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Akten des V. Rätoromanistischen Kolloquiums/Actas dal V. Colloqui retoromanistic

2014
978-3-7720-5474-7
A. Francke Verlag 
Georges Darms
Clà Riatsch
Clau Solèr

Vom 28. - 31. August 2011 fand in Lavin das fünfte Rätoromanistische Kolloquium statt. An diesem Kolloquium nahmen beinahe alle wichtigen Forscher teil, die sich mit bündnerromanischer, dolomitenladinischer und friaulischer Sprache und Literatur beschäftigen. Die dort gehaltenen Vorträge gaben einen hervorragenden Überblick über die laufenden Untersuchungen, Projekte und Ergebnisse auf dem Gebiet dieser drei Sprachgruppen und ihrer Probleme als Minderheitensprachen. Diese Vorträge sind nun in diesem Sammelband thematisch zusammengestellt und dokumentieren damit den Stand der aktuellen Arbeiten auf dem Gebiet der Rätoromanistik auch für ein breiteres Publikum.

Akten des V. Rätoromanistischen Kolloquiums Actas dal V. Colloqui retoromanistic Lavin 2011 Georges Darms / Clà Riatsch / Clau Solèr (Hrsg.) Akten des V. Rätoromanistischen Kolloquiums Actas dal V. Colloqui retoromanistic Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit Unterstützung - des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, - des Instituts für Kulturforschung Graubünden, - der Graubündner Kantonalbank, - des Dekanats der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg/ Schweiz © 2013 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8474-4 Inhaltsverzeichnis Cuntegn G EORGES D ARMS , Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Teil I Historische Sprache / Part I Linguatgs istorics . . . . . . . 13 F EDERICO V ICARIO , Studio del lessico e carte friulane tardomedievali . . . 15 G IOVANNI M ISCHÌ , Gadertalische Toponyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 R ICARDA L IVER , Bibelübersetzungen in den Anfängen der bündnerromanischen Schriftsprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 P AUL V IDESOTT , Die erste dolomitenladinische Grammatik . . . . . . . . . . . 53 M ASSIMILIANO V ERDINI , Il dizionario romancio-tedesco-latino di Š tefan Kocian č i č . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 J ÜRGEN R OLSHOVEN UND F LORENTIN L UTZ , Crestomazia Digitala . . . . . . . 83 M ATTHIAS G RÜNERT , Italienischer Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen des Bündnerromanischen . . . . . . . . . . . . . . 105 G IORGIO C ADORINI , Due progetti etimologici friulani in corso . . . . . . . . . 125 Teil II Aktuelle Sprache / Part II Linguatg actual . . . . . . . . . . . 135 F RANZISKA M ARIA H ACK UND G EORG A. K AISER , Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 L UCA M ELCHIOR , Zur verbalen surcomposition im Friaulischen . . . . . . . 163 C LAU S OLÈR , Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik . . . . . . . . 189 H ANS G OEBL , Der zweite Teil des Sprachatlasses ALD («Atlant linguistich dl ladin dolomitich i di dialec vejins») . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 R ENATA C ORAY , Rätoromanische Sprachbiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 G ERDA V IDESOTT , Zur Relativität der Klassifizierung von Sprache(n) . . . 239 Teil III Literatur / Part III Litteratura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 R UT B ERNARDI , Dolomitenladinische Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . 263 R ENZO C ADUFF , Die Verskunst Peider Lansels am Beispiel des Elfsilblers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 C LÀ R IATSCH , Andri Peers «altes Romanisch» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 A NNETTA G ANZONI , Andri Peer - Zur Rezeption moderner Lyrik in einer Kleinkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Teil IV Sprachpolitik / Part IV Politica da linguatgs . . . . . . . . 327 R ICO F RANC V ALÄR , Peider Lansel und die staatspolitische Dimension der «questione ladina» in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 W ILLIAM C ISILINO , La tutela giuridica della lingua friulana . . . . . . . . . . 357 G EROLD H ILTY , Ist das Bündnerromanische noch zu retten? . . . . . . . . . . 369 Abkürzungsverzeichnis/ Abreviaziuns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Anschriften der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 6 Inhaltsverzeichnis Einleitung Georges Darms In den 80er Jahren des 20. Jh. begann man, nicht zuletzt im Zuge des Ausbaus der Europäischen Union, sich für Sprachen zu interessieren, die innerhalb ihres Staates nur von einer Minderheit gesprochen werden. Zu diesen Minderheitssprachen zählen auch die Sprachen, die in der Forschung unter der Bezeichnung «rätoromanische Sprachen» zusammengefasst werden. Diesen ist zumindest gemeinsam, dass sie am nordöstlichen Rande des italienischen Sprachgebiets gesprochen werden und von ihren Sprechern nicht als italienische Dialekte angesehen werden, was auch immer die Wissenschaft oder die Ideologie (oder beide) dazu sagen. Dies gilt selbst dort, wo das Italienische im Gebiet selber die meisten schriftsprachlichen und auch einige gesprochene Bereiche übernommen hat, wie im Friaulischen. Wie weit die sprachliche Verwandtschaft dieser drei Gebiete geht, sei hier dahingestellt. Es war auch nicht das Thema des Rätoromanistischen Kolloquiums von Lavin 2011, aber unter den Vortragenden hätte man durchaus verschiedene Auffassungen dazu hören können. Jedenfalls haben sich verschiedene Forscher dieser drei Sprachgebiete bereits seit längerer Zeit zumindest als schicksalsverwandt angesehen und deshalb auch versucht, sich mit der wissenschaftlichen Forschung und den sprachsoziologischen Gegebenheiten aller drei Gebiete auseinanderzusetzen. Als Vorläufer dieser Bestrebungen kann die Theodor Gartner-Tagung in Vill/ Innsbruck 1985 gelten, die allerdings noch Rätoromanisch und Rumänisch zum Thema hatte 1 . Bereits die Akten dieser Tagung enthielten Artikel zum Bündnerromanischen, Zentralladinischen und Friaulischen, wobei allerdings das Bündnerromanische überwog. Das Bündnerromanische hatte damals als Gegenstand der Forschung dank den schweizerischen Romanisten noch einen klaren Vorsprung gegenüber den beiden anderen rätoromanischen Gebieten, die im damals noch sehr zentralistischen italienischen Staat etwas länger auf ihre Anerkennung und auf Entfaltungsmöglichkeiten warten mussten. Die bei dieser Gelegenheit geknüpften Kontakte führten die meisten Teilnehmer zur Mitarbeit an einem Jahrhundertwerk, dem Lexikon der Romanistischen Linguistik. Der 3. Band dieses Lexikons, erschienen 1989, weist denn auch fast die gleiche Thematik auf wie die Akten der Theodor 1 Akten der Theodor Gartner-Tagung (Rätoromanisch und Rumänisch) in Vill/ Innsbruck 1985, ed. G. A. P LANGG und M. I LIESCU , Innsbruck 1987 [Romanica Ænipontana XIV]. 2002 nach diesem grundlegenden Wechsel des Status des Friaulischen die Kontakte mit den übrigen rätoromanischen Gebieten neu geknüpft wurden. Diese neue Garde erklärte sich dann auch bereit, das Rätoromanistische Kolloquium von 2005 zu organisieren. Die Vorträge des Kolloquiums von 2002 wurden in einem Doppelband der regionalen dolomitenladinischen wissenschaftlichen Zeitschrift Ladinia abgedruckt (Ladinia XXVI - XXVII, 2002 - 2003, 8 - 404). Es gelang den Herausgebern tatsächlich, die meisten Autoren dazu zu bewegen, ihre Texte für den Abdruck in dieser Zeitschrift zur Verfügung zu stellen, wobei sich diesmal bei den fehlenden Artikeln keine geographische Verteilung ausmachen lässt. Das nächste Kolloquium wurde von der Società Filologica Friulana organisiert und fand 2005 in San Denêl/ San Daniele im friaulischen Sprachgebiet statt. Die meisten Vorträge wurden in einem Sonderband mit dem Titel Ladine Loqui, IV Colloquium retoromanistich herausgegeben 5 . In diesem Band überwiegen die friaulischen Themen bei weitem, und fünf Beiträge sind auch in friaulischer Sprache verfasst. Demgegenüber kommen die anderen rätoromanischen Gebiete mit zwei Beiträgen zum Bündnerromanischen und einem einzigen zum Dolomitenladinischen ganz eindeutig zu kurz. Man muss somit wohl eher von einem friaulischen Kolloquium mit auswärtiger Beteiligung sprechen, dies sicher auch bedingt durch ein etwas unübliches Vorgehen bei der Vorbereitung des Kolloquiums. 2008 wäre dann turnusgemäss Deutschland (oder Österreich) an der Reihe gewesen; in Deutschland hatten die rätoromanistischen Kolloquien ja im Jahre 1996 begonnen. Dieses Kolloquium fiel jedoch aus, vorwiegend wohl dadurch bedingt, dass viele Forscher, die sich früher mit dem Rätoromanischen beschäftigt hatten, sich unterdessen anderen Forschungsgebieten zugewandt hatten. 2011 wären dann die Bündnerromanen wieder an der Reihe gewesen. Nach Rücksprache mit einigen Vertretern des Dolomitenladinischen und Friaulischen entschloss ich mich, die Tradition wieder aufzunehmen und zu versuchen, ein ‹ V. Colloqui Retoromanistic › vorzubereiten. Das Echo auf die Einladungen war sehr gut, so dass die Durchführung in sehr kurzer Zeit als gesichert gelten konnte. Durch die Wahl von Lavin im Unterengadin, ein Ort, der den beiden anderen rätoromanischen Gebieten geographisch nahe liegt, konnte eine fast ausgewogene Verteilung der Referate auf die drei Sprachgruppen erreicht werden. Zwar überwog auch in Lavin das einheimische Bündnerromanische mit 11 von 23 Vorträgen, dies aber nur dank seiner starken Präsenz im literarischen Teil (drei Vorträge von vier) und im sprachpolitischen Teil (zwei Vorträge von drei). Auf dem Gebiet der Literatur hat das Bündnerromanische zur Zeit noch eine Vorreiterrolle innerhalb des 5 Ladine loqui, IV Colloquium retoromanistich, ed. F. V ICARIO , Udine, Società Filologia Friulana, 2007 [Biblioteca di studi linguistici e filologici 7]. 9 Einleitung rätoromanischen Sprachgebiets, nicht zuletzt dank den Arbeiten von Clà Riatsch (Zürich) und seinen Mitarbeitern. In den beiden anderen Sprachgebieten wurde die Literatur bisher noch kaum wissenschaftlich behandelt. Erste Arbeiten zu einer Literaturgeschichte eines anderen Sprachgebietes wurden allerdings auch in Lavin vorgestellt und sind auch hier auch wieder aufgenommen: Dolomitenladinische Literaturgeschichte von Rut B ERNARDI (263 - 281). Die sprachwissenschaftlichen Themen verteilten sich ziemlich ausgeglichen mit sechs Vorträgen zum Bündnerromanischen, fünf zum Friaulischen und fünf zum Dolomitenladinischen. Von diesen letzten beiden Sprachgebieten fanden allerdings nur jeweils vier Vorträge auch im vorliegenden Band Aufnahme, wobei ein Vortrag zur ladinischen Topographie aus technischen Gründen nicht hier publiziert werden konnte. Die verschiedenen Referate aus den drei Sprachgebieten zeigen, dass der Schwerpunkt der Forschung in allen drei Gebieten etwas anders verteilt ist. Für das Friaulische geht es zur Zeit in erster Linie darum, das historische Sprachmaterial aufzuarbeiten. Es zeigt sich dabei, dass dieses im Friaulischen um einiges früher anfängt als in den beiden anderen Sprachgebieten und auch sehr viel umfangreicher ist. Der späte Anfang dieser Aufbereitung hat es erlaubt, das ganze Material des Dizionario storico friulano 6 auch elektronisch zugänglich (www.dizionariofriulano.it) und damit von Anfang an einem grösseren Publikum bekannt zu machen. Es gibt allerdings auch bereits Forscher, die sich synchron mit dem modernen Friaulischen beschäftigen, so dass auch in diesem Sprachgebiet ein immer breiteres Spektrum an Forschungsthemen aufgearbeitet wird. Auf dem dolomitenladinischen Sprachgebiet kommt nun das grosse Salzburger Projekt des Atlant linguistich dl ladin dolomitich y di dialec vejins (ALD) 7 zum Abschluss. Zu den «dialec vejins» gehört auch das Engadinische und Teile des Friauls, so dass ein Vergleich des Dolomitenladinischen mit den beiden anderen rätoromanischen Sprachgebieten möglich wird. Mit diesem Werk wird das Dolomitenladinische zum dialektal am besten untersuchten Gebiet der Rätoromania. Ferner sind grosse Projekte zur Aufnahme der Toponomastik der ladinischen Dolomiten im Gang, darunter auch der historischen Toponyme in den deutschen Urkunden. Auf dem Gebiet des Bündnerromanischen ist das interessanteste Projekt jenes der Digitalisierung der 13bändigen Chrestomathie von Caspar Decurtins, erschienen 1888 - 1916, die eine sehr grosse Menge an Material enthält, 6 Cf. dazu in diesem Band F. V ICARIO , 15 - 28. 7 Cf. in diesem Band H. G OEBL , 209 - 221. 10 Georges Darms das erst durch den 1986 erschienenen Registerband 8 erschlossen worden ist. Es wird in diesem Beitrag (J. R OLSHOVEN und F. L UTZ , 83 - 103) auch gezeigt, wie dieses elektronische Material durch kluge, aber auch sehr komplexe Abfrageprozeduren auf verschiedene Art und Weise untersucht werden kann. Die sprachwissenschaftlichen Beiträge zum Bündnerromanischen umfassten den Zeitraum von den Anfängen der Überlieferung bis zum heutigen Bündnerromanischen, blieben allerdings mehr oder weniger im traditionellen Rahmen. In den drei literaturwissenschaftlichen Vorträgen wurden vor allem die «Klassiker» Peider Lansel und Andri Peer behandelt, wobei speziell zur Metrik Peider Lansels (R. C ADUFF , 283 - 302) doch ziemlich unerwartete Resultate erzielt werden konnten. Es wurden aber auch ganz andere Themen angeschnitten, so die mehr soziologisch ausgerichteten Rätoromanische<n> Sprachbiografien (Renata C ORAY , 223 - 238) und die neurobiologische Untersuchung zu den Orten im Gehirn, die bei der Verwendung verschiedener Sprachen jeweils durch besonders starke Tätigkeiten auffielen (Gerda V IDESOTT , 239 - 259). Auch bei Minderheitensprachen zu den üblichen Themen gehören die Fragen nach der sprachlichen und juristischen Stellung der Sprache sowie Prognosen über deren Zukunft, ein Thema, das diesen Band abschliesst. Die Akten des V. Rätoromanistischen Kolloquiums geben somit einen guten Überblick, worüber zur Zeit in den verschiedenen rätoromanischen Sprachgebieten geforscht wird. Es zeigen sich doch klare Unterschiede in der Schwerpunktsetzung, die auch durch die ziemlich divergente Forschungsgeschichte dieser drei Gebiete bedingt sind. So sind für das Friaulische noch sehr viele Grundlagenarbeiten zu machen, vor allem was die Bereitstellung des Untersuchungsmaterials betrifft. Hier hat die Erforschung der Sprache einerseits später eingesetzt, andererseits scheint auch das historische handschriftliche Material sehr reichhaltig zu sein. Auch für das Dolomitenladinische ist noch nicht alles historische Material aufgearbeitet, auch wenn es nicht sehr umfangreich zu sein scheint. Dafür ist hier die heutige gesprochene Sprache wohl am besten von allen drei Sprachgebieten durch den ALD dokumentiert, jedoch auch durch moderne toponymische Aufnahmen. Beim Bündnerromanischen scheint die Materialsammlung weitgehend abgeschlossen zu sein, so dass hier die Interpretation dieser Materialien im Vordergrund steht. Ausserhalb der drei betroffenen Sprachgebiete scheint das Rätoromanische zur Zeit auf weniger Interesse zu stossen als früher. Mit zwei deutschen und drei österreichischen Referenten waren diese beiden Länder etwas unterdurchschnittlich, aber doch noch angemessen vertreten. In Lavin konnten 8 Rätoromanische Chrestomathie, Begr. von Caspar Decurtins, Bd. XV: Register, bearb. von P. E GLOFF und J. M ATTHIEU , Società Retorumantscha, Chur 1986. 11 Einleitung allerdings einheimische Forscher aus allen drei Sprachgebieten diese Lücke schliessen, was sicher auch als positiv angesehen werden kann. Die hier vorgelegten Akten dieses Kolloquiums geben also sicher eine gute Momentaufnahme der aktuellen Forschungsinteressen und Forschungstätigkeiten auf dem Gebiet der rätoromanischen Sprachen. Ich möchte allen danken die mit ihrer Arbeit zum Gelingen des V Rätoromanistischen Kolloquiums beigetragen haben, allen voran meinen Kollegen von der Universität Zürich und Genf, Clà Riatsch und Clau Solèr, für ihre Hilfe bei der Zusammenstellung des Programms und für ihre Ratschläge in vielen anderen Fragen. Dann aber auch meinen beiden Assistentinnen Barbla Etter und Annetta Zini, die sehr viel organisatorische und administrative Arbeiten dabei geleistet haben. Frau Zini hat auch die grosse Mühe auf sich genommen, das Typoskript der Akten auszuarbeiten. Gedankt sei hier natürlich auch all jenen, die das Kolloquium und die Publikation der Akten finanziell unterstützt haben, allen voran die Universität Freiburg und der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie das Institut für Kulturforschung Graubünden und die Graubündener Kantonalbank. Sie alle haben entscheidend dazu beigetragen, dass die rätoromanistischen Kolloquien wieder neuen Schwung erhalten haben, so dass man sich bereits auf nächste rätoromanistische Kolloquium freuen darf. 12 Georges Darms Teil I Historische Sprache Part I Linguatgs istorics Gartner-Tagung: Rumänisch, Dalmatisch/ Istroromanisch, Friaulisch, Ladinisch, Bünderromanisch 2 . Unter den Autoren finden sich denn auch fast alle Teilnehmer des Kolloquiums von Vill/ Innsbruck. Die Arbeiten am Lexikon der Romanistischen Linguistik führten dann mehrere der beteiligten Forscher in andere als rätoromanistische Gefilde, so dass erst 1996 das erste «Rätoromanische Kolloquium» stattfand, und zwar in Gießen/ Rauischhozhausen, also weit ausserhalb des rätoromanischen Sprachgebiets, organisiert von Dieter Kattenbusch, damals Professor in Gießen. Dieses Kolloquium war bereits sehr gut besucht, wobei allerdings die Friauler fehlten. In der selbständigen Buchpublikation der Beiträge dieses Kolloquiums erschienen jedoch nur bündnerromanische Artikel; die Beiträge zum Dolomitenladinischen wurden in der Hauszeitschrift Ladinia (XXI, 1997) publiziert. Die Publikation erhielt dann auch den (surselvischen) Titel Studis romontschs 3 . Bereits in Gießen versprachen die Schweizer Forscher, die sich mit dem Bündnerromanischen befassten, drei Jahre später das nächste rätoromanistische Kolloquium zu organisieren. Dieses fand dann vom 16. - 18. August 1999 in Sta. Maria (Val Müstair) statt, in erster Linie organisiert von der Universität Bern unter der Leitung von Ricarda Liver. Auch an diesem Kongress nahmen noch keine friaulischen Forscher Teil, während das Dolomitenladinische wiederum mit sechs Vorträgen recht gut vertreten war. Die meisten der dort vorgetragenen Referate wurden ein Jahr später in den Annalas da la Societad retorumantscha publiziert (AnSR 113, 2000, 7 - 289), wobei allerdings nur eines der sechs dolomitenladinischen Referate dort erschienen, dafür jedoch noch ein Referat, das am Ort selber ausgefallen war. Im Jahr 2002 fand das dritte «Colloquium retoromanistich» in San Martin de Tor, Val Badia, statt, organisiert vom dortigen Istitut Ladin «Micurà de Rü», das im gleichen Jahr sein 25. Jubiläum feierte. Bei diesem Kongress waren nun zum ersten Mal auch die Friauler dabei, wenn auch erst mit zwei Vorträgen. Durch die ‹ Legge Regionale n. 15 › von 1996 erhielten die italienischen Regionen, darunter auch die Region Friuli-Venezia Giulia mehr Autonomie, und durch die ‹ Legge n. 482 della Repubblica › anerkannte der Staat offiziell auch die friaulische Sprachgemeinschaft 4 . Damit verbunden war auch eine Ablösung der eher italophil ausgerichteten früheren Forschung auf dem Gebiet des Friaulischen durch einen neuen, speziell auf die Untersuchung des Friaulischen gerichteten Ansatz. Es ist somit sicher kein Zufall, dass erst 2 Cf. Abkürzungsverzeichnis s. v. LRL. 3 Studis romontschs, Beiträge des Rätoromanischen Kolloquiums (Giessen/ Rauischholzhausen, 21. - 24. März 1996), ed. Dieter K ATTENBUSCH , Wilhelmsfeld, gottfried egert verlag, 1999 [pro lingua Band 31]. 4 cf. dazu auch den Artikel von W. C ISILINO (357 - 368) in diesem Band. 8 Georges Darms Studio del lessico e carte friulane tardomedievali Federico Vicario L ’ interesse per il lessico è da sempre centrale negli studi sul friulano. Ciò non pare in discussione, verrebbe da dire, se si pensa alle ormai decine di dizionari - compresi repertori tecnici e specialistici - che a partire dallo storico Vocabolario friulano di Jacopo P IRONA (1871) si propongono di presentare quello che, senza dubbio, costituisce uno tra gli elementi caratterizzanti più «forti» della lingua friulana, cioè la complessità, la stratificazione, la poligenesi del suo lessico. Una convincente prova di questa affermazione ci è data anche dalla consultazione degli ultimi due ampi strumenti bibliografici, e specialistici, ora a nostra disposizione: mi riferisco naturalmente all ’ ultima edizione della Raetoromanische Bibliographie curata da Paul V IDESOTT (2011) e alla nuova Bibliografia ragionata di linguistica friulana di Sabine H EINEMANN e Luca M ELCHIOR (2011) 1 . Sfogliando questi repertori, che restituiscono un ’ immagine davvero di grande solidità per la nostra disciplina, con la rassegna ordinata di centinaia e centinaia di titoli, possiamo facilmente apprezzare quanta parte della produzione di linguistica friulana, scientifica ma anche divulgativa, si sia concentrata tra Ottocento e Novecento sul tema del vocabolario - per non dire, poi, dei manoscritti, ancora precedenti, con raccolte di voci, locuzioni e proverbi, confronti con altre lingue e impressioni etimologiche varie 2 . Ad una riflessione sull ’ argomento, nel suo insieme, è stato dedicato per altro anche il convegno Il lessico friulano. Dai documenti antichi al dizionario storico, tenutosi presso l ’ Università di Udine nel novembre del 2009, gli atti del 1 Non posso non accennare, quanto meno, alla questione della insoddisfacente presenza di segnalazioni e di recensioni dei lavori di linguistica friulana sulle riviste specialistiche, questione che sconta, senza dubbio, qualche difficoltà nel coordinamento tra gli «addetti ai lavori»; modello di organizzazione, al contrario, è la redazione ladina della «Rivista Italiana di Dialettologia», coordinata da Roland Bauer, che produce con continuità quei riferimenti e quegli spunti che grandemente giovano al progresso dei nostri studi. 2 Segnalo solo, cursoriamente, la silloge di proverbi del XVI secolo conservata alla Biblioteca Civica di Udine, cf. S ERENI (1969), il manoscritto ancora inedito Vocabolario furlano e toscano attribuito a Pietro Someda e custodito ancora presso la Civica di Udine (ms. 2271 del Fondo Principale), con la raccolta di circa 400 termini friulani con il corrispettivo toscano, ma soprattutto la nota e ampia dissertazione Lingua friulana o gallo carnica dell ’ erudito Girolamo Asquini, recentemente edita e analizzata da Maria Cristina C ESCUTTI (2008). quale sono stati poi pubblicati dall ’ Editrice universitaria Forum, cf. V ICARIO (2010). E ’ stata quella l ’ occasione per delineare lo stato dell ’ arte di questi studi, in generale, e per tracciare una prospettiva per il progresso della disciplina per il prossimo futuro; è una prospettiva che deve tener conto dei notevoli risultati conseguiti, in particolare la raccolta e lo studio del lessico patrimoniale - si consideri anche solo l ’ impresa dell ’ Atlante storico linguistico etnografico friulano (ASLEF) e la produzione, nel Novecento, di numerosissimi repertori sulle varietà friulane - , ma anche di quelli che non sono stati ancora conseguiti - l ’ investigazione sistematica del lessico antico, nello specifico, con il malaugurato fallimento del progetto del Dizionario etimologico storico friulano (DESF). A proposito dell ’ investigazione del lessico antico, in particolare, si segnalano i numerosi lavori di censimento e di pubblicazione di manoscritti tardomedievali in volgare, condotti negli ultimi quindici anni, manoscritti piuttosto cospicui soprattutto tra la seconda metà del Trecento e la prima metà del Quattrocento 3 . Questi documenti, conservati negli archivi delle principali località della regione, ci consentono di studiare in modo particolarmente proficuo il lessico e l ’ onomastica del friulano del tempo, con tutti quegli elementi che anticipano quelli ora propri del friulano moderno. L ’ avvio di un sistematico programma di lemmatizzazione di questi testi ha accompagnato, a partire dal 2009, la pubblicazione dei manoscritti, che comunque prosegue senza interruzione; i risultati di questo lavoro di lemmatizzazione, tuttora in corso, si possono già esaminare e utilizzare al sito www.dizionariofriulano.it, che presenta il progetto di redazione del Dizionario storico friulano, progetto promosso dal Dipartimento di Lingue dell ’ Università di Udine, in collaborazione con la Società Filologica Friulana e la Biblioteca Civica di Udine. I dati sono organizzati in schede relative al lessico, alle fonti e alla bibliografia di riferimento. Le informazioni che si possono ricavare dalla consultazione del repertorio, grazie alla flessibilità dello strumento informatico, sono numerose. Per quanto riguarda la sezione del lessico, che comprende anche il vasto patrimonio di onomastica friulana antica (antroponimia e toponomastica), la scheda fornisce indicazioni sulla presenza della voce nei documenti analizzati, segnalandone la posizione, i legami a varianti o voci di significato analogo e permette il collegamento, diretto, alla scheda documento. Sulla scheda documento, invece, si possono ottenere notizie sulla datazione del pezzo, sull ’ autore (che, però, nel caso dei documenti di uso pratico, non è sempre identificabile), nonché sull ’ ente produttore e sull ’ ente conservatore dello stesso, di norma diversi. Molto utile, ritengo, è la possibilità di scaricare l ’ intero documento in formato pdf, operazione questa che consente di 3 Per una rassegna delle fonti documentarie antiche per il friulano e dei relativi studi, a partire dall ’ Ottocento, si rimanda a V ICARIO (2006) e (2009). 16 Federico Vicario recuperare parti di testo non citate direttamente nella scheda relativa al lessico. Chiudono la scheda documento le indicazioni bibliografiche, che segnalano chi si è già occupato di tale pezzo, e quindi l ’ elenco alfabetico di tutte le voci di lessico estratte da esso, che costituisce una sorta di glossario per ogni specifica fonte documentaria. Il repertorio in rete www.dizionariofriulano.it non è naturalmente solo una fonte di consultazione per gli studiosi e per i cultori di cose friulane, ma è anche, se non soprattutto, uno strumento di lavoro. I redattori del Dizionario storico friulano, accedendo alla sezione loro riservata, possono caricare nuove schede e possono aggiungere, in generale, ulteriori notizie relative alle singole schede già presenti, nuovi contesti, commenti, riferimenti bibliografici, annotazioni di carattere storico ed etimologico; tutti gli aggiornamenti e le immissioni di nuove schede vanno controllate e validate, dal direttore del progetto, cioè lo scrivente, prima della pubblicazione in rete. Alla fine di maggio 2012, più o meno a due anni e mezzo dalla pubblicazione del sito, i records caricati e validati sono circa 18.000; in particolare, le voci di lessico (e onomastica) sono poco meno di 15.000, più di 2.500 sono i titoli di bibliografia, 89 le fonti documentarie inserite, completamente o parzialmente, una ventina le sigle relative a opere scientifiche e repertori di larga consultazione. Hanno collaborato al progetto, ad ora, Katia Bertoni, Silvia Del Magno, Serena Rovere, Nicole Dao, Luisa Villotta, Maura Cragnolini, David Asquini, Beatrice Pitassi, Simona Paloscia, Benedetta Morandini, Elisa Candido, Luca Melchior e Silvia De Marco. Il partner tecnologico del progetto è la CG Soluzioni Informatiche di Udine, una ditta specializzata nella produzione di software per biblioteche, istituti culturali, gallerie d ’ arte e altro. Per quanto riguarda in particolare la provenienza delle fonti documentarie inserite nel repertorio, segnalo che nove sono i manoscritti cividalesi, uno è di Codroipo, ben cinquantatre sono quelli che provengono da Gemona, uno è di Tricesimo, ventitre sono quelli udinesi e, infine, due quelli di Venzone. La presenza di una tale prevalenza di documenti gemonesi, conservati presso il fondo antico della Biblioteca Glemonense ‹ V. Baldissera › , è data dal fatto che i manoscritti appartenenti alle tre importanti serie cittadine trecentesche, relativi all ’ amministrazione della Pieve di Santa Maria, all ’ Ospedale di San Michele e ai Massari del Comune, sono stati integralmente pubblicati negli ultimi anni e, quindi, immessi nel repertorio. I documenti udinesi sono, invece, per lo più custoditi presso la Biblioteca Civica o presso archivi parrocchiali cittadini. I prossimi passi, per lo sviluppo del progetto, riguarderanno la pubblicazione dei manoscritti della Biblioteca Comunale di Cividale, che ha recentemente acquisito le importanti serie quattrocentesche della Fraternita di Santa Maria dei Battuti e dell ’ Ospedale di Santo Spirito; a seguire ci si occuperà dei considerevoli documenti quattrocenteschi tricesimani, conservati presso la locale Pieve, e dei documenti venzonesi, in particolare di quelli appartenenti al 17 Studio del lessico e carte friulane tardomedievali Pio Istituto Elemosiniere e alle due parrocchie del luogo, di Venzone e di Portis 4 . Riprendo, brevemente, la questione generale della redazione del Dizionario storico friulano. Il lavoro, per ora solo in rete, ha il fondamentale obiettivo, come accennato, di promuovere l ’ investigazione del ricchissimo patrimonio della scripta friulana delle origini, con la pubblicazione dei materiali ancora inediti, ma consente nondimeno di rimediare, in prospettiva, pur dopo parecchi anni, all ’ insuccesso del già citato Dizionario etimologico storico friulano, il DESF. Era quest ’ ultimo, come noto, un vasto repertorio, ideato e impostato da Giovan Battista Pellegrini alla fine degli anni Settanta, che si proponeva di completare, per la diacronia, la descrizione del lessico friulano intrapresa, per la sincronia, con la pubblicazione dell ’ ASLEF. Le forze sulle quali poteva contare Pellegrini erano senza dubbio notevoli, dal punto di vista scientifico, disponendo della collaborazione, possiamo definire straordinaria, di alcuni tra i migliori specialisti di glottologia e di romanistica delle sedi universitarie di Padova, di Trieste e di Udine - tra questi, alcuni purtroppo scomparsi, possiamo ricordare ad esempio Manlio Cortelazzo, Franco Crevatin, Mario Doria, Giuseppe Francescato, Giovanni Frau, Alberto Zamboni. Il progetto tuttavia fallisce, per motivi diversi, dopo la pubblicazione dei primi due volumi dell ’ opera (usciti nel 1984 e nel 1987), volumi che trattano le voci del lessico friulano fino alla lettera e-; il repertorio di riferimento per i redattori restava il vocabolario Nuovo Pirona della Società Filologica Friulana, vocabolario che costituiva fonte primaria anche per la consultazione delle fonti letterarie e popolari in esso contenute. 4 Una breve nota, anche curiosa, riguarda l ’ utenza del sito. Con l ’ estrazione dei dati di accesso e di utilizzo del repertorio, nel periodo che va dal 30 ottobre del 2009 al 29 ottobre del 2010, sono risultate, in particolare, un totale di 4.028 visite per 2.012 visitatori assoluti (quindi, in media, ogni visitatore torna almeno una volta sul sito); le visualizzazioni di pagina sono state complessivamente 39.092, per una media di oltre nove pagine visualizzate per ogni singola visita e soprattutto con un tempo di permanenza medio di ben quattordici minuti per la consultazione, un tempo davvero molto alto. Le sorgenti del traffico provengono per il 15 % circa da accessi diretti, quindi da parte di utenti che si sono collegati direttamente sul sito, per informazione diretta; per oltre il 75 % da siti referenti, quindi da siti collegati a quello del Dizionario storico friulano; per il restante 10 %, circa, attraverso i motori di ricerca. Interessante analizzare anche la distribuzione delle visite per paese, che sono stati ben quarantaquattro: dopo l ’ Italia, di gran lunga la più presente, si segnalano in ordine di frequenza l ’ Austria, la Germania, la Spagna, la Svizzera, gli Stati Uniti, la Francia, per arrivare poi all ’ Argentina, al Brasile e all ’ Irlanda. Gli accessi e le permanenze sul sito, che qui ho riportato, riguardano naturalmente solo i visitatori, non i redattori del repertorio, che accedono al lavoro con diverse credenziali. 18 Federico Vicario Al giorno d ’ oggi è onestamente molto difficile immaginare di poter riunire tanti eccellenti specialisti per la stesura di un dizionario friulano, soprattutto per quanto riguarda la parte di riflessione etimologica: da questo punto di vista, risulta davvero molto grave la mancata realizzazione del DESF. Un ’ osservazione, tuttavia, è necessaria per quanto riguarda la dimensione più propriamente «storica» dell ’ opera, in particolare la questione della disponibilità di fonti, soprattutto antiche 5 , che i redattori potevano utilizzare, le fonti che sono poi proprio le basi sulle quali costruire la storia delle parole. Tali fonti comprendono alla fine, per il DESF, i seguenti materiali: la nota raccolta dei Testi inediti friulani dei secoli XIV al XIX di Vincenzo J OPPI (1878), in parte frutto di rielaborazioni da pubblicazioni precedenti e, ad ogni buon conto, completamente da rivedere; le fonti schedate e presentate, quanto meno in parte, nel vocabolario Nuovo Pirona (edizione del 1935, con successive Aggiunte); un interessante repertorio lessicografico del conte Giovanni Battista della Porta, cioè il manoscritto inedito Voci e cose del passato in Friuli, un repertorio di documenti prevalentemente in latino per altro già segnalato nel Nuovo Pirona; la tesi di laurea di Daniela Piccini Contributo al lessico friulano antico, discussa presso l ’ ateneo patavino alla fine degli anni Sessanta sotto la guida dello stesso Pellegrini, tesi allora inedita 6 . Le fonti tardomedievali in volgare, di prima mano e di maggiore consistenza per i redattori del DESF, restavano, alla fine, le trascrizioni proposte nella raccolta dei Testi inediti friulani di Vincenzo Joppi, trascrizioni che constano appena di una trentina di pagine a stampa (dalla p. 188 alla p. 219 dell ’ antologia), con le revisioni e le integrazioni degli anni Trenta e Quaranta, anch ’ esse parziali, di Giovan Battista Corgnali 7 . La necessità di una documentazione assai più ampia di quella disponibile, per le carte antiche, era comunque ben presente per i redattori del DESF, come ci ricorda Giovanni F RAU (1991), ma questa urgenza rimase, di fatto, del tutto disattesa. La costituzione di un vasto corpus di forme antiche pareva insomma, già allora, questione ineludibile e preliminare alla redazione di un dizionario storico, prospettiva che oggi impegna nella prosecuzione degli ormai consistenti lavori di edizione di manoscritti tardomedievali in volgare conservati nei principali fondi della regione friulana; si tratta di manoscritti cospicui e interessanti, per tipologia e provenienza, 5 Non vanno dimenticate, comunque, le fonti letterarie: numerosi e davvero preziosi sono stati gli studi dell ’ ultimo trentennio riguardanti autori friulani dal Cinquecento ad oggi, grazie ai lavori di Rienzo Pellegrini e dei suoi ottimi allievi. 6 Il lavoro è stato recentemente ripreso, aggiornato e pubblicato dalla Società Filologica Friulana con il titolo Lessico latino medievale in Friuli, cf. P ICCINI (2006). 7 Tutti i lavori filologici e linguistici di Corgnali sono stati poi raccolti e ripubblicati da Gaetano P ERUSINI , con il corredo di indici, in un numero monografico del «Ce fastu? », cf. C ORGNALI (1965 - 67). 19 Studio del lessico e carte friulane tardomedievali differenziati dal punto di vista dialettale, generalmente in buono stato di conservazione e di agevole accesso. La consultazione del Dizionario storico friulano restituisce fin d ’ ora, in una fase comunque non ancora avanzata dell ’ elaborazione dei materiali, una serie di dati senz ’ altro interessanti a proposito di singole forme lessicali o di più generali fenomeni fonologici o di altro tipo. Tra i tratti fonologici che distinguono il friulano antico da quello moderno, in particolare, vi è la frequente prostesi di a davanti a riniziale o in altri contesti. A questo proposito, riprendendo l ’ analisi del fenomeno proposta da B ENINCÀ / V ANELLI (1998, pp. 60 - 62), e cf. V ICARIO (1998, pp. 72 - 73), si isolano tre diversi casi; il primo, come si diceva, riguarda la prostesi di a davanti a r-, fenomeno questo anche di altre varietà romanze 8 . Tra le numerose voci antiche che presentano questa a prostetica, rispetto alle corrispondenti forme moderne, si segnalano ad esempio le seguenti: aracli ‹ frasca, ramo secco, tutore per le piante › , NP 847 racli, dal lat. RACULUM UdiMisBCUOspH c. 7 r pagay per araclis in l-orto dnr. iiijor ‹ pagai per tutori per l ’ orto quattro denari › aricet ‹ ricevuto, dato, incamerato › , p. p. di ricevi, NP 872, dal lat. RECIPERE, REW 7120 GemOspBCG1426 c. 1 r la aricet di Merchat ‹ il ricevuto di (borgo) Mercato › arodul ‹ rotolo, documento di conto arrotolato › e quindi ‹ conto › , NP 892 - 3 rodul, dal lat. ROTULUM UdiDuoBCU1200/ VI c. 59 v lu quadern di scrivi lu arodul de fabriche ‹ il quaderno per scrivere il conto della fabbrica › aronch ‹ appezzamento, campo, frutteto › , frl. mod. ronc, NP 895, deverb. dal lat. RUNCARE, REW 7444 CivOdoASUana689 c. 18 r soro l-aronch di Martin di Siury ‹ sopra l ’ appezzamento di Martino di Siury › aroson ‹ ragione, conto, somma › , NP 900 ant. roson, dal lat. RATIONEM, REW 7086 GemPieBCG1026 c. 4 r hornis iij di olio in aroson di libr. xxvij la horna ‹ tre orne di olio in ragione di 27 lire ogni orna › 8 Cf. R OHLFS (1966, pp. 223 - 224, § 164). 20 Federico Vicario arueda ‹ ruota › , NP 904 ruede, dal lat. ROTAM, REW 7389 UdiCalBCU1348/ III c. 15 v dela arueda sol. xl in prisinça Çuan fari ‹ 40 soldi per la ruota alla presenza di Giovanni fabbro › Numerosi sono anche gli antroponimi che presentano questa a prostetica, rispetto alle corrispondenti forme moderne (nomi personali o cognomi). Tra questi abbiamo: Arang, soprannome, cf. frl. mod. ragn ‹ ragno › , NP 843 - 4, dal lat. ARANEAM, REW 593 UdiCriAPU23 c. 25 r r. di Toni dell-Arang lr. di olio ij ‹ ricevetti da Antonio (figlio) del Ragno due libbre di olio › Aredolf, nome personale, cf. frl. Redolf, Rodolf, Radolf ‹ Rodolfo › UdiPelAPG12 c. 35 r dogna di Tibat e Pieri fradis filgs chu forin di Aredolf hostir ‹ vicino a Teobaldo e Pietro fratelli figli del fu Rodolfo oste › Arich, nome personale, corrispondente ad ‹ Arrigo › , forma longobarda per ‹ Enrico › , dove i cognomi frl. mod. sono del tipo Rigo, Rigoni, Rigutti etc., cf. Costantini/ Fantini (2011, p. 631) CivBANdmc n. 21 mestri Arich ‹ mastro Arrigo › Arisanut, soprannome ed etnico, cf. top. Risan ‹ Risano › , località non distante da Udine, ad indicare quindi provenienza UdiCalBCU1348/ III c. 15 v mandat per l-Arisanut adì xxij in setember ‹ mandato tramite l ’ Arisanutto oggi 22 settembre › Ariugnàs, soprannome ed etnico, cf. Riugnàs, etnico da Ruvigne ‹ Ragogna › GemPieBCG1015 c. 34 r r. dela muglir Toni l-Ariugnàs dnr. X ‹ ricevetti dalla moglie di Antonio Ragognese dieci denari › Ariz, soprannome, cf. frl. mod. riç ‹ riccio (di capelli) › , NP 889, anche cognome CivBCU372 c. 2 r Çuan di Durlì Ariz di Giaglan ‹ Giovanni (figlio) di Odorlico Riccio di Gagliano › Aropret, nome personale, come Ropret ‹ Ruperto, Roberto › UdiCalBCU1348/ V c. 30 r Aropret dè dar spadis ij ‹ Ruperto deve dare due spade › 21 Studio del lessico e carte friulane tardomedievali Aròs, soprannome, cf. frl. mod. ros ‹ rosso di capelli o di carnagione › , NP 898, anche con il dim. Arusit CivOdoASUana689 c. 21 v mestris vj al puint Iervàs e l-Aròs e Diolaiut e Denel di Giaglan e Çuan Stoch e-l filg ‹ sei operai al ponte: Gervasio e il Rosso e Diolaiuti e Daniele da Gagliano e Giovanni Stocco e il figlio › GemOspBCG1422 c. 22 v r. del Arusit per la munea dr. xx ‹ ricevetti dal Rossetto per la suora venti denari › Analogo discorso, naturalmente, vale anche per i toponimi: Arivis, ora ‹ via Rivis › a Udine, cf. NP 887 rive ‹ riva, erta, china › , dal lat. RIPAM UdiCriAPU27 c. 3 r lui pagà sopra jo champo posto in Arivis ‹ lui pagò per un campo sito in Rive › Arivot ‹ Rivolto › , in comune di Codroipo (Ud), con dileguo della liquida prima della dentale UdiCalBCU1348/ IV c. 32 v sol. viiij per imprest adì vj in març quando el andà ad Arivot ‹ nove soldi in prestito oggi sei marzo quando egli andò a Rivolto › Arovoret ‹ Querceto › , nelle vicinanze di Gemona del Friuli (Ud), cf. NP 902 rovul, dal lat. ROBUREM, REW 7354 GemOspBCG1423 c. 38 r per lu so bayarç di Arovoret frx. x ‹ per il suo podere di Querceto dieci frisachensi › Il secondo caso di presenza di prostesi, riguarda la possibile origine morfolessicale di questa a-, esito di una preposizione lat. AD, ma soprattutto prefisso verbale, ad indicare quindi, in genere, «avvicinamento ad una condizione»: abaià ‹ fare la balia, occuparsi, badare, curare › , cf. NP 32 bajâ, dal lat. *BALIARE, DESF 137 bae 1 UdiOspBCU1337/ III c. Iv per lu abaià d-une pulçitine per lu mes d-avril ‹ per la cura di una bambina per il mese di aprile › *acopià ‹ copiare, trascrivere › , NP 186 copiâ, copeâ, denom. dal lat. COPIAM ‹ abbondanza, ricchezza › UdiDuoBCU1200/ VI c. 74 r Bortolamio di Manià chi mi acopià su lu codis de cuviarte ravoste lu testament di ser Antoni di Topo ‹ Bartolomeo di Maniago che mi copiò sul codice dalla coperta rossa il testamento di messer Antonio di Toppo › 22 Federico Vicario aluminà ‹ illuminare, fare luce, rischiarare › , come DEI 137 it. alluminare 1 , ma cf. frl. mod. iluminâ NP 418 iluminâ come l ’ it. illuminare, REW 5161 TriMarBCU147 c. 29 r iò pagay a Domeni chamerar per fà aluminà lu cesendeli ‹ io pagai a Domenico cameraro per far illuminare la lampada › amurà v. ‹ murare › , NP 631 murâ, REW 5764 TriMarBCU147 c. 35 r per malta di fà amurà la iona s. xiiij ‹ per malta per far murare la trave quattordici soldi › *anomenà ‹ nominare, citare › , cf. NP 458 in ’ nomenâ, denom. dal lat. NOMEN, REW 5949 UdiDuoBCU1200/ VI c. 51 r el diè per nom di je persone chi non volè iesi anomenade ‹ egli diede a nome di una persona che non volle essere nominata › apagar ‹ pagare › , NP 683 - 4 pajâ, dal lat. PACARE, REW 6132 GemPieBCG991 c. 11 r lb. iiijor de olio chi elo apagà e debeva apagar soto de Martino ‹ quattro libbre di olio che lui pagò e doveva pagare sotto Martino › UdiCalBCU1348bis c. 8 v marcha j per imprest per apagar j vacha ‹ una marca in prestito per pagare una vacca › *asfadià ‹ affaticare, stancare, sfiancare › , NP 1016 sfadïâ, dal lat. FATIGARE, qui con doppio prefisso, allativo AD- (> a-) e intensivo EX- (> s-) UdiBCU373 c. 1 r s-asfadie cum la so virtut et operis di illustrà cheste tierre ‹ si affatica con la sua virtù e opere per illustrare questa terra › avoltà ‹ rivestire, avvolgere, ammattonare all ’ interno, creare un rivestimento › , non registrato nel NP, da un lat. AD + VOL(U)TARE, nel senso di ‹ creare una voluta, una volta › UdiDuoBCU1200/ VI c. 60 v jo migliar di modon crut chi io comperay di mestry Corat furnisir per avoltà la fornàs di quey la chialcine del tor ‹ un migliaio di mattone crudo che io comperai da mastro Corrado fornaciaio per rivestire la fornace per cuocere la calce del campanile › 23 Studio del lessico e carte friulane tardomedievali Il terzo e ultimo caso riguarda, in particolare, i pronomi e gli aggettivi dimostrativi, dove la prostesi di apotrebbe essere la conservazione, con abbassamento, della vocale in protonia di lat. ECCU + ILLUM > frl. achel, lat. ECCU + ISTUM > frl. achest etc. achel ‹ quello › , NP 119 chel TriMarBCU147 c. 28 r spendey per r. achell di Reana per vin s. iij ‹ spesi per ricevere quello di Reana tre soldi per vino › UdiDuoBCU1200/ VI c. 85 r achel chi coste acheste figniestre di very chun glu fery e chun lu aramo ‹ quello che costa questa finestra di vestro con i ferri e con il rame › achès agg. pron. ‹ quelle › TriMarBCU147 c. 8 r spendey per pan ad achès chu remondar la fave sol. Iiij ‹ spesi quattro soldi per pane per quelle che rimondarono la fava › UdiOspBCU1337/ III c. 17 v pur sore achès casis ‹ sempre per quelle case › achest ‹ questo › , NP 120 chest TriMarBCU147 c. 22 v achest fo scrit per man di Matye in la stuva di ser Host ‹ questo fu scritto per mano di Mattia nella camera di messer Osto › UdiDuoBCU1200/ VI c. 40 r achest nivel la dete fradaglie si apaiave alla fabriche sore je chiase chi fo di Domeni det Botry ‹ questo livello la suddetta confraternita pagava alla fabbrica per una casa che fu di Domenico detto Botri › achesta ‹ questa › UdiCalBCU1348/ III c. 108 r r. di vin in sent Çuan sora achesta deveda marcha ÷ di sol. ‹ ricevetti di vino a san Giovanni, per questo debito, mezza marca di soldi › Analogo caso è anche quello dell ’ avv. deittico achì, dal lat. ECCU + HIC, DESF 335, anche del frl. mod. achì NP 211 s. v. culì e NP 1335 24 Federico Vicario achì ‹ qui, in questo posto › UdiDuoBCU1200/ VI c. 51 v come apar in je altre pueste achì denant ‹ come appare in un ’ altra posta qui avanti › UdiGerBCU1324 c. 1 r aquì se comenca lu rotulo deli fiti e liveli ‹ qui comincia il rotolo degli affitti e livelli › Nel concludere questa essenziale presentazione di elementi lessicali tratti da carte tardomedievali, che illustrano uno sviluppo fonologico tipico del friulano antico, spesso in opposizione a quello moderno, non resta che richiamare e ribadire la necessità di procedere con i lavori di sistematica edizione dei documenti in volgare del XIV e del XV secolo intrapresi negli ultimi anni. Con l ’ incremento dei materiali disponibili, dove ogni nuovo documento va ad integrare un corpus invero già piuttosto consistente, si rafforzano le basi del futuro lavoro di redazione di un ampio dizionario del friulano antico - fin d ’ ora accessibile in rete, in una sua versione provvisoria, come Dizionario storico friulano. L ’ avvio di questa prospettiva di lavoro non è così lontana, a mio avviso, potendo già disporre, in primo luogo, delle sistematiche ricognizioni dei fondi archivistici della regione condotte negli ultimi anni. Contribuiranno comunque in misura decisiva al buon esito di questo impegnativo progetto di ricerca, per quanto riguarda l ’ aspetto del commento alle singole voci, lo spoglio dei numerosi lavori di linguistica storica già disponibili, in essi comprendendo, oltre agli studi dedicati nello specifico al friulano, anche i grandi dizionari storici ed etimologici realizzati, o in corso di realizzazione, per le altre lingue romanze. Fonti documentarie citate CivBANdmc = V ICARIO 2010, pp. 135 - 140. CivBCU372 = V ICARIO 2006 - 09, vol. I, pp. 135 - 145. CivOdoASUana689 = V ICARIO 2010, pp. 121 - 134. GemOspBCG1422 = V ICARIO 2007 - 11, vol. IV, pp. 13 - 25. GemOspBCG1423 = V ICARIO 2007 - 11, vol. IV pp. 27 - 43. GemOspBCG1426 = V ICARIO 2007 - 11, vol. IV pp. 71 - 86. GemPieBCG1015 = V ICARIO 2007 - 11, vol. I pp. 201 - 211. GemPieBCG1026 = V ICARIO 2007 - 11, vol. II pp. 229 - 240. GemPieBCG991 = V ICARIO 2007 - 11, vol. I pp. 39 - 53. TriMarBCU147 = V ICARIO 2000, pp. 25 - 92. UdiBCU373 = V ICARIO 2006 - 09, vol. III, p. 12. UdiCalBCU1348/ III = V ICARIO 2001 - 05, vol. I, pp. 17 - 134; vol. II, pp. 11 - 158; vol. III, pp. 13 - 86. 25 Studio del lessico e carte friulane tardomedievali UdiCalBCU1348/ IV = V ICARIO 2001 - 05, vol. III, pp. 87 - 168; vol. IV, pp. 15 - 26. UdiCalBCU1348/ V = V ICARIO 2001 - 05, vol. IV, pp. 27 - 162. UdiCalBCU1348bis = V ICARIO 2006 - 09, vol. II, pp. 83 - 126. UdiCriAPU23 = V ICARIO 2001, pp. 39 - 51. UdiCriAPU27 = V ICARIO 2001, pp. 74 - 94. UdiDuoBCU1200/ VI = V ICARIO 2006 - 09, vol. III, pp. 18 - 75. UdiGerBCU1324 = V ICARIO 2006 - 09, vol. II, pp. 61 - 81. UdiMisBCUOspH = V ICARIO 2006 - 09, vol. I, pp. 82 - 99. UdiOspBCU1337/ III = V ICARIO 1999, pp. 23 - 123. UdiPelAPG12 = V ICARIO 2003, pp. 37 - 171. Bibliografia delle fonti documentarie citate V ICARIO , Federico (ed.) 1999: Il quaderno dell ’ Ospedale di Santa Maria Maddalena. Udine, Biblioteca Civica. V ICARIO , Federico (ed.) 2000: Il quaderno della Fraternita di Santa Maria di Tricesimo. Udine, Biblioteca Civica. V ICARIO , Federico (ed.) 2001: Carte friulane del Quattrocento dall ’ archivio di San Cristoforo di Udine. Udine, Società Filologica Friulana. V ICARIO , Federico (ed.) 2001 - 05: I rotoli della Fraternita dei Calzolai di Udine. 5 voll., Udine, Biblioteca Civica. V ICARIO , Federico (ed.) 2003: Il registro della Confraternita dei Pellicciai di Udine. Udine, Forum. V ICARIO , Federico (ed.) 2006 - 09: Carte friulane antiche dalla Biblioteca Civica di Udine. 4 voll., Udine, Biblioteca Civica. V ICARIO , Federico (ed.) 2007 - 11: Quaderni gemonesi del Trecento. 4 voll., Udine, Forum. V ICARIO , Federico (ed.) 2010: Il lessico friulano. Dai documenti antichi al dizionario storico. Udine, Forum. Bibliografia citata ASLEF = P ELLEGRINI , Giovan Battista (ed.) 1972 - 86: Atlante storico linguistico etnografico friulano. 6 voll., Padova-Udine. B ENINCÀ , Paola/ V ANELLI , Laura (ed.) 1998: Esercizi di versione dal friulano al latino in una scuola notarile cividalese (sec. XIV). Udine, Forum. C ESCUTTI , Maria Cristina (ed.) 2008: Asquini, Girolamo. Lingua friulana o gallocarnica. Udine, Società Filologica Friulana. C ORGNALI 1965 - 67 = Corgnali, Giovanni Battista 1965 - 67: «Scritti e testi friulani», in: Gaetano P ERUSINI (ed.) «Ce fastu? » 41 - 43, vii - x, 5 - 405. 26 Federico Vicario C OSTANTINI , Enos/ F ANTINI , Giovanni 2011: I cognomi del Friuli. Udine, La Bassa. della P ORTA , Giovanni Battista (ms.) Voci e cose del passato in Friuli. Inedito presso il Fondo Principale della Biblioteca Civica di Udine ms. 2694. DESF = P ELLEGRINI , Giovan Battista (ed.) 1984 - 87: Dizionario etimologico storico friulano. 2 voll., Udine, Casamassima. F RAU , Giovanni 1991: «Altre carte friulane del secolo XIV», in: V ANELLI , Laura/ Z AMBONI , Alberto (ed.). Per Giovan Battista Pellegrini. Scritti degli allievi padovani. Padova, Unipress, 327 - 408. H EINEMANN , Sabine/ M ELCHIOR , Luca 2011: Bibliografia ragionata di linguistica friulana. Udine, Società Filologica Friulana. J OPPI , Vincenzo 1878: «Testi inediti friulani dei secoli XIV al XIX.», AGI 4, 185 - 342. NP = P IRONA , Giulio Andrea/ C ARLETTI , Ercole/ C ORGNALI , Giovanni Battista 1935: Il Nuovo Pirona. Vocabolario friulano. Udine, Società Filologica Friulana. P ICCINI , Daniela 1969 - 70: Contributo al lessico friulano antico. Tesi di laurea, Padova. P ICCINI , Daniela 2006: Lessico latino medievale in Friuli. Udine, Società Filologica Friulana. P IRONA , Jacopo 1871: Vocabolario friulano ed. Giulio Andrea P IRONA . Venezia, Antonelli. REW = M EYER -L ÜBKE , Wilhelm 1968 4 : Romanisches Etymologisches Wörterbuch. Heidelberg, Carl Winter-Universitätsverlag. R OHLFS , Gerhard 1966: Grammatica storica della lingua italiana e dei suoi dialetti. I vol., Torino, Einaudi. S ERENI , Lelia 1969: «Raccolta di proverbi in un codice friulano del secolo XVI.» Studi di letteratura popolare friulana 1, 78 - 83. S OMEDA , Pietro (ms.): Vocabolario furlano e toscano. Inedito presso il Fondo Principale della Biblioteca Civica di Udine ms. 2271. V ICARIO , Federico (ed.) 1998: Il quaderno di Odorlico da Cividale. Contributo allo studio del friulano antico. Udine, Forum. V ICARIO , Federico 2006: «Fonti documentarie tardomedievali e studi lessicografici sul friulano.», in: B RUNI , Francesco/ M ARCATO , Carla (ed.) Lessicografia dialettale. Ricordando Paolo Zolli. Roma-Padova, Antenore, 189 - 200. V ICARIO , Federico 2009: «Documenti friulani delle origini.», Bollettino dell ’ Atlante Lessicale degli Antichi Volgari Italiani 2, 55 - 98. V ICARIO , Federico (ed.) 2010: Il lessico friulano. Dai documenti antichi al dizionario storico. Udine, Forum. V IDESOTT , Paul 2011. Raetoromanische Bibliographie. Bibliografia retoromanza 1729 - 2010. Bolzano, Bozen-Bolzano University Press. 27 Studio del lessico e carte friulane tardomedievali Gadertalische Toponyme Ein kulturell-linguistischer Streifzug durch die Welt der Urkunden Giovanni Mischì Neben materiellen liefern oft auch sprachliche Quellen wichtige Informationen zur Geschichte und Entwicklung einer Region. Als wichtiger Aufbewahrungsort für (spät)mittelalterliche und neuzeitliche Quellen zum Gadertal hat sich auch das Klarissenkloster in Brixen mit seiner vormals nicht unbedeutenden Grundherrschaft erwiesen. Im Rahmen einer Neuordnung des Klosterarchivs auf Betreiben von Äbtissin Monika Pitscheider 1 im Jahre 2009, hat Dr. Eduard Scheiber, Leiter des Diözesanarchivs in Brixen, einen dort aufbewahrten Dokumentenbestand zum Gericht Thurn an der Gader (lad. Signoria de Tor) ausfindig gemacht und dazu ausführliche Regesten angefertigt, sodass man heute einen direkten Zugang zum Rechtsinhalt der jeweiligen Schriftstücke hat. Wohl völlig unbeachtet liegt dieses wertvolle Schrifttum aus Papier und Pergament seit Jahrhunderten im Archiv des Klosters. Seine Erschließung gewährt einen umfassenden Einblick in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Signoria de Tor im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Neben detaillierten Auskünften über Personen sowie über Zins- und Lehensverhältnisse der damaligen Zeit finden in den untersuchten Urkunden auch viele Toponyme Erwähnung, wodurch das Verhältnis zwischen dem Kloster und dem Gericht Thurn erst richtig anschaulich und konkret zu Tage tritt. 2 Das Schrifttum ist auch unter diesem Gesichtspunkt ein wahrer Schatz für die Geschichte des Gadertales! In den von Dr. Scheiber gesichteten und bearbeiteten Akten und Urkunden zur Signoria de Tor stößt man laufend auf Namen von Höfen, Fluren und Äckern. Da sich Wiesen (vor allem Almwiesen), Äcker, Weiden und Wälder 1 Bei dieser Gelegenheit sei der Äbtissin für die freundliche Aufnahme und für den stets bereitwillig gewährten Zugang zu den Archivbeständen des Klosters aufrichtig gedankt. Bel dilan! 2 Aus dem untersuchten Schrifttum geht hervor, dass das Klarissenkloster in Brixen von seiner Grundherrschaft adeligen Herren gegenüber Höfe, Einzelgrundstücke, Wälder, Nutzungsrechte und Leibeigene (so genannte «Einfache Lehen») gab. Bauern erhielten zur Bewirtschaftung Höfe, Einzelgrundstücke und Gebäude gegen Naturalabgaben und Arbeitsdienste zugesprochen. Hörigen Amtsleuten verlieh das Kloster Güter gegen Entrichtung bestimmter Dienste (so genannte «Amtlehen»). häufig in einer bestimmten Entfernung von den Dörfern und Bauernhöfen befanden, war ihre exakte Benennung von großer Wichtigkeit. Vor allem für Verträge und genaue Wegbeschreibungen sowie zur Berechnung der zu entrichtenden Steuern und Abgaben war eine exakte Lokalisierung unentbehrlich. Über Jahrhunderte hinweg bildeten die dadurch festgehaltenen Toponyme einen wesentlichen Bestandteil der entsprechenden räumlichen Realität. Durch die einschneidende Entwicklung der Landwirtschaft und die sozioökonomischen Umwälzungen nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere aber nach der Abkehr der jüngeren Generationen von der Landwirtschaft seit den Sechziger-Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, verschwanden diese althergebrachten Toponyme immer mehr aus dem kollektiven Gedächtnis und drohen somit ganz in Vergessenheit zu geraten. Nur durch die eindeutige Benennung können Verwaltung (Kataster), Besitzverhältnisse (Grundbücher) oder Landnutzung (Nutzungsart) geregelt werden. Im Kataster ist das Grundstücksverzeichnis einer Gemeinde 3 enthalten. Hier werden die einzelnen Grundstücke (Parzellen), Eigentumsverhältnisse, Katastergebäude und Katasterbodenwerte festgehalten. Insbesondere die Flurnamen dienen dazu, den Ort bzw. die Lage einer Flur innerhalb der Gemarkung exakt zu kennzeichnen. Die historischen Flurnamen hatten unter anderem auch eine identitätsstiftende Funktion, zumal sie auf jahrhundertealten und in der Dorfgemeinschaft bekannten Namen beruhten. Sie stellen daher eine wichtige Quelle für die Erforschung der siedlungsgeschichtlichen und sprachhistorischen Entwicklung einer Gegend dar. Über die Urkunden des Klarissenklosters in Brixen sind die Flurnamen für das Gebiet der früheren Signoria de Tor in einer insgesamt guten Kontinuität erschließbar. Das Namengut spiegelt nicht nur die Art der Naturwahrnehmung durch die Bewohner wider, sondern informiert auch über geschichtliche Hintergründe und liefert Informationen über die historische Landnutzung im jeweiligen Gebiet. Die Flurnamen dienten im mittelalterlichen Dorf vor allem zur Orientierung. Daher sind sie wohl so alt wie die Siedlungen selbst, denn so wie Eltern ihren Kindern einen Namen geben, so gab der Siedler der gerodeten Wiesenfläche und dem Acker, den er bebaute, einen Namen. Manche in den Urkunden überlieferte Namen wurden aber verdrängt und durch neue ersetzt, andere wiederum wurden erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt. Auch 3 Die ersten Katastererhebungen in diesem Gebiet erfolgten 1775 auf Veranlassung von Kaiserin Maria Theresia. Mit dem so genannten Habsburger Kataster aus dem Jahre 1860 erfolgte dann die erste kartographische Wiedergabe. Das vorrangige Ziel war dabei, eine gerechtere Aufteilung der Bodensteuer zu ereichen. Das gesamte Gebiet wurde in Katastralgemeinden unterteilt, und die einzelnen Parzellen wurden, getrennt nach Bau- und Grundparzellen, mit einer fortlaufenden Nummerierung gekennzeichnet. Nach der Angliederung Südtirols an Italien 1918 wurde der österreichische Kataster von der italienischen Verwaltung übernommen und bildet noch heute die Katastergrundlage. 30 Giovanni Mischì heute noch verschwinden alte schöne Namen und machen anderen, weniger schönen Platz. Diese Tendenz ist heute vor allem im Bereich der ladinischen Exonyme zu beobachten. So scheinen etwa Jorian als ladinische (gadertalische) Entsprechung für Sillian, Alie für Alleghe, San ć iana für Innichen u. a. allmählich zu verschwinden. Heute wissen nur mehr die allerwenigsten, dass der Hof Ostì Vedl in Lungiarü/ Campill ursprünglich Jöpa hieß, oder dass im Weiler Vi der Hof Iachin einst den Namen Janun Daite trug und der Hof Caiser den Namen Janun Defora. Im Mittelalter trugen die Handelsreisenden selten Karten bei sich, sie besaßen aber dafür recht verlässliche und anschauliche Wegbeschreibungen mit den wichtigsten Namen entlang der Reiserouten. Städtenamen wie z. B. Bauzanum (Bozen), Vipitenum (Sterzing), Sebatum (St. Lorenzen), Aguntum (Lienz) waren in unseren Breitengraden von zentraler Bedeutung, denn sie erlaubten Orientierung in der sogenannten «großen» Welt. Daneben gab es aber auch die «kleine» Welt der Fluren und Parzellen mit ihren vielfältigen Namen. Flurbezeichnungen im Besonderen waren (und sind es auch heute noch) Namen, die vor allem auf Gebrauch, Lage und Nutzung verweisen. Sie sind in der Regel nur innerhalb der engen Grenzen einer Ortschaft oder eines Weilers bekannt. Als anschauliches Beispiel für die «kleine Welt», die Welt der Fluren und Gehöfte, sei hier der Güterplan der zwei Weiler (lad. viles) Seres und Miscì in Lungiarü/ Campill 4 (Gemeinde San Martin de Tor/ St. Martin in Thurn) im Gadertal genannt. Es handelt sich dabei um einen Auszug aus dem österreichischen Kataster vom Jahre 1858, auf dem die bewirtschafteten Flächen der mittelalterlichen bzw. spätmittelalterlichen Siedlungen gut sichtbar sind. Der Verfasser dieser Zeilen ist selber im Weiler Miscì geboren und aufgewachsen und hilft seit seiner Kindheit bei der Bewirtschaftung des elterlichen Bergbauernhofes auf 1621 Meereshöhe mit. Miscì setzt sich aus sechs Gehöften zusammen und umfasst insgesamt sechs Wohnhäuser und sieben Wirtschaftsgebäude nebst einigen landwirtschaftlichen Nebengebäuden wie Backöfen, Geräteschuppen, Bienenhäuser u. a. Jeder Hof besitzt auf dieser Zelge 5 mehrere Felder, die er zu bewirtschaften hat 6 . Die Arbeit wurde, 4 Lungiarü ist ein bescheidenes Bergbauerndorf südlich von San Martin de Tor. Gerichts- und Grundherr war bis zur Säkularisierung im Jahre 1803 der Bischof von Brixen, dem die ganze orographisch linke Seite des Gadertals unterstand. 5 Als Zelge bezeichnete man bis Anfang des 20. Jahrhundert die Flurstücke von landwirtschaftlich genutzten Flächen einer Siedlung. 6 Diese Besitzverteilung basiert auf dem Prinzip einer möglichst gerechten und gleichmäßigen Aufteilung der gerodeten Fluren: Entsprechend wurden je nach Exposition, Bodengüte, Sonnenlage, Wasserversorgung usw. jedem einzelnen Hof jeweils gut bzw. weniger gut eingestufte Wiesen oder Ackerstücke zugeteilt. 31 Gadertalische Toponyme und wird auch heute noch, großteils den Feldern entsprechend organisiert. Deren genaue Bezeichnung war daher sehr wichtig. So wurden etwa auf unserem Hof im Frühjahr zuerst die Äcker Aracia und Cidl gepflügt, der Nachbar hingegen bearbeitete der Reihe nach Do Parëi, Ć iamp de Iarone und den Gran Ć iamp. Dazwischen mussten wir Kinder die Wiesen Do Tolpëi und Col de Iaco «räumen», Steine und dürre Zweige (Reisig) auf den Col dles Peres karren. In Gesprächen mit älteren Bauern, Hirten und Jägern über Fluren, die einst von ihnen, ihren Eltern oder Großeltern bewirtschaftet worden sind, klingen die schönen alten Namen noch an, die über Jahrhunderte zur Alltagssprache gehört hatten. Man erfährt bald, dass hinter der präzisen Benennung der Fluren mehr steckt: Diese Menschen nehmen ihre Umgebung über deren Namen wahr; sie haben diese Namen fest in ihren Köpfen gespeichert und können sie jederzeit abrufen. An ihnen orientieren sie sich wie andere Menschen an den Namen einer Landkarte. Auszug aus dem österreichischen Kataster von 1858. Die Erhebungen wurden im Maßstab 1: 2.880 auf sorgfältig handkolorierten Katastermappen übertragen. Diese Mappen geben detaillierte Auskünfte über die Bodennutzung, die Kulturarten, die Infrastrukturen, über die Gebäude, deren Funktion und sogar über die verwendeten Baumaterialien. 32 Giovanni Mischì Die Besiedlung und dann auch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Weiler spiegelt sich sehr markant in den Toponymen wider, welche im gegenständlichen Fall v. a. die Namen von Wäldern, Wiesen und Feldern, Weiden, Waldweiden und Almen umfassen. Die Zunahme der Bevölkerung und die Verdichtung des Siedlungsnetzes verlangten im Laufe der Jahrhunderte eine Erweiterung der nutzbaren Landfläche. In der Folge entstand ein dichtes Netz von Namen, und dieses Netz überzieht auch heute noch die Landschaft. Die Namen galten und gelten vor allem als Grenzmarkierer und waren vor der Erfassung des Gebietes mittels Grundparzellen unbedingt notwendig. In Kaufverträgen, Testamenten oder Pfandbriefen waren diese Namen die einzige Möglichkeit, um ein Grundstück zu bezeichnen oder eine Grenze festzulegen. Die genannten Namen treten sehr zahlreich auch in umfangreichen Belegsammlungen historischer Quellen auf. Die ältesten finden sich in den Urbaren 7 , in denen vor allem die Abgabepflichten der Untertanen oder Lehennehmer verzeichnet wurden. Der hier zu besprechende Güterplan von Seres und Miscì ist in diesem Sinne nur die graphische Wiedergabe eines solchen Urbars bzw. Abgabeverzeichnisses. Wie wir sehen können, sind darauf die einzelnen Äcker- und Wiesenflächen genauestens aufgeführt und mit einer Ziffer versehen. Freilich kannte der Besitzer für jeden einzelnen Erdfleck noch einen zusätzlichen eigenen Namen. Dieser Umstand macht es notwendig, dass man bei der Erhebung der jeweiligen Toponyme diese immer eng an die entsprechende Bezugsparzelle knüpft, sonst besteht die Gefahr, dass grundlegende und für die Deutung unentbehrliche Elemente verloren gehen und der Name dadurch gleichsam seine «Bodenhaftung» verliert. Die historischen Belegformen eines Orts- oder Flurnamens dienen heute vor allem dazu, die Namensdeutung auf eine sichere Grundlage zu stellen. Daneben ist es auch interessant zu sehen, wie bestimmte Namen in älteren Zeitstadien gelautet haben. Zuverlässige Toponymendeutungen sind nämlich nur auf der Grundlage einer breiten Dokumentation möglich, welche den Anfang und die sprachlichen Entwicklungen eines Namens aufzuspüren erlaubt. Die gewaltige Zunahme des Schrifttums nach 1500 und die Flut von Verwaltungsakten seit dem 19. Jahrhundert erschweren allerdings die namen- 7 Für das Gadertal ist in diesem Zusammenhang vor allem das Sonnenburger Urbar aus dem Jahre 1296 eine ergiebige Quelle. In diesem Verzeichnis wird der gesamte grundherrschaftliche Besitz des Benediktinerinnen- Stiftes (lad. Ć iastel Badia) bei St. Lorenzen am Eingang zum Gadertal aufgelistet und die einzelnen Höfe mit den darauf lastenden Dienst- und Abgabeverpflichtungen verzeichnet. 33 Gadertalische Toponyme kundliche Bearbeitung des gesamten historischen Materials, erfordern daher eine Beschränkung auf ausgewählte, für die Erforschung der Orts- und Flurnamen besonders aufschlussreiche Quellen 8 . Denn überall dort, wo Quellen vorhanden sind, ist auch die Erwähnung von Toponymen zu erwarten. Ihr genaues Alter ist allerdings schwer nachzuweisen. Ganz allgemein kann man davon ausgehen, dass Toponyme so alt sind wie die Siedlungsnamen des zu untersuchenden Gebietes selbst, dass sie aber erst später auch schriftlich festgehalten wurden. Ab da sind sie dann auch wirklich belegt. In diesem Sinne sind Toponyme, darunter v. a. Flurnamen gleichsam Zeugen der Geschichte der Gebiete, in denen sie Gültigkeit hatten und haben. Für unsere Dörfer sind sie oft die einzigen Geschichtsquellen für die Zeit vor 1700. Für jeden Heimatforscher stellen sie demnach eine ergiebige und oft auch die einzige Fundgrube dar, zumal andere Quellen häufig fehlen. Seit September 2010 genießt der Verfasser dieses Beitrages Gastrecht im Archiv des Klarissen-Klosters in Brixen und wirkt dort, unter der Anweisung von Dr. Eduard Scheiber, an der Aufarbeitung des Archivbestandes mit. Die von Dr. Scheiber bearbeiteten Urkunden wurden und werden vom Unterfertigten auf Flurnamen hin untersucht. Dabei konnte er feststellen, dass ein Teil der Namen eindeutig zugeordnet werden kann, andere hingegen nicht. So sind etwa Actum-Orte 9 im Allgemeinen eher leicht mit einem konkreten Ort in Beziehung zu setzen, Namen von Gütern sowie Hof- und Flurnamen entziehen sich hingegen oft einer genaueren Bestimmung, weil sie sich nicht bis in die Gegenwart erhalten haben und ihre Kontinuität damit unterbrochen ist. Bei der Materialanalyse war zu beobachten, dass manche Namen wiederkehren, und dies in unterschiedlichen Gegenden. Um sie korrekt zu deuten, muss daher immer auch die ortsübliche Form berücksichtigt werden. Das ist zugegebenermaßen nicht immer einfach, nicht zuletzt deswegen, weil sie - wie dies sehr schön auch an den Namen der Signoria de Tor gezeigt werden kann - häufig durch fremde, der ladinischen Sprache unkundige Beamte aus Unkenntnis, manchmal wohl auch aus Willkür falsch niedergeschrieben worden sind: z. B. Cämpkhurt (1576 August 2. Lade 15/ Nr. 4 ad Nr. 6) für 8 Bestimmte Akten, etwa Protokollbücher oder Rechtsquellen, treten dabei eher in den Hintergrund. Von großem Interesse dagegen sind, nebst Karten und Plänen, Wirtschafts- und Verwaltungsquellen: Urbare, Güter- und Zinslisten, Schuldbriefe, Kauf- und Tauschbriefe, Erbverträge, Hypothekenbücher, Grenzbeschreibungen und Protokolle von Begehungen. Aus dem kirchlichen Bereich sind vor allem die Matrikelnbücher/ Jahrzeitbücher (Verzeichnis der Geburten, Heiraten, Sterbefälle) wichtig, da Stiftungen bis ins 17./ 18. Jahrhundert zumeist an Grundstücke gebunden waren. 9 Die Actum-Angabe (lat. verhandelt, geschehen) findet sich häufig am Ende, zuweilen aber auch am Beginn von Urkunden und bezieht sich auf die Zeit und den Ort der vollzogenen Amtshandlung. 34 Giovanni Mischì Ć iamp Cört, Zoätsch (1576 August 2. Lade 15/ Nr. 4 ad Nr. 6) bzw. Söatsch (1586 April 4. Lade 15/ Nr. 3 ad Nr. 2) für Juvac, Günggaun (1746 Juli 30/ 31. Lade 15/ Nr. 2 ad Nr. 6 1/ 4) für Ć ial ć iagn oder Kaletsch (1450 Juli 18. Lade 15/ Nr. 6 ad Nr. 6) für Colac. Die Urkundenschreiber verfügten im Allgemeinen über keinerlei Kenntnisse des Ladinischen. Auch kannten sie keine phonetischen Sonderzeichen; vielmehr versuchten sie das Gehörte mit den ihnen zur Verfügung stehenden Buchstaben des lateinischen Alphabets wiederzugeben 10 . Dass das Ergebnis dieser Aufzeichnungen daher sehr unterschiedlich ausfiel, ist durchaus verständlich. Damit muss sich die Forschung beim Versuch einer Namensdeutung gründlich auseinandersetzen. Im Urkundenbestand des Klarissen-Klosters in Brixen stellte ich fest, dass es zu einzelnen Schriftstücken Vorakte gibt. Es handelt sich dabei um Notizen, die der Schreiber z. B. auf der Rückseite des Pergaments anfertigte und nach denen er dann später die Urkunde ausrichtete, wohl immer den Schreibnormen der jeweiligen Kanzlei entsprechend. Eine nähere Untersuchung ergab, dass sich die Orts- und Flurnamen in den Vorakten manchmal deutlich von ihrer Wiedergabe in den Urkunden unterscheiden. Grundsätzlich konnte ich beobachten, dass die Namen in den Vorakten der jeweiligen Ortsmundart nahestehen, während jene in den Urkunden weitgehend der Schreibtradition angepasst sind. Wenn darüber hinaus die Schreiber aus einem anderen Sprachraum stammten, beeinflusste dies die Schreibung der jeweiligen Orts- und Flurnamen zusätzlich. 11 Vor allem Zur Zeit der Erstellung der Kataster (um 1860) sind in unserer Gegend bei der Übertragung der Toponyme häufig Fehler entstanden, zumeist weil die Schreiber des Ladinischen unkundig waren. Beobachtungen zur sprachlichen Form von Toponymen kann man vor allem an Hand topographischer Karten (älteren wie jüngeren Datums) machen. Das bisher erstellte, unser Gebiet berücksichtigende Kartenmaterial liefert ein recht buntes, gleichzeitig aber auch verwirrendes Bild. Manche Karten führen überlieferte alte Namen gar nicht mehr an, enthalten dafür allerdings «neue» oder jedenfalls andere Namen, darunter freilich auch sehr merkwürdige 12 . Dokumente und Pergamenturkunden wurden aus verschiedenen Gründen immer wieder abgeschrieben, wobei der Inhalt den jeweils geänderten Rechtsverhältnissen angepasst wurde. Die Toponyme bleiben, was ihre Form anlangt, 10 Auf der obigen Katastermappe von Seres lässt sich dieses Phänomen z. B. bei der Schreibung der Namen Tschengels für Cëindles, Bosg de Soel für Bosch de Juel sehr gut nachvollziehen. 11 Cf. Urkunde von 1698 (I-06254). Im Dorsalvermek erscheint der Name Lungiaru, im Urkundentext selber hingegen wird konsequent Campill verwendet. Die Ersterwähnung von Lungiarü wurde in der bisherigen Literatur auf das Jahr 1831 zurückgeführt, jene der erwähnten Urkunde ist damit um 133 Jahre älter. 12 Leider setzt sich diese Tradition auch bei neuesten Kartenwerken fort. 35 Gadertalische Toponyme größtenteils über längere Zeiträume unverändert, obwohl sie sich in der gesprochenen Sprache längst gewandelt haben. Ein Reflex solcher Veränderungen in der gesprochenen Sprache sind so genannte «falsche oder umgekehrte Schreibungen», wobei letztere metathetische Prozesse reflektieren, so etwa im Falle von Frenela vs. Fornela, Frenacia vs. Fornacia. Gelegentlich ist auch ein gänzlicher Austausch der Namen zu beobachten: für Suppä (eigentlich Jöpa) (1754 Juli 21. Lade 15 (13) Nr. 6) steht dann etwa Ostì Vedl, für Sänung (1724 Februar 9. Lade 15/ 21) das heute übliche Iachin. Weitere Veränderungen sind auf phonetische Angleichung an eine bestehende semantisch transparente Wortform zurückzuführen, wodurch der Name gleichzeitig eine Remotivierung erfährt. Schreiber neigen nämlich dazu, Namen «zurechtzubiegen», indem sie sie an formal ähnliche Wörter anpassen und deren Bedeutung übernehmen, da sie nachvollziehbar ist. Dies kann etwa an folgenden Namen beobachtet werden: Picedac (< lat. PICEUS + -ETUM + -ACEUS = Flur mit schlechtem Fichtenwald) wird mit pice daz «kleine Maut»/ «kleiner Zoll» remotiviert, Fornacia (< lat. *FRAGINA FRAGIUM = Erdrutsch, Mure) mit der Bezeichnung für «Ofen» (Cf. ital. fornace, das auf lat. FORNACE(M) zurückgeht), Salt (< lat. SALTUS = Weidewald, Viehtrift) mit dem gleichlautenden Salt «Geländeeinschnitt, plötzlicher Abhang» 13 . Zur Schreibung von Toponymen in den untersuchten alten Schriftstücken konnten vor allem zwei Tendenzen ausgemacht werden: 1) Die Urkundenschreiber stehen in der Schreibtradition einer Kanzlei (in unserm Fall einer deutschen). Die Belege zeigen eindeutig, dass der deutschsprachige Schreiber mit dem Ladinischen nicht vertraut ist. Für eine möglichst sachliche Analyse der Urkunden ist daher die Erschließung der Biographie der Schreiber unumgänglich. 2) Die Urkundenschreiber lassen in das von ihnen geschriebene Deutsch Merkmale ihrer eigenen deutschen Mundart einfließen, sodass deren Urkunden diatopisch und diamesisch markiert erscheinen. Cf. Camera, Comera (in letzterem färbt wohl das dial. Kåmmer für ‹ Kammer › ab). Wie weiter oben bereits festgestellt, dienten Namen in früheren Jahrhunderten, d. h. vor der Einteilung von Grundstücken in Parzellen, als Grenzmarker. Sie waren daher unbedingt notwendig. Auch in den von mir untersuchten Urkunden erscheinen sie in dieser Funktion. Dies soll die folgende Urkunde 14 veranschaulichen. 13 Cf. Mischì, 2008, p. 283 s. 14 Die Aufnahme stammt von Johann Wierer, Brixen, dem mein verbindlicher Dank gilt. 36 Giovanni Mischì 1579 August 2 15 Domenig de Plätza zu Mitterhof in Undtermoy im Gericht zum Thurn, der von den Gebrüdern Cristoff, Petter und Cristan Mitterhofer zu Undtermoy um 775 fl Reinisch und 4 fl Leykauf die halben Baurechte des Schwaighofs Mitterhoff zu Undtermoy im Gericht zum Thurn erworben hat, wozu folgende Teilstücke gehören: das Leutehaus, der Stall, ein Backofen, eine Mühle, zwei Krautgärten, der Acker Plaiätsch, der Acker Cämpkhurt, der Acker Play, der Acker Fernäreta, der Acker Cämp dä Teibon, die Wiese zu Pede Äntermoia, die Wiese Fernäreta, die Wiese Väll auf der Alm Ruj negra, die Wiese Zoätsch auf dem Wurzen, die Bergwiese Sergätschä in Pede Campätsch, die Wiese Leß Forämß in der Alm Cälcagnio und unterhalb des Peita-Khoffels die Wiese Puttia, wird nun von der Äbtissin Margreth vom St. Clara-Orden bei den Schwestern zu Prichsen als deren Baumann aufgenommen, als welcher Domenig de Plätza verspricht, die genannten Güter in gutem Stand zu erhalten und daraus jährlich 2 Zenten halb gerahmten Käse, eine Schulter, ein halbes Kitz und 15 Eier nach Brichsen zu zinsen. Orig. Perg. (44,7 x 28 cm; Plica 1,1 cm) Siegel: Mathes Prackh v. Asch, Pfleger zum Thurn (schwarz, in Holzkapsel, rund 4,6 cm) Siegelbitte an: Hans Pitscheider Zeugen: Augustin und Petter von Puz, Gallister von Mazuckhel; alle drei im Gericht Thurn N. B.: angebundener Pergamentzettel mit Kurz-Betreff Lit.: unpubliziert 15 Die bezügliche Urkunde wird im Archiv des Klarissenklosters (Lade 15/ Nr. 4 ad Nr. 6) aufbewahrt. 37 Gadertalische Toponyme Die in dieser Urkunde angeführten 16 Toponyme sind ein beredtes Beispiel dafür, wie die vom Volk verwendeten Namen im deutschen Schriftgebrauch abgeändert wurden. Auch sind einige davon bereits in Vergessenheit geraten. Letzteres kann dadurch erklärt werden, dass es sich um Namen für gerodete Flächen handelte, die benannt werden mussten. Heute wird nicht mehr gerodet, um landwirtschaftlich nutzbares Land zu gewinnen. Und einst entsprechend genutzte Flächen werden heute stark zurückgedrängt, die Bautätigkeit floriert (vor allem in den touristisch erschlossenen Gemeinden). Flächen, die vormals einen Namen trugen, sind vor allem in Dorfzentren verbaut, aufgelöst oder zusammengelegt worden; die ursprünglichen Benennungen werden damit nicht mehr gebraucht. Das hat zur Folge, dass in Urkunden erwähnte Namen oft gar nicht mehr auf ein bestimmtes Grundstück bezogen werden können. Ihr konkreter «Referent» ist sozusagen nicht mehr auszumachen. Vor allem im historischen Kern der Dörfer verschwinden zusehends alte Flurnamen. Am Beispiel der Dorfkernentwicklung von Antermëia/ Untermoi (Fraktion der Gemeinde San Martin de Tor/ St. Martin in Thurn) wird deutlich, wieviel Grund in den letzten 100 Jahren verbaut wurde. Einstige im Ortszentrum geläufige und auch in den untersuchten Urkunden erwähnten Flurnamen wie Gumina dl Mone, Chi Troi, Les Lo ć es, Stofan, Antersis, Tamà, Crins sind heute bereits verschwunden. Entwicklung des Dorfkernes von Antermëia/ Untermoi. Abschließend noch zwei Sätze zu den Hofnamen in den untersuchten Urkunden. Was etwa die Namen Bedeäntermoya 16 (1469 Februar 27. Lade 15/ Nr. 2 ad Nr. 1), Oberhof 17 (1637 Juni 3. Lade 15/ Nr. 2 ad Nr. 2), Pitscheid 18 (1733 Oktober 10. Lade 15/ 21 Lit. D Nr. 2 ad Nr. 6), Mitterhof 19 (1450 Juli 18. Lade 16 Es handelt sich um den Hof Pé d ’ Antermëia in Antermëia/ Untermoi. 17 Es handelt sich um den Hof La Curt Dessura in Antermëia/ Untermoi. 18 Es handelt sich um den Hof Pecëi in Lungiarü/ Campill. 19 Es handelt sich um den Hof La Curt in Antermëia/ Untermoi. 38 Giovanni Mischì 15/ Nr. 6 ad Nr. 6) oder Gaßhof 20 (1679 April 29. Lade 15/ Nr. 4 ad. Nr. 4, Nr. 2 1/ 2) - um nur einige solcher Hofnamen zu nennen - betrifft, so ist davon auszugehen, dass sie bereits in der Frühzeit der Besiedlung entstanden sind. Das gilt auch für zahlreiche weitere Hofnamen. Aufzeichnungen darüber sind äußerst spärlich. Viele Hofeigentümer sind heute der Ansicht, dass ihr Anwesen nur ein paar hundert Jahre alt sei. In Wirklichkeit sind aber fast alle wesentlich älter. Die schriftlichen Zeugnisse über ein Gehöft tauchen meistens erst einige Jahrhunderte nach seiner Gründung auf und sind im Wesentlichen davon abhängig, ob die Grundherrschaft, der das Gut in dieser frühen Zeit zugeordnet war, die entsprechenden Dokumente aufbewahrt hat oder nicht. Bei uns, d. h. im Gadertal, waren es meistens die Stifte und Klöster. Von diesen wurden die Dokumente recht gut verwahrt, im Gegensatz zu den weltlichen Grundherren. Bei letzteren war deren Sicherheit auch durch die ständige Bedrohung durch kriegerische Auseinandersetzungen und Erbschaftsteilungen gefährdet. Auch wenn für das Gadertal vor allem ab dem 16. und 17. Jahrhundert deutlich zunehmende schriftliche Quellen vorliegen, handelt es sich dabei doch nicht um einen geschlossenen Archivbestand, so dass wir immer wieder mit Lücken in der Überlieferung rechnen müssen. Das macht die Arbeit für den Historiker, der die Geschichte dieses Tales unter Zuhilfenahme von Toponymen aufarbeiten will, nicht leicht. Außerdem betreffen die noch erhaltenen Urkunden thematisch großteils wiederkehrende und sachlich eher nüchterne Angelegenheiten und Rechtsgeschäfte. Es geht dabei vor allem um Zins und Steuer, um Erbschaftsfragen, um Hofübergaben oder Prozesse, weswegen sie oft für den genannten Zweck nur mangelhaft verwertbare Informationen liefern. Es bleibt also noch viel Arbeit zu tun. Zitierte und weiterführende Literatur B ECK , Friedrich/ H ENNING , Eckart (ed.) 2004: Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Köln. C RAFFONARA , Lois 1989: «Probleme der geographischen Nomenklatur im sellaladinischen Bereich», Ladinia 13, 53 - 68. L EXER , Matthias 1983: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart. M ENGE Hermann/ G ÜTHLING Otto 21 1981: Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch- Deutsch mit Etymologie, Berlin-Schöneberg. M ISCHÌ , Giovanni 2008: «Eine neuzeitliche cherta de ć iasa aus San Martin de Tor. Besprechung und Deutung», in: B LAIKNER -H OHENWART , Gabriele et al., (ed.) Ladinometria, Festschrift für Hans Goebl zum 65. Gebrutstag, Salzburg etc., I, 263 - 289. 20 Es handelt sich um den Hof Plaza in Antermëia/ Untermoi. 39 Gadertalische Toponyme N IEDERMAIR , Rosa 1985: Die Hauptmannschaft Buchenstein und die Pflege Thurn an der Gader. 1678 - 1803, Innsbruck. R ICHEBUONO , Bepe 1991: Picia Storia di Ladins dles Dolomites, San Martin de Tor. R ICHTER -S ANTIFALLER Berta 1937: Die Ortsnamen von Ladinien, Innsbruck. S CHATZ , Josef 1993: Wörterbuch der Tiroler Mundarten. Neudruck der Auflage von 1955/ 56, bearb. von Karl F INSTERWALDER . Bd. 1 und 2, Innsbruck. S CHMELLER , Johann Andreas 1996: Bayerisches Wörterbuch, Sonderausgabe [Nachdr.] der von G. Karl F ROMMANN bearb. 2. Ausg., München, 1872 - 1877. S TEINHAUSER , Anton 1979: Die Gerichte Buchenstein und Thurn an der Gader 1500 - 1590, San Martin de Tor. V IDESOTT , P AUL (2000): «Deutsch oder Romanisch? Zur Etymologie einiger Gadertaler Orts- und Familiennamen». In: P OHL , Heinz Dieter (Hrsg.): Sprache und Name in Mitteleuropa. Festschrift für Maria Hornung. Wien: Praesens (2000) 251 - 263 [Beihefte zur Österreichischen Namenforschung, 1]. V IDESOTT , P AUL (2000): Ladinische Familiennamen. Cognoms ladins. [Schlern-Schriften, 331], Innsbruck. W OLFSGRUBER , Karl (ed.) 1968: Die ältesten Urbare des Benediktinerinnenstiftes Sonnenburg im Pustertal, Wien. Z INGERLE , Ignaz von / E GGER , Josef 1891: Die Tirolischen Weisthümer. Glossarum, Bd. IV, 789 - 954, Wien. 40 Giovanni Mischì Bibelübersetzungen in den Anfängen der bündnerromanischen Schriftsprachen Ricarda Liver Bibelübersetzungen spielen zuweilen eine Pionierrolle am Anfang der Schriftlichkeit von Sprachgemeinschaften. Das prominenteste Beispiel ist die deutsche Bibel von Martin Luther, die bekanntlich den Grund für eine deutsche Schriftsprache legte. In den grossen romanischen Sprachen gibt es zwar frühe Bibelübersetzungen, aber weder in Frankreich, noch in Italien oder Spanien kommt ihnen eine Bedeutung zu, die auch nur annähernd mit derjenigen der Lutherbibel in Deutschland zu vergleichen ist. Einzig in Rumänien, wo die Schriftlichkeit ebenso spät einsetzt wie im Bündnerromanischen, spielen religiöse Texte und Bibelübersetzungen eine Rolle. Die rumänische Übersetzung der vier Evangelien des Neuen Testaments, Tetraevanghelul, stammt aus der gleichen Zeit wie Bifruns Übersetzung (1560/ 61) 1 . Es ist hier nicht der Ort, die Gründe für das späte Einsetzen der Schriftlichkeit in Romanisch Bünden zu diskutieren. Sie sind in der Forschung vielfach erörtert worden 2 . Vielmehr soll versucht werden, anhand eines Vergleichs zwischen den Bibelübersetzungen von Giachem Bifrun (1560) und Luci Gabriel (1648) einige Aspekte der bündnerromanischen Schriftsprachen in ihren Anfängen zu illustrieren. Die oberengadinische Übersetzung des Neuen Testaments von G. Bifrun ist das erste bedeutende Werk der engadinischen Schriftsprache, eine wahre Pionierleistung. Luci Gabriel konnte dagegen an die Vorarbeit seines Vaters Steffan Gabriel anknüpfen, der, ein gebürtiger Engadiner, als evangelischer Pfarrer in der Surselva wirkte. Mit seinem Erbauungsbuch Ilg vêr sulaz da pievel giuvan, 1611 in Basel gedruckt, hatte Vater Gabriel den Grundstein für die surselvische Schriftsprache gelegt. Doch verdient auch die Leistung des Sohnes grösste Anerkennung und einen Ehrenplatz in der Geschichte der surselvischen Sprache. Wenn wir die Beispiele, anhand derer einige Aspekte der beiden Übersetzungen beleuchtet werden sollen, den Kapiteln 20 - 24 der Apostelgeschichte entnehmen, hat dies einen banalen praktischen Grund. Louis Mourin hat eben dieses Textstück seiner Introduction à la morphologie comparée des 1 LRL 3: 261. 2 L IVER 2010: 85ss., 93ss. langues romanes zugrunde gelegt, wo er im 4. Band Altsurselvisch, Altengadinisch und Dolomitenladinisch behandelt 3 . Beide Übersetzer äussern sich im Vorwort zu den Schwierigkeiten ihres Unterfangens und zu den Zielen, die sie mit ihrer Arbeit verfolgen. Beide beklagen die Kargheit der rätoromanischen Sprache. Bifrun lässt einen fiktiven Gegner behaupten, das Rätoromanische sei «strêt et amanchianthûs», beschränkt und mangelhaft, und deshalb ungeeignet für eine Bibelübersetzung. Dass es beschränkt sei, dem stimmt Bifrun zu, sieht darin aber keinen Hinderungsgrund, eine Übersetzung zu wagen. Jede Übersetzung, so Bifruns überzeugende Argumentation, sei an sich problematisch, dies wegen der fundamentalen Inkongruenz der Sprachen. Luci Gabriel nennt die romanische Sprache «ün languaig pauper, ent ilg qual ei mounca bear plaids», eine arme Sprache, in der viele Wörter fehlen. Beide Übersetzer erklären es als ihr Ziel, dem Leser, auch dem weniger gebildeten, einen leicht verständlichen Text zu bieten. Luci Gabriel bemerkt, dass die Originalsprache des Neuen Testaments, das Griechische, eine sehr knappe, konzise Sprache sei («ün languaig curt»). Eine wörtliche Übersetzung, so Gabriel, wäre unverständlich, weshalb er, wie Piscator in seiner deutschen und Diodati in der italienischen Bibel, zuweilen etwas hinzugefügt habe («mess tenter ent anqual plaidet»). Bifrun seinerseits entschuldigt sich für gewisse unvermeidliche Latinismen, wie «vocatiun, giustificatiun, circun[ci]siun», die er jedoch alle in seinen Anmerkungen erklärt habe. Tatsächlich sind diese Anmerkungen aber eher spärlich und fehlen oft, wo man sie erwarten würde. Drei Beispiele aus unserem Textabschnitt zeigen, dass gewisse Bibelstellen in den Übersetzungen von Bifrun und Gabriel das Verständnis der zeitgenössischen Leser mit Sicherheit überfordert haben. Im 20. Kapitel der Apostelgeschichte wird erzählt, dass Paulus an einem Abend in Troas predigte, und zwar bis gegen Mitternacht hin. Während der langen Predigt schlief ein Jüngling namens Eutychus, der in einer Fensternische sass, ein und stürzte aus dem dritten Stock des Gebäudes zu Boden, wo er tot liegen blieb. Paulus nahm ihn die Arme und erweckte ihn wieder zum Leben. Problematisch für die rätoromanischen Bibelleser des 16. und 17. Jahrhunderts dürfte weniger die Wundergeschichte gewesen sein als vielmehr die Terminologie für die Örtlichkeiten, an denen diese sich abspielte. Bei Bifrun (Apg.20.8 - 9) heisst es: Et eran bgierras liüsths in la saela innua che nus eran araspôs. Et seziand ün giuven cun num Eutijchus sün la fenestra, et gniand agravô d ’ ün hôt soen aradschunand dîch Paulus, es el plü fick chialchiô dalg soen, et es tumô giu da la terza saela, et prais sü muort. 3 M OURIN 1964. 42 Ricarda Liver Bei Gabriel: Mo ent il sâl, nu ’ ch ’ els eran raspai, fov ’ ei bearas lgischs. Ad ün juvnal, ca veva num Eutichus, saset sin ünna fanestra, a vangit surcurdaus dad ün ault sien; a cur Paulus plidava bein a la lieunga, scha vangit el ounc pli fich graviaus d ’ ilg sien, a curdà giu d ’ ilg tierz cumach, a vangit prieus si morts. Weder Bifruns la terza saela noch Gabriels ilg tierz cumach dürften ohne weiteres als «das dritte Stockwerk» verstanden worden sein. Der zweimalige Gebrauch von saela bei Bifrun ist wohl durch die Vorlage bedingt. Erasmus hat an beiden Stellen coenaculum: 8 in coenaculo, 9 ex tertio coenaculo (ähnlich die Vulgata). Vom lateinischen Sprachgebrauch her ist diese Wortwahl gerechtfertigt, da cenaculum sowohl ‹ Speisezimmer › (das meist im oberen Stockwerk gelegen war) als auch ‹ Stockwerk › bedeutet. Der griechische Urtext verwendet dagegen zwei unterschiedliche Termini: 8 ὑπερώον ‹ Oberstock, Obergemach, Söller, Erker › , 9 τρίστεγον ‹ 3. Stockwerk › . Gabriel, der vom Griechischen ausgeht, wählt ebenfalls zwei verschiedene Ausdrücke. Aber tierz cumach für ‹ 3. Stockwerk › ist auch keine überzeugende Lösung. Jedenfalls weist DRG 4: 376 s. s. cumà keine entsprechende Bedeutung aus 4 . Eine weitere Stelle, an der die Phantasie der Leser gefordert ist, findet sich am Anfang des 23. Kapitels. Paulus schleudert dem Hohepriester Ananias, der seinen Leuten befiehlt, ihn zu schlagen, ein Schimpfwort entgegen, das nur versteht, wer über gute Bibelkenntnis verfügt: B Deus vain ad batter te, tü paraid imblaunchida! G Deus ta ven a pichiar, ti, prei alva (Apg. 23: 3). «Getünchte Wand» (so Luther), «paries dealbate» (Vulg. und Er.) als Bezeichnung für einen Heuchler nimmt ein Bild von Matth. 23.27 auf: Vae vobis, scribae et pharisaei, hypocritae, quia similes estis sepulcris dealbatis, quae a foris parent hominibus speciosa, intus vero plena sunt ossibus mortuorum et omni spurcitia. (Vulg.) Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr seid gleichwie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat! (Luther) Von der getünchten Wand der falschen Propheten, welche Gott einreissen wird, war schon Ez. 13.10 - 15 die Rede. 4 In älteren Luther-Versionen findet sich ebenfalls die der Vulgata entsprechende Übereinstimmung der Termini in 8 und 9, so L UTHER 1921 8 «es waren viel Lampen auf dem Söller», 9 «und fiel herunter vom dritten Söller». In der modernisierten Ausgabe von 1974 dagegen 8 «es waren viele Lampen in dem Obergemach», 9 «fiel hinunter vom dritten Stockwerk». 43 Bibelübersetzungen in den Anfängen der br. Schriftsprachen Auch neuere Übersetzungen ins Rätoromanische muten ihren Lesern das ungewöhnliche Bild zu, so G AUDENZ 1953 (vallader) «paraid dada giò ad alb cha tü est! » und die surselvische Bibla ecumena von 1988 «ti preit dada alv! » G AUDENZ 2004 dagegen (puter) übersetzt: «tü fendscheder! » Erstaunlich ist, wie uneinheitlich Bifrun lat. secta (gr. αἵρεσις ) übersetzt. Während Gabriel stets secta hat, gibt Bifrun den Begriff, der auch bei Erasmus immer als secta erscheint, mit verschiedenen Übersetzungen wieder: upiniun, setta und arlîa. Apg. 24.5 übersetzt Bifrun «authorem sectae Nazarenorum» (Erasmus) mit «ün curpurel d ’ üna upiniun dals Nazareners». Gabriel hat: «il principal da la secta dals Nazareers». Upiniun für secta kommt auch Apg. 26.5 und 2. Petr. 2.1 vor 5 . Da Bifrun im 24. Kapitel auch den Ausdruck heresia verwendet (Gabriel hat wiederum secta) 6 , hält er es für nötig, am Schluss des Kapitels die Anmerkung zu machen: «Heresis, secta, upiniun es tuot üna chiosa». Was diese angeblich synonymen Ausdrücke bedeuten, sagt er aber nicht! Seltsamerweise kommt secta, das durch die alten Rechtsquellen für das Engadin des 17. Jh.s belegt ist 7 , bei Bifrun (ausser in der zitierten Anmerkung) überhaupt nicht vor. Einzig die italianisierte Form setta erscheint Apg. 28.22 als Entsprechung von secta bei Erasmus (Gabriel hat auch hier secta). Es ist der einzige Beleg für setta im Material des DRG. Überraschend ist die Wiedergabe von lat. secta durch das ausgefallene Lexem arlîa (Gal. 5.20). In einer Aufzählung von Lastern, «Werken des Fleisches», wie es bei Luther heisst, figurieren in der griechischen Bibel αἱρέσεις , in den lateinischen Versionen sectae, bei Luther Rotten. Gabriel hat wiederum sectas. Gartner glossiert arlîas mit ‹ Kabale, Rotten › . Das im Bündnerromanischen nur ganz sporadisch belegte Wort dürfte eine Entlehnung aus dem Oberitalienischen sein 8 . Wie es um die Verständlichkeit bei Bifruns Lesern steht, lässt sich nicht mehr feststellen 9 . Die Stellen, an denen man sich fragt, ob die Leser der Versionen von Bifrun und Gabriel den Bibeltext verstehen konnten, sind zahlreich. Allerdings dürften auch die heutigen, dem modernen Sprachgebrauch angepassten 5 Apg. 26.5 Bifrun: «suainter la plü perfetta upiniun de la nossa devoziun». Gabriel: «suenter la pli ligida (Fehler für rigida. So noch in der Ausgabe von 1820. BiblaS dagegen: rigurusa) secta da nossa religiun». 2. Petr. 2.1 Bifrun: «upiniuns nuscheivlas», Gabriel: «nuscheivlas sectas». 6 Erasmus: «iuxta viam quam vocant haeresim» (Apg. 24.14). 7 Rq. B 2,798 «secta da religiun». 8 DRG 1: 404. Cf. LSI 1: 119 arlía ‹ pregiudizio, superstizione, . . . stramberia › . 9 Bei P EER 1962 ist arlia als ‹ Zwietracht, Zwiespalt, Hader › verzeichnet. So schon bei P ALL . 1895, mit dem Vermerk «alt». Die problematische Etymologie des Wortes steht hier nicht zur Debatte. VSI 1: 272 und P RATI knüpfen an HARIOLUS an, DEI zieht eher RELIGARE in Betracht. 44 Ricarda Liver Übersetzungen immer noch Schwierigkeiten bieten. Vergleicht man Bifrun und Gabriel unter dem Gesichtspunkt der leichten Lesbarkeit, verdient wohl Gabriel den Vorzug. Sein Satzbau ist einfacher, linearer als der von Bifrun, welcher, vermutlich unter dem Einfluss italienischer Juristensprache, eine ausgeprägte Vorliebe für Gerundialkonstruktionen hat 10 . Pedantisch wirken auch die Relativa quael chi oder il quael, die Bifrun einfachem chi vorzieht. Was die Wortwahl angeht, ist es schwierig, die beiden Übersetzer voneinander abzugrenzen. Bald ist der eine, bald der andere der Umgangssprache näher, und bei beiden lassen sich (an unterschiedlichen Stellen) Beispiele für farbigen, expressiven Ausdruck ausmachen. Interessanter für eine Beurteilung der Frühphase der bündnerromanischen Schriftsprache ist es, die beiden Autoren im Hinblick auf die folgenden Gesichtspunkte zu untersuchen: - Regionale Verschiedenheiten - Sondersprachliche Traditionen (Rechtssprache, Sakralsprache) - Besonderheiten der alten Sprache. 1. Regionale Verschiedenheiten Die tiefgreifenden lexikalischen Verschiedenheiten zwischen dem engadinischen und dem rheinischen Bündnerromanischen, die die Verständigung zwischen den Sprechern der beiden Gebiete auch heute erschweren, sind in den Bibelübersetzungen von Bifrun und Gabriel schon allesamt vorhanden. Ich nenne nur einige Beispiele: B chiarta, G brev ‹ Brief › , cittêd - marcau ‹ Stadt › , crider - bargir ‹ weinen › , acchiattêr - afflar ‹ finden › , alchiüns - anzaquonts ‹ einige › , tü d ’ vessa - ti tez ‹ du selbst › . Die berühmten Lehnübersetzungen aus dem germanischen Recht finden sich nur bei Gabriel, während Bifrun durchwegs Termini hat, die der lateinisch-italienischen Tradition entsprechen. B lescha, G schentament ‹ Gesetz › , giüdisth - derschader ‹ Richter › , giüdichier - truar ‹ richten › . Bei P EER 1962 ist derschader ‹ Richter › zwar noch verzeichnet, aber DRG 5: 169 bemerkt, dass das Wort typisch für C und S sei, in E dagegen von ital. giudice verdrängt worden sei. Auch im Fall der Präposition ‹ bis › , die bei Bifrun infina, bei Gabriel antroqua (modern entochen) lautet, zeigt es sich, dass in den Anfangsphasen der bündnerromanischen Schriftsprachen schon deutliche Unterschiede zwischen den Idiomen bestanden, die ältere Phasen abgelöst hatten, in denen die Gemeinsamkeiten noch grösser waren. Der Typus INTER HOC , der surs. antroqua und verwandten Formen zugrunde liegt, war im romanischen 10 Cf. L IVER 2010: 106. 45 Bibelübersetzungen in den Anfängen der br. Schriftsprachen Mittelalter weit verbreitet 11 . Dass er auch im Engadin vor dem aus Italien eingedrungenen Typus fin,infin geläufig war, geht aus einem Dokument von 1389 hervor, in dem ein Zeuge im Münstertal aussagt, welche Ländereien dem Kloster Müstair gehörten: Introeck in sum la vall de Favergatscha et introekk eintt la vall da Vafergatscha «bis zuoberst in die Val Favergiatscha und bis hinein in die Val Favergiatscha» 12 . Der Typus ist auch in konservativen Dialekten des nördlichen Tessins belegt, was die These von einer ursprünglich weiteren Ausbreitung im Alpenraum ebenfalls stützt 13 . 2. Sondersprachliche Traditionen (Rechtssprache, Sakralsprache) In der Forschung ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass die Pioniere der bündnerromanischen Schriftlichkeit an vorliterarische Sprachtraditionen im Bereich des Rechts und der Religion anknüpfen konnten 14 . Von Bifruns Vorliebe für die Gerundialkonstruktion, die auf den Einfluss italienischer Kanzleisprache zurückzuführen sein dürfte, war schon die Rede (oben p. 45). Rechtssprachliche Ausdrücke und Wendungen finden sich bei beiden Übersetzern. Im folgenden Beispiel (Apg. 24.8) verwenden sowohl Bifrun als auch Gabriel Rechtssprachliches, jeweils an verschiedener Stelle. Bei Erasmus, dem Bifrun nahe folgt, heisst es: ex quo poteris ipse inquisitione facta de omnibus istis cognoscere, de quibus accusamus eum. Bifrun übersetzt: d ’ aquael che tü pous d ’ vessa, haviand hagieu l ’ intervegnüda da tuottes chioses, inclijr da quaelas che nus l ’ g acchiüsain. Gabriel: Dad el pos ti tez, scha ti ilg examineschas, prender informatiun da tut quellas caussas, da las qualas nus ilg chisein. Aus DRG 9: 555s. intervgnir geht hervor, dass die Fügung havair intervgnüda da qchs. ‹ etwas in Erfahrung bringen › in den altoberengadinischen Rechtsquellen belegt ist. Die Lösung von Gabriel, «scha ti ilg examineschas», ist 11 Afr. entrues que, ait. introcque. Cf. DRG 5: 631. 12 Cf. L IVER 1991: 102. 13 Valle Maggia, Val Verzasca trò, trö etc. ‹ fino (a), finché › . LSI 5: 629. 14 Cf. H EINIMANN 1987: 95ss. L IVER 2010: 103ss. 46 Ricarda Liver umgangssprachlicher, weniger technisch. Dagegen gehört auch Gabriels prender informaziun (Bifrun: inclijr) in den Bereich der Rechtssprache (cf. DRG 9: 71s. infuormaziun). E cumparair ava(u)nt güdisch, S cumparer avon dertgira ‹ vor Gericht erscheinen › ist auch heute geläufig. Wenn Bifrun Apg. 24.19, anders als Gabriel, nicht diesen Ausdruck verwendet, liegt es einmal mehr an seiner engen Anlehnung an die Formulierung von Erasmus: «Quidam autem . . . quos oportebat apud te praesto esse»: quaels chi bsügnievan esser aqui preschains tiers te. Gabriel: Quels vessen duvieu cumparer quou avont tei. Auch in der Verwendung von religionssprachlichen Termini weichen die beiden Übersetzer oft voneinander ab. Apg. 23.1 übersetzt Bifrun conversari bei Erasmus (so auch Vulg.) mit afdêr ‹ wohnen › (< lat. HABITARE ), einem spezifisch religionssprachlichen Verb (DRG 1: 587): eau sun cun tutta buna cunschijnscha afdô avaunt dieu, infina alg di d ’ huoz. Gabriel: jou hai survieu à Deus cun tutta buna conscientia antroqua sin quest di. Mit dem in der predigtspachlichen Tradition verankerten arüflijnischa ‹ Reue, Busse › , das Bifrun oft verwendet (heute puter arüvglientscha, vall. rüclentscha), beschäftigte sich Heinimann 1976 in seinem Aufsatz «Bifrun und Erasmus» 15 . Apg. 20.21 heisst es bei Bifrun: da l ’ arüflijnscha chi es via a dieu. Bei Gabriel: d ’ ilg migliurament tiers Deus. Die Verschiedenheit in der Wortwahl der beiden Übersetzer erklärt sich wohl einmal mehr aus deren Vorlagen: Bifrun folgt Erasmus, der «eam, quae erga deum est, poenitentiam» hat. Gabriel hält sich an den griechischen Urtext, wo μετάνοια steht, was zwar auch ‹ Reue, Busse › bedeutet, in der Grundbedeutung jedoch ‹ Sinnesänderung › . Luther hat «Busse zu Gott», was in neueren Auflagen (so 1967) zu «Bekehrung zu Gott» geändert erscheint. Diese Formulierung findet sich schon bei Piscator (1606) und Diodati (1607): «la conversione a Dio»), die Gabriel neben dem griechischen Text auch benutzt hatte. Auch die 15 H EINIMANN 1987: 97 s. 47 Bibelübersetzungen in den Anfängen der br. Schriftsprachen neueren rätoromanischen Übersetzungen ersetzen die «Busse» mit dem Begriff «Bekehrung» 16 . Apg. 20: 32 spricht Paulus von Gott, «der da mächtig ist, euch zu erbauen», wie es bei Luther heisst. «Erbauen» bedeutet hier nicht, wie in jüngerer Zeit im Deutschen, ‹ in fromme Andacht versetzen › (cf. das Adjektiv erbaulich), sondern, näher bei griech. οἰκοδομεῖν und lat. aedificare, ‹ stärken, fördern › . Ausgehend vom Bild der Kirche als Haus Gottes oder Christi steht der Begriff «Erbauung» für die Begründung und die Förderung der christlichen Gemeinde. Bifrun hat an dieser Stelle quael chi es pussaunt da s ’ aedifichiêr, Gabriel: ilg qual ei pussents da bagegiar. Die meisten neueren Bibelübersetzungen sind sich der spezifischen Bedeutung bewusst, die das Verb «erbauen» hier hat. Nur gerade G AUDENZ 1953 übersetzt wie Bifrun «chi ais pussant a s ’ edifichar». G AUDENZ 2004 wählt eine erklärende Formulierung: «Tres quella (scil. la grazcha) vain el a ’ s fer madürer», und die Bibla ecumena 1988 übersetzt philologisch korrekt: «Quel ha la pussonza da construir igl edifeci». Die Geschichte von edific(h)ar und baghegiar, biager ist eines der zahlreichen Beispiele für die mannigfachen Beziehungen des Rätoromanischen zum Lateinischen einerseits, zum Deutschen andererseits. Surs. baghegiar und put. biager sind Ableitungen vom germ. Stamm buw- (mhd. bûwen ‹ bauen › mit dem lat./ rom. Sufix - IDIARE (> -egiar, -ager). Semantisch hat sich der ursprünglich im ganzen br. Gebiet verbreitete Worttypus diatopisch differenziert: In der Surselva bedeutet baghegiar heute nur noch ‹ bauen, erbauen › im konkreten Sinn. Im Engadin dagegen hat sich aus der Bedeutung ‹ das Feld bebauen, anbauen › die Spezifizierung ‹ düngen › entwickelt. Edifichar/ edificar ist heute das einzige Verb zur Bezeichnung der religiösen Erbauung, allerdings im modernen, vom Pietismus geprägten Sinn, nicht in der für die besprochenen Bibelstellen definierten Bedeutung. Gabriels Übersetzung von Apg. 20.32 zeigt, dass im 17. Jh. in der Surselva baghegiar für ‹ erbauen › geläufig war, was auch durch weitere Belege erhärtet wird (DRG 2: 40). Engadinische Beispiele fehlen, aber Bifruns Version von Eph. 4.12 zeigt, dass biager, die Entsprechung von baghegiar, im alten Oberengadinischen ebenfalls ‹ erbauen › bedeuten konnte: in abiagiamaint dalg chioerp da Christi. 