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Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern

2013
978-3-7720-5486-0
A. Francke Verlag 
Hendrik Lambertus

In den originalen Riddarasögur, die sich im spätmittelalterlichen Island großer Beliebtheit erfreuten, erleben reisende Ritter Abenteuer in exotischer Ferne. Sie kämpfen gegen Ungeheuer, treten in Wettstreit mit selbstbewussten Mädchenkönigen und kommen auf ihren Reisen bis nach Indien oder Afrika. Immer wieder stehen dabei Begegnungen mit dem Fremden im Vordergrund - mal als monströser Herausforderer, mal als (Zerr-)Spiegel des ritterlichen Helden. Der vorliegende Band untersucht solche Begegnung narratologisch auf verschiedenen Ebenen, von der räumlichen Situierung über Aspekte des Monströsen bis hin zur Dekonstruktion von Gender-Konventionen. Dabei wird deutlich, dass die Grenzen zwischen Held und Monster nur scheinbar klar gezogen sind. Ein Königssohn kann zum bestialischen Werwolf werden oder eine ,unzüchtige' Trollfrau sich als Helferin des Helden erweisen. Es entstehen Grauzonen und Uneindeutigkeiten, die den Leser herausfordern und unter der Oberfläche der ritterlichen Abenteuerwelt die stets aktuelle Frage nach der Identität von Eigenem und Fremdem aufwerfen.

A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 52 Hendrik Lambertus Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser, Silvia Müller, Klaus Müller-Wille, Hans-Peter Naumann, Barbara Sabel, Thomas Seiler Beirat: Michael Barnes, François-Xavier Dillmann, Stefanie Gropper, Annegret Heitmann, Andreas G. Lombnæs Band 52 · 2013 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL Hendrik Lambertus Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8486-7 Umschlagbild: Illustration aus dem Talbot Shrewsbury book , einer prachtvoll bebilderten Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts (British Library, Royal 15 E VI f.). Die Abbildung (21 v.) zeigt die Begegnung Alexanders des Großen mit dem kopflosen Wundervolk der Blemmyae. Inhaltsverzeichnis Vorwort .............................................................................................................................. 9 1. Einleitung ............................................................................................................ 11 1.1 Das vielgestaltige Fremde ........................................................................................ 11 1.2 Identität und Alterität ............................................................................................... 13 1.3 Das Fremde als Relation ........................................................................................... 15 1.4 Das Fremde als verdrängtes Eigenes ...................................................................... 17 1.5 Autorität und Staunen .............................................................................................. 18 1.6 Das Fremde als Bedrohung der Ordnung ............................................................. 20 1.7 Das kolonialisierte Fremde ...................................................................................... 22 1.8 Hybridität und in-between spaces als Auflösung von Dichotomien .................. 25 1.9 Zusammenfassung: Aspekte des Fremden ........................................................... 28 2. Das Fremde in der altisländischen Literatur - ein Streifzug durch die Forschung ..................................................................................................... 31 2.1 Islands Blick auf die Außenwelt .............................................................................. 31 2.2 Fremde Völker und Ungeheuer in der altisländischen Tradition ................... 35 3. Die originalen Riddarasögur - eine Literatur des Fremden? .............. 41 3.1 Zum Begriff der originalen Riddarasaga ............................................................... 41 3.2 Das zentrale Erzählkonzept des Fremden ............................................................ 45 3.3 Eingrenzung des Textcorpus ................................................................................... 48 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 53 4.1 Klare Grenzen? Zur räumlichen Verortung des Fremden ................................ 54 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar ................ 57 4.2.1 Saxland - ein intaktes höfisches Zentrum? ........................................................... 57 4.2.2 Miklagarðr - ein bedrohlicher Hof umgeben von bedrohlicher Fremde ...... 59 4.2.3 Bláland - die ferne Wildnis ...................................................................................... 64 4.2.4 Die steinerne Brücke - der Übergang in die Jenseitswelt ................................. 68 4.2.5 Die Schlangenstadt - ein unscharfer Jenseitsraum zwischen Hof und Wildnis 69 4.2.6 Die Rückkehr aus der Fremde ................................................................................. 78 Inhaltsverzeichnis 6 4.3 Erzählte Räume zwischen Geographie, Topographie und Topologie ........... 81 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum .................. 87 5.1 Dem Fremden eine Gestalt geben - Monster als Normbrüche und Grenzgänger ................................................................................................................ 87 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga ..................................................... 90 5.2.1 Königin Lúpa - Trollfrau, Flugdrache und Regentin ......................................... 90 5.2.2 Von Monstern und Helfern - Valdimars Reise in die Riesenwelt ................... 96 5.2.3 Alba - Riesentochter und höfische Gefährtin ...................................................... 99 5.2.4 Aper - ein menschelndes Monstrum .................................................................. 101 5.2.5 Nigra - die Hüterin des Unzugänglich-Fremden ............................................ 104 5.2.6 Nissus - das Monstrum als ewiger Grenzgänger .............................................. 109 5.2.7 Risi, tr ll, j tunn und andere - eine Nomenklatur zur Kategorisierung des Monströsen ....................................................................................................... 111 5.2.8 Risaland - ein Land der Riesen? .......................................................................... 117 5.2.9 Namensverweigerung und sprechende Namen - die Macht der Benennung über das Fremde ...................................................................................................... 120 5.3 Der marginalisierte Held in seiner monströsen Erzählwelt ........................... 123 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden .......................................................................... 129 6.1 Der Fremde im eigenen Sozialsystem ................................................................ 129 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga ..................................... 134 6.2.1 Áli als verlorener Sohn - zwischen Königshalle und Bauernkate ................. 134 6.2.2 Áli als Bestie - zwischen Ausgrenzung und Integration ................................. 136 6.2.3 Blát nn und Glóðarauga - Trolle bei Hofe als Bedrohung von unten ........ 139 6.2.4 Nótt - eine anti-soziale Trollfrau in der Wildnis ............................................. 141 6.2.5 Hlaðgerðr - die soziale Integration einer Halbtrollin ..................................... 143 6.2.6 J tunoxi - der Trollkönig am Ende der Welt .................................................... 146 6.2.7 Der Held und seine Standesgenossen - der vertraute Hof in der Fremde 148 6.2.8 Bárðr - ein Großbauer zwischen Bauernstand und Aristokratie .................. 151 6.3 Das Spiel mit der verfremdeten Sozialordnung ................................................ 152 7. Trollfrau und meykóngr - das fremde Geschlecht ................................ 155 7.1 Mehr als eine Dichotomie - Geschlechterbeziehungen als Ebene des Fremden 155 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla ........................... 160 7.2.1 Die inkompatiblen Welten von Trollen und Menschen als Grundbedingung der Trollfrauen-Begegnung .................................................................................. 160 7.2.2 Fála und Flegða - ein doppelter Normbruch durch Dominanz und Lüsternheit ............................................................................................................... 161 Inhaltsverzeichnis 7 7.2.3 Das gezähmte Geschlecht - die Trollfrauen als Sigurðs Dienerinnen ........ 164 7.2.4 Sedentiana - ein meykóngr zwischen Vollkommenheit und superbia .......... 166 7.2.5 Die missglückte Zähmung der Widerspenstigen - Hálfdan und Vilhjálmr bei Sedentiana ....................................................................................... 172 7.2.6 Die Zähmung des monströsen meykóngr durch einen monströsen Helden 174 7.3 Die reetablierte Geschlechterordnung - ein Happy End? ............................. 181 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung ................................................................ 187 8.1 Enzyklopädik als Erzählprinzip ............................................................................ 187 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga ........................................... 189 8.2.1 Ein touristischer Reiseanlass ................................................................................ 189 8.2.2 Der Kampf gegen den Honocentaurus - ein Sieg der Kunstfertigkeit ........ 190 8.2.3 Kirialax am Scheideweg: Kriegertum versus Gelehrsamkeit ......................... 196 8.2.4 Der Kampf gegen König Solldans Ungeheuerheer - ein Sieg des Wissens 198 8.2.5 Der Kampf gegen König Solldans heidnisches Ritterheer - Waffengang und Religionsdisput ......................................................................... 201 8.2.6 Die mauretanischen Berserker - ein Sieg der Empirie .................................... 204 8.2.7 Solldans Unterkönige - die Schlacht als Weltkrieg zwischen Zentrum und Peripherie ......................................................................................................... 207 8.2.8 Der Friedensschluss - die Bändigung des Fremden durch seine Marginalisierung ..................................................................................................... 209 8.2.9 Der Kampf um Sizilien - die Marginalisierung und Reintegration des Nordens in der Historie ......................................................................................... 210 8.2.10 Die Fahrt nach Jerusalem - das Zentrum der Heilsgeschichte als erster Wendepunkt der Reise ............................................................................... 212 8.2.11 Die Wunder der Ferne - eine Fahrt ins bekannte Unbekannte .................... 213 8.3 Imagologische Topoi und gelehrte Details - die Saga als erzählerische Weltchronik .............................................................................................................. 217 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen ............................................................. 221 9.1 Das Fremde als Spiegel .......................................................................................... 221 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta ....................................... 223 9.2.1 Hin und her zwischen zwei gespaltenen Zentren - der gespiegelte Raum 223 9.2.2 Die gegenseitige Monströsisierung - gespiegelte Monster ........................... 229 9.2.3 König, Prinz, Gefolgsleute - gespiegelte Sozialordnungen ........................... 234 9.2.4 Die gegenseitige Zähmung der Widerspenstigen - das gespiegelte Geschlecht 236 9.2.5 Ein Wettstreit in den Künsten - der gespiegelte Aspekt der Gelehrsamkeit 238 9.3 Die gespiegelte Erzählwelt als Frage der Perspektive ...................................... 241 Inhaltsverzeichnis 8 10. Schlussbetrachtungen ................................................................................... 243 10.1 Das Fremde als Erzählgegenstand und Erzählprinzip ..................................... 243 10.2 Die vielen Gesichter des Fremden ...................................................................... 246 10.3 Funktionen des Fremden ...................................................................................... 247 10.3.1 Literarisches Spiel und die Lizenzen der Marginalie ....................................... 247 10.3.2 Koloniale Erfahrungen und die Bewältigung einer uneindeutigen Welt .... 248 10.3.3 Ein Spiegel des Rezipienten .................................................................................. 249 10.4 Ausblick ..................................................................................................................... 251 Literaturverzeichnis .................................................................................................. 253 Textausgaben und weitere Primärquellen ..................................................................... 253 Forschungsliteratur ............................................................................................................. 254 Vorwort Als die Suche nach einem Thema für meine Dissertationsschrift anstand, verliebte ich mich schnell in die originalen Riddarasögur. Die wenig erforschten Texte boten nicht nur eine Vielzahl an möglichen kultur- und literaturwissenschaftlichen Zugängen, sondern faszinierten mich auch durch ihre Fabulierfreude. Bei der Orientierung in ihren bunten, widerspruchsreichen Erzählwelten zeichnete sich schließlich das allgegenwärtige Fremde als roter Faden ab, der gewisse Muster in der Vielgestaltigkeit erkennen ließ. Das Ergebnis meiner Bemühungen ist der vorliegende Band. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die an der Universität Tübingen angenommen wurde. Ich hoffe, dass der Leser durch die Lektüre nicht nur neue Perspektiven auf die originalen Riddarasögur gewinnt, sondern vielleicht auch einen Funken jener Begeisterung erahnen kann, die schillerndes Fabulieren auszulösen vermag. Ich danke meiner Betreuerin Frau Prof. Dr. Stefanie Gropper für die weitreichenden Freiheiten, die sie mir bei der Bearbeitung meines Themas gelassen hat. Sie war stets da, wenn ich Rat benötigte, und hat mich ansonsten meine eigenen Wege beschreiten lassen. Einen besseren Rahmen für selbständiges Forschen kann man sich nicht wünschen. Herrn Prof. Dr. Jürg Glauser danke ich für die Übernahme der Zweitkorrektur und den freundlichen Vorschlag, die Arbeit in den Beiträgen zur Nordischen Philologie zu veröffentlichen. Des Weiteren danke ich Herrn Prof. Dr. Klaus Ridder für die Erstellung des Drittgutachtens und die Teilnahme am Promotionskolloquium sowie Frau Prof. Dr. Annette Gerok-Reiter für die Teilnahme am Promotionskolloquium. Frau Prof. Dr. Antje Wischmann hat nicht nur den Vorsitz beim Kolloquium geführt, sondern auch als meine Vorgesetzte an der Abteilung für Skandinavistik der Universität Tübingen durch faire Arbeitsbedingungen dazu beigetragen, dass diese Arbeit beendet werden konnte. Dafür danke ich ihr. Meine Forschungen an den originalen Riddarasögur wurden durch Gespräche und Diskussionen mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen auf Tagungen und bei Kolloquien befruchtet. Mein besonderer Dank gilt hierbei (in alphabetischer Reihung) Stephanie Baur, Vera Johanterwage, Regina Jucknies, Dorothea Kunz, Christiane Lemke, Thomas Mohnike, Werner Schäfke, Eike Schnall, Romana Stoubæk und Kieran Tsitsiklis. Auch von den Studierenden, die an meinen Lehrveranstaltungen teilgenommen haben, ging manch wertvoller Diskussionsimpuls aus. Hierfür sei ihnen gedankt. Ich danke meiner Frau Anne Lambertus dafür, dass sie mir nicht nur den Rücken zum Arbeiten freigehalten hat, sondern mein Projekt auch stets konstruktiv begleitet hat. Ihrem genauen und wachen Blick für Texte verdanke ich viel. Meinen Kindern danke ich für ihr Verständnis dafür, dass Papa immer wieder in die Erforschung fremder Welten abtauchen musste, und für manche Inspiration. Ganz besonderer Vorwort 10 Dank gilt meiner Mutter Heide-Marie Braesch, die mir das Studium ermöglichte und in jeder erdenklichen Lage für mich da war. