrin. In der um 18 v. Chr. verfaßten Epistel an den jungen Dichterfreund Florus skizziert Horaz das Bild eines idealen Dichters, der sich durch drei Eigenschaften auszeichne: Er werde die ¨ Uppigkeit in ihre Schranken weisen; er werde zu große Rauheit durch sorgsame Behandlung gl ¨ atten; er werde schließlich das, was des Wertes entbehrt, entfernen. 51 Die drei Verhaltensweisen, die Horaz vom guten Dichter erwartet, beziehen sich nach einhelliger Meinung auf die zu vermeidenden vitia, die Stilverfehlungen, die zu jedem der drei genera 49 M. Fuhrmann 3 2003: 111. 50 Horaz, Ars poetica 46f.: in verbis etiam tenuis cautusque serendis / hoc amet, hoc spernat promissi carminis auctor. 51 Horaz, Epistulae 2, 2, 122f.: luxuriantia conpescet, nimis aspera sano / levabit cultu, virtute carentia tollet. Rhetorisierung der Dichtung 67 dicendi die negative Kehrseite bilden: beim genus grande die Schw ¨ ulstigkeit; beim genus medium mangelnder Abstand zum sprachlichen Usus; beim genus subtile die Vulgarit ¨ at. Der wahre Dichter beherrscht die Kunst, mit den Sprachstilen richtig umzugehen; er kennt die Stilfehler und weiß sie zu vermeiden. Gleich nach den ersten Versen geht Horaz in der Ars poetica abermals auf die Stilthematik ein, und abermals warnt er vor Fehlern auf Grund falscher, unangemessener Ausdruckswahl. 52 Allgemein verlangt er, wie Aristoteles, Klarheit und Verst ¨ andlichkeit; ¨ ubertriebene K ¨ urze k ¨ onne Dunkelheit erzeugen. Wer sich der glatten Ausdrucksweise verschreibe (=genus medium), dem k ¨ onne es verbal an Kraft und Schwung ermangeln. Wer sich f ¨ ur Großartigkeit entscheide (=genus grande), riskiere Schw ¨ ulstigkeit. Wer den einfachen Stil nehme (=genus subtile), k ¨ onne wie jemand erscheinen, der am Boden kriecht, allzu sehr besorgt um Sicherheit und voller Angst vor Sturmwind. Wie man sieht, ist die Dreistillehre der Rhetorik Bestandteil der Horazischen Poetologie geworden, aber den Dichtern wird nachdr ¨ ucklich eingesch ¨ arft, bei der Wahl der Ausdrucksweise die Grundregel der Angemessenheit genau zu beachten. Dieser Grundregel folgend, werde der Dichter immer wissen, unter den Stilen die richtige Wahl zu treffen. Die ¨ Ubertragung der Stillehre der Rhetorik auf die Dichtung wird f ¨ ur das 1. Jh. v. Chr. schon von Varro (116-27 v. Chr.) best ¨ atigt. In den Noctes Atticae 6, 14 er ¨ offnet Gellius Betrachtungen zu den Stilarten mit der Bemerkung, daß im allgemeinen deren drei angenommen werden, und zwar ”sowohl in gebundener, wie in ungebundener Rede“. Nach dem Dreierschema habe Varro bereits r ¨ omische Dichter unterschieden, und zwar Pacuvius als Vertreter des hohen Stils, Lucilius als Repr ¨ asentant des einfachen und Terenz als Musterautor des mittleren. Was Gellius ¨ uberliefert, beweist, daß Horaz sich schon auf eine gewisse Tradition st ¨ utzen konnte, mit dem Gew ¨ ahrsmann Varro zumindest auf eine anerkannte ¨ altere Autorit ¨ at der Dichtungslehre. Weiterhin zeigt sich hier, daß die in der Kaiserzeit g ¨ angige Parallelisierung der Stile mit Dichtungsgattungen ihre Wurzeln in der Vorklassik hatte. Denn die von Varro benannten Musterautoren repr ¨ asentieren Dichtungsarten: Pacuvius mit dem hohen Stil vertritt die Trag ¨ odie, Lucilius mit dem einfachen das Epigramm, Terenz mit dem mittleren die Kom ¨ odie. Unter den sp ¨ atr ¨ omischen grammatici hat Donatus (ca. 310-ca. 380) die rhetorischen Stile auf die Werke Vergils ¨ ubertragen. Als Meister jeder Gattung habe dieser die Bucolica im niederen Stil (modus tenuis), die Georgica im mittleren (modus moderatus) und die Aeneis im hohen (modus validus) gestalten wollen und ausgef ¨ uhrt. 53 Da nun aber die Zahl der unterscheid- 52 Horaz, Ars poetica 25-28: brevis esse laboro, / obscurus fio; sectantem levia nervi / deficiunt animique; professus grandia turget; / serpit humi tutus nimium timidusque procellae. 53 So Donatus in einem der wenigen erhaltenen Teile seines Werkkommentars zu Vergil, die J. Brummer in den Vitae Vergilianae, Leipzig 1912, ver ¨ offentlicht hat. Die zitierte Stelle dort S. 14. 68 Dichtung und Rhetorik baren Dichtungsgattungen die Zahl der Stile - im triadischen System drei, im tetradischen vier - ¨ uberstieg, setzte sich daneben die Bindung der Stile an die behandelten Stoffe und an die Personenkategorien durch, die darin figurierten. Im Grunde zeichnete sich dieses Prinzip auch schon in der Stileinstufung der Werke Vergils durch Donatus ab, denn mehr als sprachlich divergieren sie thematisch und personell. Der etwas j ¨ ungere Servius (um 400) verband in seinen Kommentaren zu Vergil die Stilstufenunterscheidung explizit mit dem Stoff- und Personenkriterium; die tres characteres seiner Werkklassifikation ergeben sich aus der ”Qualit ¨ at der Angelegenheiten und der Personen“. 54 Begonnen hat die Vereinnahmung Vergils f ¨ ur Rhetorik, der Schrittmacherfunktion f ¨ ur die ganze Poesie zukam, schon erheblich fr ¨ uher. Dem als Historiker, Dichter, Redner und Literaturlehrer bekannten P. Annius Florus (2. H ¨ alfte 1. bis 2. H ¨ alfte 2. Jh. n. Chr.) wird eine erhaltene Einleitung zu einem Dialog mit dem Titel Vergilius an orator aut poeta zugeschrieben. Die Fragestellung zeigt, auch wenn wir die Antworten nicht kennen, wie sehr das Rhetorische in Vergil - und wohl auch die Rhetorisierung von Dichtung - schon in der Nachklassik Anlaß zum Nachdenken gab. F ¨ ur die sp ¨ atr ¨ omische Literaturkritik ist die Frage des Florus entschieden: Vergil ist beides, Dichter und Rhetoriker, und gerade deshalb brilliere er, weil er die Rhetorik ganz mit seinem Dichten vereint habe. Alle Teilnehmer des literarischen Symposions, das Macrobius (Anfang 5. Jh.) in den Saturnalia schildert, sind sich einig, daß Vergil als der r ¨ omische Homer und als universales Genie nicht nur ¨ uber alles Wissen und K ¨ onnen verf ¨ ugte, sondern im Ausdruck und in der Stilebenenwahl das rhetorische Regelwerk so bravour ¨ os handhabte, daß er sogar als Musterrepr ¨ asentant aller Rhetorik zu gelten habe. Wer es noch nicht bemerkt hatte, der wußte es jetzt, daß der Weg zum anerkannten Dichter in sp ¨ atr ¨ omischer Sicht ¨ uber die Meisterschaft in der Rhetorik f ¨ uhrte. Bez ¨ uglich der Stillehre gipfelt die Rhetorisierung im 4. Jh. in der v ¨ olligen ¨ Ubertragung der genera dicendi-Unterscheidung auf die Poesie. Der uns durch eine der wenigen gut erhaltenen sp ¨ atr ¨ omischen Artes grammaticae bekannte Diomedes (2. H ¨ alfte 4. Jh.) hat in seinem Lehrwerk, das im ganzen Mittelalter viel Zuspruch fand, die rhetorischen Stilstufen zu poematos characteres, zu poetischen erweitert. Im R ¨ uckgriffauf die griechische Terminologie, die vielfach beibehalten wurde, grenzte er vier poetische Stilstufen gegeneinander ab: den ’großen‘ Dichtungsstil ( μακρ ς ), den ’niedrigen‘ ( βραχ<ς ), den ’mittleren‘ ( μ σος ) und den ’bl ¨ uhenden‘ ( νθηρ ς , f ¨ ur sch ¨ one Landschaftsbeschreibungen). 55 Seine aus der Aeneis zitierten 54 . . . pro qualitate negotiorum et personarum. Die Stiltrias - hier humilis, medius, grandiloquus - und ihre Begr ¨ undung finden sich im Kommentar zu den Bucolica mit der weiteren Erl ¨ auterung zur Einstufung dieses Werkes ins unterste Genus: nam personae hic rusticae sunt, simplicitate gaudentes, a quibus nihil altum debet requiri. (Servii grammatici. . . commentarii, ed. G. Thilo, 1887, 2). 55 Die Ars des Diomedes in Keil GL I, 299-525. Die poetischen characteres dort S. 483. Rhetorisierung der Dichtung 69 Beispiele zeigen, daß das Stoff- und Personenkriterium bei der Zuordnung eines Textes oder Textteils zu den Stilkategorien den Ausschlag gab. Diomedes dokumentiert die Ausdehnung des rhetorischen Stilbegriffs auf alle Formen kunstvoll gestalteter Rede. War f ¨ ur die Poesie bis in die Kaiserzeit hinein die Art der Dichtungsgattung ausdrucksbestimmend gewesen, ohne die Ausf ¨ uhrung in einer bestimmten Weise des Sprachschmucks vorzuschreiben, so hat die zur Schl ¨ usseldisziplin sp ¨ atr ¨ omischer Bildung aufgestiegene Rhetorik am Ende alle Arten der Kunstrede ihrer Stilhierarchie unterworfen, die sich allein nach der Stoff- und der Sozialhierarchie zu richten hatte, der das Sujet zuzuordnen war. In der weiteren Entwicklung kam es begreiflicherweise punktuell zur Unterscheidung von nur zwei Stilen, einem h ¨ oheren und einem niederen, analog zur dualistischen Weltsicht. In dieser Richtung haben auch christliche Theoretiker gewirkt, die, Augustinus folgend, das Weltliche f ¨ ur niedrig, dagegen aber inhalts- und stilm ¨ aßig f ¨ ur ’groß‘ (magnum) all das erkl ¨ arten, was mit der biblischen Botschaft und dem Heil des Menschen zu tun hatte. 56 Die Unterordnung der Dichtkunst unter die Rhetorik tritt auch außerhalb der Stilproblematik klar zutage. So ist bezeichnend, daß Rom nach Horaz keine Poetik im vollen Sinn des Wortes mehr hervorgebracht hat. Die oft genannte, konzeptionell rhetorische Schrift eines Anonymus (’Pseudo-Longinos‘ ) ¨ Uber das Erhabene ( Περ ψους ) aus der 1. H ¨ alfte des 1. Jhs. n. Chr. zeigt bereits, wohin die Entwicklung tendierte. Denn sie will Gr ¨ oße und Erhabenheit als Lebensstil lehren, f ¨ ur den der gehobene Sprachstil in Rhetorik, Dichtung, Philosophie und Historiographie die bedeutungsvollste der Formen ist, in denen er sich manifestieren kann. Außer edlen Gedanken und stimulierender Leidenschaftlichkeit verheißt nichts so sehr Erhabenheit und Gr ¨ oße wie eine vornehme Diktion. Hervor geht sie aus einer besonderen Kompetenz der Wortwahl, im Umgang mit Figuren und in der Kunst der Satzf ¨ ugung. In der Summe l ¨ auft der Traktat auf ein Pl ¨ adoyer f ¨ ur außergew ¨ ohnlich gute Ausdruckswahl als Signum pers ¨ onlicher Vortrefflichkeit hinaus. Die wertende Besprechung der geeigneten Stilmittel nimmt mehr als die H ¨ alfte des Werkes ein (Kapitel 16-43). Wie es in Lehrschriften in sp ¨ atr ¨ omischer Zeit ¨ ublich sein wird, treten poetologische Ausf ¨ uhrungen hier zur ¨ uck gegen ¨ uber praktischer Unterweisung mit Regeln und Beispielen. 56 Augustinus hat die Unterscheidung in De doctrina christiana 4, 18 f ¨ ur die christliche Rhetorik formuliert. Damit es keine Schwierigkeiten bei der Stilwahl gebe, empfiehlt er dem Prediger, sich im allgemeinen an ein mittleres Niveau zu halten und den hohen Stil nur auszusch ¨ opfen, wenn es darum geht, die Zuh ¨ orer in besonderer Weise zu ergreifen und zu stimulieren. Zur Anverwandlung der ciceronianischen Stillehre H. J. Marrou, Saint Augustin et la fin de la culture antique, Paris 1938, 505-540; A. Prestel, Die Rezeption der ciceronianischen Rhetorik durch Augustinus in De doctrina christiana, Frankfurt 1992. 70 Dichtung und Rhetorik Die Stilistiken, die in der sp ¨ aten Kaiserzeit am Erbe der Poetiken Anteil hatten, ragten ¨ uber geistlose Rekapitulationen der Ausstattungstechnik f ¨ ur Prosa und Poesie nicht hinaus. Von der alles umfassenden Rhetorik ausgehend, betrachteten sie die Kunstformen der Rede in Wort und Schrift in der Regel als Einheit, mit allgemein geltenden Stilnormen. In diesem Verst ¨ andnis trafen sie sich mit den artes grammaticae, urspr ¨ unglich Lehrwerken des korrekten Sprachgebrauchs f ¨ ur den Grammatikunterricht, die aber im Lauf der Zeit immer mehr Stoffgebiete abdeckten. Denn dem grammaticus oblag in der Erziehung sehr fr ¨ uh auch schon die Dichtererkl ¨ arung, dann der Unterricht in Rhetorik und in den Grundlagen der Wissenschaften. Auf diese Weise wuchsen auch die Artes grammaticae in die Nachfolge der Poetiken hinein. Die Dichtererkl ¨ arung und die Lekt ¨ ure großer Werke brachten es mit sich, daß sie dem elementaren Lehrgut der Poetologie Rechnung tragen mußten. Ganze Problemkreise gingen hier in die ’Grammatik‘ ¨ uber, wie man es bei de Metrik beobachten kann, die komplett ein Teil der ’grammatischen‘ Lehre wurde. Es ist also durchaus ’normal‘ , daß die erw ¨ ahnte Ars grammatica des Diomedes nach zwei B ¨ uchern ¨ uber die partes orationis (Redeteile) im dritten die Metrik, und darin eingestreut nur das Grundwissen der Dichtungslehre darbietet. Die ¨ Uberlagerung der Dichtung durch die Rhetorik brachte in der Praxis der sp ¨ atr ¨ omischen Kaiserzeit eine vielfach durch stilistische Eint ¨ onigkeit oder durch Formk ¨ unsteleien bis hin zum Schwulst langweilende Versproduktion hervor, ¨ uber die bereits Norden das Urteil gesprochen hat. 57 Wie sehr sie auch theoretischwissenschaftlich die Problematisierung des Ph ¨ anomens ’Dichtung‘ beiseiteschob, l ¨ aßt sich an der Tatsache ermessen, daß die Lehre von der Dichtung, die Poetologie, im System der septem artes liberales, dem Grundstock sp ¨ atantiker und mittelalterlicher Bildung, keinen Platz erhielt. Sie wurde, wenn sie erw ¨ ahnenswert schien, der Rhetorik oder der Grammatik zugeschlagen. Erst die Renaissance-Poetiken haben die Dichtungstheorie in vollem Umfang als eigenst ¨ andige Disziplin rehabilitiert. 58 57 E. Norden, Die antike Kunstprosa, 5 1958 ( 1 1898), II, 883-893, leitet eine Skizze zu Rhetorik und Poesie im Altertum mit der Bemerkung ein, die Rhetorisierung habe bewirkt, daß man ”statt echter Poesie fast nur mehr Rhetorik in Versen besaß“. Die Entwicklung sei gekennzeichnet gewesen durch eine ”st ¨ andige Degeneration“ (883). Wie die ausf ¨ uhrliche W ¨ urdigung in der ”Geschichte der r ¨ omischen Literatur“ von M. v. Albrecht: 2012, Bd. II, 1117-1172, zeigt, sieht man die poetische Performanz der Epoche heute differenzierter. M. v. Albrecht konstatiert zwar auch, daß die damalige Poesie unter dem Einfluß der Rhetorik ”in Beliebigkeit und Formspielerei abgest ¨ urzt“ und ”in Schulmeisterei“ degeneriert sei (1117, 1124), hebt jedoch daneben einige Glanzpunkte, auch christlicher Dichtung, hervor. 58 Eine gute ¨ Ubersicht zum Thema, mit umfangreichen Literaturangaben, bietet R. Webb, Poetry and Rhetoric, in: Potter 1997, 339-369 [Nach Dichtungsarten und Autoren]. 4 Poetologie der Gattungen 4.1 Das Dreierschema Epik - Lyrik - Drama Die heute ¨ ubliche Großeinteilung der Dichtung in epische, lyrische und dramatische ist jungen Datums. Von italienischen Poetiken des 16. Jhs. aus, die die Vielfalt der poetischen Formen unter dem Sammelbegriffder ’Lyrik‘ zusammenfaßten, hat sie in Europa erst um 1700 Raum gewonnen und sich gegen Ende des 18. Jhs. durchgesetzt. 1 Zur ¨ uckzuf ¨ uhren ist ihre Verallgemeinerung auf den Einfluß des Begr ¨ unders der franz ¨ osischen Kunstphilosophie Charles Batteux (1713-80), dessen Lehren das literatur ¨ asthetische Denken im damaligen Europa gepr ¨ agt haben. Wenig sp ¨ ater sind zu dem aus dem Griechischen und Lateinischen ¨ ubernommenen Drama (im Deutschen seit dem 16 Jh. belegt), unterst ¨ utzt von franz. (po´ esie) ´ epique und (po´ esie) lyrique, die Kurzformen Epik und Lyrik hinzugekommen. 2 Seit dem Ende des 19. Jhs. beherrscht die Trias Epik, Lyrik, Drama die Dichtungseinteilung. Dichtungsgattungen zu unterscheiden und zu systematisieren, ist eine Aufgabe der poetologietheoretischen Analyse. Sie stellt sich in erster Linie beim Umgang mit dem Ph ¨ anomen ’Dichtung‘ denen, die bestrebt sein m ¨ ussen, in die 1 Wichtige Informationen zur Trias in der Neuzeit und in der Moderne bietet der Artikel ’Lyrisch - episch - dramatisch‘ , von A. Meier in: ¨ AGB 3 (2001) 709-723. [Aus der Perspektive der deutschen Kulturgeschichte und Literaturwissenschaft]. Faktenreicher ¨ Uberblick ¨ uber die ganze Problematik und ihre Geschichte von S. Komfort-Hein, Artikel ’Gattungslehre‘ , in: Ueding, Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 3 (1996), 528-564. Auf die Antike beschr ¨ ankt ist der Artikel ’Literarische Gattung‘ von R. Hunter (Begriff und Griechisch) und P. R. Hardie (Lateinisch) in: DNP 7 (1999), 260-266. Alle Titel mit umfangreichen Literaturangaben. 2 Dt. episch und Epik gehen zur ¨ uck auf lat. epicus, gr. (πικ ς ”was das Epos betrifft“. Das Basislexem Epos, gr. "πος , ein s-Stamm, geh ¨ ort zum Verb εHπε%ν ”sagen“; es datiert im Deutschen erst seit dem 18. Jh. (Kluge/ Seebold 1999). Dem Drama liegen lat. drama und letztlich gr. δρ5μα , eigentlich ”Handlung, Geschehen“, sekund ¨ ar ”Schauspiel“, zugrunde. Das Adj. dramatisch verbindet sich mit lat. dramaticus, gr. δραματικ ς ”was das Schauspiel betrifft“. Die griechischen Ausgangsformen sind zum Verb δρ5ν mit der Grundbedeutung ”handeln, tun“ zu stellen. Den Terminus Drama hat in seinen speziellen griechischen Verwendungen, namentlich in urkundlichen Verzeichnissen von Theaterauff ¨ uhrungen, B. Zimmermann ins Licht gehoben, zuerst in: Dithyrambs, Geschichte einer Gattung, G ¨ ottingen 1992 (passim), systematisch zusammengefaßt in: DNP 3 (1997), 812f. Zu lyrisch und Lyrik siehe die [noch immer grundlegende] Publikation von Hans F ¨ arber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, M ¨ unchen 1936. Ferner: B. Asmuth, Lyrik, in: Ueding Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 5 (1996) 690-727; E. Robbins / Th. Fuhrer, Lyrik, in: DNP 7 (1999), 586-594. 72 Poetologie der Gattungen F ¨ ulle der Arten aus bestimmtem Interesse eine sachgerechte Ordnung zu bringen: Verfassern von Poetiken und Bearbeitern von Werkausgaben, Literaturgeschichten, Anthologien, Verzeichnissen zur Orientierung des Lesers usw. Weil es sich statt um Textproduktion um eine Art wissenschaftlicher Textverarbeitung handelt, geben die Dichter selbst zum Gattungsproblem außer einigen Bezeichnungen von Werken wenig her. Gr ¨ oßeres poetologisches Interesse dokumentiert sich verst ¨ andlicherweise auch erst in den dichtungstheoretisch relevanten Schriften Platons und in der Poetik des Aristoteles. Kr ¨ aftigen Auftrieb erhielt die gattungstheoretische Reflexion durch den Bedarf an praktikablen Werkunterscheidungen bei der Ordnung und kritischen Herausgabe der Sch ¨ atze der griechischen Dichtung in der ber ¨ uhmten Philologenschule von Alexandria (3. bis 1. Jh. v. Chr.). Hier kam die theoretische Systematisierung von Dichtung in der Anwendung auf die Gliederung und Katalogisierung der einzelnen Werkbest ¨ ande auch praktisch zum Tragen. Die Dreierunterscheidung von epischer, lyrischer und dramatischer Dichtung (und von Epik, Lyrik und Drama) ist eine heuristische Konvention. Exakt begr ¨ undbar ist sie nicht, weil das Epische, das Lyrische und das Dramatische nicht eindeutig gegeneinander abgegrenzt werden k ¨ onnen. Nur Ausschlußdefinitionen sind inhaltlich unanfechtbar (z. B. ”Lyrik ist, was nicht Epik und nicht Drama ist.“), doch f ¨ ur die literaturbezogene Praxis sind solche Definitionen kaum hilfreich. Obwohl literarhistorische Darstellungen die Trias Epik, Lyrik, Drama als Ordnungsprinzip der griechischen und der r ¨ omischen Dichtung verwenden, obwohl selbst der antiken Poetologie triadische Gliederungen nicht fremd waren und die genannten ja auch dort ihren terminologischen Ursprung hatten, ist das uns vertraute Schema mit keinem der Antike kompatibel. Die Auffassung, die wir mit epischer Dichtung verbinden, deckt sich nicht mit dem antiken Verst ¨ andnis, noch die des Dramas mit dem Begriffdes Dramas bei Griechen und R ¨ omern. 3 Daß Unvereinbarkeit nicht nur gegeben ist, weil neu hinzugekommene Dichtungsarten gezwungen haben, alte Begriffe weiter zu fassen als vordem, zeigt der Fall der lyrischen Dichtung (der ’Lyrik‘ ), die bis zum Ausklang der Antike und sogar noch im Mittelalter konzeptionell nicht als Gattungseinheit gesehen und behandelt worden ist. Die Bezeichnung ’lyrisch‘ ist selbst j ¨ ungeren Datums. Und zwar erscheint sie f ¨ ur uns faßbar erstmals in einer delphischen Ehreninschrift des Jahres 160 v. Chr., 3 Als ’Epos‘ konnte im ¨ alteren und klassischen Griechisch auch eine in Hexametern geschriebene Dichtung beliebigen Themas bezeichnet werden. Beim ’Drama‘ lassen die anf ¨ anglichen Verwendungen mit Bezug auf Theaterst ¨ ucke (Trag ¨ odien, Kom ¨ odien, Satyrspiele) erkennen, daß mit dem Wort mehr die Auff ¨ uhrung und der Handlungsverlauf gemeint waren als die Dichtungsform (vgl. Aristophanes, Fr¨ osche 920: ”Das St ¨ uck ( δρ5μα ) ging immer so weiter“). Das Dreierschema Epik - Lyrik - Drama 73 in der es um die Auff ¨ uhrung ”lyrischer Strophen“ der ”alten Dichter“ geht. 4 Von dem dort belegten λυρικ ς (lyrik ´ os) ’lyrisch‘ aus ist durch Substantivierung λυρικ ς ’Dichter‘ gebildet worden, sowie f ¨ ur die ’Dichtung‘ eine entsprechende Wortkomposition des Typs λυρικ πο ησις ( lyrik´¯e po´ı ¯ esis), f ¨ ur die im Lateinischen ein Plural eintrat: lyrica carmina, lyrica poemata. Erst die elliptische Kurzform lyrica (n. pl.) des Sp ¨ atlateinischen hat in den europ ¨ aischen Sprachen die Bezeichnungen f ¨ ur ’Lyrik‘ ergeben. 5 Was formal klar ist, ist es begrifflich mitnichten. Die h ¨ aufig vorgetragene Erkl ¨ arung f ¨ ur ’Lyrik‘ , es sei die Lyra das ¨ ubliche Begleitinstrument des Gesangsvortrags von Versen gewesen, befriedigt nicht, denn auch andere Saiteninstrumente (Kithara, Phorminx, Barbitos, Magadis) und der Aulos (Fl ¨ otenart) sind als instrumentale St ¨ utzen reichlich bezeugt. Beim Dichterwettstreit war die Kithara sogar das Regelinstrument. F ¨ arber war bereits aufgefallen, daß in den sp ¨ athellenistischen Testimonien ”lyrisch“ und ”Lyriker“ mit Vorliebe mit den neun kanonischen Dichtern Griechenlands verbunden wurden. Auf diese Beobachtung gest ¨ utzt, hat H. G ¨ orgemanns (1990) die These entwickelt und plausibel dargelegt, daß die Bezeichnung λυρικο ’Lyriker‘ (pl.) aus dem Raum der Schule stammt, und zwar aus dem Musikunterricht, bei dem in der Tat das Lyraspiel im Vordergrund stand und als Gesangsverse poetische Kleinformen und Melodien der neun kanonischen Dichter einge ¨ ubt wurden. Wegen dieser Verbindung mit der Unterweisung ins Lyraspiel seien als erste die Kanoniker λυρικο genannt worden; die Ausweitung der Trias ’lyrisch - Lyriker - Lyrik‘ auf monologische Poesie verschiedener Art und beliebige Autoren ist auf das Bem ¨ uhen der alexandrinischen Gelehrten zur ¨ uckzuf ¨ uhren, unanfechtbare Klassifikationsprinzipien f ¨ ur die bunte Vielfalt der Werke der Dichtkunst zu gewinnen. 6 Mit der vom 2. Jh v. Chr. ab zu beobachtenden Einf ¨ uhrung des Bezeichnungstyps ’lyrisch‘ f ¨ ur bestimmte Dichtungsarten und deren Autoren entstand eine Konkurrenz zum ¨ alteren Bezeichnungstyp ’melisch‘ ( μελικ ς ). Wir durchschauen nicht, inwieweit sich ein Synonymieverh ¨ altnis zwischen ’melisch‘ und ’lyrisch‘ einstellte oder eine semantische Differenz gewahrt blieb. Nach allgemeiner Auffassung galt bei der Darbietung von Dichtung Gesang und Instrumentbegleitung (bei der Chorlyrik noch zus ¨ atzlich der Tanz) als eine k ¨ unstlerische Einheit. So k ¨ onnte die Doppelbenennung ihren Entstehungsgrund und sp ¨ ater ihre Beibehal- 4 Fouilles de Delphes, III: ´ Epigraphie, I, Paris 1929, S. 23, Nr. 49: λυρικ: ν συστεμ των [ . . . ] τ: ν ρχα ων ποητ5ν . Auf die Stelle hat G ¨ orgemanns (1990) aufmerksam gemacht (s. Fn. 6). F ¨ arber hat sie noch nicht gekannt. 5 H. F ¨ arber (1936) hat die Einzelbelege des ganannten Bezeichnungstyps zusammengestellt und deren poetologische Relevanz er ¨ ortert, vor allem im Abschnitt ’Name der Lyrik‘ , 7-16. 6 Siehe H. G ¨ orgemanns, Zum Ursprung des Begriffs ”Lyrik“, in: von Albrecht, M. / Schubert, W., Musik und Dichtung. . . [FS P ¨ oschl], 1990, 51-61. 74 Poetologie der Gattungen tung in dem Motiv haben, je nach dem Kommunikationsbed ¨ urfnis entweder die vokale Seite eines Vortrags (=’melisch‘ ) oder aber die instrumentale (=’lyrisch‘ ) zu betonen. Der z ¨ ugigen Verallgemeinerung der Trias ’lyrisch - Lyriker - Lyrik‘ stand jedenfalls deren f ¨ ur jedermann offenkundige Koppelung an die Lyra entgegen. Deshalb, doch nicht allein aus diesem Grunde, sprach Cicero Abstand nehmend von den besten Dichtern, ”die bei den Griechen λυρικο heißen“. 7 Nach heutigem Verst ¨ andnis deckte weder die Trias ’melisch - Meliker - melische Dichtung‘ noch die Dreiergruppe ’lyrisch - Lyriker - Lyrik‘ das gesamte Feld des nichtepischen und nichtdramatischen Schaffens ab. Verschiedene Dichtungsarten wurden weder der einen noch der anderen Gruppe untergeordnet; sie stellten Gattungen eigenen Typs dar. Repr ¨ asentativ ist hierf ¨ ur die Systematik im Dialogus de oratoribus des Tacitus (entstanden ca. 74-78 n. Chr.): Neben dem Drama, dem heroischen Epos und der Lyrik figurieren dort die Elegie, die Iambendichtung, das Epigramm und ”manch andere Unterart“. 8 Charakterisierungen, die den Variet ¨ aten hinzugef ¨ ugt worden sind, geben zu erkennen, daß die Differenzierung der verschiedenen Dichtungsarten nicht nur aus formalen, haupts ¨ achlich metrischen Gr ¨ unden aufrechterhalten wurde, sondern offenbar auch wegen inhaltlicher und intentionaler Unterschiede gewahrt blieb. Kennzeichnend f ¨ ur die Elegie erschien z. B. nach den Aper in den Mund gelegten Worten die Laszivit ¨ at (lascivitas), wobei sicherlich an die in Rom florierende erotische Liebeselegie gedacht war. Die Iambendichtung wird mit Bitternis (amaritudo) verbunden, ist sie doch eine beliebte Form der kritischen und selbstkritischen Stellungnahme sowie der Verspottung gewesen. 9 Das Epigramm assoziiert Tacitus durch Aper mit dem Spiel (ludus); darin kommt zum Ausdruck, daß es sich f ¨ ur witzige Pointen und Spottverse anbot, im ¨ ubrigen auch als poetische Nebenbesch ¨ aftigung von Dilettanten bewertet wurde. Der Lyrik (lyrica n. pl.) wird das Gef ¨ allige, Vergn ¨ ugliche (iucunditas) zugeschrieben, sie erf ¨ ullt zuvorders das Horazische delectare. Die Regelgruppe, die in der r ¨ omischen klassischen ¨ Ara die lyrische Dichtung umgriff, ist das Dreigespann von Elegie, Iambik und Lyrik oder Melik gewesen, wie es uns bei Horaz und Quintilian begegnet. 10 Proklos (410/ 12-485 n. Chr.), einer der letzten Universalgelehrten der Antike und etwa 50 Jahre lang hochangesehenes Haupt der neuplatonischen Philosophenschule in Athen, hat eine fast vollst ¨ andige Einzelbeschreibung der lyrischen und melischen Gedichtarten hinterlassen. Sie dokumentiert, was in der Sp ¨ atantike zur ’Lyrik‘ gez ¨ ahlt 7 Cicero, Orator 183. 8 Tacitus, Dialogus de oratoribus 10, 4. 9 Die Frage nach dem Wesen der Iambik behandelt das Vortragsres ¨ umee von F. Lasserre, Iambische Dichtung und antike Thesen ¨ uber den Iambos bis Aristoteles, in: Acta Philologica Aenipontana 4 (1979), 59-61. 10 Horaz, Ars poetica 73-85; Quintilian, Institutio oratoria 10, 1, 58-61. Hauptkategorien der Antike 75 wurde. F ¨ arber (1936) hat von Proklos ausgehend nachweisen k ¨ onnen, daß in der antiken Dichtungstheorie nicht weniger als 35 verschiedene Unterarten ’lyrischer‘ oder ’melischer‘ Werke unterschieden worden sind. Dabei muß allerdings ber ¨ ucksichtigt werden, daß die Zuordnungen in manchen F ¨ allen geschwankt haben. Ein Paradebeispiel hierf ¨ ur ist der Dithyrambos, der bei den Dionysosfesten aufgef ¨ uhrte Chorgesang: In seiner ¨ alteren Form wurde er zur Lyrik gez ¨ ahlt, in der j ¨ ungeren, attischen, von Aristoteles mit dem Ursprung der Trag ¨ odie verbundenen Spielart aber in der Regel von ihr getrennt gesehen. 11 Die Zusammenfassung aller nichtepischen und nichtdramatischen Gedichtformen unter einem globalen Lyrikbegriff, der dem heutigen Verst ¨ andnis nahekommt, ist in der Sp ¨ atantike angebahnt; systemisch ausformuliert hat sie bereits Diomedes (4. Jh. n. Chr.) mit der lyrica species seiner Dichtungsgliederung (auf die ich noch zur ¨ uckkommen werde). M ¨ oglicherweise k ¨ undigte sie sich schon an in Plutarchs triadischer Unterscheidung von Epik, Melik und Drama. 12 Aber wie im Sp ¨ atlateinischen bleibt auch im Mittelalter und dann in den Renaissance-Poetiken die Differenzierung des lyrischen Bereichs in drei oder vier selbst ¨ andige Gattungen oft bestehen, darunter anstelle von ’Lyrik‘ immer noch die ’Melik‘ . Erst die gr ¨ oßtenteils nationalsprachlichen Barockpoetiken haben neben dem ’Epos‘ und dem ’Drama‘ die ’Lyrik‘ endg ¨ ultig etabliert. 4.2 Hauptkategorien der Antike Die Antike kannte keine einheitliche Gattungstopik. Im wesentlichen wurden aber sieben Hauptkategorien unterschieden: Epos, Trag ¨ odie, Kom ¨ odie, Epigramm, Elegie, Iambos und Melik/ Lyrik. Die Namen zeigen, daß als erstes Differenzkriterium die inhaltlich-funktionale Unterscheidung genutzt wurde. Sie ist in den meisten F ¨ allen nur noch etymologisch erkennbar; die historisch faßbaren Zeugnisse belegen sie nicht mehr oder lediglich noch partikul ¨ ar: Die Trag ¨ odie, eigentlich ’Bocksgesang‘ (gr. τρ γος , tr ´ agos, ’Bock‘ ; δ , ¯oid´¯e , ’Gesang‘ ) scheint auf Riten beim Bocksopfer f ¨ ur Dionysos zur ¨ uckzugehen; 13 die Kom ¨ odie auf ein 11 Aristoteles stellt in der Einleitung der Poetik (1447a14) den Dithyrambos als eigene Gattung dem Epos, der Trag ¨ odie und der Kom ¨ odie an die Seite, im Kap. 4, 1449a9ff., sieht er in ihm wegen der eingelegten Erz ¨ ahltexte die Keimzelle der Trag ¨ odie. Auch Cicero bezeugt die Unabh ¨ angigkeit von der Lyrik; in De optimo genere oratorum 1 unterscheidet er als Dichtungsgattungen Trag ¨ odie, Kom ¨ odie, Epos, Melik und Dithyrambos. B. Zimmermann geht in seiner umfassenden Darstellung ’Dithyrambos: Geschichte einer Gattung‘ (1989) bereits in der Einleitung S. 9ff. auf die Gattungsproblematik ein. 12 Plutarch, De gloria Atheniensium, 5. Die Stelle zitiert F ¨ arber, Texte p. 6. 13 W. Burkert, Griechische Trag ¨ odie und Opferritual, in: Ders., Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin 1990, 13-39. Weitere Gesichtspunkte zur Worterkl ¨ arung bei B. Zimmermann, Artikel ’Trag ¨ odie‘ , I: Griechisch, in: DNP 12/ 1 76 Poetologie der Gattungen Freudengelage, ein Fest, einen ausgelassenen Umzug ( κ: μος ( k´¯omos ) und ¯oid´¯e ’Gesang‘ ), der Iambos nach alter Deutung auf die sp ¨ ottischen Scherze, mit denen nach einem Homerischen Hymnus (Hom.h. 202ff.) die Magd Iambe ihre um die entf ¨ uhrte Tochter Persephone trauernde Herrin Demeter wieder zum Lachen bringen konnte. Der Elegie liegt ein reiner ’(Trauer-)Gesang‘ ( ´elegos ) zugrunde, dem Epigramm ( ep´ı ’auf, ¨ uber‘ ; gr ´ amma ’Geschriebenes‘ ) die ’Grab- oder Weihinschrift‘ auf Grabsteinen und Objekten. Der Name der melischen Dichtung erinnert mit gr. μ λος ’Lied, Gesang‘ an den urspr ¨ unglich musikalischen Vortrag. Am besten hat das Epos mit seiner historischen Verbindung zu gr. εHπε%ν , ’sagen, erz ¨ ahlen‘ als narrative Gattung par excellence seine Identit ¨ at bewahren k ¨ onnen. W ¨ ahrend die Gattungsunterscheidung von Beginn an nicht eindeutig war, ihre Ber ¨ ucksichtigung auch noch nicht als Qualit ¨ atsmerkmal einer Dichtung galt, verunklarte sie sich erst recht durch den schon in der archaischen Zeit in Gang gekommenen Wechsel von der inhaltlich-funktionalen Differenzierung zur formalen, metrischen. Hier bildete sich das System der Versgattungen aus, die sich im allgemeinen nur durch eine bestimmte Versart definierten, was vor allem die Iambendichtung betraf, deren klassisches Merkmal der iambische Trimeter war, aber auch die Elegie, die typologisch bald alles umfaßte, was in elegischen Distichen geschrieben war. Auf Grund der seit Homer herrschenden Assoziation des Hexameters mit dem Epos wurde in der griechischen Gattungsterminologie oft alles ’episch‘ genannt, was hexametrisch versifiziert war; dies kam vor allem bei Elegien mit epischer Versstruktur vor. Der Trend, Hexameterdichtung der Epik zuzuschlagen, wirkt noch bei Quintilian nach: Im Panorama der griechischen Autoren, die er der Stilkultivierung wegen jungen Rhetorikern zur Lekt ¨ ure empfiehlt, stellt Quintilian den ¨ uberwiegend in Hexametern dichtenden Theokrit (3. Jh. v. Chr.), den Archegeten der Bukolik, in die Reihe der von Homer angef ¨ uhrten epici. 14 W ¨ ahrend die Offenheit der Definitions- und Abgrenzungsproblematik unter den Theoretikern die einen dr ¨ angte, ¨ uber die inhaltlich-funktionale und ¨ uber die (2002), 734-740. Abhandlungen zur Genese der Trag ¨ odie von J. Leonhardt, Phalloslied und Dithyrambos. Aristoteles ¨ uber den Ursprung des griechischen Dramas, 1991, und - in abweichender Interpretation der Aristotelischen Mitteilungen, mit Fokus auf die Fr ¨ uhgattungen der Dichtung - O. Primavesi, Zur Genealogie der Poesie (Kap. 4), in: O. H ¨ offe (Hg.), Aristoteles, Poetik, 2009, 47-67. 14 Quintilian, Institutio oratoria, 10, 1, 58. O. Primavesi hat in der eben genannten Abhandlung zu den Anf ¨ angen der Poesie nach der Darstellung des Aristoteles die Unterscheidung von zwei ”Dichtungs-“ oder ”Gattungs-Sukzessionen“ herausgearbeitet, die einer ”h ¨ oheren“, an den Hexameter gebundenen Art, und die einer ”niedrigeren“, die einen Iambenvers pflegt. Homer f ¨ ugt sich nicht problemlos in das Schema ein, kommt ihm aber mit den Großepen auf der einen und dem Margites auf der anderen Seite nahe. Hauptkategorien der Antike 77 metrische Unterscheidung hinausgehende Differenzkriterien zu ermitteln (Platon, Aristoteles), folgerten Vertreter extremer Denkrichtungen, daß die Gliederung der Dichtung in Gattungen jeder realen Grundlage entbehre; die Werke der Verskunst seien von Natur aus und erkenntnisphilosophisch nicht nach Arten aufteilbar, sondern nur in gute und schlechte Erzeugnisse, ganz gem ¨ aß der unbestreitbaren Tatsache, daß es auch nur gute und schlechte Dichter gebe, alle sonstigen Kategorisierungen seien akzidentell. Diese Argumentation war kennzeichnend f ¨ ur den radikalen Fl ¨ ugel der euphonistischen ¨ Asthetik des 3. bis 1. Jhs. v. Chr., in dessen Denkrichtung wir dank der Rekonstruktion von Philodemos’ Buch 1 ¨ Uber Gedichte ( Περ ποιημ των ) durch Richard Janko (2000) Einblick gewonnen haben. Philodemos, der Zeitgenosse Ciceros, setzt sich kritisch u. a. mit Ansichten von Euphonisten auseinander, die f ¨ ur uns erst durch seine Kritik Gestalt gewonnen haben: Mit Herakleodoros und Pausimachos, zwei Theoretikern des 3. Jhs., zwei Verfechtern der Lehre, daß nur der Klang, also das Ohr, entscheide, was gute Dichtung sei. Gattung, Stil, Metrum, Inhalt h ¨ atten f ¨ ur den ’sch ¨ onen Klang‘ (Euphonie) keine Bedeutung. Herakleodoros r ¨ aumt lediglich der ’Synthesis‘ , der Wortanordnung, als klangproduzierendem Faktor eine konstitutive Rolle ein. Beiden Theoretikern f ¨ allt es leicht, die Unangebrachtheit der Gattungsunterscheidung daran nachzuweisen, daß vielfach die Genera sich ¨ uberschneiden oder Metren, Inhalte und Diktionen in Dichtungen eingesetzt werden, f ¨ ur die sie nicht gattungstypisch sind. Weil Gattungen in seinem Verst ¨ andnis bloß konventionelle theoretische Schemata sind, ermutigte Herakleodoros die Dichter, sie wie die Themen, Stile, Diktionen und Versarten zu mischen, wie sie wollten; nur das wohlklingende Werk z ¨ ahle. 15 Die Ablehnung der Gattungsunterschiede von Seiten der Euphonisten hat in Rom nicht Schule gemacht. Dort ¨ ubernahm man die Aufteilung der Dichtung in die Genera, die in der peripatetischen Theorie des Sp ¨ athellenismus geradezu kanonische Geltung erlangt hatten. Horaz (Ars poetica 73-85) f ¨ uhrt sie auf in der Reihenfolge: Epos, Elegie, Iambos, Kom ¨ odie, Trag ¨ odie, Lyrik. Es ist wahrscheinlich, daß Varro in seinem grundlegenden Werk De poematis, von dem leider nur Fragmente erhalten sind, die aus dem Griechischen stammende Gattungssystematik der r ¨ omischen Poetologie vorgegeben hat. Quintilian f ¨ ugt in der ¨ Ubersicht ¨ uber die f ¨ ur Rhetoren lesenswerte r ¨ omische Literatur dem Kanon noch die Satire (satura) hinzu und dokumentiert die Reihe: Epos, Elegie, Satire, Iambus, Lyrik, Trag ¨ odie, Kom ¨ odie (Institutio oratoria 10, 1, 85-100). Das Schema der Genera ist in der sp ¨ aten Kaiserzeit durch die Auff ¨ ullung mit Unterarten (species) bzw. durch die Erhebung von Gedichttypen zu Gattungen intern ausdifferenziert worden. Die Verselbst ¨ andigung zu Genera betraf, veranlaßt durch die Bewunderung f ¨ ur Vergils Bucolica und Georgica, insbesondere die Hirtenpoesie und die Lehrdichtung. Als herausragende Erweiterung 15 Belege und Kommentare in: Janko: Philodemus 1, 2000: 157, 257, 270, 417, 425, 429, 435. 78 Poetologie der Gattungen durch r ¨ omischen Eigenbeitrag haben die Kritiker die Einbringung der Verssatire verbucht. ”In der Satire (satura) ist die Meisterschaft ganz auf unserer Seite“, schreibt Quintilian mit erkennbarem R ¨ omerstolz in seinem ¨ Uberblick ¨ uber das zur Lekt ¨ ure empfohlene lateinische Schrifttum. 16 Wie Horaz erkennt Quintilian die entschiedende Rolle in der Ausbildung der r ¨ omischen Satire Gaius Lucilius zu (ca. 180-103 v. Chr.), doch bleibt unkl ¨ arbar, ob dieser als ihr Begr ¨ under gemeint ist. Der Scholiast Porphyrio (3. Jh. n. Chr.) und der etwas j ¨ ungere Grammatiker Diomedes weisen Ennius und Pacuvius die Urheberschaft der Gattung zu. 17 Auch l ¨ aßt sich die ¨ Außerung des Horaz, Lucilius d ¨ urfte gefeilter gewesen sein ”als jener Sch ¨ opfer der noch rohen Dichtung, die dem griechischen Genius fremd ist“ 18 , so interpretieren, daß Ennius als auctor zu betrachten ist, Lucilius dagegen - nach einem weiteren Zeugnis - als der ’Erfinder‘ (inventor) der neueren Art, die Horaz zur perfekten poetischen Form fortentwickeln will. 19 Quintilian weicht der Sch ¨ opferfrage bezeichnenderweise mit der Formulierung aus, daß in der satura als erster Lucilius besondere Anerkennung fand. 20 Damit die Gattung als unbezweifelbar r ¨ omische Leistung gesehen wird, erw ¨ ahnt Quintilian mit keinem Wort die satirischen Vorformen, welche die Alte Kom ¨ odie, die Iambik und die Epigrammatik hervorgebracht hatten. Noch bezeichnender ist es, daß er die ¨ altere Art der aus Poesie und Prosa gemischten Satire, die Menippos von Gadara (3. Jh. v. Chr.) entwickelt und die Varro im Lateinischen heimisch gemacht hatte, auch der r ¨ omischen Seite zuschanzen m ¨ ochte. Denn seinen Worten zufolge habe f ¨ ur die ”zweite, ja schon ¨ altere Art der Satire [ . . . ] Terentius Varro den Grund gelegt.“ 21 Die griechische Vorgeschichte wird ausgeblendet. Mit seinem Satirenwerk in 30 B ¨ uchern hat Lucilius die wesentlichen Merkmale der Gattung vorgezeichnet. Inhaltlich bietet sie ein Kunterbunt von Themen in scherzhafter, witziger, bis zur pers ¨ onlichen Schm ¨ ahung und zur bitteren Kritik reichenden Darstellung, meistens mit dem Menschen im Mittelpunkt, wie es Iuvenal von seinen Sch ¨ opfungen sagte (ohne jedoch die radikale Geißelung gesellschaftlicher und sittlicher Normverletzungen zu erw ¨ ahnen): ”Was auch immer die Menschheit bewegt, ihr W ¨ unschen und Sorgen, ihr Haß, ihre Begierde, ihre Freude, ihr Streben, ist Stofff ¨ ur mein B ¨ uchlein.“ 22 Viel Autobiographisches fließt 16 Quintilian, Institutio oratoria 10, 1, 93: satura quidem tota nostra est. 17 Diomedes in Keil GL 1, 485; Porphyrio, Hor. sat. 1, 10, 46 Holder. Die Satire-Fragmente des Ennius hat Krenkel: Lucilius I (1970) 14-16 zusammengestellt. Von Satiren des Pacuvius ist nichts ¨ uberliefert. 18 Horaz, Sermones 1, 10, 66. 19 Ebda. 1, 10, 48. 20 Quintilian, Institutio oratoria 1, 93. 21 Ebda. 10, 1, 95. 22 Iuvenal 1, 81-86. Hauptkategorien der Antike 79 ein, so daß die Spiegelung des Lebens mit der Selbstbespiegelung, bis zur privaten Indiskretion, einhergehen kann. Von Horaz ab verst ¨ arkt sich der gattungsspezifische Zug zur moralphilosophischen Didaktik, andererseits bei den Nachfolgern auch der aggressive individual- und sozialkritische Ton, mit dem man die ¨ Ubel der Menschen und der Zeit brandmarkt. Formal kann die satura sogar w ¨ ortliche Rede einschließen oder dialogisch organisiert sein. Als charakteristisches Metrum hat sich der Hexameter herausgebildet; bei Lucilius dominierte er bereits in mehr als zwei Dritteln der B ¨ ucher, von Horaz an ist er der Regelvers. Stilistisch bewegt sich die Satire zwischen umgangssprachlichem und - von Horaz kultiviertem - literatursprachlichem Niveau. Es ist vielsagend, wie der Augusteer poetologisch mit der Gattung verf ¨ ahrt. Im Katalog der Dichtungsarten in der Ars poetica f ¨ uhrt er sie nicht an. Die Bezeichnung satura 23 , die wahrscheinlich auch Lucilius nicht verwandt hatte 24 , versagt er der Dichtungsart als Titel; sermones nennt er seine Sch ¨ opfungen, also ”Gespr ¨ ache, Plaudereien“. 25 In dieser Titelwahl kommt eine niedere Einstufung auf der Werteskala der Dichtung zum Ausdruck, zumal da die von Lucilius geschaffenen Verse seinen dichtungs ¨ asthetischen Anspr ¨ uchen nicht gen ¨ ugen. Der Strom der Dichtung seines Vorg ¨ angers ”rauscht nur schwammig und f ¨ uhrt vieles mit sich, was man tilgen m ¨ ochte“, urteilt Horaz. 26 An K ¨ onnen habe es Lucilius nicht gefehlt; Mitschuld an den Unzul ¨ anglichkeiten h ¨ atten der schlechte Zeitgeschmack und die hastige Produktionsweise gehabt. W ¨ are es Lucilius verg ¨ onnt gewesen, zu seiner, Horazens Zeit, zu leben, so h ¨ atte er vieles weggefeilt und beschnitten, was 23 Unter den Erkl ¨ arungen der Bezeichnung satura, die schon Diomedes verzeichnete (Keil GL 1, 485), befindet sich auch die nach heutigem Forschungsstand plausibelste: Sie verbindet die Gedichtform mit dem Adjektiv satur ’voll, satt, gef ¨ ullt‘ . Livius (7, 2) nennt mit einer Ableitung die ersten dramatischen Spiele der R ¨ omer, in denen Kurzszenen mit Gesang und Fl ¨ otenbegleitung dargestellt wurden, saturae, was die bunte F ¨ ulle des Vorgef ¨ uhrten charakterisieren sollte. Nur etymologisch gibt es von hier eine Br ¨ ucke zur Satire, die schon Diomedes mit der satura, einer ’Sch ¨ ussel‘ , verband, die mit allen m ¨ oglichen Erstlingsgaben gef ¨ ullt den G ¨ ottern im Kult dargebracht wurde. Satura steht so elliptisch f ¨ ur lanx, olla oder patina satura. 24 In den etwa 1400 fragmentarischen St ¨ ucken spricht Lucilius von seinen Satiren nur als poemata (Krenkel Testimonium Nr. 101, 106) und ludus ac sermones (107); ein Gespr ¨ achspartner hat sie offenbar auch als sermones bezeichnet (108, 109). 25 Horaz verwendet satura nur innerhalb der Gedichttexte: In Sermones 2, 1 im Er ¨ offnungsvers Sunt quibus in satura videar nimis acer (”Manche meinen, in der Satire sei ich zu scharf“) ist jedoch statt der Gattung die satirische Grundhaltung des Dichters angesprochen. Eindeutig ist dagegen 2, 6, 17: quid prius illustrem saturis musaque pedestri? (”Was soll ich als erstes in Satiren und im schlichten Musenstil behandeln? ”). Im l ¨ andlichen Frieden, den er fern der Unruhe der Stadt auf seinem von Maecenas geschenkten Landgut in den Sabiner Bergen erlebt, schwinden die Reizthemen aus dem Kopf, die sich ihm in Rom als Stofff ¨ ur Satiren aufdr ¨ angen. 26 Horaz, Sermones 1, 4, 11. 80 Poetologie der Gattungen die Grenzen der Vollkommenheit wuchernd ¨ uberschreitet, und beim Dichten w ¨ urde er sich oft am Kopf kratzen und die N ¨ agel bis auf das Fleisch benagen. 27 An den eigenen Verssatiren f ¨ uhrt Horaz vor, wie in dieser Gattung, die er zur musa pedestris, den bescheidenen Dichtungsarten, z ¨ ahlt 28 , durch beharrliches Arbeiten an Stoff und Stil eine unaufdringliche poetische Geschliffenheit erreicht werden kann, die das genus hebt. Die Perfektionierung durch den ”Hervorragendsten von allen“ war f ¨ ur Quintilian Anlaß genug, die satura in die Reihe der grossen Dichtungsarten aufzunehmen. Horaz verlangt in der Ars poetica die Beachtung der Gattungsform und der Angemessenheit des Stils, je nach dem Stoff und der behandelten Situation. Es soll jede einzelne Dichtungsart ihren ihr geh ¨ orenden und geb ¨ uhrenden Platz behaupten. 29 Der Dichter muß wissen und entscheiden k ¨ onnen, welche Versgattung und welche stilistische T ¨ onung zu einer Situation passen. Die Direktive, die Gattungen getrennt zu halten, formuliert Horaz aber weit weniger entschieden als die Forderung der Stilgenauigkeit, wohl wissend, daß die r ¨ omischen Dichter seiner Zeit dazu tendierten, die gesetzten Gattungsgrenzen zu ¨ uberschreiten. Mit dem Ausbau des Briefes in der schon bei Lucilius belegten Versform zur Versepistel bringt er selbst in einer poetischen Synthese die literarische Epistel in die Hexameterdichtung ein. 30 Am augenf ¨ alligsten ist der Schritt bis an die Gattungsgrenzen und ¨ uber sie hinaus bei Ovid. Liebeselegie und Brief treffen bei ihm zusammen in dem in elegischen Distichen verfaßten Typus der Heroides, in einem auch thematisch in der r ¨ omischen Dichtung neuen Genus, in dem Frauen ihrem abwesenden Geliebten oder Gatten ihre seelische Verfassung offenbaren. In der Ars amatoria hat Ovid die Liebeselegie, die auch in den elegischen Distichen fortwirkt, mit einer heiter-ironischen Persiflage der Lehrdichtung versetzt. Die Metamorphosen schließlich entsprechen in ihrer hexametrischen Versorganisation, ihrer L ¨ ange 27 Ebda. 1, 10, 68-71. 28 Horaz Sermones 2, 6, 17. Eine Analyse der Horazischen Stellungnahmen zur Satire bietet Brink I (1963), 103-175. Mit K. Freudenburg, The Walking Muse: Horace on the Theory of Satire, Princeton 1993, liegt eine haupts ¨ achlich quellenkundliche Studie zum Satirenwerk des Horaz vor. [Unterstreicht Einfl ¨ usse der Kom ¨ odie, der Iambographen, der ¨ asthetischen Doktrin des Kallimachos, der zeitgen ¨ ossischen Stiltheorien]. ¨ Uberblicke ¨ uber Entstehung, Hauptvertreter und Rezeption der Gattung verschaffen S. Braund im Artikel ’Satire‘ , DNP 11 (2001) 101-104 und, mit Fokussierung der Anf ¨ ange, Krenkel: Lucilius (1970). Wichtige Monographie: S. Braund, Roman Verse Satire, Oxford 1992. 29 Horaz, Ars Poetica 86: descriptas servare vices operumque colores; 92: singula quaeque locum teneant sortita decentem. 30 Die Entstehung der Verspeistel und besonders ihren Ausbau im ’pers ¨ onlichen‘ Versepistelbuch des Horaz sowie im ’heroischen‘ Versepistelbuch bei Ovid behandelt detailliert Hartmut Wulfram, Das r ¨ omische Versepistelbuch: eine Gattungsanalyse, Berlin 2008. Gattungsunterscheidung nach der Versform 81 und ihrem narrativen Charakter den Merkmalen des Epos, doch sprengen sie mit ihrer Geschichtenvielfalt die f ¨ ur die Gattung vorauszusetzende relative Einheit der Handlung. Zu wissen, wie weit man gehen soll, und zu erproben, wie weit man dar ¨ uber hinaus noch sich bewegen kann, zeichnet von den Augusteern an die r ¨ omischen Dichter aus. Es war dies auch eine Strategie, gegen ¨ uber dem griechischen Erbe Roms poetische Eigenst ¨ andigkeit zu demonstrieren. 4.3 Gattungsunterscheidung nach der Versform Grundlegend f ¨ ur die Ausbildung der Gattungstheorie war das metrische Kriterium der Gedichtunterscheidung: Das Versmaß zeigte an, zu welcher Dichtungsart ein poetisches Produkt geh ¨ orte. Am dauerhaftesten bewahrt findet sich die alte metrische Bestimmung beim Epos. Hier ist im Griechischen seit Homer und im Lateinischen seit Ennius der daktylische Hexameter Standardmaß und Gattungsmerkmal, und zwar so selbstverst ¨ andlich, daß Aristoteles statuieren konnte, das Epos verwende ihn als ”einziges Metrum“, weil er von Natur aus am besten zu ihm passe. 31 Unter Berufung auf den aus Homers Epen zu ziehenden Schluß, ”in welchem Versmaß die Großtaten von K ¨ onigen und Heerf ¨ uhrern und die dahinraffenden Feldschlachten niederzuschreiben seien“, setzte auch Horaz die heroische Dichtung mit dem heroischen Vers gleich 32 , best ¨ atigte mithin erneut den Hexameter als Gattungskennzeichen. Die Iambendichtung scheint, wie das Epos, ¨ alter zu sein als die ersten Zeugnisse ausweisen, n ¨ amlich dem Dionysos- und dem Demeterkult zu entstammen. In die Literatur eingef ¨ uhrt hat sie nach der Beleglage Archilochos (7. Jh. v .Chr.), mit Versen im iambischen Trimeter, neben denen auch solche im troch ¨ aischen Tetrameter, in elegischen Distichen und in vielerlei, oft mit Iamben gebildeten Mischtypen stehen. Weil iambische Verse der Umgangssprache am n ¨ achsten kamen, daher auch in der Kom ¨ odie ihren Platz hatten, galten sie als poetisch zweitrangige Maße, zumal sie auch thematisch meist Allt ¨ agliches behandelten, mit dem der Dichter sein - gew ¨ ohnlich sympotisches - Publikum unterhielt: Verspottung, Schm ¨ ahung, Obsz ¨ onit ¨ aten, aber auch pers ¨ onliches Insichgehen und philosophische Reflexion. Der der Gattung seit Archilochos eigene, ¨ uber Kritik hinausgehende aggressive Ton mag Platon bewogen haben, in den Nomoi (”Gesetzen“) festzulegen, daß es einem Dichter einer Kom ¨ odie oder ”irgendwelcher 31 Aristoteles, Poetik 1449b11. Zur Epostheorie des Aristoteles, insbesondere zur Abgrenzung Epos - Drama (Trag ¨ odie), sind zu beachten: E.-R. Schwinge, Aristoteles und die Gattungsdifferenz von Epos und Drama, in: Poetica 22 (1990), 1-20, und A. Schmitt, Epostheorie, Maßst ¨ abe der Literaturkritik, zum Verh ¨ altnis von Epos und Trag ¨ odie, in: O. H ¨ offe (Hg.), Aristoteles, Poetik, 2009, 145-213. 32 Horaz, Ars poetica 73f.: res gestae regumque ducumque et tristia bella / quo scribi possent numero, monstravit Homerus. . . 82 Poetologie der Gattungen iambischer oder den Musen geweihter Verse“ nicht gestattet sein solle, im Ernst und mit Leidenschaft ”irgendeines B ¨ urgers zu spotten“. 33 Nur scherzhafter, ohne Eifer vorgetragener Spott sei zu billigen. In hellenistisch-r ¨ omischer Zeit breitete sich der Iambenvers auch auf das Epos und das Lehrgedicht aus. Die r ¨ omischen Lyriker griffen auf die metrischen Muster der griechischen Iambographien zur ¨ uck, namentlich auf Vers- und Strophenformen von Archilochos und Kallimachos. Als erster bedeutender Iambiker tritt uns in Rom Catull entgegen. Die m ¨ oglicherweise auf ihn selbst zur ¨ uckgehende Anordnung seiner Dichtungen in einer nach metrischen Gesichtspunkten gegliederten Sammlung veranschaulicht, welche Bedeutung der Versform in der Gedichtartenunterscheidung zukam. Es wirft ein Schlaglicht auf die poetische Bewertung der Iambenpoesie, daß Catull seine Hexameterdichtungen, Elegien und Epigramme als carmina bezeichnete, die iambischen und sonstigen kleineren Gedichtformen im ersten Teil der Sammlung (1-60) jedoch nur ”Verschen“ (versiculi) und ”Possen, Lappalien“ (nugae) nannte. 34 Die Bewunderung f ¨ ur die fr ¨ uhgriechische Lyrik, speziell f ¨ ur Archilochos, muß Horaz bewogen haben, ¨ uber den dichtungstheoretischen Prestigemangel der Iambik hinwegzugehen und in den Epoden ihre Aufwertung zu unternehmen. Die 17 Gedichte seines Epodenbuches, die er selbst als iambi klassifiziert hat (epod. 14, 7), sind bezeichnenderweise nach einem metrischen Gliederungsprinzip gereiht: 1-10 sind iambische Tri- und Dimeter, 10-16 haben iambisch-daktylische Mischformen; 17, der Schluß, besteht wieder nur aus iambischen Trimetern. Stolz war Horaz darauf, mit seiner Sammlung die Epodenform - auf einen l ¨ angeren Iambenvers folgt ein k ¨ urzerer - in Rom eingef ¨ uhrt zu haben, doch mit einer Abweichung: ”Nur die Versgestalt und der Geist des Archilochos ward mir Vorbild, nicht seine Stoffe und nicht seine t ¨ odlich wirkenden Worte.“ 35 In der Tat ist seine Iambendichtung im Ton gemildert, weniger affektisch, weniger pers ¨ onlich. Sie sollte ja vor allem auf Maecenas wirken, dem er sie gewidmet hatte. Die Herausbildung einer Gattungsdefinition nach einem metrischen Kriterium l ¨ aßt sich gut erkennbar bei der Elegie beobachten. Wie Fowler im Anschluß an Untersuchungen von West gezeigt hat, ist die Bezeichnung erst im 5. Jh. v. Chr. mit einer bestimmten Versform assoziiert worden. 36 Von da an bis zur 33 Platon, Nomoi XI, Kap. 13 (935e-936a). 34 Catull, Carmina 16, 3; 16, 6; 50, 4. - 1, 4. 35 Horaz, Epistulae 1, 19, 23-25: Parios ego primus iambos / ostendi Latio, numeros animosque secutus / Archilochi, non res et agentia verba Lycamben. Der (in der ¨ Ubersetzung freier formulierte) Schluß bezieht sich darauf, daß Archilochos als abgewiesener Bewerber um ein M ¨ adchen dieses und ihren Vater durch Schm ¨ ahgedichte in den Selbstmord getrieben hat. 36 R. L. Fowler, The Nature of Early Greek Lyric: Three Preliminary Studies, 1987 [Kap. 3: Elegy and the Genres of Archaic Greece, 86-93]. M. L. West, Studies in Greek Elegy and Iambus, 1974; Ders., Melos, Iambos, Elegie und Epigramm, in E. Vogt, Griechische Gattungsunterscheidung nach der Versform 83 Quantit ¨ atennivellierung im Sp ¨ atlateinischen definierte sich die Elegie durch eine ¨ uberaus stabile metrische Grundform: das elegische Distichon, das aus einem daktylischen katalektischen Hexameter und einem daktylischen Pentameter besteht. In der zweiten H ¨ alfte des Pentameters k ¨ onnen die Daktylen manchmal durch Spondeen ersetzt sein. Das zweizeilige Grundmuster kann beliebig oft wiederholt werden; in der Regel wurden mit ihm kurze Dichtungen geformt. Ob die Elegie (gr. (λεγε α , lat. elege(i)a, elegia) urspr ¨ unglich ein Klage- und Trauerlied gewesen ist, wird heute sehr bezweifelt, 37 zeigen doch schon die ersten Fragmente des 7. Jhs. und die fr ¨ uhen Dichter, unter ihnen herausragend wieder Archilochos, eine Ausdehnung des Themenkreises auf ironische Selbstdarstellungen, melancholische Reflexionen ¨ uber das Leben, die Jugend, das Alter, die Liebe, gesellschaftliche und politische Zeitprobleme und derlei mehr. Sieht man von der Aggressivit ¨ at und der bis zur Obsz ¨ onit ¨ at gesteigerten Erotik ab, denen die Iambik Raum gibt, so k ¨ onnen sich die Sujets der Elegie mit denen der Iambenpoesie in solchem Ausmaß ¨ uberschneiden, daß die beiden Gattungen nur noch durch die metrische Differenz geschieden bleiben. Das sprachlich-stilistisch gehobenere Niveau ist eine akzidentielle Eigenschaft derElegie, reicht zur Gattungstrennung nicht aus. Das elegische Distichon, das die Gedichtart kennzeichnet, hat schon Ennius ( † 169 v. Chr.) in die lateinische Dichtung eingef ¨ uhrt, doch gilt in der ¨ Uberlieferung erst Cornelius Gallus ( † 27/ 26 v. Chr.) als ihr r ¨ omischer Begr ¨ under. Nach Catull erreichte die Gattung durch Tibull, Properz und Ovid nicht nur ihre formale Vollendung in Rom, sondern in der sog. ’r ¨ omischen Liebeselegie‘ den Ausbau einer eigenen Variante. In ihr bildete die Liebesleidenschaft des Mannes f ¨ ur eine domina mit allen Facetten des servitium amoris das einzige große Thema. Die nur ein halbes Jahrhundert umspannende Bl ¨ utezeit der ’r ¨ omischen Liebeselegie‘ hat gen ¨ ugt, Werke zu hinterlassen, die zu den Spitzenleistungen der europ ¨ aischen Lyrik z ¨ ahlen. In der Werteskala der antiken Poetologie rangierte die Elegie tiefer, unter dem Epos und der Trag ¨ odie. Es gibt dazu von Ovid im Einleitungsgedicht von Buch III der Amores die allegorische Schilderung einer Begegnung des im Dichterhain nach einem geeigneten Stoffsuchenden Poeten mit den Damen Elegeia und Tragoedia, deren jede ihn umwirbt und lockt, ihr zu dienen. Dame Tragoedia kann an Attraktivit ¨ at mit dem Liebreiz der Konkurrentin nicht mithalten, meint aber, dem Dichter Vorhaltungen machen zu m ¨ ussen: Er h ¨ ore nicht auf mit der Liebe, seine Nichtsnutzigkeit sei notorisch, seine Verfallenheit an Amor stadtbekannt; schamlos berichte er, was er vollbracht habe. Es w ¨ are an der Zeit, daß er sich f ¨ ur ein ernsteres, ein dramatisches Werk begeistern ließe. Von den Ermahnungen bewegt, verspricht der Dichter das geforderte gr ¨ oßere Werk [die Medea], doch Literatur, 1981, 73-142. Zur Elegie im allg.: E. Bowie, Artikel ’Elegie, I: Griechisch‘ , in: DNP 3 (1997), 969-973; P. Spoth, Artikel ’Elegie, II: Lateinisch‘ , ebda. 973-976. 37 R. L. Fowler, op. cit., 36f. 84 Poetologie der Gattungen mit etwas Aufschub, damit noch f ¨ ur elegische Liebesdichtung Raum bleibt, denn: ”Du, Trag ¨ odie, verlangst ewiges Bem ¨ uhen; was die Elegie fordert, ist dagegen gering.“ 38 Wir stimmen Quintilians Urteil zu, daß die r ¨ omische Elegie den Wettstreit mit der griechischen, deren ¨ uberragender Repr ¨ asentant Kallimachos sei, bestehen kann, auch der Einsch ¨ atzung, daß Ovid alle Elegiker Roms ¨ ubertreffe. 39 Horaz setzt der bunten Vielfalt der Themen, der sich die Elegie ge ¨ offnet hat, also auch der Unterart der r ¨ omischen Liebeselegie seiner Zeit, die Erinnerung an die vermeintlich origin ¨ are Trauerklage entgegen, auf die urspr ¨ unglich - bei Distichen des Epigramms - noch Dank- und Weihverse gefolgt seien. 40 Da Horaz in der Ars poetica 73-85 jeder Vers- und Gedichtart einen bestimmten, ihr eigenen Stoffzuordnet, muß man die R ¨ uckbesinnung auf die Trauerklage als Mahnung verstehen, die traditionell feste Form mit dem ihr traditionell gem ¨ aßen festen Inhalt zu verbinden. Quintilian sah sich wegen der inzwischen ¨ uberhand nehmenden Frivolit ¨ at und Aggressivit ¨ at der Gattung gehalten, von ihr als Schullekt ¨ ure abzuraten, sie h ¨ ochstens der reiferen Jugend zuzugestehen. 41 Gewirkt hat die Kritik der Inhaltsentwicklung erst auf lange Sicht, in der neulateinischen Dichtung und in den Nationalliteraturen, die unter dem Einfluß der Renaissancepoetiken die Poesie zu erneuern suchten. Hier wurde die Elegie umponderiert auf die Themen: melancholische Stimmung, Abschied, Trennung, Erinnerung, Sehnsucht, Trauer, und von der weitgehend enterotisierten r ¨ omischen Liebeselegie blieb mehr als die begl ¨ uckende Empfindung der große Liebesschmerz das vorherrschende moderne Sujet. 42 Hier ist das Epigramm anzuschließen. Es ist wegen seiner formalen und inhaltlichen Verwandtschaft oft als ’Kurzelegie‘ bezeichnet worden. Hervorgegangen ist es einerseits aus Grab- und Weihinschriften, die seit dem 8. Jh. v. Chr. bezeugt sind. Platon bef ¨ urwortet in den Nomoi (’Gesetzen‘ ) Grabdenkm ¨ aler in einer Gr ¨ oße, die es erlaubt, ”das Leben des Verstorbenen in nicht mehr als vier hero- 38 Ovid, Amores 3, 1, 67f.: exiguum vati concede, Tragoedia, tempus! / tu labor aeternus; quod petit illa, breve est. 39 Quintilian, Institutio oratoria 10, 1, 58: [Kallimachos princeps der griechischen Elegie]; 10, 1, 93 [Tibull und Properz ¨ uberboten von Ovid]. 40 Horaz, Ars poetica 75f.: versibus inpariter iunctis querimonia primum, / post etiam inclusa est voti sententia compos. 41 Quintilian, Institutio oratoria 1, 8, 6. 42 Umfassende Studie der Gattung von N. Holzberg, Die r ¨ omische Liebeselegie: Eine Einf ¨ uhrung, 5., durchges. Aufl. 2011 [Im Mittelpunkt Analysen zu Gallus, Properz, Tibull, Ovid. Wichtig neben der Behandlung der Entstehungs- und Entwicklungsfragen auch der Forschungs ¨ uberblick ¨ uber den Zeitraum 1980-2001 (28-30) sowie die reichhaltige Bibliographie (141-155). Gattungsunterscheidung nach der Versform 85 ischen Verszeilen zu preisen“. 43 Sind Trauer- und Klageepigramme wie auch Weihspr ¨ uche an G ¨ otter historisch von Inschriften herzuleiten, so haben die Spott-, Scherz- und Witzepigramme, aber auch die erotischen und die kritischen Verse ihren Ursprung in den Tafel- und Trinkrunden der Symposien, wo es Brauch war, zur Unterhaltung Proben eigener poetischer Kunstfertigkeit mit z ¨ undender Pointe zum Besten zu geben. Die sympotische Themenvielfalt, die der Meister der Gattung, Martial (ca. 40 - ca. 104 n. Chr.), noch einmal zum harten Sex und zur bitter-bissigen Satire hin ausgeweitet hat, stellt das Epigramm inhaltlich der Elegie so eng an die Seite, daß die Gattungen nur formal getrennt werden k ¨ onnen, doch selbst da bleiben ¨ Uberschneidungen. Sie r ¨ uhren daher, daß dem Epigramm ein spezifisches Versmaß fehlt. In den ¨ altesten inschriftlichen und literarischen Zeugnissen begegnet im Griechischen der daktylische Hexameter, im Lateinischen sogar noch der einheimische Saturnier. Noch Martial verteidigt den Hexameter als legitimes Gattungsmetrum, 44 benutzt aber auch den Elfsilbler (Hendecasyllabus) sowie verschiedene Arten iambischer Folgen. Ganz ¨ uberwiegend aber gestaltet er seine Epigrammata in der Versform, die vom 6. vorchristlichen Jh. ab die Gattung immer mehr bestimmt hat: im elegischen Distichon. Mit der Ausbreitung dieses Versmaßes kommen als Unterscheidungskriterien gegen ¨ uber der Elegie die Gedichtl ¨ ange und die Themenstruktur zum Tragen. Das Epigramm ist seiner Natur nach ein Kleingedicht. Es kann aus wenigen, auch nur aus ein bis zwei Distichen bestehen, und gerade auf der knappen Form, die ein Sujet sehr zugespitzt verbalisiert, beruht seine Wirkung. Doch gibt es f ¨ ur die Verszahl keine bindende Regel. Gleichwohl hat es Martial einmal f ¨ ur angebracht gehalten, ein Epigramm auf 32 Zeilen auszudehnen. 45 Ebenso kennzeichnend wie in der Regel die pr ¨ agnante K ¨ urze ist die Pointierung, die Darbietung eines Sachverhalts in einer - wie Lessing formulierte - ”Erwartung“ weckenden Darstellung und einem spannungl ¨ osenden ”Aufschluß“. K ¨ urze und Pointierung sind die Merkmale des Epigramms geblieben, seit die europ ¨ aischen Literaturen bei der Aneignung des Gedichttyps die Bindung an eine metrische Norm aufgegeben haben. 46 43 Platon, Nomoi 958e. 44 Martial, Epigrammata 6, 64. 45 Ebda. 3, 58. 46 Skizze der Entwicklung des Epigramms im Griechischen und Lateinischen von Marion Lausberg, in: DNP 3 (1997) 1108-1114. Eine Monographie zur Gattungsgeschichte steht noch aus. Die Entwicklung von der hellenistisch-r ¨ omischen Epoche bis zum Ende der Renaissance behandelt P. Laurens, L’abeille dans l’ambre. C ´ el ´ ebration de l’ ´ epigramme de l’ ´ epoque alexandrine ` a la fin de la Renaissance, Paris 1989. Zusammenfassung (und Nachdruck) wichtiger Forschungsbeitr ¨ age: G. Pfohl (Hrgb.), Das Epigramm. Zur Geschichte einer inschriftlichen und literarischen Gattung, Darmstadt 1969. Zur Stel- 86 Poetologie der Gattungen Unter den durch ihre Schriften bekannten Theoretikern ist Horaz derjenige, der die Unterscheidung der Dichtungsarten nach dem Metrum am klarsten vertritt. In der Ars poetica 73-85 legt er in geraffter Skizze dar, daß einem bestimmten Versmaß ein bestimmter Inhalt zukomme. In der Verbindung der Versart mit dem f ¨ ur sie charakteristischen Stoffsieht er die Gattung definiert: Das Epos im Hexameter, der von den Großtaten von K ¨ onigen und Heerf ¨ uhrern und von K ¨ ampfen berichtet; Elegie und Epigramm in elegischen Distichen, die Trauerklagen bzw. Dank- und Weiheworten Ausdruck geben; die Iambik in verschiedenen Iambenmaßen, die Emotion exponieren, doch auch Wechselrede in Trag ¨ odien und Kom ¨ odien bestreiten. Die Gattungen und die zu ihnen geh ¨ orenden Stile liegen nach Horaz fest; wer Dichter sein will, muß sie kennen und beachten. 47 An einem Beispiel aus der Dramendichtung macht Horaz zudem klar, daß die Mischung der Dichtungsarten zu vermeiden ist: ”Komischer Inhalt will von tragischer Verssprache nichts wissen.“ 48 Im Prinzip soll jede Gattung rein und f ¨ ur sich in der ihr angemessenen Funktion ihren Platz behaupten. 49 Die Betonung der Versartenunterschiede und die formale Begr ¨ undung der Gattungstypik zeigen den Horaz der Ars Poetica als Theoretiker, der das Rad der Geschichte zur ¨ uckdrehen will, zur ¨ uck zu einer gorgianischen Auffassung, wonach die Dichtung im wesentlichen in metrischer Sprache besteht. Zur ¨ uck auch zum poetischen Modell der vorklassischen griechischen Poesie, die ihren Vorbildcharakter vermeintlich einer perfekten ¨ Ubereinstimmung von Versart und Gattung verdankte. Das Bestreben, die r ¨ omische Dichtung nach idealisiert gesehenen griechischen Mustern auf bestimmte Vers- und Gattungstypen einzuschw ¨ oren, hatte bekanntlich keinen Erfolg, zumal ja Horaz selbst die Skala der genera ¨ uberschritt. Es forderte im Gegenteil sogar Autoren heraus, die markierten Grenzlinien zu mißachten, wie es besonders vergn ¨ uglich Ovid tat. Im ¨ ubrigen war die Gattungsbindung an die Metrik von Anfang an defizient gewesen; sie war zur Zeit von Horaz erst recht ¨ uberholt. Trag ¨ odie, Kom ¨ odie und Satyrspiel hatten sich von Anfang an metrisch nicht generell definieren lassen. Ebenso wenig hatte es in der breit ausgef ¨ acherten ’Lyrik‘ , von der Proklos im 5. Jh. n. Chr. fast dreißig Subgattungen eigenen Typs und eigenen Namens beschreibt 50 , ¨ uber ein paar lung Martials N. Holzberg, Martial und das antike Epigramm, Darmstadt 2 2002. Vom gleichen Verf. die Ausgabe: M. Valerius Martialis, Epigramme, Lateinisch/ Deutsch, Stuttgart 2008. [Auswahl, wichtig wegen Anmerkungen, Nachwort und Bibliographie der wichtigsten Titel zu Martial (bis 2007)]. 47 Horaz, Ars poetica 86f.: descriptas servare vices operumque colores / cur ego si nequeo ignoroque poeta salutor? 48 Ebda. 89: versibus exponi tragicis res comica non volt. 49 Ebda. 92: singula quaeque locum teneant sortita decentem. 50 Die von Proklos in der Chrestomathia gegebene Zusammenstellung hat Photios (6. Jh.) in der Bibliotheca 239 ¨ uberliefert (Ed. R. Henry, Photios, Biblioth` eque, V, 1967, 155-166). Gattungsunterscheidung nach dem Darstellungsmodus 87 genera hinaus definitorisch verwertbare feste Bez ¨ uge zwischen Versform und Gedichtinhalt gegeben. Horaz mußte deshalb f ¨ ur diese Gattungen die Bestimmung mittels Versform schuldig bleiben. Theoriehistorisch ist sein Definitionsansatz bei der metrischen Form ein R ¨ uckschritt gewesen, weil Platon und Aristoteles das formale Kriterium bereits entwertet hatten. 4.4 Gattungsunterscheidung nach dem Darstellungsmodus Bei Platon waren es die ethisch-erzieherischen Postulate an die Dichtung gewesen, bei Aristoteles die ontologischen und erkentnistheoretischen Voraussetzungen, die eine Verlagerung der Gattungsunterscheidung von der Form des Gedichts auf die Gestaltungsweise bewirkt hatten. Beide behielten jedoch die ¨ uberkommenen Dichtungsarten samt deren Namen bei, denn ihre ¨ Uberlegungen zielten nicht auf ein neues System, sondern darauf, die Begr ¨ undung f ¨ ur die bestehende Ordnung aus den Modi und den Inhalten der Darstellung abzuleiten. Platon hat in der Politeia, im Gespr ¨ ach zwischen Sokrates und Adeimantos ¨ uber die Rolle der Dichtung im Gemeinwesen, skizziert, wie seiner Meinung nach Gattungsunterschiede von der Gestaltungsweise her begr ¨ undet werden k ¨ onnen. 51 Er l ¨ aßt Sokrates eine Teilung der Dichtung in zwei Arten vortragen: in die reine Erz ¨ ahlung (dihegetischer Typ: δι γησις ) und in die nachahmende Darstellung (mimetischer Typ: μ μησις ). Hinzu kommt eine verbindende Spezies, die sowohl Erz ¨ ahlung als auch nachahmende Darstellung enth ¨ alt (Mischtyp). Die Aufteilung setzt bei der Dichterperspektive an: Im erz ¨ ahlenden Typ nimmt der Autor die Position eines Berichtenden, eines Mitteilenden ein, beim mimetischen Typ tritt er ganz zur ¨ uck hinter den handelnden Figuren, die er in Rede und Gegenrede eine Szene nachbilden l ¨ aßt. Beim Mischtyp schließlich wechseln Erz ¨ ahlung und Redepartien ab, wie Sokrates an der Darstellungstechnik Homers in der Ilias zeigt. Die Dialogpartner in Platons Schilderung haben keine M ¨ uhe, gel ¨ aufige Dichtungsformen auf Grund der Darstellungsperspektive zu definieren: Trag ¨ odie und Kom ¨ odie erweisen sich als mimetische Gattungen, der Dithyrambos erscheint als erz ¨ ahlerischer Prototyp; epische Dichtung wiederum geht auf im genus mixtum. Anders als Platon, der das Versmaß als ¨ außerliches Kennzeichen von Dichtungsgattungen gelten ließ, hat Aristoteles es als distinktives Kriterium v ¨ ollig 51 Platon, Politeia 392c-394d. In den - nach Aristoteles (Pol. 1264b27) erst nach dem Staat entstandenen - Gesetzen (Nomoi) 790ab f ¨ uhrt Platon einige alte Gedichtarten als Zeugen einer gesellschaftlich und ¨ asthetisch besseren Vergangenheit, aber auch als Muster weiterhin willkommener poetischer Sch ¨ opfungen an: Hymnos an die G ¨ otter, Threnos (Totenklage), Paian (Jubel- und Loblied f ¨ ur Apollon) und den mit dem Dionysoskult verbundenen Dithyrambos. Hier bleibt es bei der Trennung der Gedichtarten durch ihre traditionellen Namen; der Ansatz eines eigenen Gattungsschemas ist nicht weiterverfolgt worden. 88 Poetologie der Gattungen außer Kraft gesetzt. Die unterschiedliche Bewertung resultierte aus dem unterschiedlichen Verst ¨ andnis k ¨ unstlerischer Mimesis (Nachahmung). Denn w ¨ ahrend Platon in einer mimetischen Darstellung ontologisch nur das Abbild eines Abbilds der Idee, also einen wertlosen Abklatsch, sah, der hinsichtlich seines Gehalts kein Interesse bot, sodaß h ¨ ochstens die Form Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, verschaffte der Mimesis-Begriffdes Aristoteles dem Darstellungsgehalt des Kunstwerks die ¨ uberragende Bedeutung. Kunst definierte Aristoteles als die mit bestimmten Mitteln geschaffene Darstellung charaktergesteuerten menschlichen Handelns, die eine Art Erkenntnis sei und auch dem Rezipienten Erkenntnisgewinn einbringe, somit philosophischer Einsicht nahekomme. In dieser Perspektive wurde der Glaubenssatz annulliert, daß eine bestimmte Form per se das Wesen eines Kunstwerks ausmache. Von seiner Mimesis-Konzeption ausgehend, hat Aristoteles gleich im 1. Kapitel der Poetik polemisch Stellung bezogen gegen die allgemein verbreitete Anschauung, die metrische Form mache Sprache zur Dichtung und die Versart bestimme die Gattung, der ein poetisches Werk zuzuordnen sei. Es herrschten v ¨ ollig falsche Vorstellungen: Man nenne die einen Elegien-Dichter [Distichen-Dichter], die anderen Ependichter [Hexameter-Dichter], wobei man sie nicht im Hinblick auf die Nachahmung, sondern im Hinblick auf den Vers als Dichter bezeichne. 52 Die konsequente Verlagerung des Dichtungsbegriffs vom (formalen) Versmerkmal zur (inhaltlichen) Mimesis hat Aristoteles bewogen, medizinische und naturwissenschaftliche Werke in metrischer Form, die sogenannte Lehrdichtung, aus der Poesie auszuschließen, andererseits ihr aber den Mimos, ein in Sizilien beheimatetes Volksdrama in Prosa, sowie die sokratischen Dialoge zuzurechnen. Weil die Nachahmung in seinem Verst ¨ andnis des Begriffs das Kriterium von Dichtung ist, hat Aristoteles nichts dagegen einzuwenden, daß, wer Nachahmung bewerkstelligt, die verschiedenen Versmaße miteinander vermischt. Das werden die Formalisten der hellenistischen Epoche, die auf dem Verskriterium beharren, das wird auch Horaz nicht gutheißen. Nach Aristoteles unterscheiden sich die mimetischen K ¨ unste insgesamt durch die Medien, die Gegenst ¨ ande und die Arten der Darstellung. 53 In den Ausf ¨ uhrungen zum ersten dieser Kriterien, den Medien, mit deren Hilfe Mimesis bewerkstelligt wird, stellt er gegen ¨ uber den bildenden K ¨ unsten, die mit Farben und Formen arbeiten, als eigenen Komplex diejenigen Kunstgattungen heraus, die Werke mit Rhythmus ( Eυθμ ς ), Sprache ( λ γος ) und Melodie ( \ρμον α ) schaffen. 52 Aristoteles, Poetik 1447b15f. 53 Aristoteles, Poetik Kap. 1 u. 2. Die Definition hob die bis dahin maßgebende Bestimmung der Dichtung als ’Sprache in metrischer Form‘ auf, schloß aber nun in die poetische Kunst die mimetische Prosa ein. Mit dem im 19. Jh. aufgekommenen Prosagedicht (’po` eme en prose‘ ) hat die von der metrischen Struktur losgel ¨ oste Auffassung der Dichtung eine moderne Rechtfertigung erhalten. Gattungsunterscheidung nach dem Darstellungsmodus 89 Zu ihnen geh ¨ ort die Dichtkunst mitsamt der mimetischen Prosa, aber auch der Tanz sowie das Aulos- und das Kitharaspiel. Das Kriterium f ¨ ur die zur mimetischen Darstellung genutzten Medien erm ¨ oglicht ihre weitere Differenzierung: Der Tanz kommt mit nur einem Mittel aus, dem Rhythmus; auch nur ein Mittel, n ¨ amlich die Sprache, gen ¨ ugt der mimetischen Prosa. Das Aulos- und das Kitharaspiel wiederum - instrumentale Musik im allgemeinen - brauchen Rhythmus und Melodie. Zwei Mittel werden ebenfalls in den poetischen Gattungen wie Epos und Elegie eingesetzt, n ¨ amlich Rhythmus und Sprache. Alle drei Mittel - Rhythmus, Sprache und Melodie - nutzen zum Nachbilden die dramatischen Gattungen (Trag ¨ odie, Kom ¨ odie und kleinere St ¨ ucke) sowie der Dithyrambos. Das Unterscheidungskriterium der Darstellungsmittel war f ¨ ur Aristoteles so grundlegend, daß er mit ihm seinen Dichtungsbegriffverband: Dichtung ist die Nachahmung menschlichen Handelns mit dem Medium der Sprache. 54 Die mimetischen K ¨ unste unterscheiden sich nach Aristoteles zweitens durch die Gegenst ¨ ande, die zur Darstellung gebracht werden. Eine systematische Abhandlung hierzu fehlt in der Poetik, doch ergeben sich neben den kargen Bemerkungen im 2. Kapitel, wo Ausf ¨ uhrliches zu erwarten gewesen w ¨ are, Aufschl ¨ usse aus der Behandlung der Wesensz ¨ uge des Epos, der Trag ¨ odie und der Kom ¨ odie. Aristoteles setzt n ¨ amlich f ¨ ur die Handlungsdarstellung in diesen Gattungen Unterschiede der Typik an, die auf charakterlichen Unterschieden der agierenden Personen beruhen. So wie alles Handeln charaktergesteuert ist, ist auch die Nachahmung eines Handlungsaktes in der Kunst stets eine Demonstration einer charakterlichen Veranlagung und ihrer Wirkung. Gutes Handeln ist gebunden an einen guten Charakter, schlechtes an einen schlechten. Epos, Trag ¨ odie und Kom ¨ odie bringen das unterschiedliche Handeln unterschiedlicher Charaktere zur Anschauung: Epos und Trag ¨ odie f ¨ uhren vor, wie Menschen guten Charakters agieren; die Kom ¨ odie dagegen zeigt mit Beispielen schlechten Handelns, was ein schlechter oder nur durchschnittlicher Charakter tut. 55 54 Aristoteles Poetik 1448a16ff. Bei dem Unterscheidungskriterium der Menschen- und Charakterdarstellung geht Aristoteles von der Homerischen Epik als Gattungsmuster aus. Zur ¨ Ubereinstimmung des Epos mit der Trag ¨ odie in diesem Punkt (und generell) siehe den Kommentar zu Kap. 5 von A. Schmitt: Aristoteles, Poetik, 2008: 321-324. Die Darstellung ¨ uber- und unterdurchschnittlicher Gestalten verkn ¨ upft Aristoteles sogar mit der charakterlichen Qualit ¨ at der Dichter. Im 4. Kapitel, 1448b25, in einer Entwicklungsskizze der Poesie, erkl ¨ art er, die Gattungen h ¨ atten sich in der Fr ¨ uhzeit nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigent ¨ umlich waren: ”Denn die Edleren ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die Gew ¨ ohnlicheren jedoch die von Schlechten.