16 G AUDENZ 1953: «da ’ s convertir pro Dieu». G AUDENZ 2004: «ch ’ els dessen turner tar Dieu». Bibla ecumena 1988: «dalla conversiun tier Diu». 48 Ricarda Liver Gabriel: par bagegiar il chierp da Christ. Luther: dadurch der Leib Christi erbaut werde. Hinter diesem Gebrauch steht dt. erbauen, das in seiner religiösen Bedeutung seinerseits eine Lehnübersetzung von lat. aedificare ist. 3. Besonderheiten der alten Sprache Die Besonderheiten aus der Rechts- und Religionssprache sind in vielen Fällen auch Besonderheiten der alten Sprache. Abschliessend einige weitere Beispiele für eine Wortwahl bei Bifrun und Gabriel, die sich von der heutigen Sprache unterscheidet. Gabriel verwendet für den Begriff «Menge», lat. multitudo, griech. πλῆϑος , das heute nicht mehr gebräuchliche bearezia, so Apg. 21.36 und 23.7. Bifrun hat im ersten Fall «üna granda quantitaet d ’ poevel» (Gabriel: «la bearezia d ’ ilg pievel»), im zweiten schlicht «la lieud». B et la lieud gnittan in parts G a la bearezia mà enten parts. Bei Bifrun kommt das anderswo bezeugte bgerezza überhaupt nicht vor. DRG 2: 388s. blerezza vermerkt, dass biarezia in den protestantischen Bibelübersetzungen der Surselva bis 1870 geläufig war. Biblisch und alt ist nach D ECURTINS 2001 auch spiar in der Bedeutung ‹ fragen, nachforschen › . Im Material des DRG finden sich zahlreiche Belege aus dem Altsurselvischen (auch spigiar). Wo Gabriel spiar ‹ fragen › verwendet, steht bei Bifrun jeweils dumander, so Apg. 23.34 17 . B Et cura l ’ g guvernadur . . . havet dumando da che provincia ch ’ el füs G A cur ilg guvernadur . . . vet spiau da qual provincia el fuss. Die Bedeutung ‹ fragen › für romanische Fortsetzer von germ. * SPEHÔN (dt. spähen), das br. spiar, it. spiare etc. zugrunde liegt, findet sich, ausser im Altsurselvischen, auch in archaischen Sprachstufen und peripheren Dialekten der Romania, so (noch heute) in süditalienischen Dialekten und in Zeugnissen aus dem mittelalterlichen Italienischen aus dem Süden und dem Norden 18 . 17 Auch Apg. 21.33. Ferner Luc. 8.9; 18; 17, Joh. 5.12. 18 Cf. FEW 17: 175. D ’ A MBRA spiare ‹ domandare, interrogare › . Ritmo cassinese v.36 - 37: «Quillu d ’ Oriente pria/ altia l ’ occlu, sì llu spia» (M ONACI / A RESE 1955: 32). 49 Bibelübersetzungen in den Anfängen der br. Schriftsprachen Auch Bifrun verwendet ein Verb spiêr, nach dem Glossar von Gartner jedoch in der Bedeutung ‹ ausdenken › . Apg. 17.29: «qualchiosa spieda delg hum». Gabriel: «ad inventiun da carstiaun». 2. Petr. 2.3: «cun spiôs plêds». Gabriel: «cun plaids dichiaus si». Luther: «mit erdichteten Worten». Der Redaktor oder die Redaktorin des Artikels spiar im DRG wird sich in ferner Zukunft mit der Frage beschäftigen, ob diese (semantisch nachvollziehbare) Bedeutungsentwicklung anderswo Parallelen hat 19 . Zum Schluss noch ein Beispiel für einen Italianismus, der im Altengadinischen gut belegt ist. Apg. 24.20 B sch ’ els haun acchiato üngiüna chiativijrgia aint in me G sch ’ els han afflau enten mei anchinna caussa bucca drechia. Gabriel folgt dem griechischen Urtext ( τί . . . ἀδίκημα ) und Luther («etwas Unrechtes») nahe. Auch die Formulierung in der Vulgata und bei Erasmus («quid . . . iniquitatis») entspricht dieser Interpretation. Bifrun verwendet chiativijrgia ‹ Schlechtigkeit, Bosheit › verschiedentlich 20 . Das Wort ist laut DRG 3: 464 auf das Engadin und Surmeir beschränkt und vornehmlich in der alten Sprache geläufig 21 . 4. Schluss Die ältesten Bibelübersetzungen aus dem bündnerromanischen Raum zeigen, wie auch andere Texte derselben Zeit, eine erstaunliche Geschmeidigkeit und Elaboriertheit der jungen Schriftsprachen 22 . Beide Übersetzer, Bifrun und Luci Gabriel, meistern die schwierige Aufgabe der Bibelübersetzung gut, mit gewissen Einschränkungen, von denen die Rede war. Aus sprachgeschichtlicher Perspektive fällt auf, dass die heute herrschenden Unterschiede zwischen Engadin und Surselva im 16./ 17. Jahrhundert weitgehend schon bestanden. Ältere Gemeinsamkeiten der bündnerromanischen Regionen, die aus der Sprachgeschichte erschlossen werden können, sind bei Bifrun und Gabriel nicht mehr fassbar. Beide Übersetzer knüpfen an ältere Traditionen aus dem rechtssprachlichen und dem sakralsprachlichen Bereich an. Besonderheiten der alten Sprache, die aus den modernen Idiomen verschwunden sind, gibt es bei Bifrun 19 Cf. auch eng. inspiar ‹ mit List ausdenen, ersinnen › DRG 9: 371s. - Eine weitere semantische Variation der Grundbedeutung von spiar ist ‹ achten auf, aufpassen › . Sie erscheint bei T RAVERS , Müs v. 25: «Schi vuless el a sia pussaunza spiêr». 20 So Matth. 13.41, 23.28 und öfters. Gabriel hat jeweils nauschadad, malgistia. 21 Die modernen Wörterbücher verzeichnen zwar chiativiergia, aber das Wort scheint nur literarisch fortzuleben. DRG 3: 464 zitiert Beispiele aus Reto Caratsch. 22 Cf. L IVER 2010: 107ss. 50 Ricarda Liver und Gabriel durchaus. Neben den Beispielen aus dem Wortschatz, die wir besprochen haben, unterscheiden vor allem die vielfältigen Formen des synthetischen Perfekts die Sprache der beiden Übersetzer vom modernen Rätoromanisch. Im grossen Ganzen ist jedoch die Sprache des 16./ 17. Jahrhunderts nicht wesentlich verschieden vom heutigen Bündnerromanischen. 5. Bibliographie 5.1. Bibelausgaben Bibla ecumena 1988: Bibla romontscha ecumena. Niev testament. Ediziun procurada per incarica dil Decanat Sursilvan e dil Colloqui Sur igl uaul, Mustèr/ Cuera D IODATI , G. 1607: La sacra bibbia ossia l ’ antico e il nuovo testamento. ed. Società biblica britannica & forestiera, Roma 1995 E RASMUS 1547: Novi testamenti aeditio postrema, Tiguri (Facsimile DRG) G ABRIEL , L. 1648: Ilg nief Testament . . ., Basel G AUDENZ , G. 1953: La soncha scrittüra. Vegl e Nouv Testamaint, Samedan (J. U. G AUDENZ und R. F ILLY ) G AUDENZ , G. 2004: Il Nouv Testamaint - La Buna Nouva, Samedan G ARTNER , T H . 1913: Das Neue Testament. Erste rätoromanische Übersetzung von Jakob B IFRUN 1560, Dresden L UTHER 1974: Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des alten und neuen Testaments nach der Übersetzung Martin L UTHER s. Revidierter Text, Stuttgart M OURIN , L. 1964: Introduction à la morphologie comparée des langues romanes basée sur des traductions anciennes des Actes des Apôtres ch. XX à XXIV. Tome IV Sursilvain et engadinois anciens, et ladin dolomitique, Bruges Novum testamentum graece et germanice = Das Neue Testament griechisch und deutsch. 1921. ed. E. N ESTLE , Stuttgart (hier die ältere Luther-Version) P ISCATOR , J. 1606: Biblia. Das ist: Alle bücher der H. Schrift des alten und newen Testaments/ Aus Hebreischer und Griechischer spraach . . . aufs new vertheutscht . . . Herborn Vulg. = Bibliorum sacrorum iuxta vulgatam Clementinam nova editio. ed. A LOISIUS G RAMATICA , Mediolani 1951 5.2. Wörterbücher und kritische Literatur B EZZ ./ T ÖNJ . = R. R. B EZZOLA / R. O. T ÖNJACHEN , Dicziunari tudais-ch - rumantsch ladin, Cuoira 1976 D ’ A MBRA , R. 1873: Vocabolario napolitano-toscano domestico di arti e mestieri, Napoli D ECURTINS , A. 2001: Niev vocabulari romontsch sursilvan-tudestg. Neues rätoromanisches Wörterbuch surselvisch-deutsch, Chur DEI = C. B ATTISTI / G. A LESSIO 1968: Dizionario etimologico italiano, Firenze (5 vol.) FEW = W. V . W ARTBURG 1928ss.: Französisches etymologisches Wörterbuch, Bonn 51 Bibelübersetzungen in den Anfängen der br. Schriftsprachen H EINIMANN , S. 1987: «Romanische Literatur- und Fachspachen in Mittelalter und Renaissance», in: E NGLER , R./ L IVER R. (ed.) Beiträge zur Frühgeschichte des Provenzalischen, Französischen, Italienischen und Rätoromanischen, Wiesbaden L IVER , R. 1991: Manuel pratique de romanche. Sursilvan - vallader. Deuxième édition revue et corrigée ( 1 1982), Cuira L IVER , R. 2010: Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage ( 1 1999), Tübingen LSI = Lessico dialettale della Svizzera italiana, Bellinzona 2004 (5 vol.) M ONACI , E./ A RESE , F., 1955: Crestomazia italiana dei primi secoli, Roma/ Napoli/ Città di Castello P ALL . 1895 = Z. P ALLIOPPI / E. P ALLIOPPI , Dizionari dels idioms romauntschs d ’ Engiadin ’ ota e bassa, della Val Müstair, da Bravuogn e Filisur, con particulera consideraziun del idiom d ’ Engiadin ’ ota, Samedan P EER , O. 1962: Dicziunari rumantsch ladin - tudais-ch, Samedan P RATI , A. 1979: Vocabolario etimologico italiano, Roma Rq. = A. S CHORTA / P. L IVER (ed.), Rechtsquellen des Kantons Graubünden, Aarau 1980 - 85 (4 vol.) VSI = Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana, Lugano 1952ss. 52 Ricarda Liver Die erste dolomitenladinische Grammatik: Versuch zu einer Grammatik der Grödner Mundart/ Per na Gramatica döl Lading de Gerdöna von Josef Daniel Insam (1806 ca.) Paul Videsott 1. Einleitung Das Verzeichniss rätoromanischer Literatur von Eduard Böhmer (cf. B ÖHMER 1885) erwähnt auf Seite 208 als einzige Handschrift aus Gröden eine Gramatick der Grödner Mundart aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts: Gramatick der Grödner Mundart. Von Josef Insam? Gegen 1800 verfasst? Abgeschrieben von Joh. Bapt. Rifesser 1881. Titelbl. u. 60 S. Nebst zwei auf diese Grammatik sich beziehenden Briefen von Rifesser. Diese Grammatik wäre somit knapp drei Jahrzehnte älter als der Versuch einer deütsch-ladinischen Sprachlehre von Nikolaus Bacher/ Micurà de Rü aus dem Jahre 1833, mit dem normalerweise der Beginn der dolomitenladinische Grammatikographie angesetzt wird 1 . Dass diese Grammatik trotz ihres chronologischen Primats bisher praktisch unbekannt war, hängt mit ihrer verwickelten Überlieferungsgeschichte zusammen, die es einleitend zu rekonstruieren gilt (2 - 3). Die weiteren Kapitel werden dem Autor (4) und der Beschreibung des Inhalts der Grammatik (5) gewidmet sein. 1 Zur ladinischen Grammatikographie cf. die einschlägigen Kapitel der Rätoromanischen Bibliographie 1729 - 2010 (V IDESOTT 2011 a), mit denen der Überblick von K RAMER (1989) aktualisiert werden kann. Zur Grammatik von Micurà de Rü cf. ausführlich C RAFFONARA (1994) sowie B ACHER (1833[1995]). Im gesamträtoromanischen Vergleich gehen dem Grödner Manuskript laut unserem Kenntnisstand nur drei bündnerromanische Grammatiken voraus: die gedruckten von D A S ALE (1729) und V EITH (1771) sowie, als älteste grammatikalische Beschreibung eines rätoromanischen Idioms überhaupt, das Lehrbuch des Deutschen für Unterengadiner. Paradigmen, Vocabeln, Sätze. Anno 1708 die 28 schner eau Danieil Jachian Tschondar . . . scrit in Clostra [= Klosters] (cf. V IDESOTT 2011 b, 168 s. v. Ms. raetorom. oct. 7). Der Titel dieses Werks verschleiert seinen rätoromanischen Inhalt: auf den ersten Seiten ein Wörterbuch Deutsch-Vallader, danach Deklinationen und Konjugationen, dann wieder Terminologie, religiöser Wortschatz, Namen von Städten, Beispielsätze. 2. Die Gramatick der Grödner Mundart/ Gramatica döl Lading de Gerdöna Aus den Angaben Böhmers geht unzweifelhaft hervor: a) Dass es diese frühe Grammatik effektiv gegeben hat: b) Dass (für Böhmer) bezüglich Autorschaft und Abfassungsdatum Zweifel bestanden; c) Dass das Manuskript 1881 im Besitz des St. Ulricher Frühmessers Johann Baptist Riffeser war, der es für Böhmer abschrieb. Es ist auffällig, dass außer in B ÖHMER (1885: 208) besagte Grammatik nirgendwo in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur zum Dolomitenladinischen erwähnt wird. Dabei war Johann Baptist Rifesser (1819 - 1905) 2 nicht nur der Grödnerisch-Lehrer Böhmers und Gartners (cf. G ARTNER 1879: VI - VII), sondern auch der mehrmals genannte und gelobte Informant Ascolis zum Grödnerischen (cf. A SCOLI 1873: 339, 342, 361 - 371). Dies scheint darauf hinzuweisen, dass Rifesser selbst erst 1881 Kenntnis von diesem Manuskript erhalten hat. Diese Vermutung wird bestätigt durch einen in der Korrespondenz Böhmers gefundenen Brief vom 22. April 1881, in dem Rifesser dem Straßburger Professor mitteilt, er habe im Nachlass des am 23. Januar 1880 gestorbenen Kuraten von St. Ulrich, Ujep Antone Vian, ein bisher unbekanntes Manuskript von 104 Seiten gefunden, das unter anderem auch unsere Gramatick der Grödner Mundart/ Gramatica döl Lading de Gerdöna enthielt (cf. Anhang 1). Ujep Anton Vian (1804 - 1880) ist bekanntlich der Verfasser der ersten gedruckten Grammatik des Grödnerischen Gröden, der Grödner und seine Sprache (V IAN 1864), doch auch er erwähnt das ältere Manuskript mit keinem Wort. In diesem Fall kann man über die Gründe nur spekulieren: entweder ist er selbst auch erst spät, jedenfalls nach 1864, in dessen Besitz gekommen, oder er wollte verhindern, dass diesem Manuskript ein ähnliches Schicksal widerfahren würde wie ein Jahrzehnt vorher jenem von N. Bacher 3 . Oder wollte er womöglich den innovatorischen Wert seines eigenen Werkes nicht schmä- 2 Hw. Johann Baptist Rifesser stammte aus Urtijëi/ St. Ulrich in Gröden, wurde 1844 in Trient zum Priester geweiht, war Kooperator in Vich/ Vigo di Fassa und Urtijëi/ St. Ulrich, und dort ab 1858 bis zu seinem Tode Frühmessbenefiziat. Das Sterbebuch von Urtijëi/ St. Ulrich würdigt ihn mit diesen Worten: «Hochw. Hr. Rifesser war ein gründlich gebildeter Theologe, welches Studium er bis ins hohe Alter betrieb - ohne auch in profanen Sachen unerfahren zu sein - ein gewissenhafter Ratgeber der ganzen Gemeinde, von allen wegen seiner Liebe und Demut hoch geschätzt und geliebt. In seinen Funktionen war er pünktlich und genau». 3 Dieses war in die Hände des Augustiner Chorherren Chrisostomos Mitterrutzner (Neustift bei Brixen) gelangt, der es ausgiebig für seine Schrift Die rhätoladinischen 54 Paul Videsott lern 4 ? Am ehesten würde man eine Antwort darauf im Nachlass von Vian selbst finden, doch dieser ist heute leider nicht mehr auffindbar 5 . Das Original der Grammatik ist also bis auf weiteres verschollen. Doch auch die Kopie Rifessers hatte kein besseres Schicksal: alle Rätoromanisten, die davon Kenntnis hatten (z. B. B ELARDI 1984: 271 FN 2 6 , C RAFFONARA 1994: 183 FN 130 7 ), mussten resigniert feststellen, dass auch diese nicht mehr auffindbar war. Und dabei wäre es wohl auch geblieben, wenn nicht - wie so oft - Kommissar Zufall eingeschritten wäre. Im Frühjahr 2009 kontaktierte uns Dr. Roman Sosnowski vom Institut für Romanistik der Universität Krakau. Man sei dabei, im Rahmen des Projektes FIBULA (http: / / info.filg.uj.edu.pl/ fibula/ it) die romanischen Handschriften des Berliner Bestandes der Universitätsbibliothek Krakau zu beschreiben und zu katalogisieren. Das Projekt werde sich aus Zeit- und Kompetenzgründen nur mit den französischen, spanischen, portugiesischen und italienischen Handschriften befassen, aber es könnte von Interesse sein, auch einen Blick auf die rätoromanischen Handschriften zu werfen. Persönlich erfuhren wir bei dieser Gelegenheit überhaupt zum ersten Mal von der Existenz eines rätoromanischen Bestandes in Krakau, denn der Hinweis darauf in der Bibliografia retorumantscha (BR: 22 FN 27) ist so diskret in einer Fußnote «versteckt», dass er bisher von der scientific community unbeachtet geblieben war. Dr. Sosniewski schickte uns daraufhin eine provisorisch angefertigte Liste der Incipits der insgesamt 82 rätoromanischen Signaturen. Jener der Signatur «Raetorom. Qu. 15» und der Angabe «Ed. Böhmer: Grödner Gramatick» hat uns sofort an die Angaben B ÖHMER s (1885: 208) erinnert: Zumindest die Abschrift der ersten bekannten ladinischen Grammatik war also wieder Dialekte in Tirol und ihre Lautbezeichnung (M ITTERRUTZNER 1856) exzerpierte, ohne jedoch auf seine Quelle hinzuweisen (cf. C RAFFONARA 1994: 194). 4 Dieser Vermutung widerspricht jedenfalls das bescheidene anonyme «von einem Einheimischen» als Verfasserangabe von V IAN (1864). 5 Diesbezügliche Nachforschungen von Dr. Toni Sotriffer, dem dafür herzlich gedankt sei, im Pfarrarchiv von Urtijëi/ St. Ulrich blieben leider ohne Ergebnis. Der Verlust ist weniger wegen des Originalmanuskripts der Grammatik von Relevanz, da Rifesser versichert, er hätte das Original buchstabengetreu, also auch «mit den Sprach- und Schreibfehlern», abgeschrieben, sondern vielmehr deswegen, weil die damalige Geistlichkeit (Zeitgenossen Vians sind z. B. Giosef Brunel, Vinzenz Gasser und Janmatî Declara) in der Regel sehr am Ladinischen interessiert war und sich kleine Fachbibliotheken dazu einrichtete, wie am Bestand der Pfarrbibliothek La Pli de Mareo/ Enneberg-Pfarre ersichtlich ist. Wir gehen davon aus, dass Vian das damalige ladinische Schrifttum gesammelt hat. 6 «Non ho ulteriori notizie di una Grammatik der Grödner Mundart scritta intorno al 1800 da un Insam [. . .]». 7 «Das Manuskript [. . .] wurde zwar noch 1881 von Johann Baptist Rifesser abgeschrieben, konnte aber bis heute nicht gefunden werden». 55 Die erste dolomitenladinische Grammatik gefunden. Eine Fahrt nach Krakau im Juni 2009 hat diese «Wiederentdeckung» bestätigt 8 . Neben dem Grammatik-Manuskript wird in Krakau an Dolomitenladinischem noch eine Version des Badiotischen Schützenliedes von Cyprian Pescosta 9 sowie Mitterrutzners Abschrift der Bacher ’ schen Grammatik aufbewahrt 10 . 3. Der rätoromanische Bestand der UB Krakau In einer eigenen Studie (cf. V IDESOTT 2011 b) konnten wir den Weg der Rifesser-Kopie nach Krakau nachzeichnen. Sie war Teil der sogenannten «Böhmer-Sammlung», der großen rätoromanistischen Bibliothek, die Eduard Böhmer jahrelang zusammengetragen und dann 1885 an die kaiserlichkönigliche Hofbibliothek von Berlin verkauft hatte, die damals zu der Forschungsbibliothek im deutschen Kaiserreich ausgebaut wurde und deswegen gezielt bedeutende Sammlungen ankaufte 11 . Als aber im Zuge des Zweiten Weltkriegs die Gefahr für die Preußische Staatsbibliothek immer größer wurde und ihr Gebäude Unter den Linden am 10. April 1941 erstmals effektiv von Bomben getroffen wurde, wurde der Entschluss gefasst, die gesamte Bibliothek zu evakuieren, beginnend bei den wertvollsten Beständen. So kamen auch die romanischen (und darunter die rätoromanischen) Handschriften nach Schlesien, zuerst nach Fürstenstein (heute Ksi ąż ) und 1944 dann weiter nach Grüssau (heute Krzeszów, beide 8 Wir schreiben «Wiederentdeckung» unter Anführungszeichen deswegen, weil sich bei unseren weiteren Nachforschungen zum Krakauer rätoromanistischen Bestand herausgestellt hat, dass die Berliner Manuskripte bereits in den 1970er-Jahren durch Signaturenlisten in Krakau nachgewiesen worden waren. Doch diese Information scheint auf einen sehr engen Kreis von Fachbibliothekaren beschränkt geblieben zu sein, denn die betreffenden Handschriften gelten selbst in neuesten Publikationen noch als «verschollen» (so wird z. B. das Wörterbuch-Manuskript von P. Laurenz Justinian Lombardin noch heute im bibliographischen Index des DRG als verschollen ausgewiesen: «[Zitiert nach einer] Kopie von A. T HALER aus dem vor 1945 in der Preuß. Staatsbibliothek in Berlin liegenden, heute verschollenen Originalmanuskript aus dem Jahre 1879» (so ebenso S CHREICH -S TUPPAN 2007: 129).In den Entlehnlisten der Universitätsbibliothek Krakau hatte sich zu diesem rätoromanischen Bestand vor unserem Besuch im Juni 2009 noch niemand eingetragen. 9 Cf. dazu V IDESOTT (20011 b: 181 s. v. Ms. raetorom. qu. 17); zum Text selbst cf. D ORSCH (1994). 10 Cf. dazu V IDESOTT (2011 b: 179 - 180 s. v. Ms. raetorom. qu. 16); zum Text selbst cf. C RAFFONARA (1994: 195 - 197). 11 Der wohl spektakulärste Erwerb der Berliner Bibliothek in dieser Zeit war die sog. «Hamilton-Sammlung». 56 Paul Videsott Polen). Nach Kriegsende verblieb dieser Bestand in Polen und wird seitdem vor allem in der Biblioteka Jagiello ń ska/ UB Krakau aufbewahrt. 4. Der Autor der Grammatik: Josef David Insam (1744 - 1826) Schon Rifesser hatte den Autor des namentlich nicht gekennzeichneten Grammatik-Manuskriptes identifiziert (cf. Anhang 1): Ho confrontato il manoscritto con documenti di uffizio di Giuseppe Insam, scritti di sua mano con caratteri similissimi alla grammatica accennata. L ’ autore era ‹ Pfeger=Landrichter=Bezirksrichter › ossia pretore, nato a S. Maria (Wolkenstein) di Gardena. L ’ operetta è di 104 pagine. Abbenché l ’ autore era gardenese, quando ha scritto la detta grammatica, come lo dimostrano i moltissimi errori, non conosceva più bene la lingua della sua patria. Verosimilmente scrisse la sua operetta nell ’ ultimo o penultimo decennio del secolo u. p. Es handelt sich um Josef David Insam, geboren am 30. Dezember 1744 in Sëlva/ Wolkenstein, gestorben am 20. September 1819 in Griesbruck bei Klausen. Er war Richter des Landgerichts Gufidaun und meldete in seiner Funktion im Dezember 1809 die Fluchtwege der vor den Bayern flüchtenden Tiroler Schützen nach Innsbruck. Er scheint sich aber nicht allzu sehr kompromittiert zu haben, denn wir finden Insam auch nach der Rückkehr der österreichischen Verwaltung 1813 noch mindestens bis 1819 an seinem Platz 12 . Insam scheint an seiner Muttersprache sehr interessiert gewesen zu sein. Gemeinsam mit dem als Begründer der ladinischen Literatur geltenden Organisten und Lehrer Matthias Ploner (1770 - 1845) 13 hatte er dem Landrichter von Kastelruth, Josef Steiner, Wörter und 6 kurze Anekdoten auf Grödnerisch zukommen lassen, die dieser dann in seinem Artikel Die Grödner (S TEINER 1807) veröffentlicht hat. Hier (S TEINER 1807: 22) finden wir auch einen direkten Hinweis auf eine sich in Ausarbeitung befindliche Grammatik: «Ich (= Steiner) gedenke demnächst zu der bisher unbekannten Grödner Sprache eine Grammatik vorzulegen». Der Satz kann sich nach unserem Wissensstand nur auf unser Manuskript beziehen. Es erstaunt deswegen, dass Steiner, der selbst wohl nicht ausreichend Ladinisch konnte, um eine Grammatik zu schreiben, das ich-Pronomen verwendet. Doch auch bei den 6 kurzen Anekdoten erwähnt Steiner die eigentlichen Verfasser/ Übersetzer nicht 14 . 12 Cf. B ERNARDI / V IDESOTT (im Druck). Für wertvolle Hinweise sind wir Dr. Toni Sotriffer zu Dank verpflichtet. 13 Cf. B ERNARDI / V IDESOTT (2010). Zum Leben und Werk von Matthias Ploner cf. S OTRIFFER (2000/ 01). 14 Diese Angabe der eigentlichen Verfasser der ladinischen Anekdoten findet sich erst im Kalënder Ladin (1915: 93). Es bleibt unsicher, ob es sich dabei um die Verschriftung von 57 Die erste dolomitenladinische Grammatik Es ist uns nicht ganz klar, wieso Böhmer trotz der ihm vorliegenden Informationen die Verfasserangabe mit einem Fragezeichen versehen hat. Auch dürfte das Abfassungsdatum mit 1806 ca. ziemlich genau feststehen. 5. Struktur und Inhalt der Grammatik Die Grammatik (in der Rifesser-Abschrift 59 Seiten lang; alle Seitenangaben in [] beziehen sich darauf ) ist in zwei Teile gegliedert: der erste [1 - 33] enthält eine Beschreibung der klassischen Wortarten, die zweite [33 - 55] eine Beschreibung der «Wortfiegung», d. h.: eine ladinische Syntax ante litteram 15 . Obwohl die einzelnen Kapitel hierarchisch nicht durchstrukturiert sind, lassen die einzelnen Überschriften doch eine Ordnung erkennen: I. a) Von der Aussprache [1] b) Von dem Accente [1] c) Von dem Apostroph [2] II. Von den unentbehrlichsten Gegenständen der Sprache [2] a) Von dem Artikel [3] III. Von den Nennwörtern überhaupt und derselben Abänderung [4] Adverbia [5] a) Hauptzahlen [5] b) Ordnungszahlen [6] c) Versamlungs Zahlen [6] Deklination der Verben, denen persönlichen Pronomen [6] Zueignende Pronomen. Possessiva [7] Fragende Pronomen [8] Absoluta [9] IV. Conjugation der Zeitwörter [9] Hilfs Wörter [9] 1. avöi, ‹ haben › II Hilfswort: Vöster ‹ Seÿn › [11] einheimischen ladinischen Anekdoten oder um eine Übersetzung von ursprünglich deutschen Geschichten handelt. Weder sprachlich noch inhaltlich gibt es einen zwingenden Beweis für die eine oder andere Annahme. 15 Diese enthält laut Angaben des Autors nur solche Punkte, die für das Grödnerische charakteristisch sind («Es wird sich hier blos auf die zur Grödner Mundart eignende Regeln beschränkt», [33]). Die Syntax war bekanntlich immer ein Schwachpunkt der Beschreibung des Ladinischen. Zum einen lag es an der im 19. Jh. vorherrschenden historisch-komparatistischen Methode, zum anderen galt das Verdikt G ARTNER s (1883: VIII), wonach es einer eigenen syntaktischen Beschreibung des Rätoromanischen nicht bedürfe. Die einzige syntaktische Dissertation zum Dolomitenladinischen vor dem 2. Weltkrieg ist L ARDSCHEIDER (1909). 58 Paul Videsott Conjugatio/ Abwandlung [14] Von den Nebenwörter (Adverbiis) [23] Nebenwörter der Zeit [26] Nebenwörter der Beschaffenheit [27] Nebenwörter der Größe [28] Nennwörter der Ordnung [28] Von den Vorwörtern (Praepositionen) [28] Von den Bindewörtern. Conjunctionibus [31] Von den Zwischenwörtern. Interjectionen [32] Nachtrag [32] Zweiter Theil. Die Wortfiegung (Syntax) [33] I Von der Fiegung der Artikel mit den Haupt- und Beywörtern [33] II Von der Fiegung mit den Appelativen Nennwörter [35] III Von der Fiegung der Nennwörter. A. Adjectiva [35] B. Von den Subsantivis [36] Von den Vergleichungs Stafeln [38] Von der Regirung etwelcher Haupt= und Zeitwörter. Substantiva [38] Adjectiva [39] Von der Fügung der Fürwörter [39] Persönliche Fürwörter [39] Pronomina Possessiva [42] Pronomina demonstrativa [43] Pronomina Interogativa [43] Syntax der Zeitwörter [43] I. Von dem Gebrauch der Zeiten [43] Von dem Gebrauch der Conjunctionen [46] Von der Modification der Verbium [47] Von den Abänderungen der Zeitwörter Casus [49] Von den abgeleiteten Endungen der Zeitwörtern [51] Anhang. Von verschiedenen Redensarten [53] Entwelche Redenarten bey welchen die Wörter nicht können versetzt werden [55] Nachdem die Grammatik demnächst vollständig ediert werden soll, beschränken wir uns hier auf einzelne bemerkenswerte Passagen. Im Kapitel von dem Accente (i. e.: Orthoepie) wird die Aussprache des Vokals o folgendermaßen beschrieben: Das o hat drey verschiedene Töne, nämlich bota ‹ der Stoß › , ora ‹ die Stunde › , auch ‹ die Uhr › , mone ‹ Mesner › , die zwey ersten müssen mit verschiedene Accente bezeichnet werden, denn es ist offenbar, daß widrigenfalls ganz unterschiedene Bedeutungen hervorgehen müssen. Es dürfte nicht unschicklich sein, das o bey bota mit ^ und òra mit ` zu accentiren, und dem (sic! ) Lernenden darauf aufmerksam zu machen [1]. Auffällig ist hier insbesondere der Verweis auf Ladinisch-Lernende als mögliches Zielpublikum der Grammatik, der sich in ähnlicher Form auch 59 Die erste dolomitenladinische Grammatik bei Bacher wiederfindet 16 . Womöglich kann man darin eine Auswirkung der Maria-Theresianischen Pflichtschulverordnung von 1774 erkennen, die in Ladinien sicher auch Anlass zur Diskussion über die zu wählende(n) Unterrichtssprache(n) gegeben hat 17 . Beim Futur [10 ss.] wird zwischen Futurum Certum und Futurum Incertum unterschieden. Das Futurum certum [13] Insams entspricht dem heute im Dolomitenladinischen üblichen synthetischen Futur, das - obwohl bekanntlich nicht endemisch - bereits seit Oswald von Wolkenstein ( † 1445) belegt ist 18 . Gewiß künftig futurum certum Sing: je sarè ‹ ich werde seyn › che je sare ‹ daß ich seyn werde › tu sares ˝ tu sares el sarà ˝ el sarà Plur: nos sarong che nos sarong vò sareis ˝ vo saröis öi sarà ˝ öi sara. 16 Cf. B ACHER (1833[1995]: 25): «Wie sehr wär ’ es nun für diese Gegenden zu wünschen, dass die im Uebrigen so ausgezeichnete, gewöhnlich talent- und eifervolle Geistlichkeit in ihrem ganzen Volksunterrichte statt der italienischen, die sie oft selbst nur kümmerlich kann, sich der wahrhaft kernhaften, wohlklingenden und gewiß nicht so armen ladinischen Sprache bedienen und von Zeit zu Zeit ein in dieser Sprache verfaßtes Buch dem lesebegierigen Volke und besonders der Schuljugend vorgäbe.» 17 Zur Sprachensituation in den Schulen Ladiniens zu Beginn des 19. Jh. ist wenig bekannt. B ACHER (1833[1995]: 25) schildert sie folgendermaßen: «In den ersten Jahren dieser Schulen hatte man fast allgemein ein lateinisches Schulbuch für die Anfänger, Saltire genannt (Psalterium), weil es nebst den lateinischen Vater unser, Ave Maria, Credo, Salve Regina ec. einige lateinische Psalmen enthielt. [. . .] Auf diesen Saltire und andere Bücher ähnlicher Art folgten dann später italienische Lesebücher, und Katechismen, die die Jugend fast eben so wenig verstehet, wie die lateinischen». Ausführlicher wird die Sprachenfrage erst im Zusammenhang mit dem Enneberger Schulstreit (1870 - 1895) debattiert (cf. dazu F ONTANA 1978). 18 Im mehrsprachigen Gedicht «Do fraig amorß» verwendet Oswald das ladinische Futur- Syntagma dutt seruiray und glossiert es mit ‹ Ich din dir gancz › (cf. K UEN 1979: 108). 60 Paul Videsott Das Futurum incertum [11 - 12] wird mit dem Hilfsverb VOLERE gebildet: Ungewiß künftig futurum incertum Sing: je ùe vöster ‹ ich will seyn › che je uebe vöster ‹ daß ich seyn wolle › tu ùes _ ‹ du willst _ › ˝ tu uebes vöster ‹˝ du wollest _ › el uel _ ‹ er will _ › ˝ el uebe vöster ‹˝ er seyn wolle › Plur: Nos ulong vöster ‹ wir wollen seyn › che ulongse vöster ‹ daß wir seyn wollen › vò ulöis _ ‹ ihr wollet _ › vo uloise _ ‹˝ ihr _ › öi uel _ ‹ sie wollen _ › öi uebe _ ‹˝ sie _ › In seiner analytischen Bildungsweise erinnert es einerseits an den zeitgleich von B ACHER (1833[1995]: 96) dokumentierten analytischen Futur mit VENIRE , andererseits ist die Bildung des Futurums mit VOLERE anstatt HABERE belegt im sog. Balkansprachbund (Rumänisch, Bulgarisch, Neugriechisch, Albanisch) sowie, außerhalb davon und abgesehen vom Englischen, in den ostfranzösischen Mundarten, im Bündnerromanischen 19 sowie im Lombardischen (cf. M EYER -L ÜBKE 1930: 18). Im Paragraph über die Artikelsetzung [34] wird u. a. darauf hingewiesen, dass der Artikel vor Flüssen, Gebirgen und Regionen steht: Den bestimten Artikel erhalten: a) die Flüße, ’ l adesh, ’ l Eisach, ’ l Enno etc. b) die Namen der Berge ’ l Atlas, ’ l Olymp, ’ l Vesuv etc. c) die Namen der Städt, welche von etlichen Appellativen gebildet werden, z.. la Cità de Bulsang. d) die Namen der Königreiche, der Landschaften, der Welttheile, als: La francia, della francia, alla francia, la francia, dalla francia. La Baviera etc. L ’ Asia etc. l Pays bass fôva uni alla Giermania per la Maridaia de Masmiliano del Austria. Bezüglich der Landschaftsnamen folgt hier das Altgrödnerische noch ganz dem romanischen Gebrauch, das bei Regionen generell die Artikelsetzung vorsieht. Mittlerweile ist aber der deutsche Einfluss im Ladinischen Südtirols so stark geworden, dass statt der romanischen Choronyme auch deutsche verwendet werden, und in diesem Fall ohne Artikel: tla Boemia vs. te Böhmen; Masmiliano del Austria (Beispiel oben) vs. Maximilian d ’ Österreich. In letzter Zeit wurde die Ommission des Artikels auch auf Namen wie Südtirol und Tirol ausgeweitet, die früher syntaktisch als romanische Namen angesehen und 19 Zur Futurbildung im Bündnerromanischen cf. vor allem E BNETER (1980). G RÜNERT (2003: 105 - 106) verweist darauf, dass die altsurselvischen Futur-Formen mit VOLERE einen expliziten Verweis auf die Nachzeitigkeit eines Prozesses enthalten. 61 Die erste dolomitenladinische Grammatik deswegen mit Artikel verwendet wurden: L prescident dl Sudtirol (so Buchensteinisch, ähnlich Fassanisch) vs. L presidënt de Südtirol (so heute Grödnerisch, ähnlich Gadertalisch). Zur Stellung des Adjektives schreibt Insam [36]: Obschon überhaupt wenig daran gelegen, ob die Beywörter vor oder nach dem Hauptworte stehen, so ist es doch besser, die Beywörter vorzusetzen. Das Gehör des Klanges bey der Aussprache, wird das nähere bestimen. Es müssen aber nach den Hauptwörtern stehen: a) die adjectiva der Elementar Eigenschaften als. fröid, ‹ kalt › , tshiaud, ‹ warm › , tume, ‹ feücht › etc. La schuffa fröida, la shópa tshauda, l tshulé tume. b) die adjectiva der Farben als: ung tshiapöl nuef, ung Mantöl grish, Drap blanch, vesti de Guand vert. c) die Participia hauptsächlich Passiva, als ung Regnie deshdrù na armeda desfatta usw. d) die adjectiva der Volkerschaften, oder Nazionen, als la bravura tudesha, la Natzion francöisa. Trotz der nicht expliziten Formulierung erstaunt es doch, dass Insam die Anteposition des Adjektivs als «besser» erachtet, ist das Ladinische doch durch seine weitestgehende Postposition charakterisiert. Womöglich hat sich aber Insam von der Anteposition einiger wenigen, aber oft gebrauchten Eigenschaftswörtern wie bel ‹ schön › , burt ‹ unschön › , gran ‹ groß › , pice ‹ klein › , bun ‹ gut › , stlet ‹ schlecht › usw. zu seiner allgemeinen Aussage verleiten lassen 20 . Als Textbeispiele [55] verwendet Insam, wie nach ihm u. a. auch H ALLER (1832) und B ACHER (1833[1995]: 46 - 47), die Grundgebete Vater unser und das Ave Maria. Es handelt sich dabei um die ältesten bekannten dolomitenladinischen Versionen 21 : Nosh Pere che söis ing Tschiel. Sanctifica sibe vôsh Innuem, Vosc Regnie vengnie à nós, Vosta vólenta sibe fata, s ’ che ing Tschiel ingsi ing Tiera. Dashenes ingchuei el Pang d ’ ugnie di. Perdonenes nosh debit shiche nós perdenong à nôsh debitores. Te tentaziong ne nes menede. Ma liberenes da dut el mal. Idie te saluta Maria! Plöina de grazies, Tu jes benedetta dangter duta la Dones; benedet je el frut de ti Grem, Jesu! Sancta Maria pröia per nos pueresh Pitsiadores desöing i al Ora della nostra môrt. 20 Auch bei diesen Adjektiven ist aber die Anteposition nicht endemisch, sondern geht auf eine Interferenz aus dem Deutschen bzw. Italienischen zurück (cf. C RAFFONARA 1995: 313). In den ältesten ladinischen Texten steht bun jedenfalls bereits vor dem Substantiv (1631: sò bon pagament, de bones strades; cf. B ELARDI 1991: 156), obwohl die Toponomastik noch immer die Postposition dokumentiert (Miribun, Taibun, Valbona usw.). 21 Die in etwa gleichzeitige Sammlung von Adelung-Vater enthält keine dolomitenladinischen Versionen des Vater-Unsers, cf. L ÜDKE (1978: 144 - 145). 62 Paul Videsott Gleich anschließend hat Rifesser, der offensichtlich den Sprachkenntnissen Insams nicht allzu sehr vertraute, angefügt: Bemerkung des Kopisten: Obschon der Verfasser dieser Grammatik Vieles aus der heil. Schrift anführt (unter anderem Act.: 23, 24 - aber unrichtig! ) 22 war ihm das Ave Maria dem Gedächtnisse theilweise entschwunden. Es blieb ihm in der Feder Dominus tecum und Mater Dei, setzte aber hinzu pueresh, glaubte er, daß es unter den rikes keine Pitsiadores gebe? Sowohl im Pater noster, als Ave Maria, ist ihm das Schlußwort Amen in der Feder geblieben. Den Abschluss des Manuskripts bildet eine sehr interessante Digression zur Herkunft der Grödner Mundart. Wir zitieren daraus jenen Teil, der sich mit dem Glottonym Ladin beschäftigt, und der auch einen sehr frühen Beleg über die Kenntnis der Verwandtschaft des Dolomitenladinischen mit dem Friaulischen enthält [58 - 59]: Itz wollen wir nach Jtalien gehen; die Geschichte sagt uns, daß mit dem Zerfall der Wissenschaften und der eingerissenen Barbarej der Verfall der Lateinischen Sprache eingetrethen seye. Aus der lateinischen Sprache ist anfangs die lingua latina rustica entstanden, und daß zur Verfälschung die Einfalle der Gothen und anderer Barbaren Vieles beygetragen. Noch schlimmer ward es, als im 6 ten Jahrhundert nach Italien die Longobarden gezochen, die ganze Lombardie besetzet, nach der Zeit mit den Lombarden vermischn worden, welche einige Jahrhunderte dortselbst regiret, und die Lombardisch-deutsche Verfassung eingeführet haben. Da hat sich die Lombardisch-deutsche Sprache mit der latina rustica amalgamiret. Sie hat immer den Namen Latin/ Lading/ beybehalten, war so roh daß man sie noch im 11 ten Jahrhundert nicht geschrieben hat. [. . .] Mit allem Grund läßt sich behaupten daß die Grödener Mundart ein Überbleibsel der Lombardischen Volkssprache seye: Die nahen angränzende noch immer so benannte Lombardie spricht es selbst aus, und die noch bestehenden Mundarten Lombardischer Ortschaften, besonders jene von Friaul machen es homogen. Man kan nicht annehmen, ob were das Thal Gröden jemals von einen andern Volk einer andern Sprache bewohnt gewesen. Davon trägt Gröden keine Spuren, sondern man muß allerdings mit Gewißheit behaupten durch die immer hinigen Völkerwanderungen seyen die Lombarden immer weiter gedränget worden, haben sich dem Gebirg zugezohen von der Seite Buchenstein her sich niedergelassen, die öden Orten bebauet, und allso sich angesidelt haben. Es sind Urkunden vorhanden das zur Zeit, wo noch keine Kurazien errichtet waren, die Gemeinden sich lombardische Priester: meistens Mönche kommen lassen, die den Gottesdienst gehalten und den Unterricht gegeben. Jm Kurzen: die Grödner sind Lombardischer Abkunft. Jhre Sprache lombardisch gemischet: latina rustica, Lading. 22 Der Verweis gilt dem Beispiel Felice crödova che ’ l fossa à davegnie Dinei, chang ch ’ el udôva che Lÿsias ihm den heil. Paul gefangen zugeschickt (sic! ) 63 Die erste dolomitenladinische Grammatik Soeben auch die Mundart der Engedeiner, ein Überbleibsel der frankisch franzischen Romana rustica, Romauntsch, ist. Als Nachweis für die Ähnlichkeit zwischen der Grödner und der Engadiner Mundart [59] zitiert Insam das Osterlied Davart la resüstanza del Salvader 23 : 1) Pür sü fidels considera, co Jesu Christ resüstà Et tuots ils eis ha allegrà. 2) Quel dals Judeus chi fo spredschà, et falsamaing eis achiüsa. Cum mörders fo crucifichià. 3) Sout terra fo stat supeli, et parchiura, ch ’ ellun gniss sü, Cun Gardias, fin al terz di. 4) Quel glorius ais resüstà, les Guardias el ha sculazza, Mo seis trocpet fich allegra. 5) Quel cumparet glorifichia, et ingio l ’ eira stat furà, Per fin las nuttas ha mussa. 6) Chia seis sculars puden palpar, cun el mangiar et eis tschantschar Quaranta dits eis conversar. 6. Schlussbemerkungen Unsere Ausführungen hatten das Ziel, einen ersten Einblick in die Insam- Grammatik von 1806 zu geben. Nicht behandelt wurde die Frage, inwieweit sich Insam an direkte Vorbilder orientiert hat bzw. selbst zum Vorbild geworden ist. Für die allgemeine Anordnung des Materials stand wohl - wie bis weit in das 19. Jh. üblich - die lateinische Schulgrammatik Pate. Nicht nur Insam, sondern auch B ACHER (1833[1995] und selbst noch A LTON (1879: 82) deklinieren etwa den ladinischen Artikel unter Einschluss des Ablativs, bei den Verbalformen wird hier auch das Supinum angegeben und behandelt [52]. Leider sind die 20 Seiten «deutsche Sprachlehre», welche das Originalmanuskript Insams ebenfalls enthielt (cf. Anhang 3) von Rifesser nicht abgeschrieben worden, womöglich bildeten sie das terminologische Vorbild. C RAFFONARA (1994: 183) geht davon aus, dass Bacher das Insam-Manuskript nicht gekannt habe. Umso auffälliger sind einige Parallelen, etwa in der Anordnung des Materials (Insam: «Von der Aussprache»/ Bacher: «Von den 23 Laut Kuno Widmer, dem für die Information herzlich gedankt sei, kommen als Quelle für Insam zwei Bücher in Betracht: J. Martinus, Philomela, Quai es canzuns spirituales . . ., 2. Auflage (in der 1. Edition von 1684 scheint das Lied zu fehlen) Turi 1702, 58 oder Minar, Chianz. spir. 1770, 36; in beiden Fällen scheint die Orthographie modernisiert worden zu sein. Kulturgeschichtlich interessant ist, dass Insam offensichtlich Zugang zu bündnerromanischen Büchern hatte, was bei der damaligen ladinischen «Intellighentia» öfters dokumentiert werden kann (cf. V IDESOTT 2011 b: 183 FN 54). 64 Paul Videsott Buchstaben überhaupt»; Insam: «Von dem Accente»/ Bacher «Von den Hülfszeichen oder Accenten».) oder selbst im Titel (beide enthalten das Wort «Versuch»), die wohl am ehesten durch gemeinsame Vorbilder erklärt werden könnten. Die von Bacher explizit genannte Grammatik Conradis ist zwar erst 1820 gedruckt worden, doch war das Manuskript bereits vor 1801 abgeschlossen worden (cf. D ECURTINS 1964: 275). In seinen Erinnerungen an die Innsbrucker Gefangenschaft, in der die Grammatik entstanden ist, erwähnt Conradi (cf. G ARTNER 1885: 304) leider nicht explizite Kontakte zu Dolomitenladinern (obwohl diese sicher stattgefunden haben, wie man es von P. a Spescha weiß) oder gar zu Insam selbst, sodass wir diesbezüglich nur Spekulationen anstellen können. Die Insam-Grammatik dokumentiert ein etwas mehr als 200 Jahre altes Grödnerisch. Angesichts der Spärlichkeit von älteren ladinischen Texten stellt sie ein sehr wichtiges Puzzleteil für die Erforschung des älteren Ladinischen dar. 7. Bibliographie A LTON , Johann B. 1879: Die ladinischen Idiome in Ladinien, Gröden, Fassa, Buchenstein, Ampezzo, Innsbruck: Wagner. A SCOLI , Graziadio Isaia 1873: «Saggi ladini», AGI I, 1 - 556. B ACHER , Nikolaus (Micurà de Rü) 1995: «Versuch einer deütsch-ladinischen Sprachlehre. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Lois Craffonara», Ladinia 19, 1 - 304. B ELARDI , Walter 1984: «Studi gardenesi I. Nascita di una nuova lingua letteraria romanza», in: B ELARDI , Walter; C IPRIANO , Palmira; D I G IOVINE , Paolo; M ANCINI , Marco (ed.): Studi latini e romanzi in memoria di Antonio Pagliaro, Roma: Università «La Sapienzia» 269 - 313. B ELARDI , Walter 1991: Studi ladini XV. Storia sociolinguistica della lingua ladina, Roma; Corvara; Sëlva: Dipartimento di Studi Glottoantropologici dell ’ Università di Roma «La Sapienza» [Biblioteca di Ricerche Linguistiche e Filologiche, 30]. B ERNARDI , Rut; V IDESOTT , Paul 2010: «Jan Francësch Pezzei (1765 - 1819): Ein Buchensteiner als Autor der ersten gadertalischen Verse? », Ladinia 34, 187 - 204. B ERNARDI , Rut; V IDESOTT , Paul (im Druck): Geschichte der Ladinischen Literatur, Bozen: Bolzano/ Bozen University Press 2013 [Scripta Ladina Brixensis 4]. B ÖHMER , Eduard 1885: «Verzeichniss rätoromanischer Literatur», Romanischen Studien 6, 109 - 219, 219 - 238, 335. C ONRADI , Matthias 1820: Praktische deutsch-romanische Grammatik, Zürich: Orell Füssli. C RAFFONARA , Lois 1994: «Nikolaus Bacher: Versuch einer deütsch-ladinischen Sprachlehre - Erstmalige Planung einer gesamtdolomitenladinischen Schriftsprache - 1833», Ladinia 18, 135 - 205. 65 Die erste dolomitenladinische Grammatik C RAFFONARA , Lois 1995: «Sellaladinische Sprachkontakte», in: K ATTENBUSCH , Dieter (ed.): Minderheiten in der Romania, Wilhelmsfeld: Egert, 285 - 329 [Pro Lingua, 22]. D A S ALE , p. Flaminio 1729: Fundamenti principali della lingua retica, o griggiona, Disentis: Binn. D ECURTINS , Alexi 1964: «Das Rätoromanische und die Sprachforschung. Eine Übersicht», Vox Romanica 23, 256 - 304. D ORSCH , Helga 1994: «Ciprian Pescosta (1815 - 1889). Neues Archivmaterial - Schützenlied 1848 - Ladinische Gedichte», Ladinia 18, 207 - 252. E BNETER , Theodor 1980: «Diasystem vs. Kontakt: Der Ausdruck der Zukunft im Deutschen, Rätoromanischen und Nordostitalienischen», in: W ERNER , Reinhold (ed.): Sprachkontakte. Zur gegenseitigen Beeinflussung romanischer und nichtromanischer Sprachen, Tübingen: Narr, 43 - 59 [Tübinger Beiträge zur Linguistik, 124]. F ONTANA , Josef 1978: «Der Enneberger Schulstreit», Ladinia 2, 75 - 88. G ARTNER , Theodor 1879: Die Gredner Mundart, Linz: Selbstverlag. G ARTNER , Theodor 1883: Raetoromanische Grammatik, Heilbronn: Henninger. G ARTNER , Theodor 1885: «W. von Humboldt über Rätoromanisches. Nebst Ungedrucktem von Matth. Conradi», Romanische Studien 6, 303 - 333. G ARTNER , Theodor 1910: Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur, Halle: Niemeyer. G RÜNERT , Matthias 2003: Modussyntax im Surselvischen. Ein Beitrag zur Erforschung der Morphosyntax des Verbs im Bündnerromanischen, Tübingen: Francke [Romanica Helvetica, 122]. H ALLER , Joseph Theodor 1832: «Versuch einer Parallele der ladinischen Mundarten in Enneberg und Gröden in Tirol, dann im Engadin, und der romaunschischen in Graubünden», Beiträge zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst von Tirol und Vorarlberg 7, 93 - 165. K RAMER , Johannes 1989: «Ladinisch: Grammatikographie und Lexikographie/ Grammaticografia e lessicografia», LRL 3, 757 - 763. K UEN , Heinrich 1979: «Rätoromanisches bei Oswald von Wolkenstein», Ladinia 3, 101 - 124. L ARDSCHNEIDER , Archangelus 1909: Versuch einer Syntax des Grödnerischen, Dissertation Wien. L ÜDTKE , Jens 1978: Die romanischen Sprachen im «Mithridates» von Adelung und Vater, Tübingen: Narr [Lingua et traditio, 4]. M EYER -L ÜBKE , Wilhelm 1930: Rumänisch und Romanisch. Bucure ş ti. 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V IDESOTT , Paul 2011 b: «Die rätoromanischen Handschriften der Sammlung Böhmer im Berliner Bestand der Biblioteka Jagiello ń ska/ Universitätsbibliothek Krakau», Vox Romanica 70, 150 - 190. 8. Anhang 1: Erster Brief von Johann Baptist Rifesser an Böhmer ([65 - 67], 22. 4. 1881) Pregiatissimo Signor Professore! Ringrazio distintamente dell ’ elenco della raccolta dei libri retoromani, che V. S. si è compiaciuta di regalarmi. Ho differito sin oggi ad accusarLe il ricevimento, perché avendo osservato che V. S. aveva impostato il libretto a Lichtenthal, volli aspettare che ella fosse dalle ferie pasquali ritornata a Strassburgo. Ammiro la Sua indefessa investigazione di scritti retoromani. Le partecipo, che tra i libri del defonto G. A. Vian ho trovato un manoscritto, che prima era affatto ignoto, intitolato: ‹ Versuch Einleitung zu einer Sprachlehre für die Grödner Mundart › . Ho confrontato il manoscritto con documenti di uffizio di Giuseppe Insam, scritti di sua mano con caratteri similissimi alla grammatica accennata. L ’ autore era ‹ Pfeger=Landrichter=- Bezirksrichter › ossia pretore, nato a S. Maria (Wolkenstein) di Gardena. L ’ operetta è di 104 pagine. Abbenché l ’ autore era gardenese, quando ha scritto la detta grammatica, come lo dimostrano i moltissimi errori, non conosceva più bene la lingua della sua patria. Verosimilmente scrisse la sua operetta nell ’ ultimo o penultimo decennio del secolo u. p. V. S. conoscerà già l ’ opera ‹ Die ladinischen Idiome in Ladinien, Gröden, Fassa, Buchenstein, Ampezzo › del Dr. Giovanni Alton. Innsbruck, Wagner ’ sche Buchhandlung 1879. Scrivendo quanto concerne il dialetto gardenese, ha consultato l ’ autore un Gardenese che conosce la sua madrelingua assai imperfettamente, e perciò è stato tratto in moltissimi errori ed inesattezze. Replicando i miei più sentiti ringraziamenti mi pregio di professarmi con distinta stima di V. S. obbligatissimo, devotissimo servo Giambattista Rifesser mp primissario. S. Uldarico di Gardena, 22 aprile 1881 67 Die erste dolomitenladinische Grammatik 2: Bemerkung von Johann Baptist Rifesser am Ende seiner Abschrift [60] Vorstehende Grammatik hat der Unterzeichnete vom handschriftlichen Originale, dessen Verfasser nicht genannt ist, genau mit den Sprach- und Schreibfehlern im Monate Mai 1881 abgeschrieben. Johann Bapt. Rifesser mp, Frühmeßbenefiziat zu St. Ulrich in Gröden in Tirol. 3: Zweiter Brief von Johann Baptist Rifesser an Böhmer ([61], Mai 1881) Wohlgeborner, Hochverehrter Herr Professer! Euer Wohlgeboren sende ich die Abschrift der gewünschten Grammatik mit dem Bemerken, daß ich die ersten 20 Seiten des Originals, welche nur eine deutsche Sprachlehre enthalten, und deshalb von keinem Interesse sind, nicht abgeschrieben habe. Jetzt bin ich mit der Übersetzung von ein Paar 100 kurzen italien. Sätzen in die Grödner Mundart für Dr. Alton in Wien beschäftiget. Wollen Sie gefälligst diese Grammatik als kleines Andenken an Urtisei annehmen. Ich beehre mich hochachtungsvollst mich zu zeichnen, Euer Wohlgeboren ergebenster Johann Bapt. Rifesser. 68 Paul Videsott Il dizionario romancio-tedesco-latino di Š tefan Kocian č i č Un inedito ponte tra Friuli e Grigioni Massimiliano Verdini Tra Friuli e Grigioni si sono scoperte piccole tracce di rapporti commerciali, culturali e linguistici già nel corso dell ’ alto Medioevo 1 ; in tempi più recenti vi furono due ondate migratorie, la prima portò numerose famiglie engadinesi a stabilirsi in Veneto e Friuli tra i secoli XV e XVI 2 , l ’ altra, più tardi, si diresse verso l ’ allora nuovo porto franco austriaco di Trieste 3 . Nella città giuliana vivono ancora i discendenti di queste persone che sono chiamati tuttora «svizzeri»; la loro compattezza etnica è garantita dalla fede riformata che ogni domenica li fa riunire nella celebrazione del culto presso chiesa di San Silvestro nell ’ androne dei Grigioni alle spalle della grande piazza cittadina che s ’ affaccia sul mar Adriatico. Gli Engadinesi continuarono ad espatriare in Italia per cercar fortuna fino alla fine del XIX secolo; dopo la Seconda guerra mondiale fu la volta degl ’ Italiani, che sconfitti e con un ’ economia in ginocchio, dovettero emigrare in Svizzera, tra di loro vi furono molti Friulani, i quali risultano ancora oggi romanciofoni ai fini statistici. Sia in Friuli che nei Grigioni, in Italia come in Svizzera, Austria e Germania, sono inoltre esistite personalità che hanno creato una base allo studio delle lingue delle due regioni europee prima della linguistica ufficiale. La spinta più o meno consapevole di Friulani o persone che col Friuli avevano a che fare come Vergerio, Fontanini e Carli 4 , prima di Ascoli (egli stesso friulano) è stata fondamentale per l ’ attuale studio della «ladinistica». Uno di questi studiosi, colui che per primo incoraggiò Ascoli negli studî linguistici 5 e forse davvero il primo che lo ispirò nella ricerca delle affinità tra le lingue «ladine», fu don Š tefan Kocian č i č (1818 - 1883), prete e letterato, considerato il più insigne esponente della cultura slovena a Gorizia 6 ; egli fu insegnante, linguista, semitista, storico religioso 7 , poeta e traduttore, bibliotecario e poi rettore del Seminario teologico della città isontina, dunque un friulano adottivo. 1 L EICHT (1955); D ’ A RONCO (1963). 2 C ORGNALI (1955). 3 K AISER (1996): la Comunità elvetica di Trieste fu fondata nel 1782. 4 V ERGERIO (1559), p. 48; F ONTANINI (1737), I, 43 - 44; C ARLI (1790), p. III, pp. 105 - 108. 5 T AMANI (1984), 33 - 34.; DBF, 390. 6 S ALIMBENI (1984), pp. 7 - 8. 7 T AVANO (1984), p. 77. Se pensiamo alle origini di questo sacerdote, nato in un povero villaggio slavo della Carnìola, cuore dell ’ odierna Slovenia e trasferitosi poi per studio a Gorizia, città mistilingue già appartenuta all ’ Austria come la sua stessa terra natia, possiamo a buona ragione supporre che egli dovesse essere stato influenzato dal clima decisamente plurilingue che si respirava allora nella città friulana più orientale. Nello stesso Seminario da lui frequentato studiavano giovani di lingua italiana, friulana, slovena, croata e ceca 8 . Kocian č i č divenne da subito un poliglotta e, alle quattro lingue parlate comunemente in città, ovvero il tedesco (lingua dell ’ amministrazione imperiale e delle scuole), l ’ italiano (lingua delle arti, del commercio e dell ’ amministrazione cittadina), il friulano (lingua maggioritaria del popolo) e lo sloveno (lingua delle periferie), ne aggiunse decine di altre tra moderne e antiche. Il suo interesse per le lingue scaturì da giovanissimo, egli cominciò a studiare l ’ ebraico in 2 a ginnasio divenendo poi semitista e in seguito, a 29 anni, professore ordinario di Vecchio Testamento e lingue orientali presso il Seminario Centrale di Gorizia 9 . La sua attività di linguista è ovviamente quella che ci interessa di più, ma come si sa, la linguistica è una scienza che s ’ interseca inevitabilmente con altre materie come la sociologia, l ’ etnografia e l ’ antropologia, e quindi vale la pena tener conto anche delle dinamiche etniche e politiche in continuo cambiamento al tempo in cui visse questo illustre personaggio. Da quando anche a Gorizia, dopo il 1848, si cominciò a sentir parlare seriamente di politica, Kocian č i č rifiutò le idee comuniste affermando che solo il cristianesimo era un vero movimento sociale, mentre il comunismo era mera «lotta di classe»; egli mantenne sempre posizioni moderate, conservatrici sì, ma non clericali, né tantomeno antisemite 10 . Kocian č i č giunse a Gorizia in un periodo di piena transizione politica e sociale, quando gli Slavi, da sempre popolo «senza storia» e viventi ai margini della società, stavano conoscendo la loro primavera nazionale e linguistica anche grazie all ’ opera dei loro sacerdoti, che furono quasi gli unici ad interessarsi alla cultura della propria gente favorendo la produzione letteraria in lingua slovena. Kocian č i č visse dunque nel pieno del risveglio culturale slavo nel Goriziano, quando si stava smorzando la spinta assimilatrice della friulanità (all ’ epoca sinonimo anche d ’ italianità) che aveva però l ’ indubbio vantaggio di aver reso gli Slavi plurilingui e cosmopoliti. All ’ epoca si stava facendo largo l ’ idea nazionale «illirica» cioè quella che predicava l ’ unione di tutti i popoli slavi del Sud in un ’ unico stato, che ebbe 8 K RALJ (1984), pp. 23 - 24. 9 I VI , p. 25. 10 Sono noti i suoi ottimi rapporti con la comunità ebraica goriziana e col giovane A SCOLI , anch ’ egli ebreo. 70 Massimiliano Verdini realizzazione solo dopo la fine del Primo conflitto mondiale ed ebbe tragico epilogo due decenni orsono 11 . Non possiamo dimenticare quindi che parallelamente ai suoi studî linguistici e teologici, Kocian č i č scriveva anche per i giornali sloveni in un periodo in cui si cominciavano a sentire i primi scricchiolii di quell ’ Impero che fu in seguito definito «prigione dei popoli» 12 . Dunque il sacerdote sloveno perseguì la causa nazionale della sua gente con molta convinzione, ma non cedette mai a quell ’ estremismo slavo che, dopo l ’ annessione all ’ Italia di Veneto e Friuli udinese nel 1866, aizzato da Vienna, divenne apertamente antitaliano, sempre meno «illirista» e sempre più lealista alla corona asburgica 13 . Kocian č i č si occupò di sociolinguistica 14 e di indagini glottologiche, per il suo popolo creò strumenti come manuali linguistici e catechismi, libri e racconti per ragazzi, tradusse dal francese in sloveno le storie dell ’ Antico Testamento e fu redattore delle lettere pastorali in lingua slovena a nome dell ’ Arcivescovo di Gorizia tra il 1848 e il 1860. Kocian č i č non fu un elemento di disturbo alla quiete interetnica che ancora si respirava a Gorizia, anzi, volle entrare anche nel tessuto culturale friulano e cittadino 15 . Egli fu molto fiero di avere operata la scelta di restare a Gorizia anche se la sua parrocchia di nascita, Vipacco (Vipava, oggi in Slovenia), dopo il 1831 era passata sotto la Diocesi di Lubiana. Ordinato sacerdote nel 1841, passò i primi quattro anni di servizio pastorale a Lucinico (in friulano Lucinìs) 16 , un paesino di lingua friulana, sul confine linguistico slavo (oggi frazione di Gorizia) situato sulla destra del fiume Isonzo dove la lingua autoctona pare reggere tutt ’ oggi all ’ urto del veneto coloniale 17 che nel frattempo è diventato l ’ idioma più diffuso a Gorizia città. 11 K RALJ (1984), p. 28; M ARU Š I Č (1984), pp. 37 - 38; B OZZI (1948), pp. 22 - 24. 12 Nel 1848 divenne membro dello Slavijansko Bralno Dru š tvo (Gabinetto di lettura slavo) e nel 1851 della Mohorjeva Dru ž ba (grande associazione di difesa della cultura slovena), collaborò inoltre con l ’ Associazione per la storia jugoslava di Zagabria dal 1852. 13 Gli Sloveni non accettarono mai il dialetto š tocavo letterario come lingua franca per tutti gli Slavi del Sud (base del serbo e del croato), ma scelsero lo sloveno del grande riformatore Primo ž Trubar, primo traduttore delle Sacre Scritture in sloveno. Adottarono però come grafia la gajica al posto della bohori č ica e Kocian č i č stesso si adegua alla nuova grafia slovena. B RECELJ (1984), p. 94, nota 45. 14 K OCIAN Č I Č (1873); BSTG, ms. a 298 Panslavizem, pangermanizem, panitalijanizem. Qui Kocian č i č fa un interessante confronto tra i varî nazionalismi (italiano, slavo e germanico) visti in un ottica slovena. 15 Nel 1852 entra nella Società Agricola Goriziana. 16 K RALJ (1984), p. 24. 17 Dialetto veneto mercantile diffusosi nei territorî friulani, istriani e nella città di Trieste, soppiantando friulano e istrioto in molte e importanti località, specie cittadine. In Friuli era considerato un socioletto indicante l ’ appartenenza alla classe borghese. Oggi, se ha ormai preso il sopravvento a Gorizia e Pordenone (in quest ’ ultima città però si è 71 Il dizionario romancio-tedesco-latino di Š tefan Kocian č i č Egli imparò alla perfezione la lingua friulana, ne sono testimoni le sue battute e modi di dire in friulano registrati su Glas (giornale diocesano redatto in lingua slovena di allora) e la sua interessante e ottima traduzione plurilingue interlineare dei primi tre capitoli del I libro del De imitatione Christi di Tommaso da Kempis, dal quale non si separava mai 18 , trasportato in friulano sonziaco 19 , sloveno ed ebraico accanto alla versione latina. A Lucinico Kocian č i č scrisse la sua Grammatica linguæ furlanæ, di cui ci parla solo Gartner nel suo articolo sul dialetto di Erto (Nart) in Friuli, nel quale il grande linguista tedesco afferma di aver ricevuto in visione dal Dr. Karel Strekelj 20 codesta grammatica di 17 pagine in 4°, oggi disgraziatamente andata perduta 21 . Il sacerdote continuò lo studio dei Friulani, della loro lingua, delle usanze e dei caratteri sia somatici che d ’ animo, pose l ’ accento sulle varie differenze tra Slavi e Friulani, ma alla fine capì che entrambe le razze sul confine etnico erano troppo mescolate l ’ una con l ’ altra per proporre una divisione netta, cosa che lo vedeva opposto ad Ascoli, che invitava, negli stessi anni, a separare chirurgicamente il territorio degli Slavi da quello degl ’ Italiani, lasciando per sempre, la contesa Gorizia, all ’ Italia 22 . La storia c ’ insegna che prevalse l ’ idea ascoliana e dal 1947, con un confine disegnato da stranieri, la vecchia contea di Ascoli e Kocian č i č , la stessa che aveva assistito a scontri, ma aveva altresì visto fiorire incontri tra popoli diversi, non esiste più. Gorizia oggi è cambiata e solo nei musei e nelle biblioteche si può respirare ciò che fu il plurilinguismo goriziano di cent ’ anni fa. Uno di questi luoghi ameni dell ’ antica cultura goriziana è la grande Biblioteca del Seminario Teologico, erede della cultura patriarcale aquileiese e considerevolmente irrobustitasi coi fondi lasciati da vescovi o sacerdoti (provenienti da ogni parte dell ’ Impero) che si stabilivano in città, coi volumi dei conventi istriani e con quelli dell ’ allora soppresso vescovado di Capodistria. In questa biblioteca lavorò come volontario anche Kocian č i č , inventariando e compilando cataloghi e schede di migliaia di volumi. mescolato alle varianti schiettamente venete confinarie), a Udine risulta quasi del tutto scomparso. 18 K RALJ (1984), p. 27; T AMANI (1984), p. 35. 19 Aggettivo derivante dal fiume Isonzo (in latino Sontium), allato a «isontino»: variante scritta del friulano dei territorî che fino al 1918 appartenevano all ’ Austria-Ungheria, caratterizzata principalmente dalla finale del femminile singolare in - a, al posto del friulano standard che vuole la - e. Cf. P ELLIS (1910), I D . (1911). 20 Professore di filologia slava all ’ università di Graz, originario della Contea principesca di Gorizia e Gradisca (1859 - 1912). 21 G ARTNER (1892), p. 204. 22 A SCOLI (1848). 72 Massimiliano Verdini A questa biblioteca Kocian č i č lasciò gran parte delle sue opere manoscritte, compresi i suoi lavori linguistici come il dizionario turco-tedesco 23 e quello etiopico-latino 24 accompagnato da una grammatica della lingua etiopica 25 , un dizionario di albanese 26 , un compendio del vocabolario siriaco di Kirsch 27 e vari scritti in lingua araba tra cui un compendio della grammatica araba di Oberleitner 28 . Da sloveno, Kocian č i č possedeva chiaramente una naturale propensione per le lingue slave, e infatti tra gli scaffali della biblioteca troviamo il famoso dizionario sloveno-tedesco in due volumi studiato dal grande slavista italiano Cronia 29 , una grammatica di paleoslavo 30 e una raccolta di canti bulgari 31 . Proprio in questa biblioteca, durante le ricerche per la mia tesi friburghese diretta dal Prof. Dr. Darms, rinvenni per caso un dizionario inedito e mai citato in nessun ’ opera di Kocian č i č , nemmeno nella sua autobiografia 32 . Si tratta del Lexicon romanico-germanico-latinum 33 , ovvero di un interessantissimo dizionario trilingue romancio-tedesco-latino. Non si trova traccia di quest ’ opera in nessuna rivista o scritto, ma stranamente Kocian č i č vi pone firma e data 34 a differenza di quanto invece non fa nel gran dizionario sloveno-tedesco. L ’ opera si presenta in buonissimo stato di conservazione, con una robusta copertina di cartone rilegato a libro di dimensioni 266x177 mm., consta di una pagina dedicata al titolo e alle fonti, di 59 pagine numerate alla romana 35 contenenti un breve commento con un inquadramento geografico del compilatore nei confronti della lingua romancia e di una piccola grammatica di suddetta lingua. Questa parte è completamente scritta in latino, le pagine sono divise in due colonne e il testo è disposto solo sulla prima colonna a sinistra di ciascuna pagina. Cosa diversa per la parte vocabolaria, qui le pagine numerate all ’ araba sono 433, se si calcola che ciascuna pagina componente il Lexicon è vergata da 22 righe e che ciascun vocabolo occupa 23 BSTGo, ms. i 6, Vocabolarium turcicum. 24 Ibidem, ms. a 58, Lexicon æthiopico-latinum. 25 Ibidem, ms. a 57, Elementa linguæ æthiopicæ. 26 Ibidem, ms. i 5, Lexicon epiroticum sive arnauticum. 27 Ibidem, ms. u 2, Lexicon syriacum M. Georgii Guglielmi Kirschii. 28 Ibidem, ms. e 4, Scritti vari in lingua araba.; ibidem, ms. n 4, Fundamenta linguæ arabicæ ex Andrea Oberleitner. 29 Ibidem, ms. e 3 (I - II), Slovensko-nem š ki slovar; C RONIA (1954). 30 Ibidem, ms. n 1, Elementa linguæ paleoslovenicæ. 31 Ibidem, ms. i 9, Glossarium ad canticam nationis Bulgarorum. 32 B RECELJ (1984). 33 BSTGo, ms. e 2. 34 Firma la pagina del titolo e scrive l ’ anno sia a p. I che nella pagina del titolo. 35 Da p. I (vuota e verso della pagina di titolatura) a p. IV non c ’ è numerazione come pure a p. 59 totalmente vuota. La p. II è dedicata alla Praemonitio ed è seguita da p. III vuota. La numerazione comincia a p. V e va fino a p. LVIII. 73 Il dizionario romancio-tedesco-latino di Š tefan Kocian č i č perlopiù una riga intera, allora è facile calcolare che i vocaboli dovrebbero essere all ’ incirca 9.000. Kocian č i č sottolinea di aver tratto le parole da due diverse fonti, la prima è la 3 a edizione delle Devotiuns per catholics fideivels di padre Ludescher stampata a Coira nel 1842 e la seconda, più importante per peso storicoletterario, è La Sacra Bibla stampada in Lingua Rumantscha d ’ Ingiadina Bassa, a Scuol nel 1678, di Vulpius e Dorta.. Nella praemonitio del dizionario Kocian č i č , introduce l ’ opera narrando quali siano state le fonti dalle quali abbia tratto per portare a termine, riporto qui una traduzione italiana del testo latino: Intorno la metà di marzo del 1864, per fortuito caso mi è passato tra le mani un libricino scritto in lingua romancia, che è indigena nelle parti meridionali della Svizzera confinanti con l ’ Italia e col Tirolo; durante la lettura, ho cominciato a stilare anche un piccolo vocabolario di questa lingua. Nel frattempo ho potuto avere anche la Sacra Bibbia scritta nella medesima lingua ed edita nel 1678. Ho letta anche questa e ho raccolto parole e frasi, aggiungendole al vocabolarietto: e così ecco il dizionario, come ho potuto qui finire a Gorizia il 25 novembre 1864. Nelle pagine seguenti l ’ autore continua con una dissertazione sul romancio, specificando che è parlato nel «Graubünden», che si divide in molti dialetti, che è bello e dal suono dolce, ma è poco colto. Kocian č i č va in ordine e approfondisce l ’ ortografia, accusando l ’ instabilità di questa lingua che presenta varie forme per lo stesso vocabolo, l ’ influenza della grafia tedesca e la pronuncia tedesca o italiana di un determinato grafema a seconda della posizione che esso occupa nella parola, la diversa pronuncia del nesso tedesco sch [ š ] e [ ž ] a seconda dell ’ etimologia, e l ’ utilizzo di k e y solo nelle parole straniere o di origine straniera. Kocian č i č poi propone una comparazione tra le due versioni del Pater Noster contenute la prima in quello che lui continuerà a chiamare sempre «libellus» (ovvero il libro di preghiere sursilvano di Ludescher) e la seconda nella Biblia di Vulpius e Dorta. Seguono delle trascrizioni di alcuni fogli, della prima metà del XIX sec., rinvenuti all ’ interno della Bibbia, ai quali Kocian č i č sembra dare molta importanza, poiché specifica la propria volontà ché tali scritti non vadano persi. Dei quattro fogli trascritti, due contengono invocazioni a Dio e gli altri due contengono una narrazione della storia di una famiglia romancia, tali Cloetta, che avevano visto la metà dei loro figli nascere e morire; probabilmente la Bibbia era di proprietà di questa famiglia. Questi ultimi due testi sono scritti nel ladino dell ’ Alta Engadina, un putér ottocentesco 36 e contaminato da 36 Degni di attenzione sono per esempio quaist al posto dell ’ attuale quist ‹ questo › , oppure noas, voas, soart, hoaz per gli attuali nos ‹ nostro › , vos ‹ vostro › , sort ‹ sorte › , hoz ‹ oggi › , infine balza all ’ occhio il dialettalismo sepoltügra per sepultüra ‹ sepoltura › . 74 Massimiliano Verdini stridenti italianismi 37 . I Cloetta dunque dovevano essere altoengadinesi che usavano la Bibbia bassoengadinese e ciò testimonia l ’ importanza e la fruizione della Bibbia valladra di Scuol in tutta la valle dell ’ Eno e certamente tra tutti i Ladini riformati 38 . Nel dizionario l ’ autore comincia a spiegare la grammatica a partire dagli articoli, poi approfondisce i sostantivi e gli aggettivi, specificando i corrispettivi romanci per le desinenze latine: il suo metodoto è fortemente impregnato dall ’ etimologismo. Kocian č i č continua con un ’ interessante parte dedicata alla formazione dei plurali, analizza tutti i tipi di pronome e i numeri ordinali e cardinali. Prosegue con due pagine dedicate alla flessione verbale e con l ’ elenco di tutti i verbi presenti nel dizionario, vicino ai quali indica generalmente la III persona singolare (cosa comune anche nei successivi vocabolarî romanci), ma a volte anche la I persona e il participio passato. Poi tocca agli avverbi, alle preposizioni, alle congiunzioni e alle interiezioni; conclude con certe particolarità del romancio come ad esempio i plurali anomali (linzous plurale di linzöl ‹ lenzuolo › e chiagnous, che Kocian č i č fa plurale di chian ‹ cane › mentre in realtà è plurale di chiagnöl ‹ cagnolino › ). Sapere se Kocian č i č non tenga deliberatamente conto di certe particolarità tipiche del romancio come ad esempio la terminazione in - s dell ’ aggettivo predicativo sursilvano o la classificazione del vallader «meis» ‹ mio › e ‹ miei › (che compare nella grammatica solo alla forma plurale), perché non aveva gli strumenti per approfondire bene questa lingua, oppure perché il suo intento era quello di uniformare e normalizzare quest ’ ultima, non è nelle nostre facoltà. La parte vocabolaria è generalmente composta in quest ’ ordine, in una o più righe sono contenuti: 1. vocabolo romancio; 2. sua funzione (indicata da m. o f. se trattasi di sostantivo maschile o femminile, adj. se aggettivo, adv. se avverbio, conj. se congiunzione, i. g. se sinonimo ecc., non vi è indicazione invece se ad essere analizzato è un verbo); 3. corrispettivo tedesco in alfabeto tedesco corsivo 39 ; 4. eventuale etimologia latina (cf. nota 40); 5. corrispettivo latino, spesso sostituito o accompaganto dall ’ italiano (segnalato con la sigla it. o ital.); 6. eventuale citazione romancia tratta spesso dalla Biblia, molte volte tradotta in tedesco o espressione idiomatica romancia; 7. eventuale corrispettivo ebraico oppure citazione ebraica dalle sacre scritture; 8. eventuale corrispettivo greco oppure citazione greca dalle sacre scritture. Per quanto concerne vocaboli, essi a buona ragione possono chiamarsi semplicemente «romanci». Noi si è abituati a conoscere l ’ esistenza di molte 37 Come per esempio nel ano per in l ’ an, essendo per siand e da novo per da nouv. 38 Per leggere il primo Vecchio Testamento parzialmente scritto in putér si dovrà attendere il 2009, grazie all ’ impegno di G AUDENZ (2009). 39 Deutsche Kurrentschrift. 75 Il dizionario romancio-tedesco-latino di Š tefan Kocian č i č varianti scritte della lingua romancia, ma Kocian č i č riunisce insieme i termini bassoengadini in antico vallader della Biblia e quelli sursilvani delle Devotiuns, registrando entrambe le versioni e, molte volte, rimandando da una parola all ’ altra e viceversa senza individuare necessariamente una forma schiettamente romancia nell ’ una o nell ’ altra fonte idiomatica, se non forse quella etimologicamente più simile al latino 40 . Altre volte Kocian č i č sceglie di mettere tra parentesi la forma sursilvana o la forma bassoengadina indistintamente vicino l ’ una o l ’ altra scelta presa come base, oppure unisce con gli estremi di parentesi graffa i due termini simili, o, ancora, rimanda all ’ altro vocabolo 41 . Kocian č i č pare comprendere la lingua romancia; l ’ impostazione del vocabolario denota una conoscenza tutt ’ altro che superficiale della lingua da lui analizzata, ad esempio, non tralascia di segnalare più significati per vocabolo, registra anche le III persone singolari degl ’ infiniti che dittongano in coniugazione 42 , ma non solo, segnala anche i sinonimi 43 e offre forme plurali eccezionali o i corrispettivi femminili dei sostantivi o aggettivi maschili con e mobile 44 . Il vocabolario non presenta grosse anomalie, e queste sono limitate alla non-traduzione in tedesco o in latino, oppure a una mancata segnalazione di utilizzo di lingua italiana al posto della latina 45 . In numerosi punti del dizionario compaiono delle integrazioni scritte a matita in lingua tedesca, ma non si può essere certi si tratti di un ’ operazione attribuibile a Kocian č i č 46 . Come si è visto, il dizionario, pur essendo formalmente trilingue, è in realtà davvero plurilingue e spesso va oltre la mera traduzione di un vocabolo. Restando però in un campo strettamente lessicale, possiamo notare la presenza di altre due lingue nel manoscritto: in almeno due vocaboli Kocian č i č usa lo 40 BSTGo, ms. e 2, p. 55: chapir v. capir; p. 50 capir, verstanden, capere (qui Kocian č i č offre anche l ’ etimologia), intelligere. In questo caso è chiaramente premiato il sursilvan che non conosce palatalizzazione di CA/ GA iniziali. 41 Ivi, p. 2: absaint/ absent. 42 Ivi, p. 18: auza, hebt, exaltat, v. uzar. 43 Ivi, p. 2: abranchar i. g. abranclar. 44 Ivi, p. 3: acchiüsadûr, pl. - duors m. Ankläger, accusator; p. 21: arguardabel, f. - abla } arguardavel, f. - vla adj. Ansehelig, ital. riguardevole. 45 Ivi, p. 101: depopular offre solo la versione tedesca, p. 102: dapli dà solo il corrispettivo italiano di più senza segnalare che si tratta di italiano; ibidem: la stessa cosa fa desdeng con la sola versione tedesca; p. 195: il vocabolo lammas è seguito dalla citazione dei Salmi dov ’ è presente ed è seguita dallo stesso brano della Vulgata latina, Kocian č i č non dà il corrispettivo tedesco. 46 C RONIA (1954), p. 18 nota 4: potrebbe trattarsi di un ’ operazione di Francesco Spessot, prete e filologo goriziano che aiutò C RONIA nella riesumazione degli inediti kocianciani e, per mia rilevazione personale, solito prendere appunti a matita o a penna su varî manoscritti della BSTGo. 76 Massimiliano Verdini sloveno, sua madrelingua (segnalandola con slav.) 47 , ma ciò che più può stupire è la presenza del friulano (indicata con furl.) che a volte accompagna o sostituisce l ’ italiano o il latino. Vado ora a elencare le parole romance dove Kocian č i č crede bene dare un corrispettivo friulano sonziaco: p. 22 arschantar → resentà ‹ risciacquare › i), artischaun → artisan ‹ artigiano › d); p. 34 bignun → bugnón i); p. 44 brunclar → sbrundulà ‹ brontolare › j), brüschar → brusà ‹ bruciare › d), brüt → la brut ‹ nuora › i); p. 45 buccal → musaróla ‹ museruola › [differenza]; p. 60 chiapar → chiappà, chiarezia v. charezia → chiarezza ‹ carezza › a); p. 61 chiatschar → chiazzà ‹ cacciare › a); p. 96 daspö → daspò ‹ dopo › i); p. 98 dabasegns → dibisugn ‹ bisogno › i); pp. 121 - 122 endamen v. entamen/ teng endamen → tegn a menz ‹ (io) ricordo › i); p. 153 giüdair → giòldi ‹ godere › [differenza]; p. 181 inglatscher → inglazzà ‹ ghiacciare › a); p. 192 juff → jof ‹ giogo › f); p. 195 laint → lenti ‹ colà › i); p. 205 lien v. laint → lenti i); p. 214 malsaun → malsan ‹ malato › i); p. 216 manära → manária ‹ mannaia › e); p. 220 maschiada → mastiada ‹ masticata › g); p. 226 mia (2° sign.) → miga ‹ mica › i); p.236 naif → nef ‹ neve › c); p. 246 öf → uf ‹ uovo › c); p. 271 platt → plat ‹ piatto › b); p. 327 schlop → sclop ‹ scoppio › b); p. 335 sdun → sedòn ‹ cucchiaio › i); p. 379 surnom → soranom ‹ soprannome › h). A queste voci si aggiungono anche a p. 328 sckaina → schena ‹ schiena › ; p. 342 sgolar → svolare ‹ volare › , p. 410 urdains → ordegni ‹ ordigni › che Kocian č i č fa italiani, ma che non sono altro che calchi dal friulano o dal veneto coloniale. Da questa rapida comparazione si evince come Kocian č i č intuisse una certa comunanza di lessico e di fenomeni fonetici comuni ad ambo le lingue come a) palatalizzazione di CA/ GA; b) conservazione dei nessi con L complicata; c) desonorizzione di consonante finale; d) conservazione di S [z] latina infravocalica, dove l ’ esito italiano è [d ž ] o [t š ]; e) conservazione di [r] nei nessi latini - ARIUM dove l ’ esito italiano è - aio [ajo]; f) conservazione di [j] nei nessi latini I + vocale in principio di parola dove l ’ esito italiano è [d ž ]; g) dileguo di C [k] pretonica infravocalica, come in francese, dove l ’ italiano la conserva; h) dileguo di P (>v) dinnanzi a R, dove l ’ italiano la conserva; i) similitudini lessicali e idiomatiche; j) metafonesi O>u. Il fatto poi che esistano due vocaboli che vedono sottolineata una differenza tra le due lingue può essere un segnale di come Kocian č i č reputasse simili le due lingue. Il vocabolario romancio di Š tefan Kocian č i č è dunque una solida e ulteriore prova dell ’ interesse filologico che il romancio aveva fuori dal Cantone dei Grigioni e fornisce un valido segnale che attesta un intento comparativo linguistico tra lingua romancia e lingua friulana prima delle ricerche scientifiche di fine XIX secolo. Ma non solo, esso è uno dei primi dizionarî romanci; 47 BSTGo, ms. e 2, p. 93: «dacheu, m Ort, wo der Kopf angelehnt wird, vzglavje slav.»; Ibidem, p. 317: «sanisträr, m. slav. levi č ar. Judic. 3,15 qui sinistra manu ut dextra utitur.» 77 Il dizionario romancio-tedesco-latino di Š tefan Kocian č i č certo non è paragonabile al lavoro di Pallioppi 48 e forse sarà destinato a rimanere inedito come il vocabolario jauer-tedesco di Georg Felix von Menz 49 , ma occupa un posto cronologico importante dopo il dizionario di Carisch 50 (anch ’ esso unificante di vari idiomi romanci). Quest ’ opera rappresenta un piccolo tassello perduto e inedito della letteratura romancia e, come ho cercato di dimostrare all ’ inizio del mio intervento, non è certo un caso esso si trovi proprio custodito in fraterne mani friulane. Fonti documentarie Manoscritti (mss.) di Š tefan K OCIAN Č I Č riguardanti studî riguardanti le lingue custoditi presso la Biblioteca del Seminario Teologico di Gorizia (BSTGo): ms. a 56, Traduzione poliglotta dei capp. 1 - 3 del I libro del De imitatione Christi. ms. a 57, Elementa linguæ æthiopicæ. ms. a 58, Lexicon æthiopico-latinum. ms. e 2, Lexicon romanico-germanico-latinum. ms. e 3 (I - II), Slovensko-nem š ki slovar. ms. e 4, Scritti vari in lingua araba. ms. i 5, Lexicon epiroticum sive arnauticum. ms. i 6, Vocabolarium turcicum. ms. i 9, Glossarium ad canticam nationis Bulgarorum. ms. n 1, Elementa linguæ paleoslovenicæ. ms. n 4, Fundamenta linguæ arabicæ ex Andrea Oberleitner. ms. u 2, Lexicon syriacum M. Georgii Guglielmi Kirschii. Ad esso va aggiunto ms. a 298 Panslavizem, pangermanizem, panitalijanizem. Cf. K OCIAN Č I Č , Š tefan (1873) in «Bibliografia» qui sotto. 48 P ALLIOPPI (1895), I D . (1902). 49 Münstertaler deutsch-rätoromanisches Wörterbuch, dizionario scritto a ½ del XVIII secolo e conservato nella Biblioteca Jaura di Valchava. È scritto nel dialetto della Valle del Monastero (jauer) mai divenuto lingua scritta. In Val Müstair si usava storicamente il vallader e dall ’ anno scolastico 2007/ 2008 la lingua scolastica è il Rumantsch Grischun, la lingua unificata romancia. 50 C ARISCH (1848), e prima di lui DA S ALE (1729), V EITH (1805) e C ONRADI (1820) creano dei piccoli dizionarî romanci indipendenti o legati a grammatiche. Non elenco le altre interessanti grammatiche romance che sorgono tra XVIII e XIX secolo. 78 Massimiliano Verdini Bibliografia AA.VV. 1984: Stefano Kocian č i č (1818 - 1883), Un ecclesiastico al servizio della cultura fra sloveni e friulani, Gorizia, Istituto di storia Sociale e Religiosa. AA.VV. 2002: L ’ arcidiocesi di Gorizia - Gori š ka Nad š kofija - Die Erzdiözese von Görz (1751 - 1918), V IDRIH , Jo š ko (ed.), Gorizia, Forum, 2002. A SCOLI , Graziadio I. 1848: Gorizia italiana, tollerante, concorde. Verità e speranze nell ’ Austria del 1848, Gorizia. A SCOLI , Graziadio I. 1873: «Saggi ladini», AGI, I. B OZZI , Carlo L. 1948: Gorizia agli albori del Risorgimento (1815 - 1818), Gorizia, Lega Nazionale. B RECELJ , Marjan 1984: «L ’ autobiografia», in: AA.VV., 1984, 89 - 101 C ARISCH , Otto 1848: Taschen-Wörterbuch der rhätoromanischen Sprache in Graubünden, besonders der Oberländer und Engadiner Dialekte, Chur. C ARLI , Giovanni R. 1790: Delle antichità italiche, IV, Milano. 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V ULPIUS , Jacob Antoni, D ORTA , Jacob 1678/ 1679: La Sacra Bibla in Lingua Rumanscha d ’ Ingiadinna Bassa, Scuol, Jacob Dorta. 81 Il dizionario romancio-tedesco-latino di Š tefan Kocian č i č Crestomazia Digitala Literatur und Kultur der Romanen in einem kollaborativen System Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz «Charas Rumantschas, chars Rumantschs La Crestomazia è vegnida digitalisada e stat a disposiziun ad in e scadin. Quest stgazi da la litteratura rumantscha, mess ensemen e publitgà da Caspar Decurtins, è ussa accessibel sin internet. Tuttas e tuts èn envidads da duvrar, commentar e meglierar questa digitalisaziun. En quest senn giavisch jau bler plaschair e buna lectura» Corina Casanova, chanceliera federala <www.crestomazia.ch> 1. Einleitung: Caspar Decurtins und die Rätoromanische Chrestomathie Caspar Decurtins (1855 - 1916), der Löwe von Trun, war ein Mann außergewöhnlicher Tatkraft. Werk und Wirken sind durch Dynamik, Offenheit und Grenzüberschreitungen gekennzeichnet. Er war Jurist, Politiker, Philologe, Historiker, Sprachwissenschaftler. Er agierte auf unterschiedlichen politischen Bühnen, lokal, regional in Bünden, schließlich als Nationalrat in Bern. In der politischen Organisation des schweizerischen Katholizismus kämpfte er in der Konservativen Katholischen Volkspartei gegen die kulturkämpferischen Radikalliberalen einerseits und gegen die entstehende Sozialdemokratie andererseits. Mit der politischen Linken aber stimmte er in Fragen des Arbeitsschutzes und der Kinderarbeit überein. Er befasste sich mit der Not der Arbeiterschaft und der schwachen sozialen Klassen und beriet vor diesem Hintergrund den Papst Leo XIII bei der Abfassung der Sozialenzyklika Rerum Novarum. Der Moderne und ihren Erfordernissen zugewandt wusste er um den Wert höherer Bildung. Mit Georges Python gehörte er zu den Gründern der 1889 eröffneten Université de Fribourg als Bildungsstätte des schweizerischen Katholizismus. Dort übernahm er 1905 bis 1913 die Professur für Kulturgeschichte (s. <www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D3565.php>). Der Rumantschia, der Romanischen Sprach- und Literaturwissenschaft, den Geschichtswissenschaften und der Volkskunde hinterließ er die Rätoromanische Chrestomathie. Dieses monumentale Werk ist als Ausdruck der Persönlichkeit Caspar Decurtins zu würdigen. Decurtins sammelte darin über zeitliche und idiomatische Grenzen hinweg Texte der gesamten Rumantschia. Die Chrestomathie ist das «Herzstück der sog. Rätoromanischen Renaissance der Jahrhundertwende» (cf. <www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D3565.php>; cf. L IVER 1999: 82 und R IATSCH 1998: 176 - 198). Das Werk war zunächst auf zwei Bände geplant, schließlich wurden daraus 13 bzw. mit dem nach seinem Tod von seiner Witwe Maria Decurtins Geronimi und von Christian Caminada (dem späteren Bischof von Chur) herausgegebenen Band der Val Schons 14 Bände. Die Editions- und Publikationsgeschichte der Rätoromanischen Chrestomathie ist lang und wechselvoll. Sie beginnt 1891 und sie endet zunächst mit der Herausgabe des Bandes XIV. Der Publikationszeitraum umfasst mehr als 25 Jahre. In dieser Zeit änderten sich auch Grundlagen der Edition, und dies trägt mit dazu bei, der Chrestomathie eine heterogene Erscheinung zu verleihen. Auch vermag dieses monumentale Werk nicht immer allen editionsphilologischen Anforderungen zur Gänze zu genügen. Gleichwohl: Mit nahezu 8000 Seiten Text ist die Rätoromanische Chrestomathie die wichtigste und größte Textsammlung der Rätoromanen. Sie umfasst höchst unterschiedliche Gattungen (s. E GLOFF / M ATHIEU 1986). Das Werk erschien in zwei Formen, ab 1891 in den «Romanischen Forschungen», ab 1896 broschiert im Erlanger Verlagshaus Jung (E GLOFF / M ATHIEU 1986: 18). Diese Formen der Publikation erschwerten die Verbreitung der Chrestomathie. Auch stellten die thematische und sprachliche Vielfalt hohe Anforderungen an die Leser. Daher fassten die Societad Retorumantscha unter ihrem Präsidenten Gion Deplazes und Andreas Joos und sein Octopus Verlag in Chur zu Beginn der 80er den Entschluss, die Chrestomathie aufgrund der Erlanger Ausgabe in einem Reprint neu herauszugeben. Damit verbunden war die Erstellung eines Registerbandes, der die Chrestomathie multiperspektivisch erschließt. Es ist das große Verdienst von Peter Egloff und Jon Mathieu, diese arbeitsintensiven Herausforderungen mit großer Umsicht gemeistert zu haben. Egloff und Mathieu erstellten Personen-, Orts- und Sachregister. Sie klassifizierten die Texte der Chrestomathie nach Inhalt und Motiven. Die Texte werden räumlich und zeitlich eingeordnet und text- und entstehungskritisch kommentiert. Der Wert der Chrestomathie konnte dank des Registerbandes beträchtlich gesteigert werden. Der Registerband erfasst auch die Entstehungsgeschichte der Chrestomathie und die Biographie ihres Autors. Zu Recht förderten Stiftungen und Einzelpersonen in Bünden und in der Schweiz dieses Projekt (cf. E GLOFF / M ATHIEU 1986). 84 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz 2. Die Digitale Rätoromanische Chrestomathie 2.1 Ziele Die digitale Tiefenerschließung der rätoromanischen Chrestomathie verfolgt folgende Ziele: 1. Sie stellt der Sprachgemeinschaft und der Scientific Community einen digital verarbeitbaren Text open source zur Verfügung. Sie fördert dadurch die Sprachgemeinschaft, Sprach- und Kulturwissenschaften und erleichtert durch den Einsatz moderner, auch netzbasierter Werkzeuge die Bearbeitung sprachwissenschaftlicher - korpuslinguistischer, textlinguistischer, lexikographischer, morphologischer oder syntaktischer - , literaturwissenschaftlicher, historischer und volkskundlicher Fragestellungen. Die idiomatische Vielfalt einer Chrestomathie in elektronischer Form ermöglicht datengetriebene Forschungen unter diachroner und diatopischer Perspektive. Untersuchungen zu Sprachwandel und Sprachkontakt können quantitativ fundiert werden. 2. Die Tiefenerschließung der Rätoromanischen Chrestomathie stellt aufgrund des sprachlichen Varietätenreichtums besondere Anforderungen. Fünf Hauptidiome mit Texten aus nahezu vier Jahrhunderten sind in der Chrestomathie enthalten. Diese Texte sind in der Chrestomathie mit höchst varianten Typographien dargestellt. Alte Texte entziehen sich orthographischer Normierung. Die Idiome folgen eigenen Verschriftungstraditionen. Damit stellen sich für die Tiefenerschließung durch optische Zeichenerkennung (OCR, Optical Character Recognition) gravierende und maschinell nicht lösbare Probleme. Zur Lösung dieser Probleme setzt die Tiefenerschließung der Rätoromanischen Chrestomathie auf ein netzbasiertes, kollaboratives Verfahren. Korrekturen (und Anmerkungen) werden über das Web erstellt. Damit bindet das Projekt die Sprachgemeinschaft und an der Sprache Interessierte ein. Es orientiert sich dabei an Formen der Korrektur, wie sie die Wikipedia erfolgreich praktiziert. Allerdings setzt dieses Verfahren bei der Chrestomathie voraus, dass deren Scans (d. h. Textbilder) zunächst OCR-gelesen werden und dass der daraus resultierende Text mit den Textbildern verglichen werden kann. Daraus ergibt sich als weiteres, unabdingbares Projektziel: eine Software für netzbasierte Umgebungen zu schaffen, die diese Prozesse abbildet und die - auch über die vorliegende Anwendung hinaus - open source zur Verfügung gestellt wird. 3. In interaktiver Kommunikation und Diskussion erschließt sich die Sprachgemeinschaft ihr sprachliches und kulturelles Erbe. Diese Form des Umgangs mit Sprache ist eine Reflexion über die eigene Sprache. Eine solche Auseinandersetzung findet in den neuen, individualisierten Medien statt. Neue, smarte Medien erweisen sich so auch als Werkzeuge zum Schutz 85 Crestomazia Digitala kleinerer und oftmals bedrohter Sprachen. Neue Medien unterscheiden sich darin sehr stark von alten Massenmedien. Diese existieren aus wirtschaftlichen Gründen oft nur in Groß- oder zumindest größeren Sprachen. Die Rezeption dieser Medien ist eher passiv. Neue Medien aber, wie im vorliegenden Fall, aktivieren und vernetzen Individuen. Sie sind eine Kommunikationsbasis für kleine Gemeinschaften. Sie fördern deren eigene Kommunikationsform und -sprache, sie fördern eine aktive Reflexion und Auseinandersetzung mit der Sprache (s. a. N EUEFEIND / S TEEG 2012). Die mit dem Tiefenerschließungsprojekt verbundenen Ziele sind nicht allein an das Bündnerromanische und seine Chrestomathie gebunden. Vielmehr spiegelt das Romanische eine Situation wider, die für viele, gerade kleinere Sprachen prototypisch ist. Daher sind die für die Chrestomathie entwickelten Lösungen in vielfältiger Form übertragbar. 2.2 Konzeption Im Folgenden werden einige der Bedingungen des Tiefenerschließungsprojekts genauer gefasst. Dabei geht es zunächst um Prinzipien kollaborativer Arbeit ähnlich denen der Wikipedia. Es ist zu berücksichtigen, dass Verbesserungen - oder neutraler formuliert - Veränderungen des Textes stets die Möglichkeiten zur Zurücksetzung beinhalten müssen. Es kann ja tatsächlich sein, dass eine Veränderung nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einer Verschlechterung führt. Zurücksetzen bedeutet dann, den letzten oder vorletzten Zustand des Textes wiederherzustellen. Dies würde auch die Gefahr mutwilliger Textzerstörung im Netz minimieren. Wahrscheinlicher ist aber, dass sich Korrektoren im Netz nicht über eine Korrektur einig werden. Auseinandersetzungen dieser Art sind in der Wikipedia als «edit wars» bekannt. Deshalb hat das Chrestomathie-Projekt einen Moderator (Florentin Lutz) eingesetzt, der solche Streitigkeiten schlichtet oder entscheidet (rückblickend kam das jedoch praktisch kaum vor; vielmehr war der Moderator Ansprechpartner, Helfer und Unterstützer der Webcommunity). Ein weiteres Anliegen des Projekts war es, das Wissen und Können der Webcommunity fruchtbar zu machen. Die Mitglieder der Webgemeinschaft sind viel mehr als nur Korrektoren. Das System gibt ihnen die Möglichkeit, ihr Wissen, ihre Erfahrung, ihre Verbesserungsvorschläge und Interpretationen, aber auch ihre Fragen und Probleme als Kommentare dem bearbeiteten Text hinzuzufügen (natürlich in getrennter Form). Für das das Projekt sind die Mitglieder der Webcommunity nicht bloße Korrektoren, sondern Melioratoren. Ihre Arbeit kann durch ein bewertendes Wettbewerbssystem stimuliert werden. Dem Projekt war es ein weiteres Anliegen, nicht nur online, sondern auch offline zu funktionieren. Diese Anforderung hat folgenden Hintergrund: 86 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz Nicht alle Sprachgemeinschaften verfügen über eine ähnlich gute Telekommunikationsinfrastruktur, wie sie Bünden oder die Schweiz auszeichnet. Potentiell sollte eine Tiefenerschließungsprojekt auch in Gegenden ohne Netzinfrastruktur realisierbar sein. Dies spiegelt eine Situation wider, wie sie sich in ehemaligen Kolonien findet. Texte liegen in der Bibliotheken der vormaligen Kolonialmächte vor, könnten digitalisiert und OCR-gelesen werden und im Zuge einer «Repatriierung» ihren Sprechergemeinschaften auch zur Korrektur zurückgegeben werden. Mit preiswerten, offline arbeitenden Geräten ist eine solche Aufgabe unschwer umzusetzen. 2.3 Vergleich und spezifische Differenzen Eine Vielzahl von Projekten widmet sich der Erstellung digitaler Texte (z. B. Google Books). Das Vorgehen reicht dabei vom Abschreiben in Niedriglohnländern (mittels double keying, d. h. zwei Personen schreiben den gleichen Text ab) bis hin zum Einsatz von OCR und Korrektur. Dem Projekt der Digitalen Rätoromanischen Chrestomathie kommt das Vorgehen des Australian Newspapers Digitisation Program (ANDP) am nächsten. Daher werden im Folgenden Ähnlichkeiten und spezifische Differenzen umrissen. Das australische Projekt digitalisiert den gesamten Zeitungsbestand des fünften Kontinents für den Zeitraum vom 1803 bis 1954. Die Digitalisate werden OCR-gelesen und durch Einbindung einer interessierten Öffentlichkeit über einen Webeditor korrigiert. Dieses Verfahren eliminierte die Schwächen eines (nicht zu Ende geführten) Vorläuferprojekts. Auch eine verbesserte OCR war nicht in der Lage, weitgehend fehlerfrei zu lesen. Dies lag auch an der Verwendung von Satzmaschinen für den Zeitungsdruck in Australien, die im Mutterland England als veraltet ausgemustert waren und deren Druckqualität nicht allzu hoch war. Ein starkes Interesse der australischen Öffentlichkeit an der Mitarbeit am ANDP ist genealogisch motiviert: Man will mehr über die nach Australien eingewanderten Vorfahren wissen (H OLLEY 2009, A TANASSOV 2012). Das ANDP- und das Chrestomathie-Projekt setzen beide auf kollaborative, netzbasierte Korrektur durch Sprechergemeinschaften. Die Datenhaltung ist vergleichbar organisiert. Spezifische Unterschiede zeigen sich in den Daten selbst und in den entwickelten IT-Werkzeugen. Die Daten des australischen Projekts sind sprachlich homogen und typographisch ausgewogen. Quantitativ übertreffen sie die Daten der Chrestomathie um einige Größenordnungen. Dagegen ist die Chrestomathie sprachlich (diatopisch und diachron) und in ihren Inhalten ungleich reicher und in Folge der langen Editionsgeschichte typographisch viel varianter. Bei den IT-Werkzeugen setzt das Chrestomathie-Projekt auf einheitliche Java-Technologien mit der doppelten Zielsetzung einer online- und einer 87 Crestomazia Digitala offline-Version, die sich beide nur minimal unterscheiden. Im Gegensatz zum ANDP (als Editor gibt es nur einen Webeditor, keinen stand alone-Editor; der Webeditor ist in Javascript realisiert) verwendet das Chrestomathieprojekt Java-Technologien für beide Editoren und setzt dabei auf die Rich Ajax Platform (s. dazu u.). 3. Methodik und Systemarchitekturen Die Tiefenerschließung der Rätoromanischen Chrestomathie beruht auf folgenden Arbeitsschritten. 1) Digitalisate (Übernahme oder Erstellung) 2) OCR-Lesen 3) Melioration und Meliorationsmangement (iterativ) 4) Digitale Rätoromanische Chrestomathie und Nutzungsformen 3.1 Digitalisate Digitalisate sind der Ausgangspunkt der Tiefenerschließung der Rätoromanischen Chrestomathie. Digitalisate sind elektronisch gespeicherte Bilder, die mit Hilfe von Scannern oder Digitalkameras von den Texten der Chrestomathie aufgenommen wurden. Es handelt sich um Sammlungen von Bildpunkten (Pixeln). Bei der Chrestomathie gibt es zwei Quellen für Digitalisate, das Digizeitschriftenprojekt und Digitalisate, die mit Hilfe des Hochleistungsbuchscanroboters der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln erstellt wurden. Das Digizeitschriftenprojekt ist ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Dabei wurden eine große Zahl wissenschaftlicher Zeitschriften digitalisiert; auf die Digitalisate kann über <www.digizeitschriften.de> zugegriffen werden. Zu den digitalisierten Zeitschriften gehören auch die «Romanischen Forschungen», in denen die Chrestomathie erschien. Die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen stellte die Digitalisate dem Chrestomathie-Projekt als Tiffs mit einem Umfang von ca. 1GB zur Verfügung. Des Weiteren erhielt das Chrestomathie-Projekt auch die von der SUB Göttingen für die Digitalisate erstellten Metadaten. Sie sind eine wertvolle Grundlage für die Anreicherung und Auszeichnung der Texte. Eine weitere Quelle für Digitalisate war der Scanroboter der USB Köln. Dabei handelt es sich um einen Hochleistungsscanner, bei dem Bücher in eine Buchwippe liegen. Dies ermöglicht es, Bücher schonend zu scannen. Der Roboter blättert die Bücher selbständig um. Mit Hilfe dieses Geräts wurden u. a. die Bände XIV und XV, der Registerband der Octopus-Ausgabe, digitalisiert. 88 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz 3.2 OCR-Lesen Die optische Zeichenerkennung (Optical Character Recognition, OCR) wandelt die Pixelfolgen der Digitalisate in Text um. Auf diesen Text kann dann in vielfältiger Weise zugegriffen werden, lesend, für Suche, schreibend, für Veränderungen und Verbesserungen. Der ABBY-FineReader ist für die OCR das Softwarewerkzeug der Wahl. Der FineReader bietet unterschiedliche Möglichkeiten der Interaktion mit dem Anwender. Eine dieser Möglichkeiten ist die manuelle Festlegung des Layouts der Vorlage. Dadurch kann z. B. bei einem zweispaltigen Druck sichergestellt werden, dass die Spalten als einheitliche Textteile bearbeitet werden (anderenfalls könnte es sein, dass Zeilen spaltenübergreifend zusammengefügt werden). Weiterhin kommt der FineReader mit der Möglichkeit, Buchstaben zu trainieren, den hohen Anforderungen der Chrestomathie, ihres idiomatischen und typographischen Zeichenreichtums, am ehesten entgegen (hier sei daran erinnert, dass die Qualität der OCR durch eingebaute Korrekturlexika stark verbessert werden kann; diese Option ist für die OCR der Chrestomathie wegen fehlender Lexika nicht gegeben). Der ABBY-FineReader erzeugt als Ausgabe PDF-Dateien. Diese Dateien enthalten die Bilder (d. h. die Digitalisate der Inputtextvorlagen) und die erkannten Texte. In den PDF-Dateien werden die Positionen der erkannten Texte (besser: der graphischen Wörter) und Angaben über Typographie (Schriftart, Schriftgröße u. a. m.) codiert. Aus den angegebenen Positionen kann berechnet werden, an welcher Stelle ein erkanntes (graphisches) Wort im Digitalisatimage vorkommt. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, wie diese Informationen für den Meliorationsprozess zusammengeführt werden. 3.3 Melioration und Meliorationsmangement Melioration ist die Korrektur und annotierende Anreicherung der OCRgelesenen Texte durch eine soziale Gruppe in der Webgemeinschaft. Die Melioration ist ein interaktiver, iterierender Prozess. Partner der Interaktion sind die Mitglieder der Webcommunity, gegebenenfalls unter Mitwirkung des Moderators. Der sehr hohe sprachliche, idiomatische und typographische Reichtum der Chrestomathie macht eine auch nur weitgehend fehlerfreie OCR unmöglich. Daher ist eine Korrektur der OCR-gelesenen Texte unabdingbar. Bei der Korrektur werden die graphischen Wörter des erkannten Textes durch Anklicken mit den Images der Digitalisate automatisch verknüpft. Dadurch erfolgt eine arbeitserleichternde visuelle Fokussierung des Meliorators. Das entsprechende (Wort)Image wird dabei durch einen grünen Rahmen unterlegt. Auf sehr einfache und intuitive Weise kann nun der Meliorator über- 89 Crestomazia Digitala prüfen, ob die OCR das graphische Wort richtig erkannt hat. Wenn das graphische Wort einen Fehler enthält, greift der Meliorator ein und korrigiert. Das ist eine der Funktionen, über die das für das Chrestomathie-Projekt erstellte Meliorationswerkzeug verfügt. Dies veranschaulicht die folgende Abbildung: Abbildung 1: Editor der Crestomazia Digitala Im mittleren Teil erscheint auf der linken Seite OCR-gelesene Text in einem eigenen Texteditorfenster. Der Text kann über den Scrollbalken an der echten Begrenzung auf- und abgerollt werden. Wie in jeder Textverarbeitung kann der Text modifiziert werden. Im Beispiel ist das Wort B ONIFACI (in der ersten Zeile des Textes, in der linken Bildhälfte) angeklickt. Das angeklickte Wort erscheint in dem rechten mittleren Fenster unterlegt. Das rechte mittlere Fenster stellt das Digitalisat (Image) dar. Durch (weiteres) Anklicken kann verfolgt werden, wie die OCR-gelesenen Wörter im linken Text als Pixelfolgen rechts dargestellt werden. Auf diese Weise kann einfach überprüft werden, ob die OCR richtige Ergebnisse geliefert hat. Dies erleichtert die Korrekturarbeit der Melioratoren sehr und spiegelt grundlegende Fähigkeiten des Meliorationswerkzeugs wider. Das Meliorationswerkzeug verfügt über weitere Fähigkeiten. Das linke obere Fenster zeigt alle Vorkommen des angeklickten Wortes (in unserem Fall B ONIFACI ). Das ist aus verschiedenen Gründen hilfreich. Die Melioratoren können im Text andere Vorkommen untersuchen und vergleichen. Lesefehler zeichnen sich oftmals durch eine gewisse Fehlersystematik aus, die nicht nur ein, sondern viele Vorkommen betrifft. Daraus ergibt sich 90 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz die Möglichkeit, die Korrektur eines fehlerhaften Vorkommens zu verallgemeinern und die Korrekturen zu beschleunigen. Das rechte obere Fenster enthält die Kommentare, Fragen, Anmerkungen und Anregungen, die die Melioratoren zu dem entsprechenden Text oder Wort verfassen. Dieses Fenster ist die Kommunikationsplattform der Melioratoren. Melioration ist nicht allein ein interaktiver Prozess zwischen Text, Digitalisat und Meliorator, sondern interagiert auch zwischen den Mitgliedern der Meliorationsgemeinschaft. Das Fenster im rechten unteren Teil zeichnet die Veränderungs- und Verbesserungsgeschichte des angeklickten Wortes nach. Es repräsentiert in seinen Aufzeichnungen den aus der Wikipedia bekannten Ansatz, Veränderungen aufzuzeichnen, zu dokumentieren und gegebenenfalls auch zurückzusetzen. Das Kommentarfenster und das Fenster zur Dokumentation der Melioration enthalten aufschlussreiche Informationen zur Optimierung des Systems, zu Benutzeraktivitäten und Benutzergruppen. Im Kommentarfenster finden sich auch Diskussionen zur Frage des Umgangs mit mehr oder weniger offenkundigen Fehlern in der textuellen Vorlage (d. h. hier in der Chrestomathie). Im linken unteren Teil finden sich Buchstaben, die nicht auf Tastaturen abgebildet sind. Durch Anklicken können Sonderzeichen dieser Art an die Position des Cursors im darüber liegenden Editorfenster in den Text eingesetzt werden. 