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Tübingen, im Juni 2012 Hendrik Lambertus 1. Einleitung Wie kann man das Fremde hassen? Man kennt es doch gar nicht. 1 Schüler der Jahrgangsstufe 7, 2008 1.1 Das vielgestaltige Fremde Victor, der junge König von Frakkland, verlässt den heimatlichen Hof auf der Suche nach Ruhm und Reichtum. Im Wald begegnet er einem afrikanischen Ritter mit einem fliegenden Teppich. Die beiden setzen die Reise gemeinsam auf dem Fluggerät fort. Jarlmannr reist nach Serkland, um die entführte Prinzessin Ríkilát zu retten. Hier gelangt er an einen Felsen, der sich öffnet und zahllose Alben, Zwerge, Trolle, Riesen und andere Monstrositäten ausspeit, die grotesken Tänzen und Spielen nachgehen. Vilmundr wächst fern von der Welt des Hofes in einem abgeschiedenen Tal auf. Als er sich im Nebel verirrt, stößt er auf einen merkwürdig glatten Berg mit einem Tor darin. Er geht hinein, wird von Wächtern angegriffen, die er beiläufig besiegt, und begegnet schließlich einer Königstochter. Es stellt sich heraus, dass der weltfremde Held in Wahrheit eine Burg betreten hat. Nitida herrscht als Königin über Frakkland. Sie reist zur Insel Visio am Rande der Welt, um sich dort mit allerlei Zauberwerk einzudecken. Nitida benutzt die Zauberdinge im Folgenden dazu, ihre Unabhängigkeit gegen Königssöhne zu verteidigen, die um ihre Hand anhalten. All diese jungen Adligen sind Protagonisten von fiktionalen Prosa-Erzählungen aus dem spätmittelalterlichen Island, von originalen Riddarasögur. Es ließen sich noch zahlreiche weitere hochgeborene Helden aus anderen Texten dieses Genres hinzufügen, deren Reisen und Schicksale nicht weniger abenteuerlich anmuten. Ihre Erlebnisse reichen von Kämpfen gegen schreckliche Ungeheuer in dunklen Wäldern bis hin zu prachtvollen Banketten an den traumhaft reichen Höfen Asiens, von amourösen Abenteuern in der grobschlächtigen Welt der Riesen und Trolle bis hin zu Begegnungen mit stolzen, wunderschönen Herrscherinnen, die ihr Reich aus eigener Kraft regieren und sich keinem Manne beugen. Diese bunte Fülle scheint das isländische Publikum der Sagas bestens unterhalten zu haben, wäre doch sonst kaum zu erklären, dass viele originale Riddarasögur in zahlreichen Abschriften aus verschiedenen Jahrhunderten vorliegen, die häufig die Überlieferung ‚klassischer‘ Texte wie der Isländersagas in den Schatten stellen. 1 Ich danke meiner Frau Anne Lambertus für die Übermittlung dieses mündlich geäußerten Aphorismus aus dem Ethikunterricht. 1. Einleitung 12 Betrachtet man die oben skizzierten Abenteuer genauer, so wird eine zentrale Gemeinsamkeit deutlich: Alle vier Protagonisten werden auf die eine oder andere Weise mit Menschen, Dingen oder Geschöpfen konfrontiert, die sich von ihnen grundlegend unterscheiden und einer anderen Lebenswelt anzugehören scheinen. Die einschneidenden Begegnungen auf ihren Reisen sind Begegnungen mit Repräsentanten des Fremden. Im Falle Victors, des Helden der Victors saga ok Blávus, ist die Art dieser Begegnung offensichtlich: Der afrikanische Ritter im Wald ist der Angehörige einer fremden Kultur, verfügt mit dem fliegenden Teppich über ein fremdartiges Fortbewegungsmittel und besitzt wohl auch ein fremdartiges Aussehen, wenn sein Eigenname Blávus denn mit der Schwarze korrekt gedeutet ist. 2 Jarlmannr, einer der Helden der Jarlmanns saga ok Hermanns, erlebt in dem geschilderten Beispiel die Begegnung mit dem Fremden nicht auf der Ebene der zwischenmenschlichen Interaktion, sondern im Gegenteil durch eine Entfernung vom Bereich des Menschlich-Vertrauten: Die Erscheinungen aus dem Fels entstammen einer jenseitigen Sphäre, auf die er keinen Einfluss hat, er vermag nicht mit ihnen zu interagieren und ist angesichts ihrer Fremdheit zu Untätigkeit verdammt. Vilmundr aus der Vilmundar saga vi ð utan hingegen nähert sich dem Fremden aus einer anderen Richtung. Während die übrigen Protagonisten an einem Königshof zu Hause sind, wechselt er vom Außenbereich der Wildnis in die Burg. Der Protagonist tritt hier als Fremder auf, dem der Bereich des Hofes unvertraut ist. Nítida schließlich, die Namensgeberin der Nitida saga, geht das Fremde in einem eigentümlichen Doppelschritt an: Sie reist an die Ränder der Welt und entfernt sich zugleich durch ihre Verweigerungshaltung von den Erwartungen, die man hinsichtlich einer Heirat an sie als Königin stellt. Sie residiert als Fremde inmitten der höfischen Gesellschaft, deren Normen sie nicht akzeptiert. Die vorliegende Untersuchung hat sich zum Ziel gesetzt, einen genaueren Blick auf jenes ominöse Fremde zu werfen, das die Welt der originalen Riddarasögur so prägend konstituiert. Bevor dabei die Texte selber zu Wort kommen, sind zunächst einige theoretische und methodologische Vorüberlegungen vonnöten. Als Basis aller folgenden Ausführungen soll im ersten Kapitel der Begriff des Fremden mithilfe verschiedener verwandter Fachdisziplinen so weit umrissen werden, dass er als Analysekategorie verwendet werden kann. Anschließend soll im zweiten Kapitel ein Überblick darüber gegeben werden, welche Rolle diese Kategorie bislang in der altnordistischen Forschung gespielt hat und welche Erkenntnisse dabei über das Fremde in der Kultur des mittelalterlichen Island gewonnen worden sind. Im dritten Kapitel werden die originalen Riddarasögur in diesen Rahmen eingebettet, um dann das Textcorpus vorzustellen, das sich auf der Grundlage der Vorüberlegungen als Fokus der Betrachtungen entwickelt hat. Mit diesem Rüstzeug soll im Hauptteil die 2 Margaret Schlauch geht davon aus, dass »the name of Blávus himself indicates blackness«. Schlauch 1976: 218. Auch Einar Ólafur Sveinsson hält diese Lesart für möglich, schlägt jedoch zudem eine alternative Deutung vor, nach der »blue=‚true-blue‘, faithful, loyal« zu assoziieren sei. Einar Ólafur Sveinsson 1964: clv. 1.2 Identität und Alterität 13 eigentliche Textanalyse vorgenommen werden. Diese hat die Form von sechs Einzeluntersuchungen, die jeweils zentrale Facetten des Fremden anhand einer ausgewählten Saga näher beleuchten. Im Schlusskapitel werden dann die Ergebnisse dieser Untersuchungen zusammengefügt und in den Kontext des literarischen Milieus des spätmittelalterlichen Islands gesetzt. »Von zahlreichen Disziplinen, die sich selber eine systematische Beschäftigung mit Fremdem attestieren, sind bislang keine präzisen Fremdheitsbegriffe ausgebildet worden […].« 3 In dieser Klage Alois Wierlachers aus dem Jahre 1993 sind gleich zwei fundamentale Rahmenaspekte enthalten, die auch heute noch für eine wissenschaftliche Analyse des Fremden Gültigkeit besitzen. Zum einen ist das Kulturthema Fremdheit, so der Obertitel von Wierlachers einführendem Sammelband, ein interdisziplinäres Phänomen, dessen Geltungsbereich weit über den Tellerrand einer jeden Einzelwissenschaft hinausreicht. In den vergangenen Jahrzehnten haben so unterschiedliche Disziplinen wie Soziologie und Ethnologie, Philosophie und Literaturwissenschaft ihre eigenen Fremdheitsstudien mit ihrer jeweils eigenen Methodik betrieben und sind zu unterschiedlichen (Zwischen-)Ergebnissen gelangt. Es existiert nicht die Xenologie als Wissenschaft vom Fremden, sondern vielmehr eine Vielzahl unterschiedlicher Xenologien, die im Idealfall untereinander verwoben sein sollten, vielfach aber nebeneinander herlaufen. Darum ist der folgende Versuch, das Fremde für die Bedürfnisse der vorliegenden Studie näher zu fassen, bewusst als multiperspektivischer Ansatz angelegt, der sich eklektisch Aspekte aus verschiedenen Fächern herausgreift. Des Weiteren geht aus Wierlachers Klage aber auch hervor, dass das Fremde ein schwierig zu umreißender Begriff ist, zu dessen Natur es geradezu gehört, sich einer präzisen Definition zu entziehen. Wie soll man auch etwas klar mit eigenen Kategorien erfassen, dessen Substanz darin besteht, nicht dem Eigenen anzugehören? Diesem Dilemma setzen die Xenologien unterschiedliche Ansätze entgegen, von denen im Folgenden einige aufgegriffen werden sollen. 1.2 Identität und Alterität »Erzeugung von Identität bedeutet notwendig zugleich Erzeugung von Alterität. Das eine ist nur die Kehrseite des anderen.« 4 So spitzen Jan und Aleida Assmann in ihrem Essay Kultur und Konflikt die Bedeutung des Fremden für die Herausbildung einer kulturellen Identität zu. Der Grundtenor ihrer Ausführungen besteht darin, dass Kultur und Konflikt keineswegs als dichotomes Gegensatzpaar zu denken sind. Konflikt herrscht nicht nur dort, wo keine regelnden Kulturinstanzen wie etwa ein Staatssystem einschreiten, sondern entsteht vielfach erst aus der Kultur heraus dadurch, dass man sich beim Etablieren eines kulturellen Systems zwangsläufig von allem abgrenzt, was nicht seinen Gesetzen folgt. In diesem Kontext ist häufig die 3 Wierlacher 1993: 41. 4 Assmann/ Assmann 1990: 27. 1. Einleitung 14 Denkfigur zu beobachten, dass in den Bereichen jenseits des eigenen Kulturraumes Feindbilder modelliert werden, deren soziale Funktion in der »Verstärkung von Gruppenkohäsion und Mobilisierung von Gefolgsbereitschaft« 5 besteht: Das ist der Feind, mit dem die eigene Identität steht und fällt. Wer ihn nicht kennt, kennt sich selbst nicht, wer ihn im Konfliktfall nicht vernichtet, riskiert, von ihm vernichtet zu werden. Dieser Feind ist die »Negation der eigenen Art von Existenz«, und damit ebensosehr deren Bestätigung (also braucht man ihn) wie deren Bedrohung (also muss er vernichtet werden). 6 Die Etablierung solcher Feindbilder hat insbesondere den Effekt, Herrschaftsstrukturen im Bereich des Eigenen zu festigen und legitimatorisch zu überhöhen: »Wo immer ein metaphysischer, existentieller Feind auftritt, verbinden sich ‚Herrschaft‘ und ‚Heil‘ zu einer untrennbaren Einheit.« 7 Kulturschaffung ist also immer auch ein Akt der Abgrenzung nach außen, und diese Abgrenzung kann nur zu leicht die Form annehmen, dass das Fremde auf xenophobe Weise mit dem Feindlichen gleichgesetzt wird. Hierzu trägt insbesondere das Phänomen eines »naiven Ethnozentrismus« 8 bei, der im Rückgriff auf den Ethnologen Wilhelm Mühlmann wie folgt definiert wird: Die limitische Struktur grenzt im idealtypischen Fall die ‚Kultur‘ nicht als eine Form der Lebenshaltung ab gegen andere Formen, die auch als ‚Kulturen‘ gelten könnten, sondern sie involviert ‚Kultur‘ schlechthin als die eigene, d. h. als gültigen Kosmos, demgegenüber alle anderen ‚Kulturen‘ als eigentlich untermenschlich gelten. [...] Erst allmählich und mühsam wird erlernt, daß das ‚Andere‘ auch Menschenähnlichkeit hat. 9 Kultur wird also klassischerweise zunächst nur mit der eigenen Lebensform in Verbindung gebracht, während die Welt des Fremden jenseits ihrer Grenzen als kulturferne Region von ‚Barbaren‘ 10 erscheint. Die Erkenntnis, dass die Welt aus einem Flickenteppich unterschiedlicher Kulturen besteht, die sich relativ zueinander verhalten und keine Absolutheit beanspruchen können, ist dabei zwar potentiell möglich, aber nur auf der Grundlage einer gesteigerten Reflexionsfähigkeit zu vollziehen. Hier sehen die Assmanns zentrale Aufgaben einer kulturwissenschaftlichen Xenologie: »So wie es Sache der Kultur ist, Fremdenscheu zu steigern durch Gruppenbil- 5 Ebd.: 21. 6 Ebd.: 21. Die Assmanns setzen sich bei der Darstellung dieser Denkfigur mit den Erwägungen des Staatsrechtlers Carl Schmitt auseinander. 7 Ebd.: 23. 8 Ebd.: 28. 9 Ebd.: 28. 10 Eine eindrucksvolle Darstellung, wie sich die ‚Barbarisierung‘ der Außenwelt paradigmatisch in der griechischen Antike vollzog, findet sich bei Dihle1994: 47-53. Dihle nennt die Diskrepanz zwischen dem hohen Stand von Wissenschaft und Technik der Griechen einerseits und der politischen Machtlosigkeit der uneinigen Poleis angesichts des mächtigen Perserreiches andererseits als zentralen Grund für die Herausbildung von »Bildungshochmut« (ebd.: 52) den nichtgriechischen ‚Barbaren‘ gegenüber. 1.3 Das Fremde als Relation 15 dung, Verfestigung von Gemeinsamkeiten und distinktive Symbolik, könnte es Sache einer Xenologie sein, diese Prozesse kritisch zu beleuchten.« 11 Wenn man diese Erwägungen auf den Untersuchungsgegenstand der originalen Riddarasögur überträgt, scheint der Erzählkosmos dieser Gattung das entworfene Modell von Kultur und Konflikt zunächst zu bestätigen: Die Welt dieser Sagas gruppiert sich um einen zentralen Bereich der höfischen Kultur herum, dem der ritterliche Held in aller Regel entstammt, und setzt ihm einen Außenbereich jenseits dieser Kultur entgegen, der durch den Helden bereist wird und letztendlich von ihm bezwungen werden muss. Heil entsteht dadurch, dass der Held die Herrschaft über zunächst ‚kulturferne‘, d. h. nicht-höfische, Bereiche der erzählten Welt antritt. Der Prozess der Abgrenzung wird durch leuchtende Symbole und die krasse Zeichnung von Feindbildern überdeutlich gemacht: auf der einen Seite prunkvolle Hoffeste und märchenhaft-üppige Ausstattung als Zeichen des höfischen Eigenen, auf der anderen Seite monströs überzeichnete Gegner wie dunkelhäutige, gestaltwandelnde Berserker als Repräsentanten des Raumes jenseits der höfischen Kultur. Die originalen Riddarasögur scheinen geradezu ein Paradebeispiel für die von den Assmanns aufgezeigten Denkfiguren der Identitätsstiftung durch xenophobe Abgrenzung zu sein. Im Hauptteil dieser Untersuchung wird jedoch dargestellt werden, dass die Strukturen der dichotomisierenden Abgrenzung lediglich an der Oberfläche der Texte vorliegen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass die Ausführungen der Assmanns zwar die Bedeutung des Fremden für die kulturelle Identitätsstiftung eindrucksvoll herausstellen, dabei die theoretische Definition dieses Fremden jedoch auf seine kulturelle Funktion beschränken - es wird ex negativo betrachtet, im Sinne von ‚alles, was nicht zum eigenen Kulturraum gehört‘, jedoch darüber hinaus als theoretisches Konzept nicht weiter ausgearbeitet. 1.3 Das Fremde als Relation Georg Simmel grenzt in seinem Exkurs über den Fremden verschiedene mögliche Konzepte des Fremden voneinander ab. Zunächst einmal hält er fest, dass es sich beim Fremdsein um eine »besondere Wechselwirkungsform« handelt. »[D]ie Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd [...], sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah.« 12 Etwas kann also nur insofern fremd sein, als es in Beziehung zu einem anderen tritt; zwei Bereiche, die miteinander in keine Interaktion treten können, bilden auch kein Verhältnis der Fremdheit aus, mögen sie auch noch so verschieden sein. Der besondere Fall eines radikalen, völlig unzugänglichen Fremden wird aus Simmels Betrachtungen explizit 11 Assmann/ Assmann 1990: 39. 12 Simmel 1923: 765. 