“ W ¨ ahrend die einen Hymnen und Preislieder schufen, h ¨ atten die anderen lediglich R ¨ ugelieder produziert. 55 Die Poetik nennt im 9. Kapitel (1451b15ff.) als Stoffe der Trag ¨ odie Geschichtsmythen, die im Hinblick auf das in ihnen erkennbare M ¨ ogliche, Wahrscheinliche und Allgemeine mit den durch ¨ Uberlieferung bekannten Gestalten dargestellt werden. Kap. 13, 90 Poetologie der Gattungen Das charaktergesteuerte unterschiedliche Handeln der Personen ist schließlich nicht zu trennen von der unterschiedlichen Art der Stoffe, die der Dichter f ¨ ur sein Werk w ¨ ahlt. Epos und Trag ¨ odie bilden mythisches Geschehen nach, das durch die ¨ Uberlieferung als Realit ¨ at beglaubigt worden ist. Als Handelnde werden idealtypische Gestalten aus der kollektiven Erinnerung nachgezeichnet, die durch ihren Rang und ihre Taten fortdauernde Ber ¨ uhmtheit erlangt haben. Demgegen ¨ uber stellt die Kom ¨ odie, deren Theorie das leider verlorene 2. Buch der Poetik enthielt, fiktive Begebenheiten mit erfundenen Rollentr ¨ agern, die Typen repr ¨ asentieren, oder mit imaginierten ’historischen‘ Figuren auf die B ¨ uhne. Das dritte Kriterium des Aristoteles, nach welchem sich die mimetischen K ¨ unste untereinander unterscheiden, ist das der Art und Weise, wie der Schaffende im Nachahmungsprozeß den Gegenstand darstellt. Aristoteles beschr ¨ ankt sich bei diesem Kriterium, das er von Platons Unterscheidung von Erz ¨ ahlung und Rede hergeleitet hat, auffallenderweise auf die literarische Mimesis, arbeitet also nur heraus, wie literarische Gattungen auseinanderzuhalten sind. Hier entwickelt er das Konzept einer radikal neuen Gliederung. In Anlehnung an Platon geht er im einschl ¨ agigen dritten Kapitel seiner Poetik von der grundlegenden Alternative aus, daß der Autor eines mimetischen literarischen Werkes die Handlung in Form eines Berichts, einer Erz ¨ ahlung darstellen oder durch agierende und sprechende Personen nachgestalten lassen kann. Neben diesen Grundtypen des Darstellungsmodus setzt er wie Platon eine Mischform an, eine Repr ¨ asentation, in der Erz ¨ ahlung und Bericht mit direkter Sprachhandlung abwechseln. 56 An Homer, Sophokles und Aristophanes exemplifiziert Aristoteles, wie das Kriterium des Darstellungsmodus hilft, literarische Werke zu differenzieren. In derselben Weise, wie Sophokles und Aristophanes als Nachahmer von Homer zu trennen sind, weil sie ”alle Figuren als Handelnde und in T ¨ atigkeit befindliche auftreten [ . . . ] lassen“ 57 , hat Aristoteles gewiß alle im Einleitungskapitel der Poetik genannten Gattungen nach dem Darstellungsmodus als narrativ, dramatisch oder gemischt angelegte Werktypen unterschieden gesehen: Narrativ den Dithyrambos, dramatisch die Trag ¨ odie und die Kom ¨ odie, gemischt das Epos. Eine vollst ¨ andige 1453a17-22, f ¨ uhrt aus, daß die Trag ¨ odiendichter zun ¨ achst vielerlei Mythen verarbeitet h ¨ atten, inzwischen aber nur noch das Geschehen weniger ber ¨ uhmter H ¨ auser im Mittelpunkt stehe. Wie Aristoteles haupts ¨ achlich in den Kapiteln 22 und 23 ausf ¨ uhrt, verwendet der Ependichter die gleichen Stoffe, stellt sie aber komplexer, mit erz ¨ ahlenden Passagen, ohne Beschr ¨ ankung des Handlungsvorgangs auf die Dauer eines Tages, also in einem weitaus umfangreicheren Werk, dar. Zur Kom ¨ odie h ¨ alt die Poetik, 1451b12ff., fest: ”Ihre Dichter f ¨ ugen die Fabel nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit zusammen und geben den Personen erst dann irgendwelche Namen.“ 56 Aristoteles, Poetik 1448a19ff. 57 Ebda. 1448a27ff. Ausbau der platonisch-aristotelischen Gattungsdifferenzierung 91 Gattungsunterscheidung muß aber alle mimetischen Kriterien zusammenfassen, sodaß sich f ¨ ur die Trag ¨ odie gem ¨ aß Aristoteles die Definition erg ¨ abe: Mimetische Kunstart, die mittels Sprache und Melodie das Handeln großer Gestalten im dramatischen Modus zur Darstellung bringt. Eine Gattung auf solche analytische Weise zu beschreiben, befriedigt theoretisch, ergibt aber kein praktikables Gliederungsschema f ¨ ur die Literaturgeschichte oder auch nur die Gedichtanordnung in einer Werkausgabe oder Anthologie. Aristoteles selbst hat allerdings in der Poetik nicht nur das herk ¨ ommliche Gattungsschema, sondern sogar seinem Konzept fremde Unterscheidungskriterien weiterverwandt. So zieht er zur Erkl ¨ arung der Unterschiedlichkeit von Epos und Trag ¨ odie durchaus noch das divergente Versmaß heran, 58 nutzt das Merkmal der Handlungskomposition, die beim Epos auf Vielfalt hinausl ¨ auft, bei der Trag ¨ odie jedoch die Beschr ¨ ankung auf eine einzige, straffgef ¨ uhrte Aktion bedingt. 59 Aus dem ungleichen Handlungsumfang ergibt sich die L ¨ angendifferenz: Das Epos ist lang, so lang, daß man - wie Aristoteles erl ¨ autert - aus seinem Stoffmehrere Trag ¨ odien machen kann; die Trag ¨ odie muß vergleichsweise kurz sein, wenn sie ein Geschehen zeitparallel darstellen und ihr Wirkungsziel erreichen soll. 60 4.5 Ausbau der platonisch-aristotelischen Gattungsdifferenzierung In der hellenistisch-r ¨ omischen Epoche und in der Kaiserzeit richtete sich der theoretische Diskurs zur Gattungsproblematik nat ¨ urlich des ¨ ofteren auf das Ziel, das platonisch-aristotelische Kriterium der Darstellungsunterschiede als allgemeines Prinzip durchzusetzen, es zu pr ¨ azisieren und die wachsende Zahl der Dichtungsarten in einem entsprechenden umfassenden System unterzubringen. Begleitet wurde die Entwicklung von einer deutlichen Profilierung der ’Literatur‘ innerhalb des Spektrums der K ¨ unste, denn die sich bald einstellende Fixierung auf 58 Ebda. 1459b17ff.: ”Das Epos unterscheidet sich von der Trag ¨ odie in der Ausdehnung des Handlungsgef ¨ uges und im Versmaß“. 59 Siehe Fn. 58. Ferner Poetik 1456a12: ”Unter ’episch‘ verstehe ich Handlungsvielfalt“. Im 26. Kapitel kommt der Unterschied zwischen der komplexen, mehrstr ¨ angigen Handlung des Epos und der einen, einstr ¨ angigen der Trag ¨ odie abermals zur Sprache (1462b4ff.). 60 Ebda. 1462a18ff.: ”Außerdem erreicht sie [die Trag ¨ odie] das Ziel der Nachahmung mit einer geringeren Ausdehnung. Das st ¨ arker Zusammengefaßte bereitet n ¨ amlich mehr Vergn ¨ ugen als dasjenige, das sich auf eine lange Zeit hin verteilt.“ Kap. 5 bemißt den Unterschied der Ausdehnung an der dargestellten Zeit: ”Die Trag ¨ odie versucht, sich nach M ¨ oglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder wenig dar ¨ uber hinauszugehen; das Epos verf ¨ ugt ¨ uber unbeschr ¨ ankte Zeit und ist also auch in diesem Punkte anders“ (1449b12ff.). 92 Poetologie der Gattungen die Unterscheidung von erz ¨ ahlender und gesprochener Nachahmung beg ¨ unstigte die Trennung der sprachlichen K ¨ unste von den nichtsprachlichen. Die ’Literatur‘ erhielt hier eine Begr ¨ undung, die sie von der Musik, von Tanz und von den bildenden K ¨ unsten klar distanzierte. Fortan erschien sie abgrenzbar als die Kunst, die einen Gegenstand mittels eines Erz ¨ ahl- oder eines Redetextes darstellt. Bei der Synthese der Platonischen und der Aristotelischen Darstellungsmodi ist man ¨ uber deren unterschiedliche Voraussetzungen unbesorgt hinweggegangen. So wurden die ganz und gar gegens ¨ atzlichen Konzeptionen der Mimesis, welche f ¨ ur den ¨ Alteren bloß das nochmalige Abbilden bezeichnete, f ¨ ur den J ¨ ungeren jedoch ein sch ¨ opferisch-erkennendes Handeln, zum Kompromiß eingeebnet, daß der Dichter schlechthin nachahmend Werke schaffe, oder es wurde das Mimetische als das Besondere des Dramas interpretiert. Die ontologischen und epistemiologischen Implikationen interessierten kaum noch, zumal deshalb wenig, weil anstelle oder neben der Nachahmung l ¨ angst die Fiktionalit ¨ at zum eigentlichen Kennzeichen von Dichtung erkl ¨ art worden war. Beachtenswert ist an der Festlegung der Dichtung auf das Darstellungskriterium schließlich der Verzicht auf das ethische Kapital, das nach ¨ alterer Auffassung zum Wirkungspotential der Dichtung geh ¨ orte. Da Platon bei seinem Einteilungsschema die Dichtkunst als abgrenzbar gegeben voraussetzte, sie nur in sich zu gliedern beabsichtigte, brauchte er das Unterscheidungskriterium der Gegenst ¨ ande nicht, mit dessen Hilfe Aristoteles zun ¨ achst die verschiedenen K ¨ unste differenzieren mußte. Dennoch ist die Bedeutung dieses Kriteriums f ¨ ur Platons Bewertung des dichterischen Schaffens evident. Sie ist z. B. Sokrates’ Worten zu entnehmen, daß in den idealen Staat ”nur der Teil von der Dichtungskunst aufzunehmen ist, der Ges ¨ ange an die G ¨ otter und Loblieder auf treffliche M ¨ anner hervorbringt“. 61 Platons Verdikt machte also Halt vor zwei Gegenst ¨ anden: vor dem G ¨ otterkult und vor dem Tugendpreis, dem Lob des ethischen Verhaltens des Menschen. Platons ethischer Forderung an die Dichtung kommt Aristoteles nahe, wenn er beim Kriterium des Gegenstandes der Nachahmung dem erl ¨ auternden Poetik- Kapitel (2) den Leitgedanken unterlegt, daß gutes Handeln und guter Charakter des Handelnden wie des Dichters sich gegenseitig bedingen, 62 und man die M ¨ oglichkeit haben soll, aus dem dargestellten Handeln, dem guten und dem schlechten, Maßst ¨ abe f ¨ ur das eigene rechte Tun abzuleiten. 61 Platon, Politeia 567a. Zu Lobliedern auf verdiente M ¨ anner auch Protagoras 326a. 62 Der Aristotelische Charakterbegriffweicht vom heute ¨ ublichen dadurch ab, daß er sich auf die volle Ausbildung der menschlichen F ¨ ahigkeiten bezieht. Charakter hat in diesem Sinn, wer seine Anlagen optimal entwickelt hat, zu einer ”vollendeten Form des Menschen“ gelangt ist. Da ein solcher Mensch die Sicherheit besitzt, zu unterscheiden, was lustvoll oder unlustvoll ist, ist er auch stets in der Lage und darauf aus, das Gute zu w ¨ ahlen, das Lust verschafft. [Zum ’Charakter‘ jetzt Schmitt: Aristoteles, Poetik, 2008, 232, 381ff., et passim]. Ausbau der platonisch-aristotelischen Gattungsdifferenzierung 93 Die Er ¨ orterung der Gattungsproblematik bringt nach der Poetik des Aristoteles keine neuen theoretischen Ans ¨ atze mehr hervor. Zwar kennen wir ein gutes Dutzend Titel, die die Differenzierungsfrage ber ¨ uhren, 63 doch gehen sie mehrheitlich von der platonisch-aristotelischen Art der Gattungsunterscheidung nach dem Kriterium der Darstellungsmodi aus. Ihr Anliegen ist es, Kl ¨ arung in offenen Problempunkten zu suchen: Sind bloß zwei oder doch drei, eventuell gar mehr Modi anzusetzen? Wie sind außer den von den beiden Autorit ¨ aten ber ¨ ucksichtigten Altgattungen die ¨ ubergangenen bzw. neu hinzugekommenen Dichtungsarten in ein umfassendes System einzuordnen? Soll die von Aristoteles abgewiesene Lehrdichtung doch zur Dichtkunst gez ¨ ahlt werden? Der Grammatiker Diomedes, Verfasser einer Ars aus der zweiten H ¨ alfte des 4. Jhs. n. Chr., die im dritten Buch eine Poetik und Metrik enth ¨ alt 64 , hat in Anwendung des Unterscheidungsprinzips der Darstellungsmodi eine umfassende Gattungsgliederung aufgestellt, die differenzierteste und bedeutendste der ganzen Antike, die auch als Synthese der seinerzeitigen Theoriediskussion anzusehen ist. Auf der Linie von Platon und Aristoteles legt Diomedes seinem System eine Dreiteilung der poematos genera zugrunde: Im Großen gliedern sich diese in das genus activum vel initiativum (auch dramaticon), das genus enarrativum vel enuntiativum (auch exegeticum) und das genus commune vel mixtum (auch κοιν ν ). Differenzkriterium ist die Darstellungsweise: Beim genus activum handeln und reden die Personen ohne Einmischung des Dichters, beim genus enarrativum redet nur er allein, beim genus commune reden sowohl der Dichter als auch die eingef ¨ uhrten Personen. Bemerkenswert ist an dem großen Rahmen, daß ein volles Dreier-System gesetzt wird, andere Theoretiker, unter ihnen Servius (um 400), und sp ¨ ater, ihm folgend, Isidor von Sevilla (560-636), haben an der grundlegenden Zweier-Gliederung plus Mischform festgehalten. 65 Neu ist das Bem ¨ uhen des Diomedes, die Vielzahl ihm notierenswert erscheinender Dichtungsarten mit Hilfe von Untergliederungen unterzubringen. Beim genus activum, dem dramatischen Typus, (sine ullius poetae interactione), f ¨ ugt er den Dramenarten nicht nur speziell r ¨ omische hinzu ([poemata] praetextata, tabernaria, Atellana, planipes), deren Nennung u. a. die (zum Teil noch aktuelle? ) Existenz eines r ¨ omischen Volkstheaters bezeugt; er unterstellt dem genus auch mit dem Beispiel von Vergils Eklogen 1 und 9 die Hirtendichtung, in der pastores monologisierend oder dialogisierend das Wort haben. 63 Dazu Janko (2002) im Kapitel ’Later classifications of poetry‘ , 128-133 [Mit detaillierter Herausarbeitung der Punkte, in denen sich die genannten Quellen von den Lehren des Aristoteles und des Horaz unterscheiden]. Wegen der Nachweise poetologischer Fundstellen hat die Arbeit von Joh. Kayser De veterum arte poetica, Diss. Leipzig 1904, noch einigen Wert. 64 Wiedergabe der Ars grammatica in: Keil GL I 297-529. Die Gattungsgliederung dort Seite 482. 65 Servius, Comm. in Verg. Ecl. 329, 10-13; Isidor von Sevilla, Origines 8, 7, 11. 94 Poetologie der Gattungen Beim genus narrativum, dem erz ¨ ahlenden Gedichttypus, (in quo poeta ipse loquitur sine ullius personae interlocutione), nimmt Diomedes mit der Unterart der didaktischen Sch ¨ opfungen die Lehrdichtung wieder in den Bereich der Poesie auf, wohl unter den Einfluß der Kommentierung von Vergils Georgica durch Servius. Eine große Erweiterung gibt es auch beim genus commune: Zur species heroica, repr ¨ asentiert von der Ilias und der Aeneis, tritt nun eine species lyrica, die Gattung ’Lyrik‘ , mit Archilochos und Horaz als Musterautoren. Damit ist nun die ’Lyrik‘ im System der Dichtung als Einheit best ¨ atigt; der Begriffsubsumiert anscheinend alle Einzelarten (wie Epigramm, Elegie, Fabelpoesie, Melik usw.), denn deren Namen begegnen in der Systematik nicht mehr. Die diomedische Gattungsgliederung ist ”zum festen Bestandteil mittelalterlicher Gattungsgliederung [ . . . ] geworden.“ 66 Durch Drucke in Paris 1498 und 1527 hat sie sogar noch bis in die Renaissance in Frankreich nachgewirkt. 67 Dennoch bleibt zu sagen, daß bei der Unterscheidung der Dichtungsarten Theorie und Praxis sich weit auseinanderentwickelt haben wie sonst nirgends in poetologischen Dingen. W ¨ ahrend die Theorie komplizierte Systemkonstruktionen entwarf, um der Artenvielfalt gerecht zu werden, verharrte die Praxis beim Grundmuster ’Epik - Lyrik - Drama‘ und dem bew ¨ ahrten Brauch, jede Einzelgattung und jede species von den anderen durch den ¨ uberkommenen oder einen ihr gegebenen Namen zu unterscheiden. Mit diesem Behelf arbeitet die Literaturwissenschaft noch immer, ohne gen ¨ otigt zu sein, das theoretische Defizit zu beheben. 66 So Klopsch (1980): 45. 67 Dazu Curtius ( 11 1993) in der W ¨ urdigung des Grammatikers Diomedes, 437-440. 5 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit ¨ at 5.1 Der Stoffder Dichtung: Wahrheit oder Erfindung ”Viel Unzutreffendes sagen die Dichter“ - der von Solon (ca. 640-ca. 560 v. Chr.), einem der ersten Kritiker, erhobene Vorwurf, 1 geh ¨ ort in eine Serie mißbilligender ¨ Außerungen zum Wirklichkeits- und Wahrheitsbezug der Dichtung, die in der Antike nicht mehr verstummen werden. 2 In den L ¨ ugenvorwurf hatte Platon mit der Erg ¨ anzung eingestimmt, die Dichter wollten nur gefallen, Vegn ¨ ugen bereiten, statt die Erkenntnis zu f ¨ ordern und zur Tugend zu erziehen. Da die Dichtung nach Platons Seinslehre nur Abbilder von Abbildern der wahren Wirklichkeit, der Ideen, produziert, ist sie auch ontologisch nicht nur wertlos, sondern irref ¨ uhrend. Das ethische Defizit und die in der Abbildung liegende ontologische T ¨ auschung haben Platon bekanntlich bewogen, die Dichtung aus seinem idealen Staat zu verbannen, ausgenommen die Hymnik zum Lob der G ¨ otter und die Preislieder auf beispielgebende tugendhafte M ¨ anner. 3 Die Entwicklung des Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriffs der Dichtung ist eng gekoppelt gewesen an die des Begriffs in der Philosophie und in der Historiographie. In der Philosophie vollzog sich mit der auf die kritische Erfahrung und die Reflexion gest ¨ utzten rationalen Suche der ionischen Denker und der fr ¨ uhen Vorsokratiker nach den ρχα (archa´ı), den Uranf ¨ angen, und dem wahren Prinzip alles Seienden der ¨ Ubergang vom Mythos zum Logos. Die archaische Welterkl ¨ arung durch theogonische, kosmologische, aitiologische Mythen, die 1 Frg. 21 Diehl; 29 West. 2 Nachweise der alten Zeugnisse des Vorwurfs, daß die Dichter ’l ¨ ugen‘ , bei R ¨ osler 1980: 286ff.; Kannicht 1980: 13ff; Fuhrmann 3 2003: 89ff., 99 [Im Fokus: Platons negatives Urteil ¨ uber die Dichtung sowie Gorgias’ Lehre von der m ¨ oglichen Trughaftigkeit jeder Rede]. Zum Verh ¨ altnis Dichtung - Wahrheit: M. Puelma, Der Dichter und die Wahrheit in der griechischen Poetik von Homer bis Aristoteles, Freiburg (Schweiz) 1989. 3 Vom Ion an hat Platon die Dichtkunst des ¨ ofteren behandelt. Wichtige Wertungen an folgenden Stellen: Politeia 378b-d [Ausschluß der von Dichtern erz ¨ ahlten, unmoralischen G ¨ ottergeschichten bei der W ¨ achtererziehung]. 604a-606b [Der Dichter will gef ¨ allig sein, spricht das Schlechte in der Seele an und f ¨ ordert so nicht die Tugend]. 607a-e [Nur f ¨ ur den Staat und das menschliche Leben f ¨ orderliche Dichtkunst - Ges ¨ ange an G ¨ otter und Loblieder auf treffliche M ¨ anner - ist der Beachtung und Pflege wert.]. Nomoi 801d-e [Keine Abweichung von dem erlaubt, was recht im Staate oder sch ¨ on und gut ist; das sind die Hymnen und Loblieder. Kunstrichter sollen die Dichtungen vor der Ver ¨ offentlichung auf ihren Wert hin pr ¨ ufen]. 829c-e [Auswahl der f ¨ ur den Dichterberuf Geeigneten; ihr Auftrag]. 96 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at von Generation zu Generation weitererz ¨ ahlten, was als Weltwissen galt, verloren vor der Instanz der kritischen Vernunft ihre Glaubw ¨ urdigkeit als Elemente der Weltdeutung. Die definitive L ¨ osung des Logos vom Mythos vollzog sich in der Aufkl ¨ arung des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. Hier schoben die rationalen Seinserkl ¨ arungen der vorsokratischen Philosophenschulen die Mythen als vorg ¨ angige menschliche Erfindungen vollends beiseite. 4 Parallel zur philosophischen Reflexion emanzipierte sich auch das historische Nachdenken - und mit ihm die sich konstituierende Historiographie - von der Mythosgl ¨ aubigkeit. F ¨ ur Herodot, nach Cicero der ’Vater der Geschichtsschreibung‘ (5. Jh. v. Chr.), und den etwas j ¨ ungeren Thukydides waren die mythischen ¨ Uberlieferungen nicht mehr die vertrauensw ¨ urdigen Zeugnisse f ¨ ur das in der Vergangenheit Geschehene, die sie mit ihrem Anspruch, zu erforschen und zu beschreiben, was wirklich war, h ¨ atten vereinbaren k ¨ onnen. Beide haben die Mythen heruntergestuft zu historiographisch unbrauchbaren, weil nicht nachpr ¨ ufbaren Erz ¨ ahlungen. Wie Herodot in seiner Geschichte der Perserkriege vermerkte, r ¨ uckte nun das Sammeln und Sichten authentischer Zeugnisse und die ”Darlegung der Erkundung“ des ”vom Menschen Geschehenen“ in den Vordergrund. 5 Empedokles setzt das Ziel noch h ¨ oher: Es gehe darum, auf der Grundlage der zuverl ¨ assigen Nachrichten mit kritischem Verstand zu kl ¨ aren, was wirklich war und wie es war. Mit der Abwendung von der mythischen Geschichts ¨ uberlieferung richtete die Historiographie, wie gerade Herodot und Thukydides zeigen, ihren Fokus auf die nahe, noch faßbare Vergangenheit oder die Spanne der eigenen Erlebniszeit. Seefahrerberichte, Entdeckungsreisen, intensivere Kontakte mit fremden V ¨ olkern und L ¨ andern sowie der Erkenntnisfortschritt in den Naturwissenschaften taten ein ¨ ubriges, das mythische Weltwissen in Frage zu stellen. Die Wende zum Logos traf die Dichtung in ihrem Kern, denn sie ersch ¨ utterte ihren Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch. 4 Maßgebende Darstellung des Fortschritts vom mythischen Welt- und Geschichtsverst ¨ andnis zu rationalen Deutungsmodellen W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, 2 1975. Siehe auch: C. F. Geyer, Mythos: Formen, Beispiele, Deutungen, 1996 und C. F. Geyer, Philosophie der Antike. Eine Einf ¨ uhrung, 4 1996, §§ 1 und 2. Skizze der Entwicklung im Artikel ’Geschichtsschreibung‘ , Teil II: Griechenland, von K. Meister, DNP 4 (1998), 984-988 (mit Literaturhinweisen). 5 Die in Zitatform aufgenommenen Erkl ¨ arungen zur historiographischen Verfahrensweise geben Herodots eigene Charakterisierungen seines Werkes wieder. Thukydides hat in seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges in einem eigenen Methodenkapitel (1, 22) darauf bestanden, daß der Historiograph nicht erz ¨ ahlen sollte, was man ¨ uber ein Geschehen erz ¨ ahlt [wie Herodot], sondern durch sorgsame Pr ¨ ufung aller Zeugnisse die Wahrheit zu ermitteln bestrebt sein m ¨ usse. Der Stoffder Dichtung: Wahrheit oder Erfindung 97 In der fr ¨ uhen, von der Homerischen Epik und der Hymnenpoesie gepr ¨ agten Literaturperiode hatte als unbezweifelbar wahr und wirklich gegolten, was der S ¨ anger oder der Rhapsode seinem Publikum ¨ uber Geschehenes vortrug. Beglaubigt erschien der Realit ¨ ats- und Wahrheitsanspruch durch die R ¨ uckbindung der Kunde von historischen und mythischen Begebenheiten an das Ged ¨ achtnis und die Unbestechlichkeit der Muse, also der Gottheit, die vorgeblich durch den Mund des S ¨ angers sprach, deren Beistand jedesmal mit dem Akt des Musenanrufs herbeigebeten wurde. Auch die Erz ¨ ahltradition st ¨ utzte den Realit ¨ ats- und Wahrheitsanspruch, denn da im wesentlichen von Generation zu Generation die gleichen, im kollektiven Ged ¨ achtnis gespeicherten Stoffkreise zu Dichtungen verarbeitet wurden, kam ihnen eine von der allgemeinen ¨ Uberlieferung sanktionierte Glaubw ¨ urdigkeit zu. Nirgends besser als an den Homerischen Themen l ¨ aßt sich außerdem beobachten, daß schließlich der Autorit ¨ atsglaube bewirkte, alles von anerkannter sch ¨ opferischer Hand ¨ Uberlieferte f ¨ ur wahr und richtig zu nehmen. Bis in die Sp ¨ atantike reicht bezeichnenderweise die Kette der Beweisf ¨ uhrungen, daß Homer manchem Einwand zum Trotz auf allen Gebieten des Wissens und K ¨ onnens der beste Sachkundige und der beste Lehrer sei, Wirklichkeit nahezubringen. In der r ¨ omischen Literatur wiederholte sich der Glaube an die Wahrheits- und Wirklichkeitstreue einer großen Autorit ¨ at bei der Bewertung von Vergils Aeneis, die weithin als Darstellung historischer Geschehnisse rezipiert wurde, und das galt sogar f ¨ ur Vergils frei ausgestaltete Verkn ¨ upfung des Aeneas-Mythos mit dem Dido-Mythos zu einer der großen Liebesgeschichten der Weltliteratur. Als im 6. und 5. Jh. die Homer-Kritik anschwoll, wie die ¨ Außerungen von Solon, Xenophanes, auch von Heraklit aus jener Zeit bezeugen, und den Glauben an den Wahrheitsbezug der mythischen Epenwelt ins Wanken brachten, suchten die Interpreten der Dichtungen, anfangs die Rhapsoden selbst, einen Ausweg in der Allegorese, also in der Auslegung des Textes auf einer zweiten, dem Autor gew ¨ ohnlich unterstellten Sinnebene, welche durch die offene Bedeutungsweite sowohl jedes Einzelwortes wie auch jedes Sprechaktes legitimiert schien. Die hermeneutische Methode der Allegorese, die der ¨ Uberlieferung nach von dem Homer-Exegeten und -philologen Theagenes von Rhegion (6. Jh.) ausgebildet wurde, 6 erm ¨ oglichte es den Erkl ¨ arern, das Unglaubhafte, das Widerspr ¨ uchliche, das moralisch oder religi ¨ os Anst ¨ oßige in einem anderen als dem ¨ ublichen Wortsinn nachzuinterpretieren, was nicht bloß problematische Textst ¨ ucke, sondern eine ganze Dichtung in neuer Sichtweise, in neuem Verst ¨ andnis erscheinen ließ. Dabei wandelte sich das zweifelweckende, oft ins Allzumenschliche abgleitende Geschehen um G ¨ otter und Personen in Chiffren, welche das Walten und Wirken der Elemente, kosmischen M ¨ achte, der Naturerscheinungen, der Seelenkr ¨ afte, 6 ¨ Uber die Allegorese als hermeneutisches Verfahren der Homer-Interpretation informiert im historischen Zusammenhang Rudolf Pfeiffer, 1970: 25-28. Sehr gutes Res ¨ umee und Bibliographie aus neuerer Perspektive von H. Cancik-Lindemaier und D. Sigel im Artikel ’Allegorese‘ , in: DNP 1 (1996), 518-523. 98 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at der Charaktere, Tugenden und Laster symbolisierten. Welche Bedeutung die Allegorese im Literaturbetrieb erlangte, ist daraus zu erschließen, daß Platon es in der Politeia f ¨ ur notwendig erachtete, die moralisch untauglich befundenen Epenstoffe ausdr ¨ ucklich auch dann zu verdammen, wenn sie einen ”verborgenen“ Sinn haben, d. h. allegorisch verstanden werden k ¨ onnen und werden: ”Denn der J ¨ ungling ist nicht imstande zu unterscheiden, was dieser verborgene Sinn ist und was nicht“. 7 In Platons Augen ¨ offnet die Allegorese, die auf der Seite der Rezeption der licentia poetica auf Seiten der Produktion entspricht, der Beliebigkeit, ja Willk ¨ ur des Verstehens alle Tore und ist deshalb f ¨ ur das Gemeinwohl nicht minder sch ¨ adlich als die p ¨ adagogisch-moralische Wirkung eines anst ¨ oßigen Epenstoffes im Prim ¨ arsinn. Die Wahrheitsfrage stellte sich nicht mehr in ganzer Radikalit ¨ at, als man begann, sie im Zusammenhang mit dem Problem des Wirkungsziels der Dichtung zu sehen. ’Wahr‘ mußte ein poetisches Werk sein, wenn es dazu bestimmt war, n ¨ utzliche und zuverl ¨ assige Information zu vermitteln, was f ¨ ur die Lehrdichtung sogar gattungsspezifisch zutraf. Doch gerade bei ihr erhob sich Zweifel, ob sie ¨ uberhaupt stricto sensu zur Poesie zu rechnen w ¨ are. Als die Bedenken gegen ¨ uber dem Wahrheitsanspruch der Dichtung wuchsen, gewann auch die Auffassung Boden, daß der Zweck der Dichtung nicht prim ¨ ar in der Weitergabe des Wissensgutes sowie der personalen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen liege, sondern im Verm ¨ ogen, durch vortreffliche formale Gestaltung und ausgesuchte Stoffe Zuh ¨ orern und Lesern Freude und Vergn ¨ ugen zu bereiten. Parallel auch zur Entfaltung des Prosaschrifttums (Philosophie, Historiographie, Fachliteratur, rhetorische Texte) beobachten wir vom 5. Jh. an immer deutlicher, wie der Aspekt des Bewirkens von Vergn ¨ ugen in den Vordergrund tritt. Ein vielsagendes Zeugnis von Thukydides aus der 2. H ¨ alfte jenes Jahrhunderts belegt die Umponderierung: An der Aufkl ¨ arung dessen interessiert, was wirklich geschah, lehnt der vorsichtige Historiograph die Darstellungen der Dichter ab, weil es diesen nicht darauf ankomme, sich an die Wahrheit zu halten, sondern eher Freude und Vergn ¨ ugen zu erzeugen. 8 Die Erkenntnis, daß Dichtung und Wahrheit sich mitunter nicht in allem decken, findet sich schon bei Hesiod (um 700 v. Chr.), wenige Jahrzehnte nach der Entstehung der Homerischen Epen. In der Theogonie l ¨ aßt Hesiod die Musen ihm, dem Dichter, offenbaren, daß sie vieles Unzutreffende zu sagen w ¨ ußten, was dem Zutreffenden ¨ ahnlich sei, aber wenn es ihnen beliebe, w ¨ ußten sie Wahres zu verk ¨ unden. 9 Man darf sich fragen, ob der ”Außenseiter“, der der S ¨ angerfamilien- 7 Platon, Politeia 378d: κα θεομαχ ας Zσας ^Ομηρος πεπο ηκεν ο; παραδεκτ ον εHς τ6ν π λιν, ο_τO (ν Wπονο αις πεποιημ νας ο_τε #νευ Wπονοι: ν. V γ=ρ ν ος ο; χ ο` ς τε κρ νειν Zτι τε Wπ νοια κα a μ . 8 Thukydides, Historiae I, 21f. Vgl. R ¨ osler 1980: 308. Zum Wirkungsziel, Freude und Vergn ¨ ugen zu erzeugen, ausf ¨ uhrlicher Kapitel 7. 9 27f.: )δμεν ψε<δεα πολλ= λ γειν (τ<μοισιν Vμο%α, )δμεν δO εbτO (θ λωμεν ληθ α γηρ<σασθαι. Der Stoffder Dichtung: Wahrheit oder Erfindung 99 Tradition fernstand, 10 damit einem Vorwurf an die Adresse der Epiker und Lieders ¨ anger richtete, es mit dem Wahrheitsbezug der Erz ¨ ahlungen nicht immer genau zu nehmen, um desto rechtm ¨ aßiger beanspruchen zu k ¨ onnen, daß er berufen sei zu sagen, was wirklich war und sein wird. Wie bei Hesiod ist auch bei anderen Dichtern, die ¨ Alteren oder Zeitgenossen vorwerfen, das Wahrheitsgebot mißachtet zu haben - derartige Vorhaltungen zielen selbst auf Homer - in Rechnung zu stellen, daß die Kritik weniger der Sache diente, sondern vielmehr der Selbstbehauptung und der Pflege des eigenen Profils angesichts der ¨ Ubermacht der poetischen Tradition. Davon abgesehen, werden Hesiods Musenworte h ¨ ochst unterschiedlich interpretiert, bis hin zu der Ausdeutung, sie lieferten das erste Zeugnis der bewußt gewordenene Fiktionalit ¨ at der Dichtung im europ ¨ aischen Literaturverst ¨ andnis. 11 Wie passend es auch dem heutigen Leser erscheinen mag - das Etikett der Fiktionalit ¨ at w ¨ are bei der fr ¨ uhgriechischen Epik wie auch bei Vergils r ¨ omischer Geschichtsmythik fehl am Platz. Denn obwohl es um Dichtungen geht, die wie die Odyssee in H ¨ olschers einf ¨ uhlender Interpretation ”zwischen M ¨ archen und Roman“ anzusiedeln sind, fehlt dem Dargebotenen das f ¨ ur die ’Fiktionalit ¨ at‘ 10 So Hose (1999), 38. 11 ¨ Uberblick ¨ uber die Interpretationen bei W. Stroh, Hesiods l ¨ ugende Musen, in: H. G ¨ orgemanns / E. A. Schmidt (Hgg.), Studien zum antiken Epos, 1976: 85. Strohs Aufsatz (85-112) hat die Auseinandersetzung um die Auslegung Hesiods sehr belebt. Nach ihm w ¨ are es darum gegangen auszuf ¨ uhren, daß alle Poesie wesentlich aus der Mischung von ’Dichtung und Wahrheit‘ besteht, was eine weit vorausweisende, sehr moderne Sehweise gewesen w ¨ are. Die generelle Folgerung will Richard Kannicht 1980, 19-21 nicht teilen; denn es sei evident ”daß Hesiod f ¨ ur sein Lied eine besondere Autorit ¨ at und eine besondere Wahrheit beansprucht“ (14). Sie habe Hesiod betonen wollen. Allerdings erw ¨ agt Kannicht auf Grund der Tatsache, daß die Musen nicht ”Falsches, Unwahres, Tr ¨ ugerisch schlechthin“ meinen, sondern nur ”vieles Falsche, Unwahre, Tr ¨ ugerische“ anf ¨ uhren, das dem gleiche, ”was der Fall ist“, daß in der Gerichtetheit von Wahrheit die Fiktionalit ¨ at bereits angedacht sein k ¨ onnte. Wolfgang R ¨ osler 1980, 296 versteht Hesiods ¨ Außerung hingegen als ”Akt des Ausschlusses derer, die eine Offenbarung nicht verdienen“. Uvo H ¨ olscher 1990: 218 hat sich bei der Er ¨ orterung der Hesiod-Stelle in seinem Buch ’Die Odyssee‘ Kannichts Auslegung angeschlossen, doch dem Tenor seines Buches entsprechend die fr ¨ uhe Einsicht Hesiods in den fiktionalen Charakter der Dichtung erkennen wollen. In einer klaren Standortbestimmung der Forschung ’Zum Problem der epischen Fiktion in der vorplatonischen Poetik‘ hat schließlich O. Primavesi (2009: 105ff.) die den Musen in den Mund gelegte Unterscheidung von ”Zutreffendem“ und ”Unzutreffendem“ als Indiz der ”Dissoziation zweier epischer Formen der Dichtung nach dem Kriterium der Tatsachentreue“ gewertet: der eigenen theogonischen Epik und der Homerischen Heldenepik (S. 110). Hesiods poetologische Differenzierung impliziert eine Herabstufung des Realit ¨ atsbezugs des Homerischen Typs. 100 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at ausschlaggebende Moment: die Absicht des Autors, seiner Phantasie erz ¨ ahlend freien Lauf zu lassen, um eine imagin ¨ are Wirklichkeit zu schaffen, und korrespondierend die einverst ¨ andige Bereitschaft des Rezipienten, sich in erfundene, dichterisch gestaltete Welten entf ¨ uhren zu lassen. F ¨ ur die Ependichter und die S ¨ anger auf der einen, die Zuh ¨ orer oder Leser auf der anderen Seite stand die historische Wahrheit des Berichteten außer Zweifel, immer freilich mit dem Zugest ¨ andnis an den Autor, das unbezweifelbare Geschehen anscheinend h ¨ oherer Inspiration folgend ausmalen zu d ¨ urfen. Nat ¨ urlich war hier dem freien Erfinden und Fabulieren eine offene Flanke geboten, aber es lag dem Publikum der Fr ¨ uhzeit fern, im geringsten zu bezweifeln, was Botschaft der Musen schien, aus g ¨ ottlichem Allwissen. Die bis in die r ¨ omische Sp ¨ atantike sich hinziehende Kommentarliteratur besteht gr ¨ oßtenteils aus einer Kette apologetischer Schriften zum Erweis, daß in den Epen Schilderung um Schilderung historische, religi ¨ ose, naturwissenschaftliche und praktische Wahrheit steckt. Nehmen wir ’Funktionalit ¨ at‘ im literaturwissenschaftlichen Sinn, n ¨ amlich als eine ¨ asthetisch motivierte und planvoll angelegte Eigenschaft von Texten, in der Vorstellungswelt eines Rezipienten eine die Wirklichkeit ¨ ubersteigende imagin ¨ are Realit ¨ at zu evozieren, so ist es bei den beschriebenen Gegebenheiten des Wahrheits- und Wirklichkeitsproblems schwierig zu sagen, von wann ab in der Antike von ihr erstmals die Rede sein kann. Auf festerem Boden bewegt man sich von Xenophanes an. Unter den Vorsokratikern trat der um 580 v. Chr. Geborene der mythischen G ¨ otterwelt der Homerischen Epik und der Hesiodschen Theogonie mit der Lehre von einer allumfassenden Gottheit entgegen, die mit den polytheistischen und anthropomorphistischen Vorstellungen der Dichtungswelt radikal brach. Die Liquidierung des gesamten alten religi ¨ osen Kosmos ist gekoppelt mit dem grunds ¨ atzlichen Zweifel am Wahrheitsgehalt der mythischen ¨ Uberlieferung, sodaß Xenophanes den Zweck der Dichtung nicht l ¨ anger darin sehen wollte, die alten, nicht beglaubigten und nicht glaubhaften Geschichten fort und fort nachzuerz ¨ ahlen. In einem Fragment ¨ uber die Gestaltung von Symposien 12 , dem gesellschaftlichen Kommunikationsort des B ¨ urgertums, lobt er denjenigen Teilnehmer, der beim Reihumvortrag von Liedern und Gedichten es sich versagt, die herk ¨ ommlichen Themen zu traktieren. ”Sein Vortrag sind nicht Titanennoch Gigantennoch Kentaurenk ¨ ampfe, Erfindungen fr ¨ uherer Generationen . . .“; sein Beitrag verfolgt statt dessen ein soziales und moralisches Ziel, n ¨ amlich: ”Vorsorglich auf das Gute bedacht sein“. Zur totalen Abwertung der G ¨ ottermythen zu Erfindungen der menschlichen Phantasie kommt eine Wortwahl, die den Auffassungswandel zu signalisieren scheint. W ¨ ahrend n ¨ amlich bis zu seiner Zeit die Abweichung von der - faktischen oder geglaubten - Wahrheit im allgemeinen mit dem gr. ψε<δεα (”L ¨ ugen, T ¨ auschungen, Erfindungen“) gekennzeichnet worden war, das die ab- 12 Frg. 21 B 1 Diels-Kranz = West 19ff. Ausf ¨ uhrliche Interpretation bei Primavesi (2009), 113f. Der Stoffder Dichtung: Wahrheit oder Erfindung 101 sichtslose, aus mangelndem Wissen stammende Fehlinformation einschloß, findet sich in Xenophanes’ Ablehnung der alten epischen Stoffe als ”Erfindungen der Fr ¨ uheren“ erstmals das griechische πλ σματα (pl ´ asmata), dessen Bedeutungsspektrum (’Nachbildungen, Bilder, Gebilde, Erfindungen, Erdichtungen‘ ) mit einer gewissen kritischen Reserve die sch ¨ opferische Gestaltungskraft charakterisiert, die nachahmende wie die autonom gestaltende. M ¨ oglicherweise ist das Aufkommen der Bezeichnungen πο ησις (po´ı ¯ esis) und ποιητ ς ( poi¯et´¯es ) im selben Jahrhundert in diesem Kontext zu sehen. ’Dichtung‘ ist zu einem ’Mach-Werk‘ geworden, erdacht und geschaffen von einem ’Macher‘ ; die Aura der Kundgabe g ¨ ottlichen Wahrheits- und Wirklichkeitswissens ist geschwunden. Daß im Nachdenken ¨ uber das Wesen der Dichtung das Prinzip der Fiktionalit ¨ at erkannt und anerkannt werden konnte, ist nicht ohne die Triebkraft zu verstehen, die von der Entfaltung des Dramas dank seiner Institutionalisierung in Athen in der zweiten H ¨ alfte des 6. Jhs. ausging. Mit der Kom ¨ odie wurde eine Gattung sanktioniert, deren St ¨ ucke in mehr oder minder konventionalisierter Form von vornherein Handlungsstoffe und Personen freier poetischer Erfindung auf die B ¨ uhne stellten. Dagegen blieb die Trag ¨ odie zwar dem mythisch ¨ uberlieferten Geschichtenvorrat verpflichtet, doch transformierte der Dichter das Geschehen in eine aktuelle, vor den Augen der Zuschauer ablaufende, dialoggef ¨ uhrte Handlung. Mythische Stoffe, die in Athen nicht heimisch waren, wie z. B. die thebanische ¨ Odipus-Erz ¨ ahlung, und erst recht die divergierenden Versionen, die verschiedene Autoren zu ein und demselben Thema darboten, best ¨ atigten f ¨ ur jedermann sicht- und h ¨ orbar die fiktionale Komponente der dramatischen Dichtung. Ihr Anteil wird auch beim Satyrspiel bewußt geworden sein, wenn der eben noch das tragische Geschehen begleitende Chor sich vor ¨ ubergehend in eine Rotte trunkener und l ¨ usterner Gesellen verwandelte und mit den eben noch großen Helden seinen desillusionierenden Scherz trieb. Wie sehr die auf die B ¨ uhne gebrachten Dramen dazu beitrugen, daß der fiktionale Charakter von Dichterwerken durchschaut wurde, verdeutlichen die literaturbezogenen ¨ Uberlegungen des Gorgias (ca. 480-ca. 380 v. Chr.). Als Verfechter eines erkenntnistheoretischen Nihilismus, wonach etwas Seiendes, wenn es dies g ¨ abe, f ¨ ur den Menschen nicht begreifbar, nicht aussagbar und folglich auch nicht mitteilbar w ¨ are, deduzierte er, daß Dichtung nur T ¨ auschung ( π τη ) bewirke und einen falschen λ γος lehre. Alles Dichten erschaffe bloß einen falschen Schein, eine verf ¨ uhrerische Illusion, deren Bestimmung es lediglich sein k ¨ onne, Freude ( Xδον ) zu erzeugen. Die T ¨ auschungsqualit ¨ at der Dichtung war f ¨ ur Gorgias am offenkundigsten in der Trag ¨ odie; ¨ uber sie folgerte er in einem typisch sophistischen Paradoxon, daß bei ihr ”der T ¨ auschende mehr im Recht sei als der Nicht-T ¨ auschende, und der Get ¨ auschte kl ¨ uger als wer sich nicht t ¨ auschen lasse“. 13 13 Diels/ Kranz Frg. 82 B 23. Die Interpretation der (von Plutarch, De glor. Ath. 5, 348 B-C ¨ uberlieferten) Stelle variiert. In einer umfassenden Abhandlung ¨ uber ’Gorgias und die 102 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at An diesem Punkt schl ¨ agt die Kritik, die Dichtung schere sich nicht um Wahrheit und Wirklichkeit, erstmals unbezweifelbar in die Legitimierung der poetischen Erfindung um, doch beschr ¨ ankt sich diese Legitimierung noch auf den Bereich des Dramas. In den anonymen Δισσο Λ γοι (’Zweierlei Aussagen‘ ) aus wenig sp ¨ aterer Zeit (Beginn des 4. Jhs. v. Chr.) erscheint die Umkehrung zu der Maxime fortentwickelt, die Kunst beweise, daß L ¨ uge und T ¨ auschung auch als gerecht gewertet werden k ¨ onnen, denn in der Trag ¨ odiendichtung wie in der Malerei sei derjenige der Beste, der am meisten vort ¨ ausche, indem er schaffe, was dem Wirklichen ¨ ahnlich ist. 14 Nach dem Tenor des Traktats h ¨ atte keine Verpflichtung mehr bestanden, das Wahrheits- und Realit ¨ atsgebot zu beachten, weil die Dichter ihre Werke nicht auf die Wahrheit und Wirklichkeit hin erschafften, sondern bloß zum Vergn ¨ ugen der Menschen. 15 5.2 Wirklichkeit und Dichtung nach Aristoteles Nach alledem erscheint es nur konsequent, daß auch Aristoteles an die Dichtung sub specie artis dramaticae herangetreten ist. Und ebenso konsequent stellt sich sein Anliegen dar, angesichts der ¨ asthetischen Rechtfertigung der Abkehr von der ’Wahrheit‘ auf der einen Seite und der ontologisch begr ¨ undeten Kunstgegnerschaft Platons auf der anderen den Ort der Dichtung auf dem Fundament einer innovativen Mimesis-Konzeption neu zu bestimmen. 16 Die Kernidee dieser Fiktionalit ¨ at der Trag ¨ odie‘ geht K. Sier (2000) von der Lesart aus, der T ¨ auschende sei ”gerechter“ als der Nichtt ¨ auschende, weil die T ¨ auschung ”im Falle der Trag ¨ odie nicht nur legitim, sondern ethisch empfehlenswert ist“. Und wer sich t ¨ auschen l ¨ aßt, sei ”weiser“ als der Nichtget ¨ auschte, weil er die Grundbedingung der dramatischen Dichtung antizipiert hat (S. 603f.). ¨ Altere Interpretationen folgen in der Regel der von Plutarch wohl angef ¨ ugten Erl ¨ auterung, daß eine erwartbare, auch angek ¨ undigte T ¨ auschung keine T ¨ auschung im vollen Sinn sei, außerdem zwischen Autor, Schauspielern und Publikum eine stille ¨ Ubereinkunft ¨ uber das Illusorische des Dargebotenen herrsche. Resumee der gorgianischen Dichtungstheorie auch bei Kannicht (1980), 26-28. 14 Diels-Kranz Frg. 90, 3, 10 (= S. 411, Z. 1). Im letzten Halbsatz Zμοια το%ς ληθινο%ς ποι ων kann das ambivalente Zμοιος (”¨ ahnlich, gleich“) nur die ¨ Ahnlichkeit meinen, keineswegs Gleichheit, die die M ¨ oglichkeit der Seinserkenntnis zur Voraussetzung h ¨ atte. 15 Diels-Kranz 90, 3, 17 (= S. 411, Z. 21). 16 Die Konzeption Platons behandelt eingehend U. Zimbrich, Mimesis bei Platon, 1984. Von der gleichen Verfasserin stammt der Artikel ’Mimesis‘ in: DNP 8 (2000) 196-198. Das Kapitel ’Der Wirklichkeitsbezug der Dichtung‘ in Fuhrmann 3 2003, 82-89, behandelt fast nur Platon. ¨ Uber die Mimesis des Aristoteles A. Schmitt: Aristoteles, Poetik, 2008: 204-213; S. Halliwell, The Aesthetics of Mimesis, 2002 [Platon 37-147, Aristoteles 152-259. Eines der Ziele des Buches: ”reexamination of the ancient roots [of mimesis] from the formative approaches of Plato and Aristotle to the innovative treatment of Wirklichkeit und Dichtung nach Aristoteles 103 Konzeption lag darin, daß die Dichtung - wie die meiste Kunst damals - an das Prinzip der Nachahmung von Wirklichkeit gebunden blieb, Aristoteles aber das Nachahmen in einer radikalen Wende gegen Platon nicht als ein Kopieren von Abbildern verstand, sondern als ein kreatives Schaffen, das zur bestehenden Wirklichkeit eine zweite, alles Singul ¨ are und Akzidentelle ¨ ubersteigernde hervorbringt. Mit der Ausf ¨ uhrung dieses Grundkonzeptes setzte Aristoteles dem Streit um die Wahrheit der Dichtung ein Ende, und zugleich rehabilitierte er die Kunst als ein bereicherndes Ph ¨ anomen der menschlichen Lebenswelt. Die spezielle Dichtungslehre entfaltete er auf dreifachem Grund: anthropologisch, utilitarisch, philosophisch. Anthropologisch untermauerte er sie mit der Pr ¨ amisse, daß dem Menschen eine mimetische Veranlagung angeboren sei, die ihn von anderen Lebewesen unterscheide. Sie bef ¨ ahige ihn in besonderer Weise zur Nachahmung als produktiver Handlung, trete aber auch darin zutage, daß er gern Nachgeahmtes rezipiert, um so den Horizont der Erkenntnis zu erweitern. Aristoteles lenkt hier vom mimetischen Trieb zum Prozeß des Lernens durch Bildbetrachtung ¨ uber, einem Effekt der Rezeption, der wie alles Lernen Freude bereite. 17 Den hier schon angesprochenen utilitarischen Aspekt, den die Dichtung dadurch best ¨ atige, daß sie Vergn ¨ ugen und Erholung verschafft, entwickelt Aristoteles haupts ¨ achlich in der im erhaltenen ersten Teil der Poetik ¨ uberlieferten Theorie der Trag ¨ odie. Deren Spiel - die aktualisierende Vorstellung ernster, großer menschlicher Handlungen und nur tragisch l ¨ osbarer Konfliktsituationen - wirkt nach Aristoteles auf den Zuschauer einesteils erhebend und moralisch st ¨ arkend, weil ihm Vorbilder des rechten Verhaltens vor Augen gef ¨ uhrt werden. Zum andern aber bewirkt die Aktualisierung eines verh ¨ angnisvollen Geschehens, das einen Protagonisten unverdient trifft, der etwas Gutes erreichen will, nach der ber ¨ uhmten Definition des Aristoteles im Zuschauer ¨ uber die Ausl ¨ osung von ”Mitleid“ ( "λεος , ´ eleos) und ”Furcht“ ( φ βος , ph ´ obos) eine ”Reinigung“ ( κ θαρσις , k ´ atharsis), also Entlastung, Befreiung von Affekten dieser Art. 18 Aristoteles hat die Beschreibung der Katharsis von medizinischen Quellen ¨ ubernommen; es ist daher wahrscheinlich, daß er auch einen spezifischen Nutzen der Trag ¨ odie in einer heilsamen Wirkung auf die individual- und sozialpsychologische Verfassung des Menschen sah. mimesis by the Neoplatonists of late antiquity“]. Darstellungen in gr ¨ oßerem Rahmen bei G. Gebauer, Mimesis, 1992 [Alle historischen Formen und Funktionen der Mimesis, von der Antike bis zum 20. Jh.]; G. F. Else, Plato and Aristotle on Poetry, 1986 [Mimesis in Platons Dialogen 3-73; bei Aristoteles 74-88]; E.-R. Schwinge, Kunst und Wirklichkeit in Aristoteles’ Poetik, in: RhM 155 (2012), 41-64 [Arbeitet die Trennung heraus: ”Kunst und Wirklichkeit sind fundamental voneinander getrennt“ (S. 56). Eingehende Analyse der sich ergebenden Konsequenzen f ¨ ur die Dichtungstheorie]. 17 Aristoteles, Poetik 1448b4ff. 18 Ebda. 1449b24ff. 104 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at Die Dichtung philosophisch zu fundieren, war nach der beharrlichen Ablehnung ihres Realit ¨ atsbezuges und ihrer Erkenntnisqualit ¨ at durch die Vorsokratiker und schließlich durch die Platonische Kunsttheorie ein kaum erwartbarer, Denkgewohnheiten umst ¨ urzender Schritt. Aristoteles setzte hierzu bei der erkannten besonderen Qualit ¨ at der poetischen Mimesis an, die beim vergleichenden Blick auf Werke der Historiographie sch ¨ arferen Umriß erhielt. Dichter und Historiographen h ¨ atten gleichermaßen nachschaffend mit menschlichen Handlungen und Sachverhalten zu tun, aber w ¨ ahrend es dem Historiographen obliege, m ¨ oglichst detailgetreu darzustellen, was war und was geschah, bestehe die Aufgabe der Dichter gerade nicht in der peniblen Nachzeichnung und Pr ¨ asentation des rein Faktischen. Dies inkludierten freilich schon die Forderungen, die Aristoteles f ¨ ur den Handlungsstoff, den μCθος (m ´ ythos), erhob. Das Dargebotene sollte die μ μησις einer einzigen, ganzen, schl ¨ ussigen Aktion sein, deren jeder Teil unaustauschbar und f ¨ ur das Ganze unentbehrlich zu sein hatte; denn ”was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen“, 19 also das Wesentliche nur verdeckendes Beiwerk. Mit erstaunlicher Einf ¨ uhlung in das Wesen des K ¨ unstlerischen zog Aristoteles aus allen ¨ Uberlegungen den Schluß, ”daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen k ¨ onnte [erg ¨ anze: oder h ¨ atte geschehen k ¨ onnen], d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit M ¨ ogliche.“ 20 Der in der ¨ Ubertragung Fuhrmanns wiedergegebene Einleitungssatz des 9. Kapitels der Poetik ist nicht nur einer der meistzitierten Lehrs ¨ atze des Aristoteles, sondern auch eine der am unterschiedlichsten und weitesten ausgelegten Aussagen. Die Interpretation reicht bis zur Inanspruchnahme f ¨ ur die These, Aristoteles habe hier die Fiktionalit ¨ at als das Wesen der Dichtung anerkannt und legitimiert. Dabei wird ¨ ubersehen, daß man die Stelle im Zusammenhang mit der Definition zu sehen hat, daß die Mimesis die Darstellung eines vom Charakter bestimmten menschlichen Handelns ist. 21 Das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit M ¨ ogliche ist der Handlungsspielraum, innerhalb dessen ein Mensch mit der ihm eigenen Charakterpr ¨ agung entscheiden kann und entschei- 19 Ebda. 1451a34f.: a γ=ρ προσ ν 1451α.35 9 μ6 προσ ν μηδ ν ποιε% (π δηλον, ο; δ ν μ ριον τοC Zλου (στ ν. 20 Ebda. 1451a36-38: Φανερ ν δ (κ τ: ν εHρημ νων κα Zτι ο; τ τ= γεν μενα λ γειν, τοCτο ποιητοC "ργον (στ ν, λλO ο`α 2ν γ νοιτο κα τ= δυνατ= κατ= τ εHκ ς 9 τ ναγκα%ον . 21 Ebda. 1448a1-6. Kl ¨ arend sind hier vor allem die Erl ¨ auterungen von G. Kloss, M ¨ oglichkeit und Wahrscheinlichkeit im 9. Kapitel der Aristotelischen Poetik, in: RhM 146 (2003), 160-183, und A. Schmitt, Aristoteles, Poetik (2008), 395-399. Skizze zur ’Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit‘ und zur ’Notwendigkeit und M ¨ oglichkeit in Trag ¨ odien und Geschichtsschreibung‘ von D. Frede, in: O. H ¨ offe (Hg.), Aristoteles, Poetik, 2009, 111- 119. Wirklichkeit und Dichtung nach Aristoteles 105 det, wie in einer gegebenen Situation zu handeln ist. Das von jeder Wirklichkeit gel ¨ oste Fiktive oder gar Imagin ¨ are, Wunderbare liegt außerhalb der Dimension des charaktergelenkten menschlichen Tuns oder Erleidens, die durch Aristoteles allein der Gegenstand der Dichtung ist. Aus der Aufgabe, an der Darstellung einer Person ihr anlagebedingtes Handlungsverm ¨ ogen sowie dessen Wirkung sichtbar zu machen, ergibt sich f ¨ ur den Dichter allerdings auch keine Gebundenheit an eine bestimmte Realit ¨ at. In der Kom ¨ odie steht es ihm traditionell frei, ein Geschehen und die darin agierenden Personen zu erfinden. 22 Bei der Trag ¨ odie halten sich die Dichter nach Aristoteles meistens an das von Mythen ¨ uberlieferte Handeln ’historischer‘ Personen, dem die Glaubw ¨ urdigkeit zukommt, die er f ¨ ur alle Dichtung zur Bedingung macht. Wie er ausf ¨ uhrt, eignet sich als dichterischer Stoffdas Unm ¨ ogliche, das wahrscheinlich ist, das ¨ uberzeugt, besser als das M ¨ ogliche, das unglaubhaft ist. 23 Unerl ¨ aßlich ist aber bei historischen Trag ¨ odienstoffen die Befreiung von diffusem Beiwerk, denn es muß aus dem Erz ¨ ahlgut das Handeln des Protagonisten als einheitliches Ganzes herausgehoben werden, und auch wenn es singul ¨ ar war, nicht - wie in der Historiographie - als Einzelfall, sondern in seiner Allgemeing ¨ ultigkeit zur Anschauung gebracht werden. Weil es nun darauf ankommt, daß die M ¨ oglichkeiten menschlichen Handelns mit ihren unausweichlichen Folgen ins Bewußtsein gehoben werden, kann Aristoteles eine Trag ¨ odie mit erfundenem Geschehen und erfundenen Personen, die das Handlungsverm ¨ ogen glaubw ¨ urdig darstellt, ebenso gutheißen wie eine scheinbar oder anscheinend realistische. 24 Da eine gut ausgerichtete erfundene Handlungskomposition das Ziel der Dichtung mitunter deutlicher zum Ausdruck bringen kann als ein mehrstr ¨ angiger Mythenstoff, gibt Aristoteles der Fiktion sogar einen gewissen Vorzug. Im Ganzen gesehen, ist die Frage des Wirklichkeitsbezugs der Dichtung f ¨ ur ihn irrelevant. Gewicht hat nur, ob der Stoff, den der Dichter w ¨ ahlt, stamme er aus der Mythen ¨ uberlieferung oder sei er ein Produkt freier Erfindung, ihm erm ¨ oglicht, vom Charakter bestimmtes menschliches Handeln als Modellfall m ¨ oglicher Handlungsentscheidungen vorzuf ¨ uhren. Sofern er am Einzelgeschehen nicht bloß nach Art der Historiographen nachzeichnet, was jemand gesagt, getan oder nicht getan hat, sondern ¨ uber das Faktische hinaus Allgemeines zur Anschauung bringt, kann er auch eine historische Person in ihrem Handeln darstellen. 22 Ebda. 1451b11-15. 23 Ebda. 1460a26f.; 1461b11f. 24 Ebda. 1451b20ff. erw ¨ ahnt Aristoteles als Beispiel eines erfundenen St ¨ uckes eine Trag ¨ odie Antheus des Agathon (2. H ¨ alfte des 5. Jhs. v. Chr.). ”In diesem St ¨ uck sind n ¨ amlich die Namen in derselben Weise frei erfunden wie die Geschehnisse, und es bereitet gleichwohl Vergn ¨ ugen.“ 106 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at Das dichterisch Relevante bei der Mimesis, also das, was eine Nachahmung zur Kunst erhebt, ist der ¨ Uberschritt von der Reproduktion des Faktischen in die Darstellung des je M ¨ oglichen. Aufgabe des Dichters ist es nach dem Einleitungssatz des Kapitels 9, ein Handeln so zu vergegenw ¨ artigen, wie es nach der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit bei einem Menschen eines bestimmten Charakters sein muß und m ¨ oglich ist. 25 In einer Perspektive, die ¨ uber die Handlung hinaus das in ihr selbst und im Charakter des Handelnden liegende M ¨ ogliche in den Blick nimmt, kommt der dichterischen Darstellung eine Erkenntnisfunktion zu. Wie Aristoteles in 1451b6ff. erl ¨ auternd fortf ¨ ahrt, stellt die Dichtung im einzelnen Handeln immer auch etwas Allgemeines dar, denn das nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit M ¨ ogliche ist Teil des Allgemeinen. Das Allgemeine, das die Dichtung sichtbar macht bzw. sichtbar machen soll, besteht nach Aristoteles darin, ”daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit bestimmte Dinge sagt oder tut“. 26 Dichtung f ¨ ordert und formuliert somit Erkenntnisse ¨ uber das menschliche Handeln. W ¨ ahrend sich die Historiographen darauf beschr ¨ anken zu schildern, was geschehen ist, m ¨ ussen die Dichter, wollen sie Werke der Kunst schaffen, stets von der Wiedergabe des Einzelfalls zur Erkenntnis ¨ uber die charakterliche Handlungsmotivation, das Handlungsverm ¨ ogen und die Handlungsentscheidung des Menschen und deren Darstellung fortschreiten. Von daher spricht Aristoteles der Dichtung eine gewisse philosophische Qualit ¨ at zu: ”Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als die Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“ 27 Ihr volles Gewicht erh ¨ alt diese Bewertung, wenn man sie mit Grundgedanken der Aristotelischen Metaphysik verbindet. Demnach existiert substantiell nur das Einzelne (als ο; σ α , ’Selbst ¨ andiges, Wirklichkeit‘ ), das Allgemeine ( τ= καθO Zλου ) ist ihm jedoch immanent ( (νυπ ρχων , ’darin enthalten seiend‘ ); der Wissenschaft, d. h. der Philosophie, geht es nicht um das Einzelne als solches, vielmehr ist sie auf das Allgemeine, Prinzipielle aus. U. H ¨ olscher 1990: 222 beschließt Ausf ¨ uhrungen zur Wahrheitsfrage und zum Problem der Fiktionalit ¨ at bei Aristoteles mit der Konklusion: ”Von nun an darf Dichtung Geschichten erz ¨ ahlen“. Womit wohl gesagt sein soll, daß Aristoteles den Weg f ¨ ur die dichterische Verarbeitung rein erfundener Sujets theoretisch geebnet h ¨ atte. F ¨ ur die Langzeitwirkung seiner Lehre trifft die Schlußfolgerung im großen und ganzen zu, nicht aber f ¨ ur die tonangebende Lehre der hellenistischr ¨ omischen Epoche, erst recht nicht f ¨ ur die Intention, die Aristoteles selbst mit 25 Zu beachten ist hierzu die ausf ¨ uhrliche und erhellende Interpretation der Stelle von A. Schmitt: Aristoteles, Poetik (2008), 377-388. 26 Ebda. 1451b8f. 27 Ebda. 1451b5ff. Legitimierung der Fiktionalit¨ at in hellenistisch-r¨ omischen Theorien 107 seiner allein auf das menschliche Handeln ausgerichteten Lehre vom Verh ¨ altnis eines Aktes zu seiner Darstellung im Sinn hatte. H ¨ olschers Auslegung ist als Beispiel einer verbreiteten Interpretationstendenz zu sehen, die in Aristoteles’ Erweiterung der Handlungsdarstellung auf das M ¨ ogliche bereits eine Legitimierung der Fiktion ¨ uberhaupt erkennen m ¨ ochte. Es ist zwar richtig, daß Aristoteles die Erfindung von Handlungen nicht nur billigt, sondern ausdr ¨ ucklich gutheißt, doch ist diese Erfindung noch dem Ziel untergeordnet, daß mit ihr - wie mit einem geeigneten Mythenstoff - charakterbestimmtes Handeln gut, d. h. durch k ¨ unstlerisch richtiges Vorgehen zur Anschauung gebracht werden kann. 28 Einen Freibrief f ¨ ur beliebiges Erfinden hat Aristoteles in der Poetik nicht ausgestellt. 5.3 Legitimierung der Fiktionalit ¨ at in hellenistisch-r ¨ omischen Theorien der Dichtungsstoffe Weil die Poetik des Aristoteles in der hellenistisch-r ¨ omischen Epoche nur wenigen bekannt wurde, setzte sich die Diskussion des Wahrheits- und Wirklichkeitsfrage der Dichtung zun ¨ achst im alten Stil fort, schließlich aber griffen Vertreter der jungen Fachwissenschaften, besonders der Geschichtsschreibung, der Ethnologie und der Geographie, in sie ein, um am bevorzugten Studienobjekt Homer darzulegen, daß die dichterische Gestaltung eines Gegenstandes im Gegensatz zur fachlichen Darstellung aus einer Mischung von Wahrheit und produktspezifischer Unwahrheit besteht. Man rechtfertigte das Mixtum compositum, das die Dichtung bietet, mit der entschuldbar mangelhaften Sach- und Detailkenntnis des Autors, aber auch immer bereitwilliger mit dem Zugest ¨ andnis, daß er f ¨ ur seine Zwecke Fakten und herk ¨ ommliche Erz ¨ ahlstoffe in Maßen ver ¨ andern, Szenarien ausbauen und das Ganze mit Erfundenem anreichern d ¨ urfe. Auf dieser Konzession beruht der Freibrief der sog. ’poetischen Lizenz‘ (gr. (Aουσ α ποιητικ , lat. licentia poetarum, licentia poetica), schließlich auch die zunehmende Anerkennung der Fiktionalit ¨ at als distinktives Merkmal von Dichtung. Wie seinerzeit Aristoteles, kontrastierte auf solchem Hintergrund der um 200 v. Chr. geborene Historiker und Geograph Agatharchides den Dichter mit dem faktengebundenen Geschichtsschreiber, um einzur ¨ aumen, daß bei jenem wegen des Ziels, die Seelen der Menschen zu beeinflussen ( ψυχαγωγ α , ’Psychagogie‘ ), auch die Unwahrheit hinzunehmen sei. 29 Auch der bedeutendste Historiker der hellenistischen Epoche, Polybios (vor 199-um 120 v. Chr.), hat aus dem Blick- 28 Im 14. Kapitel, 1453b25f., weist Aristoteles den Dichter an, beim Erfinden eines Stoffes wie beim R ¨ uckgriffauf ¨ Uberliefertes ’sch ¨ on‘ , ’gut‘ , ’richtig‘ ( καλ: ς ) vorzugehen. Auch da steht der Darstellungszweck im Vordergrund; die Herkunft des Stoffes ist ohne Bedeutung. 29 Geographi Graeci Minores, ed. C. M ¨ uller, I, 117. Meijering 1987: 10. 108 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at winkel der Homerischen Epen heraus zur Frage des dichterischen Spielraums Stellung genommen. Unzutreffende Angaben hat Polybios mit funktionell unzureichender Information oder mit einem inzwischen eingetretenen Wandel der Verh ¨ altnisse gerechtfertigt, zudem die Befugnis des Dichters betont, Fakten ( Lστορ α ), Darstellung ( δι θεσις ) und Fabel ( μCθος ) zu mischen, um drei Ziele zu erreichen: Informationsvermittlung, Wirkkraft, Vergn ¨ ugen sowie Staunen auf Seiten der Rezipienten. 30 Die Meinung des Polybios war im wesentlichen auch die Strabons (64/ 63 v. Chr.-ca. 24 n. Chr.), freilich mit noch st ¨ arkerer Betonung des didaktischen Zwecks des Nebeneinanders von Fakten, Fabeln und Fiktion, und vor allem einem Pl ¨ adoyer f ¨ ur die Freiheit des Dichters, Falsches und Erfundenes mit Faktischem komponieren zu d ¨ urfen, wenn es damit gelingt, auf das Publikum positiv einzuwirken. Dabei hat Strabon sogar die Kindererziehung und die Bilderungsf ¨ orderung einfacher Gem ¨ uter im Auge. 31 Das offenkundige Bem ¨ uhen, den obligaten Realit ¨ atsbezug der Dichtung dadurch abzusichern, daß man fiktive Komponenten zuließ, ja guthieß, weil es schien, daß damit w ¨ unschenswerte Wirkungen auf Zuh ¨ orer, Leser oder Zuschauer zu erreichen waren, ist zum Teil als Antwort auf epikureische Str ¨ omungen zu verstehen, die der Poesie jeden praktischen Wert absprachen. Schon Eratosthenes von Kyrene (ca. 284-ca. 202 v. Chr.), Philologe und Bibliothekar in Alexandreia, war auf Grund von Homers Odyssee zu dem Schluß gekommen, daß der Dichter volle Freiheit habe, Stoffe, Personen und Handlungen zu erfinden, zumal da die Poesie keinem anderen Zweck zu dienen habe als der Unterhaltung. 32 Bei diesem Ziel ist eine Bindung an Wahrheit und Wirklichkeit ¨ uberhaupt nicht gefordert. Die divergierenden Auffassungen zum Verh ¨ altnis der Faktizit ¨ at zur Fiktionalit ¨ at haben schließlich den Anstoß gegeben, das stoffliche Material der Dichtung auf seine Komponenten hin zu pr ¨ ufen. Der Grammatiker Asklepiades von Myrleia (2./ 1. Jh. v. Chr.) nahm eine Einteilung der Stoffe in drei Kategorien vor, die als Lehre von den narrationum genera, den m ¨ oglichen Erz ¨ ahlarten innerhalb eines Rednervortrags, im Sp ¨ athellenismus und dann namentlich in Rom in der Rhetorik nahezu kanonische Geltung erlangt hat. Im Bestreben, ’Plasmata‘ und ’Mythen‘ klar zu trennen, unterschied Asklepiades ’wahre‘ , ’unwahre‘ und ’halbwahre‘ Erz ¨ ahlstoffe. Die ’wahren‘ fallen ihm zufolge in den Zust ¨ andigkeitsbereich der Historiographie und der sonstigen Wissenschaft, die ’unwahren‘ und ’halbwahren‘ dagegen in den der Dichtung. ’Halbwahr‘ ( 1ς ληθ@ ) sind nach seiner Systematik die ’Plasmata‘ ( πλ σματα ), die zwar nicht Geschehenes, aber dem Geschehenen ¨ Ahnliches zum Gegenstand haben. ’Unwahr‘ , ’falsch‘ ( ψε<δη ) zu sein, gilt f ¨ ur die Mythenstoffe, denn sie beziehen sich weder auf Geschehenes noch auf Glaubhaftes. 33 30 Polybios 2, 56, 11f. 31 Strabon, Geographica, 1, 2, 9. 32 I A4 Berger; Strabon, Geographica 1, 2, 3. 33 Nach Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos 212, 225, 236. Zu der Unterscheidung Legitimierung der Fiktionalit¨ at in hellenistisch-r¨ omischen Theorien 109 In der r ¨ omischen Rhetorik (Rhet. Her., Cicero, Quintilian) kehrt die stoffliche Differenzierung in der Unterscheidung von drei Arten des - eigentlich literarischen - Erz ¨ ahlmaterials wieder, die dem Redner neben den Stoffen der Tatsachenschilderung sowie des Exempel-Exkurses zum Ausbau des Vortrags zu Gebote stehen. In der von Cicero (De inventione 1, 19, 27) und der etwa gleichzeitigen Rhetorica ad Herennium (1, 1, 13) fixierten Reihenfolge umfaßt die erstgenannte Art, die fabula, dem desakralisierten Begriffdes ’Mythos‘ entsprechend, Material, das weder wahr noch dem Wahren ¨ ahnlich ist (Cicero: nec verae nec veri similes res). Die zweite Art, historia, hat wirkliches, vergangenes Geschehen zum Inhalt (Cicero: gesta res, ab aetatis nostrae memoria remota). Die dritte, argumentum, ist die des Erfundenen, Fiktiven, das h ¨ atte geschehen k ¨ onnen (Cicero: ficta res, quae tamen fieri potuit), nach anderen Auslegungen der Lehre, ’wahrscheinlich‘ (veri similis), ’m ¨ oglich‘ (possibilis) oder ’glaubhaft‘ (credibilis) gewesen w ¨ are. Wenn Quintilian die Stoffkreise nach dem Grad ihres Realit ¨ atsgehaltes ordnen wird (Institutio oratoria 2, 4, 2: fabula - argumentum - historia), steckt darin keine Herabstufung der Fiktion, im Gegenteil: Im Kapitel ¨ uber die ’Erz ¨ ahlung‘ bef ¨ urwortet er unter Hinweis auf Ciceros Technik den Griffzur ficta narratio, weil Erfundenes die Richter aufstacheln und auflockern k ¨ onne und im Exkurs bisweilen eine sch ¨ one Wirkung entfalte (4, 2, 24). 34 Die Einteilung der Erz ¨ ahlstoffe nach dem Grad des Realit ¨ atsgehaltes lieferte nebenher eine Grundlage f ¨ ur die Unterscheidung literarischer Gattungen: Der fabula wird ¨ ubereinstimmend die Trag ¨ odie zugeordnet, dem argumentum die Kom ¨ odie, der historia die Geschichtsdarstellung, f ¨ ur die Cicero auf das Beispiel der Annales des Ennius verweist. 35 Quintilian hat dar ¨ uberhinaus der fabula die ’carmina‘ zugedacht, also die epische und lyrische Dichtung, die bis dahin bei der Stoffzuordnung ¨ ubergangen war. Die sowohl die Rhetorik wie auch die Literatur betreffende Klassifizierung des Asklepiades G. M. Rispoli, Lo spazio del verisimile. Il racconto, la storia e il mito, Napoli 1988, 170-204. 34 Gegen Ende des 2. Jh. n. Chr. wiederholt Sextus Empiricus (Adversus Mathematicos 1, 263) die Trias in der peripatetischen Ordnung: Lστορ α, μCθος, πλ σμα . In einem Artikel ’Fiktionalit ¨ at und L ¨ uge‘ (Poetica 28 (1996), 257-274) hat M. Hose die in summarischer Sicht richtige These entwickelt, daß im Griechischen die Alternative Wahrheit - L ¨ uge bestimmend gewesen sei, bei den r ¨ omischen Theoretikern dagegen in Anlehnung an die Rhetorik die Unterscheidung von drei Graden des Verh ¨ altnisses eines Gegenstandes zur Realit ¨ at: Wahrheit (res vera, historia) - Fiktion (res ficta, argumentum) - Fabel (res fabulosa, fabula). Aristoteles und Horaz durchbrechen aber bezeichnenderweise das jeweilige Schema. 35 Anders als die Rhet. Her. und Quintilian, die die entsprechenden Gattungsbezeichnungen einsetzen, zitiert Cicero Exzerpte, welche die literarische Verwendung umreißen sollen: Neben der f ¨ ur die historia genannten Ennius-Stelle f ¨ ur die Trag ¨ odie eine Passage aus Pacuv. trag. 36 und f ¨ ur die Kom ¨ odie Ter. Andr. 51. Sein Interesse gilt hier nicht literarischen Abgrenzungen, sondern den rhetorischen Verwendungsweisen der Erz ¨ ahlarten. 110 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at der Erz ¨ ahlstoffe war f ¨ ur die Fortentwicklung des Literaturbegriffs von prinzipieller und weitreichender Bedeutung, mochte sie auch haupts ¨ achlich nur auf traditionelle Formen der Textproduktion - Trag ¨ odie, Kom ¨ odie, Epos, Historiographie - ausgerichtet sein. Denn hier wurde festgehalten, daß der Bezug auf eine faktisch verb ¨ urgte Wahrheit im strengen Sinn nur noch in der historiographischen Darstellungsform gefordert werden konnte, das heißt, f ¨ ur das Schrifttum wissenschaftlich-fachlicher Natur außerhalb der Dichtung. Die Dichtung selbst wurde ganz aus der verpflichtenden Bindung an faktische Realit ¨ at gel ¨ ost; ob fabula oder argumentum, ihre Sujets mußten fortan nur noch insofern ’wirklich‘ oder ’wahr‘ sein, als sie der Auflage der Wahrscheinlichkeit, M ¨ oglichkeit, Glaubw ¨ urdigkeit zu gen ¨ ugen hatten. Bis an diese Schranke durfte jetzt in der Dichtung die Erfindung Raum greifen, mit der Folge, daß sie das Wirkliche bald zu ¨ uberlagern begann und die Fiktionalit ¨ at daher als ein Wesensmerkmal der Dichtung betrachtet werden konnte. Es war gewiß kein Zufall, daß sich parallel zur fortschreitenden Sanktionierung der Fiktionalit ¨ at die neue Gattung des Romans herausbildete. Wegen der d ¨ urftigen ¨ Uberlieferung der Anf ¨ ange eines nichtkanonischen Genres, das vorzugsweise der Unterhaltung eines intellektuell anspruchslosen Publikums diente, liegen die Urspr ¨ unge zwar im Dunkel, doch st ¨ utzen die fr ¨ uhen Zeugnisse, namentlich das erste vollst ¨ andig erhaltene Werk, die Liebesgeschichte von Chaireas und Kallirho¨ e des Chariton von Aphrodisias aus dem 1. Jh. n. Chr. die Annahme, daß die Ausformung der literarischen Neuheit noch im 1. vorchristlichen Jahrhundert begann. Die Frage, welche Quellen narrativer Darstellung in ihr zusammengeflossen sind, ist vielschichtig zu beantworten, unterschiedlich auch je nachdem, auf welchen Romantypus sie zielt. 36 Was die heutige Literaturwissenschaft an Erz ¨ ahlformen unter dem Begriffdes ’Romans‘ vereint, hat diesen Namen erst im Hochmittelalter bekommen. 37 Im Griechischen behalf man sich haupts ¨ achlich 36 Auf die Quellen- und Entstehungsproblematik, die heute nicht mehr im Vordergrund des Forschungsinteresses steht, gehen res ¨ umierend die letzten Studien zur Gattung von N. Holzberg (2006: 40ff.) und M. Fusillo / H. Hofmann (Artikel ’Roman‘ , in: DNP 10 (2001): 1108ff.) ein. Die genannten Arbeiten informieren grundlegend ¨ uber den antiken Roman und den Diskussionsstand. U. H ¨ olscher (1990: 222-234) zieht in seinem Odysee-Buch die Verbindungslinien zwischen dem Roman und dem Epos kr ¨ aftig aus bis zur ”Begr ¨ undung der Fiktionalit ¨ at der Gattung durch ihren Archegeten Odysseus“ (234). Licht wird hier auf Vorelemente des Liebes- und Abenteuerromans gelenkt; die anderen Romantypen kann H ¨ olscher nicht mit seiner Grundthese von der Literarisierung uralter M ¨ archenstoffe in der Epik in Verbindung bringen. 37 ’Roman‘ geht zur ¨ uck auf das Altfranz ¨ osische des 12. Jhs., wo li romanz (Rectus) / le roman(t) (Obliquus) einen beliebigen Text in Romanisch in Opposition zum Lateinischen (latins/ latin) bezeichnete. Da vom 12. Jh. ab lateinische historische und erz ¨ ahlende Werke in großer Zahl ¨ ubersetzt wurden, entwickelte sich romanz/ roman(t) ¨ uber ’Version eines historischen oder erz ¨ ahlenden Textes‘ zur Allgemeinbezeichnung f ¨ ur ’l ¨ angere Das Horazische Gebot der Glaubw ¨ urdigkeit 111 mit den Bezeichnungen δρ5μα (Drama) und κωμω δ α (Kom ¨ odie), r ¨ uckte also die Erz ¨ ahlform in die N ¨ ahe der Handlungsdarstellungen von B ¨ uhnenwerken. Rom hingegen bevorzugte die Termini fabula und argumentum, die die Verbindung der Gattung mit der Aufwertung des fiktionalen Erz ¨ ahlguts belegen. 5.4 Das Horazische Gebot der Glaubw ¨ urdigkeit Im Prozeß der dichtungstheoretischen Anerkennung der Fiktionalit ¨ at erscheint uns nach alledem Horaz’ Ars poetica (14 v. Chr. ver ¨ offentlicht) als ein Werk der retardierenden R ¨ uckbesinnung auf Aristotelische Standpunkte. Verwunderlich ist die R ¨ uckw ¨ artswende nicht, gab doch Horaz f ¨ ur die Dichtung der R ¨ omer die Losung aus: ”Nehmt euch zu Mustern die Griechen, nehmt sie zu jeder Zeit zur Hand, bei Tag und bei Nacht.“ 38 Dabei ist an die altgriechische Dichtung gedacht, und dementsprechend zeigt sich Horaz beflissen, das Verh ¨ altnis von Wirklichkeitswiedergabe und Fiktion f ¨ ur die r ¨ omische Dichtung im Blick auf die griechische Tradition zu justieren. Angeschlagen wird das Thema bezeichnenderweise gleich in den Anfangsversen der Ars poetica, im Vergleich eines grotesken Tierbildes mit einem aus inkongruenten Elementen zusammengest ¨ uckelten Gedicht. So wie die bildliche Darstellung eines aus Teilen von Mensch, Pferd, Vogel und Fisch bestehenden Fabelwesens beim Betrachter ein ablehnendes Lachen ausl ¨ ost, so ist ein Dichtwerk zu mißbilligen, dessen Gehalte unglaubhaft und ein Produkt der Phantasie sind, Fiebertr ¨ aume eines Kranken, sich also nicht zur Einheit f ¨ ugen. Beiseite schiebt Horaz den Einwand, daß es Malern und Dichtern immer schon gestattet gewesen w ¨ are, das denkbar K ¨ uhnste zu wagen (v. 9f.). Dem Argument der k ¨ unstlerischen (poetischen) Lizenz setzt er das h ¨ oherwertige Gebot der Einartigkeit und Einheit des Ganzen entgegen (v. 23: denique sit quod vis, simplex dumtaxat et unum). Dieses Gebot versagt dem K ¨ unstler die Freiheit - wie Horaz in Fortsetzung des Bildvergleichs klarstellt -, ”Zahmes mit Wildem zu gesellen, Schlangen mit V ¨ ogeln zu paaren und L ¨ ammer mit Tigern“ (v. 12f.). Das rechte Erfinden wie auch die Kunst, Erfundenes und Wahres zu großer Dichtung zu einen, habe niemand besser gelehrt als Homer. Bei solchem Interesse am Realit ¨ atsproblem der Dichtung mag verwundern, daß Horaz nicht auf die hellenistisch-r ¨ omische Dreiteilung der literarischen Stoffe zur ¨ uckgekommen ist. Das Vokabular der Ars poetica verr ¨ at, daß er sie kannte. Erz ¨ ahlung in Franz ¨ osisch‘ und schließlich zu roman ’Roman‘ . Im Deutschen datiert die Entlehnung aus dem Franz ¨ osischen seit dem 17. Jh., im Italienischen hat sie romanzo ergeben. Engl. novel und span. novela geh ¨ oren - ebenso wie d. Novelle - zu dem aus dem Italienischen stammenden novella, eigentlich ’Kurzerz ¨ ahlung einer interessanten Begebenheit‘ (hervorgegangen aus sp ¨ atlat. novella n.pl. ’ganz Neues‘ ). 38 Horaz, Ars poetica 268f.: vos exemplaria Graeca / nocturna versate manu, versate diurna. 112 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at Doch er propagierte eine Zweiteilung, welche die Unterscheidung zwischen der Kategorie des argumentum (gr. πλ σμα ) und der Kategorie der fabula (gr. μCθος ) aufhob, indem sie die Stoffe der Dichtung in das Gegensatzpaar der vera und der non vera kleidete. Referentiell umfassen die vera Stoffe aus der Welt der Realit ¨ at, die non vera dagegen alles Fiktive. 39 Da Horaz dem Dichter von Anfang an einsch ¨ arft, daß Erfindungen (non vera) dem Gebot der Wahrscheinlichkeit und Glaubw ¨ urdigkeit gen ¨ ugen m ¨ ussen, wird sofort klar, worauf das bin ¨ are Prinzip zur ¨ uckweist: Auf Aristoteles’ Lehre, Gegenstand der Dichtung sei die Mimesis des Handelns, und zwar die Darstellung des Wirklichen wie auch die des M ¨ oglichen. Die zunehmende Bedeutung der Fiktion, schließlich deren Sanktionierung als eigene Stoffkategorie, hat Horaz bewogen, den von Aristoteles vorgegebenen Dualismus von Faktizit ¨ at und Potenzialit ¨ at des Handelns zur kategoriellen Unterscheidung von stofflicher Wirklichkeitsbindung und stofflicher Erfindung zu vertiefen. Horaz’ Lehre ¨ uber die Stoffe der Dichtung geht von der Anweisung aus, entweder der ¨ Uberlieferung zu folgen oder zu erfinden (v. 119f.: aut famam sequere aut sibi convenientia finge / scriptor). Das eine wie das andere verlangt umsichtige Verfahrensweise. Tradiertes Material darf inhaltlich nicht so ver ¨ andert werden, daß Epen- und Dramengestalten - wie Achilleus, Medea, Orest - in Handlung und Pers ¨ onlichkeitsbild mit der etablierten Vorstellung nicht mehr vereinbar sind. Hier erneuert Horaz eine Richtlinie des Aristoteles, wonach der Dichter zwar Neues wagen soll, aber die ¨ uberkommenen Mythen in ihrem Kern nicht ab ¨ andern kann. 40 Festzuschreiben, wie mit Erfindungen zu verfahren ist, muß Horaz ein vorrangiges Anliegen gewesen sein, da er bei mehreren Gelegenheiten Pr ¨ azisierungen vornimmt. Obenan steht f ¨ ur ihn das Gebot der Wahrscheinlichkeit. Erfundenes muß dem Wirklichen so nahekommen, daß es den Anschein erweckt, selbst wirklich zu sein; nur unter dieser Voraussetzung verschafft ein poetisches Werk neben dem Nutzen (prodesse) auch Vergn ¨ ugen (delectare). Die Lehre wird in v. 338 in die Weisung gegossen: ficta voluptatis causa sint proxima veris (”Erfundenes muß, 39 Vera und Non vera sind hier als Sammelbezeichnungen gesetzt f ¨ ur eine wechselnde Terminologie. Im einzelnen stellt Horaz einander gegen ¨ uber vera - falsa (151), vera - ficta (338), famam sequi - fingere (119). 