3.4 Systemarchitektur Aus der Sicht der Anwender ist das Meliorationswerkzeug ein zentraler Baustein. Unter der Perspektive einer Systemarchitektur besteht dieser Baustein aus zwei Teilen, der Darstellung auf einem Bildschirm (dies entspricht grosso modo der Benutzoberfläche) und der Programmlogik, die die verschiedenen Daten - Textdaten, Bilddaten, Eingabedaten, Kommentare, Wortgeschichten u. a. m. - verknüpft und verarbeitet. Benutzeroberfläche und Programmlogik bilden Schichten. Zu den beiden Schichten kommt als dritte die Datenhaltungsschicht. Dies Schicht kommuniziert mit der Programmlogik, sie stellt die Daten für Verarbeitung bereit und speichert sie auf Dauer nach Abschluss einer Arbeitssitzung. Diese Schicht wird im wesentlichen durch die XML-Datenbank Exist realisiert. Das Chrestomathie-Projekt ist ein kollaboratives Projekt. Daraus folgt für die Systemarchitektur und ihre Schichten, dass zumindest die Datenhaltungsschicht zentral vorgehalten werden muss. Diese Aufgabe übernimmt ein Server. Bei den frühen Versionen des Chrestomathiesystems finden sich Oberfläche und Programmlogik auf den (vernetzten) Rechnern der Melioratoren. 91 Crestomazia Digitala Diese Rechner sind dann die Clienten des Servers. Wird die Programmlogik clientseitig umgesetzt, spricht man von fat clients, wird sie serverseitig implementiert, so spracht man von thin clients. Die Umsetzung einer Lösung mit clientenseitiger Programmlogik ist technisch leichter umsetzbar. Sie hat aber auch einige Nachteile. Sie erfordert Anpassungen an den jeweiligen Computer und sein Betriebssystem. Sie setzt voraus, dass der Editor mit der Programmlogik und der Benutzeroberfläche auf dem jeweiligen Clienten installiert werden. Dies gestaltete sich manchmal schwierig, da Versionsunterschiede bei Betriebssystemen zu Inkompatibilitäten führten. Auch verunsicherte die Installation eines Programmsystems manche Nutzer. Jedoch bestand von Projektbeginn an die Absicht, neben der fat client Lösung auch eine thin client Lösung anzubieten. Diese Lösung erfordert einen vergleichsweise schnellen Internetanschluss. Ziel war es dabei, die Unterschiede zwischen beiden Lösungsvarianten minimal zu halten. Bei der thin client Lösung läuft der Editor in einem der üblichen Webbrowser. Damit entfällt die Installation eines Programms (des fat clients) auf dem Rechner eines Melioratoren. Dies hat auch den Effekt, dass das Editorwerkzeug auf allen browserfähigen mobilen Geräten (IPhone, IPad, Android) zu gebrauchen ist. Das Projekt verwendet für diese Lösung die Rich Ajax Plattform. Einer der großen Vorteile dieser Lösung für Systementwickler liegt in den nur minimalen und sehr gut lokalisierbaren Unterschieden im Programmcode für beide Varianten 1 . 4. Anwendungen Im Folgenden möchten wir an Hand von einigen Beispielen Fragestellungen, Potentiale und Resultate der datengetriebenen korpusbasierten Arbeit mit der digitalen Chrestomathie skizzieren 2 Bei der ersten Fragestellung greifen wir das von Ricarda Liver 3 untersuchte secta auf und suchen dieses Wort in unterschiedlichen Formen über die 1 Für die Umsetzung dieses Konzepts im Rahmen seiner Bachelorarbeit gebührt Herrn Michail Atanassov hohe Anerkennung; s. a. ATANASSOV 2012. 2 Dabei geht es um dreierlei: 1. wir möchten die Möglichkeiten der Suche in der Chrestomathie demonstrieren, wir möchten Fragestellungen aus dem Bereich des Lexikons, der Morphologie und der Syntax aufgreifen und durch Verfeinerung der Fragestellungen den Suchraum für Antworten präzisieren und wir möchten Bezug auf Beiträge des rätoromanischen Kolloquiums nehmen, um auf diese Weise die Qualität und Zusammenarbeit des auch atmosphärisch hervorragenden Treffens in Lavin zu würdigen. 3 Wir danken Frau Liver für die Vorabbereitstellung ihres Beitrags sehr. 92 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz Suchfunktion der Crestomazia-Site <www.crestomazia.ch>. Als Ergebnis der Suche nach secta* (der Asterisk hat die Bedeutung: suche die Zeichenkette secta möglicherweise gefolgt von beliebigen weiteren Zeichen) erhalten in dieser Anwendung die Vorkommen in der gesamten digitalen Chrestomathie (es ist auch möglich, die Suche auf einzelne Bände einzuschränken; weitere Suchmöglichkeitens.<www.crestomazia.ch>) 4 : Abbildung 2: Suche in der Crestomazia Digitala Matthias Grünert hat in seinem Beitrag Italianismen im Bünderromanischen untersucht (wir danken Matthias Grünert für weitere Angaben in der Beantwortung unserer Mails sehr). Im Folgenden nutzen wir für eine verfeinerte Suche Reguläre Ausdrücke (s. z. B. <de.wikipedia.org/ wiki/ Reguläre_Ausdrücke, dort weiterführende Literatur und Links; eine Suche mit regulären Ausdrücken steht zur Zeit nur intern zur Verfügung, wird jedoch in Zukunft auch auf <www.crestomazia.ch> 4 Die Quellfeldangaben beziehen sich auf die Ausgabe der Romanischen Forschungen (sie konnten aus dem o. erwähnten Metadaten des Digizeitschriften-Projekts übernommen werden). Zur Erleichterung der Suche und zum vereinfachten Abgleich werden die Verweise auf die broschierte und im Reprint bei Octopus erschienene Erlanger Ausgabe bald nachgetragen. 93 Crestomazia Digitala öffentlich zugänglich). Im Beispiel suchen wir Formen, die auf lat. IUNGERE, und Formen, die auf lat. PONERE zurückgehen (auch mit Präfixen). Der zur Suche von IUNGERE-Formen gebildete reguläre Ausdruck hat folgende Form: 20 30 40 50 60 70 80 12345678901234567890123456789012345678901234567890123456789012345678901234567890 " +(ar|j? ad|ag? |con|cun|dis|di|in|ra|sa|s|sopra)? (gi? |j|sch)(uo? |o)n(d? sch|t).*" (die Zahlen geben Positionen im regulären Ausdruck an, auf die sich die folgenden Erklärungen beziehen) Der Ausdruck ist wie folgt zu interpretieren: Suche alle Zeichenketten in der Chrestomathie, die mit beliebig vielen Blanks beginnen (Position 2 - 3, das +-Zeichen bedeutet, dass das vorangehende Zeichen - hier ein Leerzeichen oder Blank, mindestens einmal vorkommt). Es folgen mögliche Präfixe (Position 4 - 57), in runden Klammern. Jedes Präfix ist durch einen senkrechten Balken abgetrennt, der die Bedeutung hat «entweder oder», z. B. Position 34. Ein Fragezeichen hinter einem Zeichen hat die Bedeutung: das vorangehende Zeichen kann vorkommen, muss aber nicht vorkommen (s. Position 25, es kann sich um ag-giunsch oder um a-giundsch handeln). Ein weiteres Fragezeichen findet sich in Position 59. Dieses Fragezeichen drückt aus, dass die gesuchte Form mit einem der angegebenen Präfixe beginnen kann, aber nicht beginnen muss; es werden also auch nicht präfigierte Formen ermittelt. Ab Position 60 werden unterschiedlich transkribierte Stämme erfasst: ein Stamm kann mit einer Schreibung gi, g (Pos. 61 - 63), j (Pos. 65) oder sch (Pos. 67) beginnen. Danach folgen uo, u oder o (Pos. 71 - 77). Dann muss als nächsten Zeichen ein n kommen, gefolgt von dsch oder sch (Pos 80 - 84) bzw. einem t (Partizip Perfekt), Pos. 86. Danach können beliebig viele Zeichen folgen (Pos. 89 - 90). Damit stehen sehr flexible Werkzeuge für die Suche in Korpora zur Verfügung (vgl. a. «motifs» in G USFIELD 1997: 340). Für die Chrestomathie werden hier einige Vorkommen angeführt: ’ ls resultats da mia lavur, aggiundschand [. . .] alchüns exaimpels ‹ die Ergebnisse meiner Arbeit, indem ich ein paar Beispiele hinzufüge › (VIII, 566) las quelas l ’ autur ho [. . .] aggiunt ‹ welche der Autor hinzugefügt hat › (VIII, 557) ma solettameng da prouar per respect da si conschonscher in matrimoni con las benedidas purscheallas ‹ [. . .] eine Ehe mit den gesegneten Jungfrauen zu bewerkstelligen › (I, 1. 18, Zeile 40) Il di de sontga Brida astg ’ ins buca schunscher bos, nun cas de basegns. ‹ Am Tag der hl. Brida darf man die Zugtiere nicht anspannen. › (II, 2. - 3. 1090) 94 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz ch ’ in materia non hajan nus bler D ’ adjunscher ‹ dass wir in der Sache nicht viel hinzuzufügen hätten › (VIII, 398, Zeile 606) Sconferma la presainta Letscha cun aggiunta chia il Land a haja seis salari ogni Di R 3 ‹ bestätigt das vorliegende Gesetz mit dem Zusatz, dass der Landamman seinen täglichen Lohn von drei R erhalte › (XI, 327) Das nächste Beispiel führt einige PONERE-Formen auf: Quei tutt ei en furtina als nos vegniu proponiu et acceptau ‹ das alles ist in Eile den Unsrigen vorgeschlagen und (von ihnen) angenommen worden › (I, 2. - 3. 5 RF) In bien e devozius Christiaun dispone endedens avon sias ovras ‹ ein guter und frommer Christ entscheidet im Inneren vor dem Hintergrund seiner Taten [? ] › (I, 2. - 3. 30) Il carstgaun proponna e Dieus disponna ‹ Der Mensch denkt, Gott lenkt › (I, 2. - 3. 550 RF) senza cheutras exponer ne gleut ne bageigs d ’ autras persunnas al prigel dil fiug ‹ ohne dadurch weder Personen noch Gebäude der Feuergefahr auszusetzen › (I, 2. - 3. 629 RF) Sch ellas seigien bein dispostas ‹ ob sie gut beieinander seien › (I, 2. - 3. 742 RF) sch › ei vangi ʃ s muncantau ner opponieu da vangir suenter ‹ wenn versäumt würde oder sich widersetzt würde, (dem) nachzukommen › (IV, 59) Die ausgewählten Beispiele zeigen, dass eine geschickt formulierte Suche auch bei (ortho)graphischen Varianten und nicht oder wenig normierten Texten reiche Ernte zeitigt. Im Folgenden wenden wir uns Mehrwort-Ausdrücken zu. In L UTZ 2007 hat einer von uns einen im Romanischen produktiven Typ der Substantivverbindungen untersucht. Die Chrestomathie liefert mit Hilfe des entsprechenden Regulären Ausdrucks für diesen Typ u. a. folgende Vorkommen: fortem de carn vadi ne d ’ ensiel ‹ Kalb- oder Zickleinfleisch-Voressen › (I, 2. - 3., 525 RF) fortem vadi ‹ Kalbfleisch-Voressen › (II,1. 223) carn piertg ed andutgels ‹ Speck und Bauernwürste › (I, 2. - 3., 793 RF) tgiau piertg ‹ Schweinekopf › (II,1. 86) barba caura ‹ barba di capra (Geissbart) › (X, 1. - 3. 62) postaus si sper ’ gl esch casa ‹ an der Haustür aufgestellt › (II, 2. - 3. 1038 RF) metter la scua si pigl esch casa ‹ den Besen an die Haustür stellen › (IV, 983) Cul moni scua en maun ‹ mit dem Besenstiel in der Hand › (XII, 111.) 95 Crestomazia Digitala spel mir santeri ‹ neben der Friedhofsmauer › (XII, 46) Cavels alvs, flurs santeri ‹ weisse Haare, Friedhofsblumen › (IV, 978) feglia de flurs piertg ‹ Löwenzahnblätter › (IV, 993) il nuv sogn Martin ‹ der Sankt Martins Knopf › (IV, 983) La stad sogn Martin cuoza treis gis ‹ Der Nachsommer dauert drei Tage › (IV, 1014) Il crapp sogn Martin ‹ Sankt Martins Stein › (II, 2. - 3. 1052 RF) La tuor sil crest sogn Zievi ‹ der Turm auf dem Sankt Eusebius ’ -Hügel › (XII, 23) mardis tscheiver ‹ Faschingsdienstag › (II, 1. 223) Obwohl für die Beschreibung dieser Substantiv-Verbindungen in der Dissertation grosse Textmengen exzerpiert wurden, konnten mit Hilfe der Suchfunktionen der digitalen Chrestomathie dennoch schnell neue Belege gefunden werden. Abschließend greifen wir den Beitrag von Georg Kaiser in diesem Band und weitere Untersuchungen zur Verbbewegung (z. B. K AISER 2002, K AISER / S CHOLZ 2009) auf und untersuchen unterschiedliche Vorkommen von Partikelverben des Typs lavar giu (s. a. S PESCHA 1989: 516 - 522). Wir erweitern Datenbasis und Perspektiven, in dem wir Präpositionalpartikel und Negation in die Datenbasis einbeziehen und weisen Erscheinungen, die in der Theorie generativer Grammatiken als Verbbewegung interpretiert werden, direkt nach. Sind Verb und Partikel durch (graphische) Wörter getrennt, so fassen wir dies als eine Art Lackmustest für die Ermittlung der Basisposition des Verbs und für Verbbewegung auf (zu Basisposition des Verbs und Form der Einbettung s. a. R OLSHOVEN 2012, zu C°-Position im Bündnerromanischen und in romanischen Sprachen R OLSHOVEN 2007. Aus der Perspektive des Deutschen ist das leicht nachvollziehbar, wie Kontraste von Haupt- und Nebensatz zeigen: Das Kind wäscht die Teller ab vs . . . weil das Kind die Teller abwäscht. Diese Beispiele sind jedoch nicht direkt auf romanische Sprachen übertragbar, denn in romanischen Sprachen erwartet das Verb im Gegensatz zum Deutschen seine Objektergänzung stets nach rechts. Die Suche mit regulären Ausdrücken hat für das ausgewählte Problem nicht nur einen praktischen Nutzen. Vielmehr formuliert der reguläre Ausdruck eine linguistische Hypothese; wird nun eine Suche erfolgreich, so wird die Hypothese bestätigt, schlägt sie fehl, so ist dies ein Indiz für Falsifikation. Auch können Hypothesen präzisiert werden, wenn reguläre Ausdrücke verfeinert werden. 96 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz El stuet ilg sieu spirte Dar si quel hura lou ‹ Er musste zu dieser Stunde seinen Geist aufgeben (=sterben) › (aus einem Gedicht, XIV, 136). jou sto vonzei sparchir A quest Mund si dare ‹ ich muss dann sterben und diese Welt aufgeben › (aus einem Gedicht, II, 2. 928). Sinaquei cha vus podeies Suvegnir et mirar giu il marcau ‹ Damit ihr hinüberkommen (scil. auf die Insel) und die Stadt auskundschaften könnt › (I, 2. 14) ston vignir tigliau giu la Grefla ‹ müssen die Krallen geschnitten werden › (I, 3. 620) Lai mei en vegniri. E tschunc buc giu quest. ‹ Lass mich reinkommen. Schlage mir das nicht aus. › (aus einem Gedicht, II, 2. 718) In folgender Konstruktion sind Verb und Partikel getrennt: sin quei che ti laventias bucca si pli gron mal ‹ damit du kein grösseres Unglück heraufbeschwörst › (I, 2. 225). Die angeführten Belege zeigen, wie effizient Belegmaterial für ganz verschiedene syntaktische Erscheinungen in der Textsammlung der digitalisierten Rätoromanischen Chrestomathie gefunden werden kann. Einige der Beispiele werden nun syntaktisch interpretiert. Wir beginnen mit einem Beleg els dattan si in griu ‹ sie stießen einen Schrei aus › (I, 3. 739 RF). Diesem Vorkommen wird folgende, möglichst einfache Struktur zugewiesen: Abbildung 3: Strukturbaum für Partikelverben 97 Crestomazia Digitala Der Struktur liegt die Annahme zugrunde aus, dass das flektierte (Partikel) Verb aus seiner Basisposition in eine Position der T-Phrase bewegt wird. Auslöser dieser Bewegung ist generativistischer Argumentation folgend das Bestreben des Verbs, sich in der T-Phrase mit Tempus- und Numerusmerkmalen zu versorgen. Bei der hier vorgeschlagenen Struktur verbleibt die Präpositionalpartikel in der Basisposition 5 . Dies hat zunächst den Vorteil einer größeren Einfachheit. Es steht auch nicht im Widerspruch zu der Idee, Präpositionalpartikel würden Indikatoren für die Basisposition eines Verbs darstellen, die sich ansonsten oftmals gar nicht direkt nachweisen lässt. So ist es nur das Verb, das seine Basisposition verlässt. Allerdings würde sich die oberflächliche Wortfolge von Verb und Partikel nicht verändern, wenn die Präpositionalpartikel die Verbbewegung mitmachen würde. Daher kann ein direkter Nachweis für den Verbleib der Präpositionalpartikel in der Basisposition nur geführt werden, wenn ein weiteres syntaktisches Element zwischen T-Phrase und Verbalphrase eingefügt werden könnte. Ein solches Element existiert tatsächlich, es ist die Negationsphrase NegP. Geht die Präpositionalpartikel der Negation voran, so hat die Partikel die Bewegung mitgemacht, folgt sie der Negation, so ist sie in der Basisposition verblieben. Um diese Möglichkeiten zu untersuchen, werden entsprechende Reguläre Ausdrücke gebildet. Fündig wird man aber nur, wenn der Reguläre Ausdruck eine Sequenz Verb Negation Partikel abbildet. Dieser Sequenz entspricht der nachfolgende syntaktische Strukturbaum 6 mit der in der Basisposition verbliebenen Partikel 7 : 5 Hier sei kurz darauf verwiesen, dass die Startposition in einer sogenannten Inkorporationsstruktur liegt; das gilt auch für die Landeposition in der T-Phrase. Wir begnügen uns mit dem Hinweis, dass Inkorporationsstrukturen oftmals an der Grenze von Wortbildung und Syntax vorkommen. 6 NegP (und andere Kategorien) sind vereinfacht dargestellt. 7 Der Beispielsatz wurde vereinfacht, s. o.. 98 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz Abbildung 4: Strukturbaum für Negation und Partikelverben Das hier verwandte Argumentationsschema zeitigt für das Deutsche ein anderes Ergebnis, da in kanonischer Anordnung im Deutschen eine Sequenz Objekt (Verb) Negation Partikel Verb anzunehmen ist, bei der Partikel und Verb wegbewegt werden 8 : 8 Nota bene: es handelt sich um einen Teilbaum, der Nebensatzordnung widerspiegelt, z. B. für einen Satz weil er das Buch liest. Der Fokus liegt auf der Trennung von Verb und T° durch NegP. 99 Crestomazia Digitala Abbildung 5: Strukturelle Differenz zum Deutschen Das Deutsche und das Romanische unterscheiden sich also in der Partikelbewegung; im Romanischen markiert die Präpositionalpartikel direkt die Basisposition des Verbs. Im Deutschen kann die Basisposition des Verbs nur indirekt erschlossen werden. Für einfache romanische Aussagesätze reicht es, als Wurzelknoten eine TP anzunehmen. Inversionsstrukturen verlangen als Wurzel jedoch eine CP. Das Verb wandert hier in die CP. Dafür finden sich in der Chrestomathie reichlich Belege, auch von Partikelverben (Inversion ist natürlich unabhängig von dem Partikelphänomen). Im folgenden ist der Strukturbaum eines dieser Belege aufgeführt (II, 1. 134): 100 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz Abbildung 6: Inversionsstruktur im Romanischen 5. Erfahrungen und Dank Bei Beginn des Projekts zur Tiefenerschließung der Rätoromanischen Chrestomathie gab es mancherlei Unsicherheiten und offenen Fragen. Die Anforderungen zur Erstellung einer anspruchsvollen Software waren hoch. Parallel zur Softwareentwicklung erfolgten die ersten Korrekturen und Meliorationen. Die Geduld der Melioratoren durfte nicht überbeansprucht werden. Es mussten Melioratoren für die Mitarbeit gewonnen werden. All dies hatte in einem (Förder)Zeitraum von zwei Jahren zu geschehen. Aber die Erfahrungen waren sehr positiv und produktiv, es gelang, eine Melioratorengemeinschaft aufzubauen, es gelang, Medien für das Projekt zu interessieren (z. B. Fernsehbericht im RTR, Artikel in der NZZ, des Bündner Tagblatts, der Quotidiana). Dieser Beitrag zeigt einige der Nutzungsmöglichkeiten digitaler Texte. Es wäre eine weiteres Desiderat, den Umfang digitaler rätoromanischer Korpora zu erweitern. Erste Schritte sind mit der Digitalisierung der Bifrun-Bibel nach der Ausgabe von G ARTNER (1913) und den beiden Bändern der Tschantamaints d ’ Engiadina bassa/ Die Dorfordnungen des Unterengadins. von Andrea S CHORTA (1982) getan. Bei der Softwareentwicklung zeigte sich, dass die fat client Lösung mit Zurückhaltung aufgenommen wurde. Sie erfordert die Installation des fat 101 Crestomazia Digitala clients lokal. Lokale Installationen und downloads, mitunter auch verbunden mit lokalen, betriebssystembedingten Problemen oder Einstellungen (etwa zur Computersicherheit), standen spontanem Gebrauch entgegen. Daher wurde die von Anfang geplante und nun fertiggestellte und unmittelbar vor Veröffentlichung stehende Browserversion des DRC zum Desiderat. Unser großer Dank gilt all denen, die das Projekt mit Kopf und Herz zum Erfolg geführt haben. In Köln sind dies die Mitarbeiter der Sprachlichen Informationsverarbeitung, Michail Atanassov, Claes Neuefeind, Frauke Schmidt und Fabian Steeg. Die Zusammenarbeit mit unserem Kölner Projektpartner, Kollegen Wolfgang Schmitz, Direktor der Universitäts- und Stadtbibliothek, und seinen Mitarbeitern war effizient und vertrauensvoll. Unser Dank gilt den Melioratoren in der Schweiz. Unter ihnen ragt Michele Badilatti heraus. Ohne Förderung wäre das Projekt nicht realisierbar gewesen. Für zwei Jahre gewährte die Deutsche Forschungsgemeinschaft eine Zuwendung im Rahmen des Förderbereichs «Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme» für eine Mitarbeiterstelle und eine Hilfskraftstelle sowie für weitere sächlich anfallende Kosten. In der Schweiz gewann das Projekt die Unterstützung des Legat Cadonau, des IKG, des Bündner Kulturamts, der Lia Rumantscha, der Societad Retorumantscha, der Banca Cantunala Grischuna und der Quarta Lingua. Den dahinter stehenden Personen - Herrn C. Caflisch, Herrn M. Risi, Herrn A. Fontana, Herrn U. Cadruvi, Herrn B. Cathomas, Herrn C. Collenberg, Herrn A. Vinzens und Frau M. Peerdanken wir herzlich. 6. Bibliographie A TANSSOV , Michail 2012: Single Sourcing für kollaborative Textsysteme, Bachelorarbeit Köln. C UNHA , Conceicao/ G RAZIADEI , Daniel/ J AKI , Sylvia/ S ÖLLNER , Louisa/ P RÖBSTL , Tanja/ S TANGE , Sören 2012 (ed.): Über Grenzen sprechen. Mehrsprachigkeit in Europa und der Welt. language talks 2. Würzburg: Königshausen & Neumann, (im Druck). D AHMEN , Wolfgang/ S CHLÖSSER , Rainer 2007 (ed.): Sexaginta. Festschrift für Johannes Kramer. Romanistik in Geschichte und Gegenwart, Beiheft 16. Hamburg. D ECURTINS , Caspar 1888 - 1919: Rätoromanische Chrestomathie. 13 Bände, Erlangen (als Faksimile mit Register in 15 Bänden neu ed. von Octopus-Verlag/ Società Retorumantscha, Chur). E GLOFF , Peter/ M ATHIEU , Jon 1986: Rätoromanische Chrestomathie. Begründet von Caspar Decurtins, Band 15: Register, ed. von Octopus-Verlag/ Società Retorumantscha, Chur. G ARTNER , Theodor 1913: Das Neue Testament. Erste Rätoromanische Übersetzung von Jakob Bifrun 1560. Halle/ Saale: Niemeyer. 102 Jürgen Rolshoven und Florentin Lutz G USFIELD , Dan 1997: Algorithms on Strings, Trees and Sequences: Computer Science and Computational Biology. Cambridge, Mass. H OLLEY , Rose 2009: Many Hands Make Light Work: Public Collaborative OCR Text Correction in Australian Historic Newspapers. National Library of Australia. K AISER , Georg 2002: Verbstellung und Verbstellungswandel in den Romanischen Sprachen. Tübingen: Niemeyer. K AISER , Georg/ S CHOLZE , Lenka 2009: «Verbstellung im Sprachkontakt - das Obersorbische und Bündnerromanische im Kontakt mit dem Deutschen», in: S CHOLZE / W IEMER 2009, 305 - 328. L IVER , Ricarda 1999: Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische, Tübingen, Narr. L UTZ , Florentin 2007: Chalandamarz. Die Substantiv-Verbindungen im Bündnerromanischen. Ein Beitrag zu Wortbildung und Syntax (wird für den Druck vorbereitet). N EUEFEIND , Claes/ S TEEG , Fabian 2012: «Stai si, defenda, Romontsch, tiu vegl lungatg» - Digitalisierung als Mittel kultureller Selbstermächtigung kleinerer Sprachgemeinschaften. Im Druck, in: C UNHA / G RAZIADEI et al. 2012. R IATSCH , Clà 1998: Mehrsprachigkeit und Sprachmischung in der neueren bündnerromanischen Literatur, Chur, Bündner Monatsblatt. R OLSHOVEN , Jürgen 2007: «Zur Syntax des Wurzelknotens». in: D AHMEN / S CHLÖSSER 2007, 339 - 352. R OLSHOVEN , Jürgen 2012: (unter Mitarbeit von Florentin L UTZ , Claes N EUEFEIND , Fabian S TEEG ): «Die Digitale Rätoromanische Chrestomathie», in: Ladinia (im Druck). S CHOLZE , Lenka/ W IEMER , Björn 2009 (ed.): Von Zuständen, Dynamik und Veränderung bei Pygmäen und Giganten. Festschrift für Walter Breu zu seinem 60. Geburtstag. Bochum: Brockmeyer S CHORTA , Andrea 2 1982: Tschantamaints d ’ Engiadina bassa/ Die Dorfordnungen des Unterengadins. Band 1. Celerina/ Schlarigna, Uniun dals Grischs. S CHORTA , Andrea 2 1982: Tschantamaints d ’ Engiadin ’ ota, da Bravuogn e Filisur/ Die Dorfordnungen des Oberengadins, von Bergün und Filisur. Band 2. Celerina/ Schlarigna, Uniun dals Grischs. S PESCHA , Arnold 1989: Grammatica sursilvana, Chur: Casa editura per mieds d ’ instrucziun. W IGGER , Bernhard 1997: Die Schweizerische Konservative Volkspartei 1903 - 1918: Politik zwischen Kulturkampf und Klassenkampf. Fribourg, Universitätsverlag. 103 Crestomazia Digitala Italienischer Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen des Bündnerromanischen 1 Matthias Grünert 1. Einleitung Im Bündnerromanischen beobachtet man in Lexemverbänden - verstanden als Paradigmen von Wörtern mit identischer Wurzel (cf. L INKE et al. 2004: 63) - oft eine Überlagerung von erbwörtlichen und verschiedenen Lehnschichten. Weniger häufig ist Lehngut innerhalb von Wortformenparadigmen anzutreffen. Der in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen erkennbare italienische Einfluss ist, wie der italienische Einfluss im Allgemeinen, in den engadinischen Varietäten (Puter und Vallader) am ausgeprägtesten. In den Varietäten des Rheingebiets (Surselvisch, Sutselvisch und Surmeirisch) - die mehr deutsches Lehngut, zahlreichere, oft durch das Deutsche vermittelte Gallizismen und tendenziell eher latinisierende als italianisierende Lautungen aufweisen 2 - ist der italienische Einfluss auch in den uns interessierenden Bereichen geringer. Unser Beitrag befasst sich exemplarisch mit Entlehnungen aus dem Italienischen in Reihen von Präfixverben, in Wortpaaren von Verb und Verbalsubstantiv sowie - innerhalb von Verbalparadigmen - beim Perfektpartizip. Diese Bereiche stellen wir vor allem anhand des in Bezug auf den Sprachkontakt mit dem Italienischen besonders ergiebigen Belegmaterials zum Engadinischen dar. Unter Verbalsubstantiven fassen wir Substantive zusammen, die Vorgänge oder Ergebnisse bezeichnen und aus deverbalen Suffixbildungen (1) oder Konversionen (2, 3) hervorgehen, wobei letzteren der Präsensstamm (2) oder der Partizipialstamm (3) zugrunde liegt: 1) t. divertire ‹ unterhalten › → divertimento ‹ Unterhaltung › , engad. cumanzar ‹ anfangen › → cumanzamaint ‹ Anfang › 1 Dieser Beitrag präsentiert Ergebnisse des vom Schweizerischen Nationalfonds und vom Institut für Kulturforschung Graubünden (ikg, Chur) unterstützten Projekts «Italianismen im Bündnerromanischen». 2 Zur Schichtung des bündnerromanischen Wortschatzes cf. L IVER 1989: 799s. und P OPOVICI 2006. 2) it. acquistare ‹ erwerben › → acquisto ‹ Erwerb › , engad. cumprar ‹ kaufen › → cumpra ‹ Kauf › 3 3) it. comparso, -a ‹ erschienen › → comparsa ‹ Erscheinung › , engad. inclet(ta) ‹ verstanden › → incletta ‹ Verständnis › Die angeführten Beispiele veranschaulichen jeweils identische Wortbildungsverfahren in den beiden Sprachen. Zum Sprachkontakt in diesem Bereich lässt sich feststellen, dass das Bündnerromanische teils sowohl die verbale Basis als auch das daraus gebildete Substantiv aus dem Italienischen entlehnt hat (engad. divertir und divertimaint, acquistar und acquist). Dabei ist in Rechnung zu halten, dass von einem entlehnten Verb im Bündnerromanischen auch spontan ein Verbalsubstantiv abgeleitet werden kann, was abweichende Bildungen wie adattar ‹ anpassen › → adattaziun (vs. it. adattare → adattamento) verdeutlichen, während bei identischer Bildung die Entlehnung nicht immer als gesichert gelten kann. Teils traten aus dem Italienischen entlehnte Verbalsubstantive auch zu einheimischen Verben in Bezug. So bildet cumparsa ‹ Erscheinung › (< it. comparsa) ein Wortpaar mit erbwörtlichem cumparair ‹ erscheinen › (< COMPARERE ). Die oben neben der Bildung von Verbalsubstantiven erwähnten Bereiche der Verbpräfigierung und der Bildung von Perfektpartizipien mögen folgende Beispiele illustrieren: Tabelle 1: Verbpräfigierung und Bildung der Perfektpartizipien italienisch engadinisch italienisch engadinisch giungere/ giunto sgiunschere/ sgiunto aggiungere/ aggiunto congiungere/ congiunto raggiungere/ raggiunto giu(o)ndscher/ † güt, giunt sgiu(o)ndscher/ † sgüt, sgiunt agiundscher/ agiunt congiundscher/ † cungiüt/ congiunt ragiunger/ ragiunt cedere/ ceduto precedere/ -ceduto procedere/ -ceduto conceder/ -cesso succedere/ -cesso ceder/ cedü preceder/ -cedü proceder/ -cedü conceder/ -cess succeder/ -cess Zu allen italienischen Präfixbildungen mit -giungere sind Entsprechungen im Engadinischen belegt (dazu ausführlicher weiter unten), bis heute gebräuchlich sind jedoch nur die beiden Entlehnungen agiundscher ‹ beifügen › und ragiundscher ‹ erreichen › . Wie im weiter oben erwähnten Wortpaar cumparsa - cumparair trat die Entlehnung auch hier zum einheimischen Vertreter 3 Da in diesem Fall kein Wortbildungsmorphem identifizierbar ist, sondern bloss das Inventar der grammatischen Morpheme des Verbs durch die grammatischen Morpheme des Substantivs ersetzt wird, stufen wir diese Bildung, die auch als «Nullableitung» bezeichnet wird, als Konversion ein (cf. deverbale Konversionen des Deutschen wie kauf|en → Kauf, fortschreit|en → Fortschritt, Duden 4: 733 s.). 106 Matthias Grünert desselben Worttyps in Bezug, giundscher (oberengad.)/ giuondscher (unterengad.) ‹ ins Joch spannen, anspannen; verbinden › (< JUNGERE ), wie aufgrund der lautlichen Angleichung an das einheimische Wort deutlich wird: it. / ʤ _ ʤ / ( ‹ gi › _ ‹ g › ) wurde mehrheitlich an engad. / ʥ _ ʤ / ( ‹ gi › _ ‹ dsch › ) angepasst. Beim Perfektpartizip beobachtet man einerseits die Entlehnung aus dem Italienischen (-giunt < -giunto), die der Entlehnung des Präsensstamms folgt (-giundsch- < -giung-), andererseits - im Simplex und in der einheimischen Präfixbildung sgiu(o)ndscher ‹ ausspannen › - den Ersatz von erbwörtlich entwickeltem (s)güt/ (s)jüt (< [ DIS ] JUNCTU ) durch den Italianismus (s)giunt. Bei congiundscher lassen ältere Formen, cunguontscha (3. Pers. Ind. Präs., 16. Jh.) und cungiütt (Partizip, 1613), eine einheimische Entwicklung nicht ausschliessen (< CONJUNGERE / CONJUNCTU ), die Belege in der Literatur deuten jedoch eher auf die Anpassung von it. congiungere und lat. conjungere hin. Bei ceder und den zugehörigen Präfixbildungen offenbaren die jeweiligen Entsprechungen schwacher und starker Perfektpartizipien den italienischen Einfluss: it. ceduto wurde mehrheitlich als cedü übernommen, it. -cesso als -cess (V ELLEMAN 1924: 943 - 45). Schematisch lassen sich die Bezüge von entlehnten Präfixverben, Perfektpartizipien und Verbalsubstantiven zu einheimischen oder bereits entlehnten Lexemen im Bündnerromanischen folgendermassen zusammenfassen: Tabelle 2: Entlehnte Präfixverben, Perfektpartizipien und Verbalsubstantive in ihren Bezügen zu einheimischem und entlehntem Wortgut Bezug zu einheimischem Lexem Bezug zu entlehntem Lexem Präfixverben, teils einschliesslich starker Perfektpartizipien entlehnt agiundscher/ agiunt ‹ beifügen › < it. aggiungere/ aggiunto neben gi(u)ondscher/ † güt ‹ anspannen, verbinden › < JUN- GERE / JUNCTU suottametter ‹ unterstellen, unterbreiten › < it. sottomettere neben metter ‹ stellen, legen › < MITTERE conceder/ concess ‹ gewähren › < it. concedere/ concesso neben ceder/ cedü ‹ nachgeben › < it. cedere/ ceduto suottapuoner/ suottapost ‹ unterstellen, unterwerfen › < it. sottoporre/ sottoposto neben -puoner/ -post ‹ stellen › < - PONERE 4 / it. -posto in weiteren Präfixverben 4 Der Infinitiv mit -puoner ist eine Neuentlehnung von PONERE , ponkommt allerdings auch im italienischen Präsensstamm vor, und bündnerromanische Präfixverben mit -puoner kennen das starke, aus dem Italienischen entlehnte Partizip -post < -posto (neben dem schwachen Partizip -puonü). Ausserdem sind neben suottapuoner < sottoporre (suotta- < it. sotto-) einige weitere Präfigierungen eindeutig aus dem Italienischen entlehnt (cuntrapuoner < contrapporre, soprapuoner < soprapporre, scumpuoner < scomporre). 107 It. Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen im Br. Bezug zu einheimischem Lexem Bezug zu entlehntem Lexem entlehnte Verbalsubstantive, teils gleichlautend mit entlehnten Perfektpartizipien cumparsa ‹ Erscheinung › < it. comparsa neben cumparü < COMPAR - + - UTU resposta ‹ Antwort › < it. † re-/ risposta neben respus < RES- PONSU agiunta ‹ Ergänzung › < it. aggiunta neben agiundscher/ agiunt < it. aggiungere/ aggiunto divertimaint ‹ Unterhaltung › < it. divertimento neben divertir < it. divertire 2. Verbpräfigierung und Bildung von Perfektpartizipien Verbände präfigierter Verben des Engadinischen, die aus dem Italienischen entlehnte Bildungen und Formen enthalten, sind in der bisherigen Literatur v. a. in Vellemans Grammatik zugänglich (V ELLEMAN 1924: 895 - 998). Ausserdem erlaubt das DRG mit seiner Lemma- und Verweisdatenbank die Erschliessung solcher Verbände. Ausführlich soll hier auf die Präfixbildungen zum lexikalischen Typ ‹ JUNGERE › 5 , bei gleichzeitiger Berücksichtigung der jeweiligen Partizipialbildung, eingegangen werden. Darauf folgen knappere Darstellungen der Bildungen zu zwei weiteren exemplarisch ausgewählten Typen, ‹ VIDERE › und ‹ MITTERE › . Das verwendete Belegmaterial ist dem DRG und dessen Kartei sowie der online verfügbaren Rätoromanischen Chrestomathie (RC) und den online verfügbaren Annalas da la Societad Retorumantscha (AnSR) entnommen. 2.1 Der lexikalische Typ ‹ JUNGERE › mit seinen Präfixbildungen Im 16. Jahrhundert, dem ersten Jahrhundert der engadinischen Literatur, ist der Typ ‹ JUNGERE › ausser als Simplex (4) in Präfixbildungen mit s- (< DIS -), ar- (< RE -) 6 und cun- (< CON -) vertreten (5): 4) bouffs . . . gütz «eingejochte Ochsen» (Rq. B2: 648, v. J. 1584), giüts insemmel in la chiaritæd (B IFRUN 1560: Col. 2, 2) nach compacti in charitate (E RASMUS 1547) 5) bouffs sgütz «ausgejochte Ochsen» (Rq. B2: 648, v. J. 1584), argiüt/ argiunschieu ‹ beigefügt › (B IFRUN 1560: Marc. 4, 24/ Matth. 5, 37), E taunt plü ui d ’ Deis s ’ cunguontscha «und klammert sich umso mehr an Gott» (RC 5: 404, nach DRG 4: 78) 5 Darunter fassen wir erbwörtliche und entlehnte Formen im Bündnerromanischen, die auf JUNGERE zurückgehen, zusammen. Bei den Entlehnungen handelt es sich um gelehrte Entlehnungen aus dem Latein sowie um Entlehnungen italienischer Fortsetzer von JUNGERE . 6 Nach Pult (DRG 1: 401) hätte auch ein ursprünglich vorliegender Fortsetzer von ADJUNGERE von der ar-Reihe (< RE -) erfasst werden können. 108 Matthias Grünert Die Partizipien sgütz, argüt und argiundschieu sind eindeutig einheimisch, wobei die beiden ersten als starke Formen - JUNCTU fortsetzen, während argiundschieu vom Präsensstamm abgeleitet ist. Die Form cunguontscha ist als [kun' ʥ won ʤɐ ] zu lesen, wenn man berücksichtigt, dass das Graphem ‹ tsch › , das in der Regel für die stimmlose Affrikate [ ʧ ] steht, im zitierten Text generell auch für die stimmhafte Affrikate [ ʤ ] verwendet wird (reytscha ‹ lenkt › ['r ɛ i ̯ ʤɐ ], puontscha ‹ sticht › ['pwon ʤɐ ], RC 5: 403 s.). Aufgrund der zuzuschreibenden Lautung liesse sich cunguontscha als erbwörtlicher Fortsetzer von CONJUNGIT (mit Anpassung der Endung an die 1. Konjugation) interpretieren. Angesichts der hier in einem Glaubensdisput auftretenden Verbindung ui d ’ Deis s ’ cunguontscha, die in der lateinisch und italienisch verfassten theologischen Literatur Entsprechungen mit jeweils analoger Präfixbildung hat - se conjungere Deo (cf. E STIUS 1685: 288) bzw. congiungersi con Dio (cf. S ASSONIA 1589: 111 v) - sowie angesichts der in der nachfolgenden bündnerromanischen Literatur anzutreffenden Verwendungskontexte von cun-/ congiu(o)ndscher wird es sich jedoch nicht um ein einheimisch entwickeltes Wort, sondern um eine Anpassung von lat. conjungere bzw. it. congiungere handeln. Zur Präfixbildung mit cun-/ confolgen Belege in der auf Sutselvisch verfassten Bref apologetica des Lombarden Gion Antoni C ALVENZANO (1612: 324), in der oberengadinischen Sabgienscha (Ecclesiasticus) von Lüci P APA (1613: 178) und im münstertalischen Katechismus des Puschlavers Gion Andreas Lanfrancum/ Lanfranchi (RC 10/ 2: 781, v. J. 1619; cf. S IMONET 1922: 102). Calvenzano überträgt die Verbindung si conschonscher in matrimoni ‹ den Bund der Ehe eingehen › offensichtlich aus dem Italienischen (congiungersi in matrimonio). Dabei passt er congiungere lautlich an den Nachfolger von JUNGERE in Rheinischbünden an, wo eine Assimilation des Anlautkonsonanten [ ʥ ] an den Stammauslaut [ ʒ ] stattgefunden hat: JUNGERE > *[' ʥʊ n(d) ʒə r] > [' ʒʊ n ʒə r]. Papa übersetzt coniunctum cum illa [sapientia] cor (Biblia 1544: Eccl. 51, [20]) mit ün cour cungiütt cun ella [la sabgiênscha], wo cungiütt wohl als Anpassung bzw. Nachbildung des in der Vorlage gegebenen coniunctum aufzufassen ist. Lanfranchi verwendet ein vom Präsensstamm abgeleitetes Partizip, cungiunschùdt, an einer Stelle seines Katechismus, an der er darauf hinweist, dass das göttliche Wesen (hier diuina als Entsprechung zu lat. divinitas/ it. divinità) untrennbar mit der Seele und dem Leib Christi verbunden sei. Mit seiner Formulierung kommt er einem Passus einer Predigt von Girolamo S ERIPANDO (1567) nahe: 6) . . . [Christ] hà volù ’ par noss ’ amur morir sur ’ quella [Crusch], & esser sepulùt, restondt saimper cungiunschùdt la diuina cum l ’ orma, & cun il corp. (RC 10/ 2: 781) 7 7 Die Hervorhebung in diesem und in allen folgenden Zitaten ist von uns. 109 It. Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen im Br. 7) . . . questa parte tocca al corpo di Christo, il quale fu ueramente sepolto: ma perche in lui fu inseparabilmente congiunta la diuinità con la humanità; la morte bastò a disunire l ’ anima dal corpo: ma la diuinità rimase unita & con l ’ anima, & col corpo. . . (Seripando 1567: 75 r) Die Verwendung von conjungere bzw. congiungere im Kontext der Inkarnationslehre ist in der lateinisch und italienisch verfassten theologischen Literatur gut belegt 8 . Die grössere lautliche Nähe zwischen dem von Lanfranchi verwendeten cungiunschùdt und it. congiungere sowie Lanfranchis sprachliche Herkunft sind Anlass, die Rolle des Italienischen - neben derjenigen des Lateins, die sich im Bereich der Theologie aufdrängt - mitzuberücksichtigen. Deutlich erkennbar ist das italienische Vorbild in der Schulser Bibel (V ULPIUS / D ORTA 1678/ 79), die auf D IODATI s Übersetzung (1607) basiert. Als Entsprechungen zu den insgesamt 35 Belegen von congiungere bei D IODATI9 (davon 19 Partizipien: congiunto, -a, -i, -e) findet sich in der Schulser Bibel 12 Mal die analoge Präfixbildung und 3 Mal das Simplex. Die Vulgata hat dagegen nur in zwei Fällen die Präfixbildung (conjungere) und in zwei weiteren Fällen das Simplex (jungere). Von den zusammengenommen 15 Belegen des Typs ‹ ( CON ) JUNGERE › in der Schulser Bibel, die sich ausgehend von den Belegen für congiungere bei D IODATI eruieren lassen, entspricht nur einer einem Vertreter desselben Typs in der Vulgata (Is. 5, 8: conjuonschen - coniungitis). Dies veranschaulicht die Vorbildfunktion des italienischen Textes für Vulpius ’ und Dortas Übersetzung ins Unterengadinische. Was die lautliche Seite betrifft, sind 8 der 12 Belege des Präfixverbs in der Schulser Bibel durch stärkere Anpassungen an den einheimischen Nachfolger von JUNGERE gekennzeichnet: [ ʥ ] wird zu [j] (conjunschet, V ULPIUS / D ORTA 1678/ 79: 1. Reg. 11, 2 10 ), und in der Tonsilbe des Präsensstamms erscheint sowohl der Diphtong (conjuonschen, Is. 5, 8) als auch der im unteren Teil des Unterengadins (Valsuot) artikulierte Monophtong (conjonscha, 1. Cor. 6, 16); im Partizip erfolgt in einem Fall die Anpassung an gesprochenes [jyt] (conjüt, 1. Cor. 6, 17), während sich in drei Fällen die Graphie -giüt(t) findet (Num. 25, 5; Jer. 13, 11; Ezech. 37, 17). In der Tonsilbe verwendetes u (conjunscha, Exod. 22, 19) wird eine lehnwörtliche Lautung wiedergeben. Deutlich als lehnwörtlich sind folgende Formen charakterisiert: congiunscha (Lev. 20, 15; Deut. 8 Cf. folgende Stelle aus der lateinischen und der italienischen Fassung des Tridentiner Katechismus: «simul corpus formatum, atque animatum est, corpori, & animæ diuinitas coniuncta» (Catechismus 1566: 26), «fu insieme formato il corpo & animato & a la diuinita congiunto il corpo & l ’ anima» (Catechismo 1568: 50 s.). 9 Abfrage unter http: / / www.laparola.net 10 Abkürzungen der Bibelstellen gemäss der Vulgata, cf. auch Registerband (1998: 14 - 16) des DRG. 110 Matthias Grünert 27, 21), fehlerhaft gedrucktes conguinscher (für congiunscher, Lev. 18, 23) und das Partizip congiunta (Job 36, 5), wobei darauf hinzuweisen ist, dass ‹ gi › im Bündnerromanischen für einen anderen Laut steht als im Italienischen: [ ʥ ], nicht [ ʤ ]. Das beibehaltene Graphem ‹ gi › verbirgt somit eine lautliche Anpassung, während ‹ sch › im Stammauslaut eine graphische Anpassung markiert. In Bezug auf die Semantik ist die Verwendung von congiundscher für ‹ sexuell verkehren › nach italienischem Vorbild an fünf Stellen auffällig (chi s ’ congiunscha cun alchüna bestia «chi si congiugne con alcuna bestia» 11 , Deut. 27, 21, cf. auch Exod. 22, 19 und Lev. 20, 15; Via quellas s ’ conjunschet Salomon tras amûr «a quelle si congiunse Salomone per amore», 1. Reg. 11, 2, cf. auch 1. Cor. 6, 16). Das Referenzspektrum umfasst ausserdem politische Verbindungen (chi sun congiüts cun Baal-peor «che si son congiunti con Baalpeor», Num. 25, 5, cf. auch Dan. 11, 6) - wofür auch das Simplex auftritt (ell nu s ’ juonscha eir ell cun nos inimichs «egli non si congiunga anche esso co ’ nostri nemici», Exod. 1, 10, cf. auch Num. 25, 3 und Jos. 23, 12) - die Verbindung mit Gott (chi ais conjüt cu ’ l Segner «chi è congiunto col Signore», 1. Cor. 6, 17) sowie die Verbindung von Qualitäten (forza congiunta cun sapienza «forza congiunta con sapienza», Job 36, 5). Der lehnwörtliche Charakter der Präfixbildung mit conwird schliesslich durch die gängigeren Alternativausdrücke bekräftigt, die in der Schulser Bibel als Entsprechungen zu it. congiungere/ congiungersi vorkommen: as cumpagnar ‹ sich verbinden, anschliessen › (z. B. Marc. 10, 7), (as) liar ‹ (sich) (ver)binden › (z. B. Matth. 19, 5/ 6), as culliar ‹ sich verbinden, zusammenschliessen › (z. B. Jer. 50, 5) und raspada f. ‹ versammelt, vereint › für it. congiunta (Ps. 122, 3). Im 17. Jahrhundert taucht neben den bisher besprochenen Präfixbildungen die Bildung mit a(d)auf, in Rheinischbünden zunächst bei Calvenzano, der diese Bildung (ebenso wie diejenige mit con-: conschonscher) lautlich an den Nachfolger von JUNGERE anpasst: si aschonscha ‹ man fügt bei › (C ALVENZANO 1612: 284). Im Engadin, wo die frühen Autoren einheimisches argiundscher für ‹ beifügen › verwenden (cf. oben unter 5), tritt die Entlehnung zuerst mit latinisiertem Präfix (ad-) auf (adjuntschand, Rq. A1: 502, v. J. 1665). Das Partizip ist zunächst ebenfalls in einer latinisierten Form bezeugt (f. adjuncta, RC 6: 605, v. J. 1684; m. adjunct, adjunck (Rq. B1: 648, v. J. 1697) sowie in einer Verbindung des latinisierten Präfixes admit dem einheimischen Nachfolger von JUNCTU , jüt (adjüt, AnSR 46: 112, v. J. 1689). Erst um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert sind lautlich italienisch beeinflusste Formen belegt (surmeirisch aggiongia, AnSR 56: 195, v. J. 1698; oberengad. adgiundschieu, Rq. B2: 276, v. J. 1701). Im 18. und 19. Jahrhundert bestehen italianisierende (8) 11 Hier und in der Folge nach D IODATI (1607). 111 It. Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen im Br. und (teilweise) latinisierende (9) Lautungen und Graphien nebeneinander, sowohl im Präsensstamm (a) als auch beim starken Partizip (b) 12 : 8 a) adgiundschieu (Rq. B2: 276, v. J. 1701), agiongia (Rq. B1: 215, v. J. 1786), aggiundscher (P ALLIOPPI 1857: 65, 1868: 66 und 1895: s. v.), aggionschet (Progr. nov.-dec. 1880: Nr. 8, 3.2), surs. aggiungier (BR 979: 56, v. J. 1891) 8 b) adgiunto (AnSR 21: 69, v. J. 1732), adgiunt (AnSR 7: 15, v. J. 1804), ayunto (Rq. B2: 788, v. J. 1830), surs. aggiuntas (Am. Piev. 1850: Nr. 44, 178.1), aggiunt (P ALLIOPPI 1868: 66 und 1895: s. v.), agiunt (AnSR 4 [1889]: 43) 9 a) surs. adjunger (Cod. crim. 1838: VII), adjundscher (Progr. 1873: Nr. 14, 4.2) 9 b) adjuncte (Rq. B1: 475, v. J. 1717), adjunt (Rq. B1: 254, v. J. 1828), surs. adjuncta (Gr. Rom. 1837: Nr. 4, 14.2) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzen sich die vom Italienischen beeinflussten Formen durch - beim Präsensstamm der Typ mit der graphischen Anpassung im Stammauslaut ( ‹ g › > ‹ dsch › ) - wofür P ALLIOPPI s normgebende Werke (1857, 1868, 1895) mitverantwortlich sind. Dieselbe Tendenz lässt sich bei der im 18. und 19. Jahrhundert weniger gut belegten Präfixbildung mit conbeobachten, wo der Gegensatz zwischen italianisierenden und (teilweise) latinisierenden Formen beim starken Partizip deutlich wird (12 a vs. 12 b), während im Präsensstamm - im Engadinischen - an die einheimische Lautung angepasste Formen (10) italianisierenden Formen (11 a) gegenüberstehen. Nur im Surselvischen sind hier auch deutlich latinisierende Formen belegt (11 b). 10) conjonscher (RC 7: 343, v. J. 1742), congiondscher (AnSR 14 [1900]: 36) 11 a) congiungiarò (Progr. 1873: Nr. 17, 1.2), cungiungier (Progr. nov.-dec. 1880: Nr. 5, 2.3) 11 b) surs. vegnir conjungi (m. pl.) ‹ verbunden werden › (Lschr. 45: 6, v. J. 1798), surs. conjunger (C ONRADI 1823: s. v.) 12 a) congiunta (RC 7: 123, 18. Jh.), congiunt (P ALLIOPPI 1868: 66 und 1895: s. v.), congiunto (Progr. 1872: Nr. 2, 1.1) 12 b) congiuncta (RC 8: 97, v. J. 1859), conjuncta (Progr. 1874: Nr. 40, 1.1) Neben den Präfixbildungen mit a(d)- und cun-/ consind diejenigen mit inüber länger Zeit belegt, wobei sich eine einheimische Bildung mit der konkreten Bedeutung ‹ verbinden, zusammenfügen; (ein Stück) ansetzen, hinzufügen › (13) und eine Entlehnung (lat. injungere, it. ingiungere) mit der Bedeutung ‹ auferlegen › (14, 15) unterscheiden lassen (DRG 9: 110). Während beim Partizip der einheimischen Bildung neben der erbwörtlichen (13 a: ingiüttas) auch die vom Italienischen beeinflusste Lautung belegt ist (13 b: ingiuntas), sind bei der Entlehnung italianisierende (14 a, 15 a) und latinisierende (14 b, 15 b) Lautungen nachgewiesen. 12 Nicht weiter bezeichnete Formen sind engadinisch, speziell gekennzeichnet werden hier und in den folgenden Belegreihen nur surselvische (surs.) Formen. 112 Matthias Grünert 13 a) ingiüttas (V ULPIUS / D ORTA 1678/ 79: Exod. 26, 24), [in' ʥ on(d) ʒə r] (Aufnahme für das Unterengadin aus den beiden ersten Jahrzenten des 20. Jh., cf. DRG 9: 110) 13 b) ingiuntas (Rq. B1: 87, v. J. 1747) 14 a) surs. ingiunger (Lschr. 29: 5, v. J. 1795), ingiundscha (Progr. 1880: Nr. 12, 2.1) 14 b) injungier (Rq. B1: 448, v. J. 1772), surs. injungein (Lschr. 18: 7, v. J. 1794), 15 a) ingionto (Rq. B2: 298, v. J. 1778) 15 b) injunct (Rq. B2: 282, v. J. 1752) Zu der oben für den Beginn der Schrifttradition erwähnten engadinischen Bildung mit privativem -s (< DIS -) für ‹ ausjochen, ausspannen › , die bis ins 20. Jh. belegt ist (16), gesellt sich eine jüngere surselvische - nur in einem Schulbuch nachgewiesene - Bildung mit gelehrtem dis-, das an nachfolgendes -schassimiliert ist (18). Diese Bildung erklärt sich aus dem Bedürfnis, neben schunscher ‹ anspannen › einen Ausdruck für ‹ ausspannen › zur Verfügung zu haben. Im Engadin wurde im 19. Jahrundert it. disgiungere/ disgiunto für ‹ loslösen › entlehnt (19). Italienischen Einfluss erkennt man auch im Formenbestand der einheimischen Präfixbildung sgiu(o)ndscher: Ein älterer engadinischer Beleg (17 a) weist den Stammauslaut -s auf, der wohl aus dem Stamm des italienischen einfachen Perfekts (giunse, giunsero) übernommen ist, und als Partizip tritt in jüngerer Zeit lehnwörtlich charakterisiertes sgiunt (17 b) auf, während erbwörtliches sgüt (< DISJUNCTU , 16 b) obsolet ist. 16 a) schunschieu (Rq. B2: 30, v. J. 1751), sguonschar (Rq. B1: 663, v. J. 1752), [' ʒ jon ʒə r], ['z ʥʊ n ʤə r], [' ʒʤʊŋʤə r] (in den beiden ersten Jahrzenten des 20. Jh. aufgenommene Formen für das Unterengadin, Brail [Oberengadin] und Bravuogn im Material des DRG), sgiuondscha (AnSR 53 [1939]: 171) 16 b) schgiüts (AnSR 48: 93, v. J. 1627), sjütt (Rq. B1: 425, v. J. 1732), sgüttas (Rq. B1: 164, v. J. 1770), sgüt (Rq. B1: 8, v. J. 1824) 17 a) scchgiunser (AnSR 48: 93, v. J. 1627) 17 b) sgiunt (M ENGIARDI 1979: 63) 18) surs. dischunscher (Cud. scola 1926: 215) 19 a) disgiundscher (P ALLIOPPI 1895) 19 b) disgiunta (Progr. 1873: Nr. 7, 3.1) Auch beim engadinischen Simplex hat sich in neuerer Zeit als Partizip der Italianismus giunt (< giunto) durchgesetzt. Während P ALLIOPPI (1895: s. v.) noch von einer Differenzierung zwischen güt ‹ angeschirrt, zusammengefügt › und giunt ‹ angekommen, erreicht, hinzugefügt › ausgeht, verzeichnet V ELLE- MAN (1929: s. giundscher) neben giunt obsoletes † güt. P EER (1962) führt unter dem Lemma giuondscher lediglich giunt als Partizipialform an, im Anhang zu den starken Verben allerdings wieder güt (P EER 1962: 597). Erst T SCHARNER (2003: s. v.) beschränkt sich ausschliesslich auf giunt. 113 It. Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen im Br. Neuere Italianismen sind das für das 19. und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts belegte sopragiundscher ‹ plötzlich dazukommen › (20) und das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts belegte und bis heute gebräuchliche ragiundscher ‹ erreichen › (21). 20 a) sopragiundscher (P ALLIOPPI 1868: 66, V ELLEMAN 1924: 981) 20 b) sopragiunta (Cud. scoula 1833: 110), sopragiunt (P ALLIOPPI 1868: 66, V ELLE- MAN 1924: 981) 21 a) raggiundscher (P ALLIOPPI 1868: 66), raggiundscha (AnSR 14 [1900]: 17), ragiundscher (AnSR 48 [1934]: 218, P EER 1962) 21 b) raggiunt (Fögl 1865: Nr. 56 nach V ELLEMAN 1924: 983, P ALLIOPPI 1868: 66), ragiunt (P EER 1962) Eine grobe zeitliche Verteilung des Gebrauchs der verschiedenen Präfixbildungen lässt sich der folgenden Graphik entnehmen, die jeweils die Präsenz für halbe Jahrhunderte angibt. Das Simplex, das in den während der beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhundert für das DRG aufgenommenen Sprachdaten noch gut vertreten ist und in den aktuellen regionalsprachlichen Wörterbüchern grösstenteils verzeichnet wird (eine Ausnahme bildet das Wörterbuch des Puter, T SCHARNER 2007), ist nicht mehr gebräuchlich. Für das heute seltener bezeichnete Anspannen von Zugtieren wird eher der alternative Ausdruck metter su(o)t verwendet. Tabelle 3: Gebrauch der Vertreter des lexikalischen Typs ‹ JUNGERE › im Bündnerromanischen 16. Jh. 17. Jh. 18. Jh. 19. Jh. 20. Jh. giu(o)ndscher/ schunscher ‹ DIS- › sdis- ‹ RE- › ar- ‹ AD- › a- (ital.) ad- (lat.) ‹ CON- › cuncon- ‹ IN- › in- (Erbw.) in- (Lehnw.) ‹ SUPRA- › sopra- ‹ RE- + AD- › ra- 114 Matthias Grünert Die Graphik veranschaulicht das Auftreten neuer Präfixbildungen ab dem 17. Jahrhundert, als sich die engadinische Schriftsprache einem starken italienischen Einfluss zu unterziehen begann (cf. dazu die programmatischen Äusserungen in den Vorreden von V ULPIUS 1666 und V ULPIUS / D ORTA 1678/ 79), sowie die hohe Anzahl von Präfixbildungen im 19. Jahrhundert, als der italienische Einfluss im Engadin einen Höhepunkt erreichte. Auch wenn der italienische Einfluss nicht alleine für die Dynamik im Lexemverband verantwortlich ist, lässt er sich als wichtiger Faktor an phonetischen Zügen im Basislexem, an entlehnten Partizipialformen, an spezifisch italienischen Präfixbildungen (ra-, sopra-) sowie an semantischen und kontextspezifischen Besonderheiten (cf. den Fall cun-/ congiu[o]ndscher) festmachen. 2.2 Der lexikalische Typ ‹ VIDERE › mit seinen Präfixbildungen Der lexikalische Typ ‹ VIDERE › weist, ebenso wie ‹ JUNGERE › , sowohl im Präsensstamm als auch beim Perfektpartizip charakteristische Lautungen auf. Einheimisch sind im Präsensstamm vez-/ ves- ([v ɛʦ ]/ [v ɛ z]) und als Perfektpartizip engad. vis/ surs. v(es)iu, entlehnt dagegen -ved-/ † -vidbzw. -vist/ engad. auch -vedü/ surs. auch -vediu, † -vidiu. Bei der ältesten entlehnten Präfixbildung, derjenigen mit pro- ( ‹ versorgen, vorsorgen › ) 13 , erfolgt in gewissen Fällen eine Anpassung an das einheimische Basislexem - provedza (B ONIFACI 1601: l. 539, cf. HWR: s. v.), proueseu (C ALVENZANO 1612: 36) - häufiger werden aber italienische Stämme übernommen: proveder (Rq. A1: 290, v. J. 1605), prowist (Rq. A1: 416, v. J. 1605), prouedeu (N AULI 1618: 168). Bei der Bildung mit prekonkurrenzieren sich im Surselvischen die entlehnte Form (preveder ‹ vorhersehen › , Nova Gas. Rom. 1840: Nr. 9, 35.1; prevèda ‹ sieht vor › , BR 979: 2, v. J. 1891; previst ‹ vorgesehen › , BR 968: 4, v. J. 1880) und die - später auftretende und somit wohl angepasste - einheimische Form (prevêr ‹ vorsehen › , BR 977: 4, v. J. 1889), während das Engadinische nur die einheimische Form kennt (eau prevez ‹ ich sehe vorher › , C APOL 1770: 157; previssas f. pl. ‹ vorgesehen › , AnSR 5 [1890]: 67). Von der zweiten Hälfte des 17. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist im Engadinischen die Bildung mit refür ‹ wiedersehen › belegt: revedant (V ULPIUS / D ORTA 1678/ 79: Gen. 40, 13/ 19, nach rivedendo bei D IODATI 1607), revair (Infinitiv, RC 7: 123, 18. Jh.), revis (Partizip, RC 8: 293, v. J. 1865). Diese Bildung, die heute nur in der Verabschiedungsformel a revair! ‹ auf Wiedersehen! › weiterlebt, könnte aufgrund der Lautung des Infinitivs und des Partizips einheimisch sein (cf. HWR: s. v.), angesichts der mit V ULPIUS / D ORTA (1678/ 79) einsetzenden Dokumentation mit lehnwörtlicher Lautung 13 PROVIDERE hat im Surselvischen einen erbwörtlichen Fortsetzer, perver ‹ füttern › (cf. HWR: s. v.). 115 It. Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen im Br. (revedant), der nicht nachgewiesenen konjugierten Formen 14 sowie der oft floskelhaften Verwendung - fin al ’ honur da lla revair «auf die Ehre, Sie wiederzusehen! » (RC 7: 124, 18. Jh.), la spraunza . . ./ Darcho da revair mieus amos «die Hoffnung, meine Geliebten wiederzusehen» (RC 8: 271, v. J. 1877) - scheint sie jedoch eher it. rivedere nachzubilden. Ein eindeutiger Italianismus ist das nur in einem Text dokumentierte surs. reveder ‹ wiedersehen › (RC 4: 564 s., Ende 18. Jh.). Das ganze Bündnerromanische kennt die Entlehnung reveder ‹ revidieren, überprüfen › (engad. reveder, AnSR 46: 109, v. J. 1675; surs. reveder, Cod. crim. 1838: IX) mit einer latinisierenden, durch das Deutsche vermittelten Variante im Surselvischen (revider, N ICCA 1774; revidiu, Coll. off. 1843: 413). Das Engadinische hat neben dem an die reguläre einheimische Lautung angepassten Partizip (reviss, Rq. A2: 336, v. J. 1665) ein starkes Partizip, das sich nach den Verben auf -ender richtet (spender → spais, offender → offais etc.) und revais lautet (f. revaisa, Fögl 1865: Nr. 55, nach V ELLEMAN 1924: 930). Bei den bisher erwähnten Bildungen verweisen vorherrschendes -vedsowie die Partizipien mit -vist auf das Italienische, während vereinzelte Belege aus dem 18. und 19. Jahrhunert mit -vidsowie die verwendeten Präfixe (pro-, pre- und re-) auch den gelehrten lateinischen - teils durch das Deutsche vermittelten - Einfluss in Betracht ziehen lassen. Daneben finden sich Bildungen, die aufgrund des Präfixes ausschliesslich dem Italienischen verpflichtet sind: engad. intravair/ surs. intraveder ‹ flüchtig erblicken › < intravedere (Ligia Gr. 1871: Nr. 16, 1.1 und P ALLIOPPI 1895, nach DRG 9: 611) sowie stravair ‹ falsch erkennen › (V ELLEMAN 1924: 959) < stravedere. 2.3 Der lexikalische Typ ‹ MITTERE › mit seinen Präfixbildungen Die erbwörtlichen Nachfolger im Bündnerromanischen und im Italienischen gleichen sich derart (['m ɛ t ə r] vs. ['met ː ere]), dass sich Entlehnungen italienischer Präfixbildungen mit -mettere aufgrund des Basislexems nicht von einheimischen Bildungen mit -metter unterscheiden, wird doch entlehntes -mettere an einheimisches metter angepasst, auch beim Partizip (-messo > engad. -miss). Folgende Präfixbildungen sind einheimisch: trametter ‹ schicken, senden › < TRANSMITTERE , imprometter ‹ versprechen › < IN - + PROMITTERE (cf. surs. empermetter), schmetter ‹ aufhören › < DIS - + MITTERE (HWR: s. v.). Bei remetter (altoberengad. auch armetter), das aufgrund der Lautung als Fortsetzer von REMITTERE gelten kann, erstaunt die grosse Häufigkeit von Verwendungen, die sich nicht unmittelbar aus der Modifizierung der Lexembedeutung ( ‹ stellen, legen, setzen › ) durch das Präfix re- ( ‹ Rückkehr zu einer 14 Der einzige Beleg von revezzan (3. Pers. Pl.) in der RC (8: 385) wird für ‹ einsehen, erkennen › verwendet. 116 Matthias Grünert früheren Befindlichkeit › ) erklären lassen. Gerade in den älteren Belegen sind solche weniger konkreten Bedeutungen gut vertreten: 22 a) ‹ überlassen › : eau la [chiosa] u œ lg armetter à scodün sappiaint lettur da giüdichêr «ich will sie [die Sache] jedem weisen Leser zur Beurteilung überlassen» (B IFRUN 1560: XXIs.); Da lg qual ell rametta la uandetta a Deis «wofür er die Rache Gott überlässt» (C HIAMPEL 1562: Ps. 7, Summa) 22 b) ‹ übertragen, übergeben › : nun ngiond remiss [il fond] in spazi dalg Ann «wenn das Grundstück nicht in Jahresfrist übertragen wird» (AnSR 46: 106, v.J 1655); Ed ell remetett in ils mauns da Josef tuot quai ch ’ ell haveiva (V ULPIUS / D ORTA 1678/ 79: Gen. 39, 6), nach Ed egli rimise nelle mani di Giuseppe tutto ciò ch ’ egli avea (D IODATI 1607) 22 c) ‹ (Sünden) erlassen › : remetta 15 & perduna ils pechiats «erlässt und vergibt die Sünden» (RC 10/ 2: 868, v. J. 1745) 22 d) refl. ‹ sich fügen, schicken › : lhura s ’ remettet el dschand: El ais il Sengier . . . «dann schickte er sich darein und sagte: ‹ Er ist der Herr. . . › » (RC 7: 440, v. J. 1767) 22 e) ‹ aufschieben › : remettet el quellas (inscripziuns) sün ün ’ otra vouta «verschob er diese (Inschriften) auf ein anderes Mal» (RC 8: 112, v. J. 1859) Bei folgenden Verwendungen stellt dagegen die durch rebezeichnete ‹ Rückkehr zu einer früheren Befindlichkeit › eine bedeutungstragende Komponente dar: 23 a) ‹ wieder in Ordnung bringen, wiederherstellen › : parr rammettar lg pe d ’ ün chiawalg (Rq. A1: 414, v. J. 1605) nach pro reformando pedem unum equi (Rq. A4: 222) «um den Huf eines Pferdes erneut auszuschneiden»; surs. turnar a restituir u remetter pustpei l ’ entira Jurisdictiun della Foppa «die ganze Gerichtsbarkeit der Gruob wiederherstellen» (RC 1: 214, v. J. 1701) 23 b) refl. ‹ sich wieder an etwas machen › : E tuot il pövel . . . è Josafat in cheu da quels, s ’ rematenn in chamin (V ULPIUS / D ORTA 1678/ 79: 2. Par. 20, 27) nach . . . si rimisero in cammino (D IODATI 1607) 23 c) ‹ wieder zusammensetzen › : disfar e rimetter l ’ arma «die Waffe zerlegen und wieder zusammensetzen» (Progr. 1871: Nr. 17, 3.1) 23 d) refl. ‹ sich erholen, genesen › : as remetter dalla vertigine «sich vom Schwindelgefühl erholen» (Progr. 1875: Nr. 45, 2.1); El as remettet pero bain spert «Er erholte sich jedoch recht rasch» (RC 8: 540, v. J. 1901) 23 e) ‹ wieder in einen Prozess oder Zustand versetzen › : Remettè ’ l (scil. il romaunsch) sün la via chi ’ l tuocha «Führt es (das Romanische) wieder auf den Weg, der ihm zugewiesen ist» (RC 8: 154, v. J. 1861); remiss in liberted «wieder frei gelassen» (AnSR 57 [1943]: 114) Als Verb der räumlichen Bewegung wird jedoch metter nur unter (23 b), im Rahmen der Wendung as remetter in chamin ‹ sich wieder auf den Weg 15 B IFRUN (1560) und V ULPIUS / D ORTA (1678/ 79) brauchen für ‹ (Sünden) erlassen › parduner bzw. perdunar (z. B. Matth. 9, 2 - 6). 117 It. Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen im Br. machen › , sowie teilweise unter (23 e), in der Verbindung remiss in liberted, verwendet. In beiden Fällen liegen wohl Lehnübersetzungen aus dem Italienischen vor (rimettersi in cammino, rimesso in libertà). Im 19. Jahrhundert ist das Präfix z. T. auch lautlich an das Italienische angepasst (23 c). Zu bemerken ist schliesslich, dass die ‹ Rückkehr zu einer früheren Befindlichkeit › in Verbindung mit metter im Bündnerromanischen weniger mit dem Wortbildungsmorphem reals mit lexikalischen Mitteln (darcheu ‹ wieder › ) sowie mit der Periphrase tuornar a + Inf. bezeichnet wird, wie folgende Entsprechungen der Schulser Bibel zu Diodatis Bibelübersetzung verdeutlichen: 24 a) . . . vuotavano la cassetta; poi la riportavano, e la rimettevano nel suo luogo. (D IODATI 1607: 2. Par. 24, 11) . . . sv œ davan la chaschetta: lhura la purtavan els via, è la mateivan darcheu in seis l œ . (Vulpius/ Dorta 1678/ 79) 24 b) Poi egli si rimetteva il velo in sul viso . . . (D IODATI 1607: Exod. 34, 35) El lhura turnava à metter la cuverta sün sia vista . . . (V ULPIUS / D ORTA 1678/ 79) Die Tatsache, dass remetter selten zur Bezeichnung von Bewegungen verwendet wird (wobei bei den wenigen diesbezüglichen Belegen der italienische Einfluss wahrscheinlich ist), sowie die Tatsache, dass auch die meisten übrigen Verwendungen Entsprechungen im Italienischen haben und oft in Texten auftreten, in denen der italienische Einfluss anderweitig nachweisbar ist, deuten darauf hin, dass die hier besprochene Präfixbildung mit ihrem weiten semantischen Spektrum zumindest auch dem Italienischen verpflichtet ist. Leichter lassen sich weitere Präfixbildungen zu metter auf das Italienische zurückführen. Aufgrund des Präfixes gibt sich suottametter ‹ unterstellen, unterbreiten › als Italianismus (< it. sottomettere) zu erkennen. Das bei B IFRUN (1560: Hebr. 12, 9) bezeugte, in der älteren Literatur isoliert dastehende suotmetter dürfte eine lautliche Anpassung von it. sottomettere (an einheimisches suot < SUBTU + metter) darstellen. Sonst liegen durchweg Belege vor, die auf die italienische Herkunft verweisen, z. B. suottamis[s] (AnSR 11: 33, 16./ 17. Jh.), suottametta (P APA 1613: 11), sottometain (W IETZEL 1668: 37), sottamiss (V ULPIUS / D ORTA 1678/ 79: Hebr. 2, 5). Das in der älteren Literatur belegte s ’ intrametter ‹ sich vornehmen, sich bemühen, etwas zu tun; sich unterstehen; sich für jdn./ etwas einsetzen › (cf. DRG 9: 522 s., erstmals in Gian Travers ’ Epos vom Müsserkrieg von 1527: m ’ he intramis «habe ich mich bemüht», AnSR 56: 60) verrät seine italienische Herkunft aufgrund des Präfixes, das die bereits bei sotto- > suottaangetroffene Anpassung des unbetonten -o- (> -a- [ ɐ ]) erfahren hat (intromettersi > s ’ intrametter), sowie aufgrund der Semantik (cf. B ATTAGLIA 8: 369 ‹ impegnarsi, dedicarsi, disporsi [a un ’ attività, a un ’ impresa]; adoperarsi, darsi da fare . . . › ). In jüngerer Zeit ist die Bildung auch ohne lautliche Anpassung, mit der im Italienischen zentralen Bedeutung ‹ sich einmischen › , nachgewiesen (s ’ intrometter, AnSR 32 118 Matthias Grünert [1918]: 112, cf. DRG 9: 523). Bis heute gebräuchlich ist s ’ intrametter ‹ sich einmischen › . Der erste Beleg für permetter ‹ erlauben › (< permettere) stammt aus einem 1626 publizierten, aus dem Italienischen übersetzten Katechismus (parmetta, RC 6: 223). Im 18. Jahrhundert ersetzt permetter im Engadin das ursprünglich für ‹ erlauben › übliche lubir (< ahd. LAUBJAN ), das in Rheinischbünden bis heute der normale Ausdruck ist (cf. DRG 11: 481). Der Italianismus dis(ch)metter ‹ beseitigen, aufheben › (< dismettere, cf. B ATTAGLIA 4: 697) taucht fast gleichzeitig in der Surselva und im Engadin auf: beim italienischen, im Lugnez tätigen Kapuziner Zaccaria da Salò (dismetter questa plonta «diesen Baum fällen», RC 1: 91, v. J. 1685/ 87) und in den Gemeindestatuten von Sent (Anno 1700 [ais] fat ledscha chia tuott dismetta las chiavras infina duos per chiasa «Im Jahre 1700 ist gesetzlich festgelegt worden, dass jedermann seine Ziegen, bis auf zwei, zu beseitigen habe», Rq. B1: 483). Im 19. und 20. Jahrhundert weisen vielfältige Verwendungskontexte die Lebendigkeit dieses Wortes v. a. für die Surselva nach: dismess de lur plazzas «ihrer Ämter enthoben» (Gr. Rom. 1837: Nr. 43, 172.2), dismetter ina schliata disa «eine schlechte Gewohnheit ablegen» (Gas. Rom. 1862: Nr. 7, 3.1), dismetter la peina de mort «die Todesstrafe abschaffen» (Patr. 1881: Nr. 7, 2.1), dismetter il plastic «Plastik entsorgen» (Gas. Rom. 1993: Nr. 82, 16.5), dismetter neiv «Schnee räumen» (Gas. Rom. 1995: Nr. 84, 15[22].2). Das im Italienischen erst seit dem 17. Jahrhundert belegte scommettere ‹ wetten › (cf. B ATTAGLIA 18: 135) ist zunächst für das Münstertal (scometer, M ENZ 1759: 472), dann für das Oberengadin bezeugt (scummetter, C ARISCH 1848: 106; scommetter, P ALLIOPPI 1895). Für das Münstertal und das Unterengadin führen die zitierten Wörterbücher (ibid.) die alternativen Ausdrücke far patscha ['pa ʨɐ ] (M ENZ 1759) und metter pach [pa ʨ ]/ pà an (C ARISCH 1848, P ALLIOPPI 1895), in denen sich zu pajar ‹ bezahlen › gebildete Verbalsubstantive und der Fortsetzer von PACTU überlagern (cf. HWR: s. pag). Inzwischen ist der gebräuchliche Ausdruck für ‹ wetten › im ganzen Engadin und im Münstertal scumetter, während das rheinische Gebiet, wie bereits im Fall von permetter vs. lubir, den älteren Ausdruck metter pag ( ← pagar ‹ bezahlen › ) bewahrt hat. Neben den bisher genannten einheimischen und aus dem Italienischen entlehnten Bildungen mit -metter kennt das Bündnerromanische eine Reihe gelehrter Bildungen, die Entsprechungen in anderen romanischen Sprachen haben und vor allem durch die Rechts-, Verwaltungs- und Pressesprache des 19. Jahrhunderts in Gebrauch gekommen sind: admetter ‹ zulassen › , emetter ‹ ausstellen, aussenden › , ometter ‹ auslassen › , transmetter ‹ übermitteln › . Lautlich als gelehrt präsentiert sich s ’ intermetter ‹ sich einmischen, einsetzen › (DRG 9: 522 s.), das eine Latinisierung des oben besprochenen Italianismus s ’ intrametter/ s ’ intrometter darstellt. Schwer zuordnen bezüglich Lehn- und Erbwörtlichkeit lässt sich das für das 16. und 17. Jahrundert belegte cumetter ‹ begehen › , das im 17. Jahrhundert 119 It. Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen im Br. durch eindeutig gelehrtes commetter abgelöst wird (DRG 4: 38). Die rechts- und kirchensprachlichen Kontexte (cumis adulteri «Ehebruch begangen», B IFRUN 1560: Matth. 5, 28; cumiss l ’ g pchio «die Sünde begangen», P APA 1613: 78) deuten für das ältere Engadinische auf die lautliche Anpassung von gelehrtem COMMITTERE hin. 3. Verbalsubstantive Bei verschiedenen Typen von Verbalsubstantiven soll kurz die mehr oder weniger deutliche Erkennbarkeit von Entlehnungen präsentiert werden. Substantive, die auf italienischen Perfektpartizipien basieren, treten dann am deutlichsten als Entlehnungen in Erscheinung, wenn das Partizip (bzw. das Verb insgesamt) nicht ebenfalls entlehnt worden ist: vista ‹ Sicht › (< it. vista) neben einheimischem vis(sa) ‹ gesehen › , seduta ‹ Sitzung › (< it. seduta) neben sezzü(da) ‹ gesessen › , surs. scoperta ‹ Entdeckung › (< it. scoperta) neben scuvretg(a) ‹ entdeckt › , surs. valeta ‹ Wert › (it. < valuta) neben valiu ‹ gegolten › . Im Engadinischen wurden jedoch auch zu Verben des Erbwortschatzes Perfektpartizipien aus dem Italienischen entlehnt: re-/ rispost ‹ geantwortet › (< it. re-/ risposto) zu respuonder < RESPONDERE , compars ‹ erschienen › (< it. comparso) zu cumparair < COMPARERE (dieses ist auch in latinisierender bzw. italianisierender Graphie belegt: comparair), cuors ‹ geflossen › (< it. corso) [cf. V ELLEMAN 1924: 932 s., 977 und 984]. Wenn zu solchen Worttypen auch aus dem Italienischen entlehnte Verbalsubstantive vorlagen, konnten sich diese gleichsam als Konversionen aus den Partizipien präsentieren: re-/ risposta ‹ Antwort › (< it. re-/ risposta) neben re-/ rispost ‹ geantwortet › , cum-/ comparsa ‹ Erscheinung › (< it. comparsa) neben compars ‹ erschienen › . Die gebräuchlichen Verbalsubstantive resposta und cumparsa stehen jedoch den gebräuchlichen einheimischen Partizipien respus(a) und cumparü(da) gegenüber, neben denen sich die entlehnten Partizipien nicht durchsetzen konnten. Im Falle von resposta/ respost ist das Substantiv auch viel früher belegt - seit dem Beginn der Schrifttradition - während das Partizip erst im 19. Jahrhundert auftaucht. Häufig beobachtet man in Fällen, in denen ein Verb aus dem Italienischen entlehnt wurde, die gleichzeitige Entlehnung des auf dem Partizip basierenden Substantivs: agiunta ‹ Ergänzung › (< it. aggiunta) neben ebenfalls entlehntem agiundscher/ agiunt, surpraisa (< it. sorpresa) ‹ Überraschung › neben surprender/ surprais, scumissa ‹ Wette › (< it. scommessa) neben scumetter/ scumiss, permiss ‹ Erlaubnis › (< it. permesso) neben permetter/ permiss, prodotto ‹ Erzeugnis, Produkt › (< it. prodotto) neben nicht angepasstem † prodot und angepasstem prodüt ‹ hergestellt › (cf. V ELLEMAN 1924: 995), zu prodü(e)r, bei welchem das HWR eine Anpassung von it. produrre an einheimisches ardü(e)r (< REDUCERE ) annimmt. 120 Matthias Grünert In folgendem Fall hat das Verb auch gelehrte Züge: proposta ‹ Vorschlag › (< it. proposta) steht neben ebenfalls aus dem Italienischen entlehntem propost ‹ vorgeschlagen › (V ELLEMAN 1924: 976 s.), der Infinitiv ist jedoch eine Neuentlehnung von lat. PROPONERE (von dem sich it. proporre abhebt), während der Präsensstamm propuon-, von welchem ein schwaches Partizip (propuonü) abgeleitet wurde, auch vom Italienischen her erklärbar ist (propon-). Bezüglich zweier wichtiger Suffixbildungen, it. -mento/ engad. -maint/ surs. -ment und it. -zione/ bündnerrom. -ziun, fällt eine Bevorzugung ersterer im Italienischen und letzterer im Bündnerromanischen auf. Wird ein Verb, dessen zugehöriges Substantiv im Italienischen auf -mento lautet, ins Bündnerromanische entlehnt, ist zwar in vielen Fällen auch das Substantiv entsprechend gebildet, was auf Entlehnung aus dem Italienischen hinweist: divertir ‹ unterhalten › (< divertire) - divertimaint ‹ Unterhaltung › (< divertimento), proveder ‹ versorgen › (< provvedere) - provedimaint ‹ Versorgung › (< provvedimento), rinforzar ‹ verstärken › (< rinforzare) - rinforzamaint ‹ Verstärkung › (< rinforzamento, jedoch auch engad. rinforz < it. rinforzo), surs. ademplir ‹ erfüllen › (< adempire × surs. plein ‹ voll › ) - adempliment ‹ Erfüllung › (< adempimento). Daneben finden sich Fälle, in denen das Bündnerromanische mit der Verwendung von -ziun vom Italienischen abweicht: zu adattar ‹ anpassen › (< adattare) wird adattaziun gebildet (neben engad. adattamaint), während das Italienische nur adattamento kennt, entsprechend zu allontanar ‹ entfernen › → allontanaziun (vs. it. allontanamento) und zu avicinar ‹ annähern › → avicinaziun (vs. it. avvicinamento). Engad. allevamaint ‹ Viezucht › folgt it. allevamento, während surs. allevaziun abweicht. Neben engad. spostamaint und surs. spustament ‹ Verschiebung, Verlegung, Aufschub › (LQ 2004: Nr. 220, 1.2 bzw. 2005: Nr. 41, 5.5), in Entsprechung zu it. spostamento, verzeichnet man auch engad. und surs. spustaziun (LQ 2004: Nr. 201, 10.1 bzw. 218, 3.4). Bei Konversionen, die auf dem Präsensstamm entlehnter Verben basieren, liefert das Genus einen Hinweis auf die Anlehnung an das Italienische. Maskuline Bildungen sind z. B. acquist ‹ Erwerb › (zu acquistar < it. acquistare) nach it. acquisto, imbarraz ‹ Verlegenheit › (zu imbarrazar < it. imbarazzare) nach it. imbarazzo, rinfrais-ch ‹ Erfrischung › (zu rinfrais-char < it. rinfrescare) nach it. rinfresco oder svilup ‹ Entwicklung › (zu sviluppar < it. sviluppare) nach it. sviluppo. Feminine Bildungen sind dagegen conquista ‹ Eroberung › (zu conquistar < it. conquistare) nach it. conquista, consegna ‹ Abgabe › (zu consegnar < it. consegnare) nach it. consegna, pronunzcha ‹ Aussprache › (zu pronunzchar < it. pronunziare) nach it. pronunzia oder scomunicha ‹ Exkommunizierung › (zu scomunichar < it. scomunicare) nach it. scomunica. Fälle, in denen einem italienischen Maskulinum ein bündnerromanisches Femininum entspricht, lassen sich oft aufgrund des Einflusses anderer Wörter erklären. So wird sich das von C ARIGIET (1882) verzeichnete surs. acquista für ‹ Eroberung, 121 It. Einfluss in Lexemverbänden und Wortformenparadigmen im Br. Erwerbung › , bei dem die erste angeführte Bedeutung auffällig ist, dem femininen Substantiv conquista ‹ Eroberung › angepasst haben. Surs. incarica ‹ Auftrag › (zu incaricar < it. incaricare), das von it. incarico und engad. † incaric (P ALLIOPPI 1895) abweicht, scheint durch carica ‹ Amt › (< it. carica) beeinflusst worden zu sein. Und surs. renfatscha ‹ Vorwurf › (zu renfatschar < it. rinfacciare), das nicht it. rinfaccio folgt, wurde wohl zu fatscha ‹ Gesicht › in Bezug gesetzt. 4. Schluss Das in unserem Beitrag präsentierte Belegmaterial macht nachvollziehbar, wie das Bündnerromanische einerseits seine Wortbildungs- und grammatische Morphologie durch die Nachbildung oder die phonetische Anpassung italienischer Bildungen anreichert und andererseits morphologische Beziehungen des Italienischen reproduziert, indem es ein Verb samt dem starken Partizip und/ oder zusammen mit dem zugehörigen Verbalsubstantiv aus dem Italienischen entlehnt. Besonders im Engadinischen hat der Kontakt zum Italienischen die Morphologie des Verbs und dessen Bezüge zum Verbalsubstantiv wesentlich geprägt. 5. Bibliographie Am. Piev. = Ilg Amitg dil Pievel, Surrhein/ Somvitg 1841; Cuera 1849 - 56 B ATTAGLIA = S ALVATORE B ATTAGLIA , Grande dizionario della lingua italiana, 22 vol., Torino, UTET, 1961 - 2004 Biblia 1544: Biblia sacrosancta Testamenti Veteris & Noui, Tiguri, Christ. Frosch. BR (+ Nr.) = L IGIA R OMONTSCHA (ed.), Bibliografia retoromontscha. Bibliographie des gedruckten bündnerromanischen Schrifttums von den Anfängen bis zum Jahre 1930, Chur, Schuler, 1938 B IFRUN , Iachiam 1560: L ’ g Nuof Sainc Testamaint da Nos Signer Iesu Christi, Basilea, Jacobus Parcus Kündig (zitiert nach: Theodor G ARTNER , Das Neue Testament. Erste rätoromanische Übersetzung von Jakob Bifrun 1560, Dresden/ Halle a. S., Niemeyer, 1913) B ONIFACI , Daniel 1601: Catechismus. 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Il dizionario, Dictionnaire Étymologique Roman - DÉRom, prende atto del cambiamento avvenuto nel paradigma della romanistica nel corso dell ’ ultimo secolo. La monografia vuole offrire agli studiosi meno esperti un quadro delle conoscenze di base che richiede la ricerca etimologica friulana; ne presento il piano dell ’ opera e chiedo l ’ aiuto dei colleghi per migliorarlo e completarlo. 1. Dictionnaire Étymologique Roman - DÉRom 1.1 Il progetto del Dictionnaire Étymologique Roman - DÉRom (www.atilf.fr/ DERom) vuole realizzare un ’ opera di consultazione che contenga il lessico ricostruito del protoromanzo. La ricostruzione del lessico viene condotta innanzitutto sulla base della comparazione tra le lingue neolatine derivate dal protoromanzo. Tra le lingue che vanno incluse obbligatoriamente nella comparazione ci sono tutti e tre i rami ladini: romancio, ladino dolomitico e friulano. L ’ iniziativa è condotta da due centri legati all ’ elaborazione del Französisches Etymologisches Wörterbuch - FEW e del Lessico Etimologico Italiano - LEI: il Centro Nazionale della Ricerca Scientifica di Nancy e l ’ Università del Saarland di Saarbrücken. La dirigono Éva Buchi e Wolfgang Schweickard. Nel collettivo ci sono alcuni specialisti delle lingue ladine: Wolfgang Dahmen, Maria Iliescu, Johannes Kramer, Paul Videsott e Giorgio Cadorini. Preziose consulenze offre Ricarda Liver. Il bisogno di un nuovo strumento che si affiancasse al REW di Wilhelm Meyer-Lübke emerse in tutta la sua evidenza già con la tavola rotonda È oggi possibile o augurabile un nuovo REW? , che si svolse nell ’ ambito del XXI Congresso Internazionale di Linguistica e Filologia Romanza del 1995 (Chambon - Sala 1998). Tale necessità è sentita anche dai linguisti che hanno avviato nel 2008 il progetto comune tra Nancy e Saarbrücken che nel corso di un biennio ha condotto all ’ elaborazione della metodologia del DÉRom ed alla precisazione dei suoi obiettivi. 1.2 Nella parte conclusiva di questa prima fase ebbe luogo a Nancy l ’ École d ’ été franco-allemande en étymologie romane (26 - 30 luglio 2010), nel cui corpo docente figurava anche Johannes Kramer. Il successo dell ’ iniziativa superò ogni aspettativa degli organizzatori. I partecipanti furono ben 41 e lavorarono intere giornate nella biblioteca dell ’ unità di ricerca ATILF per elaborare gli articoli assegnati. Un gran numero degli iscritti all ’ École d ’ été prosegue tuttora la collaborazione con il DÉRom, che attualmente dispone di un collettivo che copre per origine e per competenze tutta la Romània europea. Determinante per il successo del corso estivo fu specialmente l ’ adesione dei giovani ricercatori al moderno paradigma della romanistica comparata. E proprio l ’ applicazione del paradigma moderno della romanistica comparata è al centro del dibattito suscitato dalla presentazione del DÉRom, due mesi dopo, al XXVI Congresso Internazionale di Linguistica e Filologia Romanza, tenutosi a Valencia nel settembre 2010. Frutto di quel dibattito sono, per esempio, la recensione di Alberto Vàrvaro e la relativa risposta dei direttori del DÉRom pubblicate entrambe nel numero 75 della Revue de linguistique romane (Vàrvaro 2011; Buchi - Schweickard 2011). 1.3 È importante sottolineare che il paradigma romanistico applicato al DÉRom non ha niente di rivoluzionario. L ’ innovazione sta semplicemente nel prendere atto che ormai abbiamo una serie di conoscenze sulla sociolinguistica e sul contatto linguistico che ci impediscono di accettare passivamente per forza di inerzia gli strumenti elaborati dai grandi romanisti tra l ’ Ottocento e il Novecento. Il discorso riguarda innanzitutto il ruolo del latino letterario nella ricostruzione etimologica: pur rimanendo il latino scritto un importantissimo documento da tenere presente, sono i dati derivanti dalla comparazione tra le lingue della Romània a costituire la base di ogni ricostruzione. Gli studiosi cui nel nostro lavoro facciamo riferimento sono per esempio, oltre ai classici della romanistica, Robert Hall e Robert de Dardel (per es.: H ALL 1976; D ARDEL 1965; D ARDEL - W ÜEST 1993; D ARDEL 1996). La comparazione tra le lingue si basa sulla tradizionale metodologia scientifica fondata nell ’ Ottocento e gradualmente perfezionata fino a oggi. Il testo che viene raccomandato è quello di Anthony Fox (F OX 1995). Per l ’ etimologia neolatina è segnalata la monografia di Pfister e Lupis (P FISTER - L UPIS 2001). 1.4 Lo schema dei rapporti all ’ interno del collettivo non è piramidale. Ogni articolo ha un proprio autore, che conduce la comparazione nell ’ intero ambito neolatino, oltre a consultare le opere classiche della romanistica e a prendere in considerazione il latino classico. L ’ autore segue l ’ articolo dall ’ inizio alla fine della stesura. 126 Giorgio Cadorini L ’ autore quando necessario consulta, per approfondire meglio singole componenti della ricerca, i colleghi più esperti nei relativi settori. Prima di arrivare alla pubblicazione dell ’ articolo, l ’ autore lo sottopone a diverse fasi di revisione. Nel corso di queste fasi i colleghi specialisti delle singole aree geografiche, quelli competenti per gli aspetti bibliografici e di documentazione nonché per quelli informatici, e naturalmente i colleghi più esperti, dotati di una visione d ’ insieme della linguistica romanza, esaminano l ’ articolo nelle sue successive versioni e consigliano gli opportuni miglioramenti all ’ autore. Nonostante il numero e la provenienza disparata degli autori, l ’ unitarietà dell ’ opera è garantita dalla sostanziale omogeneità del paradigma romanistico così come viene insegnato in gran parte delle università europee. Un importante contributo all ’ unitarietà è anche il Libro azzurro, cioè la raccolta delle norme redazionali e di altri strumenti utili per il lavoro del collettivo; ne fa parte ad esempio l ’ elenco di opere da consultare obbligatoriamente nel corso dell ’ elaborazione dell ’ articolo, contenente 130 titoli fra manuali, dizionari e raccolte di testi medievali. Utilissima è la cornice predisposta dall ’ informatico Gilles Souvay per il trattamento informatico dell ’ articolo: grazie ad essa l ’ autore dell ’ articolo si può concentrare sulla ricerca, mentre le norme per la compilazione formale del testo sono sorvegliate da un modulo informatico che crea testi utilizzando il linguaggio marcatore estensibile XML. La forma unitaria finale è inoltre assicurata dalle indicazioni dei revisori. 2. Il friulano nel DÉRom 2.1 Tra le lingue prese in considerazione in ogni articolo ci sono le tre sorelle ladine. Qui illustrerò gli aspetti che riguardano il friulano. Avverto che le disposizioni che lo concernono sono state definite dopo due anni che erano già iniziati i lavori, perciò gli articoli attualmente in linea non sono ancora stati tutti adeguati ed integrati sulla base delle norme che ora esporrò. Il friulano fa parte fin dall ’ inizio degli idiomi di cui ci si occupa nell ’ elaborazione di ogni articolo, essendo esso un ’ Abstandsprache, una lingua storicamente differenziatasi fino a rappresentare una linea evolutiva autonoma. Lo stesso discorso vale per il romancio e il ladino dolomitico. Facilita molto il lavoro il fatto che esista una variante codificata della lingua, costituitasi progressivamente sulla base di un plurisecolare uso scritto. La codifica della grafia è stata definita alla fine del XX secolo dagli operatori culturali e dai linguisti delle università friulane, in collaborazione con i linguisti delle regioni romanze limitrofe (senza dimenticare il ruolo fondamentale giocato da Xavier Lamuela). Il lessico della lingua rilevante per 127 Due progetti etimologici friulani in corso l ’ indagine etimologica è stato raccolto per un secolo da più lessicografi, a partire da Jacopo e Giulio Andrea Pirona, attraverso gli studiosi della SFF «G. I. Ascoli», per arrivare a Giorgio Faggin. La codificazione si è diffusa tra gli utenti della lingua scritta anche grazie al sostegno attivo degli enti locali, Regione Autonoma Friuli Venezia Giulia inclusa, e agli strumenti messi a disposizione dal Centri Friûl Lenghe 2000 - CFL2000 e resi disponibili dalla veste informatica internet messa a punto attraverso il grande lavoro dello studioso Luca Peresson (già autore del supporto informatico delle banche dati lessicografiche del CFL2000) e dei suoi coadiutori, in collaborazione con l ’ Università di Stoccolma. 2.2 La pronta fruibilità degli strumenti lessicali messi a disposizione su internet dal CFL2000 e dall ’ Agenzia Regionale per la Lingua Friulana - ARLeF permette ai DÉRomisti di individuare per la forma friulana la grafia più adatta ai fini della stesura dell ’ articolo. La loro fonte primaria a questo scopo è il Grant Dizionari Bilengâl Talian - Furlan - GDBTF, seguito dal dizionario ortografico di Alessandro Carrozzo (DOF). Durante l ’ elaborazione dell ’ articolo, inoltre, gli autori degli articoli consultano sempre queste cinque altre opere: gli Addenda al REW di Maria Iliescu, il DESF (se l ’ etimo non c ’ è, il Nuovo Pirona), l ’ Atlante Linguistico Italiano e infine l ’ Atlante storico-linguistico-etnografico friulano. La datazione della prima attestazione viene condotta principalmente sulla base della serie di edizioni di carte medievali realizzata da Federico Vicario. Oltre agli indici presenti nei volumi, un magnifico strumento ideato dallo studioso udinese è rappresentato dal sito internet Dizionario Storico Friulano. Alcune attestazioni sono ricavate dall ’ Antologia di Gianfranco D ’ Aronco e dagli Esercizi di versione curati da Paola Benincà e Laura Vanelli. 2.3 Finora (17 agosto 2011) sono stati pubblicati 58 articoli, consultabili nel sito internet del DÉRom, che rappresentano un 10 % abbondante del nucleo panromanzo individuato da Iancu Fischer nel 1969. In questo momento sono in fase di elaborazione circa 200 articoli, alcuni dei quali prossimi alla pubblicazione. Poiché la base di dati degli articoli pubblicati è consultabile anche a partire dalle voci neolatine, vi è possibile cercare informazioni utili anche per studi condotti a partire dalle singole lingue romanze, e non solo limitati alla ricostruzione del protoromanzo in senso stretto. Comunque proprio il ruolo centrale del protoromanzo rappresenta la novità principale del progetto DÉRomista. Ciò che emerge dal lavoro finora svolto per il DÉRom è che con la comparazione tra le lingue neolatine è ineluttabile evidenziare e descrivere la ricca variazione all ’ interno dell ’ antico 128 Giorgio Cadorini orbe latino su tutti i piani: geografico, sociale, diacronico, ma anche diamesico. (Buchi - Schweickard in corso di stampa.) La presa d ’ atto che è fondamentale applicare coerentemente la metodologia comparatistica anche al paradigma romanistico è la chiave del successo crescente che il progetto per il DÉRom gode tra i romanisti e che ha già portato alla costituzione di un gruppo di lavoro di più di cinquanta collaboratori attivi in dodici paesi non solo neolatini. 3. La monografia 3.1 Ho illustrato per primo il progetto del DÉRom non solo a causa del suo maggiore significato, ma anche perché il secondo progetto, la monografia, è al DÉRom strettamente legato, anche se all ’ inizio non era così. Il primo stimolo a concentrare i miei studi friulanistici sull ’ etimologia mi venne due anni fa da una preziosa conversazione con Federico Vicario. L ’ opportunità di coltivare l ’ etimologia friulana mi fu pochi giorni dopo confermata da Giovanni Frau. Fu così che cominciai a preparare un progetto etimologico fino a definirne le caratteristiche principali. Nel corso della preparazione venni a sapere dell ’ École d ’ été francoallemande en étymologie romane di Nancy e non persi l ’ occasione di iscrivermici. Il salto di qualità compiuto in quella settimana dalle mie conoscenze sull ’ etimologia mi indusse a interrompere la stesura del libro, di cui avevo già stabilito l ’ indice e scritto un paio di capitoletti, per concentrarmi sull ’ assimilazione della metodologia DÉRomista. L ’ altra opera con cui la monografia è coordinata è il dizionario monolingue del friulano che il CFL2000 ha da sempre in programma. Fin dai primi giorni ne ho parlato con alcuni esponenti del collettivo, che prevede nell ’ esposizione del lessico anche una componente etimologica. 3.2 Ora che conosciamo le principali tappe che l ’ elaborazione del progetto etimologico ha percorso, è giunto il momento di spiegare in cosa consiste. Il mio lavoro dei prossimi anni sarà finalizzato alla stesura di un manuale introduttivo per i romanisti che vorranno occuparsi dell ’ etimologia friulana. Allo stesso tempo il manuale esporrà le scelte e i fondamenti metodologici della componente etimologica delle voci dell ’ auspicato dizionario monolingue friulano. Il libro servirà anche come supporto per quei collaboratori del DÉRom che vorranno approfondire il ruolo del friulano nella romanistica comparata o che avranno semplicemente bisogno di uno strumento di consultazione per interpretare i dati friulani pertinenti alle loro ricerche. 129 Due progetti etimologici friulani in corso Poiché è bene che ogni progetto umano contenga aspirazioni utopistiche, parte di questo progetto è anche un piccolo dizionario etimologico, la cui nomenclatura è individuata sfruttando la classificazione dei lessemi elaborata per i lavori lessicografici del CLF2000. Le analisi etimologiche non si troveranno solo nel dizionarietto. Alcuni capitoletti tratteranno gruppi di parole apparentate quanto a campo semantico oppure da comuni sviluppi etimologici. In alcuni casi il capitoletto può riguardare un gruppo di parole significative per la tradizione nazionale friulana. 3.3 Qui di seguito si trova l ’ indice del libro nella versione elaborata prima dell ’ École d ’ été. Nei commenti parlerò degli aspetti che vorrei includere esplicitamente per completare l ’ indice, ma stabilirò la nuova versione quando mi sentirò metodologicamente più preparato grazie all ’ esperienza che accumulo lavorando al DÉRom. Lascio l ’ indice nella lingua del libro, il francese. Essendo il contributo destinato ai romanisti in generale, scriverlo in friulano ne limiterebbe controproduttivamente la fruizione. La scelta della lingua tiene anche conto del mio ambiente di lavoro, la comunità dei linguisti cechi, tra i quali il francese è ancora la lingua neolatina più diffusa. Vi prego di suggerirmi i miglioramenti opportuni e di segnalarmi gli errori. L ’ indice previsto prima dell ’ École d ’ été: 1. Description du livre 1.2. La politique linguistique du livre 2. Informations utiles pour s ’ orienter dans l ’ étymologie frioulane 2.2. Ce qu ’ est la langue frioulane 2.3. Histoire des études 2.4. Le latin a) De l ’ indo-européen à la langue de Rome b) La latinisation c) Le latin parlé à Aquilée d) Du latin au frioulan La division du latin d ’ Aquilée La frontière Romània-Est/ Romània-Ouest bouge 2.5. Les autres strates a) Le substrat b) Les adstrats c) Les superstrats d) Les strates dans les langues des immigrés 2.6. Les sous-dialectes 2.7. La codification 130 Giorgio Cadorini 3. Ensembles de mots 3.2. La famille (frut, femine, mamul) 3.3. Les mémoires de l ’ antiquité romane (larin, magne, cjastielans) a) Aquilée et la latinisation de l ’ Europe centrale et des Balkans 3.4. Les mémoires de l ’ antiquité grecque (tasse, vuarzine) 3.5. Le christianisme d ’ Aquilée a) Aquilée et la christianisation de l ’ Europe centrale 3.6. Les mémoires du Moyen Âge 3.7. Les mots de l ’ identité nationale frioulane (fogolâr, ladin, polente) 3.8. L ’ émigration (lusine, lasimpon, bintar, cramar, scrassigne) 3.9. La géographie du Frioul 4. Dictionnaire étymologique 4.2. La nomenclature 4.3. La structure de l ’ article 4.4. La base de données Di dulà 4.5. Dictionnaire 5. Bibliographie et sources 6. Tableau des abréviations 3.4 Prima di riportare l ’ indice ho accennato ad alcuni aspetti che vorrei includere esplicitamente per integrarlo. Innanzitutto mi manca un discorso sulla datazione in generale, e in particolare sulle prime attestazioni. Altri due elementi mancanti sono in parte collegati con il discorso della datazione. Da una parte manca una presentazione delle fonti dove cercare le attestazioni più antiche. Qui raccomanderei le stesse fonti utilizzate dal DÉRom: le edizioni di carte medievali pubblicate da Federico Vicario, gli Esercizi di versione nell ’ edizione commentata da Paola Benincà e Laura Vanelli, infine l ’ Antologia di Gianfranco D ’ Aronco. Legata parzialmente al discorso sulla datazione è anche la fonetica storica, che ancora per il friulano non è stata esaustivamente descritta. Nel manuale sarà opportuno inserire almeno un prontuario di fonetica storica. 3.5 Il manuale conterrà anche una scheda per la raccolta dei dati necessari o utili allo studio etimologico di una parola friulana. La sua forma attuale è esposta qui sotto. Attualmente non ho ancora deciso se costituire una base di dati con un programma di gestione predeterminato, come pensavo in origine, o se creare una scheda con un linguaggio marcatore come HTML o XML. La scheda è ancora in friulano, per la pubblicazione verrà preparata la traduzione francese. Anche qui vi prego di suggerirmi i miglioramenti opportuni e di segnalarmi gli errori. 131 Due progetti etimologici friulani in corso La scheda della base di dati: Numar di schede: Numar di ordin de schede. Vôs furlane: La peraule furlane inte forme che si cjate intal leme dal GDB TF. Categorie gramaticâl: Al varès di bastâ di meti chê che e je intal GDB TF. Marche: Chi si segnin caratars particulârs (arcaisims, neologjisims e v. i.). Par francês: Ecuivalent francês (la lenghe de romanistiche comparade). Par cec: Ecuivalent cec. Pirone: La forme intal prin Pirone. Pirone chel gnûf: La forme inta Il nuovo Pirona. Faggin: La forme intal Faggin. Prime forme atestade An di prime atestazion Secul di prime atestazion Altris atestazions Ladin dolomitan Significât ladin dolomitan Romanç Significât romanç Numar dal REW REW DÉRom Etimologjie: La etimologjie cun dute la discussion. In curt: Sintesi da la etimologjie, chê che a podaran meti intai dizionaris furlans. Etim Lenghe dal etim Vôs parintis e chês altris leaduris: Peraulis derivadis, compuestis e v. i. Bibliografie Corpus: Di dulà che a vegnin lis peraulis (GDB TF, DÉRom, articui e v. i.) Altris robis: Cjamp libar pes notis e v. i. 3.6 Spero che questa comunicazione abbia fornito informazioni utili agli studiosi delle lingue ladine su queste due opere in corso di elaborazione nel campo dell ’ etimologia romanza e friulana in particolare. È evidente che ci sono molti aspetti da migliorare con l ’ aiuto dei consigli di colleghi competenti. Grazie anticipate a chi vorrà aiutare. 4. Opere citate ASLEF = P ELLEGRINI , Giovan Battista (dir.) 1972 - 1986: Atlante storico-linguisticoetnografico friulano, 6 volumes, Padoue/ Udine, Istituto di glottologia e fonetica dell ’ Università/ Istituto di filologia romanza. 132 Giorgio Cadorini B ENINCÀ , Paola/ V ANELLI , Laura (ed.) 1998: Esercizi di versione dal friulano in latino in una scuola notarile cividalese (sec. XIV): testo, traduzione italiana, commento linguistico, Udine, Forum. B UCHI , Éva & S CHWEICKARD , Wolfgang 2011: « Sept malentendus dans la perception du DÉRom par Alberto Vàrvaro». RLiR 75, 305 - 312. B UCHI , Éva & S CHWEICKARD , Wolfgang [in stampa]: Per un ’ etimologia romanza saldamente ancorata alla linguistica variazionale: riflessioni fondate sull ’ esperienza del DÉRom. C HAMBON , Jean-Pierre/ S ALA , Marius (dir.) 1998: « Tavola rotonda. È oggi possibile o augurabile un nuovo REW? », in: R UFFINO , Giovanni (ed.): Atti del XXI Congresso Internazionale di Linguistica e Filologia Romanza (Centro di studi filologici e linguistici siciliani, Università di Palermo 18 - 24 settembre 1995). Tübingen: Niemeyer: 3: 983 - 1023. D ’ A RONCO , Gianfranco 1960: Nuova antologia della letteratura friulana, Udine/ Tolmezzo, Aquileia. D ARDEL , Robert de,1965: Recherches sur le genre roman des substantifs de la troisième déclinaison, Genève, Droz. D ARDEL , Robert de/ Wüest Jakob 1993: «Les systèmes casuels du protoroman. Les deux cycles de simplification», in: Vox Romanica 52, 25 - 65. D ARDEL , Robert de,1996: À la recherche du protoroman, Tübingen, Niemeyer. DÉRom = B UCHI , Éva & S CHWEICKARD , Wolfgang (dir.) 2008 - : Dictionnaire Étymologique Roman (DÉRom), Nancy, ATILF, site Internet (http: / / www.atilf.fr/ DERom). DESF = Z AMBONI , Alberto et al.1984 - 1987: Dizionario etimologico storico friulano, Udine, Casamassima. DOF = C ARROZZO , Alessandro) 2008: Cemût si scrivial? Dizionari ortografic: Talian/ furlan, Furlan/ talian, Udine, Informazion furlane, site internet: http: / / www. cfl2000.net/ index.php? loadpage=section&id=74. FEW = W ARTBURG , Walther von et al. 1922 - 2002: Französisches Etymologisches Wörterbuch. Eine darstellung des galloromanischen sprachschatzes, 25 volumes, Bonn/ Heidelberg/ Leipzig-Berlin/ Bâle, Klopp/ Winter/ Teubner/ Zbinden. F ISCHER , Iancu 1969: «Fondul panromanic», in: C OTEANU , Ion (ed.), Istoria limbii române 2, Bucarest, EARPR, 110 - 116. F OX , Anthony, 1995: Linguistic Reconstruction. An Introduction to Theory and Method, Oxford, Oxford University Press. GDBTF = 2009 - : Grant Dizionari Bilengâl Talian-Furlan, Udine, Agjenzie Regjonâl pe Lenghe Furlane, site internet: http: / / www.cfl2000.net. H ALL , Robert A. Jr. 1976: Comparative Romance Grammar, vol. II: Proto-Romance Phonology, New York/ Oxford/ Amsterdam, Elsevier. I LIESCU , Maria 1972: «Addenda frioulanes au REW», RRLi 17, 185 - 191. P FISTER , Max/ S CHWEICKARD , Wolfgang (dir.) 1979 - : Lessico Etimologico Italiano, Wiesbaden, Reichert. P FISTER , Max/ L UPIS , Antonio 2001: Introduzione all ’ etimologia romanza, Soveria Mannelli, Rubbettino, 183 - 276. 133 Due progetti etimologici friulani in corso P IRONA , Giulio Andrea/ C ARLETTI , Ercole/ C ORGNALI , Giovan Battista 1992 2 [1967 1 ]: Il nuovo Pirona. Vocabolario friulano, Udine, Società Filologica Friulana. REW = M EYER -L ÜBKE , Wilhelm 1930 - 1953 [1911 - 1921]: Romanisches Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg, Winter. V ÀRVARO , Alberto,2011: «Il DERom: un nuovo REW? », RLiR 75, 297 - 304. V ICARIO , Federico: Dizionario Storico Friulano http: / / www.dizionariofriulano.it/ , [cit. 17. 8. 2011]. V ICARIO , Federico, 2007 - : Quaderni gemonesi del Trecento, Udine, Forum. V ICARIO , Federico 2006 - 2008: Carte friulane antiche della Biblioteca Civica di Udine, 3 volumes, Udine, Comune di Udine. V ICARIO , Federico 2001 - 2005: I Rotoli della fraternità dei calzolai di Udine, 5 volumes, Udine, Comune di Udine. 134 Giorgio Cadorini Teil II Aktuelle Sprache Part II Linguatg actual Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser Unser Beitrag befasst sich mit den unterschiedlichen Möglichkeiten der Fragesatzbildung in den einzelnen Varietäten des Rätoromanischen 1 . In einem sprachvergleichenden Überblick zeigen wir auf, wie diese Varietäten Fragesätze bilden. Im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen die Strategien zur Fragesatzbildung ohne Subjekt-Verb-Inversion, der Gebrauch der Konjunktion che im Fragesatz sowie im Fragesatz auftretende typische Verbformen. Des Weiteren diskutieren wir, inwiefern die syntaktische Variation im rätoromanischen Fragesatz mithilfe von generativen Analysen erfasst und erklärt werden kann. 1. Einleitung Die Untersuchung der Syntax von Fragesätzen ist generell ein sehr komplexes Unterfangen, da verschiedene Variablen zu berücksichtigen sind. Insbesondere ist zunächst zu unterscheiden, ob der Fragesatz ein Fragepronomen enthält oder nicht, also eine Konstituentenfrage (1 a) oder eine Satzfrage (1 b) ist: (1) a. Wohin gehst du? b. Gehst du nach Rom? Weiterhin muss unterschieden werden, ob der Fragesatz als Nebensatz eingebettet ist («indirekte Frage») (2 a) oder ob es sich um einen Hauptsatz («direkte Frage») (2 b) handelt: (2) a. Ich frage mich, wohin du gehst. b. Wohin gehst du? Weitere zentrale Faktoren für die Syntax von Fragesätzen sind unter anderem (a) die Art und das phonologische Gewicht des Fragepronomens, (b) bei der Konstituentenfrage die grammatikalische Funktion der erfragten Konstituente, (c) die Art des Subjekts ((klitisches) Subjektspronomen vs. Subjekts- 1 Wir möchten uns an dieser Stelle für hilfreiche Anregungen und Kritik bei Maialen Iraola Azpiroz, Bart Jacobs, Stefano Quaglia, und Michael Zimmermann bedanken. nomen) und (d) in einigen Sprachen auch der Grad der Formalität bzw. die Diskurssituation (vgl. z. B. M UNARO 1999, B AYER & B RANDNER 2008). Im Folgenden möchten wir einige dieser Faktoren anhand des Rätoromanischen untersuchen. Wie bereits R OLSHOVEN (2007: 339) hinsichtlich der indirekten (Frage)-Sätze im Surselvischen bemerkt, widmen wir uns damit einem Gebiet, das bislang kaum untersucht worden ist: Zur Betrachtung stehen [. . .] komplexere Syntagmen im Surselvischen. Es geht um die Form abhängiger Sätze. Dieser Erscheinung wurde - eher marginal - in den letzten Jahren ein wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ein Vergleich mit verwandten Phänomenen fehlt jedoch weitgehend. In unserem Beitrag geht es uns nicht nur um die Untersuchung der einzelnen Varietäten des Rätoromanischen, sondern um den Vergleich innerhalb dieser Varietäten einerseits sowie mit anderen romanischen (und germanischen) Sprachen andererseits. Ausgangspunkt unserer Untersuchung ist ein weitgehend anerkannter generativer Ansatz zur Syntax von Fragesätzen in einigen romanischen und germanischen Sprachen. Auf dessen Grundlage arbeiten wir typische Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Rätoromanischen im Vergleich mit diesen Sprachen heraus und diskutieren, ob und inwiefern die rätoromanischen Fragesätze auf ähnliche Weise analysiert werden können. 