1. Einleitung 16 ausgeschlossen. Dennoch kennt auch Simmel eine extreme Form der Fremdheit, die an Beziehungslosigkeit grenzt: Andererseits gibt es eine Art von ‚Fremdheit‘, bei der gerade die Gemeinsamkeit auf dem Boden eines Allgemeineren, die Parteien Umfassenden, ausgeschlossen ist: hierfür ist etwa das Verhältnis der Griechen zum βάρβαρος typisch, all die Fälle, in denen dem Anderen gerade die generellen Eigenschaften, die man als eigentlich bloß menschlich empfindet, abgesprochen werden. 13 Hier wird also der Fall skizziert, der auch schon den oben betrachteten Ausführungen der Assmanns zur identitätsstiftenden Funktion des Fremden zugrunde lag - dem Fremden, von dem man sich bewusst zur Etablierung des Eigenen abgrenzt, wird in xenophobem Ethnozentrismus jede Gemeinsamkeit mit diesem Eigenen aberkannt. Daneben betrachtet Simmel jedoch auch den deutlich konstruktiveren Fall eines Fremden, das mit dem Eigenen in eine Austauschbeziehung tritt, ohne komplett darin aufzugehen: Er [der Fremde] ist innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises - oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog ist - fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er nicht von vornherein in ihn gehört, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt. 14 Das Fremde wird hier durch eine Raummetapher definiert: Es handelt sich um eine Entität, die von einem Raumgefüge in ein anderes übertritt und dabei Eigenschaften mit sich bringt, die diesem nicht zugehörig sind. Fremdsein stellt eine Form des Grenzübertritts dar, bei dem das Ferne nahe gebracht wird. 15 Simmel entwickelt diese Definition in einem soziologischen Kontext, bezogen auf Gruppen, die sich als Fremde in einer bestimmten Gesellschaft bewegen und diese so mit der besonderen Konstellation der Nähe des Fernen konfrontieren (er nennt die jüdische Bevölkerung Europas im Mittelalter als klassisches Beispiel für eine solche fremde Gruppe). Die Definition lässt sich jedoch durchaus von diesem Kontext lösen, wenn man die Faktoren der Gruppe und der räumlichen Fixiertheit beiseite lässt und sich auf den abstrakteren Aspekt des Raumübertritts konzentriert. Der Held einer originalen Riddarsaga ist nach dieser Sichtweise ein Fremder, wenn er in die Welt jenseits des Hofes hinaus zieht, weil er neue qualitative Merkmale in einen Raum hinaus trägt, die diesem nicht inhärent sind - er bringt das Höfische in die Wildnis, das Menschliche in den Bereich des Monströsen und dergleichen mehr. Aus dem gleichen Grund ist ein Drache, der einen Königshof überfällt, um die örtliche Prinzessin zu rauben, bei dieser Aktion ein Fremder, eine fremdartige Bedrohung: Er trägt Aspekte der unkultivierten Wildheit und des Monströsen in den Ide- 13 Ebd.: 769-770. 14 Ebd.: 765. 15 Ähnliche Gedanken entwickelt Lotman in seiner Theorie des erzählten Raumes für den Grenzübertritt als Ereignis. In Anlehnung an Lotman ließe sich formulieren: Das Auftreten des Fremden ist ein Ereignis, im Zuge dessen die Grenzen qualitativ unterschiedlicher Räume überschritten werden. Siehe hierzu Abschnitt 4.1 dieser Arbeit. 1.4 Das Fremde als verdrängtes Eigenes 17 alraum des Hofes hinein. Eine besondere Stärke von Simmels Definition besteht darin, dass sie sich nicht auf streng dichotome Konstellationen beschränkt, sondern auch subtilere Raumübertritte abdeckt: etwa den Helden, der als Fremder für längere Zeit bei einer Trollsippe haust, oder die Trollfrau, die als Magd an einem Königshof dient - es geht in solchen Fällen nicht um einen absoluten Gegensatz zwischen Fremden und Eigenem, sondern um verschiedene Arten der Wechselbeziehung, die bei Grenzüberschreitungen entstehen und deren genaue Art im Hauptteil dieser Untersuchung herausgearbeitet werden wird. Bislang sind also zwei essentielle Merkmale des Fremden als Grundlage für die vorliegende Untersuchung zu nennen: Es dient zum einen der Herausbildung einer (kulturellen) Identität des Eigenen, die man vom fremden Außenraum abgrenzen kann, und es stellt sich zum anderen als Wechselbeziehung dar, bei der eine Grenze überschritten wird und neue Qualitäten in einen Raum eingebracht werden, dem diese bislang nicht zugehörig waren. Aus diesen beiden Grundannahmen lässt sich eine weitere Eigenart des Fremden herleiten: Es fordert die Identität des Eigenen heraus, dekonstruiert sie gar im extremen Fall. Dies ist die Kehrseite seiner Funktion als Abgrenzung des Eigenen. Wenn Aspekte des fremden Außenraums in die Welt des Eigenen eintreten und mit diesem interagieren, wird die bislang bestehende Ordnung von fremd und eigen bedroht und schließlich aufgehoben. Die Reaktion hierauf kann von erbittertem Krieg bis zu einem fruchtbaren Dialog reichen, der das Eigene qualitativ verändert und eine neue Grenze des Fremden zieht. 1.4 Das Fremde als verdrängtes Eigenes Den identitätsbedrohlichen Aspekt des Fremden greift Julia Kristeva in ihrer bekannten essayistischen Reflexion Fremde sind wir uns selbst auf. Dabei geht sie von einer Definition des Fremden aus, die sich ex negativo auf Nicht-Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe bezieht: Wer ist Fremder? Derjenige, der nicht Teil der Gruppe ist, der nicht ‚dazu gehört‘, der andere. [...] Anders als welche Gruppe? Wenn man in der Zeit und in den gesellschaftlichen Strukturen zurückgeht, ist der Fremde der andere der Familie, des Clans, des Stammes. Er verschmilzt anfangs mit dem Feind. Da er meiner Religion nicht angehört, könnte er der Ungläubige, der Ketzer sein. Da er meinem Herrn keine Treue geschworen hat, gehört er einem anderen Land an, ist dem Königreich oder Imperium fremd. 16 Das Fremde wird auch in Kristevas Argumentation vor allem durch die soziale Exklusion im Kontext der Etablierung und Selbstlegitimierung von (Macht-)Gruppen definiert. Bei ihrer Deutung der bedrohlichen Aspekte dieses Phänomens geht sie jedoch über die soziale Ebene hinaus: 16 Kristeva 1990: 104. 1. Einleitung 18 Fremder: erstickte Wut tief unten in der Kehle, schwarzer Engel, der die Transparenz trübt, dunkle, unergründliche Spur. Der Fremde, Figur des Hasses und des anderen, ist weder das romantische Opfer unserer heimischen Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des Gemeinwesens die Verantwortung trägt. [...] Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst: Er ist die verborgene Seite unserer Identität [...]. 17 Nach Kristevas psychoanalytischem Denkansatz entfaltet sich das bedrohliche Potential des Fremden insbesondere dadurch, dass es in Wahrheit für die verdrängten, verborgenen Anteile des Eigenen steht, denen ein Spiegel vorgehalten wird. »Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unterbewußtes - dieses ‚Uneigene‘ unseres nicht möglichen ‚Eigenen‘.« 18 In dieser verstörenden Konstellation steckt jedoch zugleich auch eine besondere Chance: »Wenn wir unsere Fremdheit erkennen, werden wir draußen weder unter ihr leiden, noch sie genießen. Das Fremde ist in mir, also sind wir alle Fremde. Wenn ich Fremder bin, gibt es keine Fremden.« 19 Ist das Fremde durch Selbstreflexion erst einmal als Projektion der verdrängten Aspekte des Eigenen erkannt, wird sein Status als Fremdes hinfällig und die künstliche Dichotomie von eigen und fremd bricht in sich zusammen. Kristevas Betrachtungsweise des Fremden ist im vorliegenden Kontext vor allem dann relevant, wenn im Bereich des Fremden kulturelle Verhaltensweisen thematisiert werden, die in der Kultur des Eigenen ein Tabu darstellen, also verdrängt werden. So berichten etwa die originalen Riddarasögur häufig von grobschlächtigen Trollfrauen, deren offensives Wesen und promiskuitives Sexualverhalten geltende Normen des Weiblichen nach dem höfischen Ideal in Frage stellen. In diesen Kontext fallen auch viele Wundervölker der mittelalterlichen Kosmographie, deren Absonderlichkeit nicht nur in körperlichen Deformierungen bestehen kann, sondern auch in Bräuchen, die im christlichen Europa undenkbar wären - etwa Kannibalismus oder die Sitte, durchreisenden Fremden die Frauen des Haushalts als Sexualpartner zur Verfügung zu stellen. Hier kommt dem Fremden die Funktion zu, in einem ‚sicheren‘ Bereich weiter Ferne Dinge ausdrücken zu können, die im Bereich des Eigenen keinen Platz haben dürfen. Die wichtigste Ausdrucksform für diesen normüberschreitenden Aspekt des Fremden stellt die Figur des Monsters dar. 20 1.5 Autorität und Staunen Als Gegenpol zu diesem bedrohlichen Potential des Fremden, verdrängten Aspekten des Eigenen einen Spiegel vorzuhalten, muss auf der anderen Seite eine weitere 17 Ebd.: 11. 18 Ebd.: 208-209. 19 Ebd.: 209. 20 Grundlegendes zur kulturellen Funktion der Wundervölker im europäischen Mittelalter findet sich bei Friedman 1981. Das Monströse in den originalen Riddarasögur wird in Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit ausführlich behandelt. 1.5 Autorität und Staunen 19 Auswirkung seiner Präsenz in Betracht gezogen werden: das Hervorrufen von Staunen und Verwunderung. In seiner Monographie Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker untersucht Stephen Greenblatt, wie die Entdeckung und Erfahrung der Neuen Welt in Quellen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit konstruiert wird. Dabei zeigt er verschiedene Wege auf, mit der empirischen Erfahrung von etwas radikal Neuem umzugehen. Zum einen ist in diesem Kontext die traditionelle Herangehensweise zu nennen, das Erfahrene mit den überlieferten Schriften der kosmographischen Autoritäten in Einklang zu bringen und die Entdeckung so als bloße Bestätigung des bereits Bekannten umzudeuten. In Anlehnung an Todorov spitzt Greenblatt zu: »Die erfolgreichste Reise wäre demnach in gewissem Sinne jene, auf der man so gut wie gar nichts lernt, auf der die meisten Zeichen nur bestätigen, was man ohnehin schon weiß.« 21 Der Aspekt der Verwunderung wird in diesem Fall auf ein Minimum reduziert - schließlich konnte man zuvor schon nachlesen, was einem in der Ferne erwarten wird, die Welt stellt ein sicheres System bereits gedeuteter Zeichen dar. 22 Zum anderen fordert die Neue Welt die europäischen Beobachter aber auch dazu heraus, sich dem radikal Unbekannten zu stellen und den Einbruch des Fremden in das vormals geschlossene System der überlieferten Kosmographie zu akzeptieren: Die Entdeckung der Neuen Welt entwertete einerseits die antiken Autoren, die von diesen Ländern keine Ahnung hatten, aber indem sie zugleich die Möglichkeit eröffnete, daß die vermeintlich krassen Übertreibungen und Lügen der Alten in Wirklichkeit nüchterne Darstellungen eines radikal Anderen waren, verlieh sie andererseits den klassischen Berichten über Ungeheuer eine neue Brisanz. 23 Die Neue Welt wird zum Ort jener unglaublichen Ungeheuerlichkeiten, die die klassische Kosmographie in den Randzonen der Alten Welt angesiedelt hatte. Die neue Strategie der Legitimation ist nicht mehr die Bestätigung durch autoritative Schriftquellen, sondern das Staunen und die Verwunderung darüber, dass die empirische Realität der Neuen Welt sogar über die Wunder jener Quellen hinaus reicht. Das Wunderbare ist also ein zentrales Merkmal des ganzen komplexen, verbalen und visuellen, philosophischen und ästhetischen, geistigen und emotionalen Repräsentationssystems, mittels dessen die Europäer des Spätmittelalters und der Renaissance das Unvertraute, das Fremde, das Schreckliche, das Wünschens- und Hassenswerte in Besitz nahmen oder verwarfen. 24 In den originalen Riddarasögur finden sich beide Arten der Konstruktion von Fremdheitserfahrungen, sowohl die autoritative Vereinnahmung durch das Eigene als auch die Darstellung von Staunen und Verwunderung angesichts der Durchbre- 21 Greenblatt 1994: 138. 22 Ein markantes Beispiel hierfür aus der altnordischen Literatur wäre etwa die Deutung Vínlands als Teil von Afrika, der mit ‚altbekannten‘ Wundervölkern wie den Skiopoden bevölkert ist. Siehe hierzu die Ausführungen Sverrir Jakobssons, die auf S. 32-33 der vorliegenden Arbeit dargestellt sind. 23 Greenblatt 1994: 38. 24 Ebd.: 39. 1. Einleitung 20 chung festgefügter Weltvorstellungen. Ersterer Fall ist dann zu beobachten, wenn die Sagas Anleihen aus der überlieferten Kosmographie aufgreifen und die Erfahrungswelt des reisenden Sagahelden in Übereinstimmung zu den geltenden Autoritäten gestalten. Dieses Vorgehen wird in Kapitel 8 am Beispiel der Kirialax saga näher beleuchtet werden. Die Darstellung des Wunderbaren gestaltet sich weniger deutlich, schweigen sich die originalen Riddarasögur doch zumeist über die emotionalen Reaktionen des Helden aus und lassen ihn nur selten explizit über etwas staunen. Der Aspekt des Staunens ist hier eher auf der Rezipientenebene anzusetzen, wenn die Sagas sich gegenseitig darin zu übertreffen versuchen, die Zuhörer mit zahllosen Wundern des Ostens, merkwürdigen Geschöpfen und seltsamen Zaubergegenständen zu konfrontieren. 25 Auf der Ebene seiner Wirkung sind also mindestens zwei zentrale Eigenarten des Fremden zu unterscheiden: Einerseits tritt es bedrohlich als Zerrspiegel tabuisierter Aspekte des Eigenen auf, andererseits kann es Verwunderung und Staunen hervorrufen, wenn es die Grenzen dessen überschreitet, was zuvor dem Eigenen vertraut war und als möglich galt. Überlieferte Autoritäten haben dabei einerseits die Funktion, radikale Erfahrungen des Fremden abzumildern, indem das vermeintlich Fremde als Teil ihres Rahmensystems semiotisiert wird, können aber andererseits den verstörenden Effekt des Fremden noch verstärken, wenn es explizit aus dem System einer geschlossenen Welt autoritativ beglaubigter Zeichenhaftigkeit ausbricht. 1.6 Das Fremde als Bedrohung der Ordnung Bernhard Waldenfels betont in seinen philosophischen Untersuchungen zum Fremden insbesondere dessen systemüberschreitenden Charakter. Er spricht in diesem Kontext von verschiedenen Ordnungen, zu denen das Fremde jeweils relational definiert ist, indem es jenseits von ihnen steht: »Mit dem Wandel der Ordnung wandelt sich auch das Fremde, das so vielfältig ist wie die Ordnungen, die es übersteigt und von denen es abweicht.« 26 Ordnungen entstehen, wenn die Welt durch Prozesse der Grenzziehung in verschiedene Teilbereiche untergliedert wird. Solche Grenzziehungen werden als Grundkonstante des Menschen betrachtet, der in diesem Kontext zugespitzt als »Grenzwesen« 27 bezeichnet wird. Die genaue Art der Grenzziehung ist konkreten kulturellen Variablen unterworfen: Man darf davon ausgehen, dass jede Epoche, speziell gesprochen: jede Kultur, Gesellschaft, Lebenswelt oder Lebensform sich in bestimmten Grenzen bewegt, daß aber der 25 Vgl. etwa die Darstellung Indiens mit seinen Wundern und Gefahren in der Kirialax saga, siehe Abschnitt 8.2.12. 26 Waldenfels 2006: 15. 27 Ebd. 1.6 Das Fremde als Bedrohung der Ordnung 21 Umgang mit den Grenzen, der stets von einer entsprechenden Grenzpolitik begleitet wird, erheblich variiert. 28 Was innerhalb der Ordnung einer bestimmten gegebenen Kultur gedacht werden kann und seinen Platz hat, macht deren Eigenes aus, was außerhalb dieser Grenzen liegt, ist für sie fremd. »Eigenes entsteht, indem sich ihm etwas entzieht, und das, was sich entzieht, ist genau das, was wir als fremd und fremdartig erfahren.« 29 Ein absolutes Fremdes im streng Waldenfelsschen Sinne ist natürlich im Medium der Literatur ähnlich unmöglich darstellbar wie Simmels Bewohner des Sirius - es läge schlicht außerhalb der semiotischen Möglichkeiten des Eigenen. Waldenfels präzisiert in diesem Kontext jedoch, dass »im interpersonalen wie im interkulturellen Bereich von einem absolut oder total Fremden nicht die Rede sein kann. Eine Sprache, die uns völlig fremd wäre, könnten wir nicht einmal als Fremdsprache vernehmen.