40 Aristoteles, Poetik 1453b2-26. Der griechische Text ist nicht eindeutig, weil 8υκ "στιν bedeuten kann: ”es ist nicht der Fall“, ”es ist nicht m ¨ oglich“, ”man darf (soll) nicht“. Im Gegensatz zu Fuhrmann 1994: ”Es ist nun nicht gestattet, die ¨ uberlieferten Geschichten zu ver ¨ andern“ versteht Schmitt: Aristoteles, Poetik (2008: 525ff.) den Satz als Feststellung: ”Die ¨ uberlieferten Geschichten kann man nicht ¨ andern. . .“. Nach dieser - plausibel begr ¨ undeten - Interpretation hatte Aristoteles nur betonen wollen, daß es schwer ist, die bekannten Mythenstoffe inhaltlich akzeptabel zu etwas Neuem umzuformen. Das Horazische Gebot der Glaubw ¨ urdigkeit 113 wenn es Vergn ¨ ugen bereiten soll, der Wahrheit sehr nahe kommen.“). Wie um die Geltung seiner Regel zu bekr ¨ aftigen, schiebt Horaz erl ¨ auternd nach, daß eben nicht jeder beliebige Einfall Glauben verlangen kann. Wie man sieht, setzt Horaz hier bei der Stoffwahl der Phantasie des Dichters enge Grenzen. Zu bewerten bleibt dabei ja auch, daß die Teilung der Stoffe in zwei Kategorien, in das ”Wahre“ und das ”Nichtwahre“, von vornherein das Feld der Fiktion eingeengt hat. Denn die fabula, in der hellenistisch-r ¨ omischen Erz ¨ ahltheorie Residuum des Mythos, folglich weder wahr noch wahrscheinlich oder glaubw ¨ urdig, fiel nun unter die ficta und verlangte in jedem Einzelfall die Pr ¨ ufung, ob die geforderte Glaubw ¨ urdigkeit gegeben war. Ein lehrreiches Beispiel, wie unglaubhaft und daher unverwertbar alte Geschichten sein konnten, liefert Horaz selbst mit dem Hinweis auf die kinderfressende Lamia, der man, fing man sie, die Kleinen wieder unversehrt aus dem Bauch holen konnte, wie es die ¨ Uberlieferung wollte. ”Nicht f ¨ ur jeden Einfall darf die Erfindung Glauben verlangen“ (ne quodcumque volet poscat sibi fabula credi), lautete hierzu das Urteil des strengen Kunstrichters (v. 339). Also war auf viele Stoffe zu verzichten, wenn man das Wahrscheinlichkeitsgebot so starr auslegte, wie Horaz es formuliert hatte. Die Lehre, die Horaz hier ausgab, ging auf eine weite Auslegung Aristotelischer Grunds ¨ atze zur ¨ uck, lief aber ganz und gar auf eine Regelversch ¨ arfung hinaus. Aristoteles hatte die Wahrscheinlichkeit als eine Instanz subjektiver Einsch ¨ atzung mit den objektiven Kriterien der M ¨ oglichkeit bzw. der Unm ¨ oglichkeit in Beziehung gesetzt, um klarzustellen, daß es zwischen den Bereichen keine Gleichgerichtetheit gibt. Obschon es so scheint, daß das M ¨ ogliche auch glaubw ¨ urdig ist (Poetik 1451b15), zieht Aristoteles neben diesem Regelfall auch in Betracht, daß M ¨ ogliches unwahrscheinlich, also unglaubw ¨ urdig sein kann und Unm ¨ ogliches wahrscheinlich und glaubw ¨ urdig. Wie soll sich der Dichter bei Stoffen derartiger Divergenz verhalten? Poetik 1460a20 weist ihn an: ”Das Unm ¨ ogliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem M ¨ oglichen, das unglaubw ¨ urdig ist.“ Zur Bekr ¨ aftigung hat Aristoteles die Verfahrensregel fast wortgleich im n ¨ achsten Kapitel (25) der Poetik wiederholt (1461b9ff.). 41 Dem Wahrscheinlichen und Glaubw ¨ urdigen geb ¨ uhrt nach Aristoteles also der Vorrang, aber der Philosoph erkennt auch, daß die gewichtigen Gr ¨ unde, die bei einem Urteil der Wahrscheinlichkeit f ¨ ur deren Wahrheit sprechen, das Gegenteil nicht ausschließen; es geht letzten Endes um ein subjektives Abw ¨ agen mit dem Risiko, daß Sachverhalte falsch eingesch ¨ atzt werden. Auf Grund der Fehlbarkeit dieses Urteilens hat Aristoteles davon Abstand genommen, die Wahr- 41 Die Trag ¨ odiendichter ermahnt Aristoteles in ¨ ahnlicher Weise, auf die Darstellung der Charaktere und des Handlungsablaufs nach den Prinzipien der Notwendigkeit und der Wahrscheinlichkeit bedacht zu sein, ”d. h. darauf, daß es notwendig oder wahrscheinlich ist, daß eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und daß das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt“ (1454a35f.). 114 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at scheinlichkeit zum letztentscheidenden Kriterium der Stoffwahl zu erkl ¨ aren. Zweimal sch ¨ arft er sogar ein: ”Es ist ja wahrscheinlich, daß sich manches gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt“ 42 . Hieran ist ersichtlich, daß Aristoteles mit der Aufforderung, auf die Wahrscheinlichkeit bedacht zu sein, keine starre Direktive formulieren wollte, Horaz aber sie so aufnahm, d. h. zur ausnahmelosen Regel vesch ¨ arfte. Zusammen mit der Mahnung, traditionellen Stoffen den Vorzug vor neuen zu geben, bei frei Erfundenem dessen innere Stimmigkeit einzuhalten (119f.: sibi convenientia finge / scriptor), es aber auch mit dem Gedichtganzen vom Anfang bis zum Ende so zur vollkommenen Einheit zu f ¨ ugen, wie es einst Homer vermochte, hinterl ¨ aßt die Ars poetica den Eindruck, daß ihrem Autor mehr daran gelegen war, gegen das Vordringen der Fiktionalit ¨ at in der Dichtung Schranken zu errichten, als es zu f ¨ ordern. Allein diese Position stimmte ja schließlich mit der Generallinie ¨ uberein, die Dichter Roms zu den fr ¨ uhgriechischen Vorbildern zur ¨ uckzulenken. 5.5 Das Ende der Kontroverse: ”Die fruchtbare Freiheit der Dichter“ Den Durchbruch der Fiktionalit ¨ at brachte Ovid mit den Metamorphosen. Dessen großes episches Gedicht, ein Hauptwerk der europ ¨ aischen Literatur, nimmt im Prozeß der Anerkennung und Verfestigung der dichterischen Phantasie in der abendl ¨ andischen Kunstlehre einen einzigartigen Rang ein. Nur wenige Jahre nach Horaz’ Ars poetica entstanden - Datierung im allgemeinen auf 2-8 n. Chr. -, steht es einerseits dieser Programmschrift zeitlich so nahe, daß man geneigt ist, es als Antwort zu sehen, andererseits trennen es von Vergils mit dem Tode (19 v. Chr.) abgebrochener, erst posthum ver ¨ offentlichter Aeneis so wenige Jahre, daß auch an eine ”Antithese“ zur dort ausgebreiteten r ¨ omischen Staatsmythologie zu denken ist. 43 Schon gattungstypologisch sprengt die nach dem Vorbild hellenistischer Kollektivgedichte angelegte Erz ¨ ahlung von etwa 250 Verwandlungsgeschichten, vorwiegend aus dem griechischen Mythen- und Sagenfundus, den f ¨ ur das Lateinische ¨ ublichen Rahmen. Im strikten Sinn bilden die Metamorphosen mit etwa 15000 Hexameterversen, die der Autor als carmen perpetuum (met. 1, 4) bezeichnete, formal gesehen ein Epos, doch widersetzt sich der Stoffnach traditionellen 42 Poetik 1461b15. Fast wortgleich schon 1456a24f. 43 In seiner umfassenden Interpretation der Metamorphosen erkennt M. v. Albrecht im Werk Ovids eine ”private Antithese zu der politischen Welt der Aeneis“, auch in der Form der epischen Darstellung eine ”Alternative“ zu ihr (M. v. Albrecht, Das Buch der Verwandlungen, Darmstadt 2000: 279, 307). Das Ende der Kontroverse: ”Die fruchtbare Freiheit der Dichter“ 115 Maßst ¨ aben der bedenkenfreien Zuordnung. Zum allgemeinen Begriffdes Epos stimmt inhaltlich noch am ehesten die Ausfaltung des Gesamtgeschehens ¨ uber einen langen, von der Handlungser ¨ offnung bis zur fernen L ¨ osung reichenden Zeitraum: ”Vom ersten Ursprung der Welt bis herab zu meinen Zeiten“ (met. 1, 3f.), also bis zur Gegenwart, faßt Ovid die Spanne, die sein Werk bew ¨ altigt. Aber kein Gott, kein Held, keine große historische Figur wird hier besungen, schließt also eine Kette von Episoden produktions ¨ asthetisch zur thematischen Einheit, wirkungs ¨ asthetisch zu einem ’Leben‘ zusammen. Ovids Sujet ist das ’Weltr ¨ atsel‘ der Verwandlung, dem der Mensch in den ”in neue K ¨ orper ver ¨ anderten Formen“ der Natur (met. 1, 1f.), in den Wunderberichten der alten Mythen und Sagen und schließlich im k ¨ orperlichen und im seelischen Wandel der eigenen Person begegnet. Wenn die Frage nach dem ’Helden‘ des Epos eine Antwort fordert, so w ¨ are der Mensch als Individuum zu nennen, der sich bei der Erkenntnis des ”omnia mutantur, nihil interit“ (met. 15, 165) dem Walten einer unberechenbaren Macht, den unergr ¨ undlichen Kr ¨ aften der ihn umgebenden Natur und seinem wechselhaften Ich gegen ¨ uber sieht, ohne das Ph ¨ anomen zu erfassen. In ein kunstvoll verschr ¨ anktes Nach- und Miteinander gebracht, sind die Erz ¨ ahlungen eingebettet in eine evolutive Progression, die vom Chaos des Anfangs aszendent zum Kosmos, zur Welt, wie sie ist, weiterf ¨ uhrt, mit Rom und der Herrschaft des Augustus als dem τ λος der universalgeschichtlichen Entwicklung. ¨ Uber die belehrende und zugleich unterhaltsame Vermittlung des Bildungsgutes hinaus, das der Mythen- und Sagenfundus bietet, auch ¨ uber die immer mitschwingende Absicht hinaus, sich ewigen Dichterruhm zu sichern, verfolgt Ovid mit den Metamorphosen das hochgesteckte Ziel einer poetischen Weltdeutung. Er stellt diese Weltdeutung aus dichterischer Perspektive den naturwissenschaftlichen Erkl ¨ arungsversuchen der Philosophen, den historischen Argumentationen der Geschichtsschreiber und den Glaubenss ¨ atzen der Religion gegen ¨ uber, als eine Anschauungsform sui generis. Jede der von Ovid berichteten Verwandlungen erz ¨ ahlt eine Geschichte, doch deren Bedeutung liegt auf zwei Ebenen. Mikrotextuell schildert jede einzelne einen singul ¨ aren Fall von Ver ¨ anderung auf Grund der Einwirkung dieser oder jener g ¨ ottlichen Kraft. Makrostrukturell lenken die Metamorphosen den Blick vom Einzelnen, dem besonderen ’Fall‘ , auf das Allgemeine, das daran veranschaulicht werden soll: den Wandel als Existenzweise alles Seienden. Weil die Metamorphosen auf diese makrostrukturelle Bedeutung hin organisiert sind, kommt es erz ¨ ahltechnisch nicht zwingend darauf an, wie knapp oder wie breit eine Einzelerz ¨ ahlung bemessen wird und wo und in welcher Verbindung mit anderen Zeugnissen sie im Gef ¨ uge der Gesamtdarstellung ihren Platz erh ¨ alt. Ja, es ist sogar textsemantisch unerheblich, ob die eine oder andere Verwandlungsgeschichte ganz unwahrscheinlich erscheint. Da nur die Summe des Berichteten z ¨ ahlt, die 116 Vom Wirklichkeitsbezug zur Fiktionalit¨ at Stimmigkeit im Ganzen, sind sie darin wahr und glaubw ¨ urdig, daß sie in einem h ¨ oheren Sinn, in Form einer poetischen Darstellung, ein Seinsph ¨ anomen ins Bewußtsein heben. Dichterische Weltdeutung braucht sich nicht an die Welt der Erfahrung zu halten. Die Bausteine von Ovids Entwurf stammen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - auch nicht aus der Empirie oder aus historischer Zeugenschaft, sondern aus ¨ uberliefertem Erz ¨ ahlmaterial, an dessen faktischem Wahrheitsgehalt in der klassischen ¨ Ara kein vern ¨ unftig Urteilender mehr glaubte. Ovid l ¨ aßt seine Leser nicht im Zweifel, daß auch er nicht f ¨ ur bare M ¨ unze nimmt, was Mythen und Sagen ¨ uber wundersame Verwandlungen zu berichten wissen. Ebenso wenig glaubt er den fr ¨ uheren Dichtern aufs Wort, die sie weitergegeben haben; was sie mitteilen, ist ”erdichtet“ (ficta). Weit davon entfernt, Realit ¨ atsdefizite zu beanstanden oder gar eine der Wahrheit und Wirklichkeit verpflichtete Dichtkunst zu reklamieren, erhebt Ovid gerade das ’Erfinden‘ , fingere, zum Kennzeichen des dichterischen Tuns. In Ovid traf ein außergew ¨ ohnliches poetisches Talent mit einer spielerischen Lust an autoreflexiver Distanzierung vom Gesch ¨ aft des Dichtens zusammen. Die Mischung ergab, daß er den Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch f ¨ ur sein Werk heiter-ironisch selbst in Frage stellte. Er tat es in den Metamorphosen, indem er in den Erz ¨ ahlfluß an vielen Stellen metatextuelle Bemerkungen einf ¨ ugte, die dem Leser in augenzwinkender Partnerschaft signalisierten, daß er selbst nicht auf Punkt und Komma glaubte, was er zu erz ¨ ahlen habe, aber alte ¨ Uberlieferung und alter Brauch wollten, was geschehen sei, nun einmal so. . . . Aus den fr ¨ uheren Gebeinen der Mutter Erde sei einst, nach der großen Flut, ein neues Menschengeschlecht erwachsen. Ovids metatextueller Vorbehalt: ”Wer w ¨ urde das glauben, wenn nicht f ¨ ur die Kunde ihr hohes Alter zeugte? “ (met.1, 400). Aus ausgestreuten Drachenz ¨ ahnen seien im Acker wie aus einer Saat Krieger entstanden: ”Kaum zu glauben“ (met. 3, 106). Jupiter habe seinen und Semeles Sohn Bacchus im Schenkel eingen ¨ aht ausgetragen: ”So man der Kunde Glauben schenken muß“ (met. 3, 311). Skylla will einst vor der Verwandlung in eine Meeresklippe eine Jungfrau gewesen sein: Hier schl ¨ upft Ovid schalkhaft sogar in die Rolle des Kritikers, obendrein eines Welterfahrenen in Liebesdingen, der meint, vor Verf ¨ alschungen der Wahrheit in seiner Zunft warnen zu m ¨ ussen: ”Wenn nicht alles erfunden ist, was von den S ¨ angern und Dichtern uns blieb“ (met. 13, 733f.). Es ist dies eine der aufschlußreichen Stellen in den Werken Ovids, wo der schalkhafte Umgang mit dem Wahrheits- und Glaubw ¨ urdigkeitsgebot sich zu einem poetologischen Credo verdichtet: Wesensgrund der Poesie ist die Fiktion. Wie zur Best ¨ atigung seiner poetischen Welterkl ¨ arung, daß nichts untergehe, aber alles der Ver ¨ anderung unterliege, verwandelt Ovid in den Metamorphosen den funktionslos gewordenen Mythen- und Sagenschatz der Vorzeit in literari- Das Ende der Kontroverse: ”Die fruchtbare Freiheit der Dichter“ 117 sche Anschauungsformen, mit deren Hilfe er sein Seinsverst ¨ andnis nahebringt. Die Literarisierung der Mythen- und Sagenstoffe implizierte ihren ¨ Ubergang in die freie Verf ¨ ugung (licentia) des Dichters, die Ovid f ¨ ur sich und seinen Kreis reklamierte, und hierzu geh ¨ orte, gewissermaßen als Signum des Poetischen, die Freiheit, der realen Welt eine fiktive, dichterische gegen ¨ uberzustellen, in der die Phantasie zu ihrem Recht kommt. Ein unmißverst ¨ andliches Bekenntnis zur Fiktionalit ¨ at als Merkmal des Poetischen hat Ovid schon in der 12. Elegie von Buch 3 seiner Amores formuliert. Nach Versen, die spaßvoll einr ¨ aumen, daß er angesichts entt ¨ auschter Liebe viel besser daran getan h ¨ atte, statt seiner Angebeteten bew ¨ ahrte Figuren aus dem epischen Arsenal zu besingen und dabei der Phantasie keine Z ¨ ugel anzulegen, gibt er kund: ”Ins Unermeßliche schweift die fruchtbare Freiheit der Dichter / und ihre Worte sind nicht im historischen Sinn wahrheitsgetreu.“ 44 44 Ovid, Amores 3, 12, 41f.: Exit in inmensum fecunda licentia vatum, / obligat historica nec sua verba fide. 6 Qualifikationsprofile des Dichters 6.1 G ¨ ottliche Inspiration Nach fr ¨ uhgriechischer, in vorliterarische Zeit zur ¨ uckreichender Auffassung verdankt der Dichter-S ¨ anger sein K ¨ onnen g ¨ ottlicher Eingebung. Es sind die Musen (gr. ΜοCσαι , lat. Camenae, von Ennius an meistens Musae), eine bestimmte Muse oder ein Gott, die ihn inspirieren und an die der Dichter-S ¨ anger sich bei seinem Vortrag imperativ-bittend wendet, ihm beizustehen, damit das Werk gelinge. Die Homerischen Epen verschaffen dem Leser ein erstes, mannigfaltiges Bild des Verh ¨ altnisses des Dichters zur g ¨ ottlichen Macht. Ilias und Odyssee beginnen mit dem Musenanruf, dem von da an vor allem f ¨ ur die Epik verbindlichen Er ¨ offnungsritual. Mit den Worten: ”Den Zorn singe, G ¨ ottin, des Peleus-Sohns Achilleus“ richtet der Iliasdichter an die Muse die Bitte, durch seinen Mund das Geschehen um Achilleus’ Ehrverletzung und den Fortgang des Kampfes um Troia zu erz ¨ ahlen. 1 Die Odyssee beginnt in ¨ ahnlicher Weise mit dem Anruf der ”Tochter des Zeus“, sie m ¨ oge dem Dichter Namen und Schicksal des von Troia Heimkehrenden und seiner Gef ¨ ahrten einsagen, wovon er Kunde geben werde: ”Den Mann nenne mir, Muse, den vielgereisten, der gar viel umgetrieben wurde, nachdem er Troias heilige Stadt zerst ¨ orte.“ 2 Die Auftritte ”g ¨ ottlicher“ Dichter- S ¨ anger, die in der Epenerz ¨ ahlung geschildert werden, liefern sch ¨ arfere Konturen der archaischen Vorstellungen. Die Inspiration durch die Gottheit verleiht einem Dichter umfassende und im allgemeinen dauerhafte poetische F ¨ ahigkeiten: Demodokos, der S ¨ anger bei den Phaiaken in der Odyssee, hat seine dichterischen K ¨ unste in einem einmaligen Akt aus g ¨ ottlicher Quelle erhalten, doch hat er daf ¨ ur mit Blindheit zahlen m ¨ ussen. 3 Gelehrt hat ihn ”die Muse”’ (8, 67; 8, 480), letzten Endes Apollon selbst, der ’Musenanf ¨ uhrer‘ , vom Autor nur als ”der Gott“ bezeichnet (8, 44) oder namentlich genannt. Wegen des einheitlichen Wirkens von Muse(n) und Gott kann Odysseus, der von Demodokos’ Wissen ¨ uber Troia und die Irrfahrt beeindruckt ist, diesem gegen ¨ uber ausrufen: ”Demodokos! ¨ Uber die Maßen preise ich dich unter allen Sterblichen: ob dich nun die Muse, die Tochter des Zeus, gelehrt hat oder Apollon.“ 4 1 Ilias 1, 1f.: Μ@νιν #ειδε θε= Πηλη ϊ δεω Αχιλ@ος / ο; λομ νην,. . . 2 Odyssee 1, 1f.: kΑνδρα μοι "ννεπε, ΜοCσα, πολ<τροπον, aς μ λα πολλ= / πλ γχθη, (πε Τρο ης Lερ ν πτολ εθρον "περσε. . . 3 Ebda. 8, 63: τ ν περ ΜοCσO (φ λησε, δ δου δO γαθ ν τε κακ ν τεG / 8φθαλμ: ν μ ν #μερσε, δ δου δO Xδε%αν οιδ ν. 4 Ebda. 8, 487-490. 120 Qualifikationsprofile des Dichters Es handelt sich bei dem Wissenstransfer um eine Art Lehrer-Sch ¨ uler-Verh ¨ altnis, wie auch die Terminologie nahelegt ( (δ δαAε , (die Muse) ’lehrt, unterrichtet‘ ). 5 Die gesamte Faktenkenntnis, die der Dichter in Versform gebracht vermittelt, hat er nach seinerzeitigem Verßt ¨ andnis durch g ¨ ottliche Eingebung erworben, zum Teil sogar die ’Sangeswege‘ , d. h. Anlage und Verlauf seiner Darbietung. Es kommt der von ihm beanspruchten Mittlerrolle zwischen dem Allwissen der G ¨ otter und der fehlenden Kenntnis seiner Zuh ¨ orerschaft sehr entgegen, wenn er sich selbst als von Natur aus Unwissenden darstellt, der mit Hilfe einer h ¨ oheren Kraft, zu der er Zugang zu haben scheint, vortragen kann, was war, was ist und was sein wird. Es steigert das Prestige des Dichter-S ¨ angers besonders, wenn er im laufenden Text bei Details sich noch einmal an die Gottheit wendet, sie m ¨ oge ihm zur Seite stehen, ein schwieriges St ¨ uck innerhalb seines Themas zu bew ¨ altigen. So bezeichnet sich der Iliasdichter in 2, 484ff. als Unwissenden, ganz außerstande, die Vielzahl und die Namen der Danaerf ¨ ursten vor Troia zu nennen, wenn nicht die Musen ihm bei diesem Vorhaben zu Hilfe kommen: ”Sagt mir nun, Musen! die ihr die olympischen H ¨ auser habt - / Denn ihr seid G ¨ ottinnen und seid zugegen bei allem und wißt alles, / Wir aber h ¨ oren nur die Kunde und wissen gar nichts -: / Welches die F ¨ uhrer der Danaer und die Gebieter waren.“ Die Gottheit gibt dem Dichter-S ¨ anger die Gabe der Kunst, aber die Gottheit kann sie auch wieder nehmen - auch dies lehren schon die Homerischen Epen: Die Ilias berichtet in 2, 594-600, der thrakische S ¨ anger Thamyris habe in seiner Selbst ¨ ubersch ¨ atzung die Musen zum Liederwettstreit herausgefordert, den er gewinnen zu k ¨ onnen sich anmaßte, doch dem Hochmut folgte die Strafe der Musen: ”Sie aber, erz ¨ urnt, machten ihn blind, und den Gesang, den g ¨ ottlichen / Nahmen sie ihm und ließen ihn vergessen des Zitherspiels.“ Die Stelle bezeugt zudem, daß der g ¨ ottliche ’Einhauch‘ nicht nur das h ¨ ohere Wissen und die poetische Sch ¨ opferkraft vermittelt, sondern auch die F ¨ ahigkeit, zum Vortrag ein begleitendes Instrument spielen zu k ¨ onnen. Im ganzen gesehen, reicht die Inspiration von der vollst ¨ andigen Eingebung eines Werkes und seiner erfolgversprechenden Darbietung, in welcher der Dichter bloß noch Werkzeug und Sprachrohr seiner Gottheit sein will, bis zur Erf ¨ ullung einer Bitte um Aushilfe bei einzelnen Erinnerungs- und Kenntnisl ¨ ucken. Der Kreis der Inspiratoren hat sich von der anonymen ’Muse‘ und ein paar ’Musen‘ nach Hesiods erster Festlegung der Neunzahl und der Namen 6 schnell erweitert. Neben bestimmten Musen, unter ihnen vorrangig Kalliope, die Muse des Epos und der r ¨ omischen Liebesdichtung, rufen die Dichter bald auch die Obergottheiten selbst um Beistand an, am h ¨ aufigsten nat ¨ urlich den Musaget und Schirmherrn von Musik und Gesang Apollon, den eigentlichen Dichtergott. 5 Ebda. 8, 481; 8, 488. 6 Hesiod, Theogonie 60. G¨ ottliche Inspiration 121 Das Wissen und K ¨ onnen, das die Gottheit gew ¨ ahrt, bezeichnen die Dichter als Gabe, als Geschenk oder als Belehrung. 7 Seinem Werk und sich selbst sichert den h ¨ ochsten, Kritik verbietenden Rang, wer ausgibt, er habe sein poetisches Produkt unmittelbar auf Geheiß und nach Wunsch der Gottheit geschaffen. Das Motiv begegnet bei Hesiod (um 700 v. Chr.), der erkl ¨ art, ihm h ¨ atten die Musen geboten, das Geschlecht der G ¨ otter zu besingen, d. h. die Theogonie zu dichten. 8 In der r ¨ omischen Dichtung beruft sich Ovid gern auf g ¨ ottlichen Befehl, die Liebeskunst zu lehren; die Ars amatoria ist sozusagen Auftragsarbeit nach dem Wunsch der Venus. 9 Die Umkehrung des g ¨ ottlichen Gebots, das Verbot, ist ein in der r ¨ omischen Klassik ausgekl ¨ ugelter Ablehnungstrick, mit dem der von einem M ¨ achtigen um Verse angegangene Dichter sich den R ¨ ucken freih ¨ alt. Vergil greift zu ihm, weil er nicht geneigt ist, wie erwartet die Kriegstaten des Aemilius Varus in einem Epos zu feiern; er m ¨ ochte lieber bukolische Gedichte schreiben. Und so bringt er in der sechsten Ekloge vor, Apollon selbst habe ihn am Ohr gezupft, als er von K ¨ onigen und Schlachten sang, und ihm mißbilligend auferlegt, er solle in der Person eines Hirten entsprechend einfache Gedichte verfassen. 10 Horaz findet in dem Verbotsmotiv ein willkommenes Argument, sich der ihm l ¨ astigen Zumutung zu entziehen, er m ¨ usse einen epischen Lobpreis auf die kriegerischen Taten des Augustus verfassen. Seine poetischen F ¨ ahigkeiten reichten nicht aus, die ¨ uberragenden milit ¨ arischen Leistungen des Princeps angemessen zu feiern, deshalb, so redet er sich heraus, h ¨ atten die Musen und Apollon ihm ”verboten“, das Thema zu behandeln. 11 Bei Properz und Ovid besorgt es Amor, daß die Dichter gemahnt werden, sich auf die Liebespoesie zu beschr ¨ anken. Die Dichter selbst sind dadurch exkulpiert; eventueller Kritik ihrer Werke ist auch vorgebeugt. 7 Daf ¨ ur ein fr ¨ uhes Zeugnis bei Archilochos, der in Frg. 1 wissen l ¨ aßt, daß er der reizenden ”Gabe der Musen verst ¨ andig“ sei: εHμ δO (γl θερ πων μ ν Ενυαλ οιο #νακτος κα Μους< ω>ν (ρατ ν δ: ρον (πιστ μενος. Vom ”Geschenk“ der Musen spricht als einer der ersten Solon in Frg. 13, 51 West: #λλος Ολυμπι δων Μους< ω>ν π ρα δ: ρα διδαχθε ς. Gemeint ist damit die Dichtung ¨ uberhaupt. 8 Hesiod, Theogonie 33. 9 Ovid, Ars amatoria 1, 7: Me Venus artificem tenero praefecit Amori. Nach 3, 43f. ist die Venus sogar vor dem Dichter selbst erschienen, um ihm die Lehre der Liebeskunst aufzutragen: sed me Cytherea docere iussit / et ante oculos constitit ipsa meos. 10 Vergil, Eclogae 6, 3-5: cum canerem reges et proelia, Cynthius aurem / uellit et admonuit: ’pastorem, Tityre, pinguis / pascere oportet ouis, deductum dicere carmen.‘ In einer vergleichbaren Situation und mit fast gleichen Worten des Dichtergottes hatte schon Kallimachos sich von einer Weisung Apollons betroffen erkl ¨ art (W. Wimmel, Kallimachos in Rom, 1960, 134ff.). 11 G ¨ ottliches Verbot, sich an die Epen zu wagen, f ¨ uhrt Horaz an in Carmina 1, 6, 9-12 und 4, 15, 1-4. 122 Qualifikationsprofile des Dichters An den Dichtungen Pindars l ¨ aßt sich am besten beobachten, wie die Lehre vom g ¨ ottlichen Beistand sich ausgeweitet hat zu einer Lehre der g ¨ ottlichen Ergriffenheit des Dichters. Der tief religi ¨ os veranlagte Pindar f ¨ uhlt sich auf das engste verbunden mit den Musen, den Chariten, Apollon und Zeus, die ihm, dem Gotterf ¨ ullten, die Gabe der Poesie geschenkt haben und durch ihn so sehr selbst sprechen, daß er seine Werke nicht als eigene Sch ¨ opfungen, sondern als Kunst der Musen und der Chariten bezeichnet. Weil die Gottheit in diese Poesie eingegangen sei, glaubt er sicher zu wissen, daß sie unsterblich sein werde. Auffassungen solcher Art, die den Dichter als einen in seinem ganzen Wesen von der Gottheit Ergriffenen, Begnadeten und Begeisterten verstanden, haben um das 5. Jh. v. Chr. die sog. Enthusiasmustheorie begr ¨ undet. Faßbar wird sie uns in den Fragmenten Demokrits, der die erste poetologische W ¨ urdigung g ¨ ottlicher Einwirkung mit einem ¨ asthetischen Urteil verkn ¨ upfte: ”Was immer ein Dichter von g ¨ ottlicher Begeisterung und heiligem Anhauch getrieben schreibt, das wird sicherlich sch ¨ on“ 12 . Nach einem weiteren Fragment (21) habe Homer seine kunstvollen Werke auch nur schaffen k ¨ onnen, weil er ein gottbegeisterter Genius war. Demokrit verwendet mit (νθουσιασμ ς (enthusiasm ´ os) eine Ableitung zum Verb (νθουσι ζειν ’von einer Gottheit erf ¨ ullt, (gott)begeistert sein‘ . F ¨ ur sie wird die r ¨ omische Poetologie auch inspiratio einsetzen, so daß die graduelle Unterscheidung von g ¨ ottlicher Eingebung und voller Gottergriffenheit des Dichters im Lateinischen terminologisch nicht unmittelbar zum Ausdruck gebracht wird. 13 Die erste systematisch zu nennende Behandlung der Voraussetzungen und des Wesens dichterischer T ¨ atigkeit verdanken wir Platon. In mehreren Dialogen, namentlich im Ion und im Phaidros, geht er auf die Dichtkunst ein, 14 mit einer Sympathie f ¨ ur den g ¨ ottlich berufenen Sch ¨ opfer poetischer Werke, die mit der Verbannung der meisten Dichter aus dem idealen Staat (Politeia) kaum vereinbar scheint. In der zu den Jugendschriften z ¨ ahlenden Apologie geht es noch um Grundbedingungen des Berufs: Von Dichtern selbst will der platonische Sokrates erfahren haben, ”daß sie nicht durch Weisheit dichteten, was sie dichten, sondern kraft einer Naturanlage ( φ<σει ) und g ¨ ottlicher Begeisterung ( (νθουσι ζοντες ), eben wie die Wahrsager und Orakels ¨ anger“. Sie alle w ¨ ußten nicht, was sie sagten; seien nicht weise, wie sie behaupteten, denn alles gebe ihnen die Gottheit ein (22b-c). 12 Diels/ Kranz 68 B 18: Vμο ως ‘ποιητ6ς δ 7σσα μ ν 2ν γρ φη ι μετO (νθουσιασμοC κα LεροC πνε<ματος, καλ= κ ρτα (στ ν. 13 Die ’Eingebung‘ wurde im Griechischen noch haupts ¨ achlich mit Wortformen zu πνεCμα (pneuma) ’Wind, Hauch, Atem‘ bezeichnet, vor allem mit θε πνευστος ’vom Gott angehaucht‘ und (π πνοια ’Anhauch‘ . F ¨ ur den ’Enthusiasmus‘ gab es keine Lehnform im ¨ alteren Lateinischen; er ist erst ¨ uber das Mittel- und Humanistenlatein aus dem Griechischen in die europ ¨ aischen Sprachen gekommen. 14 Apologie 22b-c; Ion 533d-536d; Menon 99a-e; Symposium 196e; Phaidros 244a-245a; Nomoi 682a, 719c. G¨ ottliche Inspiration 123 Auffallenderweise hat Platon die Seite der nat ¨ urlichen Veranlagung als Grundbedingung der k ¨ unstlerischen Bet ¨ atigung bei den anderen genannten Dialogstellen zur Poetologie fallengelassen, aber daf ¨ ur die Seite der g ¨ ottlichen Mitwirkung beim Schaffensprozeß in den Vordergrund gestellt. So entfaltet sein Sokrates im Ion im Gespr ¨ ach mit dem Rhapsoden eine volle Theorie der Dichterperson. Deren Beruf sei weder lehrnoch lernbar, auch mache die Beherrschung von Regeln und ein gewisser Besitz von Wissen noch niemanden zum guten Dichter: Er sei außerstande, von sich aus Verskunst hervorzubringen, die diesen Namen verdient. Das Werk gelingt nur ”durch g ¨ ottliche Kraft“. Jeder ist ”nur dasjenige sch ¨ on zu dichten verm ¨ ogend, wozu die Muse ihn antreibt“. Und die Arbeit selbst f ¨ uhrt erst dann zum Ziel, wenn die Gottheit - die Muse, Apollon oder ein anderer Himmlischer - den Dichter ganz ergriffen hat, wenn er, wie Sokrates/ Platon sagt: ”begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt“ (534b). Kann ein Mensch aus eigenem Verm ¨ ogen nur schlechte Verse hervorbringen, die mangels Wissen obendrein die Wahrheit verfehlen, so sind die sch ¨ onen Gedichte des Gottbegeisterten nicht ”Menschliches [ . . . ] und von Menschen, sondern G ¨ ottliches und von G ¨ ottern, die Dichter aber nichts [ . . . ] als Sprecher der G ¨ otter, besessen jeder von dem, der ihn eben besitzt“ (534d). W ¨ ahrend Menon, Symposium und Nomoi sich mit kurzen Wiederholungen zu Gedankeng ¨ angen des Ion begn ¨ ugen, bringt der aus der mittleren Schaffensperiode Platons stammende Dialog Phaidros eine bemerkenswerte begriffliche Steigerung: die Charakterisierung des Zustands des von der h ¨ oheren Inspiration ergriffenen Dichters als ”g ¨ ottlicher Wahnsinn“ ( θε%α μαν α ) und die Zuordnung dieser heilbringenden Form der Besessenheit zu den vier Ph ¨ anomenen ”g ¨ ottlichen Außersichseins“, die Platon im Phaidros unterscheidet. Die Dichtung, in der sie auftritt, kommt dort (244a-245a) im Zusammenhang mit Sokrates’/ Platons Anliegen zur Sprache, die ’gute‘ erotische Liebe, die vom Anblick des sinnlich Sch ¨ onen zur erkennenden Schau der Sch ¨ onheit an sich emporf ¨ uhrt, von dem banalen sexuellen Trieb abzuheben. In einer gegen Lysias, gegen die Herabsetzung der Liebe gerichteten großen Rede erkl ¨ art Sokrates gegen ¨ uber dem jungen Phaidros die gute Liebesleidenschaft f ¨ ur ”g ¨ ottlichen Wahnsinn“ in seiner h ¨ ochsten Form. Als Geber der wertvollsten G ¨ uter erkennt Sokrates neben dem ”g ¨ ottlichen Wahnsinn“ der Liebe die mantische ’Mania‘ , die dem Menschen den Blick in die Zukunft erm ¨ oglicht, die kathartische ’Mania‘ , die ihm durch rituelle Handlungen und religi ¨ ose Zeremonien die Heilung von Krankheiten und die Reinigung von Befleckungen gew ¨ ahrt, und schließlich als dritte (zweith ¨ ochste) Art die poetische ’Mania‘ . 15 Anders als die krankhafte insania bezeichnet der ”g ¨ ottliche Wahnsinn“ einen rein seelischen Zustand vollkommener Ergriffenheit durch eine h ¨ ohere Macht, 15 Kommentar zur besprochenen Stelle bei p. Friedl ¨ ander, Platon, III ( 3 1975), 209-211 und - eingehender - E. Heitsch, Platon: Phaidros, 1993, 90ff. 124 Qualifikationsprofile des Dichters der der Vernunft nicht entgegengesetzt ist, sie aber im Glauben, ihr zu folgen, ¨ ubersteigt. Man k ¨ onnte da vergleichend an die Stufen der Erleuchtung des christlichen Mystikers denken, in denen das rationale Denken schließlich vom Erlebnis der Gottvereinigung transzendiert wird. Anders auch als der schlechte, krankhafte Wahnsinn, der als Ungl ¨ uck ¨ uber den Menschen kommt, wirkt der ”g ¨ ottliche“ heilsam; er schenkt dem Dichter die Gabe, ’Gutes‘ zu dichten, das die im Irdischen befangenen Seelen aufweckt und zur Schau der ewigen Formen emporf ¨ uhrt. Nicht zu ¨ ubersehen ist freilich, daß der Dichter in solcher Konzeption passiv gesehen wird, als ob die g ¨ ottliche Besessenheit jedes angeborene oder erlernte K ¨ onnen wie auch jedes ’Feilen‘ am Gedicht er ¨ ubrigte. Daß von der nat ¨ urlichen Veranlagung, von der Apologie abgesehen, keine Rede mehr ist, daß die Lehre von der ”g ¨ ottlichen“ Inspiration und dem ”Wahnsinn“ ihr sogar entgegensteht, geh ¨ ort zum ambivalenten Verh ¨ altnis Platons zur Begabung des Dichters, von dem Heitsch spricht. 16 Nach dessen Interpretation r ¨ uhrt es daher, daß Platon in den Dialogen teils - mehr oder weniger erkennbar - die Auffassung des Sokrates wiedergibt, teils die eigene. Die Worte zum ”g ¨ ottlichen Wahnsinn“ spreche ”in Wahrheit nicht Platon, sondern der Gespr ¨ achspartner Sokrates“; Platon lege sie ihm in den Mund, weil sie seine Argumentation zugunsten des Eros unterst ¨ utzten. Da nun in der Politeia unzweifelhaft Platon selbst die Verbannung aller Dichter aus dem Idealstaat vorsieht, dr ¨ angt sich die Frage auf, ob auch die - gleichfalls sehr stilisierte - Sokrates-Rede auf die g ¨ ottliche Begeisterung des wahren Dichters im Ion statt der Auffassung Platons die seines dankbar gezeichneten Lehrers wiedergibt. Auf diese Weise ließe sich die Ambivalenz der Aussagen zum Dichter in Platons Dialogen ¨ uberhaupt erkl ¨ aren. Der authentische Platon ist dann der unerbittliche Zensor der Poesie, der aus der Politeia spricht. Der Gedanke ist nicht abwegig, daß Aristoteles in den Dialogen seines Lehrers sowohl das sokratische Erbe des ”g ¨ ottlichen“ Dichters wie auch die kritische Grundeinstellung Platons kannte und unterschied, und deshalb die innere Widerspr ¨ uchlichkeit der Platonischen Dichtungskonzeption durch ein neues Theoriemodell zu ¨ uberwinden suchte. So wie Platon in seiner Verurteilung der Dichtung in der Politeia mit keinem Wort mehr auf die g ¨ ottliche Inspiration eingegangen war, deren Wirkung ja mit der dort behaupteten Sch ¨ adlichkeit der Poesie nicht zu vereinbaren war, so ist auch in Aristoteles’ Poetik die h ¨ ohere Eingebung als Voraussetzung der dichterischen Kunst keiner Erw ¨ ahnung wert. Es ist nicht mehr die Rede von Museninspiration, Gotterf ¨ ulltheit, g ¨ ottlichem Enthusiasmus. Nur an ’Mania‘ erinnert von fern, n ¨ amlich nur psychologisch verstanden, die Aristotelische Forderung eines ”manischen“ Charakters, soll dem Dichter die Darstellung von Leidenschaft glaubhaft gelingen. 17 In seiner Theorie setzt Ari- 16 E. Heitsch, Platon: Phaidros, 1993, 91. 17 Aristoteles, Poetik 1455a32f.: δι ε; φυοCς X ποιητικ (στιν 9 μανικοCG το<των γ=ρ οL μ ν ε_πλαστοι οL δ (κστατικο εHσιν. G¨ ottliche Inspiration 125 stoteles einer langen, zur leeren Form gewordenen Tradition ein Ende: Er trennt den Dichter von G ¨ ottern, Musen und himmlischen Geistern, stellt ihn als μιμητ ς , als sch ¨ opferisch ’Nachahmenden‘ , auf die eigenen F ¨ uße. Was der Dichter kann, schafft er aus eigener Kraft. Selbst das Verdienst, die Dichtkunst entwickelt zu haben, kommt nach Aristoteles weder Apollon noch mythischen S ¨ angern zu, sondern vor Zeiten den hierf ¨ ur ”besonders Begabten“, die aus Improvisationen allm ¨ ahlich die Kunst hervorgebracht h ¨ atten. 18 Auch Homer, ”der Dichter“, hat ohne g ¨ ottlichen Beistand stets ”das Richtige erkannt“, weil er reichlich besaß, was Aristoteles nun voraussetzte, wenn gute Dichtung entstehen sollte: ”Kunstverstand“, also Beherrschung der Mittel und ihrer Anwendung, sowie ”nat ¨ urliche Begabung“. 19 ¨ Uber Eignung und Erfolg eines Dichters entscheidet allein seine Pers ¨ onlichkeit. Jetzt bestimmen Niveau, Charakter und Psyche, was und wie er schreibt. Typologisch sieht Aristoteles die Ausformung der Gattungen, qualitativ die Scheidung in gute und schlechte Werke durch Unterschiede begr ¨ undet, die in der Person liegen: Die ”Edleren“ [ ¨ Ubersetzung Schmitt: die ”Ernsthafteren“] ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die ”Gew ¨ ohnlicheren [ ¨ Ubersetzung Schmitt: ”die Leichtfertigen“] jedoch die von Schlechten“. So w ¨ aren in den Anfangszeiten bei den einen Hymnen und Preislieder, bei den anderen R ¨ ugelieder entstanden. 20 Die Einteilung der Dichter in gute, die auf Grund menschlicher und k ¨ unstlerischer Vorz ¨ uge gute Werke hervorbringen, und schlechte, die von Natur und vom K ¨ onnen her nicht qualifiziert sind und daher nur Schlechtes zu produzieren verm ¨ ogen, ist ein Grundprinzip der Aristotelischen Poetologie. W ¨ ahrend nach der Inspirationslehre Dichtung als g ¨ ottliche Gabe nur ’gut‘ sein konnte, sonst war es eben nicht Dichtung im eigentlichen Sinn, wird nun eine klare Qualit ¨ atsunterscheidung zur Anwendung gebracht. Sie bewertet jeden, der dichtet, und jedes als Dichtung geschaffene Werk nach k ¨ unstlerischen Maßst ¨ aben. Mit dem Ersatz der g ¨ ottlichen Inspiration durch Kunstverstand und nat ¨ urliche Pr ¨ adisposition, also Eigenschaften, die im Menschen selbst liegen, hat Aristo- 18 Ebda. 1448b22ff.: (A ρχ@ς οL πεφυκ τες πρ ς α; τ= μ λιστα κατ= μικρ ν προ γοντες (γ ννησαν τ6ν πο ησιν (κ τ: ν α; τοσχεδιασμ των. Zu den Kapiteln 4 und 5 der Poetik, in denen die Entstehung der Dichtung aus anthropologischen Grundlagen heraus erkl ¨ art wird, ist mit Gewinnn die Interpretation von O. Primavesi heranzuziehen. Sie arbeitet die ausformung vin zwei Gattungssukzessionen heraus, einen Strang h ¨ oherer Dichtung (Epos, Trag ¨ odie) und einen Strang niederer (Kom ¨ odie, ’lyrische‘ Arten). (Zur Genealogie der Poesie (Kap. 4), in: O. H ¨ offe (Hg.), Aristoteles Poetik, 2009, 47-67). 19 Ebda. 1451a22ff.: V δO ^Ομηρος mσπερ κα τ= #λλα διαφ ρει κα τοCτO "οικεν καλ: ς Hδε%ν, Jτοι δι= τ χνην 9 δι= φ<σιν. 20 Ebda. 1448b25ff.: οL μ ν γ=ρ σεμν τεροι τ=ς καλ=ς (μιμοCντο πρ Aεις κα τ=ς τ: ν τοιο<των, οL δ ε; τελ στεροι τ=ς τ: ν φα<λων, πρ: τον ψ γους ποιοCντες, mσπερ nτεροι μνους κα (γκYμια. 126 Qualifikationsprofile des Dichters teles das Grundkonzept des Dichters entwickelt, das ¨ uber die Antike hinaus pr ¨ agend geblieben ist. Eine weitere Konsequenz seines Schaffens war die Institutionalisierung der Poetologie. Wo ehedem Inhalt und Form der Dichtung nach herrschender Lehre gottgegeben waren und dem Dichter bloß die Rolle eines Werkzeugs und Verk ¨ unders h ¨ oheren Wissens zugeteilt war, da stellte sich nun die Frage, welche pers ¨ onlichen Vorz ¨ uge zusammenkommen und welches K ¨ onnen ( τ χνη , t ´ echn ¯ e) hinzuerworben werden muß, um poetisch Gutes zustande zu bringen. Folglich war es konsequent, daß Aristoteles das neue Konzept des Dichters und der Dichtung mit einer Lehre ¨ uber das Dichten erg ¨ anzte. Lagen alle Voraussetzungen zum Dichterberuf nur noch im Menschen selbst, bedurfte es eben der Unterweisung, welches K ¨ onnen seine Aus ¨ ubung erforderte. Hier stoßen wir auf das Grundmotiv f ¨ ur die Entstehung der ersten Poetik, der des Aristoteles. F ¨ ur die Reputation des Dichters hatte die Abkehr von der Inspirationsdoktrin weitreichende Folgen. Er war nicht mehr gegen den Vorwurf von Fehlern und Irrt ¨ umern gefeit, denn die Garantie, unter g ¨ ottlicher Eingebung nur Wahres und Richtiges zu sagen, war entfallen, seine Botschaften waren angreifbar geworden. Gravierender noch war freilich der Statusverlust. Aus der Mittlerposition zwischen G ¨ ottern und Menschen st ¨ urzte der Dichter auf die irdische Ebene ab, verlor den Glorienschein des Sehers, Weissagers und Propheten, dem sich dank h ¨ oheren ’Einhauchs‘ nicht nur Vergangenheit und Gegenwart erschlossen hatten, sondern auch die Vorausschau in die Zukunft gew ¨ ahrt worden war. ¨ Ubrig blieb dem Dichter nur, durch die Kultivierung seiner naturgegebenen Anlagen und die Ausbildung h ¨ ochster Kunstfertigkeit ein herausragendes poetisches Ansehen zu gewinnen. Der von Aristoteles vollzogene Bruch mit dem Herkommen war zu j ¨ ah, die Dichterzunft zu sehr auf die Bewahrung des privilegierten Status bedacht, schließlich auch war der Anruf helfender Gottheiten in Epik und Lyrik so weit ritualisiert, daß die dichterische Praxis ¨ uber die Aristotelische Theorie hinwegging. Bei den hellenistischen Dichtern ist sogar ein Ausbau des Gottesbezugs zu beobachten, wie das Beispiel des einflußreichen Alexandriners Kallimachos (Ende 4. bis Mitte 3. Jh. v. Chr.) bezeugt, des Vorbilds der Formstrenge f ¨ ur den R ¨ omer Horaz. Charakteristisch f ¨ ur die hellenistische Epoche ist gerade die Erweiterung des Musen- und G ¨ otteranrufs zu Szenarien, unter anderem zu Traum- und Visionsberichten ¨ uber empfangene Weihen, Zuspruch und Weissagungen. ¨ Ahnlich wie in einer Vision Hesiods erschienen Kallimachos im Traum die Musen auf dem Helikon, auf den er sich entr ¨ uckt sah, um ihn mit einem Trunk aus der Dichterquelle zum Poeten zu weihen. 21 Sein Traumweihe-Motiv fand viele Nachahmer, darunter mit einer am ¨ usanten Rechtfertigung seiner Poesie auch Properz. Dieser sah sich 21 Nach einem in der Anthologia Palatina (VII, 42) ¨ uberlieferten Epigramm des Kallimachos habe dieser im Prooemium der Aitia sein Traumerlebnis berichtet: O. Falter, Der Dichter und sein Gott bei den Griechen und R ¨ omern, W ¨ urzburg 1934, zitiert den Epigrammtext S. 81. G¨ ottliche Inspiration 127 tr ¨ aumend ebenfalls an den Helikon versetzt, von der Dichterquelle zu trinken und wie Ennius ein großer Epiker zu werden. Aber Apollon er ¨ offnet ihm, daß er seine Begabung f ¨ ur eine andere Poesie verwenden solle. Zu den Musen verwiesen, macht ihm Kalliope klar, daß er berufen sei, die Apollon wichtigste Dichtung zu w ¨ ahlen, die Liebesdichtung. Da Properz dem g ¨ ottlichen Auftrag zu folgen bereit ist, berieselt Kalliope seinen Mund mit dem heiligen Wasser der Dichterquelle. 22 Wer wollte da noch Kritik an den Elegien ¨ uben, die der Gotterw ¨ ahlte schreibt? Eine weitere hellenistische Ausbauform des Anrufs, an deren Propagierung Kallimachos ebenfalls teilhatte, war die bis zum Zwiegespr ¨ ach steigerbare Frage- Antwort-Folge zwischen dem Dichter und seiner Gottheit. ¨ Uber die Wechselrede hinaus zum gedichtf ¨ ullenden Motiv hat sie Ovid in den Fasti ausgeweitet. In den sechs, die Monate Januar bis Juni behandelnden B ¨ uchern, die vorliegen, beschreibt Ovid die Urspr ¨ unge und die Br ¨ auche der r ¨ omischen ’Festtage‘ mit fortw ¨ ahrender Bitte an die G ¨ otter, ihm mit Auskunft in allen Fragen zur Seite zu stehen, f ¨ ur die das beschr ¨ ankte menschliche Wissen nicht ausreicht. So wendet er sich in den Fasti 5 nach vergeblichen Versuchen, f ¨ ur den Monatsnamen Maius ’Mai‘ eine befriedigende Erkl ¨ arung der Gelehrten zu erhalten, Rat suchend an die Musen. Doch diese sind sich nicht einig, auch die letzte, mit der er spricht, Kalliope, schafft keine Klarheit. Nat ¨ urlich verbietet es der Respekt vor den G ¨ ottinnen, daß Ovid einer der ihm Antwortenden Recht gibt, die Ausk ¨ unfte der anderen aber verwirft. Weil keine einhellige Meinung unter denen besteht, die doch alles wissen m ¨ ußten - dissensere deae -, nimmt Ovid am Ende davon Abstand, eine Erkl ¨ arung f ¨ ur den ’Mai‘ beizubringen. Raffinierterweise hat Ovid mit der Schilderung seines vergeblichen Bem ¨ uhens, von Gottheiten eindeutige Erkl ¨ arungen zu erhalten, eigene Unkenntnis unangreifbar gerechtfertigt. Wo G ¨ otter keine Antwort wissen, darf der Mensch sie auch schuldig bleiben. Die an Dichtungen von Properz und Ovid erl ¨ auterten Ausbauvarianten des Musen- und G ¨ otteranrufs zeigen bereits, daß die Aristotelische Abkehr von der Inspirationstheorie auch bei den R ¨ omern ohne Wirkung geblieben ist. Von Livius Andronicus, Naevius und Ennius in die lateinische Dichtung eingef ¨ uhrt, hat der Anruf in der klassischen Periode, namentlich bei Vergil, Horaz, Properz und speziell Ovid, eine Ausweitung zum vielgestaltigen, viel genutzten Motiv erfahren, bei dem sich von Fall zu Fall die Frage stellt, ob es echte religi ¨ ose Bindung bezeugt oder nur als poetischer Usus (’Topos‘ ) fungiert. Die Dichtung der Klassik betont auch erneut die Erw ¨ ahltheit des Dichters. Vergil, Horaz, Tibull, Properz und - mehr als vierzigmal - Ovid greifen wieder auf Varros vates ’Seher, Weissager‘ zur ¨ uck. 23 Zugleich meldet sich ein Anspruch der Dichter auf eine Art Priestertum. Bezeichnend ist hierf ¨ ur der Anfang der R ¨ omeroden mit der 22 Properz, Elegiae 3, 1. 23 Vorkommen bei Vergil: Eclogae 7, 25; 9, 32f. Die Belegstellen der ¨ ubrigen Genannten bei O. Falter, Der Dichter und sein Gott bei den Griechen und R ¨ omern, 1934, 70f. 128 Qualifikationsprofile des Dichters Ank ¨ undigung des Horaz, er wolle als musarum sacerdos, ’Priester der Musen‘ , seiner Sendung gerecht werden, dichterisch Lehrer des Volkes zu sein. 24 Der ’Musenpriester‘ ist symptomatisch daf ¨ ur, daß Horaz wie kein anderer den Dichter in die N ¨ ahe er G ¨ otter emporhebt. Er ist von ihnen nicht nur poetisch inspiriert, sondern ihnen mit seiner ganzen Person, seinem ganzen Leben verbunden. Schon von Geburt an steht er unter ihrer Obhut, ist ihr Sch ¨ utzling und ihr Freund, daher vor aller Gef ¨ ahrdung sicher. Wie Worte der Himmlischen Entscheidungen der Menschen annullieren, machen Dichtungen des ’Freundes der G ¨ otter und der Musen‘ ung ¨ ultig, was andere in Verse gebracht haben. Mit g ¨ ottlich erf ¨ ullten Werken ¨ uberwindet der Dichter den Tod, erlangt er Unsterblichkeit, und wie schon Pindar verhieß, leben auch die ewig fort, die er poetisch preist. 25 Ort der Horazischen Dichtung ist vielfach eine vision ¨ ar geschaute Landschaft mit Hainen, Quellen, Felsen, wo der dort wandelnde Freund der G ¨ otter und Musen den Himmlischen ganz nahekommt, Bacchus, seinem Dichtergott, selbst begegnet und ihn anspricht, was er wohl mit seinem S ¨ anger vorhabe. 26 Im Hochgef ¨ uhl eines G ¨ unstlings der G ¨ otter betrachtet Horaz sein Werk als ”Monument dauerhafter noch als Erz“ und sich als Triumphator der Dichtkunst, der Melpomene, die Muse lyrischer Poesie, anrufen kann, ihn mit einem Kranz delphischen Lorbeers auszuzeichnen. 27 Soll ein gutes Gedicht entstehen, bedarf es nach Horaz nicht nur der g ¨ ottlichen Inspiration eines Talents, sondern auch des m ¨ uhevolle Arbeit erfordernden Kunstfleißes. Nichts h ¨ alt er vom ”wahnsinnigen und kunstlosen Schreiber“, der in rauschhafter Ekstase im Nu Verse produziert und sich in der Selbstt ¨ auschung wiegt, Dichter zu sein - er ist das Opfer eines ganz ”schweren geistigen Irrtums“. 28 Die Ars poetica verwirft ausdr ¨ ucklich Demokrits Enthusiasmustheorie; ihr m ¨ ochte sie die Aufkl ¨ arung gegen ¨ uberstellen, wohin die virtus, die wahre Kunst, und wohin der error, die irrige Auffassung vom Dichten, f ¨ uhrt. 29 Die Ablehnung des rauschhaften Enthusiasmus und des poetischen Wahnsinns als Triebkr ¨ aften des 24 Horaz, Carmina 3, 1, 3. Properz ist ’Priester‘ Apollons (3, 1, 3), Ovid Apollons und der Musen (Amores 3, 8, 23; Tristia 3, 2, 3). 25 Die einzelnen Belege bei E.-R. Schwinge, Zur Kunsttheorie des Horaz, in: Philologus 107 (1963) 89, Fn. 2-6. 26 Horaz, Ebda. 2, 19, 1ff.; 3, 25, 1ff. 27 Horaz, Carmina 3, 25. Auf diese Ode und auf 4, 2, 9 gehen der Lorbeerkranz und der Titel des poeta laureatus als Auszeichnungen eines großen Dichters zur ¨ uck. Der Brauch stammt vom Siegeslorbeer f ¨ ur den erfolgreichen Feldherrn, paßt aber auch zum Dichter, da der Lorbeerbaum mit dem Kult Apollons, des Gottes des Gesangs und der Poesie, verbunden war. 28 Horaz, Epistulae 2, 2, 126-140. 29 Horaz, Ars poetica 295-305. G¨ ottliche Inspiration 129 guten Dichtens ist Horaz ein solch markantes Anliegen, daß er sie am Ende der Ars poetica in einer sarkastischen Zeichnung des vesanus poeta, des ”wahnsinnigen Poeten“, noch einmal steigert: Wer von der Dichtung etwas versteht, geht diesem wie einen Auss ¨ atzigen, Gelbs ¨ uchtigen, Irren oder Mundkranken aus dem Wege; helfen kann man ihm nicht. Er versteift sich im Wahn, Dichter zu sein, den G ¨ ottern nahe, wie Empedokles, der sich im Irrglauben, ihnen noch n ¨ aher kommen zu k ¨ onnen, in den ¨ Atna st ¨ urzte. Der ”ungenießbare Rezitator von Versen“ vertreibt mit seinen Machwerken gebildete und ungebildete Leute; ihm zuzuh ¨ oren ist ’t ¨ odlich‘ 30 . Es ist nicht zu ¨ ubersehen, daß Horaz in seiner Konzeption des Dichters zwei polare Positionen ¨ uberspannt, n ¨ amlich das Konzept des aus g ¨ ottlicher Eingebung sprechenden Seher-Dichters, das bisher hier behandelt worden ist, und das Konzept des mit besonderer Begabung und besonderem Kunstfleiß zu Werke gehenden Sch ¨ opfers von Dichtungen, auf das sp ¨ ater zur ¨ uckzukommen sein wird. Verfolgen wir zun ¨ achst, wie es sich mit der Doktrin der g ¨ ottlichen Inspiration bei anderen r ¨ omischen Autorit ¨ aten verh ¨ alt, so verschafft schon der Blick auf Cicero eine f ¨ ur die Beurteilung der Horazischen Lehre neue Perspektive. In der auf 62 v. Chr. zu datierenden Verteidigungsrede f ¨ ur den Dichter Archias, von dem er sich eine poetische W ¨ urdigung seines gerade beendeten Konsulats erhoffte, hat Cicero seinem Mandanten zugesprochen, vom g ¨ ottlichen Hauch als Quelle des poetischen Schaffens ber ¨ uhrt zu sein. 31 In De oratore l ¨ aßt er den Redemeister Marcus Antonius erkl ¨ aren, er habe oft sagen h ¨ oren, daß es ohne eine ”Entfachung der Begeisterung“ (sine inflammatione animorum) und ohne einen ”gewissermaßen schw ¨ armerischen Anhauch“ (sine quodam adflatu quasi furoris) keinen guten Dichter geben k ¨ onne. 32 De divinatione zufolge zeigt der poetische Impuls, daß in der Seele des Dichters eine ”g ¨ ottliche Kraft“ wirke, der (νθουσιασμ ς Demokrits und Platons, f ¨ ur den nun furor in Umlauf gebracht wird. 33 Einige Abschnitte vorher hatte Cicero bereits erl ¨ autert, daß sein furor den dichterischen Impetus meint, der von einer ”g ¨ ottlichen Einwirkung“ (divinus instinctus) ausgeht. 34 Die Tusculanen schließlich verbinden 30 Ebda. 453-476. Im Kontrast zum autogenen Wahnsinn des M ¨ ochtegern-Poeten spricht Horaz in carm. 3, 4, 5 von einem ”angenehmen Wahn“ (amabilis insania). Die Stelle wird h ¨ aufig als Beleg f ¨ ur Dichterwahnsinn bei Horaz fehlinterpretiert. Mit spielerischem Bezug auf ihn meint Horaz aber eine willkommene momentane Verwirrung, n ¨ amlich das Unverm ¨ ogen eines Dichters, entscheiden zu k ¨ onnen, ob er die um ein Lied angerufene Muse Kalliope bereits singen h ¨ ore oder ob er Opfer einer T ¨ auschung sei. 31 Cicero, Pro Archia 18, 14. 32 Cicero, De oratore 2, 194. 33 Cicero, De divinatione 1, 80. 34 Ebda. 1, 66. 130 Qualifikationsprofile des Dichters die K ¨ unste im weitesten Sinn mit dem Walten einer ”g ¨ ottlichen Kraft“ (vis divina). Wie der Dichter ”ohne einen himmlischen Anhauch des Geistes“ (sine caelesti aliquo mentis instinctu) kein w ¨ urdiges, volles Gedicht schaffen k ¨ onne, so kam auch die Beredsamkeit nicht ”ohne h ¨ ohere Kraft in klingenden Worten und reichen Gedanken dahinstr ¨ omen“. 35 In den - zwischen 62 und 45 v. Chr. zu datierenden - Zeugnissen Ciceros zur Berufung des Dichters gibt es also keine Musen, keine personalen Gottheiten, keine Kommunikation zwischen G ¨ unstling und himmlischem Beistand. Dies ist zum einen eine Best ¨ atigung daf ¨ ur, daß die Inspirationsmythologie mit allen ihren Ausweitungen in der Regel nurmehr toposhaft fungierte, als Merkmal poetischer Werke. Zum anderen ist daran unschwer zu erkennen, daß die poetologische Reflexion den poetischen Bekundungen der G ¨ ottern ¨ ahe zum Trotz dazu tendierte, den Grund der Kreativit ¨ at in einer besonderen Konstitution des Dichters zu sehen. Es ist bezeichnend, daß Cicero nur abstrakt von einer inflammatio animi, einem afflatus quasi furoris, schließlich von einem divinus oder caelestis instinctus und von einer vis divina spricht, von Wirkkr ¨ aften, die dem Dichter nicht von Fall zu Fall und nach Anruf zuteil werden, sondern die ihm dauerhaft eingegeben scheinen. Von solchen Vorstellungen hat die ingenium-Lehre ihren Ausgang genommen, ausformuliert hat sie Horaz. Die bei Cicero zutage tretende Verselbst ¨ andigung der dichterischen Kreativit ¨ at gegen ¨ uber der g ¨ ottlichen Eingabe wurde begleitet von einer entsprechenden Weiterentwicklung des Konzepts der poetischen Ekstase ( (νθουσιασμ ς , furor). Ohne ¨ uberhaupt noch auf numinose Kr ¨ afte einzugehen, schrieb der j ¨ ungere Plinius (61/ 62 - ca. 114 n. Chr.), es werde ”den Dichtern zugestanden, wahnsinnig zu sein“. 36 Plutarch (ca. 45 - vor 120 n. Chr.) stellte in einer Systematik alle Formen des menschlichen Wahnsinns ( μαν α ) zusammen. Getrennt von der bloßen Geistesst ¨ orung unterschied er neben dem prophetischen, dem kultischen, dem erotischen und dem kriegerischen Wahn den dichterischen ( μαν α ποιητικ ). Jede Wahnsinnsart beruhte auf g ¨ ottlicher Einwirkung, die poetische auf der Einwirkung durch die Musen. Dabei entfache ein Funke in der Seele des Dichters ein Feuer der poetischen Sch ¨ opferkraft. Ohne g ¨ ottliche Einwirkung komme zwar nichts zustande, aber Plutarch betont ausdr ¨ ucklich, daß G ¨ ottliches und Menschliches zusammenwirken m ¨ ussen, wenn Kreativit ¨ at entstehen soll. Mit dem ¨ uberirdischen Einfluß muß eine nat ¨ urliche Anlage des Menschen korrespondieren. Die Seele nimmt die g ¨ ottliche Einwirkung als Ersch ¨ utterung auf, die Ausformung von Dichtung ist sodann Sache einer besonderen nat ¨ urlichen Begabung. Der g ¨ ottliche Impuls kann die im Dichter liegende nat ¨ urliche Begabung nur 35 Cicero, Tusculanae disputationes 1, 64. 36 Plinius minor, Epistulae 7, 4, 10: poetis furere concessum est. G¨ ottliche Inspiration 131 antreiben; ersetzen kann er sie nicht. 37 Damit hat Plutarch die spezielle Begabung als Grundmotiv des Dichters gleichrangig neben die Inspiration gestellt. Die von einem sehr belesenen, in der Theorie und der Dichtkunst erstaunlich versierten anonymen Verfasser stammende Lehrschrift ¨ Uber das Erhabene ( Περ ψους ) zeigt am deutlichsten, daß die poetologische Diskussion im 1. Jh. n. Chr. das in der dichterischen Praxis eher topisch als bekennend fortlebende Inspirationskonzept weit hinter sich gelassen hatte. Obwohl der gew ¨ ohnlich unter dem Namen Pseudo-Longinos gef ¨ uhrte Verfasser den bekannten Begriffsapparat - Einhauch, Manie, Enthusiasmus usw. - mehr als jeder andere ins Treffen f ¨ uhrt, verlagert er die Begr ¨ undung der poetischen und der rednerischen Kunst vom G ¨ otterbezug auf die rein pers ¨ onliche Ebene. Dabei wandelt er das Vokabular der Inspiration in ein Vokabular der psychischen Kondition um, die nun in Verbindung mit einem gehobenen Pers ¨ onlichkeitsbild den Dichter zum Dichter macht. Das p ¨ adagogisch und ¨ asthetisch h ¨ ochste Ziel, die Vollkommenheit, die der Pseudo-Longinos mit dem ’Erhabenen‘ (griech. ψος ’H ¨ ohe, Gr ¨ oße, Großartigkeit, Erhabenheit‘ ) meint, ist dem Redner oder Dichter erreichbar, wenn f ¨ unf Voraussetzungen der Außergew ¨ ohnlichkeit gegeben sind: Erhebende Gedanken und Seelengr ¨ oße, Neigung zu edler Leidenschaft und zum Pathos, exquisite Wahl der Gedankenfiguren, sorgf ¨ altige Wortwahl, w ¨ urdevolle Wort- und Satzf ¨ ugung. Insgesamt l ¨ auft der Anforderungskatalog darauf hinaus, daß das Ideal des Erhabenen mit Rednern und Dichtern verbunden wird, die anstelle der außergew ¨ ohnlichen Inspiration eine außergew ¨ ohnliche Begabung zur Verf ¨ ugung haben und ebenso außergew ¨ ohnlich perfekt in methodischer und technischer Hinsicht zu Werke zu gehen verstehen. Die Beherrschung der Kunstmittel, die ars, ¨ ubernimmt die Lenkung der Ausf ¨ uhrung von Gedicht und Rede. Die F ¨ ahigkeit, erhabene Gedanken zu hegen, und die F ¨ ahigkeit, starke, begeisternde Leidenschaft zu entfalten, sind ”weitgehend angeboren“ 38 , andernteils durch eigenes Bem ¨ uhen um Vortrefflichkeit und durch Nachahmung großer Vorbilder steigerbar. In der begeisternden Leidenschaft, die der anonyme Verfasser als Merkmal poetischer und rhetorischer Begabung versteht und deren literarischer Ausdruck das noble Pathos ist, erkennen wir den Nachhall des Enthusiasmus, der g ¨ ottlichen Begeisterung des Inspirierten. Aus dem Zustand des gotterf ¨ ullten Außersichseins ist in der Lehre vom ’Erhabenen‘ allerdings ein Zustand der psychischen Ekstase geworden, dessen Grund nun teils in der Ver- 37 Die Systematik der Wahnsinnsarten im Dialog ¨ Uber die Liebe (Erotik´ os) 758f.: Auf das Verh ¨ altnis Eingebung - nat ¨ urliche Anlage geht Plutarch ein in: ¨ Uber die Orakel der Pythia (De Pythiae oraculis) 397bc, 404f. 38 Pseudo-Longinos, ¨ Uber das Erhabene 8, 1. 132 Qualifikationsprofile des Dichters anlagung des Einzelnen, teils in der Ausbildung seiner F ¨ ahigkeiten gesehen wird. Nicht die Gottheit, die außergew ¨ ohnliche Psyche liefert den Enthusiasmus, aus dem große Werke hervorgehen k ¨ onnen. Der K ¨ onigsweg zum Erhabenen ist f ¨ ur den Dichter oder Redner, der ¨ uber nat ¨ urliches Talent und gebildeten Kunstverstand verf ¨ ugt, die emsige Nachahmung (Mimesis) musterg ¨ ultiger Werke, wie der Ilias Homers. Dabei kommt es auch zu einer Inspiration, denn so wie ”viele durch fremden Anhauch mit dem Gott erf ¨ ullt“ werden, und so wie die Pythia ”durch des Gottes Anhauch“ die Gabe der Weissagung empf ¨ angt, so werden Dichter und Redner von den Schriften großer Vorg ¨ anger befl ¨ ugelt. Nach des Verfassers Worten ”str ¨ omen vom Genuß der Alten wie aus heiligem Quell geheimnisvolle Einfl ¨ usse in die Seele ihrer Bewunderer; durch sie werden auch nicht gerade enthusiastische Naturen angehaucht und sind begeisterte Genossen fremder Gr ¨ oße.“ 39 Die Inspiration lebt weiter, wie man sieht, aber der Verfasser der Schrift Vom Erhabenen hat sie ganz aus dem gewohnten Gottesbezug gel ¨ ost, sie zu einer intertextuellen Wirkkraft umgedeutet. Dichterzeugnisse machen deutlich, daß Invocatio, Inspiration, Enthusiasmus und g ¨ ottlicher Wahnsinn selbst von Autoren, die ¨ uppig damit agierten, schon vor der klassischen ¨ Ara als topisches Poesiematerial abgewertet wurden. Properz z. B. antwortet in einer nach 26 v. Chr. zu datierenden Elegie auf die Frage, wieso er so oft Liebesgedichte verfasse, mit der entwaffnend wahren Auskunft: ”Nicht singt Kalliope, nicht singt Apoll nur diese Lieder vor; / die Dichtergabe schenkt mir niemand anders als die Geliebte.“ 40 W ¨ ahrend die herk ¨ ommlichen Motive der ’inspirierten‘ Dichtung in der Kaiserzeit gr ¨ oßtenteils nur noch als poetische Versatzst ¨ ucke, als Topoi, weiterexistierten, wenn sie nicht, wie gezeigt, aufgegeben wurden, entstand unter dem Einfluß des Glaubenswandels bei den christlichen Dichtern eine neue Variante g ¨ ottlicher Inspiration. Ihr Aufkommen ist nicht zu trennen von der vielseitig gef ¨ uhrten theologischen Debatte ¨ uber die Herkunft der Heiligen Schrift. Die Gelehrten der jungen Kirche betrachteten sie als Werk Gottes; wenn nicht als ganz und gar g ¨ ottliche Schrift, so als g ¨ ottliche eingegebene oder vom Heiligen Geist inspirierte. Selbst die Septuaginta und die hagiographischen Texte wurden dem Wirken einer gottgesandten Inspiration zugerechnet. Die Rolle des christlichen Dichters wurde nun in der Nachfolge der Propheten und des Psalmisten K ¨ onig David gesehen: Wie jene mit ihren Worten und mit Ges ¨ angen wiedergaben, was Gott ihnen geoffenbart hatte, so ist der Dichter berufen, die Botschaft des Herrn in Versen zu vermitteln. Am klarsten formuliert hat diesen Auftrag der um 355 in 39 Ebda. 13, 2. 40 Properz, Elegiae 2, 1, 3f.: non haec Calliope, non haec mihi cantat Apollo / ingenium nobis ipsa puella facit. G¨ ottliche Inspiration 133 Aquitanien geborene Paulinus von Nola, ein Enkel des Ausonius, der die Inspiration zu seinen bibelepischen Carmina eifrig dem Wirken des mit der Konversion gefundenen wahren Herrn zuschrieb. 41 Die Ausbreitung der ins Christliche gewendeten Inspirationstopik scheint der Spanier Iuvencus mit seinem um 330 verfaßten Bibelepos eingeleitet zu haben, wie Klopsch (1980: 21f.) annimmt. Nachdem Iuvencus als Verfasser einer Lebensgeschichte Jesu in Hexametern im Stil Vergils als carminis auctor den Heiligen Geist benannt hatte, war es ein Prinzip christlicher Dichtung geworden, die Autorschaft oder die Hilfe bei der Redaktion eines Werkes einer g ¨ ottlichen Person zuzuschreiben: dem Heiligen Geist, der Trinit ¨ at, Christus oder Gott selbst, in der Hagiographie auch dem gefeierten Heiligen. Wie die Carmina des Paulinus von Nola zeigen, wurden in der christlichen Exordialtopik auch die Rahmenmotive adaptiert. So bezeichnet sich der Dichter ausdr ¨ ucklich als Werkzeug, durch das ein Anderer spricht, und der Trunk aus der Musenquelle ist zur Benetzung des Mundes mit Wasser des Himmels oder des Jordans geworden. Defizite zeichnen sich allerdings beim Enthusiasmus, der g ¨ ottlichen Mania, ab: Das rauschhafte Außersichsein des heidnischen Poeten paßte nicht in das Bild des vom christlichen Glauben Beseelten; es kennzeichnete den von D ¨ amonen besessenen fr ¨ uheren Dichter. 42 Hier ist schließlich einzuordnen, daß Isidor von Sevilla die traditionellen Dichter mit seiner Erkl ¨ arung des Worts carmen aus carere mentem in die N ¨ ahe der krankhaften Verr ¨ ucktheit geschoben hat. 43 41 Paulinus von Nola, Carmina 6, 14-24. Gute Skizze zur Inspirationstheorie in der christlichen Sp ¨ atantike und im Mittelalter bei P. Klopsch, Einf ¨ uhrung in die Dichtungstheorie des lateinischen Mittelalters, 1980, 20-37. 42 Theophilos von Antiochien, dort wohl von 169 an Bischof, rechnet im 2. seiner B ¨ ucher Ad Autolycum mit den heidnischen Philosophen, Historiographen und Dichtern ab. Es w ¨ urden ”die tr ¨ ugerischen Geister selbst bekennen, sie seien D ¨ amonen, welche in jenen Dichtern t ¨ atig gewesen.“ Auch Homer und Hesiod, ”von den Musen begeistert, wie man sagt, redeten nach Einbildung und Irrwahn.“ (Kap. 8). 43 Isidor von Sevilla, Origines 1, 39, 4: quod qui illa [sc. carmina] canerent carere mentem existimabantur. Literatur zur g ¨ ottlichen Inspiration (mit weiterf ¨ uhrenden bibliographischen Hinweisen): Russell 1981: 69-83 (Kapitel: ’The Poet and His Inspiration‘ ); B. Kositzke, Artikel ’Inspiration‘ , in: Ueding, Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 4 (1998), 423-433; P. Murray, Poetic Inspiration in Early Greece, in: JHS 101 (1981), 87-100. Musen und Musenanruf: E. Barmeyer, Die Musen: Ein Beitrag zur Inspirationstheorie, 1968; C. Walde, Artikel ’Musen‘ , in: DNP 8 (2000), 511-514; U. Schmitzer, Artikel ’Musenanruf‘ , ebda. 514f. Enthusiasmuslehre: B. Kositzke, Artikel ’Enthusiasmus‘ , in: Ueding, Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 2 (1994), 1185-1197; J. Neumann, Artikel ’Furor poeticus‘ , in: Ebda., 3 (1996), 490-495. 134 Qualifikationsprofile des Dichters 6.2 Sekund ¨ are Quellen der Inspiration Was alles den Dichter antreibt und befl ¨ ugelt, ist poetologisch wenig problematisiert worden, zumal ja Person und Motive erst von sp ¨ athellenistischen Lehrschriften an als konstitutive Elemente von Dichtung in den Blick genommen worden sind. Bezeichnenderweise stammen auch die Belege f ¨ ur die Theorie der g ¨ ottlichen Inspiration mehrheitlich nicht aus poetologischen Abhandlungen, sondern aus Werkpassagen. Neben ihnen verdienen es einige andere Textzeugnisse, herausgestellt zu werden, weil sie die Aufmerksamkeit auf spezielle F ¨ alle der Inspiration aus sekund ¨ aren Quellen lenken. Vergil wendet sich im Prooemium zu Buch 1 der Georgica nach der Anrufung der f ¨ ur den Landbau zust ¨ andigen G ¨ otter, herbeizukommen, sein Werk zu f ¨ ordern, an den g ¨ ottergleich gesehenen Caesar Octavianus, er vor allem m ¨ oge ihm bei seinem Vorhaben beistehen: ”Du gib gl ¨ uckliche Fahrt, sei hold dem k ¨ uhnen Beginnen, / Komm, erbarm dich mit mir der wegunkundigen Bauern, / Komm doch herbei und gew ¨ ohn dich schon jetzt an den Ruf der Gel ¨ ubde! “ 44 Hat Vergil mit der Anrufung aller fachlich ’zust ¨ andigen‘ Gottheiten an Stelle der ¨ ublichen Musen eine Regel durchbrochen, die schon Varro und Lukrez in Lehrdichtungen ¨ uberschritten hatten, so ist hier neu, daß die invocatio umadressiert wird zur Inspirationsbitte an den Herrscher. Der Caesar soll, mit einer Schiffahrtsmetapher ausgedr ¨ uckt, ”gl ¨ uckliche Fahrt geben“, also wie eine g ¨ ottliche, inspirierende Macht das Gelingen des Werks gew ¨ ahren. In der Vorgabe, der Herrscher solle als Protektor der Bauern die ihnen n ¨ utzliche Lehrdichtung ”mitschreiben“ (41: mecum), erkennen wir einen weiteren Reflex der Inspirationstopik, wonach der Dichter niederschreibt, was Musen und G ¨ otter ihm zu schreiben eingeben. Die ¨ Ubertragung der g ¨ ottlichen Inspirationskraft auf einen Menschen, der zum Dichten anregt, ist im Prooemium des ersten Buches noch nicht offenkundig, weil Octavianus ja zum Gott erhoben erscheint. Im Prooemium des zweiten Buches hat Vergil sie mit der Anrufung von Maecenas erkennbar vollzogen. Nach einer an Bacchus gerichteten invocatio, der f ¨ ur die im zweiten Buch zur Sprache kommenden Wein- und ¨ Olbaumkulturen zust ¨ andig ist, wendet sich Vergil dem G ¨ onner und m ¨ achtigen Freund zu mit der Aufforderung, ihm beizustehen und mit ihm zusammen die begonnene Arbeit zu vollenden. Das Ersuchen um Hilfe (tuque ades) und die Charakterisierung des Dichtungsvorhabens als gemeinsames Tun wiederholen kennzeichnende Details der Gottkaiser-Anrede: ”Du aber hilf und vollende mit mir zusammen die begonnene Arbeit, / du meine Zier.“ 45 Im 44 Vergil, Georgica 1, 40-42: da facilem cursum atque audacibus adnue coeptis, / ignarosque uiae mecum miseratus agrestis / ingredere et uotis iam nunc adsuesce uocari. 45 Ebda. 2, 39f.: tuque ades inceptumque una decurre laborem, / o decus, o famae merito pars maxima nostrae. Sekund¨ are Quellen der Inspiration 135 Prooemium des dritten Buches best ¨ atigt Vergil die inspirierende Wirkung des Maecenas mit der Versicherung: ”Ohne dich sinnt nichts Hohes mein Geist.“ 46 In der augusteischen Dichtung hat die Neuerung, einen Schutzherrn oder F ¨ orderer zum Inspirator und ideellen Autor zu erheben, verst ¨ andlicherweise schnell Schule gemacht. Tibull ruft in einer Elegie seinen G ¨ onner Messala an, ihm bei einer Dichtung, die er ehrerbietig als carmen nostrum bezeichnet, ”Hilfe zu gew ¨ ahren“, ihm ”einen Anhauch“ zum Lied zu geben (adspirare). 47 Manilius apostrophiert im 1. Buch seiner Astronomica den verg ¨ ottlichten Augustus einleitend: ”Du [ . . . ] gibst mir den Geist und verschaffst mir die Kraft, so vieles zu besingen.“ 48 Weiter geht Germanicus, der als großer Feldherr und Politiker wußte, daß er seinem Land auch ’Literatur‘ schuldig war und eine lateinische Nachdichtung zu Aratos’ Phainomena in 725 Hexametern hinterließ. Seine an den Kaiser Tiberius gerichtete Versicherung tu maximus auctor ”du bist ihr gr ¨ oßter Autor“ (n ¨ amlich vor ihm und vor Aratos) bereicherte das Formelarsenal der profanen Inspirationstopik. 49 E. R. Curtius ( 11 1993: 239f.) hat die ¨ Ubertragung der Inspirationstopik von den G ¨ ottern und Musen auf den Kaiser und den M ¨ azen mit einer unter den Nachfolgern des Augustus beobachtbaren moralistischen Abkehr von Mythologie, Heldensage und G ¨ otterideologie erkl ¨ aren wollen. Doch lehren Vergils zwischen ca. 37 und 29 v. Chr. zu datierende Georgica, daß die Ehre eines Inspirators einem M ¨ achtigen, zuerst Octavianus und Maecenas, bereits beim ¨ Ubergang Roms zur Prinzipatsverfassung zuerkannt werden konnte. Das Interesse der Dichter, mit der ¨ Ubertragung des G ¨ otteranrufs auf die aus den B ¨ urgerkriegen hervorgegangenen Herrschenden sich deren Wohlwollen und Unterst ¨ utzung zu sichern, d ¨ urfte eher den Ausschlag gegeben haben. Im Zusammenhang damit hat Curtius auf die in der sp ¨ atr ¨ omischen Dichtung begegnende Besonderheit aufmerksam gemacht, als Inspirationsquelle den eigenen Geist (meus animus) anzusprechen. Sie hat Vorl ¨ aufer in griechischen Werken, 46 Ebda. 3, 42: te sine nil altum mens incohat. Eingehende Interpretation der Stellen der Georgica bei V. Buchheit, Der Anspruch des Dichters in Vergils Georgika, Dichtertum und Heilsweg, 1972, 18-31. Sie wird der Darstellung hier zugrunde gelegt. Zur Verg ¨ ottlichung des Princeps jetzt M. Clauss, Kaiser und Gott, 1999. 47 Tibull, Elegiae 2, 1, 35ff.: huc ades aspiraque mihi, dum carmine nostro / redditur agricolis gratia caelitibus. 48 Manilius, Astronomica 1, 7ff.: tu, Caesar, patriae princepsque paterque, [ . . . ] das animum viresque facis ad tanta canenda. 49 Germanicus, Aratea 2: Tu maximus auctor ist als Anerkennung konkreter (Mit)Autorschaft des Kaisers mißverstanden worden. Dazu und zu der Frage, ob als Adressat noch Augustus gemeint sein k ¨ onnte, M. v. Albrecht 1982: 780 [Begr ¨ undet Pr ¨ aferenz f ¨ ur Anrede an Tiberius]. 136 Qualifikationsprofile des Dichters außer bei Pindar 50 schon in der Odyssee (8, 45), wo es von Demodokos heißt, er singe, um zu erfreuen, so oft ”das Herz“ (Voss, Hampe) ”der Mut“ (Schadewaldt) ihn zu singen ”antreibt“. 51 Von diesem Passus scheint Ovid zum Ausdruck fert animus dicere angeregt worden zu sein, der die Metamorphosen mit der Themenank ¨ undigung er ¨ offnet 52 und seinerseits Nachahmer gefunden hat. Die statt an die Musen oder einen Gott gerichtete invocatio an den Dichtergeist stellt sich bei Prudentius (348-nach 405) ein. In einem Hymnus auf den Erl ¨ oser apostrophiert er seinen Geist mit der Bitte: ”L ¨ ose meine Stimme, klangreicher Geist, l ¨ ose meine edle Zunge, / gib Kunde vom Siegeszeichen der Passion.“ 53 ¨ Uberraschend ist es nicht, einen christlichen Dichter als Repr ¨ asentant eines neuartigen Anrufs zu finden. F ¨ ur ihn w ¨ are es einem R ¨ uckfall ins Heidentum gleichgekommen, sich bittend an die alten M ¨ achte dichterischer Inspiration zu wenden. Theophilos, wohl seit 169 Bischof von Antiochien, hatte schon im 2. Buch seiner Schrift Ad Autolycum den antiken Dichtern von Homer an entgegengehalten, sie seien in Wahrheit ”von D ¨ amonen inspiriert und begeistert gewesen“: geredet h ¨ atten sie ”nach Einbildung und Irrwahn, nicht von einem reinen, sondern einem tr ¨ ugerischen Geiste bewegt.“ 54 Das Gewicht der Tradition war in diesem Punkt jedoch st ¨ arker als der vom neuen Glauben bewirkte Ver ¨ anderungsdruck, sodaß die profanen Weiterentwicklungen sich nicht gegen die alte, inzwischen nur noch dekorative Inspirationstopik durchsetzen konnten. Von den einen bek ¨ ampft, von anderen als poetische Draperie genutzt, lebte die bekannte Exordialtopik in der Sp ¨ atantike und im Mittelalter fort, freilich reduziert und fast ganz beschr ¨ ankt auf den Zirkel der Musen. Da man in diesen Verk ¨ orperungen des dichterischen Ingeniums sehen zu k ¨ onnen glaubte, waren sie auch in christlicher Dichtung tragbar. 55 Nur poetisch ¨ uberliefert ist aus der Antike die Lehrmeinung, daß der Wein die Dichter inspirieren k ¨ onne. Horaz geht auf sie ein im Brief an Maecenas (epist. 1, 19), den er mit der Erinnerung seines F ¨ orderers an einen angeblichen Spruch des 50 Pindar, Nemea 3, 26; Olympia 2, 89; Pythia 3, 61 (Nach Curtius 11 1993: 240). 51 θυμ ς (ποτρ<νη>σιν . 52 Ovid, Metamorphosen 1, 1. Die Verbindung zur Odyssee hat M. v. Albrecht dargelegt in: Zum Metamorphosenprooem Ovids, in: RhM 104 (1961), 273ff. 53 Prudentius, Cathemerinon liber 9, 83: solve vocem, mens sonora, solve linguam nobilem, / Dic tropaeum passionis. . . 54 Theophilos, Ad Autolycum 2, 8. 55 Maßgebliche Darstellung des Verh ¨ altnisses zu den Musen in christlicher Zeit: E. R. Curtius, Die Musen im Mittelalter, in: Zeitschrift f ¨ ur Romanische Philologie 59 (1939) 129-188, Erg ¨ anzungen: 65 (1943) 256-268. Zusammenfassend Klopsch, Einf ¨ uhrung in die Dichtungslehre des lateinischen Mittelalters, 1980, Kap. ”Apoll und die Musen“, 26-37. Sekund¨ are Quellen der Inspiration 137 altgriechischen Kom ¨ odienautors Kratinos (5. Jh. v. Chr.) er ¨ offnet: Kein Gedicht k ¨ onne lange gefallen und lange leben, das von Wassertrinkern geschrieben werde. Seit Bacchus seinen Satyrn und Faunen auch die Dichter beigesellt habe, so f ¨ ahrt er fort, dufteten die Musen morgens nach Wein. Schon Homer habe den anregenden Weingenuß gesch ¨ atzt, und ”Vater Ennius“ habe sich im Rausch der Trunkenheit auf die Darstellung von Waffentaten gest ¨ urzt. Zu den Dichtern, die dem Wein als Inspirationsquelle zugesprochen haben (sollen), h ¨ atte Horaz Aristophanes hinzurechnen k ¨ onnen, der immerhin in den Rittern 349ff. verlautete, daß kein gewaltiger Redner erstehe ohne den Wein, und in den Wespen 80, daß die Trinkfreude zu jedem braven Mann geh ¨ ore. Von Aischylos berichtet Plutarch (Symposiakon 622b), er habe s ¨ amtliche Trag ¨ odien im Rausch geschrieben. Das fr ¨ uheste sichere Zeugnis f ¨ ur dichterische Inspiration durch Wein findet sich in einem Fragment des Archilochos (1. H ¨ alfte des 7. Jhs. v. Chr.), der trinkfreudig bekennt: ” . . . das sch ¨ one Lied des Herrn Dionysos anzustimmen verstehe ich, den Dithyrambos, wenn der Wein wie ein Blitz meine Sinne bet ¨ aubt hat.“ 56 In der antiken ¨ Uberlieferung, die Horaz wiedergibt, galt Kratinos, der ¨ uberragende Repr ¨ asentant der alten attischen Kom ¨ odie, als Begr ¨ under der Weindoktrin. Diesen Ruf verdankte er seiner letzten Kom ¨ odie Πυτ´ινη (Pyt´ın¯ e, ’Die Flasche‘ ), in der er sich selbst als weininspirierten Poeten verspottete, der sich fortw ¨ ahrend vor seiner Frau Komoid´ıa, der Personifikation seiner Dichtungsart, rechtfertigen muß, weil sie sich durch seine Neigung zur ’Flasche‘ vernachl ¨ assigt f ¨ uhlt. Von dem genialen Einfall, in eigener Person das F ¨ ur und Wider dichterischer Trunksucht als lustiges Spektakel zu thematisieren, ist ein Trimeter aus einer Verteidigungsrede erhalten geblieben, der sprichw ¨ ortlich geworden ist: ”Wer Wasser trinkt, der bringt was Rechtes nie hervor! “ 57 Mit der Zur ¨ uckweisung des Wassers muß antithetisch das Lob des Weines als Dichtergetr ¨ ank gekoppelt gewesen sein, wie Wiederholungen des Diktums in sp ¨ aterer Dichtung zeigen. Eine originalnahe Fassung scheint Nikainetos von Samos (2. H ¨ alfte des 3. Jhs. v. Chr.) zu bieten, in einem ihm zugeschriebenen Epigrammteil mit den Versen: ”Wahrlich der Wein ist ein feuriges Roß dem erg ¨ otzlichen S ¨ anger. / Wer Wasser trinkt, der bringt was Rechtes nie hervor.“ 58 Der Text des Archilochos legt es nahe, den Ursprung der These von der Inspiration durch Wein eng mit der g ¨ ottlichen Inspiration zu verbinden. Ihr 56 Archilochos, frg. 120 West ( ¨ Ubers. R. Nickel). 57 Kratinos frg. 199 Kassel/ Austin. 