2. Die Syntax von Fragesätzen in den romanischen Sprachen 2.1 Fragesatzbildung In den germanischen und romanischen Sprachen sind Fragesätze im Hauptsatz häufig durch Subjekt-Verb-Inversion charakterisiert, wohingegen diese Inversion im Nebensatz häufig ausgeschlossen ist. Im Englischen ist hier sogar eine komplementäre Distribution zu beobachten (3). Im Französischen ist die Inversion dann gegeben, wenn das Subjekt ein klitisches Pronomen ist (4): (3) a. When do you come? (Englisch) b. I wonder when you come. (4) a. Quand viens-tu? wann kommst=du ‹ Wann kommst du? › b. Je me demande quand tu viens. ich mich frage wann du kommst ‹ Ich frage mich, wann du kommst. › Im Unterschied zu den meisten germanischen Sprachen besitzen viele romanische Sprachen gleichzeitig Strategien zur Vermeidung der Inversion 138 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser im direkten Fragesatz. Im Französischen beispielsweise bewirkt dies die Fragepartikel est-ce que (5). Einige Dialekte des Französischen, insbesondere das in Quebec gesprochene Französische (6), sowie einige dialektale Varietäten des Frankoprovenzalischen kennen mit der Partikel ti/ tu eine postverbale Entsprechung zu est-ce que, deren Auftreten auf Satzfragen beschränkt ist (S HLONSKY 2012, M ORIN 2009): (5) a. Quand est-ce que tu viens? (Französisch) wann EST - CE - QUE du kommst b. *Quand est-ce que viens-tu? wann EST - CE - QUE kommst=du ‹ Wann kommst du? › (6) a. Tu viens-tu? (Französisch du kommst= TU in Quebec) b. *Viens tu-tu? kommst du= TU ‹ Kommst du? › Im umgangssprachlichen Französischen kann ein Fragesatz auch dann ohne Subjekt-Verb-Inversion gebildet werden, wenn keine Fragepartikel verwendet wird. Das Fragepronomen kann dabei in satzinitialer Position (7 a) oder in situ (7 b), d. h. in der thematischen Position der Konstituente, die es ersetzt, stehen (S HLONSKY 2012): (7) a. Quand tu viens? (Französisch) wann du kommst b. Tu viens quand? du kommst wann ‹ Wann kommst du? › Im Vergleich zu den germanischen und vielen anderen romanischen Sprachen sind diese Umstellungsmöglichkeiten des Französischen ungewöhnlich. In den meisten romanischen Sprachen gestaltet sich eine Kategorisierung von Fragesätzen in Bezug auf die Wortstellung schwierig, da die Subjektspronomina, deren präverbale und postverbale Position in Sprachen wie dem Französischen die vorliegende Wortstellung anzeigen, in unmarkierten Kontexten nicht ausgedrückt werden. So kann im Italienischen die Äußerung in (8) beispielsweise als Deklarativsatz (8 a) gebraucht werden, der die Feststellung macht, dass eine dritte Person ins Kino geht; sie kann jedoch auch eine Satzfrage (8 b) darstellen. Der Unterschied zwischen den beiden Satztypen wird hier allein durch die Intonation signalisiert: (8) Va al cinema (Italienisch) geht ins Kino a. ‹ Er geht ins Kino. › b. ‹ Geht er ins Kino? › 139 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen Angesichts der Unterschiede in der Fragesatzbildung innerhalb der romanischen Sprachen einerseits, aber auch zwischen Haupt- und Nebensatz andererseits stellt sich die Frage, wie diese Variation erfasst und erklärt werden kann. Mit dieser Frage wollen wir uns im folgenden Abschnitt auseinandersetzen, indem wir besprechen, wie man mithilfe der generativen Grammatiktheorie die zu beobachtenden Unterschiede systematisieren und erklären kann. 2.2 Die Analyse von Fragesätzen in der generativen Grammatiktheorie In Bezug auf Fragesätze setzen sich Arbeiten innerhalb der generativen Grammatiktheorie das Ziel, eine einheitliche Analyse für die Fragesatzbildung in den verschiedenen Sprachen zu entwickeln, die sowohl die Regelmäßigkeiten als auch die Unterschiede erfassen kann. Diesbezüglich sind insbesondere die Arbeiten von Luigi R IZZI wegweisend. Im Folgenden diskutieren wir den von R IZZI (1990 a/ 1996) vorgeschlagenen Ansatz insbesondere im Hinblick auf die in (1) und (2) beobachtete komplementäre Distribution der Subjekt-Verb- Inversion zwischen direkter Frage (Hauptsatz) und indirekter Frage (eingebetteter Satz) (siehe auch R IZZI 1990 b). Ausgehend von dem in der generativen Grammatiktheorie angenommenen X ’ -Schema müssen R IZZI zufolge in der direkten Frage sowohl das Fragepronomen als auch das finite Verb obligatorisch in die Komplementiererphrase (CP) angehoben werden. Diese Komplementiererphrase ist wie die anderen in der generativen Grammatiktheorie angenommenen Phrasentypen zweiteilig und besteht aus einer Spezifikator- (SpezCP) und einer Kopfposition (C OMP °): (9) [ CP SpezCP [ C ’ C OMP ° IP]] 2 Die Anhebung des Fragepronomens wird mit der Annahme motiviert, dass Fragepronomina das Merkmal [+wh] tragen und in einer Position auftreten müssen, von der aus sie Skopus über den ganzen Fragesatz erhalten können. Dies ist die Spezifikator-Position der CP (SpezCP), die sich am Anfang des Satzes befindet. Die ebenfalls erforderliche Anhebung des Verbs geht auf das von R IZZI (1990 a/ 1996) formulierte wh-Kriterium 3 zurück: 2 ‹ IP › bezeichnet die funktionale Phrase «Inflection Phrase», die die Flexionsmerkmale des finiten Verbs eines Satzes trägt und unterhalb der CP («Complementizer Phrase») angesiedelt ist, in der sich unter anderem die nebensatzeinleitenden Konjunktionen befinden. 3 Ausgehend von der Tatsache, dass im Englischen fast alle Fragepronomina mit der Buchstabenfolge <wh> beginnen, wird wh in der generativen Grammatik als Symbol für (Konstituenten-)Fragesätze und Fragesätze betreffende Prinzipien verwendet. 140 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser (10) Das wh-Kriterium (Rizzi 1990 a/ 1996: 64, 1990 b: 378) a. Ein wh-Operator muss in eine Spezifikator-Kopf-Konfiguration mit einem X° [+wh] -Kopf treten. b. Ein X° [+wh] -Kopf muss in eine Spezifikator-Kopf-Konfiguration mit einem wh-Operator treten. Das wh-Kriterium verlangt, dass Fragepronomen und finites Verb in benachbarten syntaktischen Positionen stehen, technisch ausgedrückt: Das Fragepronomen in SpezCP muss mit dem finiten Verb in eine Spezifikator-Kopf- Relation innerhalb derselben Phrase treten, um Kongruenz zwischen dem Spezifikator und dem Kopf herzustellen, die wiederum die Interpretation der Äußerung als Frage ermöglicht. Darum stipuliert R IZZI (1990 a/ 1996: 66), dass das finite Verb in direkten Fragen das Merkmal [+wh] trägt und in die Kopf- Position der CP (C° bzw. C OMP ) angehoben wird, um die erforderliche Spezifikator-Kopf-Kongruenz mit dem Fragepronomen in SpezCP herzustellen. Unabhängige Evidenz für die Annahme eines [+wh]-Merkmals auf dem finiten Verb liefern Sprachen wie die Bantusprache Kikuyu oder die austronesischen Sprachen Chamorro oder Palauisch, in denen das finite Verb in (direkten) Fragesätzen eine «besondere Morphologie» aufweist. (11) schematisiert die Derivation der französischen Konstituentenfrage in (4 a) mit der aus der Anhebung des finiten Verbs nach C OMP resultierenden Subjekt-Verb-Inversion: (11) [ CP Quand i [ C OMP viens i ]]-[ IP tu t i t j ]? (Französisch) [+wh] [+wh] Zur Erklärung der Satzstruktur eines indirekten Fragesatzes wie (4 b) hingegen wird angenommen, dass lediglich das Fragepronomen nach SpezCP angehoben werden muss, um Skopus über den eingebetteten Satz ausüben zu können. Die entscheidende Frage ist nun, wie der Tatsache Rechnung getragen werden kann, dass nicht auch das finite Verb in die Kopf-Position der CP bewegt wird, wie es in der direkten Frage (11) der Fall ist. Rizzi nimmt hier an, dass die leere C OMP -Position des indirekten Fragesatzes vom Verb des Matrixsatzes das zur Erfüllung des wh-Kriteriums notwendige [wh]-Merkmal zugewiesen bekommt und dadurch die Anhebung des finiten Verbs überflüssig gemacht bzw. verhindert wird. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch auch, dass stipuliert werden muss, dass das finite Verb im indirekten Fragesatz - anders als im direkten Fragesatz - kein [wh]-Merkmal enthält, das eine Anhebung nach C OMP erfordert. Für den indirekten Fragesatz in (4 b) ergibt sich also die folgende Ableitung: 141 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen (12) Je me demande [ CP quand [ C OMP [+wh] ] [ IP tu viens t i ]]. (Französisch) [+wh] Eine wichtige Konsequenz aus R IZZI s Ansatz besteht darin, dass er einen Bezug zu der so genannten Verb-Zweit-Stellungseigenschaft herstellt, wie sie in den deklarativen Hauptsätzen von Verb-Zweit-Sprachen, zu denen alle germanische Sprachen außer dem Englischen gehören, zu beobachten ist: Bei der Landeposition des finiten Verbs in (11) handelt es sich nämlich genau um diejenige Position, die auch als Landeposition des finiten Verbs in deklarativen Hauptsätzen von Verb-Zweit-Sprachen angenommen wird (vgl. R OBERTS 1993, V IKNER 1995, K AISER 2002). 4 Was die Landeposition des finiten Verbs in deklarativen Hauptsätzen von Verb-Zweit-Sprachen anbelangt, so ist in Sprachen wie dem Deutschen eine komplementäre Distribution zu beobachten: In deklarativen Hauptsätzen (13) sowie in deklarativen Nebensätzen, die nicht durch eine Konjunktion eingeleitet werden (14), muss das finite Verb in der zweiten Position stehen. In Nebensätzen, die durch eine Konjunktion eingeleitet werden (15), tritt das Verb hingegen in satzfinaler Position und nicht in der Verb-Zweit-Stellung auf: (13) a. Morgen kommt meine Mutter. (Deutsch) b. *Morgen meine Mutter kommt. (14) a. Ich glaube, morgen kommt meine Mutter. (Deutsch) b. *Ich glaube, morgen meine Mutter kommt. (15) a. Ich glaube, dass morgen meine Mutter kommt. (Deutsch) b. *Ich glaube, dass morgen kommt meine Mutter. Diese Beobachtungen suggerieren, dass das finite Verb im deutschen Hauptsatz genau diejenige Position einnimmt, in der sich normalerweise die Konjunktion dass befindet, also die Position C OMP . Da eine solche Position per definitionem nur einmal existiert, können die Wortstellungsmuster in (13 - 15) folgendermaßen erklärt werden: In einem durch eine Konjunktion 4 In generativen Analysen im Rahmen des kartographischen Ansatzes, einer neueren Version der generativen Rektions- und Bindungstheorie, auf der die Analyse von R IZZI (1990 a/ 1996) basiert, ist diese Korrelation nicht mehr ganz so klar zu erkennen, da der kartographische Ansatz von einer aufgespaltenen CP («Split-CP») ausgeht. Dies hat zur Konsequenz, dass für die Interrogation eine eigene funktionale Kategorie angenommen wird, die nicht mit der funktionalen Kategorie identisch ist, die für die Verb-Zweit- Effekte postuliert wird. Da die Verb-Zweit-Stellung aber dadurch charakterisiert ist, dass nur eine Konstituente vor dem finiten Verb stehen kann, müssen für Verb-Zweit- Sprachen zusätzliche Regelungen formuliert werden, die verhindern, dass in einer gespaltenen CP gleichzeitig mehr als eine Position vor dem finiten Verb besetzt wird. 142 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser eingeleiteten Nebensatz ist die Position C OMP besetzt und das finite Verb kann nicht angehoben werden, sondern verbleibt am Satzende (in der Position I NFL , der Kopfposition der IP). In einem (deklarativen) Hauptsatz hingegen gibt es keine Konjunktion, die die Position C OMP besetzt, sodass das Verb in diese Position angehoben werden kann. Darüber hinaus wird postuliert, dass in diesem Fall auch die Position SpezCP besetzt sein muss (R OBERTS 1993: 56). So erhält man folgende Strukturen für einen Hauptsatz (16 a) sowie für einen Nebensatz (16 b) im Deutschen: (16) a. [ CP Morgen i [ C OMP kommt j [ IP t i meine Mutter t j ]]] (Deutsch) b. Ich glaube, [ CP [ C OMP dass [ IP morgen meine Mutter kommt]]] (Deutsch) R IZZI postuliert also für die direkten Fragesätze im Französischen und in anderen romanischen Sprachen die gleiche syntaktische Struktur, die für deklarative Hauptsätze in den germanischen Verb-Zweit-Sprachen angenommen wird. Zusätzliche Evidenz für die Annahme einer solchen Parallelität - außer der Parallelität bei der komplementären Distribution zwischen Haupt- und Nebensatz - liefern R IZZI & R OBERTS (1989/ 1996: 93 f), indem sie am Beispiel des Standardfranzösischen (17) und des in Quebec gesprochenen Französischen (18) aufzeigen, dass Verb-Zweit-Effekte dann ausgeschlossen sind, wenn eine Konjunktion vorhanden ist (vgl. auch G OLDSMITH 1981: 553 und 548 f.): (17) a. Peut-être qu ’ il a fait cela? (Französisch) vielleicht dass er hat gemacht das b. Peut-être a-t - il fait cela? vielleicht hat= T =er gemacht das c. *Peut-être qu ’ a-t-il fait cela? vielleicht dass hat= T =er gemacht das ‹ Vielleicht hat er das gemacht? › (18) a. Qui que tu as vu? (Französisch wen dass du hast gesehen in Quebec) b. Qui as-tu vu? wen hast=du gesehen c. *Qui que as-tu vu? wen dass hast=du gesehen ‹ Wen hast du gesehen? › Trotz dieser starken Evidenz ist R IZZI s Ansatz nicht ohne Probleme: Ein gravierendes empirisches Problem, auf das R IZZI (1990 a/ 1996: 80 ff) auch selbst eingeht, besteht darin, dass es im Italienischen - und noch ausgeprägter im Spanischen - keineswegs eine (eindeutige) Asymmetrie zwischen der Haupt- und Nebensatzwortstellung in Fragesätzen gibt. Vielmehr ist im 143 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen Italienischen im eingebetteten Fragesatz ebenfalls die Inversion möglich bzw. sogar erforderlich: (19) a. ? ? Tutti si domandano che cosa il direttore ha detto. (Italienisch) alle sich fragen was der Direktor hat gesagt b. Tutti si domandano che cosa ha detto il directore. alle sich fragen was hat gesagt der Direktor ‹ Alle fragen sich, was der Direktor gesagt hat. › Die direkte Wortstellung (19 a) ist hingegen nur dann akzeptabel, wenn das Verb des Nebensatzes im Konjunktiv steht (R IZZI (1990 a/ 1996: 80)): (20) Tutti si domandano che cosa il direttore habbia detto. (Italienisch) alle sich fragen was der Direktor habe gesagt ‹ Alle fragen sich, was der Direktor gesagt hat. › R IZZI (1990 a/ 1996) ist sich durchaus bewusst, dass diese Fakten eine gewisse Schwächung seines Ansatzes bedeuten. Er muss hier zusätzlich stipulieren, dass in Sätzen wie (19 b) das finite Verb/ Auxiliar des Nebensatzes das Merkmal [+wh] trägt und daher nach C OMP angehoben wird. In Sätzen wie (20) hingegen, so die Annahme, ist das finite Verb aufgrund der Konjunktivmarkierung «schwächer» als ein Verb im Indikativ und muss nicht notwendigerweise das [wh]-Merkmal tragen. Folglich muss es nicht nach C OMP bewegt werden und es kommt nicht zu einer Inversion. Ein zweites Problem für R IZZIS Ansatz stellen die in (7) angeführten Fragesatzbildungsstrategien im Französischen dar: keine Inversion (7 a) und wh-in-situ (7 b). Zur Erklärung des Ausbleibens der Inversion schlägt R IZZI den zusätzlichen Mechanismus der Dynamischen Kongruenz vor, der es ermöglicht, dass der wh-Operator der C OMP -Position die notwendigen wh-Merkmale zuweisen kann, sodass das Verb nicht unbedingt angehoben werden muss. Der Mechanismus wirkt auch im Fall des in situ-Fragepronomens, dessen Anhebung in die Skopusposition nach SpezCP erst auf der Ebene der Logischen Form, also unsichtbar, stattfinden kann (siehe K AISER 2002: 37 f für eine kritische Diskussion dieser Analyse). Schließlich ist noch ein weiteres empirisches Problem zu konstatieren, das R IZZI (1990 a/ 1996: 87, Fn. 16) nur am Rande erwähnt und erst in R IZZI (2001) in Bezug auf das Italienische ausführlicher diskutiert: Es ist die Tatsache, dass auch in denjenigen Sprachen, die regelmäßig in Hauptsatzfragen eine Subjekt- Verb-Inversion aufweisen, in bestimmten Fällen diese Inversion fakultativ ist. Dies ist unter anderem im Italienischen (R IZZI 2001: 292 f.) (21), Spanischen (T ORREGO 1984: 106) (22) oder Portugiesischen (A MBAR 1992: 60) (23) sowie in norditalienischen Dialekten (P OLETTO 2000: 56) (24) oder im Dolomitenladinischen des Fassatals (H ACK 2009: 60) (25) zu beobachten. Hier ist die Inversion beispielsweise in Verbindung mit bestimmten Fragepronomina 144 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser oder mit komplexen Frageausdrücken nicht notwendigerweise oder gar nicht erforderlich: (21) Perchè Gianni è venuto? (Italienisch) warum Gianni ist gekommen ‹ Warum ist Gianni gekommen? › (22) ¿En que medida la constitución ha contribuido a eso? (Spanisch) in welcher Weise die Verfassung hat beigetragen dazu ‹ In welcher Weise hat die Verfassung dazu beigetragen? › (23) Por que raz-o a Rita saiu? (Portugiesisch) aus welchem Grund DET5 Rita weggegangen-ist ‹ Aus welchem Grund ist Rita weggegangen? › (24) Unde i van? (Ligurisch) wohin sie gehen ‹ Wohin gehen sie? › (25) Perchè i be č i va a pe? (Fassanisch) warum die Buben sie gehen zu Fuß ‹ Warum gehen die Buben zu Fuß? › Als Konsequenz dieser und anderer Beobachtungen stellen nicht wenige Forscher R IZZIS (1990 a/ 1996) Analyse in Frage und schlagen Alternativstrukturen vor: V-nach-I-Bewegung mit Anhebung des Fragepronomens nach SpezCP (G OODALL 1993, S UÑER 1994) oder mit Anhebung nach SpezIP (H ULK 1993). In einer späteren Arbeit schlägt R IZZI (2001) eine neue, differenziertere Analyse für Konstituentenfragen im Italienischen vor: Auf der Grundlage einer Split-CP-Analyse (siehe Fußnote 4) nimmt er an, dass in Konstituentenfragen mit Subjekt-Verb-Inversion das Fragepronomen in die Spezifikator- Position der funktionalen Projektion FocP angehoben wird (vgl. auch R IZZI 1997). Für Konstituentenfragen mit Fragewörtern wie perché hingegen, die keine Subjekt-Verb-Inversion auslösen (21), postuliert R IZZI (2001: 289) eine neue funktionale Projektion Int(errogative)P, die durch besondere Eigenschaften charakterisiert und oberhalb der FocP in einer aufgespaltenen CP angesiedelt ist: (26) Force (Top*) Int (Top*) Foc (Top*) Fin IP Um die nicht erfolgende Inversion in Fragesätzen wie (21) - (25) zu erklären, nimmt R IZZI (2001) an, dass der Kopf der Projektion Int° bereits intrinsisch mit dem Merkmal [wh] ausgestattet ist und somit keine Verb-Bewegung stattfinden muss, um das [wh]-Merkmal nach IntP zu bringen. Somit bewegt sich ausschließlich das Fragewort nach SpezIntP, um von dort aus Skopus über den ganzen Satz zu erhalten. Ausgehend von der hier besprochenen generativen Analyse von Fragesätzen möchten wir im Folgenden nun das Rätoromanische betrachten. Dabei 5 DET : Artikel, Determinierer. 145 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen werden wir die verschiedenen Strategien zur Fragesatzbildung in den rätoromanischen Varietäten besprechen und überprüfen, ob und wie diese mit dem von R IZZI vorgeschlagenen Ansatz erfassbar sind. 3. Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen 3.1 Inversion Im direkten Fragesatz ist in allen Varietäten des Rätoromanischen eine Umstellung von Subjekt und Verb zu beobachten, und zwar sowohl in der Satzals auch in der Konstituentenfrage. Dies illustrieren wir im Folgenden anhand des Bündnerromanischen (Surselvisch) (27) (S PESCHA 1989: 564 f), des Dolomitenladinischen (Grödnerisch) (28) (A NDERLAN -O BLETTER 1991: 104 f) und des Friaulischen (Zentralfriaulisch) (29) ( ASI t): (27) a. Ei quei pusseivel? (Surselvisch) ist das möglich ‹ Ist das möglich? › b. Tgei manegia tiu patrun? was meint dein Chef ‹ Was meint dein Chef? › (28) a. Compra pa la mutans versura? (Grödnerisch) kaufen PA6 die Mädchen Obst ‹ Kaufen die Mädchen Obst? › b. Can compra pa Piere n liber? wann kauft PA Peter ein Buch ‹ Wann kauft Peter ein Buch? › (29) a. Vegn=el angia Toni? (Zentralkommt=er auch Anton friaulisch) ‹ Kommt Anton auch? › b. Dulà varaiel mai mitut chel libri to fradi? wohin haben- KOND =er jemals gelegt dieses Buch dein Bruder ‹ Wohin wird denn dein Bruder das Buch gelegt haben? › Für alle Varietäten des Rätoromanischen gilt, dass die Inversion in diesen Fällen obligatorisch ist. Wie wir im folgenden Abschnitt noch sehen werden, besitzen allerdings einige dieser Varietäten Strategien, die zur Vermeidung der Inversion führen. Unseres Wissens kennt keine der rätoromanischen Varietä- 6 PA = Fragepartikel, die im Grödnerischen obligatorischer Bestandteil eines Fragesatzes ist (vgl. H ACK 2009, 2012). 146 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser ten die Möglichkeit, in Standard-Fragen mit neutraler Interpretation das Fragepronomen in situ zu belassen. 7 In Bezug auf den indirekten Fragesatz kann zunächst festgestellt werden, dass in allen drei Varietäten die direkte, nicht invertierte Wortstellung vorliegt. Dies zeigen die bündnerromanischen Beispiele aus dem Surselvischen (30) (S PESCHA 1989: 550), die dolomitenladinischen Beispiele aus dem Gadertalischen (31) (G ASSER 2000: 195) sowie die zentralfriaulischen Beispiele (32) ( ASI t): (30) a. Ella sa era buca dir cura ch ’ el vegn. (Surselvisch) sie kann auch nicht sagen wann dass er kommt ‹ Sie kann auch nicht sagen, wann er kommt. › b. El damonda contas gadas che nus haveien fatg er fragt wieviele Male dass wir haben-K ONJ gemacht. quella excursiun diesen Ausflug ‹ Er fragt, wie viele Male wir diesen Ausflug gemacht haben. › (31) a. I oress ion savéi canche al zed da plovëi. (Gadertalisch) ich möchte gern wissen wann-dass es aufhört zu regnen ‹ Ich möchte gerne wissen, wann es aufhört zu regnen. › b. I ne sa nia che ch ’ al podess ester stè. ich nicht weiß nicht was dass es könnte sein gewesen ‹ Ich weiß nicht, was das gewesen sein könnte. › (32) a. Non sai là che la mamma à crompat li rosis. (Zentralnicht weiß wo dass die Mama hat gekauft die Blumen friaulisch) ‹ Ich weiß nicht, wo die Mama die Blumen gekauft hat. › b. Disi=mi parce che al partesc doman. sag=mir warum dass er weggeht Morgen ‹ Sag mir, warum er morgen weggeht. › Die rätoromanischen Varietäten unterscheiden sich jedoch in der Obligatheit der direkten Wortstellung im Nebensatz: Im Bündnerromanischen sowie im Dolomitenladinischen ist die Inversion ausgeschlossen. Wir haben es hier also mit der gleichen komplementären Distribution zwischen direktem und indirektem Fragesatz zu tun, wie wir sie auch in französischen Fragesätzen mit Subjektspronomina (vgl. 4 - 5) oder deutschen Deklarativsätzen (vgl. 13 - 15) finden. Damit kann für bündnerromanische und dolomitenladinische Fragesätze eine Analyse im Sinne R IZZI s angenommen werden: Im direkten Fragesatz wird das Verb (gegebenenfalls zusammen mit einem Fragepronomen) nach C OMP bewegt, wodurch es zur Subjekt-Verb-Inversion kommt. Im indirekten Fragesatz hingegen findet keine Verbbewegung statt. In Anlehnung an R IZZI s Analyse für das Englische oder Französische kann dies dadurch erklärt werden, dass das [+wh]-Merkmal vom Verb des Hauptsatzes der C OMP - Position zugewiesen wird. Dadurch wird das wh-Kriterium erfüllt und es 7 Diese Möglichkeit besteht nur in so genannten ‹ speziellen Fragen › , wie z. B. Echo- Fragen. 147 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen kommt nicht zur Verb-nach-C OMP -Bewegung. Zusätzliche Evidenz für eine solche Analyse besteht darin, dass in den Beispielsätzen (30) - (31) zusätzlich zum Fragepronomen, das den indirekten Fragesatz einleitet, eine Konjunktion auftritt. Da für Konjunktionen angenommen wird, dass sie in C OMP generiert sind, haben wir somit eine zusätzliche Erklärung dafür, warum die Inversion in den indirekten Fragesätzen dieser beiden Varietäten ausgeschlossen ist: das Verb kann nicht nach C OMP angehoben werden, da die Position besetzt ist. Das Friaulische jedoch scheint diese Analyse nicht zu unterstützen. Die Beispiele in (32) belegen zwar auch das Auftreten einer Konjunktion nach dem Fragepronomen. Anders als im Bündnerromanischen und Dolomitenladischen ist im Friaulischen im indirekten Fragesatz jedoch auch die Inversion zu beobachten. Darauf kommen wir im nächsten Abschnitt nun genauer zu sprechen. 3.2 Die wh-che-Konstruktion Wie die Beispiele in (30 - 32) also belegen, werden indirekte Konstituentenfragen in allen rätoromanischen Varietäten durch die Abfolge Fragepronomen-Konjunktion, die wir im Folgenden als wh-che-Konstruktion bezeichnen, eingeleitet. Zur Veranschaulichung liefern wir zusätzliche Beispiele aus dem Engadinischen (Vallader) (H UTSCHENREUTHER 1909: 189) (33), dem Gadertalischen (G ASSER 2000: 195) (34), dem Fassanischen (vgl. C HIOCCHETTI & I ORI 2002: 60) (35), dem Buchensteinischen (P ELLEGRINI 1974: 30) (35) sowie dem Westfriaulischen ( ASI t) (36): (33) a. Domonda=m tuot quai cha tü voust. (Vallader) frag=mich alles was dass du willst ‹ Frag mich alles, was du willst. › b. Mo ils pastuors fügittan [. . .] e requintettan tuot, aber die Hirten flohen und erzählten alles eir que chi eira dvanto culs indemunios. auch was dass war geschehen mit-den Besessenen ‹ Aber die Hirten flohen [. . .] und erzählten alles, auch wie es den Besessenen ergangen war. › (34) a. I oress ion savéi canche al zed da plovëi. (Gadertalisch) ich möchte gern wissen wann-dass es aufhört zu regnen ‹ Ich möchte gerne wissen, wann es aufhört zu regnen. › b. I ne sa nia che ch ’ al podess ester stè. ich nicht weiß nicht was dass es könnte sein gewesen ‹ Ich weiß nicht, was das gewsen sein könnte. › (35) a. La volea saer che che l ’ era do a fèr. (Fassanisch) sie wollte wissen was dass er war dahinter zu tun ‹ Sie wollte wissen, was er gerade tat. › 148 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser b. L no me à amo dit colun che l vel anter chi trei. er nicht mir hat noch gesagt welchen dass er will zwischen diesen drei ‹ Er hat mir noch nicht gesagt, welchen der drei er will. › (36) a. Voi savéi chi che l é veñú. (Buchensteinisch) will wissen wer dass er ist gekommen ‹ Ich will wissen, wer gekommen ist. › b. No sè ci che l i ’ á dé. nicht weiß was dass er ihnen hat gegeben ‹ Ich weiß nicht, was er ihnen gegeben hat. › (37) a. Non sai duà che la mama a vedi comprat i flors. (Westnicht weiß wo dass die Mama SKL8 hat gekauft die Blumen friaulisch) ‹ Ich weiß nicht, wo Mama die Blumen gekauft hat. › b. Mi an domandat duà che Maria fossi suda. mich haben gefragt wo dass Maria sein- KONJ gegangen ‹ Sie haben mich gefragt, wohin Maria gegangen ist. › Interessanterweise ist die wh-che-Konstruktion im eingebetteten Konstituentenfragesatz nicht auf die rätoromanischen Varietäten beschränkt, sondern findet sich P OLETTO & V ANELLI (1997: 107 ff) zufolge auch in vielen norditalienischen Mundarten, wie z. B. im Trentinischen (38 a) oder im Venetischen (38 b): (38) a. No so chi che l à parlà con la Maria. (Trentino) nicht weiß wer dass er hat gesprochen mit der Maria ‹ Ich weiß nicht, wer mit Maria gesprochen hat. › b. No so cossa che go da fare. (Veneto) nicht weiß was dass habe zu tun ‹ Ich weiß nicht, was ich zu tun habe. › Hinsichtlich des Gebrauchs der Konjunktion che in indirekten Konstituentenfragen beobachten P OLETTO & V ANELLI (1997: 107 ff) allerdings deutliche Unterschiede zwischen diesen Varietäten: In einigen Varietäten (z. B. in der tessinischen Mundart von Brione) kommt che nur mit bestimmten Fragepronomina vor, in anderen (z. B. im Ferraresischen) wird der Gebrauch der Konjunktion als optional beschrieben und in wieder anderen (z. B. im Triestinischen) richtet er sich nach der syntaktischen Position des Subjekts (prävs. postverbal). Für das Rätoromanische ist zu beobachten, dass sowohl im Dolomitenladinischen (vgl. u. a. G ASSER 2000: 195, C HIOCCHETTI & I ORI 2002: 60, P ELLEGRINI 1974: 30) als auch im Friaulischen (P OLETTO & V ANELLI 1997: 107; B ENINCÀ 2005: 68) die Konjunktion che in der indirekten Frage immer und mit allen Fragepronomina verwendet wird. Im Bündnerromanischen tritt sie S PESCHA (1989: 559) zufolge sehr häufig, allerdings nicht immer auf. Besonders in Verbindung mit dem Pronomen cu(ra) ( ‹ wann › ) und co ( ‹ wie › ) wird die Konjunktion zumeist nicht verwendet: 8 SKL = Subjektsklitikon. 149 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen (39) a. Jeu sedamondel cu el fa tut quei. (Surselvisch) ich REFL9 -frage wann er macht alles das ‹ Ich frage mich, wann er das alles macht. › b. Jeu sai buca co el viva. ich weiß nicht wie er lebt ‹ Ich weiß nicht, wie er lebt. › Angesichts der Tatsache, dass die Konjunktion che in der Regel nicht mit den Fragewörtern cu(ra) und co auftritt, scheint sich das Bündnerromanische zusammen mit der Mundart von Brione in die erste Kategorie von Varietäten einzureihen. Wie bereits am Ende des vorherigen Abschnitts erwähnt, besteht ein weiterer Unterschied innerhalb des Rätoromanischen darin, dass im Friaulischen im Unterschied zum Bündnerromanischen und Dolomitenladinischen auch im indirekten Konstituentenfragesatz Subjekt-Verb-Inversion zu beobachten ist. Dies zeigen die folgenden Beispiele aus dem Zentralfriaulischen (A SI t): (40) a. Dimi ze che magia la Maria. (Zentralfriaulisch) sag-mir was dass isst die Maria ‹ Sag mir, was Maria isst. › b. Dimi dulà ch ’ al è lat Giorgio. sag-mir wo dass er ist gegangen Georg ‹ Sag mir, wohin Georg gegangen ist. › Aus syntaxtheoretischer Sicht gibt diese Konstruktion Rätsel auf. Ähnlich wie R IZZI & R OBERTS (1989/ 1996) für die direkten Fragesätze im Französischen annehmen, bei denen durch die Verwendung einer Konjunktion die Inversion ausgeschlossen wird (17 - 18), sollte auch in den indirekten Fragesätzen eine solche komplementäre Distribution zu erwarten sein: die Konjunktion che sollte die Anhebung des finiten Verbs nach C OMP und damit die Subjekt-Verb- Inversion verhindern. Da hier dennoch Inversion vorzuliegen scheint, wird der oben angenommene Erklärungsansatz in Frage gestellt. Die Daten aus dem Friaul sind kein Einzelfall im norditalienischem Raum: Die wh-che-Konstruktion mit (scheinbarer) Subjekt-Verb-Inversion im Nebensatz ist auch von P OLETTO (2000: 44) in der romagnolischen Varietät von Forlì beobachtet worden: (41) I m a chiest chi ch a fasi-v. (Romangnolisch) sie mich haben gefragt was dass SKL tust=du ‹ Sie haben mich gefragt, was du tust. › Interessanterweise ist diese scheinbare Inversionsform auch in Deklarativsätzen zu beobachten (42). Da jedoch das Romagnolische keine Verb-Zweit- Sprache mit einer regelmäßigen Verb-nach-C OMP -Bewegung im Deklarativ- 9 REFL = Reflexivmarkierer. 150 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser satz ist, geht P OLETTO (2000: 44) davon aus, dass es sich hier nicht um eine Subjekt-Verb-Inversion im Sinne einer Verb-Bewegung nach C OMP handelt: (42) A n lisi-v mai di livar. (Romagnolisch) SKL nicht liest=du niemals DET Bücher ‹ Du liest niemals Bücher. › Dieses Vorliegen scheinbarer «Inversionsformen» in romagnolischen Deklarativsätzen erinnert an ähnliche Beobachtungen bezüglich des Bündnerromanischen. Im Surselvischen (43), aber auch in anderen Untervarietäten, sind teilweise klitische Subjektspronomina in der invertierten Wortstellung grammatikalisiert und schließlich in die direkte Wortstellung im Deklarativsatz übernommen worden (vgl. H ACK & G AGLIA 2009: 171, H ACK 2011: 204): (43) a. nus mein ussa (direkte Wortstellung) wir gehen-1 PL jetzt ‹ Wir gehen jetzt. › b. ussa mein nus (invertierte Wortstellung) jetzt gehen-1 PL wir ‹ Jetzt gehen wir. › c. ussa meinsa (1. Schritt: Klitisierung) jetzt gehen-1 PL - SKL d. ussa meinsa (2. Schritt: Reinterpretation) jetzt gehen-1 PL e. ussa meinsa nus (3. Schritt: Verdopplung) jetzt gehen-1 PL wir f. nus meinsa ussa (4. Schritt: Übernahme in die wir gehen-1 PL jetzt direkte Wortstellung) ‹ Wir gehen jetzt. › Somit könnte es sich auch bei den Verbformen in romagnolischen und friaulischen indirekten wh-che-Fragesätzen um Verbformen handeln, die in Inversionskontexten grammatikalisiert wurden und nun auch im Deklarativsatz erscheinen. Wenn dem so ist, kann die ursprüngliche Annahme einer komplementären Distribution zwischen der Konjunktion dass und der Subjekt-Verb-Inversion in der C OMP -Position von Fragesätzen aufrechterhalten werden. Bemerkenswert ist nun, dass die Abfolge wh-che nicht nur in der indirekten Konstituentenfrage auftritt, sondern in vielen rätoromanischen und norditalienischen Varietäten auch in der direkten Konstituentenfrage vorkommt. P OLETTO & V ANELLI (1997: 111 f.) machen in ihrer Studie zu norditalienischen Fragesätzen die interessante Beobachtung, dass dieses Phänomen in der direkten Konstituentenfrage nur in denjenigen Varietäten auftritt, die es auch in der indirekten Frage aufweisen: Es sind dies Varietäten im Piemont, in der italienischsprachigen Schweiz in der Gegend um Lugano (44 a), in der nördlichen Lombardei, im Veneto (44 b) und in der Romagna: 151 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen (44) a. Chi c à mangià i pom de tera. (Tessin, Brione) wer dass hat gegessen die Kartoffeln ‹ Wer hat die Kartoffeln gegessen? › b. Cosa che te fa? (Veneto, was dass du machst Portogruaro) ‹ Was machst du? › Was das Rätoromanische anbelangt, so zeigt sich wh-che in der direkten Frage in der dolomitenladinischen Varietät des Fassatals (H ACK 2012 a, H ACK 2012 b) (45) und im Friaulischen (B ENINCÀ 2005: 68) (46). Die anderen rätoromanischen Varietäten kennen das Phänomen in der direkten Konstituentenfrage nicht, obwohl sie alle - wie wir gesehen haben - in der indirekten Frage die wh-che-Struktur aufweisen: (45) a. Olà che tu vas? (Fassanisch) wohin dass du gehst ‹ Wohin gehst du? › b. Che che tu fas? was dass du machst ‹ Was machst du? › c. Chi che magna l formai a Roma? wer dass isst den Käse in Rom ‹ Wer isst den Käse in Rom? (46) a. Kuj ku tu as vjodu: t? (Friaulisch) wen dass du hast gesehen ‹ Wen hast du gesehen? › b. T ʃ e ku tu as dit? was dass du hast gesagt ‹ Was hast du gesagt? › c. Kui k al ven? wer dass SKL kommt ‹ Wer kommt? › Die wichtigste Beobachtung bezüglich dieser direkten wh-che-Fragesätzen besteht darin, dass hier in allen betroffenen Varietäten keine Subjekt-Verb- Inversion stattfindet, sondern die direkte Wortstellung SVO vorliegt. Diese Wortstellungseigenschaften lassen sich somit entsprechend der oben dargelegten generativen Analyse von Fragesätzen erfassen: In der Position C OMP kann entweder das finite Verb oder eine Konjunktion stehen. Im ersten Fall findet Verb-Anhebung nach C OMP und damit Subjekt-Verb-Inversion statt, während im zweiten Fall die Konjunktion die Position C OMP füllt und damit eine Anhebung des Verbs verhindert. Einer Klärung bedarf allerdings die Frage, wie es in den rätoromanischen und norditalienischen Varietäten zum Auftreten von wh-che im direkten Konstituentenfragesatz gekommen ist. Dazu finden sich in der Literatur mehrere Ansätze, auf die hier nur kurz verwiesen werden kann (vgl. H ACK 2012 a). 152 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser Aufgrund der Beobachtung, dass wh-che in der direkten Konstituentenfrage ausschließlich in denjenigen Varietäten vorkommt, die die Struktur auch in der indirekten Frage aufweisen, schlagen P OLETTO & V ANELLI (1997) vor, dass wh-che aus der indirekten Frage in die direkte Frage übernommen wurde («Kopietheorie»). Dieser Erklärungsansatz wird auch von C HIOCCHETTI (1992: 212) für wh-che im direkten Konstituentenfragesatz im Fassanischen vertreten: (47) Di-me ola che tu vas? → Ola che tu vas? (Fassanisch) sage=mir wohin dass du gehst wohin dass du gehst ‹ Sage mir, wohin du gehst? . › ‹ Wohin gehst du? › Ein weiterer Ansatz wurde von P ARRY (1997, 2003) in Bezug auf wh-che im Piemontesischen vorgeschlagen. Diesem Ansatz zufolge haben andere Satztypen, die Fragesätzen sowohl strukturell als auch semantisch ähnlich sind, zum Auftreten von wh-che in der Konstituentenfrage beigetragen («pragmatischer Ansatz»). P ARRY (2003) beobachtet, dass die wh-che-Konstruktion zuerst in wh-Exklamativsätzen auftrat, die zuvor Subjekt-Verb-Inversion aufwiesen, sich dann von als Exklamativsätzen gebrauchten Fragesätzen auf rhetorisch markierte wh-Fragen - wie z. B. rhetorische Fragen oder Echo-Fragen - bis hin zu ambigen Fragesätzen und letztlich auf alle unmarkierten Fragesätze ausbreitete. H ACK (2012 a, 2012 b) untersucht die ersten Okkurrenzen von wh-che in der direkten Frage im Fassanischen und kommt zu dem Schluss, dass für das Fassanische nicht primär von einer pragmatischen Motivation des Ausbreitens von wh-che in die direkte Frage auszugehen ist. Vor ihrem Auftreten im direkten Fragesatz zeigte sich die wh-che-Sequenz im Fassanischen außer in der indirekten Frage (36) auch in anderen eingebetteten Kontexten: in Objektsätzen (48 a), Relativsätzen (48 b), in durch Konjunktionen eingeleiteten Nebensätzen (48 c) und in Exklamativsätzen mit Spaltsatzkonstruktion (48 d) (H ACK 2012 a: 377): (48) a. Shi, te diré co che fae! (Fassanisch) ja dir sagen-werde wie dass mache ‹ Ja, ich werde dir sagen, wie ich es machen werde! › b. Osteria olà che no se paa nia. Gasthaus wo dass nicht man bezahlt nicht ‹ Gasthaus, wo man nichts bezahlt. › c. Canche fajène la mèscres dessema, [. . .]. wann-dass machen-1 PL die Masken zusammen ‹ Wenn wir uns zusammen verkleiden [. . .]. d. Chi che mai l=é sta[t]! wer dass bloß es=ist gewesen ‹ Wer ist es bloß gewesen! › 153 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen Ausgehend von der zu beobachtenden häufigen syntaktischen Nachbarschaft des Fragepronomens und che in unterschiedlichen (eingebetteten) Kontexten, nimmt H ACK (2012 a) an, dass anfänglich in indirekten Satztypen ein Reanalyse-Prozess stattgefunden hat, im Zuge dessen das Fragepronomen und die Konjunktion als zwei zusammengehörende Elemente aufgefasst wurden. Ausgehend von dieser Reanalyse in indirekten Kontexten wurde die wh-che-Struktur nun in den direkten Fragesatz übernommen. Abschließend können wir festhalten, dass die Existenz der wh-che-Konstruktionen im Rätoromanischen sowie in den benachbarten norditalienischen Dialekten sowohl aus theoretischen als auch aus empirischen Gründen interessant ist. Sie liefern empirische Evidenz für die Annahme einer C OMP - Position innerhalb einer CP und somit Evidenz für die Strukturen in (11) und in (12), wie sie von R IZZI und anderen für Fragesätze in romanischen Sprachen vorgeschlagen werden. Für die germanischen Sprachen wurden ähnliche Beobachtungen gemacht - allerdings nur bezüglich einzelner Dialekte. Süddeutsche Dialekte wie das Bairische (B AYER 1983/ 84: 212) (49) oder das Westflämische (H AEGEMAN 1992: 57) (50) erlauben in indirekten Fragesätzen ebenfalls nach dem Fragepronomen das Auftreten einer subordinierenden Konjunktion: (49) I woaß net wann dass da Xaver kummt. (Bairisch) ich weiß nicht wann dass der Xaver kommt ‹ Ich weiß nicht, wann Xaver kommt. › (50) Kweten nie, wannièr da Valère goa werekommen. (Westflämisch) ich-weiß nicht wann dass Valère geht wiederkommen ‹ Ich weiß nicht, wann Valère wiederkommen wird. › Interessanterweise ist diese doppelte CP-Besetzung («doubly filled C OMP ») nicht nur in denjenigen Varietäten des Rätoromanischen zu beobachten, die durch eine Verb-Zweit-Eigenschaft in Deklarativsätzen charakterisiert sind, nämlich dem Bündnerromanischen und den nördlichen Varietäten des Dolomitenladinischen (A RQUINT 1975, K AISER 2002 - 2003, K AISER & H ACK , im Ersch.), sondern auch im Fassanischen und im Friaulischen sowie in zahlreichen norditalienischen Varietäten. 3.3 Verbformen Eine weitere interessante Beobachtung im Zusammenhang mit der Betrachtung der Syntax von Interrogativsätzen im Rätoromanischen betrifft die Tatsache, dass in den Beschreibungen einiger Varietäten meist von der Existenz eigener Verbalformen für Fragesätze ausgegangen wird. Dies gilt beispielsweise für das Fassanische, dessen Verbformen in Fragesätzen in der Grammatik von C HIOCCHETTI & I ORI (2002: 102) folgendermaßen beschrieben werden: 154 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser I verbes tol la forma interogativa canche i vegn duré te la forma interogativa directa. La forma interogativa di verbes é caraterisèda dal pronom soget débol en posizion enclitica. [. . .]. La combinazion anter forma coniughèda e enclitich pel portèr a vèlch mudament de la desinenzes [. . .]. No te duta la persones la forma interogativa é desvaliva da chela afermativa. 10 Zur Illustration stellen C HIOCCHETTI & I ORI (2002: 102) einige Verbformen des Fassanischen in interrogativen und deklarativen Kontexten gegenüber: (51) a. Ès=te jà lavà jù? (Fassanisch) hast=du schon gewaschen ab ‹ Hast du schon abgewaschen? › a'. Te ès fat delvers. du hast gemacht ordentlich ‹ Du hast es ordentlich gemacht. › b. Da che ora rue=la la coriera? zu welcher Stunde kommt=er der Autobus ‹ Um wieviel Uhr kommt der Autobus? › b ’ . La rua da les diesc. er kommt um die zehn ‹ Er kommt um zehn Uhr. › c. Vegnassède duc con nos? kommt alle mit uns ‹ Kommt ihr alle mit uns? › c ’ . Se vegnassède fossan=e contenc. wenn kommt wären=wir froh ‹ Wenn ihr kommen würdet, würden wir uns freuen. › Diese Beispiele zeigen, dass sich im Fassanischen in den meisten grammatikalischen Personen, wie beispielsweise in der zweiten (51 a) und dritten (51 b) Person Singular, die angenommene Interrogativform daraus ableitet, dass ein ursprünglich enklitisches Subjektspronomen mit der Verbform verschmolzen ist. In der Verbform der zweiten Person Plural (51 c) hat hingegen eine solche Verschmelzung nicht stattgefunden und es ist kein Unterschied bezüglich der Verbform zwischen Deklarativ- und Interrogativsatz zu beobachten. Eine ähnliche Beobachtung macht B ENINCÀ (2005: 57) für das Friaulische. Auch sie geht davon aus, dass in (direkten) Fragesätzen das finite Verb zusammen mit dem enklitischen Subjektspronomen eine «unica parola 10 «Die Verben erscheinen in ihrer Interrogativform, wenn sie im direkten Fragesatz gebraucht werden. Die Interrogativform der Verben ist durch das schwache Subjektspronomen in enklitischer Position charakterisiert. [. . .] Die Kombination zwischen konjugierter Form und enklitischem Pronomen kann zu einer Änderung der Verbendungen führen [. . .]. Nicht in allen grammatikalischen Personen unterscheidet sich die Interrogativform von der affirmativen Form.» 155 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen fonologica» bildet. Zur Illustration führt sie unter anderem die Paradigmen für den Singular Präsens von perdere ( ‹ verlieren › ) aus dem Dialekt von Magnano sowie von vjódi ( ‹ sehen › ) aus dem Dialekt von Clauzetto an: (52) a. Assertivform Interrogativform (Friaulisch) 1. o pjart 1. pjard-jo? 2. tu pjarts 2. pjardis-tu? 3. al pjart 3. pjardi-al? b. 1. o júot 1. jút-jo? 2. tu júots 2. jús-tu? 3. a-l júot 3. jút-el? Interessanterweise lassen sich auch in anderen im norditalienischen Raum gesprochenen Varietäten Beobachtungen machen, die für die Existenz eigener Verbalformen für Fragesätze sprechen. In vielen dieser Varietäten unterscheiden sich die proklitischen Subjektspronomina in Anzahl und/ oder Form von den enklitischen Subjektspronomina und können somit also nicht formal voneinander abgeleitet werden. Das Grödnerische beispielsweise besitzt mehr enklitische als proklitische Subjektspronomina (Tabelle 1) und im Turinesischen (Tabelle 2) weisen die proklitischen und enklitischen Subjektspronomina keinerlei formale Gemeinsamkeiten auf, d. h. das enklitische Pronomen ist jeweils nicht vom proklitischen ableitbar. Angesichts dieser Verhältnisse stellt sich die Frage, ob die in Fragesätzen verwendete Abfolge von finitem Verb und enklitischem Subjektspronomen von den Sprechern als eine Abfolge zweier einzelner Elemente analysiert wird oder ob es sich nicht vielmehr um eine eigene «Interrogationskonjugation» im Sinne F AVA s (1993) handelt. frei proklitisch enklitisch 1sg ie -i 2sg tu te 3sg.m ël l -(e)l 3sg.f ëila la/ l ’ -(e)la 1pl nëus -s 2pl vo 3pl.m ëi i -i 3pl.f ëiles les -(e)les/ -i Tabelle 1: Das Paradigma der Subjektspronomina im Grödnerischen (vgl. A NDERLAN -O BLETTER 1991: 38; B ERNARDI 1999: 42,73; H ACK & G AGLIA 2009: 162) 156 Franziska Maria Hack und Georg A. Kaiser proklitisch enklitisch 1sg i -ne 2sg it -to 3sg a -lo 1pl i -ne 2pl i -ne 3pl a -ne/ -lo Tabelle 2: Die proklitischen und enklitischen Subjektspronomina im Turinesischen (G ORIA 2004: 213) Diese Beobachtungen und Annahmen hinsichtlich spezifischer morphologischer Formen der Verben in Fragesätzen in rätoromanischen und norditalienischen Varietäten sind auch in theoretischer Hinsicht interessant. Sie liefern zusätzliche empirische Evidenz für R IZZI s Annahme, wonach das finite Verb von direkten - und nur von direkten - Fragesätzen mit dem Merkmal [+wh] markiert ist: Neben den von R IZZI (1990 a/ 1996: 66) angeführten austronesischen oder in Afrika gesprochenen Sprachen können offenbar auch zahlreiche Dialekte des Rätoromanischen und des Norditalienischen zu der Gruppe der «some natural languages» gerechnet werden, in denen das Verb «a special morphology in interrogatives» trägt. Gestützt wird R IZZI s Ansatz dadurch, dass in den hier betrachteten Dialekten die Existenz einer solchen Interrogationsmorphologie auf den direkten Fragesatz beschränkt ist. 4. Konklusion In unserem Beitrag haben wir einige syntaktische Besonderheiten der Fragesatzbildung in unterschiedlichen Varietäten des Rätoromanischen diskutiert. Wie in den anderen romanischen Sprachen ist auch im Rätoromanischen die Bildung von direkten Satz- und Konstituentenfragen mit Hilfe der Subjekt- Verb-Inversion zu beobachten. In den meisten Fällen ist dabei die Inversion obligatorisch. Allerdings besitzen einige rätoromanische Varietäten auch Strategien, die die direkte Wortstellung im Fragesatz vorsehen, insbesondere die in der dolomitenladinischen Varietät des Fassatals und im Friaulischen auftretende Sequenz aus Fragepronomen und Konjunktion che («wh-che»). Im indirekten Fragesatz existiert diese wh-che-Abfolge in allen rätoromanischen Varietäten. Sie ist dort weitgehend die einzige Strategie zur Einleitung des indirekten Fragesatzes und bewirkt die direkte Wortstellung. Lediglich im Friaulischen ist unklar, ob in einigen Fällen des indirekten Fragesatzes eine Inversion eintreten kann. Die Tabelle 3 fasst die im Fragesatz zu beobachtenden Eigenschaften der rätoromanischen Varietäten nochmals zusammen: 157 Zur Syntax von Fragesätzen im Rätoromanischen Bündnerromanisch Dolomitenladinisch Friaulisch Subjekt-Verb- Inversion im Hauptsatz + + + Subjekt-Verb- Inversion im Nebensatz - - - / + wh-che im Hauptsatz - - + (Fassanisch) + wh-che im Nebensatz + - (v. a. mit Fragepronomen co, cu(ra)) + + Tabelle 3: Eigenschaften der rätoromanischen Varietäten im Fragesatz Als eine weitere Besonderheit des Rätoromanischen konnte schließlich gezeigt werden, dass in zahlreichen Varietäten die enklitische Stellung des Subjektspronomens in direkten Fragesätzen eine Grammatikalisierung erfahren hat, die zur Herausbildung einer eigenständigen Verbalform für den Fragesatz geführt hat. In einigen Varietäten, z. B. dem Surselvischen, wurde diese in der invertierten Wortstellung entstandene Verbalform jedoch auch in die direkte Wortstellung des Deklarativsatzes übernommen. 5. 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Auch die (relativ zahlreichen) einzelsprachlichen Untersuchungen sind eher punktuellen Charakters und fußen selten auf authentischen Belegen. Die Klärung der Bedeutung der surcomposition in den romanischen Sprachen stellt daher noch ein Desiderat der Forschung dar, das mit dem vorliegenden Artikel zum Teil erfüllt werden soll. Im vorliegenden Aufsatz werde ich versuchen, anhand von Beispielen aus der (konzeptionellen und medialen) Mündlichkeit und der (konzeptionellen und medialen) Schriftlichkeit, einen neuen Erklärungsansatz für Anwendung, Funktion und semantische Evolution der friaulischen formes surcomposées, 1 Formes surcomposées sind im Standardfranzösischen, im Belgischen Französisch, im Schweizer Französisch, im Regionalfranzösisch und in vielen patois, im Surselvischen (vgl. L IVER 1982: 62), in unterschiedlichen Varietäten des Venedischen (vgl. M ARCATO 1986, P OLETTO 1992, 2008, 2009), im Ladinischen, im Friaulischen (vgl. unter anderem M ARCHETTI 1952 ( 2 1967), B ENINCÀ 1989: 577 s., V ANELLI 2007: 94 s.), im Sardischen (vgl. J ONES 1993: 83 s., P ISANO 2010), im Rumänischen (vgl. P AIVA B OLÉO 1936: 74s. FN 1, S ANDFELD / O LSEN 1936: 320 s., S AVI Ć 1977: 146), in iberoromanischen Varietäten (H OLTUS 1995: 105 s.), aber auch im Altneapolitanischen (vgl. L EDGEWAY 1997 - 1999) zu verzeichnen. 2 Zum Deutschen vgl. L ITVINOV / R AD Č ENKO 1998, R ÖDEL 2007, S CHADEN 2009, zu niederländischen Varietäten vgl. B ARBIERS / K OENEMANN / L EKAKOU 2009 und K OENEMANN / L EKA- KOU / B ARBIERS 2011, zum Jiddischen vgl. T HIERHOFF (2000: 287), zum Afrikaans L ITVINOV / R AD Č ENKO (1998: 68). 3 Zum Beispiel im Russischen, Tschechischen, Sorbischen, Polnischen, Slowenischen (vgl. L ITVINOV / R AD Č ENKO 1998: 68ss., T HIEROFF 2000: 287), Serbo-Kroatischen (vgl. S AVI Ć 1977: 146). mit besonderem Fokus auf das passé surcomposé (PSC), vorzustellen, der auch durch erste Ergebnisse zweier Vortests gestützt wird. Darüber hinaus werde ich Parallelen zu anderen romanischen Sprachen und Varietäten aufzeigen. Im nächsten Abschnitt werde ich zunächst eine kurze allgemeine morphologische Beschreibung der formes surcomposées und insbesondere der friaulischen Formen geben, dann auf Erklärungsansätze zur Entstehung und Funktion dieser Formen im Friaulischen und in anderen romanischen Sprachen eingehen, um letztlich ausgewählte Belege aus dem untersuchten Material zu präsentieren und zu analysieren. Im Besonderen werde ich mich auf die Funktion(en) der im Friaulischen am häufigsten anzutreffenden Form, des passé surcomposé (und partiell des plus-que-parfait surcomposé) und auf seine Entwicklung konzentrieren und mögliche Parallelen zu anderen romanischen Sprachen aufzeigen. Danach werde ich kurz skizzieren, welche Funktionen zwei dagegen eher seltene Formen, das futur surcomposé und das subjonctif passé surcomposé im Friaulischen haben können, eine semantic map für die friaulischen formes surcomposées sowie eine vergleichende Darstellung der semantischen Werte der Formen in anderen romanischen Sprachen entwerfen. Schließlich werde ich einige Überlegungen zur Anwendung der formes surcomposées in der neueren friaulischen Schriftlichkeit und zu ihrer Funktion in der Herausbildung friaulischer Diskurstraditionen darlegen. 2. Zur Morphologie und Syntax der formes surcomposées (im Friaulischen) In der Literatur sind unterschiedliche morphologische Beschreibungen der formes surcomposées zu finden. In einer rezenten Monographie definiert sie R ÖDEL übereinzelsprachlich als bestehend aus einem «Auxiliar (a), Partizip eines zur Perfektbildung verwendeten Auxiliars (b) und Partizip eines Vollverbs (c)» (R ÖDEL 2007: 33). Diese Beschreibung trifft aber im Sprachvergleich nicht auf alle Formen zu, da z. B. im Surselvischen überkomponierte Formen des periphrastisch gebildeten Futur zu finden sind, wie im von L IVER aufgeführten Beispiel: (1) jeu vegnel ad haver giu fatg (L IVER 1982: 62) Ältere Beschreibungen wie die von T ESNIÈRE «un temps composé dont le premier élément est lui-même composé» (T ESNIÈRE 1935: 56) und «[u]n temps surcomposé est un temps composé dont l ’ auxiliaire est lui-meme composé» (T ESNIÈRE 1939: 168) sind zu breit gefasst, da sie auch periphrastische Formen wie Konstruktionen mit Modalverben, Passivkonstruktionen oder kausative Periphrasen umfassen. Ähnlich breit gefasst ist die Charakterisierung von 164 Luca Melchior P OLETTO : Die Autorin spricht von «construction containing an additional past participle auxiliary» (P OLETTO 2009: 31). Dies zeigt, dass eine übereinzelsprachliche Beschreibung der Formen schwierig ist; daher scheint die F OULET ’ sche Definition der französischen formes surcomposées operativ auch übereinzelsprachlich am günstigsten: «Nous serons ainsi conduits à dire qu ’ un temps surcomposé est celui qui ajoute à un temps déjà composé un auxiliaire de plus» (F OULET 1925: 251). Diese Definition ist auch für die friaulischen Formen gültig. Diese werden in den meisten Arbeiten als bestehend aus einer konjugierten Form des Hilfsverbs vê ( ‹ haben › ), dem Partizip Perfekt desselben Verbs und dem Partizip Perfekt eines Vollverbs beschrieben. Eine solche morphologische Form ist sowohl bei transitiven, als auch bei intransitiven und (vielen) inakkusativen Verben zu finden, selbst wenn diese die Perfektformen üblicherweise (auch) mit Hilfe des Verbs jessi ( ‹ sein › ) bilden, wie in den Beispielen (2) und (3) ersichtlich wird: (2) Al à vût publicât studis lessicologjics sui dialets e Italie, in particolâr sul grant poete romanesc Josef Juchìn Belli (1791 - 1863). ([ S . A .] 2003: 60, meine Kursivierung) (3) ’ E je stade Luise a visâmi che, prime di Pulzinì, lì, dongje, tal Palù, al à vût esistût l ’ unic abitât palafiticûl dal Friûl che si cognossi; li e ’ àn cjatât ancje un rem di len ancjemò in bon stât, tignût pal plui antîc tra chei cjatâz in Italie. (C JANTON 1990: 48, meine Kursivierung) Diese Beschreibung schließt jedoch die Möglichkeit aus, formes surcomposées mit Hilfe des Auxiliars jessi zu bilden. Diese wird in der linguistischen Literatur, aber auch in grammatikographischen präskriptiven Werken, nur am Rande erwähnt und als marginal bzw. auf friaulische Randvarietäten beschränkt betrachtet. B EGOTTI / V ICARIO (2005: 93) negieren diese Bildungsmöglichkeit. Die Analyse der mir vorliegenden Materialien hat jedoch gezeigt, dass auch Formen, die mit dem Hilfsverb jessi gebildet werden, in zentralfriaulischen bzw. in nicht randständigen Varietäten zu finden sind. Beispiel (4) sowie einige (im untersuchten Material aber rare) Beispiele aus der Mündlichkeit bestätigen dies: (4) Al buta jú la giamba da la spala e dal momènt al è stât sparît. (Z ORZÙT 1927: 20, meine Kursivierung) Diese Formen weisen einen stativen Wert auf 4 , der als ursprünglicher Wert der formes surcomposées angenommen wird (vgl. infra); es wird hier aber nicht weiter auf sie eingegangen, da sie tatsächlich selten zu sein scheinen. 4 Aber eindeutig keinen passivischen Wert, wie von Federico Vicario (persönliche Mitteilung) vermutet wurde. 165 Zur verbalen surcomposition im Friaulischen Unterschiedlich sind in der Literatur die Angaben über die Produktivität der surcomposition im Verbalparadigma. Grammatikographische Werke (vgl. z. B. Z OF 2000, sechstes Kapitel, 2008: 107 f.) zeigen häufig die Möglichkeit der surcomposition für das gesamte aktive Paradigma, viele Autoren aber, wie z. B. B ENINCÀ (1989: 578), F INCO (2008: 28) 5 und P OLETTO (2008: 502, FN 2, 2009: 38) bestreiten die Existenz des passé antérieur surcomposé. Die Unmöglichkeit der Bildung dieser Form wird von den Autoren als Hinweis bzw. Bestätigung dafür gewertet, dass die Funktion der formes surcomposées darin besteht, Anteriorität auszudrücken. So merkt P OLETTO an: The idea that in Romance the PSC expresses anteriority also accounts for its distribution in the Friulian area, where the construction is compatible with all tenses, except for the anterior past (P OLETTO 2009: 42) In dieser Behauptung spiegelt sich der klassische (aber problematische) Erklärungsansatz wider, der in den formes surcomposées und insbesondere im passé surcomposé Kompensationsformen sieht, die infolge des Präteritumschwunds entstanden sind: Das PSC soll demnach als anaphorische Form zum präterital verwendeten passé composé dienen 6 . P OLETTO selbst schränkt diese Hypothese ein, behauptet aber dennoch, dass die surcomposition inkompatibel mit dem passé antérieur sei: However, some varieties of Friulian (the most conservative ones as the Carnia area) have a past form and PSC, but it is not possible to combine a PSC with the anterior past, while all other tenses are possible. So, although the simple distributional observation [dass surcomposition in Sprachen und Varietäten zu finden ist, in denen kein passé simple mehr vorhanden ist, LuMe] is not correct, there is an incompatibility between the simple past and the PSC construction (P OLETTO 2008: 502, FN 2) 5 B ENINCÀ und F INCO leugnen nicht die Existenz an sich, sondern den Gebrauch des passé antérieur surcomposé. Jedoch ist nicht klar, wie sie dies differenzieren: Die Existenz ist für sie durch die Tatsache belegt, dass das passé antérieur surcomposé in Verbtabellen in (laien)grammatikographischen Werken angeführt wird. 6 So sah M ERIGGI sogar eine richtige Notwendigkeit der surcomposition: «Ma riflettendo è chiaro che in ogni dialetto romanzo, in cui il passato remoto non sia più in uso, tali forme devono necessariamente sorgere. Se un italiano del nord ad es. vuole esprimere: ‹ quand ’ ebbe finito, gli dissi › , non potrà mai dire se non quando ha avuto finito, gli ho detto. Basterà dunque ascoltare con gli orecchi tesi a questo riguardo per sentire anche in Italia, almeno nel nord, simili espressioni» (M ERIGGI 1930: 141, Kursivierung im Original). Die kompensatorische Erklärung findet noch heute viele Anhänger, vgl. z. B. A BRAHAM / C ONRADIE (2001: 19 - 23). Zum Friaulischen auch V ICARIO (1997: 241 s., FN 89, vgl. unten, FN 17). 166 Luca Melchior Die Anterioritätsfunktion sei besonders in Nebensätzen evident, welche als typische Anwendungskontexte für die formes surcomposées aufgeführt werden: Si trate di formis dopradis in mût une vore specific: in gjenerâl i timps bicomposcj a àn un aspiet madûr e dal pont di viste temporâl a segnin un timp anteriôr a un moment di riferiment che si cjate tal discors; si trate duncje di timps intrisichementri anaforics. Il lôr ûs plui frecuent si à in frasis subordinadis, cul timp de frase rezidore che al funzione di moment di riferiment (p. e. cuant che tu varâs vût finît di zuiâ, o larìn a cjase) (V ANELLI 2007: 95) Auch P OLETTO hebt die Verwendung in Nebensätzen hervor: The first observation concerns the distribution of the PSC: while in the Romance dialects the PSC is found mainly in embedded clauses, in the Germanic area it is also a main-clause phenomenon (P OLETTO 2009: 32) obwohl sie auch die Verwendung in Hauptsätzen erwähnt: The episodic reading reported by informants in main clauses can be seen as a ‹ byproduct › of anteriority: we can assume that in embedded clauses the PSC always has a point in time to which anterior tense can refer back, while this is not always the case in main clauses, whose tense is not necessarily bound by an upper tense (P OLETTO 2009: 42) 2.1 Eine kritische Betrachtung des kompensatorischen Anterioritätsansatzes Der soeben erwähnte kompensatorische Ansatz bzw. seine Explizitierung in der Anterioritätserklärung sind aus übereinzelsprachlicher Perspektive, wie oben schon angesprochen, nicht unproblematisch. Ein erster Einwand gegen die kompensatorische Theorie ist synchroner Art und besteht in der Tatsache, dass in der Romania die formes surcomposées besonders häufig im Okzitanischen vorkommen, in einer Sprache also, in der (nicht wie im Friaulischen nur in konservativen Varietäten) das passé simple noch recht vital ist 7 . Auch aus diachroner Perspektive ist die kompensatorische Funktion schwer zu belegen: So ließe sich nicht erklären, warum neben dem PSC auch andere formes surcomposées entstanden sind, wenn man nicht von Analogiebildungen ausgehen möchte. Diese Annahme wäre darüber hinaus angesichts der Tatsache, dass der Erstbeleg für das Französische nicht ein 7 Im nicht-romanischen Kontext ist hier auch die Verbreitung und Verwendung solcher Formen im norddeutschen Sprachraum bzw. in niederländischen Dialekten, die keinen Präteritumschwund erfahren haben (vgl. K OENEMANN / L EKAKOU / B ARBIERS (2011: 41)), als Gegenbeweis zum kompensatorischen Ansatz anzusehen. 167 Zur verbalen surcomposition im Friaulischen passé, sondern ein plus-que-parfait surcomposé ist, als nicht plausibel anzusehen: (5) il avoit sa terre eüe perdue (vgl. B RÄUNER 1911: 3, FN 2) 8 Für das Friaulische sprechen darüber hinaus auch weitere Tatsachen gegen diese Hypothese: Die erste ist, dass sich in den analysierten Materialien Belege für das passé antérieur surcomposé finden lassen, wie im folgenden Beispiel, in dem das passé antérieur surcomposé nicht der Anterioritätsmarkierung dient, für die ein einfaches passé antérieur gereicht hätte: (6) ’ O cenarin cidins e po ’ o lerin a durmî, dopo che Jole ’ e vè vût controlât, minuziose, ogni scûr, ogni puarte, ogni clostri, ch ’ a fossin siarâz benon. (S GORLON 1982: 146 f.) Solche Belege sind zwar selten - was angesichts der geringen Vitalität des passé simple im Friaulischen nicht überraschend scheint - belegen jedoch, dass die Sprecher bzw. Schreiber das passé antérieur surcomposé als akzeptabel und grammatisch betrachten 9 . Einen zweiten Einwand bietet die Analyse der gesammelten Belege. Diese zeigt, dass formes surcomposées in Nebensätzen in der Schriftlichkeit weniger als die Hälfte der Gesamtbelege darstellen (49,18 % von 429 Belegen) und in der Mündlichkeit noch seltener sind (15 von 40 Belegen, sprich 37,5 % der Gesamtheit). Sowohl in den Belegen, in denen die formes surcomposées im Hauptsatz, als auch in denjenigen, in denen sie im Nebensatz vorkommen, ist ein Anterioritätsbezug zu einem anderem Tempus sehr selten - ebenso wie das fast zu vernachlässigende Auftreten in Temporalsätzen. Obwohl genau ein solcher Satz als Beispiel von V ANELLI (2007: 95) angeführt wird, stellen Temporalsätze nur 2,56 % der Fälle in der Schriftlichkeit dar; in Texten aus der Mündlichkeit ist kein Vorkommen nachgewiesen. Für das Französische lässt sich das auch in diachroner Perspektive belegen: so merkt S TÉFANINI an: On a remarqué qu ’ à remonter ainsi le cours du temps, on a l ’ impression que l ’ emploi C) [= die Verwendung im Hauptsatz mit der Bedeutung «il m ’ est arrivé de», LuMe] est le plus fréquent, peut-être le plus ancien (S TÉFANINI 1970: 290) 8 Die forme surcomposé ist aber nur im Manuskript fr. 768 der Bibliothèque Nationale de Paris belegt, während die anderen Manuskripte die lectio «avoit . . . perdue» (vgl. B RÄUNER 1911: 3) haben. 9 Dass die von mir gefundenen Belege der elaborierten Schriftlichkeit - und insbesondere narrativen Texten - entstammen, mindert m. E. nicht ihre Aussagekraft: Sie beweisen, dass die Schreiber sie als angemessene Formen werten - ihre Seltenheit ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass sie, wie das passé simple dem Bereich der elaborierten Schriftlichkeit angehören. 168 Luca Melchior Solche Anwendungskontexte, die heute als regional bezeichnet werden, wären somit die primären Kontexte für PSC und nicht, wie von C ORNU (1953: 17) vermutet, sekundär und von den Anterioritätskontexten abgeleitet. B LUMEN- THAL (1986: 82 f.) bemerkt darüber hinaus, dass die Anterioritätsfunktion des PSCs erst dann dominant wurde, als das passé composé sich in experientiellen Kontexten (siehe unten) etablierte und das PSC in diesen ersetzte. Dies legt nahe, dass die Funktion der formes surcomposées nicht wie bisher dargestellt in der Herstellung von Anterioritätsbezügen liegt, sondern dass sie andere Werte im Sprachsystem annehmen. Diese werden im Folgenden am Beispiel des passé surcomposé, das im Friaulischen wie im Französischen und im Venedischen (zu diesem vgl. M ARCATO 1986: 50) das Gros der Formen stellt (80,80 % oder 344 Belege in der Schriftlichkeit, 72,5 % oder 29 Belege in der Mündlichkeit) 10 , diskutiert. 3. Das passé (und das plus-que-parfait) surcomposé(s) im Friaulischen: experientielle Formen Dass im Friaulischen, wie in anderen romanischen Sprachen und Varietäten, formes surcomposées auch in anderen Kontexten als in Temporalsätzen bzw. in Sätzen mit Anterioritätsfunktion erscheinen, ist in der Forschung verschiedentlich erkannt worden. Das Auftreten in Hauptsätzen bzw. in Sätzen ohne Anterioritätsbezug, welches anscheinend das häufigere und üblichere ist, wurde m. E. jedoch noch nicht zufriedenstellend erklärt. Ansätze dazu finden sich in V ICARIO (2005: 63), der die formes surcomposées als narrative Formen betrachtet, welche den Gelegenheitscharakter der abgeschlossenen Verbalhandlung unterstreichen. Ähnlich wird ihre Funktion in B EGOTTI / V ICARIO beschrieben: [die formes surcomposées, LuMe] a àn la funzion di rindi une azion ocasionâl, lontane dal moment che si fevele o da la intenzion dal sogjet (B EGOTTI / V ICARIO 2005: 93) In ihrer Universitätsabschlussarbeit aus den Jahren 1987 - 1988 hatte schon B ORGHESAN diese Bedeutungsnuance hervorgehoben, die ihrer Meinung nach nicht nur im Friaulischen, sondern auch in den formes surcomposées im Französischen, Okzitanischen und Venedischen zu erkennen wäre (zum Venedischen siehe auch M ARCATO 1986: 57): [a]nche in friulano, la costruzione surcomposée porta quindi nella frase una particolare sfumatura di significato, sottolineando - diversamente dalla semplice 10 Dieser Befund widerspricht dem, was B IZJAK in seinem Korpus feststellt (vgl. B IZJAK 2003: 40). 169 Zur verbalen surcomposition im Friaulischen forma composta - l ’ occasionalità, la singolarità, l ’ eccezionalità dell ’ azione espressa (B ORGHESAN 1987 - 1988: 143; die Unterstreichung im Originaltext ist durch Kursivierung ersetzt) In diesem Kontext fällt der interessante Kommentar eines Informanten zu einem Akzeptabilitätstest ins Auge 11 , der eine ähnliche Erklärung aufführt 12 : (i) Ti segnali che o ai metût «? » in dôs frasis: o ai vût daurman fat o ai vût svelt fat La costruzion mi somee juste (almancul te mê varietât), ma il significât no mi sune masse ben. Forsit parcè che te mê varietât i timps bicomponûts si ju dopre par indicâ une azion «fate par câs, cence volê, cuasi cence impuartance», duncje e je une conotazion che no à trop ce fâ cu la idee di «daurman» e «svelt». Diese Beschreibungen können auf die Erklärung M ARCHETTIS zurückgeführt werden, der in seiner Grammatik die Funktion der formes surcomposées wie folgt beschrieb: Del resto il loro specifico significato non importa, in sostanza, più che una leggera sfumatura: ’ o ài vût fevelât significa press ’ a poco: ho avuto l ’ occasione di parlare (M ARCHETTI 2 1967 [1953]: 151) Aus M ARCHETTIS Beschreibungen - die an die Beobachtungen anderer Sprachwissenschaftler zur Funktion der formes surcomposées im Französischen und Okzitanischen erinnert 13 - geht klar hervor, dass diese Formen (auch) im Friaulischen dem Ausdruck von Experientialität dienen, wie im Folgenden erklärt wird. Experientialität ist eine aspektuelle Kategorie, die in der romanistischen sprachwissenschaftlichen Forschung eher vernachlässigt wurde (vgl. A POTHÉ- 11 Durchgeführt bei 10 friaulischen Informanten über einen Online-Fragebogen, mit dem die Kompatibilität der formes surcomposées mit Adverbien, die einen schnellen Vollzug der Verbalhandlung signalisieren, getestet werden sollte, um die Hypothese von F INCO (2008: 28) zu überprüfen, dass das PSC im Hauptsatz die Punktualität des Verbalereignisses - im Sinne von schnellem Vollzug - unterstreicht. Dass diese Hypothese nicht zutrifft, beweisen auch Belege wie folgender (a) E àn vût stât a stâ . . . e àn vût stât a stâ ancje chi (S. D., ♀ , 52 Jahre, 10. 09. 2010). Damit äußert sich eine Friaulischsprecherin über die Tatsache, dass ein junges Paar schon mal im Ort gelebt hat. Dieser Beleg beweist die Kompatibilität des PSC mit durativen bzw. stativen Verben. 12 Dazu vergleiche auch B ORGHESAN (1987 - 1988: 164): «Se viene chiesto al parlante di spiegare il significato di questi enunciati, egli utilizza il più delle volte delle perifrasi verbali del tipo ‹ mi è capitato . . . › , ‹ ho avuto l ’ occasione di . . . › , ‹ ho avuto modo di . . . › , che ci sembrano sottolineare particolarmente l ’ indeterminatezza e l ’ occasionalità del fatto in questione». 13 Vgl. Y VON in D AUZAT (1955: 44) für das Französische, C AMPROUX (1958: 46) für das Okzitanische. 170 Luca Melchior LOZ 2010: 106), obwohl sie in anderen Philologien schon früh eingeführt wurde 14 . In der Forschung hat man unterschiedliche Merkmale der Experientialität (und insbesondere des experientiellen Perfekts) hervorgehoben, die zu unterschiedlichen Benennungen geführt haben. So finden sich in der Literatur auch die Bezeichnungen «indefinite perfect» und «existential perfect», die auf unterschiedliche Charakteristika, die mit dieser aspektuellen Kategorie verbunden sind, verweisen. Experientielle Formen sind, wie D AHL / H EDIN (2000: 387 ff.) gezeigt haben, type-focussing: Sie fokussieren also nicht ein konkretes Verbalereignis, sondern dienen dazu, zu markieren, dass ein Situationstyp schon (mindestens) einmal stattgefunden hat. Dies löst eine Existenzimplikation aus, von der sich der in der Literatur teilweise verwendete Name «existential perfect» ableitet. Daraus ergeben sich einige Charakteristika von experientiellen Äußerungen, die sich auch in der syntaktischen Struktur niederschlagen. Darunter sind die Inkompatibilität mit zeitlichen Zirkumstanten, die eine genaue Situierung des Verbalereignisses anzeigen (daher auch Bezeichnung «indefinite perfect» bzw. «indefinite past»), die Affinität mit indefiniten bzw. pluralischen Nominalphrasen sowie mit Adverbien und adverbialen Angaben bzw. Zirkumstanten, die die Existenz (Dt. «schon mal», Frz. «déjà», Fri. «za») bzw. die Wiederholung (Dt. «manchmal», Frz. «parfois») des Ereignisses betonen bzw. quantifizieren, zu nennen. Darüber hinaus muss das Ereignis, das durch eine experientielle Form ausgedrückt wird, (zumindest theoretisch) wiederholbar sein, da Experientialität mit unikalen Ereignissen per definitionem nicht kompatibel ist 15 . Die Belege, in denen die friaulischen formes surcomposées gefunden wurden, weisen diese syntaktischen und semantischen Eigenschaften auf. Sie fokussieren stark auf die (individuelle) Erfahrung, indem sie die Existenz des Ereignistyps betonen. In romanischen (und germanischen) Sprachen wird Experientialität meist nicht durch eigene morphologische Mittel ausgedrückt, sondern man bedient sich weniger spezifischer Formen 16 wie des Perfekts, die von Modalpartikeln oder anderen Zirkumstanten begleitet werden, so wie z. B. (7) L ’ ho già fatto (8) Ich habe es schon mal gemacht 14 So spricht der Anglist Z ANDVORT schon 1932 von «Perfect of Experience» (Z ANDVOORT 1932: 11); in der typologischen Forschung sei hier auf die Arbeiten von C OMRIE (1976: 58 s.), D AHL (1985: 139 - 144) sowie von L INDSTEDT 2000 verwiesen (L INDSTEDT 1985 zu den slawischen Sprachen). Aus der romanistischen Forschung seien hier nur S QUARTINI 2002 - 2003 und C AVIGLIA / M ALCUORI 1994 genannt. 15 Dies bedingt eine gewisse Affinität mit Zirkumstanten, die eine Wiederholung des Ereignisses anzeigen, wie schon Z ANDVOORT (1932) beobachtet hatte. Zur möglichen Entwicklung der formes surcomposées zu einer iterativen Funktion vgl. M ELCHIOR (2012). 16 Anders als im Chinesischen, Japanischen und in afrikanischen Sprachen (vgl. D AHL 1985: 139 s.). 171 Zur verbalen surcomposition im Friaulischen Nur selten haben experientielle Formen einen eigenen morphologischen Ausdruck, so z. B. das Präfix riim Pisanischen (vgl. S QUARTINI 2002 - 2003). In den romanischen Sprachen und Varietäten, die formes surcomposées aufweisen - zumindest im Französischen, Friaulischen, Venedischen und Okzitanischen - scheinen diese aber den Ausdruck der experientiellen Funktion übernommen zu haben, wie oben illustriert. Auch die Beispiele, die in der Literatur zu finden sind, und ihre Glossierungen, Paraphrasen bzw. Übersetzungen, wie z. B. die von B EGOTTI / V ICARIO (2005), betonen in der Tat den experientiellen (und nicht einen okkasionellen) Charakter: O ai vût sintût alc sul argoment (= ‹ mi è capitât di sintî alc su chel argoment › ) (B EGOTTI / V ICARIO 2005: 93) 17 Eindeutige experientielle Kontexte liegen in den Belegen aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit vor, die in den analysierten Materialien gefunden wurden. Exemplarisch dafür sind folgende Beispiele aus Radiosendungen 18 : (9) Dopo la lauree in giurisprudenze a Bologne al à vivût jenfri Rome e il Friûl. A Rome al è stât inviât| 19 speciâl dal Resto del Carlino e da la Nazione| e al à vût colaborât ancje su la RAI. (I NSTANTPIC , 3. 9. 2010) (10) No chist al è il cuart an chi a Basilian ai vût fat a Codroip un doi ains, un an a Rivignan, dopo i cors jo ju fasevi pui pa las scueles, pa las scueles no universitât da la tierce etât, ma la scuele propite (I NSTANTPIC , 16. 4. 2010) (11) Ma äh e pitôrs o artiscj come Ciussi e i pensi ancjemò di pui Alviani, che a son astras, ancje lôr hmm magari cuan che a erin giovins e àn vût piturât, fat paisaç (G JAL E COPASSE , 07. 12. 2010) (12) Te pontade di vuê o lin a viodi plui di dongje un di chei lûcs che i furlans a àn vût cognossût intant dai agns de emigrazion sù pes Gjermaniis, ven a stâi Munic (L ASIMPON M UNIC 20 ) Diese Beispiele zeigen eine weitere Gemeinsamkeit: Es handelt sich um Texte, in denen Lebensläufe und (Auto-)Biographien geschildert werden. Dass in 17 Vgl. auch V ICARIO (1997): «Questa ‹ analicità › del friulano . . . si manifesta in numerosi fenomeni: . . . la parziale scomparsa di tempi verbali sintetici, come il passato remoto o il trapasso remoto, in favore di corrispondenti analitici, composti e bicomposti (dunque: frl. ’ o ài clamât ‹ ho chiamato › vs. it. chiamai; frl. ’ o ai vût clamât ‹ ho avuto occasione di chiamare › vs. it. ‹ ebbi chiamato › . . .» (V ICARIO 1997: 241 s., FN 89, Kursiv im Original). 18 In den Belegen (9) und (12) handelt es sich um «parlato letto» (M ARASCHIO 1987: 201, F USCO 2011: 409), also um einen literaten Text (vgl. M AAS 2008: 8, 2010: 25 - 36), der medial zunächst schriftlich verfasst, dann aber mündlich realisiert wurde. Die anderen Beispiele sind eindeutig spontansprachlich. 19 Mit «|» wird eine (kurze) Unterbrechung des Redeflusses markiert. 20 Die Sendung stand mir als Audio-Datei zur Verfügung, daher kenne ich das genaue Ausstrahlungsdatum nicht. 172 Luca Melchior solchen Textformen experientielle Formen zu finden sind, ist nicht überraschend, wenn dort Ereignistypen beschrieben werden. Das häufige Auftreten von formes surcomposées ist eine Bestätigung ihrer experientiellen Funktion. Das Vorkommen in diesen Textsorten ist für die semantische Entwicklung der Formen, wie unten näher analysiert wird, besonders relevant. Als weiterer Hinweis auf die experientielle Funktion der Formen kann die Tatsache gewertet werden, dass sie häufig im Italienischen mit Imperfekten übersetzt werden. Vor allem Beispiele, die mündlich erhobenen, aber verschrifteten Ethnotexten bzw. Märchensammlungen entstammen - also aus Texten narrativer Art, in denen ähnlich wie in Biographien, nicht konkrete Ereignisse, sondern Situationstypen beschrieben werden - , weisen in der italienischen Übersetzung das Imperfekt auf, wie im folgenden Beispiel sichtbar: (13 a) E ’ àn vût contât ancje di une contesse ch ’ e jere stade tant triste in vite (D E P ELCA / P UNTIN : 134) das mit (13 b) Si raccontava di una contessa che, quand ’ era in vita, era stata proprio malvagia (ebd.) übersetzt wird. Experientielle weisen in der Tat gewisse Ähnlichkeiten mit Imperfektiva auf (vgl. M ELCHIOR 2012); so ist der type-focussing-Charakter den beiden gemeinsam; in slawischen Sprachen nehmen Verben in experientiellen Kontexten meist den imperfektiven Aspekt an (L INDSTEDT 2000: 370 f.). Als weitere Schnittmengen zwischen Experientiellen und Imperfektiva sind der iterative bzw. habituelle Charakter, zu dem sich experientielle Formen entwickeln können, wie z. B. das passé surcomposé im Französischen (vgl. M ELCHIOR 2012), zu sehen. Auch die große Anzahl an Belegen von formes surcomposées mit verba dicendi bestätigt die type-focussing-Funktion, die diese Formen inne haben: verba dicendi haben eine hohe Kompatibilität mit Experientialität, wie H EDIN (2000: 257) gezeigt hat. Dieser Gebrauch führt auch wieder zu erstarrten, floskelhaften Formeln wie «al à vût dit» bzw. «al à vût scrit», die in journalistisch-biographischen Texten vermehrt auftauchen (wie B IZJAK (2003: 39) teilweise schon angemerkt hatte), welche als wesentlicher Bestandteil der sich formierenden friaulischen journalistischen Diskurstradition zu gelten scheinen. Man vergleiche dazu folgende Belege: (14) Par chel che al inten la lenghe furlane, al à vût scrit pe Panarie, par Sot la Nape, Alsa, Gnovis Pagjinis furlanis, Il Nuovo Friuli, La Patrie dal Friûl, la Comugne e altris ([ S . A .] 2007: 63). (15) Castellani, pal critic leterari e lessicografic Zorç Faggin, insiemit cun Franzil de Gironcoli, Novele Cantarutti e pôcs altris, al va considerât un classic de 173 Zur verbalen surcomposition im Friaulischen poesie furlane. Al à vût scrit vincjenûf lirichis te varietât furlane di Cjasarse e vot ta chê di Colze, oltri che cutuardis contis, ancjemò tes dôs varietâts di furlan (B ALZAN 2000: 15) (16) . . . E dopo cheste faturose ma esaltant esperience, ’ o ài vût la furtune che la Societât Filolgogjche si è cjapade l ’ impen di publicâ chest lavôr e che culì ’ o ringrazi sperant, come ch ’ al à vût dit il president Michelut, che chest libri al puedi ’ zovâ tanche un pareman sul rivâl de culture ([ S . A .] 1996: 116) Dass die formes surcomposées experientiellen Wert annehmen, ist aber keine besondere Entwicklung des Friaulischen. Die gleiche Funktion ist auch für das Okzitanische, das Französische und das Venedische (vgl. unter anderem A POTHÉLOZ 2009, C AMUS B ERGARECHE 2008: 89, S QUARTINI 1998: 322, Anm. 22) belegt worden und wird durch die folgenden Beispiele aus Blogs und Foren im Internet bestätigt: (17) Adieu-siatz, Aquò vos semblarà benlèu pas costumièr, mas coma o ai agut dich, podèm parlar de tot aicí, baste siá en occitan e amb cortesiá (http: / / br.groups.yahoo.com/ group/ parlar_occitan/ message/ 596, 16. 03. 2012) (18) Je connais assez bien la pelote basque puisque je l ’ ai eu joué dans la jeunesse. Les paumes me font encore mal en y pensant (http: / / dict.leo.org/ forum/ viewUnsolvedquery.php? idThread=1135104&lp=itde&lang=it#followup4, 16. 03. 2012, die Fettschreibung des Originals ist durch Kursivierung ersetzt) (19) Brunelli ł o conoso un fia, ghe go vudo scrito un par de volte, l ’ e omo de gran cultura e de studi ł enguisteghi, penso che come ponto de riferimento el pose narghe ben a tuti e l ’ e anca xa sta zsernio da sto wiki (http: / / vec.wikipedia.org/ wiki/ Discussion_ajuto: Convension_de_scritura/ Vecie, 16. 03. 2012) 21 , Experientialität scheint demzufolge eine Funktion zu sein, die übereinzelsprachlich den formes surcomposées in der Romania zukommt. 21 Für das Venedische gilt die surcomposition als rustikal (vgl. M ARCATO 1986: 48ss., P OLETTO (persönliche Mitteilung)); die im Netz gefundenen Belege sind relativ (aber gar nicht allzu) selten. Sie weisen alle experientiellen Charakter auf, während keine Belege für den Gebrauch mit Anterioritätswert gefunden worden sind. 174 Luca Melchior 4. Von der Erfahrung zum Außerordentlichen, Okkasionellen und Zufälligen: eine metonymische Entwicklung Aus der vordergründigen experientiellen Bedeutung lässt sich die Bedeutungsnuance des Außerordentlichen und sogar des Zufälligen ableiten, die sowohl in der Forschung (auch zu den formes surcomposées im Französischen, vgl. C ARRUTHERS 1994: 172) als auch von den Sprechern selbst angesprochen wird (vgl. oben). Der Entwicklungspfad ist in Abbildung 1 graphisch dargestellt. Es handelt sich um eine metonymische Übertragung von Werten. Es ist oben geschildert worden, dass formes surcomposées, insbesondere das PSC und das plus-queparfait surcomposé, in biographischen oder narrativen Texten mit fabelbzw. märchenähnlichem Charakter vermehrt auftreten. In diesen werden besondere Ereignisse beschrieben, die das Leben der porträtierten Person oder das Fabelbzw. Märchengeschehen kennzeichnen und es zu etwas Besonderem machen. Die forme surcomposée bezeichnet dann einen Sachverhalt, der unbzw. außergewöhnlich, vielleicht merkwürdig oder gar bizarr ist, wie im folgenden Beispiel, in dem das plus-que-parfait surcomposé mit experientiellem Wert einen Sachverhalt darstellt, der an sich einen durchaus ungewöhnlichen Charakter hat: (20) E chestis fadis nancje mo a dîlu, a jerin fantatis bielonis, dutis vistidis a blanc, di cjâf a pît, e che lis viodevin massimamentri lis feminis che a vevin parturît di pôc. Ma jo, une volte i ài vût domandât a mê none Rose Bulote, che e veve vût parturît dodis fruts, se e ves vude viodude mai une di chestis aganis; ma jê mi veve sigurât che no veve mai di vite sô ni viodude, ni sintude nancje une volte nissune di chestis frutatis misteriosis. ( DAI N ADÂI 2009: 121) Wie oben erwähnt werden die experientiellen formes surcomposées häufig in Kontexten verwendet, in denen besondere Ereignisse präsentiert werden. In solchen Kontexten erfolgt eine Reanalyse der Formen selbst, da die Ambiguität entsteht, ob die Form denn Experientielles oder Außergewöhnliches bezeichnet. So verhält es sich auch in Kontexten, in denen die formes surcomposées in biographischen Texten verwendet werden, in denen die Handlungen der beschriebenen Person als herausragend hervorgehoben werden. Analog kann die semantische Entwicklung zum Ausdruck von Zufälligkeit fortgesetzt werden, wie vom Informanten behauptet: Wenn ein außerordentliches Ereignis ohne bestimmte bzw. zu bestimmende zeitliche Lokalisierung beschrieben wird, kann dies leicht als etwas Okkasionelles, Zufälliges, Ungewolltes interpretiert werden. 175 Zur verbalen surcomposition im Friaulischen Abbildung 1: Entwicklungspfad von der Experientialität zum Ausdruck von Zufälligem Diese Werte, die das passé surcomposé und zum Teil das passé surcomposé annehmen können, ergänzen die semantic map für die formes surcomposées in den romanischen Sprachen, die wie folgt entworfen wird (vgl. M ELCHIOR 2012: 87): Abbildung 2: Semantic map für die formes surcomposées in den romanischen Sprachen 176 Luca Melchior Die erweiterte semantic map ist in Abbildung 3 dargestellt: Abbildung 3: Erweiterte semantic map für die formes surcomposées Den vorangehenden Abbildungen ist zu entnehmen, dass die formes surcomposées sehr wohl Anterioritätsfunktionen haben können. Diese ist aber nicht die zentrale, sondern nur eine sekundäre Funktion, die zusammen mit einer Reihe von anderen Werten von den Formen übernommen wird und wie der experientielle Wert kann sich auch dieser aus der als zugrundeliegend angenommenen stativ-resultativen Funktion der Formen nach üblichen Grammatikalisierungspfaden entwickelt haben. 5. Das futur surcomposé als evidentielle Form Auch wenn V ANELLI (2007: 95) in ihrer Beschreibung der formes surcomposées im Friaulischen ein futur surcomposé (im Temporalsatz) aufführt (vgl. oben), sind Belege für diese Form in den analysierten Materialien extrem selten: Nur zwei Beispiele (davon einer aus einer Grammatik) in den schriftlichen und genauso viele in den mündlichen Texten wurden gefunden. Selbst diese wenigen Belege aber zeigen keine Anterioritätsfunktion 22 , sondern sie zeugen von einer anderen Verwendungsmöglichkeit und von einer modalen, sprich 22 T ATEVOSOV 2001: 444, 460ss. zeigt aber, dass es einen Zusammenhang zwischen resultativ-stativen Formen, die sich zu aspektuellen anteriors entwickeln, und Markern von indirekter Evidenz gibt. 177 Zur verbalen surcomposition im Friaulischen epistemischen und evidentiellen Funktion dieser Form, wie an den folgenden zwei Beispielen aus der Mündlichkeit herauszulesen ist 23 : (21) Nus à puartât al cuart! / / Eh, parcé che al varà vût clamât chel là (E. T., ♀ , 63, 16. 07. 2011) 24 (22) A varà vût sporcjât la piçule (S. T., ♀ , 61, 06. 02. 2010) 25 Das futur surcomposé wird in (21) und (22) sowie in den anderen zwei im analysierten Material gefundenen Belegen nicht als anaphorische Form zu einem futur simple bzw. futur composé verwendet, sondern es drückt eine Inferenz des Sprechers - und insbesondere eine Information, die aus einer eigenen Schlussfolgerung erfolgt, die rein spekulativ auf seine Überlegung zurückzuführen ist - aus: Es handelt sich also um eine klare evidentielle Funktion (vgl. W ILLET 1988: 57). Gleichzeitig ist diese Inferenz des Sprechers als epistemisch zu werten, da sie mit einem relativ niedrigen assertiven bzw. faktuellen Charakter versehen ist. Es ist interessant anzumerken, dass auch das von B EGOTTI / V ICARIO (2005: 93) angeführte Beispiel (siehe oben) genau diesen epistemischen bzw. evidentiellen Gebrauch aufweist. Auch das französische futur surcomposé - das in literarischen Texten mit Anterioritätsfunktion durchaus verwendet wird - findet in nähesprachlichen Texten wie Blogeinträgen im Internet evidentiellen Gebrauch: (23) En écrivant le Résumé de votre qualification, ne pas le bombarder de tous les détails glorieux. Soyez bref et concis. Rappelez-vous de K-I-S-S? Il doit être court et simple. La personne qui lit votre CV aura eu lu beaucoup de CV avant de venir à la vôtre. Il a déjà un mal de tête. Rendre plus facile pour lui de voir si vous avez raison pour le travail (http: / / fr.hicow.com/ r%C3 %A9sum%C3 %A9/ emploi/ d-affaires-2612184. html, 19. 03. 2012, Kursivierung im Original) 23 Im Einklang mit S QUARTINI 2004, werden hier Epistemizität und Inferentialität (als evidentielle Kategorie) voneinander getrennt; das futur surcomposé im Friaulischen scheint aber beide Modalitäten auszudrücken; zur Polyfunktionalität epistemischevidentieller Formen siehe z. B. D ENDALE / T ASMOWSKI (2001: 345). Zur Interaktion zwischen Epistemizität und Evidentialität, vgl z. B. A IKHENVALD (2004: 7), M ATTHEWSON / D AVIS / R ULLMANN 2007, S QUARTINI 2001, 2004, 2005, P LUNGIAN (2001: 354 s.) 24 Die Sprecherin äußert ihre Vermutung nachdem der Aufzug, in dem sie sich befindet, zum vierten statt zum dritten Stock gefahren ist, wo ein weiterer Fahrgast eingestiegen ist. 25 Die Sprecherin äußert ihre Vermutung nachdem sie erfahren hat, dass ihr Sohn sein Bett erneut beziehen musste, obwohl er es kurze Zeit davor gemacht hatte. Sie vermutet, dass die zweijährige Enkelin Schuld daran ist. 178 Luca Melchior Die gleiche Verwendung ist aber auch in Texten, die eine gewisse Elaboriertheit aufweisen, nachweisbar, wie im journalistischen Beleg (24): (24) Il fallait s ’ attendre à un match dure et difficile à manier. On l ’ aura eu vu le score qui clos un match intéressant à gagner pour les deux équipes. D ’ un coté, le Mouloudia a fait ce qu ’ il fallait puisqu ’ il lui était interdit de perdre, d ’ un autre coté on aurait dû prendre les 3 points malgré que cela était assez compliqué à réaliser (http: / / www.mouloudia.info/ index.php? option=com_content&view=article&id=583: j26-jsmb-11-mca-le-mouloudia-grignote-un-bon-point&catid= 44: la-une-mouloudiainfo, 19. 03. 2012) 26 Die evidentiell-epistemische Verwendung scheint also eine der Hauptfunktionen des futur surcomposé auch im romanischen Sprachvergleich zu sein. 6. Kontrafaktualität: das subjonctif plus-que-parfait surcomposé (in Konditionalsätzen) Eng verknüpft mit der Anterioritätsfunktion der Formen und aus dieser abgeleitet ist der kontrafaktische Gebrauch der formes surcomposées, der sich (wenn auch selten) auch im Friaulischen findet, wie im Folgenden ersichtlich 27 : (25) Cumò al conte: « ’ O vevi bevût, ma no masse. S ’ o vès vût bevût masse, no varès podût saltâ fûr dal jet là che, dopo, il sofit de cjàmare al è colât sot il pês dai cops e dai trâs dal cuviart de cjase; se no vès bevût nuje, ’ o sarès jessût fûr sul pujûl par lâ abàs ae clamade de femine, e ’ o sarès colât jù cul pujûl che la linde lu veve netât» (U CEL 2008 [1977]: 102) Die kontrafaktische Funktion teilt mit der Experientialität die Eigenschaft, type-focussing zu sein (vgl. H EDIN 2000: 243). Sie ist im Friaulischen jedoch sekundär und peripher, anders als im Sardischen (vgl. J ONES 1993: 83) oder im Schweizer Französisch, wie von S QUARTINI (1998: 322, Anm. 21) gezeigt, aber auch wie aus einem ersten Vortest mit einer Schweizer Informantin hervorzugehen scheint. Darüber hinaus ist anzumerken, dass während im Französischen die kontrafaktische Funktion durch ein plus-que-parfait surcomposé indicatif 28 in der Protasis in Kombination mit einem conditionnel passé 26 Beispiele aus dem Netz werden in Originalschreibung ohne editorische Eingriffe wiedergegeben. Evtl. Fehler stammen aus den Originaltexten. 27 Es handelt sich dabei um den einzigen Beleg, der im analysierten Material gefunden wurde. 28 Welches als Marker von discontinuous past einen höheren kontrafaktischen Wert aufweist (vgl. P LUNGIAN / V AN DER A UWERA 2006: 339 s.). 179 Zur verbalen surcomposition im Friaulischen indicatif in der Apodosis ausgedrückt wird 29 und im Sardischen das plus-queparfait surcomposé indicatif sowohl in Protasis als auch in Apodosis, aber auch nur in der Apodosis auftreten kann 30 , das Friaulische die Abfolge von subjonctif plus-que-parfait surcomposé in der Protasis und conditionnel passé in der Apodosis zeigt. Der Rückgriff auf die forme surcomposée ermöglicht eine zeitliche Staffelung, indem der Sachverhalt, der in der Protasis dargestellt wird, eindeutig als vorzeitig zum in der Apodosis ausgedrückten Sachverhalt markiert wird. Damit kann die Neutralisation der zeitlichen Verhältnisse, die im Konditionalsatz mit der Verwendung eines subjonctif plus-que-parfait entstehen würde, vermieden werden 31 . In dieser Verwendung wird die enge Verbindung zwischen der Anterioritäts- und der kontrafaktischen Funktion evident 32 . 29 Die Informantin findet z. B. den Satz «Si je l ’ avais eu payé si cher, ça m ’ aurait eu beaucoup gêné» inakzeptabel und schlägt vor, ihn in «Si je l ’ avais eu payé si cher, ça m ’ aurait beaucoup gêné» zu ändern, damit er grammatisch wird. Die Unterschiedlichkeit der Tempora zeigt, dass ein Anterioritätsverhältnis zwischen Protasis und Apodosis notwendig ist, um das Irrealis in der Vergangenheit auszudrücken. Im Französischen Neufundlands lassen sich Belege von conditionnel passé surcomposé in der Protasis und conditionnel passé in der Apodosis mit kontrafaktischem Wert finden (ich danke Frau Prof. Neumann-Holzschuh für die Bereitstellung ihrer Materialien). 30 Vgl. z. B. die zwei Belege aus Nuoro «[si an'toni vit is'tau i'n ɔ ke a'iaz 'ap ː i ̯ u ' β iðu] se Antonio era stato qua avevi avuto veduto! ‹ se Antonio fosse stato qua avresti visto! › » (P ISANO 2010: 126) vs. «[si zoz 'ominz a'ian 'ap ː i ̯ u kami'nau ki s ː oz ' ɔ kroz a'p ɛ rto l ː a'ian 'ap ː i ̯ u ak ː a't ː au a 'k ː aða 'pas ː u] se gli uomini avevano avuto camminato con gli occhi aperti l ’ avevano avuto trovato a ogni passo ‹ se gli uomini avessero camminato con gli occhi aperti l ’ avrebbero trovato a ogni passo › » (ebd.). 31 Die Frage, ob Kontrafaktualität dann von der Form ausgedrückt oder in der Konstruktion impliziert wird, wäre berechtigt. Andere - wenn auch seltene - Fälle des Gebrauchs des subjonctif plus-que-parfait surcomposé nicht in Konditionalsätzen, aber mit ähnlichem kontrafaktischen Wert, würden aber gegen diese Hypothese sprechen. Jedoch scheint die Form den D AHL ’ schen Grammatikalisierungspfad nicht bis zum Ende durchlaufen zu haben («(1) In the first stage, the marker would be (a) restrained to past time reference, (b) imply counterfactuality in the strict sense (dependence on a condition known to be false), (c) be optional. (2) In the second stage, the marker would become obligatory in past counterfactual contexts. (3) Then, the constraints on its use would be gradually relaxed. The first thing to go would be the temporal condition, with examples like (20 - 21) coming first. (4) Once the construction has become possible with non-past reference, the risk that the counterfactuality constraint is also relaxed will be imminent» (D AHL 1997: 109)). Zum Verhältnis Subordination/ Kontrafaktualität vgl. G ERÖ (2001: 190 - 195). 32 Es ließe sich fragen, ob auch in diesen Fällen die in Protasis und Apodosis beschriebenen Sachverhalte nicht als gleichzeitig zueinander betrachtet werden können und die forme surcomposé nur dazu dient, den Sachverhalt «d ’ une façon moins actualisée que l ’ autre» V AIREL (1979: 571) auszudrücken, der mit der (einfach) zusammengesetzten Form 180 Luca Melchior 7. Polyfunktionalität und Spezialisierung: die formes surcomposées im Friaulischen Das in Abbbildung 3 vorgestellte Schema der Funktionen bzw. der Bedeutungen der formes surcomposées in den romanischen Sprachen muss um die epistemisch-evidentielle Funktion ergänzt werden, um die Gesamtbreite der Polyfunktionalität der Formen darzustellen. Auf das Friaulische angewandt, ergibt sich folgende Situation: Abbildung 4: semantic map für die friaulischen formes surcomposées Es wird so deutlich, dass die formes surcomposées im Friaulischen fast alle Funktionen abdecken, die sie insgesamt in meiner ersten Analyse auch in den anderen in Betracht gezogenen romanischen Sprachen erfüllen: Es handelt sich um polyfunktionelle Formen, die aber eine gewisse Spezialisierung für manche - prototypischere - Verwendungen, wie den Experientialitäts- und dem Epistemizität-/ Evidentialitätsausdruck sowie den Ausdruck von außerordentlichen, zufälligen Ereignissen entwickelt haben. Anders als im Französischen und Okzitanischen scheint die iterative Funktion im Friaulischen nicht grammatikalisiert zu sein, wenn auch durch die Verwendung von Zirkumstanten und anderen Angaben auch der Ausdruck eines wiederholten Sachverhaltes möglich ist 33 . beschrieben wird. Im konkreten Beispiel ist das Trink-Ereignis als vorzeitig zum Spring- Ereignis anzusehen; Gleichzeitigkeit ist nur zwischen Letzterem und dem aus dem Trink-Ereignis resultierenden Zustand des Betrunkenseins gegeben. 33 P LUNGIAN / V AN DER A UWERA sehen Ähnlichkeiten zwischen Markern von past habits und Formen von discontinuous past (P LUNGIAN / V AN DER A UWERA 2006: 323), da beide vergangene Ereignisse ohne current relevance darstellen. Die Interpretation des passé 181 Zur verbalen surcomposition im Friaulischen 8. Ausbau und Diskurstraditionen: zur soziolinguistischpragmatischen Funktion der formes surcomposées in der neuen friaulischen Schriftlichkeit Wie eingangs erwähnt, wird in der Literatur die Verwendung der friaulischen formes surcomposées - wie die der Formen in den anderen romanischen Sprachen - häufig als selten und marginal betrachtet. In seiner in den 1950er Jahren erschienenen Grammatik vermeldete M ARCHETTI einen progressiven Schwund der formes surcomposées aus dem mündlichen Gebrauch der jüngeren, gebildeteren Sprecher (die Schriftlichkeit der Zeit war noch zu wenig ausgebaut, um darüber Aussagen machen zu können), den er in Verbindung mit der fortschreitenden Italianisierung brachte 34 . Die Analyse neuerer Texte der friaulischen Schriftlichkeit ergibt allerdings einen relativ häufigen Gebrauch der formes surcomposées durch junge gut gebildete Autoren, sowohl in bestimmten Textsorten, wie in den schon angesprochenen biographischen Texten als auch verstärkt in der journalistischen (und teilweise in der belletristischen) Prosa. Es handelt sich häufig um Texte, die von Neosprechern (bzw. Neoschreibern) stammen, die einen verstärkten schriftorientierten Zugang zur Sprache haben (vgl. R ADATZ 2012: 124) und die (teilweise abweichend von der Charakterisierung von R ADATZ , ebd.) in Anlehnung auch an Texte der bedeutendsten Autoren der friaulischen Literatur (plakativen) Gebrauch dieser syntaktischen Konstruktion machen, um ihren Texten einen höheren «friaulischen Charakter» zu verleihen 35 . Die formes surcomposées sind hier ein Mittel, um den Abstand der auszubauenden surcomposé als discontinuous past bzw. als «superparfait» (vgl. R ÉGNIER 1974: 870, S CHADEN 2009: 192), also als two-way-action-Form ist in der Literatur verschiedentlich vorgeschlagen worden (vgl. B ORGHESAN 1987 - 1988: 140), scheint aber für die friaulischen Formen (insbesondere für das PSC, während das plus que parfait surcomposé durchaus diese Lesart zulässt) nur bedingt zuzutreffen, da diese die Interpretation, ob der aus der Verbalhandlung resultierende Zustand noch andauert oder nicht, offen lassen (vgl. M ELCHIOR 2012: 75, FN 18). Damit wäre höchstens eine Polysemie der Formen in dieser Hinsicht zu vermuten. 34 «Nel linguaggio corrente del popolo friulano queste forme occorrono con una certa frequenza; sono invece più rare nell ’ uso delle persone colte, perché l ’ abitudine di pensare spesso in italiano tende ad escluderli» (M ARCHETTI 2 1967 [1952]: 151). 35 Anders zu werten scheint dagegen die Verwendung durch Muttersprachler (nicht Neosprecher) in der Mündlichkeit. So müsste m. E. die Behauptung von T URELLO (2007: 154) «[n]ach meiner Erfahrung sind diese Formen gerade in der gesprochenen Sprache sehr selten. Es zeigt sich auch hier, dass nicht das Volk sich vom Italienischen zu distanzieren scheint, sondern eher gebildete Leute, die sich der Unterschiede zwischen den beiden Sprachen bewusst sind und diese auch betonen möchten» zum Teil revidiert werden. 182 Luca Melchior Schriftlichkeit des Friaulischen vom Italienischen zu erhöhen bzw. hervorzuheben 36 . 9. Zitierte Korpustexte [ S . 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Z OF , Fausto 2008: Grammatiche de lenghe furlane, Pasian di Prato (Udine): Leonardo. 188 Luca Melchior Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik Clau Solèr «Plirs auturs da l ’ entir territori rumantsch han empruvà cun success da tegnair ferm sin palpiri lur fantasia. 1 » Wir verstehen alle das dichterische Unterfangen, vermutlich auch mit einem Schmunzeln. Es wäre wohl viel anzumerken, aber teganir ferm sin palpiri ‹ auf Papier festhalten › soll näher betrachtet werden. Wie der ganze Satz, soll/ will auch dieser Teil einem gewählteren Stil entsprechen, im Unterschied zur volkstümlichen Redeweise da scriver, da nudar ‹ zu schreiben, aufzuschreiben › . Die bündnerromanische Sprachgemeinschaft ist heute, abgesehen von Kleinkindern und erwachsenen Zuzügern aus Portugal und Italien, zweisprachig, und viele Mitglieder sind kompetenter im Deutschen als im Romanischen, besonders schriftlich. Deshalb wird die obige Äusserung auch verstanden, aber nur wegen der Deutschkenntnisse. Ich möchte mich nicht allzu sehr auf bekannte und einsichtige Calques oder Transferenzen beschränken 2 , sondern auf solche Produkte hinweisen, die Prozesse und Denkweisen aufdecken und besonders die Semantik betreffen. Dabei muss auch die Frage der Norm in bestimmten Situationen und Texten besprochen werden. Für meine Ausführungen verwende ich mehrheitlich Material aus meiner täglichen Beschäftigung als Korrektor beim Radiotelevisiun Rumantscha (RTR). Zudem berücksichtige ich fallweise alltägliche Texte aus Zeitungen, Anschriften und anderen Drucksachen. Die fehlende Systematik mögen Spontaneität und Authentizität ersetzen. 