« 30 Ein relatives Fremdes aber, das eine Ordnung in Frage stellt und trotzdem von Standpunkt dieser Ordnung aus sichtbar ist, entzieht sich auch den Mitteln der narrativen Darstellung nicht. In diesem Kontext unterscheidet Waldenfels sehr genau zwischen Eigenem und Selbem einerseits und Fremdem und Anderem andererseits. Nur weil zwei Dinge nicht dasselbe sind, sich also als andere gegenüberstehen, sind sie sich noch nicht notwendig fremd. »Baumaterialien wie Holz und Beton oder Weinsorten wie Beaujolais und Rioja sind durchaus voneinander verschieden, doch daß eines dem anderen fremd wäre, wird normalerweise niemand behaupten.« 31 Der springende Punkt bei diesem Beispiel besteht darin, dass die verschiedenen Baustoffe bzw. Weinsorten trotz aller Verschiedenartigkeit jeweils Teil eines gemeinsamen Obersystems sind, derselben Ordnung angehören, so dass sie nebeneinander bestehen können, ohne sich gegenseitig in Frage zu stellen. Ihre Unterscheidung findet »ihren Rückhalt in einem dialektisch zu vermittelndem Ganzen«. 32 Diese auf den ersten Blick vielleicht trivial wirkende Unterscheidung kann zu weitreichenden Folgen bei der Beurteilung von Darstellungsformen des Fremden führen. So wäre man zum Beispiel als moderner Leser gewiss geneigt, das Auftreten monströser Wundervölker in den originalen Riddarasögur als typische und überdeutliche Repräsentationsformen von Fremdheit zu deuten. Wenn die entsprechende Saga sich jedoch eng an den Rahmen der klassischen Kosmographie anlehnt, wo solche Völker spätestens seit Plinius kanonisch sind, handelt es sich hier im Grunde genommen nicht um eine Darstellung von Fremdheit, sondern von Andersartigkeit im Waldenfeldschen Sinne, sind die besagten Völker doch in der umfassenden Ordnung der Kosmographie erfasst. Umgekehrt können Figuren, die auf den ersten Blick deutlich weniger fremdartig als ein kopfloser Blemmyae wirken, als Repräsentanten des Fremden gedeutet werden, wenn ihre Taten im Widerspruch zu jenen 28 Waldenfels 2006: 16. 29 Ebd.: 20. 30 Ebd.: 118. 31 Ebd.: 21. 32 Ebd.: 20. 1. Einleitung 22 großen Ordnungen stehen, die den Bezugsrahmen der originalen Riddarasögur bilden, etwa die idealisierte höfische Kultur oder das christliche Europa. Waldenfels entwirft seine Gedanken zum Fremden vor dem Hintergrund eines modernen Subjekt-Begriffs. Sie fußen auf der »Entdeckung eines Selbst, das ‚ich‘ sagt, bevor es als ‚Subjekt‘ tituliert wird, und das in seiner Selbstbezüglichkeit das Beziehungsgefüge des Ganzen sprengt [...].« 33 Dieses Subjekt sieht sich nicht mehr als Teil einer gegebenen kosmischen Ordnung, sondern erkennt, dass es die Ordnung (und somit auch die Abgrenzung von Eigenem und Fremdem) erst in seiner Rolle als Ordnungsstifter schafft. Waldenfels’ phänomenologischer Ansatz verortet die Grenze von Eigenem und Fremden in der Weltwahrnehmung des spezifischen Betrachters. Im Kontrast hierzu konstatiert Waldenfels für die vormoderne Zeit ein »[g]renzenloses All« 34 , in dem alles Teil einer umfassenden, geschlossenen Gesamtordnung ist. »Einfach gesagt: der Kosmos ist eine Ordnung ohne Außen, in dem es nur Binnengrenzen gibt.« 35 In solch einem geschlossenen Kosmos gibt es kein davon losgelöstes Subjekt, das sich als Ordnungsstifter betätigt und Differenzierungen vornimmt - alles hat per se seinen angestammten Platz, ohne dass ein fremder Außenraum denkbar wäre. Bezogen auf die vorliegende Untersuchung mag es zunächst problematisch erscheinen, eine solch subjektiv-phänomenologisch orientierte Herangehensweise auf Texte des Mittelalters anzuwenden. Waldenfels erwähnt jedoch explizit, dass es auch in vormodernen Weltordnungen »Figuren, die sich nicht in diesem Panorama einfügen« 36 gibt, z. B. die Vertreter mystischer Nebenströmungen im Kontrast zur Orthodoxie eines religiösen Weltbildes mit Absolutheitsanspruch. Dieser Gedanke lässt sich auch auf jene Ordnungssysteme übertragen, die den Hintergrund der originalen Riddarasögur bilden, etwa die christliche Religion, die überlieferte Kosmographie oder die Werte der höfischen Kultur. Die vorliegende Untersuchung geht von der These aus, dass auch die originalen Riddarasögur die Ordnungen ihrer erzählten Welt bewusst problematisieren, indem sie sie mit einem ordnungsdurchbrechenden, also fremden Außenraum kontrastieren. Wie diese Problematisierung im Einzelnen erfolgt, wird im Hauptteil der Analyse zu behandeln sein. 1.7 Das kolonialisierte Fremde Die Art und Weise, wie Repräsentationsformen des Fremden in literarischen und anderen Diskursen konstruiert werden, ist eines der zentralen Themen der postkolonialen Literatur- und Kulturwissenschaft. Ihr Gründungsvater Edward Said beschäftigt sich in seiner bekannten Studie Orientalism mit dem titelgebenden Phänomen des Orientalismus, also der Konstruktion eines monolithischen Konzepts vom 33 Ebd.: 19. 34 Ebd.: 16. 35 Ebd.: 17. 36 Ebd.: 18. 1.7 Das kolonialisierte Fremde 23 Orient im Diskurs der westlichen Kolonialmächte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. »[A] wide variety of social, linguistic, political, and historical realities« 37 wird nach Said in der Betrachtung des Westens künstlich unter der ‚Orient‘-Chiffre zusammengedrängt und mit Stereotypen belegt, die eine inferiore Position der ‚Orientalen‘ suggerieren. Diese Repräsentation des ‚Orients‘ sei letztendlich unzertrennbar mit dem Machtdiskurs des Kolonialismus verknüpft - die so erzeugte Dichotomie zwischen dem irrationalen, passiven Orient und dem rationalen, aktiven Okzident wird als eine Art immergültige Wahrheit konstituiert, als deren Folge sich die westliche Kolonialherrschaft in weiten Teilen Asiens legitimieren lässt. Die Konstruktion des Orients auf der Diskursebene geht nach Said direkt mit der Schaffung hegemonialer Vorherrschaft auf der realpolitischen Ebene einher. Für den Kontext der vorliegenden Untersuchung ist vor allem relevant, dass die Rolle, die der Orient nach Said dem Westen gegenüber einnimmt, insbesondere die einer Negativ-Folie des Fremden ist. »The Orient was almost an European invention, and had been since antiquity a place of romance, exotic beings, haunting memories and landscapes, remarkable experiences. […]«, heißt es schon in der Einleitung, wo der Orient auch als »one of its [Europes] deepest and most recurring images of the Other« bezeichnet wird. 38 Said betont immer wieder, wie sehr der Diskurs vom fremden Orient in der Form klarer, zugespitzter Dichotomien konstruiert wird: »The Oriental is irrational, depraved (fallen), childlike, ‚different‘; thus the European is rational, virtuous, mature, ‚normal.‘« 39 Diese Dichotomisierung nimmt dabei den Charakter einer regelrechten Zweiteilung der Welt in einen Bereich des westlichen Eigenen einerseits und des orientalischen Fremden andererseits an: For Orientalism was ultimately a political vision of reality whose structure promoted the difference between the familiar (Europe, the West, ‚us‘) and the strange (the Orient, the East, ‚them‘). The vision in a sense created and then served the two worlds thus conceived. Orientals lived in their world, ‚we‘ lived in ours. 40 Die europäische Expansion im Zeitalter des Kolonolismus geht nach Said direkt mit dieser Dichotomisierung einher, in ihrer moralischen Legitimation sogar aus ihr hervor: There are Westerners, and there are Orientals. The former dominate; the latter must be dominated, which usually means having their land occupied, their internal affairs rigidly controlled, their blood and treasure put at the disposal of one or another Western power. 41 Said nimmt keine genauere theoretische Reflexion dieses orientalischen Fremden vor, das entsprechend auch mit unterschiedlichen, eher unscharfen Begriffen wie 37 Said 1978: 50. 38 Ebd.: 1. 39 Ebd.: 40. 40 Ebd.: 43-44. 41 Ebd.: 36. 1. Einleitung 24 »the Other« 42 oder »the strange« 43 bezeichnet wird. Wohl aber liefert er eine eingehende Analyse des Prozesses, wie der Diskurs von einem solchen Fremden etabliert wird, das dann bewältigt, d. h. letztendlich politisch beherrscht, werden muss. Ein zentrales Mittel hierfür ist nach Said die Konstruktion einer imaginative geography. Mit einem Rückgriff auf Lévi-Strauss geht Said von einem kulturellen Grundbedürfnis aus, die Welt nach möglichst klaren, handelbaren Kategorien zu ordnen: »[M]ind requires order and order is archieved by discriminating and taking note of everything, placing everything of which the mind is aware in a secure, refindable place«. 44 Im Zuge dieser mentalen Ordnung der Welt wird auch das geographische Umfeld mit seinen Bewohnern kategorisiert, es wird ein vertrauter Bereich des Eigenen konstruiert, der von einem unscharf konturierten Bereich des Fremden umgeben ist. Die Zuschreibungen, was genau die ‚Barbaren‘ des Außenraumes ausmacht, können dabei losgelöst von jeder empirischen Realität und rein willkürlich mit dem einzigen Zweck erfolgen, das Fremde in seinem krassen Gegensatz zum Eignen abzugrenzen: »[T]his universal practice of designating in one’s mind a familiar space which is ‚ours‘ and an unfamiliar space beyond ‚ours‘ which is ‚theirs‘ is a way of making geographical distinctions that can be entirely arbitrary.« 45 Zur Eigendefinition einer jeden Gesellschaft gehört demnach ein (teilweise oder weitestgehend) imaginativer Bereich des Fremden außerhalb, der als Negativfolie einer positiven Selbstdentifikation dient. 46 Der Diskurs vom exotischen, inferioren Orient erfüllte nach Said während des Kolonialismus diese Funktion in der westlichen Kultur (und tut dies z. T. bis heute). Die Funktionsweise einer solchen imaginativen Geographie des Fremden wird von Said mit der Metapher einer Bühne für Betrachter aus dem Bereich des Eigenen illustriert: [T]he orient is the stage on which the whole East is confined. On this stage will appear figures whose role is to represent the larger whole from which they emanate. The Orient then seems to be, not an unlimited extension beyond the familiar European world, but a rather a closed field, a theatrical stage affixed to Europe. 47 Said entwickelt seinen theoretischen Ansatz bezogen auf den konkreten historischen Kontext des Kolonialismus und seiner spezifischen Diskurse. Doch lassen sich solche allgemeinen Konzepte wie das einer imaginative geography ohne Schwierigkeiten auch auf andere Diskurse übertragen. Bezogen auf das Thema der vorliegenden Untersuchung kann die Frage etwa lauten, inwiefern die originalen Riddarasögur in ihrer Darstellung der Welt eine ebensolche imaginative geography entwickeln, die auf 42 Ebd.: 1. 43 Ebd.: 43. 44 Ebd.: 53. 45 Ebd.: 54. 46 Dieser Gedankengang entspricht den Assmanschen Ausführungen, dass die Erzeugung von Identität zwangsläufig mit der Erzeugung von Alterität einher geht. Siehe S. 13-15. 47 Said 1978: 63. 1.8 Hybridität und in-between spaces als Auflösung von Dichotomien 25 bestimmten Diskursen des christlichen Europa über die Welt jenseits der Grenzen des Eigenen beruht. Um in der Metaphorik Saids zu bleiben: Inwiefern stellen diese Texte eine (experimentelle) literarische Bühne dar, auf der verschiedenartige Vertreter des Fremden stellvertretend für ein größeres Ganzes des Fremden agieren, das so in den diskursiven Grenzen der erzählten Welt beschreibbar und letztendlich überwindbar gemacht wird? Saids Dichotomie von Europa und Orient, aus der die Kolonialisierung des Letzteren als logischer Schluss folgt, entspricht hier die Dichotomie von Hof und Nicht-Höfischem, Mensch und Monstrum, urbanisierter Welt und Wildnis - mit der logischen Konsequenz der Bewältigung und Eroberung all jener Bereiche des Nicht-Eigenen durch den reisenden Helden. Wenn auch noch zu zeigen sein wird, dass sich die erzählte Welt der originalen Riddarasögur nicht so einfach dichotom verhält, wie diese Gedankengänge nahelegen, bilden die Sagas vielfach doch einen Diskurs der Unterwerfung des Fremden ab, der mit den von Said untersuchten Phänomenen der Frühmoderne gedankliche Verwandtschaft aufweist. 48 1.8 Hybridität und in-between spaces als Auflösung von Dichotomien Die scharfe, dichotome Grenzziehung, die der Orientalismus-Diskurs nach Said zwischen Kolonialherren und Kolonialisierten vornimmt, ist ihm von der späteren postkolonialen Literaturwissenschaft zum Vorwurf gemacht worden. 49 Dabei wird nicht nur die Tendenz zur Simplifizierung eines komplexen Beziehungsgeflechts angeführt, sondern insbesondere auch das Ausblenden all jener Aspekte in der Position des Kolonialisierten, die ihn keineswegs immer nur als inferioren Diener erscheinen lassen, sondern auch durch subversive Strategien des Widerstands eine gewisse Macht zugestehen. Durch die extreme Überspitzung in westliche Herrscher einerseits und östliche Beherrschte andererseits habe Said sogar die von ihm kritisierten Missstände theoretisch fundamentiert, indem er jene besondere Konstellationen ignoriere, bei denen beide Seiten Aspekte des anderen übernehmen und sich als gebend wie nehmend erweisen, ohne dabei ganz im anderen aufzugehen, sodass in diesem Spannungsfeld eine neue Position des Dazwischen entstehen kann. Hauptvertreter dieser Kritik ist der indische Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha. Für die vorliegende Untersuchung ist vor allem Bhabhas zentrales Konzept der Hybridität von Relevanz. »If the effect of colonial power is seen to be the production of hybridization rather than the noisy command of colonialist authority or the silent repression of na- 48 Es ist zu prüfen, inwiefern reale ‚Kolonialisierungserfahrungen‘ sich tatsächlich auf die Darstellung des Fremden in der altisländischen Literatur ausgewirkt haben. Entsprechende Erwägungen werden in Abschnitt 10.3.2 vor der dem Hintergrund der gesamten Untersuchung vorgenommen. 49 Vgl. etwa Castro Varela/ Dhawan 2005: 84-87 für die ausführliche Darstellung der Kritik durch Bhabha. 1. Einleitung 26 tive traditions, then an important change of perspective occurs.« 50 In diesem kurzen Zitat aus Bhabhas theoretischem Hauptwerk, der Aufsatzsammlung The Location of Culture, sind einige essentielle Aspekte von Bhabhas Theorie der Hybridität enthalten. Zunächst einmal wird hier deutlich, dass Bhabha jede klare Dichotomisierung bei der Interaktion verschiedener Kulturen ablehnt. Kultur ist für Bhabha kein festes, monolithisches Konstrukt mit scharf gezogenen Grenzen, sondern ein fließendes Kontinuum, das sich in beständigem Wandel befindet. »The ‚originary‘ is always open to translation so that it can never be said to have a totalised prior moment of being or meaning - an essence.« 51 So formuliert es Bhabha 1990 in einem Interview. Entsprechend kann auch nicht von einer binären Konfrontation westlicher und orientalischer Kultur die Rede sein, die in eine klare Herren- und Dienerrolle aufgeteilt sind. Bhabhas Augenmerk liegt stattdessen auf jenen kulturellen Phänomenen, die durch die Interaktion und als gemeinsames Produkt der unerschiedlichen Kulturen an ihrer Grenze entstehen: »The boundary is Janus-faced and the problem of outside/ inside must always itself be a process of hybridity, incorporation, new ‚people‘ in relation to the body politic, generating other sites of meaning [...].« 52 Aus dem Ineinandergreifen unterschiedlicher Kulturen entstehen völlig neue Positionen, die keiner der beiden ‚Ursprungskulturen‘ inhärent gewesen sind. 53 Bhabha macht jedoch darüber hinaus deutlich, dass man es sich zu einfach macht, wenn man Hybridisierung als eine Addition zuvor wechselseitig fremder Konzepte zu einem neuen, dritten Konzept auffasst: »[...] if, as I was saying, the act of cultural translation [...] denies the essentialism of a prior given original or originary culture, then we see that all forms of culture are continually in a process of hybridity.