58 ¨ Uberliefert ist der Epigrammteil bei Athenaios, Deipnosophistae 2, 9 (Kaibel), einem Philosophen und grammaticus vom Ende des 2. Jhs. n. Chr., der dem Thema des Weingenusses in der genannten Schrift nachgegangen ist. Otto Weinreich hat in der Textausgabe L. Seeger/ O. Weinreich (Hg.), Aristophanes: S ¨ amtliche Kom ¨ odien, 2 Bde., Z ¨ urich 1953, diese Hinweise zu einer von Kratinos ausgehenden ¨ Ubersicht verarbeitet (Bd. 2, 381-393, ¨ Ubersetzungen nach dieser Ausgabe). 138 Qualifikationsprofile des Dichters Aufkommen h ¨ angt offenbar zusammen mit der Dithyrambendichtung zu Ehren des Dionysos, der als Weingott mit seinem Getr ¨ ank gefeiert wurde, aber mit der Zust ¨ andigkeit f ¨ ur Musik, Gesang, Tanz und Theater von vornherein der Dichtung nahestand. Die Verbindung der Dithyrambendichtung, indirekt auch des Dionysoskults, mit Wein bezeugt im 5. Jh. v. Chr. auch Epicharmos in einem Versfragment, das sich an einen Dichter - ihn selber? - wendet: ”Das wird kein Dithyrambos, wenn du Wasser trinkst.“ 59 Neben der dithyrambischen Traditionslinie mit religi ¨ osem Hintergrund muß es sehr fr ¨ uh eine abgeleitete s ¨ akulare gegeben haben, in der man den Weingenuß als allgemeines Stimulans poetischer Produktionskraft auffaßte. Diese Linie muß bereits Kratinos vertreten haben. Bei Horaz erscheint die Sache dadurch scheinbar kompliziert, daß in der klassischen r ¨ omischen Literatur Bacchus (Dionysos) zum Dichtergott geworden ist. ”Wer zur Zunft der Dichter z ¨ ahlt,. . . f ¨ uhlt sich als Sch ¨ utzling des Bacchus“ (cliens Bacchi), teilt Horaz in der Epistel An Florus mit. 60 Dieser Gott reißt ihn fort zu ekstatischer Begeisterung, in der er den Ruhm des g ¨ ottlichen Augustus besingt (carm. 3, 25) oder den vision ¨ ar geschauten Gott selbst preist (carm. 2, 19). Horaz’ Bacchusgedichte sind jedoch auch mehr oder minder erkennbar verkleidete, mit reichlich poetisch-mythologischer Kulisse versetzte Hymnen auf den Wein und seine befl ¨ ugelnde Wirkung auf den Dichter. Konkreter zum Ausdruck kommt dies in der Ode 3, 19, die ein großes Gelage zum Thema hat, das der neugew ¨ ahlte Augur Murena zur Feier seines Aufstiegs in seinem Hause gab. Der Wein floß in Str ¨ omen, ausgeschenkt wurde er nach den unverd ¨ unnt genossenen Bechern der zuerst ausgebrachten Toasts im ¨ ublichen Mischungsverh ¨ altnis von drei Teilen Wein und neun Teilen Wasser. Hier merkt Horaz nun aber in den Versen 14-16 an, daß ein Dichter - auch er selbst - besseren Wein haben m ¨ usse: einen umgekehrt aus neun Teilen Rebensaft und nur drei Teilen Wasser gemischten. Die Begr ¨ undung ist vielsagend: ”Wer als Dichter begeistert und entr ¨ uckt die Neunzahl der Musen liebt, / wird dreimal drei Becher Wein (und nur einen mit Wasser) haben wollen.“ 61 F ¨ ur den Dichter, der etwas schaffen will (Qui Musas amat. . . vates) und dazu Aufschwung und Inspiration braucht, ist der Wein in konzentrierter Form eine Quelle der Produktivit ¨ at, im Effekt mit der Eingabe g ¨ ottlicher Begeisterung vergleichbar. Der Auftrieb, der im Weingenuß gesucht wird, ließ sich durch Bezug auf Bacchus ganz herk ¨ ommlich verkleiden. Properz bevorzugte diese Archaisierung, so in der Elegie 3, 17, 19f., wo er gelobte, er wolle, wenn es ihm nie an Wein fehle, f ¨ ur den Rest seiner Tage nur noch f ¨ ur Bacchus leben und Dichter seiner Wirkkraft 59 Epicharmos, frg. 78 Olivieri. 60 Horaz, Epistulae 2, 2, 77f. 61 Horaz, carmina 3, 19, 13f.: qui Musas amat imparis, / ternos ter cyathos attonitus petet / vates. Angeborenes Talent - erworbenes K¨ onnen 139 sein 62 ; so auch in 4, 6, 76, einer Anrufung um dichterische Inspiration, in der es heißt: ”Bacchus, du pflegst deinem Bruder Phoebus Apollo segensreich zu sein.“ 63 Das heißt: Du bringst f ¨ ur ihn Gedichte und Lieder in großer Zahl hervor; der Wein ist eine h ¨ aufige, sehr produktive Inspirationsquelle. Wieviel Produktivkraft er geben kann, erf ¨ ahrt man in einem Epigramm Martials: ”Nichts bringe ich zustande, wenn ich n ¨ uchtern bin, / doch trinke ich, werden mir f ¨ unfzehn Dichter zu Hilfe kommen.“ 64 Der Spruch des Kratinos und die Wiederaufnahme in Horaz’ Epistel an Maecenas haben eine Doktrin dichterischer Inspiration begr ¨ undet, die in der mittelalterlichen Poesie fortgesetzt und in der Renaissance in Poetiken erneut bekr ¨ aftigt wurde, so daß sie sogar in den nationalsprachlichen Literaturen Europas bis zum 18. Jh. fortwirkte. 65 6.3 Angeborenes Talent - erworbenes K ¨ onnen In den Versen 408ff. der Ars poetica hat Horaz pr ¨ agnant festgehalten, was ¨ uber Grundvoraussetzungen des Dichtertums vor ihm und noch zu seiner Zeit als offenes Problem diskutiert worden ist: natura fieret laudabile carmen an arte, quaesitum est. ”Entsteht ein preisenswertes Gedicht durch angeborenes Talent oder durch erworbene Kunstfertigkeit? Diese Frage ist und wird gestellt.“ Horaz hat sie f ¨ ur sich sehr entschieden beantwortet: ”Ich sehe nicht, was das Bem ¨ uhen vermag ohne die Blutader des inneren Reichtums, und was die nat ¨ urliche Begabung, der die Ausbildung fehlt. Es fordert doch das eine des anderen Unterst ¨ utzung und steht mit ihm in freundschaftlichem Bunde.“ 66 In den Versen 408-411 hat Horaz die lateinischen Termini zitiert, die in der Theoriediskussion eine zentrale Rolle spielten: natura, die ’nat ¨ urliche Anlage‘ , die ’angeborene F ¨ ahigkeit‘ , die ’Begabung‘ , das ’Talent‘ ; das in diesem Begriffskreis mit natura synonyme ingenium, sowie ars, die Bezeichnung f ¨ ur das ’K ¨ onnen‘ , die ’Kunstfertigkeit‘ mit der Konnotation der Erwerbbarkeit. Begrifflich schloß die lateinische Nomenklatur eng an die griechische an. Dem lat. natura entsprach das griech. φ<σις (ph ´ ysis), das zun ¨ achst die außermenschliche Objektwelt bezeichnet hatte, von der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. ab 62 Properz, Elegiae 3, 17, 19f.: quod superest vitae per te et tua cornua vivam, / virtutisque tuae, Bacche, poeta ferar. 63 Ebda. 4, 6, 75f.: ingenium potis irritat Musa poetis: / Bacche, soles Phoebo fertilis esse tuo. 64 Martial, Epigrammata 11, 6, 12f.: Possum nil ego sobrius; bibenti / Succurrent mihi quindecim poetae. 65 Skizze des Fortwirkens in der Neuzeit (Erasmus, Rabelais, Opitz, F. v. Logau, Lichtenberg, Goethe, Wilhelm M ¨ uller) von O. Weinreich in der Textausgabe zu Aristophanes (Fn. 58), 390ff. 66 Horaz, Ars poetica 409-411: ego nec studium sine divite vena / nec rude quid prosit video ingenium: alterius sic/ altera poscit opem res et coniurat amice. 140 Qualifikationsprofile des Dichters aber philosophisch, naturwissenschaftlich, medizinisch und sprachbezogen auch auf den Menschen, seinen Organismus wie auch sein Wesen, seine angeborenen F ¨ ahigkeiten und seine inneren Anlagen angewandt wurde. Die Ausweitung des Physis-Begriffs auf angeborene Wesensmerkmale hat von der sophistischen Philosophie an die Frage nach dem ethisch-moralischen Grund des Menschen und den M ¨ oglichkeiten der Verbesserung auf der Tagesordnung gehalten, w ¨ ahrend sich f ¨ ur die Rhetorik und die Poetologie fortan das Problem stellte, auf das Horaz bei der Behandlung des sprachk ¨ unstlerischen artifex eingehen mußte: Braucht, wer ein Sprachkunstwerk schaffen will, f ¨ ur das Erreichen dieses Zieles nur ein angeborenes Talent, oder gen ¨ ugt stattdessen eine entsprechende Ausbildung, oder aber m ¨ ussen Begabung und erlerntes K ¨ onnen zusammenkommen, wie er es darlegt? Der natura/ φ<σις steht scheinbar polar der Begriffder ars, griech. τ χνη (t ´ echn ¯ e), gegen ¨ uber. Er meint ein durch Lernprozesse ’erworbenes K ¨ onnen‘ , eine ’angeeignete Fertigkeit‘ . Zugrunde liegen eigene oder vermittelte Erfahrungen, die in systematischer, durchdachter Form lehr- und lernbare Regeln ergeben haben, wie man ein gew ¨ unschtes Ziel erreichen kann. W ¨ ahrend die natura/ φ<σις sich nicht erweitern, sondern in ihrer Richtung nur f ¨ ordern l ¨ aßt, ist jede ars/ τ χνη bis zur h ¨ ochsten Kompetenzstufe steigerbar. Der Erwerb eines K ¨ onnens setzt allerdings eine Begabung hierf ¨ ur, die Erwerbsf ¨ ahigkeit, voraus: die nat ¨ urliche Disposition, Erfahrung und Lehre auf einem bestimmten Gebiet aufzunehmen und zur Vervollkommnung einer F ¨ ahigkeit zu verarbeiten. So betrachtet, ist das Verh ¨ altnis zwischen natura/ φ<σις und ars/ τ χνη eher interdependent als polar zu nennen. Im Gegensatz zum modernen Kunstbegrifferstreckten sich die artes/ τ χναι auf jede von einem Menschen planvoll ins Werk gesetzte Handlung, umfaßten also auch den gesamten technisch-handwerklichen Bereich. Aristoteles hat in der Metaphysik die Skizze einer Dreiergliederung niedergelegt. Sp ¨ atere, darunter Quintilian, haben sie ausgef ¨ uhrt. Sie gruppiert die artes/ τ χναι nach den Konkretheitsgraden des geschaffenen Werkes. Den h ¨ ochsten Konkretheitsgrad erreichen die poietischen K ¨ unste, die ’herstellenden‘ , deren Werke Dauer haben k ¨ onnen: die Dichtkunst, die Malerei, die Baukunst usw., aber auch die Handwerke, die Gegenst ¨ andliches produzieren. Einer Gruppe minderen Ranges sind die ’praktischen‘ K ¨ unste zuzurechnen. Sie haben den Schwerpunkt im Handeln und Ausf ¨ uhren, so die Musik, der Tanz, die Schauspielkunst, die Rezitation, die Redekunst, aber auch das Steuern eines Schiffs, die Kriegskunst, die Heilkunst usw. Auf der untersten Stufe der Konkretheit stehen die ”theoretischen“ K ¨ unste; sie produzieren mittels inspectio Erkenntnisse oder Werturteile und bilden daher haupts ¨ achlich die Kategorie, in der das wissenschaftliche K ¨ onnen seinen Platz hat. Durchgesetzt hat sich die Aristotelische Dreiergliederung nach dem Konkretheitsgrad des mittels ars/ τ χνη Hergestellten nicht. Sie wurde vor allem von Seiten der Rhetoriklehre beiseitegeschoben zugunsten einer Grundunterscheidung mit Angeborenes Talent - erworbenes K¨ onnen 141 erkennbarer sozialer Differenzierung: der Aufteilung in artes liberales (K ¨ unste des freien B ¨ urgers, die nicht dem Gelderwerb dienen) und artes mechanicae (K ¨ onnen der praktischen Berufe). Unter den geisteswissenschaftlichen artes/ τ χναι , die das sog. Trivium darstellten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik), den Kern des antiken Erziehungs- und Bildungsprogramms, vermißt man die Dichtkunst. Fehlt sie, weil ihr p ¨ adagogischer Wert auf Grund des ”alten Streits“ (Platon) ¨ uber ihren Wahrheitsbezug strittig war? Oder hat doch in der von Horaz angef ¨ uhrten Alternative der Denkrichtungen den Ausschlag die Auffassung gegeben, daß dichterisches K ¨ onnen von vornherein eine Sache der Begabung, nicht des Lernens sei? Wie das an den Anfang gestellte Horaz-Zitat zeigt, konnte die nat ¨ urliche Anlage, das angeborene Talent, die Begabung auch mit dem - seit Plautus, Naevius und Terenz gut bezeugten - Terminus ingenium bezeichnet werden. Stilistisch diente das Wort wie an der zitierten Stelle als variatio zu natura, funktional jedoch war der Bezug im allgemeinen auf den Menschen beschr ¨ ankt, obendrein mit der Besonderheit, daß damit nur positiv gewertete Naturanlagen angesprochen werden konnten. Hier scheint eine Br ¨ ucke zum griech. ε; φ<ια (euph ´ yia) zu bestehen, einem mit φ<σις verwandten Wort, das in klassischer Zeit sich ganz ¨ ahnlich auf die ’gute Naturanlage‘ eines Menschen, aber auch eines Tieres beziehen konnte. Im Sp ¨ at- und Mittellatein hat ingenium eine zunehmende semantische Fixierung auf die geistig-intellektuellen F ¨ ahigkeiten des Menschen erfahren, verbunden mit einer ¨ ahnlichen, im Sp ¨ atlateinischen einsetzenden Entwicklung von genius ’m ¨ annliche Zeugungskraft, Schutzgeist, D ¨ amon, Wesensart von Personen und Sachen, Eigenart einer hochstehenden Person‘ zur Bezeichnung außergew ¨ ohnlicher geistiger Sch ¨ opferkraft und ihres Tr ¨ agers, woraus ( ¨ uber frz. g´ enie) dt. Genie, der ¨ asthetische Leitbegriffdes 18. Jhs., hervorgegangen ist. Aufgekommen ist das Problem der Wechselbeziehung von natura (ingenium) und ars, die Natura-ars-Dialektik (Lausberg), bei der Herausbildung der Redelehre. W ¨ ahrend n ¨ amlich Ursprung und Entfaltung der Dichtung als Wirkungen g ¨ ottlicher M ¨ achte gesehen wurden, erschien die Rede von vornherein als Menschenwerk. Nicht Apollon und die Musen galten als ihre Stifter, sondern Homers Epen. Mit der schon an den Reden der Ilias und der Odyssee abgelesenen Erkenntnis, daß der Stil einer ¨ Außerung von der Person des Sprechers abh ¨ angt, ist man in der Reflexion der Performanz bereits vorsystematisch zu der Einsicht gelangt, daß nat ¨ urliche Begabung ( φ<σις ) und erworbenes K ¨ onnen ( τ χνη ) als pers ¨ onliche Voraussetzungen f ¨ ur das Gelingen und die Qualit ¨ at einer Rede ausschlaggebend sind. Greifbar wird die Natura-ars-Dialektik erstmals im 5. Jh. v. Chr. bei Demokrit und Epicharmos, Naturphilosoph der eine, ber ¨ uhmter Kom ¨ odienautor der andere. Ein Fragment Demokrits teilt mit: ”Natur und Erziehung sind etwas ¨ Ahnliches. Denn die Erziehung formt zwar die Menschen um, aber durch diese Umformung schafft sie Natur.“ 67 Deutlicher trennend formuliert Epicharmos: ”Die (rechte) Ver- 67 Diels/ Kranz 68 B 33: 〈X φ<σις κα X διδαχ6 παραπλ σι ν (στι. κα γ=ρ X διδαχ6 μεταρυσμο% τ ν #νθρωπον, μεταρυσμοCσα δ φυσιοποιε%〉. 142 Qualifikationsprofile des Dichters anlagung haben, das ist das Beste, das zweite, etwas lernen.“ 68 Die ¨ Außerungen geben allgemeine Einsch ¨ atzungen wieder, aber mit ihrem p ¨ adagogischem Tenor decken sie auch das Gebiet der Rednerausbildung ab. Sie stimmen darin ¨ uberein, daß sie von einer unabdingbaren entwicklungsf ¨ ahigen Naturbegabung ausgehen, zu der Lehre f ¨ ordernd hinzukommt. Sieht Demokrit auf das Ergebnis des Zusammenwirkens von Begabung und Lehre, die voll herausgebildete Leistungsf ¨ ahigkeit des Sch ¨ ulers (in sp ¨ aterer Terminologie die natura secunda oder consuetudo), so er ¨ offnet Epicharmos mit der Einstufung, die Veranlagung sei das Beste, Lehre das Zweitbeste, den endlosen Diskurs dar ¨ uber, was und wieviel die Unterweisung und der Wissensgewinn aus Erfahrung zur perfekten Beherrschung einer Fertigkeit beitragen k ¨ onnen. In der griechischen Redelehre, soweit wir sie bei der l ¨ uckenhaften Quellenlage ¨ uberblicken, ist wie bei der Entscheidung Epicharmos’ offenbar h ¨ aufig der angeborenen Veranlagung der Vorrang vor der Ausbildung einger ¨ aumt worden. So ist auch f ¨ ur Platons Zeitgenossen Isokrates die Begabung, die ein Redesch ¨ uler mitbringt, die Grundvoraussetzung f ¨ ur sp ¨ ateren Erfolg; die Ausbildung kann nur leisten, die Anlagen zu entfalten, die Qualifikation zu vervollkommnen. 69 Auch Platons Sokrates antwortet Phaidros auf die Frage, wie man sich im Gegensatz zur falschen Art der Rede die wahre Kunst aneignen k ¨ onne, daß diese eine nicht erwerbbare Gabe der Natur sei; sie m ¨ usse aber entwickelt werden: ”Wenn du eine von Natur rednerische Anlage hast, so wirst du ein ber ¨ uhmter Redner werden, sofern du noch Wissenschaft und ¨ Ubung hinzuf ¨ ugst.“ 70 In der fr ¨ uhr ¨ omischen Rhetorik, die von der sp ¨ athellenistischen beeinflußt ist, ¨ andert sich das Bild auffallend. Kronzeuge ist hier der ¨ altere Cato (234-149 v. Chr.), der mit der Definition des Redners als vir bonus dicendi peritus sittliche Integrit ¨ at und Praxiserfahrung obenan setzte. Die ¨ altesten erhaltenen Redelehren Roms, die Rhetorica ad Herennium eines Unbekannten (Fr ¨ uhansatz: 86/ 82 v. Chr.) und Ciceros De inventione (81/ 80 v. Chr. verfaßt), erkennen der Begabung auch keine Priorit ¨ at mehr zu, streichen eher die ars heraus. 71 Eine Wende zur ¨ uck zu den klassisch-griechischen Auffassungen bringen in Rom jedoch Ciceros große rhetorische Schriften. Am klarsten l ¨ aßt Cicero in De oratore den Dialogpartner Crassus darlegen, daß die nat ¨ urliche Begabung die Grundlage aller Redekunst 68 Ebda. 23 B 40: φ<σιν "χειν #ριστ ν (στι, δε<τερον δ 〈μανθ νειν〉. 69 Isokrates, Περ ντιδ σεως 178-194. 70 Platon, Phaidros 269e-270a. 71 Die Rhet. Her. f ¨ uhrt nur die Stimmkraft (3, 20) und die Merkf ¨ ahigkeit des Redners (3, 28-29) auf die Naturgabe zur ¨ uck. Die Auffindung des Stoffes (inventio), dessen Anordnung (dispositio), die Ged ¨ achtnisleistung (memoria) und die Vortragsweise (pronuntiatio) sind allesamt F ¨ ahigkeiten, die erworben werden durch theoretische Unterweisung, Nachahmung und ¨ Ubung (arte, imitatione, exercitatione) (1, 3, 14). Cicero will es in De inventione (1, 6, 2ff.) offenlassen, ob die Rede auf erworbener Fertigkeit, ¨ Ubung, Neigung oder angeborenem Talent beruht. Angeborenes Talent - erworbenes K¨ onnen 143 sei, sie bed ¨ urfe nur der ars, um Defizite auszugleichen, die zum orator perfectus fehlen w ¨ urden. Im Brutus l ¨ aßt Cicero die r ¨ omischen Redner Revue passieren, um nebenbei vor Augen zu f ¨ uhren, in welchem Maße Unterschiede der Naturanlagen unterschiedliche oratores hervorgebracht haben. Nachciceronisch ist immer wieder der Primat der Naturanlage best ¨ atigt worden; schließlich empfahl Augustinus den christlichen Rednern, sich ¨ uberhaupt nicht um die Rhetoriklehre zu k ¨ ummern, sondern beredte M ¨ anner zu lesen oder zu h ¨ oren und sie dann in eigener ¨ Ubung nachzuahmen. 72 Es ist verst ¨ andlich, daß in der fr ¨ uhgriechischen Adelskultur das dichterische Talent ebenso wie die charakterliche Vortrefflichkeit, die kriegerische T ¨ uchtigkeit, die Hochleistung im Wettkampf und die politische F ¨ uhrerschaft zu den F ¨ ahigkeiten gerechnet wurden, die nach geltender Auffassung Angeh ¨ origen der oberen Schichten als Gaben der Natur schon in die Wiege gelegt waren. Pindar (ca. 520-nach 446 v. Chr.), der ¨ uberragende Vertreter der alten Chorlyrik, der Sproß einer prominenten thebanischen und spartanischen Adelsfamilie, hat denn auch als Quelle seines poetischen K ¨ onnens nicht nur die Muse und den g ¨ ottlichen Beistand genannt, sondern im Rahmen der besonderen Wesensart ( φυ , phy ´ a) eine angeborene dichterische ”Weisheit“ ( σοφ α , soph´ıa). Diese sophia schloß ethische und ¨ asthetische Nobilit ¨ at ein; sie umfaßte ein Wissen, das in der Kenntnis des Vergangenen und in der prophetischen Vorausschau in die Zukunft dem Allwissen der G ¨ otter nahekam, vor allem aber - und das interessiert hier prim ¨ ar - bezeichnete Pindar mit sophia die k ¨ unstlerische Meisterschaft des Dichters im Ganzen. Die konnte nicht gelernt werden, war eine Gabe der Geburt. Wer, ohne sie zu besitzen, zu dichten unternahm, konnte nach einem typischen Bildvergleich Pindars nur kr ¨ achzen wie die Kr ¨ ahen. Die Verse 86-88 der 2. Olympischen Ode fassen Pindars Credo zusammen: ”Weise ist, wer vieles weiß aus der angeborenen Art; die Gelernten aber m ¨ ogen ungehemmt in ihrer Alltagsgeschw ¨ atzigkeit wie Kr ¨ ahen Unvollendetes kr ¨ achzen neben dem g ¨ ottlichen Vogel des Zeus.“ 73 Wer zum Dichter begabt und berufen ist, zu einem ”weisen Mann“ ( ν6ρ σοφ ς ), der kann gut seines Amtes walten, die T ¨ uchtigkeit zu preisen: ”Denn eine leichte Gabe ist es f ¨ ur den weisen Mann, f ¨ ur die vielf ¨ altigen M ¨ uhen ein gutes Wort zu sprechen und das Sch ¨ one aufzurichten, das verbindet“. 74 Pindars Feier des naturbestimmten Dichteradels war aber schon ein Abgesang, denn l ¨ angst hatten sich Aufsteiger als Poeten einen Namen gemacht. Zudem k ¨ undigte der 72 Augustinus, De doctrina christiana 4, 3, 40ff.. 73 Pindar, Olympische Oden II, 85-88: σοφ ς V πολλ= εHδlς φυ5$G / μαθ ντες δ λ βροι / παγγλωσσ α$ κ ρακες qς #κραντα γαρυ των Δι ς πρ ς rρνιχα θε%ον. 74 Pindar, Isthmische Oden I, 45-47: (πε κο<φα δ σις νδρ σοφ: / ντ μ χθων παντοδαπ: ν "πος εH- / π ντO γαθ ν Aυν ν 8ρθ: σαι καλ ν. 144 Qualifikationsprofile des Dichters fortschreitende Wandel von der Adelsgesellschaft zum Polisb ¨ urgertum ein Ende der Sozialstruktur an, in der besondere Begabung als selbstverst ¨ andliche Mitgift hoher Geburt galt. Den Ver ¨ anderungen zum Trotz beherrschten die Idee der g ¨ ottlichen Inspiration des Dichters und die auf sie gegr ¨ undete Enthusiasmuslehre das poetologische Denken der Antike weiter nachhaltig; freilich auch, weil sie die Position der Dichtkunst gegen ¨ uber der Philosophie und der Rhetorik st ¨ utzten. Sie verschafften ihr eine gewisse religi ¨ ose Weihe, die sie auf der einen Seite von der auf bloße ¨ Uberredung zielenden Redelehre abhob, ihr auf der anderen Seite die Chance bot, dem Vorwurf der Philosophen, sie l ¨ uge, mit dem Argument entgegenzutreten, daß sie g ¨ ottliche Wahrheit vermittle. Erkl ¨ arungen der Dichtung als Erzeugnis hervorragender Begabung oder einer zielstrebig angeeigneten Technik sind unter diesen Voraussetzungen verst ¨ andlicherweise selten, werden h ¨ ochstens als Zusatzbegr ¨ undungen geliefert. Hier ist auch Platons Einsch ¨ atzung von Interesse. Wie schon bemerkt, l ¨ aßt er Sokrates in der Apologie 22c einmal sagen, daß die Dichter nicht durch Weisheit dichten, was sie dichten, sondern außer durch die g ¨ ottliche Begeisterung durch eine naturgegebene Veranlagung ( φ<σις ). Auf sie kommt Platon in anderen ¨ Außerungen ¨ uber die Dichter nicht mehr zur ¨ uck. Gar nichts h ¨ alt er aber vom Lernen der Dichtkunst, wie dem Phaidros 245a zu entnehmen ist. Dort warnt Sokrates vor dem Irrglauben, mit angelernter Kunstfertigkeit zum Ziel kommen zu k ¨ onnen: Wer meint, ”er k ¨ onne durch Kunst ( τ χνη ) allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst ungeweiht und auch seine, des Verst ¨ andigen, Dichtung wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt“. Platons Bewertung der Faktoren, die den Dichter zum Dichter machen, ist hiernach eindeutig: Alles bewirkt die g ¨ ottliche Begeisterung, angeborenes Talent ist f ¨ orderlich; erworbene Kunstfertigkeit allein bringt nur poetische Machwerke minderer Qualit ¨ at hervor. Aristoteles hat in seinen ¨ asthetischen Grundlegungen die Kunst mit der dem Menschen angeborenen Neigung zur Nachahmung (Mimesis) erkl ¨ art. Die Nachahmung bereite Freude und Vergn ¨ ugen, zumal da sie mit Erkenntnis verbunden sei und der Erkenntnisgewinn selbst Lust bewirke. Mit dieser Kunstbegr ¨ undung hat Aristoteles die Dichtung von den auf g ¨ ottlicher Liedstiftung (Apollon, Musen) oder auf alte Mythengestalten (Orpheus, Amphion) gest ¨ utzten Ursprungstheorien gel ¨ ost und sie rational fundiert. Es liegt von daher nahe, Aristoteles als Antipoden der Enthusiasmuslehre zu sehen, der die Qualifikation f ¨ ur den Dichterberuf an die Veranlagung ( φ<σις ) und an das erlernbare K ¨ onnen ( τ χνη ) bindet, doch werden zwei Aussagen, allerdings in Schriften außerhalb der Poetik, angef ¨ uhrt, die nicht in dieses Bild zu passen scheinen: eine sehr problematische in der Politik, nach der die Dichtung ”orgiastisch und pathetisch“ w ¨ are, eine andere, auf den ersten Blick stichhaltiger erscheinende in der Rhetorik, wo Aristoteles die Dichtung als Angeborenes Talent - erworbenes K¨ onnen 145 ”gotterf ¨ ullt“ charakterisiert. 75 M ¨ oglicherweise hat er sich zur Enthusiasmuslehre in der verlorenen Schrift ¨ Uber den Dichter klarer ausgesprochen. Signifikant ist jedoch, daß er in der Poetik davon Abstand nimmt, den Dichter und sein Werk mit der Enthusiasmuslehre in Verbindung zu bringen. Gleich zu Beginn des 4. Kapitels (1448b4) werden f ¨ ur die Entstehung von Dichtung als Kunst die zwei erw ¨ ahnten Ursachen verantwortlich gemacht, die beide in der Natur des Menschen liegen: der Trieb zur Nachahmung sowie die Freude und die Lust, die diese hervorruft. Auch die vorliterarische Ausformung der Dichtung sei nach Aristoteles von Altvorderen geleistet worden, die f ¨ ur die Nachahmung wie auch f ¨ ur Melodie und Rhythmus die gr ¨ oßte Begabung besessen h ¨ atten. In einer sp ¨ ateren Phase habe sich die Dichtung nach den unterschiedlichen Charakteren der Dichter aufgeteilt: die Ernsthafteren h ¨ atten gute Handlungen und gute Charaktere nachgeahmt, die Gew ¨ ohnlicheren jedoch das Handeln gew ¨ ohnlicher Leute, woraus schließlich die Gattungen hervorgegangen seien. Trotz der Musenanrufe in den Epen ist f ¨ ur Aristoteles selbst Homers Werk das Produkt eines rational begr ¨ undbaren Dichtertums. Im 8. Kapitel der Poetik, bei der Frage, was die Einheitlichkeit und Ganzheit einer Handlungsdarstellung ausmache und wie sie zu erreichen sei, stellt er fest, Homer, ¨ uberlegen wie er sich auch sonst zeige, scheine auch in diesem Punkt das Richtige erkannt zu haben. Begr ¨ undend f ¨ ugt er an: ” . . . sei es durch Kunstverstand (so Fuhrmann; ¨ Ubersetzung Schmitt: aus technischer Beherrschung < des dichterischen Ausdrucks > ) oder durch seine nat ¨ urliche Begabung“ (1451a24). Mit τ χνη und φ<σις , die im griechischen Text stehen, formuliert Aristoteles hier die Voraussetzungen, die das rationale Denken in Zukunft mit dem Dichterberuf verbinden wird. 75 In der Politik, bei der Betrachtung der Wirkung bestimmter Tonarten, Melodien und Instrumente, bemerkt Aristoteles, daß die phrygische Melodik ebenso wie das Aulosspiel bei den Zuh ¨ orern ”orgiastisch und pathetisch“ wirke. Die Wirkung des Aulos zeige sich auch bei der Dichtung, denn er gebe das Bacchantische und alle Erregung besser wieder als andere Begleitinstrumente (Politik 1342b1ff.: "χει γ=ρ τ6ν α; τ6ν δ<ναμιν X φρυγιστ τ: ν \ρμονι: ν sνπερ α; λ ς (ν το%ς 8ργ νοιςG #μφω γ=ρ 8ργιαστικ= κα παθητικ ). Schmitt (Aristoteles, Poetik 2008: 552) hat auf die Stelle als eventuellen Beleg f ¨ ur die Enthusiasmustheorie bei Aristoteles hingewiesen, sie ist aber nicht beweiskr ¨ aftig, da sie auf die Musik und orgiastische (kultische? ) Akte zielt. In der Rhetorik 1408b19 heißt es: Eine von vielen Wortzusammensetzungen, Epitheta und Lehnformen gespickte pathetische Redeweise, die die Zuh ¨ orer ergreift, wenn der Redner selbst emotional ergriffen ist, passe auch zur Dichtung, ”denn die Dichtung ist gotterf ¨ ullt“ ( "νθεος ). ¨ Ubersetzungsvarianten: ”inspiriert“ (Krapinger), ”enthusiastisch“ (B ¨ uttner), ”begeisternd“ (Rapp), ”Poesie ist [Ausdruck der] Begeisterung“ (Sieveke), ”inspir ´ ee“ (Dufour/ Wartelle). Jede Interpretation der Stelle sollte zum Ausdruck bringen, daß das von Aristoteles gesetzte "νθεος das Dichten und die Dichtung auf eine g ¨ ottliche Wirkkraft zur ¨ uckf ¨ uhrt. 146 Qualifikationsprofile des Dichters Ganz eine Sache der Begabung, als einziges Gestaltungsmittel auch nicht lernbar, ist nach dem 22. Kapitel der Poetik das Finden von Metaphern. Die Sprache der Dichtung muß metaphorisch reich sein, das sei das Allerwichtigste auf der Ausdrucksseite, heißt es da. Die Anspr ¨ uche an gute und dicht eingelegte Metaphorik erf ¨ ullen zu k ¨ onnen, sei ”ein Zeichen hoher Begabung“ ( ε; φ<ια , euph ´ yia). Die Metaphernbildung setze, wie Aristoteles begr ¨ undend fortf ¨ ahrt, besondere kognitive F ¨ ahigkeiten des Einzelnen voraus, im Verschiedenen ¨ Ahnlichkeiten zu erkennen und poetisch auszuwerten. Schmitt: Aristoteles, Poetik (2008: 651) bemerkt im Hinblick auf die Ideenentwicklung, der Hinweis des Aristoteles, daß die metaphorische Sprache der geistigen Veranlagung entspringt, verbinde seinen Dichter bereits mit der Genie ¨ asthetik des 18. Jhs. Im 17. Kapitel der Poetik wendet sich Aristoteles der Frage zu, wie eine Handlung dargestellt werden muß, damit Zuh ¨ orer oder Zuschauer sie so beteiligt erleben, als seien sie dabei gewesen. Der Schl ¨ ussel liegt f ¨ ur den Stagiriten beim Dichter: Er muß in der Lage sein, die Sache, um die es geht, so anschaulich wie m ¨ oglich ’vor Augen‘ zu stellen. Am ¨ uberzeugendsten gelinge dies denjenigen, die selbst die Gef ¨ uhle empfinden, die ausgedr ¨ uckt werden sollen: ”Wer selbst erregt ist, stellt Erregung, wer selbst Zorn empfindet, stellt Zorn am wahrhaftesten dar“ (1455a30ff.). Die Dichtkunst erfordere entsprechende Begabungen, die Aristoteles zwei unterschiedlichen Dichtertypen zuerkennt: ”Deshalb ist Dichtung Sache eines Naturbegabten oder eines Manischen, denn die einen von ihnen haben eine sehr bewegliche Einbildungskraft, die anderen k ¨ onnen ganz aus sich heraustreten“. 76 Aristoteles trennt hier scharf analysierend zwei Naturanlagen, die mit variierenden Anteilen eher vermischt als einzeln begegnen, n ¨ amlich die bewegliche Einbildungskraft des Dichters, die dem ’Bild‘ plastische Deutlichkeit verleiht, und eine leidenschaftlich erregbare Wesensart, welche die Gef ¨ uhle so intensiv (mit)erlebt und poetisch umsetzt, daß auch die Rezipienten auf das st ¨ arkste emotionalisiert werden. Auf die Interpretation der Stelle, die hier an die von A. Schmitt (Aristoteles, Poetik, 2008: 24, 347) gegebene anschließt, ist schon viel Gelehrtenfleiß verwandt worden, zumal wegen der wenig aristotelisch anmutenden Kombination der rational kontrollierbaren Vorstellungskraft mit dem irrationalen Ph ¨ anomen der ’Mania‘ . Doch auch bei dem von einem manischen Charakter geleiteten Dichtertypus, dem μανικ ς , bedarf es einer Kl ¨ arung: Stellt sich Aristoteles hier als Anh ¨ anger der Enthusiasmuslehre heraus, versteht er also den μανικ ς als ’g ¨ ottlich Ergriffenen, Begeisterten‘ , oder hat er nur einen K ¨ unstler im Auge, der ’zu leidenschaftlichen Temperamentsausbr ¨ uchen f ¨ ahig‘ ist? W ¨ ahrend die ¨ alteren Kommentatoren der Poetik, Bywater (1909) folgend, zun ¨ achst keinen Anlaß sahen, den ’manischen‘ Dichter als Zeugen einer fortwir- 76 Aristoteles, Poetik 1455a32-34: δι ε; φυοCς X ποιητικ (στιν 9 μανικοCG το<των γ=ρ οL μ ν ε_πλαστοι οL δ (κστατικο εHσιν. Angeborenes Talent - erworbenes K¨ onnen 147 kenden Enthusiasmusdoktrin zu interpretieren, ihn eher als Aristoteles’ Beispiel einer poetisch ungesunden Veranlagung auffaßten, 77 Gudeman(1934) aus der Stelle gar eine ”Polemik“ gegen die Enthusiasmuslehre herauslesen wollte, 78 hat inzwischen ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Fuhrmann (1992: 47f.; 2003 ebda.) erkl ¨ arte zum μανικ ς : ”mit diesem Typ zollt Aristoteles der platonischen Enthusiasmus-Lehre einen bescheidenen Tribut“. Danach hat B ¨ uttner (2000) im Zusammenhang mit Untersuchungen zu Platons Literaturtheorie das Thema Der Enthusiasmus bei Aristoteles im Ganzen aufgerollt und aus seinen Befunden schließen zu k ¨ onnen gemeint, daß der Dichter f ¨ ur Aristoteles zu den Personengruppen geh ¨ ore, auf die die Pr ¨ adikate ’g ¨ ottlich‘ und ’enthusiastisch‘ der Doktrin entsprechend zutr ¨ afen. Jedoch hat B ¨ uttner aus dem Corpus Aristotelicum außer dem Poetik-Beleg μανικ ς hierzu auch nur den bereits erw ¨ ahnten Passus aus der Rhetorik (1408b19) beibringen k ¨ onnen, in dem es heißt: ”Denn die Dichtung ist gotterf ¨ ullt“ ( "νθεος ). Welche Beweiskraft kommt aber dieser Stelle zu? Erlaubt sie es, Aristoteles mit der alten Enthusiasmuslehre zu verbinden? Es will bedacht sein, daß Aristoteles, ohne den Volksglauben an die Himmlischen radikal zu verwerfen, in seiner Metaphysik einen neuen, spezifischen Gottesbegriffentwickelt hat: Als das vollkommenste Sein ist Gott der reine Geist ( νοCς , n ¯ us), ewig, unbewegter Beweger der Materie, ordnendes Prinzip alles Seienden. Jeder Mensch hat in seiner Seele an dieser Wirkkraft teil; sie ist das Unsterbliche in der Seele, ist, wie die Eudemische Ethik lehrt, ”das in uns beschlossene G ¨ ottliche“. 79 So bleibt zu fragen, ob die einzige in Betracht kommende Textpassage, in der Aristoteles das Dichten zweifelsohne als Handeln unter g ¨ ottlichem Einfluß charakterisiert hat, auf die traditionelle Enthusiasmustheorie zur ¨ uckweist, oder nicht vielmehr die Erkl ¨ arung in dem in der Seele des Dichters wirkenden G ¨ ottlichen findet, dem immanenten Prinzip, das nach Aristoteles das Denken, F ¨ uhlen und Handeln bewegt. Dies w ¨ are dann ein anderes Movens, eine andere Begr ¨ undung der dichterischen Aktivit ¨ at als der demokritisch-platonische Enthusiasmus. Festzuhalten ist hier f ¨ ur unser Problem, wie der Dichter die Bef ¨ ahigung zu dichten erwirbt, daß im Gegensatz zu irgendeiner individuell geschenkten Ein- 77 Bywater (1909: 243) hatte geschrieben, Aristoteles wolle in dem Textst ¨ uck die Darstellung der Gef ¨ uhle durch eine ”gesunde Natur“ (healthy nature) mit der einer ”ungesunden“ (unhealthy nature) kontrastieren. Die Auslegung wurde richtungweisend. So interpretiert Gudeman (1934: 308): Der ”geistig Hochbegabte“ k ¨ onne Gef ¨ uhle kontrolliert einsetzen und an sich selbst ¨ uberpr ¨ ufen, der manisch Verz ¨ uckte in seinem z ¨ ugellosen (νθουσιασμ ς in keiner Weise. Nach Else (1957: 502) stehen Naturgaben ”in a healthy balance“ und eine ”morbid obsession“ einander gegen ¨ uber. Inzwischen erw ¨ agte Lucas (1968: 177), den Text durch eingeschobenes μ5λλον (mallon, ’mehr‘ ) so zu ver ¨ andern, daß der Begabte von Aristoteles Vorzug erhalten habe vor dem manischen Typ. Ein derartiger Eingrifferscheint auch Halliwell(1987: 50) bedenkenswert. 78 Gudeman 1934: 307. 79 Aristoteles, Eudemische Ethik, 1248a27: τ (ν Xμ%ν θε%ον. 148 Qualifikationsprofile des Dichters gebung der Enthusiasmustheorie das Aristotelische G ¨ ottliche in den Menschen bereits bei der Geburt eingeht und als Vernunft, Verstand, Intellekt sein Streben zur reinen Form, zum absoluten Guten, zur h ¨ ochsten Vollkommenheit, also zur Gottheit hin, lenkt, bis es als unsterblicher Seelenteil den Leib beim Tode wieder verl ¨ aßt. Es ist eine den Menschen auszeichnende Gabe, die Ursache seiner Einzigartigkeit unter allem, was von Natur ’ist‘ . Geht man bei der Interpretation der Rhetorik-Stelle, die Dichtung sei ”gotterf ¨ ullt“, von der Aristotelischen Metaphysik und der Seelenlehre aus und begreift die Gotterf ¨ ulltheit als einen Effekt der g ¨ ottlichen Komponente in der Seele des Menschen, so l ¨ ost sich der scheinbare Widerspruch zur Doktrin der Poetik auf: Grundlage des dichterischen K ¨ onnens ist eine Disposition, die die Gottheit als g ¨ ottliches Element schon bei der Geburt der Seele ’mitgegeben‘ hat. Wie es also zu kurz greift, die Aristotelische ’Begabung‘ nur unter dem Aspekt des menschlichen Leib-Seele-Organismus zu sehen, ohne ihre metaphysische Dimension, so ist es ein Fehler, bei der Natura-ars-Dialektik des Horaz, die meistens als Ingenium-ars-Dialektik begegnet, auch nur an die Menschennatur zu denken. Allein schon ars ¨ ubersteigt bei ihm, was man unter dem Begriffsich vorzustellen gewohnt ist. Horaz meint mit ars eine umfassende Kunstbeherrschung, die nur wenige Dichter auszeichnet. Sie schließt sowohl praktisches K ¨ onnen als auch Wissen und berufliches wie pers ¨ onliches Ethos ein. Ihr Hauptmerkmal ist die ausgepr ¨ agte Betonung des beharrlichen Kunstfleißes mit der Verpflichtung zu harter Arbeit am gew ¨ ahlten Stoff und seiner sprachlichen Gestaltung. Labor, ’M ¨ uhe, angestrengte T ¨ atigkeit‘ , lima, das Bild der ’Feile‘ , und litura, ’Ausstreichen des Geschriebenen, Verbesserung‘ , sind die Kennworte, mit denen Horaz seine Forderung nicht nachlassender, ¨ außerster Anstrengung vorgebracht hat. 80 Die vollkommene Verf ¨ ugung ¨ uber die Regeln und Mittel der Poesie ist f ¨ ur jeden Dichter eine selbstverst ¨ andliche Voraussetzung, doch erstreckt sich die ars bei Horaz obendrein auf die F ¨ ahigkeit und den Willen zu strenger Selbstkritik. Der Dichter muß auch wissen und beachten, was k ¨ unstlerisch zu bew ¨ altigen in seiner Macht steht und was nicht. Er muß abw ¨ agen und entscheiden k ¨ onnen, ob er ein Thema, eine Versform, eine Dich- 80 Horaz, Sermones 1, 4, 12: scribendi labor [Lucilius sei zu bequem gewesen, beim Schreiben große M ¨ uhe auf sich zu nehmen]; serm. 2, 1, 11: laborum praemia [Lohn f ¨ ur die großen Anstrengungen winke dem, der die Kriegstaten des Princeps poetisch verherrlicht]; epist. 2, 1, 224: labores [Wir Dichter beklagen, daß die in ein Werk gesteckte große M ¨ uhe nicht recht anerkannt wird]; Ars poetica 291: limae labor [Kritik an den r ¨ omischen Dichtern, sie f ¨ anden das notwendige anhaltende Verbessern eines Werkes zu anstrengend und zu zeitraubend]; epist. 2, 1, 167: litura [Die r ¨ omischen Dichter haben von den Griechen gelernt, doch untersch ¨ atzen sie den Wert des Verbesserns und scheuen es]; Ars poetica 292-294: multa litura [Geschriebenes ist zu verwerfen, wenn es nicht viele Tage lang und mit vielen Verbesserungen ¨ uberarbeitet worden ist]. Angeborenes Talent - erworbenes K¨ onnen 149 tungsgattung perfekt zu gestalten vermag; er sollte bei Bedenken lieber verzichten als Mittelm ¨ aßiges produzieren. Hoher Anspruch und gesch ¨ arfte Selbstkritik haben Horaz mitunter zweifeln lassen, ob er selbst den Namen eines poeta verdiene (Serm. 1, 4, 39f.). Nach den oben erw ¨ ahnten Versen 408-410 der Ars poetica bedarf der dem k ¨ unstlerischen Anspruch verpflichtete Dichter gleichermaßen der ars, des ’Kunstk ¨ onnens‘ , wie der natura, der ’Kunstbegabung‘ (f ¨ ur die Horaz sonst meistens ingenium sagt). Daß die nat ¨ urliche Veranlagung durch praktisches und theoretisches K ¨ onnen erg ¨ anzt werden muß, ergibt sich auch aus der - ins Polemische gesteigerten - Ablehnung des demokritischen Enthusiasmus. Genial zu sein, bringe nach dieser Lehre zwar mehr ein als die m ¨ uhselige ars, 81 doch sieht Horaz im propagierten dichterischen Rausch eine Verirrung; sie bewegt ihn, in der Ars poetica darzulegen, ”wohin echte Kunst und wohin der Irrtum f ¨ uhren kann.“ 82 Die Zur ¨ uckweisung der Enthusiasmusdoktrin war demzufolge der methodologische Anstoß f ¨ ur Horaz, eine Dichtungslehre niederzuschreiben, die auf ingenium und ars setzt. Die Regelm ¨ aßigkeit, mit der das ingenium vor der ars genannt zu werden pflegt, ist so frappant, daß man nach der Ursache fragen muß. Die Antwort k ¨ onnte darin zu finden sein, daß das ingenium wegen seiner origin ¨ aren R ¨ uckbindung an g ¨ ottliche Einwirkung traditionell den ersten Platz erhielt, aber es kann auch in poetologischen Schriften vor Horaz, namentlich in hellenistischen Traktaten, schon zu einer Verfestigung der Rangfolge gekommen sein. In der Rhetorik hatten nat ¨ urliche Begabung ( ε; φ<ια , euph ´ yia) und ¨ Ubung bereits vom 4. Jh. v. Chr. an als Grundvoraussetzungen f ¨ ur den guten Redner gegolten; die Dichtungslehre ist mit ingenium und ars offensichtlich auch der Redelehre gefolgt. Was Horaz betrifft, glaubte Fuhrmann ( 3 2003: 151), der R ¨ omer habe die Lehre von der zweifachen Basis der Dichtkunst aus der Poetik seines angeblichen Vorbilds Neoptolemos (3. Jh. v. Chr.) ¨ ubernommen. Die Annahme, die auch in den Neuen Pauly eingegangen ist (8, 2000: 834), beruht auf der horazisierenden Auslegung einer Notiz in Philodemos’ 5. Buch der Schrift ¨ Uber Gedichte ( Περ ποιημ των ). Der epikureische Kritiker bemerkt dort, Neoptolemos habe den Dichter definiert als eine Person, die ¨ uber die τ χνη des Dichtens, das n ¨ otige theoretische und praktische K ¨ onnen, und die δ<ναμις ποιητικ (d ´ ynamis poi¯etik´¯e ) verf ¨ uge. 83 Letztere, von Hause aus eine ’dichterische Kraft‘ , ist aber kaum als ’Begabung‘ 81 Horaz, Ars poetica 295-297: ingenium misera quia fortunatius arte / credit et excludit sanos Helicone poetas / Democritus. . . 82 Ebda. 306-308: docebo, / unde parentur opes, quid alat formetque poetam, / quid deceat, quid non, quo virtus, quo ferat error. 83 Textstelle siehe Mangoni: Filodemo V, 1993, 141. col. XIV, 5f. (col. XI Jensen). Abgedruckt in Janko: Philodemus I, 2000: 152, Fn. 5. 150 Qualifikationsprofile des Dichters zu verstehen, sondern bezieht sich eher auf die F ¨ ahigkeit und den Schwung, das K ¨ onnen in die Schaffung poetischer Werke umzusetzen: Dichter ist, wer Theorie und Praxis der Sprachkunst bravour ¨ os zu meistern versteht. 84 Nach dieser Interpretation hat Horaz mit dem Einbringen des ingenium als Voraussetzung des Dichtertums die angeborene Begabung gegen ¨ uber Neoptolemos und den einseitig oder prim ¨ ar auf die ars setzenden Theoretikern ausdr ¨ ucklich hervorgehoben. Es paßt diese Erkl ¨ arung zur Fr ¨ ommigkeit des Horaz, denn das ingenium war f ¨ ur ihn ein g ¨ ottliches Element des menschlichen Wesens, dem in der Konzeption des Dichters der entsprechende Platz einzur ¨ aumen war. Bezeichnenderweise betont Horaz nur in der Ars poetica die Gleichwertigkeit von ars und ingenium. 85 Im allgemeinen erh ¨ alt das ingenium den Vorzug, so in der Definition des poeta, serm. 1, 4, 43-45: ”Wer ingenium hat, wer einen g ¨ ottlicheren Geist hat und einen Mund, der Großes h ¨ oren l ¨ aßt, nur dem m ¨ ogest du die Ehre des Dichternamens gew ¨ ahren“. 86 Spricht Horaz vom Urgrund der eigenen Dichtkunst, schwinden Anteil und Bedeutung der ars, das ingenium allein wird zur Quelle der poetischen Exzellenz. In der Ode 2, 16, 37ff., einem Preis des wahren Gl ¨ ucks, das im Seelenfrieden liegt, feiert er, daß ihm das Schicksal ein kleines Landgut (Geschenk des Maecenas) und ”den feinen Hauch der griechischen Muse“, das heißt, die dichterische Begabung, zugeteilt hat. 87 In einem Lied an die Muse der lyrischen Poesie, Melpomene, bedankt sich Horaz, von dieser das ”Geschenk“ der Dichterbegabung empfangen zu haben, das ihn zum Meister der r ¨ omischen Lyra gemacht habe. 88 In einem Dank an den Freund und Wohlt ¨ ater Maecenas bittet er, daß sein Vieh und sein Besitz auf dem Landgut ”fett“ und schwer werde, aber nicht sein dichterisches Talent, das ingenium. Es ist die Quelle seiner Kunst und soll beweglich bleiben. 89 84 Die Interpretation der Stelle mit Hilfe von ars und ingenium nach der Ars poetica 408-410 hat schon Jensen (1923) aufgebracht. Sie ist nicht mehr haltbar: E. Asmis, Neoptolemos and the Classification of Poetry (1992) versteht τ χνη und δ<ναμις als vis et facultas; Mangoni, Filodemo V (1993: 170, 223) ¨ ubersetzt: ”l’arte e la capacit` a di comporre“; nach Armstrong (1995: 259) habe laut Philodemos der kritisierte Neoptolemos den Dichter als denjenigen begriffen, ”who has the faculty (of working and weaving) and works according to it.“ R. Janko, der beste Kenner der hellenistischen Poetologie, ¨ ubersetzt die Definition des Dichters: ”the person who possesses the poetic art and its potential“(Philodemus I, 2000: 152). 85 Verse 295-308, 408-410; indirekt 323f. 86 Horaz, Sermones 1, 4, 43-45: ingenium cui sit, cui mens divinior atque os / magna sonaturum, des nominis huius honorem. 87 Horaz, carm. 2, 16, 37-39: mihi parva rura et / Spiritum Graiae tenuem Camenae / Parca non mendax dedit. . . 88 Horaz, carm. 4, 3, 21: Totum muneris hoc tui est. . . 89 Horaz, Sermones 2, 6, 14f.: pingue pecus domino facias et cetera praeter / ingenium. . . Angeborenes Talent - erworbenes K¨ onnen 151 Wie die zitierten Belege zeigen, war das ingenium f ¨ ur Horaz eine Musen- oder G ¨ ottergabe. Im Gegensatz zur Inspiration, dem g ¨ ottlichen ’Einhauch‘ , der nach allgemeiner Auffassung einem Dichter bei der Schaffung eines Werkes zuteil wurde, und zwar in der Regel immer wieder aufs neue, sah Horaz in ihm eine besondere Ausstattung, die einem Menschen von g ¨ ottlicher Seite schon bei der Geburt zugeteilt wurde. Klar sagt dies der Anfang der bereits erw ¨ ahnten Dankode an Melpomene: Wen sie in seiner Geburtsstunde einmal wohlgef ¨ allig angeblickt hat, der ist zu nichts anderem als dem Dichterberuf bestimmt und wird mit exzellenter Poesie Ruhm erwerben. 90 Wer bei der Geburt die Gabe des ingenium empfangen hat, also zum Dichter ausersehen ist, braucht um die ars nicht besorgt sein: Dem zur Dichtung Berufenen f ¨ allt sie mit g ¨ ottlicher Begnadung, sozusagen nebenher, zu, als Begleitgeschenk seiner Erw ¨ ahltheit. Horaz kann so in der Ode 4, 6 Apollo bitten, seiner Kunst gewogen zu sein, zu verdanken habe er ihm alles: ”Den Geist (spiritum = ingenium) gab Phoebus mir, und Phoebus gab mir die Kunstfertigkeit (artem), / Lieder zu schaffen.“ 91 In der Ars poetica 323f. haben auch die bewunderten griechischen Dichter die Voraussetzungen hoher Kunst als Ganzes durch g ¨ ottliche Gabe erhalten: ”Den Griechen gab die Muse das ingenium, den Griechen gab sie die Technik der kunstvollen Rede.“ 92 Die Werkanalyse macht sichtbar, daß die Ingenium-ars-Konzeption des Horaz eher bei Aristoteles anzuschließen ist als bei Neoptolemos. Das ingenium entspricht als eine mit der Geburt gegebene, dauerhaft fortwirkende Zuwendung der nat ¨ urlichen Veranlagung bei Aristoteles. Die ars ist, von dem Poetik-Brief an die Pisonen abgesehen, bei Horaz als Voraussetzung der Qualifikation sekund ¨ ar; Aristoteles hat sie auch nur zweitrangig gesehen, hat zwar manches Kunstmittel explizitiert, doch von einer perfekten Kompetenz in der techn¯ e als einem Grunderfordernis, dem entsprechen m ¨ usse, wer Dichter sein wolle, hat er im erhaltenen Corpus seiner Poetik nie gesprochen. V ¨ ollig auseinander gehen allerdings die Auffassungen ¨ uber die Urheberschaft der g ¨ ottlichen Dichterbegabung: Wo Aristoteles mit dem Konzept des ersten Bewegers, dessen Potenz es ist, die in die Menschenseele eingeht, schon ¨ uber die Antike hinausweist, verlangt die dem V ¨ aterglauben verpflichtete Religiosit ¨ at des Horaz die R ¨ uckbindung an die alte G ¨ otterwelt. 90 Horaz, carm. 4, 3, 1f.: Quem tu, Melpomene, semel / nascentem placido lumine videris, / illum. . . Das Motiv des begabungstiftenden Musenanblicks bei der Geburt findet sich bereits bei Hesiod, Theogonie 81ff., sowie bei Archilochos (hierzu M. Treu, Archilochos, griechisch und deutsch, 1959, 207f.) 91 Horaz, carm. 4, 6, 29f.: spiritum Phoebus mihi, Phoebus artem / carminis nomenque dedit poetae. 92 Horaz, Ars poetica 323f.: Grais ingenium, Grais dedit ore / rotundo Musa loqui. . . 152 Qualifikationsprofile des Dichters Ein wertvolles Zeugnis zur Natura-ars-Diskussion ¨ uberliefert der Traktat ¨ Uber das Erhabene des Pseudo-Longinos. Der Autor fragt sich dort einleitend, ob eine Kunstlehre des Erhabenen zu geben ¨ uberhaupt m ¨ oglich ist, ”da manche meinen, es sei ganz verkehrt, solche Vorz ¨ uge in technische Regeln zu bringen“. Es herrsche vielfach die Auffassung, daß große Kunst nicht durch erworbene Fertigkeit und durch Regelkenntnis zustande komme, sondern durch angeborenes Talent: ”Die große Art n ¨ amlich, heißt es, wird geboren, nicht durch Lehren beigebracht, und es gebe nur einen Weg zu ihr, die Naturanlage ( τ πεφυκ ναι , ’das Angeborensein‘ ). 93 Es l ¨ aßt sich nicht eruieren, wessen Theorie der Anonymus hier im Auge hatte, in der Tat existierten Wertungen, die die Begabung ¨ uber alles stellten. In der Rhetorik hatte sich nach Catos Postulat, der Redner m ¨ usse nur ein vir bonus sein, das ¨ Ubrige besorge schon die Erfahrung, als communis opinio durchgesetzt, was Quintilian in den Lehrsatz gegossen hat: ”Die Naturanlage vermag auch ohne Ausbildung sehr viel, die Ausbildung ohne eine entsprechende Veranlagung aber nichts.“ 94 Nimmt man nur die Dichtungslehre in den Blick, k ¨ onnte sich die Notiz des Anonymus auf euphonistische Denkschulen bezogen haben. Von Pausimachos wissen wir durch die Kritik, die Philodemos an ihm ¨ ubte, daß er bei seiner Lehre, das gute Gedicht zeichne sich allein durch den Wohlklang aus, vom Dichter als Voraussetzung poetischer Meisterschaft nur eine angeborene außerordentliche Sensibilit ¨ at f ¨ ur den Klang eines Sprachkunstwerks verlangte. Beliebt war bei den Euphonisten der Vogelvergleich: So wie Vogelgesang allein durch Wohlklang ’sch ¨ on‘ wirken kann, kann auch Dichtung, wenn sie gut gemacht ist, durch ihren Klang ’sch ¨ on‘ , also perfekt sein. Doch wie es in der Vogelwelt von Natur begabte S ¨ anger gibt - so die Nachtigall - und unbegabte - den schilpenden Sperling -, so sind auch beim Menschen die einen geborene Meister wohlklingender Poesie, die anderen aber Untalentierte, denen keine Lehre das notwendige Sensorium f ¨ ur die Akustik nachliefern kann, das die Natur ihnen vorenthalten hat. 95 Der Verabsolutierung des Naturtalents setzt der Pseudo-Longinos seine Beweise entgegen, daß sowohl nat ¨ urliche Veranlagung als auch erworbenes Kunstwissen zusammenwirken m ¨ ussen. Von den Quellen, die in seiner Darstellung die Erhabenheit eines Sprachkunstwerkes in Rede, Poesie und Prosa begr ¨ unden, entstammen zwei - Pflege erhabener Gedanken gekoppelt mit Seelengr ¨ oße sowie Neigung zu edler Leidenschaft und entsprechendem Pathos - der nat ¨ urlichen 93 Ps.-Longinos, ¨ Uber das Erhabene 2, 1 ( ¨ Ubers. Sch ¨ onberger). 94 Quintilian, Institutio oratoria 2, 19, 2: natura etiam sine doctrina multum ualebit, doctrina nulla esse sine natura poterit. 95 Die Lehre des Pausimachos und anderer bis dahin wenig oder gar nicht bekannter Euphonisten hat Janko durch die verdienstvolle Rekonstruktion von Philodemos’ Buch 1 der Schrift ¨ Uber Gedichte ans Licht gebracht (Janko, Philodemus I, 2000). Angeborenes Talent - erworbenes K¨ onnen 153 Veranlagung, die ¨ ubrigen drei, die Ausdrucksweise betreffenden, der Ausbildung. Von edlen Gedanken bewegt und mit Seelengr ¨ oße ausgezeichnet zu sein, ist ”mehr ein Geschenk als eine erworbene Eigenschaft“ (9, 1), hat oberste Priorit ¨ at. Doch ist das Große, ganz seinem Drang und blindem Wagemut ¨ uberlassen, gef ¨ ahrdet, deshalb bedarf es stets auch der Abstimmung mit der Doktrin der Sprachkunst. Die sich dieser Kunst widmen, brauchen ”ebenso oft wie den Sporn auch den Z ¨ ugel.“ (2, 2). Bei den christlichen Autoren der Sp ¨ atantike ergab sich eine verbreitete Abwertung der Rhetorik, somit der ars. Mehrere Gesichtspunkte wurden zur Begr ¨ undung ins Feld gef ¨ uhrt. Aus der Einzigartigkeit der christlichen Botschaft wurde gefolgert, sie ben ¨ otige keine Kunstmittel, um zu ¨ uberzeugen. Wie Gregor der Große in einem oft zitierten Diktum formulierte, sei es zudem ”ganz unw ¨ urdig, die Worte des himmlischen Orakels auf die Regeln des Donatus festzulegen.“ 96 Dem Vorwurf der trivialen Einfachheit der Bibel und des christlichen Schrifttums setzten die Advokaten eines volkst ¨ umlichen Sprachstils das rhetorische Argument der Wirksamkeit entgegen: Die Heilsbotschaft m ¨ usse von allen verstanden werden, deshalb habe auch Christus mit Fischern, Landleuten und der Menge in deren schlichter Redeweise gesprochen. Am anschaulichsten spiegelt sich die Problematik der ars unter christlicher ¨ Agide bei Augustinus (354-430). Der ehemalige Lehrer der Redekunst mißbilligt nach seiner Bekehrung die ganze herk ¨ ommliche rhetorische Erziehung und Ausbildung. Sie sei einseitig formal ausgerichtet, f ¨ ordere niedriges Gewinnstreben, lehre durch Besch ¨ aftigung mit unsittlichen G ¨ ottergeschichten Sch ¨ andlichkeit. 97 In De doctrina christiana skizziert Augustinus die Grundz ¨ uge einer christlichen Rhetorik und Sprachkunst, die er der heidnischen entgegenstellt. Sie ordnet alle Kunstmittel und Regeln, deren wichtigster Teil nun die Stillehre wird, dem Leitprinzip unter, daß die Sprachkunst der Verk ¨ undigung und der universalen Verbreitung der Heilslehre zu dienen habe und nur daran auszurichten sei, wie diese Ziele erreicht werden k ¨ onnen. Doch damit nicht genug, ¨ uberrascht Augustinus die Verfechter der alten Redelehre mit dem vers ¨ ohnlichen Befund, daß die Heilige Schrift selbst bereits Stilfiguren enthalte, was an Briefen des Apostels Paulus und Reden des Propheten Amos dargelegt wird. Der Nachweis dieser Elemente in der Bibel war von weitreichender Bedeutung: Er legitimierte schließlich die Rhetorik und die ars als urchristliche Gegebenheiten, sicherte dadurch ihr Fortwirken in der mittelalterlichen Beredsamkeit sowie in der Prosa und der Poesie. 98 96 Nach Migne, Patrologia, ser. latina 75, 516. 97 Augustinus, Confessiones 1, 15-17. 98 Augustinus, De doctrina christiana, zeichnet im vierten Buch die sch ¨ arferen Umrisse der auf die Ausbreitung und St ¨ arkung des Glaubens ausgerichteten Rhetorik. Anders als die vornehmlich der Ungerechtigkeit, der T ¨ auschung und dem Irrtum dienende 154 Qualifikationsprofile des Dichters Apostel, Propheten und die Verfasser der heiligen Schriften haben nach Augustinus die Sprach- und Redekunst nie gelernt. Sie ist ihnen wie die Weisheit, die sie verk ¨ unden, von Gott selbst eingegeben worden. Ihre ”Worte sind ja nicht durch menschliche Sorgfalt zusammengestellt, sondern durch den g ¨ ottlichen Geist weise und beredt ergossen worden.“ 99 Den kirchlichen Predigern und Autoren, denen Gott die ars nicht mehr unmittelbar eingibt, r ¨ at Augustinus, statt der Lehren der Rhetorik als Muster der Nachahmung die Werke weiser und beredter M ¨ anner zu studieren: ”Wer aber nicht bloß weise, sondern auch beredt sprechen will, weil er in der Tat mehr n ¨ utzen wird, wenn er beides kann, den weise ich an, viel lieber gleich beredte M ¨ anner zu lesen oder zu h ¨ oren und sie dann durch eigene ¨ Ubung nachzuahmen, als sich lange mit Lehrern der Rhetorik zu besch ¨ aftigen.“ 100 Nicht die doctrina - das exemplum lehrt reden, schreiben und dichten. 6.4 Nachahmung und ¨ Uberbietung von Musterautoren Die griechischen Dichtungsmuster bei Tage und bei Nacht fleißig zu studieren, r ¨ at Horaz in den ber ¨ uhmten Versen 268f. seiner Ars poetica. 101 Ber ¨ uhmt ist der Passus, weil er die bisherige eigene, r ¨ omische Poesieproduktion abwertet, doch seine gr ¨ oßere, in den Auswirkungen bis in die Neuzeit reichende Bedeutung liegt darin, daß er Nachahmung von Vorbildern als Methode dichterischer Vervollkommnung wie auch als Schaffensprinzip der Poesie proklamiert. Bei der Nachahmung musterhafter Werke (griech. μ μησις , m´ım¯ esis, lat. imitatio), die als ’literarische Mimesis‘ von der Objektnachahmung und ihrer Darstellung zu unterscheiden ist und daher um der Klarheit willen ¨ ofters - auch weltliche Rhetorik ist sie dazu bestimmt, die Vermittlung der Wahrheit durch die M ¨ anner der Kirche zu unterst ¨ utzen (4, 3). 99 Augustinus, De doctrina christiana, 4, 7, 242f.: Neque enim haec humana industria composita, sed diuina mente sunt fusa et sapienter et eloquenter ( ¨ Ubers. Mitterer, Bibl. der Kirchenv ¨ ater). 100 Ebda., 4, 5, 33-37: Porro qui non solum sapienter, uerum etiam eloquenter uult dicere, quoniam profecto plus proderit, si utrumque potuerit, ad legendos uel audiendos et exercitatione imitandos eloquentes cum mitto libentius, quam magistris artis rhetoricae uacare praecipio ( ¨ Ubers. ders.). ¨ Uber Bruch und Kontinuit ¨ at im Verh ¨ altnis zur antiken Tradition informiert in gr ¨ oßeren Zusammenh ¨ angen H. J. Marrou, Augustinus und das Ende der antiken Bildung, 2 1995. Zum Themenkreis der angeborenen und der erworbenen Qualifikation siehe auch F. Neumann, Artikel ’Natura‘ und ’Natura-ars-Dialektik’ in: Ueding, Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 6 (2003), 135-171; F.-H. Robling ’Ars‘ , ebda. 1 (1992), 1009- 1030; J. Engels, ’Ingenium‘ , ebda. 4 (1998), 382-417. Speziell zu den Konzepten der Rhetorik Lausberg 3 1990: §§ 4, 3-6 τ χνη / ars ; §§ 2-5 φ<σις / natura ’Begabung‘ ; §§ 6; 1152 ingenium. 101 Horaz, Ars poetica 268f.: vos exemplaria Graeca / nocturna versate manu, versate diurna. Nachahmung und ¨ Uberbietung von Musterautoren 155 im Folgenden - latinisierend imitatio genannt wird, holt der Dichter Anregung f ¨ ur sein Schaffen aus der Besch ¨ aftigung mit literarischen Sch ¨ opfungen anderer Autoren. Seine Nachbildung, die den Inhalt, die Form oder beides betreffen kann, hat ihren Ausl ¨ oser in einer intertextuellen Inspiration. Der imitatio als Triebkraft der Produktion kam in der Antike, ja bis in die Neuzeit hinein, eine eminent wichtige Rolle bei der Entwicklung der Literatur zu. Wurde sie mit dem Vorsatz betrieben, das Muster nicht nur einzuholen, sondern zu ¨ uberholen, dann kam Neues zustande, literarhistorisch ergab sich ein Progreß. Quintilian hat das ¨ uber das bloße Kopieren hinausf ¨ uhrende Einholen, um zu ¨ uberholen, schon als ein Grundgesetz der literarischen Innovation erkannt, das auch die Entwicklung der r ¨ omischen Dichtung und des r ¨ omischen Schrifttums vorangetrieben habe. ”Was w ¨ are geschehen, wenn niemand mehr zustande gebracht h ¨ atte als sein Vorg ¨ anger? “, fragt er, um darauf zu bedenken zu geben: ”Nichts h ¨ atten wir in der Dichtung ¨ uber Livius Andronicus hinaus.“ 102 Der R ¨ uckgang zu einem der Begr ¨ under der r ¨ omischen Dichtung, der etwa zwischen 280/ 260 und 200 v. Chr. lebte und Trag ¨ odien, Kom ¨ odien, Epik und Kultdichtung nach griechischen Vorlagen schuf, teils ¨ uberhaupt nur Adaptationen in lateinischer Sprache, soll nat ¨ urlich auch selbstbewußt demonstrieren, daß das mit der poetischen imitatio gekoppelte Prinzip des ¨ Uberholens bewirkt hatte, daß die r ¨ omische Literatur nach einer Phase der ¨ Ubernahme griechischer Muster alsbald volle Eigenst ¨ andigkeit erlangt habe. Soll die imitatio gelingen, m ¨ ussen Voraussetzungen in der Person des Nachschaffenden erf ¨ ullt sein. Er muß erkennen k ¨ onnen, was in einer Vorlage, einem exemplum, ’gut‘ und ¨ ubernehmenswert, und was es nicht oder was irrelevant ist. Der daf ¨ ur notwendige kritische Verstand muß ihm außerdem eine hinreichende Bewußtheit der eigenen St ¨ arken und Schw ¨ achen verschafft haben, damit er die richtige Wahl der Vorlage treffen kann; sie muß seiner poetischen Natur liegen. Die imitatio impliziert im ¨ ubrigen immer ein agonales Verh ¨ altnis: Der Autor tritt in einen k ¨ unstlerischen Wettstreit mit einem Vorg ¨ anger ein. Die Dichtungstheorie hat f ¨ ur diese Konkurrenz von der r ¨ omischen Rhetorik die Bezeichnung aemulatio ¨ ubernommen (sp ¨ atgriech. hierf ¨ ur ζ@λος , z ¯ elos). Sie entstammt dem Bildungsplan des Redners, der drei Schwerpunkte der Schulung vorsah: imitatio - aemulatio - exercitatio. Quintilian mahnt in einem Abschnitt seiner Institutio, den er eigens der Nachahmung widmet und der hier zugrundegelegt wird (10, 2, 1-28), daß nicht die imitatio allein, sondern erst die aemulatio ein neues Kunstwerk schaffen kann. Vollkommen gelungen ist die Nachahmung erst, wenn sie die Vorlage k ¨ unstlerisch ¨ ubertrifft. Nur die ¨ Uberbietung eines als beispielhaft geltenden Werkes kann das Nachahmungsziel jedes guten Dichters sein. Was Quintilian am Ende seiner Ermahnungen den Rednern versichert, darf man auch auf die Dichter beziehen: 102 Quintilian, Institutio oratoria 10, 2, 7. 156 Qualifikationsprofile des Dichters Es werde den Nacheifernden Ruhm eintragen, wenn man von ihnen sagen kann, ”sie h ¨ atten die fr ¨ uheren Generationen an Meisterschaft ¨ ubertroffen, die sp ¨ ateren Meisterschaft gelehrt“. 103 Quintilians Worte formulieren eine Gesetzm ¨ aßigkeit der allgemeinen Literaturentwicklung: Der ’Klassiker‘ einer Gattung wird von einem ihm nacheifernden Dichter, einem ’Klassizisten‘ , ¨ uberholt, der dann seinerseits durch die Qualit ¨ at seines Wirkens das Renommee eines ’Klassikers‘ erwirbt, aber seinerseits auch von einem Nacheifernden ¨ ubertrumpft wird, der wiederum vom ’Klassizisten‘ zum ’Klassiker‘ aufsteigen kann, sobald die imitatio, wie oft zu beobachten ist, sich an ihm wiederholt, schließlich auch noch weiter fortsetzen kann. Sinnbild der Nachahmung ist die seit der Ilias (2, 87-90) f ¨ ur menschliches Verhalten gern vergleichend herangezogene Biene, hier wegen ihres fleißigen Bem ¨ uhens, aus Bl ¨ uten die S ¨ uße zu holen, um daraus Honig zu machen. Lukrez nutzt die Bienenmetaphorik, um in einer Anrufung seines Meisters Epikur, dessen Lehre er in De rerum natura poetisiert, dankbar seine und seiner Freunde große Abh ¨ angigkeit von den aurea dicta, den ”goldenen Worten“ des Philosophen, zu bekunden: ”Wie auf blumiger Trift die Bienen alles benaschen, / weiden genauso wir uns ab alle goldenen Worte“. 104 Der stocktrockene Quintilian kommt nat ¨ urlich ohne Bienen aus, wenn er Weisung erteilt, daß der Nacheifernde, der mehr als ein Werk oder einen Autor aussch ¨ opfen m ¨ ochte, darauf bedacht sein m ¨ usse, nur ”sich anzueignen, was bei jedem das Beste ist“. 105 Nachahmung mit dem Ziel, die Vorlage zu ¨ uberbieten und etwas Neues, m ¨ oglichst noch Besseres zu schaffen, setzte voraus, daß Vorbilder existierten, die zu ¨ ubertreffen Ruhm versprach. Beginnend mit der W ¨ urdigung der Homerischen Dichtungen muß schon fr ¨ uh ein von Preiswettk ¨ ampfen unterst ¨ utzter Diskurs aufgekommen sein, welche Dichter oder Werke nach k ¨ unstlerischen Maßst ¨ aben eine Exemplarit ¨ at boten, die mindestens erreichen mußte, wer Lob ernten wollte. Heraklits schroffe Ablehnung Homers und des Lyrikers Archilochos 106 ist sicherlich auch Reflex eines ¨ offentlichen Disputs, in dem der Philosoph auf Seiten der Opposition Stellung bezog. Aristophanes hat in den im Jahr 405 v. Chr. in Athen erstaufgef ¨ uhrten Fr¨ oschen die Meinungsbildung um die Frage, wer der beste Tragiker und welches die beste Art der Trag ¨ odie sei, sogar auf die B ¨ uhne gebracht, um klarzustellen, daß k ¨ unstlerisch und moralisch-poetisch bewertet der erste Platz Aischylos geb ¨ uhre, vor Sophokles und Euripides. 103 Ebda. 10, 2, 28: nam erit haec quoque laus eorum, ut priores superasse, posteros docuisse dicantur. 104 Lukrez, De rerum natura 3, 11f.: floriferis ut apes in saltibus omnia libant, / omnia nos itidem depascimur aurea dicta. ( ¨ Ubers. B ¨ uchner). 105 Quintilian, Institutio oratoria 10, 2, 26. 106 Heraklit, frg. 22 B 42 (Diels-Kranz). Nachahmung und ¨ Uberbietung von Musterautoren 157 Die Urteile, wer als einer der summi oder magni auctores (Quintilian, inst. 10, 1, 24) zu betrachten sei, wer in einer Gattung als ein scriptor perfectus (Horaz, epist. 2, 1, 37) oder - wie Gellius ¨ asthetikpr ¨ agend formulierte - als ein scriptor classicus 107 gelten k ¨ onne, wurde nat ¨ urlich je nach pers ¨ onlichen Maßst ¨ aben und je nach dem Zeitgeschmack divergent gesehen. Bekannt ist, daß Homer, f ¨ ur die meisten ”der Dichter“ schlechthin, von manchen Großen als Vorbild der Poesie abgelehnt worden ist: Hesiod, Pindar, Euripides, Kallimachos. Im kaiserzeitlichen Rom ¨ uberstrahlte ihn der Glanz Vergils; Statius erkl ¨ art in der um 92 n. Chr. erschienenen Thebais, einem Epos ¨ uber den Kampf um Theben, die ”g ¨ ottliche Aeneis“ zum uneinholbaren, erst recht nicht ¨ uberbietbaren Dichtungsgipfel. 108 Der Vorrang Vergils bleibt auch im Mittelalter und noch in der Renaissance bestehen; Homer kehrt erst vom 17. Jh. ab auf den Dichterthron zur ¨ uck. Es d ¨ urfte im Griechischen fr ¨ uh zu Rangordnungen gekommen sein, welche Dichter in einer Gattung nach allgemeiner Einsch ¨ atzung Musterg ¨ ultigkeit erreicht hatten. Ben ¨ otigt wurde die Einstufung schon aus p ¨ adagogischen Gr ¨ unden, und zwar f ¨ ur die Schule und f ¨ ur den Unterricht in der Redekunst. Da in der Schule die Lekt ¨ ure und Bearbeitung musterg ¨ ultiger Dichtung zur Sprach- und Charakterbildung der Knaben, sodann im Rhetorikunterricht der J ¨ unglinge zur F ¨ orderung der Redegewandtheit und des Allgemeinwissens eingesetzt wurde, bedurfte es mindestens vom 5. Jh. ab, als der Ausbildungsplan feste Formen annahm, eines gewissen Konsenses, welchen Dichtern im Lehrprogramm die Vorzugspl ¨ atze einzur ¨ aumen seien. Im Zusammenwirken mit der literarischen Kritik, die ihrerseits zu Qualit ¨ atsstufungen f ¨ uhrte, ergaben sich ’Bestenlisten‘ , Kataloge der hervorragendsten, musterg ¨ ultigsten Poeten, f ¨ ur deren Elite erst in der Neuzeit die Bezeichnung ’kanonische Dichter‘ ¨ ublich geworden ist. 109 Qua- 107 Gellius, Noctes Atticae 19, 8, 15: classicus adsiduusque aliquis scriptor. Eigentlich: durch Reichtum und Wohnsitz der 1. Steuerklasse angeh ¨ orend; metaphorisch f ¨ ur k ¨ unstlerische Exzellenz gebraucht. Aus dem Mittellateinischen und unter dem Einfluß von franz. classique (1538, Art po´ etique von S ´ ebillet) ist klassisch im 18. Jh. im Deutschen gebr ¨ auchlich geworden. 108 Statius, Thebais 12, 816. 109 Kanonisch bezogen auf Autoren ist von Kanon, mittellat. canon, ’Schriftstellerverzeichnis‘ , abgeleitet. Basis ist das griechische κανYν ( kan ´ ¯ o n) ’gerades Rohr, Stange, Stab‘ , sp ¨ ater auch ’Maß‘ und metaphorisch ’Regel, Modell‘ . Die Anwendung auf ’Schriften, die der Regel entsprachen‘ findet sich zuerst ¨ ofters in der theologischen Unterscheidung ’kanonischer‘ und ’apokrypher‘ Bibeltexte. ¨ Uber die Theologie, insbesondere die franz ¨ osische (canon und canonique im Franz ¨ osischen schon im 13 Jh.) ist im 18. Jh. deutsch Kanon, kanonisch zustandegekommen. ¨ Uber Kanonbildung und kanonische Literatur handelt in weitgespanntem Rahmen E. R. Curtius, Europ ¨ aische Literatur und lateinisches Mittelalter, im Kap. 14 (Klassik), § 3-5. ¨ Ubersichtsdarstellung zur Antike (mit Auswahlbibliographie) von F. Montanari (I-III) und G. Vogt-Spira (IV) ’Kanon [1]‘ , in: DNP 6 (1999) 248-251. Speziell: E. A. Schmidt, 158 Qualifikationsprofile des Dichters lit ¨ atskataloge erlangten schließlich große Bedeutung, als es den alexandrinischen Gelehrten des 3. bis 1. Jhs. v. Chr. darum ging, aus der Masse der griechischen Scripta die ’guten‘ Autoren auszulesen, ihre Werke philologisch zu bearbeiten und zu edieren. ’Bestenlisten‘ , wie sie die zu ihrer Zeit f ¨ uhrenden K ¨ opfe Aristophanes von Byzanz (zwischen ca. 265 und ca. 180 v. Chr.) und Aristarch von Samothrake (2. Jh. v. Chr.) erstellt haben sollen, haben da letztlich entschieden, was uns durch Editionen ¨ uberliefert worden und was auf Grund ung ¨ unstiger Bewertung liegen geblieben und am Ende verlorengegangen ist. 110 Eine fr ¨ uhe Zusammenstellung musterg ¨ ultiger griechischer Autoren hat der von etwa 30 bis 7 v. Chr. in Rom wirkende Rhetoriker und Historiograph Dionysios von Halikarnassos in seinen rhetorischen Schriften unternommen. Er setzte einen ¨ alteren Rat Theophrasts an den Redner, den Stil durch Dichterlekt ¨ ure zu kultivieren, in die Empfehlung um, die von ihm f ¨ ur Poesie und Prosa genannten Musterautoren sprachlich und inhaltlich zu studieren und davon zu imitieren, was nachahmenswert erschien. Dabei sollte das Spezifische jedes Autors erfaßt werden, doch sollte man die ¨ Ubernahme der Eigent ¨ umlichkeiten nicht ¨ uberziehen. Diese sollten eingehen in eine neue pers ¨ onliche, harmonische Stilform, die exzessive Effekte vermied. Durch die Bevorzugung von Autoren der griechischen ’Klassik‘ des 5. und 4. Jhs. hat der Vorbilderkatalog des Dionysios ¨ uber die Rhetorik hinaus wirkungsvoll dazu beigetragen, die Mode des ¨ uberladenen (’asianischen‘ ) Stils zugunsten der attischen Vorbildlichkeit (’Attizismus‘ ) zu ¨ uberwinden. 111 Von der Kanonbildung im Lateinischen sind aus einem literarischen Lehrgedicht des Volcacius Sedigitus vom Ende des. 2. Jhs. v. Chr. zwanzig Verse als ¨ alteste Zeugen erhalten geblieben. Sie reihen neun Kom ¨ odiendichter, die damals aktuellsten, nach dem Prinzip ihres Erfolgs beim Theaterpublikum. Rezeptions ¨ asthetisch besonders interessant ist dabei, daß in der von Caecilius und Plautus angef ¨ uhrten Rangordnung Terenz nur den 6. Platz erreicht. 112 Der Historiker Velleius Paterculus hat als n ¨ achster uns bekannter Zeuge bestehender Bewertungen unter den Listen, die er in seine 29/ 30 n. Chr. herausgebrachte Historia Romana eingearbeitet hat, auch ein Verzeichnis der r ¨ omischen Autoren geboten. 113 Erst Quintilian ver ¨ offentlichte in der Institutio oratoria (ca. 90/ 92 n. Chr.) Historische Typologie der Orientierungsfunktionen von Kanon in der griechischen und r ¨ omischen Literatur, in: Assmann, A. u. J. (Hgg.), Kanon und Zensur, 1987, 246-258. 110 Quintilian, Institutio oratoria 10, 1, 54, bemerkt in seiner Liste der griechischen Musterautoren, daß Apollonios, den er anf ¨ uhre, von den maßgebenden alexandrinischen Beurteilern Aristarch und Aristophanes von Byzanz nicht zur Zahl der zu Nennenden gerechnet wurde. Auch 10, 1, 59 weist auf die Kategorisierung von Autoren durch Aristarch hin. 111 Zur Imitationslehre des griechischen Augusteers eingehend Th. Hidber, Das klassizistische Manifest des Dionysios von Halikarnassos, Stuttgart 1996. 112 Siehe auch den Kurzartikel zu Volcacius in: DNP 12/ 2 (2002), 294. Nachahmung und ¨ Uberbietung von Musterautoren 159 ’Bestenlisten‘ ausdr ¨ ucklich zur richtigen Lekt ¨ urewahl und zur wetteifernden Stilnachahmung. Quintilian hat seine Kataloge der summi auctores ¨ uber die Literaten hinaus auf die Geschichtsschreiber, die Redner und die Philosophen ausgedehnt. Er stellt den griechischen Autorit ¨ aten der Dichtung, denen er auch die der hellenistischen Epoche hinzuf ¨ ugt (10, 1, 46-72), die r ¨ omischen bis zu den Neoterikern (10, 1, 85-100) an die Seite, mit dem Bem ¨ uhen, das eigene Qualit ¨ atsurteil zu begr ¨ unden und mit anderen zu vergleichen. Dabei muß er auf existierende Rangordnungen zur ¨ uckgegriffen haben, was auch die Bemerkung nahelegt, er k ¨ onne unter den griechischen Iambikern nur Archilochos erstklassig nennen, obwohl nach einem Urteil Aristarchs, des bedeutenden alexandrinischen Gelehrten, drei Namen in diese Kategorie aufgenommen worden seien. 114 Mit den Listen der auctores maximi (10, 5, 8) lag nach der wiederholt in Ciceros rhetorischen Schriften gegebenen Anweisung an den Rednernachwuchs, Stil und Bildung durch Dichterlekt ¨ ure und Nachahmung zu optimieren, der Leitfaden vor, der bei der Wahl von Musterautoren Orientierung gab. Obgleich die Listen vordergr ¨ undig auf den k ¨ unftigen Redner zielten, hat Quintilian auch die J ¨ unger der Dichtkunst im Auge gehabt. Dies geht klar aus Nutzungshinweisen hervor, die einen Autor als wenig geeignetes Dichtermodell charakterisieren, wie die Notiz zu Lukan, er sei ”mehr f ¨ ur Redner als f ¨ ur Dichter ein zur Nachahmung geeignetes Muster“. 115 Damit Poeten keinen Mangel an Vorbildern haben, hat Quintilian alle Genera der griechischen Dichtung bei der r ¨ omischen wiederholt und mit den entsprechenden Autorennamen belegt. Und damit R ¨ omer gen ¨ ugend Muster lateinischer Sprache ausw ¨ ahlen k ¨ onnen, ¨ uberdies der Rang der eigenen Poesie sichtbar wird, hat er die Zahl der Besten von 25 bei den Griechen auf 31 bei den Lateinern erh ¨ oht. Hier will Quintilian dem Appell des Poetiklehrers Horaz, fleißig die Griechen nachzuahmen, offensichtlich mit einem Konkurrenzangebot aus dem Lateinischen entgegentreten. Die poetische Imitation ist bereits vortheoretisch in der Nachbildung der Homerischen Dichtungen betrieben worden. Poetologisch faßbar wird sie erst viel sp ¨ ater, nach der Institutionalisierung des Nachahmungsprinzips in der Redelehre. Dort hat der Gorgias-Sch ¨ uler Isokrates (436-338 v. Chr.), einer der bedeutendsten ¨ alteren Redner und Redelehrer Athens, in verschiedenen Schriften festgehalten, daß der Sch ¨ uler die Qualifikation als Rhetor nicht nur durch die theoretische und praktische Ausbildung erwirbt, sondern ebenso unerl ¨ aßlich durch das Nachahmen von Beispielen ( παραδε γματα , exempla), guten Mustern, die der Lehrer selbst verfaßt oder die er ausgew ¨ ahlt hat. Bemerkenswerterweise verbindet Iso- 113 Velleius Paterculus, Historia Romana 2, 36. 114 Quintilian, Institutio oratoria 10, 1, 59. 115 Ebda. 10, 1, 90: magis oratoribus quam poetis imitandus. 160 Qualifikationsprofile des Dichters krates bereits das Nachahmen mit dem Ziel des ¨ Ubertreffens, denn es sollte die Besch ¨ aftigung mit den Vorlagen so ablaufen, daß die Nacheifernden am Ende besser redeten als ihre Vorbilder. 116 Das Prinzip, daß der Weg zur Rednerqualifikation ¨ uber die imitatio und die aemulatio f ¨ uhrt, bei unerm ¨ udlichem ¨ Uben, ist trotz mancher Erg ¨ anzungen hier und da - z. B. Ciceros Forderung von Bildung und Begabung - so nachhaltig betont worden, daß die Dichtungstheorie bei der Hochbewertung der k ¨ unstlerisch stimulierenden Nachahmung der doctrina rhetorica gefolgt zu sein scheint. Horaz’ Appell in der Ars poetica (268f.), best ¨ andig, bei Tage und bei Nacht, die ”griechischen Muster“ lernend in die Hand zu nehmen, darf nicht dahingehend ausgelegt werden, daß der Praeceptor f ¨ ur die imitatio einen Freibrief ausgestellt h ¨ atte. Ged ¨ ampft wird der Appell, sich an die Griechen als Vorbild zu halten, in den Folgeversen 286f. durch das Zugest ¨ andnis, die r ¨ omischen Dichter h ¨ atten gar keinen geringen Ruhm dadurch erworben, daß sie es auch gewagt h ¨ atten, die ”griechischen Fußstapfen“ zu verlassen und Eigenes poetisch zu feiern. Es muß hier bedacht werden, daß Horaz zu vermeiden sucht, bei der T ¨ atigkeit eines Dichters nach seinem Bilde ¨ uberhaupt von ”Nachahmung“, von imitatio und imitari, zu sprechen. Denn das bloße Abkupfern, das im Begriffmitenthalten ist, war f ¨ ur Horaz ¨ armlich und unw ¨ urdig, was seine Invektiven gegen Dichterlinge seines Umkreises zeigen. In der Verssatire 1, 10, 18 verh ¨ ohnt er einen unfreundlichen Zeit- und Zunftgenossen als ”Affen, der nichts kann als Calvus und Catull zu kopieren“. 117 Seinem G ¨ onner Maecenas stellt Horaz gleich zu Beginn der Versepistel 1, 19 das Gegenbild seines Dichtertums vor Augen: die imitatores. Eine ”sklavische Horde“ sind sie, deren ”l ¨ armendes Auftreten bald bei ihm die Galle hochgehen ließ, bald Heiterkeit ausgel ¨ ost hat.