1 Die Beispiele sind in Rumantsch grischun; Idiome werden besonders bezeichnet. Die authentischen Beispiele sind gelegentlich gekürzt. Abkürzungen im Folgenden: RG = Rumantsch grischun, sr = Sursilvan, sm = Surmiran, vl = vallader 2 Noch bevor G ENELIN 1900 und B RANDSTETTER 1905 die deutschen Interferenzen im Romanischen erforscht und dargestellt haben, hat der Disentiser Pater Baseli C ARIGIET (1848: 82) sie in literarischer Form kritisiert. Eine systematische Analyse liefert S IMON 1983 und seither gehören Interferenzerscheinungen beinahe zu jeder Darstellung des Romanischen. 1. Normierung Bekanntlich versuchen die verschiedenen Lehrbücher, und wenn vorhanden auch Grammatiken, Lehrer und Korrektoren, echte oder vermeintliche Germanismen zu eliminieren und allgemein Normen zu setzen. Ich erwähne drei klassische Fälle: - co/ cu - sco. Das direkte und indirekte Fragepronomen co ‹ wie? › fällt im Alltag heute beinahe immer mit der Vergleichkonjunktion sco ‹ wie › zusammen. 3 Sozusagen als Schibboleth einer «korrekten» Sprache wird passendes sco gelegentlich zu co überkorrigiert. 4 - Wenig relevant ist die Vermischung von relativen quai che ‹ dasjenige das › zum direkt interrogativen tge che ‹ was › . - Fast normativ gilt heute nua che, vl. ingio cha ‹ wo, als › für das temporale cura che. Diese und ähnliche Fälle sind vermutlich kaum zeitliche Entwicklungen, sondern entsprechen dem genuinen, einfacheren oralsprachlichen Low-Register, der vermehrt die propagierte High-Standardform ersetzt, wie es auch die aktuelle Literatur nahelegt. 2. Bestehendes Material 2.1 Semantische Verschiebung Jedes Konzert, jedes Fest, jeder Sportwettkampf und jede Versammlung wird heute verallgemeinert als occurrenza bezeichnet 5 , das NVR mit ‹ Ereignis, Begebenheit › und dem Synonym eveniment, fatg, schabetg eindeutig als verflossen, zufällig definiert. Es gibt bei RTR einen chalender d ’ occurrenzas, also wörtlich einen ‹ Ereigniskalender › anstelle des aktiven, zukünftigen ‹ Veranstaltungskalenders › chalender d ’ arranschaments. 6 Die Verwechslung mit concurrenza ‹ Wettkampf › ist kaum erwähnenswert bei der Polysemie von 3 Wird normativ (Wörterbücher und Grammatiken) noch im Surselvischen, Puter und Vallader verlangt, ist im Surmeirischen ausgefallen und wird im Sutselvischen als Variante bezeichnet. 4 Bei che bain chi ’ m staiva la culur brüna cun muosters clers ‹ wie gut mir die braune Farbe mit Mustern passte › handelt es sich um eine Vermischung von co cha ‹ wie! › als Ausruf und quant bain ‹ wie gut › . 5 Moderner, aber noch etwas zaghaft erscheint «event», nicht immer in englischer Aussprache. 6 Parallel dazu passt ina catastrofa ha gì lieu ‹ eine Katastrophe hat stattgefunden › als ob sie geplant gewesen wäre. 190 Clau Solèr occurrenza. Weitere beliebte «flexible» Abstrakta sind project, incumbensa, sfida, concept, implant ‹ Projekt, Auftrag, Herausforderung, Idee, Anlage › und als Verben gelten realisar, communitgar, infurmar ‹ realisieren, kommunizieren, informieren › . Als stereotype Wendungen genügen zwei Beispiele: ultra da quai ‹ zudem › , anstatt plinavant, alura ‹ weiterhin, dann › obwohl man ultra in undas ultracurtas ‹ UKW › nachweislich nicht versteht. Kaum etwas geschieht ohne dass a chaschun da ‹ anlässlich von › verwendet wird: a chaschun da la radunanza è in credit vegnì approvà ‹ bei der Versammlung ist ein Kredit genehmigt worden › . Neben der einfachen Präposition a ‹ an › en ‹ in › wäre ein aktiver und einfacher Satz verständlicher: la radunanza ha approvà in credit ‹ die Versammlung hat einen Kredit genehmigt › . Begründet werden alle Ereignisse mit per motiv da ‹ aus dem Motiv, dass › anstatt mit pervi da ‹ wegen › . Semantisch ist motiv als Ursache aspektuell ungenau und es wäre raschun ‹ Ursache › zu verwenden, wie unten dargelegt wird. In all diesen Fällen verschiebt sich der Inhalt des Begriffs graduell bzw. aspektuell ohne den semantischen Kern zu treffen. Im Fall von La partida socialista ha numnadamain pers bleras vuschs ed ha cuntanschì ina sconfitta istorica ‹ die sozialistische Partei hat nämlich viele Stimmen verloren und eine historische Niederlage erreicht › ist die Modalität des Verbs genau verkehrt vom intendierten ‹ einstecken, erleiden › ; Romanisch stuair registrar oder umschreibend spers tant sco mai ‹ soviel verloren wie nie › . In der Talk-Sendung Profil ist eine ‹ Kleintierpraxis › als (sr) pratica d ’ animals manedels bezeichnet worden, also als eine Praxis, die im traditionellen Verständnis ‹ Schmalvieh › wie Schafe und Geissen, aber nicht beispielsweise Katzen, Hunde und Hamster behandelt. Diese Bezeichnung anstatt pratica per animals pitschens belegt eine Unterdifferenzierung beziehungsweise den Verlust des semantischen Inhalts einer traditionellen Bezeichnung. Zum Schulanfang 2011 sind die Autofahrer zur Vorsicht gebeten worden mit Uffants en viadi a scola ‹ Kinder auf dem Schulweg › . Kontextbedingt bedeutet viadi aber ‹ Schulreise, Schulausflug › und nicht ‹ Schulweg › . Zu verwenden wäre Uffants sin via a scola ‹ Kinder auf dem Weg zur Schule › oder - wohl zu einfach - uffants van a scola ‹ Kinder gehen in die/ zur Schule › . Besonders in der Surselva hochpolitisch ist die Forderung, femna ‹ Frau, Weib › absolut durch dunna zu ersetzen; dies wegen einer pejorativen Konnotation von femna, die besonders wegen der Betonung quella femna! ‹ dieses Weib › entsteht. Der Ausdruck dunna wird nun polysem und verunmöglicht die Unterscheidung von dunna ‹ Ehefrau › und femna ‹ Frau, allgemein › - ist das der Anfang von Polygamie? Aber auch durchaus nur subjektive Empfindlichkeiten können die Terminologie beeinflussen. Bei der Taufe des RhB-Zuges «Simeon Bavier» 2011 durfte der Begriff batten, battaisem ‹ Taufe › nicht verwendet werden, sondern musste als (vl) la ceremonia per dar il nom al nouv tren ‹ die Feier um dem neuen Zug den Namen zu geben › wortreich 191 Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik umschrieben werden. Dabei bedeutet battegiar allgemein nur ‹ mit einem Namen versehen › und wird auch in anderen Sprachen über das Religiöse hinaus so und gemäss NVR 2. (iron.) als verdünnen, panschen (von Getränken, Wein, usw.) verwendet. 7 Subtiler zu erfassen und schwieriger zu begründen sind semantisch ähnliche Begriffe, eine Art Synonyme, mit unterschiedlichem Aspekt in teilweise transitiver oder intransitiver Konstruktion: - ‹ Lara Gut sorgt für Eklat › ergibt unweigerlich romanisch Lara Gut procura per eclat, wegen der Gleichsetzung von ‹ besorgen = bereitstellen › und ‹ besorgen = verursachen › . 8 Bestenfalls befolgt man meinen Rat und schreibt Lara Gut chaschuna in eclat. Das semantisch treffende Lara Gut provochescha in eclat sollte sich als Phrase doch direkt aufdrängen! - motiv - raschun < ‹ Motiv, Grund, Ursache, Anlass, Beweggrund, Tiebfeder › 9 - ‹ Ursache, Richtigkeit, Recht, Vernunft, Verstand, Grund, Ursache, Anlass, Begründung › 10 - admonir - avertir < ‹ (er)mahnen, warnen, verwarnen › - ‹ mahnen, warnen › - cupitgar - derscher < ‹ stürzen › - ‹ trans. fällen; intrans. umfallen › - cupitgar - ruclar < ‹ umkippen (Auto) › - ‹ (hinunter)rollen, mehrmals umkippen › - sentenziar - condemnar < ‹ verurteilen, aburteilen › - ‹ (relig.) verdammen, verfluchen, verstossen › , ‹ (jur.) gerichtlich verurteilen › - spogliar - eliminar < ‹ plündern, berauben, entblössen › - ‹ beseitigen, wegschaffen, ausscheiden, ausmerzen › - refusar - snegar < ‹ zurückweisen, verweigern, ablehnen, vorenthalten › - ‹ leugnen, bestreiten, in Abrede stellen, verleugnen › - impedir - evitar < ‹ (von Personen) hindern, behindern, (von Sachen) etw. verhindern, verhüten, abwehren › - ‹ vermeiden, ausweichen › 7 Aus stilistischen Gründen ersetze ich ausnahmslos die Formulierung avair lieu mit esser oder einem spezifischen Verb, und auch occurrenza für ‹ Veranstaltung › mit arranschament oder mit der konkreten Veranstaltung, also ‹ Konzert, Theater, Versammlung › usw. Diese semielitären Bildungen sind auch im Deutschen sehr geläufig, wie z. B. «. . . findet dieser traditionelle Anlass statt» für «spielt die Volksmusik für die Behinderten»; DRS1: 12. 11. 2011. 8 Schon 1981 schreibt der Verfasser eines Romanischkurses, ohne sich auf eine deutsche Vorlage zu stützen: Dunna J. D., collaboratura tier la Stampa Romontscha a Mustér, ha procurau la lavur da scriver. Per l ’ illustraziun al frontispezi da questa lavur ha scolast L. F., Mustér, procurau ‹ Frau J. D., Mitarbeiterin bei der S. R. in M. hat die Schreibarbeit besorgt. Für die Abbildung auf der Frontseite dieser Arbeit hat Lehrer L. F. M. gesorgt › . Anstatt des Calque von «besorgen» sind konkrete Verben zu verwenden ha scret/ copiau und Il frontispezi ha L. F. illustrau/ ei in ’ illustraziun da L. F. 9 Und natürlich gemäss NVR ‹ Motiv, Gegenstand einer musik. oder zeichnerischen Darstellung › . 10 Den Charakter des Impetus versuche ich mit esser motivà zu erklären. 192 Clau Solèr - suspectar - supponer < ‹ verdächtigen, argwöhnen › - ‹ annehmen, mutmassen, vermuten, voraussetzen › - guntgir - fugir, mitschar < PG ‹ weichen, ausweichen › - ‹ entweichen › . Belegt als In vadè ha pudì guntgir ‹ ein Kalb konnte ausweichen › für ‹ ein Kalb konnte entweichen › LQ: 23 - 6-2008 anstatt in vadè ha pudì fugir, ~ mitschar. - cun attenziun - cun precauziun < ‹ mit Vorsicht, Aufmerksamkeit › - ‹ mit Vorsicht, ~ ohne Gewähr › - considerabel - remartgabel < ‹ beträchtlich › . Die 16 Einträge im PGonline für considerabel 11 weisen eindeutig auf eine konkrete Bewertung hin, während die 19 für remartgabel 12 subjektiven, wertenden Charakter aufweisen; in 7 Fällen sind sie identisch. Mehrschichtig ist ceder - renunziar. Im politischen Sinn ‹ verzichten › sicher nicht gemeint ist Il cusseglier dals chantuns NN ceda als ‹ nachgeben, verzichten müssen › , sondern nur Il cusseglier dals chantuns NN renunzia, gemeinsprachlich sa retira, na candidescha betg pli. In diesem Umfeld kursiert noch XY ha demissiunà ses post als semantisch und syntaktisch unmöglich. Das Beispiel (sr) L ’ Aurax ch ’ ei en possess da quei baghetg e dalla parcella ha abdicau al menader dil mulin LQ: 17 - 12 - 2007 ‹ Die Aurax, die im Besitze dieses Gebäudes und dieser Parzelle ist, hat dem Mühleleiter gekündigt › zeigt die Unsicherheit zwischen abdicar ‹ (ein Amt) kündigen, zurücktreten › als Synonym zu demissiunar und visar ‹ aufkündigen › . Zudem wäre das direkte Verb che posseda ‹ der besitzt › passender. Semantisch unterdifferenziert ist (sr) el ha blessau sentiments fundamentals ‹ er hat grundsätzliche Gefühle verletzt › , weil blessar konkret konnotiert ist, während die Äusserung abstrakt, psychisch mit violar auszudrücken wäre. Das NVR 2001: 93 zeigt diesen Sachverhalt nicht ausdrücklich auf, sondern lediglich im Beispiel el ha mo blessau il camutsch er hat die Gämse nur angeschossen. Aus den Beispielen unter violar 1. (jur.) verletzen, übertreten, brechen lässt sich der abstrakte Charakter indirekt erschliessen. Eindeutig belegt DRG 2: 388 diesen Sachverhalt mit dem Zusatz «mit Waffen, scharfen Werkzeugen» im Eintrag «verletzen, verwunden». Bei der Übersetzung wird in den meisten Fällen der erst(beste) Begriff aus dem PGonline verwendet. Schon beim geringsten Zweifel bezüglich Bedeu- 11 ansehnlich (bedeutend), beachtlich (beträchtlich), bedeutend, bemerkenswert (beträchtlich), beträchtlich, deutlich (beträchtlich), erheblich, erklecklich, fühlbar (beträchtlich), markant, massiv (beträchtlich), merklich (fig. beachtlich, bedeutend), namhaft, nennenswert (beträchtlich), sonderlich (bedeutend), wesentlich (bedeutend), wichtig. 12 auffallend, auffällig (bemerkenswert), ausserordentlich (bemerkenswert), beachtenswert, beachtlich, bedeutend (beachtlich), bemerkenswert, denkwürdig, eigentümlich, entdeckenswert, erstaunlich, fühlbar, hervorragend (beachtlich), markant, merkenswert, merklich (fig. beachtlich), merkwürdig, nennenswert, sehenswert, sonderbar. 193 Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik tung, Syntax usw. wäre ein idiomatisches Wörterbuch mit Phraseologie und weiteren Angaben, einschliesslich Synonyme zu konsultieren, weil das PG mehrheitlich eine alphabetische Wort-Wort Referenzliste ist. Für den Alltag erachtet man dieses Verfahren wohl als zu aufwendig, denn eine korrekte Sprache wird selten eingefordert. Doch das ist auch ein Zeichen der Minorisierung und «Bedeutungslosigkeit» des Rätoromanischen, besonders im schriftlichen und im öffentlichen Bereich. 2.2 Semantische Erweiterung 2.2.1 Konkreta Bezeichnungen von neuen Objekten oder Vorgängen, die sich im Alltag durchsetzten, verwendet die Sprachgemeinschaft nicht bedingungslos. Das gemeinsame Mittagessen für ältere Personen in Rueun, das die Pro Senectute 2004 im FUS als (sr) Meisa da miezdi (Mittagstisch) ausschrieb, passte offenbar 2011 in Surrein nicht. Der einfache Begriff meisa da miezdi ‹ Mittagstisch › ohne den deutschen Zusatz schien aber doch nicht eindeutig, und man hat den Begriff mit gentar communabel ‹ gemeinsames Mittagessen › verständlich und transparent ergänzt. Meisa für Mahlzeit ist in den Wörterbüchern höchstens als ‹ Kost › belegt. NVR belegt die Bedeutung ‹ 3. Kost, Beköstigung › nur in den zwei Wendungen: ~ libra Freitisch, haver ina buna meisa eine gute Kost haben. Die figurative Bedeutung NVR unter 2. fig. (spez) a) ~ rodunda ‹ runder Tisch › ; der Begriff Tischrunde beschränkt sich auf die Gemeinschaft und schliesst die konkrete Mahlzeit aus; mesada bezeichnet ‹ Tischgesellschaft, Tischrunde › . Bei einer Umfrage wiesen die Reaktionen auf eine Normverletzung hin, denn die Sprachverwender unterscheiden zwischen «ursprünglich» bzw. «neuer» Semantik. Vorläufig muss der Zuhörer noch zwischen der primären, romanischen, oder sekundären, transkodischen Bedeutung entscheiden. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis man sich daran gewöhnt und maisa als ‹ Tisch › , präzisiert mit mezdi aber als ‹ Mahlzeit › versteht. Geschrieben auf der Menukarte bedeutet platta da chaschiel ‹ eine Käseplatte, Käseauswahl, einige Stücke Käse › . Als Simplex bedeutet platta aber immer nur die Unterlage, und als Bezeichnete wird es mit Formen und Material ergänzt, also platta d ’ argient, platta radunda. Traditionell und authentisch wäre taglier chaschiel oder nur chaschiel. 13 Die Stärke des Romanischen als beschreibende Volkssprache weist sich als Schwäche der generalisierten Begriffe aus. Bain hat heute den Germanismus il 13 Inzwischen auch schriftlich als E Fengia ei currida neutier cun ina platta pleina pèschs, en: C ARICARU 2004: 11. 194 Clau Solèr hof bzw. il puraverk völlig verdrängt und bezeichnet ein eher zusammenhängendes Bauerngut. Die Erweiterung bain da consum ‹ Konsumgut › erkennt man nur, wenn man es deutsch rückübersetzt. Terminologisch begründet wäre product da consum gegenüber product da diever ‹ Gebrauchsgegenstand, Gebrauchsgut › , weil product in der Alltagssprache relativ neu und neutral ist. Interessanter erneuern sich Verben, die nur beschränkt erschaffen werden können z. B. durch Entlehungen wie chiffar ‹ kiffen › , pulir ‹ polieren › , cliccar ‹ klicken › , und endolinguistisch, also intern romanisch sich nur mit Partikeln modifizieren. Dafür ist diese Bildungsart beinahe grenzenlos, besonders im übertragenen Sinn wie tegnair giu ‹ abhalten, veranstalten › teganir ferm vi da ‹ sich festhalten an, behalten, weiterführen › und vesair giu da ‹ davon absehen › . 14 Darüber hinaus können Verben auch nur uminterpretiert bzw. erweitert werden. Das Verb retrair sollte semantisch klar sein, denn allgemein bezeichnet die Vorsilbe reeine Rückkehr bzw. Wiederholung. Sowohl bei La polizia sto retrair la patenta als auch bei jau poss retrair daners da la banca wird etwas dem früheren Besitzer erstattet, zurückgegeben; der nominelle Besitzer bezieht, bekommt etwas. Dieses Verhältnis wird zwar in Nua poss jau retrair la patenta ‹ wo kann ich das Jagdpatent abholen, beziehen › zerstört, aber assoziativ ist es noch verständlich. Aber bei retrair la chasa da scola ‹ das Schulhaus beziehen › wird das Verhältnis umgekehrt: man zieht ein, aber sprachlich wird einem das Gebäude entzogen. Es ist vermutlich das Resultat einer Unterdifferenzierung von ‹ beziehen, entziehen › , die in den Wörterbüchern erst allmählich auftaucht oder noch fehlt. NVR: retrer I tr, 1. zurückziehen, zurücknehmen. a) ~ enzatgi dil precipezi jem. vor dem Abgrund zurückziehen b) ~ il recuors den Rekurs zurückziehen; ~ l ’ iniziativa die Initiative zurückziehen. 2. in Empfang nehmen, einlösen ~ la bagascha das Gepäck entgegennehmen; ~ daners Geld abheben; ~ il pègn das Pfand einlösen. 3. entziehen, wegnehmen. 4. beziehen, kommen lassen, 5. beziehen, antreten ~ ina nova habitaziun eine neue Wohnung beziehen; ~ domena Wohnung beziehen, sich niederlassen, 6. (jur.) das Zug-, Näherrecht beanspruchen, 7. (von Kühen) ~ il latg/ ~ dil latg weniger Milch geben. II refl seretrer 1. sich zurückziehen, 2. zurücktreten, seinen Rücktritt nehmen, in Pension gehen, 3. (milit.) sich zurückziehen, den Rückzug antreten. V IELI (1938) liefert nur die Bedeutungen: zurückziehen, zurücknehmen; beziehen ohne Beispiele. P EER (1961: 394) erwähnt ~ pensiun ‹ Pension beziehen › aber schreibt nur I tr. 1. zurückziehen, zurücknehmen, entziehen, 2. kommen lassen, beziehen; II refl. as ~ sich zurückziehen, zurücktreten (von Amt, Stelle); Bei Pallioppi fehlt diese Bedeutung. 14 Die lexikalische Entlehnung mit morphologischer Anpassung behandelt S OLÈR 2002 - 2003: 109. 195 Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik In der Umgangssprache Deutsch und Romanisch vermeidet man eher solche idiomatische Wendungen und verwendet einfache Verben wie ir per la patenta, survegnir la patenta bzw. ir en la nova chasa da scola, ir en la nova chasa a scola analog zu ‹ in das neue Schulhaus gehen, in einem neuen Schulhaus in die Schule gehen › , und bei ‹ Wohnung › beispielsweise midar abitaziun ‹ umziehen, zügeln › . Im Beispiel demonstrants han pretendì la retratga dal president ‹ Demonstranten haben den Rücktritt › , wörtlich ‹ Rückzug des Präsidenten verlangt › widerspricht das Objekt retratga seiner Referenz, nämlich dass der Präsident sich zurückziehen sollte, also ils demonstrants han pretendi ch ’ il president sa retiria bzw. Ils demonstrants han pretendì la demissiun dal president ‹ die Demonstranten haben den Rücktritt des Präsidenten gefordert › . Das romanische Verb purtar ‹ tragen › wird vermehrt auch für konkret ‹ bringen › verwendet wie (sm) purtar la planta ainten la resgia ‹ den Baum in die Sägerei bringen › . Figurativ üblich ist die Wendung la gasetta ha purtà ‹ die Zeitung hat gebracht › , wohl in Anlehnung an das Deutsche. Ebenfalls nicht differenziert wird visitar ‹ besuchen › in visitar la scola ‹ die Schule besuchen › für ‹ in die Schule gehen › und ‹ einen Schulbesuch abstatten › . Damit drückt man sich gehobener aus als nur mit ir a scola ‹ in die Schule gehen › oder far la scola ‹ die Schule machen › ; frequentar la scola entspricht einem anderen Register, dem der Fachsprache. Man kann beobachten, dass semantische Entwicklungen nicht die Gesamtheit der Sprache betreffen, sondern nur bestimmte Register und nur einzelne Bereiche wie die Medien, die Verwaltung und Übersetzugen, und auch nur ein Teil der Sprachproduzenten lockert die Semantik. Im Unterschied zum erwähnten eher abstrakten Fall von retrair soll eine sehr alltägliche Beschäftigung im Büroalltag analysiert werden, nämlich ‹ drucken › . Smatgar ora, squitschar ora, struclar ora gelten heute als gleichwertig, und man ist überzeugt, gutes Romanisch zu verwenden, weil man den Germanismus far l ’ usdrucken ‹ machen das Ausdrucken › vermeidet. Historisch und fachlich richtig wäre stampar bzw. das populäre stampar ora mit dem Umfeld stampa, stamparia, stampadur ‹ Druckerei, Drucker › . Der Ausdruck squitschar ist eine synonyme Erweiterung vom Druck allgemein il squitsch, das il druc puristisch zu ersetzen vermochte. Das Verb smatgar bezeichnet den physischen Druck beim Schriftdruck, aber nicht das aktuelle Bedrucken eines Blattes Papier. Pressiun und pressiar/ pressar werden im Unterschied zu anderen romanischen Sprachen für den Buchdruck nicht verwendet, sondern nur abstrakt z. B. als impressiun und impressiunar ‹ Eindruck, beeindrucken › . Das Verb splattar NVR: I tr, 1. platt machen, abplatten, 2. (von Gras, Äckern, usw.) niedertreten, einwerfen, zertrampeln, 3. zerquetschen, zerdrücken habe ich in dieser Bedeutung noch nicht gehört - bisher. 196 Clau Solèr NVR struclar I tr, 1.a) drücken, zusammendrücken, pressen b) ~ il nuv dalla televisiun auf den Knopf des Fernsehers drücken c) auswinden, 2. feilschen, abmarkten, 3. fig. ~ ils egls mit den Augen zwinkern. II intr. einengen. III refl sestruclar 1. sich drücken, sich drängen, 2. liebkosen, sich heftig umarmen NVR smaccar I tr, 1.a) quetschen, zerdrücken, zermalmen, zerstampfen . . . ~ ora herausdrücken, herauspressen b) (spez.) ~ crut Kraut einstampfen, ~ nuschs Nüsse knacken, 2. (von Gliedern) ~ in pei einen Fuss quetschen; ~ in det einen Finger einklemmen, 3. (techn.) drücken, 4. (fam.) anstellen, treiben. II intr. 1. drücken, 2. (vom Wetter) drücken, schwül sein. III refl. sesmaccar 1. sich drücken, sich quetschen, dicht werden, 2. sich gegenseitig drücken, sich drängen NVR squitschar I tr. 1. drücken, ~ ora ausdrücken, kneten, Sy: smaccar, 2. drücken, senken, 3. bedrängen, erpressen, belasten, 4. fig. ~ calenders vor sich hinbrüten, sich Sorgen machen, 5. (Druckwesen) drucken; ~ in cudisch ein Buch drucken; far squitschar in Druck geben. II intr, 1.a) (vom Wetter) drücken b) (vom Gelände) il terren squetscha der Boden drückt, 2. (von einer kalbenden Kuh) drücken, stossen, Anzeichen des Kalbens geben. Sy. spenscher. Auch wenn der Roman «Sez Ner» von Autor Arno C AMENISCH selbst zweisprachig - zuerst deutsch und anschliessend romanisch verfasst wurde, weder ein zoologisches noch ein landwirtschaftliches Fachbuch ist, liest man: Il tgiet, il bi, protegia sias clutschas, cuviera ellas trasora e dapertut. ‹ Der Hahn, der schöne, beschützt seine Hühner, deckt sie die ganze Zeit und überall. › (14) 15 . Der Fachausdruck ‹ treten › mag einem romanischen Schriftsteller fremd sein, aber cuvierer ‹ decken › für capunar befremdet sehr. 16 Auch die folgenden Ausdrücke missversteht der gewohnte romanische Leser: - schambun ‹ Schinken › (6) für ‹ Hüfte › ; später aber caluns ‹ Hüfte, Oberschenkel › (36), queissa dil purtger ‹ Oberschenkel des Schweinehirten › (20) - tups tochen funs (8) ‹ . . . im Grunde genommen dumm › . NVR liefert folgende Vergleiche: ~ sco la crappa, ~ sco in tschep da lenna, pli ~ che liungs ~ wie die Steine, ~ wie ein Scheitstock, ~ dümmer als lang. Weitere umgangssprachliche Ausdrücke sind: tuppira, tups tochen leuora, pli tups che quei che la polizia lubescha ‹ oberdumm, dumm bis dorthin, dümmer als es die Polizei erlaubt › - las vaccas bintgunan davos ora (14) ‹ bis die Kühe ausschlagen › . Hier handelt es sich um einen kräftigen Schlag, aber NVR belegt für buntganar nur stupfen, stossen, rempeln, mit dem Ellbogen stossen, aufmerksam machen. Romanisch ist dar davos ora, mislar davor ora ‹ nach hinten ausschlagen › - vid il funs dallas caultschas (32) ‹ am Hosenboden › für tappun - la tschenta dalla bransina (110) ‹ Glockenriemen › für curegia als Fachbegriff - Das Verb sfundrar in il sulegl sfundra davos la pezza giu (6) ‹ Die Abendsonne versinkt hinter den Bergspitzen › bedeutet gemäss NVR ‹ einsinken, versinken, 15 Seitenzahl des deutschen Paralleltextes. 16 Im Deutschen ist auch ‹ decken › für Hühner kaum möglich; es wird für grosse Nutztiere verwendet. 197 Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik untergehen (von Schiffen), einsinken, einbrechen, versickern, ablaufen (Wasser) › . Gründlich betrachtet evoziert sfundrar aber durchaus das erwünschte Bild des poetischen Verbs ir da rendì ‹ untergehen › . Es wäre interessant herauszufinden, wie ein einheimischer Landwirt diesen Text liest und versteht. Das Dilemma besteht darin, eine traditionelle Fachsprache für die heutige Generation aktualisieren und trivialisieren zu wollen, wobei noch nicht sicher ist, dass diese den Inhalt überhaupt noch versteht. 17 2.2.2 Wendungen und Metaphern Sprachliche Wendungen und Bilder sind subjektive Stilelemente und gelten landläufig als Qualitätsmerkmal für eine Sprache. Der Ausdruck Peder nair in der Wendung ‹ den Schwarzen Peter zuschieben › stört traditionelle Sprecher in der Surselva. Sie verwenden peschaletg mit der primären Bedeutung gemäss NVR 1. Bettnässer, 2. fig. Knirps, 3. (beim Kartenspiel) Schwarzer Peter; dar vinavon il ~, den Schwarzen Peter weiterreichen. 18 Peder nair ist in der Surselva nur verständlich, weil man Deutsch kann und wirft die Frage einer kreuzweisen Semantik auf, das heisst ein romanischer Ausdruck ist romanisch bedeutungslos, hier Peder nair und definiert sich nur metaphorisch aus der deutschen Spendersprache. Dem Begriff ‹ Standpunktfrage › entspricht kaum dumonda da posiziun, sondern punct da vista. Auch ‹ Notlage › ist nicht situaziun d ’ urgenza, wörtlich ‹ Notfalllage › , sondern situaziun privlusa, ~ precara ‹ gefährliche Lage › . Gleich unterdifferenziert ist auch alloschi d ’ urgenza für ‹ Notunterkunft › im Sinne von ‹ behelfsmässiger Unterkunft › , wofür das PG als Synonym richtigerweise alloschi provisoric liefert. Gelegentlich verlangen Ausdrücke eine starke Vorstellungskraft, wenn man genau hinhört. Bei Damaun datti nibels restants ‹ morgen gibt es Restwolken › wörtlich ‹ restliche, also besondere Wolken › handelt es sich um den abstrakten Begriff ‹ Restbewölkung › . Diesem Wetter entspricht Damaun resti anc paucs nibels, damaun hai anc in pèr nibels ‹ morgen bleiben/ hat es einige Wolken › oder als Rest eines Prozesses damaun vanzan anc in pèr nibels ‹ morgen bleiben einige Wolken zurück › . Eine punt pendenta evoziert eher eine ‹ hängende Brücke, schiefe Brücke › anstatt eine ‹ eingehängte, ohne Stützen › , das PGonline mit dem Synonym punt pendenta, punt suspendida genauer bezeichnet. 17 In seinem Roman Marlengia vergleicht Gion D EPLAZES 1980 einen Trax mit einem die Erde aufwühlenden Stier und den Muldenkipper des Typs «Catterpillar» mit seinem ausgeprägten vorragenden Motor mit der Schnauze eines wühlenden Schweines, um der avisierten bäuerlichen Leserschaft die neuen technischen Errungenschaften zu erklären. Heute versteht man das tierische Verhalten besser über die Maschinen. 18 BT s. v. Schwarzpeter: spazzachamin, mustazzun, Peider nair; Entsprechungen fehlen in den aktuellen Wörterbüchern. 198 Clau Solèr 2.3 Semantische Einschränkung Wie in anderen Sprachen, aber auch analog einer neuen inneren Logik, verlieren Simplexe ihre ursprüngliche konkrete Bedeutung, wenn sie als Komposita eine spezifische Bedeutung erhalten. Analog zu traditioneller chasa da scola, ~ da commerzi ‹ Schul-, Geschäftshaus › entsteht neu, sozusagen pleonastisch chasa d ’ abitar ‹ Wohnhaus › , weil chasa schon ‹ Wohnhaus › bedeutet. Weitere Beispiele sind: - staziun da tren < Bahnhof 19 - lavurs da rumir < Räumungsarbeiten; für rumidas resp. per rumir, cun rumir - plazza da lavur < Arbeitsstelle; für plazza ‹ Arbeitsstelle › , plaz(za) da lavur ‹ Arbeitsort › - vadè-vatga < Kuhkalb; die Simplexe vadè, vadella gelten für das Vieh allgemein; die anderen Kälber werden genauer bezeichnet wie vadè-tschierv ‹ Hirschkalb › . - vatga da latg < Milchkuh, allgemein; für vatga ‹ Kuh › ; vatga da latg kann nur kontrastiv beispielsweise zu vatga da maz ‹ Schlachtkuh › gebraucht werden. - mir da sustegn < Stützmauer; der romanische Ausdruck grenzt an Pleonasmus. In Wirklichkeit sind es mir sur via, ~ sut via, ~ da la chasa ‹ Mauer oberhalb, ~ unterhalb der Strasse, Hausmauer › . - truppas da l ’ armada < Armeetruppen; ist ein Pleonasmus - marenghin d ’ aur < Goldvreneli, wörtlich ‹ Gold-Goldstück › . Neben einer semantischen Einschränkung, einem Verlust des Inhalts, entstehen im Romanischen logisch-syntaktische Probleme. Ist ein Verkaufsladen nun ina stizun da vendita oder ina stizun da vender, die also verkäuflich ist. 3. Erneuerung 3.1 Autonome Erneuerung Die meisten romanischen Texte, einschliesslich Radiosendungen und Anschriften, werden heute übersetzt und nicht mehr frei verfasst. Es sind relativ statische Strukturen und Formulierungen wie Kaskadensätze 20 , unper- 19 Der Begriff ‹ Bahnhof › hat seinen spezifischen Wert verloren, wenn wir z. B. an ‹ Busbahnhof › oder sogar an ‹ Weltraumbahnhof › denken. Die romanischen Sprachen haben dafür spezielle Ausdrücke; Frz. ‹ port spacial › und It. ‹ cosmodromo › , wobei ‹ port › als ‹ Hafen › ebenso konnotiert ist wie ‹ gare routière › für ‹ Busbahnhof › . Romanisch wäre analog port spazial; cosmodrom ist kaum verständlich, weil - drom nicht transparent ist. 20 So schreibt die Bündner Kantonbalbank p. pl. tegnair en salv per intents fiscals anstatt des kurzen und eingängigen Begriffs p. pl. salvar per las taglias (BCG). Sogar das DRG schreibt auf seiner Internetseite Plan da las vias d ’ access ‹ Plan der Zufahrtswege › anstatt plan. In Lavin liest man: il servezzan d ’ apport es admiss - Zubringerdienst gestattet, vgl. 199 Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik sönliche Passivsätze und sterile «Satzbausteine», häufig Floskeln. Der Wortschatz ist technokratisch-international geworden, und relativ wenige Verben, bzw. Hilfsverben mit spezifischen Nominalisierungen genügen. Ich beschränke mich auf Einzelbegriffe und beginne mit folgender Feststellung, die wir täglich zu hören bekommen: . . . scriva en ina communicaziun a las medias ‹ schreibt in einer Medienkommunikation › , prosaisch ‹ teilt schriftlich mit › , bzw. ‹ schreibt › . 21 Aus diesem, auch deutsch unsinnigen Satz, kristallisiert sich der abstrakte Begriff communicaziun, der eigentlich für einen Prozess ‹ kommunizieren › steht, zu einem eigenständigen, konkretisierten Fachbegriff für ‹ Brief › , auch ‹ ein Schreiben › , neuromanisch in scriver, vermutlich als H-Variante zu brev ‹ Brief › . Dieser Begriff entleert sich zu Sco quai che la Posta scriva en ina communicaziun ch ’ è vegnida repartida en tut las chasadas ‹ wie die Post in einer Mitteilung schreibt, die an alle Haushalte verteilt wurde › . Umgekehrt verdichtet sich der Begriff politisch zu ‹ Stellungsnahme › als Antwort auf eine Vernehmlassung: La Regiun Surselva scriva en ina communicaziun alla Confederaziun. Der Begriff ‹ Kommunikation › bzw. ‹ kommunizieren › wird in der letzten Zeit vermehrt euphemistisch bei Entlassungen verwendet, die lapidar mit ‹ Das wurde kommuniziert! › begründet werden und den Arbeitgeber von weiteren Verpflichtungen entbindet. Abschliessend noch eine Frage: Wie sieht eine «Mitteilung» bzw. ina communicaziun überhaupt aus? Früher entwickelte sich die Sprache kleinräumig und dialektisch in der engeren Gemeinschaft der Sprachverwender und wurde als natürlich erkannt, falls überhaupt. Ob segua ‹ Folge › für consequenza aus dem Verb seguir im Unterengadin eine erkennbare oder gar abrupte Entwicklung, ein Hapax ist, kann ich nicht beurteilen. Es ist auf alle Fälle ein Reflex an ‹ Folge › aus ‹ folgen › . Formal ist auch chat eine Ableitung von chattar ‹ finden › wie ‹ Fund › für ‹ Fundgegenstand, Fundobjekt › , das auch romanisch besser mit object chattà bezeichnet würde. Kommunikativ scheint chat eher zu belustigen als zu irritieren. 22 S OLÈR 2010: 173. Der Satz La buna occupaziun da plaz[s] da tgira da passa 97 % dumonda uss in engrondiment da la clinica RTR 2011 entspricht haargenau ‹ Die gute Belegung der Pflegeplätze von 97 % verlangt jetzt eine Erweiterung der Klinik › . Romanisch wäre z. B. Perquai ch ’ ils plazs da tgira èn occupads per passa 97 %, èsi d ’ engrondir la clinica. Interessant wäre die romanische Entsprechung des folgenden Satzes: «Dignitas darf Sterbebegleitungen durchführen». 21 Das hochprofessionelle ‹ heisst es in einem Positionspapier › ergibt èsi scrit en in palpiri da posiziun. 22 In einem Moderatorengespräch anfangs 2011 wurde über Verlorenes und Gefundenes gesprochen und die Moderatorin und Hörerin umschrieben es mit einem Verb im Sinn von ‹ was man gefunden, bzw. verloren hat › , aber kannten nicht den Begriff für 200 Clau Solèr Schon immer trachtete man bei der Neologie um allgemein verständliche Begriffe, indem man fremdartige, ungewohnte Fachtermini mit einem trivialen, transparenten, oft umschreibenden Begriff ergänzte. Trotzdem können für den Terminologen einsichtige und gut gemeinte Vorschläge die Verwender irritieren. In der Informatik ist der Befehl «Speichern, Speichern unter. . .» zuerst mit arcunar PG 2003, nun aber romanisch mit memorisar übersetzt worden. Viele Anwender suchen aber nach segirar ‹ speichern, sichern › . Encollar ‹ einkleben › für ‹ einfügen › ist weniger transparent als plazzar ‹ plazieren › , das aber nie verwendet wurde. Vielfach fügt man anstelle von genauen Begriffen in ihren typischen Redewendungen ziemlich unbeschwert Schlagwörter sinnlos zu leeren Ketten aneinander. Ella pretenda ina furma adequata dal dialog e dals instruments per savair realisar l ’ incumbensa dada 23 . Das Verb realisar deckt heute beinahe jede Aktivität ab von realisar ideas, in film über realisar in bigl, in rempar bis realisar in cumpromiss und realisà ina discussiun ‹ Ideen, einen Film, einen Brunnentrog, eine Verbauung, einen Kompromiss, eine Diskussion realisieren › . 24 Auch incumbensa ‹ Auftrag › gehört als abstrakter Begriff nicht zur Alltagssprache genauso wenig wie sfida ‹ Herausforderung › , ohne dessen Inhalt zu kennen, worauf auch der Pleonasmus incumbensa dada verweist; ein Auftrag wird immer aufgetragen, bzw. erteilt. Und wenn man einen so stilvollen Begriff verwenden möchte, dann gehört das Verb ademplir ‹ erfüllen › dazu. Für ‹ verwenden › allgemein, konkret ‹ kaufen, reisen (mit einem Verkehrsmittel) › aber auch ‹ einen Kurs, Konzert usw. besuchen › gilt mündlich und schriftlich die Standardfloskel far diever da la purschida ‹ vom Angebot Gebrauch machen › . Fälle von ungenügender Unterscheidung in der Ausgangssprache, sogenannte Unterdifferenzierungen kann man kaum als Erneuerung betrachten. Verwirrend ist zudem die Vermischung verschiedener Register, das der Fachbzw. der Alltagssprache, welche dieses Register kaum oder überhaupt nicht (mehr) besitzt. ‹ Bund › hat als Synonym zu Eidgenossenschaft romanisch federaziun anstatt confederaziun ergeben. Häufig vermischen unsichere Sprecher diese Begriffe, und auch die gedankenlose Benutzung des PGonline hilft dabei, da es ‹ Bund (Vereinigung) › federaziun zuerst liefert und erst an zweiter Stelle einschränkt: ‹ Bund (polit.) › confederaziun. «Fundbüro». Aufgefordert durch die Hörerin, suchte die Moderatorin im PGonline und sagte: uffizi da chat, was die Hörerin mit uffeci da giat ‹ Katzenamt › abtat. 23 Rapport annual SRG.R vor der Korrektur. Savair ‹ wissen › anstatt pudair ‹ können, vermögen › ist eine surselvische Intereferenz in Rumantsch grischun. 24 SO 10. 10. 2011: «Im Safier Bergdorf Tenna wird derzeit ein Um- und Neubau des Schulhauses realisiert.» Eleganter wäre z. B. «. . . wird das Schulhaus umgebaut und ergänzt.» 201 Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik Eher ein konnotativer Konflikt entsteht in der juristischen Verwendung von denunziar für ‹ Anzeige erstatten › als Ersteintrag neben purtar plant, das beim Suchwort ‹ Klage einreichen › allein steht. Auch die Technik und die Wirtschaft stehen im Konflikt, weil sie terminologisch modernisiert werden, also akademisch und abstrakt, aber praktisch als sektorielle Sprache im Alltag romanisch nicht funktionieren. Auch in der Literatur und allgemein schreibt man zunehmend einen kolloquial-kommunikativen Stil. Zudem schreiben heute auch Personen, die früher höchstens etwas Deutsch geschrieben hätten, dafür aber kaum oder überhaupt nicht ausgebildet sind, so dass diese Demokratisierung zu einer amorphen Sprache in allen Belangen führt. 3.2 Kontaktbedingte Erneuerung 3.2.1 Lexikalische Erneuerung Traditionell ist Romanisch eine Erzählsprache und es hat zu allen Zeiten Mühe bekundet, die abstrakte Welt zu beschreiben. Die schnellen Medien und die Globalisierung haben seine Fähigkeiten an sich überschritten. Mangelnde Sprachkompetenz, Hektik und Abstraktion führten zur Nachricht Affischa sin il president pakistanais ‹ Anschlag auf den pakistanischen Präsidenten › , gestützt auf das PGonline s. v. Anschlag: [in dieser Folge] affischa, placat, avis, attentat, attatga, culp, frida, tuc, battida, arretada . . . Das PG ist nur mitschuldig; es ist nun einmal kein Wörterbuch, sondern eine Referenzliste, teilweise präzisiert, um dem Benutzer den passenden Begriff zur Auswahl vorzuschlagen. Affischa schien möglich, weil der Verwender es nicht als Synonym zu placat erkannt hat. 25 Es braucht Erfahrung, Geistesgegenwart und Skepsis gegenüber neuen deutschen Begriffen, um sich nicht zu verirren. Ein solcher Begriff ist «Streubombe», wofür ich basierend auf Termdat und andere Quellen kürzlich bumbas cun bumbets radiointern vorgeschlagen hatte. Das trotzdem verwendete bumbas da springir wörtlich instrumental ‹ Bomben zum Streuen › im faktitiven Sinn müsste, abgesehen vom semantischen Inhalt, syntaktisch besser bumbas springidas ‹ gestreute oder verstreute Bomben › heissen, weil kleine Bömbchen durch eine Primärexplosion verstreut werden und dann selber explodieren. 25 Auch die traditionellen Wörterbücher lieferten unaufmerksamen Benutzern falsche Begriffe. Der ‹ Sprecher des Bundesrates › wurde um 1980 als l ’ oratur dal cussagl federal bezeichnet, weil B EZZOLA / T ÖNJACHEN 1944: 852 zum ‹ Sprecher › einzig oratur ohne Auswahl anführt. 202 Clau Solèr NVR springer I tr. 1. (be)streuen, streuen, 2. besprengen, bespritzen, 3. (spez.) spritzen, verspritzen, 4. mager (spärlich) düngen. II intr. rieseln, träufeln; (impers.), 2. wirbeln, 3. (vereinz.) springer sperasvi vorüberhuschen. Will man sich aber unbedingt an das Deutsche ‹ sprengen › anlehnen, dann ist das Verb sterner zu verwenden. NVR stiarner I tr. 1.a) streuen, einstreuen, ausstreuen, b) ~ ora ausstreuen, verbreiten, 2. Speisen würzen, 3. verschleudern, vergeuden, 4. (mit pp.) a) (mit schar) alles liegen lassen, b) (mit esser) ausgebreitet sein; am Boden liegen. II refl sich (faul) hinlegen, sich niederlegen; auch: sich breit machen; sich überall breit machen. In Anlehnung an 3. fig. haver daners da ~ Geld wie Heu haben, bekäme die Nachricht sogar noch einen ethischen Wert: bumbas da sterner ‹ Bomben in Überfluss › ; neutral wäre bumbas sternidas, bumbas che sa sternan zu verwenden. Der Ausdruck automat da rotaziun lässt höchstens eine technische Einrichtung vermuten. Auch als Wirtschaftsnachricht im Kontext mit Tornos im Kanton Jura bleibt der Begriff dem Zuhörer unverständlich. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Drehautomaten, also eine automatische Drehbank automat da turnar bzw. gemäss PG turn ‹ Drehbank › turn automatic, automatisà. Krass unterdifferenziert und auch grammatikalisch fraglich liefert PGonline cedel electoral für ‹ Wahlzettel › , primär ‹ wählende Zettel › und weist damit auf einen oft unterdifferenzierten Aspekt der Adjektive hin. Sowohl spontane als auch systematische Erneuerungen beruhen nicht selten auf unklare Begriffe der Herkunftssprache Deutsch. Ein ‹ Pannenfahrzeug › bezeichnet ungenau ein ‹ Fahrzeug mit einer Panne › , aber das verwendete auto da pannas kehrt die Lage um und bedeutet ein ‹ Fahrzeug für Pannen (fälle) › , ein ‹ Entpannungsfahrzeug › analog zu auto da malsauns, auto da pumpier. Für ‹ Rohstoff › allgemein und als Synonym zu einem konkreten Rohstoff passt materia prima, aber kombiniert ist das kollektive materias primas zu verwenden, wie das PG für ‹ rohstoffarm, Rohstoffbörse › aber nicht für ‹ Rohstofflager, Rohstoffquelle › angibt. Das Verb ‹ spielen, abspielen › von Musik beispielsweise kann romanisch nicht direkt mit il radio suna ina chanzun ausgedrückt werden, weil sunar sich nur auf musizieren beschränkt. 26 Eine weitere semantische Unterdifferenzierung zeigt In helicopter ha laschà sdrimar la tegia da Monte-Rosa cun sa 26 Das Romanische unterscheidet beim Verb «spielen» zwischen Musik (sr) sunar und far termagls, termagliar und dar + Objekt, z. B. dar chartas, dar ballape ‹ Karten-, Fussball spielen › . Im Engadin ist (vl/ pt) giovar/ giuver ‹ spielen › (Kinderspiele, Sport eine Alternative, während (sr) giugar wegen der Homonymie,stierig sein › (noch) belastet ist. 203 Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik tschentar. ‹ Ein Helikopter hat das Hütten(dach) beim Landen gestreift › . NVR gibt bei sdrimar nur ‹ mit Streifen versehen › an und nicht ‹ streifen, berühren › , wofür laschar pegliar ‹ berühren lassen › oder tutgar ‹ berühren › , PGonline ‹ streifen (anfassen, touchieren) › zu verwenden ist. Andererseits verfolgen einzelne Romanischsprecher offenbar die kleinsten Veränderungen ihres Sprachsystems und reagieren darauf. Bei der Bezeichnung eines Projektes 27 producziun da latg da bovs salvadis ‹ Produktion von Büffelmilch › sei bov als «muvel bovin masculin chastrà» semantisch völlig daneben, und die vorgeschlagene Verbesserung mit biffel ‹ Büffel › zu latg-bifla erkläre die Feminin-Form nicht. Irritiert wurde ein Radiohörer wegen (sr) magliar selvadi ‹ Wild essen › wegen der Unterdiferenzierung von selvadi ‹ wild › als Adverb bzw. Adjektiv und gleichzeitig ‹ Wild(fleisch) › anstatt selvaschina. Stärker als Medienleute sind Teile der Bevölkerung gerade wegen der Zweisprachigkeit und ihrer Interferenzgefahr sehr «sprachbewusst», hie und da zu gründlich oder sogar puristisch. So irritieren deutsche Begriffe und Wendungen wie: ‹ diplomatischer Korrespondent › , für ‹ Diplomatiekorrespondent › , falls es das gibt, und ‹ wolkenartige Bewölkung › , ‹ Schiffsmarine › und ‹ Armeesoldaten › provozieren fast notgedrungen Falschbildungen. Gegenüber diesen systematischen Prozessen und Resultaten nehmen sich die spontanen, bildlichen Begriffe wie tschigulatta da resgia ‹ Schokolade als Säge › für die «Toblerone» oder pleh cun vias ‹ Blech mit Wegen, Rillen › für «Wellblech» erfrischend aus. Kaum mehr gebraucht sind die chasperets ‹ Kasperle(figur) › im Engadin für «Scheibenwischer» wegen der Auf-Ab- Bewegung, und in der Surselva wurde cutgna wörtlich ‹ Schwarte, vom Holz › prosaisch zu aissa ‹ Brett › oder ‹ Snowboard › . 3.2.2 Syntaktische Erneuerung Die Syntax greift in die hier gewählte semantisch-lexikalische Sicht wegen des umstrittenen Komposita-Konzepts im Rätoromanischen, überhaupt in den romanischen Sprachen und deren Resultate. Sowohl bei via d ’ alp instructiva als auch bei fiera da primavaira tradiziunala versteht man erst nach einer Rückübersetzung und aus Erfahrung, dass der erste Begriff umschrieben, determiniert wird, und nicht der direkte grammatikalische Bezug. 28 Begründet wird die Abfolge damit, dass es sich um Komposita ‹ Alpweg › bzw. ‹ Frühlingsmarkt › handelt. Deren romanische Entsprechungen sind aber reine Nominalsyntagmen, verbunden mit irgend einer Präposition, und unterliegen der romanischen Syntax bezüglich ihrer Referenz; sie dürfen nicht mit dem deutschen Kopositum begründet werden. Morphologische 27 «Prix montagne 2011» 28 Aktuell sind cursa da stad engiadinaisa ‹ Engadiner Sommerlauf › und la ministra d ’ economia nova ‹ die neue Wirtschaftsministerin › . 204 Clau Solèr Unterschiede bieten syntaktisch etwas Spielraum: martgà da primavaira tradiziunal. Auch eher eine syntaktische Interferenz entsteht bei der Inversion des unpersönlichen Pronomens i ‹ es › . Während es in der SV-Abfolge i vegn ‹ es kommt › kaum entfällt, scheint es invertiert die Norm zu werden wie uss vegn sclerì, sch ’ ins savess cumplettar . . . gemäss ‹ Jetzt wird abgeklärt, ob man vervollständigen könnte › . 29 4. Ursachen 4.1 Sprachkontakt Die Tatsache, dass man sich nicht häufiger missversteht, beruht einserseits auf der Fähigkeit, sich das transkodierte Material in kleinen Portionen sukzessive sich anzueignen und andererseit auf der Gewohnheit, romanische Textteile über Deutsch zu entschlüsseln. Deshalb wundern sich Normalsprecher gelegentlich regelrecht, wenn sie auf eine transkodische Bildung hingewiesen werden, die für sie schon Norm geworden ist. Darüber hinaus funktioniert das Romanische trotz gegenteiliger Sprachpolitik eben immer als Komplementärsprache zum Deutschen, das die Kommunikation garantiert, zuerst mit deutschen Bezeichnungen, und im Notfall mit Sprachwechsel. Deutsch ils als geografisch-kulturelle Nachbarsprache, als wichtige Ausbausprache ein wesentlicher Grund für die zunehmende mentale Symbiose, um sich gegenseitig spiralförmig zu verstärken. Das ursprüngliche rätoromanische System gleicht sich an das deutsche an, und romanisch ist einzig das Lexikon, und das ist transkodiert - wie stark wurde nachgezeichnet. 4.2 Rumantsch grischun? Im Vergleich mit den Idiomen ist Rumantsch grischun solchen Veränderungen stärker unterworfen. Das liegt nicht ursächlich an der Sprachform, sondern an den Umständen, nämlich wo und wie es verwendet wird, welche Hilfsmittel bestehen, und schliesslich aus psychologisch-intuitiven Momenten. Rumantsch grischun steht vereinfacht überall dort, wo Romanischsprecher früher Schriftdeutsch lesen mussten - nicht durften, wie deutsche Literatur und Zeitungen. Es geniesst also ein geringes Ansehen, dies im Unterschied zu den Ortsmundarten bzw. den Idiomen für die identifikatorischen, emotionalen, persönlichen und sozialkommunikativen Bereiche. Bei der Verwendung des RG fehlt der in den Idiomen als Erstlernsprache 29 Wegen der Elison des nachgestellten i am gleichlautenden Verbauslaut kann RG es mit quai ergänzen. Im Surselvischen löst die H-Variante ei das Problem i fetschi > fetschi ei. 205 Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik erworbene Sprachreflex weitgehend; es scheint ein isoliertes Register mit einer lediglich emblematischen Funktion zu sein. 5. Aussichten Die Beobachtungen der vergangenen Entwicklungen lassen uns höchstens die Richtung für die Zukunft erkennen. Deshalb richte ich mich auf die Praxis ein und stelle zweierlei fest: - Die Sprachbelege aus der Vergangenheit liefern nur teilweise die wirkliche Sprache der verschiedenen Epochen. Mündliche Sprache ist kaum überliefert, und falls doch, dann nicht selten als gesteuerte Antworten auf die Fragen der Forscher. 30 Die meisten schriftlichen Texte sind das Resultat einer Sprachpflege und sorgfältiger Redaktion. Deshalb sind die Schlüsse mit Vorsicht zu ziehen. Neben linguistischen Kräften wirken auch der Zufall und vielleicht sogar eine rechte Portion Phantasie der Sprachverwender. - Noch eine gewisse Zeit muss ich mich als sprachlicher Berater des RTR entscheiden, wie stark soll/ muss ich/ man in die Sprache eingreifen, um eine rein transkodierte Varietät zu verhindern, die zwar verstanden wird, aber langfristig die authentische Volkssprache auflöst. Welche Neuerungen zulassen, welche nicht? Es gilt die Erwartungen des Publikums für ein korrektes, «schönes» Romanisch mit den tatsächlichen Möglichkeiten, Sprachkompetenz, den Medienleuten und den verschiedenen Registern in Einklang zu bringen; persönliche Befindlichkeiten haben kaum einen Platz. - Weiter muss man noch die Frage nach einer rätoromanischen Sprachpolitik stellen: ● Braucht es ein riesiges theoretisch-legales Gebäude mit vielen «Projekten» oder eher konkrete Sprachbegleitung für die Romanischsprecher und praktische Unterstützung für das nur unbedingt nötige geschriebene Romanisch. ● Welche Normen müssen für die lingustischen Hilfsmittel gelten? Die Romanischsprecher nehmen sich die Freiheit der eigenen, nicht diktierten Form und Norm - das ist eine andere Tatsache. Solange die Sprache ein wesentliches Merkmal der Menschen bleibt, unterliegt sie den verschiedensten Erwartungen ihr gegenüber, und jeder Sprachver- 30 So verschiedene Studien zur Morphologie und Syntax, die allophone Forscher aufgrund von Antworten auf deutsche Fragen ohne genügende Sprachkompetenz verfasst haben und fröhliche Urständ feiern. 206 Clau Solèr wender ist davon betroffen und will sie gemäss seiner Ansicht behandeln und erhalten. Von aussen kann man höchstens Wege aufzeigen und diese mit grösster Vorsicht beurteilen; was darüber hinausgeht, ist ein unzulässiger Eingriff. 6. Bibliographie B EZZOLA , Reto Raduolf, T ÖNJACHEN , Olaf 3 1982: Dicziunari tudais-ch-rumantsch ladin. Cuoira: Lia Rumantscha. B RANDSTETTER , Renward 1905: Das schweizerdeutsche Lehngut im Romanischen. Luzern: Eisenring. BT = Bezzola/ Tönjachen C AMENISCH , Arno 2009: Sez Ner. Basel/ Weil am Rhein: Urs Engeler. C ARICARU . Cudisch da leger per la secunda classa. 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Cuoira: Lia Rumantscha. PG = Pledari grond, deutsch-rumantsch, rumantsch-deutsch (2003). Cun conjugaziuns dals verbs rumantschs. Cuira: Lia rumantscha [CD]. PGonline Pledari Grond online (1980 - 2010). Cuira: Lia Rumantscha. S IMON , Hans Joachim 1971. «Übersetzungsfehler im labilen Adstrat. Zum deutschen Lehngut im Bündnerromanischen, («calques»)», in: BAUSCH, Karl-Richard (ed.), Interlinguistica. Tübingen, 518 - 532. SO = Die Südostschweiz, Chur. S OLÈR , Clau 2002 - 2003: «Gesteuerte und spontane Spracherneuerung. Das Bündnerromanische im Alltag», Ladinia 26 - 27, 103 - 120. V IELI , Raimund 1938: Vocabulari scursaniu romontsch-tudestg. Mustér: Ligia romontscha. 207 Interferenzen und eine kaum fassbare Semantik Der zweite Teil des Sprachatlasses ALD («Atlant linguistich dl ladin dolomitich i di dialec vejins») eine Kurzvorstellung Hans Goebl 1. Elementares: Vorgeschichte, Konzeption, Netz und Fragebücher Das Gesamt-Projekt ALD besteht aus zwei Teilen, von denen der erste (ALD-I) in den Jahren 1985 - 1997 erarbeitet und im Jahr 1998 in sieben Bänden (und 3 CD-ROM) veröffentlicht wurde. Unmittelbar darnach (1999) wurden die Vorarbeiten zum zweiten Projektteil (ALD-II) begonnen: diese stehen derzeit (Mai 2012) vor der Vollendung, wobei darunter die Veröffentlichung der im Feld gesammelten schriftlichen und akustischen Daten in papierener 1 und elektronischer 2 Form zu verstehen ist. 1.1 Zur Konzeption Der ALD wurde als exklusiv basilektaler Atlas in der von Jules Gilliéron mit dem ALF begründeten Tradition der Sprachgeographie konzipiert und hatte von Anfang an das Ziel, standardisiert zu erhebende Materialien zu sammeln sowie darnach in heuristisch und technisch optimaler bzw. den technischen Standards der Zeit entsprechender Form zu präsentieren. Dieses Ziel konnte beim ALD-I vollauf erreicht werden und ist auch beim ALD-II in unmittelbarer Reichweite. In beiden Fällen wurde dabei - international und interdisziplinär gesehen - absolute Pionier- und Vorläuferarbeit geleistet. Die eben angesprochene basilektale Ausrichtung der beim ALD praktizieren Datensammlung beruht darauf, dass bei der Feldarbeit die von uns angesprochenen Gewährspersonen aufgefordert wurden, uns exklusiv zu dem von ihnen als solchen empfundenen Ortsdialekt Auskunft zu geben. Sowohl 1 Der papierene Ertrag wird aus fünf Karten- und zwei Index-Bänden (umfassend je einen Band mit Index- und mit Supplement-Funktion) bestehen. 2 Darunter sind zu verstehen: eine Sound-Daten-Bank (SDB2), eine Suchmaschine (IRS2) und eine frei zugängliche PDF-Bibliothek über den gesamten Inhalt der fünf Kartenbände, wozu sich zusätzliche Materialien (v. a. in Listenform) gesellen, die die Benützung der 1066 Sprach-Karten des ALD-II erleichtern werden. Siehe dazu unsere Homepage des ALD-II: http: / / ald2.sbg.ac.at/ bei den allgemeinen Vorenquêten (1973 - 1984) als auch im Zuge der regulären Feldcampagnen (ALD-I: 1985 - 1992; ALD-II: 2001 - 2007) hat sich immer wieder und mit großer Deutlichkeit gezeigt, dass in der gesamten Untersuchungszone des ALD ein sehr klares, metasprachlich relevantes Bewusstsein der Einheimischen dazu besteht, was nun ihr eigener bzw. was ein benachbarter oder gar ein fremder Dialekt ist. Aus der heute überall multiplen Kompetenz 3 der Gewährsleute haben nun unsere Exploratoren 4 im Verlauf «klassischer» Aufnahmegespräche nur die basilektalen Komponenten elizitiert bzw. herausgefiltert und entsprechend dokumentiert. Es versteht sich, dass diese Arbeit nur unter ganz bewusster bzw. zielorientierter Mitwirkung aller befragten Informatoren möglich war. Die explizite bzw. bewusste Beschränkung auf die Erhebung basilektalen (und nicht auch mesolektalen) Materials stellt somit ein Proprium des ALD- Projektes dar und differenziert dieses von der in den letzten 20 - 30 Jahren mit wachsender (verbaler) Intensität diskutierten «mehrdimensionalen» Geolinguistik. 1.2 Zum Netz Das bereits in den späten 70-er Jahren von uns definierte Untersuchungsnetz des ALD umfasst zum einen den Zentralbereich des Rätoromanischen 5 und zum anderen einen Großteil der diesem im Süden vorgelagerten norditalienischen Dialekte, wobei es bei der Festlegung des definitiven Untersuchungsgebietes unser Hauptziel war, zwischen dem erwünschten bzw. erhofften linguistischen Ertrag und den Kosten der praktischen Umsetzbarkeit des Projektes einen realistischen Kompromiss zu finden. Auch wurde bewusst darauf verzichtet, die Randkonturen der ALD-Zone an irgendwelche historische Grenzen anzulehnen. Bei der Festlegung der südlichen Grenze wurde allerdings auf den gesamten Einbezug des Trentino und südlich angrenzender Gebiete geachtet, weil es sich dabei um Zonen handelt, in denen in den letzten anderthalb Jahrtausenden sehr intensive Sprachkontaktphänomene abgelaufen sind, deren genaue Kenntnis für ein vertieftes Verständnis der Sonderlage des Rätoromanischen unerlässlich ist. 3 Diese umfasst mindestens den eigenen Basilekt sowie den in Schule und Administration verwendeten bzw. gebräuchlichen Akrolekt. Dazu kommt meistens eine regionale Umgangssprache, die man als mesolektal einstufen kann. 4 Wir verwenden in diesem Beitrag aus sprachästhetischen Gründen generisch gemeinte Substantiva allein in der männlichen Form. Sit venia verbis! 5 Zu verstehen im Sinne von G. I. A SCOLI (1873: ladino) und T H . G ARTNER (1883: Raetoromanisch). Hier handelt es sich - von West nach Ost - um die Dialekte von Ober- und Unterengadin, Münstertal, Ladinien und Westfriaul. 210 Hans Goebl Das im Zuge der Enquêten zum ALD-I ortsgenau definierte Netz umfasst rund 25 000 km 2 und hat damit die Größe Siziliens. Es umfasst 217 Ortschaften bzw. Messpunkte, die im Schnitt ca. 10 km voneinander entfernt sind. Aus einsichtigen Gründen beruhen die beiden Teile des ALD auf genau demselben Erhebungsnetz. 1.3 Zu den Fragebüchern Die oben angesprochenen arbeitsökonomischen Überlegungen haben uns ab ovo veranlasst, die Menge des zu erhebenden Materials nach linguistischen Kriterien zu segmentieren. Das ergab die folgende kategorielle Aufteilung der im Feld zu stellenden Fragen: - ALD-I: Phonetik, elementare nominale und verbale Morphologie - ALD-II: Lexikon, elaborierte Morphologie sowie Syntax Die in beiden Fällen nach zahlreichen Probeenquêten erstellten Fragebücher hatten die folgenden Umfänge: - ALD-I: 806 Fragen (pro Ortschaft zweimal abzufragen: und zwar bei soziolinguistisch als «deutlich verschieden» einzustufenden Gewährspersonen) - ALD-II: 1063 Fragen (pro Ortschaft nur einmal abzufragen) Beide Fragebücher enthielten die zur Sicherstellung der absolut standardisierten Ansprache der Informanten nötigen Hilfsmittel wie Hinweise zur einzusetzenden Transkription, veranschaulichende Karten und Zeichnungen u. Ä. m. Das Fragebuch des ALD-I wurde unter Mitarbeit von Thomas Stehl und Dieter Kattenbusch erstellt, während jenes des ALD-II vor allem auf den Vorarbeiten von Paul Videsott beruhte. Die Daten des ALD-I wurden durch fünf Exploratoren 6 bei 488 Informanten erhoben, deren durchschnittliches Alter 59,6 Jahre betrug 7 . Die Gesamtfinanzierung der Feld- und Redaktionsarbeiten lag und liegt bei beiden Teilen des ALD in denselben Händen: es sind das neben dem österreichischen Forschungsförderungsfonds FWF die beiden ladinischen Kulturinstitute (in S. Martin de Tor, Südtirol, und Vich, Trentino), das 6 Es waren dies Helga B ÖHMER , Silvio G ISLIMBERTI , Dieter K ATTENBUSCH , Elisabetta P ERINI und Tino S ZEKELY . 7 Ein Gesamtverzeichnis der zum ALD-I erstellten Literatur findet man im Vorwort des ersten Bandes des ALD-I sowie im Netz unter: http: / / ald.sbg.ac.at/ ald/ ald-i/ index.php? id=0009&lang=de und auch unter: https: / / www.sbg.ac.at/ rom/ people/ prof/ goebl/ publik_r.htm 211 Der zweite Teil des Sprachatlasses ALD österreichische Unterrichtsministerium (Wien) und die Nordtiroler Landesregierung (Innsbruck). Zur geregelten Durchführung der nach der Feldarbeit zu erledigenden Arbeiten wurde an der Universität Salzburg eine permanente Arbeitsstelle («ALD-Archiv») eingerichtet, an der sich zum einen die Arbeitsplätze der verschiedenen Projektmitarbeiter und zum anderen die im Feld gesammelten Materialien sowie eine im Lauf der Jahre immer umfangreicher gewordene Forschungsbibliothek («ALD-Bibliothek») befanden bzw. befinden 8 . 2. Zum ALD-II 9 2.1 Probe-Enquêten und Feldarbeit Die gesamte Arbeit um Projekt ALD stand unter rigiden Zeitvorgaben, unter denen natürlich das Ende der aktiven Dienstzeit des Projektleiters (2012) die ultima ratio darstellte. Daher mussten die Vorarbeiten zum ALD-II unmittelbar nach der Publikation des ALD-I (1998) begonnen werden. Damit ergab sich der folgende Zeitplan: - Probe-Enquêten und Erstellung des definitiven Fragebuchs zum ALD-II: 1999 - 2001. - Durchführung der Feldenquêten zum ALD-II: 2001 - 2007 Im Biennium 1999 - 2001 wurden unter Beteiligung zahlreicher, als künftige Mitarbeiter in Aussicht genommener Romanisten ein halbes Dutzend Probe- Enquêten an verschiedenen, linguistisch als «heiß» eingestuften Stellen des ALD-Netzes durchgeführt und dabei die Normen für die gesamte Feldarbeit des ALD-II festgelegt. Der definitive Inhalt des Fragebuchs wurde am Beginn des Jahres 2001 fixiert. Unmittelbar darnach erfolgte die Herstellung der nötigen Anzahl von feldtauglichen Exemplaren dieses Fragebuchs. 8 Historisch gesehen handelt es sich hier um eine Parallele zu den beiden im Rahmen der AIS-Arbeit entstandenen Schweizer Archiven: dem «AIS-Archiv» an der Universität Bern (http: / / www.italiano.unibe.ch/ content/ linguistica/ archivio_ais/ index_ger.html) und der «Forschungbibliothek Jakob Jud» an der Universität Zürich (http: / / www. rose.uzh.ch/ bibliothek/ jakobjud.html). 9 Bislang existieren zum ALD-II sieben in der Zeitschrift «Ladinia» veröffentlichte Arbeitsberichte sowie zusätzliche Übersichten auf Deutsch (G OEBL 2009 a), Italienisch (G OEBL 2009 b, R ÜHRLINGER 2004), Französisch (G OEBL 2004) und Katalanisch (G OEBL 2011). 212 Hans Goebl An den bis 2007 laufenden Feld-Enquêten waren in toto 10 Exploratoren 10 (erneut aus Österreich, Deutschland und Italien) beteiligt. Dabei wurden insgesamt 833 Informanten befragt, deren Durchschnittsalter deutlich höher war als beim ALD-I: 65 Jahre. Dieser Sachverhalt erklärt sich vor allem dadurch, dass beim ALD-II sehr viele Informanten aus der Zeit des ALD-I erneut befragt wurden. Wie beim ALD-I fanden auch die Explorationen zum ALD-II in einer menschlich sehr angenehmen Atmosphäre statt, wobei in beiden Fällen die durchschnittliche Dauer eine Enquête rund eine Woche betrug. Von der Qualität der Aufnahmegespräche kann man sich seit 2011 durch das Hineinhören in die eingangs erwähnte «Sound-Datenbank» (SDB2) ein sehr genaues Bild verschaffen, da über dieses Internet-Tool alle von uns im Feld gemachten Ton-Aufnahmen punktgenau 11 sowie in extenso abgehört werden können. Überdies erfolgten die Tonaufnahmen anfangs auf «Minidisks» bzw. mit Hilfe dazu passender Geräte der Firma Sony, mit denen sich aber im Moment der Weiterverarbeitung gravierende Probleme wegen des dieser Technologie ab ovo inhärenten Kopierschutzes ergaben. Diese Probleme konnten nur mit viel Mühe und einem hohen Aufwand an Zeit ausgeräumt werden. Daher wurde der verbleibende Rest der Ton-Dokumentationen mit mp3bzw. WAVtauglichen Geräten durchgeführt. Erneut wurden wie beim ALD-I von den besuchten Ortschaften und den dort befragten Gewährspersonen «ethnophotographische» Dokumentationen erstellt, die anfangs aus analogen Diapositiven und in weiterer Folge aus digitalen Aufnahmen bestanden. Alles in allem übermittelten also die Exploratoren drei Typen von Informationen nach Salzburg: ausgefüllte Fragebücher, elektronische Tondateien sowie analoge Diapositive bzw. digitale Bilddateien. 2.2 Weitere Verarbeitung der im Feld gesammelten Daten Wie beim ALD-I war auch beim ALD-II eine weitestgehende Informatisierung bzw. informatische Unterstützung der gesamten Projektarbeit vorgesehen. Wir konnten dabei mit der Mitarbeit des den ALD seit 1990 mit Rat und Tat begleitenden Informatikers Edgar Haimerl rechnen, der allerdings angesichts 10 Es waren dies Ilaria A DAMI (mit 33 durchgeführten Enquêten), Helga B ÖHMER (19), Axel H EINEMANN (2), Frank J ODL (1), Liza K LINGER (14), Daniele R ANDO (7), Brigitte R ÜHRLINGER (32), Tino S ZEKELY (23), Walter S TRAU ß (68) und Paul V IDESOTT (20). Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Menge der von ihnen durchgeführten Aufnahmen. 11 Bei 217 Messpunkten und 1063 an diesen regelmäßig gestellten Fragen ist ein «punktgenauer» Zugriff durch die Eingabe zweier Zahlen möglich: für den jeweiligen Messpunkt (zwischen 1 und 217) und für die betreffende Frage (zwischen 1 und 1063). 213 Der zweite Teil des Sprachatlasses ALD des rasanten Wandels der EDV für den ALD-II ein völlig neuartiges System entwerfen musste, das unter gar keinen Umständen auf dem beim ALD-I verwendeten Programm (CARD) aufbauen konnte. Dieses neue System erhielt die Kennung DMG («Dialect Map Generator»). An seinem Ausbau arbeiteten neben Edgar Haimerl auch verschiedene andere Informatiker mit, unter denen ganz besonders Andreas Wagner 12 , Fabio Tosques und Bernhard Schauer hervorragen. Mit DMG sollten die folgenden redaktionellen Aktivitäten abgedeckt werden: a) Einrichtung einer projektspezifischen Datenbank b) maschinelle Erfassung der in den Fragebüchern enthaltenen Transkriptionen c) mehrfache Korrektur des Eingabe-Ertrags d) Abspeicherung aller Eingaben in der Projekt-Datenbank e) Ausgabe der eingegebenen und als «korrekt» anzusehenden Daten in der Form von großformatigen Probekarten und dazupassenden Listen f) Herstellung aller für den Druck und die Netzpräsenz vorgesehen Texte (= Karten, Listen und Beschreibungen) samt Layoutierung und Indexgenerierung Im einzelnen: Ad a): Diese Arbeit begann eigentlich schon bei der Redaktion des Fragebuchs, da dessen Grundstruktur ja auch jene der Datenbank bedingt. Ad b): Es hat sich auch beim ALD-II gezeigt, dass die Erstellung von als definitiv anzusehenden Transkriptionen durch die Exploratoren sehr zeitaufwändig ist und im Durchschnitt glatt das Doppelte jener Zeit beansprucht, die eine einfache Enquête gedauert hat: also zwei Wochen. Dabei haben die Exploratoren ihre Tonaufnahmen erneut abgehört, die im Feld in Gegenwart der Gewährspersonen erstellten provisorischen Transkripte überprüft und die als definitiv anzusehenden Transkriptionen in die dafür vorgesehenen Spalten des Fragebuchs eingetragen. Klarerweise war angesichts der verschiedenen Temperamente und Charaktere der 10 im Feld tätig gewordenen Mitarbeiter das termingenaue Eintreiben der fertigen Fragebücher für den Projektleiter eine sich über längere Zeit erstreckende Herausforderung der «besonderen Art». Die EDV-Erfassung des Inhalts der 217 Fragebücher erfolgte meistens durch die Exploratoren selber. Doch waren daran auch Romanisten der Universität Salzburg beteiligt, die keine Feldarbeiten durchgeführt haben. Angesichts der durch das Internet gegebenen Möglichkeiten konnten diese Eingabearbeiten auch von Italien oder Deutschland aus erledigt werden. 12 Siehe dazu seine Magisterarbeit aus dem Jahr 2007. 214 Hans Goebl Ad c): Von den erstmals EDV-erfassten Daten wurden Ausdrucke erstellt, die seitengenau dem Layout der originalen ALD-II-Fragebücher entsprachen. Damit konnten diese relativ rasch mit den neuen Ausdrucken verglichen und zugleich hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit dem Original sehr genau überprüft werden. Die dabei entdeckten Abweichungen wurden zunächst händisch adnotiert und dann über DMG maschinell erfasst. Dieser Vorgang wurde zweimal durchgespielt. Erneut waren dabei vor allem die Exploratoren beteiligt. Die im Zuge dieser Korrekturen anfallenden papierenen Protokolle wurden in Büro-Ordnern abgeheftet und im ALD-Archiv für allfällige spätere Kontrollen deponiert. Ad d): Klarerweise waren in alle bislang beschriebenen Aktivitäten unsere EDV-Mitarbeiter permanent eingebunden. Dies betraf nicht nur die Erstellung und den Ausbau der Software (DMG etc.), sondern auch die Flüssighaltung des alltäglichen EDV-Betriebs, die Wartung der am ALD-Archiv eingesetzten Maschinen (Rechner und Drucker), die Pflege der unumgänglich «guten» Kontakte mit dem Rechenzentrum der Universität Salzburg sowie die auf mittlere Frist angelegte Planung der noch ausständigen EDV-Entwicklungsschritte. Ad e): Der Ausdruck und die nachfolgende mehrstufige Korrektur der Probekarten stellten eine ganz wichtige Etappe in der ganzen Atlas-Genese dar. Denn durch die erstmalige synoptische Kartierung der im Wege einzelner Orts-Erhebungen gesammelten Daten können diese erstmals auf den Betrachter ihre volle heuristische Wirkung entfalten. Es ist das für diesen ein sehr interessantes, ja sogar erhebendes bzw. mitreißendes Erlebnis: denn immerhin kommt es dabei zu jenem von vielfältigen Aha-Erlebnissen charakterisierten Entdecken von Zusammenhängen und Systemeigenschaften, das seit Jules Gilliéron noch alle Geolinguisten fasziniert hat und schlussendlich die Quintessenz der ganzen Sprachgeographie darstellt. Die Probekarten wurden auf A2 großen Papierblättern produziert, die zwei verschiedene Kartengründe enthielten: a) einen Kartengrund mit acht verschieden eingefärbten Prüf-Pfaden, entlang derer die 217 ALD-Messpunkte aufgereiht waren, b) einen blau getönten Kartengrund, wie er bereits beim ALD-I auf allen 884 Sprachkarten zu sehen war. Für den Ausdruck dieser relativ großen Blätter wurde ein entsprechend großer und leistungsfähiger Inkjet-Plotter installiert. Zur Aufbewahrung der damit produzierten Probekarten (von der Größe A2) mussten in toto acht Karteischränke aus Metall angeschafft werden, in deren ausziehbaren Laden Platz für Hängeregistraturen der Größe A3 sein musste. In den fraglichen Hängeregistraturen wurden ausserdem auch Listenausdrucke im Format A4 archiviert, deren parallele Konsultation bei der Korrektur der Probekarten sich als sehr nützlich und hilfreich erwiesen hat. 215 Der zweite Teil des Sprachatlasses ALD Zur Veranschaulichung der Menge der in dieser Redaktionsphase anfallenden Menge an Probekarten: fast jede der 1063 Fragen des ALD-II-Fragebuchs bestand aus mehreren Frageteilen, die datenbankmäßig separat erfasst wurden und demnach auch getrennt ausgegeben werden konnten. Damit lagen beim ersten großen Korrekturdurchgang nicht bloß 1063, sondern an die 1500 Probekarten vor. Diese mussten zunächst vom Projektleiter punktgenau durchgesehen und händisch korrigiert werden. Dabei kam bereits eine erste Version der Sound-Datenbank zum Einsatz, die es möglich machte, allfällige Zweifel an den auf der Karte aufscheinenden Transkriptionen durch sofortige Konsultation der vorhandenen Ton-Dokumentation zu beseitigen. Just diese Möglichkeit der raschen und punktgenauen Kontrolle des Original- Schalls stellte gegenüber dem ALD-I einen enormen Fortschritt dar. Neben der eigentlichen Korrekturarbeit war auch angesichts der vielfältigen layout-technischen Möglichkeiten von DMG zu entscheiden, ob nicht die eine oder andere Teilfrage zu einer Kombinationskarte oder gar zwei verschiedene Einzelkarten aus linguistischen Gründen zu einer richtigen Doppelkarte vereinigt werden könnten. Immerhin gestattete es das Programm DMG, in solchen Fällen den zusammenzuführenden Transkriptionsdaten sehr rasch ein «korrektes» Kartenlayout zu verleihen, aus dem sogleich zweierlei ersichtlich wurde: ob die synoptische Präsentation dieser größeren Menge an Daten layout-technisch überhaupt möglich war und ob diese Zusammenführung ein sehpsychologisch akzeptables Resultat erbrachte. Konkret liefen diese sich über mehr als drei Jahre erstreckenden Korrekturarbeiten folgendermaßen ab: - Zwei philologisch tätige Mitarbeiterinnen 13 erstellten die Probekarten und die dazugehörigen Listen und deponierten sie anschließend in den schon erwähnten Metall-Karteischränken. - Daran anschließend habe ich nach Maßgabe der mir zur Verfügung stehenden Zeit die genaue Durchsicht bzw. die nötigen Korrekturen vorgenommen, die anschließend von den beiden Mitarbeiterinnen datenbankmäßig erfasst wurden. Darnach wurden neue, verbesserte Probekarten erstellt. Dieser Vorgang wurde mit immer deutlicher werdenden Ausblicken auf das zur Publikation bestimmte Endresultat dreimal wiederholt. Das Ende des dritten Durchgangs fiel schließlich in den Sommer des Jahres 2011. 13 Es waren bzw. sind das die Magistrae Heidemarie Beer und Agnes Staudinger, beide aus Salzburg. 216 Hans Goebl 2.3 Auf dem Weg zur Drucklegung Seit der Mitte des Jahres 2011 stand das Publikumsvolumen fest: 1066 durchnummerierte Sprachkarten, die auf fünf Bände aufgeteilt werden sollen. Die inhaltliche Gliederung dieser fünf Bände entspricht jener des Fragebuchs, welche - anders als beim ALD-I - nicht alphabetischen, sondern semantischen Kriterien gehorcht. Dazu kommen ein kleiner Band mit verschiedenen Indizes und Registern sowie ein weiteres, umfangmäßig ebenso eher bescheiden geratenes «Supplement», das jene Transkripte enthält, die aus Platzgründen nicht auf den 1066 Sprachkarten unterzubringen waren. Etwa im Jahr 2010 fiel die Entscheidung, den eigentlichen Such-Index des ALD-II nicht wie beim ALD-I in Buchform, sondern angesichts der um vieles größeren Datenmenge des ALD-II und auch auf Grund der heutigen Möglichkeiten der EDV nur netzbasiert anzubieten und dafür eine eigene Homepage 14 zu erstellen. Die diesbezüglichen Arbeiten sind im Jahr 2010 angelaufen und konnten vor kurzem abgeschlossen werden. Angesichts des allerspätestens ab Mitte 2011 in allen Details fixierten Publikationsumfangs konnte ich mit der Einholung verschiedener Offerte für den Druck und die verlegerische Betreuung des ALD-II beginnen. Dabei musste der gegenüber der Zeit des ALD-I (ca. 1997) deutlich verschlechterten finanziellen Generallage Rechnung getragen werden. Im Zuge dieser Sondierungen hat sich herausgestellt, dass es um vieles kostengünstiger ist, die Produktionsschritte Druck und Binderei weitgehend unter der eigenen Kontrolle vornehmen zu lassen und die nachfolgende verlegerische Betreuung Institutionen zu übertragen, die allein wissenschaftliche und keine ökonomischen Ziele verfolgen. Was den Druck und die nachfolgenden Bindearbeiten betrifft, so ist eine deutliche Kostenschere zwischen Italien (billiger) und Deutschland (teurer) evident geworden. Hinsichtlich der verlegerischen Betreuung sieht das derzeit präferierte Modell vor, die von einer italienischen Druckerei produzierten 300 - 350 Exemplare des ALD-II unter der Ägide der Société de Linguistique Romane (in Paris bzw. bei der Romanistik Zürich) einem in Deutschland angesiedelten Distributor zu übergeben, der seinerseits für die Entgegennahme der Bestellungen, den Postversand und die Eintreibung der zu bezahlenden Rechnungen zuständig wäre. Was den Postversand der wahrscheinlich rund 30 kg wiegenden Exemplare des ALD-II betrifft, so kann dieser Distributor von den in Deutschland gegenüber dem Rest Europas deutlich geringeren Postversandspesen profitieren. Es verbleibt das Problem der Finanzierung des Drucks. Beim ALD-I musste an den für Druck und verlegerische Betreuung zuständigen Verlag eine 14 Diese hat die folgende Adresse: http: / / ald2.sbg.ac.at/ 217 Der zweite Teil des Sprachatlasses ALD Subventionssumme von etwa 125 000 Euro abgeliefert werden, die ich allerdings in der ersten Hälfte des Jahres 1997 relativ leicht bei einem halben Dutzend spendierfreudiger Mäzene auftreiben konnte. Nunmehr geht es nur für Druck und Binden um einen Betrag zwischen 65 000 und 100 000 Euro, für dessen Aufbringung sich aber eine ganz rezente Reform der Druckkostenförderung der österreichischen Forschungsförderungsorganisation FWF als hilfreich erwiesen hat. Diese sieht die Zuerkennung eines relativ hohen Betrags (zwischen 15 000 und 18 000 Euro) für jedes Buch (bzw. jeden Band des ALD-II) vor, dessen Autor die folgenden Voraussetzungen erfüllt: - professionelle Erstellung von Layout und Registern, - Zurverfügungstellung des gesamten Inhalts des betreffenden Buches in der Form von open access. Da diese Vorgaben seit jeher voll den Zielsetzungen des ALD-II entsprechen, bin ich zuversichtlich, bald über den zum Druck des ALD-II benötigten Betrag verfügen zu können. Layouttechnisch bzw. kartographisch muss der ALD-II natürlich zur Gänze dem ALD-I entsprechen. Der einzige prima vista erkennbare Unterschied zum ALD-I wird die Farbe der Einbanddecken betreffen: diese war beim ALD-I Königsblau; beim ALD-II wird sie Bordeaux-Rot sein. 2.4 Zur Erzeugung und Bereitstellung der informatischen Begleit-Tools Seit Beginn der Arbeiten am ALD-II war es unser erklärtes Ziel, alle Erträge der Feldarbeiten ins Netz zu stellen und damit universell verfügbar zu machen. Dies betraf zum einen die transkriptorischen und zum anderen die akustischen Daten. Vom Prinzip her würden auch die ethnophotographischen Bilddaten dazugehören, denen wir aber aus Mangel an Zeit und Ressourcen diesbezüglich keine Priorität zuerkannt haben. Im Verlauf der konkreten Projektarbeit wurden zunächst die akustischen Daten «akut». Diesbezüglich mussten zunächst die mit der nicht vorhandenen Kopierfähigkeit der Sony-Mini-Disks aufgetretenen Probleme gelöst und dann - nach Abschluss aller Feldarbeiten - die Gesamtmenge aller elektronischen Tonkonserven im Wege einer integralen Wiederanhörung getaggt, d. h. mit elektronischen Markierungen für jeden der 1063 pro Ortschaft erhobenen Fragenblöcke versehen werden. Erst darnach konnte darnach getrachtet werden, die für eine benutzerfreundliche «Sound-Datenbank» (SDB) erforderliche Software zu schreiben. Dieses Problem wurde in den Jahren 2010 und 2011 von Bernhard Schauer in einer mehrstufigen Arbeit erfolgreich gelöst. Somit verfügt das Projekt ALD-II derzeit über eine über das WWW erreich- 218 Hans Goebl bare integrale Tondokumentation, die es gestattet, sich von den Feldarbeiten des ALD-II im Großen und im Kleinen bzw. en gros und au détail ein ganz genaues Bild zu machen. Auch das ist eine Pionierleistung, die noch kein anderes Sprachatlasprojekt geschafft hat. Doch Erfolg macht hungrig: angesichts des technischen sowie linguistischen Erfolgs der SDB2 kam im Team des ALD-II die Idee auf, doch auch die rund 1200 C-90-Audio-Kassetten umfassende Tondokumentation des ALD-I zunächst zu digitalisieren und in weiterer Folge - so wie beim ALD-II - im Wege einer auf mehrere Schultern bzw. Ohren-Paare zu verteilenden integralen Abhörung zu taggen. Diese Arbeit wird derzeit von fünf «Lauschern» erledigt. Es besteht die nicht unbegründete Hoffnung, dass es bis Ende des Jahres 2012 gelingt, nicht nur diese Lausch-Arbeit erfolgreich zu beenden, sondern auch den dabei erarbeiten Tagging-Ertrag in eine eigene SDB für den ALD-I einzuspeisen. Was nun die transkriptorischen Daten betrifft, so wurde es im Lauf der Zeit immer deutlicher, dass die für den ALD-I noch in Buchform produzierten alphabetischen Indizes (vorwärts und rückwärts) durch eine netzbasierte Suchmaschine ersetzt werden müssen, die imstande sein sollte, nicht nur die klassischen alphabetischen Indices zu produzieren, sondern auch im Inneren der im ALD-II vorrätigen «Wörter» nach bestimmten Kriterien 15 zu «stöbern». Nach einigen Verzögerungen konnte dazu im heurigen Frühjahr ein passendes Modul kreiert und unter dem Kürzel IRS2 ins Netz gestellt werden. Die Module SDB2 und IRS2 werden auf unserer ALD-II-Homepage in fünf Sprachen (Deutsch, Italienisch, Französisch, Ladinisch [Ladin dolomitan] und Englisch) beschrieben und können unter der folgenden Adresse abgerufen werden: http: / / ald2.sbg.ac.at Auch im Fall von IRS2 hat uns deren Erfolg «Appetit auf mehr» gemacht. Da es Bernhard Schauer vor etwa einem halben Jahr geschafft hat, alle transkriptorischen Daten des ALD-I datenbankmäßig so umzusortieren, dass sie genau den DB-Normen des ALD-II entsprechen, ist die Erstellung einer analogen Suchmaschine auch für den ALD-I in greifbare Nähe gerückt. Ferner ist geplant, auch den gesamten Inhalt der sieben zu publizierenden Bände des ALD-II im Format PDF ins Netz zu stellen. Dies entspricht auch der weiter oben schon erwähnten open access-Politik des FWF. Wahrscheinlich wird aber die bis Ende 2012 zur Verfügung stehende Projektzeit nicht ausreichen, das Gleiche auch für den ALD-I zu erledigen. Allein mit den bereits verfügbaren netzbasierten Modulen SDB2 und IRS2 steht der ALD-II ohne Konkurrenz da. Allerdings darf als sicher angenommen 15 Das können z. B. relative Positionen im Wort sein wie z. B. Beginn, Mitte und Ende des Worts. 219 Der zweite Teil des Sprachatlasses ALD werden, dass angesichts der bekannten Vergänglichkeit bzw. Kurzlebigkeit aller EDV-Produkte die sieben gedruckten Bände des ALD-II à la longue der einzige im wahrsten Wortsinn sicht-, greif- und damit auch benützbare Ertrag dieses zwischen 1999 und 2012 erarbeiteten Forschungsprojektes bleiben werden. 3. Bibliographie A DAMI , Ilaria 2003: La ricerca sul campo per l ’ ALD-II in Val di Non e un ’ analisi dei dati raccolti: le interrogative. Tesi di Laurea, Trento: Università degli Studi. A DAMI , Ilaria 2004: «La ricerca sul campo in Val di Non: alcuni esempi di conservazione e innovazione nel dialetto noneso», Studi Trentini di Scienze Storiche 83, sezione 1, 425 - 448. AIS: J ABERG , Karl/ J UD , Jakob (ed.)1928 - 1940: Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, Zofingen: Ringier, 8 voll. [Neudruck: Nendeln: Kraus 1971]. ALD-I: G OEBL , Hans/ B AUER , Roland/ H AIMERL , Edgar et al. 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G OEBL , Hans/ B EER , Heidemarie/ G RUBER , Uta/ H ABERL , Agnes/ S CHAUER , Bernhard/ S ME Č KA , Pavel 2010: «ALD-II: 6. Arbeitsbericht (2008 - 2009) », Ladinia XXXIV, 229 - 308. 220 Hans Goebl G OEBL , Hans / H AIMERL , Edgar 2004: «ALD-II: 2. Arbeitsbericht», Ladinia XXIX, 107 - 124. G OEBL , Hans/ H AIMERL , Edgar 2005: «ALD-II: 3. Arbeitsbericht (2005) », Ladinia XXX, 203 - 221. G OEBL , Hans/ H AIMERL , Edgar/ S OBOTA , Slawomir/ A DAMI , Ilaria/ B ÖHMER , Helga/ R ANDO , Daniele/ R ÜHRLINGER , Brigitte/ S TRAUSS , Walter/ V IDESOTT , Paul 2004: «ALD-II: 1. Arbeitsbericht/ 1 a relazione di lavoro (1999 - 2003) », Ladinia XXVIII, 115 - 199. G OEBL , Hans/ H AIMERL , Edgar/ T OSQUES , Fabio 2008: «ALD-II: 5. Arbeitsbericht (2008)», Ladinia XXXII, 273 - 324. G OEBL , Hans/ H AIMERL , Edgar/ W AGNER , Andreas, 2006: «ALD-II: 4. Arbeitsbericht (2006)», Ladinia XXXI, 157 - 186. G OEBL , Hans/ R ÜHRLINGER , Brigitte/ S CHAUER , Bernhard/ S ME Č KA , Pavel 2010: «ALD-II: 7. Arbeitsbericht (2010 - 2011) », Ladinia XXXV, 353 - 387. R ÜHRLINGER , Brigitte 2004: «Atlante linguistico del Ladino Dolomitico e dei dialetti limitrofi (ALD)», Bollettino dell ’ Atlante Linguistico Italiano 28, 229 - 243. V IDESOTT , Paul/ G OEBL , Hans 2001: ALD-II. Questionario/ Fragebuch. Versione definitiva. Salzburg: Institut für Romanistik. W AGNER , Andreas 2007: The MapGenerator. Map generation and interaction using Geotools open source GIS library and the Java2D API. Applied in the Dialect Map Generator (DMG) application Framework. Magisterarbeit, Universität Salzburg: Naturwissenschaftliche Fakultät. Internet (zu ALD-II, ALD-I und zum «Sprechenden Sprachatlas» des ALD-I): http: / / ald2.sbg.ac.at 221 Der zweite Teil des Sprachatlasses ALD Rätoromanische Sprachbiografien Theorie und Praxis der Sprachbiografieforschung Renata Coray Zahlreiche Arbeiten befassen sich mit linguistischen, historischen, statistischen, politischen, rechtlichen und institutionellen Entwicklungen des Rätoromanischen in der Schweiz und in Graubünden. Dabei stehen in der Regel die Diskurse einer sprachpflegerischen und politischen Führungsschicht (oder einzelner ihrer Exponenten) im Zentrum. Für den Zustand und die Zukunft einer Sprache sind aber nicht nur diese «Opinion Leader» und die (politischen, historischen, rechtlichen etc.) Rahmenbedingungen von Bedeutung, sondern auch das Sprachbewusstsein der Sprechenden 1 . Die Sprachbiografieforschung ist eine geeignete Methode zur Erforschung dieses Sprachbewusstseins und der Diffusion von Sprachideologien. Seit einigen Jahren geniesst die Sprachbiografieforschung zunehmende Aufmerksamkeit. Auch das Forschungsprojekt «Rätoromanische Sprachbiografien», das ich im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms NFP56 zusammen mit Barbara Strebel von 2006 bis 2009 durchgeführt habe, ist Ausdruck dieser steigenden Popularität 2 . Im Folgenden werde ich kurz ein paar wissenschaftsgeschichtliche und erkenntnistheoretische Aspekte der Sprachbiografieforschung beleuchten. Anschliessend folgt eine Zusammenfassung unserer Forschung in Romanischbünden sowie der in diesem Rahmen erhobenen sprachbiografischen Erzählungen zu einem ausgewählten Thema: zu den ersten Deutschkontakten. 1 Sprachbewusstsein definiere ich, in Anlehnung an S CHERFER (1983: 20) und C ICHON (1998: 41), als individuelle, gesellschaftlich (mit-)produzierte sprachliche Wissensbestände, die in der kritischen Soziolinguistik auch unter dem Begriff der Sprachideologie zusammengefasst werden: «Das hier angesprochene Wissen umfasst auf Sprache(n) und sprachliche Situationen bezogene Wahrnehmungs-, Beschreibungs- und Bewertungskategorien sowie entsprechende Annahmen, Einstellungen, Überzeugungen, Bewertungen etc. All dies findet als (Vor-)Urteil in stereotypisierter Form in sprachlichen Äusserungen seinen Ausdruck. Solche Bewusstseinsinhalte und die Fähigkeit, über sie zu verfügen und sie zu versprachlichen, nenne ich Sprachbewusstsein.» (S CHERFER 1983: 20) 2 Das nationale Forschungsprogramm NFP56 untersuchte die «Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz». Die Schlussberichte aller Projekte des NFP56 finden sich auf Internet (www.nfp56.ch), die Programmsynthese in H AAS 2010. 1. Theorie der Sprachbiografieforschung 1.1 Wissenschaftsgeschichtlicher Rahmen Die Ende der 1990er-Jahre aufgekommene Sprachbiografieforschung stellt einen noch recht jungen Zweig der Soziolinguistik dar. Die Soziolinguistik befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Gesellschaft, wobei sie sich in ihrer sprachsoziologischen Ausprägung seit der Jahrtausendwende verstärkt auf ihre empirische wissenssoziologische Grundlage besonnen hat, d. h. auf die Sprache als Kern des gesellschaftlichen Wissensvorrates und der «gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit» (B ERGER und L UCKMANN 1969; siehe auch K NOBLAUCH 2003). Die Sprachbiografieforschung steht bezüglich Methode und Theoriebildung in der Tradition der qualitativen Sozialforschung. Sie kann an die Erkenntnisse der Biografieforschung, wie sie seit dem beginnenden 20. Jahrhundert vor allem in der Chicagoer School of Sociology betrieben worden ist, anknüpfen 3 . Diese Schule hat die teilnehmende Beobachtung und das qualitative Interview als wichtige Methoden der biografischen Forschung etabliert (cf. F UCHS 1984: 105 s.). Von positivistischer Seite wurde die Biografieforschung als zu unwissenschaftlich und journalistisch kritisiert. Mit zunehmender Positivismuskritik und theoretischer Fundierung der qualitativen Methoden findet die Biografieforschung aber allmählich Anerkennung innerhalb der Sozialwissenschaften. Heute ist Biografieforschung hoch im Kurs, da das lebensgeschichtliche Erzählen als wichtiges Mittel der Identitätssuche, Identitätskonstruktion und gesellschaftlichen Verortung in einer von zunehmender sozialer und geografischer Mobilität und «Entwurzelung» geprägten Gesellschaft gilt (cf. N IGG 1999: 287). Neuerdings wird das Biografiekonzept sogar als Alternative zum Identitätskonzept vorgeschlagen: Es erlaubt, die in der Moderne ständig erforderlichen individuellen Strukturierungs- und Orientierungsleistungen als lebenslangen Prozess biografischer Arbeit (v. a. im fortgesetzten Miteinander-Sprechen) aufzufassen (cf. F ISCHER -R OSENTHAL / R OSENTHAL 1997: 133 s.). 1.2 Definitionen und Realitätsebenen Die Pionierin der Sprachbiografieforschung in der Schweiz, Rita F RANCESCHINI , beklagt noch 2001 das Fehlen von sprachbezogenen Biografieforschungen, dabei gibt sie indirekt auch eine Definition von Sprachbiografien: 3 Die für die Biografieforschung klassische soziologische Studie von William I. Thomas und Florian Znaniecki - The Polish Peasant in Europe and America - ist anno 1918 publiziert worden. 224 Renata Coray Das Thema Sprache ist dabei [in den zahlreichen sozialwissenschaftlichen Biografieforschungen seit den 1980er-Jahren; R. C.] nirgends spezifisch behandelt worden, und somit fehlt bislang eine konsistente Sammlung von Biographien zum Thema ‹ eigene Sprachen › , d. h. systematisch gesammelte Dokumente, in denen sich Personen in freier narrativer Form über ihr Verhältnis zu Sprachen äussern (beispielsweise über ihre frühesten Erinnerungen an Sprachliches, an Besonderheiten, an Assoziationen mit Wörtern, Sachen und Personen). Es fehlen Biographien, in denen Sprecher aus ihrer Perspektive erzählen, in welcher Kontaktsituation sie Sprachvarietäten erlernt haben, zu welchen Zwecken, unter welchen Umständen. (F RANCESCHINI 2001: 112 s.; Hervorhebungen R. C.) Die wichtigsten Merkmale einer Sprachbiografie sind gemäss dieser Definition folgende Aspekte: - Sie ist das Resultat einer systematischen Erhebung - von Erzählungen - aus der Perspektive der Sprecher - über ihr Verhältnis zu Sprachen. Als Beispiele, die das Verhältnis zu Sprache(n) ausdrücken, erwähnt Franceschini die frühesten Spracherinnerungen, Erinnerungen an besondere Wörter, Sachen oder Personen in Zusammenhang mit einer Sprache, Erinnerungen an Sprachkontakte sowie an Sprachlernsituationen. Sprachbiografien können auch als «sprachliche Autobiografien» definiert werden, die erlauben, das «individuelle Erleben rund um Sprache» bzw. das «Erleben von Sprachlichem» zu erforschen (F RANCESCHINI 2002: 19 s.). Während Sprachbiografieforschung im engeren Sinn sich primär für den Erwerb und den Umgang mit den eigenen Sprachen interessiert (für Spracherwerbsprozesse), richtet die Sprachbiografieforschung im weiteren Sinn ihr Augenmerk auf das gesamte individuelle Erleben rund um Sprache (id.: 26). Sie erforscht individuelles sprachbezogenes Erleben und Wissen aufgrund narrativer Rekonstruktionen sozialer Prozesse wie Spracherwerb, Sprachkontakt und Sprachwandel und erlaubt Rückschlüsse auf Sprachbewusstsein und sprachliche Identifikationsprozesse. Doris Tophinke ruft in Erinnerung, dass sich das Kompositum Sprachbiografie (noch) in keinem Lexikon oder Handbuch zur Sprachwissenschaft finde: Sprachbiografie dient in einem vorwissenschaftlichen Sinne dazu, den Sachverhalt zu bezeichnen, dass Menschen sich in ihrem Verhältnis zur Sprache bzw. zu Sprachen und Sprachvarietäten in einem Entwicklungsprozess befinden, der von sprachrelevanten lebensgeschichtlichen Ereignissen beeinflusst ist. (T OPHINKE 2002: 1) Sie verweist auf die Existenz von drei verschiedenen, miteinander verbundenen Konzepten bzw. ontologischen Ebenen von Sprachbiografien: 225 Rätoromanische Sprachbiografien - Sprachbiografie basiert auf gelebter Geschichte: auf der gelebten Geschichte des Erwerbs, der Sprachpraxis und -einstellung. - Sprachbiografie ist eine erinnerte Geschichte: Die Erinnerungen an sprachbiografisch relevante Erfahrungen sind kognitive Konstruktionen. - Und Sprachbiografie ist eine sprachlich rekonstruierte Geschichte: Die schriftlich oder mündlich erzählte Sprachbiografie ist eine sprachliche Rekonstruktion, die auf Erinnerungen und Quellen zurückgreift, sie ist selbst ein sozial-kommunikatives Geschehen. Diese drei Ebenen - gelebte, erinnerte und sprachlich rekonstruierte Geschichte - sind implizit auch in der Definition von Sprachbiografie nach Christine Perregaux auszumachen. Sie definiert Sprachbiografie bzw. «(auto)biographie langagière» folgendermassen: [. . .] il s ’ agit avant tout d ’ un récit plus ou moins long, plus ou moins complet où une personne se raconte autour d ’ une thématique particulière, celle de son rapport aux langues, où elle fait état d ’ un vécu particulier, d ’ un moment mémorable. (P ERREGAUX 2002: 83; Hervorhebungen R. C.) Die Sprachbiografie ist in dieser Kurzdefinition eine Erzählung (récit) von besonderen Erlebnissen (vécu particulier) und Erinnerungen (moment mémorable) rund um das Thema Sprache(n). Dieser biografischen Abfolge von Erlebnis, Erinnerung und Erzählung kann - quasi als Ausgangspunkt - das Ereignis bzw. das Leben vorangestellt werden, wie dies der Soziologe Norman D ENZIN (1989: 30, mit Verweis auf Edward Bruner) macht: «a life as lived, a life as experienced, a life as told». Wenn wir life als Ereignis, lived als Erlebnis, experienced als Erfahrung und told als Erzählung auffassen, so fehlt hier der Aspekt der Erinnerung als Voraussetzung für die Erzählung. Zusätzlich finden wir hier hingegen den Aspekt der Erfahrung, die Alfred S CHÜTZ (1932) als Summe von erlebten Ereignissen konzipiert hat. Der Zugang zu diesen Erfahrungen erfordert eine reflexive Zuwendung - die bekanntlich auch mit Fragen der Erinnerung zusammenhängt - , damit eine biografische Erzählung entstehen kann. Nach Ji ř í N EKVAPIL (2004: 156) umfassen Sprachbiografien drei Realitätsbereiche mit drei unterschiedlichen Erkenntnistypen (denen auch die verschiedenen ontologischen Ebenen von Tophinke und Denzin/ Bruner zugeordnet werden können): Lebensrealität: Wie waren die Dinge, wie verliefen die Ereignisse? Leben (Ereignisse, mit welchen man im Leben konfrontiert wird; Denzin/ Bruner: life) 226 Renata Coray Subjektrealität: Wie hat der Erzähler die Dinge und Ereignisse erlebt? Erlebnis (Tophinke: gelebte Geschichte; Denzin/ Bruner: life as lived) Erfahrung (Schütz: als Summe erlebter Ereignisse; Denzin/ Bruner: life as experienced) Erinnerung (aufgrund reflexiver Zuwendung; Tophinke: erinnerte Geschichte) Textrealität: Wie erzählt er über die Dinge und Ereignisse? Erzählung (Tophinke: sprachlich rekonstruierte Geschichte; Denzin/ Bruner: life as told) Die Sprachbiografieforschung untersucht Erzählungen von Erlebnissen und Erfahrungen (Textrealität) aus der Perspektive der Erzählenden (Subjektrealität), die sprachrelevante Ausschnitte aus ihrem Leben betreffen (Lebensrealität). Bei der Analyse und Interpretation muss immer beachtet werden, dass biografische Erzählungen sprachliche Rekonstruktionen sind und bestimmten, auch kulturspezifischen, Erzählmustern folgen 4 und dass Erinnerungen an sprachrelevante Erlebnisse und Erfahrungen zwangsläufig einhergehen mit Vergessen, Verdrängen, Selektion, Beschönigung, Dramatisierung etc. Iwar W ERLEN (2002: 63) betont denn auch, dass Sprachbiografien in Interviews formulierend konstruiert werden und folglich keine «objektiven Tatsachen» mitgeteilt werden 5 . Deshalb sei es sinnvoll, die wörtlichen Formulierungen von Aspekten solcher Sprachbiografien zu präsentieren und aus der Sicht der Analysierenden zu interpretieren. Dieses (emische) Vorgehen 4 Die Biografie selbst stellt ein soziales Konstrukt dar, das bestimmte typische Züge aufweist, sozial normiert ist und «biographische Präskripte» bzw. «sozial angebotene Formulare» bzw. «narrative Modelle» vorgibt (cf. F ISCHER -R OSENTHAL 1991: 256, L AMNEK 1995: 343, F ISCHER / K OHLI 1987, B RUNER [1987] 2004: 694). Ausgehend von der Existenz eines voluntaristischen Anteils in der erzählten Lebensgeschichte, ist zwischen dem gesellschaftlichen Präskript und dem individuellen Anteil des Erzählers zu differenzieren. Letzterer kann bis zu einem bestimmten Grad selbst darüber entscheiden, wie er das biografische «Formular» ausfüllen will. 5 N EKVAPIL (2004: 158) verweist darauf, dass nur eine naiv-realistische Haltung alles Erzählte als Ausdruck einer objektiven Lebensrealität nimmt. Kritisch-konstruktivistische Forscher sähen hingegen Erzählungen ausschliesslich als Ausdruck einer subjektiven Realität, der Realität des Subjektes. Zwischenpositionen betonten, dass es zwischen dem Erzählten und dem, worüber erzählt wird, einen Zusammenhang gebe. Traditionelle Soziologen ihrerseits würden bei der Analyse biografischer Erzählungen zwischen den «nackten Tatsachen» (z. B. Faktendarstellungen, die auch anhand von Dokumenten überprüft werden können), den subjektiven Erfahrungen (z. B. Bewertungen) und dem biografischen Text selbst unterscheiden. Soziologen nach der textuellen Wende gingen hingegen davon aus, dass die Grenzen zwischen Lebens-, Subjekt- und Textrealität sich vermischten. 227 Rätoromanische Sprachbiografien kann in einer soziokonstruktivistischen Tradition angesiedelt werden, gemäss welcher sozialwissenschaftliches Wissen ausgehend von Alltagswissen entwickelt und sozial konstruiert wird: «Daher sind die Konstruktionen der Sozialwissenschaften sozusagen Konstruktionen zweiten Grades, das heisst Konstruktionen von Konstruktionen jener Handelnden im Sozialfeld.» (Alfred Schütz zit. in: F LICK 2000: 156) 6 1.3 Repräsentativität Eine sprachbiografische Erzählung ist folglich eine interpretierende Rekonstruktion von sprachbezogenen Erfahrungen eines Menschen. Angesichts dieser subjektiven Perspektive stellt sich die Frage der Repräsentativität: Die rekonstruktive Biografieforschung geht davon aus, dass die Erfahrung eines Menschen immer beides zugleich ist, subjektiv und objektiv. Der Einzelne ist Teil der Gesellschaft, seine Erfahrungen beinhalten deshalb immer Hinweise auf überindividuelle Erfahrungen, auf geteilte Erfahrungen und Wissensbestände. Erfahrung ist eine individuelle Manifestation des Allgemeinen. Im Besonderen ist das Allgemeine präsent 7 . Die Göttinger Soziologen und Biografiespezialisten Wolfram Fischer und Gabriele Rosenthal betonen denn auch: Individuelle Erfahrungen werden nicht als methodisch zu ‹ heilende › Varianten einer sozial-strukturellen Allgemeinheit angesehen, sondern als (end-)gültiger realer Ausdruck allgemeiner Sozialität und Gesellschaft. (F ISCHER -R OSENTHAL / R OSENTHAL 1997: 412) Sie betrachten die Biografie als eine Mesoebene, als einen «Kreuzungspunkt» zwischen Individuum und Gesellschaft, an welchem «die (erzählbare) Lebensgeschichte als Mittel der Handlungsorientierung aufgebaut wird.» (F ISCHER - R OSENTHAL 1991: 255) Die Biografieforschung, und damit auch die Sprachbiografieforschung, dient folglich der «Erhellung kollektiver Prozesse aus subjektiver Schau» (P AUL 1998: 38) 8 . Sie untersucht anhand der individuellen Erzählung und der darin vorhandenen Muster (Regelmässigkeiten inhaltlicher und formaler Art) individuell ausgeformte soziale Phänomene, die die Lebensgeschichten strukturieren. Bei der qualitativen Sozialforschung geht es nicht darum, möglichst viele Fälle heranzuziehen, sondern darum, die fokussierte Gesamtsituation in 6 Nach G IRTLER (1988: 35) entsprechen Max Webers «Idealtypen» den sozialwissenschaftlichen Konstruktionen zweiten Grades. 7 Vgl. R OSENTHAL 2005: 75. 8 Ähnlich auch Treichel: «So informieren individuelle Erzählungen nicht nur über individuelles Erleben, sondern auch über soziale Rahmungen, und es lässt sich Gesellschaft aus den Interviews selbst erforschen.» (T REICHEL 2008: 9) 228 Renata Coray allen ihren Eigentümlichkeiten möglichst genau zu erfassen. Ausgehend von Einzelfallanalysen und der «Rekonstruktion der konstituierenden Momente des einzelnen Phänomens in Absonderung von den situationsspezifischen, d. h. fallspezifischen Besonderheiten» (R OSENTHAL 2005: 75) können theoretische (nicht numerische) Verallgemeinerungen vorgenommen und mittels kontrastiver Vergleiche verfeinert werden. Die Sprachbiografieforschung strebt folglich nicht quantitativ, sondern theoretisch repräsentative Daten an, das heisst, sie untersucht die im sozialen Feld vorhandenen Sets von Deutungsmustern und nicht deren Frequenz. Dadurch rückt sie die Menschen und ihre ureigenen Relevanzstrukturen, aber auch überindividuelle sprachliche Identifikationsmuster und Wissensbestände ins Zentrum. 1.4 Sprach- und Alltagsgeschichte Lebensgeschichtliche Erzählungen haben per Definition eine historische Dimension und beinhalten nicht nur autobiografische, sondern auch kollektiv-historische Züge (cf. N EKVAPIL 2004: 165). Die mittels Sprachbiografien mögliche «Erhellung kollektiver Prozesse aus subjektiver Schau» (s. oben) betrifft deshalb nicht nur sprachliche, sondern auch soziale und alltagsgeschichtliche Phänomene. Auch die sprachbiografischen Erzählungen aus Graubünden vermitteln interessante Informationen zur Sozial- und Alltagsgeschichte: Die Interviewten berichten nicht nur von ihren ersten Kontakten mit Deutschsprachigen, sondern beispielsweise auch von unzimperlichen Lehrern, von bescheidenen Verhältnissen und verbreiteter Kinderarbeit bis in die späten 1960er-Jahre, vom aufkommenden Tourismus und damit einhergehenden sozialen Wandel, von der wichtigen Rolle der katholischen Kirche im Bündner Oberland oder der Emigration im Unterengadin. 2. Sprachbiografieforschung in Romanischbünden 2.1 Sample Insgesamt haben wir mit mehr als 30 Personen aus Breil/ Brigels im Bündner Oberland und aus Sent im Unterengadin anlässlich von mindestens zwei Treffen sprachbiografische Interviews geführt. Die Konzentration auf zwei vergleichbare Forschungsgemeinden in den starken bündnerromanischen Sprachregionen 9 garantiert eine gewisse «biographische Homogenität» (N EK- 9 Breil/ Brigels hatte gemäss Volkszählung von 2000 1187 Einwohnerinnen und Einwohner (E.), davon gaben 80.5 % Rätoromanisch als Hauptsprache (HS) an, 88.6 % als 229 Rätoromanische Sprachbiografien VAPIL 2004: 169) der Informanten: Sie sind alle mit Romanisch als Schul- und Amtssprache aufgewachsen in Gemeinden mit zunehmend starkem Tourismus und mit vergleichbarer demografischer und sozioökonomischer Struktur. Die Interviewten haben wir nach folgenden Kriterien gesucht: Es sollten Männer und Frauen im Alter von 20 bis 65 Jahren, also aus der aktiven Bevölkerungsgruppe sein, die über Ausbildungen auf Primarstufe, Sekundar I oder II verfügten und unterschiedlichen Berufen nachgingen (z. B. Landwirtschaft, Gewerbe, Pflege, Haushalt, Verkauf, Administration etc.). Ganz bewusst wurden Angehörige der höheren Bildungsschicht sowie (Berufs-) Aktivisten der romanischen Spracherhaltungsbewegung ausgeschlossen, um die Perspektive und Erfahrungen der sogenannten romanischen Basis zu ermitteln 10 . 