« 54 Da Kultur sich niemals im Stillstand befindet und niemals eindimensional ist, kommt es in einem kulturellen System ständig und überall zur Herausbildung hybrider Konstellationen, etwa zwischen verschiedenen ethnischen, religiösen, persönlichen, sexuellen und anderweitigen Identitäten, die in einer Person auf unterschiedlichen Ebenen zusammenlaufen können. Hybridität ist als Konzept also keineswegs auf Sonderfälle wie der Konfrontation einander fremder ‚Kulturen‘ im Kolonialismus beschränkt, sondern universal anwendbar. Ihre theoretische Stärke besteht insbesondere darin, dass sie simplifizierende Polaritäten zu durchbrechen vermag, indem sie eine Zwischenposition jenseits klarer Grenzen einnimmt und somit auch ethnozentristische Positionen der Abgrenzung nach außen dekonstruiert, wie sie weiter oben als charakteristisch für die Betrachtung des Fremden beschrieben worden sind. Für solche Zwischenpositionen hat Bhabha den theoretischen Terminus der »in-between spaces« geprägt. 55 50 Bhabha 1994: 160. 51 Bhabha 1990b: 210. 52 Bhabha 1990a: 4. 53 Ein historisches Beispiel hierfür ist etwa die Herausbildung einer einheimischen Bildungselite in Britisch-Indien, deren Mitglieder eine Ausbildung nach westlich-englischem Vorbild durchliefen, in ihren familiären Traditionen aber in der indischen Überlieferung verwurzelt blieben. 54 Bhabha 1990b: 211. 55 Vgl. Bhabha 1990a: 4. 1.8 Hybridität und in-between spaces als Auflösung von Dichotomien 27 Die originalen Riddarasögur entsprechen gleich in zweifacher Hinsicht diesem Konzept der Hybridität: Zum einen handelt es sich bei ihnen auf der discours-Ebene um literarische Produkte eines bestimmten Kulturkreises, die im Raum einer anderen Kultur neu gedeutet und kontextualisiert werden. Geschichten über die Abenteuerfahrten von Rittern, die eigentlich in der höfischen Gesellschaft des kontinentalen Europa im Hochmittelalter zu Hause sind, bekommen in der isländischen Gesellschaft des Spätmittelalters ein völlig neues Gesicht, ohne ihre Ursprünge dabei komplett abzulegen. Sie befinden sich in einem in-between space zwischen jenen höfischen Texten, deren Gattungsregeln ihre formalen Vorlagen bilden und jenem völlig andersartigen literarischen Milieu, in dem sie zu einer eigenen Gattung aufblühen. Die Vielzahl der Traditionen, die in ihnen verarbeitet werden, macht ihren hybriden Status besonders eindrücklich deutlich - zwischen Ritterromanen und einheimischer heroischer Überlieferung, lateinischer Gelehrsamkeit und Erzählgut aus dem byzantinischen Osten kommt es zu hybriden Zwischenkonstellationen der verschiedensten Art, in denen tradierte Motive immer wieder neu interpretiert werden. 56 Zum anderen ist Hybridität aber auch auf der histoire-Ebene der Erzählwelten der einzelnen Texte ein prägender Gestaltungsfaktor. So können die Grenzen von Held und Monster zu einer Zwischenposition verschmelzen, wenn etwa Áli als Werwolf die Länder seines Vaters verwüstet oder Valdimar in seinem Kampf zur Widerherstellung der höfischen Ordnung von einem monströsen Riesenheer unterstützt wird. Just as there was never a time before colony, there has never yet been a time when the colonial has been outgrown. For this reason Gayatri Spivak has suggested replacing ‚postcolonial‘ with ‚neocolonial‘, but for accuracy’s sake it would make more sense to speak of the ‚midcolonial‘: the time of ‚always-already‘, an intermediacy that no narrative can pin to a Single Moment of history in its origin or end. 57 So beschreibt Jeffrey Jerome Cohen die Zeitlosigkeit postkolonialer Zwischen- Konstellationen. Sie sind keineswegs auf das konkrete historische Moment des Kolonialismus beschränkt, sondern können überall dort vorgefunden werden, wo es Machtdiskurse von Dominanz und Unterordnung bzw. komplexe interkulturelle Interaktionen gibt. Als Folge fordert Cohen, dass die theoretischen und methodischen Werkzeuge der Postcolonial Studies auch für die mediävistische Literatur- und Kulturwissenschaft zum Einsatz kommen sollten: 56 Margaret Schlauch zeigt in ihrer Studie Romance in Iceland, der ersten Monographie über die originalen Riddarasögur, ausführlich die verschiedenen Traditionsstränge auf, aus denen das Genre seine Motive und Erzählbausteine schöpft. Vgl. Schlauch 1973. 57 Cohen 2000: 3. 1. Einleitung 28 [...T]he ‚middle‘ of the Middle Ages is already forging a productive alliance with the nontemporal ‚post‘ of postcolonial theory [...]. It makes sense, then, to explore the complex ways in which the medieval touches the ‚midcolonial‘, making both more familiar and more strange. 58 Cohen nennt verschiedene Beispiele für Untersuchungsfelder, in denen eine solche Verbindung zu fruchtbaren Ergebnissen führen könnte, etwa die Interaktion von dominierenden und peripheren Diskursen, wie sie sich z. B. beim Umgang des europäischen Christentums mit nichtchristlichen Religionen einerseits oder nichtorthodoxen Formen des Christentums andererseits darstellt. Die vorliegende Arbeit greift diesen Ansatz am Beispiel einer Gattung der altnordischen Literatur auf und untersucht, welche subversiven Umdeutungen scheinbar monolithisch-klare Diskurse wie das Primat des Höfischen oder die Schöpfung als klar geordneter Kosmos im literarischen Spiel der erzählten Welt finden können. Dabei muss natürlich stets im Hinterkopf behalten werden, was auch Cohen mahnend anmerkt: »Time and history are always-already colonized and never an inert, innocent Otherness waiting to be excavated.« 59 Auch der Versuch einer postkolonialen Re-Lektüre mittelalterlicher kultureller Artefakte stellt letztendlich eine Kolonialisierung derselben mit den Prämissen einer bestimmten Zeit und Denkrichtung dar. Dennoch bringt ein solches Unternehmen stets auch neue Perspektiven mit sich, die ein erweitertes Verständnis einzelner Teilaspekte ermöglichen. 1.9 Zusammenfassung: Aspekte des Fremden Das Fremde als Analysekategorie soll für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung also durch folgende Charakteristika bestimmt sein: 1 Es hat die kulturelle Funktion, die Identität des Eigenen abgrenzend zu definieren und zu legitimieren, dient als Negativfolie des Eigenen. 2 Es besteht in einer relativen Wechselbeziehung gegenseitiger Fremdheit, die dadurch zustande kommt, dass etwas in einen neuen Raum hineintransferiert wird und Qualitäten mit sich bringt, die diesem bislang nicht zu eigen waren. 3 Es kann die Identität des Eigenen bedrohen, indem es verdrängte bzw. kulturell tabuisierte Aspekte dieses Eigenen spiegelt. 4 Seine Durchbrechung bestehender kultureller Muster kann nicht nur bedrohlich wirken, sondern auch Staunen und Verwunderung auslösen. 5 Es ist von einem bloßen Anderen dahingehend zu unterscheiden, dass das Andere innerhalb desselben Systems besteht und gedacht werden kann, während das 58 Ebd.: 6. 59 Ebd.: 5. 1.9 Zusammenfassung: Aspekte des Fremden 29 Fremde außerhalb des Systems steht, seine Kategorien in Frage stellt und (in Reinform) undenkbar ist. 6 Es kann Teil eines Machtdiskurses sein, indem es das, was bewältigt bzw. beherrscht werden soll, in der imaginierten Geographie dieses Diskurses als bedrohlich und minderwertig darstellt. 7 Es ist nicht zwangsläufig auf die Binärität von eigen und fremd beschränkt, sondern kann eine Vielzahl von hybriden Konstellationen und Grauzonen im vieldeutigen Gefüge der Kulturen einnehmen. Vor dem Hintergrund dieser Kategorien wird im Folgenden die Funktion und Darstellung des Fremden in den originalen Riddarasögur analysiert. 60 Um dem speziellen kulturellen und historischen Kontext dieser Texte gerecht werden zu können, soll zuvor jedoch ein Einblick in den Diskurs des Fremden im mittelalterlichen Island im Lichte der bisherigen Forschung gegeben werden. 60 Das Fremde besitzt natürlich nicht stets alle diese Aspekte zugleich. Vielmehr ist im Einzelfall zu entscheiden, welche Facetten dominieren und welche narrativen Strategien und Funktionalisierungen jeweils damit verbunden sind. 2. Das Fremde in der altisländischen Literatur - ein Streifzug durch die Forschung SAGA þessi hefzt fyst j Englandi og fer sidan ut til Saxlandz og þa til Gri‹ck›landz og þui næst uestur j Affrika allt ut under solarsetËit og þadan j sudrhalfu heimsins til hinnar miklu borgar Ninive. og þadan ut at heims enda til hinna miklu fjalla Kakausi. 61 Vilhjálms saga sjóðs, 14./ 15. Jhd. 2.1 Islands Blick auf die Außenwelt Ein Interesse an der Welt jenseits der heimischen Insel ist in der volkssprachlichen Literatur Islands schon zu Beginn der Verschriftlichung im 12. Jahrhundert deutlich zu erkennen. Immerhin ist neben Aris Íslendingabók (um 1125) einer der ältesten erhaltenen Prosatexte in altisländischer Sprache ein Pilgerführer für den Weg in die ferne terra sancta, nämlich der Leiðarvísir (um 1155) des Abtes Nikulás Bergson. Doch auch Werke über so fremdländische Themen wie der Kampf um Troja (Trójumanna saga, Ende des 12. Jahrhunderts) 62 oder die Geschichte des römischen Reiches (Rómverja saga, vor 1190) fallen in diese frühe Epoche und sind somit älter als die Verschriftlichung der überlieferten Isländersagas, die ja noch immer als die ‚typische‘ Gattung der isländischen Prosa-Literatur gelten. Bevor einheimisch-isländische Themen in größerem Maße zum Gegenstand der Erzählliteratur werden, existiert bereits eine Literatur der historischen und geographischen Ferne jenseits des eigenen Lebenshorizonts, die den Anschluss an die großen Themen der europäischen Geschichtsschreibung sucht. In diesem Kontext betitelt Theodore Andersson seine Untersuchung dieser frühen Literatur gar mit Exoticism in Early Iceland und bemerkt: »There is in fact abudant evidence that the Icelanders had a real taste for distant times, although that evidence has begun to 61 Loth 1964: 3. Diese Saga beginnt zunächst in England, und geht dann hinaus nach Saxland, und dann nach Grickland, und als Nächstes westwärts nach Afrika unter dem Sonnenuntergang, und von dort zur Südhälfte der Welt zur großen Stadt Ninive. Und von dort hinaus ans Ende der Welt zum großen Berg Kakausi. 62 Die genaue Datierung der Trójumanna saga ist in der Forschung umstritten, die Entstehungszeit wird z. T. auch erst in der Mitte des 13. Jahrhunderts angesetzt. Da jedoch eine ganze Reihe altisländischer Texte der späteren Zeit auf die Trojanersage zurückgreifen, ist anzunehmen, dass die Adaption des Stoffes in einheimischer Volkssprache schon früh erfolgte. Vgl. hierzu Würth 1998: 54-56. 2. Das Fremde in der altisländischen Literatur -ein Streifzug durch die Forschung 32 attract scholarly attention only recently.« 63 Dem letztgenannten Umstand versucht Andersson in seiner Untersuchung entgegenzuwirken, indem er darauf aufmerksam macht, dass die Faszination des Fremden und Exotischen von Anfang an einen prägenden Zug der isländischen Literatur darstellt und keineswegs als ‚Verfallsphänomen‘ der nachklassischen Spätzeit zu betrachten ist, wie es die älteren Literaturgeschichten tun: »Nordal’s outline of literary progress from the dry dust of history to balanced classicism to wild and wooly fiction is therefore too linear. There was a wild and wooly streak in Icelandic literature from the very outset.« 64 Das Weltbild, das den Hintergrund für dieses prägende Interesse am Fremden bildet, ist das Thema von Sverrir Jakobssons umfassender Monographie mit dem überaus isländischen Titel Við og veröldin. 65 Bereits in der kurzen Charakterisierung des Begriffs world-view spielt der Aspekt des Fremden eine nicht unerhebliche Rolle: By ‚world-view‘ is meant a system for describing the world, more precisely the visible world and the people who inhabit it. A world-view provides meanings to events in the given surroundings, placing them in the context of things known and tangible. At the same time it is exclusive and creates silences around whatever does not suit it and therefore is incomprehensible. 66 Jene »silences«, die darum bestehen, weil sie außerhalb des Systems der Weltkategorisierung angesiedelt sind und somit mit seinen Mitteln nicht beschreibbar sind, bilden den Raum des Fremden im Waldenfelsschen Sinne. Bereits auf dieser elementaren Ebene wird deutlich, dass die Beschäftigung mit einem bestimmten Weltbild ohne die Beschäftigung mit dem davon abgegrenzten Fremden genauso wenig denkbar ist wie die Beschäftigung mit dem Fremden ohne die Beschäftigung mit dem zugrundeliegenden Weltbild. Um es mit den Worten Waldenfels’ zu formulieren: »Ein standortloses ‚Fremdes überhaupt‘ gliche einem ‚Links überhaupt‘ - ein monströser Gedanke, der Ortsangaben mit begrifflicher Bestimmung vermengt.« 67 Das isländische Weltbild im Zeitraum von 1100 bis 1400 ist nach Sverrir Jakobsson vor allem das Weltbild des christlichen, römisch-katholischen Europas mit seinem universellen Wahrheitsanspruch und seiner dichotomen Abgrenzung von Christen und Heiden - alle lokalen Besonderheiten müssen vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Die Studie stellt neben der historischen Entwicklung dieses Weltbildes auf Island insbesondere auch diverse isländische Besonderheiten dar, etwa die identitätsstiftende Abgrenzung von Norwegen und seinem Königshof oder die Reflexion der eigenen Sonderstellung als äußerste nördliche Marginalie der christlichen Welt. Für den Kontext der vorliegenden Untersuchung ist insbesondere die Besprechung jener fremdartigen Wundervölker von Interesse, die nach der Tradition in der unmittelbaren Nähe Skandinaviens angesiedelt sind und oft mit Sami, 63 Andersson 2000: 21. 64 Ebd.: 26. 65 Wir und die Welt. 66 Jakobsson 2005: 363. 67 Waldenfels 1997: 23. 2.1 Islands Blick auf die Außenwelt 33 Finnen oder Inuit identifiziert werden. 68 Die Mechanismen, mit denen zunächst Fremdes in das bestehende Weltbild eingefügt und somit seiner subversiven Sprengkraft beraubt wird, werden hierbei besonders eindrücklich anhand der Vínland-Sagas dargestellt. Neben Begegnungen mit den pejorativ als Skrælingjar bezeichneten Ureinwohnern des Westkontinents schildert die Eiríks saga rauða auch die Begegnung mit einem einfüßigen Skiopoden, also einem Angehörigen eines seit der antiken Kosmographie bekannten Wundervolkes. 69 Sverrir Jakobsson deutet dieses Nebeneinander von Skrælingjar und Einfüßen wie folgt: Í heimslýsingum var lítið sagt um Skrælinga en gera mátti ráð fyrir að þjóðir á þessum slóðum væru þær sem finna mætti annars staðar í heiminum. En ekki er reynt að tengja Skrælingana sjálfa við eina af hinum margháttuðu þjóðum sem lærdómstextar greindu frá að væri að finna úti í heimai. 70 Menschliche Ureinwohner und monströse Einfüße werden auf einer Ebene als Repräsentanten der unerforschten Fremde betrachtet. Dieses wird jedoch dadurch relativiert, dass es im christlich-gelehrten Weltbild in den Wundervölkerlisten einen Platz für die Einfüße gibt. Die Neue Welt wird durch die Erwähnung dieses Wesens keineswegs als solche wahrgenommen, sondern in die bereits bestehenden Deutungsmuster integriert, bis hin zu ihrer geographischen Vereinnahmung als Teil der alten Welt: Þeim [=den Isländern] kom aldrei til hugar að þetta væru ný meginlönd, eða eitthvað annað en eyjar eða lönd sem voru föst við Afríku eða Norður-Noreg. Ekkert rúm var fyrir ný meginlönd á þeirri jarðarkringlu sem Íslendingar þekktu. Í þeim skilningi fundu Íslendingar miðalda aldrei Ameríku. 