“ 118 Nun hat ja Horaz seine Lyrik unstrittig in der Aufnahme und Fortf ¨ uhrung der fr ¨ uhgriechischen ausgebildet, weniger offen, aber poetologisch direktiv, auch in der ¨ Ubernahme von Leitbildern der hellenistischen Poesie um Kallimachos. Die Bindung an die fr ¨ uhen ’Lyriker‘ Griechenlands ist schon daran abzulesen, daß er vor allem von Alkaios, von Sappho und von Pindar die meisten Versmaße seiner Oden und von Archilochos’ Iambendichtung die seiner Epoden bezogen, ¨ uberwiegend sogar in die lateinische Poesie als erster eingef ¨ uhrt hat. Aufgenommen werden auch viele der alten zentralen Themen: G ¨ otterlob, Politik und Staat, Sittenverfall, Freundschaft, Geselligkeit, Liebe, Lebensgenuß usw., freilich mit Umpolung auf r ¨ omische Verh ¨ altnisse. Im Brief an Maecenas (epist. 1, 19) r ¨ uhmt sich Horaz, die Iambenpoesie im Stil des Archilochos in Latium eingeb ¨ urgert zu haben; in der Metrik und im Geist sei er ganz dem Vorbild gefolgt, nicht allerdings 116 Isokrates, Adversus Sophistes 17f.; Panegyricus 8. 117 Horaz, Sermones 1, 10, 18f.: simius iste / nil praeter Calvum et doctus cantare Catullum. 118 Horaz, Epistulae 1, 19, 19f.: o imitatores, servom pecus, ut mihi saepe / bilem, saepe iocum vestri movere tumultus! Nachahmung und ¨ Uberbietung von Musterautoren 161 in den Stoffen und nicht in der Aggressivit ¨ at der Worte. 119 Seine Verpflichtung gegen ¨ uber Alkaios best ¨ atigt Horaz im Brief an Florus, epist. 2, 2, 99, wo er sich selbst als der Grieche sieht. Man mag noch so viele Belege und auch Selbstzeugnisse beibringen - Horaz h ¨ atte den Gedanken, es handele sich auch bei ihm um Akte der imitatio und aemulatio, entschieden abgewiesen. Er verstand sich nicht als ’Nachahmer‘ anderer, seine Werke nicht als ’Nachbildungen‘ nach Mustern von fremder Hand. Sein Kunstverst ¨ andnis begriffseine Gedichte, wieviel Anregung sie auch Vorg ¨ angern verdankten, ganz als Eigensch ¨ opfungen eines zu Großem berufenen Dichtertums. G ¨ ottliche Begnadung, ingenium, ¨ uberragendes K ¨ onnen (ars) und beharrlicher Kunstfleiß hatten sich in seiner Vorstellung zu verbinden, um eine hohe Dichtung hervorzubringen, die ¨ uber alle Vergleiche mit Vorg ¨ angern und Zeitgenossen erhaben sein sollte. Stolz auf die Einzigartigkeit seiner Kunst, in der er Griechisches und R ¨ omisches in noch nie erreichter Gl ¨ atte in eins verschmolzen hat, konnte Horaz im Brief an Maecenas der Frage nach seiner Abh ¨ angigkeit von griechischen Vorbildern mit dem Bescheid entgegentreten, er habe als erster in unerschlossenem Gel ¨ ande neue Pfade beschritten, er sei keinen seinem Fuße fremden Spuren gefolgt. 120 Abweichend von der Rhetorik, in der imitatio und aemulatio, praktiziert an Werken großer Redner und Dichter, schon fr ¨ uh als Methoden der Vervollkommnung erkannt und sogar als maßgeblicher Bestandteil in das Ausbildungsprogramm des k ¨ unftigen Orators aufgenommen worden waren, hat die dichtungstheoretische Anerkennung des Nachahmens und Nacheiferns lange auf sich warten lassen. Konkret ausgesprochen hat sie der - im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits erw ¨ ahnte - Pseudo-Longinos in seiner im 1. Jh. n. Chr. entstandenen Schrift ¨ Uber das Erhabene (griech. Titel: Περ ψους ). In Anlehnung an die stil- und bildungskulturelle Bedeutung, die die Rhetorik der Nachahmung beimaß, sah der anonyme Autor sowohl in der rednerischen als auch in der literarischen imitatio und aemulatio einen Vorgang der intertextuellen Inspiration, bei dem ”wie aus heiligem Quell geheimnisvolle Einfl ¨ usse“ in die Seele des Imitators ¨ ubergingen, so wie bei einem g ¨ ottlichen Einhauch. 121 Der Anschein spricht nicht daf ¨ ur, daß seine Lehre von der dichterischen Inspiration durch Nachahmung großer Vorbilder weite Verbreitung gefunden h ¨ atte; nicht einmal der Traktat ¨ Uber das Erhabene selbst wird in den antiken Quellen gew ¨ urdigt. 119 Horaz, Epistulae 1, 19, 23-25: Parios ego primus iambos / ostendi Latio, numeros animosque secutus / Archilochi, non res et agentia verba Lycamben. 120 Horaz, Epistulae 1, 19, 21f.: libera per vacuum posui vestigia princeps, / non aliena meo pressi pede. 121 Pseudo-Longinos, ¨ Uber das Erhabene 13, 2: ο τως π τ@ς τ: ν ρχα ων μεγαλοφυ ας εHς τ=ς τ: ν ζηλο<ντων (κε νους ψυχ=ς 1ς π Lερ: ν στομ ων π ρροια τινες φ ρονται, WφO tν (πιπνε μενοι κα οL μ6 λ αν φοιβαστικο τ: Pτ ρων συνενθουσι: σι μεγ θει. 162 Qualifikationsprofile des Dichters Die Wirkkraft des Nachahmens und Nacheiferns auf die eigenen F ¨ ahigkeiten, auf die Optimierung des K ¨ onnens, ist auch nicht allseits anerkannt worden. Unter den Theoretikern der Dichtkunst bezieht Philodemos im 5. Buch seines Werkes ¨ Uber Gedichte ( Περ ποιημ των ), das in der ersten H ¨ alfte des 1. Jhs. v. Chr. entstanden ist, Jahrzehnte vor Horaz’ Aufruf, aus griechischen Vorbildern zu lernen, entschieden Stellung gegen das Nachahmen und Nachbilden. Die These eines Opponenten, daß der gute Dichter und die gute Dichtung durch das Befolgen von Vorbildern zustande k ¨ amen, weist er mit dem Argument zur ¨ uck, daß Homer und die ersten großen Alten, die die bewundertsten Musterautoren darstellten, als Begr ¨ under der Dichtkunst ja keine Vorbilder gehabt h ¨ atten außer sich selbst. 122 Der eigentliche Grund seiner kategorischen Ablehnung der Imitationslehre ist ein anderer; er ist weiteren Stellen seines bisher bekannten Werkes zu entnehmen: Der Philosoph als Kritiker verlangt von der Dichtung gedankliche Tiefe, Reflexion, neue Einsichten. Aber gerade diesem Anspruch kann keine Dichterdoktrin gerecht werden, die auf der Bewunderung und der Nachahmung des Alten gr ¨ undet. Von Skepsis gegen ¨ uber Verheißungen, die mit dem Imitationsprinzip verbunden wurden, ist auch anderweitig viel zu h ¨ oren. Ist die Klage, daß die Qualit ¨ at eines Vorbilds nicht zu erreichen, geschweige denn zu ¨ uberholen sei, oftmals bloß ein Bescheidenheitstopos eines Autors, der den wohltuenden Widerspruch seines Publikums herauslocken m ¨ ochte, so gibt es doch auch die Erkenntnis, daß das Ziel, ein großes Werk m ¨ usse zum Vorbild genommen und ¨ uberboten werden, selbst f ¨ ur den guten Dichter sehr hoch gesteckt sei, außerdem die Entfaltung der Originalit ¨ at behindern k ¨ onnte. Diesen Gedankengang hat erstaunlicherweise schon Quintilian entwickelt. Das Ideal des vollkommenen Redners vor Augen, aber das ¨ Uberbietungsgebot im Ganzen ansprechend, bemerkt Quintilian: ”Wer darauf aus ist, voran zu sein, der wird vielleicht den anderen, auch wenn er ihn nicht ¨ uberholen kann, doch einholen. Einholen aber kann man niemand, wenn man meint, sich unbedingt in dessen Spur halten zu m ¨ ussen, denn wer folgt, ist immer der hintere“ 123 . Im literarischen Diskurs in Rom entstand auf Grund der Kanonisierung von Musterautoren eine Debatte ¨ uber k ¨ unstlerische Vorz ¨ uge und k ¨ unstlerische Unzul ¨ anglichkeiten der zu Vorbildern Erhobenen, die auch 122 Philodemos, ¨ Uber Gedichte, Buch 5, col. XXXIII Mangoni = XXX Jensen. ¨ Ubersetzung Zeilen 24-48 von Mangoni: E l’opinione (che prescrive) una buona imitazione della poesia di Omero e dei poeti che similmente sono stati tramandati, sembrer` a non considerare Omero e quelli a lui simili come buoni poeti, dal momento che non hanno imitato se stessi. 123 Quintilian, Institutio oratoria 10, 2, 10: Nam qui hoc agit, ut prior sit, forsitan, etiam si non transierit, aequabit. Eum uero nemo potest aequare cuius uestigiis sibi utique insistendum putat: necesse est enim semper sit posterior qui sequitur. Nachahmung und ¨ Uberbietung von Musterautoren 163 in den literarischen Wertungen in Gellius’ Noctes Atticae einen textlich faßbaren Niederschlag fand. 124 Quintilian hatte in seinen Erw ¨ agungen zur imitatio Fehlerhaftigkeit von Vorlagen ebenfalls bereits in Rechnung gestellt und seinem orator perfectus auferlegt, sie zu erkennen und nicht zu wiederholen. Nicht alles, was man bei Ber ¨ uhmtheiten lese, sei unbedingt vollkommen: Die Besten sind sie, aber dennoch Menschen, und es passiert denen, die alles, was sie bei den ber ¨ uhmten Autoren gefunden haben, f ¨ ur festes Gesetz halten, daß sie nur das Schlechteste nachahmen. 125 In der Folge entstanden neben Fehlerlisten und einer Kommentarliteratur zu ber ¨ uhmten Werken, die Orientierung ¨ uber St ¨ arken und Schw ¨ achen zu bieten beanspruchten, vergleichende Bewertungen von Autoren, jeweils mit Pro und Kontra, so daß sowohl die Wahl des geeigneten Vorbilds als auch die Vermeidung der diesem anhaftenden Defizite vorausbedacht war. Typisch f ¨ ur diese Form, Vorbildlichkeit zu bestimmen, war vor allem der Homer-Vergil-Vergleich, der den Aeneas-Dichter als den in der Summe ¨ uberlegenen zu ermitteln pflegte. 126 In der christlichen Latinit ¨ at geriet das Imitationsprinzip ins Hintertreffen, weil die herk ¨ ommliche Dichtung ihren Vorbildstatus an neue, bibelrhetorisch oder praxisgest ¨ utzte Leitideen der Glaubensvermittlung durch Rede und Schrift verlor. Doch bahnte sich im 14. Jh. eine ’Renaissance‘ der imitatio an; es begann ihr Aufstieg zur poetologischen Heilslehre der Humanisten. Gef ¨ ordert wurde ihre Wiederkehr durch die R ¨ uckbesinnung auf die antike triadische Geschichtsauffassung, wonach auf einen Kulturgipfel eine Verfallszeit folge, die ihrerseits wieder von einem neuen Aufschwung zu neuer H ¨ ohe abgel ¨ ost werde. Analog zum Dreierschritt ’griechische Klassik - Niedergang im Hellenismus - neue Klassik im augusteischen Zeitalter‘ erwartete man nach dem auf die r ¨ omische Klassik gefolgten ’Mittelalter‘ (media aetas), das als Dekadenzperiode gesehen wurde, die ’Wiedergeburt‘ der K ¨ unste und Wissenschaften. Unter den fr ¨ uhen Humanisten hat sich namentlich Petrarca daf ¨ ur ausgesprochen, die lateinische Dichtung durch Nachahmung und auf ¨ Uberbietung der antiken Autorit ¨ aten zielenden Wettstreit zu erneuern. Wie vordem Quintilian, 124 Kritische Stimmen zur Vorbildhaftigkeit der ¨ Alteren analysiert eingehend S. D ¨ opp, Nec omnia apud priores meliora, in: RhM 132 (1989), 73-101. 125 Quintilian, Institutio oratoria 10, 1, 25f.: Summi enim sunt, homines tamen, acciditque iis qui quidquid apud illos reppererunt dicendi legem putant ut deteriora imitentur (id enim est facilius), ac se abunde similes putent si uitia magnorum consequantur. 126 Unter dem Aspekt der Kontroverse um Lernbarkeit der ars oder Begabung hat G. Vogt-Spira die Entwicklung des Homer-Vergil-Vergleichs bis in die Moderne kritisch analysiert (Ars oder Ingenium? Homer und Vergil als literarische Paradigmata, in: Literaturwiss. Jahrbuch 35 (1994), 9-31). 164 Qualifikationsprofile des Dichters verlangte er - jetzt mit dem bekannten Bild der die S ¨ uße der Bl ¨ uten in Honig verwandelnden Bienen -, daß bei der imitatio etwas Neues, Eigenes zustandekommen m ¨ usse. 127 Die in Jahrhunderten verdorbene lateinische Sprache sollte nach dem Vorbild Ciceros erneuert werden, womit das Losungswort f ¨ ur das neuzeitliche Stilideal ausgegeben war. Julius Caesar Scaliger, der Verfasser der Renaissance-Poetik Poetices libri septem (Lyon 1561), die den Kanon der maximi auctores um die Namen der beispielgebenden Neulateiner erg ¨ anzte, demonstriert an Musterf ¨ allen (Vergil, Horaz, Ovid und ihren griechischen Vorlagen), aber auch am Vergleich lateinischer Dichter miteinander, wie die humanistische Leitdoktrin der imitatio zu handhaben sei: Wahl eines geeigneten Praetextes, inhaltliche Verbesserung durch Ausf ¨ uhrung oder Weglassung von Einzelheiten, sprachlich Veredelung durch passenden Stil- Figuren- und Bildschmuck, im Ganzen also nicht einfach Nachbildung, sondern qualitative ¨ Uberh ¨ ohung antiker Muster. Scaliger schließt das Kapitel De imitatione et iudicio seiner Poetik (Buch V, 1) mit dem Dichterauftrag, ”herauszufinden, ob, was von den Alten geagt worden ist, nicht besser gesagt werden k ¨ onne.“ 128 ¨ Uber die Humanisten ist die Imitationslehre verst ¨ arkt in die nationalsprachliche Dichtung ¨ ubergegangen und hat dort erst mit der Abkehr von der Regelpoetik im 18. Jh. ihre Wirkkraft verloren. 129 127 F. Petrarca, De rebus familiaribus 1, 8. 128 Scaliger, Poetices libri septem V, 1: ut quod ab antiquis dictum an melius dici queat dispiciamus (Ed. Deitz / Vogt-Spira Bd. IV, 46, 5f.). 129 Erg ¨ anzende Literatur zu 6.4: A. Reiff, Interpretatio, imitatio, aemulatio: Begriff und Vorstellung literarischer Abh ¨ angigkeit bei den R ¨ omern, 1969; H. Flashar, Die klassizistische Theorie der Mimesis, in: Ders., Eidola: Ausgew ¨ ahlte Kleine Schriften, hg. von M. Kraus, Amsterdam 1989, 201-219 (Erstfassung in: Ders., Le classicisme ` a Rome, 1979: 79-97); M. Fuhrmann 3 1992: 153-155; Lausberg 3 1990: §§ 26, 1143f.; B. Bauer, Artikel ’Aemulatio‘ , in: Ueding, Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 1 (1992) 141-187 (Definition, Antike: 141-150); N. Kaminski, Artikel ’Imitatio‘ , in: Ueding, Historisches W ¨ orterbuch der Rhetorik 4 (1998), 235-285 (Definition, Antike: 235-257). G. Vogt-Spira hat dem Bd. IV der Ausgabe Scaliger, Poetices libri septem eine gedankenreiche Einleitung zum Prinzip der imitatio vorangestellt (1998, S. 21-41), die Scaligers Lehre auf die der Antike r ¨ uckprojiziert. 7 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Wozu Dichtung? Die Frage stellte sich fr ¨ uh zur Rechtfertigung der poetischen Kunst gegen ¨ uber der Philosophie, die ihr vorhielt, sie vertrete - wie Solon formulierte - ”viel Unwahres“. Doch den Zweck / die Zwecke differenziert zu erfassen und zu beschreiben, scheiterte von vornherein an der Vielfalt der Wirkungsabsichten, sodaß die poetologischen Antworten sich schon vorplatonisch auf Generalia reduzierten, h ¨ aufig dichotomischer Art (Nutzen oder/ und Freude). Im folgenden wird versucht, Grundz ¨ uge herauszustellen, die poetologisch wichtig erschienen sind. 7.1 Das archaische Programm: Kunde geben, Freude stiften, Wissen vermitteln Aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae ”N ¨ utzen oder erfreuen wollen die Dichter, oder beides zusammen“: Die wie ein gefl ¨ ugeltes Wort bekannte Formel aus Horaz’ Ars poetica 1 beherrscht bis heute als ’klassischer‘ Bescheid das Fragen nach dem Sinn von Dichtung. Sie verdankt dies der begrifflichen Offenheit der Leitw ¨ orter ”n ¨ utzen“ (prodesse) und ”erfreuen“ (delectare), die alle m ¨ oglichen Formen positiv bewertbarer Wirkung poetischer Werke abdecken, also immer ’passen‘ , wenn vorteilhafte Effekte in Rede stehen. Verwunderlich ist daher nicht, daß ”N ¨ utzen“ und ”Erfreuen“ schon als Wirkungsziele der fr ¨ uhgriechischen Epik angesetzt werden k ¨ onnen. Sollte auch Horaz in seiner Bewunderung f ¨ ur die alte griechische Dichtung die Zielformel an Erkenntnissen ausgerichtet haben, die aus der Lekt ¨ ure Homers und nachfolgender fr ¨ uher Autoren zu gewinnen waren? Sicher ist, daß die heroische Epik, die hier zusammen mit den Preisliedern zuerst anzusprechen ist, Zwecken diente, die den Wirkungszielen gem ¨ aß der Horazischen Formel von vornherein entsprachen. Das Lied des S ¨ angers hatte - wie Hesiods Musenanrufe besagen - ”Kunde“ ( κλ ος ) zu geben, von dem, ”was ist, was sein wird und was vorher gewesen war“. 2 Dank des ihm geglaubten Beistands der Musen, der T ¨ ochter des Zeus, konnte er f ¨ ur sich in Anspruch nehmen, ¨ uber h ¨ oheres, g ¨ ottliches Wissen zu verf ¨ ugen, das er seinen Zuh ¨ orern und sp ¨ ateren Generationen mit der Verpflichtung vermittelte, es als kostbares Erinnerungsgut zu bewahren und weiterzugeben. Den absoluten Wahrheitsanspruch seiner Kunde von Vergangenem, Gegenw ¨ artigem 1 Horaz, Ars poetica 333f. 2 Hesiod, Theogonie 32ff.: (ν πνευσαν δ μοι α; δ6ν θ σπιν, uνα κλε οιμι τ τO (σσ μενα πρ τO ( ντα. 38f.: τ τO ( ντα τ τO (σσ μενα πρ τO ( ντα. 166 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele und K ¨ unftigem beglaubigte die Berufung auf die unmittelbare Zeugenschaft der Musen, die stets alles sahen, alles h ¨ orten und alles wußten, was bei Menschen und G ¨ ottern vor sich gegangen war, auch was noch in der Zukunft verborgen lag. Je ausf ¨ uhrlicher der S ¨ anger seinen Erz ¨ ahlstoffauszubreiten vermochte, je feiner er jedes Detail darzustellen wußte, so, als ob er selbst dabei gewesen w ¨ are, desto glaubw ¨ urdiger wirkte sein Bericht, desto gewisser schien er aus der ihm zug ¨ anglichen Augen- und Ohrenzeugenschaft der Musen heraus zu verk ¨ unden, was war, ist oder sein wird. Es liegt auf der Hand, daß die Beglaubigung der Wahrheit durch zeugenhafte Detailgenauigkeit den Ausbau der epischen Stoffe durch erfundene Zutaten f ¨ ordern mußte. Hier erkennen wir eine m ¨ achtige Triebkraft f ¨ ur die Ausbreitung der Fiktion im epischen Erz ¨ ahlen. Worin lag nun - in Horazischen Kategorien gedacht - der ’Nutzen‘ der vorgetragenen Lieddichtung? In erster Linie ging es darum, das Wissensgut ¨ uber die Ruhmestaten der Heroen und die Macht der G ¨ otter preisend so zu vergegenw ¨ artigen, daß es sich im kollektiven Bewußtsein der Zuh ¨ orer zu einer wirkenden Vision der Vergangenheit ausformte, aus der die Gegenwart ihre Begr ¨ undung beziehen konnte. Hierzu aktivierte der ’kundige‘ S ¨ anger vor allem den Mythenschatz, sodaß der Vortrag den Zuh ¨ orern ganze Summen des Geschichts- und Glaubenswissens der damaligen Zeit vermittelte, aus denen auch Selbsterkenntnis sowie Maßst ¨ abe f ¨ ur das eigene rechte Handeln abzuleiten waren. Damit erweist sich das epische Lied als das Medium der Bewahrung und Weitergabe der historischen, religi ¨ osen und kulturellen ¨ Uberlieferung, deren Wahrheit durch das unbestechliche Musenwissen verb ¨ urgt ist. Das Wissen, das er in der Lieddichtung vermittelt, ist daher f ¨ ur die Zuh ¨ orer unbezweifelbar ’wahr‘ , selbst in den Partien, in denen er bekannte historische oder religi ¨ ose Mythenerz ¨ ahlungen mit erfundenem Beiwerk anreichert. ’Wissen‘ des S ¨ angers, d. h. ’Wissen‘ der Dichtung, und ’Wahrheit‘ sind in dieser Sicht identisch. Schon seit Homer galt Wissen, worauf immer es gr ¨ undete, als Tugend, weil es die Voraussetzung f ¨ ur tugendhaftes Verhalten schuf. Es bildete auch die Grundlage der Sekund ¨ areffekte, auf die das Lied abhob: Pers ¨ onlichkeitsformung durch die Evokation großer historischer Vorbilder; F ¨ orderung des Gemeinschafts- und Standesbewußtseins; Ansporn des Engagements f ¨ ur gemeinsame Ziele; Festigung der religi ¨ osen Bindung einer Adelsgesellschaft, die sich auch als Kultgemeinschaft verstand, da sie mit dem Lied des S ¨ angers sowohl die Großtaten der Heroen wie auch das Walten der ”seligen“ G ¨ otter feierte. ¨ Uberwog im heroischen Typ des Epos die mythisch-historische Seite des Erz ¨ ahlens, so im theogonischen, den Hesiods Theogonie (ca. 700 v. Chr.) als dessen ¨ alteste Dichtung repr ¨ asentiert, die Seite der mythisch-religi ¨ osen Kunde. Thema war hier die Entstehung und Entwicklung des Alls, der G ¨ otter und der Menschen aus dem Chaos, mit der Herausbildung einer Kultur, die nach der vorgetragenen Lehre nur eine Epochenerscheinung in der Aufeinanderfolge und im Wandel Das archaische Programm: Kunde geben, Freude stiften, Wissen vermitteln 167 der Weltalter darstellte. Anstelle von Heroenkatalogen breitete diese Dichtung G ¨ ottergenealogien aus; statt die Taten der Ahnen zu r ¨ uhmen, berichtete sie vom Streit und Kampf ¨ ubermenschlicher M ¨ achte im kosmischen Geschehen. Die historische R ¨ uckschau wurde ¨ uberlagert von religi ¨ osen Erinnerungsbildern. Das ’Wissen‘ , das hier erstmals ¨ uber das Werden des Weltalls vermittelt wurde, m ¨ undete in eine Theorie der Kulturentwicklung auf dem Fundament des G ¨ otterglaubens. Es lieferte im Ganzen ein geschlossenes System der Welterkl ¨ arung und Existenzdeutung. Wenn die Weitergabe von Vergangenheits- und Glaubens’wissen‘ in den einzelnen Epenarten auch einen unterschiedlichen Umfang einnimmt - in der Odyssee einen gr ¨ oßeren als in der Ilias, in der Theogonie den gr ¨ oßten, n ¨ amlich einen fast naturphilosophischen -, so ist die prinzipielle Lehrhaftigkeit der Gattung doch so hervorstechend, daß man geneigt sein k ¨ onnte, sie mit der erst in der sp ¨ ateren Dichtungslehre begegnenden Bezeichnung διδασκαλ α (’Lehre, Unterweisung‘ ) zu belegen. 3 Dem steht aber entgegen, daß die Vermittlung von ’Wissen‘ noch nicht als eigener, sich gen ¨ ugender Zweck betrieben wurde, sondern als Konstituente des G ¨ otter- und Heldenlobs sowie allgemein des Freude bewirkenden Erz ¨ ahlens. Zum andern aber gilt das ’Wissen‘ , das der S ¨ anger-Dichter mitteilt, als geoffenbartes g ¨ ottliches Gut. Es ¨ ubersteigt alle menschliche Kenntnis, die in der Unterrichtung weitergegeben wird, und erreicht das Publikum - zun ¨ achst das h ¨ orende einer Festrunde, sp ¨ ater das lesende - in der Form einer geradezu priesterlich kundgemachten Botschaft. Epentheoretische ¨ Außerungen, die diese Auffassung best ¨ atigen k ¨ onnten, fehlen zu dieser Zeit noch, doch l ¨ aßt sich die Bedeutung der Weitergabe von ’Wissen‘ durch textimmanente Indizien erh ¨ arten. Sie betonen mit dem h ¨ aufigen Lob, daß der S ¨ anger ”kundig“ ( (πιστ μων ) sei, daß er ”ausgezeichnet im Reden“ sei, wie Echeneos bei den Phaiaken, der ”viele und alte Dinge weiß“ 4 , daß er viel gelernt haben und kennen muß 5 , um dem Anspruch des Publikums, tiefsch ¨ urfend und umfassend unterrichtet zu werden ¨ uber das, ’was war, was ist und was sein wird‘ , gerecht zu werden. Aus der Odyssee erfahren wir, mit welch großer Wißbegierde die Zuh ¨ orer die Kunde eines S ¨ angers und erst recht die Erlebniserz ¨ ahlungen des Odysseus aufnahmen, die wie Expeditionsberichte ferne L ¨ ander, fremde V ¨ olker und unerh ¨ orte Begebenheiten einer Gesellschaft zur Kenntnis brachten, die davon nicht genug erfahren konnte. 3 Aristoteles verwendet in seiner Poetik (1456b5) διδασκαλ α erst zur Bezeichnung von ’Belehrungen, lenkenden Hinweisen‘ , die der Redner der Darstellung der ihm vorgegebenen Fakten hinzuf ¨ ugen m ¨ usse, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Der Dichter dagegen habe sein Wirkungsziel allein durch die richtige Wahl eines Stoffes und durch die sprachlichen Mittel zu erreichen, ¨ uber die er verf ¨ ugt. 4 Homer, Odyssee 7, 157. 5 Hesiod, Theogonie 4, 481; 22, 347. 168 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Textstellen, die den Auftritt eines S ¨ angers schildern, best ¨ atigen außerdem, wie hoch die Wirkung des Liedes eingesch ¨ atzt wurde, ”Freude“ zu erzeugen; der Odyssee-Dichter spricht gar von ”Verzauberung“. 6 Schon der ”s ¨ uße Klang“, die ”S ¨ uße“, also der akustisch- ¨ asthetische Eindruck der Lieddichtung, l ¨ ost in der Zuh ¨ orerschaft frohe Gestimmtheit aus, aber im Hinblick auf die Funktion, die der Vermittlung von Wissen zukommt, ist auch an die Maxime zu denken, die Aristoteles ausformulieren wird: Es macht Freude zu lernen. 7 Die Doppelaufgabe der Dichtung, durch Wissensvermittlung Nutzen zu bringen sowie Freude zu bereiten, kennzeichnet auch jenen Teil der bis ins 5. Jh. v. Chr. reichenden archaischen Lyrik, der thematisch die F ¨ ulle der Preis-, Sieges- und Kultlieder umfaßt. Gleiche oder vergleichbare Voraussetzungen wie bei der heroischen Dichtung haben hier die Kontinuit ¨ at beg ¨ unstigt: Anlaß und Ort des Liedvortrags ist eine Festversammlung, ein Symposion, eine Kultfeier, zun ¨ achst einer Adelsgesellschaft, nach den sozialen Umbr ¨ uchen des 5. Jhs. vorwiegend einer Polisgemeinschaft. Dargeboten wird die Lieddichtung von einem S ¨ anger von hohem sozialem Rang, bei Chorliedern von einem Gesangskreis, mit Musik-, auch Tanzbegleitung. Vom Ende des 6. Jhs. ab geht die Poesie in die H ¨ ande berufsm ¨ aßiger Dichter und S ¨ anger bescheidener Herkunft ¨ uber, die nun auch Auftragswerke liefern, aber den Zwang des Broterwerbs mit aristokratisch anmutendem Selbstbewußtsein zu kaschieren wissen. F ¨ ur das poetologische Konzept der dem Epos n ¨ achststehenden Lyrik ist unsere beste Quelle Pindar (etwa 520-nach 446). Er hat seine Auffassungen ¨ uber die Kunst der Poesie und den Dichterberuf recht offen in die Verse eingewoben. Nach Pindar ist es die vornehmste Aufgabe der Dichtung, Wahrheit zu verk ¨ unden, große Leistung zu r ¨ uhmen und Freude zu bereiten. 8 Daß er als besonderen Nutzen die Vermittlung und Verbreitung von Wahrheit herausstellt, ist ohne Zweifel auch als Reaktion auf den seit Heraklit immer lauter erhobenen Vorwurf der Philosophen zu sehen, die Dichtung sei wertlos, ja sch ¨ adlich, weil sie keinen Erkenntnisgewinn bringe, wohl aber abwegige Vorstellungen in die Welt setze. Im besonderen ist an die Pauschalverurteilung durch Solon (ca. 650-ca. 6 F ¨ ur das Wirkungsziel ’Freude‘ , gleichrangig mit ’Unterhaltung‘ gesehen, hat schon Maehler (1963) die Belege aus Ilias und Odyssee zusammengestellt [15, 27-31, 33]. Zu den Zielen epischer Dichtung im allgemeinen S. Koster, Antike Epostheorien, 1970, 143-151. 7 Aristoteles, Poetik 1448b12ff. 8 Zu ’Wahrheit‘ und ’Freude‘ R ¨ osler (1980: 299), mit Angabe der wichtigsten Daten (nach H. Gundert, Pindar und sein Dichterberuf, Frankfurt a. M. 1935, und Maehler (1963)). Zum ’R ¨ uhmen großer Taten‘ Gundert 12, 14, 26-29, 33, 44-47, 60f.; Maehler 83-85, 93. Das archaische Programm: Kunde geben, Freude stiften, Wissen vermitteln 169 560) zu denken; dessen Richterspruch ”Viel Unwahres verk ¨ unden die S ¨ anger“ 9 hat dem Schlagwort vom L ¨ ugen der Dichter den Boden bereitet. Gegen ¨ uber der expandierenden Ablehnung des Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruchs der Dichtung von Seiten der philosophischen Kritik, einer Ablehnung, deren Steigerung freilich auch mit dem wachsenden Anteil der Fiktion in der Poesie zu tun hat, h ¨ alt Pindar unbeugsam an der alten Grund ¨ uberzeugung fest, daß ein Poem vermittle, was wahr und wirklich sei. Ganz erf ¨ ullt vom Glauben an die G ¨ otter, betrachtet sich Pindar in seinem Beruf als Begnadeten, der erw ¨ ahlt ist, ein h ¨ oheres und daher unfehlbares Wissen zu verk ¨ unden. F ¨ ur ihn sind die Dichter deshalb ”weise“ ( σοφο ), unbestechlich und wahr in allem, wovon sie handeln. Der Wahrheitsanspruch schließt alle Nutzeffekte ein, f ¨ ur die Pindar die Dichtung im einzelnen einsetzt. Sichtbar werden sie an der auffallenden Gleichgerichtetheit des Gedichtaufbaus in den erhaltenen vier B ¨ uchern Epinikien, ¨ uberwiegend Siegesliedern, die die Gewinner der Wettk ¨ ampfe bei panhellenischen Spielen feiern. In diesen Sch ¨ opfungen kann man als Grundmuster eine vierteilige Struktur erkennen, n ¨ amlich R ¨ uhmen der Hochleistung eines Wettkampfsiegers aus herausgehobener Familie, Preisen der Taten seiner Ahnen, Assoziation der Verdienste mit rahmenden Mythenerz ¨ ahlungen, schließlich Reflexion ¨ uber die ethischen, moralischen, politischen oder religi ¨ osen Lehren, die aus dem Thema zu gewinnen sind. ’Modern‘ an Pindar erscheint die Wende von den Heroen der Vergangenheit zu Helden des Tages. Doch von ihnen schweift der Blick zur ¨ uck zu fr ¨ uheren, von Vorfahren vollbrachten Taten, was Gelegenheit schafft, wie im Lied des Ependichters das Historien- und Mythenwissen im kollektiven Bewußtsein zu pflegen und f ¨ ur die Zukunft festzuhalten. Hierbei r ¨ uckt Pindar die Vermittlung des ’Wissens‘ vom Vergangenen und von der Entwicklung der Welt auch in den Vordergrund, um die Adelskultur zu best ¨ atigen, der er sich verpflichtet weiß. Mit der historischen und mythologischen Belehrung verbindet sich der Auftrag, in seiner Dichtung f ¨ ur die Aristokratie zugleich eine Standesethik zu definieren sowie aus der R ¨ uckschau in die ’Geschichte‘ Maximen der Lebensweisheit in Form von Gnomen zu gewinnen. Mit dem Selbstbewußtsein des in der Adelsgesellschaft hochgeachteten, professionellen Dichters und S ¨ angers formuliert Pindar als erster eine Schl ¨ usselfunktion der Poesie, die bereits im heroischen Epos erkennbar war und die die Chorlyrik im Ganzen kennzeichnete: Die große Tat braucht die Dichtung und die Dichter, die sie preisen, ihr den Schmuck verleihen, der ihr zukommt, vor allem aber ihrem Ruhm ewige Fortdauer sichern. Denn allein das Werk eines Dichters bewahrt sie vor dem Vergessen, verankert sie im ’Wissen‘ der Gemeinschaft, schenkt ihr Unverg ¨ anglichkeit. Deshalb ist ein preisendes Lied die kostbarste aller Gaben, die einem edlen Menschen dargebracht werden kann. 9 Frg. 29 West: πολλ= ψε<δονται οιδο . 170 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele 7.2 Information und Belehrung Epische Dichtung ist auf Wissensvermittlung und Belehrung hin angelegt. Die Zuh ¨ orer des S ¨ angers in archaischer Zeit, sp ¨ ater die Leser schriftlich verbreiteter Texte, wollten und sollten erfahren, ”was war, was ist und was sein wird“. Ob Mitglieder der alten aristokratischen Festgelagegesellschaften oder, in den folgenden Jahrhunderten, bildungsbeflissene B ¨ urger der Poleis - sie waren beseelt von der f ¨ ur das Griechentum bezeichnenden, anspornenden Auffassung, daß das Wissen ethische Qualit ¨ at habe und es Freude mache zu lernen. Dem Verlangen des Publikums nach Information und Belehrung kam im Autor-Rezipienten-Verh ¨ altnis der Dichter/ S ¨ anger entgegen, der dank der ihm zuerkannten g ¨ ottlichen Inspiration ein h ¨ oheres als das menschliche Erfahrungsweltwissen in die Unterweisung einbringen konnte - Einsichten, deren Wahrheit verb ¨ urgt erschien. Als das Vertrauen in die g ¨ ottliche Inspiration schwand, hielten die Konzepte des vates und des poeta doctus das Ansehen des Dichters hoch, in besonderer Weise zu Botschaften und Belehrungen berufen zu sein. Epische Dichtung berichtete von Geschehnissen und Taten, deren historischmythischer Kern zum kollektiven Erinnerungs- und Erz ¨ ahlgut geh ¨ orte. Vor und neben den sich langsam ausformenden Wissenschaften verwaltete sie namentlich das historische und theologische Wissensgut der Zeit, bald mit Fokus auf der Historie (Homerische Epen), bald mit prim ¨ arem Interesse an den kosmischreligi ¨ osen Prozessen des Lebens (Hesiods Theogonie). Zur Architektur epischer Dichtung geh ¨ orte, daß das Erz ¨ ahlger ¨ ust ¨ uberaus reich mit Beschreibungen von Personen und Sachen, L ¨ andern, Orten, Naturph ¨ anomenen, Techniken und Praktiken, Schilderungen fremder Menschen und Welten ausgebaut war, in der Summe mit einer Nachrichtenf ¨ ulle, die ein ’Breitenwissen‘ vermittelte, lange bevor das enzyklop ¨ adische Schrifttum die Rolle der Instruktion auf breiter Basis ¨ ubernahm. Welche Menge an ’Wissen‘ und Belehrung in ein Handlungsger ¨ ust eingebaut werden konnte, l ¨ aßt sich daran ermessen, daß die Ilias z.B. in etwa 16000 Versen im Kern doch nur das Geschehen einiger weniger Tage im zehnten Jahr des Troianischen Krieges behandelt. Aber in den 16000 Versen ist ein ganzer Horizont von Welt eingefangen. Er bot den Zuh ¨ orern des Liedvortrags sowohl packende Unterhaltung wie vielseitigen Gewinn f ¨ ur das ’Wissen‘ und das Handeln. Der Informationswert sowie der didaktische Nutzen, der in der Antike nicht zu trennen war von der moralischen Funktion, haben entschieden, daß die Homer zugeschriebenen Großepen als monumentale Speicher des Wissens von der Welt bis in die Sp ¨ atantike autoritative Geltung behielten, unter anderem als Bildungskompendien im Schulunterricht. Freilich hatte hier Aristoteles mit einem Werk in sechs B ¨ anden ¨ uber Homerische Probleme sowie mit seiner Poetik erst bewerkstelligen m ¨ ussen, daß der seit dem 6. Jh. w ¨ ahrende Streit zwischen Homergegnern und Homerverteidigern abebbte. Historisch, philologisch und philosophisch argumentierend, hat Aristoteles nicht nur Erkl ¨ arungen f ¨ ur an- Information und Belehrung 171 gebliche Fehler beigebracht, sondern erh ¨ artet, daß Homer mit der Ilias und der Odyssee alle anderen Dichtungen in der Musterg ¨ ultigkeit des Ausdrucks sowie im Reichtum an Gedanken und im Sachwissen ¨ ubertreffe. 10 Schließlich trug die Tendenz der Exegetik, Homers G ¨ ottergestalten und ihr Walten als Allegorien von Naturkr ¨ aften zu deuten, dazu bei, die Kritik zu d ¨ ampfen. Besonderen Anklang fand die salvierende allegorische Textauslegung bei Interpreten, die der Stoa nahestanden. Die Zust ¨ andigkeit der Dichtung f ¨ ur Unterweisung auf den wichtigsten Gebieten des Lesens bezeugt uns der heiter-ernste Agon, den Aristophanes in den Fr¨ oschen, seiner Kom ¨ odie ¨ uber den besten Trag ¨ odiendichter (405 v. Chr.), Aischylos und Euripides in der Unterwelt bestreiten l ¨ aßt. Aristophanes legt dort Aischylos ein Lob f ¨ ur die Sch ¨ opfer der Poesie in den Mund, wobei er einem jedem von ihnen einen speziellen Lehrbereich zuteilt: Orpheus die Weihebr ¨ auche, Musaios die Heilkunst und die Orakelauslegung, Hesiod die Landwirtschaft, Homer die Kriegskunst. 11 Horaz verkl ¨ art in der Ars poetica 391ff. die Urgeschichte der Dichtung mit der durch sie herbeigef ¨ uhrten Entwicklung der Gesittung und Kultur. In Gang gebracht habe den menschlichen Fortschritt die f ¨ ordernde ’Weisheit‘ (sapientia) der ersten S ¨ anger und Dichter, des Orpheus und des Amphion. Ruhm und Ehre habe das Wirken den g ¨ ottlichen S ¨ angern und der Dichtung eingetragen. ”Nach diesen beiden ragt die hehre Gestalt Homers“. 12 Zahlreich sind die Stimmen, die in sp ¨ ateren Jahrhunderten Homer noch immer als den gr ¨ oßten Lehrmeister auf fast allen Gebieten des Wissens und K ¨ onnens preisen. Aus dem Ende des 2. Jhs. n. Chr. ist eine umfangreiche Schrift eines als Pseudo-Plutarch bezeichneten Anonymus ¨ uber Leben und Dichtung Homers ¨ uberliefert, die den ”historischen“, ”theoretischen“ und ”politischen“ λογος des Dichters in Kompetenzbereichen herausstellt, die er begr ¨ undet habe und f ¨ ur die er der noch immer beste Lehrer sei. Dazu z ¨ ahlen außer allen literarischen Gattungen und der Kunst der Rede die Kosmologie, die Theologie, die Naturphilosophie, die Ethik, die Psychologie, die Staatskunst, das Kriegshandwerk, das Recht, die Mathematik, die Musik, die Malerei und sogar die Medizin und die Zauberei, wie auch alle Arten des praktischen Wissens und K ¨ onnens. 13 Die Reputation Homers trug maßgeblich dazu bei, daß sich das Ideal des Dichter-Gelehrten, des 10 Das Verh ¨ altnis des Aristoteles zu Homer skizzieren treffend Pfeiffer 1970: 99f. und G. F. Else, Plato and Aristotle on Poetry, 1986 [Chapter 12: Homer and Epic, 163-184]. 11 Aristophanes, Fr¨ osche, 1030ff. 12 Horaz, Ars poetica 40, 1: post hos insignis Homerus. 13 Der Text liegt jetzt vor in einer Ausgabe von J. Keaney / R. Lamberton, [Plutarch], Essay on the Life and Poetry of Homer, American Philological Association: American Classical Studies 40, 1996. Walker (2000: 295ff.) charakterisiert die Homer-Exegese des Pseudo-Plutarch als Ausdruck der vorherrschenden Grammatikermeinung der Zeit. 172 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele poeta doctus, ausbildete, der ¨ uber ein breites Wissen verf ¨ ugte und es poetisch zu verarbeiten wußte, zum intellektuellen Gewinn des Publikums. 7.2.1 Die Gattungsproblematik der Lehrdichtung Die Mission des Dichters und S ¨ angers der archaischen Zeit, sein h ¨ oheres, eingegebenes Wissen mitzuteilen, und das Begehren der Zuh ¨ orerschaft, aus seinem Mund zu erfahren, was war, was ist und was sein wird, haben im Zusammenwirken schon fr ¨ uh das sog. ’Lehrgedicht‘ hervorgebracht. Es wird a posteriori als solches definiert; die Gattungsbestimmung ’Lehrdichtung‘ geht auf j ¨ ungere Unterscheidungen literarischer Formen zur ¨ uck. Sowohl in der griechischen wie in der r ¨ omischen Dichtungstheorie wurde, was wir als ’Lehrdichtung‘ verstehen, in der Regel der Gattung des Epos zugerechnet, auf Grund der gemeinsamen Urspr ¨ unge, auf Grund des gleichen Wirkungsziels, der Informationsvermittlung, vor allem aber auf Grund der genusbestimmenden formalen ¨ Ubereinstimmung: Als Kunstprodukt in Versen geh ¨ orte das Lehrgedicht nach vorherrschender Auffassung zur ’Poesie‘ . Als Werk in Hexametern, dem urspr ¨ unglichen, auch sp ¨ ater bevorzugten Metrum, hatte es Teil an der Dichtungsgattung, die sich durch eben diese Versform definierte: am ’Epos‘ . Weil bis zu Aristoteles’ Poetik - in der Praxis noch dar ¨ uber hinaus - allein die metrische Form die Gattungszuordnung entschied, hat die dichtungstheoretische Herausl ¨ osung einer Species ’Lehrdichtung‘ aus dem ’Epos‘ lange auf sich warten lassen. Er ¨ orterungen zur Gattungsfrage tauchen auf bei einzelnen sp ¨ atlateinischen bzw. sp ¨ atantiken Autoren (u. a. Sueton, Servius, Proklos). 14 Anhaltspunkte f ¨ ur die Entstehung eines Gattungsbewußtseins h ¨ atte der Ausbau des terminologischen Systems bieten k ¨ onnen, aber da mangelt es an der genaueren Datierbarkeit der Zeugnisse. Eine in einer Handschrift des 9. Jahrhunderts (Tractatus Coislinianus) ¨ uberlieferte Epitome eines peripatetischen Literaturtraktats, der in Abkehr von Aristoteles’ engem Mimesis-Kriterium neben der ’mimetischen‘ Poesie (haupts ¨ achlich Epos und Drama) auch eine ’nicht-mimetische‘ Poesie postuliert, rechnet zu dieser eine πο ησις παιδευτικ , eine ’belehrende Poesie‘ , in der man, vollkommen getrennt vom ’Epos‘ , die Lehrdichtung als selbst ¨ andige Form anerkannt findet. Leider l ¨ aßt sich nicht bestimmen, welcher Zeit der peripatetische - also einer nacharistotelischen Schule zuzuschreibende - Traktat entstammte. Ein datierbares Indiz f ¨ ur ein vorhandenes Problembewußtsein ist der um 370-380 verfaßten Ars grammatica des Diomedes zu entnehmen (Keil GL 1, 482, 14-32). In seiner Systematik der Dichtungsgattungen stellt Diomedes neben Epik, Lyrik und Drama auch einen ’exegetischen oder beschreibenden‘ Poesietypus heraus, dem er u. a. die ’didaktisch‘ (didactice) konzipierten Werke zuordnet. Da 14 Die Nachweise bei E. P ¨ ohlmann, Charakteristik des r ¨ omischen Lehrgedichts, in: ANRW I, 3 (1973), 813-901; S. 825ff. Information und Belehrung 173 er der ’didaktisch‘ ausgelegten Poesie als Beispiele f ¨ ur Philosophie Werke von Empedokles und Lukrez, f ¨ ur Astrologie und Naturwissenschaft solche von Arat und Cicero zuweist und zu alledem am Ende noch Vergils Georgica sowie his similia anf ¨ uhrt, darf geschlossen werden, daß scharfsichtige Theoretiker im 4. Jh. n. Chr. bereit waren, der lehrenden Dichtung einen Sonderstatus einzur ¨ aumen. 15 Einen Anstoß hierzu hatte bereits Plutarch (ca. 45 bis 120 n. Chr.) gegeben. An einer wenig bekannten Stelle seiner Schrift ¨ Uber das Studium der Dichter, in der er die Poesie auf Fabel ( μCθος ) und Fiktion ( ψεCδος ) gegr ¨ undet darstellt, scheidet er von dieser die Verse des Empedokles und des Parmenides, die Werke ¨ uber Kr ¨ auter aller Art von Nikandros sowie die Maximen von Theognis, weil sie Fabel und Fiktion vermissen ließen. Die Versform und den gehobenen Stil h ¨ atten diese literarischen Erzeugnisse von der Dichtkunst nur geliehen, um sich nicht in Prosa dahinqu ¨ alen zu m ¨ ussen. 16 Plutarchs Zeugnis ist sozusagen die Geburtsurkunde der Gattung ’Lehrdichtung‘ , wenngleich offenkundig ist, daß er diese als nichtpoetisches Schriftprodukt aus der Dichtung ausgrenzte. Unschwer zu erkennen ist, daß Plutarch Erw ¨ agungen aus Aristoteles’ Poetik aufgegriffen hat. Denn in gewissem Sinn hatte schon Aristoteles eine Sonderung jener Dichtung vorgenommen, die wir als ’Lehrdichtung‘ bezeichnen. In den Ausf ¨ uhrungen zur Mimesis nach seinem Verst ¨ andnis, dem f ¨ ur ihn einzigen Kriterium von ’Poesie‘ , wendet er sich dagegen, daß jemand, der etwas Medizinisches oder Naturwissenschaftliches in Versen darbiete, auf Grund der Metrisierung bereits Dichter genannt werde. Sein Argument: ”Homer und Empedokles haben indes außer dem Vers nichts Gemeinsames, daher w ¨ are es richtig, den einen als Dichter zu bezeichnen, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter.“ 17 Das Mimesis- Kriterium, das Aristoteles anwendet, gibt nat ¨ urlich kein allgemeing ¨ ultiges Mittel her, die Lehrdichtung gattungstheoretisch abzustecken; gleichwohl kommt Aristoteles dieser Unterscheidung recht nahe, auch auf Grund der Erkenntnis, daß in vielen Werken der ihm bekannten Versliteratur die Poetizit ¨ at weit hinter der Didaktizit ¨ at zur ¨ uckbleibt. Aristoteles’ Verdikt blieb ohne weitreichende Wirkung. Wie die Passagen bei Plutarch und Diomedes bezeugen, wurden im Nachhall Wege gesucht, die prim ¨ ar auf Lehre ausgerichteten Verssch ¨ opfungen zwar als besonderen Werktypus erscheinen zu lassen, aber abweichend von Aristoteles die Zugeh ¨ origkeit zur ’Poesie‘ aufrechtzuerhalten. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat 15 Ausf ¨ uhrlichste Darstellung der Entwicklung des Gattungsbewußtseins jetzt bei Katharina Volk, The Poetics of Latin Didactic. Lucretius, Vergil, Ovid, Manilius. Oxford 2002. Siehe besonders S. 30-34. 16 Plutarch, De audiendis poetis, 16 C-D (Mor. 14d-36f.). 17 Aristoteles, Poetik 1447b17-20: ο; δ ν δ κοιν ν (στιν MΟμ ρω κα Εμπεδοκλε% πλ6ν τ μ τρον, δι τ ν μ ν ποιητ6ν δ καιον καλε%ν, τ ν δ φυσιολ γον μ5λλον 9 ποιητ ν. 174 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele sich der Lehrdichtung als eigener dichterischer Form auch erst sp ¨ at, im 20. Jh., angenommen, im Zusammenhang mit dem zunehmenden Forschungsinteresse f ¨ ur das thematisch und funktional verwandte Fachschrifttum in Prosa. 18 Ob Aristoteles auch Hesiods Werke und Tage, das um 700 v. Chr. entstandene Urmuster der Gattung, aus dem Spektrum der ’Poesie‘ ausschloß, ist schwer zu entscheiden. Thematisch behandelte das Werk den von Aristoteles nicht erw ¨ ahnten Ackerbau, eine bleibende Dom ¨ ane der Lehrdichtung, auch noch in Rom. Freilich verband Hesiod die fachlich-praktische Unterweisung mit dem Anliegen, dem Adressaten, seinem charakterschwachen Bruder, das Ideal eines von ehrbarer Arbeit erf ¨ ullten Lebens vor Augen zu f ¨ uhren, um ihn auf den Pfad der Tugend zur ¨ uckzubringen. Ausdr ¨ ucklich aufs Korn nahm Aristoteles die Lehrdichtung zur Medizin und zur Naturwissenschaft, was vermuten l ¨ aßt, daß in diesen Bereichen Werke in auffallender Zahl oder von gr ¨ oßerer Bedeutung vorlagen. Von der Medizin ¨ alterer Zeit ist kein Lehrgedicht ¨ uberliefert, wohl aber best ¨ atigt das Schrifttum der Vorsokratiker die Favorisierung der im weitesten Sinn naturwissenschaftlichen Lehrdichtung. Xenophanes (ca. 570-ca. 475) hatte in einem sp ¨ ater ¨ Uber die Natur betitelten Lehrepos den Anthropomorphismus der ”stehlenden, hurenden und betr ¨ ugenden“ G ¨ otter Homers und Hesiods verworfen und stattdessen einen philosophischen Gottesbegriffentwickelt, der in vielem Aristoteles’ Konzept des unbewegten Bewegers vorwegnahm. Von Parmenides (sp ¨ ates 6. bis fr ¨ uhes 5. Jh.) hat Aristoteles sehr gut die auf Platons Ideenlehre vorausweisende Ontologie gekannt; sie war gleichfalls in epischen Hexametern dargestellt. Empedokles schließlich (etwa 490 bis 430), den Aristoteles namentlich anf ¨ uhrt, ist anscheinend der letzte der ihm vorausgegangenen Naturphilosophen gewesen, der seine Lehre in die Epenform kleidete. Doch eine Stelle in der Metaphysik, in der Aristoteles 18 Trotz eines ¨ Uberblicksartikels ’Lehrgedicht‘ von W. Kroll in der RE 12, 2 (1925): 1842-57 hat die Lehrdichtung erst von ca. 1960 an das Interesse auf sich gezogen. Bahnbrechend waren die Arbeiten von E. P ¨ ohlmann, Charakteristika des r ¨ omischen Lehrgedichts, in: ANRW I, 3 (1973): 813-901, und als erste große, vor allem die Typologie der Dichtungsformen herausarbeitende Studie die Monographie von B. Effe, Dichtung und Lehre, Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts, M ¨ unchen 1977. Es ¨ uberwiegt seitdem das Bem ¨ uhen, die Gattung ’Lehrdichtung‘ durch vergleichende Werkuntersuchungen sch ¨ arfer in den Griffzu bekommen, wof ¨ ur K. Volk (2002, oben Fn. 15) mit Interpretationen zu Lukrez, Vergil, Ovid und Manilius ein herausragendes Beispiel liefert. An den gew ¨ ahlten Repr ¨ asentanten arbeitet die Verf. Z ¨ uge heraus, die sie als Gattungscharakteristika sehen m ¨ ochte: explizite didaktische Absicht, Lehrer- Sch ¨ uler-Konstellation, dichterisches Selbstbewußtsein, Simultaneit ¨ at von Gedicht- und Lernfortschritt. ¨ Uber den erreichten Forschungsstand informieren außer Volk (2002) der Artikel ’Lehrgedicht‘ von R. Glei in: DNP 7 (1999): 26-32 sowie der inhaltsreiche Sammelband von M. Horster / Ch. Reitz (Hgg.), Wissensvermittlung in dichterischer Gestalt, Stuttgart 2005 [mit 16 Fachvortr ¨ agen eines 2004 in Rostock veranstalteten Kolloquiums zum Thema]. Information und Belehrung 175 dem - in der Tat ziemlich geschraubt schreibenden - Vorg ¨ anger eine ”unbeholfene Ausdrucksweise“ ankreidet 19 , l ¨ aßt vermuten, daß zur Versform hinzukommende sprachlich-stilistische Einw ¨ ande den Ausschlag daf ¨ ur gaben, dem philosophisch durchaus ernstgenommenen Vorsokratiker den Dichternamen abzuerkennen. 7.2.2 Lehrfunktion und Poetizit ¨ at der Lehrdichtung In der Praxis hatte Aristoteles’ Bannspruch keine Folgen. Nach einem vorausgegangenen Einbruch zwischen ca. 450 und 300 v. Chr., also gr ¨ oßtenteils vor der Zeitspanne, in die die Poetik f ¨ allt (um 335? ), erlebte die Lehrdichtung sogar einen regelrechten Boom. Ihre f ¨ ur die hellenistische Epoche bezeichnende Wertsch ¨ atzung verr ¨ at der große Einfluß, den vor allem die Phain´ omena des Aratos (Ende 4. bis Mitte 3. Jh. v. Chr.), ein Werk ¨ uber Astronomie, Astrologie und Wetterkunde, sodann die Lehrepen des Nikandros (2. Jh.v. Chr.) ¨ uber Mittel gegen Vergiftungen (Alexiph´ armaka) und gegen den Biß giftiger Tiere (Th¯ eriak´ a), und schließlich die - f ¨ ur die Geographie jahrhundertelang maßgebliche - Erdbeschreibung (Periegesis) des Dionysios von Alexandreia (1. H ¨ alfte des 2. Jhs. n. Chr.) in 1186 Hexametern aus ¨ ubten. Hinter diesen in der Antike hochgelobten und vielkopierten Glanzst ¨ ucken breitet sich ein weites literarisches Feld mehr oder weniger gegl ¨ uckter Verse zur Lebenspraxis und zum Wissen aus, das in seiner Tiefe noch der gr ¨ undlichen Erschließung bedarf. Rom hat, wie in der Kultur im allgemeinen, so auch in der literarischen Produktion das griechische Vorbild der Lehrdichtung ¨ ubernommen, doch daraus Eigenes geschaffen. Wie sehr man dem Vorbild verpflichtet war, zeigt schon die Menge der ¨ Ubersetzungen, Bearbeitungen und Nachdichtungen zu griechischen Modellen. Aratos’ Phainomena z. B. wurden von Cicero frei ¨ ubersetzt (Aratea, Fragmente erhalten). Auf dessen Jugendwerk folgte eine Nachdichtung durch Germanicus, den Feldherrn des Tiberius (Claudi Caesaris Arati Phaenomena, 725 Verse), und schließlich im 4. Jh. die von 1154 auf 1878 Verse erweiterte Version des Avienus (Phaenomena). Auf griechischen Quellen, Fachpoesie oder -prosa, beruhte auch eine Vielzahl der lateinischen Lehrdichtungen mit der erkennbaren Tendenz, praktische Information und brauchbaren Rat f ¨ ur den Alltag zu vermitteln. Thematisch handelte diese in Rom nach vielen Seiten ausgebaute didaktische Poesie die entlegensten Gegenst ¨ ande ab: Jagd, Fischfang, Vogelkunde, Steinarten, Kr ¨ auter, Gifte, Heilmittel, Speisen, Delikatessen, Gestaltung von Festgelagen, Brettspiele und vieles mehr. Die Anf ¨ ange der lateinischen Lehrdichtung liegen im Dunkeln, doch ist zu ihren fr ¨ uhesten Wegbereitern Ennius (239-169 v. Chr.) zu z ¨ ahlen, 20 dessen Adap- 19 Aristoteles Metaphysik I, 4 (985a). 20 Der Beitrag von P. Kruschwitz, ’Lehre oder Dichtung? Die archaische didaktische Poesie der R ¨ omer‘ in dem oben (Fn. 18) genannten Kongreßband von Horster / Reitz 176 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele tationen griechischer Vorlagen auch schon die thematische Spannweite vor Augen f ¨ uhren, die das r ¨ omische Lehrgedicht in Fortsetzung des griechischen ausf ¨ ullen sollte. Denn w ¨ ahrend Ennius im Epicharmus in Form eines im Traum in der Unterwelt erfahrenen Wissens eine naturphilosophisch-kosmologische Elementenlehre pythagoreischer F ¨ arbung ausbreitet, verlegt er sich in den Hedyphagetica auf eine parodistisch anmutende ¨ Ubersicht ¨ uber kulinarische Leckerbissen. Auf Grund seiner Ausrichtung der r ¨ omischen Epik auf den Hexameter hat er, ohne sich selbst im Epicharmus an ihn zu halten, die Weichen daf ¨ ur gestellt, daß dieser Verstyp auch in der Lehrdichtung in Rom vorherrschend blieb. Als Bewunderer des Ennius, daher an ihn stilistisch und metrisch ankn ¨ upfend, schuf Lukrez (ca. 98-94 bis 55 v. Chr.) mit De rerum natura das erste literarisch bedeutende Lehrgedicht Roms. In 7409 Hexameterversen vermittelte er die Weltdeutung seines Meisters Epikur, angefangen von der Behandlung der Materie und der Naturkr ¨ afte bis hin zum Menschen und dessen einzigem Lebensziel, der Lust (gr. Xδον , lat. voluptas). Naturphilosophische Spekulation und Physik m ¨ undeten so in Anthropologie, Ethik und Religionskritik, angetrieben von einem aufkl ¨ arerischen Impetus, dem Menschen durch rationale Erkl ¨ arungen aller Zust ¨ ande und Vorg ¨ ange die Furcht vor den G ¨ ottern, den existentiellen Bedrohungen und dem Tod zu nehmen, damit er, innerlich und ¨ außerlich befreit, das lusterf ¨ ullte Leben f ¨ uhren kann, f ¨ ur das er nach epikureischer Auffassung bestimmt ist. Daß Lukrez von seinem Gegenstand und dem Vorhaben, ihn als eine Art Heilslehre mitzuteilen, ergriffen war, kam der Dichtung sehr zustatten; es best ¨ arkte ihn in der Wahrung eines gehobenen, teilweise feierlichen Stilniveaus. De rerum natura wurde ein Vorbild f ¨ ur Vergils Georgica, andererseits beruft sich Vergil mit dem zwischen ca. 36 und 29 v. Chr. verfaßten Lehrgedicht ¨ uber den Landbau thematisch und formal auf Hesiods Werke und Tage: In 2, 176 beschließt er das Lob Italiens, seines Landes, mit dem auf Hesiods Dichtung r ¨ uckverweisenden Bekenntnis: ”Und ich singe dir ¨ uberall in r ¨ omischen St ¨ adten ein askr ¨ aisches Lied“. 21 Auf der technisch-fachlichen Ebene der 2188, auf vier B ¨ ucher verteilten Verse behandelt Vergil den Ackerbau (Buch 1), die Baumpflege und den Weinbau (2), die Viehzucht (3) und die Imkerei (4). Aber die Sachdarstellung wird von einer zweiten, ideellen Ebene ¨ uberh ¨ oht, auf der das Geschilderte eine allgemeine Bedeutung gewinnt. So ist die beschriebene b ¨ auerliche Arbeit das Paradigma einer achtbaren Lebensf ¨ uhrung, das Ringen um guten Ertrag gegen alle Widrigkeiten der Natur ein Bild der menschlichen Existenz. Der Bienenstaat entbirgt die Vision eines musterg ¨ ultig geordneten Gemeinwesens, eines Zustandes, den sich Vergil f ¨ ur Rom herbeiw ¨ unscht. (Hgg.), 115-131, versucht, Licht in die Anf ¨ ange der Lehrdichtung in Rom zu bringen, die auf ”circa einhundert Jahre vor Ennius“ vorger ¨ uckt werden. 21 Vergil, Georgica 2, 176: Ascraeumque cano Romana per oppida carmen. Information und Belehrung 177 Es steigert den literarischen Reiz der Georgica, daß die Dichtung sich auch bei Einzelbeschreibungen immer wieder zu allgemeinen Betrachtungen erhebt, zu philosophischen, moralischen, existentiellen oder auch aktuellen politischen, die aus der Sorge um das von den B ¨ urgerkriegen zerr ¨ uttete Italien erwachsen. Mit dem durchg ¨ angigen Merkmal, daß die Sachdarstellung ¨ uber sich hinausweist auf eine h ¨ ohere Sinnebene, gibt Vergils Werk das beste Beispiel ab f ¨ ur den ”transparenten“ Typ des Lehrgedichts, den Effe (1977) in seiner Klassifikation unterschieden hat. Von den Georgica aus betrachtet, erscheinen die etwa 30 Jahre j ¨ ungeren Werke Ovids Ars amatoria (2330 Verse) und Remedia amoris (814 Verse) manchen Interpreten als Sprengungen der Gattungsnormen. 22 F ¨ ur eine derartige Bewertung gibt es freilich Anhaltspunkte, formale und inhaltliche. Formal ¨ uberrascht auf den ersten Blick die Wahl elegischer Distichen statt des epischen Hexameters. Was den Inhalt betrifft, machen verschiedene Kritiker geltend, daß die ’Liebe‘ doch weder lehrnoch lernbar sei, das Thema obendrein in einem witzig-ironischen Ton abgehandelt werde, der der Ernsthaftigkeit eines wirklichen Lehrvorhabens zuwiderlaufe. Nun ist aber zum einen zu bedenken, daß Ovid dem elegischen Distichon den Vorzug gegeben hat, weil es die klassische Versform der Liebesdichtung bildete, sich also f ¨ ur die Unterweisung in einer Art Erg ¨ anzung zur eigenen Liebespoesie (Amores) anbot. Andererseits ist bei der Thematik in Rechnung zu stellen, daß Ovid weder die Gattenliebe noch eine andere Form dauerhafter Bindung in den Blick nahm, sondern als partnerschaftserfahrener Kenner der leichtlebigen r ¨ omischen Society lediglich die Strategien darstellen und zur Kenntnis bringen wollte, die einem Mann bei einem M ¨ adchen, in der Regel einer Het ¨ are (Buch 1 und 2 der Ars), und umgekehrt einem M ¨ adchen bei einem Mann (Buch 3) zu Gebote stehen, um in eroticis ans Ziel zu kommen, oder um als Mann bei einem verfestigten Verh ¨ altnis den Trennungsschmerz ¨ uberwinden zu k ¨ onnen (Remedia). Dem ”Lehrer Ovid“ (Ars 3, 812: Naso magister) ging es allein um die Techniken in Partnerbeziehungen, in welchen ’Liebe‘ als gesellschaftliches Spiel gesucht wurde, als ein kurzes Vergn ¨ ugen, wie der lustvolle Zeitvertreib mit W ¨ urfel-, Ball- und Reifenspielen, Jagen, Schwimmen usw. - was auch alles gelehrt und gelernt wurde und was Ovid in Tristia 2, 465ff. anf ¨ uhrt, um seine Liebesdidaktik zu rechtfertigen. Voraussehbar war, daß Ovids große Lehrdichtungen - von einer ’Kosmetik f ¨ ur das weibliche Antlitz‘ (Medicamina faciei femineae) sind leider nur 100 Anfangsverse erhalten - das kaiserliche Mißfallen hervorrufen mußten, war doch Augustus bem ¨ uht, durch Versch ¨ arfungen der Ehegesetzgebung die sexuellen Freiz ¨ ugigkeiten der oberen Schichten einzuschr ¨ anken. Steckt in der Lehre der 22 B. Effe (1977) behandelt sie als ”Sonderformen“. Zur Ars amatoria noch kritischer R. Glei (DNP 7, 1999: 30): ”In diesem Werk l ¨ ost Ovid die Gattung formal und inhaltlich auf“. 178 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Liebeskunst also eine Provokation? F ¨ ur uns ragt Ovids Werk jedenfalls heraus als die geistreich-witzige, bis in die N ¨ ahe der Parodie gesteigerte Extremisierung der Gattung ’Lehrdichtung‘ . Die Ars amatoria ist auch das einzige St ¨ uck der Gattung aus der griechisch-r ¨ omischen Antike, das Eingang in die ’Weltliteratur‘ gefunden hat. Die reiche Lehrdichtung der Folgezeit kann in der literarischen Qualit ¨ at an das Niveau der Sch ¨ opfungen Lukrez’, Vergils und Ovids nicht mehr heranreichen, obschon sie das Wohlwollen der Kaiser fand. Augustus hat sich selbst in dieser Sparte am Thema Sicilia versucht; ihm und dem Nachfolger Tiberius war auch das große, unter dem Titel Astronomica in Hexameterversen verfaßte Werk des Manilius zur Astronomie und Astrologie gewidmet, eine Summe des seit Arat angesammelten Wissens auf dem Fundament der stoischen Weltsicht, daß n ¨ amlich eine g ¨ ottliche Vernunft den Kosmos durchdringe und alles nach ihren Gesetzen regle. Bei den christlichen Autoren tritt das Lehrgedicht in den Dienst der religi ¨ osen Unterweisung. Commodians (vom Erstherausgeber so betiteltes) Carmen apologeticum (3. Jh.), eines der fr ¨ uhesten Zeugnisse, lehrt in 1060 Versen das Wesen Gottes, seine Menschwerdung in Christus, die N ¨ ahe des J ¨ ungsten Gerichts und fordert Juden und Heiden zur Bekehrung auf. Der Komplex der sp ¨ atantiken und mittelalterlichen Lehrdichtung ist noch wenig erforscht. Schon der auf die Hauptwerke beschr ¨ ankte ¨ Uberblick macht klar, daß die Gattung der libri didascalici (Servius) 23 die Poesie so eng wie keine andere an die Aufgabe der Wissensvermittlung bindet. Dem Leser entgeht auch kaum, daß das Verh ¨ altnis Autor-Adressat(en) in ihr reduziert ist auf eine Lehrer-Sch ¨ uler- Konstellation. Die Regel ist dabei, daß die Absicht der Belehrung ausdr ¨ ucklich kenntlich gemacht wird, sei es durch einen Hinweis im Text, wie ihn bereits Hesiod in den Werken und Tagen verwandte 24 , sei es durch die par ¨ anetische Ausrichtung auf ein Gegen ¨ uber, das in stummer Rezeption verharrt. Dar ¨ uber hinaus charakterisiert der Autor seine Rolle oft selbst als die eines magister oder praeceptor - so Ovid 25 - oder setzt Verben ein, die wie das docere, praecepta referre, edicere, iubere, suadere in Vergils Georgica die Funktion der Unterweisung und Lenkung eines ’Sch ¨ ulers‘ hervorheben. 26 Servius hat das Spezifische des Lehrgedichts erfaßt, wenn er drei Bedingungen voraussetzt: die Instruktion, die vermittelt werden 23 So die Gattungsbezeichnung bei Servius (um 400 n. Chr.) im Kommentar zu Vergils Georgica (Comm. in Verg. Georg., Buch 1, pr. 26 Thilo). 24 Hesiod, Erga 9f.: κλCθι Hδlν ων τε, δ κη> δO )θυνε θ μιστας τ<νη : ”Und du paß mit Auge und Ohr auf und treffe rechte Urteile.“ 25 K. Volk (2002) hat die Textmerkmale der ”didactic poetry“ erstmals systematisch analysiert; zusammenfassende Beschreibung in Kap. 2.2 ’Didactic poetry as a genre‘ , 34-43. 26 Stellenangaben zu Vergils Georgica ebendort S. 123. Information und Belehrung 179 soll, die Person des Lehrers, der sie vermittelt, sowie die Person des Sch ¨ ulers, der sie empf ¨ angt: hi libri didascalici sunt, unde necesse est, ut ad aliquem scribantur; nam praeceptum et doctoris et discipuli personam requirit. 27 Die Rollenverteilung schließt ein, daß der Lehrer bei der Darbietung des Stoffes das Rezeptionsverhalten des Sch ¨ ulers steuernd zu beeinflussen sucht. In gut ausgebauten Werken wie Lukrez’ De rerum natura l ¨ osen sich Lehrabschnitte mit Passagen ab, in denen der Lehrer den Sch ¨ uler anspricht, ihn zu besonderer Aufmerksamkeit anh ¨ alt, Einw ¨ ande und Fehldeutungen vorwegnimmt oder ihn ¨ uber den Nutzen aufkl ¨ art, den ein bestimmtes Sachwissen ihm bringen k ¨ onnte. Trotz der par ¨ anetischen Hinwendung an das Gegen ¨ uber bleibt es in den unmittelbar lehrenden Partien didaktischer Poesie, also in den zentralen Werkteilen, bei einer rein monologischen Kommunikation. Im Bem ¨ uhen, die Unterscheidung von Dichtungsgattungen mittels des Kriteriums der redend dargestellten Personenzahl neu zu definieren, hat Diomedes unter den drei genera eines als (Aηγητικ ν vel enarrativum herausgehoben, in quo poeta ipse loquitur sine ullius personae interlocutione, ut se habent tres georgici et prima pars quarti, item Lucreti carmina et cetera hos similia. 28 Daß andere Personen als der Dichter in der Lehrerrolle redend figurieren, findet sich, die Georgica ausgenommen, normalerweise nur in erweiternden Partien des Lehrger ¨ usts: in Prooemien, narrativen Einlagen - Mythenerz ¨ ahlungen, Legenden, literarischen Motiven - sowie in Exkursen und Epilogen, also in Rahmen- und Ausbauteilen, die als Elemente der Poetisierung das dichterische Werk vom Fachbuch abheben. Im Lauf der Jahrhunderte hat die Lehrdichtung Ver ¨ anderungen erfahren. Sie betrafen sowohl das Lehrer-Sch ¨ uler-Verh ¨ altnis als auch die Pr ¨ asentation des Stoffes, der res. Grundlegend ver ¨ andert hat sich die Position des Autors und Lehrers. Denn gebot der Dichter nach alter Auffassung ¨ uber ein h ¨ oheres, menschliche Weltkenntnis transzendierendes Wissen, das ihm durch g ¨ ottliche Eingebung zuteil wurde und dessen er sich bei jedem Vorhaben durch den Musenbzw. G ¨ otteranruf erneut versichern konnte, so entleerte sich mit der fortschreitenden Erosion des V ¨ aterglaubens der Anspruch der Erw ¨ ahlt- und Inspiriertheit zu einer bloßen Formel. Fortan hatte der Dichter im Lehrgedicht ein eigenes einschl ¨ agiges Fachwissen auszubreiten, das er in gr ¨ undlichen Studien sich angeeignet hatte - wie Lukrez die epikureische Physik -, also schließlich auch als doctor weitergeben konnte, oder er w ¨ ahlte kurzerhand ein Fachbuch in Prosa, um durch poetische 27 Servius, Comm. in Verg. Georg., Buch 1, pr. 26 Thilo: ”Dies sind didaktische B ¨ ucher, weshalb es erforderlich ist, daß sie an jemanden geschrieben sind. Denn eine Instruktion verlangt sowohl die Person eines Lehrers wie die Person eines Sch ¨ ulers.“ [Servius will erl ¨ autern, daß Maecenas als Adressat der Georgica erscheint; er erinnert daran, daß auch Hesiods und Lukrez’ Lehrgedichte an bestimmte Personen gerichtet sind]. 28 Keil GL I, 182, 20f. 180 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Ausarbeitung daraus eine Lehrdichtung zu gewinnen. Ganz eindeutig markiert Lukrez mit De rerum natura den Endpunkt in der Abl ¨ osung des gottbegnadet gesehenen Lehrdichters durch einen Virtuosen, der weiß, wie didaktische Poesie gemacht werden muß. Nat ¨ urlich war es riskant, sich nun ohne Legitimation ¨ uber Fachliches ¨ außern zu wollen oder zu m ¨ ussen. Hier liegt eine Erkl ¨ arung f ¨ ur die von Jahrhundert zu Jahrhundert zunehmende Auff ¨ ullung des Lehrstoffes durch unverf ¨ angliches Rahmen- und Beiwerk. Die Anreicherung brachte mit sich, daß die in Griechenland ¨ ublicherweise ein Buch umfassenden Lehrdichtungen in Rom auf Werke mit mehreren B ¨ uchern anschwollen. Es muß sich auch die Frage der Zust ¨ andigkeit des Dichters f ¨ ur alles und jedes gestellt haben, bezog er doch das Wissen zu seiner Lehre offenkundig aus zweiter Hand. So erkl ¨ art sich, daß Ovid Wert darauf legte, in den Eingangsversen der Ars amatoria zu betonen, Quelle der Kunst der Liebe, die er zu lehren beabsichtige, sei nicht ein ihm vermitteltes Wissen, auch nicht Eingabe der Musen, sondern die Praxis (usus), die ihn erfahren (peritus) gemacht habe. 29 Es zeichnet sich die W ¨ unschbarkeit einer neuen Legitimierung der Person des Lehrdichters ab, aber Ovids Erfahrungsmodell setzte Maßst ¨ abe, die nach ihm kommende Autoren didaktischer Werke weder erf ¨ ullen konnten noch wollten. Auf der Sch ¨ ulerseite beobachten wir die Ausweitung der Lehre von einem einzigen Adressaten, der als Gegen ¨ uber erscheint, auf mehrere, schließlich auf viele Angesprochene. Dabei ist fachlich zu bedenken, daß die Lehrdichtung ¨ uber den oder die namentlich genannten Adressaten hinaus stets auch auf ein ungenanntes Publikum zielt, das die fachliche Unterweisung oder die poetische Leistung, am besten beides zusammen, zum Ruhme des Autors w ¨ urdigen soll. Parallel zur Ausweitung der Adressatenseite zeichnet sich ein deutlicher Wandel im sozialen Status der von den Autoren namentlich Angesprochenen ab. Hatten sich n ¨ amlich die griechischen Dichtungen haupts ¨ achlich an Niedriger- oder Gleichgestellte gerichtet, so wendeten sich die r ¨ omischen zunehmend an Personen h ¨ oheren Standes, die belehren zu wollen nur noch eine gattungshistorische Fiktion war. Geschaffen wurde die didaktische Poesie jetzt von vornherein f ¨ ur ein an allgemeiner Bildung interessiertes Leserpublikum, und der discipulus mußte dabei einem als Adressat direkt apostrophierten hohen Herren Platz machen, der als G ¨ onner gewonnen werden sollte. W ¨ ahrend Ovids Bestimmung der Ars amatoria f ¨ ur die iuvenes (Buch 1 und 2) und die puellae (Buch 3) die Ausweitung vom einzelnen discipulus auf ein ganzes j ¨ ungeres Publikum vor Augen f ¨ uhrt, belegen die Adressen, die Lukrez in der alten Maske des Lehrers an den in verschiedenen ¨ Amtern erfahrenen Politiker C. Memmius, und Vergil an Maecenas, teilweise auch an Augustus richtet - an den zu belehrenden agricolae vorbei -, wie der inferiore discipulus als Empf ¨ anger des Werkes einem umworbenen M ¨ achtigen Platz machen muß, und nicht minder 29 Ovid, Ars amatoria 1, 27ff.: Nec mihi sunt visae Clio Cliusque sorores / Servanti pecudes vallibus, Ascra, tuis: / Usus opus movet hoc: vati parete perito. Information und Belehrung 181 der ehedem souver ¨ ane, g ¨ ottliches Wissen verk ¨ undende Dichter dem schmeichelnden Verslieferanten. Die alte Lehrer-Sch ¨ uler-Konstellation geht in Rom in einer Umkehrung der Statusrollen tendenziell in ein Abh ¨ angigkeitsverh ¨ altnis des Autors von einem hochgestellten F ¨ orderer ¨ uber, dem - wie Maecenas in den Georgica - statt einer Sch ¨ ulerfunktion nun sogar die Ehrenrolle des Inspirators zukommen kann. Die Lehre wurde von diesen Ver ¨ anderungen im Sinne einer fortschreitenden Poetisierung und Rhetorisierung ber ¨ uhrt. Der der Lehrdichtung inh ¨ arente Antagonismus von prosaischem Stoff und poetischer Form wurde zunehmend ¨ uberdeckt durch sprachlich-stilistische Gestaltungskunst, die die didaktische Poesie formal bis auf die H ¨ ohe des Epos hob, was Vergil in den Georgica vollendet gelungen ist. In Diktion und Stil die Gattung durch dichterischen Aufputz zu nobilitieren, war vor allem den r ¨ omischen Autoren ein Anliegen. Man versteht, daß der von Glanzlichtern wie den Georgica verw ¨ ohnte Quintilian von Aratos’ Darbietung der Phainomena nicht angetan sein konnte: Kein Leben, keine Abwechslung, keine Gem ¨ utsregung, keine Person, keine Rede. Dementsprechend beschr ¨ ankte sich das Lob auf den Satz, Aratos habe seiner Aufgabe Gen ¨ uge getan. 30 Was man vom Stil einer Lehrdichtung erwartete, ist in der deutlichsten Formulierung der Bemerkung CicerosCicero ¨ uber Nikandros zu entnehmen, daß dieser dank seiner F ¨ ahigkeit als Dichter, nicht als Landmann, ¨ uber Fragen der Landwirtschaft in gl ¨ anzendem Stil zu schreiben wußte. 31 Die perfekte Form des Gedichts wog in Rom allemal schwerer als Auswahl und Beherrschung des Stoffes. Was die Sachkenntnis des Dichters betrifft, sind gew ¨ ohnlich von vornherein erhebliche Abstriche zu machen. Er konnte bei dem Vorhaben, ein Lehrgedicht zu schreiben, auf dem Gebiet seiner Wahl im allgemeinen nur ein angelerntes Wissen umsetzen, das aus Fachb ¨ uchern oder - so bei den mehrfachen Bearbeitungen der Phainomena und bei den vielen Titeln zu landwirtschaftlichen Themen - aus dem Fundus fr ¨ uherer poetischer Darstellungen stammte. Da also meistens nur ein Grundwissen aus zweiter oder noch fernerer Hand geboten wurde, zudem oft im R ¨ uckstand gegen ¨ uber der aktuellen Lebenswirklichkeit, so daß die Leute vom Fach daraus f ¨ ur sich keinen Nutzen ziehen konnten, wird man sich fragen m ¨ ussen, wo und wie die florierende didaktische Poesie ihr Publikum finden konnte. 30 Quintilian, Institutio oratoria 10, 1, 55. 31 Cicero, De oratore 1, 69. ¨ Uber Aratos f ¨ allt Ciceros Urteil noch sehr positiv aus; er habe mit ornatissimis atque optimis versibus ¨ uber Himmel und Sterne geschrieben. Als Cicero De oratore verfaßte, lag ihm die neue Maßst ¨ abe setzende Lehrdichtung von Lukrez, die erst nach dessen Tod (55 v. Chr.) ver ¨ offentlicht wurde, noch nicht vor. In einem Brief an den Bruder Quintus vom Februar 54 lobt er sie als Werk ”mit vielen Blitzen des Geistes“ und ”hoher Technik“ (Cicero, Epistulae ad Quintum Fratrem 2, 10, 3: Lucreti poemata ut scribis ita sunt, multis luminibus ingeni, multae tamen artis.) 182 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Es str ¨ omten ihr aus den mit der Urbanisierung wachsenden Leserschichten diejenigen Kreise zu, die eine allgemeine Wissenskultur sch ¨ atzten und pers ¨ onlich erstrebten, jedoch weder gen ¨ otigt noch geneigt waren, auf einem Gebiet ihres Interesses sich die Spezialkenntnisse eines Fachmannes anzueignen. In diesem Sinne vermittelte das Lehrgedicht ihnen so etwas wie eine Einf ¨ uhrung sowie das Grundwissen und -k ¨ onnen zu einem sie interessierenden Themenbereich. Und dies in einer Form, die man auf dem Hintergrund des Fachschrifttums als Popularisierung von Spezialwissen und -k ¨ onnen f ¨ ur die breitere ¨ Offentlichkeit betrachten muß. Was ein Lehrgedicht an Spezialinformationen schuldig bleibt, macht es durch Begleitinformation wett. Der Darstellung beigef ¨ ugte Mythenerz ¨ ahlungen, Fabelgeschichten, Legendeneinlagen und regelrechte Exkurse (wie Lukrez’ Schilderung der Pest in Athen am Schluß von Buch VI, De rerum natura) schufen nicht nur eine narrative Breite, die das didaktische Poem in die N ¨ ahe des Epos r ¨ uckte, sondern reicherten es auch informativ an, so daß das vom Gedicht vermittelte Faktenwissen vermehrt war um das ¨ Uberlieferungswissen zum behandelten Gegenstand. Wenn Aratos z. B. in den Phainomena mit der ihm verf ¨ ugbaren Basiskompetenz ¨ uber die Sterne belehrte, aber die Unterweisung auf die Sternmythen und -sagen ausdehnte, oder wenn Nikandros die Behandlung der Giftschlangen mit dem Mythos verband, der die Entstehung der Schlangen beschreibt, kamen Informationen zustande, die zwar nicht den vollen und letzten Stand der Wissenschaft wiedergaben, wohl aber in der Gesamtheit, in der Zusammenfassung von fachlichem Basiswissen und ¨ Uberlieferungswissen, das leisteten, was das Publikum von der Lehrdichtung erwartete: die angenehme Vermittlung von Bildung. Hierauf beruhte die erstaunliche Beliebtheit der Gattung bei den Lesern. Wozu aber die Gedichtform? Warum nicht Belehrung in einfacher Prosa? Sicher hat das fortdauernd pr ¨ asente Modellkonzept des Epos, aus dem die Lehrdichtung einst hervorgegangen war, zur Bewahrung der poetischen Form beigetragen. So selbstverst ¨ andlich erschien sie den antiken Poetologen, daß kaum einer auf sie zu sprechen kommt. Bekannt ist eine ¨ Außerung des Lukrez, der sich vor der Notwendigkeit sah zu begr ¨ unden, warum er zur Verbreitung der Lehren Epikurs statt eines philosophischen Dialogs oder eines Prosatraktats die Gedichtform w ¨ ahlte. Er rechtfertigte seine Pr ¨ aferenz mit einem Vergleich aus dem medizinischen Alltag: So wie die ¨ Arzte Kindern die bitteren, aber heilenden Wermutstropfen in einem honigbestrichenen Becher reichten, der williger angenommen werde, so wolle er als Autor die H ¨ arte der Wahrheitserkenntnis durch das Mittel der Dichtung ”gleichsam vers ¨ ußen mit dem Honig der Musen“ 32 . Allem Anschein nach spricht aus dem Honigbechervergleich eine gewisse, wohl von den Erfahrungen mit den großen Epen gest ¨ utzte Meinung, daß die Ge- 32 Lukrez 1, 947: quasi musaeo dulci contingere melle. Information und Belehrung 183 dichtform die Belehrung attraktiver und kurzweiliger mache. In diese Richtung weisen auch die Hesiod-Scholien. Dort wird die metrische Gestaltung als ”S ¨ uße, W ¨ urze“ ( sδυσμα ) erkl ¨ art, die die Seelen bezaubere, sie gebannt halte und so dem didaktischen Ziel diene. 33 Wie dem Adressaten, dem sie den Erwerb von Wissen und K ¨ onnen zu einem Vergn ¨ ugen zu machen verspricht, bringt die Lehrdichtung auch dem Autor Gewinn. Sie verschafft ihm die Chance, Gelehrsamkeit und Sachverstand auf entlegensten Gebieten zur Schau stellen zu k ¨ onnen und dabei zu demonstrieren, daß er es versteht, einen unpoetischen Stoffin stilvolle Poesie zu verwandeln. Je widerst ¨ andiger das Thema erscheint, je st ¨ arker es das K ¨ onnen herausfordert, desto gr ¨ oßer ist der Ruhm des Dichters, der das Werk der Poetisierung vollbringt. Lukrez betont dies angesichts des als schwierig hingestellten Vorhabens, Epikurs Philosophie zu erkl ¨ aren. Doch habe ihn ”die Hoffnung auf Ruhm getroffen“, ihm ein ”s ¨ ußes Verlangen nach den Musen“ in die Brust gelegt, deshalb wolle er ”wegloses Musengefild durchwandern, das vorher noch niemandes F ¨ uße betreten haben“. 34 Dieses hochangesetzte dichterische Selbstverst ¨ andnis muß Vergil beeindruckt haben. In den Georgica 3, 289-293, hebt er analog zu Lukrez die Schwierigkeit hervor, der gew ¨ ahlten Thematik, n ¨ amlich den doch ”kleinen Dingen“ der Landwirtschaft die geb ¨ uhrende Form zu verleihen. ”Wohl ist mein Herz sich bewußt, was es heißt, mit Worten alles rein zu bezwingen.“ Aber eine ”s ¨ uße Neigung“ reiße ihn fort, ”durch die steilen, einsamen H ¨ ohen des Parnaß“. Das heißt: Sein dichterisches Talent dr ¨ angt ihn, trotzdem auch ¨ uber ein unbedeutendes Thema ein Werk in gr ¨ oßter poetischer Vollendung zu schreiben. Und gern wandle er auf H ¨ ohen, die noch niemand erreicht hat, f ¨ ugt er an, zur Best ¨ atigung seines Dichterruhmes. 35 Hat sich f ¨ ur die Adressatenseite die Vermittlung von Wissen und K ¨ onnen, also gewisser Fundamente von Bildung, als das Ziel und die Leistung der Lehrdichtung erwiesen, so bot sie den Dichtern die einzigartige Chance, sich als Sachkenner zu stilisieren und gerade an den scheinbar ungeeignetsten Stoffen ihr poetisches Virtuosentum vorzuf ¨ uhren. Daß die Zielvorstellungen auf der Abnehmer- und der Produzentenseite auf das beste miteinander zu vereinbaren waren, erkl ¨ art den anhaltenden Erfolg der Lehrdichtung in der Antike. 33 Schol. vet. in Hesiodi Opera et Dies, ed. Pertusi. p. 1f., vgl. p.4. 34 Lukrez 1, 921-927: Nunc age, quod super est, cognosce et clarius audi. / nec me animi fallit quam sint obscura; sed acri / percussit thyrso laudis spes magna meum cor / et simul incussit suavem mi in pectus amorem / Musarum, quo nunc instinctus mente vigenti / avia Pieridum peragro loca, nullius ante trita / solo. 35 Vergil, Georgica 3, 289-293: nec sum animi dubius, uerbis ea uincere magnum / quam sit et angustis hunc addere rebus honorem; / sed me Parnasi deserta per ardua dulcis / raptat amor; iuuat ire iugis, qua nulla priorum / Castaliam molli deuertitur orbita cliuo. 