2.2 Erhebungsmethode Das sprachbiografische Interview ist ein thematisch fokussiertes narratives Interview, wie es durch den deutschen Soziologen Fritz Schütze bekannt geworden ist 11 . Die narrative Methode basiert auf der Annahme des sogenannten Zugzwangs des Erzählens. Der Zugzwang des Erzählens geht von einem Gestalterschliessungszwang, einem Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang sowie einem Detallierungszwang aus (S CHÜTZE 1976, cf. F LICK 2005: 150). Das heisst, der Erzähler muss seine Geschichte in einer «Stegreiferzählung» möglichst zusammenhängend, verständlich und konzentriert erzählen. Dadurch, dass er ganz in Eigenregie seine Lebens- und Sprachgeschichten erzählt, ist gewährleistet, dass er in der ihm eigenen Sprache seine ureigenen Themen und Schwerpunkte setzt und Zusammenhänge schafft - und nicht diejenigen, die die Interviewerin durch ihre Fragen vorgibt und lenkt. Sprache ist ein abstraktes und wenig narratives Thema. Durch die Methode des sprachbiografischen Interviews, durch die Einbettung in einen biografischen Zusammenhang, wird das Thema jedoch konkretisiert und nicht nur auf einer Metaebene behandelt. Sprache wird in konkreten Situationen und in Verbindung mit Menschen und biografischen Erlebnissen erinnert. Es bleibt jedoch anspruchsvoll, sein Leben mit thematischem Schwerpunkt «Spracherlebnisse» zu erzählen. Denn Spracherinnerungen sind in der Regel weniger regelmässig verwendete Sprache (HS/ US). Sent: 865 E., 68.3 % HS, 84.5 % HS/ US (cf. F URER 2005: 144 s.). 10 Ausführlicher zum Sample und zur Forschungsanlage insgesamt in C ORAY / S TREBEL 2011: 254 - 257. 11 Aus der umfangreichen Literatur zum narrativen Interview und damit zum Prototyp des qualitativen Interviews (cf. L AMNEK 1995: 70) seien hier nur ein paar wenige genannt: K ÜSTERS 2006, H OPF 2000: 355 - 360, S CHÜTZE 1987, id. 1983. 230 Renata Coray präsent als offensichtlich einschneidende biografische Erlebnisse - wie etwa Krieg, Migration oder Krankheit - , für die die biografische Methode mit Vorliebe angewandt wird. Deshalb werden sprachbiografische Interviews häufig in einer Kombination von narrativem Interview und anschliessendem offenen Leitfadeninterview geführt - ein Vorgehen, das auch wir in Romanischbünden gewählt haben. Dies hat den Vorteil, dass sich Interviewte, die sich in der sprachbiografischen Stegreiferzählung sehr kurz halten und kaum sprachbezogene Erinnerungen haben, aufgrund neuer Erzählstimuli - nicht nur im Nachfrageteil, sondern auch im Leitfadeninterview - an immer weitere Spracherlebnisse erinnern können. 2.3 Transkription und Analyse Insgesamt haben wir 31 sprachbiografische Interviews zu Analysezwecken transkribiert, und zwar unter Berücksichtigung der Regeln für eine Basistranskription gemäss der Gesprächsanalytischen Transkription GAT 12 . Die Analyse erfolgte in zwei Stufen: Zuerst befassten wir uns eingehend mit der Einzelbiografie. Jedes sprachbiografische Interview wurde thematisch kodiert und einer biografischen Fallrekonstruktion unterzogen. Das von Uwe F LICK (1996, 2005) in Anlehnung an die Grounded Theory entwickelte thematische Kodieren besteht aus einer Bedeutungskondensation und anschliessenden Generalisierung. Konkret bedeutet das, dass man Textpassage für Textpassage paraphrasiert und den Sinneinheiten Begriffe bzw. Kodes zuordnet, die möglichst nahe an der Sprache der Interviewten bleiben (= offenes Kodieren). Diese offenen Kodes lassen sich zu abstrakteren Kategorien zusammenfassen (= selektives Kodieren: «Generierung thematischer Bereiche und Kategorien» F LICK 2005: 273). Mit dem thematischen Kodieren können die zentralen Themen und Akteure sowie sich wiederholende Kategorien herausgearbeitet werden. Anschliessend erfolgte eine biografische Fallrekonstruktion nach Gabriele R OSENTHAL und Wolfram F ISCHER -R OSENTHAL (1997). Diese besteht aus einer sequenziellen (formalen und inhaltlichen) Analyse der erzählten Lebensgeschichte: Welche Themen und Kategorien werden wann, in welcher Textsorte und wie ausführlich eingeführt und welche thematischen Felder zeichnen sich ab? Aus dem Vergleich der zur Verfügung stehenden Faktenbiografie (und den Annahmen über eine kulturspezifische «Normalbiografie») und der erzählten Biografie kann auf ausgelassene, verkürzt oder prominent erzählte Themen und Lebensphasen geschlossen werden (cf. auch zeitlicher «Auflösungsgrad» 12 Vgl. S ELTING et al. 1998: 114s. Ausführlich zur Verschriftlichung von Diskursen und Gesprächen und insbesondere auch zum GAT in D ITTMAR 2004: 77 - 187. 231 Rätoromanische Sprachbiografien bei L UCIUS -H OENE / D EPPERMANN 2002: 117) 13 . Diese Analyse erlaubt, ein Bild der vom Erzähler gesetzten Relevanzstrukturen zu machen. Anhand dieser Analyse haben wir die im untersuchten Feld vorhandenen sprachlichen Wissensbestände und darauf basierend fünf Idealtypen 14 sprachlicher Identifikationsmuster herausgearbeitet, die hier nur sehr summarisch dargestellt werden können 15 : Menschen mit starken Identifikationsmustern von «Verwurzelten» definieren das Rätoromanische als wesentliches Moment der eigenen Originalität und bewegen sich in einer fast ausschliesslich romanischen Welt. «Kommunikative» haben offensichtlich Freude an sozialen Kontakten in verschiedensten Sprachen, sie schätzen das Rätoromanische als Türöffner und Schlüssel zu anderen Sprachen. «Aufstiegs- und Berufsorientierte» haben ebenfalls ein ausgeprägtes Interesse an Sprachen, die sie aber nicht nur für die soziale Kommunikation, sondern vor allem auch für ihre berufliche Entwicklung schätzen; auch sie sind ihrer romanischen Erstsprache verbunden, betonen aber gleichzeitig den beschränkten Kommunikationsradius und den Vorteil von Fremdsprachenkenntnissen, insbesondere von Deutsch und Englisch. «Pragmatiker» konzipieren das Romanische als nichts Besonderes, als alltäglichen Teil ihres Lebens und setzen Deutsch als selbstverständliche Alternative ein. Deutsch ist ein wichtiger Teil ihrer familiären und/ oder beruflichen Biografie, weshalb sie diese Sprache oft auch als nützlicher einschätzen als das Rätoromanische. Als letzten Idealtypus haben wir die «nicht sprachlich Orientierten» ausgemacht, diejenigen, die trotz entsprechender Aufforderung dem Thema Sprache in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung keine oder nur sehr minime Aufmerksamkeit schenken und bei welchen andere Themen einen viel wichtigeren Stellenwert in ihrer Biografie einnehmen. Nach dieser intensiven Einzelfallanalyse und Typenentwicklung haben wir eine fallübergreifende Analyse vorgenommen, in der wir rekurrente Erzählungen zu den wichtigsten Sprachen und Sprachkontakten untersucht haben, insbesondere zum Rätoromanischen, zur Existenz und Ausgestaltung eines romanischen Wir-Bewusstsseins, zur neu geschaffenen überregionalen Standardsprache Rumantsch Grischun, zum Deutschen sowie zu anderen Sprachen. Dabei standen rekurrente Muster inhaltlicher und formaler Art, sogenannte sprachbiografische Figuren 16 , im Zentrum der Analyse. Anstelle einer 13 Zusammenfassende Darstellungen des Verfahrens der biografischen Fallrekonstruktion finden sich in: R OSENTHAL 2005: 173 - 195, K ÜSTERS 2006: 83 - 85. 14 Siehe dazu Fussnote 6. 15 Mehr dazu in C ORAY / S TREBEL 2011: 257 - 261. 16 Sprachbiografische Figuren sind «rekurrente Schemata inhaltlicher und formaler Natur» (F RANCESCHINI 2001: 119), die wiederkehrende diskursive Sinnkonstruktionen darstellen. Solche Sinnkonstruktionen werden in der phänomenologischen Soziologie als Deutungsmuster (cf. Alfred Schütz) und in der objektiven Hermeneutik als latente 232 Renata Coray zusammenfassenden Darstellung dieser Analyse - die bereits anderswo publiziert ist 17 - möchte ich abschliessend auf eine interessante sprachbiografische Figur verweisen. 2.4 Das ambivalente Verhältnis zum Deutschen Bei der systematischen Analyse aller sprachbiografischen Erzählungen zu den ersten Deutschkontakten fällt auf, dass sich etliche Interviewte (die nicht schon von Klein auf mit der deutschen Sprache konfrontiert waren) daran erinnern, wie sie vor Deutschsprachigen oder bloss schon vor anhaltenden Autos mit nicht-Bündner Nummernschild flüchteten, da sie die Sprache nicht verstanden. Dieses Erzählmuster - Vermeidungsstrategie oder Flucht vor Deutschsprachigen in der frühen Kindheit - fällt sofort ins Auge. Ein anderes Element hingegen ist weniger offensichtlich: Die Erzählungen zu den ersten Deutschkontakten werden nicht nur regelmässig mit Vermeidung und Flucht, sondern oft gleichzeitig auch mit Verführung kombiniert. Alfred Cathomas beispielsweise (*1963) beginnt seine sprachbiografische Stegreiferzählung mit einer Ausreissgeschichte: Er entwischt der Mutter, um seinen Vater im Maiensäss aufzusuchen. Dabei flieht er vor Deutschsprachigen, die ihn raffinierterweise mit Bonbons aufzuhalten versuchen, die sie ihm in die Kapuze legen und dadurch seine Flucht bremsen 18 . Auch in Georg Kochs sprachbiografischer Erzählung (*1944) finden wir diese Spannung zwischen Flucht bzw. Angst vor Deutschen und Lust an ihren Süssigkeiten: Seine Mutter hatte ihn - kurz nach dem Zweiten Weltkrieg - zwar davor gewarnt, Süssigkeiten von den damals noch gefürchteten Deutschen anzunehmen, diese würden möglicherweise Schlafmittel beinhalten und dann würden sie die Kinder entführen; aber seine Lust an Süssem überwog dann doch die Angst vor den Deutschen 19 . Ein anderer Interviewter, ein rund 55-jähriger Anlage- und Apparatebauer aus dem Bündner Oberland, erzählt von den ersten Deutschkontakten Sinnstrukturen (cf. Ulrich Oevermann) bezeichnet und weisen Parallelen auf zu den «interpretativen Repertoires» der diskursiven Psychologie (cf. Jonathan Potter und Margaret Wetherell). 17 Cf. C ORAY / S TREBEL 2011: 261 - 282. 18 Die ausführlichen Sprachbiografien der hier namentlich genannten Personen sind in C ORAY / S TREBEL 2011 nachzulesen. Die (weiter unten) nicht namentlich genannte Person gehört dem Sample der insgesamt 31 Interviewten an, denen Anonymität zugesichert worden war. 19 In weiteren Sprachbiografien finden wir das Motiv der «Angst-Lust» gegenüber den fremden Deutschsprachigen und ihren Süssigkeiten in Erzählungen davon, wie man sich als Kind den Soldaten im Dorf mit der kaum verstandenen Bittformel «Hendsie Bisquits? » zu nähern wagte. 233 Rätoromanische Sprachbiografien während seiner Sommerarbeit bei einem Bauern in der Ostschweiz: Er sei Erst- oder Zweitklässler gewesen, habe auf Deutsch grad mal «Ja» und «Nein» sagen können, sonst nichts, und sei ins kalte Wasser geworfen worden. Sonntags hätte er sich aber in der Kirche mit den anderen romanischsprachigen Buben getroffen, die auf benachbarten Höfen platziert gewesen seien, und nachher seien sie jeweils Baden gegangen, was für sie zu jener Zeit ein exklusives Vergnügen darstellte. In seiner Erzählung zeigt sich die Ambivalenz seiner Erinnerung an die ersten Deutschkontakte sehr schön in seiner ambivalenten Bewertung des Elementes Wasser: Einerseits wird er - wie er sich selbst metaphorisch ausdrückt - «ins kalte Wasser geworfen» bezüglich erster Deutschkontakte, andererseits macht er dank dieser unangenehmen Erfahrung erstmals Bekanntschaft mit dem Badevergnügen im See. Ein letztes, sehr eindrückliches Beispiel ist dasjenige von Lidia Domenig (*1955): Sie und ihre Schwester litten in der Kindheit an einer Hüftdysplasie und mussten Beinschienen tragen. Aufgrund dieser Gehbehinderung verunfallte ihre Schwester tödlich. Der Unfallverursacher war ein deutscher Autofahrer. Die auf Deutsch stattfindende Auseinandersetzung gleich nach dem Unfall konnte die damals vierbis fünfjährige Lidia noch nicht verstehen. Diesen tragischen Vorfall stellt sie in ihrer sprachbiografischen Stegreiferzählung als Schlüsselmoment dar, der ihr die Existenz von zahlreichen anderen Sprachen bewusst gemacht und sie dazu angetrieben habe, mehr Sprachen lernen zu wollen, da man mit dem Romanischen nicht weit komme. Die ersten Sprachkontakte mit der unverstandenen deutschen Sprache und ihren Sprechern sind in jeder dieser Erzählungen gekoppelt mit sowohl unangenehmen als auch angenehmen Erinnerungen: mit Flucht, Angst, ins kalte Wasser geworfen werden und tödlichem Unfall, aber auch mit Verführung durch Süssigkeiten, vergnüglichem Baden und Öffnung hin zu neuen, weiteren Horizonten. Diese Erzählpassagen zeugen von ambivalenten Erfahrungen mit der deutschen Sprache, die in der frühesten Kindheit mit Angst vor dem Fremden und Verführung durch das Neue assoziiert wird. Sie zeugen letztlich vom Ringen um Aneignung und Integration der ersten und unausweichlichen Fremdsprache in die eigene Sprachbiografie. Es ist bemerkenswert, dass diese je einzigartigen und sehr individuellen sprachbiografischen Erzählungen über die ersten Deutschkontakte im Grunde genommen alle auf die eine oder andere Art und Weise diese grundsätzliche Ambivalenz spiegeln, mit der die Romanischsprachigen konfrontiert werden: die Ambivalenz und das Spannungsverhältnis zwischen der emotional nahestehenden romanischen Erstsprache und der zunächst fremden, nicht einfach zu lernenden, aber notwendigen und letztlich doch bereichernden und horizonterweiternden deutschen Zweitsprache. Rätoromanisch ist den meisten näher, lieber und «heimeliger», aber ohne Deutsch geht es nicht, und Deutsch eröffnet neue Welten. Die unumgängliche Zweisprachigkeit und das 234 Renata Coray asymmetrische Gleichgewicht zwischen Rätoromanisch und Deutsch hinterlassen deutliche Spuren in den sprachbiografischen Erinnerungen an die frühe Kindheit 20 . 3. Fazit Die Sprachbiografieforschung, die sprachbezogene Lebensgeschichten mittels narrativer Interviews erhebt, erlaubt die Erforschung von Sprachbewusstsein bzw. sprachlichen Erfahrungs- und Wissensbeständen, die überindividuelle Deutungs- und Orientierungsmuster beinhalten. Anhand sprachbiografischer Erzählungen kann rekonstruiert werden, welche Sprachen und Akteure in welchem soziohistorischen Kontext erinnert werden. Sprache wird in der Regel dann zum Thema, wenn es zu Kontakten mit neuen sprachlichen Welten kommt (cf. A DAMZIG / R OOS 2002: Xs.). Biografisch relevant wird Sprache vor allem dann, wenn sie ihre Selbstverständlichkeit verliert, wenn die « ‹ Normalität › der Partizipation am sprachlich-kommunikativen Geschehen im Lebensumfeld nicht mehr gegeben ist» 21 . Diesbezügliche Erzählungen verweisen auf die Existenz von sprachbiografischen Figuren, von überindividuellen Sinnkonstruktionen. Die hier vertiefte sprachbiografische Figur der ambivalenten ersten Deutschkontakte - Vermeidung und Flucht bei gleichzeitiger Verführungs- und Anziehungskraft - ist bemerkenswert in den erhobenen sprachbiografischen Erzählungen aus Romanischbünden. Es ist sehr zu vermuten, dass sich dieses ambivalente Verhältnis zur dominanten Mehrheitssprache auch in Erzählungen von Angehörigen anderer Kleinsprachen finden liesse. 4. Bibliografie A DAMZIK , Kirsten; R OOS , Eva (Hrsg.), 2002: «Biografie linguistiche. Biographies langagières. Biografias linguisticas. Sprachbiografien», Bulletin VALS-ASLA, No 76, Neuchâtel: Institut de linguistique de l ’ Université de Neuchâtel. 20 Siehe dazu auch C ORAY 2009. - Die Erzählfigur der gleichzeitigen Abstossung und Anziehung durch das Fremde stellt ein Motiv aus der populären Erzählkultur dar. Dass sprachbiografische Erzählungen auch auf diesen (oralen) Fundus kollektiven Wissens zurückgreifen, kann vermutet werden. Für diesen Hinweise danke ich Clà Riatsch. 21 T OPHINKE (2002: 3). Sie erwähnt Migration, Schriftspracherwerb und Krankheit mit Sprachverlust als konkrete Beispiele. Erweitern könnte man diese Beispiele mit der Diglossie- und der Minderheitensituation, die die Selbstverständlichkeit der eigenen Sprache(n) in Frage stellt 235 Rätoromanische Sprachbiografien B ERGER , Peter L.; L UCKMANN , Thomas, 1969 [1966]: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. B RUNER , Jerome [1987] 2004: «Life as Narrative», Social Research 71, 691 - 710. C ICHON , Peter, 1998: Sprachbewusstsein und Sprachhandeln. Romands im Umgang mit Deutschschweizern, Wien: Braumüller. C ORAY , Renata, 2009: «Biographies langagières: les Romanches et l ’ allemand - récitstémoignages d ’ un rapport ambigu», in: G OHARD -R ADENKOVIC , Aline; R ACHÉDI , Lilyane (Hrsg), Récits de vie, récits de langues et mobilités. 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Einleitung In den letzten Jahrzehnten haben in der Neurologie die neuen, sog. in vivo- Untersuchungsmethoden zunehmend an Bedeutung gewonnen, da sie es ermöglichen, das gesunde Gehirn bei seiner Arbeit zu beobachten und die entsprechenden Gehirnfunktionen abzubilden. Primär werden dabei entweder PET (Positronen-Emissions-Tomographie)- oder fMRT (funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie)-Studien eingesetzt: Jene ermöglichen es, insbesondere die Zeitabläufe kognitiver Funktionen zu verfolgen, während diese vor allem zur Lokalisierung von Gehirnfunktionen eingesetzt werden. Die Anfänge der Neurolinguistik gehen auf die Pionierarbeiten von Peter Paul B ROCA (1861) und Karl W ERNICKE (1874) zurück. Die beiden Mediziner untersuchten die Gehirne verstorbener Personen, wobei sie die bereits zu Lebzeiten des Patienten ruinierte Gehirnmasse post mortem lokalisierten und dann diese mit den zu Lebzeiten festgestellten Sprachstörungen in Verbindung 1 Teile von diesem Artikel beziehen sich direkt auf die Dissertation V IDESOTT 2009, in der die ganze Arbeit ausführlich beschrieben wird. 2 Unser besonderer Dank gilt Prof. Markus Kiefer (Leiter der Sektion für Kognitive Elektrophysiologie des UK Ulm) als wissenschaftlicher Leiter des Projektes; Prof. Manfred Spitzer (Direktor des UK Ulm) und seinen Mitarbeitern (insbesondere Dr. Bärbel Herrnberger für die Auswertung mit SPM, Dr. Edgar Schilly für die Programmierung des Experimentes, Dr. Jo Grothe und Dr. Klaus Hoenig), meinem Betreuer Prof. Werner Wiater, Prof. Rita Franceschini (beide: Freie Universität Bozen), sowie allen Probanden und Probandinnen, ohne deren Hilfe diese Studie nie möglich gewesen wäre. setzten, um dadurch eine bestimmte kognitive Funktion lokalisieren zu können. Die Untersuchungen an Aphasikern waren maßgebend für den weiteren Verlauf der Neurolinguistik. Aber erst seit den letzten Jahrzehnten wurde es mit der Entwicklung moderner bildgebender Verfahren möglich, gesunde Probanden auf unschädlicher Weise für Forschungszwecke zu untersuchen. Besonderes Augenmerk wurde von Anfang an auf die Erforschung der Zweibzw. Mehrsprachigkeit gelegt. Erste einschlägige Reflektionen machten bereits R IBOT (1881) und P ITRES (1895). Fast ein Jahrhundert später wurde eine der ersten fMRT-Untersuchungen zur Lokalisierung der Sprachverarbeitung von early vs. late bilinguals von K IM , R ELKIN und H IRSCH durchgeführt und 1997 in der Zeitschrift Nature publiziert. Seitdem wurden bis zum Frühjahr 2008 ungefähr 70 Studien mit fMRT zur Erforschung der Zweibzw. Mehrsprachigkeit durchgeführt 3 . Die zentrale Fragestellung dabei ist, ob zwei bzw. mehrere Sprachen die selben Hirnareale aktivieren oder ob jede Sprache dafür ein eigenes Modul (F ODOR 1975) entwickelt. Diese Frage wird kontrovers diskutiert, da die verschiedene Studien zu zum Teil entgegengesetzten Ergebnissen geführt haben. So haben z. B. C HEE et al. 2000 eine völlig überlappende Aktivierung von L1 und L2 festgestellt, während etwa die Ergebnisse von D EHAENE et al. (1997) auf zwei komplett verschiedene Aktivierungsmuster für L1 und L2 hinzuweisen scheinen. Die meisten Studien aber führten zu Ergebnissen zwischen diesen zwei Extrempositionen, indem sie eine vorwiegend überlappende Aktivierung von zwei bzw. mehreren Sprachen zeigten, aber auch einige Unterschiede zwischen den beteiligten Sprachen aufwiesen. Das Hauptproblem beim Vergleichen der meisten fMRT- Studien liegt vor allem darin, dass diese für einen Vergleich gar nicht konzipiert wurden und folglich unterschiedliche Aufgabenstellungen, Auswertungssysteme, Sprachen, Probanden usw. aufweisen. Außerdem kann man 3 Besonders erwähnenswert für unsere Fragestellung sind: 1996: Y ETKIN et al.; 1997: D EHAENE et al., K IM et al.; 1998: N EVILLE et al.; 1999: C HEE et al., I LLES et al., N AKAI et al.; 2000: C HEE et al., H ERNANDEZ et al.; 2001: C ALABRESE et al., C HEE et al., H ERNANDEZ et al., P U et al., W ATTENDORF et al.; 2002: H ASEGAWA et al., L UKE et al., R ODRIGUEZ -F ORNELLS et al.; 2003: C HEE et al., D ING et al., M AHENDRA et al., P ALLIER et al., P ERANI et al., P ILLAI et al., T AN et al., V INGERHOETS et al., W ANG et al., W ARTENBURGER et al.; 2004: B RIELLEMANN et al., C ALLAN et al., C HEE et al., F RANCESCHINI et al., G OLESTANI and Z ATORRE , P ILLAI et al., S AKAI et al., T HUY et al., X UE et al.; 2005: F RENCK -M ESTRE et al., L EHTONEN et al., M IURA et al., R ODRIGUEZ -F ORNELLS et al., R ÜSCHEMEYER et al., T ATSUNO et al., T HAM et al.; 2006: A NDOH et al., C ALLAN et al., C HEE et al., C HEUNG et al., C RINON et al., G OLESTANI et al., G OLESTANI et P ALLIER , H ALSBAND , K LEIN et al., M ESCHYAN and H ERNANDEZ , O FAN and Z OHARY , R ÜSCHE- MEYER et al., V ENKATRAMAN et al., X UE et al., Y OKOYAMA et al., Y OON et al.; 2007: A BUTALEBI et al., G ANDOUR et al., J EONG et al., K OBAYASHI et al., M ARIAN et al., M EINZER et al., S UH et al, Y OON et al., W ANG et al.; 2008: K OVELMAN et al., A BUTALEBI et al. 240 Gerda Videsott mit dieser Untersuchungsmethodologie auch nicht die Sprache als Ganzes erforschen, sondern immer nur einzelne Teilaspekte wie z. B. das Benennen von Bildern, das Lesen, das Hören, das Beurteilen von grammatischen Konstruktionen und andere Teilfertigkeiten, die bei einer bestimmten Aufgabenstellung durchgeführt werden (cf. F RANCESCHINI et al. 2004). Außerdem werden Begriffe wie «Sprache», «Dialekt», «Muttersprache», «Fremdsprache», «L1» oder «L2» usw. von den einzelnen Forschungsgruppen nicht immer einheitlich verwendet, sondern divergieren in ihren Definitionen teilweise relativ auffällig. In unserer Studie haben wir uns deshalb zum Ziel gesetzt, eine auf ihre Viersprachigkeit möglichst homogene Probandengruppe zu analysieren. Die 20 Probanden, die an der fMRT-Untersuchung teilgenommen haben, sind alle Ladiner und Ladinerinnen aus dem Gadertal (Autonome Provinz Bozen/ Südtirol, Italien) 4 . Bei der Probandenauswahl wurde darauf geachtet, dass beide Eltern Ladiner sind, dass die Probanden in dem selben soziokulturellen Kontext aufgewachsen sind (also im Gadertal selbst), dass sie den gleichen sprachlichen Unterricht erhalten haben (hier: Besuch der ladinischen paritätischen Pflichtschule 5 ) und dass die vier zu untersuchenden Sprachen (Ladinisch, Italienisch, Deutsch und Englisch) in vergleichbarer Weise im Alltag der Probanden Anwendung finden und folglich von ihnen in ähnlicher Weise beherrscht werden. Des Weiteren wurde darauf geachtet, bei der fMRT- Untersuchung ein geeignetes Stimulusmaterial zu verwenden, das die in den einzelnen Sprachen zu benennenden Objekte so repräsentiert, dass bei den Probanden während der Untersuchung möglichst das gleiche Wort-Output genannt wird. Indem besonders auf die Homogenität sowohl der getesteten Probandengruppe als auch des Stimulusmaterials geachtet wurde, erhofften wir uns von dieser Untersuchung, dass die festgestellte neuronale Aktivierung möglichst eindeutig und klar erfasst werden kann, um damit einen Beitrag zur Diskussion der neuronalen Topographie der Mehrsprachigkeit leisten zu können. 4 Die (Dolomiten)Ladiner sind eine rätoromanische Sprachminderheit, die ca. 30.000 Angehörige zählt und die in den fünf Tälern Val Badia/ Gadertal, Gherdëina/ Gröden, Fascia/ Fassatal, Fodom/ Buchenstein und Anpezo/ Cortina d ’ Ampezzo leben. Für eine Überblicksinformation cf. K ATTENBUSCH (1996: 311 - 333), B ENINCÀ (1998: 262 - 263), B AUER (2002: 144 - 149). 5 Die «Paritätische Schule» ist das besondere Schulmodell des Gadertals und Grödens, welches den paritätischen Unterricht aller Fächer auf Deutsch und Italienisch vorsieht bei gleichzeitiger Präsenz von zwei Wochenstunden Ladinisch. Im Jahr 2007 wurden ab dem 4. Pflichtschuljahr auch zwei Wochenstunden Englisch eingeführt. Cf. dazu V AN DER S CHAAF & V ERRA (2001). 241 Zur Relativität der Klassifizierung von Sprache(n) 3. Studie zur Lokalisierung der Sprachverarbeitungszentren einer ladinischen Probandengruppe anhand einer fMRT-Untersuchung 3.1 Vorgehensweise Die Studie zur Lokalisierung der kognitiven Sprachverarbeitungszentren wurde mittels funktioneller Magnet-Resonanz-Tomographie durchgeführt. Die Grundlage dieser Technik ist die gewöhnliche MRT, die aufgrund des starken Magnetfeldes erlaubt, statische Bilder des Gehirngewebes bzw. der Gehirnanatomie zu erzeugen. Die Gehirnfunktion kann mittels des sog. Blood-Oxygen-Level-Dependent-Effekt nachgezeichnet werden: Eine aktive Nervenzelle konsumiert mehr Sauerstoff, wobei sich dieser stoffwechselbedingte Unterschied mittels der Änderung der magnetischen Eigenschaften des Blutfarbstoffs Hämoglobin anhand des BOLD-Signals kernspintomografisch erfassen lässt. Mittels statistischer Analyse können Bilder der Gehirnfunktion erzeugt werden. Die Auswertung erfolgt nach den Prinzipien des t-Tests, wobei man sich für die Feststellung bestimmter Gehirnaktivitäten vor allem eines Subtraktionsverfahrens bedient. Handelt es sich beim Experiment-Paradigma um ein Block-Design, alternieren sich Aktivierungsphasen mit Ruhephasen (sog. baseline oder rest conditions). Die Ruhephasen werden ähnlich wie die Aktivierungsphasen aufgebaut; beide Bedingungen sollen sich also möglichst nur in Hinblick auf die zu erforschende Aktivierung kontrastieren. In unserer Studie sollten die Probanden während der Aktivierungsphasen Bilder entweder auf Ladinisch, Deutsch, Italienisch oder Englisch benennen, während in einer gleich lang dauernden Kontrollbedingung sie ruhig im Scannergerät lagen und ein schwarzes Kreuz am Bildschirm fixierten. In der Auswertung wurde von der Aktivierungsbedingung (d. h. das Benennen von Bildern) - von der man annimmt, sie produziere einen größeren neuronalen Aufwand - die Ruhebedingung (das Fixieren des Kreuzes) subtrahiert. Das Ergebnis zeigt die neuronalen Aktivierungsmuster des Bilderbenennungsprozesses. Die so erhaltene neuronale Aktivierung der Aktivierungsphasen kann in einem zweiten Schritt nochmals kontrastiv ausgewertet werden, indem die Aktivierung während des Benennungsprozesses in den einzelnen Sprachen verglichen wird. Konkret verglich man z. B. folgende Bedingungen unter folgender Fragestellung: Welche neuronale Aktivierung weist das Benennen von Bildern auf Ladinisch im Vergleich zu Italienisch oder Englisch auf? bzw. Produziert das Benennen in englischer Sprache mehr Aktivierung als das Benennen auf Ladinisch oder Italienisch? 6 6 Auf Grund eines technischen Fehlers während des fMRT-Experimentes konnten die Ergebnisse der Bedingung «Deutsch» in der Analyse nicht verwertet werden. 242 Gerda Videsott 3.2 Stimulusmaterial Um die Unterschiede zwischen den einzelnen sprachlichen Bedingungen festzustellen, wurde im Vorfeld des Experimentes nach geeignetem Stimulusmaterial gesucht. Es wurden aufgrund bereits standardisierter Bildertests 7 ca. 400 Farbbilder mittels Photoshop erstellt. Diese Objektdarstellungen sollten bei den Probanden während der fMRT-Untersuchung möglichst das gleiche Wortoutput erzeugen. Deshalb wurden die Bilder vorher bei einer 20-köpfigen ladinischen Kontrollgruppe getestet. Die gezeigten Bilder sollten von der Kontrollgruppe zunächst in der vom Experimentdesign erwünschten Sprache genannt und in einem zweiten Moment in Bezug auf die bei der Sprachproduktion einwirkenden Faktoren Familiarität, Komplexität sowie Übereinstimmung (des gezeigten Bildes mit der individuellen mentalen Vorstellung davon) auf einer Skala vom max. 6 bis min. 1 Punkt beurteilt werden. Von den ursprünglichen 400 Bildern wurden auf diese Art und Weise für das Experiment 192 Bilder ausgewählt, 48 pro Sprache. Davon stellten je die Hälfte belebte Objekte dar, die andere Hälfte unbelebte Objekte, da vorherige Studien gezeigt haben, dass diese zwei Objekteigenschaften in der linken inferotemporalen Region anatomisch distinkte neuronale Korrelate aktivieren (cf. D AMASIO et al. 1996). Die 192 ermittelten Bilder bzw. Wörter wiesen im Durchschnitt für jede der in der Studie analysierten Sprache keinen signifikanten Unterschied in Bezug auf die eben erwähnten Parameter Familiarität, Komplexität und Übereinstimmung auf. Durch diese Vorstudie erhielten wir ein standardisiertes Bilderset, bei dem die einzelnen Bildstimuli eine möglichst homogene Reaktion über mehrere Testpersonen hinweg hervorrufen würden, sodass bei der eigentlichen fMRT-Untersuchung diesbezügliche Störungen möglichst minimiert werden konnten. 3.3 Probandengruppe In unserer Studie wurden, im Vergleich zu den bisherigen, eine äußerst homogene 20-köpfige Probandengruppe getestet. Die Probanden sind im Bezug auf ihre Viersprachigkeit untereinander im hohen Maß vergleichbar. Es gibt nur eine einzige andere uns bekannte Studie, die die Viersprachigkeit analysiert, nämlich jene von B RIELLEMANN et al. 2004, die jedoch nur 6 Probanden untersucht 8 . 7 Cf. vor allem S NODGRASS and V ANDERWART 1980, B ERMAN et al. 1989, C YCOWICZ et al. 1997 und das «International Picture Naming Project» des CRL, University of California/ San Diego. 8 Aufgrund der Schwierigkeit, mehrsprachige Probanden zu finden, begnügen sich aber die Autoren dieser Studie bei der Auswahl ihrer Probanden darauf, dass diese vier europäische Sprachen sprechen sollten, ohne dass es jedoch dieselben sein mussten, und 243 Zur Relativität der Klassifizierung von Sprache(n) 3.4 Auswertungsmodalitäten der Untersuchung Die während der fMRT-Untersuchung aufgenommenen Daten wurden mit dem vom Wellcome Department of Imaging Neuroscience der London ’ s Global University ausgearbeiteten und auf MATLAB applizierten Software SPM 5 9 ausgewertet. Die Rohdaten wurden mit diesem statistischen Verfahren zunächst durch den Prozess der Coregistrierung und des Realignments in Bezug auf die Position und den Raum bewegungskorrigiert und geordnet, dann wurden die dabei erhaltenen individuellen Hirnanatomien in Bezug auf das Standardhirn des Talairach-Koordinaten-Systems 10 normalisiert und in einem dritten Schritt gesmoothet, um allfällige Störeffekte zu minimieren. Die Aktivitäten der einzelnen Probanden wurden in der Gruppenanalyse zusammengefasst. Das Ergebnis der SPM-Analyse lässt sich schließlich graphisch darstellen in den Bildern der Gehirnfunktionen. Der Haupteffekt resultiert aus dem Vergleich zwischen der Summe aller aktiven Bedingungen mit der Summe aller Ruhephasen, über alle Probanden hinweg. In unserer Studie fanden wir signifikante Aktivierung in folgenden bilateralen Arealen: Kleinhirn, Caudatus, Globus Pallidus, Hippocampus, Insula, Precuneus, Gyrus Cingulus, inferofrontaler Gyrus, Frontalgyrus, Okzipitallappen, Lingua, Fusiform und im Temporallappen (siehe Abbildung 1). schon gar nicht in der selben Reihenfolge und mit demselben Schulsystem erworben wurden. Insofern ist unsere Probandengruppe bei weitem homogener als die von B RIELLEMANN et al. 2004. 9 Cf. Statistical Parametric Mapping: http: / / www.fil.ion.ucl.ac.uk/ spm (09. 04. 2008). 10 Cf. MRIcro: http: / / www.sph.sc.edu/ comd/ rorden/ mricro.html (09. 04. 2008). 244 Gerda Videsott Abbildung 1: Neuronale Aktivierung einer ladinischen Probandengruppe bei einer Wortbenennungsaufgabe während einer f-MRT Untersuchung 11 Im Kontrast zwischen den einzelnen sprachlichen Bedingungen konnten vergleichsweise nur minimale signifikante Unterschiede festgestellt werden (siehe Tab. 1; Abbildung 2). 11 Cf. V IDESOTT et al. (2010). Speaking in multiple languages: Neural correlates of language proficiency in multilingual word production. Brain and language113: 103 - 112. 245 Zur Relativität der Klassifizierung von Sprache(n) Tab. 1: Resultierende neuronale Aktivierung aus den Kontrasten zwischen den Sprachen Kontrast: Aktivierung: Englisch > Ladinisch Kleinhirn (links und rechts) und unterer Frontalgyrus (links) Englisch > Italienisch Kleinhirn (links) Italienisch > Englisch Mittlerer Frontalgyrus (rechts) und Insula (rechts) Italienisch > Ladinisch Mittlerer Temporalgyrus (rechts) Ladinisch > Englisch Unterer Frontalgyrus (rechts) und mittlerer Frontalgyrus (rechts) Ladinisch > Italienisch Kleinhirn (rechts) Abbildung 2: Kontraste zwischen den einzelnen aktiven Bedingungen Der bei dieser Untersuchung resultierende Haupteffekt wurde von zahlreichen anderen fMRT-Studien zur Sprache bzw. Mehrsprachigkeit bestätigt. Interessant ist, dass Aktivierung nicht nur in den klassischen Spracharealen Broca (im Frontallappen) und Wernicke (im Temporallappen) - wobei das erstere normalerweise mit der Sprachproduktion in Verbindung gebracht wird und 246 Gerda Videsott das zweite mit dem Sprachverständnis - sondern auch außerhalb, und vor allem in beiden Hemisphären, als Gegenbeweis zur oftmals behaupteten These, Sprache wäre ausschließlich links lateralisiert. Diese bilaterale Aktivierung wird auch in anderen Studien festgestellt, wie z. B. in P AULESU et al. 1993. Überdies wird in der genannten Studie der Artikulationsprozess in einer sog. «artikulatorischen Schleife» von - sich bei diesem Prozess aktivierenden - Neuronen nachgewiesen, die auch bei unserer Studie erkannt werden konnte (cf. Aktivierung in den Brodmann Arealen 44 und 6, in den oberen Temporalgyri, den Insulae, der Lingua und im Cerebellum). Die breite okzipitale Aktivierung lässt sich auf die visuelle Wahrnehmung zurückführen. Die signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachen wurden in folgenden Arealen festgestellt: linkes und rechtes Kleinhirn, rechte Insel, linke und rechte untere Frontalgyrus, rechte mittlere Frontalgyrus und rechte mittlere Temporalgyrus. Die Aktivität des Kleinhirns wird in Studien, die sich mit Sprache beschäftigen, hauptsächlich mit der motorischen Artikulation korreliert (cf. S ILVERI & M ISCIAGNA 2000; A CKERMANN & R IECKER 2004). Auch der Insel wurden z. T. artikulatorische Prozesse zugeschrieben (cf. D RONKERS 1996; A CKERMANN et al. 1998), aber auch Prozesse des Arbeitsgedächtnisses (cf. C HEE 2004). Mit Abläufen des working memory-Prozesses wurden auch die anderen Areale, die im Vergleich zwischen den Sprachen festgestellt wurden, assoziiert. 4. Diskussion der Ergebnisse Nicht nur aus den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit, sondern auch aufgrund der bisherigen Untersuchungen zur neuronalen Topographie der Mehrsprachigkeit, wird es immer klarer und deutlicher, dass zwei bzw. mehrere Sprachen eine vorwiegend überlappende Aktivierung hervorrufen. Diese Schlussfolgerung wird auch in theoretischer Hinsicht von der Erkenntnis getragen, dass bei der Gesamtheit des sprachlichen Prozesses, der vom Input zum Output reicht (cf. L EVELT 1989), der Ausdruck von Gedanken an sich (sei es in sprachlicher, musikalischer, künstlerischer usw. Weise), im Vergleich zum Gesamtprozess nur einen minimalen Aspekt davon darstellt - um so mehr noch sind die einzelnen Sprachen an sich als noch kleinere Aspekte des Ausdruckprozesses zu betrachten. Folglich erscheint uns die Annahme viel einsichtiger, dass auch auf neuronaler Ebene zwischen den einzelnen Sprachen ein gemeinsames Aktivierungsmuster mit einigen wenigen und minimalen zwischensprachlichen Differenzen besteht, als jene Theorie, wonach jede Sprache in einem anderen Gehirnareal lokalisiert wäre. Da es sich bei den neurolinguistischen Studien um die Analyse von Prozessen handelt, beziehen sich die dabei festgestellten Unterschiede zwi- 247 Zur Relativität der Klassifizierung von Sprache(n) schen den einzelnen Sprachen vordergründig auf eine weitere Variable, die mit einer bestimmten Sprache bzw. Sprachkodex oder Spracherfahrung korreliert, wie z. B. das Erwerbsalter (cf. R IBOT 1881) oder der Sprachgebrauch (cf. P ITRES 1895), die Flüssigkeit, die Kompetenz oder der Kontakt zu den einzelnen Sprachrealitäten, die Lernstrategien, Switching- oder Übersetzungsmechanismen, die phonetische, morphologische, syntaktische und grammatikalische Komplexität einer bestimmten Sprache u. a. m. In diesem Sinne nahmen z. B. K IM et al. 1997 an, dass L1 und L2 in bilingualen Personen, die ihre Zweitsprache später erworben haben, innerhalb des linken Frontalgyrus unterschiedlich lokalisiert seien, während bei einem frühen Zweitspracherwerb L1 und L2 nicht verschieden lokalisiert würden. Auch in der Studie von S UH et al. 2007 wurden unterschiedliche Aktivierungen innerhalb des IFG für L1 und L2 festgestellt. Eine mehr rechtlateralisierte Aktivierung für L2 vs. L1 wurde von C ALABRESE et al. 2001 und D EHAENE et al. 1997 angenommen. Diametral entgegengesetzt, nämlich eine vordergründige Mehraktivierung der linken Hemispähre für die Fremdsprache im Vergleich zur Muttersprache sind hingegen die Ergebnisse in P ILLAI et al. 2004 und in V INGERHOETS et al. 2003. P ERANI et al. 2003 korrelieren die Aktivierung des linken inferofrontalen Cortex mit L2, einer später erworbenen und weniger verwendeten Sprache. C HEE et al. 2001 assoziiert eine weniger gut beherrschte Sprache mit zusätzlicher Aktivierung in der rechten bzw. linken infero-frontalen Region, während für die Aktivierung der Insula das Erlangen einer equilingualen Sprachkompetenz als verantwortlicher Faktor angenommen wird (cf. C HEE et al. 2004). Eine bessere Sprachgewandtheit in der Zweitsprache zeigt sich für T ATSUNO et al. 2005 in einer niedrigeren Aktivierung des dorso-inferofrontalen Gyrus. Bei der Bildung von Sätzen in L1 und L2 im Vergleich zwischen geübten und nicht geübten Sprechern einer Zweitsprache, konnte während der Produktion von L2 erhöhte Aktivierung im linken infero-frontalen Gyrus, im Putamen, in der Insula, im precentralen Gyrus, und im supplementarischen Motorareal festgestellt werden (D ODEL et al. 2005). K LEIN et al. 1994 schreibt die Zunahme in der Aktivierung des linken Putamens für L2 einer größeren artikulatorischen Forderungen zu. Hernandez et al. 2000 stellten hingegen keine Unterschiede in der neuronalen Aktivierung für L1 vs. L2 fest, sondern stellten die Hypothese auf, dass nur der Switching-Prozess lokalisierbar ist, nämlich im linken dorsolateralen präfrontalem Cortex, von dem angenommen wird, Teil eines weitgreifenderen Aufmerksamkeitsystems zu sein. Nach W ANG et al. 2007 führt Switching zu erhöhter Aktivierung im rechten oberen präfrontalen Cortex (Brodmannareale 9, 10 und 32), im mittleren und oberen Frotallappen (BA 8, 9 und 46) und im rechten mittleren Cingulus und Caudatus (BA 11). Der Cingulus wurde auch in anderen Studien dem Switchingbzw. Übersetzungsprozess zugeschrieben (A BUTALEBI 2008, R ODRIGUEZ -F ORNELLS et. al. 2005, P RICE et al. 1999), während für C RINION et al. 248 Gerda Videsott 2006 diese Kontrollfunktion in der Verwendung der jeweiligen Sprachen vom linken Caudatus übernommen wird. Aufgrund dieser Erkenntnisse müsste man bei der Erstellung des Untersuchungsparadigmas und des Forschungsdesigns im Idealfall alle diese Einflussfaktoren berücksichtigten. 5. Schlussbemerkung Ex post scheint das eigentliche Ergebnis dieser Arbeit, dass nämlich das Forschungsobjekt Mehrsprachigkeit einer Neudefinition bedarf, auch unabhängig von unserer fMRT-Untersuchung formulierbar gewesen zu sein. Unsere Erkenntnis ist aber gerade aus der Auseinandersetzung mit anderen neurolinguistischen Studien, die immer wieder implizit auf dieses Problem verwiesen haben, sowie aus der Reflexion der Ergebnisse unserer eigenen fMRT-Untersuchung entstanden. Es geht hierbei um die in allen linguistischen Disziplinen zentrale Definition von «Sprache», die innerhalb des Forschungsobjekts «Mehrsprachigkeit» eine zusätzliche Rolle spielt. Von der Klassifikation der Sprachen hängt es nämlich ab, welches Individuum wir als «mono-» bzw. als «bilingual» usw. bezeichnen, und damit auch die Theorie, wonach sich eine mehrsprachige Person Sprachen «anders» aneignet als ein monolingualer Sprecher. Nun werden «(Schrift)Sprachen» - im Gegensatz zu Dialekten - in der Linguistik meist über extralinguistische (historisch-politische, soziokulturelle) - und somit für die kognitive Ebene relativ arbiträre Kriterien - definiert. Einen Sprecher des Spanischen und des Portugiesischen bezeichnet man normalerweise als mehrsprachig, nicht aber einen Sprecher des Sizilianischen und des Standarditalienischen (obwohl zwischen diesen beiden Systemen linguistisch ein größerer Unterschied besteht als zwischen den beiden genannten Schriftsprachen). Auch spielt der sprachgenetische Faktor eine klassifikatorische Rolle: Ist in diesem Fall ein Sprecher des Englischen und Chinesischen «mehrsprachiger» als einer des Russischen und Polnischen? In der Diskussion wird teilweise damit argumentiert, dass im Gegensatz zum monolingualen der bilinguale Sprecher für dasselbe Konzept simultan zwei sprachliche «Etiketten» kennt. Damit stellt sich aber auch die Frage, wie das bewiesen werden kann. Denn auch so genannte monolinguale Sprecher kennen für ein einziges Konzept mehrere Bezeichnungen, benützen Synonyme, Hypo- und Hyperonyme. Und genau in diesem Punkt relativiert sich der übliche Vergleich, der über den traditionellen Gebrauch der Ausdrücke «mono-» bzw. «bilingual» läuft und wonach ein bilinguales Individuum allgemein «mehr-sprachiger» sein müsse als ein monolingualer Sprecher. Natürlich ist in Relation eine erwachsene 249 Zur Relativität der Klassifizierung von Sprache(n) Person «mehr-sprachiger» als ein Kind, so wie auch jemand, der «mehrere Sprachen» spricht bzw. einen differenzierteren Wortschatz oder eine strukturiertere Grammatik besitzt oder der auch nur «öfters» spricht, im Normalfall sprachlich gewandter ist als jemand, der sich stets des gleichen, sprachlich limitierten Registers bedient. Auf kognitiver Ebene scheint es hingegen die extralinguistisch unterschiedenen «Einzelsprachen» nicht zu geben: Vielmehr scheint «eine» Sprache bzw. Sprachfähigkeit vorhanden zu sein, die sich in den verschiedenen Sprachebenen Phonetik, Morphologie, Syntax, Semantik, Lexikon usw. (vgl. P ARADIS 2004) manifestiert und die erst nachträglich von den historischen Einzelsprachen «modelliert» wird. Die Sprachfähigkeit an sich ist vielmehr die komplexere Summe einzelner Teilfertigkeiten, wie Gedächtnisabruf, Artikulation, Aufmerksamkeit usw. Wenn man dieses Ergebnis evolutionsgeschichtlich betrachtet, findet man es im Gehirnaufbau widergespiegelt, wobei - cum grano salis - die Tendenz zu erkennen ist, dass die primären Sinneswahrnehmungen in den ältesten Gehirnteilen verarbeitet werden, während die komplexeren Fähigkeiten, wie eben sprechen, rechnen, meditieren usw. mehr dem exekutiven Frontallappen unterliegen. Sprache kann als ein weiterer «Sinn» betrachtet werden, denn unabhängig von deren Inhalten, liegt ihre wichtigste Funktion darin, die Welt zu begreifen und zu erfassen, und erst in einem zweiten Moment diese zu vermitteln. Sprache ermöglicht uns, die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten und schneller und produktiver zu handeln. Dass Sprache primäre Sinneseindrücke in zusammenfassender Weise verarbeitet, wird dadurch bestätigt, dass die Form bestimmter Inhalte bzw. diese Inhalte selbst in verschiedenen Gehirnarealen verarbeitet werden können, ebenso werden z. B. Farbbilder vs. Schwarz-weiß-Bilder oder emotional starke Bilder vs. emotional indifferente Objekte anders verarbeitet; weiters werden z. B. belebte Objekte vs. unbelebte Objekte in verschiedenen Teilen des unteren frontalen Gyrus verarbeitet (D AMASIO et al. 1996). Begriffe, die Handlungen oder Bewegungen darstellen, lösen zusätzliche Aktivierung des motorischen Cortex aus (cf. P ULVERMÜLLER 1999), was darauf schließen lässt, dass die kognitive Verarbeitung einzelner Begriffe auch sehr stark von dem, was sie repräsentieren und wie sie es darstellen, abhängt. Diese Überlegungen deuten auf eine Relativierung absoluter Konzepte in der Klassifikation von Sprachen hin. Konkret bedeutet dies, dass man in der Mehrsprachigkeitsdiskussion zunächst einmal klar unterscheiden muss zwischen gesellschaftlicher, institutioneller Mehrsprachigkeit (bestehend aus verschiedenen, nach historisch/ kulturell/ soziolinguistischen Kriterien voneinander abgegrenzten Sprachkodexen) und einer einzigen Sprachfertigkeit, in der es keine Mehrsprachigkeit im klassischen Sinn geben kann. Auf kognitiver Ebene können nur konkrete Fertigkeiten identifiziert, differenziert bzw. analysiert werden, wie z. B. die Verarbeitung von Konsonanten vs. Vokale 250 Gerda Videsott (Spiegelung verschiedener Artikulationsgrade), Sprachproduktion vs. Sprachverständnis (Spiegelung verschiedener Wahrnehmungskanäle), jedoch keinesfalls qualitativ definierte «Sprachen». Will man deswegen aussagekräftige Ergebnisse mittels der neuen bildgebenden Verfahren erzielen, muss man darauf achten, dass zunächst das Forschungsobjekt quantitativ definiert wird. Im Falle der Neurolinguistik wäre es ideal, wenn man eine von der Sprachwissenschaft quantitativ erstellte Klassifizierung von Sprachen dafür verwenden könnte - und nicht einfach die qualitativ erstellte als Forschungsobjekt hinnimmt. Zur Zeit aber besteht das Problem eben noch darin, dass noch keine geeignete Klassifikation vorliegt, die Sprachen (weltweit) quantitativ erfasst und auf diese Weise zwischen einzelnen Sprachen unterscheidet. Der Wert der Einzelsprachen ist vor allem in totalitären, monolingualen Nationalstaaten, die darin eine Rechtfertigung für ihre Existenz suchten, maßlos übersteigert worden, indem ihnen ein absoluter Wert zugesprochen wurde. Es scheint, dass sich ein solches Gefühl im Sprachempfinden gefestigt hat, da über die menschliche Sprachfertigkeit oft in Termini wie «korrekt» und «unkorrekt» geurteilt wird. Was jedoch als «korrekt» bzw. «unkorrekt» gilt, ist arbiträr und beruht meistens auf der Gebrauchshäufigkeit einer Form. Sprache ist von Natur aus eine Konvention. Folglich beruhen auch ihre konkreten Erscheinungsformen auf Konventionen, welche die schnellere Informationsverarbeitung auf intra- und intersubjektiver Ebene ermöglichen. Die Wichtigkeit der Gebrauchshäufigkeit, wenn auch in einer anderen Weise, spiegelt sich auch neuronal wieder: Je öfters bestimmte Neuronen aktiviert werden, je öfters bestimmte Synapsen geschaltet werden, umso stärker werden diese verfestigt und evolutionsgeschichtlich auch weitergegeben. Mit diesen Schlussfolgerungen möchte ich natürlich nicht den Einzelsprachen ihren intrinsischen Wert absprechen. Allein die Tatsache, dass sich eine solche Vielfalt von sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten entwickelt hat, weist darauf hin, dass diese evolutionsgeschichtlich sicherlich einen Zweck erfüllen. Man muss jedoch zwischen individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit genauestens unterscheiden, wobei dem Aspekt der Gebrauchshäufigkeit in beiden Konzeptionen eine zentrale Rolle zuzuschreiben ist, auch als potentieller Ausgangsbzw. Verknüpfungspunkt zwischen individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit betrachtet werden kann. In Hinblick auf das Forschungsobjekt (Mehr-)sprachigkeit bedarf es aber einer Neudefiniton des zentralen Begriffes «Sprache». 251 Zur Relativität der Klassifizierung von Sprache(n) 6. Literaturverzeichnis A BUTALEBI , Jubin, A NNONI , Jean-Marie, Z IMINE , Ivan, P EGNA , S EGHIER , Alan Mohamed, L EE -J AHNKE , Hannelore, L AZEYRAS , François, C APPA , Stefano & K HATEB , Asaid 2008: «Language Control and Lexical Competition in Bilinguals: An Event-Related fMRI Study», Cerebral Cortex 18(7): 1496 - 505. 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Dieses von der Region Trentino- Südtirol (Assessorat für Sprachminderheiten) unterstützte Projekthat folgende Ziele: a) alle ladinischen Texte mit literarischem Anspruch aus den Dolomiten zu erfassen 1 ; b) originale Textbeispiele mit Übersetzungen ins Deutsche und/ oder Erläuterungen anzubieten; c) Autorenbiographien auszuarbeiten und Epocheneinteilungen zur Diskussion zu stellen. Geplant ist abschließend die Erschließung des Gesamtwerkes durch ausführliche Register. Ansatzweise soll auch eine beschreibende Literaturkritik der Texte versucht werden. Die literarische Produktion in den Dolomiten soll nicht nur in ihrem lokalen, sondern auch regionalen und europäischen Kontext gestellt werden. 1. Die ersten ladinischen Schriftzeugnisse Die ersten zusammenhängenden schriftlichen Texte auf Ladinisch waren Proklamationen, so genannte cridati, die auf den Dorfplätzen in den ladinischen Tälern ausgerufen wurden. Es handelte sich um mündliche Mitteilungen, die durch einen beauftragten Stellvertreter verkündet wurden. Die erste Proklamation wurde 1631 auf Gadertalisch-Buchensteinisch verfasst. Es war eine Bekanntmachung an die Bevölkerung anlässlich eines 1 Das Adjektiv literarisch hat in einer weniger verbreiteten Sprache wie Ladinisch naturgemäß eine andere Abgrenzung als in einer etablierten Großsprache. Gemeint ist jede Form schöngeistiger Produktion, wie z. B. auch die Aufzeichnung einfacher Gelegenheitsdichtung oder Gebrauchsliteratur vor allem aus dem 19. Jahrhundert. Untersuchungsgebiet sind die fünf historischen Talschaften der brixnerisch-tirolerischen Ladinia. Kirchweihfestes: Proclama per la sagra di s. Zuane d ’ Anno 1631. (Bekanntmachung für die Kirchweih in S. Giovanni/ Vigo/ Vich, dem Gerichtsort der Fassaner, im Jahr 1631) (P LANGG 1976: 135; G HETTA / P LANGG 1987: 284 - 286). Der zweite ladinische Text wurde 1632 auf Buchensteinisch verfasst. Es handelt sich um einen inklusive Schlussformel 36 Zeilen umfassenden Erlass des damaligen Bischofs von Brixen Wilhelm Baron von Welsberg (1628 - 1641). Mit diesem Erlass sollte von den Bewohnern der Gerichtsbezirke von Fassa, Vinaulonch (Buchenstein) und Torre del Gader (Thurn an der Gader) eine Abgabe erhoben werden (G HETTA / P LANGG 1987: 288; P LANGG 1985: 90 - 99). Der Text der Proklamation bzw. Ausrufung aus dem Jahre 1703 wurde vom Bischof Kaspar Ignaz von Künigl, von 1702 bis 1747 in Brixen, an die Thurner (Unteres Gadertal) Untertanen in Auftrag gegeben, anlässlich des Jahrmarktes in S. Martin in Thurn (de Tor), Sitz des Pflegers (G HETTA / P LANGG 1987: 289). Aus dem Jahre 1760 stammt hingegen eine Gadertaler Wortliste, bekannt als Catalogus von Simone Pietro Bartolomei, Advokat aus Pergine, die 112 Seiten umfasst (Bibliothek des Landesmuseums Fedinandeum in Innsbruck, Ms. Ferd. IBK Dipaul. Nr. 958). Doch der bisher wohl interessanteste Fund im Zusammenhang dieses Projektes war die Auffindung des verschollen geglaubten Manuskripts Versuch zu einer Grammatik der Grödner Mundart/ Per na Gramatica döl Lading de Gerdöna aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, verfasst von Josef David Insam (1744 - 1826) aus Sëlva/ Wolkenstein, Landrichter in Gufidaun bei Klausen. Das Manuskript konnte von Prof. Videsott in der Universitätsbibliothek Krakau ausfindig gemacht werden (vgl. dazu den Artikel von Paul Videsott). 2. Geheimer Beginn der ladinischen Literatur: Die Dolomitensagen Karl Felix Wolff, der zum Erhalt der ladinischen Sagen unbestritten den größten Beitrag geleistet hat, begann bereits 1903 ladinische Sagen zu sammeln und aufzuzeichnen (Dolomitensagen 1913), die, wie Wolff selbst bitter feststellen musste, schon wenige Jahre später für immer vergessen gewesen wären oder nicht mehr hätten vervollständigt werden können, weil es keine Gewährsleute mehr gab. Die Sammelarbeit von Karl Felix Wolff erfolgte in der Tradition der Brüder Grimm, d. h. Wolff hat das Gehörte jeweils ziemlich frei zusammengestellt und interpretiert. Die ursprünglichen Formen der Sagen lassen sich deswegen nicht mehr genau rekonstruieren. 264 Rut Bernardi Die Hauptinformanten Wolffs waren die Fassaner Tita Cassan, Professor an der Handelsschule in Bozen, der Photograph Franz Dantone und der Postoffizial Hugo De Rossi, der in Innsbruck lebte. Wolff hatte auch Kontakt mit dem Grödner Wilhelm Moroder, der damals in Innsbruck an der Universität studierte, sowie dem Geistlichen Karl Staudacher aus Bruneck, der von den Gadertalern viel über den Faneszyklus in Erfahrung gebracht hatte. Die gesamte Sammelarbeit Wolffs geschah sicherlich nicht ohne politischideologische Hintergedanken, die mit den Wirren der Zeit zusammenhängen. Sein Hauptanliegen war die Beweisführung, dass die Ladiner ein selbständiges Volk sind und von den alten Rätern, weniger von den Römern abstammen. Er suchte in den Sagen die echte Substanz der Ladiner. Als Kind seiner Zeit unterlag er auch den Rassentheorien der nationalsozialistischen Ideologie, was einen nicht zu vernachlässigender Schlüssel zum Verständnis der Wolff ’ schen Sammelarbeit darstellt. 3. Die ladinische Literatur im 19. Jahrhundert Der Beginn der dolomitenladinischen Literatur ist parallel in allen fünf dolomitenladinischen Tälern in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhundert zu beobachten. 3.1 Gherdëina/ Gröden Der Organist Matthäus (Matie) Ploner (1770 - 1845) aus Urtijëi/ St.Ulrich macht den Anfang der ladinischen Literatur. Von ihm stammen die zwei erstaunlich gut verfassten und für die Zeit recht scharfen Gedichte: La vedla Muta (Das alte Mädchen = Die Jungfer) um 1800 und L vedl Mut (Der alte Bursche = Der Junggeselle) von 1828. In Gröden hat es im Laufe des 19. Jahrhunderts nach den gewagten Anfängen von Matthäus Ploner so gut wie niemanden mehr gegeben, der im weitesten Sinne als literarisches Leitbild hätte angesehen werden können. Erst Jan Batista Ploner da Sotanives (1848 - 1925) hätte für die Literatur auf Grödnerisch des 19. Jahrhunderts einen soliden Grundstein setzen können, doch seine Gedichte bzw. Lieder wurden nur in Auswahl und erst viel später in den Calëndri de Gherdëina/ Calëndri ladins von 1911 bis 1915 veröffentlicht und seine Vorliebe galt den Liedtexten und Melodien. 265 Dolomitenladinische Literaturgeschichte 3.2 Badia/ Gadertal und Mareo/ Enneberg Aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind uns auf Gadertalisch einige unveröffentlichte Reime aus dem Jahre 1819 des Buchensteiner Geistlichen Jan Francësch Pezzei (1765 - 1819), Seelsorger in La Val/ Wengen bekannt, die er, wie damals üblich, am Schulende seinen Schülern gewidmet hat. Herausragende Vertreter, u. a. von Primizgedichten, sind im Gadertal die zwei rührigen Priester Matthäus (Janmatî) Declara (1815 - 1884) und Cyprian Pescosta (1815 - 1889). Von Declara haben wir zahlreiche ladinische Predigten und Schulschlussgedichte, darunter auch die ersten klassischen Sonette. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts haben wir einen regen Aufschwung des ladinischen Bewusstseins und der ladinischen Literatur mit zwei besonderen Talenten: Angelo Trebo (1862 - 1888) und Jepele Frontull (1864 - 1930), beide aus La Pli/ Enneberg Pfarre. Angelo Trebo wird mit seinen 27 in spätromantischer Tradition verfassten Gedichten von den Ladinern als erster ladinischer Poet empfunden. Frontull vertonte 1884 und 1885 unter anderem die zwei Operetten Trebos: Le ciastel dles Stries (Das Hexenschloss) und Le scioz da San Jênn (Der Johannisschatz). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat das Gadertal den wohl bedeutendsten Vertreter der ladinischen Literatur jenes Jahrhunderts aufzuweisen. Mit den Romanisten und Philologen Janbatista (Tita) Alton (1845 - 1900) macht das Ladinische einen beachtlichen qualitativen und quantitativen Sprung. Von ihm stammen auch die ersten Übersetzungen von literarischen Texten - bewusst für ein breiteres Publikum bestimmt - zum größten Teil ins Italienische. 3.3 Fascia/ Fassatal Die ersten zusammenhängenden ladinischen Texte auf Fassanisch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in Prosa verfasst. Wir stoßen 1812 auf ein Gespräch zwischen einigen Kindern von Soraga und einem Mineraliensammler, wiedergegeben in einem Brief des Domherrn Giovanni Battista Giuliani (1766 - 1844). Weiters haben wir noch einen sehr frühen Text in Prosa in Form eines Familienbriefes: Lettera familiare aus dem Jahre 1836 in Rovereto abgesandt von Giovanni Battista Rossi (1799 - 1844) und seiner Frau Giuliana Rossi aus Sen Jan/ San Giovanni an den Vater. Doch der erste herausragende Vertreter der fassanischen Literatur Mitte des 19. Jahrhunderts ist ohne Zweifel Don Giosef (Josef) Brunel (1826 - 1892) aus Soraga. Hervorzuheben sind sein 30 Strophen langes Gedicht ’ Na tgiantzong per la xent bona aus dem Jahre 1856 und seine Theaterkomödien Grottol 1883 und I Pittores 1887. Diese Werke wurden bereits zu seiner Zeit gedruckt. Dank Hugo De Rossi, der 1910 die Schriftensammlung von Don Brunel rettete, sind etliche seiner Werke erhalten geblieben. Es befinden sich 266 Rut Bernardi darunter viele mündliche Überlieferungen, Sagen und Legenden. Noch aus dem 19. Jahrhundert kennen wir von Giovanni Battista Musner (1857 - 1919) aus Pozza zwei reizende Gedichte. 3.4 Fodom/ Buchenstein Den Beginn des schriftlichen Gebrauchs der ladinischen Variante aus Buchenstein haben wir mit einem kleinen Manuskript, das nach einigen Zeilen vom Italienischen ins Buchensteinische/ Fodom wechselt und die frühe Jahreszahl 1805 trägt. Die Verse im Paarreim wurden für einen Knaben, Thomes mit Namen (Camploj ist verbessert zu Tolpei), der Priester werden sollte, verfasst. Wir vermuten, dass es sich um Verse des Geistlichen Jan Francësch Pezzei handelt, der zu jener Zeit bereits in La Val/ Wengen wirkte. In selber Handschrift befindet sich unter den vielen Schulschlussgedichten für Schüler auf Italienisch, mit mehr oder weniger ladinischem Einfluss, im Pfarrarchiv von La Val/ Wengen aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, noch ein Gedicht auf Buchensteinisch aus dem Jahre 1816 an Urs. da Potz (Ursula Dapoz). Der älteste uns heute bekannte Text in der ladinischen Variante von Col Santa Lizia/ Colle Santa Lucia, ladin da Col, der in der Gartner ’ schen Liedsammlung in Innsbruck aufbewahrt wird, ist ein neun Seiten langer Dialog von Don Michele Agostini. Dieser sozial-geschichtlich interessante Text tendiert sprachlich stark zum Italienischen. Laut Inhalt muss der Text zwischen 1866 und 1870 entstanden sein. Ein weiterer Text in der ladinischen Variante von Col Santa Lizia/ Colle Santa Lucia, wurde uns als Postkarte von Tonin Bonagrazia (Pseudonym für Antonio Chizzali) am 29. Juli 1879 aus Schwaz an Cyprian Pescosta aus Corvara ins Pustertal, wo jener als Kaplan in Ehrenburg beim Grafen Künigl tätig war, überliefert. 3.5 Anpezo/ Ampezzo Den Beginn der ampezzanischen Literatur macht 1844 eine lange und lustige Satire von Joani Gregorio Demenego Caisar (1821 - 1867), die uns einen soziologischen Einblick in den Mikrokosmos von Anpezo/ Ampezzo gibt. Schon bald darauf haben wir ein Gelegenheitsgedicht aus dem Jahre 1852 von Bortolo Zardini (1807 - 1882). Herausragender Vertreter der ampezzanischen Literatur des 19. Jahrhunderts ist Firmiliano Degaspar Meneguto (1828 - 1877). Er schrieb Gelegenheitsgedichte, in denen er mit scharfen Tönen nicht spart und ein undatiertes Liebesgedicht: Ara mé noviza (An meine Braut). Aus dem Jahre 1862 stammt der älteste, uns bis heute bekannte, literarische ladinische Prosatext, wobei der Autor auch eine Version in Versen hinterlassen hat. Ebenfalls von Degaspar Meneguto stammt aus dem Jahre 1868 ein klassisches Sonett. 267 Dolomitenladinische Literaturgeschichte Erstaunlich sind die bereits erwähnten Satiren auf Ampezzanisch. Wir haben drei lange Satiren aus dem Jahre 1873, die anonym gegen den Gemeindeausschuss von Anpezo/ Ampezzo geschrieben wurden. Diese Pamphlet-Schriften haben eine beträchtliche Länge und geben uns einen minuziösen Einlick in die Dorfstruktur von damals. 3.6 Übersetzungen kirchlicher bzw. biblischer Texte Wir kennen in allen fünf Idiomen des Dolomitenladinischen sehr frühe Übersetzungen kirchlicher bzw. biblischer Texte seitens Geistlicher. Bereits von 1813 stammt La Stacions, o ’ la Via dêlla S. Crôush (Die Stationen oder der Hl. Kreuzweg) von Johann Peter Runcaudie (1753 - 1815) und von 1865 ’ Nsenyamënt per la Ś oventù (Belehrung für die Jugend) von Johann Angelus Perathoner (1839 - 1921), die für die Verschriftung des Grödnerischen von Bedeutung sind, wobei die Versbildung und Metrik der zweiten Übersetzung herausragen. Neben den ladinischen Predigten wurde im Gadertal schon sehr früh mit Teilübersetzungen der Heiligen Schrift begonnen und späterhin u. a. von Heiligenviten: 1862 Vita dla santa fancella Notburga da Rottenburg (Die Geschichte der heiligen Magd Notburga von Rottenburg), 1878 Storia D ’ S. Genofefa. Prum liber lading (Die Geschichte der Heiligen Genoveva. Erstes ladinisches Buch) von Matthäus Declara und 1889 La vita e i mirachi de san Benedett scritta da san Gregoere l Grand (Das Leben des Hl. Benedikt, geschrieben vom Hl. Gregor den Großen) von Joseph (Vinzenz) Gasser. 3.7 Anton (Vigil) Perathoner (1839 - 1904) Als Autorenbeispiel wollen wir einen Grödner Autor vorstellen, der mit Graubünden Kontakt hatte. Im Archiv des Klosters Muri Gries in Bozen befindet sich ein Manuskriptheft auf Surselvisch, der rätoromanischen Variante des Bündner Oberlands in der Schweiz, vom Grödner Geistlichen Vigil Perathoner. Es handelt sich um Übersetzungen von Kirchenliedern und Gelegenheitsreime ins Surselvische, wie auch um eigene Gedichte, die Perathoner von 1881 bis 1884 verfasste, doch nur wenige mit seinem Namen versah. Anton (Pater Vigil) Perathoner wurde am 6. Juni 1839 in Bruneck als Sohn des Steuerbeamten Ulrich und Theresia Huber aus Gröden geboren. Er besuchte das Gymnasium in Brixen und in Bozen, trat 1857 in das Benediktinerstift Gries ein und legte am 24. Dezember 1858 die einfachen Gelübde ab. Am 25. Juli 1862 wurde er in Trient zum Priester geweiht und anschließend Kooperator in Marling. Im Oktober 1864 kam er als Professor nach Sarnen 268 Rut Bernardi (Kanton Obwalden/ Schweiz), von wo er auch die Missionsstation Brienz im Berner Oberland versah. 1870 wurde er Kooperator in Senale/ U. L. Frau im Walde am Nonsberg und 1874 Pfarrer daselbst. Doch 1881 ging er wieder in die Schweiz, diesmal in die rätoromanische Ortschaft Mustér/ Disentis im Oberland/ Surselva (Graubünden). Binnen eines Monats konnte er in der dortigen Stiftskirche im einheimischen Rumantsch (Sursilvan) predigen. Nach drei Jahren kehrte er nach Gries zurück und wurde dort Lektor, Kooperator und 1887 schließlich Pfarrer. Er starb am 25. November 1904 (Benedictiner- Professen in Gries-Handschrift, 64). Im Archiv des Klosters Muri-Gries bei Bozen werden folgende Manuskripthefte auf Surselvisch von Pater Vigil Perathoner aufbewahrt 2 : Gliendischdis de Pastgas per la messa nuviala (Ostermontag für die Messe der Primizfeier) Stueva Christus buc endirar quei, ed aschia ir en sia gloria Luc. 24,26 (Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen? Luk. 24,26) Crusch e bandiera dil Sacerdot (Kreuz und Fahne des Priesters) [Längerer Text (Artikel oder Vortragstext), den Pater Vigil in Senale, den Marien-Wallfahrtsort U. L. Frau im Walde am Nonsberg verfasste. Mit Zusatz-Notizen zur Wortwahl] Nominaziuns de diversas localitats,. . . Zwei Blätter mit [surselvischen] Toponymen und den dazugehörigen etymologischen Erklärungen: Blatt 1: Namen von Ackerfeldern und Wiesen, Uclauns = Gehöfte und Alps = Alpen; Blatt 2: . Uauls = Wälder Ramontsch della Ca-Di (Eine 97-seitige Grammatik über das Romanische der Ca-Di, der Gegend um Mustér/ Disentis) Logoplasia (? ? ? ? ) Rimas (Reime - es werden Reimmöglichkeiten aufgeführt) IV. Sammlung deutscher Redensarten, wie sie auf Romanisch gegeben werden. (5) Wörterbuch A - Z (6) Wörterbuch A - Z Eine Ausgabe der Gasetta Romonscha [gedruckte rätoromanische Zeitschrift] - 1882 - [3 Zeitungsausschnitte] In den Manuskripten von Vigil Perathoner befinden sich auch Übersetzungen von Kirchenliedern und Gelegenheitsreimen ins Surselvische (z. B. zum Besuch des Abtes Bonaventura III von Muri-Gries im Jahre 1882). Auch eigene Gedichte sind dabei. 2 Ich konnte diese Manuskripte dank der freundlichen Erlaubnis von Pater Plazidus Hungerbühler einsehen. 269 Dolomitenladinische Literaturgeschichte Gedichtbeispiele 3 : Sco la giuvna flur Alla tarlischur Dil suleilg schi bi, Arva ora ti Wie die junge Blüte Im Glanze Der wunderschönen Sonne, Öffne All ’ amur de Diu O giuvnetta tiu Cor o spiert o sen Quei tegn andamen. Der Liebe Gottes Oh du Mädchen Dein Herz, Geist oder Sinn Das merke Dir. Einen Schulschlussreim A mes scolars (An meine Schüler) in Art einer Moralpredigt können wir mit Sicherheit Pater Vigil zuschreiben, da er am Ende namentlich signiert ist. Dieses Gedicht muss in den Jahren 1881 - 1884 entstanden sein, als Pater Vigil in Mustér/ Disentis unterrichtete. Es weist einen regelmäßigen Reim auf, und zwar sechs Mal einen Paarreim mit einem umarmenden Reim AA BCCB: A mes scolars Mes buns e cars Amitgs, scolars! Tgi ha lubiu de far aschi? Per vies schengetg Engraziel fetg, In gron plischer veis fatg a mi. Mo eunc pli bein Segiramein Vignis vus mei legrar: cun flis, Modestadat E tscheccadat, Cun buca daventar unfis D ’ urar e far E brav luvrar E bein imp(r)ender vies talenn, Che Dieus ha dau A vus el tgau, Perquei ten¯i bein endamenn: Lischentadat Lischadadat E tupadira vala nuot, Duvrei endretg Vies entelletg An meine Schüler Meine Guten und Lieben Freunde, Schüler! Wer hat euch erlaubt, dies zu tun? Für euer Geschenk Bedanke ich mich herzlich, Ihr habt mir eine große Freude bereitet. Doch noch viel mehr, Mit Sicherheit, Erfreut ihr mich: mit Fleiß. Bescheidenheit Und Anständigkeit, Indem ihr nicht müde werdet Zu beten und zu handeln Und brav zu arbeiten Und gut euer Talent auszubilden, Welches Gott euch im Kopf gegeben hat. Behält deshalb gut in Erinnerung: Müßiggang, Ausgelassenheit Und Dummheit haben keinen Wert, Gebraucht korrekt Euren Intellekt 3 Mit kleiner Handschrift auf einem Zettelchen im Manuskriptpaket ohne weitere Angaben geschrieben. 270 Rut Bernardi E lavigiei negin daguot; Pertgei saveis Che Vus haveis Ded inagada render quen¯ ? Sche seies po Perderts e mo De far il bien tenni el sen¯. Gie sespruei, - Dieus detti quei - Ded asser buns e pietus Buc emblidei D ’ urar per mei, Sco jeu vi era far per vus. Und verdirbt keinen Tropfen davon; Denn wisst, Ihr müsst Irgendwann Rechenschaft dafür ablegen? Wenn ihr dann auch noch Klug seid Und Gutes tut, erkennt ihr den Sinn. Ja, strengt euch an, - Gott gebe es euch - Gut und barmherzig zu sein, Vergisst nicht Für mich zu beten, So wie auch ich es für euch tun will. P. Vig. Perathoner Prof. Im Gegensatz zu den anderen ladinischen Tälern hat Gröden bereits um die Jahrhundertwende schriftliche Zeugnisse von Frauen aufzuweisen. Rosalia Riffeser Comploi (1883 - 1962) aus Sëlva/ Wolkenstein übersetzte bzw. adaptierte im Jahr 1900 ein 257 Verse langes Lied La Pasion i mort dë nosch Senieur Gesu-Cristo (Leiden und Tod unseres Herrn Jesus Christus) ins Grödnerische. Um die Jahrhundertwende ist in Ladinien ein deutlicher kultureller Aufschwung feststellbar: die erste Union Ladina, gegründet 1905 von ladinischen Studenten in Innsbruck mit ihren Studentenzeitschriften, die ersten ladinischen bzw. zweisprachigen Zeitungen L ’ amik di Ladins (Der Ladinerfreund) 1905 und Der Ladiner 1908 des Grödner Redakteurs Wilhelm Moroder, die jeweils nur in 3 bzw. 2 Nummern erschienen, die Geburt des Calënder de Gherdëina, des ladinischen Kalenders 1911 mit zahleichen Gedichten und Prosatexten, die intensiven philologisch-kulturellen Aktivitäten des Fassaners Hugo De Rossi oder des Gadertalers Janbatista Alton. 4. Beginn der klassischen ladinischen Literatur Was sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit talübergreifendem Geist so viel versprechend anbahnte, wurde vom Ersten Weltkrieg, dem Faschismus, der Wirtschaftskrise und schließlich von der Option und dem Zweiten Weltkrieg wieder zunichte gemacht. Die wenigen während der beiden Weltkriege und in der schwierigen Zwischenkriegszeit entstandenen Werke, oder besser persönlichen bzw. privaten Aufzeichnungen, blieben meistens unveröffentlicht. Es wurden zwar weiterhin Gelegenheitsreime und -gedichte geschrieben, doch bedeutendere literarische Werke entstanden nicht. Als Pfarrer in La Val/ 271 Dolomitenladinische Literaturgeschichte Wengen verfasste Zeno Maring (1852 - 1928) in den Jahren von 1901 bis 1924 zahlreiche Predigten auf Ladinisch. Einer der frühen Autoren eines originalen ladinischen Prosatextes war Josef Frena (1872 - 1930), der 1920, gleich einem Tagebuch, Ereignisse aus seinem Leben auf Ladinisch festhielt: Mia Vita (Mein Leben). In Gröden sind die Tagebuchaufzeichnungen mit zahlreichen Gedichten von Johann (Giuani) Piazza da Cudan (1880 - 1948) und ein Soldatentagebuch seines Sohnes David Piazza (1911 - 1992) hervorzuheben. 1948 erfolgte die Wiederaufnahme der Veröffentlichung des Calënder de Gherdëina 4 , und ab 1962 zusätzliche auch des Calënder Ladin, dem Jahreskalenders für das Gadertal. Ab 1949 erscheint die Zeitschrift Sella - Nos Ladins (Sella - Wir Ladiner), die ab 1972 als La Usc di Ladins (Die Stimme der Ladiner) weitergeführt wird und bis heute überlebt hat. 1954 wurde von der Union di Ladins de Gherdëina (ULG) in Urtijëi/ St. Ulrich die Cësa di Ladins (das Haus der Ladiner) errichtet, bis heute Sitz der Union Generela di Ladins dla Dolomites, Dachorganisation der Ladiner aller fünf Talschaften. In der Cësa di Ladins ist auch das Museum de Gherdëina untergebracht, eine ladinische Fachbibliothek und ein Theatersaal. Das Haus war auch jahrelang Sitz der ladinischen Wochenzeitschrift La Usc di Ladins und von 1994 bis 2001 des Sprachplanungsprojektes SPELL (Servisc de planificazion y elaborazion dl lingaz ladin). Max Tosi (1913 - 1988) gehört zu den wichtigsten Autoren, die die ladinische Sprache und Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg wieder belebten. Durch ihn und seine Texte erreicht die ladinische Literatur einen neuen Stellenwert. Er überschreitet mit seinen literarischen Texten als einer der ersten ladinischen Schriftsteller den populären und folkloristischen Horizont. In jenen Jahren sind für ladinische Autoren der Calënder de Gherdëina und die Zeitschrift Nos Ladins die einzigen Veröffentlichungsmöglichkeiten. So stoßen wir in jenen Medien von 1950 bis 1980 auf eine erstaunliche Menge an literarisch recht gut verfassten Kurzerzählungen. Zum Beispiel auf jene des Holzschnitzereien-Verlegers Franz Moroder da Costa (1891 - 1975), die sprachlich wie auch inhaltlich hervorstechen. Doch diese ersten literarischen Schritte bleiben noch lange Zeit unbeachtet. Erst in den 1960er bzw. 1970er-Jahre wird die dolomitenladinische Literatur zur Kenntnis genommen und Werke vereinzelter Autoren als eigenständige Veröffentlichungen herausgegeben. 4 Bis 1959 war im Calënder de Gherdëina als Anhang jeweils auch die Rubrik Badiot zu finden. 272 Rut Bernardi Hauptvertreter der klassischen ladinischen Literatur: Gherdëina/ Gröden: Leo Runggaldier (1888 - 1961) Adele Moroder (1887 - 1966) Max Tosi (1913 - 1988) Franz Moroder da Costa (1891 - 1975) Dora Welponer (1890 - 1989) Frida Piazza (1922 - 2011) Josef Kostner (1933) Frida Piazza Photo: Rut Bernardi La vën, n iëde, la spartida! 5 Tla vita, sc ’ lascià t ’ à-la eurmei tla jeleda, chi ie pa ch ’ ne ulëssa no almanco s ’ semië ch ’ l abrac trapassënt, tla brujënt ’ dejidreda ch ’ la vëines pudëssa de ciaut se ciarië? . . . ch ’ l abrac, danz, che n vita ne dones assé, nsci che l pudëss ’ do l cumià mo t ’ sciaudé! Sie kommt, eines Tages, die Trennung! Wenn dich das Leben nunmehr in eisiger Kälte entlassen hat, wer träumt dann nicht von 5 Vgl. B ELARDI 1985 a: 142. 273 Dolomitenladinische Literaturgeschichte jener durchdringenden Umarmung des brennenden Verlangens, der die Adern mit Wärme füllen würde? . . . jene Umarmung, die du im Leben leider nicht genug schenkst, so dass sie dich nach der Trennung noch wärmen könnte! Badia/ Gadertal: Angelo Trebo (1862 - 1888) Josef (Ujöp) Pizzinini (1896 - 1987) Alexius (Lêjio) Baldissera (1895 - 1974) Angel Morlang (1918 - 2005) Pio Baldissera (1929) Giuvani Pescollderungg (1937) Lois Ellecosta (1938) Felix Dapoz (1938) Iaco Ploner (1944) Felix Dapoz Photo: Rut Bernardi IN BANUN 6 ZIELLOS 7 Spantadl ingrafagné pur strümia largüra baudia in banun, Über die stumme Weite streunt wehklagend eine zerknitterte Vogelscheuche. asmata imbaní la ć iantia scarzada Aufgeschreckt durch Verrat, verhöhnt sie 6 Vgl. in D APOZ 1982: 29; B ELARDI 1985 a: 222. 7 Die deutsche Übersetzung des Gedichtes stammt freundlicherweise vom Autor selbst. Sie wurde der heutigen Orthographie angepasst. 274 Rut Bernardi co sbürla ersura lumbel de melodìa três erpa stlainada sfruziada pro incomper slunfè di talpinas. Palajè tla sciampada al crista te pëgnes pur snagazada craugnënta sbuacian salmöra d ’ aussënt. La rëna in flama sprìgura vidures dî sfenüdes. Gramura pióra incrusc la së ć ia. das zerrissene Lied und zwängt Melodiefetzen angstvoll durch die zerzauste Harfe - die an den plumpen Schwellungen der Maulwurfshügel zermalmte. Heimlich ist ihre Flucht, doch gequält vom unermüdlichen Drängen, stöhnt sie im Moorgrund und betrinkt sich am Wermutsud. Das flammende Abendrot verscheucht die zersprungenen Geigen. Am Geklapper magert weiter die Dürre ringsum. Fascia/ Fassatal: Hugo De Rossi (1875 - 1940) Ermanno Zanoner (Luigi Canori) (1907 - 1991) Elsa Daprà (1908 - 1968) Valentino Dell ’ Antonio (1909 - 1982) Simon Soraperra de Giulio (1912 - 1987) Luciano Jellici (1928 - 2006) Simone Sommariva (1927 - 1999) Frumenzio Ghetta (1920) Veronika Zanoner Piccoljori (1922) Luciano Jellici I più i s - ciava la tera 8 Die meisten wühlen in der Erde I più i s-ciava la tera zenza ’ ntraveder en grop de fior dò na salea. I più i s-ciava la tera. I più i s-ciava la tera demò, co la furia de na raìsh desmenteada. E i autres, i li sotera. Die meisten wühlen in der Erde, ohne einen Blumenklumpen zu entdecken, hinter einer Traufe. Die meisten wühlen in der Erde. Die meisten wühlen in der Erde, mit der Raserei einer vergessenen Wurzel. Und die anderen, begraben sie. 8 Vgl. in J ELLICI 1981: 19. 275 Dolomitenladinische Literaturgeschichte Fodom/ Buchenstein: Giovanni Evangelista Foppa (1885 - 1968) Luigia Lezuo (1901 - 1973) Alessio Soratroi (1919 - 2006) Maria Pierina Lezuo Dander (1920) Franco Deltedesco (1942) Sergio Masarei (1943 - 2006) Ampez/ Cortina d ’ Ampezzo: Eligia Ghedina (1877 - 1931) Arcangelo Dandrea Magro (1895 - 1966) Clelia Franceschi (1908 - 2007) Teresa Michielli ved. Hirschstein (1922 - 2012) Fiorenzo Pompanin Dimai (1927 - 1980) 5. Die zeitgenössische ladinische Literatur Das kreative Schreiben von Literatur gewinnt zunehmend an Selbstbewusstsein und die Schreibmotivation erfährt eine deutliche Verschiebung, d. h. die Generation von Ober- und Hochschulabgängern schreibt nicht mehr aus spracherhaltenden Gründen, sondern der Literatur willen. Wir stellen heute in der ladinischen Literatur parallel verlaufende Strömungen fest. Einerseits existiert eine rege Produktion an Gelegenheitsdichtung (Heimatliteratur) in der Lyrik, Prosa und Dramatik, die für das soziale Leben, und vor allem für die Sprache eine außergewöhnlich wichtige Rolle spielt. Andererseits schließt sich in gewisser Weise wieder der Kreis, wenn wir an die Geistlichkeit am Beginn des 19. Jahrhunderts denken, die die ersten ladinischen Gedichte verfasste. Diese Autoren verfügten durch ein fundiertes humanistisches Studium alter Sprachen und Kulturen über ein hohes Maß an philologisches und literaturtheoretisches Wissen. Der steigende Wohlstand, die Bildungs- und Reisemöglichkeiten, der Einfluss benachbarter Literaturen auf die Nachkriegsgeneration, öffnete der ladinischen Literatur wieder die Türen zu anderen Sprachen und Kulturen. Die heutigen modernen Autoren beherrschen, ähnlich wie die ersten ladinischen Autoren, neben der Muttersprache einige Sprachen, auch in schriftlicher Form, und haben meist ein Studium absolviert. Universelle Themen wie das Leben, der Tod, die Liebe usw. finden wir nach wie vor, jedoch in neuer, zum Teil moderner Form wieder. Themen die sich zeitbedingt radikal gewandelt haben sind die moralischen Vorstellungen des Religionsverständnisses. Neu in der ladinischen Literatur ist die offene 276 Rut Bernardi Behandlung tabuisierter Themen: Sexualität (Daria Valentin), Feminismus (Ingrid Palfrader), Psychoanalyse (Maria Margareth Pedevilla) auftretende Probleme durch den Tourismus (Ivan Senoner), Fremdenhass (Riccardo Zanoner), Genozid (Mateo Taibon), Prostitution (Stefen Dell ’ Antonio), Vergewaltigung (Rut Bernardi), Mord (Iaco Rigo), Selbstmord (Roberta Dapunt), Pädophilie (Marco Dibona), Sinnfrage des Lebens (Tone Kastlunger) usw. Wenn bei jüngeren Autoren auch noch typische traditionelle Themen eine Rolle spielen, so doch in völlig verwandelter Form (Christian Ferdigg). Für die Lyrik ist in Gröden vor allem der Autor Roland Verra (1956) hervorzuheben, als Kuriosum und Experiment sind die Haikus von Johann Comploj (1946) erwähnenswert und in der Prosa sticht aus der jüngeren Generation Ivan Senoner (1978) hervor. Roland Verra 9 Te chësta zità furesta ies ruà al infal, y sëul iës sën cun ti lecorc jmarii . . . Te chësta zità la pizes di ciampanii fóra la nuët sënza suënn, la usc de foles grijes manacia ti coa de tiër sprigulà. . . Fuëres de njinies, jvéi de mitél, scibl dla ferata tl scur y la éjia sëur dla desprazion . . . In diese fremde Stadt bist du aus Versehen gelangt, und bist nun allein mit deinen farblosen Erinnerungen . . . In dieser Stadt durchlöchern die Turmspitzen die schlaflose Nacht, die Stimmen der grauen Massen bedrohen dein Nest, wie jenes eines verschreckten Tieres . . . Maschinenlärm, metallische Schreie, Zugpfiffe in der Dunkelheit und der bittere Geschmack der Verzweiflung . . . Das Gadertal kann im Gegensatz zu den anderen ladinischen Tälern eine recht rege literarische Aktivität jüngerer Autoren aufweisen. Stellvertretend als herausragender Autor dieser nach 1960 geborenen Autoren sei hier Iaco Rigo (1968) genannt. Seit frühester Jugend publiziert Rigo seine Werke in unterschiedlichen literarischen Gattungen und kann als produktivster ladinischer Literat und Kulturschaffender bezeichnet werden. Der zur Zeit produktivste Autor im Fassatal ist Stefen Dell ’ Antonio (1958). Aus dem regen fassanischen Theaterleben ist Vigilio Iori (1960) als Theaterpädagoge, Stückeschreiber, Übersetzer und Schauspieler zu nennen und als Lyriker Claus Soraperra (1966). 9 Vgl. in Distel. Südtiroler Kulturzeitschrift. 4/ 85, 35. 277 Dolomitenladinische Literaturgeschichte Produktivster Autor einer bereits modernen Buchensteiner Literatur war Sergio Masarei. Zu den zeitgenössischen Buchensteiner Autoren zählen Giovanni Pellegrini (1934) als Liedtexter und Franco Deltedesco (1942) als Lyriker. Eine jüngere Generation an Autoren fehlt in Buchenstein vollständig. Der heute bedeutendste Autor ampezzanischer Literatur ist Ernesto Majoni (1958). Zu den jüngsten Autoren gehören Marco Dibona (1961) und Maria Emanuela Dibona (1963). Von Autoren einer jüngeren Generation in Anpezo/ Ampezzo kennen wir nur einzelne Gedichte. 6. Veröffentlichung ladinischer Literatur Den ersten und bis heute einzigen Versuch, einen Verlag für ladinische Literatur und Sachprosa zu ladinischen Themen startete Mitte der 1970er- Jahre Simone Sommariva mit Arcoboan - Film (Regenbogen - Film) in Bozen. In der Reihe Osh ladine (Ladinische Stimmen) erschienen Gedicht- und Prosabände (z. B. von Luciano Jellici), weiters gab der Verlag auch Sachprosa zu historischen Themen und 16 mm Dokumentarfilme heraus und 1983 erschien eine Nummern der Kulturzeitschrift El Batadoi. Fontech de letre e art ladine (Der Türklopfer. Sammlung ladinischer Literatur und Kunst). Für die ladinische Literatur gibt es bis heute keinen weiteren Versuch einen klassischen kommerziellen Verlag zu gründen. Ladinische Literatur wird von Kulturvereinen oder den Kulturinstituten herausgegeben. Meistens gibt es eine öffentliche Vorstellung des Werks und eine bestimmte Anzahl an Bibliotheken und Institutionen erhalten das Werk. Die im Eigenverlag veröffentlichte Literatur bleibt einer breiteren Öffentlichkeit so gut wie unbekannt. Ladinische literarische Werke, die in den letzten Jahren in einem kommerziellen Verlag erschienen sind, kann man an einer Hand aufzählen: z. B. 2003 im Skarabäusverlag in Innsbruck Gherlandes de sunëc/ Sonettenkränze von Rut Bernardi, 2006 im Raetia Verlag in Bozen Ustories (auf Ladinisch) von Frida Piazza, 2006 im Athesia Spectrum in Bozen Armunia de linëusc. Poesielichtspiele. Caleidoscopio di poesie (dreisprachig) Spectrum von Ulrica Perathoner, 2011 im Hermagoras/ Mohorjeva in Klagenfurt Lyrik und Prosa kreuz und quer/ Lirica y prosa da piz a cianton (auf Deutsch und Ladinisch) von Rut Bernardi und 2012 im Folio Verlag in Bozen Nauz (Futtertrog) (auf Ladinisch und Deutsch) von Roberta Dapunt. Auch noch in den letzten Jahrzehnten, spielten Zeitschriften eine wichtige Rolle für die Veröffentlichung ladinischer Literatur. Von 1982 bis 1993 erschien L Brunsin. Als Gemeindeoppositionsblatt in Urtijëi/ St. Ulrich als Monatszeitschrift gegründet, wurde sie bald zur Alterna- 278 Rut Bernardi tivzeitschrift für Artikel, die von den konventionellen Blättern abgelehnt wurden. Die Zeitschrift war mehrsprachig und so manches ladinisches Gedicht fand darin seine Erstpublikation (z. B. zahlreiche Gedichte von Frida Piazza). Von 1993 bis 2004 gab die talübergreifende Literaturgruppe ScurlinEs, (scur = dunkel und linëus = hell), jährlich die mehrsprachigen Kultur- und Literaturzeitschrift TRAS (durch; durch und durch; hindurch; immer wieder) zu je einem spezifischen Thema heraus. Die dreisprachige literarische Anthologie Eghes, herausgegeben von Roland Verra, erschien 1998. 2007 erschien eine weitere mehrsprachige Anthologie dolomitenladinischer Literatur: Dolomit. Ein Gipfelbuch, betreut von Rut Bernardi. Seit 2007 erscheint vierteljährig die ladinische Zeitschrift bzw. Illustrierte Gana (weibliche Sagengestalt) als Beilage der La Usc di Ladins. Sie wird von 5 Redakteurinnen in Bozen betreut. Seit 2009 erscheint ebenfalls vierteljährig die Zeitschrift Puhin (Uhu). Sie wird von 6 Redakteuren in Urtijëi/ St.Ulrich auf Grödnerisch, Deutsch und Italienisch redigiert. 7. Schlussbemerkung Seit den 1980er-Jahren kann eine stetig zunehmende Produktion bzw. Schreibtätigkeit an ladinischer Literatur festgestellt werden. Von der seit Jahren in ganz Europa herrschenden Wirtschaftskriese ist die Literatur Ladiniens verschont geblieben. Dies mag wohl daran liegen, dass ladinische Autoren weiterhin alle einen Brotberuf ausüben (müssen) und in der Freizeit Literatur schreiben. Einen wichtigen Beitrag für die literarischen Veröffentlichungen leisten nach wie vor die Unions di Ladins, die Ladinervereinigungen aller Täler, die ladinischen Kulturinstitute und das ladinische Kulturassessorat. Zum literarischen Schreiben spornen unter anderem die seit etwa 10 Jahren stattfindenden Literaturwettbewerbe für ladinische Literatur an. Trotz Kleinheit, Randsituation und Unzugänglichkeit von Außen - die ladinische Literatur ist der Südtiroler Bevölkerung so gut wie zur Gänze unbekannt, da sie nur sehr selten in eine der anderen zwei Sprachen übersetzt wird - wage ich zu behaupten, dass die moderne ladinische Literatur immer öfter Werke hervorbringt, die den europäischen Maßstäben einer modernen Literatur standhalten. 279 Dolomitenladinische Literaturgeschichte 8. Bibliographie B ELARDI , Walter 1984: «Felix Dapoz, poeta ladino», in: Corona Alpium, Miscellanea in onore di C. A. Mastrelli, Firenze: Istituto di Studi per l ’ Alto Adige, 1 - 26. B ELARDI , Walter 1985 a: Antologia della lirica ladina dolomitica. Roma: Bonacci editore. B ELARDI , Walter 1985 b: Poeti ladini contemporanei. Roma: La Sapienza, 1985. [Bibl. di ricerche linguistiche e filologiche, 16] B ELARDI , Walter 1985 c: «Max Tosi poeta ladino», Studi Gardenesi XII. Firenze: Archivio per l ’ Alto Adige, 5 - 33. 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Anders der Dichter Artur Caflisch, der festhält, dass allgemein «ün ’ eleganza ritmica ed acustica», ja sogar «ün sen per fuormas artisticas» fehlen würden (C AFLISCH 1930: 25). Jahre später bezeichnet Andri P EER (1970: 372) Lansels Verse wiederum als «klar und eigensinnig hüpfend wie ein Bergbach». Gemäss W ALTHER (1993: 215) schliesslich hat Lansel Sonette von « ‹ hinkender Gangart › » verfasst. Der Rhythmus des Lanselschen Verses scheint also zu polarisieren. Welcher Art sind denn nun die Verse Peider Lansels (1863 - 1943) 1 , der neben Giachen Caspar Muoth (1844 - 1906) zu den bekanntesten Vertretern der gebundenen bündnerromanischen Versdichtung zählt? Im Folgenden sollen am Beispiel der von Lansel häufig verwendeten Versform des Endecasillabo seine rhythmische Versgestaltung sowie der wiederholte Gebrauch gleicher metrischer Typen und die damit verbundenen (möglichen) Funktionen beschrieben werden 2 . Parallel zur rhythmischen Beschreibung der Versgestaltung soll auch der Frage nachgegangen werden, wo sich das Werk Lansels zwischen einer italienischen, deutschen und einer in den Grundzügen erst noch zu bestimmenden bündnerromanischen Metrik positionieren lässt. Um diese Frage überhaupt beantworten zu können, ist es - nebst einer verlässlichen Textgrundlage - notwendig, die wichtigsten Merkmale der beiden Metriken zu kennen, denn bekanntlich sind die metrischen Traditionen je nach Literatur sehr unterschiedlich. Die Unterscheidung zwischen nationalsprachlichen Metriken wie der deutschen und italienischen Metrik, ebenso wie die Annahme einer ‹ eigenständigen › Lanselschen Metrik, schliesst jedoch das Vorhandensein einer übersprachlich-vergleichenden Metrik nicht aus. So haben sich die einzelnen Literaturen in Bezug auf die Gedicht- und Versformen gegenseitig beeinflusst, wie z. B. die Übernahmen des Sonetts oder des Elfsilblers zeigen. Insbesondere 1 Für biografische Angaben zu Peider Lansel siehe neben P EER (1970) v. a. V ALÄR (2008 und 2012). 2 Dieser Beitrag fasst einen Teil der Ergebnisse meines SNF-Postdoc-Projekts Von München bis Livorno. Bündnerromanische Metrik im europäischen Kontext (PBFRP1 - 134279) zusammen. auf Versebene ist es aber aus historischen Überlegungen und nicht zuletzt auch aufgrund der Abhängigkeit der verwendeten Versifikationsprinzipien von der jeweiligen Sprache sinnvoll, von einzelsprachlichen Metriken auszugehen. Hilfreich um Lansels Metrik zu situieren, sind ferner seine metrischen Exzerpte und Überlegungen zu einer ladinischen Metrik in seinem Nachlass. Schliesslich kann auch der Vergleich mit denselben Gedicht- und Versformen anderer engadinischer Vertreter wie z. B. jene Zaccaria Pallioppis nützlich sein, um die Eigenschaften von Lansels Verskunst besser hervortreten zu lassen. 1. Voraussetzungen für die metrische Analyse 1.1 Synopse der Metriken der Nachbarsprachen Vereinfacht und als Tendenz formuliert, zeichnet sich die italienische Metrik (v. a. M ENICHETTI 1993) durch (relativ) flexible Akzentmodelle aus - z. B. die rhythmischen Gliederungsmöglichkeiten des Endecasillabo - , ferner muss bei der metrischen Analyse italienischer Verse mit zahlreichen metrischen und phonetischen Figuren sowie auch metrischen Lizenzen gerechnet werden. Paradebeispiel für eine solche metrische Figur ist die Synalöphe. Die deutsche Metrik (u. a. W AGENKNECHT 2007) ist im Gegensatz zur italienischen - insbesondere für den Bereich der ‹ volksliedhaften › Lyrik - durch eine ausgeprägte Syllabotonik gekennzeichnet, d. h. durch eine (tendenziell) regelmässige Abfolge von Hebungen und Senkungen; mitunter ist auch von Versfüssen die Rede. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass (oft) nicht alle hebungsfähigen Positionen auch realisiert werden müssen (D ONAT 2007, s. v. metrischer Typ) 3 . 1.2 Verlässliche Textgrundlage Eine wichtige Voraussetzung, um den Gebrauch metrischer Figuren wie der Synalöphe bei Lansel nachweisen oder ausschliessen zu können, ist eine verlässliche Textgrundlage. Dies gilt umso mehr, als Lansel seine Gedichte auch nach der Ausgabe letzter Hand immer wieder überarbeitet hat. Im Schweizerischen Literaturarchiv kamen in den letzten Jahren zahlreiche Dokumente zum Vorschein, darunter eine Ausgabe von L ANSEL s letztem Gedichtband Il vegl chalamêr (1929) mit handschriftlichen Korrekturen des Dichters im Hinblick auf eine noch ‹ definitivere › Ausgabe seiner Werke 4 . 3 Für einen vertieften Einblick in die entsprechenden Metriktheorien siehe C ADUFF (2010). 4 Peider Lansel hat bereits seinen Band Il vegl chalamêr (1929) als «Ediziun definitiva» bezeichnet. Peer benennt das hier angesprochene Nachlassdokument als «manuscrit O» 284 Renzo Caduff Zudem wurde die Graphie der Gedichte Lansels, wie es so oft bei Gesamtausgaben der Fall ist bzw. war, vom Herausgeber, Andri Peer, der damals gültigen Rechtschreibung angepasst 5 . Der Einbezug der aufgefundenen Nachlassdokumente ermöglicht somit eine eingehende Auseinandersetzung mit der jahrzehntelangen Textgenese der Gedichte Lansels, die nicht zuletzt auch aus metrischer Sicht relevant ist, wie folgende vier Beispiele verdeutlichen sollen. Als erstes Beispiel dient ein Vers aus dem Sonett in Endecasillabi Iris florentina (v. 12). Zitiert nach der postumen von Peer redigierten Ausgabe von 1966 weist dieser Vers eine überzählige Silbe auf: (1) sumgliand in quai^ad ün ’ orm ’ inamurada (1966: 25) Die Diskrepanz zwischen Silbenzahl und Versmass in der Version von 1966 kann mit einer Synalöphe (im Vers mit ^ angezeigt) aufgelöst werden. Fasani (1992/ 1993) schlägt denn auch vor, den entsprechenden Vers mit Synalöphe zu lesen, d. h. den Diphthong und den anlautenden Vokal zwischen «quai^ad» zu verschleifen 6 . Greifen wir aber auf die von Lansel publizierten Fassungen dieses Gedichts zurück, liest sich Vers 12 durchgehend als Endecasillabo: Sumgliond in quai ün orm ’ inamurada (1888: 337) In quai sumglond ün orm ’ inamurada (1892: 28) In quai sumgliond ün ’ orm ’ inamurada (1907: 31) In quai sumegliasch orm ’ inamurada (1929: 45) Sumgliand in quai ün ’ orm ’ inamurada [post 1929: 45] (Iris florentina, v. 12) 7 bzw. « ‹ exemplar persunal › » (1966: 357). Die von Lansel vorgenommenen Korrekturen wurden von Peer ohne besondere Kennzeichnung übernommen, sodass die Änderungen nicht nachvollziehbar sind. Varianten aus Lansels « ‹ exemplar persunal › » werden hier zwischen eckigen Klammern mit [post 1929] angegeben. 5 Vgl. P EER (1966: 342): «Uschè decidettna da ’ ns tgnair per uschè dir exclusivamaing a l ’ ortografia ufficiala dal Dicziunari ladin e da sguinchir da la regla valabla be là ingio cha la rima motivaiva ün ’ otra grafia o in pakischems pleds tipics per Lansel . . .». Beim von Peer erwähnten Dicziunari ladin handelt es sich um das Werk seines Bruders Oscar P EER , Dicziunari rumantsch ladin-tudais-ch, Cuoira: Lia Rumantscha, 1962. 6 Vgl. F ASANI (1992/ 1993: 21), der noch weitere Beispiele von Synalöphen anführt und dabei von «alcuni esempi del Lansel, nel quale la sinalefe rimane però molto rara» spricht. Durch Vergleiche mit früheren Fassungen lässt sich ein Grossteil der weiteren von Fasani nachgewiesenen Synalöphen ausschliessen, z. B. Cur cha las glüms as stüdan . . .: «in la s-chürdüm, as doza^il piz suldan» (1966: 53, v. 10) < «in la sçhürdüm, as doza ’ l piz suldan» (1929: 98) und «il silenzi^eloquaint da la muntagna» (1966: 53, v. 14) < «il silenz ’ eloquaint da la muntagna» (1929: 98). 7 Für genauere Angaben zu den einzelnen Fassungen siehe P EER (1966: 378). 285 Die Verskunst Peider Lansels am Beispiel des Elfsilblers Aus dem Vergleich mit den früheren Fassungen des Gedichts wird deutlich, dass es sich bei der Präposition «ad» um eine spätere Hinzufügung (des Herausgebers, des Korrektors oder des Schriftsetzers? ) zum intransitiven «sumagliar» handelt, z. B. «er gleicht seiner Mutter, el sumaglia a sia mamma» (P ALLIOPPI 1902, s. v. gleichen). Beispiel zwei illustriert ebenfalls, wie durch den Zuzug früherer Fassungen ein Gebrauch der metrischen Figur der Synalöphe ausgeschlossen werden kann. (2) per gnir a temp e lö tut sü^in sinoda (1966: 9) per gnir a temp i lö tut sü ’ n sinoda (1922: 15 und 1929: 13) (Il vegl chalamêr, v. 68) Das Aufeinandertreffen zweier Vokale zwischen Verbpartikel und Präposition wird hier von Lansel mittels einer Aphärese «sü ’ n» vermieden. Die Beispiele drei und vier sollen zwei verschiedene Möglichkeiten der Silbentrennung ein und desselben Adverbs veranschaulichen. (3) far la ruotta, vers cuolmens vieplü ots, (1966: 10) a far ruotta, vers cuolmens [viplü] ôts, (1929: 16) 8 sto il poet - vers cuolmens vi ’ plü ôts - (1922: 16) (Il vegl chalamêr, v. 109) (4) L ’ ajer dvantet vieplü crüj, fintant (1966: 78) L ’ ajer dvantet vi ’ e plü crü, fintant (1929: 230) (Tamangur, v. 16) Für zweisilbiges «vieplü» («immer mehr») verwendet Lansel die Schreibung «vi ’ plü» bzw. «viplü», in Fällen in denen drei Silben benötigt werden, schreibt er «vi ’ e plü». In Peers Gesamtausgabe wurde die Graphie zu «vieplü» vereinheitlicht, was zur Folge hat, dass der Leser selbst merken muss, wann ein und dieselbe Form zweisilbig bzw. dreisilbig zu lesen ist. Die angeführten Beispiele aus so bekannten Gedichten wie Iris florentina, Il vegl chalamêr und Tamangur zeigen, wie wichtig es ist, bei der Silbenzählung - 8 Die fehlerhafte Variante (von mir kursiv gesetzt) in «a far ruotta, vers cuolmens ei plü ôts,» (1929: 16, v. 109) wurde in «a far ruotta, vers cuolmens [viplü] ôts,» korrigiert. Dies nach dem Beispiel aus Lansels Übersetzung von Goethes «Wandrers Nachtlied»/ Chanzun dal viandan la not: «viplü teis cufort suria» (1929: 157, v. 4). In den späteren Gedichtpublikationen - La funtana chi staina (1936) und Fanzögnas (1939) - verwendet Lansel die Schreibung «vi plü»: Nots sainza sön: «. . . il pe intschert/ s ’ intardiva, vi plü ch ’ aprossma ’ l term» (1936: 175, v. 7 - 8) und Il fil da la vita: «cumbain la vzüda saj ’ uossa dvantada/ vi plü falombra . . .» (1939: 25, v. 6 - 7). 286 Renzo Caduff welche die Grundlage jeglicher metrischer Analysen darstellt - direkt auf die von Lansel publizierten Fassungen zurückzugreifen. Insbesondere die ersten beiden Beispiele sind als eine Art ‹ Präzedenzfall › zu werten, lassen sie nämlich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - den Gebrauch der Synalöphe bei Lansel ausschliessen 9 . Aufgrund einer zuverlässigen Textgrundlage ist es nun möglich, die rhythmische Realisierung der Elfsilbler Lansels genauer zu analysieren. Um dabei innerhalb des Textkorpus wiederkehrende metrische Typen ausfindig zu machen, eignet sich die auf Jakobson basierende Unterscheidung zwischen verschiedenen Stufen der metrischen Abstraktion D ONAT s (2007). 2. Stufen der metrischen Abstraktion Auf der Grundlage der Überlegungen von J AKOBSON (1960/ 2007 a) und des dreistufigen Modells metrischer Abstraktion von K ÜPER (1988) kann man mit Donat folgende Stufen der metrischen Abstraktion differenzieren: 1. abstraktes metrisches Schema 2. metrischer Typ bzw. charakteristisches metrisches Profil («verse design») 10 3. Rhythmus des konkreten Einzelverses («verse instance») 4. Vortragstyp (Skansion vs. Rezitation) («delivery design») 5. Einzelvortrag («delivery instance») (D ONAT 2007, s. v.) Während die ersten drei Stufen die Ebene des Verses betreffen, gehören «Vortragstyp» und «Einzelvortrag» zur Vortragsebene. Aus spezifisch metrischer Sicht sind ausschliesslich die ersten drei Stufen der metrischen Abstraktion von Interesse, weil allein sie die Versebene bzw. die Versifikation betreffen. Der in unserem Fall interessierende «metrische Typ» stellt eine zusätzliche Ebene zwischen dem abstrakten metrischen Schema und der konkreten Versrealisierung dar. Gemäss Jakobsons Definition hat der metrische Typ bzw. Verstyp folgende Eigenschaften: Das Metrum - oder expliziter: der Verstyp [verse design] - ist durchaus kein abstraktes Schema der Theorie, sondern die Grundlage jeder einzelnen Zeile - oder, mit einem logischen Terminus, jeder einzelnen Versrealisierung [verse instance]. Typ und Realisierung gehören als Begriffe zusammen. Der Verstyp 9 Die wenigen Fälle mit Synalöphe betreffen Lansels frühe Gedichte (z. B. Utuon: «Dutscha sco sömi^am vegn avant la püra», in: AnSR 2, 1887: 345, v. 7) und die Übersetzung von Leopardis Idyll La sera del giorno di festa bzw. La sera del dì di festa (z. B. «Teiv ’ i clêra^es la not i sainza vent», L ANSEL , 1929: 160, v. 1). 10 Zwischen Klammern wird hier jeweils die von Jakobson verwendete englische Entsprechung der Begriffe angegeben. 287 Die Verskunst Peider Lansels am Beispiel des Elfsilblers legt die invarianten Eigenschaften der Versrealisierungen und die Grenzen für die Variationen fest. (J AKOBSON 2007 a: 181) Aus dieser Definition des metrischen Typs kann folgende Schlussfolgerung gezogen werden: Jakobsons Verstyp stellt keine reine Abstraktion dar, denn er legt neben der Invarianz auch die Varianz fest 11 . Der Vorteil einer Annahme von metrischen Typen als zusätzliche abstrakte Ebene zwischen der höchsten Abstraktionsstufe - dem metrischen Schema - und dem Rhythmus des konkreten Einzelverses liegt vor allem darin, dass sich epochen-, gattungs- oder autorspezifische rhythmische Profile ermitteln lassen. Anhand von Beispielen aus Lansels Il vegl chalamêr sollen die drei bekanntesten metrischen Typen des Elfsilblers vorgestellt werden: 4. 8. 10., 6.10. und 4. 7. 10. Die hier getroffene Auswahl entspricht dabei den Haupttypen des Endecasillabo (vgl. M ENICHETTI 1993: 393 - 400). ir sco giarsun aint pro seis pin a Vnescha. (v. 35) 4. 8. 10. Quel veider chalamêr cha tü m ’ hasch dat, (v. 1) 6.10. Imprais ch ’ el ha, schi ’ l plü vegl dals mattuns (v. 32) 4. 7. 10. Auf die Angabe zusätzlich vorhandener Hebungen insbesondere am Versbeginn wurde verzichtet. Je nach angestrebtem Differenzierungsgrad können weitere metrische Typen hinzukommen z. B. «cun tuot leidezza, crusch, amur i spranza,» (v. 80; 2.4.6. 8. 10.) oder «Als poets ha la schlatta da tuots temps» (v. 92; 3. 6. 10.). In einem nächsten Schritt soll die Variabilität von Lansels Versrhythmus am Beispiel der Verteilung der Hebungen beim Elfsilbler beschrieben werden. 3. Lansels Versrhythmus am Beispiel des Endecasillabo sciolto Der Endecasillabo ist die am häufigsten verwendete Versform bei Lansel. Er wird hauptsächlich in den Sonetten und Vierzeilern, aber auch in langen Sequenzen ungereimter Verse verwendet 12 . Während der Anteil des Endecasillabo in Lansels originalen Gedichten in den ersten Gedichtbänden bei gut 11 «Wir sind versucht, solche Phänomene wie fehlende Betonungen auf einer Hebung oder eine Betonung auf einer Senkung als Abweichungen zu bezeichnen, aber es sei daran erinnert, daß es sich um erlaubte Oszillationen handelt, Ausreißer, aber noch innerhalb der Grenzen des Gesetzes.» (J AKOBSON 2007 a: 181). 