71 Das Spannungsfeld zwischen dem tradierten, christlich-autoritativ verbürgten Weltbild einerseits und der Erfahrung eines Fremden andererseits wird nicht immer so glatt aufgelöst. In der vorliegenden Studie werden häufig Konstellationen zu besprechen sein, in denen der Held einer originalen Riddarasaga mit bedrohlichen Repräsentanten des Fremden konfrontiert wird, die die Kategorien seines Weltbildes zu durchbrechen - und seine Sicherheit als trügerisch zu entlarven drohen. 68 Jakobsson 2005: 246-276. 69 Friedman listet die Sciopoden unter den »Plinian Races« auf, die aus der Naturgeschichtsschreibung der Antike überliefert sind. Vgl. Friedman 1981: 18. 70 Jakobsson 2005: 269. In den Weltbeschreibungen wurde wenig von den Skrælingern berichtet, und man konnte vermuten, dass die Völker in dieser Gegend diese wären, die man anderenorts auf der Welt antreffen könnte. Und es wird nicht versucht, die Skr æ linger selbst mit einem von diesen mannigfaltigen Völkern zu verbinden, wie sie die gelehrten Bücher auflisteten, dass sie draußen in der Welt anzutreffen seien. 71 Ebd.: 276. Ihnen [=den Isländern] kam niemals in den Sinn, dass dies ein neuer Kontinent wäre oder etwas anderes als Inseln oder Länder, die mit Afrika oder Nordnorwegen verbunden waren. Es gab keinen Platz für einen neuen Kontinent in dem Erdenkreis, den die Isländer kannten. In dieser Hinsicht haben die Isländer im Mittelalter niemals Amerika entdeckt. Diese Betrachtungsweise des neu entdeckten Landes entspricht dem von Greenblatt untersuchten Aufgehen der empirischen Erfahrung in der Autorität der Überlieferung. Siehe Abschnitt 1.5. 2. Das Fremde in der altisländischen Literatur -ein Streifzug durch die Forschung 34 Einen wichtigen Teil des christlichen Weltbildes, das den Hintergrund der isländischen Literatur des Mittelalters bildet, stellen die Traditionen der lateinischen Gelehrsamkeit dar, zu denen auch das gelehrte Interesse an der kosmographischen Erfassung der Welt zählt. Diesen Aspekt der literarischen Weltdarstellung untersucht Rudolf Simek in seiner Monographie Altnordische Kosmographie. Er kommt dabei zu dem generellen Ergebnis, dass »[d]ie Auffassungen über Form und Aufbau des Kosmos in isländischen Handschriften [...] mit den zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Ansichten vollständig konform« 72 gehen. Der grobe Rahmen der altisländischen Vorstellungen von der Welt folgt also den Traditionen der lateinischen Enzyklopädik. Bei Texten mit geographischer Thematik lässt sich jedoch eine besondere Tendenz feststellen: Mehr als die lateinischen Kosmographien neigen aber die altnordischen Texte dazu, diese knappen, auf die Auflistung von Länder- und Städtenamen beschränkten Verzeichnisse durch zusätzliche als relevant erachtete Informationen zu erweitern, und zwar besonders aus dem Bereich der Heilsgeschichte, der Regionalgeographie und auch der Teratologie (im speziellen Fall die Kunde von Wundervölkern und Fabelwesen). 73 Es sind also gerade die fremdartigen, Staunen oder Befremdung provozierenden Aspekte der Welt, an denen die altnordische Geographie ein besonderes Interesse zeigt. Ein ähnlicher Impetus findet sich auch in der altnordischen Völkerkunde: Die Ethnographie, also die Beschreibung oder wenigstens Aufzählung der Völker der Welt, nimmt in der altnordischen Enzyklopädik einen der Länderkunde beinahe ebenbürtigen Rang ein; dies ist umso auffälliger, als in der lateinischen abendländischen Enzyklopädik die Völkerkunde nur geringen Raum einnimmt. [...] Die isländischen Wundervölkerverzeichnisse zählen zu den umfangreicheren derartigen Beschreibungen in der hochmittelalterlichen europäischen Sachliteratur, aber sie stehen deutlich in der kontinentalen enzyklopädischen Tradition. 74 Auch hier liegt wieder die Tendenz vor, dass man sich zwar im traditionell vorgegebenen Rahmen der lateinischen Gelehrsamkeit bewegt, dabei jedoch besonderes Augenmerk auf die fremdartigen, exotischen Aspekte des Weltwissens legt. Ein gesteigertes Interesse an der Darstellung und Reflexion des Fremden durchzieht die altnordische Fachliteratur. Einflüsse dieses Interesses der Enzyklopädik finden sich auch in der Sagaliteratur, die gerne auf fremdartige Motive aus der gelehrten Tradition zurückgreift. Nach Simek »dient in den meisten Fällen der Sagaliteratur die Entlehnung aus dem kosmographischen Schrifttum der mehr oder weniger exotischen Ausschmückung der Sagahandlung.« 75 Einen Spezialfall der literarischen Ausgestaltung von Kosmographie behandelt Vera Johanterwage in ihrer Studie zum Indienbild in der altnordischen Literatur. 76 72 Simek 1990: 317. 73 Ebd.: 322. 74 Ebd.: 325-326. 75 Ebd.: 365. 76 Vgl. Johanterwage 2007. 2.2 Fremde Völker und Ungeheuer in der altisländischen Tradition 35 Sie verzichtet hier bewusst auf eine theoretische Durchdringung von Konzepten wie der Darstellung des Fremden und erstellt stattdessen eine überaus nützliche Zusammenschau des Primärmaterials. Bei der Auswertung kommt sie zu einem ähnlichen Schluss wie Simek und stellt fest, dass ‚Indien‘ vor allem als Chiffre für die Beschwörung exotisch-eskapistischer Phantasien dient, »denn man konnte die Helden der Geschichte nach Belieben gegen monströse Gegner oder Vertreter schwarzer Magie antreten lassen, sie gewaltige Reichtümer anhäufen oder erfolgreich um schöne Prinzessinnen werben lassen.« 77 Darüber hinaus wird Indiens Vorbildcharakter in religiösen und höfischen Belangen betont. Diese Beobachtungen sind in vielen Fällen gewiss zutreffend, doch stellt sich die Frage, ob sie nicht in ihrer Verallgemeinerung zu kurz greifen. Werden Motive und Episoden des Fremden tatsächlich primär aus exotistischem Eskapismus heraus aus der Wissensliteratur übernommen? Im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung wird zu zeigen sein, inwiefern solche Elemente darüber hinaus einen zentralen Stellenwert bei der narrativen Konzeption und Sinngestaltung eines Sagatextes einnehmen können. 2.2 Fremde Völker und Ungeheuer in der altisländischen Tradition In seinem Artikel Supernatural Others and Ethnic Others: A Millenium of World View untersucht John Lindow die Art und Weise, wie fremde Ethnien in der mittelalterlichen Literatur Skandinaviens wahrgenommen und dargestellt werden. Insbesondere geht es um Finnen, Saami und südländische blámenn. Lindow kommt zu dem Ergebnis, dass ethnische Fremdheit häufig mit den Attributen des Magischen, Übernatürlichen in Verbindung gebracht wird, bis hin zum »breakdown of the distinction between ethnic und supernatural beings« 78 . Als Beispiele für diese Darstellungsweise werden Topoi wie der zauberkundige Finne oder der monströse schwarze Berserker angeführt. Das Übernatürliche fungiert als kennzeichnende Chiffre des Fremden, das fremde Völker auf eine Stufe mit nicht-menschlichen Wesen des Naturraumes wie Trolle oder Zwerge stellt. Als Hintergrund für diese Denkfigur wird das Bedürfnis nach Abgrenzung angenommen: »[C]reation and maintenance of ‚other‘ groups, such as supernatural beings, offered a means for the ‚inside‘ social group, i.e., that group composed of the tradition participants, to define itself.« 79 Lindow liefert mit dieser Beobachtung also ein Beispiel für das Entstehen von Identität durch Alterität. Dabei wird der Begriff das Fremden (»other«) theoretisch nicht weiter ausdifferenziert, sondern als gegeben vorausgesetzt. Dennoch lassen sich Lindows Erwägungen auch auf das Genre der originalen Riddarasögur übertragen, wenn etwa in der Kirialax saga kriegerische blámenn aus Mauretanien zugleich über teuflische 77 Ebd.: 89. 78 Lindow 1995: 21. 79 Ebd.: 22. Hier liegt ein weiteres Beispiel für die Interdependenz von Identität und Alterität im Sinne der Assmanns vor, siehe Abschnitt 1.2. 2. Das Fremde in der altisländischen Literatur -ein Streifzug durch die Forschung 36 Kräfte verfügen, und auch in der Diskussion des Fremden als Monstrum in Kapitel 5 wird auf die Vermischung von Fremdem und ‚Übernatürlichem‘ zurückzukommen sein. 80 Lindows Ansatz wird von Sirpa Aalto in ihrem Paper Categorizing ‚Otherness‘ in Heimskringla aufgegriffen und methodisch um eine nähere Definition des Fremden ergänzt. Aalto bedient sich hierbei der Terminologie des Anthropologen Thomas Eriksen, indem sie das Phänomen des Fremden in ein analoges Fremdes einerseits und ein digitales Fremdes andererseits unterteilt. Ersteres steht für ein graduell verschiedenes Fremdes, das in einigen Aspekten aber noch der Bezugsgruppe nahe stehen kann, letzteres für das absolute Fremde, das sich dem Bezugssystem komplett entzieht. 81 Aalto stellt die These auf, dass in Snorris Heimskringla vor allem jene Ethnien als digitales Fremdes dargestellt werden, die dem christlichen Eigenen entgegenstehen - konkret Wenden, Finnen, Bjarmen und blámenn. This is enhanced by associating the others with supernatural elements and these are sometimes intertwined with attributes of ethnic difference. It seems that supernatural features are important when the author wants to create as great a difference as possible between ‚us‘ and ‚them‘. 82 Die Darstellung von ethnischer Fremdheit ist also auch hier mit Elementen des Magisch-Übernatürlichen, Nicht-Menschlichen verwoben, um die absolute Grenze des Fremden umso schärfer ziehen zu können. Begegnungen mit dem Fremden in der mythologischen Überlieferung sind das titelgebende Thema von John McKinnells Untersuchung Meeting the Other in Old Norse Myth and Legend. Den konkreten Schwerpunkt der Monographie bilden »stories about encounters with the Other World in which the figure who represents the ‚Other‘ is of the opposite gender to the divine or human protagonist.« 83 Es werden also jene häufigen Fälle betrachtet, in denen die Begegnung mit einer fremdartigen Anderwelt zugleich die Begegnung mit dem anderen Geschlecht darstellt. Dabei geht McKinnell von einem grundsätzlichen »antagonistic dualism« 84 der mythologischen Welt aus: »Gods and humans belong to This World [...]. Ranged against them are the representatives of the Other World: monsters, giants and trolls, dwarfs, 80 Dass der Termins Übernatürlich (»supernatural«) für die mittelalterliche Literatur nicht unproblematisch ist, wird auch von Lindow betont: »[...] the distinction on which we insist, between ‚natural‘ and ‚supernatural‘, or ‚human‘ and ‚supernatural‘, was not terribly important in the relatively fixed stable system of Scandinavian (here we could probably just as easily say ‚European‘) world view.« (Lindow 1995: 21) In der vorliegenden Arbeit wird der problematische Begriff des Übernatürlichen, der die moderne Annahme einer wissenschaftlich-rational erklärbaren Welt vorwegnimmt, nach Möglichkeit vermieden. An seine Stelle tritt am ehesten der Begriff des Monströsen, Grenzüberschreitenden im Sinne Cohens, der den Vorteil besitzt, dass er stets relativ zu einem bestehenden Bezugssystem gedacht wird und keine festen Annahmen über die Natur der Welt oder das ‚natürlicherweise Mögliche‘ voraussetzt. Siehe hierzu Abschnitt 5.1. 81 Vgl. Aalto 2006: 15. Im Waldenfelsschen Kontext wäre also nur Eriksens digitales Fremdes ein Fremdes im engeren Sinne. Siehe Abschnitt 1.6. 82 Aalto 2006: 20. 83 McKinnell 2005: 3. 84 Ebd.: 4. 2.2 Fremde Völker und Ungeheuer in der altisländischen Tradition 37 the dead, and v lur ‚prophetesses‘« 85 . Der Autor fährt verschiedenste klassische Theorien und Methoden von Grimm bis Freud zur Untersuchung der Relation zwischen den beiden Polen auf, doch eine genauere theoretische Reflexion des Begriffes des Fremden (oder des Nebenaspekts gender) wird nicht vorgenommen. Am ehesten gehen die Ausführungen zu den Ansätzen Lancans auf das Konzept des Fremden ein, »who situates ‚the Other‘ largely in the unconscious« 86 . Das Subjekt trachte danach, dieses Unbewusste zu besitzen und zu kontrollieren, wofür McKinnell u. a. die Verführung anderweltlicher Riesinnen durch Odin als mythologisches Beispiel anführt. Er weist jedoch deutlich darauf hin, dass solche psychologisierenden Deutungen mit Vorsicht zu betrachten sind. Darüber hinaus werden keine definitorischen Versuche zum Konzept des Fremden unternommen. Die Untersuchung stellt eine materialreiche mythologische Studie dar, reflektiert den Aspekt des Fremden in der altnordischen Überlieferung jedoch trotz des Titels nur begrenzt. Riesen als Verkörperung des Fremden bilden den Gegenstand eines eigenen Unterkapitels in Katja Schulz’ Monographie Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga. 87 Der Impetus dieses Kapitels läuft darauf hinaus, dass die Figur des Riesen in den Fornaldarsögur nicht länger ein Wesen der mythologischen Vorzeit darstellt, sondern sich einer Darstellung als Vertreter eines fremdartigen Wundervolkes von den geographischen Rändern der Erde annähert. 88 Im vorliegenden Kontext sind hierbei vor allem die einleitenden Versuche von Relevanz, das Fremde als Kategorie für die Analyse des Riesen-Motivs fruchtbar zu machen. Schulz geht zunächst von einer allgemeinen Definition des Fremden durch Abgrenzung aus: »Das ‚Fremde‘ lässt sich - das ist sozusagen sein ureigenstes Wesen - am besten durch Abgrenzung definieren. Der erste Gegensatz ist dabei das ‚Eigene‘: Alles, was außerhalb der Eigensphäre einer Gruppe liegt, gilt als fremd.« 89 Im Folgenden löst sie sich jedoch von dieser allgemeinen Charakterisierung und macht »das räumliche Kriterium« zum ausschlaggebenden Faktor der Fremdheit - was außerhalb des vertrauten Raumes lokalisiert ist, muss als ein potentiell Fremdes betrachtet werden, das in Anlehnung an Greenblatt »Verwunderung und Staunen« provoziert. 90 Dieses räumlich unvertraute Fremde verkörpert sich im Mittelalter insbesondere in den Wundern des Ostens (bzw. anderer ferner Weltgegenden), zu denen auch die Riesen als exotisches Wundervolk gehören. Der Ansatz ist für den speziellen Fokus von Schulz’ Untersuchung brauchbar, beschränkt aber den Aspekt des Fremden letztendlich eindimensional auf die Ebene der räumlichen Erfahrbarkeit - was so weit weg ist, dass ich damit nicht vertraut sein kann, ist mir fremd. Das 85 Ebd.: 4. 86 Ebd.: 32. 87 Vgl. Schulz 2004: 231-252. 88 Zur geographischen Marginalisierung des Fremden siehe die Darstellung des erzählten Raumes in Kapitel 4. 89 Schulz 2004: 231. 90 Ebd.: 232. Zu Greenblatts Ansatz siehe auch S. 18-20. 2. Das Fremde in der altisländischen Literatur -ein Streifzug durch die Forschung 38 bedrohliche, Kategorien durchbrechende Potential des Fremden jedoch wird durch diese Schwerpunktsetzung zu wenig berücksichtigt. 91 Eine weitere Studie zu einer speziellen Kategorie anderweltlicher Wesenheiten als Repräsentanten des Fremden stellt William Sayers Artikel The Alien and Alienated as Unquiet Dead in the sagas of the Icelanders dar. Sayer untersucht hier die ideologische Kontextualisierung unterschiedlicher draugr-Gestalten in verschiedenen Isländersagas und kommt zu dem Ergebnis, dass alle diese Wiedergänger eine Affinität zum Fremdartigen, Marginalen bereits zu Lebzeiten verbindet - sei es nun eine fremdländische Herkunft, die Beschäftigung mit heidnischer Zauberei oder ein einzelgängerisches, antisoziales Wesen. Es wird also eine xenophobe Verbindung zwischen dem Unbekannt-Fremden einerseits und dem Bedrohlich-Monströsen andererseits gezogen. 92 In Kapitel 5 wird zu zeigen sein, dass es sich bei dieser Verbindung um ein typisches Erzählmuster handelt, das sich auch in den originalen Riddarasögur wiederfindet, wobei das Fremde hier weniger die Gestalt wiederkehrender Toter hat, sondern sich vielmehr in den monströsen Bewohnern ferner Weltgegenden manifestiert. Sayer behandelt auch kurz die Funktion der Wiedergänger in den Romances und bezieht sich dabei konkret auf die Fornaldarsögur. Sein Urteil fällt dabei ähnlich pejorativ aus wie das der älteren Forschung über die originalen Riddarasögur: In the romances, the revenant motif is simply another means to illustrate heroic selfrealization, and the land of the dead is just another exotic country. Typical for romance’s lack of interest in the fuctioning of society, these are not true revenants who leave their graves to haunt and destabilize the community, but jealous howe-dwellers (haugbúi) waked from their sleep by the questing and acquisitive hero or heroine […]. 