184 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele 7.3 Propagierung von Verhaltensnormen Vom 5./ 4. Jh. v. Chr. ab wird die Dichtung gezielt genutzt, Verhaltensnormen zu propagieren. Den Weg bereitet hatten die Sophisten mit der Abkehr vom G ¨ otterglauben, denn fortan hatte der Mensch sein Leben selbst in der Hand, war aber nach Regeln, die die Philosophie herausarbeitete, zum Guten wie zum Schlechten lenk- und beeinflußbar. Hier zeigte sich die Dichtung geeignet, das Verhalten einzelner oder ganzer Gruppen ethisch und moralisch zu bewerten und auf es einzuwirken. Ihre Mittel reichten von der direkten, korrekturfordernden Kritik bis zur indirekten Einwirkung durch die poetisch thematisiert dargebotenen Verhaltensmuster, die aufforderten, an ihnen das eigene Handeln zu messen, m ¨ oglicherweise das Tun und Denken k ¨ unftig nach einem dichterisch vor Augen gestellten Vorbild auszurichten. F ¨ ur die Erziehung, f ¨ ur die praktische Moral und f ¨ ur die ethische Fundierung der Gesellschaft hat die Antike die normenlehrende und normenerhaltende Kraft der Dichtung bis zu ihrem Ende eingesetzt, zumal die Stoa, die vorherrschende philosophische Doktrin, gerade in der Propagierung dieser Ziele die eigentliche Funktion der Dichtung sah. Daß poetische Gattungen geradezu daraufhin angelegt sein k ¨ onnen, Verhaltensformen zum Bewußtsein zu bringen und Verhaltensnormen zu propagieren - allgemeine oder partiell g ¨ ultige, zum Teil auch vom Autor gesetzte oder ¨ ubernommene -, zeigen namentlich die Fabeldichtung und die Verssatire. F ¨ ur die Fabeldichtung ist die Darstellung von Verhaltensformen zu dem Zweck, daß Lehren aus ihnen abgeleitet werden, d. h. Regeln f ¨ ur das rechte Handeln, das konstitutive Merkmal schlechthin. Doch will es die Gattungstypik, daß die aus einer Vorgangsschilderung zu deduzierende Verhaltensmaxime, die ’Moral‘ , der sicheren Wirkung wegen sogar noch explizitiert nahegebracht wird. Auch die Verssatire, eine r ¨ omische Erfindung, hat eine weitgehend moralkritische Funktion. Mit gattungstypischer Sch ¨ arfe geißelt sie situationelles Fehlverhalten sowie ethische Defizite hoch- und niedriggestellter Personen. Die R ¨ uge kann dem Leser Anlaß geben, auch das eigene Handeln zu ¨ uberdenken. Da im ¨ ubrigen bei den Themen die Rom-Kritik eine zentrale Rolle spielt, der Verfall der Gesittung in der Metropole, laufen viele Verssatiren darauf hinaus, den R ¨ omern das Gegenbild der moralisch heilen b ¨ auerlich-l ¨ andlichen Lebensform ins Bewußtsein zu rufen. Daß diese Lebensform die ethische Gesinnung des Einzelnen wie der menschlichen Gemeinschaft f ¨ ordert und daher als Pers ¨ onlichkeitsideal zu preisen ist, das rechtes Handeln zeitigt, ist auch der moraltheoretische Grundtenor von Vergils Lehrdichtung Georgica. Auch bei anderen Dichtungsgattungen war das ethisch-moralische Wirkungsziel oder eine par ¨ anetische Funktion mit Bezug auf die Lebensauffassung von Anfang an mehr oder minder manifest gegeben. So preist die fr ¨ uhgriechische Elegien- und Iambenpoesie (7.-6. Jh.) neben Qualit ¨ aten, die teils noch an die aristokratischen Ideale der heroischen Epen anschließen, wie Standesbewußt- Propagierung von Verhaltensnormen 185 sein, Wahrung der Ehre, Tapferkeit, Treue in der Freundschaft, diejenigen Eigenschaften, die die Polis auf Grund des Wandels von der Adelsherrschaft zur B ¨ urgergemeinschaft vom Einzelnen erwartet: Kampfesmut f ¨ ur Heimat und Familie, n ¨ otigenfalls Hingabe des eigenen Lebens, patriotische Gesinnung, aber auch Zuverl ¨ assigkeit und T ¨ uchtigkeit. In eklatantem Gegensatz zu dem von der aristokratischen Standesethik abgeleiteten b ¨ urgerlichen Ehrencodex stehen aber resignative Folgerungen f ¨ ur das Verhalten, zu denen das Nachdenken ¨ uber die condicio humana gef ¨ uhrt hat. Die K ¨ urze des Lebens, die Wechself ¨ alle des Gl ¨ ucks, die Schicksalsschl ¨ age kann der Mensch nach der Lehre dieser Dichtung w ¨ urdig ertragen, wenn er allem gefaßt gegen ¨ ubertritt, mit leidenschaftsfreiem Gleichmut. Im Gl ¨ uck sich nur mit Maßen zu freuen, im Ungl ¨ uck sich nicht von Trauer ¨ uberw ¨ altigen zu lassen, d. h. Gelassenheit zu bewahren, ist nach Archilochos (Mitte 7. Jh. v. Chr.) der beste Weg, das Dasein durchzustehen. W ¨ ahrend einige Dichter in einer Art Fr ¨ uhhedonismus f ¨ ur die menschliche Existenz folgerten, daß nur die Liebe und der Lebensgenuß als verhaltensbestimmendes Daseinsziel ¨ ubrig blieben, pl ¨ adierten andere (wie Solon, etwa 640-560) im Blick auf das Wohl der Gemeinschaft f ¨ ur Maß und Gerechtigkeit als Leitprinzipien des Individuums und der Polisgesellschaft. Hier ist nun im engeren auf die poetische Propagierung von Verhaltensnormen im Bereich der Erziehung einzugehen. Ein wichtiges Zeugnis f ¨ ur den Platz der Dichtung in der Erziehung liefert schon Platon im Protagoras. Der mit Sokrates ¨ uber die Knabenbildung redende gleichnamige Philosoph belegt die Lehr- und Lernbarkeit der Tugend auf dem Weg ¨ uber die Lekt ¨ ure dichterischer Texte. Sobald die Lesef ¨ ahigkeit gen ¨ ugend ausgebildet ist, geben die Lehrer den Z ¨ oglingen ”die Gedichte der trefflichsten Dichter zu lesen und lassen sie sie einlernen, auch Ermahnungen, Erz ¨ ahlungen, Lob und Verherrlichung aller trefflicher M ¨ anner, damit der Knabe sie bewundernd nachahme und sich bestrebe, auch ein solcher zu werden.“ 36 Die ethisch-moralische Zielrichtung der Dichtung auf die Erziehung geben auch bereits die Homerischen Epen zu erkennen. Das Lied des S ¨ angers in der Trink- und Festversammlung der Kriegerschaft am F ¨ urstenhof feiert mit der Erz ¨ ahlung großer Heldentaten der Vergangenheit die Mannestugenden des aristokratischen Standesbewußtseins, der Wahrung der Ehre, der Todesverachtung im Kampf und der Treue, nicht allein um die alten Ideale lebendig zu erhalten und die Runde zur Nachahmung anzufeuern; der Vortrag zielt gerade auch auf die jungen, nachwachsenden M ¨ anner, die darauf eingestimmt werden sollen, sich nach dem Vorbild der Altvorderen zu bew ¨ ahren. 36 Platon, Protagoras 325e-326a: παρατιθ ασιν α; το%ς (π τ: ν β θρων ναγιγνYσκειν ποιητ: ν γαθ: ν ποι ματα κα (κμανθ νειν ναγκ ζουσιν, (ν ο`ς πολλα μ ν νουθετ σεις "νεισιν πολλα δ δι Aοδοι κα "παινοι κα (γκYμια παλαι: ν νδρ: ν γαθ: ν, uνα V πα%ς ζηλ: ν μιμ@ται κα 8ρ γηται τοιοCτος γεν σθαι. 186 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Die Figur des Achilleus in der Ilias ist als Lehrbeispiel daf ¨ ur konzipiert, wie die Gebote der Standesethik und die angeborene Emotionalit ¨ at in Widerstreit geraten k ¨ onnen und ein Ausgleich innerhalb der geltenden Normen gesucht werden muß. Daß es in der Homerischen Dichtung um Troia geht, um Sieg oder Niederlage in einem langj ¨ ahrigen, blutigen Krieg, l ¨ aßt oft ¨ ubersehen, was der Autor als sein eigentliches Thema verstanden wissen wollte. Man entnimmt es dem Musenanruf, der den 1. Gesang er ¨ offnet: ”G ¨ ottin, singe mir nun des Peleussohnes Achilleus / Unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achaiern / Schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß / Der Heroen.“ Das ganze Geschehen, das die Ilias schildert, wird bedingt und ¨ uberlagert vom gewaltigen Zorn des Griechenhelden, der sich in seiner Ehre zutiefst verletzt f ¨ uhlt. Agamemnon, der Oberk ¨ onig, hat eine als Kriegsbeute erlangte Tochter eines Apollonpriesters wieder herausgeben m ¨ ussen und zum Ersatz ihm, dem F ¨ ursten der Myrmidonen, Brise¨ıs abgenommen, eine junge, in einem fr ¨ uheren Kriegszug gefangengenommene K ¨ onigswitwe, die seine Mitstreiter ihm als Ehrengeschenk ¨ ubergeben hatten. Achilleus, rasend vor Emp ¨ orung ¨ uber die ihm angetane Schmach und die Herrscherwillk ¨ ur Agamemnons, r ¨ acht sich durch Wegbleiben vom Kampfgeschehen und trifft Anstalten, mit allen Leuten und Schiffen seiner Streitmacht heimzukehren. Doch der Tod seines Freundes Patroklos, die unw ¨ urdige Behandlung der Leiche, schließlich die f ¨ ur die Griechen aussichtslos erscheinende Kriegslage bewegen ihn, sich wieder in den Kampf zu st ¨ urzen. Mit dem Sieg ¨ uber Hektor rettet er die Sache der Griechen. Troia f ¨ allt, wie von den G ¨ ottern beschlossen. Es ist nicht leicht auseinanderzuhalten, was am Handeln einer epischen Person Vollzug eines g ¨ ottlichen Willens und was selbstmotiviertes Agieren ist. Die ethisch-moralische Lehre der Dichtung kann nur dasjenige Tun betreffen, das der Mensch selbst zu verantworten hat, in der Regel eine ¨ Ubertretung seiner Bestimmung. Achilleus ist es vorbestimmt, sich als K ¨ onigssohn zu bew ¨ ahren, vor Troia als gr ¨ oßter Held der Griechen hervorzustechen und schließlich den Sieg f ¨ ur sie zu erringen, doch, wie von seinem Zweikampfgegner Hektor vorhergesagt, am Ende durch Apollons Eingreifen am Sk ¨ aischen Tor zu fallen. Auch Agamemnons Handeln als Oberk ¨ onig und Anf ¨ uhrer der Griechen folgt aus g ¨ ottlichem Ratschluß. Seine Worte zum Konflikt mit Achilleus im 2. Gesang, 375-378, liefern einen Schl ¨ ussel zum Verst ¨ andnis, wie h ¨ ohere F ¨ ugung und moralische Selbstverantwortung zusammentreffen: Seinen Zusammenstoß mit Achilleus begr ¨ undet Agamemnon als ein von Zeus bewirktes, also ¨ uber sie verh ¨ angtes Unheil; es ist ein Akt des ”Kroniden, der“ - so f ¨ uhrt Agamemnon aus - ”endlose Streitigkeiten und Hader mir zuwirft“. Wie sie aber die Auseinandersetzung f ¨ uhren, mit ”feindlichen Worten“ und in maßlosem ”Zorn“, das beklagt der ¨ Altere und Einsichtigere als Verfehlung. Er erkennt sogar seinen Anspruch auf Brise¨ıs und sein Folgeverhalten gegen ¨ uber Achilleus als pers ¨ onliche Schuld an: ”Ich fehlte und leugne es nicht“ (9, 116). Propagierung von Verhaltensnormen 187 Da das moralische Gewissen beim menschlichen Tun also mitsprechen kann und mitsprechen sollte, ist der ’Zorn des Achilleus‘ auch als dichterische Lektion des standesgem ¨ aßen Verhaltens in einer Extremsituation zu begreifen. Die Wahrung der Ehre, so l ¨ aßt sich folgern, darf nicht maßlos zu dem Punkt gesteigert werden, wo der gemeinsamen Sache der Standes- oder Stammesgemeinschaft irreparabler Schaden zugef ¨ ugt wird. Ein junger Heißsporn, wie auserw ¨ ahlt er auch sei, muß lernen, seine Emotionen zu beherrschen, sich zu z ¨ ugeln, was abermals und sehr drastisch daran veranschaulicht wird, daß Achilleus den toten Hektor gegen die Sitte um das Grab des Patroklos schleift, aber damit die Mißbilligung der G ¨ otter erregt. Zeus gebietet Einhalt. Diesmal ist es das Rachegel ¨ ust, dessen Grenzen markiert werden: Es muß sein Ende haben vor der Achtung, die einem Toten geb ¨ uhrt. Agamemnons Funktion wiederum ist es - von der Verhaltenslehre des Epos aus gesehen - die Veranschaulichung einer Grenz ¨ uberschreitung im Gebrauch von Macht einzubringen. Achilleus Brise¨ıs herrisch abzunehmen, wird als ein Akt egoistischer Herrscherwillk ¨ ur vorgef ¨ uhrt, mag der Oberk ¨ onig auch von seiner Position her anderweitig Vorrechte zu beanspruchen gehabt haben. Dadurch, daß er sein Vorgehen als schuldhafte Verfehlung anerkennt und bereut, zeigt er außer der M ¨ aßigung seiner Macht die moralische Gr ¨ oße, die die Ilias als ein Herrschermerkmal nahebringen will. Bezeichnenderweise setzte die heftigste Kritik Homers und auch Hesiods bei einem moralischen Punkt ihrer Dichtungen an. Xenophanes (6. Jh. v. Chr.) r ¨ ugte die Archegeten des Epos, daß sie den G ¨ ottern anh ¨ angten, was bei Menschen Schimpf und Schande bewirke: Stehlen, Ehebrechen und Betr ¨ ugen. 37 Wenngleich der Einspruch sich gegen die polytheistische und anthropomorphistische G ¨ ottervorstellung der Volksreligion richtete, der die Idee einer mit dem Weltganzen identischen, rein geistigen, einzigen Gottheit gegen ¨ ubergestellt wurde, ist ihm auch die Absage an eine philosophisch wahrheitswidrig und moralisch destruktiv erscheinende Dichtung zu entnehmen. Dies ergibt sich aus der Verbindung der Fragmente B 11 und 12 mit dem Elegien-Fragment B 1 des Xenophanes, der Verlaufsschilderung eines Symposions. Beim Rundumvortrag von Liedern und Gedichten sei nach diesem Textst ¨ uck derjenige der frohgemut Zechenden zu loben, der ”durch edle Gespr ¨ ache / zeigt sein Bem ¨ uhen um Wert und des Geistes Kraft“, jedoch dabei nicht ”von K ¨ ampfen erz ¨ ahlt der Titanen, Giganten / und Kentauren - das sind Fabeln der Menschen von einst - / oder von w ¨ utigem Streit, der keinen brauchbaren Sinn hat.“ 38 Xenophanes lehnt mithin die Mythenstoffe 37 Frg. 21 B 11 und 12 Diels/ Kranz. 38 Frg. 21 B 1, Diels/ Kranz Die nachfolgende Kritik Heraklits an Homer und Archilochos - man solle diese aus den Preiswettk ¨ ampfen werfen und mit Ruten schlagen (22 B 42 Diels/ Kranz) - beruht, wie die an Hesiod (22 B 57) eher auf dem Vorwurf, sie t ¨ auschten die Menschen mit scheinbarem Vielwissen ¨ uber das wahre Sein der Dinge (22 B 56). 188 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele und die Themen politischer Art in Bausch und Bogen ab, und dies, weil sie dem Erkenntnis- und Wahrheitsanspruch des Philosophen nicht standhalten, also den Menschen keinen wirklichen Nutzen bringen. Der letzte Vers (24) des Fragments ist zum Teil verdorben. Folgt man der plausiblen Konjektur von Fraenkel, 39 dann pr ¨ azisiert er, was Xenophanes auch vom Dichter erwartet: ”Was man auch tue, es sei zweckvoll auf Gutes gestellt“. Das heißt, die Dichtung soll immer auf ein positives Ziel ausgerichtet sein. Der ’gute Zweck‘ ist im philosophischen Sinn zu verstehen, weshalb an eine Zielzuweisung zu denken ist, die der Dichtung die F ¨ orderung der Wahrheitserkenntnis und vor allem der Tugend auferlegt. Die Antike hat die Bedeutung der Erziehung f ¨ ur die Entwicklung des Menschen sehr hoch veranschlagt. Strabon faßte ihren Wert im Traktat De liberis educandis in einem auf das ganze Zeitalter anwendbaren Satz zusammen: ”Eine richtige Erziehung ist Quelle und Wurzel aller Gutheit“ ( καλοκαγαθ α ). 40 Nicht so unstrittig war allerdings dabei der Anteil der Mitwirkung der Dichtung, im wesentlichen der des Homerstudiums. Ihren Platz hatte sie im Rahmen der musischen Erziehung vom Knabenalter an, ihr Umfang hing aber von den jeweils maßgebenden Bildungskonzeptionen ab. So kam es vom 5. Jh. an in Griechenland unter dem Einfluß der Sophisten zu einem weitgehenden Austausch der Dichtung gegen vermehrten Unterricht in Philosophie und Rhetorik, w ¨ ahrend in hellenistisch-r ¨ omischer Zeit gerade umgekehrt die Dichtung die Philosophie beiseite dr ¨ angte und zusammen mit der Unterweisung in Rhetorik das p ¨ adagogische Programm beherrschte. Aristophanes (ca. 450-nach 388 v. Chr.) hat in der 405 v. Chr. aufgef ¨ uhrten Kom ¨ odie Die Fr¨ osche die erzieherische Funktion der Dichtung nachdr ¨ ucklich betont. Es ist bemerkenswert, daß dies in einer Epoche geschah, in der die Philosophen die Bildung in ihre Hand genommen hatten, obendrein in zeitlicher N ¨ ahe zu Platon (428/ 27-348/ 47), der die Dichter bis auf Hymniker und Verfasser von Lobliedern aus seinem Staat verbannt wissen wollte. Gegen den Trend insistiert Aristophanes auf dem Erziehungswert der Dichtung im allgemeinen und der Trag ¨ odie im besonderen. Es geht in der Kom ¨ odienhandlung darum, daß Dionysos, der Gott der hohen Poesie, zu seinem Fest den erst im Vorjahr verstorbenen Euripides wieder aus dem Totenreich heraufholen will, weil er von dem hochgesch ¨ atzten letzten der großen Tragiker f ¨ ur sich die angemessene Festdichtung und f ¨ ur das vom Peloponnesischen Krieg geschw ¨ achte, moralisch ersch ¨ utterte Athen eine Wiederbelebung seiner alten Kraft erwartet. In der Unterwelt schwelt gerade ein Streit um den Platz des gr ¨ oßten Tragikers, den Euripides seit seiner Ankunft f ¨ ur sich beansprucht, gegen den ¨ alteren Aischylos. Dionysos ger ¨ at auf 39 H. Fraenkel, Dichtung und Philosophie des fr ¨ uhen Griechentums, New York 1951, 373. R. Kannicht (1980: 25) ¨ ubernimmt die Interpretation und versteht als Auftrag und Ziel der Dichtung ebenfalls, auf das Gute bedacht zu sein. 40 Plutarch, De liberis educandis, 4C, 1f. Propagierung von Verhaltensnormen 189 diese Weise in eine mit gegenseitigen Vorw ¨ urfen gef ¨ uhrte Auseinandersetzung der beiden. Die Entscheidung, wem der Rang des besten Tragikers geb ¨ uhre, f ¨ allt in einem Wettstreit, einem ¨ uber viele Verse und Dichtungsproben hin ausgespielten Agon: Euripides unterliegt; Aischylos, von Dionysos als Sieger best ¨ atigt und von Pluton, dem Herren der Unterwelt, freigegeben, wird in feierlichem Zug in seine Vaterstadt Athen zur ¨ uckgeholt. Den noch einmal Heimkehrenden verabschiedet Pluton in der letzten Szene der Kom ¨ odie mit einem Auftrag, der aufhorchen l ¨ aßt: ”Errette unsere Stadt durch gute Gedanken und erziehe die Unverst ¨ andigen“. 41 Ein Jahr vor der Niederlage im Peloponnesischen Krieg formulierte dieser Auftrag die Hoffnung, die ¨ außere und innere Not Athens k ¨ onne gewendet werden durch die Besinnung auf die Kr ¨ afte und Werte, welche die Aischyleische Trag ¨ odie einst dem Volke an Idealgestalten der Vergangenheit vor Augen gef ¨ uhrt hatte. Nur bei den großen Dichtern und ihren Werken, in der Orientierung an den von ihnen vorgef ¨ uhrten Handlungsmustern, war Rat zu holen, wie Athen der Bedr ¨ angnis Herr werden k ¨ onnte: Aristophanes setzte hierzu ganz auf die das Gemeinwesen heilende Wirkkraft der Aischyleischen Trag ¨ odie. Von Euripides erwartete er keinen Nutzen. Der hatte n ¨ amlich die Mythen zu Spiegeln menschlichen Verhaltens entwertet, die Allmacht des G ¨ ottlichen ebenso in Frage gestellt wie die Gesetze der Sittlichkeit, letztlich einer Lebenshaltung das Wort geredet, welche den Relativismus, die Bindungslosigkeit des Menschen f ¨ ordern mußte. Was Athen nach Aristophanes’ Meinung in der Krisensituation neben gutem Rat und der St ¨ arkung seiner Widerstandskraft unbedingt brauchte, war aber die moralische Regeneration der Polis, die er sich von der heilbringenden Wirkung der Aischyleischen Trag ¨ odie auf die Zeitgenossen versprach, was in Plutons Auftrag an den ins Leben zur ¨ uckkehrenden Dichter in die Worte gefaßt ist: ”. . . und erziehe die Unverst ¨ andigen“. Wir entnehmen dieser Stelle eine Funktionsbestimmung der Trag ¨ odie - nicht nur der Aischyleischen -, die nicht innerlich Gefestigten, die unwissend Handelnden zum moralisch verantwortlichem Tun heranzubilden. Es ist kein Zufall, daß Pluton/ Aristophanes dabei ausdr ¨ ucklich von ”erziehen“ ( παιδε<ειν ) redet. Keine zuf ¨ allige Wortwahl ist es, weil Aristophanes an anderer Stelle (1053f.) seinem Aischylos ¨ Ahnliches zur Aufgabe in den Mund gelegt hat, die dem Dichter ¨ ubertragen ist. Danach soll er grunds ¨ atzlich das Schlechte verh ¨ ullen, es als Dramatiker auf der B ¨ uhne nicht herausstellen, heißt es da. Im Auge zu behalten habe er in allem die erzieherische Wirkung seiner Werke; sie sollen dem Ziel dienen, den Menschen in seinem Wesen zu vervollkommnen. Darin liege der tiefere Sinn der Dichtung: ”Es darf nicht anders sein - wir m ¨ ussen zu Nutz und Frommen sprechen“. Funktion und Platz des Dichters steckt der f ¨ ur Aristophanes redende Aischylos zusammenfassend mit einem spruchartigen Satz ab: ”F ¨ ur kleine Kinder 41 Aristophanes, Ranae, 1501f.: κα σ: ζε π λιν τ6ν Xμετ ραν γνYμαις γαθα%ς, κα πα δευσον το? ς νο τους. 190 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele ist der Lehrer da, ihnen den rechten Weg zu weisen, f ¨ ur die reifere Jugend der Dichter.“ Sogar den kontrastiv gezeichneten Euripides l ¨ aßt Aristophanes in das Lob der Erziehungsleistung des Dichters bei der moralischen Vervollkommnung des Menschen einstimmen. Auf die Frage des Aischylos, weshalb denn Dichtern Bewunderung geb ¨ uhre, erwidert Euripides: ”Talent, Belehrung - und weil wir die Menschen in den St ¨ adten besser machen.“ 42 Gemeint ist damit, daß die Trag ¨ odie durch die Darstellung edler Charaktere die Zuschauer moralisch positiv beeinflußt. Ebenso hat Aristophanes die Kom ¨ odie als belehrenden Anschauungsunterricht in Ethik und Moral verstanden. Neben der unmittelbaren Belehrung kam der Dichtung in der antiken P ¨ adagogik die Funktion eines didaktischen Hilfsmittels zu. Sie wurde benutzt, im Unterricht Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft zu erreichen, Interesse zu wecken, schließlich zu Fragen und Sachverhalten hinzulenken, die der Lehrer zu behandeln gedachte. Den didaktisch vorteilhaften Aspekt hat keiner so herausgestellt wie Strabon in den postum, nach 24 n. Chr. publizierten Geographica. Im ersten Buch des großen Werkes ¨ uber die bekannte Welt l ¨ aßt sich Strabon recht ausf ¨ uhrlich dar ¨ uber aus, daß bei Jugendlichen wie auch bei Erwachsenen als erstes Freude geschaffen werden m ¨ usse, die zum Lernen ansporne. Der Lehrer erreiche dieses Ziel am besten mit Mythen und Fabeln der Dichter, denn das Neue, Unbekannte, Erstaunliche und Wunderbare bereite Vergn ¨ ugen, wecke auch das Verlangen, mehr zu erfahren, erzeuge letztlich die p ¨ adagogisch erw ¨ unschte Wißbegierde des Sch ¨ ulers. ”Am Anfang muß man sich daher solcher K ¨ oder bedienen, und bei vorr ¨ uckendem Alter dann zum Erlernen der Wirklichkeit f ¨ uhren, wenn das Denkverm ¨ ogen kr ¨ aftig geworden ist und keine Schmeichler mehr braucht.“ 43 Nicht nur erfreuliche Geschichten sind erzieherisch n ¨ utzlich, sondern auch ¨ angstigende, furchterregende; sie k ¨ onnen abschreckend wirken und daher ebenfalls f ¨ ur p ¨ adagogische Ziele eingesetzt werden. Strabon h ¨ alt die Mythen- und Fabeldichtung sogar noch f ¨ ur ein hilfreiches Mittel der Erwachsenenbildung, zumal da die meisten Menschen von den philosophischen und realwissenschaftlichen Erkenntnissen ¨ uberhaupt nicht erreicht w ¨ urden. F ¨ ur den ”großen Haufen der Frauen“, f ¨ ur das ”ganz gew ¨ ohnliche Volk“, ja selbst f ¨ ur die Halbgebildeten entfalle die Verhaltenslenkung durch philosophi- 42 Aristophanes, Ranae 1009f. Ein scharf konturiertes Bild der Dichterpers ¨ onlichkeit des Aristophanes auf dem Hintergrund der Entwicklung der Kom ¨ odie zeichnet P. von M ¨ ollendorff (2002), mit Interpretation aller elf erhaltenen B ¨ uhnenwerke (Fr¨ osche S. 155-164). Auch Spott und Tadel der Kom ¨ odien zielen auf h ¨ aufige moralische Unzul ¨ anglichkeiten wie sexuelle Abweichungen, milit ¨ arische Feigheit, Verfehlungen in ¨ offentlichen Funktionen, Verschwendung von Geldern, Bereicherung, Amtsanmaßung, Machtstreben (S. 174). 43 Strabon, Geographica I, 2, 8. ¨ Ubersetzungen nach der Ausgabe von Stefan Radt, Strabons Geographika, I, G ¨ ottingen 2002. Propagierung von Verhaltensnormen 191 sche Einsicht. Es obliege da der erz ¨ ahlenden Dichtung, Orientierung zu geben: Die Beispiele großer Taten und die Vorbilder großer Charaktere spornten an nachzueifern; schreckliche Geschehensberichte wiederum steigerten nach Strabon die Furcht vor den strafenden G ¨ ottern, die bei der Masse das moralisch rechte Verhalten begr ¨ unde. Beim Vergleich des erzieherischen Effekts der Dichtung mit dem der Philosophie kommt Strabon zu dem Schluß: ”Die Dichtung ist n ¨ utzlicher f ¨ ur das Volk“. Selbst Unwahrscheinliches, Unglaubhaftes und offenkundige L ¨ ugen des Dichters billigt Strabon, denn es diene, ”um die Menge zu f ¨ uhren und zu ¨ uberlisten“ (I, 29), d. h. das Erziehungsziel zu erreichen. Schon in der Gedichtform wurde eine M ¨ oglichkeit gesehen, das Publikum dazu zu ¨ uberlisten, Belehrung aufzunehmen. Mit dem didaktischen Trick, Unterweisung in Verse zu kleiden, die Auge und Ohr schmeicheln sollten, ist Lukrez (98/ 94-53 v. Chr.) erfolgreich vorangegangen. Ganz im Gegensatz zur Grundanschauung seines Meisters Epikur, der die Dichtung verworfen, ihr bloßen Unterhaltungswert zugestanden hatte, vermittelte er dem r ¨ omischen Leser dessen Physik in De rerum natura in 7409 Hexametern. Das Werk sollte naturkundlich aufkl ¨ aren, die Menschen von der G ¨ otterfurcht befreien und sie f ¨ ur die den t ¨ aglichen Verlockungen entsagende epikureische Lebensf ¨ uhrung gewinnen. In der sehr praktisch orientierten r ¨ omischen Welt war die Lehre vom Erreichen des Lebensziels der Gl ¨ uckseligkeit durch den R ¨ uckzug ins Private, in eine auf philosophischer Einsicht gegr ¨ undete Lusterfahrung durch Entsagung, eine harte Lektion. Lukrez vergleicht die Wahrheitserkenntnis, die er zu vermitteln hat, mit einer bitteren, zwar widerstrebend, aber heilbringend eingenommenen Medizin, die der Arzt einem erkranktem Knaben in einem honigbestrichenen Becher verabreicht, damit sie williger geschluckt werde. Wie der Trick mit dem Honig den Arzt an sein Ziel bringt, so benutze er, der Dichter, die Versform, seine Lehre eing ¨ angiger zu machen, sie gewissermaßen mit dem s ¨ ußen Honig der Musen (quasi musaeo . . . dulci melle) zu verabreichen, der die Sinne bindet. 44 Aus dem Honigbecher-Vergleich h ¨ oren wir ein ¨ asthetisches Urteil heraus, denn wer als Lockmittel eine Gedichtform w ¨ ahlt, ist von der Grundanschauung geleitet, daß der Vers von vornherein eine positive Reizwirkung auf den H ¨ orer oder Leser entfalten kann. Ein ausdr ¨ uckliches Zeugnis, daß der Vorzug der Versform auch von anderen so gesehen wurde, liefert Seneca d. J. (ca. 4 v. Chr.-65 n. Chr.) im 108. Brief seiner Epistulae morales mit der Erw ¨ agung, ob ein Philosoph bei der Darlegung seiner Gedanken nicht gut beraten w ¨ are, ”wenn in seine heilsamen Vorschriften Verse eingelegt werden, die diese Gedanken wirksamer eindringen lassen in die Seele ungebildeter Menschen“. Hierbei beruft er sich auf einen Vergleich des Kleanthes, des zweiten Schulhauptes der Stoa (330 bis ca. 230 v. Chr.): Wie die Enge der R ¨ ohren einer Trompete die Atemluft zu einem feinen Ton formt, so bringe ”des 44 Lukrez, De rerum natura, I, 936-950. 192 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Gedichtes knappe Form“ einen außergew ¨ ohnlichen Mitteilungseffekt hervor; sie ”macht unsere Sinne aufnahmef ¨ ahiger“. 45 Kleanthes war noch weiter gegangen als an der von Seneca zitierten Stelle. Er hatte die Meinung vertreten, daß große philosophische Wahrheiten nur in poetischer Form, also metrisch, rhythmisch und liedhaft gestaltet, angemessen auszudr ¨ ucken seien; 46 deshalb hatte er den Typus des philosophischen Gedichts gepflegt. Nach ihm hatte Chrysippos (ca. 285 bis ca. 205) am meisten davon Gebrauch gemacht, die philosophische Ethik mit Zitaten aus der Dichtung anzureichern, als Ausgangspunkten weiterer ¨ Uberlegungen oder als Belegen zu vorgetragenen Thesen. Daß es sich um einen verbreiteten Usus handelte, notiert noch Quintilian, nicht ohne den ¨ ublichen Hochmut der Philosophen gegen ¨ uber der Dichtung zu glossieren: ”Mit Sentenzen der Dichter sind ja nicht nur die Reden erf ¨ ullt, sondern sogar die Schriften der Philosophen, die, auch wenn sie alles f ¨ ur geringer halten als ihre eigenen Lehren und Werke, es doch nicht verschm ¨ aht haben, die Autorit ¨ at von zahlreichen Versen in Anspruch zu nehmen“. 47 Es war Senecas ¨ Uberzeugung, daß nur die Philosophie die Weisheit lehre, die den Menschen dem einzigen erstrebenswerten Ziel des gl ¨ uckhaften Lebens n ¨ aherbringen k ¨ onne. Die Dichtung bewertete er wegen der moralischen L ¨ assigkeit vieler Werke mit sehr kritischen Augen, erkannte jedoch ihren Nutzen an, sofern sich aus ihr hilfreiche Lebensklugheit ableiten ließ. 48 Didaktisch h ¨ alt Seneca es f ¨ ur zweckvoll, daß die Philosophie die moralisch auf ihrer Seite stehende Dichtung in ihre Dienste nimmt. Aus diesem Grund kann er auch den alten Brauch stoischer Philosophen gutheißen, auf Poesiezitate zur ¨ uckzugreifen, aber er mahnt im 33. Brief, daß dichterisch vorgegebene Sentenzen und einpr ¨ agsame Formulierungen, um die es nur gehen k ¨ onne, ”genau begrenzt und versartig gestaltet“ sein m ¨ ußten. Den Ausschlag zu Gunsten poetischer Einlagen in philosophischen Schriften gibt f ¨ ur ihn wieder das Argument, das wir von Kleanthes kennen: Poetisch formulierte Gedanken bleiben selbst in 45 Seneca, Epistulae morales 108, 10. 46 SVF I, 109, 9ff. 47 Quintilian, Institutio oratoria 5, 11, 39: Nam sententiis quidem poetarum non orationes modo sunt refertae, sed libri etiam philosophorum, qui quamquam inferiora omnia praeceptis suis ac litteris credunt, repetere tamen auctoritatem a plurimis uersibus non fastidierunt. 48 Die Studie von J. Dingel, Seneca und die Dichtung, 1974, schließt auf eine Geringsch ¨ atzung des Philosophen f ¨ ur die Dichtung, sodaß sich dessen eigene Verse als ”poetische Spielerei“ darstellten (S. 67). Diesem Tenor gegen ¨ uber betont Giancarlo Mazzoli (Seneca e la poesia, Milano 1970) Senecas funktionale Trennung zwischen den Bereichen der Philosophie und der Dichtung, bei der die Dichtung eine Art vorreflektives Stadium zum systematischen Denken bildet. Eine Beurteilung muß von Senecas Selbstaussage ausgehen: Quam multi poetae dicunt, quae philosophos aut dicta sunt aut dicenda. (Epistulae morales 8, 8). Propagierung von Verhaltensnormen 193 den unphilosophischen K ¨ opfen der meisten Menschen nachhaltiger haften als Aussagen in Prosa. Unstrittigen Nutzen bringt die Dichtung f ¨ ur Seneca im p ¨ adagogischen Bereich. Hier bef ¨ urwortet er die Praxis, Knaben der ersten Unterrichtsjahre aufzugeben, ”Sinnspr ¨ uche auswendig zu lernen und das, was die Griechen chriae nennen“ ( χρε ας ), 49 d. h. poetisch geformte allgemeine Spruchweisheiten sowie lehrreiche Ausspr ¨ uche bedeutender historischer oder literarischer Personen, die herausgel ¨ ost aus der Kotexteinbettung aufzunehmen waren. Die didaktische Begr ¨ undung f ¨ ur dieses Vorgehen wiederholt, was uns als Argument schon bekannt ist: Der kindliche Geist ist noch nicht imstande, mehr zu erfassen, komplexeres Gedankengut zu rezipieren. Im Gesamtplan der Erziehung bildet die Besch ¨ aftigung mit poetischer Spruchweisheit in der kindlichen Fr ¨ uhphase eine Art Prop ¨ adeutikum zum sp ¨ ater folgenden Studium der Philosophie. Dichtung, die ethisch und moralisch das Gute will, fungiert so als eine erste Stufe auf dem Weg des Menschen zu wahrer Lebensweisheit. Im Gesamtbild der stoischen Erziehungslehren erscheint Senecas Verfahrensanweisung, in der fr ¨ uhkindlichen Entwicklungsphase poetische Spruchweisheit zu vermitteln, um dann alsbald zur Unterrichtung in Philosophie ¨ uberzugehen, als eine sehr restriktive Verwendung von Dichtung zu p ¨ adagogischen Zwecken. Strabon (geb. um 63 v. Chr.) hatte noch daf ¨ ur pl ¨ adiert, der moralischen Bildung durch poetische Werke mehr Platz einzur ¨ aumen. Nach dessen Auffassung waren Dichtungen ethisch von großem Nutzen, weil von einem Dichter als sittlich gutem Menschen nur eine positive Wirkung ausgehen kann. In einer Betrachtung zur Funktion der Mythen in der Dichtung hielt er die ¨ uberlieferten Erz ¨ ahlstoffe erzieherisch f ¨ ur diejenigen besonders geeignet, die intellektuell nicht in der Lage sind, sie allegorisch zu deuten und zu verstehen. 50 Erst recht wich Seneca von der traditionellen Doktrin ab, die ein halbes Jahrhundert sp ¨ ater am entschiedensten Plutarch (geb. um 45 n. Chr., gest. vor 120) vertrat. Wie um Einw ¨ anden aus dem Seneca-Kreis gegen moralisch fehlgeleitete Besch ¨ aftigung junger Menschen mit Dichtung zu begegnen, hat Plutarch eine Anleitung f ¨ ur das Poesiestudium Jugendlicher verfaßt (lat. Titel des griechischen Originals: Quomodo adolescens poetas audire debeat 51 . Die Schrift kl ¨ art wie eine Einf ¨ uhrung in Literatur dar ¨ uber auf, wie Dichterworte zu lesen und zu verstehen sind, damit beiseite bleibt, was falsch oder ohne Nutzen ist, und Lehrer wie Sch ¨ uler jede Gefahr eines Schadens durch Dichterlekt ¨ ure ausschließen k ¨ onnen. 52 Die Darstellung zielt auf die Demonstration ab, wie das Studium der Poesie auch 49 Seneca, Epist. 33, 7. Zu den chriae ausf ¨ uhrlich H. Lausberg (1990: 1117-1120). 50 Strabon, Geographica 1, 2, 3; 1, 2, 5; 1, 2, 7; 1, 2, 8. 51 Plutarch, Moralia, 1, 14-37. 52 Plutarch, Moralia 1, 28 D. 194 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele bei der Erziehung ¨ alterer Knaben neben der philosophischen Schulung nutzbringend fortgef ¨ uhrt werden kann. Spezielle erzieherische Fragen stellten sich nat ¨ urlich bei Homer, wo f ¨ ur Anst ¨ oßiges Auswege der Lehre gefunden werden mußten. Plutarch r ¨ at, alles zum moralisch Guten umzudeuten, indem man erkl ¨ art, es handle sich bei den von Homer gschilderten Fehlhandlungen um beabsichtigte Beispiele daf ¨ ur, wie man sich gerade nicht verhalten d ¨ urfe oder wie etwas eben nicht sein solle. 53 Weil große Beispiele tugendhaften Verhaltens zur Nachahmung herausfordern, schlechte Muster durch Erregen von Widerspruch das ethisch-moralische Bewußtsein sch ¨ arfen, hat Plutarch seine Biographien (Vitae, in Prosa) großer Gestalten der griechisch-r ¨ omischen Vergangenheit geschaffen. Sie stehen unter dem am Anfang des Perikles ausgesprochenen Leitgedanken, daß die Vorbilder der Tugend dazu anspornen, mit ihnen in Wettstreit zu treten. Daß der Dichtung auf Seiten der Stoiker auch nach Senecas Vorbehalten ein erzieherischer und moralischer Nutzen zuerkannt wurde, zeigen außerdem Gedankeng ¨ ange des (um 40 v. Chr. geborenen) Dion von Prusa, eines weiteren Stoikers, der als Redner und Autor haupts ¨ achlich kulturgeschichtlicher Werke ¨ uber Ostrom, schließlich als Freund des Kaisers Trajan sich einen Namen gemacht hat. In seinen (griechisch verfaßten) Reden, darunter eine Oratio de Homero, preist er den Dichter der Ilias und der Odyssee als Allwissenden, der K ¨ onnen und Tugend lehre. In De regno l ¨ aßt er den jungen Alexander aus Homer die Leitlinien f ¨ ur den guten K ¨ onig gewinnen. Beim Vergleich Homers mit Hesiod kommen Alexander und dessen Vater Philipp darin ¨ uberein, daß Homer geeignet sei, die Adligen Heldenhaftigkeit zu lehren, Hesiod dagegen f ¨ ur sich habe, Hirten, Bauern und Bauleuten Musterbeispiele ihres Rechtverhaltens zu liefern. 54 Aus der F ¨ ulle der zustimmenden ¨ Außerungen stoischer Provenienz zum moralischen und allgemeinerzieherischen Nutzen der Dichtung muß erstrangig auch Mark Aurel wegen seiner Dramentheorie zu Wort kommen. In den wohl nach 170 niedergeschriebenen Selbstbetrachtungen erkl ¨ arte der Philosoph auf dem Kaiserthron, die Dramen seien nur zur moralischen Belehrung eingef ¨ uhrt worden, die Trag ¨ odie, um den Zuschauern die Einsicht zu vermitteln, daß alles von Natur aus so geschehen muß, wie es geschieht, sie aber auch zu lehren, die Dinge, die sie auf der B ¨ uhne des Theaters vor sich gehen sehen, selbst gefaßt und willig zu ertragen. Die Kom ¨ odie dagegen zeige erzieherische Freiheit im Reden; sie erinnere nicht unn ¨ utz gerade durch die offene Sprache an den Wert der Bescheidenheit. 55 Die Schriften Ciceros k ¨ onnen dagegen mit mancher abtr ¨ aglichen Bemerkung die Kritik am moralischen Nutzen der Dichtung im allgemeinen und am erzie- 53 Plutarch, Moralia 4, 19 A. 54 Dion, De regno 2, 6f. 55 Marcus Aurelius, Ad se ipsum libri 11, 6. Propagierung von Verhaltensnormen 195 herischen Ertrag im besonderen gef ¨ ordert haben. Der große R ¨ omer hatte zur Dichtung kein pers ¨ onliches Verh ¨ altnis. Er betrachtete sie im wesentlichen im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit f ¨ ur die sprachliche Ausbildung und die T ¨ atigkeit des Redners. Wenn er in den rhetorischen Schriften dem jungen Aspiranten des Rednerberufs die Lekt ¨ ure der Dichtung ans Herz legt, so denkt er in erster Linie daran, daß sprachliche, stilistische und narrative Muster der Poesie ¨ ubernommen werden sollen, um der Rede Glanz zu verleihen. Man muß also von einem vorwiegend instrumentalen Interesse an der Dichtung sprechen, welches auch erkl ¨ art, daß Cicero die didaktische Poesie ¨ uber jede andere stellte. Getragen von der ¨ Uberzeugung, daß nur die Philosophie dem Menschen zum Gl ¨ uck verhelfen k ¨ onne, beurteilte er den Ertragswert der Dichtung f ¨ ur das Leben zuweilen mit einer von Platon und von Epikur beeinflußten Skepsis. In diese Generallinie geh ¨ ort die Polemik gegen den Einsatz der Dichtung als Erziehungsmittel in den Gespr¨ achen in Tusculum. Weil offenkundig sei, daß die Dichter Unheil anrichteten, n ¨ amlich alle Sehnen der Tugend zerreißen k ¨ onnten, seien sie von Platon zu Recht aus dem idealen Staat gewiesen worden, doch von Kind auf w ¨ urden ihre Verse noch immer gelehrt und gelernt. An diesem Punkt verwirft Cicero mit bitterer Ironie die ganze herk ¨ ommliche Erziehung mittels Poesie, von der man nicht lassen wolle, weil man in einem p ¨ adagogischen Irrtum befangen sei: ”und wir nennen das eine weltm ¨ annische Unterweisung und Bildung“. 56 Einem ganz anderen Cicero begegnen wir freilich in der Rede f ¨ ur den Dichter Archias (Pro Archia poeta). Dieser, ein Freund und ehemaliger Lehrer Ciceros, der in seinen Gedichten r ¨ uhmenswerte Kriegstaten der j ¨ ungeren Vergangenheit feierte, sah sich mit der Anklage konfrontiert, er habe sich als lange in Rom lebender Grieche das r ¨ omische B ¨ urgerrecht angemaßt.Cicero verteidigte ihn 62 v. Chr. vor Gericht mit einer Rede, die Archias alles zusprach, was zum Lobe und Vorteil eines Dichters zu sagen war, was Richtern und Publikum zumal den Wert der Dichtung f ¨ ur die Allgemeinheit vor Augen f ¨ uhren sollte. In seinem die causa ¨ uberblendenden Pl ¨ adoyer preist Cicero die litterae als ”Hilfe f ¨ ur die Erkenntnis und Aus ¨ ubung der Tugend“, sodann ausdr ¨ ucklich als ”Anleitung der Jugend und Freude des Alters“, wobei er die p ¨ adagogische Leistung der Poesie darin begr ¨ undet sieht, daß sie ”viele lebensvolle, plastische Bilder heroischer Gestalten [ . . . ] zur Betrachtung, ja auch zur Nachahmung ¨ uberliefert“. 57 Hier spricht Cicero nicht mehr von der hohen Warte des Philosophen und Ethikers, sondern vom Standpunkt des R ¨ omers aus, der den gr ¨ oßten Nutzwert 56 Cicero, Tusculanae disputationes, 2, 27: hanc eruditionem liberalem et doctrinam putamus. 57 Cicero, Pro Archia poeta 16, 17: qui profecto si nihil ad percipiendam colendamque virtutem litteris adiuvarentur, numquam se ad earum studium contulissent; 16, 13: at haec studia adulescentiam acuunt, senectutem oblectant; 14, 10: Quam multas nobis imagines non solum ad intuendum verum etiam ad imitandum fortissimorum virorum expressas scriptores et Graeci et Latini reliquerunt! 196 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele der Dichtung im Lobpreis herausragenden Mannestums sieht, der die Jugend anspornt, dem Vorbild zum Wohl des Staates nachzueifern. Es kommt jedoch die Pikanterie hinzu, daß Cicero sich von Archias ein r ¨ uhmendes Gedicht auf seine Leistungen im k ¨ urzlich zu Ende gegangenen Konsulat versprochen hatte, was sein Urteil ¨ uber die Dichtung beeinflußte. Die poetische Eloge blieb aus. Aber wir haben nun ein Zeugnis, daß der poesiekritische Cicero immerhin die lobpreisende, musterg ¨ ultiges Verhalten vor Augen stellende Dichtung f ¨ ur allgemein sinnvoll und auch f ¨ ur erzieherisch n ¨ utzlich halten konnte. Angesichts der philosophischen Geringsch ¨ atzung der Dichtung, in der die Anh ¨ anger der Lehren Platons und die Epikurs ¨ ubereinstimmten, vor allem aber angesichts der von Seiten der Stoiker erhobenen Vorw ¨ urfe moralischer M ¨ angel, erscheint die Konzeption der Dichtung als eines Kulturguts eigenen Auftrags, mit der Horaz (65-8 v. Chr.) das Schwanken ¨ uber Wert und Unwert entschied, wie ein Befreiungsschlag. Horaz legte fest, welche formale Geschliffenheit der Begriffder Dichtung voraussetzte, doch wichtiger noch war die Zielbestimmung - zu n ¨ utzen, zu erfreuen oder beides zugleich zu bewirken -, denn sie gab der Poesie einen Ort neben den anderen Kultursch ¨ opfungen und die ihr zukommende Aufgabe im Leben. Wie Horaz lehrte, hatte die Dichtung von Anfang an eine hohe Mission zu erf ¨ ullen gehabt: die Erziehung des Menschen zum wahren Menschen. Deren Beginn sah Horaz schon im zivilisierenden Wirken des mythischen S ¨ angers Orpheus, der die in W ¨ aldern hausenden Menschen der Urzeit von Bluttat und blutiger Speise abgebracht und durch sein Lied selbst wilde Tiere zur Sanftmut bekehrt habe. Nach und nach habe das Lied der S ¨ anger, das die uranf ¨ angliche Weisheit kundgab, die Regeln und Gesetze des Zusammenlebens entstehen lassen, das Fundament der Gemeinschaft. ”So ward Ruhm und Ehre den g ¨ ottlichen S ¨ angern und der Dichtung“ 58 Im sogenannten Augustus-Brief, einer im Jahr 14 v. Chr. an den poesiefreundlichen Kaiser gerichteten Versepistel, stellt Horaz die Erziehungsaufgabe als fortdauernden Auftrag heraus. R ¨ uhmte er in der etwa gleichzeitigen Ars poetica die historische Leistung der Dichtung, die dem Menschen zum zivilisatorischen Fortschritt verholfen habe, so feierte er im Augustus-Brief das p ¨ adagogische Verdienst bei der Heranbildung der Jugend. Dem zarten, stammelnden Mund des kleinen Knaben gebe der Dichter den rechten Ausdruck; er wappne den Z ¨ ogling gegen garstiges Reden, er bilde das Herz durch freundliche Lehre; er wirke korrigierend ein auf Schroffheit, Mißgunst und Zorn. Der erzieherisch positive Nutzeffekt von Gedichten, die lobenswertes Handeln zum Inhalt haben, steht f ¨ ur Horaz außer Frage: ”Von edlen Taten berichtet der Dichter und bildet die heranwachsenden Generationen durch ber ¨ uhmte Vorbilder“ 59 . Ungeachtet 58 Horaz, Ars poetica, 400: sic honor et nomen divinis vatibus atque / carminibus venit. 59 Horaz, Epistulae 2, 1, 130ff.: recte facta refert, orientia tempora notis / iruit exemplis. Propagierung von Verhaltensnormen 197 aller Anfeindungen von Seiten der philosophischen Schulen erhebt Horaz den Dichter in das geradezu priesterliche Amt eines Erziehers des Volkes. Urbild eines solchen Dichters ist Homer. Eine erneute Lekt ¨ ure der Ilias und der Odyssee veranlaßte Horaz, in der Versepistel I, 2 seinen Adressaten, den jugendlichen Freund Lollius Maximus, zum Studium der Weisheit aufzurufen, die aus dem Schrifttum zu sch ¨ opfen war. Es schloß die Vollendung der sittlichen Erziehung ein, f ¨ ur die nach Horaz gerade Homer die Grundorientierungen bereithielt: ” Er sagt uns, was sch ¨ on und was verwerflich ist, was zum Besten dient und was zum Schaden.“ 60 Was Mannestugend und was Weisheit zu vollbringen verm ¨ ogen, f ¨ uhre er an dem ”Musterbild Odysseus“ vor Augen. In diesem Kontext kommt eine ¨ Uberzeugung zu Wort, von der Horaz in seiner Auffassung der Poesie durchdrungen ist: Die ¨ Uberzeugung von der Ebenb ¨ urtigkeit der Dichtung, wie er sie versteht, mit der Philosophie bei der Vermittlung von Lebensweisheit. Denn Horaz unterstreicht nachfolgend, daß Homer, d e r Dichter, die Unterscheidungen des Guten vom Nichtguten besser lehre als namhafte Philosophen: ”Er sagt es anschaulicher und vorteilhafter als selbst Chrysippos und Krantor“ 61 . Die Aufgabe des Dichters, zur Vervollkommnung des Menschen Ethik und Moral zu lehren, setzt nach der Ars poetica 309ff. ein profundes Wissen voraus. 62 Erworben wird es nicht allein durch philosophische Studien, sondern auch durch scharfe Beobachtung der Lebenswirklichkeit. Nur wer von daher die ethischen Anspr ¨ uche kennt, die Vaterland und Freundschaft geltend machen, Eltern, Br ¨ uder und Gastfreunde erheben und die schließlich von Amtsinhabern, Richtern und Feldherren pflichtgetreu erf ¨ ullt werden m ¨ ussen, sei auch in der Lage, in der Dichtung jede Person angemessen darzustellen. Herausheben und w ¨ urdigen muß der Dichter in seinem Werk jeweils das zur Nachahmung anspornende ”Musterbild sittlichen Lebens und Handelns“: respicere exemplar vitae morumque iubebo (317). Eine Dichtung, die dementsprechende ethisch-moralische Exemplarit ¨ at als Pers ¨ onlichkeitsziel vorf ¨ uhrt, erkl ¨ art Horaz f ¨ ur wirksamer und bleibender, also zweckvoller als wohlklingende, aber nichtssagende Verse. Horaz hat die Satire, neben dem Epigramm und der Elegie die ”’pers ¨ onlichste‘ Gattung der r ¨ omischen Literatur“ 63 , wie auch die mit ihr verwandte Versepistel 60 Ebda. 1, 2, 4f.: qui, quid sit pulcrum, quid turpe, quid utile, quid non, / planius ac melius Chrysippo et Crantore dicit. 61 Horaz, Epist. 1, 2, 5: planius ac melius Chrysippo et Crantore dicit. Vergleichend f ¨ uhrt Horaz herausragende Vertreter der stoischen Schule und der Akademie an. Chrysippos (3. Jh. v. Chr.) hat als drittes Schulhaupt der Stoa die kanonische Version der stoischen Philosophie geschaffen und sich in der Ethik um die Definition des tugendgem ¨ aßen Handelns, insbesondere um die Abgrenzungen des Guten vom B ¨ osen, der Tugend vom Laster bem ¨ uht, weshalb er Recht hat, ihn Homer gegen ¨ uberzustellen. Crantor (ebenfalls 3. Jh. v. Chr.) hatte die Rangfolge der G ¨ uter f ¨ ur das menschliche Leben zu bestimmen unternommen und auch eine Tugendlehre verfaßt. 62 Horaz, Ars poetica 309: scribendi recte sapere est et principium et fons. 63 E. Lef` evre, Horaz, Dichter im augusteischen Rom, 1993: 86. 198 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele zur Vollkommenheit ausgeformt, weil beide Gattungen sich als geeignete Medien der Selbstdarstellung, der Darlegung seiner Weltsicht und der Demonstration seiner ethisch-moralischen Grunds ¨ atze empfahlen. Sie boten sich f ¨ ur das Ziel an, die Menschen durch belehrende Einrede zu bessern, ihr Tun auf das Gute hinzulenken, denn ”auch Horaz wollte die Welt nach Philippi gut haben, auch er rannte gegen das Schlechte an“, wie Eckard Lef` evre die Satiren- und Episteldichtung im Ganzen charakterisierte. 64 So ¨ ubt er, teils hart und direkt, teils ironisch, teils satirisch-humorig, Kritik an moralischen Unzul ¨ anglichkeiten der Zeitgenossen, an Habgier, Neid, Erbschleicherei, Ehebruch, Ehrsucht, Selbstgerechtigkeit, Unzufriedenheit und seelischen Irrungen und Wirrungen, die auch ihm selbst noch zu schaffen machen, wie er sympathischerweise zugesteht. Diesem allem setzt er die Ideale des selbstgen ¨ ugsamen, einfachen Lebens und der Beherrschung der Leidenschaften entgegen; sie allein verb ¨ urgen das wahre Gl ¨ uck. Angefeuert wird der ethische und moralische Impetus von seinem dichterischen Selbstverst ¨ andnis: Horaz versteht sich als Erzieher und Lehrer des r ¨ omischen Volkes. 7.4 Wirkung auf die Psyche Dichtung, die nicht bloß belehren will, spricht das Gem ¨ ut an. Das wußte bereits der Odyssee-Dichter, und er unterließ nicht, es bei der Schilderung eines S ¨ angerauftritts zu betonen. Das Lied weckt bei den Zuh ¨ orern ”Freude“; sie hervorzurufen ist sogar g ¨ ottlicher Auftrag, wie wir den Einf ¨ uhrungsversen f ¨ ur Demodokos in der Odyssee entnehmen. Zum großen Gastmahl mit dem Fremden (Odysseus) l ¨ aßt der Phaiakenk ¨ onig den ”g ¨ ottlichen S ¨ anger“ seines Hofes herbeirufen, ”welchem“ - so heißt es im Text - ”der Gott vor allen Gesang gab, / um zu erfreuen, sooft das Herz zu singen ihn antreibt“ (Odyssee 8, 44f.). Als Penelope den S ¨ anger Phemios bei den Freiern in ihrem Hause von der leidvollen Heimfahrt der Griechen von Troia singen h ¨ ort und ihm voller Schmerz aufzuh ¨ oren gebietet, mahnt Telemachos die Mutter, ihr trauriges Los nicht dem S ¨ anger zu verargen, sondern dem Walten des Zeus zuzuschreiben. Die Absicht des S ¨ angers sei doch nur, ”uns zu erfreuen mit dem, wozu es ihn treibt“ (1, 340ff.). Dichtung kann das Gem ¨ ut auch traurig stimmen. Der Odyssee-Dichter weiß es und spielt es aus in Szenen, in denen Odysseus einen S ¨ angervortrag h ¨ ort, der die Leiden der Griechen vor Troia, die Erinnerung an die verlorenen Gef ¨ ahrten und sein eigenes Los vergegenw ¨ artigt. Als Demodokos beim Festmahl des Phaiakenk ¨ onigs f ¨ ur den fremden Gast vom Streit des Odysseus mit Achilleus singt, da ergreift sein Lied den Unbekannten so sehr, daß er die ”str ¨ omenden Tr ¨ anen“ nicht zur ¨ uckhalten kann und sich den Mantel ¨ uber das Gesicht zieht, weil er sich zu weinen sch ¨ amt (8, 53ff.). Als Demodokos nach einer Pause erneut zu singen 64 Ebda. 87. Wirkung auf die Psyche 199 begann, von den Phaiaken getrieben, ”da sie an den Worten sich freuten / Barg Odysseus wieder sein Haupt und schluchzte von neuem“ (8, 90ff.). Schließlich wandte sich der ”ber ¨ uhmte S ¨ anger“ dem Endkampf um Troia zu, ”aber Odysseus / Schmolz, und Tr ¨ anen netzten ihm unter den Wimpern die Wangen“ (8, 521f.). Nur K ¨ onig Alkinoos nimmt wahr, wie das Lied seinen Gastfreund ersch ¨ uttert hat. 7.4.1 Seelenlenkung (Psychagogie) Seelische Erregung und Lenkung ( ψυχαγωγ α ) zum Ziel der Dichtung zu erkl ¨ aren, hat nach den ¨ uberlieferten Zeugnissen als erster der alexandrinische Universalgelehrte Eratosthenes (3. Jh. v. Chr.) unternommen. Jedenfalls erw ¨ ahnt ihn damit Strabon, ziemlich verst ¨ andnislos, daß der ber ¨ uhmte Wissenschaftler, Verfasser einer großen Geschichte der Alten Kom ¨ odie, obendrein auch Dichter, die These vertreten konnte, Dichtung habe es nicht auf ”n ¨ utzliche Belehrung“ ( διδασκαλ α ) abgesehen, sondern nur auf ”seelische Erregung zur Seelenlenkung“ ( ψυχαγωγ α ). Strabon kann nicht unterlassen, der These des Alexandriners, dessen Erdbeschreibung (Geographika) er auswertet und den er im ¨ ubrigen sch ¨ atzt, eine ganze Reihe von Einw ¨ anden entgegenzuhalten: Die St ¨ adte der Griechen erz ¨ ogen die Knaben mit Gedichten doch nicht zur Gem ¨ utserregung, sondern um sie zur Besonnenheit hinzuf ¨ uhren. Und bei Homer k ¨ onne man unbestreitbar sehen, wie Dichtung den Menschen im Hauptzweck Wissen und K ¨ onnen vermittle. Schließlich sei den Alten zuzustimmen, die die Dichtung als eine Art prima philosophia bezeichneten, weil sie von Kleinauf in das Leben einf ¨ uhre. Sogar unter den Dichtern, die sich zu ihrer Kunst ge ¨ außert haben, h ¨ atten ”die Vern ¨ unftigsten“ sie als erste Philosophie charakterisiert. In Strabons Sicht h ¨ atte Eratosthenes allenfalls formulieren d ¨ urfen: ”Jeder Dichter sagt manches nur um der Gem ¨ utserregung, anderes aber um der Belehrung willen.“ 65 Zwar ist es wegen der d ¨ urftigen Informationen ¨ uber seine philosophischen Werke riskant, Eratosthenes’ Standort innerhalb der verschiedenen Denkschulen zu bestimmen. Es ist m ¨ oglich, daß die Betonung der seelischen Wirkung von Dichtung die Vorw ¨ urfe von Seiten der Stoa ausman ¨ ovrieren sollte, wonach poetische Werke zu wenig moralischen Nutzen br ¨ achten, ja schaden k ¨ onnten. Eratosthenes ist von der N ¨ utzlichkeit ¨ uberzeugt. Diese N ¨ utzlichkeit betrifft nicht die Lehre wissenschaftlichen und praktischen Wissensgutes ( διδασκαλ α ), die Dichter nicht leisten k ¨ onnen oder nicht leisten wollen, was seiner Meinung nach selbst bei Homer sichtbar werde, sondern zeige sich in der Hinf ¨ uhrung zum Denken, die mit der Erregung entsprechender Gef ¨ uhle durch Poesie beginne. Vielleicht hat die Erfahrung als Prinzenerzieher am ptolem ¨ aischen Hof sowie die Vertrautheit des Philologen mit Zuspruch spendender, das Gem ¨ ut entlastender ¨ alterer Lyrik 65 Strabon, Geographica I, 1, 10f.; I, 2, 3 ff.; Zitat: I, 2, 3, 24ff. 200 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele dazu beigetragen, zum Wirkungsziel der Dichtung die seelische Beeinflussung und Lenkung des H ¨ orers oder Lesers zu erkl ¨ aren. Unter den philosophischen Vorl ¨ aufern hatte der Sophist Gorgias (ca. 480- ca. 380 v. Chr.) bereits die emotionalisierende Kraft der Rede und des Wortes herausgestellt und in seinem Lob Helenas ( MΕλ νης (γκYμιον ) deren Entf ¨ uhrung als ein ¨ Uberredungsergebnis gedeutet. Es w ¨ are verst ¨ andlich, meinte er, wenn Helena auf Dauer der Macht des in der Sprache zum Ausdruck kommenden Logos nicht h ¨ atte widerstehen k ¨ onnen, ”denn er ist ein großer Herrscher, der mit kleinstem K ¨ orper und unscheinbarer Gestalt die wunderbarsten Wirkungen erzielt.“ Seine Herrschaft ¨ ubt er ¨ uber das Gem ¨ ut aus, ”denn er hat die Macht, Furcht zu beenden und Trauer zu beseitigen und Freude zu bewirken und Mitleid zu f ¨ ordern.“ 66 Es ist nicht zu ¨ ubersehen, daß die Theorie des Eratosthenes in einer gewissen N ¨ ahe zu Platons Seelenlehre steht. Pythagoreisches Gedankengut und orphische Mythen aufnehmend, hatte Platon die Ewigkeit und Unverg ¨ anglichkeit der individuellen Seele in ihrer Teilhabe sowohl an der k ¨ orperlichen Welt wie auch an der Welt der Ideen postuliert. Er hatte ihr im Erkenntnisprozeß eine wichtige Rolle zugeschrieben, da sie als das sich selbst Bewegende f ¨ ur ihn auch Sitz und Quelle der Gef ¨ uhle war. Nach Platons Lehre ist der Erkenntnisakt auf jeder seiner drei Stufen - Wahrnehmung, Meinung, Denken - von Gef ¨ uhlen und Bestrebungen der Lust und der Unlust begleitet; andersherum betrachtet, entspringen Bestrebungen und Gef ¨ uhle immer einem Vorgang des Erkennens. 67 Hinsichtlich der Wirkung von Dichtung l ¨ aßt sich hieraus folgern: Auch die Aufnahme und erkenntnism ¨ aßige Verarbeitung von Dichtung l ¨ ost Lust- oder Unlustempfindungen aus, auf der Stufe der Wahrnehmung sanftere Gef ¨ uhle, auf h ¨ oherer Erkenntnisstufe heftige Emotionen. Zur Verbindung der ψυχαγωγ α des Eratosthenes mit Platons Seelenlehre paßt, daß der Philosoph seinen Sokrates in den Kapiteln des Phaidros ¨ uber die Rhetorik definieren l ¨ aßt, diese sei eine ”Seelenleitung ( ψυχαγωγ α ) durch Reden“, und die Kraft jeder Rede, auch der allt ¨ aglichen, bestehe gerade in der F ¨ ahigkeit, die Seele des H ¨ orers lenken zu k ¨ onnen. 68 Im Fortgang des Dialogs macht Sokrates seinem Gespr ¨ achspartner Phaidros klar, daß ein guter Redner mit der Natur der Dinge vertraut sein muß, ¨ uber die seine ¨ Außerung gehen soll, dar ¨ uber hinaus wegen der Einwirkung seiner Worte auf die Seele notwendigerweise das Wesen der menschlichen Seele kennen muß. Hierin liegt eine zwingende Aufforderung, 66 Gorgias, Lob Helenas 8 (82 B 11 Diels-Kranz). Richard Kannicht (1980: 26) erkl ¨ art in seiner ¨ Ubersetzung, der ich folge, den ”kleinsten K ¨ orper“ und die ”unscheinbarste Gestalt“ mit den Buchstaben und W ¨ ortern, auf die sich der Logos st ¨ utzen muß. 67 Dazu B ¨ uttner, Psychologie und Poetik bei Platon. Argumente f ¨ ur die Einheit der Platonischen Dichtungstheorie, In: Antike und Abendland 47 (2001), 41-65. 68 Platon, Phaidros 261a8 und 271c10. Platons Psychologie (die erst im Timaios ihre endg ¨ ultige Ausformung erhalten Wirkung auf die Psyche 201 wird) jeder Aus ¨ ubung der Redekunst zugrunde zu legen. Weitergedacht h ¨ atte er vom Dichter ebenfalls als Grundvoraussetzung seines Wirkens die Seelenkenntnis verlangen m ¨ ussen, w ¨ are er denn an der Poesie interessiert gewesen. Von Platon hat auch Aristoteles ¨ ubernommen, daß das Wahrnehmen als Erkenntnisakt stets mit Lust und Unlust, Freude und Leid verbunden ist. 69 Die Psychagogie ber ¨ uhrt er in der Poetik, Kap. 6, beim Wirkeffekt der Trag ¨ odie. Diese ”ergreife“ den Zuschauer am meisten durch die Peripetien und Wiedererkennungen in den dargestellten Mythen; die Inszenierung ist zwar auch etwas ”Ergreifendes“, hat jedoch mit der Kunst, gar mit der Dichtkunst selbst, nichts zu tun. Was Aristoteles mit der Psychagogie meint, ist das Erreichen des Wirkungsziels, das er der Trag ¨ odie zuteilt: die Erregung von Mitleid und Furcht zur ’Reinigung‘ bei solchen Affekten. 70 Wie man sieht, hat Eratosthenes die Sache der Poesie besorgt, indem er das Wirkungsziel ψυχαγωγ α (lat. psychagogia) von der Redekunst, f ¨ ur die Platon es ausgegeben hatte, und von der Trag ¨ odienkonzeption des Aristoteles auf die ganze Dichtkunst ausdehnte. Im allgemeinen ist jedoch der psychische Effekt der Dichtung theoretisch differenzierter bestimmt worden, wie es nun hier zu geschehen hat. 7.4.2 Erregung von Mitleid und Furcht in der Trag ¨ odie Zwischen Gorgias’ Theorie der Emotionserregung und Eratosthenes’ ψυχαγωγ α liegen chronologisch die ¨ Uberlegungen des Aristoteles zur Dichtkunst, die in der um 335 v. Chr. zu datierenden, leider nur teilweise erhaltenen Poetik ihren systematisierenden Niederschlag gefunden haben. Doch weder mit Gorgias noch mit Eratosthenes ist das Aristotelische Konzept vereinbar. Von beiden unterscheidet es sich dadurch grunds ¨ atzlich, daß es zum einen den rein physiologisch verstandenen Begriffder seelischen Erregung und Bewegung durch eine sehr differenzierte Gef ¨ uhlstheorie ersetzte, welche die Emotionen als Mischph ¨ anomene aus Erkenntnisakten, Lust-/ Unlust-Empfindungen und Strebungen erkl ¨ arte. Zum anderen hat Aristoteles die Aufgabe und die Leistung der Dichtung grundverschieden definiert, gem ¨ aß seiner Auffassung von Kunst als Mimesis von Handlungen. Nicht Emotionalisierung oder Seelenlenkung an sich ist das ihr vorgegebene Endziel, sondern die Darstellung soll zeigen, wie ein Mensch von bestimmten Eigenschaften in einer bestimmten Situation so handelt, wie er es tut, d. h. wie 69 Aristoteles, De anima, II, 414b. Den Zusammenhang von Erkenntnis und Gef ¨ uhlsempfindung bei Aristoteles kommentiert in fundierter ¨ Uberschau A. Schmitt: Aristoteles, Poetik 2008: 236f. 70 Aristoteles, Poetik, 1450a33: πρ ς δ το<τοις τ= μ γιστα ο`ς ψυχαγωγε% X τραγω δ α. 1450b16: X δ rψις ψυχαγωγικ ν μ ν, τεχν τατον δ κα sκιστα οHκε%ον τ@ς ποιητικ@ς. Das von Aristoteles gebrauchte Verb ψυχαγωγε%ν ¨ ubersetzt Fuhrmann mit ”Zuh ¨ orer ergreifen“, Schmitt mit ”beeinflussen“, ”Wirkung auf Gef ¨ uhle haben“. Den etymologischen Grundwerten am n ¨ achsten kommt M. Erler, der f ¨ ur 1450a33 ansetzt: ”die Seele anregen“ (Psychagogie und Erkenntnis (Kap. 10-12), in: O. H ¨ offe (Hg.), Aristoteles, Poetik, 2009, 123. 202 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele er unter den ihm offenstehenden M ¨ oglichkeiten sich gerade so und nicht anders entscheidet. Und sie soll das jeweils konkrete Handeln aus dem Charakter und aus den Gef ¨ uhlen, von denen es begleitet wird oder durch die es motiviert wird, verst ¨ andlich und mitvollziehbar machen, so daß der Rezipient das Handeln einer Person mit denselben Gef ¨ uhlen aufnimmt, die diese Person bestimmt haben, in der gew ¨ ahlten Weise zu agieren. Hat Aristoteles bei dieser Definition besonders das Drama und das Epos im Auge gehabt, so pr ¨ azisiert er die Trag ¨ odie im 6. Kapitel der Poetik noch weitergehend als die Mimesis (Nachahmung) einer guten, in sich geschlossenen Handlung, in bestimmter Gr ¨ oße verfaßt, sprachlich anziehend und in den einzelnen Abschnitten variierend gestaltet, als eine Mimesis von Handelnden, nicht eine durch Bericht, eine, die durch Mitleid ( "λεος , ´ eleos) und Furcht ( φ βος , ph ´ obos) die Reinigung ( κ θαρσις , k ´ atharsis) von solchen Affekten bewirkt. 71 Aristoteles sieht das Spezifische der Trag ¨ odie in der Wirkung auf die Gef ¨ uhlslage der Zuh ¨ orer und Zuschauer, die durch das tragische Geschehen vor ihren Augen von ”Mitleid und Furcht“, nach der eingrenzenden Auffassung einiger Interpreten von ”Jammer“ und ”Schauder“ ’ 72 gepackt werden, weil das Ungl ¨ uck des Protagonisten unverdient oder unverh ¨ altnism ¨ aßig groß erscheint und weil es auch sie so h ¨ atte treffen k ¨ onnen oder n ¨ achstens vielleicht treffen werde. Nach Aristoteles hat die Erregung von Mitleid und Furcht durch die Trag ¨ odie aber eine heilsame Wirkung zur Folge; sie f ¨ uhrt bei den Rezipienten nach seiner Definition zu einer die beiden Affekte bew ¨ altigenden ’Katharsis‘ . Der Begriffder Katharsis in der Poetik hat bis heute die Diskussion dar ¨ uber in Gang gehalten, wie er zu verstehen sei. Aristoteles hatte in seiner Politik (8, 1341b 38-40) im Zusammenhang mit Betrachtungen zur kathartischen Funktion von Musik und auch in der Poetik selbst angek ¨ undigt, anderenorts erkl ¨ aren zu wollen, was gemeint sei, aber die Erl ¨ auterung ist wohl mit dem 2. Buch der Poetik verlorengegangen. Fest steht, daß man es mit einer Bezeichnung zu tun hat, die ausgehend von der Grundbedeutung ’Reinigung und Beseitigung von jeder Art von Unreinheit‘ nicht nur mit Bezug auf religi ¨ os-rituelle Entlastungshandlungen sowie auf Effekte der Musik, sondern vom sp ¨ aten 5. Jh. ab auch in 71 Aristoteles, Poetik 1449b24-28: "στιν οbν τραγω δ α μ μησις πρ Aεως σπουδα ας κα τελε ας μ γεθος (χο<σης, Xδυσμ νω λ γω χωρ ς Pκ στω τ: ν εHδ: ν (ν το%ς μορ οις, δρYντων κα ο; δ παγγελ ας, δ (λ ου κα φ βου περα νουσα τ6ν τ: ν τοιο<των παθημ των κ θαρσιν. 72 Interpreten, die "λεος als ”Jammer“ und φ βος als ”Schaudern“ verstehen (u. a. Schadewaldt, Flashar, Fuhrmann) sehen sich mit dem Einwand konfrontiert, sich auf fast rein physiologische, irrationale Elementaraffekte zu berufen, die mit dem Aristotelischen Gef ¨ uhlsbegriffnicht vereinbar sind (A. Schmitt, Aristoteles, Poetik, 2008: Exkurs zur Katharsis I, 333-348; II 476-510, mit Literaturangaben. Besonders zu beachten Rapp, Aristoteles, Rhetorik, II 2002: 650f.). Wirkung auf die Psyche 203 der medizinisch-pathologischen Terminologie gebraucht wurde, um dort die Entfernung von sch ¨ adlichen Stoffen oder Wirkkr ¨ aften aus dem K ¨ orper oder der Seele des Menschen zu indizieren. Es besteht Einvernehmen dar ¨ uber, daß Aristoteles die von der Trag ¨ odie ausgel ¨ oste Katharsis von ihrer Herkunft wie auch von ihrer Wirkung her therapeutisch verstanden hat als ein Mittel zur Einregulierung abnormer Emotionalit ¨ at. Wie die Katharsis nach seinen Vorstellungen vonstatten geht, hat Aristoteles nicht mitgeteilt und wird kontrovers diskutiert. Viel h ¨ angt davon ab, ob man in der Hauptaussage 1449b27f. τ: ν τοιο<των παθημ των κ θαρσιν den Genitiv als Separativus oder als Objektivus auffaßt. Bei einem Separativus ginge es um eine ’Reinigung des Gem ¨ uts von dieser Art von Affekten‘ , also von "λεος und φ βος , beim Objektivus dagegen um eine ’Reinigung der genannten Affekte selbst‘ . Einen separativ zu verstehenden Genitiv setzen in der Regel Interpreten an, die die von Mitleid und Furcht ausgel ¨ oste Katharsis als einen Vorgang der psychologischen Entlastung, Entladung oder Triebabfuhr deuten, der - auf eine im einzelnen noch erl ¨ auterungsbed ¨ urftige Weise - den vom tragischen Geschehen erregten Zuschauer, der mit seinem ’Helden‘ mitgelitten und alle ¨ Angste mitempfunden hat, am Ende emotional entspannt und lustvoll erleichtert entl ¨ aßt. 73 Diese Auslegung wird in Frage gestellt von Interpreten, die sich an einen Genitivus objectivus halten und daher die Gef ¨ uhle Mitleid und Furcht als Objekte betrachten, die einem reinigenden Vorgang unterworfen werden. Berufen k ¨ onnen sie sich auf hippokratische Schriften, in denen pathologische Befunde bei Affekten wie Trauer, Furcht, Euphorie usw. mit einem dem Seelenleben unzutr ¨ aglichen Maß von Feuchtigkeit oder Trockenheit, W ¨ arme oder K ¨ alte in Verbindung gebracht wurden. Zur Therapie wurde die Herstellung der richtigen Verh ¨ altnisse der Faktoren zueinander empfohlen. Von diesem Standpunkt aus gesehen, besteht die Katharsis in einer ¨ Uberschuß- oder Mangelbeseitigung bei den pathogenen Wirkkr ¨ aften, die die Affektanomalie verursacht haben. In diesem Sinn meint und bezweckt die Katharsis die Regulierung der von der Normalit ¨ at abweichenden Gef ¨ uhlsempfindungen und damit die (Wieder-)Herstellung eines in allen seinen Teilen gewohnt agierenden und reagierenden Gef ¨ uhlshaushaltes. 74 Die 73 Zusammenfassende Beurteilung der Interpretationsrichtung im Kapitel ’Die emotionale Katharsisdeutung‘ von A. Schmitt, Aristoteles, Poetik, 2008: 497-500. 74 Die vorgetragene Theorie hat durch das Referat ’Katharsis als ’nat ¨ urlicher‘ Vorgang‘ von S. F ¨ ollinger (in: M. V ¨ ohler / B. Seidensticker (Hgg.), Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles [ . . . ] Berlin u.a. 2007, 3-20) eine St ¨ utze erhalten. Erh ¨ artet hat sie A. Schmitt, Aristoteles, Poetik 2008: Seine Ausf ¨ uhrungen zur Katharsis im Exkurs II (S. 476-510) m ¨ unden in grundlegend durchdachter Darstellung der psychischen Vorg ¨ ange und der Aristotelischen Gef ¨ uhlslehre in den Nachweis, daß die Katharsis in der Trag ¨ odie analog zu medizinischen Reinigungsvorg ¨ angen und zur Reinigung der Affekte durch bestimmte Formen der Musik (besprochen in der Politik) die (Wieder-)Herstellung 204 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Wirkung, die mit der Katharsis erreicht werden soll, ist nach diesem Verst ¨ andnis die ¨ Uberwindung eines affektiven Extremzustandes. Rapp (2009) hat in umsichtiger Argumentation dargelegt, daß eine solche Auffassung des Katharsis-Begriffs ”zumindest wenigerer Zusatzannahmen bedarf und in diesem Sinne exegetisch plausibler ist“ 75 als die These von der Befreiung des Zuschauers und Zuh ¨ orers von den beiden Affekten. Die Gef ¨ uhle nehmen im Aristotelischen Denken einen wichtigen Platz ein. Sie sind ein Merkmal des Menschseins, denn nur ganz Unkultivierte haben oder zeigen sie nicht. Sie bed ¨ urfen aber der Bildung und Pflege, was vor allem von der musischen Erziehung eingebracht wird. Im Bereich der darstellenden Kunst kommt die Gef ¨ uhlsbildung vor allem der Dichtung zu, nach Aristoteles insbesondere der Trag ¨ odie und dem Epos. Sind Gef ¨ uhle einerseits Formen des Erkennens, so andererseits Faktoren, die das Urteilen beeinflussen. Wegen der Wirkung auf das Urteilen beschreibt Aristoteles in Rhet. II, 2-11 die Emotionen im einzelnen, darunter auch Furcht (Kap. 5) und Mitleid (Kap. 8), in einer f ¨ ur den Redner gedachten Darstellung, die diesem als Anleitung zur rhetorischen Seelenlenkung hilfreich sein soll. Die Psychagogie ist hier von der Rhetorik belegt. Die tragischen Helden zeigen bei ihrem Handeln Emotionen der verschiedensten Art - Zorn, Emp ¨ orung, Feindseligkeit, Trauer, Freundesliebe, Zuneigung usw., kaum aber Mitleid und Furcht, die hier in Rede stehen. Diese Gef ¨ uhle repr ¨ asentiert auf der B ¨ uhne in der Regel der Chor; er kommentiert das Geschehen unter dem Bann der Furcht, der Held k ¨ onne sich falsch entscheiden oder entschieden haben, in sein Ungl ¨ uck gest ¨ urzt sein oder k ¨ unftig st ¨ urzen. Mitleid bekundend, nimmt der Chor Anteil an unverdientem oder ¨ uberdimensioniertem Leid. Aristoteles stellt die Erregung von Mitleid und Furcht deshalb als Merkmal der Trag ¨ odie heraus, weil er die Wirkung auf die Gem ¨ utsverfassung der Zuschauer zum Kriterium der Gattung nimmt, also wirkungs ¨ asthetisch denkt. F ¨ ur die Zuschauer sind Mitleid und Furcht in der Tat die markantesten Gef ¨ uhlsregungen, weil sie die beklemmende Erkenntnis hervorrufen, man k ¨ onnte selbst in ¨ ahnlicher Situation von einem ¨ ahnlichen Ungl ¨ uck getroffen werden. Daß Aristoteles gerade Mitleid und Furcht miteinander verbunden hat, entspricht auch der Erfahrung, daß diese Emotionen h ¨ aufig wechselseitig aufeinander bezogen auftreten. Wer Mitleid mit einem vom Ungl ¨ uck Getroffenen empfindet, den ergreift leicht die Furcht, es k ¨ onne ihm einmal genauso ergehen; wer ein ¨ Ubel f ¨ urchtet, den bewegt umso eher Mitleid mit einem ihm sympathischen Menschen, der es ertragen muß. In Aristotelischem Verst ¨ andnis der Katharsis ist das Mitleid keine bloß sentimentale R ¨ uhrung und die Furcht keine vage Empfindung von Bedrohung: Mitleid und Furcht sind gerichtet auf ein konkretes Einzelgeschehen, darauf, daß und wie eine bestimmte Person in dem bestimmten Fall handelt, warum sie so - n ¨ amlich eines normal arbeitenden Empfindens von Mitleid und Furcht bewerkstelligen soll (S. 506-510). 75 Ch. Rapp, Aristoteles ¨ uber das Wesen und die Wirkung der Trag ¨ odie (Kap. 6), in: O. H ¨ offe (Hg.), Aristoteles, Poetik, 2009, 87-104 [Zitat: S. 101]. Wirkung auf die Psyche 205 falsch - handelt, und welche Folgen diese Verfehlung nach sich zieht. Mitleid und Furcht f ¨ uhren auf diese Weise zu Erkenntnissen ¨ uber Natur und Konsequenzen des menschlichen Handelns; sie fungieren - wie alle Gef ¨ uhle es k ¨ onnen - als Erkenntnisformen, haben also kognitive Qualit ¨ at. Wie jeder Erkenntnisgewinn ist der in der Trag ¨ odie von Mitleid und Furcht bewirkte nach Aristoteles von Lust ( Xδον , h ¯ edon ´¯e ) begleitet. Im Kapitel 14 der Poetik kommt Aristoteles auf die Lust mit der Warnung zu sprechen, der Dichter d ¨ urfe mit der Trag ¨ odie nicht jede beliebige Lustempfindung wecken, sondern nur die f ¨ ur die Gattung spezifische. Das sei diejenige, ”die durch Nachahmung aus Furcht und Mitleid entsteht“, wobei die Wirkungen in den Geschehnissen selbst angelegt sein m ¨ ussen. 76 Im Eifer, die Katharsis zu erkl ¨ aren, ¨ ubergehen die meisten Interpreten die Verbindung von Mitleid und Furcht mit der von den Affekten hervorgerufenen Lust (auch: Freude, Vergn ¨ ugen) oder verstehen die damit gemeinte Empfindung lediglich als die Erleichterung des Zuschauers oder Zuh ¨ orers nach dem Trag ¨ odienschluß, von einem vergleichbaren Verh ¨ angnis, wie es dem Helden widerfuhr, nicht betroffen zu sein und voraussichtlich auch nicht getroffen zu werden. 77 Gest ¨ utzt auf Aristoteles’ Lehre, daß nicht nur die k ¨ unstlerische Nachahmung, sondern auch die Betrachtung von Nachgeahmtem Akte der Erkenntnis 76 Aristoteles, Poetik 1453b10-14: ο; γ=ρ π5σαν δε% ζητε%ν Xδον6ν π τραγω δ ας λλ= τ6ν οHκε αν. (πε δ τ6ν π (λ ου κα φ βου δι= μιμ σεως δε% Xδον6ν παρασκευ ζειν τ ν ποιητ ν, φανερ ν 1ς τοCτο (ν το%ς πρ γμασιν (μποιητ ον. 77 Rapp (2009: 95ff.) ist auf die zitierte Stelle eingegangen. Nach seinen Darlegungen w ¨ are die Katharsis das Resultat einer Umformung oder Aufl ¨ osung der tragischen Affekte Mitleid und Furcht, ein Resultat, von dem wir durch die Hinweise zur tragischen Lust wissen, daß es auf eine typische Weise als angenehm empfunden wird (S. 97). Nach O. H ¨ offe (2009: 158) bezieht sich die Lust auf die Erleichterung des Zuschauers ¨ uber ein gl ¨ uckliches Ende der Trag ¨ odie f ¨ ur sich selber, f ¨ ur die eigene Gef ¨ uhlslage. Daß dies zu kurz gegriffen ist, zeigt die - von Homer ¨ uber Gorgias, Platon und Aristoteles bis zum Strukturalismus des 20. Jhs. - weit ausholenden Studie ’ ¨ Uber das Vergn ¨ ugen an tragischen Gegenst ¨ anden‘ von B. Seidensticker, in: Ders., ¨ Uber das Vergn ¨ ugen an tragischen Gegenst ¨ anden, 2005, 217-245 (Erstpublikation 1991). [Begr ¨ undung der ’tragischen Lust‘ (Aristoteles, Poetik 1453b11f.) als elementarer Affekt durch die Kunst der Darstellung, die Distanz von der Wirklichkeit, die Erkenntnisvermittlung, die befreiende, seelisch entlastende Wirkung von Jammer, Schmerz und Klage]. Die Frage, ob es auch eine Katharsis der Kom ¨ odie, die Lust erzeugende Entlastung von den durch das Spiel aufgew ¨ uhlten Affekten wie Zorn, Neid, Niedertracht gab, wird zusammen mit dem Problem der Aristotelischen Kom ¨ odienauffassung eingehend behandelt von L. Golden, Aristotle on the Pleasure of Comedy, in: A. Oksenberg Rorty 1992, 379-386; S. Halliwell Greek Laughter. A Study of Cultural Psychology from Homer to Early Christianity, Cambridge 2008; P. Destr´ ee, Die Kom ¨ odie, in: H ¨ offe 2009, 69-86. 206 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele darstellen, ja Erkenntnis selbst von Gef ¨ uhlen vermittelt wird, erscheint es einleuchtender, die Lust mit dem Erkenntnisgewinn des Zuschauers oder Zuh ¨ orers einer Trag ¨ odie zu verbinden: Die Trag ¨ odie entl ¨ aßt den von Mitleid und Furcht ersch ¨ utterten Rezipienten am Ende mit rationaler Einsicht in das Wesen menschlichen Handelns, auch in die M ¨ oglichkeit seines Scheiterns oder eines Sturzes in ein Ungl ¨ uck. Sich auf diese Weise der Implikationen des Handelns bewußt zu werden, bringt wie jeder andere Erkenntniszuwachs einen Lustgewinn. Nacharistotelisch ist dieses Trag ¨ odienkonzept ¨ uberlagert worden von ¨ uberwiegend stoischen Vorstellungen, wonach die Erregung von Mitleid und Furcht lehren soll, angesichts von Ungl ¨ uck Gleichmut zu bewahren und die Emotionen in jeder Situation, ob Freude oder Leid, im Zaum zu halten. 