12 Leider fehlen in Maxfields Übersicht zu den von Lansel verwendeten Strophen- und Gedichtformen (M AXFIELD 1938: 256) Angaben zur Verwendung der unterschiedlichen Versformen. 288 Renzo Caduff einem Drittel liegt 13 , sind in den letzten beiden Gedichtzyklen 50 % bzw. 83 % der originalen Gedichte in Endecasillabi verfasst: Tabelle 1: Übersicht über Lansels originale Gedichte in Endecasillabi Gedichtbände bzw. Gedichtzyklen Erscheinungsjahr absolute Anzahl Gedichte in Endecasillabi relative Anzahl Gedichte in Endecasillabi Primulas 1892 13 von 38 Gedichten 34 % Primulas 1907 14 von 39 Gedichten 36 % La cullana d ’ ambras 1912 22 von 60 Gedichten 37 % Il vegl chalamêr 1929 35 von 98 Gedichten 36 % La funtana chi staina 1936 8 von 16 Gedichten 50 % Fanzögnas 1939 10 von 12 Gedichten 83 % Im langen, erzählenden Gedicht Il vegl chalamêr, bestehend aus insgesamt 124 ungereimten Elfsilblern, so genannten Endecasillabi sciolti, wird ausgehend von einem «alten Tintenfass», das von Generation zu Generation vererbt wurde, das Bild einer typischen Engadinerfamilie gezeichnet (P EER 1966: 369ss.; V ALÄR 2012: 82ss.). Im folgenden Abschnitt geht es inhaltlich um die Berufswahl zweier Brüder. Während Men Bauer werden will, möchte Chasper Pfarrer werden. Dals dus mattuns | chi reistan d ’ la fradglianza: 4.6.10. Men, cun sa grand paschiun | per fuond i muvel, 1.4.6.8.10. farà sainzoter | (sco seis vegls) il paur. 2.4.8.10. . . . Impé Chasper, l ’ ultim | (stess tuottadi 3.6.( - 7.)10. sün stüva sura | , l ’ nas in scrits i cudeschs 4.6. 8. 10. jertads dal bun bapsegner | seis barmör) 2.6.10. s ’ ha miss in ché eir el | , d ’ gnir ravarenda. 2.4.6.10. (Il vegl chalamêr, 1929: 12 s., v. 57 - 59, 62 - 65) Die fett markierten Verspositionen geben jeweils an, um welchen Grundtyp des Elfsilblers es sich handelt, d. h. um einen Endecasillabo mit einer Zäsur a minori (4.) oder aber mit einer Zäsur a maiori (6.). Die Bestimmung dieser beiden Zäsurtypen hilft, die weiteren Hebungen im Vers zu lokalisieren 14 . Speziell hervorzuheben sind die betonten ungeraden Positionen (in der 13 Nicht gerechnet wurde der Gebrauch des Endecasillabo in heterometrischen Gedichtformen. 14 Cf. M ENICHETTI (1993: 474): «La cesura . . . contribuisce in misura capitale alla caratterizzazione prosodica e stilistica dei singoli versi e di testi tutt ’ interi.». 289 Die Verskunst Peider Lansels am Beispiel des Elfsilblers metrischen Notation des Einzelverses wurden die entsprechenden Positionen kursiv gesetzt). Sie betreffen zunächst einmal den Vornamen der beiden Brüder «Men» und «Chasper». Eine weitere Auffälligkeit stellt der (leichte) Hebungsprall dar, bestehend aus der Endbetonung von «ultím» 15 (anstatt des üblichen «últim») und der Tonsilbe des Vollverbs «stess»: Impé Chasper, l ’ ultim | (stess tuottadi 3.6.( - 7.)10. Lansels Präferenz des Oxytonons an dieser Stelle kann durch weitere Beispiele gestützt werden. Endbetontes «ultím» findet sich einerseits in Reimstellung in einer Übersetzung von Lenaus Gedicht An den Wind (Al vent) 16 : Ch ’ eu ma ventüra stögl laschar, tü vent crudel i fraid, o di ’ m, nun es avuonda, ch ’ eir l ’ ultim salüd seis am stousch ingolar? (1940: 286), andererseits in Beispielen aus La cullana d ’ ambras. Dort macht der Autor zudem durch Kennzeichnung des Worts mit einem accent aigu auf diese ungewöhnliche Betonung aufmerksam: il larsch, sco ün ultím | cufort d ’ bellezza (Il bösçh preferi, 1912: 36, v. 11) 17 sco l ’ ögl ultím vezet (Flaivla sco dutscha musica . . ., 1912: 40, v. 8) Andri Peer hat als einer der ersten auf diese Besonderheit der Betonung des Wortes «ultim» bei Lansel hingewiesen. Auf eine Kennzeichnung der betreffenden Fälle mit einem Akzent wie sie (teilweise) bei Lansel zu finden ist, hat er als Herausgeber aber verzichtet (vgl. P EER 1966: 343). In seiner Rezension zu Peers Gesamtausgabe der Gedichte Lansels hat Decurtins diese «Spielerei» Lansels - am Beispiel eines Verses aus Sain da not: «sun ultim dal sain da not» (1966: 18, v. 4) - als «künstlich und forciert» bezeichnet (D ECURTINS 1967). Dies insbesondere weil die im Band Il vegl chalamêr (1929) publizierte Fassung 15 Nach Mitteilung von Kuno Widmer (E-Mail vom 22. August 2011) finden sich beim Dicziunari Rumantsch Grischun Belege von Transkriptionen mündlicher Aufzeichnungen mit endbetontem «ultím» z. B. ein Nachweis für Ardez «als ultíms dad auóst» («Ende August»). Vgl. ebenfalls F ASANI (1991/ 1992: 8). 16 Die Übersetzung erschien ein erstes Mal im Fögl d ’ Engiadina (12. 11. 1887). Für die weiteren Veröffentlichungen des Gedichts siehe P EER (1966: 449). 17 Vgl. ebenfalls folgende Bemerkung in einem Brief des Bruders Enrico Lansel, der die Gedichte von La cullana d ’ ambras lektoriert hatte. Bezug nehmend auf ebendiesen Vers - «il larsch, sco ün ultim cufort d ’ bellezza» - aus Il bösçh preferi (1912: 36, v. 11) schreibt er: «sün l ’ ì d ’ ultìm . . . larà l ’ accent perchè i non vegna let últim.» (L ANSEL SLA, B-2). 290 Renzo Caduff desselben Gedichts noch die Folge «l ’ ultim sun dal sain da not» (1929: 30, v. 4) aufgewiesen habe. Während Peer als Herausgeber aus Sicht des Rezensenten die ‹ bessere › Variante hätte wählen müssen, sind vom metrischen Standpunkt aus beide Varianten gleichwertig. Stilistisch ist die Inversion in der Nominalgruppe «sun ultim», welche ein endbetontes «ultím» nach sich zieht, aber um einiges auffälliger als die übliche Abfolge «ultim sun» 18 . Ein weiterer, gewichtigerer Grund, warum für diesen Vers mit endbetontem «ultím» zu rechnen ist, stellen die herkömmlichen italienischen Akzentmodelle des Endecasillabo dar. So weist die 5. Position des Endecasillabo in der Regel keine Hebung auf 19 . Beispiele mit betonter 5. Position - fast immer handelt es sich um Fälle von Hebungsprall - sind für Lansels Gedichte kaum nachweisbar. Einzelne Nachweise können insbesondere für die Gedichtbände Primulas 1 und 2 (1892 und 1907) erbracht werden, wobei die entsprechenden Stellen in späteren Fassungen sehr häufig rhythmisch überarbeitet werden, wie aus folgenden Beispielen ersichtlich wird: Sot seis rifless clêr il vadret glüschiva 4. - 5. 8. 10. (Not da stad, 1892: 8, v. 7 bzw. Not da stá, 1907: 10) ® sco spür argient cassü ’ l vadret glüschiva 2.4.6. 8. 10. (Prüma poesia, 1929: 22) E vegn insü; siml ’ ad [ün] prus salüd 20 4. - 5. 8. 10. (In ôt! , 1892: 20, v. 7) ® e vegn insü, sco ün pruvá salüd 4. 8. 10. (In ôt, 1907: 22 f.) Scha tü eirast amo quel piz listess 3.6. 8. 10. (Transmüdà, 1892: 31, v. 6) ® scha tü amo fossast quel piz listess 4. - 5. 8. 10. (Transmüdá, 1907: 35) ® scha tü füssasch amo quel piz istess, 3.6. 8. 10. (Transmüdà, 1929: 49) Berücksichtigt man diese Überarbeitungen, lassen sich die Fälle von Endecasillabi mit betonter 5. Position bei Lansel an einer Hand abzählen, so z. B. 18 Während in diesem Beispiel die Betonung von «ultim» jeweils von der ins Auge gefassten Version abhängt, kommen im Gedicht Tamangur beide Aussprachen gleichzeitig vor: «Tröp sco l ’ ingual | nu ’ s chatta plü ninglur,/ últim avanz d ’ ün god, | dit ‹ Tamangur › .» (1929: 229, v. 5 - 6) und «As dostand fin l ’ ultím, | in davo man/ ils dschembers ün ad ün, | sco schlass sudats/ chi sül champ da battaglia | sun crodats,» (1929: 230, v. 19 - 21). 19 Cf. in diesem Zusammenhang - auch für die Ausnahmen - M ENICHETTI (1993: 399 - 416, insb. 408ss.). 20 Der offensichtliche Fehler, d. h. das Fehlen des Artikels vor «prus salüd», wurde nach einer früher publizierten Fassung (AnSR 3, 1888: 337) korrigiert. 291 Die Verskunst Peider Lansels am Beispiel des Elfsilblers folgender Vers im Gedicht Viva la Grischa! : «nus at sieuins, mainans a la conquista» (1929: 83, v. 15; 4. - 5.10.) 21 . In den bisher gemachten Ausführungen wurde (fast selbstverständlich) davon ausgegangen, dass sich die rhythmische Gestaltung von Lansels Elfsilbler an die Gesetzmässigkeiten des italienischen Endecasillabo orientiere. Diese Annahme, die von den konkreten Versanalysen bestätigt wird 22 , lässt sich im Nachhinein auch durch die in Lansels Nachlass aufgefundenen Schriften zu einer bündnerromanischen Metrik belegen. 3.1 Lansels metrische Exzerpte und Überlegungen zu einer ladinischen Metrik In seiner knappen Darstellung zu den Fuormas Metricas italianas schreibt Lansel im Abschnitt Metros da raquint stichwortartig Folgendes über die Verwendung des Endecasillabo sciolto: Tanter ils metros da raquint va miss eir l ’ endecasillabo sciolto. Drovà per la prüma vota da Trissino (L ’ Italia liberata dai Goti), Caro (Eneide), lura Chiabrera . . . il cuolmen da la perfeziun pro Monti (Iliade). (L ANSEL SLA, C-2) Der ungereimte Endecasillabo eigne sich als erzählendes Versmass. Er sei ein erstes Mal von Trissino, dann von Caro, Chiabrera und am vollkommensten von Monti verwendet worden. Wie ein Vergleich von Lansels Manuskript mit der damals aktuellen italienischen Metrik von Murari zeigt, basiert die gedrängte Übersicht zu den Fuormas Metricas italianas (grösstenteils) auf ebendieser Metrik, die 1909 in Mailand erschienen ist (M URARI 1909). Die darin enthaltene Einschätzung zum Endecasillabo sciolto dürfte daher Lansel kaum entgangen sein: Gli endecasillabi sciolti . . . sono, per comune consenso dei poeti, una delle forme metriche più difficili; perchè, mentre devono esprimer esattamente il pensiero traendo l ’ armonia propria dal ritmo di ciascun verso isolato, devono aver percettibile quest ’ armonia serbando il giusto mezzo tra la forma troppo dimessa e la assordante, tra la monotonia e la troppa varietà dei tipi del verso; insomma esigono, senza eccezione, perfezione assoluta di forma e di rispondenza al pensiero. (M URARI 1909: 93 s.) 21 Die weiteren Fälle mit betonter 5. Position finden sich in den Gedichten: Sulai d ’ inviern (1929: 26, v. 11), Il cudeschin (1929: 66, v. 4) Regal dubius (1929: 148, v. 14) und La vusch da l ’ En (1936: 184 s., v. 3). 22 F ASANI (1992/ 1993: 12) kommt zu folgendem Schluss: «il suo endecasillabo corrisponde esattamente, per le possibili variazioni del ritmo, al verso dantesco». Vgl. ebenfalls D ARMS (2007: 78; 85). 292 Renzo Caduff Genau dieses angesprochene richtige Mass zwischen Monotonie und einer zu grossen Vielfalt der verschiedenen Akzentmodelle scheint Lansel in den oben beschriebenen Versen des Vegl chalamêr gefunden zu haben. Die unterschiedlichen Akzentmodelle des Endecasillabo, auch der gereimten Spielart, ermöglichen Lansel vielfältigste Ausdrucksmöglichkeiten, und dies nicht nur auf Versebene, sondern auch im Versvortrag 23 . Bei solch flexiblen Akzentmodellen und deren Realisierungen sowohl auf der Ebene des Verses wie auch auf jener des Vortrags erstaunt es also nicht, dass der Vers Lansels lange Zeit und z. T. bis heute 24 als unrhythmisch angesehen wurde und wird (vgl. P EER 1966: 366ss.). Zieht man weitere poetologiegeschichtliche Dokumente des Autors aus dem Nachlass hinzu, wird die bei Lansels Elfsilblern festgestellte Anlehnung an italienische Modelle bestätigt. So ist aus dem Jahr 1911 eine aufschlussreiche Korrespondenz zwischen Peider Lansel und Clementina Gilly (1858 - 1942) erhalten. Darin bittet die Dichterin den verehrten Kollegen um dessen Rat und die Beurteilung einiger Gedichte. Auch schickt sie ihm eine kritische Begutachtung derselben der Uniun dals Grischs. Diese hatte insbesondere die metrische Qualität ihrer Gedichte beanstandet. Peider Lansel nimmt dazu wie folgt Stellung: Las observaziuns metricas as baseschan sün las reglas metricas tudaisçhas e quai es simplamaing absurd da vulair imponer talas a la poesia romanscha! Pallioppi, chi disgraziadamaing sco pürmassa blerischems dels noss, eira per cultura e sentimaint totafat germanizà, nun ha previss las conseguenzas cur ch ’ el ha tut talas sco norma. Quai es tant plü ridicul da vulair dumondar cha ’ ls romanschs stettan vi da quellas hoz, cha ’ ls poets tudaisçhs svessa han miss quellas sün palantschin, tranter la roba or d ’ adöver. Ch ’ Ella nun as lascha dimena minimamaing imponer tras quels pleduns: anapest, trocheo, jambo etc., per la part realmaing importanta la critica da l ’ U. d. G. es müta sco ün pesch. ‹ Et pour cause › dschessan ils franzés. (L ANSEL SLA, B-2, Brief von Lansel an Clementina Gilly, 13. 08. 1911) In Lansels Stellungnahme ist eine klare Ablehnung der deutschen Metrik feststellbar. Die in der Fussmetrik gebräuchlichen Begriffe «Anapäst», «Trochäus» und «Jambus» bezeichnet er als «pleduns» («Wortungetüme»). Es mag 23 Dies wird aus einer historischen Aufnahme von Aschêrs d ’ utuon deutlich, bei der Lansel in seiner Rezitation durchgehend die Zäsur des Endecasillabo berücksichtigt. P EER (1966: 415) vermutet, dass diese Aufnahme im Zusammenhang mit der Schweizerischen Landesausstellung von 1939 entstanden sei. Vgl. Lirica rumantscha. Top memoria 1, Cuira, rtr, 2009. 24 Diesen Eindruck erhält man z. B. zumindest indirekt bei Camartin, wenn er sich vorstellt, Jon Pult werde ihm in einer anderen Welt etwas über einen Vers Lansels oder Muoths ins Ohr flüstern «che Andri Peer ni Leo Tuor declameschan cun entusiassem: ‹ El zuppegia, mo quei fa part da sia bellezia! › » (C AMARTIN 2011: 7). 293 Die Verskunst Peider Lansels am Beispiel des Elfsilblers daher nicht erstaunen, dass sich Lansel in seinen Aufzeichungen zu den Fuormas Metricas italianas klar für eine Ausrichtung nach der romanischen, insbesondere der italienischen Metrik ausspricht: Per stabilir las reglas da metrica in noss linguach consultar quellas da las linguas romanas pustüt da l ’ italiana chi es il plü richa. Bain cha ils vegls autuors rumantschs han tgnü (per quel pac) plü vi da la metrica tudaischa e quai as lascha facilmaing incleier scha ün rifletta sco chi es nada nossa poesia rumanscha. (L ANSEL SLA, C-2) Ausgangspunkt einer ‹ Lanselschen › Metrik ist also eindeutig die italienische Metrik, wobei es sich aber nicht um eine simple Übernahme handelt, wie der bereits festgestellte, fast vollständige Verzicht auf die Synalöphe gezeigt hat. Lansel hat sich jedoch nicht damit begnügt, einzig die italienische Metrik heranzuziehen. In seinem Nachlass finden sich Exzerpte aus nicht weniger als sieben metrischen Standardwerken der damaligen Zeit. Diese reichen von französischen Metriken Petit traité de versification française (G RAMMONT 1908; ebenfalls K ASTNER 1903, T OBLER 1903, C AYOTTE 1908) über eine spanische La ciencia del Verso (B EJARANO 1908), die zuvor erwähnte italienische Metrik von M URARI (1909) bis hin zu einer portugiesischen Metrik Versificaçaõ e Metrificaçaõ (D UMONT 1904). Zeitlich scheint der Beginn einer intensiven Beschäftigung Lansels mit metrischen Fragen mit seiner Rückkehr aus Italien in die Schweiz im Jahr 1902 zusammenzufallen. Die Überarbeitung seiner Gedichte für die zweite Auflage von Primulas (1907) und die Beschäftigung mit der Lyrik-Anthologie La Musa ladina (1910), in der auch Lansels erster Essay zur engadinischen Lyrik (Cuorta survista da la litteratura poetica ladina) erschien, könnten ebenfalls ausschlaggebend gewesen sein für eine eingehende Beschäftigung mit der metrischen Beschreibung bündnerromanischer Lyrik. Die metrischen Exzerpte schliesslich können nicht vor 1909 entstanden sein. Dass die Idee eines «Grundlagentraktats zu einer Metrik des Ladinischen» aber bereits aus früheren Jahren stammt, zeigt folgendes Zitat aus einem Beitrag Lansels zu einem Übersetzungswettbewerb Gara da traducziuns, der bereits 1906 im Fögl d ’ Engiadina erschienen ist: Del rest fich meritaivel füss quai, scha üna forza giuvna, as basand sün las linguas latinas, publichess eir per nos ladin ün tractat da metrica elementara. (L ANSEL 1906/ 2012: 403) Wie aus den im Nachlass aufgefundenen Dokumenten geschlossen werden kann, wollte sich Lansel später selber dieser Aufgabe annehmen. Leider kam er in seinen Aufzeichnungen jedoch nicht über erste handschriftliche Ansätze zu einer ladinischen Metrik hinaus. 294 Renzo Caduff Bei der nun folgenden Bestimmung spezifischer metrischer Typen gilt es also sowohl Lansels sprachlich-biographischen als auch seinen erstaunlichen theoretischen Hintergrund mitzubedenken. 3.2 Der wiederholte Gebrauch gleicher metrischer Typen: zwei Beispiele Auch wenn für einen Grossteil der Gedichte in Endecasillabi eine durchmischte und vielfältige Verwendung verschiedener Akzentmodelle nachgewiesen werden kann und demzufolge Aussagen zu einer ‹ semantischen › Funktion kaum möglich sind, gibt es dennoch einzelne Stellen, bei denen mit einem insistenten Gebrauch eines einzigen metrischen Typs eine spezifische Wirkung erzielt wird 25 . So z. B. am Schluss von Il vegl chalamêr (1929: 9 - 17): . . . ha la poesia | d ’ imprastar sas alas 4.8.10. per as dozar | surour tuotta bassüra, 4.6.10. cha «l ’ hom nu viva | be da pan sulet! » 2.4.6. 8. 10. Ouravant id amunt | , sto il poet 3.6.10. a far ruotta, vers cuolmens | [viplü] ôts, 3.6.10. per dervir horizonts | saimper plü largs 3.6. - 7.10. da bellezz ’ i buntad | al pövel seis. 3.6.8.10. Grand ’ i greiva mischiun | quist ’ in vardad! 1.3.6.10. e tal fasch a portar | (bain am rend quint) 3.6. - 7.10. lessa güvé | blerun plü schlass co meis. 1.4.6. 8. 10. (L ANSEL 1929: 16, v. 105 - 114) In den entsprechenden Versgruppen ist von der Aufgabe des Dichters und der Dichtung die Rede, denn « ‹ l ’ hom nu viva be da pan sulet! › ». Dem Dichter obliege die Aufgabe, voraus und bergauf zu gehen, den Weg zu bahnen und seinem Volk den Blick für Schönheit und Güte immer mehr zu öffnen. Eine Häufung des gleichen metrischen Typs, der nach anapästischem Muster gebildet ist 26 und mit einer stumpfen Kadenz («endecasillabi tronchi») endet, 25 L ÖSENER (1999: 144) weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Gefahr einer « ‹ mimetischen Projektion › » hin, bei welcher der jeweilige Vers- oder Gedichtinhalt in das Metrum projiziert werde. 26 Auf diese metrisch-rhythmische Besonderheit hat bereits F ASANI (1992/ 1993: 8) hingewiesen. Sprachlich-stilistische Ausführungen zu diesem Gedicht finden sich in R IATSCH (1993: 32ss.) 295 Die Verskunst Peider Lansels am Beispiel des Elfsilblers unterstreicht zusätzlich das hohe Pathos dieser Stelle 27 . Dass Lansels poetologisches Programm in seiner rhythmischen Realisierung nicht immer so kohärent ist, verdeutlicht der Vergleich mit der ersten im Chalender Ladin 12 (1922) publizierten Fassung: Oravant id amunt | , a far la rotta, 3.6.8.10. sto il poet | - vers cuolmens vi ’ plü ôts - 4.6. 8. 10. . . . id a portar tal fasch | (bain am rend quint) 4.6. - 7.10. (L ANSEL 1922: 16) Von den sechs Versen mit demselben metrischen Typ (3.6.10.) wiesen für diese frühere Fassung zwei Verse noch eine andere rhythmische Realisierung mit der vierten betonten Position auf. Die späteren Inversionen - «sto il poet/ a far ruotta» und «e tal fasch a portar» - lassen unverkennbar die Funktion erkennen, die inhaltliche Mitteilung mit einem bei Lansel eher seltenen und deshalb auffälligen metrischen Typ zu verstärken. Die Bestimmung der rhythmischen Versrealisierungen stützt die eben gemachte Behauptung insofern, als von den insgesamt 124 Endecasillabi sciolti des Vegl chalamêr der metrische Typ (3.6.10) 22 Verse bzw. 18 % ausmacht. Mehr als die Hälfte davon (14 Beispiele) verteilen sich auf das letzte Drittel des Gedichts (v. 82ss.). Die hier besprochene Stelle ist zudem die einzige im ganzen Gedicht, bei welcher derselbe metrische Typ in aufeinanderfolgenden Versen auftritt. Ein zweites Beispiel für eine funktionale Verwendung ein und desselben metrischen Typs des Endecasillabo findet sich in Lansels berühmtesten Sprachgedicht 28 Tamangur (L ANSEL , 1929: 229 - 232, v. 31 - 42): Co invlüdessans, | ch ’ el da seculs nan 1.4.8.10. savet noss vegls | da redscher e guidar? 2.4.6.10. Jerta ch ’ adüna | tgnettan adachar, 1.4.6.10. varguogna bain! | sch ’ la dessans our da man. 2.4.6.10. Tgnain vi dal nos | , sco ’ ls oters vi dal lur 1.4.6.10. e ’ ns algordain | la fin da Tamangur. 4.6.10. Be nö ’ dar loc! | - Ningün nu podrà tour 1.4.6.10. a la schlatta rumanscha | ’ l dret plü ferm, 3.6.8.10. chi ’ d es quel: da mantgnair | dadaint seis term 3.6.10. 27 Im «exemplar persunal» (vgl. P EER 1966: 357) führt Lansel später folgende Korrekturen hinzu: «far la ruotta, vers cuolmens vi plü ôts,/ scuvernand orizonts saimper plü largs/ . . ./ Grand ’ e greiva . . .» (v. 109 - 110, 112) (L ANSEL SLA, A-1). 28 Cf. den Kommentar Peers: «il god periclità ais ün exaimpel pel rumantsch, seis destin e seis avegnir. . . . La sumaglia ais tant plü indschignaivla ch ’ ella tira nan ün bain ferm incharnà illa conscienza collectiva dal cumün rumantsch: il god.» (P EER 1966: 408). 296 Renzo Caduff uoss ’ id adüna | , seis linguach dal cour - 1.4.8.10. Rumanschs dat pro! | - spendrai tras voss ’ amur, 2.4.6.10. nos linguach da la mort | da Tamangur. 3.6.10. (L ANSEL 1929: 231 s., v. 31 - 42) Anhand der beiden letzten Strophen des Gedichts lässt sich zeigen wie Lansel durch einen gehäuften Gebrauch des Endecasillabo-Typs a minori, d. h. eines Endecasillabo mit Zäsur nach der vierten Position (4.10.), seinem Aufruf für die Erhaltung der rätoromanischen Sprache zusätzliches Gewicht verleiht. Die Kumulierung des gleichen metrischen Typs ist insbesondere für den vorletzten Sechszeiler auffällig, während im letzten Sechszeiler die Typen a minori und a maiori - um mit J AKOBSON (2007 b: 461) zu sprechen - eine gespiegelte Antisymmetrie (4.6.6.|4.4.6.) bilden. Auffällig ist, dass die Verse mit Zäsur nach der sechsten Position - analog zur oben besprochenen Stelle in Il vegl chalamêr - alle auch eine dritte betonte Position aufweisen: «a la schlatta rumanscha», «chi ’ d es quel: da mantgnair», «nos linguach da la mort» 29 . Zu diesem, nicht zuletzt funktionalen Gebrauch eines metrischen Typs, der die vom Dichter übermittelte Botschaft in ihrem «tun programatic e retoric» (P EER 1966: 408) auch rhythmisch unterstreichen soll, kommen verstärkend die häufigen trochäischen Inversionen des Versbeginns hinzu, z. B. «Tgnain vi dal nos», «Be nö ’ dar loc! », «uoss ’ id adüna». Schliesslich ist noch auf das Reimschema der Sestina mit ihrem paargereimten Schluss hinzuweisen. Dieser wiederholt am Ende jeder Strophe den Reim auf «-ur», wobei insbesondere die Reimwörter «Tamangur», «lur» und «amur» ebenfalls zur Wirkung dieses «Loblieds» auf die romanische Sprache beitragen. 4. Lansel im engadinischen Kontext: die Gestaltung des ‹ Elfsilblers › bei Pallioppi Dass es aber zu einfach wäre, alle Vertreter des Engadinischen nach der italienischen Metrik zu analysieren, zeigt die Analyse der beiden Quartette eines Sonetts von Zaccaria Pallioppi (1820 - 1873). Il vadret Ais que vardet, | oppür be fantasia, 4.6.10. Cha tieu intern, | miraculus vadret, 4.8.10. Per brama d ’ esser candid | e perfet, 2.4.6.10 As purificha | da scodün ’ ascria? 4.8.10. 29 Wenn dieser Typ (3.6.10.) im Gedicht Il vegl chalamêr wie oben erwähnt einen Anteil von nur 18 % aufweist, ist sein Vorkommen in Tamangur höher: 12 von 42 Versen bzw. 29 %. 297 Die Verskunst Peider Lansels am Beispiel des Elfsilblers Què nun deciderò | la poesia; 6.10. Ella so be, | cha ’ l veterô melnet 1.4.8.10. Nun ho, scu tü, | uschè sublim aspet, 2.4.6. 8. 10. Nè volv ’ ün frunt | uschè serain a Dieu. 2.4.6. 8. 10. (P ALLIOPPI 1868 a: 15) Mit einer Ausnahme, die als trochäische Inversion zu werten ist (v. 6) und auch in fünfhebigen jambischen Versen im Deutschen durchaus üblich ist, fallen alle Hebungen auf gerade Verspositionen. Pallioppi hat sein Sonett somit nach der deutschen Metrik verfasst, was auch in seinen Anmerkungen Bestätigung findet: Nach ihm weist das Sonett ein «jambisches Versmass» auf, bestehend aus «5 Füssen (poetischen Takten) oder aus 5½ Füssen» (P ALLIOPPI 1868 a: 44) 30 . Die unterschiedlichen metrischen Voraussetzungen von Lansel und Pallioppi verdeutlicht in idealer Art und Weise die Gegenüberstellung jeweils zweier Terzinenstrophen: Zaccaria Pallioppi, Inno da prümavaira (A mia valleda.) Chi nun voless | glorificher in dis 4.8.10 Beos da solagliva | prümavaira 2.6.10. Il blov celest | e ’ l virid paradis? 2.4.6.10. Glorificher, | passo l ’ inviern da naira 4.6. 8. 10. E fraida not, | il cler e la chalur 2.4.6.10. Del aster maestus | damaun e saira? 2.6.8.10. (P ALLIOPPI 1868 b: 24 s., v. 10 - 15) Peider Lansel, La vusch da l ’ En O En grisch blau, | partind da süsom quai 2.4.6.10. a minch ’ aual | cha tü vainsch inscuntrand 4.7.10. sainzoter disch: | «Tschà pluoder, vé cun mai! » 4. - 5.6. 8. 10. Tü pigliasch pro | uschè ad ögl veziand 4.6.10. e passasch la chavorgia | dal cunfin 2.6.10. resolut, sco ün juven | schlass e grand. 3.6.8.10. (L ANSEL 1936: 184, v.1 - 6) In beiden Textbeispielen finden sich nicht realisierte Hebungen, bei Lansel fallen zudem die ungeraden betonten Positionen auf, die auf ihr italienisches 30 Dass P ALLIOPPI (1868 a: 45) für die inhaltliche Gliederung des Sonetts Schlegel zitiert (Das Sonett, «Zwei Reime heisz ’ ich viermal kehren wieder/ Und stelle sie, getheilt, in gleiche Reihen»), weist ebenfalls darauf hin, dass er sich an der deutschen Metrik orientierte. Vgl. auch Pallioppis Äusserungen zum Gebrauch der Zäsur des von ihm verwendeten jambischen Fünfhebers: «Lingia (vers), chi as separa per il plü zieva la quarta silba (seguond tact u pè) tres la cesura, dellas voutas però eir in oters, variabels möds.» (P ALLIOPPI I, 1868 a: 44). 298 Renzo Caduff Vorbild der «terzina dantesca» hindeuten («vainsch», «Tschà», «resolut»), während bei Pallioppi der ‹ Elfsilbler › - bei einigen unrealisierten Hebungen - wiederum in Versfüsse unterteilt ist. Im Unterschied zu den bei Lansel festgestellten vielfältigen Akzentmodellen erscheint die rhythmische Realisierung bei Pallioppi eintöniger. Pallioppis Verse weisen im Gegensatz zu den Endecasillabi Lansels weniger betonte ungerade Positionen auf, d. h. fast nur trochäische Inversionen am Versbeginn. 5. Fazit und Ausblick Aus heutiger Sicht beruht die häufig geäusserte Kritik an der rhythmischen Gestaltung der Verse Lansels auf folgenden zwei Fehlannahmen. Einerseits wird nicht oder zu wenig konsequent zwischen Metrum und Rhythmus des konkreten Einzelverses unterschieden. Dabei würde gerade die Unterscheidung verschiedener Stufen der metrischen Abstraktion, insbesondere die Annahme «metrischer Typen», zu einer neuen Bestimmung des Begriffs der «Varianz» führen. In diesem Sinn würden Unterschiede zwischen Metrum und Rhythmus nicht mehr kategorisch als Abweichungen, ja sogar als Fehler bezeichnet, sondern als legitime metrische Lizenzen, dank denen es möglich ist, ein und dasselbe Metrum auf verschiedene Art und Weise rhythmisch zu realisieren. Andererseits fehlt bei den metrischen Analysen häufig eine «historisch-intentionale» Perspektive (M ELLMANN 2007: 88 - 95 und 2008: 259). Diese ist produktionsästhetisch ausgerichtet und fragt unter Berücksichtigung poetologieschichtlichen Wissens danach, welches Metrum der Dichter verwenden wollte. Dass die historisch-intentionale Analyse insbesondere für Lansel angebracht erscheint, zeigt die Tatsache, dass in seinem Nachlass metrische Aufzeichnungen und Exzerpte aus nicht weniger als sieben Metriken verschiedener romanischer Sprachen gefunden wurden. Daher scheint es sinnvoll, den Lanselschen Elfsilbler in seinen vielfältigen rhythmischen Realisierungen vor dem Hintergrund der italienischen Form des Endecasillabo zu analysieren. Dies verdeutlicht nicht zuletzt die rhythmische Analyse einiger Verse aus Lansels bekanntem Gedicht Il vegl chalamêr. Lansel übernimmt wohl typische Akzentmodelle des Endecasillabo aus der italienischen Tradition, nicht aber - oder nur in nachvollziehbaren Ausnahmefällen - die wichtige metrische Figur der Synalöphe. Seine Metrik kann somit nicht als italienische Metrik bezeichnet werden. Im Gegenteil realisiert Lansel als wohl erster bündnerromanischer Dichter eine ‹ eigenständige › Lanselsche bzw. bündnerromanische Metrik. Werden die rhythmischen Versanalysen ausgeweitet, lassen sich metrische Typen herausschälen, die an gewissen Stellen eine spezifische Funktion 299 Die Verskunst Peider Lansels am Beispiel des Elfsilblers entfalten können, indem sie durch einen gehäuften - sehr wahrscheinlich auch - intendierten Gebrauch die Übermittlung eines bestimmten Inhalts unterstützen. Eine solche Verwendung konnte für einzelne Versgruppen in Lansels Gedichten Il vegl chalamêr und Tamangur nachgewiesen werden. Wie schliesslich der Vergleich mit den Versen Pallioppis zeigt, richten sich nicht alle engadinischen Dichter nach der italienischen Metrik aus. Im Gegensatz zum Elfsilbler Lansels bleibt Pallioppi bei der rhythmischen Gestaltung seiner Verse den deutschen Modellen verhaftet. 6. Literaturangaben 6.1 Primärliteratur L ANSEL , Peider 1892: Primulas, Frauenfeld: Huber. L ANSEL , Peider 1907: Primulas. Prümas rimas et versiuns poeticas, nova ediziun, Ginevra: Atar. 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Lob der romanischen «Klassiker» Wenn Andri Peer von «romanischen Klassikern» spricht, bezieht er sich in den meisten Fällen auf die drei engadinischen Bibelübersetzer Jachiam Bifrun (NT in Putèr, 1560), Durich Chiampell (Psalmen in Vallader, 1562) und Joan Pitschen Saluz (Genesis und Exodus in Vallader,1657 und 1662) 1 . Peers Blick auf ihre Werke ist von einer typisch humanistischen und reformatorischen Sichtweise bestimmt, er betrachtet sie nämlich als fatalerweise zugeschüttete Quellen, die es wieder freizulegen gilt. Darum bemüht sich Andri Peer immer wieder, zum Beispiel in schlaflosen Nächten, während eines Spitalaufenthaltes im Jahre 1977: Pel solit am metta a leger, lavur inavant vi da la Genesis da Saluz, nodond cun rispli ils sintagmas e ’ ls pleds interessants . . .. Che frasa natürala, musicala, clera sco aua da funtana. Eu fetsch surasèn quant plü daspera a nus chi ’ d es sia dicziun co Chiampel . . . e natüral eir plü daspera co Bifrun, tuottüna ün excellent scriptur, al qual reuschischa üna remarchabla simbiosa tanter la lingua dals illatrats e ’ l rumantsch da la glieud «tadlà giò ’ d bocca al pövel», sco cha Luther arcumandaiva. (P EER 1982: 151) Meistens fange ich an zu lesen, arbeite weiter an Saluzs Genesis, wobei ich mir die interessanten Wörter und Syntagmen mit Bleistift notiere . . . Welch natürliche, musikalische Phrase, klar wie Quellwasser. Ich merke, dass seine Diktion uns sehr viel näher ist als diejenige von Chiampel . . . und natürlich auch näher als diejenige von Bifrun, der doch ein hervorragender Autor ist, dem eine bemerkenswerte Symbiose gelingt zwischen der Sprache der Gelehrten und dem Romanischen der Menschen, «dem Volksmund abgelauscht», wie Luther empfahl. Der jüngste, Joan Pitschen Saluz, ist nach Peers Einschätzung zugleich der letzte Reine, nach ihm beginnt das dekadente «Italianisieren», das ein manieristisches «Sonntagsromanisch» hervorgebracht hat. Dieses will sich von der mündlichen Umgangssprache bewusst abheben und wird von Chasper Pult als «nos romantsch dellas domengias» 2 verspottet. Nach Peers (von Pult übernommener) Einschätzung dagegen ist gerade das Gegenteil, die 1 Jachiam Bifrun 1506 - 1572, Durich Chiampell [Campell] ca. 1510 - ca. 1582, Joan [Jon] Pitschen Saluz [Salutz], ca. 1595 - 1663. Zu Leben und Werk cf. LIR s. v., Texte cf. BR Nr. 599, 557, 561, 562. 2 P ULT 1918: 7. enge Verbindung zwischen der schriftlichen «Sprache der Gelehrten» und der populären Umgangssprache die grosse Leistung der Pioniere, die er als «Klassiker» bezeichnet. Als Dichter versucht Peer eine ähnliche «Symbiose», indem er die gelehrten Traditionen der europäischen Moderne mit den populären Traditionen romanisch Bündens in seiner Lyrik zu verbinden sucht. Ob und wie ihm das gelingt, bleibt zu untersuchen, was ihm dagegen zu seiner Enttäuschung nur schlecht gelingt, ist die Vermittlung dieses Anliegens an die romanische Leserschaft 3 . Im Folgenden spricht Andri Peer von der kathartischen Wirkung, die er sich von der Lektüre der «Klassiker» für sein eigenes Schreiben erhofft: In quist retuorn pro ’ ls classics . . . am sainta portà d ’ üna musica, mo eir d ’ ün spiert rumantsch genuin chi vöglia pürifichar meis agen scriver e pensar, sainza ins-chürir da massa il stil cun arcaïssems chi rendan sà dalunga allergics noss lectuors dvantats cumadaivels ed indolaints.» (P EER 1982: 152) Bei dieser Rückkehr zu den Klassikern . . . fühle ich mich von einer Musik, aber auch von einem ursprünglich echten romanischen Geist getragen, der mein eigenes Schreiben und Denken reinigen möge, ohne meinen Stil zu sehr mit Archaismen zu verdunkeln, die unsere bequem und gleichgültig gewordenen Leser ohnehin sofort allergisch reagieren lassen. Die Lektüre wird zu einem ästhetisch-spirituellen Läuterungsritual, an dem sich auch die berühmte Funktion der Ästhetik als Religionsersatz ablesen liesse. Schwer zu präzisieren, was Andri Peer mit «Musik» meint, noch schwerer, was der «spiert rumantsch genuin», der «ursprünglich echte romanische Geist» sein könnte, unschwer zu erkennen dagegen, dass ihre Verbindung eine Art Ideal des poetischen Textes beinhaltet. Trotz des Topos der Passivität - der Nachkomme fühlt sich «getragen», «portà» - kann eine solche Vorstellung als rückwärtsgewandte Projektion erscheinen. Ihr stilistisches Erkennungszeichen ist der Archaismus, dessen Bedeutung der Schreibende - wie Ricarda Liver kritisiert hat 4 - linguistisch betrachtet auch schon überschätzt hat. Nicht ohne Bitternis hält Peer fest, dass ihm die Bequemlichkeit der Leserschaft in Sachen Archaismus allzu enge Grenzen setzt. Ein Grund dafür ist die offensichtliche Verknüpfung von Zeit und Stillage: der Archaismus gilt als Indiz eines nicht nur hohen, sondern übertrieben kultivierten Registers und einer entsprechenden sprachpflegerisch-pädagogischen Intention. Einen Beleg dafür liefert Göri Klainguti, der als Jugendlicher Andri Peer einen Artikel mit dem Titel Be per as fer interessant (Nur um aufzufallen) schickt. Andri Peer veröffentlicht ihn mit einem Eingriff: «fer» 3 Ausführlich dazu G ANZONI 2012: 191ss. 4 Cf. L IVER 2009: 131. 304 Clà Riatsch (machen) ersetzt er durch das gehobenere «render». Selbstironisch furios kommentiert Klainguti: . . . granda catastrofa! Sch ’ eu scriv fer manegi fer, che hest tü schmaladieu magister da gimnasi cò dad elever mieu vocabulari cun quist stüpid «render» am vain da render, eau manag da bütter sü! Eau nu sun vossa generaziun chi stira notiers pleds antiquos per as decorer cun pennas chi sun già lönch crudedas our. . . (K LAINGUTI 2008: 30) . . . grosse Katastrophe! Wenn ich fer schreibe, meine ich fer, was hast du verfluchter Gymnasiallehrer meinen Wortschatz zu veredeln mit diesem blöden «render», zum Erbrechen, ich meine zum Kotzen! Ich gehöre nicht zu eurer Generation, die antiquierte Wörter heranzieht, um sich mit Federn zu schmücken, die längst ausgefallen sind . . . Hier kann es nicht um Sprachgeschichte gehen: «fer» (FACERE) ist an Alter nicht zu überbieten, schon gar nicht vom Lehnwort «render». Der Vorwurf des «Antiquierten» bezieht sich auf die höhere Stilllage, allenfalls darauf, dass das betulichere «render» von jüngeren Sprechern weniger häufig verwendet wird. Wirkungsästhetisch ist interessant, dass der Archaismus zum Paradebeispiel einer zu hohen Stillage gemacht und als abstossend falscher Schmuck kritisiert wird. In Peers Verständnis ist er ziemlich genau das Gegenteil. Dies hat eine Vorgeschichte, die im Folgenden skizziert wird. 2. Chasper Pult: Die Klassiker und das Volk Die wichtigste Quelle für sprachideologische Vorstellungen, die in Peers Poetik eingehen, ist der Romanist und DRG-Redaktor Chasper Pult. Das von ihm in seinem Testamaint (P ULT 1941) formulierte Programm zur Purifizierung des von italienischem Lehngut durchsetzten schriftsprachlichen Ladin fasst Andri Peer wie folgt zusammen: Ad fontes füt seis clom . . . restabilir plü cumplettamaing pussibel il material linguistic genuin, cuntgnü illas scrittüras dal prüm temp ed illa tschantscha dal pövel; üsar conciliaziun ed elasticità illa pratcha da l ’ impraist. (P EER 1969: 44) Ad fontes war sein Ruf . . . so vollständig wie möglich das originale sprachliche Material wiederherstellen, das in den Schriften der ersten Zeit und in der Rede des Volkes zu finden ist; konziliant und elastisch sein gegenüber Entlehnungen. Pults Identifikation von zwei gleichermassen reinen Quellen, alte Schriften und populäre Umgangssprache der Gegenwart, hebt nicht nur einen der traditionsreichsten Gegensätze puristischer Auseinandersetzungen auf, er überbrückt auch die stilisierte Kluft zwischen ästhetischen Vorstellungen klassizistischer und romantischer Provenienz. Wenn Pult die beiden Quellen 305 Andri Peers «altes Romanisch» als gleichwertig nebeneinanderstellt, führt sie Andri Peer in der mythischen Figur der «Alten» zusammen, die er zum Massstab seiner poetischen Rede macht. Was er diesen «Alten» im Ästhetischen zutraut, zeigt sich in Peers Lob ihrer Baukunst, die er an den Engadiner-Häusern und Dörfern bewundert. In der Erzählung Daman da chatscha (Jagdmorgen) aus dem Jahr 1961 blickt der Ich-Erzähler von hoch oben auf das Engadin hinunter: Pudarà eu mâ verer avuonda quista val ingiò ch ’ eu sun nat, ingio chi han vivü tuot meis vegls? Na be algords chi ’ m vegnan in rotschas dal temp d ’ uffant, mo algords bler plü vegls intrats in mai ant co nascher. Quist viver dals vegls . . . cun lur . . . instinct pel bel, plü cler co per nus l ’ amulain. Tant cha nu ans sentin pitschens, improvisats in congual cun quai ch ’ els biaivan. (P EER 1961: 13) Werde ich mich je sattsehen können an diesem Tal, in dem ich geboren bin, in dem alle meine Alten gelebt haben? Nicht nur aus meiner Kinderzeit kommen mir haufenweise Erinnerungen, es kommen auch viel ältere Erinnerungen, die vor meiner Geburt in mich eingedrungen sind. Dieses Leben der Alten . . . mit ihrem Instinkt für das Schöne, klarer als für uns das Einmaleins. So dass wir uns klein vorkommen, improvisiert, im Vergleich zu dem, was sie bauten. Genuin klassizistisch ist das Gefühl, die Bauten der Gegenwart seien «klein und improvisiert» im Vergleich zu denjenigen der Alten mit ihrem offenbar angeborenen sicheren Sinn für das Schöne. Eher romantisch ist die Vorstellung, dieser Sinn sei ein «Instinkt», der einem ganzen Kollektiv eigen gewesen sei, jenem ethnisch geprägten Kollektiv, das Peer als «tuot meis vegls», «alle meine Alten», umschreibt. Die Hoffnung auf eine über die eigene Lebenszeit hinausreichende Erinnerung an diese Alten wird auf die Archetypen-Theorie von C. G. Jung zurückgehen. Die Frage der Zugänglichkeit solcher Erinnerung ist nicht nur psychologisch, sondern auch poetologisch von Interesse. 3. Die Sprachmagie des Giuseppe Gangale Ende Januar 1944 hat sich Giuseppe Gangale mit sutselvischen Lehrern im Schulhaus von Scharans getroffen, um mit ihnen zusammen eine Orthographie des Sutselvischen zu entwerfen. In Scharans verstehen die Jungen kein Romanisch mehr, was Gangale, der sich als «Sprachbiologe» definiert 5 , der «Müdigkeit des Volkes» (G ANGALE 1944: 150) und seiner Selbstaufgabe zuschreibt. Auf dem Weg zum Schulhaus singen die Lehrer romanische Lieder, die Erstaunliches bewirken: Es war, als ob die frischen romanischen Laute Tausende von in den alten Mauern begrabenen Echos erwecken würden; Tausende von Stimmen einer langen Reihe 5 Zu Giuseppe Gangale cf. U FFER 1986, zu seiner Arbeit in der Sutselva cf. J OËL 2006. 306 Clà Riatsch von Generationen, die dort auf romanisch gelebt, geliebt und gehasst hatten, wurden lebendig und schienen sich dem Zuge anzuschliessen, unsichtbar im goldenen Licht der Sonne.» (G ANGALE 1944: 150) Dass die ausgebrütete Graphie auch archaisierende Züge aufweist 6 , wird nach dieser Auferstehungsvision niemanden erstaunen. Der sutselvische Gesang findet in den Stimmen der auferweckten Toten sein Echo; wenn ein Abglanz dieser Magie aus der künftigen sutselvischen Graphie leuchten soll, muss auch diese die Zeit überwinden, und, rückwärts gewandt, den Toten gewissermassen entgegenkommen. Die Auferweckten sollen mühelos mitlesen können, was ihre Nachfahren auf Sutselvisch schreiben. Dafür schliessen sie sich als unsichtbare Schutzgeister dem aufbrechenden Zug an. Dies passt zu Gangales Polemik gegen das Schriftromanisch seiner Zeit, das er als «Buchrätoromanisch» oder «Italorätoromanisch» bezeichnet (cf. G AN- GALE 1996: 31), während er im Rätoromanischen die magische Ursprache sucht, die «manabeladene primitive Bauernsprache» (G ANGALE 1966: 40). Um die dekadenten «Buchsprachmenschen» (ibid. 41) zu läutern, versucht er, in rituell-schamanischen Sitzungen, die Menschen in ihre präalphabetische Phase zurückzuführen, sie an ihre «manabeladene Bauernkindersprache» zu erinnern (cf. G ANGALE 1966: 43). Andri Peer hat Giuseppe Gangale gekannt und auch über ihn gelacht. Die ästhetische Seite seiner abstrusen Sprachmystik aber hat er auch ernst genommen 7 . 4. Peider Lansel: Dialekt gegen «pezzas artificialas» Die von Chasper Pult entworfene sprachpflegerische Ausmerzung des italianisierenden «Sonntagsromanisch» wird nach Andri Peer von dessen Zeitgenossen, dem Sprachkämpfer und Dichter Peider Lansel, umgesetzt. Pult und Lansel stammen beide aus Sent, der Dorfdialekt von Sent wird zum Leitmedium dieser Restauration. Chasper Pult ist Romanist: El stübget a Turich ed a Losanna e promovet l ’ on 1897 cun üna dissertaziun sur dal dialect dal cumün patern, a listess temp sco cha Peider Lansel traiva nan l ’ idiom prüvà per arschantar our da sia poesia las pezzas artificialas e glissas dal «romantsch dellas domengias». (P EER 1969/ 2011: 41) 6 «G. Gangale legt 1944 die «Reglas digl rumàntsch da Sutselva» vor, die z. T. auf historische Orthographien zurückgreifen und den lokalen Dialekt zu einer Schreibsprache machen.» (C ORAY 2008: 119). 7 Cf. den Brief von Reto Caratsch an Andri Peer vom 26. 04. 1949, in: P EER 2011: 321. Von Ratschlägen Gangales, die alten Texte zu studieren, spricht er in einem Brief an Cla Biert vom 23. 03. 1948. Cf. P EER 2011: 291. 307 Andri Peers «altes Romanisch» Er studierte in Zürich und Lausanne und promovierte im Jahre 1897 mit einer Dissertation über den Dialekt seines Heimatdorfes, zur gleichen Zeit, als Peider Lansel das vertraute Idiom beizog, um aus seinen Gedichten die künstlichen und abgegriffenen Flicken des «Sonntagsromanisch» auszuwaschen. Mit «arschantar las pezzas», «die Flicken auswaschen», ist Peer vielleicht nicht auf der Höhe seines Stils, die metaphorische Verschränkung von Reinheit und organischer Einheit ist aber eine markante Synthese entsprechender Vorstellungen sprachlicher «Natürlichkeit». In der seltenen Kunstprosa von Chasper Pult beobachtet Andri Peer: . . . sco pro Peider Lansel, pass a pass l ’ evoluziun da la lingua scritta danöv, scuvierta in sia frais-cha pürezza. (P EER 1969/ 2011: 44) . . . wie bei Peider Lansel, Schritt für Schritt die Evolution einer von neuem geschriebenen, in ihrer frischen Reinheit entdeckten Sprache. Nicht auszudenken, fährt Peer fort, wie der Kampf um die Anerkennung des Romanischen ohne den entscheidenden Beitrag Peider Lansels ausgegangen wäre. Nur dank seiner Suche nach einem «lebendigeren und wahrhaftigen Romanisch», «ün rumantsch plü viv e vardaivel», sei es gelungen, «die Sprache zu verjüngen», «ringiuvnir la tschantscha» und durch die Rückkehr zu den Quellen einen Teil ihrer «reinen Substanz», «sustanza püra», wiederzuerlangen (cf. P EER 1969/ 2011: 45). In seiner Würdigung von Lansels Tätigkeit als Sammler von Volksliedern reiht er dessen Quellen auf, «our d ’ bocca da la glieud, our da vegls manuscrits e cudeschs», «aus dem Mund der Leute, aus alten Manuskripten und Büchern» (P EER 1960/ 2011: 75), genau die Quellen, die auch in Pults restaurativem Programm genannt sind. Die auf die neue Schriftnorm bezogenen Attribute «lebendig» und «wahrhaftig» gehören zu den gängigsten Qualitätsindizien literarischer Texte. Dass die ästhetische Dimension des Sprachkampfes für Peer die primäre und entscheidende ist, bezeugt sein Aphorismus, mit dem er 1957 die sprachkämpferischen Dichter der Lansel-Generation abschliessend würdigt: . . . els nu sun stats grands poets perquai chi han defais il rumantsch, mo els sun stats grands defensuors perche chi han tschantschà da poets! (P EER 1957/ 2011: 140) . . . sie waren nicht grosse Dichter, weil sie das Romanische verteidigt haben, aber sie waren grosse Verteidiger, weil sie als Dichter gesprochen haben. Schwer abzuweisen ist die Vermutung, dass Andri Peer hier auch von sich spricht. In diesem Primat des Literarästhetischen vor dem Sprachkämpferischen geht Lansel selber sehr weit, so weit, das Existenzrecht einer Sprache von ihrer Literatur abhängig zu machen: Üna lingua po comprovar et affermar seis dret a l ’ existenza be tras üna litteratura originala. (L ANSEL 1910: VIII). 308 Clà Riatsch Eine Sprache kann ihr Existenzrecht nur durch eine originale Literatur beweisen und geltend machen. Für Andri Peer liegt die Sache sehr ähnlich, und hier zeigt sich die für ihn typische Verbindung von restaurativem und innovativem Impetus. Als das wesentliche Merkmal von Sprache gilt ihm nämlich ihre Fähigkeit sich zu erneuern: La lingua, sch ’ ella merita il nom, ais lingua güst ’ in quai ch ’ ella sa as renovar e s ’ integrar in nouvas fuormas, ch ’ ella ais buna da spisgiantar las plü diversas intenziuns expressivas, sül s-chalin il plü ot quellas dal poet. (P EER 1957/ 2011: 142) Die Sprache, die diesen Namen verdient, ist gerade darin Sprache, dass sie sich zu erneuern und in neu Formen zu integrieren vermag, dass sie fähig ist, die verschiedenartigsten expressiven Intentionen zu nähren, auf der höchsten Ebene diejenigen des Dichters. Die Verbindung von Restauration und Innovation wird von Peer ebenfalls schon bei Lansel ausgemacht und zwar im «eigenwillige[n] Rhythmus» seines Verses und im «herbe[n] Reiz seines Heimwehs», das Andri Peer als «ein in die Zukunft gerichtetes Heimweh» bezeichnet (cf. P EER 1968/ 2011: 164), eine Variante des romantischen «Heimwehs nach der Vergangenheit». Bei soviel Nähe erstaunen die dezidierten Abgrenzungen nicht. So definiert sich der Dichter Andri Peer im Jahr 1949 in einem Brief an Cla Biert als: Rumantsch da sang mo plü paraint da Baudelaire, Mallarmé, Lorca, Montale e Michaux co da Lansel e Caderas. (P EER 2011: 298) Waschechter Romane, aber eher Baudelaire, Mallarmé, Lorca, Montale und Michaux als Lansel und Caderas verwandt. 5. Urgeschichte und poetische Rede In Peers explizitestem und detailreichstem poetologischen Gedicht, Ars poetica aus dem Jahr 1984 8 , fällt zunächst ins Auge, dass der Dichter nur im Bereich der Worte sucht, im allen übrigen Bereichen lediglich wachsam beobachtet, zulässt oder ablehnt. Die Worte muss er suchen und «pflücken», wo er sie findet: aint il üert dasper chasa, o aint il zardin signuril (v. 4 s.) 8 P EER 2003: 419s. Deutsche Übersetzung von Iso Camartin: cf. P EER 1988: 143ss. Ausführlich dazu R IATSCH 2006, G ANZONI 2012: 149ss. 309 Andri Peers «altes Romanisch» im Garten neben dem Haus oder im herrschaftlichen Park. Vom bäuerlichen Umfeld lediglich begünstigt, finden wir zunächst den alten Topos der Dichtung als Blume, die der Dichter pflückt, als Frucht, die er erntet. Suggeriert ist damit eine Abhängigkeit von einem Boden und einem Klima, eine Entstehung, die der Dichter allenfalls beeinflussen, aber nicht wirklich bestimmen kann, selbst wenn er den Boden als Metapher für sich selber braucht 9 . Die Metaphern für die beiden lexikalischen Bereiche sind eindeutig: der «üert», der Nutzgarten, für die Alltagssprache und der mit dem Lehnwort «zardin» in seiner fremden Herkunft ausgewiesene herrschaftliche Park für die hohen Register, die an grosse Dichtungstraditionen anschliessen. Einen jähen Abbruch findet die Ernte-Allegorie bei der Thematisierung der Syntax: die «gepflückten» Worte müssen nicht vom Dichter geordnet werden, sie finden ihren Platz allein: Lascha chi tschernan sulets ün dasper tschel lur lö, ad els destinà ünsacura, cur cha be la memoria e ’ l rebomb aint il cuvel salvaivan il clom da l ’ utschè suldan chi savaiva l ’ ura. (v. 11ss.) Lass allein sie wählen Nebeneinander ihren Platz Der ihnen irgendwann bestimmt wurde Als nur das Gedächtnis Und das Echo in der Höhle Den Ruf des einsamen Vogels bewahrten Der die Stunde wusste. Hier geht es nicht einfach darum, syntaktische Strukturen als unbewusst darzustellen, hier geht es um die Mythologisierung der Herkunft des Verses aus den «algords bler plü vegls intrats in mai ant co nascher» (cf. oben), aus den «viel ältere(n) Erinnerungen, die vor meiner Geburt in mich eingedrungen sind». Zugleich wird hier der Mythos der «Alten» ins Prähistorische verlegt, in die Zeit der Höhlenbewohner, die nur zwei (im wörtlichen Sinn) «Re-Präsentationen» für den Vogelruf als schicksalhaftes Zeichen kannten: das Echo in der Höhle und ihr Gedächtnis. Dieses Gedächtnis überdauert die Zeit, 9 Cf. etwa Il chomp sulvadi (P EER 1975: 7), wo der wilde Acker als «meis frar scugnuschü» (v. 4), «mein verkannter Bruder» angesprochen wird, dessen «spias invanas» (v. 7), «unnütze Ähren», als Metapher für die «unnütze», sprich zu wenig beachtete Lyrik dienen. Cf. dazu G ANZONI 2012: 348ss. 310 Clà Riatsch tradiert sich über das Blut und über das Rauschen der Wasseradern, es ist, wie in Larschs vidvart l ’ En nachzulesen, im Rauschen des Inns und «illa not/ cotschen s-chüra da l ’ udida», «in der dunkelroten/ Nacht des Gehörs (P EER 1955: 46, v. 15 s.) zu vernehmen. Wenn Vogelruf und Echo eher auf Rhythmus als auf Syntax deuten, wird die Mythologie eher verständlich: der «Puls» des Gedichts ist mit demjenigen des Dichters verbunden, dieser folgt einem Echo aus Urzeiten. So versammeln sich die Wörter von alleine zur «chamüngia», zum «Abendmahl» (cf. v. 20), dem Dichter bleibt nur die Aufgabe, über dieses Gedränge zu wachen und den Unwürdigen auszusondern: Mo tü, sta sül glim e sbandischa l ’ intrus (v. 21 s.). Du aber, steh an der Schwelle Und weise den Eindringling ab. Wer dieser Eindringling ist, braucht nicht gesagt zu werden, das Wort weist sich selber als solcher aus, l ’ «intrus» ist eine ad-hoc Entlehnung des italienischen «l ’ intruso», die für Romanen, die nicht gut Italienisch können, völlig unverständlich ist. Der Dichter verhält sich also gegenüber dem mythischen Urtext wie die Sprachreiniger der früheren Generation: er lauscht verzückt dem Rhythmus und der Melodie der Rede der Alten und sondert etwaige «Eindringlinge» aus. 6. Die Alten als ästhetischer Massstab Ein wichtiges Motiv der Lyrik von Andri Peer ist die Rückkehr des Emigranten ins Engadin seiner Kindheit. Diese kann schwierig sein, Peers Generation fasst die Emigration noch immer als eine Art Verrat am Eigenen auf, bei den Weggezogenen finden sich viele Entschuldigungs- und Rechtfertigungsversuche, bevor sie die geforderte continuitas loci, wie heute selbstverständlich, als absurde Zumutung zurückweisen. Im Gedicht Intschertezza (Ungewissheit) 10 aus dem Jahr 1984 fragt sich der Rückkehrer, ob er in diesem Tal je heimisch gewesen sei. Das Gedächtnis bejaht die Frage, aus dem Inn, den Wäldern, den Felsen glaubt der Rückkehrer, einen Gruss zu vernehmen, wie in der traditionellen Heimehr-Szene der Emigranten-Lyrik. Anderseits wirft ihm die Landschaft vor, er sei zu lange weggewesen und könne nicht mehr beanspruchen, als «ün dals noss» (cf. v. 13), «einer der unseren», empfangen zu werden. Inn, Wälder und Felsen sind aber nicht nur mit Vorwürfen zur 10 P EER 1985: 274, 2003: 424s. Ausführlich dazu R IATSCH 2010: 159ss. 311 Andri Peers «altes Romanisch» Hand, sie haben auch einen Vorschlag zur büssenden Wiedergutmachung und stellen Versöhnung in Aussicht: «Doza tia vusch, fuschina teis pled, fin ch ’ el ha il cling dal veider rumantsch cha nus inclegiain. E lura, ün di, sentirast cha nus eschan cun tai aint il madescham sulai». (v. 14 ff.) «Erhebe deine Stimme, schmiede dein Wort, bis es den Klang des alten Romanisch hat, das wir verstehen. Und dann, eines Tages, wirst du merken, dass wir mit dir unter derselben Sonne sind». Die Wiedergutmachung, die den Beweis der Treue liefert, ist die poetische Rede, der hier eine ganz andere Poetik zugrunde gelegt wird, diejenige des poeta faber 11 nämlich, der die Verse schmieden, also bewusst bearbeiten muss. Der Lohn für diese mühsame Arbeit ist das Gefühl, mit Fluss, Wald und Fels zusammen unter derselben Sonne zu stehen, die Zugehörigkeit zu einer naturalisierten Heimat. Der auffällige Paarreim am Schluss, «tai» - «sulai», ist die Lautfigur dieser Rückkehr im Einklang. Die Bedingung der Versöhnung ist die ästhetische Qualität des Gedichts, für die ein erstaunlicher Massstab angelegt wird: «il cling/ dal veider rumantsch/ cha nus inclegiain», der «Klang/ des alten Romanisch . . ./ das wir verstehen». Die Landschaft des Engadins versteht das alte Romanisch, weil sie die Ahnen repräsentiert, jene «Alten», für die der Archaismus «veider» (für «alt», heute: «vegl») noch keiner war. Ihnen soll der spätgeborene Dichter entgegenkommen, nicht im lexikalischen Archaismus, sondern im Klang, im Rhythmus, in der Melodie ihrer Sprache. Damit ist nicht nur die berühmte «Autonomie des Signifikanten» im poetischen Text angesprochen, sondern die Verschmelzung von Laut und Sinn in einer poetischen Musik, die aus der Urzeit kommt und von den Toten gehört und gewürdigt wird. Durch sie findet der Spätgeborene und Ausgegrenzte räumlich und zeitlich zurück. 11 Zur Handwerks-Metaphorik von Peers Poetik cf. G ANZONI 2012: 86ss. 312 Clà Riatsch 7. Schluss Die vom anti-irredentistischen Abwehrreflex bestimmte restaurative Sprachpflege von Chasper Pult und Peider Lansel wendet sich gegen die italianiserenden Tendenzen des Schriftladin des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts. Die Verbindung klassizistischer und romantischer Sprachidealisierung zeigt sich darin, dass die beiden Sprachpfleger in der Rede des Volkes das Echo der Schriften der Alten heraushören wollen. Die nächste Generation bemüht sich nicht nur um die literarische Umsetzung des «gereinigten» Romanisch, sie entwickelt auch entsprechende poetische Mythen. Bei Andri Peer werden die «Alten» klimaxartig immer älter, bis sich der Rhythmus seiner Dichtung am Echo in prähistorischen Höhlen orientieren und mit ihm verschmelzen will. Interessant ist die doppelte Funktion der anthropomorphen Landschaft des Engadins als Repräsentantin dieser «Alten»: sie wird zur Quelle einer poetischen Rede, die der Dichter nur noch puristisch überwachen muss (Ars poetica), sie wird aber auch zur Zuhörerin, die dem Dichter als poeta faber ästhetische Massstäbe setzt (Intschertezza). Echo, Puls und alter Klang werden zu Elementen einer die Zeit transzendierenden poetischen Mythologie. 8. Bibliographie 8.1 Primärliteratur P EER , Andri 1955: Battüdas d ’ ala, Winterthur: Ediziun da l ’ autur. P EER , Andri 1961: «Daman da chatscha», in: Da nossas varts, Chasa Paterna nr. 78/ 79, 1961: 7 - 20. P EER , Andri 1975: Il chomp sulvadi. Poesias, Winterthur: Ediziun da l ’ autur. P EER , Andri 1982: La Ruina da Plür/ Il traditur da la patria/ Paginas dal Diari, Samedan: Uniun dals Grischs. P EER , Andri 1985: «Ils ons vantüraivels», AnSR 98, 1985: 269 - 318. P EER , Andri 1988: Poesias/ Gedichte (übersetzt von Herbert Meier), Disentis: Desertina (ed. I. C AMARTIN ). P EER , Andri 2003: Poesias 1946 - 1985, Cuoira: Desertina (ed. C. R IATSCH ). P EER , Andri 2011: Essais, correspondenza e critica 1947 - 1994, Cuira: Societad Retorumantscha (Romanica Raetica 19). 8.2 Sekundärliteratur G ANGALE , Giuseppe 1944: «Bei den Romanen in Scharans», in: U FFER 1986: 148 - 151. G ANGALE , Giuseppe 1996: «Bericht über meine Sprachuntersuchungen im rätoromanisch-glotten Gebiet in den Jahren 1943 - 1949», AnSR 109, 1996: 27 - 48. 313 Andri Peers «altes Romanisch» G ANZONI , Annetta, 2012: Die Entstehung von Andri Peers Lyrik im kulturellen Kontext. «Las nuschpignas sun glüms/ da blaua aspettativa», Zürich: Zürcher Hochschulschriften, http: / / www.dissertationen.uzh.ch/ . J OËL , Anne-Louise, 2006: «Giuseppe Gangale und der Konflikt um die Acziun Sutselva rumantscha, 1943 - 1949», AnSR 119, 2006: 97 - 130. K LAINGUTI , Göri, 2008: «Las generaziuns tar la glieud chi scriva», Litteratura 29, 2008: 30 s. L ANSEL , Peider, 1910: «Cuorta survista da la litteratura poetica ladina», in: Musa Ladina, Samedan: Engadin Press. LIR 2010/ 2012: Lexicon Istoric Retic. Edì da la Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Cuira/ Chur: Chasa editura Desertina L IVER , Ricarda, 2009: «Andri Peer sut la marella linguistica», AnSR 122, 2009: 131 - 138. P EER , Andri 1957: «La poesia nouva e ’ l rumantsch», Sain Pitschen 23/ 4 e 23/ 8, supplemaint dal Fögl Ladin 3 - 4-1957 e 27 - 8-1957. P EER , Andri 1960: «L ’ ouvra da Peider Lansel. In vista ad ün ’ ediziun commemorativa», Fögl Ladin 11 - 10 - 1960. P EER , Andri 1968: «Zeitgenössische Strömungen in der rätoromanischen Literatur», Terra Grischuna. Zeitschrift für Bündnerische Kultur, Wirtschaft und Verkehr, 27. Jg., Nr. 6, Dez. 1968: 317 - 322. P EER , Andri 1969: «In algordanza da professur Chasper Pult. Per seis tschientavel cumplion ils 2 schner 1969», Fögl Ladin 3. 1. 1969. P EER , Andri 2011: Essais, correspondenza e critica 1947 - 1994, Romanica Raetica 19, Cuira: Societad Retorumantscha (ed. D. A NDRY , R. C ADUFF , A. G ANZONI , C. R IATSCH ). P ULT , Chasper 1918: Davart l ’ ortografia valladra ed otras chosas amo plü dalettaivlas, Restampa our dal Fögl d ’ Engiadina, Samedan e St. Murezzan: Engadin Press. P ULT , Chasper 1941: Meis testamaint, Samedan e San Murezzan, Stamparia engiadinaisa. R IATSCH , Clà 2006: «Zu Andri Peers «Ars poetica»», Versants 51, 2006: 183 - 199. R IATSCH , Clà 2010: Die Stimmen des Windes. Zum Engadin-Mythos bei Andri Peer, Romanica Raetica 18, Chur: Societad Retorumantscha. U FFER , Margarita 1986: Giuseppe Gangale. Ein Leben im Dienste der Minderheiten, Chur: Terra Grischuna. 314 Clà Riatsch Andri Peer - Zur Rezeption moderner Lyrik in einer Kleinkultur Annetta Ganzoni 1. Einführung Andri Peer wird am 19. Dezember 1921 in Sent im Unterengadin geboren und verbringt seine Kindheit und Jugend zwischen Carolina, Zernez und Lavin. Sein Vater Jon ist Bahnangestellter, Forstarbeiter und Bauer, die Mutter Silva ist ebenfalls in der kleinen Landwirtschaft tätig. Peer besucht vorerst das Lehrerseminar in Chur und studiert anschliessend Romanistik in Zürich und Paris. Nach seiner Dissertation zur Terminologie des Bündner Bauernhauses unterrichtet er von 1952 bis 1983 als Gymnasiallehrer in Winterthur, wo er mit seiner Familie lebt. Andri Peer ist einer der aktivsten und vielseitigsten bündnerromanischen Schriftsteller: Von 1943 bis 1985 publiziert er Gedichte, Erzählungen, Hörspiele und literarische Übersetzungen, aber auch zahlreiche Essays und Artikel in verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften. Daneben verfasst er Tagebücher und eine umfangreiche Korrespondenz, die in seinem Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) der Nationalbibliothek in Bern betreut werden. Peer stirbt am 2. Juni 1985 in Winterthur 1 . In seinen Impissamaints zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des Romanischen als Nationalsprache schreibt Andri Peer in der Regionalzeitung Fögl Ladin: La poesia sto tschantschar la lingua dals contemporans, sto clomar in els alch ch ’ els approuvan cun lur vita, sto ils tschüffer [. . .]. Mo quels chi ’ s ris-chan sün sendas nouvas ston ir sulets; els passan per experimentaders perguajats o per imitaduors da models esters e tschüffan brav giò per las piclas [. . .] Üna litteratura chi resta salda moura, ais morta, quel chi ris-cha la poesia, ris-cha tuot. (P EER 1963) Für Andri Peer war es grundlegend, die rätoromanische Dichtung zeitgemäss zu gestalten, doch war dies eine anspruchsvolle Gratwanderung zwischen der Akzeptanz des einheimischen Publikums und dem Ziel, dass die rätoromanische Literatur als Teil der Schweizer Literaturen wahrgenommen würde. In der weiten Themenpalette Peers fallen die vielen Texte über das Schreiben auf. 1 Für weitere biographische Hinweise cf. www.hls-dhs-dss.ch, P EER -S TUDER 1994 und 2003 sowie R IATSCH 2003. Hier zeigt sich unter anderem, dass sein Werdegang als Schriftsteller und Publizist durch ein kulturkämpferisches Anliegen determiniert ist, denn das Schreiben über das Dichten hat für ihn immer auch mit den Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung moderner und hochstehender Lyrik innerhalb der kleinen Regionalkultur zu tun. Über sein problematisches und wenig befriedigendes Verhältnis zum Publikum entstehen vor allem im letzten Lebensjahrzehnt Gedichte und Gedichtentwürfe. Wiederholt bezeichnet sich Andri Peer als einsam und unverstanden, beispielsweise im metaphorischen Gedicht Il chomp sulvadi von 1975: Il chomp sulvadi Der wilde Acker Ourasom il rutitsch at spenna il vent in uondas d ’ or. Am steinigen Bord legt dich der Wind in goldene Wellen 5 Chomp sulvadi, meis frar scugnuschü. Eir tü madür cun tias spias invanas. Wilder Acker, mein verkannter Bruder. Auch du gereift mit deinen vergeblichen Ähren. (P EER 1980/ 2003: 361) (deutsche Übertragung von Herbert Meier, in: P EER 1980: 11) Die Ähre im Wind verwendet Andri Peer mehrfach als Metapher für das kreative Gedicht. Hier wird sie in einem traurigen Bild gezeichnet, als «spia invana» (vergebliche Ähre), als Frucht also, die niemand verwenden mag. Dieses Gedicht wie auch konkretere Aussagen Peers haben mich dazu veranlasst, die Kritiken zu seinem Werk systematisch zu untersuchen und der Frage nachzugehen, inwiefern sich die Leserschaft der kleinen romanischen Kulturgruppe und die Entwicklung von Peers poetischem Schreiben gegenseitig beeinflusst haben. Anhand prägnanter Zitate versuche ich in diesem Beitrag, einige markante Stationen aus Peers Weg als Lyriker zu skizzieren 2 . 2 Für eine Vertiefung cf. G ANZONI 2012, insb. Kapitel 4. Auseinandersetzung mit Publikum und Kritik. 316 Annetta Ganzoni Abbildung 1: Manuskript aus dem dossier génétique des Gedichts Il chomp sulvadi, Nachlass Andri Peer im Schweizerischen Literaturarchiv, Bern. 317 Andri Peer - Zur Rezeption moderner Lyrik in einer Kleinkultur 2. Ablehnung und Satire Ausgehend von einer Suche nach der aktuellen Dichtung in Europa kommt der junge Andri Peer über Studium, Lektüren und persönliche Bekanntschaften mit verschiedenen zeitgenössischen Literaturströmungen in Berührung. Er setzt sich nicht nur mit der Dichtung, sondern auch mit den kulturkritischen Schriften der Klassiker der Moderne aus verschiedenen Sprachräumen auseinander, etwa mit Benn, Eliot, Eluard, Majakowski, Montale, Saba, Ungaretti und Valéry, welche seine Vorstellungen zur Kultur allgemein und zur modernen Lyrik im Besonderen nachhaltig prägen. Gemäss diesen grossen Beispielen möchte Peer eine vielgestaltige, komplexe und anspruchsvolle Dichtung schaffen, welche die zeitgenössischen Schwierigkeiten und widersprüchlichen Empfindungen widerspiegelt. Er übersetzt auch Gedichte der europäischen Moderne ins Romanische und ins Deutsche. Doch Andri Peer setzt sich auch intensiv mit der rätoromanische Literatur der Gegenwart und der Vergangenheit auseinander. Viele seiner Lektüren hinterlassen deutliche Spuren in seinen eigenen Gedichten. Bereits die ersten, auch experimentellen Sammlungen von Peers Lyrik enthalten eine Vielzahl Formen und Themen, auf die seine Leserschaft jedoch vorerst mit Ratlosigkeit und Ablehnung reagiert, wie sich aus den von Peer selbst notierten Beurteilungen ablesen lässt: Giudicats da meis lectuors 1945 - 48 Men Gaudenz: (sur da novellas) Que ais be schlavazzà nan! Men Rauch: Andri Peer ais üna funtana chi sbuorfla mo chi nu fa amo spejel. Jon Guidon: Quist nun ais poesia, i nu s ’ inclegia nöglischem. Jacques Steiner: (Poesias) I manca la rima e la fuorma da las strofas. Linard Clavuot: (Ladinia) Vess fat meglder da spettar amo var desch ans. I nu ’ s sto vulair scriver ant chi s ’ ais madür. Domenica Messmer: (Trais-cha) Poesias plain cuntradicziuns logicas! Stil nouv mo irregular. (P EER SLA, D-2-b) Bei den zitierten Personen handelt es sich um ältere Autoren, Lehrer und Journalisten. Aus diesen wenigen Aussagen lässt sich ableiten, dass Peers frühe Gedichte in Bezug auf die «ästhetische Erfahrung im Kommunikationsprozess der gesellschaftlichen Praxis» in den Vorstellungen dieser Leser verschiedene Normen verletzen (J AUSS 1982: 751). Es wird von völliger Unverständlichkeit gesprochen, die Gedichte «ohne Reim und Form» und die Spannung innerer Widersprüche irritieren, es wird Peer vorgeworfen, eine verfrühte und unreife Produktion zu präsentieren. Diese Feststellungen vereinen in so konzentrierter Form allgemeine Vorurteile gegenüber dem Neuen und Unbekannten in der Literatur, dass sogar der Verdacht aufkommt, der aufstrebende Student aus einfachen Verhältnissen habe sie aus Häme gegenüber dem als arrogant und rückständig empfundenen Bildungsbürgertum zusammengestellt. Wie aus 318 Annetta Ganzoni Peers Briefen und Artikeln hervorgeht - und trotz seiner Dreistigkeit als Kritiker und den positiven Erfahrungen mit anderen Lesern - trübt diese Zurückweisung durch das Establishment Peers Beziehung zum Publikum über Jahrzehnte. Der junge Dichter Andri Peer wird nicht nur kritisiert sondern auch ausgelacht: zur Rezeption moderner Dichtung in einem Bergdorf erscheint 1949 die bissige Satire La saireda litteraria. Darin macht sich der Pariser Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung und Peer-Freund Reto Caratsch nicht nur über den Dichter sondern ebenso sehr über das völlig unvorbereitete Publikum lustig, das einen Unterhaltungsabend erwartet und mit surrealistischen Gedichten konfrontiert wird. Auch 1956 noch stellt Caratsch fest, in einigen Gedichten habe Peer französische Lyriker schlecht adaptiert. Hier sei der Dichter nicht er selbst, er müsse vielmehr eine französische Gurke verschluckt, aber schlecht verdaut haben, «que stu esser [. . .] qualche cucumer frances travus, ma na bain digerieu» (C ARATSCH 1956. in P EER 2011: 414). Viel offener gegenüber diesem Einfluss der europäischen Dichtung und ihren intertextuellen Erkennungszeichen im Rätoromanischen zeigt sich beispielsweise der Genfer Kritiker Gabriel Mützenberg in einem Artikel aus derselben Zeit. Men Rauch verspottet Peers moderne Lyrik in seiner Karnevalsammlung Il bal da schaiver nair. Die Illustration von Hanny Fries zeigt den Dichter mit einer Manuskriptrolle auf dem fliegenden Pegasus, zu dem Bauer und Bäuerin von der Wiese ganz entsetzt in die Höhe starren. Rauch bezeichnet Andri Peer als Pfadfinder unter den Dichtern, universell, sprachgewaltig, seine dichterischen Sprünge führten direkt von Paris bis ins Unterengadin. Aus literarischen Sphären herab rezitiere er seine Gedichte den erdnahen Bauern, die sich vor solch ausgesuchten Reimen fürchteten und nichts verstünden. Viel lieber hätten sie zahmere Verse, die sie nachempfinden könnten. Peers Pegasus sei allzu wild und müsse gebändigt werden: Andri Peer [. . .] Chavalgiand in ota sfera recitet poems darcheu a noss paurs cajò sün terra, chi respuondan dand dal cheu: «Chavalier sfrenà - fadima teis chavagl, ch ’ el vegna chöntsch! Nun incleg rabiz ta rima, tü m ’ est plü co be dalöntsch! » (R AUCH 1953: 43) 319 Andri Peer - Zur Rezeption moderner Lyrik in einer Kleinkultur Men Rauch ist nur einer der Kritiker, der verlangt, die Dichtung in romanischer Sprache müsse sich an das allgemeine Volk richten und auch ein Publikum ohne literarische Bildung ansprechen und unterhalten. Während es bei Caratsch offensichtlich ist, dass sich kaum jemand aus der dörflichen Gesellschaft wirklich für Literatur interessiert, stellt Rauch die Behauptung in den Raum, die Bauern hätten eigentlich schon ein Interesse an Dichtung, doch müsste sie halt eben adäquater sein. Doch ist es offensichtlich, dass als Leserschaft literarischer Publikationen auch in den 1950er-Jahren nicht das allgemeine «Volk» angenommen werden kann, sondern vielmehr das Bildungsbürgertum, Lehrer, Pfarrer, Ärzte, Ingenieure und ihre Familien. Vorbehalte gegenüber Andri Peers Gedichten äussert auch die Cumischiun litterara zum Zyklus Battüdas d ’ ala von 1955. In ihrem Gutachten hält die Jury fest, mehr als zwei Drittel der Gedichte hätten den meisten nicht gefallen. Zustimmung erhalten die Sonette und kürzeren Gedichte. Aus dem im Nachlass aufbewahrten Schreiben geht jedoch eine heftige Ablehnung für die längeren, lyrischen Gedichte hervor. Die Vermischung verschiedener Register, unverständliche Paradoxe und die Überladung mit verwirrenden Bildern werden bemängelt. Abschliessend wird festgehalten, diese neue, konstruierte Dichtung sei eitel, aufgeblasen und wenig geistreich: Cha alchünas algordan ad ün lavuratori dad alchemia, esa gnü dit . . ., cha fuormulaziuns sco «puolvrus ed aiver davomezdi» sajan paradoxs ch ’ ingün nu possa incleger, cha la bastardanza tanter lirica ed epica detta sülla gnierva, cha la prova da captivar il temp nu saja bricha gratiada, cha plüs temas chi dumandessan almain da tuot ün ritmus da gesta, dvaintan cunfus e surchargiats da visiuns. [. . .] Conclusiun: Poesias nun as poja «fabrichar». La fuorma nouva cha A. P. tschercha quia es massa svanecla per laschar cular in ella ün vast spiert. (P EER SLA, D-2-b, Filisur im Februar 1955) Diese Kritik beleidigt und verunsichert Andri Peer zutiefst. Sie ist wohl ein Grund dafür, dass er sich in den folgenden Jahren vermehrt in anderen Gattungen versucht. Gleichzeitig bemüht er sich ausserhalb der Rätoromania um einen Anschluss an die zeitgenössischen Schweizer Lyriker. In einer Rezension der Zeitschrift Risultive mit aktueller Dichtung aus dem Friaul umschreibt Andri Peer aber, was diese andere Kleinliteratur der Bündnerromanischen Kultur voraus habe: Auch die Friulaner seien daran, ihre alte, traute Sprache in eine zeitgemässe Form zu bringen, die sich an der europäischen Moderne - und nicht etwa an der dialektalen Volksliteratur - orientiere. Die Friulaner hätten jedoch ein weit grösseres Publikum und vor allem sei dieses durch die Lektüre der grossen italienischen Dichter geschult. Gerade deshalb seien die friulanischen Dichter viel freier, ihre Sprache gemäss ihrem persönlichen Ausdrucksbedürfnis zu formen (cf. P EER 1957). 320 Annetta Ganzoni Die Kritiken zu den ersten Publikationen Peers zeigen ganz konkret die in der Theorie zur Rezeptionsästhetik dargelegte Problematik einer neuartigen Dichtung, die beim Leser auf völlig ungeeignete Erwartungen trifft. Hans Robert Jauss stellt fest, die ästhetische Erfahrung werde auch als Bestandteil der Alltagsrealität gesehen. Erfahrungen, welche den üblichen Normen und verfestigten Erwartungen nicht entsprechen, können somit thematisiert, bestätigt oder problematisiert werden. In einer solchen Auseinandersetzung wird dem Leser jedoch auch die Möglichkeit gegeben, neue Aspekte der Welt kennen zu lernen. Hier liegt eine wichtige Funktion der Kunst, sie kann gesellschaftliches Verhalten formen, aber auch motivieren und ändern (J AUSS 1982: 751). Die Entwicklung der Kritik von Peers Lyrik kann als exemplum für eine solche Veränderung kultureller Erwartungen in einer spezifischen Gesellschaft gesehen werden. 3. Autorinnen und Autoren vermitteln In der erwähnten Kritik kommt unter anderem ein Generationenkonflikt zum Ausdruck, denn in den 1950er-Jahren schreiben auch weitere Autoren literarische Werke, die aus formalen und inhaltlichen Gründen nicht den Vorstellungen der «Volksliteratur» entsprechen. Es kommt somit Bewegung auch in die kleine romanische Literaturwelt, es entsteht ein Spannungsfeld zwischen einem an der zeitgenössischen Modernität orientierten künstlerischen Anspruch einerseits und einem recht heterogenen, tendenziell ländlichkonservativen Publikum anderseits. Cla Biert etwa stösst mit der erotischen Erzählung La runa auf Widerstand, Hendri Spescha mit seinem sozialpolitischen Hörspiel E tut quei che nus vein da retscheiver. Es erstaunt deshalb nicht, dass vor allem Autorinnen und Autoren - die meisten sind ebenfalls Lehrer - versuchen, das kleine und einzig mögliche Publikum für romanische Literatur durch Rezensionen und Radiosendungen weiterzubilden und an die moderne Literatur heranzuführen. In einem seiner Artikel hebt Oscar Peer u. a. hervor, ein Gedicht müsse weder klar noch logisch sein, es sei vielmehr eine Charakteristik der Kunst, dass sie sich nicht auf den ersten Blick durchdringen lasse, sondern Tiefe und Geheimnisvolles bewahre (cf. O. P EER 1955). Jon Semadeni ist überzeugt davon, dass sich die Jugend zur modernen Dichtung hingezogen fühle und unterstützt die Lehrpersonen darin, diesen «poet massa modern» für den Unterricht aufzubereiten: «Eir scha sias poesias nu sun e nu vöglian esser popularas i ’ l solit sen dal pled, schi ais lur cuntgnü üna manifestaziun da s-chet spiert e sentimaint rumantsch engiadinais.» (S EMADENI 1963: 3). Auch Luisa Famos beschäftigt sich in ihrer Präsentation von Sgrafits mit der Frage, wie Dichtung verstanden werden solle: 321 Andri Peer - Zur Rezeption moderner Lyrik in einer Kleinkultur I ’ s sto resentir la poesia e na incleger cul tscharvè. I ’ s sto gustar la poesia. La poesia es differenta per minchün. Chi po exprimer in pleds quai ch ’ el resainta in dudind ün concert da Bach o da Mozart o in dudind üna chanzun rumantscha in terra estra? Chi po dir quai cha ’ l prossem resainta lapro? Uschea esa eir cun la poesia. Sco l ’ amur, es la poesia in mincha cour, mo sia spessüra es misteriusa. (F AMOS 1960, in P EER 2011: 424) Famos betont die Subjektivität jeder Lektüre und äussert damit Erkenntnisse aus den zeitgenössischen Kunsttheorien, welche die humanistische Vorstellung einer allgemein gültigen, objektivierbaren Aussage des Kunstwerks allmählich ablöst. Sie scheint zwar die nicht ganz neue Auffassung zu vertreten, ein Gedicht müsse mit dem Herzen verstanden werden. Doch betont Famos, durch die künstlerische Bearbeitung entstehe eine «geheimnisvolle Dichte» des Textes. Zu dieser dunklen, undurchdringlichen Kunst in Anlehnung an die hermetische Dichtung Mallarmés oder die Überzeugung Eliots, moderne Dichtung müsse schwierig sein, äussert sich auch Cla Biert in einer Radiosendung zur Peers Gedichtband Clerais von 1963. Er fragt sich, warum der Modernität in der Technik mit Bewunderung, in der Dichtung aber mit grosser Skepsis begegnet werde: L ’ artist ha improvà da tuots temps da gnir a tapin [. . .] cun quel muond i ’ l qual el ha vivü. El improva da dar expressiun ad ün nouv möd da verer e sentir las chosas [. . .]. Il poet modern sa, güsta scu ’ l scienzchà modern, cha las categorias tradiziunalas, umanisticas nu bastan per penetrar muond e cosmos. [. . .] Mo nun es quai curius, dal scienzchà la glieud as fida plüchöntsch co dal poet! I vain admiss cha ’ l scienzchà fetscha lavur seriusa, eir in üna fisica abstracta chi serva i ’ l concret a la guerra. Dal poet vaina dit ch ’ el fetscha robas chi nu ’ s inclegia. Tscherta, quai chi ’ d es s-chür, misterius, na inclegiantaivel, quai scuraschescha, ed irritescha. Mo i attira eir, perfin ils irritats. Haja ün sen da vulair trar a glüm per forza quai chi ’ d es e forsa resta s-chür? Eu nu craj. (B IERT 1964) Diese öffentliche Auseinandersetzung um moderne Literatur der 1950er- und 1960er-Jahre verändert nachweislich die Lesererwartung, es entwickelt sich in der Rätoromania eine Öffnung gegenüber neuen literarischen Formen und Inhalten. Ausserhalb der Rätoromania kann Andri Peer in den 1960er- und 1970er- Jahren bei den intensiven Bemühungen um einen sprachübergreifenden Kulturaustausch der schweizerischen Literaturszene anknüpfen (dazu auch G ANZONI 2011). Das romanisch-deutsche Bändchen Sgrafits, das 1959 in Zürich bei Rascher erscheint, ist die erste romanische Gedichtpublikation mit synoptischer Übersetzung, die in den damals umfangreichen Feuilletons entsprechend beachtet wird. Interessantere Präsentationen und Rezensionen auch in der deutschsprachigen Presse sind meist von Kritikern geschrieben, die sowohl Peers bisheriges Werk als auch die allgemeine bündnerromanische 322 Annetta Ganzoni Literatur und Sprache kennen. Gelobt wird insbesondere Peers innovative Sprachgestaltung und mitreissende Kreativität (cf. P ULT 1961). Doch, trotz der nunmehr breiten Anerkennung, bekunden verschiedene Kritiker weiterhin Schwierigkeiten mit der phantasievollen, auch überbordenden Bildhaftigkeit von Peers Gedichten. So schreibt Gustav Siebenmann zur Sammlung Clerais von 1963, der Überraschungseffekt der Metaphern drohe bei einer mehrmaligen Lektüre zu verpuffen und es fehle seinen Bildern an kohärenter Symbolik (cf. S IEBENMANN 1964). Wie sich an verschiedenen Beispielen feststellen lässt, sind gerade solche konkrete Kritiken wichtige Impulse für Peers weitere poetische Arbeit: Im Lauf der Jahrzehnte verschwinden surrealistische und phantastische Elemente, die Texte werden tendenziell kürzer, konzentrierter und weniger pathetisch, Metaphern werden zurückhaltend verwendete und die Gedichte persönlicher gestaltet. Diese Veränderungen werden allgemein positiv bewertet. 4. Eine neue Generation Eine dritte Phase in der Rezeption von Peers dichterischem Werk beginnt mit den Rezensionen der Folgegeneration etwa ab 1970. Entsprechend den gesellschaftspolitischen Veränderungen wandeln sich in dieser Zeit die Leseweise, die Wahrnehmung sowie die formulierten Anforderungen an Dichtung, die nun engagiert und authentisch sein soll. Die jüngere Generation vermisst deshalb in Peers Gedichten ein ausgerichtetes, gesellschaftspolitisches Anliegen. In der von Bernard Cathomas verfassten Kurzpräsentation der Sammlung Il chomp sulvadi für die Gasetta Romontscha wird beispielweise behauptet, Peer gehe die Einfühlung und das Engagement für die Probleme der Aktualität ab, der Reinheit seiner Gedichte fehlten die Disharmonien der modernen Welt und man könne sich fragen, ob eine solche Lyrik noch zeitgemäss sei: Legend quellas poesias, sedamond ’ ins denton tuttina mintgaton, schebein ina lirica aschi pura e harmonionta seigi aunc verdeivla (e valeivla) el mund ded oz ch ’ ei plein disharmonias e disproporziuns. Senza engaschament e sensori per la problematica dil mund actual scaffescha il poet Peer in mund magari fictiv, el qual il malesser modern ei ton sco scungiraus. (C ATHOMAS 1975) Nachdem Peer also jahrzehntelang bei der älteren Generation als zu modern und gewagt-unruhig gegolten hatte, gerade weil er auch Tabuthemen, Widersprüche und Spannungen in seinen Gedichten thematisierte, gerät er nun unverhofft bei der jüngeren, die sein früheres Werk und dessen Kontext offenbar nicht kennt, in die Kategorie des allzu harmonischen, altertümlichen Klassizismus. In dieser Einschätzung findet die formelle Seite der Gedichte wenig Beachtung, nur das gesuchte Vokabular und der elitäre Anspruch Peers 323 Andri Peer - Zur Rezeption moderner Lyrik in einer Kleinkultur befremden. Doch auch die 1968er-Generation findet, wie frühere Kritiker, im «Geheimnisvollen» von Peers Lyrik etwas Positives: die moderne, hermetische Dichtung scheint gerade durch ihre künstlerisch geformte, komplexe und vielschichtige Mehrdeutigkeit jenseits des Rationalen einen ansprechenden, magisch-religiösen Nimbus zu erhalten. 5. Schluss Nach einem schwierigen Start haben Peers Gedichte während ihrer Reifephase vieles zu einem aktuelleren Literaturverständnis seiner Zeitgenossen beigetragen. Im Gegenzug hat gehaltvolle Kritik das Schaffen Peers, der durch die Weiterentwicklung seiner Kunst auch einen Weg zu einem Publikum suchte, entscheidend mitgeprägt. Doch während der Dichter in seiner ersten Schaffenszeit sehr innovativ war, konnte oder wollte er in der zweiten Lebensphase wichtige kulturpolitische Veränderungen in seinem lyrischen Werk nur ansatzweise integrieren. Deshalb imitierten die jüngeren Generationen Peer zwar in vielem, würdigten ihn jedoch nicht, wie er es erwartet hatte. Angesichts dieses Tatbestands wird die Enttäuschung des Dichters nachvollziehbar, der in seiner Zeit nicht die gebührende Anerkennung finden konnte. Doch, wie etwa die Zeitungsnotiz von Marika de Martinis in der Neuen Bündner Zeitung nach der zweisprachigen Edition durch Iso Camartin von 1988 zeigt, finden Peers Gedichte auch nach seinem Ableben immer wieder ihr Publikum: Um diesen Gedichtband ist man froh. Auch im EDV-Zeitalter. Die Reisen nach Norden und nach Süden, die Reisen zurück in die Antike, die Reisen nach seelischen Destinationen: Sie faszinieren, sie berühren. [. . .] Andri Peer, der europäische Schriftsteller aus dem Unterengadin: er bleibt unvergesslich. (M AR- TINIS 1989) 6. Bibliographie 6.1 P EER , Andri: Texte, Sendungen und Materialien P EER , Andri 1955: Battüdas d ’ ala, Winterthur, Ediziun da l ’ autur. P EER , Andri 1957: «Risultive». Baderlada da la giuvna poesia furlana. Zavrà our dal Fögl Ladin Samedan 1957: 3 - 11 (auch in: Fögl Ladin 3.5/ 7. 5. 1957), nun in: P EER , 2011: 144 ff. P EER , Andri 1959: Sgrafits. Rätoromanische Gedichte mit deutscher Übersetzung von Urs Oberlin, Zürich, Rascher&Co. P EER , Andri 1963: «Impissamaints», Fögl Ladin 26. 2. 1963 und 5. 3. 1963. 324 Annetta Ganzoni P EER , Andri 1980: Refügi. Gedichte, rätoromanisch und deutsch, Zürich, Wado, Schweizer Autoren P EER , Andri 1988: Poesias/ Gedichte. Übersetzung von Herbert M EIER , ed. Iso C AMARTIN , Disentis, Desertina P EER , Andri 2003: Poesias 1946 - 1985, (ed. Clà R IATSCH ), Cuoira, Desertina. P EER , Andri 2008: Andri Peer e ses temp en documents audiovisuals istorics. Intervistas, recitaziuns da poesias, gieus radiofonics e critica litterara (1947 - 1982) or dals archivs da Radio e Televisiun Rumantscha, (ed. Annetta G ANZONI ), Bern, Schweizerische Nationalbibliothek/ Schweizerisches Literaturarchiv. P EER , Andri 2009: Bibliografia Andri Peer/ Bibliographie Andri Peer, (ed. Dumenic A NDRY , Renzo C ADUFF , Annetta G ANZONI und Clà R IATSCH ), www.nb.admin.ch/ sla. P EER , Andri 2011: Andri Peer, Essais, correspundenza e critica 1947 - 1994, (ed. Dumenic A NDRY , Renzo C ADUFF , Annetta G ANZONI und Clà R IATSCH ), Romanica Raetica 19, Cuira, Societad Retorumantscha. P EER , Andri, SLA: Manuskripte und Notizen aus dem Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv. 6.2 Primärliteratur B IERT , Cla 1956: La runa, nun in: id., Das Gewitter und andere Erzählungen/ Betschlas malmadüras ed oters raquints, ed. und mit einem Nachwort von Mevina P UORGER ; Übersetzungen aus dem Rätoromanischen von Andri P EER et al., Zürich, Limmat- Verlag, 2009. R AUCH , Men 1953: Il bal da schaiver nair. Poets ed illetrats ladins, Samedan, Stamparia engiadinaisa. S PESCHA , Hendri 1955: E tut quei che nus vein de retscheiver. Hörspiel, s. l. 6.3 Sekundärliteratur B IERT , Cla 1964: «Poesias nouvas da Andri Peer. Cla Biert sur da Clerais», in: Emissiun per ils Retorumantschs, 4. 9. 1964, nun in: Peer 2008. C ARATSCH , Reto 1949: «La saireda litteraria», Fögl Ladin 22.3. und 25. 3. 1949. 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M., Suhrkamp. 325 Andri Peer - Zur Rezeption moderner Lyrik in einer Kleinkultur M ARTINIS de, Marika 1989: «Andri Peer in Aberystwith», [Neue Bündner Zeitung] 5. 5. 1989. M ÜTZENBERG , Gabriel 1957: «Andri Peer, poète de l ’ Engadine, a trouvé un compositeur en Romandie», in: La Tribune de Genève, 21/ 22. 12. 1957, nun in: P EER 2011: 416 ff. P EER -S TUDER , Erica 1994: «Purtret biografic», Quarto 3 - 1994: 12 - 24. P EER -S TUDER , Erica 2003: «Sur dad Andri Peer», in: P EER 2003: 469 - 474. P EER , Oscar 1955: xy (alias), «Amo ’ na jada «Larschs vidvart l ’ En»», Fögl Ladin 11. 10. 1955, nun in: P EER 2011: 404 ff. P ULT , Jon 1961: Andri Peer: «Suot l ’ insaina da l ’ archèr», Neue Bündner Zeitung 1. 3. 1961. R IATSCH , Clà 2003: Nachwort mit «Biografia» und «Aspets da l ’ ouvra poetica dad Andri Peer», in: P EER 2003: 475 - 522. S EMADENI , Jon 1963: ««Larschs vidvart l ’ En» - üna poesia dad Andri Peer», in: Texts romontschs Radioscola 8, 1963, 38,1: 3 - 10. S IEBENMANN , Gustav 1964: ««Clerais» - Gedichte von Andri Peer», in: P EER 2011: 437 ff. Online-Nachschlagewerk: www.hls-dhs-dss.ch 326 Annetta Ganzoni Teil IV Sprachpolitik Part IV Politica da linguatgs Peider Lansel und die staatspolitische Dimension der «questione ladina» in der Schweiz Rico Franc Valär Im Rahmen meiner Forschungsarbeit zu Peider Lansel 1 , habe ich mich bewusst nicht mit seinem von Andri Peer detailliert aufgearbeiteten literarischen Schaffen befasst 2 , sondern mit den Essays und der Korrespondenz aus seinem umfangreichen Nachlass, die eine neue Perspektive auf die rätoromanische Heimatbewegung von der Jahrhundertwende bis zur Zwischenkriegszeit ermöglichen. Neben dem Entstehungskontext und dem Verlauf der «rätoromanischen Renaissance» 3 und ihrem Bezug zu Bewegungen «nationalen Erwachens» anderer romanischer Kleinsprachen Europas im 19. Jahrhundert, «reveil des petits nationalismes» 4 , wie sie Georg Bossong nennt, interessierten mich insbesondere die ideologische und personelle Verwebung der rätoromanischen Spracherhaltungsbewegung 5 mit dem neohelvetischen Nationalismus 6 sowie die staatspolitischen Aspekte der «questione ladina». Dieser Beitrag soll anhand von verschiedenen Publikationen, Briefen, Zeitungsartikeln und sprachkämpferischen Essays aus Peider Lansels Nachlass illustrieren, wie die von Graziadio Isaia Ascoli Ende des 19. Jahrhunderts aufgeworfene Frage um das Verhältnis zwischen den «dialetti ladini» und den «dialetti italiani» im Zuge des gesteigerten deutschen, italienischen und schweizerischen Nationalismus des beginnenden 20. Jahrhunderts an politischer Brisanz gewann, bis die sprachliche und kulturelle Eigenständigkeit des Rätoromanischen dann vor dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz zur «nationalen Frage» stilisiert wurde. 1 V ALÄR 2007; 2008; 2011; 2012 2 P EER 1966 3 Zur «rätoromanischen Renaissance» cf. B EZZOLA 1979; B ILLIGMEIER 1983; C ORAY 2008; D EPLAZES 1991; D ERUNGS -B RÜCKER 1974, 1980, 1987, 1992; E GLOFF 1985, 1987; M ATHIEU 1988 4 B OSSONG 1996: 611 s. 5 Zum Begriff cf. C ORAY 2008: 75 6 Dazu insbesondere C LAVIEN 1993; M ATTIOLI 1992, 1994, 1995 1. Ni Talians, ni Tudais-chs! In einer seiner ersten bedeutenden wissenschaftlichen Publikationen, seinen Saggi Ladini von 1873, befasst sich Graziadio Isaia Ascoli mit dem Verhältnis der italienischen mit den ladinischen Dialekten, die Theodor Gartner später als «rätoromanisch» bezeichnet. Ascolis zwei zentrale Postulate sind, dass sich die «ladinische» und die italienische Dialektgruppe durch verschiedene Wesensmerkmale unterscheiden, und dass die drei «ladinischen» Dialektgruppen Graubünden, Dolomiten und Friaul eine Einheit bilden, die «unità ladina» 7 . Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beginnen sich immer mehr ausländische Wissenschaftler für das Rätoromanische zu interessieren 8 . Ein Werk, das in Graubünden und Italien hohe Wellen schlägt, ist das 1900 erschienene Buch Die Germanisierung der Rätoromanen in der Schweiz des deutschen Nationalökonomen August Sartorius von Walterhausen. Darin beschreibt der Autor, wie ihm der «Vernichtungsvorgang» des Rätoromanischen, dem er «ohne Sentimentalität» zusehe, «eine Befriedigung nationalen Bedürfnisses» verursache, denn er sei der Meinung, «dass diesem tüchtigen und gesunden Alpenvolke die Segnungen der höheren deutschen Kultur zum Wohle gereichen werden», weil «eine wahrhaft produktive Geisteskultur doch nur erlangt [wird] im engsten Anschmiegen an eine hoch entwickelte Sprache» 9 . Er prophezeit die gänzliche Ausrottung des Rätoromanischen etwa für das Jahr 1920 und stellt fest: «Wenn Graubünden einmal ganz deutsch sein wird, so wird man sich über den Verlust der romanischen Sprache in deren bisherigem Gebiete vielleicht mit dem Gedanken trösten, dass man an Sprachqualität kulturell mehr gewonnen als an Quantität eingebüsst habe. Dieser Trost scheint mir begründet zu sein.» 10 Auch italienische Wissenschaftler beschäftigen sich in jenen Jahren mit dem Rätoromanischen. So beschreibt Giorgio Del Vecchio, Rechtsgelehrter in Sassari und Bologna, 1909 im Giornale d ’ Italia wie die pangermanistische Propaganda im damals noch österreichischen Südtirol wie auch in Graubünden, ganz verkehrte nationale Ideen verbreite. Gemäss Del Vecchio fördern die Pangermanisten den regionalen Partikularismus und schaffen damit 7 A SCOLI 1873; G ARTNER 1883, 1905, 1910; eine Übersicht zum Thema findet man beispielsweise in L IVER 1999 8 Dazu beispielsweise D ECURTINS 1964, 1965, 1993 9 S ARTORIUS 1900: 56 10 S ARTORIUS 1900: 96 330 Rico Franc Valär sowohl in linguistischer, wie auch historischer und ethnischer Hinsicht eine künstliche Antithese zwischen Ladinisch und Italienisch. Er fragt sich: «Come è possbile che il popolo engadinese non riconosca nell ’ italiana la lingua madre e la più adatta a integrare, per tutti glio scopi della cultura, le riconosciute manchevolezze del nativo dialetto, e si dica pure lingua romancia? » 11 Auch in seinem zweiten wichtigen Artikel, Le valli della morente italianità - Il «ladino» al bivio, postuliert Del Vecchio, Italien müsse sich, um grösseren Schaden zu verhindern, des Rätoromanischen annehmen, denn es handle sich dabei um Reste der Latinität, die im Grunde nichts anderes sei als «nostra italianità» 12 . In dieser subtilen Neuinterpretation der Latinität als Italianität steckt der Keim des später immer aggressiveren irredentistischen Gedankengutes. Zudem empört sich Del Vecchio, die Ladiner und Rätoromanen hätten ein überaus enges Konzept der eigenen «nazione», das gänzlich von regionalistischem Partikularismus geprägt sei und sie daran hindere, sich als Teil einer grösseren Volksseele zu fühlen 13 . Carlo Salvioni, der bedeutende Professor für Dialektologie in Mailand, verschreibt sich 1912 ebenfalls der «Erlösung» des Rätoromanischen. In seinem Artikel Una lingua moribonda bedauert er die moralische Abwendung der Rätoromanen von Italien, denn er sieht die einzige Rettung ihrer Sprache in einer entschiedenen intellektuellen Orientierung nach Italien: «L ’ unica salvezza per la loro lingua è quella d ’ un deciso orientamento intellettuale verso l ’ Italia.» 14 Diese Artikel wurden in der Schweiz verschiedentlich besprochen. Eine der ersten Reaktionen auf Salvionis Artikel aus der Feder von Chasper Bardola findet man bereits wenige Wochen nach dessen Erscheinen im Fögl d ’ Engiadina. Unter dem Titel Üna lingua moribunda publiziert Bardola eine integrale romanische Übersetzung des Artikels mit einem persönlichen Kommentar. Er bemerkt, Salvionis «prognosticum» des nahen Aussterbens des Romanischen treffe am ehesten noch auf das Friaulische zu, wo die italienische Sprache und Kultur dem lokalen Dialekt schon sehr geschadet hätten. Das Rätoromanische sei in Graubünden voller Lebenskraft und werde Salvioni und die Zeitschrift Il Marzocco womöglich um ein Gutes überdauern. 15 Die ausführlichste und in der Folge am häufigsten zitierte Replik auf die Artikel von Carlo Salvioni und Giorgio Del Vecchio ist der Essay Chi sun e che 11 D EL V ECCHIO 1909 12 D EL V ECCHIO 1912: 21 13 D EL V ECCHIO 1912: 14 s. 14 S ALVIONI 1912 15 B ARDOLA 1912 331 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» vöglian ils Romanschs? von Peider Lansel, der in 14 Folgen vom 1. Februar bis zum 10. Mai 1913 im Fögl d ’ Engiadina erscheint und später als Separatdruck unter dem Titel Ni Italians, ni Tudais-chs! eine breite Wirkung findet. In diesem ausführlichen Aufsatz erläutert Peider Lansel mit «historischen Exkursen» und «unverrückbaren Tatsachen» die effektive sprachliche und kulturelle Situation der Rätoromanen und unterstreicht deren geeinten Willen, die eigenen Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen, ohne Einmischungen von aussen zu dulden, um die Bildung einer «zona irredenta» entschieden zu verhindern. 16 Interessant scheint in diesem Zusammenhang Lansels wiederholter Verweis auf das Problem der ‹ Nation › . Er ist überzeugt, das damals in Europa, besonders in Österreich, herrschende «Chaos von Rivalitäten, Hass und Gelüsten» habe mit den Aufwiegeleien der Panslavisten, Irredentisten und Alldeutschen zu tun 17 . Er kritisiert die aggressive Sprachpropaganda, die schlussendlich einzig und allein politische Ziele verfolge und auf dem chauvinistischen Dogma basiere, dass Sprache gleich Nation sei. Diesem Gedankengut erwidert Peider Lansel mit Ernest Renans 1882 an der Sorbonne gehaltenen Vortrag Qu ’ est-ce qu ’ une nation? . Entgegen der in der Romantik gängigen, besonders in Deutschland (z. B. von Johann Gottlieb Fichte in seinen Reden an die Deutsche Nation) entwickelten Idee, dass sich eine Nation über Sprache, Kultur, Religion, Rasse oder durch geographische Gegebenheiten definiere, hielt Renan fest: «l ’ homme n ’ est esclave ni de sa race, ni de sa langue, ni de sa religion, ni du cours des fleuves, ni de la direction des chaînes de montagnes. Une grande agrégation d ’ hommes, saine d ’ esprit et chaude de c œ ur, crée une conscience morale qui s ’ appelle une nation.» Die Basis für einen nationalen Zusammenhalt bildeten gemäss Renan die Vergangenheit und die Gegenwart, «la possession en commun d ’ un riche legs de souvenirs» und «le consentement actuel, le désir de vivre ensemble, la volonté de continuer à faire valoir l ’ héritage qu ’ on a reçu». Die Sprache lade lediglich dazu ein, sich zu vereinen, sie zwinge nicht dazu: «La langue invite à se réunir; elle n ’ y force pas.» Renans Argumentation zufolge haben die Menschen eine höhere Gabe als die Sprache, nämlich ihren Willen. Deshalb gelte dieser freie Wille als erstes Prinzip, und eine Nation gründe auf dem Willen einer Gemeinschaft, zusammen eine Gegenwart und eine Zukunft zu gestalten. Die Nation sei «une grande solidarité», sozusagen «un plébiscite de tous les jours». Als Paradebeispiel für eine «Willensnation» spricht Renan in seiner Konferenz mehrmals von der Schweiz. 18 16 L ANSEL : Bibliografia essenziala, undatiert. Schweizerisches Literaturarchiv Bern (SLA), Nachlass Lansel, Mappe D-1-a 17 L ANSEL 1913: 18 18 G IRARDET 1996: 236 - 242 332 Rico Franc Valär Del Vecchio hat behauptet, die Rätoromanen seien an einem «bivio», an einer Weggabelung angelangt und müssten sich zwischen Italienisch und Deutsch als Hochsprache entscheiden. Lansels Antwort lautet jedoch unzweideutig: «Ni Italians, ni Tudais-chs! » Für ihn haben die Rätoromanen das grösste Interesse daran, ihre Sprache zu bewahren, einerseits aus Ehrerbietung für Heimat und Ahnen und andererseits wegen ihrer unleugbaren Nützlichkeit für das Erlernen von Fremdsprachen, denn sie funktioniere sozusagen als Sprachenschlüssel. Lansel publiziert seinen Essay als bibliophilen Separatdruck und verschickt ihn an Intellektuelle in der Schweiz und in Italien. Reaktionen in Presse und Korrespondenz kommen postwendend. Lansels Mut und Verve lobend, verwerfen alle Stellungnahmen Del Vecchios und Salvionis Thesen und Forderungen. Lansels Motto wird zum Wahlspruch der Rätoromanen erklärt, sein Essay als ein Statement von nationaler Bedeutung betrachtet. So hält beispielsweise der Zürcher Romanist Jakob Jud in der NZZ fest: «[Lansel hat sich] unberufenes Eingreifen in eine innerbündnerische Frage in höflicher, aber bestimmter Form verbeten, dafür dürfen ihm alle die, welche den sprachlichen Frieden der Schweiz als köstlichstes Sondergut preisen, den wärmsten Dank zollen.» 19 Brenno Bertoni lobt in La Rezia: «Il nazionalismo ha ispirato al prof. Del Vecchio, distinto giurista dell ’ ateneo Bolognese, questa strana ed infelice tesi . . . che solo freno alla germanizzazione sia per i romanci l ’ adottare come lingua letteraria l ’ italiano, lasciando scadere il romancio al grado di dialetto . . .. Primo in importanza fra i contradditori del prof. Del Vecchio e del Salvioni è il Peider Lansel.» 20 Der einflussreiche Freiburger Aristokrat und Intellektuelle Gonzague de Reynold 21 kritisiert, die Italiener ignorierten alles in Zusammenhang mit der Schweiz: Geschichte, Traditionen und politische Organisation. «Notre pays, c ’ est toujours pour eux, un vaste ‹ palace-hôtel › . . . . Pour eux langue et nation sont synonymes.» Die Antwort Lansels auf die Behauptungen der italienischen Wissenschaftler betrachtet er als äusserst wichtig: «La brochure de M. Lansel est d ’ une extrême importance, et puis elle est sans réplique. D ’ abord, parce que les Italiens revendiquaient pour un des leurs M. Lansel qui a vécu en Italie et que passe même dans les Grisons pour un adversaire irréductible du germanisme; ensuite, parce que M. Lansel est le 19 J UD 1913 20 B ERTONI 1913 21 Zu Reynold cf. M ATTIOLI 1994, 1995 333 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» principal écrivain, actuellement, de l ’ Engadine; enfin, parce qu ’ il a su élever les débats. Sa brochure est, en somme, la meilleure étude que nous possédions sur la Suisse rhétoromane, sa situation, son histoire, son esprit et sa volonté collective.» 22 Zusammenfassend kann man festhalten, dass die von Ascoli und anderen Sprachwissenschaftlern aufgeworfenen «linguistischen Fragen» vor dem Ersten Weltkrieg eine politische Dimension erhalten. Auf deutschen und italienischen Nationalismus antwortet man mit einem schweizerischen Standpunkt, wie ihn wenige Jahre später Carl Spitteler knapp und klar auf den Punkt bringt 23 . In diesen Jahren kann sich Peider Lansel schweizweit als ein Wortführer der Rätoromanen äussern, seine Aussagen werden im ganzen Land beachtet und als «volonté collective» verstanden. 2. Ladinia e Italia Statt nach diesen ersten Ausbrüchen zu verebben, erhitzt sich die Diskussion um die «questione ladina» und um die sprachliche und «nationale» Zugehörigkeit des Rätoromanischen im Verlaufe des Ersten Weltkrieges noch kräftig und wird ideologisch immer aufgeladener. Im Jahr 1917 hält Carlo Salvioni seine Antrittsvorlesung am Reale Istituto Lombardo di Scienze e Lettere in Mailand unter dem Titel Ladinia e Italia. Darin werden die «ladinischen Dialekte» Graubündens nach langen dialektologischen Analysen klar als «alpino-lombardisch» klassifiziert, und damit als eindeutig italienisch. Zudem wird in einer einseitigen Interpretation behauptet, schon Ascoli habe die Affinität der ladinischen zu den italienischen Dialekten festgestellt. Obwohl er seine Rede ganz explizit und pathetisch seinen im Krieg für Italien gestorbenen Söhnen widmet, stellt Salvioni klar, die ihm von verschiedener Seite gemachten Vorwürfe, er verfolge irredentistische Ziele, seien nichtig 24 . Seine Rede ist gemäss Thomas Krefeld geprägt von der «italienischen Nationalsprachideologie», welche eine einzige staatstragende Ausbausprache, eben eine Nationalsprache forderte und «von Beginn an mit starken irredentistischen Vorstellungen verbunden gewesen» war, und sie steht am Beginn der Ideologisierung der «questione ladina» 25 . Die «Überdachung» der «dialetti ladini» durch die italienische Nationalsprache bedeutet für Salvioni «un grande dovere verso la nazione» 26 . So postuliert Salvioni erneut für das 22 R EYNOLD 1913 23 S PITTELER 1915 24 S ALVIONI 1917: 61; K REFELD 2003: 200 - 205 25 K REFELD 2003: 205 26 S ALVIONI 1917: 68 334 Rico Franc Valär Rätoromanische Graubündens die Rettung durch die Einführung des Italienischen als Schriftsprache: «Ma il bene, in tale azione, prevarrebbe di gran lunga al male, poiché l ’ influsso italiano avrebbe per primo e necessario effetto di espurgare il ladino da una massa di tedeschismi inutili, immessi dallo snob, dall ’ asineria, dalla smania di ingraziarsi il forestiero. L ’ italiano farebbe casa netta, affinerebbe renderebbe più sicuro ai ladini il senso della parlata lor propria, ricondurrebbe questa alla dignità delle proprie origini, farebbe il ladino più latino.» 