93 Unabhängig vom konkreten Motiv des draugr wird in der vorliegenden Studie zu zeigen sein, dass sich Islands spätmittelalterliche Literatur keineswegs durch ein «lack of of interest in the fuctioning of society« auszeichnet und gerade in der Begegnung des Helden mit dem Monströsen die Vorgänge sozialer Normüberschreitungen und ihre Folgen höchst eindrücklich in Szene gesetzt werden. 91 Sowohl die räumliche Dimension des Fremden als auch die Figur des Riesen als sein Repräsentant sollen im Laufe der folgenden Untersuchung Berücksichtigung finden. Für die räumliche Dimension siehe Kapitel 4, für die Figur des Riesen siehe Kapitel 5. 92 Sayer beendet seinen Artikel mit der kühnen These, dass mit dem zerstörerischen Wirken der draugar, dem ganze Höfe zum Opfer fallen, die blutigen Wirren der Sturlungenzeit in die Sagazeit zurückprojiziert werden und die draugar somit monstra im wortwörtlichen Wortsinne von mahnenden Vorzeichen seien. Vgl. Sayer 1996: 260-262. Diese Deutung reicht sehr weit und überbetont den historischen Zeitkontext im Vergleich zur anthropologischen Konstante der Angst vor dem Unbekannt-Fremden, die häufig auch mit dem Tod assoziiert ist. Etwas vorsichtiger lässt sich vielleicht festhalten, dass Umbruchszeiten, die mit Verfremdungen der bestehenden Ordnung einhergehen, literarisch gerne mit monströs-fremdartigen Figuren assoziiert werden. Man denke hierbei etwa an den Kampf der schwarzen und weißen Dísen im Þiðranda þáttr ok Þórhalls, in dem sich der Wechsel vom alten zum neuen Glauben manifestiert. Vgl. Ólafur Halldórsson 1961: 145- 150. 93 Sayer 1996: 255-256. 2.2 Fremde Völker und Ungeheuer in der altisländischen Tradition 39 Aus dem Florilegium all dieser Studien geht einerseits hervor, dass die literarische Auseinandersetzung mit dem Fremden in verschiedener Gestalt zu den ureigenen Themenschwerpunkten der altnordischen Literatur gehört - sei es nun die findige Adaption fremder Erzähltraditionen, die Inszenierung fremdartiger Monströsitäten oder auch ein lebhaftes Interesse an der vielgestaltigen Welt jenseits des Nordatlantiks. Andererseits zeigt dieser skizzenhafte Forschungseinblick aber auch, dass eine textnahe Analyse des Fremden als Erzählgegenstand und Erzählprinzip auch nur in einem Teilbereich der altnordischen Literatur bislang aussteht. Die Darstellungen nehmen entweder einen solch globalen Standpunkt ein, dass die narrativen Besonderheiten einzelner Texte nicht mehr berücksichtigt werden können, oder sie konzentrieren sich auf andere Aspekte, in denen die Beschäftigung mit dem Fremden zwar mitschwingt, aber keinen theoretisch reflektierten Schwerpunkt darstellt. Die vorliegende Arbeit soll einen ersten Schritt in die Richtung einer konkreteren ‚altnordischen Xenologie‘ darstellen, indem sie das Thema des Fremden exemplarisch an der Gattung der originalen Riddarasögur untersucht. Bevor mit der eigentlichen Analyse begonnen werden kann, müssen zuvor jedoch noch einige Ausführungen zur Wahl des Untersuchungsgegenstandes und des Textcorpus folgen. 3. Die originalen Riddarasögur - eine Literatur des Fremden? Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre. 94 Wilhelm Dilthey, 1910 3.1 Zum Begriff der originalen Riddarasaga Wie im vorangegangenen Kapitel aufgezeigt wurde, ist die altwestnordische Literatur seit den Anfängen ihrer Verschriftlichung überaus an fremden Stoffen und Erzähleinflüssen interessiert. Sie kann somit als europäische Literatur in dem Sinne bezeichnet werden, dass sie fest in das Netzwerk aus gegenseitigen Einflüssen und prägenden Traditionen integriert ist, das sich seit den gemeinsamen Wurzeln in der Schriftkultur der Antike über Europa erstreckt. Diese Einflüsse und Traditionen werden selbstverständlich nicht unbesehen übernommen, sondern im Zuge der translatio aktualisierend an die Bedürfnisse des eigenen Kultur- und Rezipientenkreises angepasst. Die genaue Art dieser Aktualisierung und der Interaktion mit den einheimischen Traditionen variiert von Genre zu Genre, ja von Text zu Text. Die Spanne reicht von Werken wie der Laxdæla saga, die im Erzählrahmen einer klassischen Isländersaga subtil Elemente einer höfischen Erzählung integriert, 95 bis hin zu Texten wie der altnorwegischen Barlaams ok Josaphats saga, die komplett im fremdländischen Milieu Indiens angesiedelt ist und Einflüsse der einheimischen Tradition nur an einzelnen Motiven erkennen lässt, etwa der norrönisierenden Bezeichnung des heiligen Josaphats als ‚Berserker Gottes‘. 96 94 Dilthey 1958: 225. 95 Dies geschieht insbesondere in Gestalt der Figur Ólafr Pái, der als Sohn eines isländischen Großbauern und einer irischen Prinzessin die Verkörperung der Hybridität zwischen isländischem Bauernmilieu und höfischer Kultur darstellt. Vgl. hierzu die Ausführungen zur Temporalität der Laxdæla saga bei Würth 2001. 96 »En iesus kristr gloeymdi eigi holmgangu sins bersserks« (Und Jesus Christus vergaß nicht den Holmgang seines Berserkers) heißt es hier über Josaphats Auseinandersetzung mit dem Teufel. Rindal 1981: 46. Weber sieht hierin eine Übersetzung des Topos vom miles Dei, der im Altnordischen sonst gerne mit guðs kappi wiedergegeben wird. Weber 1986: 423. Obgleich die Barlaams ok Josaphats saga komplett im fernen Indien spielt, ist sie stark aktualisierend an die Bedürfnisse des norwegischen Königshofs angepasst, in dessen literarischem Milieu sie entstanden ist. Vgl. hierzu etwa die Ausführungen Johanterwages zu Josaphats Vater, König Avennir, als höfischem Charakter bei Johanterwage 2009. 3. Die originalen Riddarasögur - eine Literatur des Fremden? 42 Wenn man sich fragt, welche Textgruppe sich am offensten für Einflüsse der verschiedenen literarischen Traditionen zeigt, gehören die originalen Riddarasögur gewiss zu den vielversprechendsten Kandidaten. Sie verbinden einheimische Erzähltraditionen mit höfisch-arthurischen Erzählmustern, Motiven aus der klassischen Antike, Stoffen aus der Welt der enzyklopädischen Gelehrsamkeit und gelegentlichen Einflüssen durch Wandermotive aus der reichen Erzählwelt des Orients zu einem bunten, durch und durch eklektischen Ganzen. Dabei werden die Bruchkanten der übernommenen Traditionen niemals komplett vereinheitlichend überdeckt, sondern z. T. sogar kontrastierend betont - ein literarischer Patchwork-Teppich, dessen Flicken bei jedem Text des Genres andere Muster ergeben. Im Rahmen dieses Spiels ist das Fremde nicht nur einer der beliebtesten Erzählgegenstände der originalen Riddarasögur, die seine verstörende Macht gerne in Form von wilden Trollen, dunkelhäutigen Riesen, deformierten Wundervölkern und anderen Monströsitäten beschwören. Es ist vielmehr auch ein essentieller Teil ihres Erzählkonzepts und ihrer Erzählweise, was im Laufe der vorliegenden Untersuchung an unterschiedlichen Beispielen gezeigt werden wird. Zuvor soll jedoch der Versuch unternommen werden, die originalen Riddarasögur als Untersuchungsgegenstand genauer zu fassen und die nicht ganz unproblematischen Grenzen dieser Gattung nachzuzeichnen. An dieser Stelle ist es unvermeidbar, kurz auf die diversen divergierenden Begrifflichkeiten einzugehen, die für die Texte dieses Genres bestehen. Der Versuch, ein Corpus genuin-isländischer Rittererzählungen zu erstellen und unter einer gemeinsamen Bezeichnung zusammenzufassen, ist letztendlich ein Konstrukt der modernen Forschung, das nicht auf mittelalterliche Traditionen zurückgeht. Die einzige ‚Gattungsbezeichnung‘, die aus dem mittelalterlichen Island für diese Texte überliefert ist, stellt der Terminus lygisögur 97 in der Þorgils saga ok Hafliða dar. König Sverrir Sigurðarson erwähnt hier, dass viele Leute »slíkir lygis gur skemtiligastar« fänden. 98 Es geht also um Sagas, bei denen ein gewisses Bewusstsein dafür besteht, dass sie einen fiktionalen Inhalt haben. Der Terminus bezieht sich in dieser Textstelle allerdings auf eine (heute verlorene) Saga, die dem Inhalt der dazugehörigen rímur nach wohl zu den Fornaldarsögur gerechnet werden muss, nämlich auf die Hrómundar saga Gripssonar. Ausgehend von dieser Textstelle ist der Begriff lygisögur in der älteren Forschung gleichermaßen für Fornaldar- und originale Riddarasögur verwendet worden, wobei er sich insbesondere als Terminus für Letztere etabliert hat. Die Vermischung von Fornaldarsögur und originalen Riddarasögur, die sich mit den lygisögur z. T. eine gemeinsame Überschrift teilen, scheint dabei durchaus dem mittelalterlichen Gattungsverständnis zu entsprechen: Texte beider Genres werden in der handschriftlichen Transmission unterschiedslos nebeneinander überliefert, während andere Gattungen durchaus davon getrennt werden. 99 97 Lügensagas. 98 solche Lügensagas äußerst unterhaltsam Zitiert nach Driscoll 2005: 190. 99 Vgl. Driscoll 2007: 190-194, wo die verschiedenen Begrifflichkeiten (inklusive ihrer englischen Pendants) ausführlich dargestellt werden. 3.1 Zum Begriff der originalen Riddarasaga 43 Es hat sich eingebürgert, als Fornaldarsögur im engeren Sinne nur jene 33 Texte zu bezeichnen, die Carl Christian Rafn 1829-1830 unter der Überschrift Fornaldar Sögur Nordlanda ediert hat. 100 Wie der Titel der Edition schon andeutet, wird die Situierung des Geschehens in der heroischen Vorzeit Skandinaviens als inhaltliche Klammer der Gattung angesetzt. Für jene ‚lygisögur‘, die nicht in der nordischen Vorzeit spielen, ist die terminologische Lage weniger eindeutig. Im deutschen Sprachgebrauch werden hier v. a. die beiden Fachbegriffe Märchensagas und originale Riddarasögur nebeneinander und quasi synonym gebraucht, wobei Märchensagas eher die Nähe zum Volksmärchen durch die schematische Formelhaftigkeit der Texte betont, während originale Riddarasögur das ritterlich-höfische Milieu der Sagas als Schwerpunkt setzt. In der vorliegenden Untersuchung wird pragmatischerweise durchgehend der Begriff originale Riddarasögur verwendet, der dann stets als möglichst neutrale Bezeichnung gemeint ist. Trotz aller Unzulänglichkeit der schwammigen Benennungen stellt er eine einigermaßen akzeptable Minimaldefinition der Gattung dar - Geschichten über Ritter, die originär auf Island entstanden sind - und ist einer wie auch immer gearteten Neuschöpfung zur Verschlimmbesserung der uneinheitlichen Benennungslage bei weitem vorzuziehen. Die originalen Riddarasögur sind durch die bunte Vielgestaltigkeit ihres Erzählens als Gattung nur schwer einzugrenzen. Als kleinster gemeinsamer Nenner im Sinne des oben gewählten Begriffes lässt sich festhalten, dass es sich stets um Geschichten über die Erlebnisse fahrender Ritter handelt, die nach dem von Astrid van Nahl formulierten Grundschema »Auszug des Helden, die Werbung um die Frau und der daraus resultierende Kampf« 101 ablaufen. Dieses Schema wird umrankt von einer Vielzahl an Reiseabenteuern, Nebenhandlungen und Konfrontationen mit den Wundern und Gefahren der Welt, hinter denen der Kern der Brautwerbungsgeschichte oft zurücktritt. 102 Doch sind die originalen Riddarasögur mit dieser Minimalbeschreibung keineswegs hinreichend definiert, denn das Grundschema einer solchen Abenteuerfahrt lässt sich vergleichbar gut auf die altnordischen Textgattungen der übersetzten Riddarasögur einerseits und der Fornaldarsögur andererseits anwenden. Entsprechend unscharf verlaufen die Grenzen der Gattung zu diesen beiden anderen Genres, zwischen denen die originalen Riddarasögur angesiedelt sind. Kann man im Hinblick auf die übersetzten Riddarasögur zumindest noch das Abgrenzungskriterium heranziehen, ob sich eine nicht-isländische Vorlage des Textes ausmachen lässt, 100 Vgl. Rafn 1830. 101 Van Nahl 1981: 11. Auch Marianne Kalinke legt in ihrer umfangreichen Monographie Bridal-quest Romance in Medieval Iceland dar, dass es sich beim Plot einer originalen Riddarasaga im Kern zumeist um eine Brautwerbungsgeschichte handelt. Vgl. Kalinke 1990. 102 Hierbei sei auch angemerkt, dass der Held einer originalen Riddarasaga keineswegs stets von Anfang an auf der Suche nach einer Braut in die Welt hinauszieht. Oft treiben ihn auch eine bedrohliche Mangelsituation, die Suche nach Ruhm oder schlichte Neugier von zu Hause fort, und der Topos der Brautwerbung mit anschließender standesgemäßer Heirat entwickelt sich erst aus den Reisebegegnungen heraus. 3. Die originalen Riddarasögur - eine Literatur des Fremden? 44 müssen für die Grenzziehung zu den Fornaldarsögur deutlich schwammigere Kriterien wie die oben schon erwähnte Situierung des Geschehens im überwiegend norrönen (Fornaldarsögur) bzw. südländisch-exotischen (originale Riddarasögur) Milieu bemüht werden. 103 Und auch diese Abgrenzungsversuche funktionieren nur sehr oberflächlich: Einerseits müsste lediglich ein bislang unbekanntes kontinentaleuropäisches Original für eine ‚originale‘ Riddarasaga aufgefunden werden, um einen Transfer in die Gattung der übersetzten Riddarasögur zu rechtfertigen, was die Grenzziehung als zwei ansonsten eigenständige Gattungen mit eigenen Gesetzen zumindest diskutabel macht. 104 Andererseits existieren Beispiele für Fornaldarsögur, die zum Teil in exotisch-fernen Gegenden spielen und originale Riddarasögur, die ihre Handlung auch auf den nordeuropäischen Raum ausdehnen, so dass sich eine Klassifizierung allein nach Geographie und Milieu als zu schwaches Kriterium erweist. 105 Van Nahl widmet der Kontextualisierung der originalen Riddarasögur zwischen Fornaldarsögur und übersetzten Riddarasögur eine ausführliche Untersuchung. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass »[a]uf einer stofforientierten Analyseebene [...] die Unterschiede der in der Forschung oft als ‚Gattung‘ benannten Sagagruppen so gering [sind], daß damit keine überzeugende Differenzierung möglich ist.« 106 Stattdessen zieht sie die Grenze zu den Fornaldarsögur anhand des narrativen Kriteriums, dass diese um ein »zentrales Hauptmotiv« mit klar abgegrenzten Nebenhandlungen herum konstruiert seien, während bei den originalen Riddarasögur der Aufbau unklarer, d. h. »‚aufgeschwemmt‘, zerdehnt, langwierig« 107 , sei. Demgegenüber seien die originalen Riddarasögur der übersetzten Ritterliteratur in ihrer narrativen Gestaltung nur wenig verpflichtet und hätten von dieser vor allem das höfische Gesellschaftsideal übernommen, wobei die zentrale Gestalt des Ritters hier jedoch »vollends erstarrt und unbeweglich geworden« 108 , d. h. von jeder erzählerischen Entwicklung ausgeschlossen, sei. Überspitzt formuliert handelt es sich bei van Nahls Abgrenzungskriterien im Grunde um Beurteilungen der literarischen Qualität: Ist eine Saga gelungen um ein Zentralmotiv gruppiert, handelt es sich um eine Fornaldarsaga, spult sie lediglich eine episodisch aufgereihte Handlungskette ab, muss es wohl eine originale Riddarasaga sein. Eine sinnleere Ritterhülse ohne die Reflexion höfischer Werte, gewisser- 103 Auch Driscoll merkt in diesem Kontext an, dass »Rafn’s geographical and temporal criteria [...] are not above question.« Driscoll 2005: 191. 104 So schließt etwa Glauser die Drauma-Jóns saga aus dem Korpus der von ihm behandelten originalen Riddarasögur aus, da sich in der Forschung herausgestellt hat, dass es sich bei der vermeintlich originär isländischen Erzählung um eine verbreitete Wanderfabel handelt. Vgl. Glauser 1983: 14. 