7.4.3 Zuspruch von Trost Daß Dichtung Trost spenden kann, dem von einer Sorge, einem Kummer, einem Leid Bedr ¨ angten auch Trost geben soll, ist eine Konstante im poetologischen Denken. Sie erscheint so alt wie die Dichtung selbst, deshalb auch so selbstverst ¨ andlich, daß sie mehr durch die Werke belegt als durch poetologische ¨ Außerungen dokumentiert wird. Unter diesem Blickwinkel ¨ uberrascht es, daß die fr ¨ uhgriechische Epik nicht bloß immer wieder herausstellt, daß das Auftreten eines S ¨ angers ”Freude“ verbreite, also eventuelle seelische Belastungen ¨ uberdecke oder beseitige, sondern auch schon ausdr ¨ ucklich pr ¨ azisiert, daß ein S ¨ anger, der ”Diener der Musen“, es vermag, durch seinen Vortrag die Seele der Menschen von Leid zu befreien. Hesiod spricht es aus in der Theogonie, v. 98-103, nachdem er das Amt des von Apollon und den Musen begnadeten S ¨ angers dem des von Zeus zur Rechtswahrung berufenen K ¨ onigs an die Seite gestellt hat. In g ¨ ottlichem Auftrag verhindern oder beenden K ¨ onige unter den Menschen Streit, S ¨ anger nehmen den von Sorgen Beschwerten die Last von der Seele. Wenn jemand wieder einmal Leid erfahren hat und in seinem Herzen verk ¨ ummert, dann - so Hesiod - bewirke ein Lied auf große Taten der Vergangenheit und auf die unsterblichen G ¨ otter, daß er seinen Schmerz ¨ uberwindet. Er werde ”bald seine Besorgnis vergessen und nicht mehr an seine Tr ¨ ubsal denken, denn schnell bringen ihn davon ab die Geschenke der G ¨ ottinnen“, d. h. die Verse, die die Musen dem S ¨ anger eingegeben haben, um sie den Menschen zu vermitteln (Theogonie 102ff.). Die fr ¨ uhgriechische Lyrik kennt auch bereits die scheinbar adressatenlose, selbstbezogene Poesie, mit der ein Dichter sich ¨ uber erfahrene Unbill, ¨ uber Leid oder ¨ uber das menschliche Schicksal und die eigene Hinf ¨ alligkeit hinwegzutr ¨ osten sucht. Repr ¨ asentativ ist hierf ¨ ur gleich der fr ¨ uhestbekannte, von ca. 670 bis 640 schreibende Archilochos, der Autor elegischer, iambischer und epodischer Dichtungen, den Platon im Ion (531a) zusammen mit Homer und Hesiod nennt, im Staat (365c) mit Bezug auf seine Fabeldichtungen sogar als den ”allerweisesten“ r ¨ uhmt. Unter seinen Werken, die die verschiedensten Themen behandeln, oft aus Wirkung auf die Psyche 207 der Perspektive der Selbstverteidigung eines bald aggressiven, bald resignativen Ichs mit der Waffe der Poesie, fallen Verse auf, in denen die Reflexion auf Wesen und Schicksal des Menschen Trost und Beruhigung darin erf ¨ ahrt, daß er sich die Bedr ¨ uckung poetisch von der Seele schreibt, auch ¨ uberzeugt ist, daß Lied und Dichtung ebenso auf andere eine bes ¨ anftigende Wirkung entfalten. Philodemos zitiert ihn aus diesem Grund in einem Fragment aus der Schrift ¨ Uber die Musik, wo es um die Beruhigung von Aufregungen durch Lieder geht, mit den Worten: ”Und deshalb heißt es auch bei Archilochos: ’Beruhigt (? ). . . durch Lieder‘“ 78 . Ein Gedicht verschafft Abstand zum Erlebten und zu Erwartenden, daraus ergibt sich eine therapeutische Wirkung. Nickel spricht davon, daß Archilochos das ”als b ¨ ose, als ruchlos, als sch ¨ adlich Wahrgenommene in Verse ’gebannt‘ und auf diese Weise unsch ¨ adlich gemacht“ habe. ”Das Bedrohende wird im Vers aufgehoben und verliert so seine negative Wirkung auf den Bedrohten“. 79 Ein Allheilmittel hat Archilochos in der Poesie freilich nicht gefunden. Mal bleibt ihm nur die Hoffnung auf Beruhigung aus einem Leben nach der Maxime, sich im Gl ¨ uck nur mit Maßen zu freuen und im Ungl ¨ uck nicht grundlos zu trauern, mal erhofft er sich Trost aus Weingenuß, Festesfreuden und der schrankenlosen Hingabe an die Erotik. Doch verdankt ihm die Lyrik, daß Dichter und Leser fortan in Versen ein Mittel der seelischen Entlastung von Leid und Schmerz fanden. Nach ihm haben namentlich Alkaios und Sappho die seelentherapeutische Wirkung der Poesie auszunutzen verstanden. Unter den Dramatikern r ¨ uhmt Sophokles die Kraft der Poesie, die ¨ Ubel vergessen zu machen, die man in der Gegenwart empfindet. 80 Euripides unterstreicht in den Troerinnen (608ff.), wie sehr den von Ungl ¨ uck Betroffenen neben Tr ¨ anen und Trauerges ¨ angen eine Dichtung helfe, ”die den Schmerz besiegt“ und ihn dadurch lindert. 81 Ein Varros Menippeae zugeordnetes Fragment zeigt, daß die vom pythagoreischen Gedankengut gef ¨ orderte Idee der therapeutischen Wirkung von Dichtung und Musik fr ¨ uhzeitig auf Rom ¨ ubergriff: ”Ihr nehmt mit Gesang und heiliger [da museninspirierter] Dichtung die heftigen Sorgen aus dem Herzen.“ 82 78 Das Archilochos-Fragment zitieren Diehl 106 = West 253 = Lasserre 262 = Nickel 253, letzterer mit der wiedergegebenen ¨ Ubersetzung (2003). Ich folge der Auffassung von Maehler (1963: 52f.), daß die bes ¨ anftigende Wirkung eines Gedichts den Autor einschließt; er kommt leichter ¨ uber einen Schmerz hinweg, wenn er ihn poetisch ’verarbeitet‘ . 79 Rainer Nickel (Ed. und ¨ Ubersetzer), Archilochos, Gedichte, D ¨ usseldorf u.a. 2003: 309. 80 Sophokles apud Stob. Flor. 113, 12 (Frg. 259 Radt): "νεστι γ ρ τις κα λ γοισιν Xδον , λ θην Zταν ποι: σι τ: ν rντων κακ: ν κα περ γ ρων vν. 81 Euripides, Troerinnen, 608f.: 1ς Xδ? δ κρυα το%ς κακ: ς πεπραγ σι θρ νων τO 8δυρμο μοCσ θO w λ<πας "χει. 82 Frg. 394 (Astbury): demitis acris pectore curas cantu castaque poesi. Zur Stelle, insbes. zur Konjektur demitis, Geller, Varros Menippea Parmeno, Diss. K ¨ oln 1966, 51-56. 208 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Auch das dichterische Werk des Horaz bezeugt die Kummer und Trauer lindernde Wirkung der Poesie. In einem Gebet an die von g ¨ ottlicher Wesenhaftigkeit gedachte Lyra (carm. 1, 32) bittet der an Alkaios erinnernde Dichter, sie m ¨ oge in Rom noch lange erklingen und ihm zu Diensten sein; die Ode endet mit der Apostrophe: ”Du aller M ¨ uhsal / s ¨ uße Linderung, sei mir geneigt, so oft ich / ziemend dich rufe“. 83 Bemerkenswert ist, daß die Minderung seelischer Belastung offenbar als Hauptzweck der ’Lyrik‘ angesehen wird. Neben dem Trostspenden bei Todesf ¨ allen, Krankheit, Schwermut und tr ¨ ubsinnigen Gedanken hat die Dichtung eine große Aufgabe als Antidot gegen Liebesschmerz. Hier schreibt sich der Autor das eigene Leid von der Seele, tr ¨ ostet sich selbst durch Verse oder spricht Bek ¨ ummerten teilnehmend zu, ihren Schmerz zu ¨ uberwinden. Das eine wie das andere zeigt Horaz’ Ode I, 33: Sie wendet sich an den von der untreuen Geliebten verlassenen Tibull, er m ¨ oge sich die Trennung nicht allzu sehr zu Gem ¨ ut nehmen; man m ¨ usse die Launen der Venus mit Gleichmut und Gefaßtheit zu ertragen versuchen. Was die dichterische Verarbeitung des Verlassenseins betrifft, den Selbsttrost durch poetische Umsetzung, so r ¨ at Horaz dem Freund von einem offenkundigen Brauch ab: ”Du sollst hier nicht jammervolle Klagelieder heruntersingen“. 84 Verse Catulls best ¨ atigen, daß poetischer Trost geradezu als Verpflichtung erwartet wird. Im 38. Gedicht wirft der Dichter seinem Freund Cornificus vor, nicht mit einem Trostgedicht an seinem Schmerz Anteil genommen zu haben - vermutlich der fortdauernden Trauer um den verstorbenen Bruder. ”Sprich zu mir nur ein tr ¨ ostlich kleines W ¨ ortchen, / traurig wie Simonides’ Tr ¨ anenlieder“. 85 Er kann den Freundschaftsdienst umso mehr erwarten, als er ja selbst ¨ ahnlichen Bitten um poetischen Beistand nachgekommen ist, wie aus carm. 68 hervorgeht. Ein weiteres aufschlußreiches Zeugnis f ¨ ur die Trostfunktion der Dichtung bietet bei Horaz carm. 4, 11, eine Ode aus Anlaß einer Geburtstagsfeier f ¨ ur Maecenas. Horaz schweift in der Ode von Maecenas ab zu der zu Liedvortr ¨ agen eingeladenen S ¨ angerin Phyllis, die an unerwiderter Liebe leidet, schließlich zur bedr ¨ uckenden Einsicht, daß auch ihm, dem alternden Dichter, in Phyllis nicht mehr als eine letzte Liebe geblieben ist. Ob auch f ¨ ur Maecenas der Geburtstag von ¨ ahnlich tr ¨ uben Gedanken ¨ uberschattet ist? Zur Feier soll Phyllis Werke des Dichters vortragen, mit ”lieblicher Stimme“ soll sie sie darbieten, und sie werden gut tun: ”Durch das Lied werden die d ¨ usteren Sorgen vergehen“. 86 Bezeichnenderweise m ¨ undet im Augustus-Brief das Lob der Erziehungsleistung, welche ein 83 Horaz, Carmina 1, 32, 14f.: o laborum / dulce lenimen mihi cumque salve / rite vocanti. 84 Horaz, Carmina 1, 33, 1-3: Albi, ne doleas plus nimio memor / inmitis Glycerae, neu miserabilis / decantes elegos. . . 85 Catull, Carmina 38, 7f.: paulum quidlibet allocutionis, / maestius lacrimis Simonideis! 86 Horaz, Carmina 4, 11, 35: minuentur atrae carmine curae. Wirkung auf die Psyche 209 Dichter durch sein Werk erbringt, in den Ausblick, daß f ¨ ur die Erwachsenenwelt in seinem Schaffen das Trostspenden obenan steht: ”Dem M ¨ uhseligen ist er ein Tr ¨ oster und den Kranken.“ 87 Auch Cicero hat das Erziehen und das Tr ¨ osten als zwei sukzessive, altersbestimmte Wirkungsziele herausgestellt; die Dichtung sei ”Anleitung f ¨ ur die Jugend und Trost f ¨ ur das Alter.“ 88 Zu Horaz ist nun hier festzuhalten, daß das Verm ¨ ogen der Dichtung, den von M ¨ uhsal Beladenen, von Kummer Niedergedr ¨ uckten und den Trauernden Linderung und Trost zu verschaffen, von der Ars poetica nicht erkennbar ausgewiesen wird. Es muß wohl ber ¨ ucksichtigt werden, daß die Horazische Lehrschrift in der Hauptsache nur allgemeine Handlungsanweisungen zum Gesch ¨ aft des Dichtens gibt, also auch das Wirkungspotential nur hinsichtlich der generellen Zielrichtung beschreibt. Es muß davon ausgegangen werden, daß die Linderung seelischer Belastungen und das Trostspenden unter den Dichtungsqualit ¨ aten mitverstanden ist, welche nach der Ars poetica die ”N ¨ utzlichkeit“(das prodesse, das utile) ausmachen. Selbst Seneca, der den Wert der Dichtung sonst nach dem Gewinn beurteilt, den sie f ¨ ur die moralische Besserung des Menschen eintr ¨ agt, erkennt ihre besondere Leistung bei der Bes ¨ anftigung emotionaler Spannung an. In den Dialogi 5, 9, 1 (=De ira) r ¨ at er Zornanf ¨ alligen, schwere Studien zu unterlassen und stattdessen sich den artibus amoenis, den ”angenehmen K ¨ unsten“, zu widmen, wobei zu allererst an die Dichtung zu denken sei, denn Lekt ¨ ure von Gedichten beruhige die Seele 89 , auch komme die Geschichtsschreibung mit ihren vielen Erz ¨ ahlungen von Vergleichsf ¨ allen als Sedativum in Frage. Im Auge zu behalten ist bei der zitierten Stelle, daß Seneca aber jede Dichtung mißbilligt, die an die Seele die ”Fackel der Leidenschaft“ legt, er also bei seiner Lekt ¨ ureempfehlung nur an Werke gedacht haben kann, die den Leser in milde Gestimmtheit versetzen. In einer Trostschrift an Polybius, einen einflußreichen Freigelassenen vom Hofe des Kaisers Claudius, der den Tod seines Bruders beklagt, legt Seneca dem Trauernden ebenfalls nahe, seinen Schmerz literarisch zu lindern. Polybius hat ein sehr pers ¨ onliches Verh ¨ altnis zur Dichtung; er hat von Homer eine Prosaparaphrase in lateinischer, und von Vergil eine in griechischer Sprache verfaßt, dar ¨ uber hinaus obliegt ihm, die Taten seines Kaisers in Poesie oder Prosa zu verherrlichen. Ihm r ¨ at Seneca, sich ganz in die Besch ¨ aftigung mit Homer und Vergil zu versenken, dann w ¨ urden ihm deren Werke Halt geben, weil sie viele Beispiele menschlichen Leids vor Augen stellten, die dadurch Trost vermitteln, daß sie dem von einem Ungl ¨ uck Betroffenen zeigen, in seinem Schmerz und seiner Trauer nicht allein zu sein. ”In die H ¨ ande nimm 87 Horaz, Epistulae 2, 1, 131: inopem solatur et aegrotum. 88 Cicero, Pro Archia poeta 16, 12f.: at haec studia adulescentiam acuunt, senectutem oblectant. 89 Seneca, Dialogi, 5, 9, 1 (=De ira): et animus non inter dura uersandus, sed artibus amoenis tradendus: lectio illum carminum obleniat et historia fabulis detineat. 210 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele eines der beiden Dichter Gedichte [ . . . ]. Kein Gesang wird sich unter diesen Gedichten befinden, der nicht sehr viele Beispiele von unbest ¨ andigem menschlichem Geschick, ungewissen Zuf ¨ allen und Tr ¨ anen, aus diesem oder jenem Grunde fließend, dir bietet.“ 90 Dichtung tr ¨ ostet, indem sie bewußt macht, daß Leid und Tod f ¨ ur alle Menschen zum Leben geh ¨ oren, also gefaßt ertragen werden m ¨ ussen. Es ist dies auch die Lehre von Senecas Dramen: Die Panoramen menschlichen Ungl ¨ ucks, die sie bieten, werden dem Zuschauer vorgef ¨ uhrt, um ihn moralisch zu st ¨ arken und ihm in der Erfahrung von Leid und Schmerz ausgleichenden Trost zu geben. Unter diesem Blickwinkel bilden auch sie ein Kernst ¨ uck der lateinischen Konsolationsdichtung. 7.4.4 Wecken von Emotionen Im werk ¨ asthetischen Eingangsteil seiner Poetik, in dem er Fragen der Wortverbindung, der Stilh ¨ ohe und der Stilgestaltung thematisiert, warnt Horaz davor, beim Gedicht nur die formale Perfektion im Auge zu haben: ”Nicht gen ¨ ugt es, daß Dichtungen formsch ¨ on sind: S ¨ uß und zu Herzen gehend sollen sie den H ¨ orer ergreifen und unwiderstehlich mitreißen.“ 91 Die trotz ihrer Freiz ¨ ugigkeit den Sinn gut treffende ¨ Ubersetzung verdeckt den Rekurs auf die psychagogia, den im lateinischen Text die Horazische Lehnbildung animum auditoris agunto verr ¨ at. Doch meint der R ¨ omer mit diesem Begriffnicht nur eine zweckgerichtete Einflußnahme des Dichters auf den H ¨ orer oder Leser, sondern ein Ansprechen, ein Einstimmen, das dessen Gem ¨ ut zum Mitschwingen bringt: Dichtung muß bewegen, r ¨ uhren, ergreifen, fordert Horaz von ihr, wenn sie gut sein soll. Voraussetzung f ¨ ur das Gelingen einer solchen Poesie ist jedoch die eigene Ergriffenheit des Dichters. Er muß selbst von der Sache bewegt sein, die er vortr ¨ agt, sonst laufen seine Verse wirkungslos ins Leere. Das Publikum hat ein Gesp ¨ ur f ¨ ur die Aufrichtigkeit poetischer ¨ Außerungen. Horaz schließt deshalb an die Adresse des auf seinen Rezipientenkreis bedachten Dichters die Mahnung an: ”Das Menschenantlitz lacht mit den Lachenden und weint mit den Weinenden. Willst du mich zu Tr ¨ anen n ¨ otigen, so mußt du selbst zuvor das Leid empfinden; nur dann wird mich dein Ungl ¨ uck r ¨ uhren, mein Telephus, mein Peleus.“ 92 In den darauf folgenden Versen wendet sich Horaz der dramatischen Kunst mit der entsprechenden Forderung zu, daß Text, Sprachstil, Mimik und Gestik mit 90 Seneca, Dialogi 11, 11, 5, 2ff.: in manus sume utriuslibet auctoris carmina [ . . . ] nullus erit in illis scriptis liber qui non plurima uarietatis humanae incertorumque casuum et lacrimarum ex alia atque alia causa fluentium exempla tibi suggerat. 91 Horaz, Ars poetica 99f.: non satis est pulchra esse poemata: dulcia sunto / et quocumque volent animum auditoris agunto. 92 Horaz, Ars poetica 101-104: ut ridentibus adrident, ita flentibus adflent / humani voltus. si vis me flere, dolendum est primum / ipsi tibi: tum tua me infortunia laedent, / Telephe vel Peleu. Wirkung auf die Psyche 211 den dramatis personae und den jeweiligen Situationen, die dargestellt werden, ¨ ubereinstimmen m ¨ ussen, wenn die affektischen Regungen glaubhaft sein sollen, andernfalls quittiere das Publikum die Darbietung mit Hohngel ¨ achter. Daß der in der Horazischen Pr ¨ agung animum auditoris agunto enthaltene Appell, Poesie m ¨ usse emotional wirken, statt der im Wesen der psychagogia liegenden ’Lenkung‘ von Gem ¨ utskr ¨ aften die weiter gefaßte Qualit ¨ at der Dichtung meint, den Rezipienten ¨ uberhaupt seelisch anzusprechen, zu bewegen, zu ergreifen, auch zu ersch ¨ uttern, belegt eine Stelle im etwa gleichzeitig mit der Ars poetica entstandenen Augustus-Brief. Poetisches K ¨ onnen preisend, r ¨ uhmt Horaz dort den Dichter, ”der das Herz durch den Trug seiner Kunst ¨ angstigt und erregt und s ¨ anftigt, der es mit eingebildeten Schrecken erf ¨ ullt, wie ein Zauberer, und bald mich nach Theben, bald nach Athen entr ¨ uckt“. 93 Die Verse verdeutlichen die große Spannbreite der von der Dichtung auszul ¨ osenden Emotionalit ¨ at. Im Zusammenhang mit v. 100 der Ars poetica gelesen, exemplifizieren sie das quocumque volent, den Auftrag an die Dichter, die Seelen zu bewegen, ”wohin immer sie wollen“. Die ganze Skala der Gef ¨ uhle soll das Wirkungsfeld ihrer Kunst sein. Im Horazischen animum auditoris agunto sind mehrere Traditionsstr ¨ ome zusammengeflossen. Neben dem hellenistischen Konzept der psychagogia erkennt man darin sowie im Postulat der eigenen Ergriffenheit (vv. 102-104) ein Echo auf ein auch in der Aristotelischen Poetik 1455a30-34 begegnendes Monitum. Dort heißt es zur Ausarbeitung der Gef ¨ uhlsdarstellung durch den - f ¨ ur die Poesie im Ganzen stehenden - Trag ¨ odiendichter, die ¨ uberzeugendste Gestaltung gelinge dem, der selbst die dargestellten Gef ¨ uhle empfinde; wer selbst eine Verletzung f ¨ uhlt oder von Zorn ergriffen ist, werde die Regungen des Verletztseins und des Zornes am wahrhaftesten zur Anschauung bringen. 94 Nicht zu ¨ ubersehen ist außerdem, daß beim Appell, die Seele zu bewegen, die Poetik von der Rhetorik unterst ¨ utzt wurde. Das Postulat der eigenen Ergriffenheit als Voraussetzung guter Wirkung begegnet auch in der Redelehre, wo es zum A und O gelingender Persuasion z ¨ ahlte. Nach rhetorischer Doktrin sollte der Redner die Gef ¨ uhle, die er zur Beeinflussung der H ¨ orer erzeugen wollte, m ¨ oglichst selbst in sich sp ¨ uren, oder er sollte sich bem ¨ uhen, sie wie ein Schauspieler zu simulieren. 95 Die fundamentale Bedeutung des ’Bewegens‘ in der Rhetorik wird daran 93 Horaz, Epistulae 2, 1, 211-213: poeta [ . . . ] qui pectus inaniter angit, / inritat, mulcet, falsis terroribus inplet, / ut magus, et modo me Thebis, modo ponit Athenis. 94 Zu beachten ist zur zitierten Stelle der Aristotelischen Poetik der Kommentar von A. Schmitt: Aristoteles, Poetik 2008, 479, und insbes. 547f. 95 Quintilian widmet der Pathoserregung das ganze Kapitel VI, 2 seiner Institutio. Die Lehre, wie die Affekte vorteilhaft einzusetzen sind und wie der Redner sie so zum Ausdruck bringt, daß Richter und Zuh ¨ orer ergriffen werden, illustriert Quintilian mit Dichtungsbeispielen aus Vergils Aeneis und der Erfahrung aus Theaterbesuchen, daß Schauspieler von ihrem Text innerlich so gepackt sind, daß sie noch weinen oder beben, 212 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele sichtbar, daß es in der Stufung der officia des Redners (docere - delectare - movere, commovere) den obersten Rang einnimmt, d. h. als das wirkungsvollste Mittel der ¨ Uberredungstechnik galt. Im Ziel, das mit der Erzeugung einer affektischen Reaktion ( π θη ) verfolgt wird, gehen Rhetorik und Poetik freilich auseinander. Denn w ¨ ahrend der Redner die Gef ¨ uhle zu bewegen sucht, um bei Zuh ¨ orern und Richtern die Parteinahme f ¨ ur seine Sache herbeizuf ¨ uhren, w ¨ ahrend er also Emotionen um eines Vorteils willen provoziert, ist es die Wirkungsabsicht des Dichters, sich auszusprechen, psychisch zu entlasten, und dabei mitempfindende und mitschwingende Seelen zu finden, denen seine Verse vermitteln, was er auch f ¨ ur sich selbst erhofft: die wohltuende Erfahrung - oder auch nur Erwartung - inneren Gleichklangs mit anderen Menschen. Sie kann jede emotionale Bewegung in ein Lustgef ¨ uhl m ¨ unden lassen. Auf Grund von Porphyrios Mitteilung, Horaz habe in seine Poetik praecepta [ . . . ], non quidem omnia, sed eminentissima aus einer Dichtungslehre des Neoptolemos von Parion (3. Jh. v. Chr.) ¨ ubernommen, 96 k ¨ onnte man sich fragen, ob auch das Wirkungsziel der Emotionserregung mit Lehren des hellenistischen Theoretikers, Philosophen und Poeten zu verbinden ist. Bisher ist es nicht gelungen, stichfeste Beweise der direkten ¨ Ubernahme von praecepta durch Horaz beizubringen, was nat ¨ urlich auch daran liegt, daß das Werk des Neoptolemos verloren ist und unsere Kenntnis seiner Auffassungen sich nur auf ¨ Uberlieferungen durch Dritte st ¨ utzen kann, von denen angenommen wird, daß sie das wesentliche Gedankengut sinngetreu wiedergegeben haben. Kronzeuge der Forschung ist hier Philodemos von Gadara (ca. 110-nach 40 v. Chr.), ein Zeitgenosse Caesars und Ciceros, der nach Aufenthalten in Rom sich bei Herculaneum niedergelassen hatte und von dort aus als Haupt eines Philosophen- und Dichterkreises die Ausbreitung der epikureischen Lehre in Italien betrieb. Zu seinem schriftstellerischen Nachlaß geh ¨ ort eine Abhandlung Περ ποιημ των ( ¨ Uber Gedichte) in 5 B ¨ uchern, deren 1., 3., 4. und 5. dank philologischer Rekonstruktion aus den in der ’Pisonen-Villa‘ in Herculaneum gefundenen Papyrusresten uns partienweise bekannt sind. Der Wert der Abhandlung l ¨ aßt sich schon daran ermessen, daß sie die einzige Schrift darstellt, die aus der reichen poetologischen Literatur der Zeit nach der Aristotelischen Poetik und vor dem Traktat ¨ Uber die Wortf ¨ ugung des um 60 v. Chr. geborenen Dionysios von Halikarnassos wenigstens bruchst ¨ uckhaft auf uns gekommen ist. Eine im 5. Buch gegen Neoptolemos gerichtete Polemik unterst ¨ utzt die Annahme, daß Horaz, wenn sie die Masken l ¨ angst abgelegt haben. Die gleiche leidenschaftliche Erregung m ¨ usse vom Redner gefordert werden, der seine Sache gut vertreten will. Zum movere und den Mitteln der Affekterregung in der Rhetorik Lausberg 3 1990, § 257, 3. 96 Porphyrio (2./ 3. Jh. n. Chr.) macht die Mitteilung in seinem Horaz-Kommentar (Porph. Hor. sat. p. 162, 2 Holder). Sie findet sich abgedruckt u. a. in der von Mette besorgten Zusammenstellung aller Zeugnisse ¨ uber Neoptolemos von Parion, RhM 123 (1980), 1-24, dort Nr. 5, S. 3. Wirkung auf die Psyche 213 sofern er sich an Neoptolemos orientiert h ¨ atte, mit dem Appell animum auditoris agunto zur ¨ uckweisen k ¨ onnte auf eine schon vom Vorg ¨ anger vertretene Doktrin der seelischen Beeinflussung durch Poesie. Philodemos zufolge habe n ¨ amlich Neoptolemos vom vollkommenen Dichter ψυχαγωγ α (psychagog´ıa) gefordert und dar ¨ uber hinaus die Intention, den H ¨ orern zu n ¨ utzen und ihnen gute Lehren zu erteilen. 97 Anstoß nahm Philodemos am Utilit ¨ atsprinzip, weil er als Epikureer das N ¨ utzlichkeitskriterium der Dichtung von vornherein in Frage stellen mußte, mit seiner Polemik aber auch den Anspruch der Stoiker zur ¨ uckweisen wollte, Dichtung habe die Menschen zu bessern. Gute Poesie sollte nicht gleichgesetzt werden mit moralisch oder didaktisch guter. Auffallend ist an der Auseinandersetzung Philodemos’ mit den Theorien des Neoptolemos, daß kein Wort der Kritik gegen die Auffassung f ¨ allt, Dichtung m ¨ usse das Gem ¨ ut des Zuh ¨ orers bewegen. Zu diesem Komplex hatte Epikur seinen Sch ¨ ulern auch keine eindeutige Direktive hinterlassen. W ¨ ahrend er manchmal die N ¨ utzlichkeit der Dichtung f ¨ ur jede gedankliche, gar philosophische F ¨ orderung der Erkenntnis und der Bildung klar verneint hatte, war er durchaus geneigt gewesen, ihr einen Platz unter den Besch ¨ aftigungen einzur ¨ aumen, die Vergn ¨ ugen bereiten, also dem epikureischen Lebensziel der Lust dienen konnten. Erschließen l ¨ aßt sich, daß Epikur von der Dichtung forderte, Lustgef ¨ uhle zu wecken, daß er heftige R ¨ uhrung jedoch ebenso mißbilligte wie die Erzeugung von Unlust, weil die eine wie die andere den f ¨ ur das Wohl n ¨ otigen Seelenfrieden aufhob. Auf dieser Grundlage hat Philodemos seine Lehre von der seelischen Wirkung der Poesie entwickelt. 98 Als Epikureer kommt Philodemos nicht daran vorbei, daß Dichtung auch sch ¨ adliche Effekte zeitigen kann. Er sieht diese im Aufputschen unerw ¨ unschter Leidenschaften und in der Verbreitung falscher Ansichten zum G ¨ otterglauben, doch zeigt sein im Ganzen positives Urteil ¨ uber Homer, welches mit der epikureischen Ablehnung bricht, daß er eigene Bewertungskriterien einbringt. Die Frage, was denn ein Gedicht zum vollkommenen Gedicht mache, f ¨ uhrt ihn geradewegs zu dem Problem, wie es Wirkung auf die Seele entfalten kann. Er sieht das Ziel der Dichtung in einer besonderen Weise, die Seele zu bewegen und durch sie Vergn ¨ ugen zu bereiten. 99 97 Stelle zitiert bei Mette 1980, frg. 6a, 39ff., mit Ber ¨ ucksichtigung der Korrekturen an der Ed. des Erstherausgebers Chr. Jensen (1923). Neue Ausgabe von C. Mangoni, Filodemo, Il quinto libro della Poetica, Napoli 1993 [Text dort 143f.]. 98 Gute Zusammenfassung der Poetologie Epikurs und seiner Anh ¨ anger von Elizabeth Asmis, Epicurean poetics, in: Obbink 1995: 15-34. ”Philodemos represents a new kind of Epicurean, who studies poetry with enjoyment and even profit, and who may even compose poems as a pastime“ (33). Aber anders als Lukrez hat er die von Epikur gesetzten Limits nicht ¨ uberschritten. 99 Grundlegende Darstellung seiner Ideenwelt in Asmis 1991. Das Bewegen der Seele bezeichnet Philodemos herk ¨ ommlicherweise mit dem Terminus ψυχαγωγ α . Wie Wi- 214 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Hier konnte Philodemos im Ansatz dem Homer-Exegeten Megakleides von Athen (4. Jh. v. Chr.) zustimmen, der auch Emotion und Vergn ¨ ugen als Effekte der Dichtung herausgestellt zu haben scheint. Jedoch wandte sich Philodemos gegen die Behauptung einer Analogie von musikalischer und poetischer Wirkung, die der Peripatetiker aufgestellt hatte. F ¨ ur Philodemos unterschieden sich Lied und Rhythmus dadurch von Werken der Verskunst, daß sie zwar ebenfalls eine gewisse Gestimmtheit erzeugten, aber keine Wirkung auf die Seele auszul ¨ osen vermochten. Wie er sowohl in den B ¨ uchern ¨ Uber Gedichte als auch in denen ¨ Uber Musik ( Περ μουσικ ς ) ausf ¨ uhrte, bleibt der Effekt musikalischer Darbietungen darauf beschr ¨ ankt, das Ohr des H ¨ orers anzusprechen und in ihm einen gef ¨ alligen, Vergn ¨ ugen bereitenden akustischen Eindruck zu hinterlassen. Dichtung dagegen richte sich an den Intellekt, m ¨ usse inhaltlich erfaßt und verstanden werden und bewege, wenn dies ersch ¨ opfend geschehe, auf Grund ihrer gedanklichen Seite die Seele des Rezipienten. 100 Mehreren Kritikern h ¨ alt Philodemos entgegen, daß die sprachliche Komposition eines Gedichts an sich nicht lobenswert sei, sondern nur, weil sie Gedanken pr ¨ asentiere, welche die Seele in Bewegung bringen. Mit der Koppelung der psychagogia an die vom Verstand zu verarbeitende Gedanklichkeit eines Gedichts hat Philodemos sicher eine andere Konzeption vertreten als Neoptolemos. Er hat auch eine totale Gegenposition bezogen zu Kritikern, die meinten, man brauche Poesie nicht zu verstehen, um von ihr beeindruckt zu sein, 101 oder es gehe bei ihr ¨ uberhaupt nur um den Wohlklang, um das auditive Vergn ¨ ugen, wie Krates von Mallos (2. Jh. v. Chr.) und dessen in der hellenistisch-r ¨ omischen Epoche sehr einflußreicher Anh ¨ angerkreis lehrten. Weil es nach Philodemos die Gedanken des Gedichtes sind, welche die Wirkung auf die Seele in Aktion setzen, die Gedanken aber zuerst verstanden und godsky gezeigt hat, verstand man darunter nacharistotelisch vielfach nur noch ”makes impression“, ”is effective“, ”charms“ oder ”gives pleasure“; der Bezug auf konkrete Emotionen ist der Charakterisierung einer positiv zu bewertenden Befindlichkeit gewichen (Appendix: The Meaning of ψυχαγωγ α in Philodemos, in: Obbink 1995: 65-68). 100 Philodemos ¨ außert sich dazu im 1. Buch des Werkes ¨ Uber Gedichte. Siehe dazu in der verdienstvollen Edition von Richard Janko, Philodem, On Poems, Book I, Oxford 2000, das Frg. 151, S. 360. Dort findet sich auch der Einwand gegen Megakleides, er habe Musik und Verse in der Wirkung gleichgesetzt. Janko hat dem Kritisierten eine eigene Abhandlung gewidmet (138-143). Cicero tr ¨ agt der Trennung der Wirkungsweisen bei den Redeelementen Rechnung, vgl. Orator 162: Klang und Rhythmus richten sich an die Ohren (aures) und das Gef ¨ uhl (sensus), Inhalte an den Verstand (ratio). In ¨ Uber Musik behandelt Philodemos das Problem von Musik und Dichtung unter dem Aspekt des Nutzens: Musik bringe moralisch nichts ein, Dichtung dagegen kann moralisch n ¨ utzen, weil sie Gedankengut vermittelt, das die Seele bewegen kann (vgl. A. Neubecker, Philodemus, ¨ Uber die Musik, IV. Buch, 1986, col. 5, 20ff.). 101 Als Repr ¨ asentanten dieser Auffassung kritisiert Philodemos den Theoretiker Herakleodoros. ¨ Uber ihn Janko 2000: 155-165. Wirkung auf die Psyche 215 intellektuell verarbeitet werden m ¨ ussen, betrachtet er die psychagogia als einen in seinen wesentlichen Teilen rational beherrscht ablaufenden Prozeß. In Gang gebracht werden k ¨ onne er nur bei H ¨ orern, deren geistiges Format hinreicht, den Gedankengehalt eines Gedichts zu erschließen. Es bedeutet dies, daß Philodemos f ¨ ur die volle und richtige Wirkung eines Gedichts auf die Seele einen H ¨ orer mit Bildung und Verstand voraussetzt. Bei der Mehrheit der Menschen hinterl ¨ aßt die Dichtung deshalb nur oberfl ¨ achliche emotionale Effekte, wenn nicht gar sch ¨ adliche Eindr ¨ ucke. Es ist offenkundig, daß sich Philodemos’ epikureischer Skeptizismus in manchen Punkten mit dem der stoischen Affektenlehre ber ¨ uhrte. Schon nach der vom Schulgr ¨ under Zenon (ca. 334 bis 262/ 1) verk ¨ undeten Auffassung war jede Emotion eine unvern ¨ unftige und naturwidrige Seelenbewegung, die der Mensch ¨ uberwinden mußte. Nur die Apathie erm ¨ oglichte ihm nach allgemeiner stoischer Lehre ein gl ¨ uckseliges Leben, das Erreichen seines ethischen Zieles. 102 Von den vier Grundaffekten, die sie heraushoben - Lust, Begierde, Bek ¨ ummernis und Furcht -, hat die Stoiker vor allem die Lust besch ¨ aftigt. Sie wurde zwar ebenfalls als irrationale Bewegung der Seele beargw ¨ ohnt, doch mußte andererseits anerkannt werden, daß sie die Gl ¨ uckseligkeit nicht nur gef ¨ ahrden, sondern im Gegensatz zu den Affekten der Unlust ja auch f ¨ ordern konnte. Heraus kam eine Unterscheidung zwischen ’guter‘ und ’schlechter‘ Lust, deren Nachhall bis in Senecas 59. Brief reicht, in die Er ¨ orterung der begrifflichen Unterscheidung von gaudium und voluptas. 103 Die Dichtung erscheint in stoischer Sichtweise als ein zwiesp ¨ altiges Kulturprodukt, selbst wenn sie Vergn ¨ ugen, also Lust zu bereiten verheißt. Der stoische Philosoph kommt auch dann nicht daran vorbei, daß sie die Apathie st ¨ oren, sogar eine T ¨ auschung bewirken kann. In letzter Instanz hing die Stellung zur Dichtung davon ab, wie man ihr Verm ¨ ogen einsch ¨ atzte, zu einem ’guten‘ Leben des Menschen beizutragen. Soweit die Dichtung geeignet war, die Zuh ¨ orer im Sinn der stoischen Ethik und Moral zu beeinflussen, erschien ihre erregende Wirkung auf die Seele, dem h ¨ oheren Gut zuliebe, hinnehmbar. Was Horaz in der Ars poetica zur Emotionalisierung des H ¨ orers durch die Dichtung formulierte, war also weder mit den Vorstellungen vereinbar, die Philodemos entwickelt hatte, noch ließ es sich mit den Leitideen des Stoizismus verbinden. Philodemos hatte einen maßvollen seelischen Impuls gutgeheißen, sofern er die Reflexion ¨ uber die inhaltlich-gedankliche Seite einer Poesie f ¨ orderte, vor allem im Hinblick auf die Befindlichkeit und das Lebensziel des Menschen. Die Verkn ¨ upfung der Emotion mit der Reflexion, um die Philodemos das epikurei- 102 SVF I, 205; III, 385, 391-394, 443-445. 103 Seneca, Epistulae Morales 59, 1: Antwort Senecas an Lucilius, sein Brief habe ihm ”hohen Genuß“ (magnam[ . . . ] voluptatem) verschafft. Seneca entschuldigt sich, entgegen stoischem Usus voluptas nicht mit der significatio stoica gebraucht zu haben. Nach dieser habe voluptas als Laster zu gelten: vitium esse voluptatem credimus. 216 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele sche Dichtungsverst ¨ andnis erg ¨ anzt hatte, fand trotz offen bekundeter Sympathie f ¨ ur den Epikureismus bei Horaz keine erkennbare Ber ¨ ucksichtigung. Sehr entschieden hob sich die Konzeption der Ars poetica andererseits von der Generallinie der Stoiker ab, die obendrein Spott hinnehmen mußten. Ihre Beschr ¨ ankung der Dichtung auf ein Programm der ethisch-moralischen Besserung der menschlichen Natur und der Gesellschaft widersprach Horaz’ offenem Kunstbegriffwie auch seiner individualistisch gepr ¨ agten Pers ¨ onlichkeitsauffassung. 104 Was sollte also die von Horaz in der Ars poetica v. 99ff. mit den Versen non satis est pulchra esse poemaata: dulci sunto / et quocumque volent animum auditoris agunto neben der Formvollendung geforderte seelische Wirkung der Gedichte bezwecken? Sie sollte allem voran Lust- und Wohlgef ¨ uhle ausl ¨ osen, was wir der Anweisung dulcia sunto (”s ¨ uß sollen Gedichte sein“) entnehmen. Lust- und Wohlgef ¨ uhle geh ¨ orten zum Erreichen des epikureischen Seelenfriedens und des Lebensideals der Eudaimonia (Gl ¨ uckseligkeit, lat. vita beata). Der Aufgabe, zu diesem Ziel zu verhelfen, stellt Horaz mit der Zweckbestimmung animum auditoris agunto (”die Seele des H ¨ orers sollen Gedichte bewegen“) den Auftrag an die Seite, auch zu r ¨ uhren, zu ergreifen, zu ersch ¨ uttern. Sind die Gef ¨ uhle echt und in ihrer ganzen Tiefe selbst empfunden, die der Dichter durch sein Werk weitergibt, so kommt im Rezipienten ein empathisches Mitempfinden zustande: Er lacht mit den Lachenden und er weint mit den Weinenden, wie es im anschließenden Vers heißt. In Gl ¨ uck und Leid Mitgef ¨ uhl des Menschen mit anderen zu wecken, geh ¨ ort f ¨ ur Horaz danach auch zum Nutzen (prodesse) der Dichtung. Sp ¨ atere Theoretiker, die nicht einer einzelnen Schulmeinung das Wort redeten, orientierten sich an der alten Auffassung, daß die Erregung des Gem ¨ uts schon selbst der Zweck der Dichtung sei. Der unter dem Namen Pseudo-Longinos gef ¨ uhrte anonyme Verfasser der Schrift ¨ Uber das Erhabene ( Περ ψους ) definiert, ”daß das Ziel der dichterischen Phantasie Ersch ¨ utterung ( "κπληAις ) ist“. 105 So ¨ ahnlich meinte es auch noch der 129 n. Chr. geborene, haupts ¨ achlich als medizinischer Schriftsteller bekannte Galenos. Er wird hier herausgehoben, weil er sich ausdr ¨ ucklich noch einmal gegen die These der Belehrung gewandt hat: ”Ich glaube, daß Ihr [sc. Pindar und andere] die H ¨ orer betroffen machen und bezaubern, aber nicht belehren wollt.“ 106 104 Obwohl Horaz im Maecenas-Brief (epist. 1, 1, 14) bekundete, er sei ”keinem Meister verpflichtet, auf seine Worte zu schw ¨ oren“, bekannte er sich wiederholt zum Epikureismus. Statt eines auf die Philosophie selbst gerichteten Interesses nahm er sich der Seite der praktischen Lebensf ¨ uhrung nach epikureischen Grunds ¨ atzen an, deren Folgerungen in der ber ¨ uhmten Devise carpe diem ”genieße den Tag“ (carm. 1, 11, 8) gipfelten. Gute, auf Gedichtinterpretationen gest ¨ utzte Darstellung der philosophischen Hintergr ¨ unde von Eckard Lef` evre 1993 (in den Kapiteln 14 ’Philosophie des Individuums‘ und 15 ’Der Dichter und die Kunst‘ ). 105 Pseudo-Longinos, De sublimitate 1, 5, 2. 106 Galenos, De usu partium 3, 1, p. 171 Kuehn = p. 125, 4f. Helmreich. Freude und Vergn ¨ ugen 217 7.5 Freude und Vergn ¨ ugen 7.5.1 Freude und Vergn ¨ ugen, ein altes Ziel Dichtung macht Freude, bereitet Vergn ¨ ugen (griech. Xδον , h ¯ edon ´¯e ; lat. delectatio) - das ist das fr ¨ uheste Urteil ¨ uber Wirkungsziel und Effekt der poetischen Kunst, das wir besitzen. Es ist so alt wie die ¨ uberlieferte antike Dichtung selbst, denn es geh ¨ ort zu den bereits von der Homerischen Epik vertretenen Grundanschauungen. Die Ilias bietet dazu eine sehr bezeichnende Szene: Der in seiner Ehre tief verletzte Achilleus hat sich vom Heer der Griechen getrennt und grollend in sein Zelt zur ¨ uckgezogen. Als eine Bittgesandtschaft der F ¨ ursten kommt, um ihn umzustimmen, denn ohne ihn scheint die Sache der Griechen verloren, da trifft sie ihn in der Gesellschaft des Freundes Patroklos singend und spielend an. Ein Lied und der Klang einer kostbaren Leier sollen ihm in seiner d ¨ usteren Stimmung Freude schenken: ”Sie fanden ihn, wie er gerade sein Herz an der kunstvollen, sch ¨ on klingenden Leier erfreute“ (9, 186ff.). Das Lied, das er dazu sang, handelte wie der Vortrag eines S ¨ angers in der Festversammlung von den ”Ruhmestaten der M ¨ anner“. Und der Dichter wiederholt: ”Damit erfreute er sein Herz“ (IX, 189), wie um zu betonen, wie sehr Lied und Musikbegleitung Freude bewirken, sogar großen Verdruß einen Augenblick lang vergessen machen k ¨ onnen. Selbst G ¨ ottern bereitet ein Lied Freude und stimmt sie geneigt: Zur L ¨ osung von der von Apollon gesandten Pest haben die abfahrbereiten jungen griechischen Krieger dem Gott einen r ¨ uhmenden Paian dargebracht; ”Der freute sich, als er es h ¨ orte“ (1, 474), und hob den Bann auf. In der Odyssee, die anstelle der Kampfschilderungen das Erz ¨ ahlen wundersamer Geschehnisse in den Vordergrund r ¨ uckt, erh ¨ alt das Lied einen gr ¨ oßeren Raum durch den Auftritt ”g ¨ ottlicher S ¨ anger“ vor der versammelten Hofgesellschaft. Nie vergißt es der Odyssee-Autor, ausdr ¨ ucklich hervorzuheben, daß deren Lied ”Freude macht“. In 8, 42ff., der Einladung zu einem Festgelage mit dem noch unerkannten Ank ¨ ommling Odysseus, l ¨ aßt der Phaiakenk ¨ onig auch den blinden S ¨ anger Demodokos herbeirufen, ”welchem ein Gott vor allem Gesang gab“ - so heißt es - ”um zu erfreuen, so oft das Herz zu singen ihn antreibt“ (44f.). Mußte Demodokos im Vortrag eine Pause einlegen, dr ¨ angten ihn aber alsbald wieder zu singen ”von den Phaiaken die besten, da sie an den Worten sich freuten“ (90f.). Odysseus jedoch h ¨ orte trauernd von den Schicksalen der von Troia nach Hause Irrenden; er hatte M ¨ uhe, seine Tr ¨ anen, die ihn verraten h ¨ atten, zu verbergen. Beruhigung des Gem ¨ uts verschaffte ihm schließlich, daß Demodokos das Thema wechselte und ein Lied ¨ uber die Liebe des Ares zu Aphrodite vortrug: Nun erf ¨ ullte der Gesang auch ihn mit Freude: ”Dies sang der ber ¨ uhmte S ¨ anger; aber Odysseus freute sich, als er es h ¨ orte, sowie auch die anderen M ¨ anner“ (367ff.). In einer Parallelszene zum Auftritt des Demodokos bei den Phaiaken erscheint auch ein S ¨ anger am Hof der um ihren Gatten bangenden und von Freiern be- 218 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele dr ¨ angten Penelope. Vor der gespannt zuh ¨ orenden M ¨ annerrunde besingt er ”der Achaier traurige Heimfahrt“ (1, 326). Wie Demodokos’ Liedbericht Odysseus in der Erinnerung an die verlorenen Gef ¨ ahrten zu Tr ¨ anen r ¨ uhrt, ersch ¨ uttert hier der Gesang die von einem oberen Stockwerk des Palastes zuh ¨ orende Penelope, so daß sie hinabsteigt und dem ”g ¨ ottlichen S ¨ anger“ von etwas anderem zu singen gebietet. Aber Telemachos belehrt seine Mutter, daß nicht der S ¨ anger, sondern Zeus daran schuld sei, daß ¨ uber die R ¨ uckkehr aus Troia Verh ¨ angnisvolles berichtet werden muß. Der S ¨ anger wolle mit der Kunde, die er vortr ¨ agt, doch nur erfreuen: ”Meine Mutter, was willst Du dem werten S ¨ anger verargen, uns zu erfreuen mit dem, wozu es ihn treibt“ (1, 346ff.). Die Bekr ¨ aftigung, daß das Lied Freude machen will, ist eine Stereotype in der Schilderung des S ¨ angerauftritts, und stereotyp sind auch die W ¨ orter, die das Wirkungsziel bezeichnen: τ ρψις (t ´ erpsis) und Xδον ( h¯edon´¯e ) ”Freude, Vergn ¨ ugen, Lust“. Beide Bezeichnungen werden in der poetologischen Diskussion genutzt. Hier fragt sich nun, was in der archaischen Epik mit τ ρψις und Xδον als Wirkungen des S ¨ angervortrags gemeint war. Nat ¨ urlich ging es auf der untersten Zielebene um kurzweilige, das Gem ¨ ut ansprechende Unterhaltung beim Festgelage, doch war sie verbunden mit der Evokation glorreicher Taten von G ¨ ottern und Menschen, die den Stolz auf das eigene Geschlecht befl ¨ ugelten, ein begl ¨ uckendes Gemeinschaftsgef ¨ uhl verbreiteten und Maßst ¨ abe f ¨ ur das eigene Handeln vor Augen stellten. Freudige Gestimmtheit l ¨ oste es auch aus, daß der S ¨ anger Kunde gab von der Welt - von dem, was war, was ist und was sein wird - und damit den Nachrichtenhunger der Zuh ¨ orer, die ¨ uber alles viel erfahren, viel wissen wollten, gut bedienen konnte. Zu alledem bezeugen die Texte den freudig stimmenden ¨ asthetischen Effekt des Liedvortrags: Ihm habe die Muse ”s ¨ uße Ges ¨ ange“ geschenkt, heißt es von Demodokos in der Odyssee (8, 64). Ihm zuzuh ¨ oren, bereite Genuß, wie Odysseus seinem Gastgeber Alkinoos versichert: ”Ja, es ist wahrlich sch ¨ on, einem solchen S ¨ anger zu lauschen, / so wie dieser ist, an Stimme den G ¨ ottern vergleichbar“ (9, 3f.). Es gibt ”lieblicher keine Erf ¨ ullung“ als bei Speise und Trank den Gesang zu genießen, f ¨ ugt Odysseus an. ”Dies scheint mir das Sch ¨ onste zu sein, wenn ich es bedenke“ (9, 9-11). Je nach den Umst ¨ anden, in denen von ihr die Rede ist, kann die Gem ¨ utsbewegung der ”Freude“ also eine ¨ uberwiegend soziale, moralische, epistemische oder ¨ asthetische Grundierung haben. Einen sozialen Grundton hat die Freude, die Sappho (um 600 v. Chr.) mit ihren Liedern schaffen will, w ¨ ahrend sie sich im ¨ ubrigen von der fr ¨ uhgriechischen Dichtung einzigartig abhebt. Statt zu r ¨ uhmen, zu preisen, von Großem zu k ¨ unden oder Lehren auszuteilen, ist ihr Trachten darauf gerichtet, die ganz pers ¨ onlichen Empfindungen und Erfahrungen auszusprechen, die das gemeinschaftliche Leben mit dem Kreis der jungen Gef ¨ ahrtinnen und Freundinnen mit sich bringt: Die Begl ¨ uckung durch Zuneigung und Liebe, die Sehnsucht nach Erf ¨ ullung, den Freude und Vergn ¨ ugen 219 Schmerz der Trennungen und Abschiede. Die erhaltenen Verse legen den Schluß nahe, daß Sappho die emotionalen Bindungen des M ¨ adchenkreises, dem sie vorstand, durch die freudige Reaktion festigen wollte, mit der die Empf ¨ angerinnen die Poesie aufnahmen. ”Meine Ges ¨ ange will ich sch ¨ on singen f ¨ ur meine Freundinnen“, heißt es wirkungs ¨ asthetisch formuliert in einem Versfragment 107 . Und auch wenn wir nichts N ¨ aheres ¨ uber Anlaß, Thema und Adressat einer anderen Dichtung wissen, belegt deren Bruchst ¨ uck mit den Worten ”Sie erfreute sich besonders am Gesang“ 108 , daß Sappho die Freude anderer an Dichtungen als einen Beweggrund poetischen Schaffens angesehen hat. Im 5. Jahrhundert markieren Thukydides und Gorgias einen entscheidenden Wendepunkt in der Beurteilung der Freude, die mit der Dichtung verbunden war. Die heftige Kritik der Philosophen an der mangelnden Wirklichkeitswiedergabe, der Vorwurf, die Erkenntnis zu verf ¨ alschen statt sie zu f ¨ ordern, und schließlich die Entdeckung der Fiktionalit ¨ at als Wesensmerkmal haben zu jener Zeit dazu gef ¨ uhrt, Dichtung und Wahrheit voneinander zu trennen. Solons Diktum ”Viel Unzutreffendes erz ¨ ahlen die Dichter“ 109 steht ¨ uber einer Epoche, die in ihrer Suche nach sicheren Quellen der Erkenntnis den Werken der Dichter in positiver Auslegung ihrer Funktion nur noch zubilligen will, reine Unterhaltung zu bieten, kurzweiliges Vergn ¨ ugen zu bereiten. Hatte Lust zu erzeugen bislang als e i n Ziel im Verein mit anderen Zielen gegolten, so kam es jetzt dazu, daß manch einer der Dichtung nur noch die Funktion eines vergn ¨ uglichen Zeitvertreibs zuerkannte. Es ist verst ¨ andlich, daß Kritik am Wahrheitsgehalt poetischer Berichte und Schilderungen laut von Seiten der Historiographen erhoben wurde. Vor allem war es Thukydides (ca. 460-ca. 400), der Begr ¨ under einer auf kritische Pr ¨ ufung der Quellen gest ¨ utzten Geschichtsschreibung, die das Geschichte(n)erz ¨ ahlen nach Art Hesiods durch m ¨ oglichst exakte Berichterstattung ersetzt sehen wollte, der das Wahrheits- und Realit ¨ atsdefizit der Dichtung zum Anlaß nahm, ihr jede Autorit ¨ at in Wissensfragen abzusprechen. Mit offenkundiger Herabsetzung schr ¨ ankte er den Daseinszweck und die F ¨ ahigkeit der Poesie darauf ein, bei H ¨ orern und Lesern Freude wecken zu k ¨ onnen. 110 107 Frg. 160 Lobel/ Page: τ δε νCν (τα ραις τα ς "μαις τ ρπνα κ λως ε σω. 108 Frg. 96, 5: δ μ λιστO "χαιρε μ λπαι . Die g ¨ angige Interpretation versteht das Gedicht als einen Trost Sapphos an Atthis: Atthis ist ¨ uber die Abwesenheit einer Freundin ungl ¨ ucklich, an deren Gesang sie sich erfreute. 109 ¨ Uberliefert von Plutarch, Moralia 16A9 [Quomodo adolescens poetas audire debeat]: πολλ= ψε<δονται οιδο . 110 Thukydides, Historien 1, 21, 1: 1ς ποιητα Wμν κασι περ α; τ: ν (π τ με%ζον κοσμοCντες μ5λλον πιστε<ων, ο_τε 1ς λογογρ φοι Aυν θεσαν (π τ προσαγωγ τερον τ@> κρο σει 9 ληθ στερον, rντα νεA λεγκτα κα τ= πολλ= Wπ χρ νου α; τ: ν π στως (π τ μυθ: δες (κνενικηκ τα. 220 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Auf Seiten der Philosophen, deren erkenntnistheoretisch begr ¨ undete Ablehnung der Dichtung seit Heraklits Bannspruch gegen Homer und Archilochos zu verfolgen ist, hat unter den Vorsokratikern am systematischsten der Sophist Gorgias (ca. 480-ca. 380) die Doktrin vertreten, die Werke der Poeten h ¨ atten nur den Sinn, Freude zu erregen. Die Beschr ¨ ankung der Dichtung auf den Zweck Lust bewirkender Unterhaltung resultierte bei Gorgias aus einem totalen Skeptizismus, was das menschliche Erkenntnisverm ¨ ogen und die Mitteilbarkeit von Einsichten betrifft. Seine Lehre lief n ¨ amlich auf einen radikalen Agnostizismus hinaus: Poetologisch war aus ihr nur zu folgern, daß Dichtung Schein ist oder bietet, also nichtig ist; daß auf keinen Fall Erkenntnis aus ihr zu gewinnen ist; daß schließlich mit ihr nichts mitgeteilt werden kann, wenn etwas mitzuteilen w ¨ are. So erweist sich die Dichtung als ein Produkt der Einbildungskraft von bloßem Unterhaltungswert. Ihr Inhalt ist Trug und T ¨ auschung. Nach Plutarch hat Gorgias das an der exemplifiziert, die dem Publikum L ¨ angstvergangenes als sinnf ¨ allig Gegenw ¨ artiges vorgaukle, obendrein so, wie es nicht gewesen sein kann und nicht gewesen ist. In der Summe m ¨ undete Gorgias’ Denken in eine allgemeine Theorie des Sich- ¨ Außerns, in der alles Sagen, ”Dichten, Schreiben eine ¨ uberredende Beschw ¨ orung des Als-Ob“ 111 , eine Besch ¨ aftigung mit dem bloßen Schein darstellt. Wo nichts Wirkliches, nichts Wahres ausgesagt werden kann, bleibt dem Rezipienten nur, die Dicht- und Redekunst zu verdammen, oder die Illusion, die sie schafft, lustvoll-wissend zu genießen. Gorgias votiert f ¨ ur den Lustgewinn, ganz gleich, wie es sich mit dem Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch verhalten mag. Mit dieser Option hat er immerhin eine zukunftsweisende Entscheidung getroffen, denn die positive Kehrseite der Ablehnung des Wirklichkeits- und Wahrheitsbezugs der Dichtung sowie der Beschr ¨ ankung ihres Wirkungspotentials auf die Erregung von Freude war die Erkenntnis der Fiktion als tragendem Bestandteil der Literatur. Gorgias hat der heftig kritisierten Erfindung erkenntnistheoretisch den Weg bereitet. Nun konnte gefolgert werden: Wer gut erfindet, erzeugt viel Freude, ist, in gorgianischen Bahnen weitergedacht, ein guter Dichter. Tats ¨ achlich formuliert hat eine solche Folgerung der anonyme, ebenfalls zum Kreis der Sophisten zu rechnende Verfasser der Δισσο λ γοι (Dissoi logoi, ”Zweierlei Aussagen“), vermutlich gegen Ende des 5. Jhs. In der Trag ¨ odiendichtung - sie repr ¨ asentiert die Dichtung im allgemeinen - sei ”der der beste, der am meisten vort ¨ auscht, indem er es dem Wirklichen gleichmacht“. 112 Ohne sich auf eine philosophische Begr ¨ undung zu st ¨ utzen, etwa die Argumentation des Lehrmeisters Gorgias zu ¨ ubernehmen, statuiert der Anonymus deswei- 111 So Kannicht 1980: 27. 112 Vgl. Diels/ Kranz 90, 3, 10 (= S. 410, Z. 29ff.): (π δ τ=ς τ χνας τρ ψομαι κα τ= τ: ν ποιητ: ν. (ν γ=ρ τραγωιδοποι αι κα ζωγραφ αι Zστις 〈κα〉 πλε%στα (Aαπατ@ι Zμοια το%ς ληθινο%ς ποι ων, οxτος #ριστος. Freude und Vergn ¨ ugen 221 teren, es gehe dem Dichter bei seinem Schaffen nicht um Wahrheit, sondern nur um das Vergn ¨ ugen ( Xδον ) des Publikums. 113 7.5.2 Freude und Vergn ¨ ugen in hellenistischer Dichtungskritik In ihren psychologischen und ethischen Betrachtungen haben Demokrit, Platon und Aristoteles wiederholt die Gef ¨ uhle der Lust und der Unlust angesprochen. Auf Aristoteles’ Verbindung der k ¨ unstlerischen Mimesis mit der den Erkenntnisprozeß begleitenden Lust werden wir sp ¨ ater zur ¨ uckkommen (7.5.4). Ihren H ¨ ohepunkt erreichte die Hinwendung zur Lust/ Unlust-Problematik mit der Lehre Epikurs (342/ 1-271/ 0 v. Chr.), der sie in eine Philosophie der praktischen Lebensgestaltung einf ¨ ugte. Diese sollte dem Menschen zum h ¨ ochsten Gut seines Lebens, der Gl ¨ uckseligkeit, verhelfen, einem Zustand, der durch innere und ¨ außere Affektionen nicht beeinflußbaren Ruhe in sich selbst. Erreicht wird der Zustand mit einer naturgem ¨ aßen Lebensf ¨ uhrung, die klug zwischen Lust und Unlust, den bestimmenden Faktoren in der Daseinsempfindung, zu unterscheiden und zu w ¨ ahlen weiß. Zwar zielt das nat ¨ urliche Streben eines jeden Menschen auf die Lust, doch wer die Gl ¨ uckseligkeit erreichen will, die den vollkommenen Seelenfrieden (atarax´ıa) einschließt, muß bei jeder Handlung oder Unterlassung erw ¨ agen, ob durch sie die absolute Freiheit von k ¨ orperlichem oder seelischem Schmerz und von allen Arten von Begierden erwirkt werden kann, auf der das Lustgef ¨ uhl beruht. Dichtung, Musik und bildende Kunst werden in der Philosophie Epikurs daran gemessen, wie sie zur Lust und zur Gl ¨ uckseligkeit beitragen. Da nur drei Lehrbriefe des Philosophen vollst ¨ andig und im Ganzen sicher zuschreibbar ¨ uberliefert sind, m ¨ ussen seine Ansichten hierzu aus verschiedenen Zeugnissen, vor allem bei Plutarch, Sextus Empiricus, Diogenes La ¨ ertios sowie seinen Sch ¨ ulern und Gegnern zusammengetragen werden, mit dem Risiko, daß eben Interpretamente f ¨ ur authentische Eigen ¨ außerungen stehen. Das Verh ¨ altnis der epikureischen Schule zur Dichtung wird bestimmt von der grundlegenden Lehre, daß die Dinge f ¨ ur den Menschen prinzipiell unerkennbar sind. Die Sinneswahrnehmung liefert dem Verstand bloß subjektive Bilder und Eindr ¨ ucke von der Welt, deren Aufnahme von Empfindungen der Lust oder der Unlust begleitet ist. Da es f ¨ ur sie kein ¨ Uberschreiten der subjektiven Wahrnehmungsgrenzen gibt, vertreten Epikureer erkenntnistheoretisch einen radikalen Agnostizismus. Da grunds ¨ atzlich nichts erkannt werden kann, kann es nat ¨ urlich auch kein Wissen geben. Es folgt daraus, daß alles, was traditionell als Wissen ausgegeben und vermittelt wird, nur Irrtum und Trug ist. Der Weise soll sich da- 113 Diels/ Kranz 90, 3, 17 (= S. 411, Z. 19ff.) : τ χνας δ (π γονται, (ν α`ς ο; κ "στι τ δ καιον κα τ #δικον. κα το ποιητα ο; [το] ποτ λ θειαν, λλ= ποτ τ=ς \δον=ς τ: ν νθρYπων τ= ποι ματα ποι οντι. 222 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele her von den herk ¨ ommlichen Bildungsg ¨ utern fernhalten, um seines Seelenfriedens willen; auch von ¨ offentlichen Gesch ¨ aften und allen Strebungen und Begierden, welche die Lust, das einzig Erstrebenswerte im Leben, beeintr ¨ achtigen k ¨ onnten. Sein Interesse hat sich nur auf die eigenen Stimmungen, Empfindungen und Verhaltensweisen zu richten, die es ihm erm ¨ oglichen, das Dasein in Lebensgenuß und Gl ¨ uckseligkeit zu bew ¨ altigen. Wegen der Ablehnung der Erkenntnisf ¨ ahigkeit und allen traditionellen Wissens mußte Epikurs Lehre die ¨ ubliche Erziehung in Bausch und Bogen verwerfen. Sie korrumpiere den Menschen, hindere ihn am Erreichen der Gl ¨ uckseligkeit. Daran ¨ anderte auch Platons Reformkonzept f ¨ ur die Bildung nichts. Dieser hatte im 3. Buch des Staates eine nach St ¨ anden gestufte Erziehung und Ausbildung vorgesehen. Sie sollte sich beim W ¨ achterstand auf Gymnastik und Musik konzentrieren, bei den k ¨ unftigen Regenten sollte eine wissenschaftliche Schulung insbesondere in Mathematik, Geometrie, Astronomie und Harmonik hinzukommen und ihren Abschluß mit der Wissenschaft von den Ideen, der Dialektik, erreichen. Obwohl Epikur mit Platon in der Ablehnung der Dichtung, auch Homers, als Quelle von Weisheit ¨ ubereinstimmte, verk ¨ undete er ein ’Bildungskonzept‘ , das gegens ¨ atzlicher nicht h ¨ atte sein k ¨ onnen: das Konzept einer nach herk ¨ ommlichen Begriffen absoluten Ungebildetheit. Seinem Sch ¨ uler Pythokles sch ¨ arfte Epikur in einem Brief ein, er solle so, wie einst Odysseus es tat, um den Verlockungen der Sirenen zu entgehen, die Segel spannen, um alle Bildung zu fliehen. 114 Je weniger einer von der ¨ ublichen Vorbereitung auf das Leben mitbekommen habe, desto ’reiner‘ w ¨ are er, als Lehrer der Wahrheit die epikureische Philosophie in sich aufzunehmen und mit ihr die Gl ¨ uckseligkeit zu erreichen. Um zu diesem Ziel des Lebens zu gelangen, war Dichtung weder notwendig noch n ¨ utzlich. Strenge Epikureer verwarfen sie als Teil des traditionellen Bildungssystems und - im Gegensatz zu den Stoikern - auch als Instrument der moralischen Erziehung. Wie Sextus Empiricus berichtet, verurteilten sie ebenso die Dichtererkl ¨ arung der grammatici, zumal diese Mittler im Interesse ihres Berufsstandes auf der Notwendigkeit und dem Wert ihrer Interpretationen bestanden, gleichzeitig die poetischen Werke als Quellen der Weisheit und des Gl ¨ ucksempfindens in philosophische H ¨ ohen hoben. 115 Sextus Empiricus zufolge geh ¨ orte die Unterstellung der Sch ¨ adlichkeit der Dichtung zu den Grund ¨ uberzeugungen der Epikureer. Mit Blick auf die grammatici sind nach Sextus vor allem drei Argumentationspunkte gegen die Dichtung vorgebracht worden: Obwohl sie manchmal N ¨ utzliches bieten k ¨ onne, enthalte sie weit mehr, was schade; da sie auch kaum kl ¨ are, was gut und was schlecht ist, bewahre sie den Zuh ¨ orer oder Leser nicht davor, das 114 Frg. 163 Usener. 115 Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 1 [=Adversus grammaticos], 170-173. Freude und Vergn ¨ ugen 223 Schlechte zu w ¨ ahlen. Sodann spreche gegen die Dichtung, daß Philosophen und Prosaautoren N ¨ utzliches dadurch lehrten, daß sie in allem die Wahrheit suchten, Poeten dagegen darauf zielten, die Seele zu bewegen, und weil nun einmal Falsches die Seele mehr bewege als Wahres, h ¨ atten sie eher das Falsche im Auge als die Wahrheit. Ferner sei die Dichtung eine Bastion menschlicher Leidenschaften; sie k ¨ onne zu Zorn, sexueller Z ¨ ugellosigkeit und zu Trunksucht verleiten. 116 Nur durch Philosophie k ¨ onne die Sch ¨ adlichkeit der Dichtung entsch ¨ arft werden. Die von Sextus angef ¨ uhrten Einw ¨ ande gegen die Dichtung sind ganz offenkundig stoisch eingef ¨ arbte Kritikpunkte. Wegen des Einflusses der stoischen Ethik und der Fortentwicklung der Lehre ist es jedoch schwierig, aus den Zeugnissen Sp ¨ aterer klar herauszusch ¨ alen, was davon Epikur selbst zur Dichtung vorgebracht hat. Als sicher gilt, daß er ihr jeden Nutzwert absprach, sie aber als Mittel der Unterhaltung und des Vergn ¨ ugens immerhin noch billigte, wenn der Weise sie kontrolliert und luststeigernd zu nutzen wußte. 117 Diogenes La ¨ ertios zufolge konnte der Weise nach Epikurs Urteil kompetent ¨ uber Dichtung und Musik sprechen, er sollte aber nicht selbst Gedichte machen. 118 Ebenso wenig wie von angenehmer, Kurzweil bereitender Poesie brauchte man sich von Vergn ¨ ugungen des Sehens und Zuh ¨ orens fernzuhalten; wie Plutarch berichtet, habe doch Epikur die Weisen als ’Liebhaber des Schauens‘ und des Zusehens und Zuh ¨ orens bei den liturgischen Festveranstaltungen bezeichnet. 119 Dichtung sowie Darbietungen in Musik, Tanz, Schauspiel zu genießen, stand dem in der Lehre Gefestigten nach diesen Mitteilungen also frei. Die Grenze zwischen N ¨ utzlichkeit und Sch ¨ adlichkeit der Kunst in Hinblick auf sein Lebensziel mußte er selbst bestimmen, f ¨ ur sich, wie es Epikurs individualistischem Grundkonzept entsprach. 116 Ebda. 1, 298; 1, 279f.; 1, 296f. 117 Ersch ¨ opfende Darstellung von Epikurs Dichtungstheorie von Elizabeth Asmis, Epicurean Poetics, in: Obbink 1995: 17-34 [Erg ¨ anzte Fassung eines Aufsatzes gleichen Titels in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy 7, 1991, 63-93]. Die Erkenntnistheorie behandelt die Verf. in: Epicurus’ Scientific Method, Ithaca 1984. Speziell zur Erkenntnistheorie jetzt F. J ¨ urß, Die epikureische Erkenntnistheorie, Berlin 1991. Zusammenfassende Darstellung der Philosophie Epikurs von M. Erler, Artikel ’Epikuros‘ , in: DNP 3 (1997), 1130-1140 [Kompetent geschriebener ’Forschungsstand‘ , der die Dichtungstheorie nur am Rande ber ¨ uhren kann]. M. Erler, Orthodoxe Anpassung: Philodem, ein Panaitios des Kepos? , in: MH 159 (1992), 172-200 [behandelt Weitergabe und Ver ¨ anderung des Epikureismus im Kulturtransfer Griechenland - Rom, mit Philodemos als Korrektor einer angeblich falsch interpretierten Bildungslehre des Meisters]. Zum Epikureismus des Philodemos auch E. Asmis, Philodemus’ Epicureanism, in: ANRW II, 36, 4 (1991), 2369-2406. 118 Diogenes La ¨ ertios, Vitae Philosophorum 10, 121. 119 Plutarch, Moralia 1095E-1096C. 224 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele F ¨ ur einen Epikureer strengster Observanz lag es dennoch nahe, die Dichtung in toto abzulehnen. Einen solch rigorosen Schulanh ¨ anger f ¨ uhrt Cicero in De finibus bonorum et malorum vor. Als Gespr ¨ achspartner ¨ uber den epikureischen Weg zum gl ¨ ucklichen Leben pr ¨ asentiert er den aus einer vornehmen Familie stammenden Freund Lucius Manlius Torquatus, obwohl dieser in seinen politischen Aktivit ¨ aten - er ließ sich u.a. f ¨ ur das Jahr 49 v. Chr. zum Pr ¨ ator w ¨ ahlen - gerade nicht dem Bild des aus der ¨ Offentlichkeit zur ¨ uckgezogenen Epikureers entsprach. Mit den Torquatus in den Mund gelegten Reden vermittelt Cicero die Lehre des Schulgr ¨ unders, allerdings nicht ohne in den eigenen Beitr ¨ agen auf kritische Distanz zu gehen, vor allem, wie sp ¨ ater auch bei Plutarch zu beobachten, was das Verh ¨ altnis zum Wissen und zur Wissenschaft betrifft. Den Bruch mit dem ganzen traditionellen Bildungsgut kann Cicero nat ¨ urlich nicht gutheißen. Torquatus hat es in der Gegenargumentation schwer, den bekannten Vorwurf, Epikur sei selbst ungebildet, daher der ¨ Uberlieferung gegen ¨ uber verst ¨ andnislos gewesen, stichhaltig zu entkr ¨ aften. Epikur sei nicht an herk ¨ ommlichen Maßst ¨ aben zu messen, l ¨ aßt Cicero den Freund dazu vortragen; f ¨ ur ihn habe es keine andere Bildung gegeben als die eine, welche die Ein ¨ ubung des gl ¨ ucklichen Lebens unterst ¨ utzte (1, 71). Und hier verdammt Torquatus nun auch jedwede Besch ¨ aftigung mit Dichtung; sie entbehre jedes wirklichen Nutzens (Nulla solida utilitas), sei nur ein kindisches Vergn ¨ ugen (puerilis delectatio). Schließlich beklagt sich Torquatus, von Cicero auch noch zur Lekt ¨ ure von Literatur gedr ¨ angt zu werden. 120 In der Rolle, die sie der Dichtung zuweisen, zeigen die Epikureer insgesamt also recht divergierende Auffassungen. Neben die radikalen Gegner der Poesie vom Typ des Torquatus, die sogar das H ¨ or- oder Lesevergn ¨ ugen ablehnten, das der Meister zur Unterhaltung zugestanden hatte, traten Schulanh ¨ anger gem ¨ aßigter Richtungen, wie Lukrez, der zur Verbreitung der epikureischen Naturlehre auf die Gedichtform zur ¨ uckgriff, weil sie die bittere ’Wahrheit‘ in einer Vergn ¨ ugen bereitenden Gestaltung, wie mit Honig ges ¨ ußt, vermittelte. Oder wie Philodemos von Gadara (ca. 110 - nach 40 v. Chr.), der f ¨ uhrende Kopf eines neapolitanischen Philosophen- und Dichterkreises unter dem M ¨ azenat des L. Calpurnius Piso, der zwischen orthodoxer und fortentwickelter epikureischer Dichtungstheorie eine Br ¨ ucke zu schlagen versuchte. Schon in der Antike bestand kaum Zweifel, daß Cicero mit dem in der Invektive In Pisonem (55 v. Chr.) erw ¨ ahnten quidam Graecus (72ff.) Philodemos gemeint hatte. Er spricht dort von ihm mit großer Hochachtung, macht aber auch deutlich, daß der sehr Gesch ¨ atzte gerade nicht dem ¨ ublichen Bild eines Epikureers entspreche: Er sei nicht nur in der Philosophie, sondern auch in den ¨ ubrigen Studiengebieten ¨ außerst fein gebildet, die die Epikureer nach allgemeinem Urteil vernachl ¨ assigten. Außerdem, bemerkt Cicero ausdr ¨ ucklich, verfasse er Gedichte, und zwar so geistvolle, so gut gef ¨ ugte, so elegante, daß nichts Ausgefeilteres 120 Cicero, De finibus bonorum et malorum 1, 72. Freude und Vergn ¨ ugen 225 gemacht werden k ¨ onne. 121 Von Cicero h ¨ oren wir aber auch, daß Philodemos als G ¨ unstling des L. Calpurnius Piso Gedichte geschrieben habe, die dessen moralische Verkommenheit mit delicatissimis versibus retuschierten. Wenn die Sache zutrifft, wenn Cicero seinem Gegner aus der einflußreichen Familie der Pisonen und den ihm mißliebigen Epikureern hier nicht bloß Nachteiliges unterschieben wollte, h ¨ atte Philodemos im eigenen Verhalten gegen seine oberste Forderung an den Dichter verstoßen, gegen das Postulat n ¨ amlich, daß Dichtung nicht n ¨ utzlich sein, keinem Zweck dienen solle, sondern nur ¨ asthetisch zu gefallen und dem Weisen intellektuell Vergn ¨ ugen und Genuß zu bereiten habe. Freilich hat sich Philodemos auch in der kleinen Schrift Homer ¨ uber den guten K¨ onig ( Περ τοC καθO ^Ομηρον γαθοC βασιλ ως ) nicht an seine Lehre gehalten; er r ¨ uhmt dort gerade den moralischen und praktischen Nutzen, den die Lekt ¨ ure Homers einem zur Regierung Berufenen f ¨ ur die Aus ¨ ubung der Herrschaft eintr ¨ agt. 122 Die großen kunsttheoretischen Werke des Neapolitaners ( ¨ Uber Gedichte = Originaltitel Περ ποιημ των ; ¨ Uber Musik = Περ μουσικ@ς ; ¨ Uber Rhetorik = Περ Eητορικ@ς ) sind uns weitgehend nur bruchst ¨ uckhaft bekannt, und zwar aus Papyrusfunden in der ’Villa dei Papiri‘ bei Herculaneum, die eine stattliche Bibliothek umfaßte. 123 Aus diesen Werken spricht eine eindeutige Dichtungstheorie. Sie geht von dem seit den Sophisten bekannten und von Platon versch ¨ arften Urteil aus, daß Poesie sch ¨ adlich sein k ¨ onne, was die Epikureer insbesondere auf St ¨ orungen des Seelenfriedens bezogen, der Voraussetzung f ¨ ur Gl ¨ uckseligkeit. Weil der Schaden gr ¨ oßer sei als der Nutzen, weil es viele Gedichte gibt, die negativ wirken, doch nur wenige, die Gutes auf den Weg bringen, gelangt Philodemos zu dem Schluß, daß der Sinn der Dichtung nicht in irgendeinem Nutzen liege, mit dem 121 Cicero, In Pisonem, 70, 5: poema porro facit ita festivum, ita concinnum, ita elegans, ut nihil fieri possit argutius. 122 Die seit der Textausgabe von A. Olivieri (Leipzig 1909) laufenden Bem ¨ uhungen, den ”clash between Philodemus’ Epicureanism and The Good King“ zu erkl ¨ aren, faßt E. Asmis in Obbink 1995: 19 zusammen. Sie selbst m ¨ ochte die Schrift in das epikureische Denken einordnen, mit der These, ”that the work is guided by Epicurean principles on the morality of poems“. ¨ Uberzeugen kann die Argumentation nicht, da sie die Grundhaltung des Epikureismus gegen ¨ uber der Poesie, n ¨ amlich die Verneinung ethisch-moralischer und praktischer N ¨ utzlichkeit, nicht aus dem Weg r ¨ aumen kann. 123 ¨ Uber die geplanten Arbeiten zur Herstellung gesicherter Texte bzw. Textteile sowie ¨ uber die maßgebenden Publikationen, auch zum Epikureismus, berichten gut informierend Obbink 1995: 270-281, und - mit besonderer Ausf ¨ uhrlichkeit, was die Schrift ¨ Uber Gedichte betrifft - R. Janko in dem philologisch herausragenden Werk (mit Textausgabe) ’Philodemus, On Poems, Book 1‘ , Oxford 2000 (S. 1-119, ’Conspectus Studiorum‘ 451- 461): Janko er ¨ offnete mit diesem Titel die von ihm, D. L. Blank und D. Obbink in Angriffgenommene Publikation aller ¨ asthetischen Schriften Philodemos’ mit kritisch redigiertem Text, englischer ¨ Ubersetzung und Kommentar. 226 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele sie zur Vervollkommnung des Menschen und zum Erreichen seines Lebensziels beitragen k ¨ onnte. Zu n ¨ utzen ist nach Philodemos die Funktion der Prosa. Den Beweis daf ¨ ur, daß N ¨ utzlichkeit kategoriell gar nichts mit Poesie zu tun habe, sieht er in der Tatsache, daß viele gute Gedichte bar jedes Nutzwertes sind. Sehr entschieden wendet sich Philodemos gegen alle poetologischen Konzepte, die - wie das des Neoptolemos - den Aspekt der N ¨ utzlichkeit herausgestellt haben. Konsequent aus dem Blickwinkel des epikureischen Lebensgenusses gesehen, besteht f ¨ ur Philodemos das Wirkungsziel der Dichtung allein darin, dem Rezipienten ein Vergn ¨ ugen zu verschaffen. Was mit dem Vergn ¨ ugen gemeint ist, bedarf scharfer Abgrenzung. Philodemos denkt n ¨ amlich nicht an irgendwelchen heiter stimmenden Zeitvertreib, will sich auch nicht hinreißen lassen vom Wohlklang von Wort, Sprachrhythmus und Metrik f ¨ ur das Ohr, sondern versteht unter dem Begriffdie intellektuelle Begl ¨ uckung, die sich beim Aufnehmen eines Gedichtes einstellt, in dem exzellente sprachliche Komposition und gedankliche Tiefe zur vollkommenen Einheit gebracht sind. Gr ¨ oßeres Gewicht als der Wirkung der - stets vorausgesetzten - perfekten Diktion kommt nach Philodemos dem gedanklichen Gehalt einer Dichtung zu. Er ist es, der den intellektuellen Impuls ausl ¨ ost und aufrechterh ¨ alt; die Form gibt lediglich den Rahmen ab, in dem das Gedankengut attraktiv dargeboten und aufgenommen wird. 124 Beglaubigt wird diese Interpretation durch Darlegungen zur Musik. Wie Philodemos im vierten Buch seines Werkes ¨ Uber Musik ausf ¨ uhrt, kann eine Folge von T ¨ onen und Rhythmen allein nicht das beabsichtigte Vergn ¨ ugen hervorbringen; erst wenn eine gedankliche Komponente hinzukommt, verschafft die Musik den h ¨ ochstm ¨ oglichen Genuß. Die bloße Sinnenfreude, die die Musik per se ausl ¨ osen kann, die aber durchaus willkommen ist, weil sie den Zustand seelischer Entspanntheit f ¨ ordert, muß ¨ uberh ¨ oht werden von der Freude an gedanklicher Bereicherung, dem wahren Vergn ¨ ugen auch bei musikalischen Darbietungen. Doch selbst ein Instrument spielen zu lernen, ein Lied mit Musikbegleitung vorzutragen oder mit anderen zusammen etwas singend oder musizierend darzubieten, da- 124 Philodemos hat seine These des geistigen Vergn ¨ ugens, das ein Gedicht hervorruft, nicht expressis verbis formuliert. Sie ergibt sich aus der Ablehnung moralischer oder didaktischer Wirkungsziele ( ¨ Uber Gedichte Buch V, coll. IV, XVI, XVII, XXXII) wie auch aus den Stellungnahmen gegen Theoretiker, die Sinn und Zweck der Dichtung im Wohlklang suchten (coll. XXI, XXIII, XXIV, XXVI-XXIX). Andererseits betont Philodemos gerade die F ¨ ahigkeit des Gedichts, Gedanken auszudr ¨ ucken; sie erkl ¨ aren die psychagogischen und die mimetischen Effekte, die von ihm ausgehen k ¨ onnen (coll. XVI, XXXV, XXXVI). Zur vorgetragenen Interpretation der Dichtungstheorie siehe auch Asmis 1991: 14 und Mangoni, Filodemo V, 1993: 29ff. [deren Kolumnenz ¨ ahlung und kritischem Text ich folge]. Bahnbrechend f ¨ ur die Kenntnis der Poetologie ist die Diss. von Greenberg 1955 gewesen, neue Buchfassung 1990. Freude und Vergn ¨ ugen 227 von r ¨ at Philodemos den ihm Geistesverwandten nachdr ¨ ucklich ab. Anstrengung mache den Genuß und das Vergn ¨ ugen zunichte, den das Zuh ¨ oren intellektuell aktivierend bereitet. 125 Die Schrift ¨ Uber Gedichte ( Περ ποιημ των ) 126 ist befrachtet mit Polemik gegen andersdenkende Vorl ¨ aufer und Zeitgenossen; sie ist deshalb eine Informationsquelle ersten Ranges ¨ uber die Theorien, die seinerzeit im Schwange waren und denen Philodemos seine dem epikureischen Denken verpflichtete Konzeption entgegensetzte. Das Wirkungsziel, dem Menschen - namentlich dem Weisen - ein intellektuelles Vergn ¨ ugen zu bieten, hat er einerseits als Gegenposition zur Erwartung utilitaristischer, p ¨ adagogischer oder moralischer Effekte durch die Dichterlekt ¨ ure proklamiert, andererseits gegen Denkrichtungen in Stellung gebracht, die den Zweck der Poesie in der Produktion von Wohlklang f ¨ ur das Ohr und Wohlgeformtheit f ¨ ur das Auge erblicken wollten. Philodemos setzte seine Doktrin des intellektuellen Vergn ¨ ugens mit besonderer Distanzierung der Ansicht von ’Kritikern‘ ( κριτικο ) entgegen, die den Zweck eines Gedichtes ausschließlich oder haupts ¨ achlich in der Erzeugung eines genußvollen akustischen Reizes erkennen wollten, je nach dem Effekt f ¨ ur das Ohr auch die Qualit ¨ at von Versen bewerten zu k ¨ onnen meinten. 7.5.3 Vergn ¨ ugen akustisch Philodemos hat in ¨ Uber Gedichte die Namen und die Thesen der ’Kritiker‘ ¨ uberliefert, die ihn beim Studium des poetologischen Schrifttums der hellenistischen Zeit in besonderem Maß zum Widerspruch gegen die ¨ Uberbetonung des Klangeffektes herausgefordert hatten: Megakleides von Athen (fr ¨ uhes 3. Jh. v. Chr.), Andromenides (3. Jh.), Herakleodoros (sp ¨ ates 3. Jh.), Pausimachos (Ende 3., Anfang 2. Jh.) und Krates von Mallos (1. H ¨ alfte des 2. Jhs.). Es ist das Verdienst von Richard Janko, mit der kritischen Edition von Philodemos’ Buch 1 nicht nur einen neuen Einblick in die poetologische Reflexion in Griechenland und in Rom im letzten Jahrhundert vor der Zeitenwende und speziell in die epikureische Auseinandersetzung mit der Poesie erm ¨ oglicht, sondern in Einzeldarstellungen uns auch die Theoretiker erschlossen zu haben, die nach der ¨ Uberlieferung durch Philodemos in der griechisch-r ¨ omischen Epoche die Diskussion um die auditive Seite der Dichtung belebt haben. Nat ¨ urlich muß beachtet werden, daß der Kronzeuge seine Opponenten von seiner Warte aus beschreibt. Doch trifft f ¨ ur alle zu, daß sie der Meinung Raum gegeben haben, das Ohr entscheide, ob man ein Gedicht gut oder schlecht finden muß, und weil das Ohr das Urteil begr ¨ unde, m ¨ usse das prim ¨ are Ziel jeder Dichtung der Wohlklang (gr. (υφων α , euphon´ıa; lat. lepidus sonor) sein, im weiteren Sinn das akustische Vergn ¨ ugen des H ¨ orens. 125 Col. XVI, 23ff. in der Edition von Buch IV ’ ¨ Uber Musik‘ von A. J. Neubecker 1986. 126 Benutzt und zitiert werden die kritischen Editionen von Buch 5 von C. Mangoni (1993) und Buch 1 von R. Janko (2000). 228 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Dichtung mit Wohlklang zu verbinden, hat im antiken Denken eine lange Tradition. Die Vorgeschichte reicht ins 6./ 5. Jh. v. Chr. zur ¨ uck. Zum einen beginnt sie mit dem Weltverst ¨ andnis der Pythagoreer, die die Zahl zum Prinzip alles Seienden erkl ¨ arten und die Realit ¨ at als ein Gef ¨ uge mathematischer Ordnung auffaßten, folglich auch die Sprache und erst recht den metrischen Bau des Verses auf das Gesetz der numerischen Harmonie zur ¨ uckf ¨ uhrten, den Urgrund alles Sch ¨ onen. Zum andern hatte der Atomismus Demokrits Anstoß gegeben, die kleinsten Elemente der Sprache zu erforschen, wobei man beim Wort ¨ uber die Silbe zum ’Buchstaben‘ gelangte und dessen Qualit ¨ aten und Wirkeffekte zu untersuchen unternahm. Freilich erkannte man noch nicht den Unterschied zwischen Schriftzeichen und Laut; deren Trennung vollzog erst die Sp ¨ atantike, als Schreibung und Aussprache wegen des Lautwandels eklatant auseinanderbrachen. Nicht gering zu veranschlagen ist schließlich die Wirkung, die die Ausbreitung der Fiktionalit ¨ at in der Dichtung mit sich gebracht hatte. In dem Maße, wie Wahrheit und Wirklichkeit zu vermitteln zum Auftrag der Prosa geworden war, der Poesie aber in erster Linie der Bereich des Fiktiven zufiel, konnte diese zunehmend mit der Funktion identifiziert werden, bloß Unterhaltung zu bieten. Im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Tonstruktur der Musik war in pythagoreischen Kreisen eine Forschungsrichtung entstanden, die die Klangqualit ¨ at der einzelnen ’Buchstaben‘ im Hinblick auf die w ¨ unschenswerte Annehmlichkeit f ¨ ur das Ohr, die Euphonie, zu analysieren und einzustufen suchte. Auch Platon zeigt sich von der euphonistischen Betrachtungsweise der Einzelbuchstaben beeinflußt: Im Kratylos beweist Sokrates die Richtigkeit der Namen der Dinge am Ton- und Symbolwert der Vokale und Konsonanten, aus denen sie zusammengesetzt sind, mit denen ”wir denn etwas Großes, Sch ¨ ones und Ganzes bilden, wie dort das Gem ¨ alde f ¨ ur die Malerei, so hier den Satz oder die Rede f ¨ ur die Sprech- oder Redekunst“. 127 Das Streben nach sch ¨ onem Klang f ¨ ur das Ohr hat in der Epoche des Hellenismus eine Vielzahl von Studien und Urteilen zur ¨ asthetischen Wirkung der Sprachlaute aus dem Boden schießen lassen. Die Euphonie erscheint uns heute als ein zentrales poetologisches Thema jener Jahre; wir erkennen dank der Einblicke, die die Wiederherstellung der ¨ asthetischen Schriften aus der ’Villa dei 127 Platon, Kratylos 424a-427d. Phonetische Lautstudien im Theaitetes 203a-b [Silbe Sodes Namens Sokrates]. Im Sophistes 253a-b wird die Einsicht in die Verbindung und Verkn ¨ upfung des Seienden an den Lautkombinationen demonstriert. Bei ihnen m ¨ usse man auch wissen, was zusammenpaßt und was nicht, ebenso wie bei der Musik nicht jeder Ton mit jedem anderen gekoppelt werden kann. Wie man in der Musik die Kunst kennen muß, die T ¨ one richtig zusammenzustellen, so muß man in der Sprache die n ¨ otige ”Kunst“ der Verkn ¨ upfung von Vokalen und Konsonanten beherrschen, die ”Sprechkunde“(253a9f.: 9 τ χνης δε% τ: μ λλοντι δρ5ν Lκαν: ς α; τ ). Freude und Vergn ¨ ugen 229 Papiri‘ in sie er ¨ offnet, daß sich auch eine regelrechte euphonistische Poesiedoktrin ausgebildet hatte, die unter Krates von Mallos ihren gr ¨ oßten Einfluß entfaltete. Wie Philodemos’ Hauptargument gegen die ”Kritiker“, das gute Gedicht zeichne sich durch perfekte ¨ Ubereinstimmung von guter Form und gutem Inhalt aus, in aller Deutlichkeit best ¨ atigt, stimmten die Euphonisten darin ¨ uberein, daß sie bei der Bewertung der Gedichtqualit ¨ at der Klangwirkung den Vorzug vor dem Inhalt gaben. Nach Herakleodoros war der Inhalt beim Gedicht als externes Moment zu betrachten, ebenso wie das Wortmaterial und die Diktion. F ¨ ur ihn z ¨ ahlte nur der Klang. In dieser Auffassung sah er sich dadurch best ¨ atigt, daß Gedichte selbst dann Vergn ¨ ugen bereiten k ¨ onnten, wenn der Inhalt unverst ¨ andlich w ¨ are. 128 Zum Beweis der Bedeutungslosigkeit des Inhalts f ¨ uhrte Pausimachos den Vogelgesang an: Der Gesang der Nachtigall gefalle, werde als sch ¨ on empfunden, obwohl man ihn ohne Sinn aufnehme. Umgekehrt werde mit Mißfallen wahrgenommen, was ein Sperling von sich gibt, obwohl man manche seiner Laut ¨ außerungen zu verstehen meine. 