27 Salvionis Äusserungen finden unmittelbar heftigen Widerstand in der Schweiz, besonders unter Sprachwissenschaftlern. Das Zusammenleben der Schweizer ist während des Ersten Weltkrieges ein Dauerthema, Carl Spittelers Rede Unser Schweizer Standpunkt von 1914 hat als gewichtiger Beitrag zu dieser Debatte landesweite Aufmerksamkeit erhalten. So trifft Salvionis Rede einen wunden Punkt. Die ausführlichste Rezension und Kritik von Salvionis Artikel in der Schweiz stammt von Jakob Jud. Im Bündner Monatsblatt untersucht Jud unter dem Titel Ist das Bündnerromanische eine italienische Mundart? Salvionis Vorgehensweise und seine Thesen und er liefert eine ganze Reihe von sprachwissenschaftlichen und historischen Gegenargumenten. Jud situiert das Rätoromanische aus innerlinguistischer Sicht zwischen den hochitalienischen und den franko-provenzalischen Dialekten: «Man war sich bewusst, dass in manchen sprachlichen Zügen das Rätische bald mit den ober-italienischen Mundarten, bald mit den westschweizerischen, bald mit den ostfranzösischen Mundarten gemeinsam marschiert: aber gerade in dieser Vereinigung von in drei benachbarten Sprachgruppen nur einzeln vorkommenden sprachlichen Merkmalen, mit denen aber auch eine Anzahl ausschliesslich dem Rätischen zukommende Züge parallel gehen, erblickte man die Eigenart des rätischen Sprachtypus.» 28 Jakob Jud verweist dabei auf Ascoli, der ähnlich festgehalten hatte: «il distintivo necessario del determinato tipo sta appunto nella simultanea presenza o nella particolar combinazione di quei caratteri» 29 . Neben dem Aufzeigen verschiedener methodischer und inhaltlicher Fehler bei Salvioni, betont Jud das Sprachbewusstsein der Rätoromanen und ihren «Autonomiewillen», welcher unter anderem in den Schriften Peider Lansels deutlich werde. Jud weist darauf hin, die innersprachliche Nähe zwischen zwei Sprachen sage nichts über die kulturelle und nationale Verwandtschaft zweier Völker aus: «In dem Hause, das der Bündner seit mehr als tausend Jahren ohne Hilfe fremder Baumeister, ja oft gegen den Willen seiner heute so ‹ hilfsbereiten › reichsitalieni- 27 S ALVIONI 1917: 66 28 J UD 1917: 129 29 G OEBL 2000: 137 335 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» schen Nachbarn sich nach seinem Geschmack und seinen Bedürfnissen eingerichtet hat, will er Herr und Meister auch für die Zukunft bleiben. (Peider Lansel hat in seiner trefflichen Broschüre: Ni Italians ni Tudais-chs mit sicheren Strichen das Programm der Romanen für die Zukunft vorausgezeichnet.) . . . Ebenso haben die Bündnerromanen, trotz der ‹ wissenschaftlich › nachweisbaren engen Verwandtschaft ihrer Sprache - nicht aber ihres Volkes - mit den Idiomen der französischen Schweiz wie dem Lombardischen auf den Anschluss an die Literatursprache Italiens und Frankreichs verzichtet, weil eigenes starkes politisches, religiöses, geistiges, wirtschaftliches Erleben ihnen den Sinn für sprachliche Eigenart und Unabhängigkeit stählte.» 30 Eine weitere detaillierte Replik aus Schweizer Sicht stammt vom damals an der Sorbonne promovierenden und später international renommierten Schweizer Linguisten Walter von Wartburg. Seine Argumentationen decken sich weitgehend mit jenen von Jakob Jud. Er beobachtet bei Salvionis Aussagen ganz klar eine politische Färbung, was sich auch darin zeige, dass jener seine Rede seinen beiden im Krieg gegen Österreich gefallenen Söhnen gewidmet habe. Wartburg bewertet es als «peinlich und gefährlich zugleich, Wissenschaft und Politik miteinander zu vermischen» 31 . In heutige Konzepte gefasst könnte man mit Hans Goebl von einer «Vermischung inner- und ausserlinguistischer Behandlungsweisen sprachlicher Sachverhalte» 32 sprechen, oder mit Ricarda Liver von einer «Vermengung linguistischer und ausserlinguistischer Argumentation» 33 . Ende Mai 1917 veröffentlicht die NZZ eine Replik des Bündner Indogermanisten Robert von Planta unter dem Titel Rätoromanisch und Italienisch. Robert von Planta attestiert Salvioni Meisterschaft in der Analyse linguistischer Details, bemängelt jedoch, dieser gehe häufig von irrigen Annahmen aus und seine Forschungen basierten auf mangelhaftem und einseitigem Material. Planta gesteht die bedrohte Lage des Rätoromanischen ein, sieht jedoch in der italienischen Schriftsprache keine Rettung, im Gegenteil: «von beiden Seiten unterspült, würde das rätische Erdreich nur umso rascher abbröckeln». Es sei kontraproduktiv mit propagandistischen Artikeln und zweifelhafter Wissenschaft zu versuchen, eine jahrhundertelange Entwicklung bekämpfen zu wollen 34 . Im Fögl d ’ Engiadina nimmt der Engadiner Philologe Chasper Pult Stellung zu Salvionis Ausführungen. Wie Jakob Jud und Robert von Planta vor ihm, untersucht Pult Salvionis linguistische Argumentationen und wirft ihm 30 J UD 1917: 140,143 31 W ARTBURG 1917 32 G OEBL 1984: 208 33 L IVER 1999: 21 34 P LANTA 1917 336 Rico Franc Valär falsche Schlussfolgerungen vor. Das Rätoromanische habe ebenso sprachliche Züge des Französischen wie des Italienischen, was es jedoch noch lange nicht zu einem französischen Dialekt mache 35 . Auch in dieser zweiten Phase der Diskussion um die «questione ladina» kommt Peider Lansel eine wichtige Rolle zu. In seinem zweiten Essay Es il Romansch del Grischun ün dialect talian? hält er nochmals den romanischen und schweizerischen Standpunkt in dieser Frage fest. Den Schutz, den Salvioni von den Italienern und italienischsprachigen Schweizern für das Rätoromanische fordert, lehnt Lansel dankend ab. Seine Ansichten über das Zusammenleben der Sprachen in der Schweiz decken sich mit jenen Carl Spittelers, dessen berühmte Rede Unser Schweizer Standpunkt er ins Rätoromanische übersetzt hat. Lansel wirft Salvioni offen nationalistische und irredentistische Propaganda vor, die er aufs schärfste verurteilt: «Nus Romanschs, chi tgnain vi da nossa lingua materna cun tot noss esser e chi resguardain sco ün sonch dovair da mantgnair e cultivar quella, cumanzain ad avair dich et avuonda da quista agitaziun sainza fundamaint, chi nun ha nöglia da che far cun la ‹ seriusitad scientifica › e nianca cun la ‹ seriusitad › tout court. Ella sumeglia bleranzi sco ün got d ’ aua a tschel, a la propaganda dels naziunalists extrems.» 36 Dieser Essay wird ebenfalls als Separatdruck in Grossauflage an Intellektuelle, Wissenschaftler und Politiker der Schweiz und Italiens verschickt, diesmal unter dem Titel: Ni Italians, ni Tudais-chs! Rumantschs vulains restar! Dieses vielzitierte Motto zeigt exemplarisch, dass Solidarität und Exklusivität, wie von Georg Bossong postuliert, zusammen Identität konstituieren 37 . Hans Goebl spricht auch von einem Spannungsfeld zwischen «intra-group-similarity» und «inter-group-distance» 38 . Die simultane Abgrenzung gegen Aussen und Konsolidierung gegen Innen, die Lansel in eine einprägsame Formel fasst, sind gemäss Clà Riatsch bis heute typisch für die sprachpflegerischen Bemühungen der rätoromanischen Sprachvereinigungen 39 . 35 P ULT 1917 36 L ANSEL 1917: 7 37 B OSSONG 1994: 48, 1995: 33 s. 38 G OEBL 1984: 213 39 R IATSCH 1998: 49 337 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» 3. Mit Schweizer Diplomatie gegen die Irredentisten Während der ersten Hälfte der 1920er Jahre verändert sich die politische Situation der angrenzenden Nachbarn im Norden und Süden der Schweiz grundlegend. Die Weimarer Republik kämpft als Folge des Ersten Weltkriegs mit einer Hyperinflation und zahlreichen Umsturzversuchen. Insbesondere die nach den Versailler Verträgen geforderten Reparationen erweisen sich als Belastung und liefern den nationalistischen Gegnern der Republik Argumente für ihre Agitation gegen die «Erfüllungsrepublik». Nationalistische Parteien finden zunehmend Zulauf. Auch Italien leidet stark unter den Folgen des Krieges. Obwohl es zu den Siegermächten gehört und Julisch Venetien, das Trentino, Triest mit Istrien sowie das Südtirol annektieren darf, werden auch hier die Verträge von Versailles und Saint-Germain heftig kritisiert. Schulden, Arbeitslosigkeit und Enttäuschung über gebrochene Versprechen der Entente destabilisieren das Land und füllen die Reihen der Nationalisten. Im Oktober 1922 übernehmen die Faschisten mit dem Marsch auf Rom die Macht in Italien. Schritt für Schritt wandelt Mussolini das Königreich in einen totalitären Staat um und setzt sich als Duce an die Spitze von Volk und Staat. Das erklärte Ziel, das antike Römische Reich wieder herzustellen, stärkt die nationalistischen und irredentistischen Tendenzen in Italien. Der Irredentismus verliert seinen ursprünglich kulturell orientierten Charakter und wird zum Propagandamittel nationaler Expansionspolitik. In diesem neuen Sinn entwickelt sich in jenen Jahren ein militärisch und sprachlich begründeter nationalistischer Imperialismus, der die südlichen Gebiete der Schweiz als ins Regno einzugliederndes italienisches Kulturgebiet versteht 40 . Ein wichtiges Argument für die Annektierung war die Zugehörigkeit dieser Gebiete zum italienischen Sprachterritorium, welches gemäss verschiedenen italienischen Sprachwissenschaftlern eben nicht nur das Tessin und Südbünden umfasste, sondern auch die rätoromanischen Talschaften Graubündens. Der Inspektor der italienischen Eisenbahnen, Giulio Sironi, behauptet bereits 1918 in einem Artikel über das Tirol und Rätien, der Besitz Rätiens sei für Italien «un elemento di pace generale indispensabile» 41 . Die neu annektierten Gebiete sollten zusammen mit den italienischen Provinzen Sondrio, Belluno, Trevisio, Vicenza und Teilen der Provinzen Bergamo, Como, Brescia und Verona eine neue Region Italiens bilden, die «Rezia». Als Teile davon beschreibt Solmi die «Rezia Ticina» (Tessin, Misox, Calanca), die «Rezia Grigiona» (Engadin, Poschiavo), die «Rezia Tirolese» (Nordtirol, Vorarlberg) 40 B ROSI 1935; C ODIROLI 1990; D ERUNGS -B RÜCKER 1992: 191; H UBER 1955: 88,114 41 S IRONI 1918, zitiert in D ERUNGS -B RÜCKER 1974: 49 s. 338 Rico Franc Valär sowie die «Rezia Tridentina» (Südtirol) 42 . Paolo Vinassa de Regny entwirft das geographische Konzept der «catena mediana», welches die «natürliche Grenze der Wasserscheide» zwischen Italien und der Schweiz anstrebt, wodurch das Tessin und bedeutende Teile Graubündens, darunter auch rätoromanische Talschaften, für die italienische Sprach- und Kultursphäre gewonnen werden sollen 43 . Dies umso mehr, da - aus der Optik Italiens - der ethnische Charakter der italienischen Schweiz gefährdet ist und keine Gewähr mehr besteht, dass der italienische Standpunkt in der eidgenössischen Politik gebührend vertreten ist. Die erste Rede Mussolinis in der Abgeordnetenkammer zeigt die zu verfolgende Linie klar auf: der Gotthard gilt für ihn als natürliche und sichere Grenze Italiens 44 . Die damaligen Beziehungen zwischen Bern und Rom hängen entscheidend von den Beziehungen der Eidgenossenschaft zum Kanton Tessin ab. Dieser Tatsache wird Rechnung getragen, indem die Aussenpolitik in jenen Jahren dem gebürtigen Tessiner und italienfreundlichen Bundesrat Giuseppe Motta anvertraut wird 45 . Giuseppe Motta, bereits 1911 zur besseren Angliederung des Tessins an die Schweiz in den Bundesrat gewählt, wechselt, nach sieben Jahren im Finanz- und Zolldepartement 1920 in das aussenpolitische Departement 46 . In dieser politisch sehr angespannten Zeit sieht sich Peider Lansel 1926 wegen verschiedenen Todesfällen in der Familie gezwungen, die Führung der Familiengeschäfte in der Toskana wieder persönlich zu übernehmen und zieht nach Livorno. Im Jahr darauf wird er vom Bundesrat als Honorarkonsul in Livorno eingesetzt und steht von da an in engem Kontakt mit Georges Wagnière, dem Schweizer Gesandten in Rom, sowie mit Bundesrat Giuseppe Motta. Der italienische Irredentismus gegen die Schweiz sowie insbesondere gegen das Rätoromanische wird in den folgenden Jahren immer wieder zur Staatsaffäre. 3.1 Lansel als Schweizer Honorarkonsul in Livorno Eine erste Auseinandersetzung hat Peider Lansel als Konsul in Italien mit dem Sprachwissenschaftler Paolo Monelli, der im September 1927 im Corriere della Sera die altbekannten Forderungen und Thesen zur Italianität des Rätoromanischen wieder aufrollt und hinzufügt, man habe die ursprünglich italienischen Schulen im Engadin durch romanische ersetzt 47 . Einen Monat später 42 D ERUNGS -B RÜCKER 1974: 50 43 C OLLENBERG 1999 44 C OLLENBERG 1999: 116; H UBER 1955: 114; D ERUNGS -B RÜCKER 1992: 191 s. 45 R UFFIEUX 1974: 116 s. 46 R UFFIEUX 1974: 96 s.; I M H OF 1991: 201; zur «Aera Motta» cf. S PINDLER 1976: 57ss. 47 M ONELLI in Corriere della Sera, 17. September 1927, cf. D ERUNGS -B RÜCKER 1992: 197 s. 339 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» wird im Corriere della Sera die Antwort und Richtigstellung von Peider Lansel veröffentlicht, allerdings neben einer erneuten drei Mal längeren Stellungnahme von Monelli 48 . Lansels Korrespondenz mit dem Schweizer Gesandten in Italien zeigt, dass sein Vorgehen von höchster Stelle begrüsst und unterstützt wird 49 . Auch ein Redaktor des Fögl d ’ Engiadina fragt sich, warum die renommierte italienische Zeitung dilettantische Äusserungen eines Ignoranten wie Monelli publiziere, der «von unserer Sprachsituation soviel versteht wie eine Kuh vom Spanischen» 50 . Die bereits 1912 auf Initiative von Carlo Salvioni gegründete Zeitschrift Adula erscheint ab 1929 als Rivista retico-ticinese di cultura italiana und verkommt in den 1930er Jahren definitiv zu einer faschistischen Propagandazeitschrift, bis sie 1935 in der Schweiz verboten wird. Die Adula publiziert zum Jahreswechsel 1930/ 31 den Almanacco della Svizzera italiana worin einerseits die Wasserscheidetheorie propagiert wird, andererseits mit pseudoromanischen Artikeln «aus dem Engadin» im Namen der Rätoromanen die Italianität ihrer Sprache anerkannt wird. In erfundenem Romanisch wird ekstatisch heraufbeschworen, wie, «als das alte Rom noch sein Licht in die Welt entsandte, sowohl das Tessin als auch Graubünden zu Italien gehörten und unsere Vorfahren die grosse Ehre hatten, sich Bürger Roms zu nennen» 51 . Es wird also die antike Romanität mit der grossnationalen Italianität gleichgesetzt. Die Pro Grigioni Italiano und die Lia Rumantscha protestieren gemeinsam in der Bündner Presse gegen diese anmassenden Aussagen 52 . Einer der aktivsten Mitarbeiter der Adula ist Aurelio Garobbio. Der gebürtige Tessiner, der für alle faschistischen Zeitungen Norditaliens schreibt und für die Angliederung des Tessins an Italien kämpft, wird in der Schweiz als Vaterlandsverräter verfolgt. Er erhält in Italien unter Mussolini eine Stelle als Mitarbeiter des Pressebüros und später des Kulturministeriums. Unter etwa 20 Pseudonymen publiziert er Artikel über das Rätoromanische, teilweise in Pseudoromanisch und bisweilen sogar in der romanischen Presse und er gibt unter dem Titel La razza italiana sulle Alpi eine Toponomastik mit den «korrekten › » italienischen Ortsnamen Graubündens heraus 53 . Ein Machwerk faschistischer Propaganda, das die Schweizer Behörden beschäftigt, ist Paolo Drigos 1933 erschienene Monographie Claustra Pro- 48 L ANSEL 1927 49 Brief vom Georges Wagnière an Peider Lansel vom 1. November 1927, SLA, Nachlass Lansel, Mappe B-3-c. 50 Fögl d ’ Engiadina, 28. Oktober 1927 51 Almanacco della Svizzera italiana, S. 97 52 Eine detaillierte Übersicht gibt D ERUNGS -B RÜCKER 1992 53 D ERUNGS -B RÜCKER 1992: 201; H UBER 1955: 335 340 Rico Franc Valär vinciae mit einem Vorwort von Giorgio Del Vecchio. Es ist erstaunlich, dass Del Vecchio die «nuova dottrina geopolitica italiana» von Drigo in höchsten Tönen lobt, obwohl er sich stets dagegen wehrt, als Nationalist zu gelten 54 . In langen Traktaten behandelt Drigo die Italianität Rätiens und betont, die noch nicht in die italienische Heimat eingegliederten Gebiete Tessin und Graubünden seien «schmerzliche Einschnitte ins italienische Fleisch». Drigo macht sich stark für die Wasserscheidetheorie und für die Berücksichtigung der natürlichen Grenzen zwischen Italien und der Schweiz. In Bezug auf die «italienischen» Dialekte Rätiens behauptet Drigo, die Aussagen Ascolis zur «questione ladina» seien in Italien nicht mehr sakrosankt, seit grosse Wissenschaftler wie Carlo Salvioni und Carlo Battisti sich ebenfalls mit den «dialetti ladini» auseinandergesetzt hätten 55 . Auf drei ganzen Seiten widmet sich Drigo den Schriften Peider Lansels und zitiert ihn als schlimmstes Beispiel der «mentalità rovinosa» der Rätoromanen. Seine irrigen Konzepte, welche er bei den Phantasmagorien eines «Deutschen Juden» (gemeint ist der Zürcher Protestant Jakob Jud) und eines «verdeutschten Romanen» (gemeint ist der Fürstenauer Robert de Planta) abgekupfert habe, verrichteten leider immer noch ihr jämmerliches Werk zur Abkehr des romanischen Volkes von Italien 56 . Solche Aussagen und direkte Beschuldigungen rufen verständlicherweise Kritik und Empörung hervor. Claustra Provinciae wird 1936 von den Schweizer Behörden konfisziert und verboten 57 . Im Mai 1935 erscheint in der Revista mensile del Club Alpino Italiano ein Artikel von Giovanni de Simoni unter dem Titel Morente ladino nel Canton dei Grigioni. Es ist kein Zufall, dass sich der Alpenklub Italiens auch um sprachliche Fragen bemüht. In der Zwischenkriegszeit werden die Alpen sowohl von italienischer wie auch von deutscher Seite in Beschlag genommen. Der Kanton Graubünden steht wegen seiner geopolitischen Situation immer wieder im Fokus der ausländischen Interessen. Giovanni de Simoni beobachtet bei den Rätoromanen eine zunehmende Abwendung von Italien und warnt: «Oggi assistiamo al fenomeno di un intedescamento relativamente rapido delle popolazioni retico-romancie, alla tragica agonia del ladino! È tutto una romanità che langue e si spegne in queste belle vallate alpine del Reno e dell ’ Inn dinanzi agli occhi indifferenti di noi, eredi primi e conservatori della luce romana nel mondo! » 58 Der Artikel, in welchem auch Lansel zitiert wird, weckt die Aufmerksamkeit des Schweizer Gesandten in Rom, der umgehend Bundesrat Motta 54 D RIGO 1933: 8 55 S ALVIONI 1917; B ATTISTI 1924, 1925, 1931 56 D RIGO 1933: 70 57 C OLLENBERG 1999: 118 58 S IMONI 1935 341 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» informiert. Dieser kritisiert Simonis Artikel scharf 59 , worauf sich Wagnière an Lansel wendet mit der Bitte, in dieser Sache zu intervenieren 60 . Die Antwort von Peider Lansel auf Simonis Artikel folgt im Dezember 1935, ebenfalls in der Rivista mensile del Club Alpino Italiano unter «Varietà». Darin stellt Lansel verschiedene falsche Informationen richtig und unterstreicht in Bezug auf die von Simoni erwähnte starke Abwanderung von Rätoromanen und Zuwanderung von Deutschen in den Bündner Talschaften, dass die Abwanderung ein generelles Problem der Alpentäler sei und dass die Zuwanderer zumeist deutschsprachige Schweizer seien, welche man nicht mit Deutschen verwechseln dürfe. Im Gegensatz zu Simoni, der die Vitalität des Rätoromanischen in Frage stellt, hält Lansel fest: «Oggi, invece della sua agonia, ci si trova davanti ad una vera e propria rinascenza.» 61 3.2 I Retoromanci - ein Essay für den Duce Als Reaktion auf die sichtlich aggressive irredentistische Propaganda der italienischen und besonders der norditalienischen Presse für die Italianität des Rätoromanischen und Graubündens, scheint es Lansel immer dringlicher, ein für alle Mal auf Italienisch die Sicht der Rätoromanen und Schweizer auf die historische, sprachliche und kulturelle Situation Romanischbündens klar darzulegen. Er beschliesst, einen ausführlichen Essay zu verfassen, um in aller Klarheit und Schärfe, mit wissenschaftlichen Argumentationen, die sprachliche und kulturelle Unabhängigkeit des Rätoromanischen vom Italienischen darzulegen. Wie er in einem Brief an Georges Wagnière darlegt, muss diese Stellungnahme unbedingt auf Italienisch erfolgen, denn «da parte nostra non abbiamo replicato altro che in romancio o in tedesco (salvo la rettifica fatta da me al Monelli nel Corriere della Sera a proposito delle scuole nostre).» 62 Wagnière unterstützt Lansels Vorhaben, denn er ist überzeugt, Lansel sei «particulièrement indiqué pour rectifier les erreurs répandues par des ignorants dans la presse italienne» 63 . Um seiner Schrift eine grössere Aufmerksamkeit zu verschaffen, wendet sich Lansel an den Schweizerverein in Mailand für die Organisation eines Vortragsabends unter dem selben Titel. Am 2. Mai 1935 hält Lansel in der Aula des Schweizervereins in Mailand den 59 Dokumente im Bundesarchiv Bern, Bestand E2200. 19. 1000/ 1722, Bd. 5: Roma. Irredentismus 60 Brief von Georges Wagnière an Peider Lansel vom 2. Juni 1935, SLA, Nachlass Lansel, Mappe B-c-3, corr. 1935, Questione ladina 61 L ANSEL 1935 62 Brief von Peider Lansel an Georges Wagnière vom 31. März 1933, Bundesarchiv, Bern, Bestand E2200. 19. 1000/ 1722, Bd. 5: Roma. Irredentismus 63 Brief von Georges Wagnière an Peider Lansel vom 1. April 1933, SLA, Nachlass Lansel, Mappe B-c-3, corr. 1933, Questione ladina 342 Rico Franc Valär Vortrag I Retoromanci. Es handelt sich um den ersten in Italien gehaltenen Vortrag über den schweizerischen und rätoromanischen Standpunkt in Bezug auf die irredentistische Propaganda. Lansel begrüsst zu seinem Vortrag besonders alle italienischen Staatsbürger, denn er will mit seinem Vortrag: «sgombrare il terreno da preconcetti ed illusioni, che dettero adito a polemiche sterilissime, durate fin troppo» 64 . Lansel bittet Georges Wagnière, seinen Einfluss geltend zu machen, um eine Publikation in der Nuova Antologia zu erreichen und er betont, es sei «molto indicato che il Duce personalmente possa prendere cognizione dell ’ articolo». Lansel ist überzeugt, dass «il suo intervento farebbe immediatamente cessare le stupide campagne irredentistiche, non solo per il romancio» 65 . Da in ebendiesen Jahren die Bemühungen der Rätoromanen für die Anerkennung des Rätoromanischen als Nationalsprache einsetzen, will Peider Lansel eine möglichst breite Streuung seiner Schrift erreichen. Er erachtet eine gründliche Aufklärung der Öffentlichkeit Italiens sowie der Schweiz über das Rätoromanische als dringend notwendig. Da die Aussichten auf eine Publikation seines Essays in einer angesehenen italienischen Zeitschrift schlecht sind, gibt Lansel seinen Essay als Separatdruck heraus und verschickt ihn an zahlreiche Intellektuelle. In der Schweiz versucht er möglichst bekannte Persönlichkeiten für die Übersetzung seines Essays in weitere Sprachen zu gewinnen. Selber redigiert er eine rätoromanische Version, die er im Fögl d ’ Engiadina veröffentlicht. Für die Übersetzung ins Französische kann er Charly Clerc, den Literaturprofessor an der ETH gewinnen, das Vorwort dazu verfasst kein Geringerer als Georges Wagnière. Den 1934 zurückgetretenen Bundesrat Heinz Häberlin überzeugt Lansel, die Übersetzung ins Deutsche vorzunehmen. Weitere Übersetzungen von I Retoromanci folgen auf Esperanto durch Georg Baur und auf Englisch durch die amerikanische Romanistin Mildred E. Maxfield. Lansels Schrift wird dann für ihr «unbedingtes Schweizertum» gelobt und als «vollgültiges Zeugnis» für sein «energisches, bekenntnisreiches Zurückweisen jedes Irredentismus» gerühmt 66 . Lansels Aktivismus für die Selbstbehauptung der Rätoromanen in Zusammenhang mit dem Essay I Retoromanci wird sogar in The London Times und in La Publicitat de Barcelona erwähnt und gewürdigt 67 . Mildred Maxfield bewertet I Retoromanci in ihrer Dissertation als «one of the best short accounts in existence about the history and development of the Raeto-Romance language 64 Typoskript der einleitenden Rede im SLA, Nachlass Lansel, Mappe A-4-l/ 9 65 Brief von Peider Lansel an Georges Wagnière vom 19. Juli 1933, SLA, Nachlass Lansel, Mappe B-3-c, corr. 1933, Questione ladina 66 F UETER 1938 67 The London Times, 9. November 1936; La Publicitat Barcelona, 11. August 1935. 343 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» and literature, especially its most flourishing branch, the Romansh culture in Graubünden» 68 . In Italien antwortet man auf Lansels Schrift fast ausnahmslos mit Entrüstung und Empörung. Die ausführlichste Replik auf Lansels Essay ist das von der Società Nazionale Dante Alighieri 1936 herausgegebene Heft Spulciando «I Retoromanci» di Peider Lansel; la verità sulla questione del ladino nei Grigioni. In dieser irredentistischen Propagandaschrift wird behauptet, die Eingliederung Friauls und Südtirols ins Regno habe sich fruchtbar auf die dortigen romanischen Dialekte ausgewirkt: «Sotto l ’ impulso dell ’ Italia nuova, ormai al sicuro, da ogni straniera pressione, i ladini delle Dolomiti sono fieri di essere italiani e vedono le loro parlate rifiorire per il fattivo potenziamento dato dal Regime.» 69 Für die Verteidigung und Erhaltung des Bündnerromanischen gebe es nur eine Lösung: «Semplicemente adottando come lingua della cultura l ’ italiano, così come si fece nelle Dolomiti e nel Friuli.» 70 Das Problem seien einige rätoromanische Intellektuelle, welche vom Pangermanismus vollständig eingenommen, auf die Verdeutschung des Rätoromanischen hinarbeiteten. Einer der Schlimmsten unter ihnen sei Peider Lansel, ein Dialektdichter dessen neuste Publikation ein schwerer Schlag sei für die Italianità Graubündens 71 . Peider Lansels Argumentation wird also als pangermanistisches Denken dargestellt. Die Verfasser der Streitschrift behaupten, den pangermanistischen Einfluss beweise bereits Lansels leere Phrase «Weder Italiener, noch Deutsche! », mit welcher er bereits vor dem Ersten Weltkrieg die engen Bande der Seinen zu Italien durchtrennt habe. «Quando si abbraccia la teoria del pangermanesimo non si hanno più occhi per vedere chiaro.» 72 Verschiedene Anhänger des Irredentismus loben die Publikation der Società Dante Alighieri und stimmen in den Verriss von Lansels Vortrag und Essay I Retoromanci ein 73 . In einem Brief berichtet Peider Lansel, seine Schrift sei auch als «aborto», als «Fehlgeburt» bezeichnet worden 74 . Die extremsten Hetzschriften gegen Lansel stammen aus der Feder des Tessiners Aurelio Garobbio, der zu jener 68 M AXFIELD 1938: 159 69 Soc. Dante Alighieri 1936: 11 70 Soc. Dante Alighieri 1936: 14 71 Soc. Dante Alighieri 1936: 18 72 Soc. Dante Alighieri 1936: 35 73 beispielsweise Renato Camussi in: Volontà d ’ Italia, 19. Oktober 1936 und Aurelio Garrobbio unter den Pseudonymen Italicus in: Libro e Moschetto, 13. Juni 1936 und Giulio Renzini in: Cronaca Prealpina, 7. Mai 1936 74 Brief von Peider Lansel an Giulio Bertoni vom 8. Dezember 1936, SLA, Nachlass Lansel, Mappe B-c-3, corr 1936: «Il mio lavoro è stato qualificato come un «aborto».» 344 Rico Franc Valär Zeit für das Pressebüro des Duce arbeitet. Die nationalistischen Blätter von Como und Umgebung, welche über Jahre für die Verbreitung von irredentistischem Gedankengut verantwortlich waren und Lansels Stellungnahmen stets heftig bekämpft haben, stehen nun Garobbio gerne für die Publikation von deftiger Kritik zur Verfügung: «Questo uomo, molto probabilmente, deve credersi una specie di Padre Eterno, poichè nella sua opera ha voluto cominciare con la storia. Ma la storia, non è una cosa che si possa voltare e cucinare di proprio talento. Ed allora si è imbrancato in una serie di errori e di spropositi che fa sorridere.» 75 «Il tristemente famoso Peider Lansel ha pubblicato . . . un libricino dal titolo I Retoromanci, che si potrebbe definire il codice della perfetta malafede. . . . la conferenza di Peider Lansel, tenutasi nella sede della Società Svizzera di Milano, non può essere definita che nettamente antiitaliana, basata su malafede, e su dati non corrispondenti alla verità. . . . Peider Lansel afferma che il ladino è una lingua, e si basa sull ’ Ascoli e su professori tedeschi . . . [e] dimostra ancora la sua malafede, tacendo gli studi di due altre celebrità mondiali: Carlo Salvioni e Carlo Battisti. . . . il Lansel, che sia detto una volta per sempre non rappresenta nessuna autorità, nè glottologica, nè scientifica, nè politica, nè di nessuna specie. . . . Pensa forse il Lansel di poter ingannare una Nazione con una conferenza, così come ha traviato il suo popolo col falso motto nè italiani nè tedeschi? . . . In fondo si tratta di povera gente. Povera gente che crede potersi alzare ad ostacolare il cammino di Roma eterna. Poveri illusi che sperano diffondere tenebre, ingannare il popolo e fomentare una antiitalianità innaturale.» 76 Nach diesen heftigen Angriffen auf Peider Lansel, findet ein «entretien confidentiel» zwischen Lansel und Paul Ruegger, dem Nachfolger von Georges Wagnière als Schweizer Gesandter in Rom statt. Hier fordert Lansel erneut, man müsse beim Duce intervenieren 77 . Am 2. Mai 1936 stellt die Bundesanwaltschaft fest: «Nach der Auffassung des Untersuchungsrichters geht Garobbio weiter als die übrigen Adulianer. . ., er schafft bei [den Italienern] die Auffassung eines unerlösten Tessins.» 78 Garobbio wird im Jahre 1937 in Bellinzona als Vaterlandsverräter verhaftet. 75 R ENZINI alias G AROBBIO in: Cronaca Prealpina, 07. Mai 1936 76 B ARILI alias G AROBBIO in: Imperium, settembre 1935 77 Dokumente dazu im Bundesarchiv, Bern, Bestand E2200. 19. 1000/ 1722, Bd. 5: Roma. Irredentismus 78 Dokumente dazu im Bundesarchiv, Bern, Bestand E220. 19. 1000/ 1722, Band 6 345 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» 4. Aussenpolitische Hintergründe einer Sprachenvorlage Zu Beginn der 1930er Jahre fordert der Engadiner Jurist Otto Gieré die Anerkennung des Rätoromanischen auf Bundesebene, zuerst im September 1931 anlässlich der Jahresversammlung der Engadiner Studentenverbindung Ladinia und später in der Studentenzeitschrift Sain Pitschen. Gieré schlägt vor, den Sprachenartikel der Bundesverfassung zu revidieren und eine Unterscheidung zwischen «Nationalsprachen» und «Amtssprachen» einzuführen. Das Rätoromanische soll mindestens den ideellen Status einer Nationalsprache erhalten. Gierés Vorschlag von 1931 für die Neuformulierung des Sprachenartikels, wird schliesslich im Februar 1938 exakt in seinem Wortlaut vom Volk gutgeheissen: «Il tudas-ch, il frances, l ’ italiaun e ’ l rumauntsch sun las quatter linguas naziunelas da la Svizra. Scu linguas uffizielas vegnan declaredas il tudas-ch, il frances e ’ l italiaun.» 79 Bis dahin ist es jedoch ein langer Weg. Erst im November 1933 stellt sich die Delegiertenversammlung der Lia Rumantscha geschlossen hinter seine Forderungen. Zusammen mit dem Nationalrat Giusep Condrau und dem Rechtsprofessor Pieder Tuor gründet Otto Gieré das Komitee Pro Quarta Lingua zur weiteren Bearbeitung und Verbreitung seines sprachpolitischen Postulats 80 . Politisch lanciert wird die von der Lia Rumantscha und von der romanischen Studentenschaft einstimmig unterstützte Petition Gierés dank einer Motion von Grossrat Sep Mudest Nay aus Camischolas und weiteren 38 Abgeordneten an den Grossen Rat des Kantons Graubünden. Diese wird am 29. November 1934 im Grossen Rat beraten und einstimmig angenommen. Die Motion Nay beauftragt die Regierung des Kantons Graubünden, «den Bundesbehörden mit allem Nachdruck das Verlangen und den Wunsch des romanischen Volkes vorzulegen, dass neben der deutschen, französischen und italienischen Sprache auch das Romanische als Nationalsprache erklärt und anerkannt werde» 81 . Am 21. September 1935 erfolgt auftragsgemäss die Eingabe der Regierung des Kantons Graubünden an den Bundesrat. Mit der Eingabe der Bündner Regierung an den Bundesrat für die Anerkennung des Rätoromanischen als Nationalsprache beginnt in Italien die aggressivste Phase des irredentistischen «Pressekriegs» gegen das Rätoromanische. In den Jahren 1935 bis 1938 protestieren verschiedene nationalistische Bewegungen, besonders die vom Staat unterstützen Studentenkomitees der Società Dante Alighieri und der Fascisti universitari, über Lokalzeitungen, eigene Publikationen, Flugblätter und Kampagnen gegen 79 G IERÉ 1931; D ERUNGS -B RÜCKER 1987: 264; C ORAY 2008: 335 s. 80 D ERUNGS -B RÜCKER 1987: 264 81 N AY 1934; D ERUNGS -B RÜCKER 1974: 303ss. 346 Rico Franc Valär die «provocante manovra antitaliana», welche das Begehren der Rätoromanen für sie darstellt. 82 Die politischen Forderungen der Rätoromanen werden in den faschistischen Zeitungen Italiens als pangermanistische Machenschaft beschrieben und als Gefahr für Italien verstanden. Gemäss der Darstellung der Irredentisten, mischen sich nun Politiker in linguistische Fragen ein. Es sei unhaltbar, ist hier der Tenor, dass «un organo politico decida in merito ad una questione linguistica, se il ladino è un dialetto o una lingua» 83 . Die aktive irredentistische Propaganda dieser Jahre und besonders die aggressiven Reaktionen der irredentistischen Presse auf die Motion Nay werden zu einem Hauptargument für die Eingabe der Rätoromanen an den Bundesrat 84 . Die Regierung des Kantons Graubünden widmet der irredentistischen Bedrohung in ihrer Eingabe ein ganzes Kapitel (VIII.) und eine ausführliche Dokumentation (Beilagen Nr. 5, Nr. 7 sowie Nr. 8). Darin wird «die Tendenz, das Romanische als blossen lombardischen Dialekt anzusprechen» von den Anfängen mit den Artikeln von Carlo Salvioni bis zur eigentlichen irredentistischen Propaganda durch die Adula und andere Presseorgane dargestellt. In der Dokumentation zum Irredentismus befinden sich auch die Essays von Peider Lansel. Er wird als Vorkämpfer der Rätoromanen gegen den Irredentismus bezeichnet: «Die Romanen Graubündens sind keinen Augenblick darüber im Unklaren gewesen, wo das auffällige und nicht verstummen wollende Beginnen in gewissen Kreisen unserer südlichen Nachbarn hinauswollte und haben unter der energischen und kraftvollen Führung des greisen Dichters, des Schweizer-Konsuls in Livorno, Peider Lansel, unter dessen Devise ‹ Ni Italians, ni Tudais-chs, Rumantschs volains restar › , entschieden und unzweideutig abgewunken.» 85 Gemäss der Eingabe des Kleinen Rates ist «dieser Faktor . . . weitgehend mitbestimmend . . . für die heutige Stellungnahme der romanischen Kreise, die hinter der Motion Nay stehen». Wenn man das Rätoromanische nicht als Nationalsprache anerkennen wolle, komme dies freilich einer «politischen Sanktion der Behauptung nationalpolitischer Philologen Italiens» gleich. 86 Renata Coray und Dunya Acklin Muji kommen in ihrer Analyse der Eingabe des Kleinen Rates an den Bundesrat zum Schluss, dass mit dem Hinweis auf den Irredentismus, die Frage des Rätoromanischen in Form eines nationalen kollektiven Problems gestellt wurde, «indem durch eine metonymische 82 Una provocante manovra antitaliana, Libro e Moschetto, 24. Oktober 1936 83 Ancora del Ladino, Libro e Moschetto, 13. Juni 1936 84 W IDMER et al. 2004: 146 85 Eingabe des Kleinen Rates des Kantons Graubünden an den Bundesrat in D ERUNGS - B RÜCKER 1974: 326ss. 86 D ERUNGS -B RÜCKER 1974: 327 s. 347 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» Operation die irredentistische Bedrohung romanischsprachiger Gebiete zu einer Bedrohung der gesamten nationalen Integrität gemacht» wurde 87 . Diese «metonymische Operation» wird in der Schweizer Presse wiederholt nachvollzogen, beispielsweise im Journal de Genève am 16. Mai 1936: «La langue romanche n ’ est donc pas un problème concernant exclusivement nos concitoyens romanches, mais elle constitue une mission d ’ une portée générale pour notre pays.» 88 Der Genfer Professor Wolfgang-Amédée Liebeskind publiziert 1936 eine Broschüre Die romanische Schweiz als nationales Problem 89 . Rätoromanisch übertitelt die NZZ am 14. Juli 1937 die Frontseite ihrer Abendausgabe und behandelt darunter das «rätoromanische Problem». Jakob Jud, Chasper Pult, Robert von Planta und Peider Lansel hätten längst bewiesen, dass es sich beim Rätoromanischen um eine selbstständige Sprache handle. Nun gehe es darum, das Rätoromanische zur Nationalsprache zu adeln. In der Tat sei das Rätoromanische «die älteste lebende schweizerische Landessprache». Zum Auftakt der parlamentarischen Session, in welcher über die Anerkennung des Rätoromanischen debattiert wird, resümiert der Publizist Oscar Alig im Luzerner Tagblatt unter dem Titel Aussenpolitische Hintergründe einer Sprachenvorlage die sprachpolitischen Kontroversen zur «questione ladina» vor dem Ersten Weltkrieg. Italienische Sprachgelehrte, Publizisten und Politiker hätten unentwegt versucht, «das Rätoromanische zu einem oberitalienischen, lombardischen Dialekt zu stempeln und daraus - offen oder verdeckt - für Italien politische Pflichten und Rechte auf die Erhaltung dieser rätischen Italianität abzuleiten». In aller Ausführlichkeit zählt Alig die Artikel und Publikationen auf, welche in den vergangenen Jahren von «hemmungslosen Propagandisten vom Schlage der Rebora, Garobbio, Barili, Santi, Drigo» und anderen mit Unterstützung der Adula, der Società Dante Alighieri, der Nuova Antologia und verschiedener angesehener Zeitungen in Umlauf gebracht worden seien. Selbst der «Tiefstand der hier vorwaltenden Polemik gegen den Vorkämpfer der Rätoromanen, Peider Lansel», stelle kein Novum mehr dar, seitdem die in Como erscheinende Zeitschrift Imperium «mit den niederträchtigsten Angriffen auf den greisen Dichter vorangegangen» sei. Die faschistische «Gewaltpsychose» beginne nicht erst heute, die Beziehungen zwischen Italien und der Schweiz zu «vergiften». Deshalb erweise sich «die einmütige, nicht nur auf dem Papier stehen bleibende» Anerkennung des Rätoromanischen als Nationalsprache als eine «nationale Notwendigkeit». Es 87 C ORAY / A CKLIN 2002: 213 88 Journal de Genève, 16. Mai 1936 zitiert in W IDMER et al. 2004: 151 89 L IEBESKIND 1936 348 Rico Franc Valär gehe darum, «gegenüber ausländischen Ansprüchen in staatsrechtlich eindeutiger Form» einen «Trennungsstrich» zu ziehen 90 . Die «aussenpolitischen Hintergründe» verleihen der Forderung der Rätoromanen offensichtlich die nötige politische Brisanz, um auf Bundesebene relativ rasch Gehör und eine zügige Umsetzung zu finden. Im Verlauf der politischen Debatten, Eingaben und Botschaften in Bezug auf das Rätoromanische zwischen 1935 und 1938 lässt sich jedoch eine Verschiebung der Argumente beobachten. Besonders in der sorgfältig geplanten Propagandaaktion für das Rätoromanische unter der äusserst aktiven Mitwirkung von Bundesrat Philipp Etter, erhält die Anerkennung des Rätoromanischen eine neue Dimension als ein Element des «nationalen Schulterschlusses» und der «geistigen Landesverteidigung». In den offiziellen Abhandlungen zum Rätoromanischen wird - wohl auch unter dem Einfluss von Aussenminister Giuseppe Motta - der italienische Irredentismus als Argument für die Anerkennung des Rätoromanischen als Nationalsprache immer mehr in den Hintergrund gerückt. Die Bemühungen um die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu Italien gehen so weit, dass beispielsweise in der Botschaft des Bundesrates über die Anerkennung des Rätoromanischen als Nationalsprache vom 1. Juni 1937 der ganze Abschnitt über die Forderungen der italienischen Irredentisten aus der ansonsten vollständig wiedergegebenen Eingabe des Kleinen Rates des Kantons Graubünden zensuriert wird 91 . Den eigentlichen Beginn der von den Rätoromanen mitgetragenen Vereinnahmung der Vorlage über das Rätoromanische für die geistige Landesverteidigung kann man bereits in Bundesrat Etters ersten Äusserungen zum Rätoromanischen im Parlament feststellen 92 . In der breit angelegten Propagandaaktion für das Rätoromanische als Nationalsprache ab 1936 wird Etters paternalistische, heimatschützerische und patriotische Sicht auf das Rätoromanische im Sinne der geistigen Landesverteidigung im öffentlichen Diskurs gefestigt 93 . Mehrere Parlamentarier und die Presse versprechen schon vor der Abstimmung eine «eindrücklichen Kundgebung für die nationale Einheit» 94 . Am 20. Februar 1938 gehen 54 % der stimmberechtigten Männer an die Urne. Sie haben über drei Vorlagen abzustimmen: über ein Volksbegehren aus 90 A LIG 1937 91 C ORAY / A CKLIN 2002: 213; W IDMER et al. 2004: 173 92 Antwort von Philipp Etter auf die Interpellation von Giusep Condrau am 8. Oktober 1936, cf. Amtliches stenographisches Bulletin der Bundesversammlung, W IDMER et al. 2004: 137ss..; Neue Bündner Zeitung, 12. Oktober 1936 93 W IDMER et al. 2004: 189 94 W IDMER et al. 2004: 228 s.; E TTER 1937: 6 349 Die staatspolitische Dimension der «questione ladina» kommunistischen Kreisen zur Abänderung des fakultativen Referendums, über ein Volksbegehren zur Kontrolle der privaten Rüstungsindustrie sowie über die Sprachenvorlage «Anerkennung des Rätoromanischen als Nationalsprache». Die Vorlage der Rätoromanen wird mit 574 › 991 gegen 52 › 827, also mit fast 92 % Ja-Stimmen angenommen, ein Abstimmungsresultat, das «wie selten die Einigkeit des Volkes ausdrückt» und in der ganzen Geschichte der Eidgenossenschaft tatsächlich nur zweimal übertroffen wurde. 95 Als am Abend des 20. Februar 1938 im Radio die Abstimmungsresultate durchgegeben werden, lässt man angesichts der «überwältigenden Sympathiekundgebung» in verschiedenen rätoromanischen Ortschaften die Kirchenglocken läuten 96 . Die Presse reagiert euphorisch auf das erwartete eindrückliche Abstimmungsresultat, der 20. Februar wird als «ein Tag der Freude, der Ehre und des Triumphes» gefeiert. Wiederholt wird auf die «nationale Bedeutung» dieser Abstimmung verwiesen, die auch als «Bejahung des schweizerischen Staatsgedankens» interpretiert wird. 5. Zusammenfassung Die von Graziadio Isaia Ascoli 1873 lancierte und vorerst unter Linguisten geführte Debatte zur «questione ladina», also über das Verhältnis zwischen den «dialetti ladini» und den «dialetti italiani», erhielt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend politische Brisanz und wurde zu einem zentralen Aspekt der rätoromanischen Heimatbewegung. Im Zuge des gesteigerten deutschen, italienischen und schweizerischen Nationalismus wurde die ursprünglich linguistische gestellte «questione ladina» politisiert, die ursprünglichen, innersprachlichen Aspekte der Debatte gerieten in den Hintergrund. In der Zwischenkriegszeit wurde die «questione ladina» mit dem Irredentismus in Italien zum Argument nationaler Expansionspolitik, unter dem Druck der irredentistischen und nationalistischen Propaganda wurde die Auseinandersetzung um die sprachliche und kulturelle Abgrenzung des Rätoromanischen in der Schweiz zur diplomatisch relevanten Staatsaffäre. Dies förderte die Umsetzung des bereits bei der Gründung der Lia Rumantscha 1919 formulierten Postulats der rätoromanischen Sprachaktivisten, dass das Rätoromanische verfassungsrechtlich als eigenständige Schweizer Nationalsprache verankert werde. Im Vorfeld der Volksabstimmung zur Anerkennung des Rätoromanischen als Nationalsprache gelang es den rätoromanischen Sprachvereinen und der politischen Elite der Schweiz die irredentistische 95 cf. Botschaft des Bundesrates über das Ergebnis der Volksabstimmung vom 20. Februar 1938, 30. März 1938; vergl. die Übersicht der Volksabstimmungen in L INDER 2008: 226ss.. 96 C ATRINA 1983: 30 350 Rico Franc Valär Bedrohung der rätoromanischen Gebiete als Bedrohung der gesamten nationalen Integrität darzustellen: Die «questione ladina» wurde zum «nationalen Problem» erklärt. Der durchschlagende Erfolg dieser Volksabstimmung war jedoch schlussendlich nur möglich durch die Einbindung der Vorlage in das Programm des nationalen Schulterschlusses und der geistigen Landesverteidigung. So konnte die Anerkennung des Rätoromanischen als «Kundgebung für die nationale Einheit», als «Bejahung des schweizerischen Staatsgedankens» und als Bestätigung des identitären Credos der «Einheit in der Vielfalt» interpretiert werden. 6. Bibliographie A LIG , Oscar [alias Spectator] 1937: «Aussenpolitische Hintergründe einer Sprachenvorlage». Luzerner Tagblatt, 1. & 12. Oktober. A LIG , Oscar 1938: «Der Irredentismus und das Rätoromanische», Schweizerische Hochschulzeitung, Februar 1938, Zürich, 341 - 349. A SCOLI , Graziadio Isaia 1873: «Saggi ladini», AGI I, Roma Torino Firenze. A SCOLI , Graziadio Isaia 1967: Scritti sulla Questione della Lingua. Cura, introduzione, nota bibliografica di Corrado Grassi, Classici Minimi Silva, Milano. 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Solo il Friuli, infatti, può vantare una plurisecolare convivenza sul medesimo territorio, tuttora viva, dei tre ceppi linguistici del Vecchio Continente: latino (friulano e italiano), germanico (tedesco e comunità germanofone) e slavo (sloveno e dialetti sloveni locali). Il fenomeno lambisce parzialmente anche la Venezia Giulia in cui da molti secoli convivono comunità autoctone di ceppo latino e slavo, ma fortemente influenzate per ragioni storiche dalla cultura tedesca. Negli ultimi anni si sono succeduti numerosi interventi, legislativi ed amministrativi, volti a tutelare un patrimonio linguistico e culturale particolarmente complesso e diversificato per storia, numero di parlanti e esigenze di tutela. La comunità più consistente è quella friulana, presente in 178 comuni nelle province di Udine, Gorizia e Pordenone, di cui si tratterà in modo approfondito nei capitoli successivi. Sulla fascia di confine tra Friuli Venezia Giulia e Slovenia, insistono i 32 comuni di lingua slovena. Tale minoranza nazionale (tutelata già dal Memorandum di Londra del 1954) nell ’ ultimo decennio ha raggiunto alte forme di riconoscimento giuridico da parte delle istituzioni regionali e statali, ad incominciare dalla legge 482/ 99. Di lì a poco è stata approvata anche una legge specifica per la minoranza slovena (legge 38/ 2001), che contiene provvedimenti ‹ globali › ad essa puntualmente rivolti. In particolare, la legge garantisce il diritto al nome o al suo ripristino in lingua slovena, sviluppa il diritto all ’ uso della lingua nei rapporti con l ’ amministrazione, nella toponomastica e nella scuola, istituisce un ‹ Comitato istituzionale paritetico per i problemi della minoranza slovena › e promuove la collaborazione tra le popolazioni di confine e la minoranza e le sue istituzioni culturali, in un clima di mutuo confronto, per promuovere ed implementare politiche unitarie sui territori contigui. Più recentemente, la L. R. 26/ 2007 ha integrato la normativa statale, definendo le linee fondamentali delle politiche d ’ intervento della Regione a favore della minoranza. Infine, le comunità tedesche del Friuli Venezia Giulia sono presenti in cinque comuni della provincia di Udine: Sauris, Paluzza, Pontebba, Malborghetto-Valbruna e Tarvisio. La Regione Friuli Venezia Giulia ha promosso con la L. R. 4/ 99 azioni specifiche di tutela e valorizzazione per le comunità germaniche, prevedendo finanziamenti per le attività culturali, ma soprattutto linguistiche, sia di circoli e associazioni culturali che dei cinque Comuni in cui sono presenti cittadini di lingua tedesca. Il percorso di riconoscimento delle comunità germaniche autoctone presenti sul territorio regionale si è completato nel 2009, con l ’ approvazione del primo testo legislativo organico di tutela: la L. R. 20/ 2009 recante ‹ Norme di tutela e promozione delle minoranze di lingua tedesca del Friuli Venezia Giulia › . 2. La nuova legge regionale sulla tutela della lingua friulana 2.1 Breve quadro storico-giuridico Il riconoscimento ufficiale della minoranza linguistica friulana è molto recente e si basa su tre leggi: la legge regionale n. 15 del 1996, la legge statale n. 482 del 1999 e la recente legge regionale n. 29 del 2007. In precedenza, gli unici riferimenti alla lingua friulana che si potevano trovare nei testi normativi, sia statali, sia regionali, avevano un carattere meramente incidentale, oppure inserivano la tutela della lingua in un più ampio disegno di promozione culturale (in tale alveo va inserita la pur avanzata legge regionale n. 68 del 1981). Si trattava, pertanto, di disposizioni che sviluppavano più l ’ articolo 9 della Costituzione italiana (tutela del patrimonio culturale), che non lo specifico principio di tutela delle minoranze, stabilito dall ’ articolo 6, secondo cui ‹ La Repubblica tutela con apposite norme le minoranze linguistiche › . La L. R. 15/ 96 è stata il primo provvedimento legislativo a riconoscere ufficialmente il friulano come ‹ lingua › e a stabilire esplicitamente la possibilità per gli enti locali di prevederne l ’ uso nei rispettivi consigli, nella toponomastica e, in generale, nei rapporti con i cittadini. La legge regionale ha anche individuato un apposito organismo di politica linguistica - l ’ Osservatori pe lenghe e pe culture furlanis, nel 2005 sostituito da un ’ agenzia autonoma: la Agjenzie regjonâl pe lenghe furlane (ARLeF) - e delineato i primi interventi nei settori dell ’ istruzione pubblica e del sistema radiotelevisivo. La L. 482/ 99 - sebbene giunta con molto ritardo - ha permesso di completare ed ampliare gli ambiti di tutela già definiti dalla normativa regionale. La legge statale, infatti, contiene una disciplina più specifica sull ’ insegnamento delle lingue minoritarie a scuola e prevede un diritto generalizzato di usare tali lingue in tutte le amministrazioni pubbliche site 358 William Cisilino in territorio delimitato. Molto rilevanti, sebbene al momento ancora inapplicate, anche le norme riguardanti la programmazione nella radiotelevisione pubblica. 2.2 Le ragioni di una nuova legge A undici anni dall ’ approvazione della L. R. 15/ 96 e ad otto dall ’ approvazione di quella statale, la Regione ha sentito l ’ esigenza di ‹ mettere mano › alla legislazione linguistica sul friulano. Tale scelta è stata dettata soprattutto dalla necessità di superare alcuni evidenti limiti della citata normativa, anche sulla base delle nuove competenze assunte dalla Regione in conseguenza della riforma del Titolo V della Costituzione, nonché dell ’ approvazione del D. Lgs. 223/ 2002 (uno specifico decreto attuativo dello Statuto di autonomia in tema di minoranze). Nel dicembre del 2007, quindi, la Regione ha promulgato la nuova legge regionale di tutela, la L. R. 29/ 2007, denominata ‹ Norme per la tutela e la valorizzazione e promozione della lingua friulana › , prendendo spunto da quattro diverse proposte di legge presentate nel corso della IX Legislatura regionale fra cui il disegno di legge n. 257 proposto dalla Giunta regionale il 18 giugno 2007 ( ‹ Norme per la tutela, valorizzazione e promozione della lingua friulana › ) che ha costituito il testo-base adottato in sede di Commissione consiliare. Secondo il disegno di legge della Giunta regionale la nuova normativa doveva fondarsi su cinque ‹ princìpi › : 1) il rispetto delle autonomie (si prevede l ’ obbligo per gli Enti locali ed altri enti pubblici di adottare un piano di politica linguistica, ma le scelte da inserire nel piano rientrano nella potestà dell ’ ente stesso); 2) il rispetto delle libere scelte dei cittadini (gli enti pubblici garantiranno i servizi in lingua friulana, ma per i cittadini rappresenteranno sempre soltanto un ’ opportunità, mai un obbligo); 3) l ’ individuazione della Agjenzie Regjonâl pe Lenghe Furlane quale ente responsabile dell ’ attività di indirizzo programmazione e coordinamento dell ’ applicazione della legge; 4) la flessibilità degli interventi (la legge è completa dal punto di vista organico e strutturale, ma non ne fissa rigidamente i parametri); 5) le verifiche (sono previsti non solo controlli amministrativi e contabili, ma anche valutazioni sull ’ efficacia delle azioni svolte). Il testo uscito dall ’ Aula consiliare ha sostanzialmente rispettato i cinque princìpi sopra esposti sebbene in alcuni casi si sia discostato dalla proposta giuntale, a volte per limitarne la portata, altre per estenderla, altre ancora per introdurre istituti giuridici completamente nuovi. Nei prossimi paragrafi ne approfondiremo il contenuto, rimandando al capitolo 3 la trattazione della dichiarazione di illegittimità costituzionale di alcune parti del testo in esame. 359 La tutela giuridica della lingua friulana 2.3 Disposizioni generali e delimitazione territoriale La legge, suddivisa in 8 capi, consta di 34 articoli. Il Capo I (articoli 1 - 5) è dedicato alle disposizioni generali. L ’ articolo 1 definisce le finalità che la legge persegue e cioè, in primis, la tutela, la valorizzazione e la promozione della lingua friulana, nelle sue diverse espressioni; oltre a ciò, la Regione si impegna a svolgere una politica attiva di conservazione e sviluppo della cultura e delle tradizioni della comunità friulana. Per la prima volta in un atto legislativo il friulano viene definito ‹ lingua propria › del Friuli. L ’ articolo 2 richiama i riferimenti giuridici fondamentali (internazionali, statali, regionali) del provvedimento: a livello internazionale, la Dichiarazione universale dei diritti dell ’ uomo, la Convenzione Europea sui Diritti dell ’ Uomo e Libertà fondamentali, lo Strumento dell ’ Iniziativa Centroeuropea per la protezione delle minoranze nazionali, i documenti dell ’ OSCE, sottoscritti dall ’ Italia, la Carta Europea per le lingue regionali e minoritarie, il trattato costituzionale dell ’ Unione Europea; a livello statale, la legge 482/ 1999; a livello regionale, la legge 22 marzo 1996, n.15. Stranamente non è richiamata la Convenzione quadro per la protezione delle Minoranze nazionali del Consiglio d ’ Europa, sebbene ratificata dallo Stato italiano. L ’ articolo 3 definisce l ’ ambito territoriale in cui si applica la legge, e cioè quello delimitato ai sensi della L. R. 15/ 96 (l ’ eventuale modifica della delimitazione territoriale è disciplinata nelle ‹ Norme finali › dall ’ articolo 32 secondo cui, entro 2 anni dall ’ entrata in vigore della legge, con Decreto del Presidente della Regione, sulla base di conformi e motivate deliberazioni dei singoli Consigli comunali, è possibile operare la modifica). Sempre l ’ art. 3 prevede iniziative per la conoscenza della lingua nel resto della regione nonché interventi per i friulani emigrati e, attraverso convenzioni, per i friulanofoni della Regione Veneto. L ’ articolo 4 contempla la possibilità di collaborare con le istituzioni delle diverse comunità di lingua ladina del Veneto, del Trentino-Alto Adige/ Südtirol e del Cantone dei Grigioni, nonché tra le minoranze linguistiche interne (slovena, friulana e germanofona). L ’ articolo 5 conferma la grafia ufficiale della lingua friulana (art. 13 L. R. 15/ 96), prevedendo che possa essere modificata con Decreto del Presidente della Regione, su proposta dell ’ ARLeF e d ’ intesa con le Università di Udine e Trieste. Gli atti e documenti in lingua friulana della Regione, degli enti locali e loro enti strumentali e concessionari di pubblici servizi sono redatti nella grafia ufficiale. 2.4 Gli usi pubblici e la toponomastica Il Capo II (articoli 6 - 11) riguarda gli usi pubblici della lingua friulana. L ’ articolo 6 disciplina gli usi pubblici della lingua friulana sistematizzando 360 William Cisilino quanto già previsto dalla legge 482/ 99 e dalla giurisprudenza della Corte Costituzionale ed estendendone la tutela. Le norme si applicano a tutti gli Enti locali, agli uffici ed enti dell ’ Amministrazione regionale, nonché ai concessionari di servizi pubblici operanti nei comuni delimitati. La portata della norma è stata ridotta, però, dall ’ ultimo comma (introdotto all ’ ultimo momento in Aula per garantire la tenuta della maggioranza) secondo cui ‹ gli enti interessati provvedono all ’ applicazione progressiva delle disposizioni secondo i progetti obiettivo annuali, nell ’ ambito dei piani di politica linguistica › . L ’ articolo 7 prevede che la conoscenza della lingua friulana sia attestata da una ‹ certificazione linguistica › . Tale azione si rende necessaria sia al fine di stabilire una modalità unica e in linea con le direttive europee per valutare la conoscenza del friulano, sia per permettere l ’ applicazione di alcune norme già in vigore. L ’ articolo 8 prescrive che gli atti comunicati alla generalità dei cittadini, nonché altre informazioni di carattere generale (come la comunicazione istituzionale e la pubblicità) siano redatti anche in lingua friulana. Anche qui però è stata prevista un ’ applicazione progressiva, come per l ’ art. 6. L ’ articolo 9, riprendendo quanto già previsto dall ’ art. 7 della legge 482/ 1999, ribadisce il diritto di usare la lingua friulana nei Consigli comunali e negli altri organi collegiali dei Comuni che rientrano nella delimitazione territoriale, demandando all ’ autonomia dei singoli enti la disciplina delle modalità per garantire un ’ adeguata traduzione in italiano a coloro che non comprendono la lingua friulana. L ’ articolo 10 introduce, limitatamente al territorio delimitato, l ’ uso visivo della lingua friulana, accanto a quella italiana, nella cartellonistica stradale e, in genere, in ogni altra indicazione esposta al pubblico (sempre con l ’ incognita della ‹ applicazione progressiva › ). Il Capo si chiude con una norma specifica (articolo 11) dedicata alla toponomastica in lingua friulana. Per garantire omogeneità nell ’ utilizzo di toponimi - e ciò soprattutto nella cartellonistica stradale, molto diffusa su larga parte del territorio - la loro denominazione ufficiale in lingua friulana è demandata all ’ ARLeF, d ’ intesa con i Comuni interessati. In ogni caso, sulla base di quanto previsto dal D. Lgs. 267/ 2000, gli enti locali possono stabilire di rendere ufficiale l ’ uso dei toponimi bilingui. 2.5 Il sistema di insegnamento e l ’ elenco dei docenti con competenze riconosciute per l ’ insegnamento della lingua friulana Il Capo III (articoli 12 - 18) definisce gli interventi nel settore dell ’ istruzione. L ’ articolo 12 inserisce l ’ apprendimento e l ’ insegnamento della lingua friulana all ’ interno di un processo educativo plurilingue nelle scuole dell ’ infanzia e nelle scuole primarie e secondarie di I grado situate nei Comuni delimitati. La norma prevedeva anche, in fase di preiscrizione, il ‹ dissenso informato › dei genitori, secondo cui ‹ fatta salva l ’ autonomia degli istituti scolastici › , i genitori, 361 La tutela giuridica della lingua friulana previa adeguata informazione e richiesta scritta della scuola, comunicano alla stessa la propria volontà di non avvalersi dell ’ insegnamento della lingua friulana. In tal modo era stato introdotto un favor - sebbene di lieve entità - rispetto al sistema dell ’ opzione linguistica applicato sinora, per il quale doveva essere il genitore ad attivarsi per chiedere l ’ insegnamento del friulano; favor, come si vedrà, vanificato dalla pronuncia della Consulta. L ’ articolo 13 definisce il quadro dei rapporti di collaborazione fra Regione, Ufficio scolastico regionale, autorità scolastiche in genere ai fini dell ’ attuazione delle disposizioni contenute nella legge, mentre i successivi articoli 14 e 15 delineano l ’ alveo applicativo e finanziario entro il quale la Regione dovrà costruire (con apposito regolamento) il sistema di insegnamento regionale della lingua friulana. In sintesi, la Regione, nel rispetto dell ’ autonomia delle istituzioni scolastiche, è chiamata a definire un sistema strutturale di attuazione della legge, superando la logica frammentaria dell ’ assegnazione dei fondi a progetto e adottando un ‹ Piano applicativo di sistema › che progressivamente implementi la presenza del friulano nelle scuole. La legge prevede, altresì, il sostegno della Regione alla produzione di materiale didattico (art. 16). In tale processo riveste un ruolo fondamentale la ‹ Commissione permanente per l ’ insegnamento della lingua friulana › , organismo tecnico-scientifico che ha il compito di supportare la competente Direzione regionale nelle attività di sostegno alle istituzioni scolastiche e di definizione di un quadro di criteri relativi all ’ accertamento delle competenze dei docenti. L ’ articolo 17 affronta il problema di come assicurare il fabbisogno di personale docente con competenze nella lingua friulana; a tale scopo, oltre a prevedere percorsi formativi adeguati, viene prevista l ’ istituzione di un ‹ Elenco degli insegnanti con competenze riconosciute per l ’ insegnamento della lingua friulana › . Con l ’ articolo 18 la Regione si impegna ad attivare iniziative di formazione ed informazione rivolte alle famiglie per far conoscere il piano di introduzione della lingua friulana nel sistema scolastico; la Regione inoltre sostiene e promuove iniziative di insegnamento della lingua friulana rivolte agli adulti, agli immigrati ed alle istituzioni scolastiche presenti nei territori non delimitati. Il Capo si chiude (articolo 19) con l ’ attività di ‹ volontariato per la lingua › , sulla falsariga del programma promosso dalla Generalitat de Catalunya ‹ Voluntaris per la llengua › . Con D. P.Reg. 23 agosto 2011, n. 0204/ Pres. la Regione ha adottato il regolamento previsto dagli articoli 14, comma 2, 17, comma 5 e 18 comma 6, della legge. Esso reca le disposizioni per l ’ attuazione di quanto previsto dal Capo III della legge, e in particolare dagli articoli 12, 14, commi 1 e 4, 15, 17, commi da 1 a 4 e 18, commi da 1 a 4 in materia di Piano applicativo di sistema per l ’ insegnamento della lingua friulana, in materia di accesso all ’ Elenco regionale degli insegnanti ed utilizzo degli stessi per l ’ insegnamento della 362 William Cisilino lingua friulana e in materia di interventi di promozione dell ’ utilizzo della lingua friulana nel territorio regionale. 2.6 Media, associazionismo e pianificazione linguistica Il Capo IV (articoli 20 - 23) si occupa degli interventi nel settore dei mezzi di comunicazione, senza introdurre novità sostanziali, salvo la previsione di uno specifico regolamento per la disciplina delle attività contributive. Lo stesso dicasi per il Capo V (articolo 24) sulle attività delle associazioni culturali. Molto importante ed innovativo, invece, è il Capo VI (articoli 25 - 27) che si occupa di programmazione. L ’ articolo 25 prevede che l ’ ARLeF, ogni cinque anni, proponga un Piano generale di politica linguistica (PGPL) approvato con Decreto del Presidente della Regione, sentita la competente Commissione consiliare. Sulla base del PGPL e tenendo conto delle disponibilità di bilancio, la Giunta regionale, su proposta dell ’ ARLeF, adotta annualmente il Piano delle priorità di intervento (articolo 26), in cui vengono fissati gli obiettivi da raggiungere nell ’ anno. L ’ articolo 27 prevede che ogni cinque anni gli Enti locali ed i concessionari di pubblici servizi approvino un Piano speciale di politica linguistica (PSPL) al fine di stabilire i progetti obiettivo da raggiungere annualmente nell ’ ambito di ogni area di intervento. L ’ approvazione e la conforme applicazione dei Piani speciali di politica linguistica costituiscono per gli enti locali e per i concessionari di pubblici servizi condizioni per l ’ ottenimento dei finanziamenti previsti dalla legge. Il Capo VII (articoli 28 - 30) riguarda l ’ attuazione e la verifica. L ’ articolo 28 definisce il ruolo dell ’ ARLeF (organismo competente per la definizione degli indirizzi di politica linguistica per il friulano) e ne fissa i compiti. L ’ articolo 29 introduce la clausola valutativa, assegnando alla Giunta regionale l ’ onere di presentare annualmente al Consiglio una relazione sullo stato di attuazione della legge. Inoltre ogni cinque anni, prima della presentazione del PGPL per il quinquennio successivo, la Giunta dovrà presentare al Consiglio un rapporto sui risultati ottenuti in termini di ampliamento dell ’ uso della lingua friulana. L ’ articolo 30 assegna al Presidente del Consiglio regionale il compito di convocare, una volta ogni cinque anni, una Conferenza di verifica e proposta per esaminare lo stato di attuazione della legge. La legge si chiude con il Capo VIII dedicato alle norme transitorie e finali. 363 La tutela giuridica della lingua friulana 3. La sentenza della Corte Costituzionale n. 159/ 2009 3.1 L ’ impugnativa del Governo Com ’ è noto, il Governo italiano ha deciso, con il ricorso n. 16 del 18 febbraio 2008, pubblicato sulla Gazzetta ufficiale del 2 aprile 2008, di impugnare la legge regionale in parola contestandone sette punti (articoli: 6, comma 2; 8, commi 1 e 3; 9, comma 3; 11, comma 5; 12, comma 3; 14, commi 2, ultimo periodo, e 3; 18, comma 4). Anzitutto, secondo il Governo l ’ obbligo generale per gli uffici dell ’ intera regione, operanti anche nelle aree escluse dal territorio di insediamento del gruppo linguistico friulano, di rispondere in friulano e di redigere anche in friulano gli atti comunicati alla generalità dei cittadini, nonché di effettuare in tale lingua la comunicazione istituzionale e la pubblicità, contrasterebbe con la legge 482/ 99 che circoscrive l ’ uso della lingua minoritaria nei soli comuni di insediamento del relativo gruppo linguistico. La legge regionale, inoltre, stabilendo che ‹ per garantire la traduzione a coloro che non comprendono la lingua friulana può essere prevista la ripetizione degli interventi in lingua italiana ovvero il deposito contestuale dei testi tradotti in forma scritta › , non garantisce una sufficiente tutela ai non friulanofoni. In tale punto la legge regionale contrasterebbe anche con ‹ il valore esclusivo degli atti nel testo redatto in lingua italiana › previsto dalla legge 482/ 99. Ulteriore ragione di contrasto costituisce l ’ articolo che prevede l ’ uso di toponimi anche ‹ nella sola lingua friulana › , contrastante, a dire del Governo, con la legge 482/ 99 e addirittura con il principio costituzionale di eguaglianza dei cittadini. L ’ art. 12, sull ’ apprendimento scolastico della lingua minoritaria, prevedendo il c. d. ‹ dissenso informato › comporta sostanzialmente - secondo il Governo - un ’ imposizione alle istituzioni scolastiche di impartire tale insegnamento, contrastando in tal modo con i principi dell ’ autonomia delle istituzioni stesse e, anche qui, con il principio costituzionale di eguaglianza. Violerebbe lo stesso principio, nonché l ’ art. 117 sul riparto di competenze fra Stato e Regione, anche l ’ art. 14, stabilendo che l ’ insegnamento della lingua friulana è garantito per almeno un ’ ora alla settimana. Infine il previsto sostegno del friulano anche nelle scuole regionali site in area non friulana secondo il Governo - cito testualmente - «può determinare pesanti rischi di discriminazione a carico dei docenti e degli studenti della scuola pubblica, nonché analoghi rischi per i cittadini nel loro rapporto con le pubbliche amministrazioni locali, e conseguentemente e inevitabilmente anche per i dipendenti delle stesse amministrazioni». 364 William Cisilino 3.2 La dichiarazione di illegittimità costituzionale Con la Sentenza n. 159/ 2009, pubblicata sulla Gazzetta ufficiale del 27 maggio 2009, la Corte costituzionale ha dato sostanzialmente ragione al Governo dichiarando l ’ illegittimità costituzionale di tutti gli articoli impugnati, salvo l ’ art. 18. Una simile débâcle della Regione è dovuta al fatto che la Corte ha considerato come parametro unico di costituzionalità della normativa regionale la legge 482/ 99, quasi come fosse una legge costituzionale o comunque con una forza superiore alla legge regionale, quando invece la legge 482/ 99 stessa lascia esplicitamente campo libero alle disposizioni più favorevoli approvate dalle Regioni. Di più: la legge 482/ 99 prevede la prevalenza delle leggi approvate dalle Regioni a Statuto speciale nell ’ ambito delle proprie competenze, tant ’ è che le norme della 482/ 99 si applicano ‹ solo › se non è prevista una normativa da parte della Regione (vedasi l ’ art. 18 della legge 482/ 99). In precedenza, invece, la Corte Costituzionale aveva più volte ribadito (dal 1983) che la tutela delle minoranze linguistiche non costituisce una materia in sé, bensì un principio che tutti i soggetti pubblici devono rispettare nell ’ esercizio delle proprie competenze. Da ciò dovrebbe discendere che la legge 482/ 99 costituisce sì norma di principio per la legislazione concorrente, ma non può prevedere alcun vincolo per le materie di esclusiva competenza regionale (come ad esempio l ’ ordinamento degli enti locali e della Regione). Più complesso, come si vedrà nel prossimo paragrafo, è il discorso riguardante le attività di insegnamento. Sbaglieremmo, tuttavia, a concentrarci sui soli elementi negativi della sentenza. Ve ne sono molti anche di positivi, sia di carattere generale, che specifico. Prima di tutto la Consulta ha ribadito che il friulano è a pieno diritto una lingua e, di conseguenza, che i friulani sono una ‹ minoranza linguistica riconosciuta › . Per la prima volta, inoltre, si afferma chiaramente che l ’ articolo 3 dello Statuto di autonomia - quello sulle lingue della regione - fa riferimento anche al friulano. Infine, la Corte, come si vedrà, ha indicato chiaramente nel dispositivo le modalità con cui il legislatore può giungere ai medesimi risultati perseguiti attraverso le norme censurate. 3.3 Riflessi della sentenza sul settore dell ’ istruzione La Consulta, come si è detto, ha annullato i passaggi della legge che fissavano il tempo orario per l ’ insegnamento della marilenghe in un ’ ora alla settimana (per i soli richiedenti) e il sistema del cosiddetto ‹ dissenso informato › per la raccolta delle opzioni linguistiche espresse dai genitori. Secondo la Corte tali norme avrebbero compresso oltremodo il principio di autonomia scolastica 365 La tutela giuridica della lingua friulana fissato dalla Costituzione. Senza entrare, ora, nel merito della sentenza - già oggetto di opinioni alquanto critiche da parte di alcuni costituzionalisti - diventa difficile comprendere in cosa possa consistere la ‹ quota regionale del curricolo › , derivante dalla Riforma del Titolo V della Costituzione, se una Regione (cui peraltro è affidato il ‹ coordinamento › delle istituzioni scolastiche in zona di minoranza, ai sensi del citato D.Lgs. 223/ 2002) non può nemmeno prevedere un ’ ora alla settimana di insegnamento di una disciplina di valenza regionale e per i soli richiedenti. Va rimarcato, tuttavia, che la sentenza ha fatto salvi tutti i principi previsti dalla L. R. 29/ 2007 riguardo al diritto all ’ insegnamento nella scuola. Ciò che la Corte ha censurato sono le modalità di attuazione di questi princìpi. Essa, infatti, nel dispositivo si spinge sino a descrivere il percorso normativo che la Regione e lo Stato devono compiere per adottare, legittimamente, le stesse identiche norme, vale a dire attraverso i decreti attuativi dello Statuto di autonomia. In conclusione: de iure condito, risulta necessario dare piena attuazione alle norme della L. R. 29/ 2007 che disciplinano l ’ insegnamento curricolare della lingua friulana, la formazione dei docenti e l ’ istituzione dell ’ elenco degli insegnanti in e di marilenghe (percorso già intrapreso dalla Regione attraverso il Regolamento di cui al D. P.Reg. 23 agosto 2011, n. 0204/ Pres.); de iure condendo, va portato a buon fine il processo di adozione - già avviato in sede di Commissione paritetica Stato-Regione in seguito ad un ’ azione positiva e propositiva del Comitato per l ’ autonomia e il rilancio del Friuli condiviso da larga parte delle forze politiche di maggioranza ed opposizione - di apposite norme di attuazione dello Statuto speciale tese a riformare i contenuti del D. Lgs. 223/ 2002 secondo i suggerimenti forniti dalla Consulta. Solo così sarà possibile per la Regione superare le inevitabili difficoltà di intervento in un settore che la Costituzione inserisce fra le competenze concorrenti, ma che, di fatto, resta ancora esclusivo appannaggio dello Stato centrale. 4. Abbreviazioni utilizzate L. R.: Legge Regionale L.: Legge D.Lgs. Decreto Legislativo D. P.Reg: Decreto del Presidente della regione 366 William Cisilino 5. 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Gerold Hilty Eine Vorbemerkung: Der Titel und im Wesentlichen auch der Inhalt meines Referats standen bereits fest, als die Südostschweiz vom 18. bis 25. Juni 2011 eine Artikelserie unter dem Titel «Hat Rätoromanisch noch eine Zukunft? » veröffentlichte. Natürlich habe ich die Artikel gelesen und werde an einigen Stellen auch darauf Bezug nehmen. Im Grossen und Ganzen ist aber die Berührung nicht sehr eng, auch wenn die beiden Titel die gleiche Frage - und auch die gleiche Sorge ausdrücken. Die Geschichte des Bündnerromanischen beginnt um die Mitte des 5. Jahrhunderts. Damals wurde das Bistum Chur geschaffen, und im Raum der Provinz Raetia Prima, unter Ausschluss des Südrands jenseits der Wasserscheiden, hatte sich jene Form des Spätlateins herausgebildet, welche die Grundlage für das Bündnerromanische bildete 1 . Schon ein Jahrhundert nach der Konstituierung dieses Sprachraums begann jedoch seine Reduktion von Norden her. Die Geschichte des Bündnerromanischen ist seit dem Mittelalter eine Geschichte des Rückzugs. In dieser Geschichte gibt es im letzten Jahrhundert ein denkwürdiges Datum, den 20. Februar 1938. Damals erhob das Schweizervolk mit 92 % Ja- Stimmen das Bündnerromanische zur vierten Landessprasche. Das war ein wichtiges Signal dem faschistischen Italien gegenüber, das im Rahmen der Irredenta alle italienischen Sprachgebiete in den Schoss des italienischen Vaterlandes zurückholen wollte und, gestützt auf die Meinung gewisser Sprachforscher, das Bündnerromanische als lombardischen Dialekt betrachtete. Persönlich bedaure ich, dass damals in der Schweizer Romanistik nicht die Frage diskutiert wurde, ob das Bündnerromanische eine selbständige Sprache sei oder - wie das heute noch in den Handbüchern steht - mit dem Zentralladinischen und dem Friaulischen zusammen eine sprachliche Einheit bilde, die allerdings einen beträchtlichen Teil ihres ursprünglichen Sprachraums verloren hat. Walther von Wartburg verwendet dafür folgendes Bild: «Das rätoromanische Gebiet sieht aus wie eine Rübe, die von einer Maus völlig angefressen worden ist». Es seien sogar zwei Mäuse gewesen, «das Deutsche und das Italienische. Sie haben von beiden Seiten her geknabbert, bis sie auf 1 Cf. Gerold H ILTY , «Wann wurde Graubünden wirklich romanisiert? », in: Gabriele B LAIKNER -H OHENWART et al., Ladinometria. Festschrift für Hans Goebl zum 65.Geburtstag, I, Salzburg etc. 2008, 215 - 228. weite Strecken ganz zusammengetroffen sind» 2 . Demgegenüber halte ich das Bündnerromanische für eine selbständige Sprache, nicht für den westlichen Teil einer ursprünglichen Einheit (bildlich dargestellt durch die intakte Rübe). Deshalb verwende ich lieber den Begriff ‹ Bündnerromanisch › als ‹ Rätoromanisch › . Dabei stelle ich natürlich keineswegs die enge Verwandtschaft des Bündnerromanischen mit dem Zentralladinischen und dem Friaulischen in Abrede. Doch zurück zum Februar 1938. Die Wahl des Bündnerromanischen als Landessprache war ein Geschenk an die Rumantschia. Durch die Erhebung des Bündnerromanischen zur Nationalsprache erhoffte man sich damals wohl zum Teil auch eine stimulierende Wirkung, die den weiteren Rückgang verhindern würde. Dies ist kaum eingetreten, und auf der andern Seite muss klar gesehen werden, dass das Ergebnis der Abstimmung von 1938 nicht nur ein Geschenk war, sondern auch eine Verpflichtung enthielt. In einem Rechtsgutachten des Staatsrechtlers Daniel Thürer von 1982 «betreffend einige Fragen zur gesetzlichen Verwirklichung des Territorialprinzips im Sprachenrecht des Kantons Graubünden» 3 wird die Verpflichtung thematisiert, die dem Staat durch die Erhebung des Bündnerromanischen zur Nationalsprache erwachsen war. Er muss den Bestand dieser Sprache garantieren, das heisst, er muss eingreifen in Situationen ernsthafter Sprachgefährdung, «in denen die gesetzliche Festlegung der Sprachgebiete als einziges Mittel zur Sicherung einer Nationalsprache in ihrem angestammten Gebiet und in ihrer besonderen Eigenart erscheint» (45). Wie erfüllt unser Staat die erwähnte Verpflichtung? Nachdem in Artikel 4 der Bundesverfassung vom 18. April 1999 das Rätoromanische als vierte Landessprache festgehalten ist, heisst es in Artikel 70, Absatz 5, noch «Der Bund unterstützt Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache» (im Folgenden lasse ich jeweils den parallelen Hinweis auf das Italienische weg). Wie dies geschehen soll, wird natürlich in der Bundesverfassung nicht im Einzelnen ausgeführt. Aber auch im Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften vom 5. Oktober 2007, steht vor allem die Absichtserklärung, dass der Bund das Rätoromanische als Landessprache erhalten will, allerdings mit dem Hinweis, dass der Bund «im Rahmen der bewilligten Kredite» dem Kanton Graubünden 2 Walther VON W ARTBURG , «Die Entstehung des Rätoromanischen und seine Geltung im Land», in: Von Sprache und Mensch. Gesammelte Aufsätze, Bern 1956, 23 - 44 (27). 3 Daniel T HÜRER , Rechtsgutachten betreffend einige Fragen zur gesetzlichen Verwirklichung des Territorialprinzips im Sprachenrecht des Kantons Graubünden, Zürich 1982. 370 Gerold Hilty Finanzhilfe gewährt zur Unterstützung «von Massnahmen zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen Sprache und Kultur» (Art. 22, 1 a). Die wenigen Konkretisierungen des Gesetzes werden erweitert durch die Verordnung über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften vom 4. Juni 2010. In einer ersten Gruppe werden folgende Bereiche genannt, in denen der Kanton Graubünden zur Förderung des Romanischen mit Finanzbeiträgen des Bundes rechnen kann: - Publikationen in rätoromanischer Sprache und Unterstützung von Verlagen, die die Förderung der rätoromanischen Literatur zum Ziel haben. - Rätoromanische Presse. - Förderung der rätoromanischen Sprache in den Medien. - Unterstützung von Nachrichtenagenturen, die täglich redaktionelle Leistungen in rätoromanischer Sprache mit Text und Bild erbringen, die rätoromanischen Idiome und Rumantsch Grischun berücksichtigen und die redaktionellen Leistungen den Medien in elektronischer Form zur Verfügung stellen. Eine zweite, kleinere Gruppe umfasst folgende Bereiche: - Beschaffung von Lehrmitteln für den Sprachunterricht. - Sprachliche Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte. - Sprachunterricht an öffentlichen Schulen. Die verschiedenen Glieder der ersten Gruppe haben als gemeinsamen Nenner, dass sie nicht der Ebene der mündlichen Spontansprache angehören, sondern einer sekundären Kommunikationsebene. Natürlich spielt diese Ebene in unserem kulturellen Umfeld eine hervorragende Rolle. Ich glaube aber, dass die sprachliche Form dieser Ebene, selbst wo die Realisierung mündlich geschieht wie bei Radio und Fernsehen, nur im Zusammenspiel mit der zweiten Gruppe von Massnahmen einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Bündnerromanischen leisten kann. Die Glieder der zweiten Gruppe beziehen sich auf die Schule, und ich bin überzeugt, dass nur durch eine entsprechende Organisation der Schule der Rückgang des Bündnerromanischen wirkungsvoll aufgehalten werden kann. Wie müsste diese Organisation aussehen? Ich lege im Folgenden meine persönliche Meinung dar, welcher sicher Widerspruch erwachsen wird. In einer - in meinen Augen vertretbaren - Form der Auslegung des Territorialprinzips verlangt der Staat (konkret: der Kanton Graubünden) von Gemeinden, deren Anteil an Romanischsprachigen mindestens 30 % beträgt, dass in den ersten drei Jahren der Primarschule ausschliesslich auf Romanisch unterrichtet wird. Die Schüler aus nicht-romanischsprachigen Familien erlernen das Romanische dabei nach der sogenannten Immersionsmethode. 371 Ist das Bündnerromanische noch zu retten? Diese Forderung mag vielen übertrieben scheinen. Sie ist aber nicht so revolutionär, wenn man bedenkt, dass das kantonale Sprachengesetz (Art. 16, Absatz 2) bestimmt, dass Gemeinden mit mehr als 40 % Angehörigen einer angestammten Sprachgemeinschaft als einsprachige Gemeinden gelten. Hier allerdings taucht gerade in letzter Zeit ein Problem auf, das in einem der Artikel der Südostschweiz angesprochen wird unter dem Titel «Wiar laan ünsch sicher nit romanisiera». Es geht dabei um das Problem von Gemeindefusionen. Hier muss darauf geachtet werden, dass nicht Gemeinden mit dreissig, vierzig Prozent Romanen sich in einer Fusionsgemeinde wiederfinden, in denen der Romanischanteil weit unter 30 % gesunken ist. In welchem Romanisch würde aber der Unterricht in den ersten drei Schuljahren stattfinden? Im Romanisch der entsprechenden Gegend. Dies würde auch für die schriftliche Form gelten, das heisst, die Schüler würden in einem der bestehenden Idioms schreiben lernen. Es ist klar, dass mit dieser Forderung die Gemeinden einen Teil ihrer Schulautonomie verlieren würden und dass dies einer neuen gesetzlichen Grundlage bedürfte. Ebenso klar ist, dass von der vierten Klasse an im sprachlichen Bereich das Deutsche schwerpunktmässig gefördert werden müsste, unter reduzierter Fortführung des Romanischunterrichts. Die Erhaltung des Romanischen darf nicht auf Kosten der deutschen Sprache gehen. Romanisch-Bündner müssen zweisprachig sein. Das ist eine Notwendigkeit, aber auch ein Privileg: «Qui connaît deux langues, vaut deux hommes». In einem der Artikel der Südostschweiz wird die «zweisprachige Schule» sehr positiv dargestellt. Vom Kindergarten an stehen in ihr Romanisch und Deutsch mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander. Ich will dieses Modell gar nicht kritisieren. Das von mir vorgeschlagene Modell ist auch zweisprachig, wobei mehr Gewicht auf das Nacheinander als auf das Nebeneinander gelegt wird. Meine Begründung ist folgende: Schüler aus deutschsprachigen Familien sollen am Anfang der Primarschule so recht ins (romanische) Wasser geworfen werden. Man könnte höchstens einwenden, für Schüler mit romanischer Muttersprache wäre das Nebeneinander der beiden Unterrichtssprachen besser. Die Erfüllung der hier formulierten Forderung steht im Widerspruch zu einem Beschluss, den das Bündner Kantonsparlament 2003 gefasst hat. Damals wurde beschlossen, die Schulbücher für Romanischbünden nur noch in Rumantsch Grischun herzustellen, nicht mehr in den fünf Idioms. Aus der Perspektive der Verpflichtung, das Bündnerromanische vor dem Untergang zu bewahren, ist der Beschluss fragwürdig. Erhaltung des Bündnerromanischen heisst festhalten an Traditionen, im Fall der mündlichen Sprache an einer Tradition von anderthalb Jahrtausenden, im Fall der geschriebenen Sprache an Schrifttraditionen von einigen Jahrhunderten. 372 Gerold Hilty Wenn das Rumantsch Grischun die allgemein verwendete Form des Bündnerromanischen würde, würden gerade die seit Jahrhunderten tradierten und entwickelten Regionalschriftsprachen (Idioms), mitsamt der in ihnen verfassten Literatur, geopfert, denn es ist ja undenkbar, dass die Primarschüler gleich zwei Formen der Verschriftung ihrer Sprache erlernen müssten. Man darf diesen Widerspruch nicht übersehen: um das Bündnerromanische zu erhalten, zerstört man mit dem Rumantsch Grischun gerade die Traditionen, die für das Überleben wichtig sind. Der Beschluss von 2003 wurde vom Kantonsparlament aus Spargründen gefasst. Wenn das Bündnerromanische eine Zukunft haben soll, muss sich der Kanton Graubünden dies auch etwas kosten lassen. Nun hat sich aber offenbar so starker Widerstand gegen die allgemeine Einführung des Rumantsch Grischun in der Primarschule formiert, dass das Kantonsparlament im Herbst vielleicht auf seinen unüberlegten Beschluss zurückkommt. Das wäre sehr zu wünschen. Bevor wir die Problematik der Schulen verlassen, noch ein Wort zur höchsten Schulstufe, den Hochschulen: In der letzten Sommersession des eidgenössischen Parlaments hat der Bündner Ständerat Theo Maissen eine Motion eingereicht, wonach die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Ständerats prüfen soll, wie das universitäre Angebot für die rätoromanischen Sprachen sichergestellt werden kann. Ich nehme es gleich vorweg: Ich glaube nicht, dass die Universitäten eine entscheidende Rolle für die Erhaltung des Bündnerromanischen spielen können. Dabei wird man mir nicht mangelndes Verständnis für den universitären Romanischunterricht vorwerfen können. Als Rektor der Universität Zürich war ich massgeblich daran beteiligt, dass in den achtziger Jahren in Zürich eine Professur für Rätoromanisch geschaffen wurde, und zwar eine Doppelprofessur für Universität und ETH. Auf das Wintersemester 1985/ 86 wurde Iso Camartin als Professor für rätoromanische Literatur und Kultur an beiden Hochschulen gewählt. Leider trat Iso Camartin, längst vor Erreichung der Altersgrenze, auf Ende des Sommersemesters 1997 zurück. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig, denn die ETH war gerade daran, die Sprachlehrstühle an der Freifächerabteilung aufzuheben. Man entliess nicht gewählte Professoren, aber bei jedem Rücktritt wurde die Möglichkeit einer Umwidmung ergriffen. So verschwand das Romanische aus dem Lehrangebot der ETH. An der Universität konnte die Professur glücklicherweise gerettet werden. Seit dem Sommersemester 2001 hat Cla Riatsch sie inne. Die sprachwissenschaftlichen Belange vertritt als kompetenter Oberassistent Mathias Grünert. Rätoromanisch auf Hochschulebene ist wichtig für die Wissenschaft und auch für das Prestige von Sprache und Kultur sowie für die Ausbildung von Romanischlehrern an den Mittelschulen. Für die Erhaltung der Sprache ist aber nach meiner Überzeugung die unterste Schulstufe unvergleichlich wichtiger als die oberste. 373 Ist das Bündnerromanische noch zu retten? Wir kehren zurück zum Romanischunterricht in der Primarschule und zum Problem des Rumantsch Grischun. Meine Haltung gegenüber dem Rumantsch Grischun ist keineswegs grundsätzlich negativ. Im Gegenteil: Ich bewundere die Leistung meines Freundes und langjährigen Kollegen Heinrich Schmid, des Schöpfers des Rumantsch Grischun, und bin überzeugt, dass niemand den Auftrag der Lia Rumantscha für die Erarbeitung einer gesamtbündnerischen romanischen Kunstsprache besser hätte erfüllen können als er. Es geht um die Frage der Anwendung. Ich habe in Bezug auf gewisse Bereiche, in denen Bundessubventionen beantragt werden können, von sekundärer Kommunikation gesprochen. Für diese Ebene, die sich auf ganz Romanischbünden bezieht, kann Rumantsch Grischun eine sehr wichtige Rolle spielen. Wie das zum Teil bereits der Fall ist, soll es verwendet werden für Gesetzestexte, Verordnungen, administrative Texte, Printmedien, PR-Texte und vieles andere mehr, und es ist durchaus auch geeignet für Radio- und Fernsehsendungen. Ob auch Schriftsteller und Dichter sich dieser Sprachform bedienen wollen (was in bescheidenem Masse ja schon geschehen ist), ist ihre freie Entscheidung. Eine solche Verwendung des Rumantsch Grischun ist nicht utopisch. Dank seinem ausgewogenen Charakter ist es ohne allzu grosse Anstrengung für alle Romanen zugänglich, welche eines der Idioms beherrschen. Wenn auf diese Weise eine allgemeine romanische Schriftsprache sich wie ein Dach über die bündnerromanischen Dialekte und Idioms legte, würde daraus ohne jeden Zweifel ein Prestigegewinn für unsere vierte Landessprache resultieren. Nun ist mit klaren und angemessenen Strukturen der Sprachverwendung allein eine Sprache nicht zu retten. Ihre Einbettung in die Welt, in der sie gesprochen wird, muss ebenfalls positiv sein. Ich weise nur auf gewisse ideologische und ökonomische Aspekte hin. Zum Ideologischen. Es genügt nicht, dass die romanischsprachigen Bündner ihre Sprache erhalten wollen. Auch die deutschsprachige Bevölkerung des Kantons Graubünden muss an Nutzen und Wert der Erhaltung des Romanischen glauben und nicht, wie Andreas Wieland, Präsident der grössten Bündner Tourismusorganisation, die Auffassung vertreten, das «Rätoromanische sei bloss noch ‹ Folklore › und hemme die Wirtschaft» (Oktober 2010). Deutschsprachige Familien müssen Freude daran haben, dass ihre Kinder in der Schule Romanisch lernen, und auch den Nutzen des Romanischunterrichts erkennen im Hinblick auf das spätere Erlernen von Fremdsprachen wie Französisch und Italienisch. Dadurch wird auch die Integration der deutschsprachigen Eltern gefördert, ein Problem, von dem Mathias Grünert in seinem Beitrag zur Artikelserie der Südostschweiz spricht. Ein grosses Problem für die Verwirklichung der hier vorgeschlagenen Lösung ist allerdings die Rekrutierung von genügend romanischsprachigen 374 Gerold Hilty Lehrern. Die gesellschaftliche Stellung des Lehrers müsste wieder positiver und damit der Lehrerberuf wieder attraktiver werden, auch in Bezug auf die Entlöhnung, damit nicht romanische Lehrer in andere Kantone abwandern, wo die Lehrer-Saläre höher sind. Zum Ökonomischen. Mit dem Hinweis auf die Lehrerlöhne haben wir bereits ein ökonomisches Problem angesprochen. Ein ähnliches Problem besteht für viele Berufe. Um die Abwanderung zu verhindern, müsste grundsätzlich gelten, dass das Gefälle zwischen Löhnen im romanischsprachigen und im deutschsprachigen Raum, sei es Deutschbünden oder die übrige Deutschschweiz, nicht grösser sein darf als das Gefälle bei den Lebenskosten. Es ist klar, dass die jungen Romanen zu einem grossen Teil ihre Berufsausbildung im deutschsprachigen Raum erhalten müssen, sei es (für Landwirte) am Plantahof, sei es (für Lehrer) in Chur, sei es an einer Berufshochschule oder an einer Universität. Das muss sich nicht grundsätzlich negativ auf das Romanische auswirken. Es besteht aber die Gefahr, dass, vor allem bei gutem Studienabschluss an einer höheren Schule, Romanen nicht mehr ins romanische Sprachgebiet zurückkehren. Das führt zu einem Verlust der Elite, der nur durch eine sehr starke Bindung an die romanische Herkunft vermieden werden kann. Natürlich können nicht für alle Berufe Stellen in Romanischbünden geschaffen werden. In Bezug auf die Industrie könnte man aber vielleicht an die Schaffung kleinerer innovativer Betriebe im romanischen Raum denken, wie sie gelegentlich von engagierten jungen Unternehmern gegründet werden. Und wer weiss, ob nicht die Förderung von alternativen Energien in Graubünden bald neue Stellen für Techniker und Ingenieure schaffen wird. Durch einen beträchtlichen Wandel in der Berglandwirtschaft hat die romanische Sprache den Rückhalt im Bergbauerntum ein wenig verloren. Sofern aber die Landwirtschaft weiterhin durch romanischsprachige Bauern betrieben wird, sehe ich hier keine Gefahr für das Romanische. Natürlich kann ein Teil der alten Landwirtschaftsterminologie verschwinden und werden neue Geräte und Maschinen mit Fremdwörtern bezeichnet, doch dies trifft die Sprache nicht in ihrem Mark. Noch ein Wort zum Tourismus: Der zitierte Ausspruch von Andreas Wieland hat selbstverständlich Kritik hervorgerufen. Die Diskussion zeigt, dass das Verhältnis zwischen Tourismus und romanischer Sprachbewahrung überdacht werden muss. Ich glaube nicht, dass der Tourismus grundsätzlich eine Gefahr für das Romanische darstellt, wie dies auch gewisse Sprachforscher unter Hinweis auf das Oberengadin (mit St.Moritz und Pontresina als Bahnbrechern für die Verdeutschung) meinen. Dass die Sprachsituation im Oberengadin mit dem Tourismus zu tun hat, bestreite ich nicht. Der neu- 375 Ist das Bündnerromanische noch zu retten? ralgische Punkt dabei aber war die Zuwanderung fremder Arbeitskräfte. Hätte der Tourismus mehr in den Händen von romanischen Arbeitskräften gelegen, wäre die Entwicklung anders verlaufen. Ich habe gesagt, dass die Romanen unbedingt zweisprachig sein müssen. Wenn ein Romane mit einem deutschsprachigen Gast deutsch spricht, verliert er dadurch nicht sein Romanisch. Das Romanische ist in St.Moritz weitgehend verloren gegangen durch den Zuzug von Arbeitskräften, die nicht romanisch sprachen. Die Lehre daraus kann nur sein, dass die Romanen sich mehr im Tourismus engagieren müssen. Im Übrigen glaube ich sogar an gewisse Synergien zwischen Tourismus und Romanisch. Kann das Bündnerromanische noch gerettet werden? Damit diese Sprache längerfristig eine Zukunft hat, müssen etliche Bedingungen erfüllt werden. Ich halte dies aber nicht für ausgeschlossen und hoffe, dass aus der Erkenntnis heraus, dass unsere vierte Landessprache in ihrer Existenz wirklich bedroht ist, die Bereitschaft dazu wächst. Und die Hoffnung stirbt bekanntermassen zuletzt. 376 Gerold Hilty Abkürzungsverzeichnis/ Abreviaziuns Allgemeine Abkürzungen bearb. bearbeitet br. bündnerromanisch cf. confer, siehe, vedi ed. ediert, herausgegeben, a cura di engad. engadinisch FN Fussnote, Anmerkung frl. friulan, friaulisch id. idem it. italiano, italienisch lat. lateinisch p. pagina, Seite pp. pagine, Seiten s. sequente, folgende ss. sequenti, folgende surs. surselvisch vall. vallader vgl. vergleiche Zeitschriften, Standardwerke 1 AGI Archivio Glottologico Italiano, 1, 1873ss., Torino/ Milano. AnSR Annalas da la Societad Retorumantscha, 1, 1886ss., Cuira, Scoietad retorumantscha, (cf. auch http: / / retro.seals.ch) BR Bibliografia retorumantscha (1552 - 1984), Cuira, Lia rumantscha 1986 DRG Dicziunari Rumantsch Grischun, 1, 1939ss., Cuoira, Società retorumantscha HWR B ERNARDI , Rut et al., Handwörterbuch des Rätoromanischen, Wortschatz aller Schriftsprachen, einschliesslich Rumantsch Grischun, 3 vol., Zürich, Offizin, 1994 Ladinia, Sföi culturâl dai ladins dla Dolomites. 1, 1978ss., San Martin de Tor: Ist. Cult. Lad. Micurà de Rü. LRL HOLTUS, Günter; METZELTIN, Michael; SCHMITT, Christian (ed.): Lexikon der Romanistischen Linguistik. 12 vol., Tübingen: Niemeyer 1988 - 2005. Bd. III: Die einzelnen romanischen Sprachen und Sprachgebiete von der Renaissance bis zur Gegenwart. Rumänisch, Dalmatisch/ Istroromanisch, Friaulisch, Ladinisch, Bündnerromanisch, Tübingen: Niemeyer 1989 1 Es wurden nur die Werke hier aufgenommen, die in mehr als zwei Artikeln zitiert werden. Die anderen finden sich in der Bibliographie der entsprechenden Artikeln. Mondo Ladino, Bollettino Dell ’ Istituto Culturale Ladino, 1, 1977ss., Vich, Ist. Cult. Lad. Majon di Fascegn. RLiR Revue de linguistique romane, 1, 1925ss., Paris, Champion. RRLi Revue [roumaine] de linguistique, 1, 1956ss., Bukarest, Akademie. SLA Schweizerischer Literaturarchiv, ZRPh Zeitschrift für romanische Philologie, 1, 1887ss., Halle/ Tübingen, Niemeyer. 378 Abkürzungsverzeichnis/ Abreviaziuns Anschriften der Autoren Frau Mag Rut Bernardi St. Josef 33 I-39043 Klausen/ Tluses (Bz) rut.bernardi@dnet.it Herrn Dr. Giorgio Cadorini Selzská univerzita v Opave Ústav cizích jazyk ů - italistika a latina Masarykova 37 CS-746 01 Opava giorgio@cadorini.org Herrn Dr. Renzo Caduff Chemin du Verger 20 CH-1752 Villars-sur-Glâne Renzo.Caduff@uzh.ch Herrn William Cisilino via Puccini 75/ 2 I-33048 San Govanni al Natisone/ S. Zuan (Ud) william.cisilino@regione.fvg.it Frau Dr. Renata Coray Freiestrasse 21 CH-8032 Zürich CorayR@edufr.ch Herrn Prof. Dr. Georges Darms Rte de Planafin 7 CH-1723 Marly georges.darms@unifr.ch Frau Dr. Annetta Ganzoni Archiv svizzer da litteratura Hallwylerstrasse 15 3003 Berna annetta.ganzoni@nb.admin.ch Herrn Prof. Dr. Hans Goebl Universität Salzburg Fachbereich Romanistik Erzabt-Klotz-Straße 1 A-5020 Salzburg Hans.Goebl@sbg.ac.at Herrn Dr. Matthias Grünert Universität Zürich Romanisches Seminar Zürichbergstrasse 8 CH-8032 Zürich mathias.gruenert@gmail.com Frau Dr. Franziska Maria Hack Universität Konstanz Fachbereich Sprachwissenschaft D-78457 Konstanz Franziska.Hack@uni-konstanz.de Herrn Prof. Dr. Gerold Hilty Haldenstrasse 9 CH-8942 Oberrieden g.hilty@access.uzh.ch Herrn Prof. Dr. Georg A. Kaiser Universität Konstanz Fachbereich Sprachwissenschaft D-78457 Konstanz Georg.Kaiser@uni-konstanz.de Frau Prof. Dr. Ricarda Liver Geinisberg CH-3432 Lützelflüh ricarda.liver@bluewin.ch Herrn Dr. Florentin Lutz Werdtweg 4 CH-3007 Bern florentin.lutz@sunrise.ch Herrn Dr. Luca Melchior Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Romanistik Merangasse 70/ III A - 8010 Graz luca.melchior@uni-graz.at Herrn Dr. Giovanni Mischì Institut Ladin Micurà de Rü Stufles 20 I-39030 San Martin de Tor giovanni@micura.it Herrn Prof. Dr. Clà Riatsch Romanisches Seminar der Universität Zürich Zürichbergstrass 8 CH-8032 Zürich riatsch@rom.uzh.ch Herrn Prof. Dr. Jürgen Rolshoven Universität Köln Institut für Linguistik Universitätsstrasse 41 D 50923 Köln rols@spinfo.uni-koeln.de Herrn Prof. Dr. Clau Solèr Loëstrasse 9 CH-7000 Chur clau.soler@bluewin.ch Herrn Dr. Rico Valär Hottingerstrasse 13 CH-8032 Zürich rico@valaer.ch Herrn Massimiliano Verdini 10, via Caruso I-33038 San Daniele del Friuli (Udine) massimilianoverdini@yahoo.it Herrn Prof. Dr. Federico Vicario Dip. di Lingue e letterature straniere Università degli Studi di Udine via Mantica, 3 I-33100 Udine federico.vicario@uniud.it Frau Dr. Gerda Videsott Al Plan Dessora 9 I-39030 St. Vigil in Enneberg (BZ) Gerda.Videsott@unibz.it Herrn Prof. Dr. Paul Videsott str. Catarina Lanz 47 I-39030 Al Plan de Mareo/ St. Vigil in Enneberg (Bz) Paul.Videsott@unibz.it 380 Anschriften der Autoren Akten des V. Rätoromanistischen Kolloquiums Actas dal V. Colloqui retoromanistic Lavin 2011 ediert von Georges Darms unter Mitarbeit von Clà Riatsch und Clau Solèr sowie Barbla Etter und Annetta Zini Vom 28.- 31. August 2011 fand in Lavin das fünfte Rätoromanistische Kolloquium statt. An diesem Kolloquium nahmen beinahe alle wichtigen Forscher teil, die sich mit der bündnerromanischen, dolomitenladinischen und friaulischen Sprache und Literatur beschäftigen. Die dort gehaltenen Vorträge gaben einen hervorragenden Überblick über die laufenden Untersuchungen, Projekte und Ergebnisse auf dem Gebiet dieser drei Sprachgruppen und ihrer Probleme als Minderheitensprachen. Die sehr unterschiedliche geschichtliche Entwicklung der drei Sprachgebiete hatte zur Folge, dass die wissenschaftlichen Themen, die zur Zeit jeweils im Vordergrund stehen, sehr verschieden sind. Im Friaulischen ist man in erster Linie dabei, die zahlreichen historischen Quellen aufzuarbeiten, während im Dolomitenladinischen die Beschreibung der aktuellen Sprache im Vordergrund steht. Im Bündnerromanischen beschäftigt man sich vorwiegend mit der historischen und aktuellen Sprachbeschreibung und mit der Literatur. Die Artikel in diesem Sammelband sind thematisch zusammengestellt und gehen von der Behandlung der historischen Sprachstufen über die Literatur bis zur Sprachpolitik. Er dokumentiert so den Stand der aktuellen Arbeiten auf dem Gebiet der Rätoromanistik auch für ein breiteres Publikum.