129 Nicht anders das Gedicht: Wohlartikulierter Klang gefalle immer, unabh ¨ angig vom Inhalt. Er ist, auch nach Krates, das einzige Kriterium poetischer Exzellenz. 130 Um diese zu erreichen, muß ein Dichter ars et ingenium besitzen; zur ars geh ¨ ore die Sicherheit in der Auswahl der verwendungsf ¨ ahigen W ¨ orter, die Kenntnis der Klangwerte der Laute und der Lautkombinationen, sowie die Meisterschaft in der Wortf ¨ ugung, weil die Euphonie letztlich von einer gut komponierten σ<νθεσις (’Zusammensetzung‘ ) abh ¨ ange. Im Ganzen sollte sich der Dichter ausdr ¨ ucken wie niemand sonst, forderte Andromenides. 131 Beim Vokabular hieß dies, alte, vielgebrauchte und daher klanglich effektarme W ¨ orter meiden; stattdessen neue suchen, die das Ohr erfreuen. 132 In solcher Konzeption verschob sich bei den Euphonisten die Grenze zwischen Poesie und Prosa, denn zum Differenzkriterium wurde jetzt bei einigen der von der durchgefeilten Wort- und Satzkomposition fein artikulierte Sprachklang. Ein Text, der ihn aufwies, war Poesie; einer, der ihn vernachl ¨ assigte, Prosa. 133 128 Zu dessen Geringsch ¨ atzung des Gedichtinhalts Janko, Philodemus 1, 2000: 160. 129 Ebda.: 171. 130 Hierzu der Artikel ’Crates of Mallos and the κριτικο ‘ , in Janko, Philodemus 1, 2000: 120-129, sowie Asmis 1992: 139-169. 131 Beleg in Janko, Philodemus 1, 2000: 148, 154. 132 Die Verwendung neuerer und klangvollerer W ¨ orter empfehlen vor allem Andromenides und Pausimachos: Belege zu Andromenides in Janko, Philodemus 1, 2000: 144, 147, 149, 154; zu Pausimachos 168. 133 Extreme Position, von Herakleodoros vertreten (Janko, Philodemus 1, 2000: 159f.). 230 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Um den Tr ¨ agerelementen der Euphonie, sozusagen den Atomen des Wohlklangs, auf den Grund zu kommen, auch um produktions ¨ asthetische Anweisungen zu entwickeln, betrieben die Anh ¨ anger der Richtung vergleichende Studien zur Sonorit ¨ at der einzelnen Laute und Lautgruppen. W ¨ ahrend Theophrast schon sch ¨ onklingende W ¨ orter und ’Buchstaben‘ - hierunter besonders die Geminaten λλ [ll] und νν [nn] - f ¨ ur die Redekunst zusammengestellt und empfohlen hatte, erarbeiteten sie ganze Rangordnungen der Lautqualit ¨ at f ¨ ur die Euphonie in der Dichtung. Unstrittig gute Bewertungen erhielten erwartungsgem ¨ aß die Vokale. Bei den Konsonanten gab es Gebrauchsempfehlungen f ¨ ur die Dauerlaute ν [n], ρ [r] und - alle ¨ ubertreffend - λ [l], das Andromenides zum sch ¨ onsten ’Buchstaben‘ ¨ uberhaupt erkl ¨ arte. Kein H ¨ orvergn ¨ ugen bereiteten nach den Einstufungen der Euphonisten dagegen die Frikative und Plosive wie ς [s], χ [ch], π [p], τ [t] und Gruppen wie φα [p h a], κλα [kla], die lediglich als Ger ¨ auschemacher klassifiziert wurden. 134 Eine unangreifbare Legitimation bezogen die Verfechter der Euphonie aus dem Argument, daß bereits Homer auf den Wohlklang der W ¨ orter sehr geachtet habe. 135 Als den Hauptvertreter der Euphonisten greift Philodemos in den f ¨ unf B ¨ uchern ¨ Uber Gedichte den Philosophen und Kritiker Krates von Mallos an (1. H ¨ alfte 2. Jh. v. Chr.). Er ist ein Gegner des Epikureismus, mit einer gewissen N ¨ ahe zu stoischen Anschauungen. In der Frage, was die G ¨ ute eines Gedichtes ausmache, also auch das Vergn ¨ ugen des Rezipienten begr ¨ unde, bezieht er allerdings eine klare, euphonistische Position. Seine Grundthese, daß die G ¨ ute unabh ¨ angig sei vom gedanklichen Gehalt, steht n ¨ amlich im Widerspruch zur stoischen Auffassung, wonach moralisch positiver Inhalt und gute sprachliche Komposition zusammenkommen m ¨ ussen, und sie ist auch kontr ¨ ar zur sp ¨ ateren Betonung des intellektuellen Reizes, den ein gedanklicher Gehalt ausl ¨ ost, durch Philodemos. Unvereinbar weit auseinander gehen die Meinungen ¨ uber die Rolle des Geh ¨ ors. Zwar teilt Philodemos die Ansicht, daß es gef ¨ allige und nicht gef ¨ allige Laute gebe, unter denen zu w ¨ ahlen sei, doch endet damit seine Zustimmung zu den Lehren der Euphonisten. Entschieden verwirft er den von Krates wiederholten Standpunkt, daß das Ohr, nicht der Verstand, den nat ¨ urlichen Unterschied zwischen guten und schlechten Dichtungen erkenne. Das H ¨ oren, so Philodemos, ist eine irrationale F ¨ ahigkeit, unf ¨ ahig zur Entscheidung zwischen ’gut‘ und ’schlecht‘ , 134 N ¨ aheres hierzu Janko, Philodemus 1, 2000: 176. In DNP fehlt erstaunlicherweise ein Artikel zur Euphonie und den Euphonisten als markanter literarischer Richtung. 135 Homer als Musterautor euphonischer Wortwahl hinzustellen, war vor allem das Anliegen des Pausimachos. Er glaubte, eine Vorliebe f ¨ ur Bezeichnungen mit gef ¨ alligen Lauten nachweisen zu k ¨ onnen, indem er Synonyma zum Vergleich heranzog, die Homer nicht gew ¨ ahlt hat, oder an Onomatopoiien zeigte, wie sorgsam auf die Wiedergabe nat ¨ urlicher Laute und Ger ¨ ausche geachtet wurde. Dazu Janko, Philodemus 1, 2000: 171. Freude und Vergn ¨ ugen 231 unzust ¨ andig f ¨ ur die Beurteilung der poetisch genutzten W ¨ orter, die ja Bedeutung einbringen, was vom Geh ¨ or nicht erfaßt werden kann. Dessen Wahrnehmungsverm ¨ ogen reiche ¨ uber das Klangliche nicht hinaus. Bei der Beurteilung eines Gedichts nach dem Geh ¨ or k ¨ amen nach Philodemos weder die nat ¨ urlichen und vern ¨ unftigen Regeln der Komposition, noch das von der Synthesis transportierte Gedankengut zum Tragen; damit fehlten f ¨ ur die Bewertung die ausschlaggebenden Ansatzpunkte. Die kritischen Bemerkungen zu Krates in Buch 5 der Schrift ¨ Uber Gedichte m ¨ unden in die Ablehnung des auditiven Vergn ¨ ugens als Ziel und Effekt guter Dichtung. Philodemos tadelt an Krates methodisch insbesondere, daß er zwar neben der Kunst der Dichtung die Kunst der Kritik gefordert habe, aber dann doch als Maßstab guter Poesie allein das Vergn ¨ ugen bewerte, das sie hervorbringt. 136 Er kann der These des auditiven Vergn ¨ ugens in keiner Form zustimmen. Wie in der Musik, billigt er in der Dichtung nur dem Rhythmus zu, auditives Vergn ¨ ugen zu erzeugen und darin seine Funktion zu erf ¨ ullen. Ein Gedicht als Ganzes will er keinesfalls ohne Gewichtung seiner inhaltlichen Seite beurteilt wissen. ”T ¨ oricht, oberfl ¨ achlich und falsch“ 137 ist es daher nach seiner ¨ Uberzeugung, wenn das Wesen der Dichtung allein in dem Ziel gesehen wird, dem Rezipienten einen H ¨ orgenuß zu verschaffen. Manche Euphonisten gingen mit der These des auditiven Vergn ¨ ugens aber sogar ¨ uber die Dichtung hinaus. F ¨ ur Philodemos ist dies einer der Gr ¨ unde, auch Pausimachos heftig zu kritisieren. Der hatte aus der euphonistischen Doktrin, daß die Inhaltsseite eines Werkes f ¨ ur die Bewertung der Qualit ¨ at unerheblich sei, offenbar die Folgerung gezogen, daß damit auch das Differenzkriterium, Prosa diene im Gegensatz zur Poesie Zwecken der Belehrung und der Information, gegenstandslos geworden sei. Er hatte argumentiert, das auditive Vergn ¨ ugen sei also nicht nur das Wirkungsziel der Dichtung, sondern auch das der Prosa. 138 Der als Literaturkritiker, Historiker und Redner wirkende Dionysios von Halikarnassos vertrat in seiner ’Phonostylistik‘ De compositione verborum (griech. Titel: Περ συνθ σεως 8νομ των ) noch nach Philodemos den Standpunkt, Dichtung und Prosa seien beide Imitationsk ¨ unste und beide f ¨ ur das Ohr geschaffen. 139 Die euphonistische Doktrin vom Wohlklang als Qualit ¨ atsmaßstab und vom Vergn ¨ ugen als Wirkungsziel der Dichtung war die vorherrschende poetologische Theorie im 2. und 1. Jh. vor der Zeitenwende. In Rom wurde ihre Verbreitung durch Krates selbst gef ¨ ordert; er weilte als Gesandter des pergamenischen Hofes 136 Mangoni, Filodemo V, 1993: col. XXVIII. 137 Mangoni, Filodemo V, 1993: col. XXVIII (S. 155). 138 In Janko, Philodemus 1, 2000, col. 52, 24-28. Kommentar des Hg. zur Stelle S. 168: ”The listener’s pleasure, in both poetry and prose, is paramount.“ 139 Dazu B. Gentili, Il ’De compositione verborum‘ di Dionigi di Alicarnasso, in: QUCC 36 (1990), 7-21. 232 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele 168/ 167 l ¨ angere Zeit in der Stadt, hielt ¨ offentliche Vortr ¨ age. ”Und f ¨ ur die Unseren war er ein Vorbild, dem nachzueifern war“, berichtet dar ¨ uber Sueton. 140 Doch zeigten sich die R ¨ omer im Ganzen recht reserviert gegen ¨ uber der Euphonie als der poetologischer Heilslehre. Breitere Aufnahme fand das Gedankengut der Lehre n ¨ amlich nicht in der Dichtung, sondern in der Rhetorik, die ja bereits im Griechischen, schon vorplatonisch, lautliche Gesichtspunkte zu ber ¨ ucksichtigen aufgetragen hatte. Unter der Doppelwirkung rhetorischer und euphonistischer Lehren formulierte der anonyme Autor der Rhetorica ad Herennium (1. H ¨ alfte 1. Jh.) die Mahnung, Hiate sowie akustisch herausfallende Laut-, Wort und Morphemverbindungen seien zu vermeiden, desgleichen ¨ uberlange Folgen von W ¨ ortern, denn sie verletzten die Ohren des H ¨ orers (4, 18). Varro empfahl, bei den Silben und den einsilbigen W ¨ ortern die ”rauhen“ und ”harten“ (wie trux, conx, trans), die ”kurzen“ (wie hic, hoc) und mit ihnen die ”barbarischen Formen“ (wie gaza) beiseite zu lassen, m ¨ oglichst zugunsten von Phonkombinationen bzw. Lexemen, die die Klangf ¨ ulle von Langvokalen brachten. 141 Rhetorik und Dichtung sind als die Manifestationen der Sprachkunst vor allem bei Cicero eng verbunden, so eng, daß die Regeln der einen weitgehend auch die Regeln der anderen sind. Augenf ¨ allig sichtbar wird die Korrelation daran, daß Cicero die Beispiele der Sprachgestaltung, die seine Redeanweisungen erl ¨ autern, das eine wie das andere Mal aus der ¨ alteren Dichtung holt. Zugrunde liegt seiner Konzeption von Rhetorik und Dichtung, daß es bei beiden immer um zwei Aspekte geht, n ¨ amlich Inhalt (res) und Ausdruck (verba). Wie er im Orator (162) ausf ¨ uhrt, hat ¨ uber den Inhalt sowie ¨ uber das verwendete Sprachmaterial der Verstand zu urteilen, ¨ uber Klang (sonus) und Rhythmus (numerus) hingegen ”sind die Ohren die Richter“. Sie haben Bezug zum ”Vergn ¨ ugen“ (voluptas). Weil man ”den Ohren schmeicheln“ muß, sind haupts ¨ achlich wohlklingende W ¨ orter (verba bene sonantia) zu w ¨ ahlen, wobei der Redner nicht wie die Dichter rare W ¨ orter mit ausgefallenem Klang (exquisita ad sonum), sondern usuelles Wortgut verwenden soll (163). Aber, wie einer ¨ ahnlichen Weisung in De oratore 3, 150 zu entnehmen ist, muß der Redner seine Auswahl ”nach dem Urteil der Ohren“ abw ¨ agen. Zu meiden sind alle W ¨ orter mit einer ”Rauheit“ (asperitas), allen voran die - schon von den Euphonisten gebrandmarkten - Lexeme mit f, der insuavissima littera (163). Wenn Regelhaftigkeit der Wortbildung und Wirkung auf die Ohren einander widerraten, dann soll der akustische Eindruck den Ausschlag geben: ”Befrage die korrekte Regelhaftigkeit: sie wird das tadeln; wende dich an die Ohren: sie werden zustimmen; erkundige dich, warum das so ist: es gef ¨ allt, werden sie dir antworten. Und dem Gefallen der Ohren muß sich die Rede nun einmal anpassen“ (159). 140 Sueton, De grammaticis 2, 1-4. 141 Das Frg., das die Stelle ¨ uberliefert, geh ¨ ort zu Varros De grammatica oder De dialectica (Frg. 113 G ¨ otz/ Sch ¨ oll; Keil GL 1, 428, 22-28). Freude und Vergn ¨ ugen 233 Den Wohlklang von S ¨ atzen bindet Cicero an drei Grunderfordernisse: Strikt zu vermeiden sind Hiate. Ebenso ist darauf zu achten, daß in der Aufeinanderfolge der W ¨ orter nicht ”rauhe“ Konsonanten zusammentreffen. Hier schl ¨ agt Cicero wieder die Br ¨ ucke zur Poesie, denn eine derartige offensio w ¨ urden auch die ”neuen Dichter“ fliehen (161). Die Erl ¨ auterung bezeugt, daß die Euphonisten in Rom das Bewußtsein daf ¨ ur gesch ¨ arft haben, daß Dichter bei der compositio der Verse sozusagen mit innerem Ohr auf die wohlklingende Abfolge der Wortverbindungen zu achten haben. Als Gegenst ¨ uck zum Metrum, das in der Dichtung das Klangger ¨ ust tr ¨ agt, empfiehlt Cicero dem Redner die planvolle Rhythmisierung jeder seiner Perioden. Bekanntlich lieferte er dazu der r ¨ omischen Literatur selbst das un ¨ ubertroffene Vorbild. Waren die Grundpfeiler akustisch gef ¨ alliger Poesie Klang (sonus) und Versfußordnung (metrum), so die der kultivierten rhetorischen Darbietung Klang (sonus) und Rhythmus (numerus), also verwandte Schmuckmittel mit gleicher Funktion: einen H ¨ orgenuß zu bereiten. Die Rede sollte hierin der Dichtung nicht nachstehen; deshalb wollte Cicero, daß sie sich ganz dem ”Vergn ¨ ugen der Ohren“ (voluptati aurium) anpaßte (159). Das H ¨ orvergn ¨ ugen bleibt auch f ¨ ur sp ¨ atere Rhetoriker ein Qualit ¨ atskriterium der Rede. Quintilian, der ihren Wohlklang ebenfalls durch eine ’Lautlehre‘ sicherzustellen suchte, 142 schreibt im Kapitel ¨ uber die Wortf ¨ ugung (compositio), die er dem Versbau (versificatio) der Dichter an die Seite stellt: ”Das beste Urteil ¨ uber die Rede aber besitzen die Ohren, die sp ¨ uren, wenn es voll klingt, reklamieren, wo noch etwas fehlt, verletzt werden durch Br ¨ uchiges, geschmeichelt durch Gutes. . .“. 143 Erst in den Redelehren der Christen nimmt das Interesse an der Klangwirkung ab. Zwar wendet sich Augustinus unter dem Eindruck, den Ciceros Lehre auf ihn macht, noch einmal ausdr ¨ ucklich gegen das ”rauhe“ r und lobt das ”glatte“ l, 144 doch z ¨ ahlen f ¨ ur ihn die Klarverst ¨ andlichkeit und der Inhalt der Rede, n ¨ amlich die Vermittlung der Heilsbotschaft, weit mehr als ein den Ohren schmeichelnder Wohllaut. Wer das Evangelium klar weitergeben will, ”der verschm ¨ aht dann und wann die feineren Ausdr ¨ ucke und k ¨ ummert sich nicht darum, was gut klingt, sondern was den Sinn dessen trifft und nahebringt, was er darlegen will“. 145 Dementsprechend stuft Augustinus von den drei Aufgaben des Redners - zu belehren, zu vergn ¨ ugen, zu bewegen 146 - die Funktion, Vergn ¨ ugen zu bereiten 142 Quintilian, Institutio oratoria 12, 10, 27-35 143 Ebda. 9, 4, 117. In 8, 36 handelt Quintilian die Silben und W ¨ orter ”e litteris melius sonantibus“ ab, in 8, 3, 17 das Verh ¨ altnis des Klangwerts zum Inhalt. Nach 9, 4, 38 beeintr ¨ achtige finales s vor konsonantischem Anlaut des Folgewortes die akustische Qualit ¨ at der Rede, nach 12, 10, 29ff. auch finales m, das nicht ohne Grund in der griechischen Deklination fehle (quasi mugiens littera, 12, 10, 31), sowie f (12, 10, 29). 144 Augustinus, De dialectica 6. 145 Augustinus, De doctrina christiana 4, 10, 1. 146 Ebda. 4, 12, 1. Bei der Bezeichnung der Aufgabenteile (docere - delectare - flectere) folgt 234 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele (delectare) deutlich herab. Nach der Theorie der Rhetorik sollte das Vergn ¨ ugen (delectare) der Sympathiegewinnung f ¨ ur die Sache und den Redner selbst dienen; es ist, wie der von Augustinus zitierte Cicero im Orator 69 kommentierte, eine ”Sache des Charmes“ (delectare suavitatis [est]), d. h. der gewinnenden Wohlgef ¨ alligkeit des sprachlichen Ausdrucks. Hier aber wendet sich Augustinus von der herk ¨ ommlichen Lehre ab: Das Bereiten von Vergn ¨ ugen (delectare) durch einen besonderen sprachlichen Reiz des Vortrags kann hilfreich sein, um Aufmerksamkeit zu gewinnen; unabdingbar notwendig ist es jedoch nicht, ”daß die Rede selbst erfreue, sondern die geoffenbarte Wahrheit erfreut an und f ¨ ur sich.“ Die christliche Botschaft bewirkt eine Freude, die von akustischer Persuasion nicht abh ¨ angig ist. Gemessen an der Wirkung auf die r ¨ omische Rhetorik ist der Einfluß euphonistischer Tendenzen in der Dichtung gering geblieben. Fr ¨ uhe Spuren sind bei Lucilius zu erkennen, dem ”Erfinder“ (inventor) der Verssatire nach Horaz (sat. 1, 10, 48), dessen Lebensdaten mindestens die zweite H ¨ alfte des 2. Jhs. v. Chr. ausf ¨ ullen, nach manchen Berechnungen sogar bis 180 hinaufreichen. Von seiner umfangreichen Satirendichtung in 30 B ¨ uchern sind nur etwa 1400 Fragmente ¨ uberliefert, zumeist Einzelverse, Versst ¨ ucke oder Wortformen, woraus sich kein abgerundetes Bild der dichtungstheoretischen Abh ¨ angigkeit ergibt. Allem Anschein nach hat Lucilius aber eine akustische Bewertung der litterae f ¨ ur den poetischen Gebrauch vorgenommen, ganz nach euphonistischer Art. In Frg. 367-70 bem ¨ angelt er so das r; es ergebe in einer Lautverbindung ein ”schlechtklingendes Gebilde“, einzelnstehend im Wort ”Hundesprache“, d. h. ein knurrendes Lautger ¨ ausch. 147 Nichts einzuwenden hat er gegen das s und das Sigma des Griechischen; der Laut habe ”nichts Nachteiliges“ an sich. 148 In Frg. 344 k ¨ undigt er eine Beurteilung der Vokale an, beginnend mit a. Sie geh ¨ ort zum Buch IX, wo er von Sprache und Stil handelte, doch leider fehlt uns die Ausf ¨ uhrung der Vokalstudie. Best ¨ atigt wird die N ¨ ahe des Dichters zum euphonistischen Gedankengut durch eine vom Rhetoriker Chirius Fortunatianus (4. Jh.? ) ¨ uberlieferte Notiz, daß Lucilius die ”voller t ¨ onenden W ¨ orter als euphona“ (’Wohlklanggebilde‘ ) bezeichnet habe. 149 Augustinus teils Cicero (Or. 69: probare - delectare - flectere), teils Quintilian (Inst. 12, 10, 59: docere - delectare - movere). 147 Frg. 367-70 Krenkel: r: non multum est, hoc cacosyntheton atque canina si lingua dico: nihil ad me, nomen hoc illi est. 148 Frg. 367-70 Krenkel: s nostrum et semigraecei quod dicimus sigma nil erroris habet. 149 Frg. 1188 Krenkel = Zitat aus Halm (ed.), Rhetores Latini Minores, p. 124, 7: verba magis sonantia [ . . . ], quae Lucilius ’euphona‘ appellat. Freude und Vergn ¨ ugen 235 7.5.4 Die Lusttheorie des Aristoteles In der Poetik, aber auch in anderen Schriften, in denen er auf die Dichtung zu sprechen kommt, zeigt Aristoteles eine auffallende Zur ¨ uckhaltung gegen ¨ uber der Frage des Wirkungsziels bzw. der Wirkungsziele. Man sieht dies sch ¨ arfer, wenn man vergleichend betrachtet, wie er sich zur Musik ge ¨ außert hat, einer anderen mimetischen Kunst, die hinsichtlich der Darstellungsmittel - Melodie und Rhythmus - von der auf Sprache basierenden Dichtkunst zu trennen ist. In der Politik 1339a15ff. legt Aristoteles dar, daß die Musik wegen mehrerer Wirkungen gesch ¨ atzt werde: aus Vergn ¨ ugen am Spiel, als Mittel der Erholung, als Trost bei Kummer, als Ansporn, die Lebensweise zu korrigieren. Schließlich verschaffe sie Einsicht, die mit der Mimesis verbundene Form von Erkenntnis. Aristoteles d ¨ urfte Wirkungen der genannten Art, allen voran Freude, emotionale Effekte und Belehrung, auch als allgemeine Grundz ¨ uge von Dichtung gewertet haben, doch lag ihm nach dem Eindruck der Poetik offensichtlich mehr daran, an dieser Kunstform paradigmatisch die kognitiven Aspekte der Mimesis herauszuarbeiten. Der Hinweis zur Trag ¨ odie, man d ¨ urfe mit ihr nicht jede Art von Vergn ¨ ugen hervorzurufen suchen, sondern nur die ihr gem ¨ aße, 150 ist außerdem ein Beleg daf ¨ ur, daß Aristoteles das Vergn ¨ ugen, das Dichtung bereitet, nach Gattungen getrennt und funktional differenziert behandelt wissen wollte. Ausgef ¨ uhrt, genauer gesagt: uns verf ¨ ugbar ist nur die Darstellung, wie in der Trag ¨ odie nach dem Abbau der Ersch ¨ utterung durch Mitleid und Furcht in der Katharsis der Zuschauer am Ende eine ihm angenehme Entlastung erf ¨ ahrt und die Theaterauff ¨ uhrung mit dem Wohlgef ¨ uhl der spezifischen, tragischen Lust verl ¨ aßt, das nur die Trag ¨ odie herbeif ¨ uhren kann. Am Nachahmen und am Nachgeahmten Freude haben und großes Vergn ¨ ugen (griech. χα ρειν , cha´ırein, Poetik 1448b8; sδιστον , h ¯ ediston 1448b13) ist bei Aristoteles vor dem Hintergrund einer umfassenden Lustlehre zu verstehen. Dargelegt hat er sie in den B ¨ uchern VII, 12-15 und X, 1-5 der Nikomachischen Ethik. Nach Aristoteles ist das ”Endziel der Menschennatur“ 151 die Gl ¨ uckseligkeit (Eudaimonia). Sie ist mit dem Streben nach Lust so eng verbunden, daß Aristoteles folgerte, Gl ¨ uck muß ganz ”mit Lust vermischt sein“ 152 , so daß ein gl ¨ uckliches Leben als ein lustvolles Leben zu definieren ist. Jede Aktivit ¨ at des Menschen wird durch Lust angestoßen und zum erstrebten Ziel hin betrieben, auch geht es st ¨ andig darum, Unlust zu ¨ uberwinden. Wie schon die Sophisten, unterscheidet Aristoteles die gute Lust, die ein Wert ist, von der schlechten, wertlosen (z. B. sinnliche Lust, 150 Aristoteles, Poetik 1453b10f.: ο; γ=ρ π5σαν δε% ζητε%ν Xδον6ν π τραγω δ ας λλ= τ6ν οHκε αν. 151 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1176a31f. 152 Ebda. 1177a22f. 236 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Habgier, Machtstreben usw.), die das Erreichen des Gl ¨ uckszustandes vereitelt. 153 Doch gibt es auch innerhalb der positiven L ¨ uste Wertstufen, niedere und h ¨ ohere. Am h ¨ ochsten rangiert die Lust der reinen, der philosophischen Erkenntnis: Abgehoben von jeder Materialit ¨ at, jeder utilitaristischen Zweckhaftigkeit ist diese Teil der erhabensten Akte der Verstandest ¨ atigkeit. Die allgemeine, mit Dichtung nach seiner Auffassung generell verkn ¨ upfte Freude (oder Lust, Vergn ¨ ugen) hat Aristoteles mit seiner Theorie der Nachahmung (Mimesis) verbunden. Da, wie gesagt, jede T ¨ atigkeit in jeder ihrer Phasen Lust einschließt, muß auch die Besch ¨ aftigung mit dem Nachahmen von menschlichen Handlungen, vollzogenen oder m ¨ oglichen, als welche Aristoteles die Dichtung begreift, sowie das Betrachten von Nachgeahmtem von vornherein Lust, Freude, Vergn ¨ ugen bereiten. Und zwar zweifach: Zum einen dem, der etwas nachahmend herstellt - im Fall der Dichtkunst dem Autor -, zum andern demjenigen, der etwas Nachgeahmtes rezipiert - bei der Poesie dem Zuh ¨ orer, dem Leser oder dem Zuschauer einer Theaterauff ¨ uhrung. Offen gelassen hat Aristoteles das Problem, welche Lusterfahrung einem Autor zuteil wird, der sein Kunstwerk vorgetragen h ¨ ort, liest oder - bei einem Drama - als B ¨ uhnenspiel erlebt; und offen geblieben ist ferner, wie es sich bei der wiederholten Rezeption einer Poesie verh ¨ alt. Es sind dies Beispielf ¨ alle der Interpretationsschwierigkeiten, die sich daraus ergeben, daß Aristoteles seine Mimesis-Konzeption nur skizzenhaft zur Ausf ¨ uhrung gebracht hat. Nach den Ausf ¨ uhrungen in den Kapiteln 3 und 4 der Poetik ist die Dichtung f ¨ ur den Autor generell ein Quell der Freude, und zwar aus drei miteinander gegebenen, ineinander ¨ ubergehenden Gr ¨ unden: 1. Weil das Nachahmen dem Menschen ¨ uberhaupt Freude bereitet; 2. weil das Nachahmen Akte des Erkennens impliziert und Erkenntnisgewinn Freude bringt; 3. weil der Nachahmende und Erkennende etwas lernt und Lernen f ¨ ur den Menschen mit gr ¨ oßtem Vergn ¨ ugen verbunden ist. 154 Um die Wirkung eines vom Dichter geschaffenen Werkes auf den Rezipienten zu beschreiben, greift Aristoteles im Kapitel 4 der Poetik auf die bildende Kunst zur ¨ uck. Sie ber ¨ ucksichtigend, definiert er auf der Empf ¨ angerseite Freude und Vergn ¨ ugen als Wirkeffekt der Dichtung, 1. weil jedermann, auch der Aufnehmende, Freude an Nachahmungen hat; 2. weil es lustvoll ist, das Dargestellte - Personen, Tiere, Gegenst ¨ ande - zu identifizieren, wiederzuerkennen; 3. weil man dabei etwas lernt, seine (Er)kenntnisse erweitert; 4. weil bei einem nicht als Nachahmung erkannten Werk ”wegen der Ausf ¨ uhrung oder der Farbe oder einer 153 Cicero gibt in den Tusculanae disputationes 4, 11f. eine von den Stoikern entwickelte zeitliche Unterscheidung von Lustkategorien wieder. ’Vergn ¨ ugen‘ (laetitia) ist eine aus dem Gegenw ¨ artigen, Erreichten erwachsende Lust, ’Begierde‘ (cupiditas) ist dagegen auf Zuk ¨ unftiges gerichtet, das gut zu sein scheint, es aber nicht sein muß. 154 Aristoteles, Poetik 1448b13: μανθ νειν ο; μ νον το%ς φιλοσ φοις sδιστον λλ= κα το%ς #λλοις Vμο ως. Freude und Vergn ¨ ugen 237 anderen dergleichen Eigenschaft“ 155 ein ¨ asthetischer Genuß zustandekommen kann. Das Nachahmen wie auch die Freude am Nachgeahmten sind dem Menschen nach Aristoteles angeboren, er hat auch unter allen Lebewesen die gr ¨ oßte F ¨ ahigkeit zur Nachahmung (1448b5-7). Aus dieser Naturanlage heraus glaubt Aristoteles sogar die Entstehung der Dichtung erkl ¨ aren zu k ¨ onnen. F ¨ ur Nachahmungen besonders Begabte h ¨ atten mimetische Improvisationen allm ¨ ahlich zu Kunstwerken fortentwickelt (1448b20-24). Zum Beweis, daß Nachahmung grunds ¨ atzlich lustvoll ist, bringt Aristoteles ein Argument aus der Rezipientenperspektive vor: ”Von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude m ¨ oglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen von ¨ außerst unansehnlichen Tieren und von Leichen“ (1448b10-12). Etwas Nachahmendes herstellen, setzt beim Produzenten, etwas Nachgeahmtes rezipieren beim Aufnehmenden einen Lernprozeß in Gang. Dem einen wie dem anderen erw ¨ achst daraus Lust, denn: ”Das Lernen bereitet nicht nur dem Philosophen großes Vergn ¨ ugen, sondern in ¨ ahnlicher Weise auch den ¨ ubrigen Menschen“ (1448b13-14). Einfachere Leute erfreut der Anblick von Bildern, ”weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei“ (1448b15-17). 156 Hat man jedoch das Nachgeahmte noch nicht in natura gesehen, dann bereitet ein Werk nicht als Nachahmung Vergn ¨ ugen, sondern wegen der guten Ausf ¨ uhrung [die sich durch Mimesis erkl ¨ art] (1448b17-19). Die gr ¨ oßte Freude resultiert aber aus dem Erkenntnisgewinn. Dem Produzenten bringt die sensorische Erfassung und die Nachbildung von Wahrgenommenem einen kognitiven Ertrag, bei dem das Einzelne auf das Allgemeine hin bedacht, also zu Erkenntnis fortreflektiert wird. Der Rezipient, der das Dargestellte als Nachgeahmtes erkennt, bezieht Erkenntnis aus einem Abbild von Wirklichkeit, dessen kognitive Erschließung als erstes eine Identifikation erfordert (’dies ist jenes‘ ), die selbst schon lustvoll ist, wenn auch auf niederer Stufe: ”Denn jedem Sinnesverm ¨ ogen ist Lust zugeordnet, ebenso auch dem Verstande und der erkennenden Schau“. 157 Mit der Unterscheidung einer Produzenten- und einer Rezipientenperspektive in seiner Lusttheorie hat Aristoteles im Nachdenken ¨ uber Dichtung einen wichtigen neuen Gesichtspunkt zur Geltung gebracht: Was bedeutet Dichtung 155 Ebda. 1448b18-19: δι= τ6ν περγασ αν 9 τ6ν χροι=ν 9 δι= τοια<την τιν= #λλην αHτ αν. 156 In der Rhetorik 1371b4ff. ist Aristoteles auf die Freude am Lernen und an der Bildbetrachtung noch einmal - und ausf ¨ uhrlicher - eingegangen: ”Da Lernen und Staunen Freude bereiten, muß das auch auf das Nachbilden, z. B. in der Malerei, Bildhauerei und Dichtung zutreffen, ja ¨ uberhaupt auf jede gute Nachbildung, auch wenn der Gegenstand der Nachbildung selbst nicht Freude erweckt, denn nicht ¨ uber ihn empfindet man Freude, sondern hier kommt es zu einem logischen Schluß, daß dieses jenes abbilde, so daß ein Lernprozeß abl ¨ auft.“ 157 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1174b21. 238 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele f ¨ ur den Dichter selbst? Warum tut er, auf sich selbst bezogen, was er tut? Der systematisch stimmige Schluß des Aristoteles auf die Lust aus Erkenntnisgewinn implizierte eine Hochbewertung des Dichternamens: Er kommt dem des Philosophen nahe, doch erreicht nur der Philosoph Genuß der h ¨ ochsten Form der Lust, die reine ”Lust ohne Beimischung von Unlust und Begehren“, die ”Lust der betrachtenden Erkenntnis.“ 158 Mit dem Hinweis, Trag ¨ odie und Epos sollten nicht eine beliebige Lust hervorrufen, sondern die aus der ’Reinigung‘ von den Affekten bzw. der Affekte Mitleid und Furcht erwachsende (Poetik 1462b13f.), hat Aristoteles festgehalten, daß außer der allgemeinen Wirkung von Dichtung noch die gattungsspezifische zu unterscheiden sei. Doch von der ”tragischen Lust“ abgesehen, die in der Trag ¨ odie (und in geringerem Maß im Epos) die (Wieder)herstellung des Gef ¨ uhlsausgleichs verschafft, hat er das Konzept der speziellen Lustwirkung der einzelnen Gattungen nicht weiterverfolgt. 159 7.5.5 Freude und Vergn ¨ ugen in r ¨ omischer Perspektive Daß es ein Zweck der Dichtung sei, Freude und Vergn ¨ ugen zu bereiten, hat auf r ¨ omischer Seite am pointiertesten Horaz ausgesprochen. Er tat es mit der bekannten Devise aut prodesse volunt aut delectare poetae: ”N ¨ utzen wollen die Dichter oder erfreuen“ (Ars poetica 333), die meistens sinnwidrig verk ¨ urzt, n ¨ amlich ohne den Nachsatz wiedergegeben wird: aut simul et iucunda et idonea dicere vitae, ”oder sie wollen beides zugleich geben: was erg ¨ otzlich und was gut ist f ¨ ur das Leben“. Horaz setzt drei Wirkungsm ¨ oglichkeiten eines Gedichts an: Es verschaffe Nutzen - es verschaffe Vergn ¨ ugen - es verschaffe sowohl Nutzen als auch Vergn ¨ ugen. Bei der Auslegung der Stelle darf die Wirkungsalternative ’Nutzen oder Vergn ¨ ugen‘ dem Doppelziel ’Nutzen und Vergn ¨ ugen‘ nicht ¨ ubergeordnet werden. Horaz hat das Doppelziel gleichauf mit den Einzelzielen bewertet, denn er beschließt die Er ¨ orterung der Wirkungsfrage mit den Versen (343f.): omne tulit punctum, 158 Ebda. 1152b36ff. 159 Zur Freude an der Erkenntnis durch Nachahmung und durch Aufnahme von Nachgeahmtem sind grundlegend die Ausf ¨ uhrungen von S. Halliwell im Kapitel: The Rewards of Mimesis: Pleasure, Understanding, and Emotion in Aristotle’s Aesthetics, in: The Aesthetics of Mimesis, 2002, 177-206 [Vorher: Pleasure, Understanding, and Emotion in Aristotle’s Poetics, in: A. Oksenberg Rorty (Hg.), Essays on Aristotle’s Poetics, Princeton 1992, 241-260]. Ferner: A. Schmitt: Aristoteles, Poetik 2008: S. 269 ¨ uber die mimetische Erkenntnis als ’Ursache‘ von Kunst und Literatur; S. 336-339 ¨ uber den ”Zusammenhang von Erkennen, Lust und Handeln“. Gute Problemskizze von J. K ¨ upper, Die Lust an der Mimesis, im Beitrag ’Dichtung als Mimesis‘ , in: O. H ¨ offe (Hg.), Aristoteles, Poetik, 2009: 37-39. Von H ¨ offe auch ein Beitrag zur ’tragischen Lust‘ , ebda. 152-158. Freude und Vergn ¨ ugen 239 qui miscuit utile dulci / lectorem delectando pariterque monendo ”Allen Beifall hat gewonnen, wer das N ¨ utzliche mit S ¨ ußem mischte“, also den Leser erfreut und zugleich belehrt. Mit der triadischen Bestimmung des Wirkungsziels der Dichtung hat Horaz sich auf eine Kompromißformel festgelegt, welche die in der hellenistischr ¨ omischen Zeit umlaufenden poetologischen Theorien zu ¨ uberbr ¨ ucken suchte. Sie vereinte das namentlich von den Stoikern erhobene N ¨ utzlichkeitspostulat f ¨ ur Erziehung und Moral sowie die Aufgabe, f ¨ orderlich zu sein, wo es opportun erscheint, mit dem Versprechen von spielerischem und geistigem Genuß, das die Epikureer von der Poesie erwarteten, schließlich auch mit Denkrichtungen, f ¨ ur die der emotionale Impuls oder auch nur der gef ¨ allige akustische Effekt obenan standen. Nicht zu ¨ ubersehen ist ferner, daß Horaz’ triadische Formel der Zielprojektion der Rhetoriker f ¨ ur die Rede nahekam. Die Rede mußte, wie Cicero und Quintilian festgehalten haben, drei Funktionen erf ¨ ullen, wenn die Redeabsicht, die persuasio, erreicht werden sollte: Sie mußte belehren (docere), sie mußte erfreuen, Vergn ¨ ugen bereiten (delectare), sie mußte bewegen (movere). 160 Bei der Rede wird der Belehrung, d. h. im wesentlichen der Tatsachendarstellung aus der Sicht einer betroffenen Partei, der Vorrang gegeben; bei der Dichtung wechselt der Vorrang je nach der Wirkungsintention. Es ist aber erschließbar, daß Horaz in seinem eigenen Schaffen dem der rhetorischen Belehrung (docere) entsprechenden Wirkungsziel der N ¨ utzlichkeit (prodesse) den h ¨ ochsten Rang einger ¨ aumt hat. Wie Pomponius Porphyrio (fr ¨ uhes 3. Jh. n. Chr.), der Verfasser eines Schulkommentars zu Horaz, berichtet, soll dieser in der Ars poetica die wichtigsten Regeln aus der Poetik des Neoptolemos von Parion (3. Jh. v. Chr.) zusammengestellt haben. 161 Da das Werk des Neoptolemos verloren ist, l ¨ aßt sich die Zuverl ¨ assigkeit der Mitteilung nicht ohne weiteres ¨ uberpr ¨ ufen. Was das Wirkungsziel der Dichtung betrifft, kommt allerdings ein Zeugnis in Buch 5 von Philodemos’ Werk ¨ Uber Gedichte zu Hilfe: Als Verfechter einer epikureischen Kunstauffassung widerspricht Philodemos dort dem Wirkkomplex, den Neoptolemos der Poesie zuerkannt habe, n ¨ amlich, daß dem vollkommenen Dichter ”zusammen mit der Einflußnahme auf die Seele ( ψυχαγωγ α ), dem Nutzen ( φ λησις ) f ¨ ur die H ¨ orer und nutzbringenden Worten ( χρησιμολογ α )“ [an der Poesie gelegen sei]. 162 160 Quintilian, Institutio 4, 2, 31; 4, 9, 35 (docere); 4, 2, 46 (delectare); 4, 2, 11 (movere). Anstelle von docere bevorzugt Cicero probare. 161 Pomponi Porfyrionis commentum in Horatium Flaccum, ed. Holder 1894; zur Ars poetica, 162. Zum Werk des Porphyrio: S. Diederich, Der Horazkommentar des Porphyrio, 1999. 162 Col. XVI, 9-13 Mangoni: Filodemo V, p. 143f. Der zitierte Satz ist im frg. l ¨ uckenhaft; er wird hier durch den Zusatz in der Klammer erg ¨ anzt, in ¨ Ubereinstimmung mit den Interpretationen von Mangoni (p. 171) und Armstrong (in Obbink 1995: 260). 240 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Nach diesem Zeugnis h ¨ atte Horaz das integrativ gesehene Wirkverm ¨ ogensziel der Dichtung in Einzelziele geteilt und ihnen ”Freude, Vergn ¨ ugen“ von sich aus hinzugef ¨ ugt. Aber hat Philodemos die Lehre des Neoptolemos ¨ uberhaupt textgetreu wiedergegeben? Hat Horaz vielleicht aus einer anderen Version von Neoptolemos’ Poetik gesch ¨ opft als der, die Philodemos vorgelegen hatte? R ¨ uckt bei n ¨ aherer Betrachtung ein anderer Anreger als Neoptolemos ins Bild? Der Kritik, die Philodemos an den poetologischen Lehren anderer ¨ ubt, verdanken wir den Hinweis, daß der aus der platonischen Akademie hervorgegangene Herakleides von Pontos (3. Jh. v. Chr.) auch den Standpunkt vertreten hat, Dichtung solle n ¨ utzen und erfreuen. Alle utilitaristischen, vor allem moralischen, ethischen und erzieherischen Zielsetzungen ebenso ablehnend wie alle hedonistischen, die reine Sinnenfreude feiernden Theorien, wirft Philodemos dem Antipoden im Buch 5 ¨ Uber Gedichte vor, er habe nicht definiert, welchen ”Nutzeffekt“ ( φελ α ) unter den vielen n ¨ utzlich bewertbaren Zielen er gemeint habe. In gleicher Weise kritisiert der Epikureer den ¨ Alteren, weil er auch ”die Freude, das Vergn ¨ ugen“ ( τ ρψις ) als Wirkungsabsicht des Dichters hingestellt habe, doch ”er hat nicht gezeigt, durch was er [der Dichter] erfreut und welche Freude (es ist)“. 163 Beim Vergleich geht auf, daß die Horazische Definition des Dichtungsziels der von Herakleides vertretenen n ¨ aher kommt als der des Neoptolemos. Denn im Gegensatz zu ”Psychagogie“ ( ψυχαγωγ α ) und ”Nutzen“ ( φελ α ) hatte Herakleides das zweifache Ziel ”Nutzen“ ( φελ α ) und ”Freude, Vergn ¨ ugen“ ( τ ρψις ) proklamiert, und mit diesem stimmt die Horazische Dualit ¨ at von prodesse und delectare vollkommen ¨ uberein. Die Zergliederung in die Trias w ¨ are auch hier die Zutat des R ¨ omers gewesen. Man darf bei dem gegebenen Stand der Erkenntnisse noch einen Schritt weitergehen und die These aufstellen, daß die Horazische Dualit ¨ at von prodesse und delectare unter dem Eindruck von Philodemos’ Argumentation in der Wirkungsfrage zustandegekommen sein kann. Fest steht, daß der Autor der Ars poetica die Schrift ¨ Uber Gedichte gekannt und manches aus ihr aufgenommen hat. 164 Was das prodesse und das delectare angeht, so ist zu beachten, daß Philodemos sie weder als 163 Col. IV, 5-10 Mangoni: Filodemo V. 164 So auch Janko 2000: 10. Aus eigenen und vorausgegangenen Untersuchungsergebnissen folgert er: ” . . . there should be no doubt that Horace had read and absorbed the On Poems“. Abh ¨ angigkeiten sind zu sehen in der engen Verbindung von res und verba, Inhalt und Form, Gegenstand und Stil, schließlich auch in der Forderung, der Dichter m ¨ usse ¨ uber ars und ingenium verf ¨ ugen. Angestoßen wurde die Frage der Abh ¨ angigkeit von Greenberg 1955/ 1990: 6, 38, 54ff. Verfolgt wurde sie insbesondere in Bezug auf die Satire (K. Freudenburg, The walking Muse: Horace on the Theory of Satire, Princeton 1993, bes. 39-45; D. Armstrong, The Impossibility of Metathesis: Philodemus and Lucilius on Form and Content in Poetry. Und: St. Oberhelman / D. Armstrong, Satire as Poetry and the Impossibility of Metathesis in Horace’s Satires, beides in Obbink 1995: 210-232; 233-254). Freude und Vergn ¨ ugen 241 Effekte noch als Ziele von Dichtung grunds ¨ atzlich in Abrede gestellt hat. Seine Ablehnung betrifft haupts ¨ achlich die verbreitete Ansicht, daß der Nutzen - er steht in der Diskussion im Vordergrund - und das Vergn ¨ ugen die wesentlichen Kriterien seien, die Qualit ¨ at eines Gedichtes zu beurteilen. Aber Philodemos gen ¨ ugt weder die N ¨ utzlichkeit noch die Gef ¨ alligkeit von Versen, um sie ’gut‘ zu finden und ihren Urheber zum ’guten‘ Dichter zu erkl ¨ aren. Statt essentieller Merkmale perfekter Poesie sieht Philodemos im Verm ¨ ogen, Nutzen und Vergn ¨ ugen zu bereiten, lediglich Akzidentien poetischer Werke. Viel von Philodemos’ Polemik gegen die Behauptung eines Nutzens, der nicht weiter pr ¨ azisiert wird, geht außerdem zur ¨ uck auf seine heftige Aversion gegen das von stoischer Seite propagierte moralisch-erzieherische Poesieverst ¨ andnis, letztlich sogar auf die damals herrschende Meinung, daß der Nutzen doch die Sache der Prosa sei. In seiner weiteren Kritik an Herakleides, er habe Art und Zustandekommen der von der Dichtung hervorgerufenen Freude nicht pr ¨ azisiert, meldet sich Philodemos’ Gegnerschaft gegen alle euphonistischen Begr ¨ undungen und Bewertungen der Poesie. Wie seine Ablehnung der N ¨ utzlichkeit keine prinzipielle war, sondern eine gegen einseitige utilitaristisch-moralische Konzepte gerichtete, so war auch die Gegenstimme gegen die Freude kein grunds ¨ atzliches Nein, sondern ein Einspruch gegen die poetologischen Richtungen, die den Sinnes- und Empfindungsreiz, den Gedichte ausl ¨ osen k ¨ onnen, bereits als einen Beweis von Qualit ¨ at werteten. Im ¨ ubrigen ist zu bedenken, daß Philodemos bem ¨ uht war, in der Wirkungsfrage seine Position als eine besondere hervorzuheben. Horaz hat aber weder den Anspruch, gegen andere Recht zu haben, noch die Vorbehalte gegen die Auslegungen von Nutzen und Freude durch Dritte ¨ ubernehmen wollen. Er ist im Gegenteil gerade bestrebt gewesen, mit einer weit und allgemein gefaßten Kompromißformel - n ¨ utzen oder erfreuen oder beides zugleich - die Auffassungsunterschiede durch eine allgemeine Theorie zu ¨ uberdecken. Was hat nun Horaz mit delectare ”Freude, Vergn ¨ ugen bereiten“ als Wirkungsziel selbst gemeint? Am faßbarsten ¨ außert er sich dazu, was nach seiner Dichtungskonzeption aus dem Begriffausscheiden sollte. Er will, wie er in v. 321 der Ars poetica klarstellt, keine ”inhaltsleeren Verse und wohlt ¨ onenden Belanglosigkeiten“ (versus inopes rerum nugaeque canores). Die Absage betrifft die einseitige Hochbewertung der formalen Kunst; sie zielt im besonderen auf die euphonistischen Dichtungslehren und somit auf die Doktrin, es sei allein die Funktion der Poesie, dem Ohr Genuß und Vergn ¨ ugen zu bieten. Genuß und Vergn ¨ ugen assoziiert Horaz im Kontext der zitierten Stelle eher mit der Wirkung des Gedichtinhalts, denn ”ein Stoff, der Beachtliches zur Anschauung bringt und Charaktermuster in rechter Weise darstellt, der aber ohne Liebreiz, sprachlich leichtgewichtig und durchaus kunstlos gemacht ist, erfreut (oblectat) das Publikum bisweilen mehr“ (als das nur formal perfekte Poem). 165 165 Horaz, Ars poetica 319-322: interdum speciosa locis morataque recte / fabula nullius veneris, sine pondere et arte, / valdius oblectat populum meliusque moratur. 242 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Erinnert Horaz im Abschnitt, aus dem wir hier zitiert haben, an den ethischen und moralischen Auftrag des Dichters, dem der Inhalt eines Werkes gerecht werden sollte, so hebt er bei seinem Pl ¨ adoyer f ¨ ur die Ausgewogenheit von res und verba im Versabschnitt 99-111 die Notwendigkeit einer psychagogisch gut ausgebauten Thematik hervor. Den Appell, die Inhaltsseite von Dichtungen mit seelisch ansprechenden, in der Darstellung ¨ uberzeugenden Stoffen zu f ¨ ullen, er ¨ offnet Horaz dort mit dem gegen die Formk ¨ unstler gerichteten Leitsatz: ”Es gen ¨ ugt nicht, daß Dichtungen formsch ¨ on sind“ (non satis est pulchra esse poemata). Sie m ¨ ussen auch inhaltlich bewegend sein. Abermals lehnt Horaz damit die nur verbale Perfektion kategorisch ab, damit auch erneut die Grundanschauungen der Euphonisten und Sprachvirtuosen. Das delectare, das Horaz v. 334 mit iucunde dicere (”vortragen, was erfreut“) und v. 343 mit dulce (”das S ¨ uße, Reizvolle, komplement ¨ ar zum N ¨ utzlichen“) variiert, ergibt sich als Wirkung der Poesie also nicht aus der Wohlgef ¨ alligkeit vollendeter Formgebung, sondern - so sieht es Horaz - aus der vollkommenen ¨ Ubereinstimmung von perfekter Form und entsprechend bedeutendem, exzellent ausgef ¨ uhrtem Inhalt. Es liegt in der Konsequenz seiner Konzeption, daß nur eine Dichtung solcher Qualit ¨ at im H ¨ orer oder Leser Freude ausl ¨ ost: Freude ¨ uber ein ansprechendes poetisches Werk; Freude dar ¨ uber, es genießen zu k ¨ onnen. Wenn Horaz wie Philodemos dem Inhalt eines Gedichtes einen priorit ¨ aren Rang zuerkennt, so schl ¨ agt darin letztlich eine Denktradition durch, deren Nachweisbarkeit in den Texten bis zu Aristoteles und Platon zur ¨ uckreicht. 166 Aber die Grundauffassungen, in welcher Richtung ein Inhalt wirken soll, sind unvereinbar verschieden gewesen. Wie seine Schriften ergeben, bestand f ¨ ur den Epikureer Philodemos das Vergn ¨ ugen, das Dichtung bereiten kann, darin, daß die Inhalte dem Rezipienten einen intellektuellen Genuß verschaffen. Nat ¨ urlich hat er in erster Linie an die Bereicherung durch Welterkenntnis und philosophische Reflexion gedacht, und zwar, gem ¨ aß der epikureischen Befreiung des Individuums aus allen gesellschaftlichen Bindungen, an den Gewinn f ¨ ur den Einzelnen bei seinem Streben nach der Gl ¨ uckseligkeit. Horaz hat jedoch vom Effekt des Inhalts eine andere Vorstellung. Er sieht den Gewinn, den der Inhalt einer Dichtung eintragen kann, darin, daß dem Menschen bewußt wird, welche Lebensgestaltung die ethisch angemessene ist und welche nicht. Deshalb richtet sich seine Kritik in der Regel weniger gegen das Fehlverhalten einzelner Personen, sondern gegen moralische Defizite im allgemeinen. Dem in vielen Epoden, Satiren und Episteln zur Sprache gebrachten Sittenverfall stellt er das Gebot des recte vivere gegen ¨ uber, das sich 166 Zum Verh ¨ altnis zwischen Form und Inhalt folgert A. Schmitt: Aristoteles, Poetik, 2008: 221, unter Berufung auf ¨ Außerungen Platons und Aristoteles’: Es gibt ”keine (auch keine ’dialektische‘ ) Einheit von Inhalt und Form, sondern eine eindeutige Priorit ¨ at des Inhalts vor der Form“. Freude und Vergn ¨ ugen 243 an den fr ¨ uheren Tugenden orientieren soll, die Rom groß gemacht haben, aber in den B ¨ urgerkriegen verlorengegangen sind. Mit dem mahnenden Erinnern an die private und an die b ¨ urgerliche Tugendhaftigkeit wendet sich der Dichter des carpe diem (carm. 1, 11, 8), der Freundschaft und der Liebe Anliegen zu, die damals vom Stoizismus propagiert wurden. Das Handeln sollte nach stoischer Lehre auf das Rechttun in der rechten Gesinnung gerichtet sein, hatte also neben dem Appell an den Einzelnen, auf die sittliche Vervollkommnung der eigenen Person bedacht zu sein, eine soziale Komponente: die Erf ¨ ullung der Pflichten, die das naturgem ¨ aße Leben mit und in der Gemeinschaft verlangt. Das große Spektrum der moralischen, p ¨ adagogischen, politischen und didaktischen Inhalte, das Horaz in seinen Dichtungen mit dem Ziel ausgebreitet hat, ¨ uber die Freude an der Dichtung den Einzelnen und die Gesellschaft seiner Zeit zum rechten Handeln zu motivieren, korrespondiert zwar mit der Betonung der Inhaltsseite bei Philodemos, doch hat Horaz den radikalen Individualismus des Epikureers und der epikureischen Schule umgepolt auf eine Lehre des rechten Handelns in der Gemeinschaft. Freude und Vergn ¨ ugen wird demjenigen zuteil, der aus der Dichtung Gewißheit beziehen kann, pers ¨ onlich und gesellschaftlich auf dem Weg des Rechttuns zu sein. Die Ann ¨ aherung an die stoischen Grund ¨ uberzeugungen ist nicht zu ¨ ubersehen. 167 Brink 1971: 352f. tendiert in seinem Kommentar zur Ars poetica dazu, das delectare mit dem Genuß zu verbinden, den das Erfundene, Wunderbare, Fiktive dem Leser oder H ¨ orer bereiten kann. Nun hat Horaz allerdings den Dichter mehrfach gemahnt, schon von den Eingangsversen an, die Grenzen der Wahrscheinlichkeit sorgsam zu beachten, um der Glaubhaftigkeit und der Zustimmung des Publikums willen. Aus dem v. 338 ficta voluptatis causa sint proxima veris (”Was zum Vergn ¨ ugen erfunden ist, muß der Wirklichkeit m ¨ oglichst nahe kommen“) ist sogar zu folgern, daß der Grad des Vergn ¨ ugens, das die Dichtung bewirken kann, von der N ¨ ahe des Inhalts zur Realit ¨ at abh ¨ angt: Je ’wirklicher‘ oder m ¨ oglicher etwas ist oder erscheint, was poetisch geschaffen ist, desto gr ¨ oßer die Freude und das Vergn ¨ ugen, das es im Rezipienten ausl ¨ osen kann. Es konnte sich auch die Stoa im ganz allgemein bezeichneten Wirkungsziel ”Freude, Vergn ¨ ugen“ wiederfinden, gestand sie doch guter Dichtung zu, die Menschen lehren zu k ¨ onnen, auf dem Weg der Tugend zum Freude bringenden Lebensgl ¨ uck, der Eud ¨ amonie, zu gelangen. Epikureer strenger Observanz, die der 167 Nach stoischer Lehre gelten Freude und Vergn ¨ ugen nicht als eigenst ¨ andige Ziele; sie wurden gesehen als eine sich von selbst ergebende Folge des gelingenden Strebens nach Harmonie mit dem, was der menschlichen Natur und der Vernunft gem ¨ aß ist. Dar ¨ uber handelt ausf ¨ uhrlich Seneca im 9. Kapitel von De beata vita (Dial. 7, 9; vgl. 2f: sic uoluptas non est merces nec causa uirtutis sed accessio, nec quia delectat placet, sed, si placet, et delectat.) Nochmalige Erw ¨ ahnung in Kapitel 15, 2. Auch Diogenes La ¨ ertios spricht von ”Freude“ ( χαρ ), ”Frohsinn“ ( ε; φροσ<νη ) ”und was dem ¨ ahnlich“ als Folgeerscheinungen (7, 94). 244 Das Spektrum der allgemeinen Wirkungsziele Dichtung einen Platz nur zur kurzweiligen Unterhaltung einr ¨ aumten, und auch solche, die, wie Philodemos, Freude daran bekundeten, Poesie intellektuell zu genießen, konnten dem Horazischen Wirkungsbegriffgleichermaßen zustimmen. Weil dieser Begriffeine Synthese der divergierenden philosophischen Anschauungen zur Frage nach dem Dichtungsziel darstellte, konnte er seine G ¨ ultigkeit im poetologischen Diskurs ¨ uber die Antike hinaus behaupten. Nur in poetischen Selbstzeugnissen bekennt Horaz, was Aristoteles mit der Unterscheidung der Produzentenperspektive von der des Rezipienten poetologisch klar differenzierend festgehalten hatte: daß der Dichter selbst an seinem Werk und durch sein Werk Freude und Vergn ¨ ugen erfahren kann. Wie aber das delectare des Zuh ¨ orers, Lesers oder Zuschauers bei Horaz keine durch Erkenntnisgewinn begl ¨ uckende Bereicherung ist, sondern nur die Generierung eines emotionalen, moralischen, intellektuellen oder ¨ asthetischen Wohlgef ¨ uhls, so ist auch die Freude, die der Dichter durch sein Werk sich selbst verschafft, nur eine lustvolle pers ¨ onliche Regung. Ausgel ¨ ost wird sie von der Befriedigung am Dichten oder am fertigen Werk, was immer das Vorhaben sein mag. An den Anfang des 30 v. Chr. ver ¨ offentlichten Satirenbuches hat Horaz eine Rechtfertigung seiner kritischen Sch ¨ arfe gesetzt, die in der Form eines Gespr ¨ achs mit dem damals ber ¨ uhmten Advokaten Trebanius entwickelt wird. Den Rat, vom Dichten zu lassen oder gef ¨ allige Poesie, z. B. Kaiserpanegyrik, zu schreiben, weist Horaz mit dem Argument zur ¨ uck, daß ein jeder seine Passionen habe, der eine sein ein leidenschaftlicher Reiter, der andere ein Anh ¨ anger des Faustkampfes, jeder der unz ¨ ahligen Menschen habe seine eigene Lieblingsbesch ¨ aftigung, er aber habe nun einmal die Leidenschaft zu dichten: ”Mir macht’s nun einmal Freude, meine Worte in Versform zu kleiden.“ 168 Im 14 v. Chr., also schon in der N ¨ ahe zur Ars poetica verfaßten Brief an Augustus entwirft Horaz eine Skizze der guten Seiten eines Dichters: Er ist nicht habgierig; Verm ¨ ogensverlust, Sklavenflucht und Feuerschaden ertr ¨ agt er lachend; keinen Trug sinnt er aus, um Genossen oder ein M ¨ undel zu sch ¨ adigen; er lebt von Schoten und grobem Brot; zum Soldaten unwillig und ungeeignet, ist er doch der Gemeinschaft n ¨ utzlich. ”Freude machen ihm Verse, darauf geht sein einziges Trachten.” 169 Martial wird sich in die Bekennerreihe mit einem Epigramm einordnen, welches die Horazische Prodesse-delectare-Dialektik direkt aufnimmt. ”Was n ¨ utzen dir diese Gedichte, wenn sie auch vielen huldigen? “, l ¨ aßt er den Kaiser Domitian im 5. Buch ihn fragen. Die Antwort Martials (der nat ¨ urlich auch mehr Lohn 168 Horaz, Sermones 2, 1, 27f.: quot capitum vivunt, totidem studiorum / milia: me pedibus delectat claudere verba. 169 Horaz, Epistulae 2, 1, 120: versus amat, hoc studet unum. Freude und Vergn ¨ ugen 245 gerne sehen w ¨ urde): ”N ¨ utzen m ¨ ogen sie freilich nicht, doch mir machen sie Vergn ¨ ugen“. 170 ¨ Außerungen Senecas d. J. zeigen, daß im r ¨ omischen Denken das delectare einen schwereren Stand hatte als das prodesse. Auch bei Horaz selbst ist die Balance ja ¨ außerst unausgewogen. Nutzen, Belehrung, Gewinn, also der praktische Zweck und Ertrag, rangierten im r ¨ omischen Wertbewußtsein h ¨ oher als ¨ asthetische und intellektuelle Gl ¨ ucksgef ¨ uhle. Hierf ¨ ur ist bezeichnend, daß Seneca sogar Vergil vorwarf, in den Georgica, der hochgesch ¨ atzten Musterlehrdichtung der augusteischen ¨ Ara, technische Details des Landbaus nicht wahrheitsgetreu dargestellt zu haben. Statt zweckdienliche Sachkenntnisse zu vermitteln und die Landleute zu belehren, sei es Vergil nur darum gegangen, sehr anmutig zu formulieren und ”die Leser zu erfreuen.“ 171 Seneca urteilt ’praktisch‘ ; der tiefere Gehalt der Georgica wird unterschlagen. Da Seelentherapie, Trostspende und Wegweisung zum tugendhaften Leben - die Motive der Dichtung, die f ¨ ur ihn z ¨ ahlen - in den Georgica nicht thematisch angesprochen werden, ist Vergils Dichtung in der Perspektive des stoischen Kritikers eine Sch ¨ opfung, die nicht mehr als ein Lesevergn ¨ ugen bringt. Und Vergn ¨ ugen, Freude, Genuß, so stellt Senecas Urteil klar, reichen als Ziele nicht aus, Poesie zu begr ¨ unden. Die Ablehnung des bloßen delectare hat Seneca auch in De beneficiis bekundet. Er wendet sich dort gegen die Begr ¨ undung der Pflicht zur Dankbarkeit durch Chrysippos, das dritte Schulhaupt der Stoa. Dieser habe die Dankbarkeit mit einer Schuldigkeit gegen ¨ uber den Chariten (Grazien) in Verbindung gebracht; sie zu vers ¨ aumen, k ¨ ame also einem Sakrileg gleich. Seneca fordert aber, rational zu argumentieren statt bloß die Mythologeme ins Feld zu f ¨ uhren. Derlei ”Unsinn“ (istae ineptiae) solle man den Dichtern ¨ uberlassen; sie seien ja ohnehin an der Wahrheit nicht interessiert, sondern nur an dem, was sich gut macht f ¨ ur ein Gedicht. Und Seneca h ¨ alt mit seiner speziellen Kritik an der Wirkungsabsicht der Dichter nicht hinter dem Berg zur ¨ uck: ”Ihr Ziel ist es, die Ohren zu erfreuen und eine sch ¨ one Geschichte zusammenzubinden.“ 172 170 Martial, Epigrame 5, 15, 5f.: ’Quid tamen haec prosunt quamvis venerantia multos? ‘ / Non prosint sane, me tamen ista iuvant. 171 Seneca, Epistulae Morales 86, 15: . . . Vergilius noster, qui non quid verissime sed quid decentissime diceretur aspexit, nec agricolas docere voluit sed legentes delectare. Seneca hatte erfahren, daß man ¨ Olb ¨ aume schon wenige Jahre nach dem Heranwachsen aus dem Steckkern verpflanzt und nach dem Anwurzeln in ein paar weiteren Jahren schon ein fruchttragendes Gew ¨ achs bekommt. Es stimme also nicht, daß B ¨ aume so langsam wachsen, daß erst die Enkel etwas von ihnen haben, wie Vergil in II, 57 es darstelle. 172 Seneca, De beneficiis 1, 4, 5f.: Istae vero ineptiae poetis relinquantur, quibus aures oblectare propositum est et dulcem fabulam nectere. 246 Senecas Verdammung der Freude und des Vergn ¨ ugens als autonomen Dichtungszielen ist zwar als eine doktrin ¨ are stoische ¨ Außerung parteiisch, doch zeigt sie, daß die Horazische Trias prodesse - delectare - prodesse et delectare durchaus nicht die einhellige Zustimmung fand, zu der ihre Offenheit gegen ¨ uber allen poetologischen Richtungen einlud. 173 173 Literatur zum Horazischen delectare: E. R. Schwinge, Zur Kunsttheorie des Horaz, in: Philologus 107 (1963), 75-96; C. O. Brink, Horace On Poetry, II: The ’Ars Poetica‘ , Cambridge 1971; K. Adam, Docere - delectare - movere. Zur poetischen und rhetorischen Theorie ¨ uber Aufgaben und Wirkung der Literatur, Kiel 1971; M. Fuhrmann, 3 2003, 139f.; D. 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Zimmermann, B., Die griechische Kom ¨ odie, Darmstadt 1998 Zimmermann, B., Artikel ’Trag ¨ odie, I: Griechisch‘ , in: DNP 12/ 1 (2002), 734-740 Index Accius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Agatharchides . . . . . . . . . . . . 107 Aischylos . . . . . . . . . . . . . . 47, 137 Alkaios . . . . . . . . . . . . . . 160f., 207 Allegorese . . . . . . . . . . . . 97f., 171 Andromenides . . . . . . . . . . . . 229 οιδ ς , ’S ¨ anger‘ . . . . . . . . . . 9, 165f. Apuleius . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Aratos . . . . . . . . . . . . . . . 175, 181 Archilochos 81, 83, 137, 159, 160, 185, 206f. Aristarch von Samothrake . . . . 158 Aristophanes . . . . . . . 137, 156, 171 - Fr¨ osche . . . . . . . . . . . . . . . . . 188f. Aristophanes von Byzanz . . . . 158 Aristoteles . 31ff., 52, 140, 170f., 211 - anthropologische, utilitarische, philosophische Begr ¨ undung der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . 103f. - Epos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 - Gattungsunterscheidung nach dem Darstellungsmodus . . . . . . 87-91 - Genese der Poetologie . . . . . 126 - Handlung der Trag ¨ odie . . . . 201f. - Konzeption des Dichters . . 124ff. - Stellung zur Lehrdichtung . 173ff. - Lustlehre . . . . . . . . . . . . 235-238 - μανικ ς . . . . . . . . . . . . . . . . 147f. - Poetik . . . . . . . . . . . . . . 21, 31ff. - Psychagogie . . . . . . . . . . . . 201 - Unterscheidung Dichtung/ Rede 51 - ¨ uber Redekunst in der Dichtung 62f. - Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . 49 - Rhythmus der Rede . . . . . . . . 57 - Stillehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 - Tragische Lust . . . . . . . . . . . 205f. artes grammaticae . . . . . . . . . . . . 70 artes liberales . . . . . . . . . . . . . . 141 Asklepiades . . . . . . . . . . . . . . 108 Augustinus . . . . . 69, 143, 153, 233f. Avienus . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Begabung (natura) . . . . . . . 139-154 - als Standesmerkmal . . . . . . . 143f. - Erfordernis f ¨ ur Finden von Metaphern (Aristoteles) . . . . . . . . 146 - ’naturbegabter‘/ ’manischer‘ Dichter (Aristoteles) . . . . . . . . . . . . 146ff. - das g ¨ ottliche Element der Seele 148f. - Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . 142f. - das Horazische ingenium . . 149ff. canere, cantare . . . . . . . . . . . . . . 11 carmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11f. Cato . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27, 142 Catull . . . . . . . . . . . . . . . . . 82, 208 Chariton von Aphrodisias . . . . 110 Chrysippos . . . . . . . . . . . . . . . 192 Cicero 28, 37, 51, 54, 109, 129f., 142, 159, 175, 181, 224f., 239 - Abgrenzung Dichtung - Rede 40f. - Rhythmus der Rede . . . . . . . 57ff. - Widerspr ¨ uchliches ¨ uber Dichtung . . . . . . . . . . . . . . 194ff. - Wohlklang . . . . . . . . . . . . . . 232f. classicus . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Commodianus . . . . . . . . . . . . 178 delectare - Was meint Horaz? . . . . . . . . 241f. Demokrit . . . . . . . . . 122, 141f., 228 dicere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 dichten, Dichter, Gedicht . . . . . . . 24 266 Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 - Aufgabe und Voraussetzungen (Horaz) . . . 66f., 128f., 148f., 197f. - nach Platon . . . . . . . . . . . . 122ff. - Definition . . . . . . . . . . . 32ff., 35 - berufen zu r ¨ uhmen . . . . . . . 169 - Betonung der Kreativit ¨ at . . 130ff. - Gebot und Verbot der Musen 121ff. - als Priester . . . . . . . . . . . . . . 127 - durch Begabung oder erworbene Kunstfertigkeit? . . . 130, 139-154 - naturbegabt oder manisch (Aristoteles) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 - mania bei Aristoteles . . . . . . . 124f. - Lustgewinn durch Nachahmung . . . . . . . . . . . . 236 - Fachwissen f ¨ ur Lehrdichtung 180f. - Selbstverst ¨ andnis in der Lehrdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 - der gelehrte Dichter . . 171f., 179f. - Kunstfertigkeit durch Nachahmung . . . . . . . . 154-164 - und Redner . . . . . . . . . . . . . . 54 - Werk verschafft Dichter Freude 244 Dichtung - Definition . . . 28ff., 32ff., 50f., 88ff. - Bewertung Ciceros . . . . . . . . . 41 - Distanz zur Rede . . . . . . . . 50-53 - Entstehung nach Aristoteles . 125 - f ¨ ordert Erkenntnis . . . . . . . . 106 - im Bildungsplan . . . . . . . . . 54ff. - Kriterium: Mimesis . . . . . . . . 31ff. - Kriterium: Akustische Wirkung 37 - Kriterium: Stil statt Vers . . . . 36f. - Kulturschaffende Leistung (Horaz) . . . . . . . . . . . . . . . 196f. - Merkmale nach Horaz . . . . . 39f. - Mittel ethischer Erziehung 185-194 - N ¨ ahe zur Rede . . . . . . . . . . 54-59 - Psychische Effekte . . . . . 198-216 - Rhetorisierung . . . . . . . . . . 61-70 - Verh ¨ altnis zur Rhetorik . . . 45-70 Dichtungsstil - nach Aristoteles . . . . . . . . . . 65f. - nach Horaz . . . . . . . . . . . . . 66f. - Parallelisierung mit Gattungen 67f. - je nach Stoff . . . . . . . . . . . . . . 68 - Stufung in der Sp ¨ atantike . . . 67ff. Diomedes . . . . . . 68f., 93f., 172, 179 Dion von Prusa . . . . . . . . . . . . 194 Dionysios von Alexandreia . . . 175 Dionysios von Halikarnassos 36, 61, 158, 212, 231 Δισσο Λ γοι . . . . . . . . . . 102, 220 Dithyrambos . . . . . . . . 75, 90, 138 Donatus . . . . . . . . . . . . . . . . . 67f. Dreistillehre . . . . . . . . . . . . . 64-70 Elegie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82ff. Empedokles . . . . . . . . . . . . 96, 174 Ennius . 11, 16, 38f., 78, 83, 127, 175 Enthusiasmustheorie 122, 128, 129f., 133 - Aristoteles . . . . . . . . . . 145, 146f. - Ablehnung bei Horaz . . . . . . 149 - Lehre von der poetischen Ekstase . . . . . . . . . . . . . . . . 130ff. Ependichtung . . . . . . . . . . . . 165ff. Epicharmos . . . . . . . . . . 138, 141f. Epigramm . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Epikur . . . . . . . . . . . . . . 213, 221ff. Epos . 81, 90f., 114f., 119ff., 172, 182 Eratosthenes . . . . . . . . . . 108, 199ff. Erworbene Kunstfertigkeit (ars) . . . . . . . . . . . . . . . 139-154 - ars bei Horaz . . . . . . . . . . . . 148f. Euphonisten . . . . . . . 36f., 77, 228ff. Euripides . . . . . . . . . . . . . . . . 207 267 Fabeldichtung . . . . . . . . . . . . . 184 Fiktionalit ¨ at 92, 99-117, 166, 228, 243 - Hierarchie der Dichtungsstoffe 108f. - Frage ihres Beginns . . . . . . . 99ff. - Position des Aristoteles . 104-108 - M ¨ oglichkeit, Wahrscheinlichkeit des Dargestellten . . . . . . . . . . . . 110 - das Gebot der Wahrscheinlichkeit und Glaubw ¨ urdigkeit des Horaz . . . . . . . . . . . . . . . . 111ff. - das Charakteristikum der Dichtung (Ovid) . . . . . . . . . . . . . . . . 114ff. Florus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Freude und Vergn ¨ ugen 190, 217-246 Freude und Vergn ¨ ugen - Argument gegen die Dichtung 219f. - durch Lied des S ¨ angers . . . . 217f. - des Dichters/ des Rezipienten an der Nachahmung . . . . . . . . . . . 236f. - Begleitph ¨ anomene des Lernens 237 - durch Erkenntnisgewinn . . . 237 - Lustlehre des Aristoteles 235-238 - Verh ¨ altnis Epikurs zur Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . 224 - Verh ¨ altnis Epikurs zur Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . 221 - Epikureisches Lebensziel . . . 213 - Euphonistische Doktrin . 227-234 - Philodemos’ Lehre des intellektuellen Vergn ¨ ugens . . . . . . . . . . 225ff. - delectare . . . . . . . . . . . . . . . 241ff. Galenos . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Gattungsunterscheidungen . . 71-94 - Trias Epik-Lyrik-Drama . . . . 71ff. - Differenzkriterien . . . . . . . . 76f. - Kriterium: Versform . . . . . . 81-87 - nach dem Realit ¨ atsgrad des Stoffes . . . . . . . . . . . . . . . . 109ff. - Hauptkategorien der Antike 75-81 - Grenz ¨ uberschreitungen . . . . 80f. - ethisches Postulat . . . . . . . . . . 92 - f ¨ ur Euphonisten irrelevant . . . 77 - nach dem Darstellungsmodus 87-91 - Diomedes . . . . . . . . . . . . . . 93f. - r ¨ omische Theorien . . . . . . . 77-81 Gellius . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 genius, Genie . . . . . . . . . . . . . . 141 Germanicus . . . . . . . . . . . 135, 175 Gorgias . 28f., 49, 50, 56f., 101f., 200 Herakleides . . . . . . . . . . . . . . 240 Herakleodoros . . . . . . 36f., 77, 229 Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Herodot . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Hesiod 98f., 120f., 165, 166, 174, 206 - Werke und Tage . . . . . . . . . . . 178 Hirtendichtung . . . . . . . . . . . . 93f. Homer . . . . . . . . . . . . . 50, 97, 111 - der beste Lehrer . . . . . . . 171, 197 - Ilias . . . . . . . . . . . . . 27, 45f., 186f. - Odyssee . . . . . . . . . . . . . 46f., 198 Homerische Epen . 119ff., 141, 156f., 159, 165, 170f. Homer-Vergil-Vergleich . . . . . . 163 Horaz . . . . 29, 38ff., 66f., 77, 127ff., 136f., 139f., 148f., 165, 171, 196, 208, 210, 238ff. - Ars poetica . . . . . . . . 15f., 17f., 64 - Bacchusgedichte . . . . . . . . . 138 - Dichtung soll r ¨ uhren 210ff., 215ff. - Dichtungsarten . . . . . . . . . . 86f. - zur Elegie . . . . . . . . . . . . . . . 84 - Epoden . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 - g ¨ ottliches ’Verbot‘ eines Epos 121 - Lehrmeister Homer . . . . . . . 197 - Nachahmung der Griechen . 160ff. - Reflexe der Aristotelischen Unterscheidung von Wirklichem und M ¨ oglichem . . . . . . . . . . . . . 114f. 268 - Versepistel . . . . . . . . . . . . . . . 80 - zur Verssatire . . . . . . . . . . . 78ff. Iambendichtung . . . . . . . . . . . 160 Iambos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81ff. ingenium . . . . . . . . . . . . . 141, 149ff. Inspiration - g ¨ ottliche . . . . . . . . . . . . 119-133 - g ¨ ottliche, der Rede . . . . . . . . 47f. - Gottergriffenheit . . . . . . . . . 122 - g ¨ ottlicher Wahnsinn . . . . . . . 123f. - hellenistischer Ausbau . . . . . 126f. - intertextuell . . . . . . . . . . . . . 132 - Leitvorstellung der r ¨ omischen Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127ff. - Abkehr . . . . . . . . . . . . . . . 125ff. - Quelle: eigener Geist . . . . . . 135f. - Quelle: Herrscher, M ¨ azen . . . 134f. - Quelle: Wein . . . . . . . . . . . 136ff. - christlich uminterpretiert . . . 132f. Isidor von Sevilla . . . . . . . . . . . 93 Isokrates . . . . . . . . . . . 29, 50, 159f. Iuvencus . . . . . . . . . . . . . . 42, 133 Kallimachos . . . . . 10, 84, 126f., 160 Katharsis . . . . . . . . . . . . . . . 202ff. Klangqualit ¨ at der Sprachlaute 230ff. Kleanthes . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Kom ¨ odie 37, 38, 90, 101, 190, 194, 205 Krates von Mallos . . . . . . . . . 229ff. Kratinos . . . . . . . . . . . . . . . . . 137f. Kunstprosa . . . . . . . . 28, 34f., 50, 56 Lehrdichtung . 34, 77, 80, 88, 94, 98, 172-183 - Gattungsfrage . . . . . . . . . . 172ff. - Gattungsmerkmale . . . . . . 178ff. - Publikum . . . . . . . . . . . . . . 182 Liebeselegie . . . . . . . . . . . . . . . 83 Literatur - Definition . . . . . . . . . . . . . . . 92 Livius Andronicus . . . . . . . 27, 127 loqui . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Lucilius . . . . . . . . . . . 13f., 78, 234 Lukan . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Lukrez 10, 156, 176, 179f., 182f., 191, 224 Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86, 94 - Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 73ff. - Unterarten . . . . . . . . . . . . . . 75f. Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9f. Macrobius . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Manilius . . . . . . . . . . . . . . 135, 178 Mark Aurel . . . . . . . . . . . . . . . 194 Martial . . . . . . . . . . . 85f., 139, 244 Melik . . . . . . . . . . . . . . . 9, 11, 74f. Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . 62 Metrum - Poesie/ Prosa-Unterscheidung . . . . . . . . . . . . 36-43 Mimesis . . . . . . . . . . . . . . 92, 102f. - Platon . . . . . . . . . . . . . . 32f., 87f. - Aristoteles . . . . . . . . . . 31ff., 88ff. - literarische . . . . . . . . . . . . . 154 - Nachahmung musterg ¨ ultiger Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Musenanruf . . . . . . . . . . . . . 119ff. Mussato . . . . . . . . . . . . . . . . . 21f. Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . 95f. Nachahmung . . . . . . . . . . 154-164 - zur ¨ Uberholung (aemulatio) . . 155 - musterg ¨ ultige Autoren . . . . 157ff. - ’Bestenlisten‘ , Kanonbildung 158ff. - intertextuelle Inspiration . . . 161 - Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 269 - Kunstprinzip der Renaissance 163 Naevius . . . . . . . . . . . . 16, 27, 127 Natura-ars-Dialektik . . . . . . . 141ff. - Platons Position . . . . . . . . . . 144 - Aristoteles . . . . . . . . . . . . . 144ff. - Horaz . . . . . . . . . . . . . . . . 148ff. - Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . 142f. - Begabung f ¨ ur Wohlklang . . . 152 - ars in christlicher Rhetorik . . 153f. Neoptolemos . . . . . . . . . 212f., 239 Nikandros . . . . . . . . . . . . 175, 181 Nonnos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 δ ’Lied, Gesang‘ u. verwandte Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9f. oratio soluta . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Ovid . . . . . . . . . . . . 80f., 121, 136 - Ars amatoria . . . . . . . . . . 177, 180 - zur Elegie . . . . . . . . . . . . . . 83f. - Fasti . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 - Metamorphosen . . . . . . . . . 114f. Parmenides . . . . . . . . . . . . . . 174 Paulinus von Nola . . . . . . . . . . 133 Pausimachos . . . . 37, 152, 229, 231 Petrarca . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Philodemos . . 15, 35, 149, 162, 207, 212ff., 224ff. - Kritik an den Euphonisten . 230ff. - Seelischer Effekt von Dichtung 213ff. Pindar 122f., 128, 136, 143, 160, 168f. Platon . . 53, 81f., 84f., 144, 188, 228 - ¨ uber den Dichter . . . . . . . . 122ff. - Dichtungskritik . . . . . . . . . 95, 98 - Gattungsunterscheidung . . . . 87 - Gorgias . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 - Nomoi . . . . . . . . . . . . . . . . . 30f. - Politeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 - Protagoras . . . . . . . . . . . . . . 185 - Seelenlehre . . . . . . . . . . . . . 200f. Plinius minor . . . . . . . . . . . . . 130 Plutarch . . . . . 41f., 130f., 173, 193f. poema . . . . . . . . . . . . . . . . 13ff., 40 Poesie vs. Prosa 36-43, 51, 229, 231 poesis . . . . . . . . . . . . . . . . 13ff., 40 poiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 πο ησις ’Dichtung‘ u. verwandte Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13ff. Poet u. Wortfamilie . . . . . . . . . . 24 poeta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 poetari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 poetica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 poetice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Polybios . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Poseidonios . . . . . . . . . . . . . . . 14 Properz . . . . . . 121, 126f., 132, 138f. pro(r)sa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27-43 Prosarhythmus . . . . . . . . . . . . . 56 Prudentius . . . . . . . . . . . . . . . 136 Pseudo-Longinos . 53, 69, 131, 152f., 161, 216 Pseudo-Plutarch . . . . . . . . . . . 171 Psychagogie . . . . . . . . . . . . . 215ff. Querelle des anciens et des modernes 23 Quintilian 52f., 55, 58f., 62, 65, 76, 78, 140, 152, 155ff., 158ff., 162f., 192, 239 - zur Elegie . . . . . . . . . . . . . . . 84 - Klangwirkung der Sprache . . 233 Renaissanceu. Barockpoetiken 22ff. Rhetorica ad Herennium . . . . 142, 232 Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . 45-70 - Epideixis u. Ekphrasis . . . . . . 60 - Funktionsverlust im Prinzipat 59f. - Poetisierung . . . . . . . . . . . 59-61 Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 270 Sappho . . . . . . . . . . 160, 207, 218f. satura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78ff. Scaliger, J. C. . . . . . . . . . . . 21f., 164 Seneca d. J. . . . . 191, 209f., 215, 245 Servius . . . . . . . . . . . . 68, 93f., 178f. Solon . . . . . . . . . . . . . . . . . 95, 185 Sophokles . . . . . . . . . . . . . . 48, 207 Strabon 27f., 45, 108, 188, 190f., 193, 199 Sueton . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Tacitus . . . . . . . . . . . . . . . . . 61, 74 Theophilos . . . . . . . . . . . . . . . 136 Theophrast . . . . . . . . . 54f., 64, 230 Thrasymachos . . . . . . . . . . . . . 57 Thukydides . . . . . . . . . . . . 96, 219 Tibull . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Trag ¨ odie . 47f., 61, 62f., 83, 90f., 101f., 103, 105, 188f., 194, 201f., 220, 235 Varro 12f., 14f., 18-21, 40, 67, 207, 232 - De lingua Latina . . . . . . . . . . 18ff. - De poematis . . . . . . . . . . . . . 20f. vates . . . . . . . . . . . . . . . 12, 16, 127 Velleius Paterculus . . . . . . . . . 158 Vergil . . . . . . 68f., 121, 127, 134, 157 - Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . 97, 114 - Georgica . . . 176, 181, 183, 184, 245 Versform - Wirkung . . . . . . . . . . . . . . 191ff. Verssatire . . . . . . . . 78ff., 184, 197f. Volcacius Sedigitus . . . . . . . . . 158 Wirklichkeitsanspruch der Dichtung . . . . . . . . . . . . 95-102 - Allegorese . . . . . . . . . . . . . . 97f. - Das Wirkliche und das M ¨ ogliche (Aristoteles) . . . . . . . . . 102-107 - Horaz: Das Wahre/ das Fiktive 113 - Mythen und Realit ¨ at . . . . . . 95ff. Wirkungsziele . . . . . . . . . . 165-246 - fr ¨ uhe Epik: Kunde und Freude 165ff. - fr ¨ uhe Lyrik . . . . . . . . . . . . . 168f. - Wissensvermittlung und Belehrung . . . . . . . . . . 170-183 - Verhaltenslenkung . . . . . 184-198 - Emotionserregung, R ¨ uhrung 210- 216 - Psychagogie . . . . . . . . . 199-206 - Mitleid ( "λεος ) und Furcht ( φ βος ) . . . . . . . . . . . . . 201-206 - Trost . . . . . . . . . . . . . . . 206-210 - Freude und Vergn ¨ ugen durch Nachahmung (Aristoteles) . . . 235-238 - Akustisches Vergn ¨ ugen . 227-234 - Philodemos gegen Nutzen und Vergn ¨ ugen als Leitvorstellungen . . . . . . . . . . . 241f. - intellektuelles Vergn ¨ ugen (Philodemos) . . . . . . . . . . . . . . . . . 225ff. - Freude und Vergn ¨ ugen . . 217-246 - Horaz’ triadische Bestimmung 238 Xenophanes . . . . . . . 100, 174, 187f. ISBN 978-3-7720-8462-1 Die antike Dichtungslehre zählt zu den Arbeitsfeldern, auf denen die literaturwissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte die größten Erkenntnisfortschritte verbuchen konnte. Von der Poetik des Aristoteles bis zu den von der Antike inspirierten poetologischen Werken der Renaissance und des Barock ist ein reiches Quellenmaterial teils neu ediert, kommentiert und bearbeitet, teils überhaupt erstmals bekannt und zugänglich gemacht geworden, sodass sich jetzt ein abgerundetes Bild der antiken Dichtungslehre gewinnen lässt. Es in den Hauptlinien kritisch zur Darstellung zu bringen, ist das Ziel dieses Buchs, das nach Themenkreisen vorgeht und außer den Lehrschriften im weitesten Sinn auch die „Autorenpoetik“, die metapoetischen Texte oder Textpassagen in den Dichtungen selbst, ergänzend in die systematische Betrachtung einbezieht. Das Buch kommt breiterem kulturhistorischem und literaturästhetischem Interesse entgegen, denn die antike Poetologie hat bis ins 18. Jh. hinein, bis zum Paradigmenwechsel durch die Genieästhetik, der europäischen Dichtung die Regeln der Kunst vorgegeben. Sie ist noch heute ein Fundament, auf dem das Verständnis von Dichtung gründet.