105 Die Helden der Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana etwa, die zu den Fornaldarsögur gezählt wird, sind u. a. in Tattaría unterwegs und überschreiten somit deutlich den geographischtemporalen Horizont des ‚vorzeitlichen Skandinavien‘. Vgl. Lagerholm1927: 24-40. Umgekehrt wird in der Victors saga ok Blávus berichtet, wie die Söhne der südländischen Helden gegen König Geirmínir von Dänemark kämpfen und von diesem besiegt werden. Vgl. Loth 1962: 48-49. 106 van Nahl 1981: 250. 107 Ebd.: 252-253. 108 Ebd.: 254. 3.2 Das zentrale Erzählkonzept des Fremden 45 maßen eine leere Rüstung auf Abenteuerfahrt, spricht für eine originale Riddarasaga, während sich die übersetzten Riddarasögur zumindest noch durch erkennbare Reste höfischer Sinnstiftung auszeichnen. Van Nahls Analyse, die einen gewinnbringenden und materialreichen Vergleich der Gattungen herausarbeitet, krankt bei ihrer Interpretation der Ergebnisse daran, dass die traditionelle Hierarchisierung der altnordischen Erzählgattungen beibehalten wird, mit den originalen Riddarasögur als Verfallsprodukt auf der untersten Stufe. So wird im Schlussteil der Untersuchung die »bloße [...] Äußerlichkeit leerer Formeln und Formen« betont, die »die originalen Riddarasögur oft so unerfreulich für den Leser« 109 machten, was sich letztendlich nahtlos in die vielfach wiederholte Kritik durch die ältere Forschung einfügt, auf die weiter unten noch einzugehen ist. Da im Folgenden zu zeigen sein wird, dass es sich bei den originalen Riddarasögur keineswegs um eine reine Unterhaltungsgattung ohne jede Reflexionsebene handelt, soll diese hierarchisierende Gattungsabgrenzung nicht übernommen werden. Stattdessen wird im vorliegenden Kontext auf eine allzu strenge Grenzziehungen nach angreifbaren Kriterien verzichtet und die originalen Riddarasögur stattdessen als heterogenes Kontinuum betrachtet, das sich in breiten Grauzonen mit den beiden engsten Nachbargattungen überschneidet. 110 Hierbei sind die tradierten Gattungsbegriffe letztendlich nur Hilfskonstrukte, die eine schubladenmäßige Orientierung über die Vielfalt der Texte ermöglichen sollen, im Folgenden jedoch nicht mit dem Anspruch gebraucht werden, klar abgrenzbare Entitäten zu bezeichnen. 3.2 Das zentrale Erzählkonzept des Fremden Wenn irgendetwas der heterogenen Fülle der originalen Riddarasögur über ihr ritterliches Grundthema hinaus gemein ist, dann ist das sogar die Verweigerung einer klaren Abgrenzung. Es gehört bei diesen Texten zum guten Ton, eklektisch vorzugehen und die Erzählung mit Anleihen aus den verschiedensten Gegenden der literarischen Welten zu bereichern. Dies beschränkt sich keineswegs auf norröne Motive wie Trolle und Berserker aus dem Fundus der Fornaldarsögur oder höfische Anleihen wie prunkvolle Turniere und den Kampf gegen heidnische Mächte aus dem Erzählkosmos Kontinentaleuropas. Der Erzählschwamm der originalen Riddarasögur hat vielmehr auch Elemente aus dem Orient und Byzanz, aus der gelehrten Wissensliteratur und der klassischen Antike aufgenommen, um nur einige wichtige Strömungen zu nennen. 111 So betrachtet erweisen sich die eklektische Fülle und die Freude am freien, kombinatorischen Spiel mit Elementen verschiedener Herkunft als der eigentliche ‚Kern‘ der Gattung originale Riddarasögur - ein Kern, der eigent- 109 Ebd.: 255. 110 Eine ähnliche Tendenz wird auch in van Nahls relativierendem Schlusssatz angedeutet: »Die Grenze zu den ihr [der originalen Riddarasaga] besonders nahestehenden Gruppen Fornaldarsögur und übersetzte Riddarasögur besteht, ist aber nicht scharf zu ziehen und kann auch anders als hier gezogen werden.« Van Nahl 1981: 256. 111 Vgl. die ausführliche Darstellung der verarbeiteten Traditionen bei Schlauch 1973. 3. Die originalen Riddarasögur - eine Literatur des Fremden? 46 lich eine Leerstelle darstellt, wird doch die Vielfalt mit jeder Saga anders aufgefüllt und neu kombiniert, so dass sich keine wirkliche gemeinsame Substanz der Gattung festmachen lässt, wohl aber die gemeinsame erzählerische Grundhaltung einer Literatur der Vielfalt. Diese Vielfalt ist in der älteren Forschung fast durchgehend als sinnleerer Eskapismus aufgefasst worden, als eine Art literarische Weltflucht, mit der man sich seit dem Verlust des isländischen Freistaats nach 1262/ 64 in bessere Welten träumte. So findet sich Otto Jiriczeks Urteil, es handele sich bei den originalen Riddarasögur um »fast durchaus traurige produkte eines verwilderten geschmacks« 112 , in nur unwesentlich variierter Form in zahlreichen Forschungsbeiträgen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. 113 Selbst Margaret Schlauch, die dem Genre eine erste und immer noch gewinnbringend zu lesende Monographie widmet, räumt gegen Ende ihrer Untersuchung fast entschuldigend ein: »After a detailed study of these neglected stories one is forced to admit the truth of many of the severe judgments passed upon them in literary histories. Their merit as narrative art is slight […].« 114 Und schließlich stößt man noch bei von See in einem Beitrag aus dem Jahre 1988 auf Verwunderung über die Hinwendung zu trivialliterarischen Gattungen wie etwa den Fornaldarsagas, wobei man den Mangel an ästhetischer Qualität durch die - strukturalistisch und literatursoziologisch besser deutbare - Schablonenhaftigkeit offenbar voll und ganz kompensiert sieht. 115 In jüngerer Zeit sind die originalen Riddarasögur und ihre verwandten Gattungen in der Forschung ernster genommen worden und werden mittlerweile reger rezipiert. Es herrscht die Grundhaltung vor, sie in Anlehnung an Jürg Glausers Untersuchung von 1983 als typische Beispiele für Schemaliteratur zu betrachten, in der nach dem Muster der Proppschen Zaubermärchen-Morphologie bestimmte topische Handlungsbausteine und Erzählmuster immer wieder neu kombiniert werden, um so auf der Basis eines begrenzten Repertoires von Erzählelementen eine potentiell unbegrenzte Anzahl neuer Texte zu schaffen. 116 Der Terminus Schemaliteratur beschreibt in diesem Kontext die Struktur der Texte, ist jedoch nicht als pejorativer Begriff zu verstehen, der mit Schemahaftigkeit zwangsläufig mangelnde literarische Qualität assoziiert. So betont etwa Driscoll: But if the lygisögur are entirely traditional in terms of structure, style and so on, this is not to say that they are ‚all the same‘, essentially indistinguishable one from another […]. [T]o those familiar with, or working within, these traditions, it is clear that the confines are not so narrow as to preclude diversity and innovation entirely; and there is 112 Jiriczek 1894: 3. 113 Eine eindrucksvolle Zusammenstellung pejorativer Urteile aus der Forschungsgeschichte zum »‚Verfall‘ der Sagaliteratur« liefert Glauser 1983: 1-10. 114 Schlauch 1973: 170. 115 Von See 1988: 8. 116 Vgl. Glauser 1983: 101-160 und Propp 1972. Zum Terminus Schemaliteratur vgl. Zimmermann 1979, wo der Begriff anhand moderner ‚Trivialliteratur‘ entwickelt wird. 3.2 Das zentrale Erzählkonzept des Fremden 47 also always the question of individual talent, and the undeniable fact that some combinations, for whatever reason, simply work better than others. 117 Diese Konzentration auf die schematische Erzählstruktur der originalen Riddarasögur läuft Gefahr, mit einer zu pauschalen, vereinheitlichenden Betrachtungsweise ihrer Inhaltsebene einherzugehen. So äußert Glauser über den Erzählkosmos dieser Gattung: Die Anfangsphase jedes Märchensagageschehens und jedes Teilgeschehens beschreibt eine Ordnung, die durch die Oppositionen ‚innen-heimisch-höfisch-gut‘ - ‚außenfremd-nicht-höfisch-bös‘ definiert ist und die die zentrale Kategorie ‚Raum‘ konkretisiert. Dieser Polarisierung, gleichzeitig wichtiger Bestandteil des Erzählkonzepts der Märchensaga, ist die Erzählstrategie untergeordnet. 118 Die erzählte Welt der originalen Riddarasögur wird hier auf die binäre Opposition eines höfischen Eigenen einerseits und eines nicht-höfischen Fremden andererseits festgelegt, Grauzonen oder andere Formen komplexer Interaktion zwischen den beiden Polen sind nicht vorgesehen. Die Beobachtung, dass die Erzählmuster dieser Gattung stark von schematischen Vorgaben und tradierten Topoi geprägt sind, wird zu einer Verallgemeinerung ihrer Inhalte überdehnt, die in dieser Form dem spezifischen Sinngehalt nicht gerecht werden kann, den einzelne Texte des Genres durch ihr individuelles Spiel mit den postulierten Schemata gewinnen. Dies ist natürlich zum einen durch die Betrachtungsebene von Glausers Monographie bedingt: Die Untersuchung stellt eine Annäherung an eine bis dahin extrem vernachlässigte Gattung dar und bedient sich darum zwangsläufig eines globalen, verallgemeinernden Blickwinkels, der Gemeinsamkeiten des Genres über individuelle Spezifika einzelner Texte stellen muss. Zum anderen liegt die pauschalisierende Tendenz dieses Ansatzes auch in der strukturalistischen Methodik der Arbeit begründet, die dazu neigt, Erzählmuster wie räumliche Polarisierungen einerseits und inhaltliche Sinnstiftung andererseits stark gleichzusetzen und mit einer festen Grenzziehung zu untergliedern, die für unscharfe Konzepte wie Bhabhas Hybridität nur wenig Spielraum lässt. Konkret bedeutet dies bei der Betrachtung der originalen Riddarasögur insbesondere, dass die genaue Art und Weise, wie ein Sagatext eine Handlungsfunktion ausfüllt, als bloße Äußerlichkeit ohne sinntragenden Wert angesehen wird: Ob der Sagaheld nun gegen einen Berserker kämpft, um einen magischen Gürtel zu erhalten, oder ob er gegen einen Flugdrachen kämpft, um an ein magisches Schachspiel zu gelangen, ist nach der strukturalistischen Betrachtungsweise ähnlich irrelevant wie die Frage, ob dieser Kampf nun in Saxland, Miklagarðr oder India stattfindet. Genau hier liegt jedoch die Betrachtungsebene, auf der Individualisierungen einzelner Texte vor dem Hintergrund der Genre-Konventionen sehr wohl möglich 117 Driscoll 2005: 198. 118 Glauser 1983: 196. 3. Die originalen Riddarasögur - eine Literatur des Fremden? 48 sind: 119 Welche Begegnungen der Held in welchen Teilen der Erde mit welchen Konsequenzen durchlebt, ist eine Frage, die jede originale Riddarasögur anders beantwortet. Was auf der Strukturebene lakonisch als ‚Kampf zur Erlangung eines Zaubermittels‘ betrachtet werden kann, wird auf der Inhaltsebene durch die Wahl eines bestimmten Motives, mit dem bestimmte Assoziationen einher gehen und das wiederum mit anderen Motiven der Saga interagiert, zu einer individuellen Einzelepisode, die im Kontext ihrer Saga die unterschiedlichsten Konnotationen erfahren kann. Ein Schlüsselkonzept ist hier die Vielfalt: Auf der histoire-Ebene können die originalen Riddarasögur auf eine überwältigende Fülle von Motiven aus verschiedenen Traditionen zurückgreifen. Auf der discours-ebene können die einfachen Grundschemata ihrer Handlung praktisch unbegrenzt neu kombiniert werden, so dass Gebilde von beachtlicher Komplexität entstehen, seien es nun einfache klimaktische Wiederholungen, prologartige Vorwegnahmen späterer Handlungsmomente durch vorbereitende Episoden oder das spiegelbildliche Gegeneinanderwerfen unterschiedlicher Handlungsstränge. 120 Fast immer ist diesen Erzählbausteinen ein bedrohliches Moment des Fremden im Waldenfelsschen Sinne zu eigen: Die hybrid zusammengesetzten Körper von Monstern bedrohen die Kategorisierung von Mensch und Tier. Das anstößige Verhalten einer heiratsunwilligen Königstochter bedroht die Kategorisierung in männlich und weiblich und nicht zuletzt den gesamten höfischen Verhaltenskodex. Heidnische Ritter mit höfischen Sitten bedrohen die scheinbar klare Polarisation alles Nicht-Christlichen als eindeutige Feinde. Die originalen Riddarasögur sind eine Literatur der eklektischen Vielfalt, die immer wieder gezielt mit den Brüchen und Irritationen spielt, die aus dem Zusammentreffen so vieler unterschiedlicher Traditionen und Erzählmuster zwangsläufig entstehen. Es wird im Hauptteil der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein, dass dieses Spiel zentral dazu beiträgt, sie zu einer Literatur des Fremden auf den unterschiedlichsten Erzählebenen zu machen. 3.3 Eingrenzung des Textcorpus Es sollen im Folgenden diejenigen Texte aus der Vielzahl der originalen Riddarasögur für die Untersuchung berücksichtigt werden, die in zumindest einer Pergamenthandschrift vorliegen und dabei nicht nur fragmentarisch überliefert sind, also 119 Auch Glauser weist darauf hin, dass die Schemahaftigkeit der Gattung »keineswegs originelle, das Gattungssystem innovierende Leistungen einzelner Sagaautoren ausschließt.« Glauser 1994: 380. 120 In seiner Studie »Poetik des Hybriden« untersucht Armin Schulz hybridisierende Erzählkonstellationen in der spätmittelalterlichen Literatur des deutschen Sprachraumes. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die untersuchten Texte »unterschiedliche, intertextuell präfigurierte Erzählmodelle« hybridisieren, was auf eine »völlig unterschiedliche Funktionalisierung der Intertextualität« hinausläuft. Schulz 2000: 231. Das Phänomen, dass verschiedene Texte, die aus verschiedenen Gattungstraditionen schöpfen, bei der Rekombination dieser Traditionen ihre ganz eigenen, z.T. hybriden Erzählstrategien entwickeln, findet sich also auch in diesem Kontext. 3.3 Eingrenzung des Textcorpus 49 nachweislich zum älteren, spätmittelalterlichen Bestand der Gattung gehören. Die zahlreichen Sagas aus späterer Zeit, die noch einer Edition harren, bleiben ausgeklammert. 121 Diesem Auswahlkriterium folgt schon Agnete Loth bei ihrer Edition der Late Medieval Icelandic Romances (1962 bis 1965), die insgesamt 15 zuvor unedierte Sagas umfasst. 122 Darauf aufbauend ist es in der Forschung Usus geworden, bei der Korpusbildung ähnlich vorzugehen, so dass etwa Glauser (1983) und van Nahl (1981) ihre Grenze vergleichbar ziehen und dabei durch Aufnahme diverser weiterer Editionen auf 27 (Glauser) bzw. 24 (van Nahl) zu berücksichtigende Sagas kommen. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit soll Glausers Abgrenzung zugrunde gelegt werden, die sich weitestgehend mit den von Kurt Schier in seiner Übersicht zur Sagaliteratur als »Märchensagas« klassifizierten Texten deckt. 123 Wenn also im Folgenden von originalen Riddarasögur die Rede ist, dann sind damit konkret jene 27 vollständig überlieferten Texte aus spätmittelalterlicher Zeit gemeint, auf die sich auch Glausers Untersuchung stützt. 124 Die narrative Gestaltung und Funktionalisierung von Momenten des Fremden kann nur sinnvoll untersucht werden, wenn die einzelnen Motive und Erzählbausteine im Gesamtkontext einer konkreten Saga betrachtet werden. Nur so ist zu gewährleisten, dass auch die Bezugnahme einzelner Elemente untereinander und ihre Stellung im Gesamtwerk hinreichend gewürdigt werden. Vor diesem Hintergrund würde es wenig Sinn machen, die Textfülle der originalen Riddarasögur global zu betrachten oder auch einzelne Motive und Erzähleinheiten für einen Vergleich aus ihrem narrativen Kontext herauszulösen. Andererseits würde es den Rahmen dieser Arbeit (und wohl auch die Geduld des Lesers) deutlich sprengen, Einzelanalysen für solch eine Vielzahl von Texten vorzunehmen. Als Lösung dieses Dilemmas bietet es sich an, exemplarisch zu arbeiten und die wesentlichen Charakteristika der narrativen Gestaltung des Fremden anhand einiger besonders geeigneter Sagas darzustellen. Diese sollen jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sondern immer als 121 Zur Produktion und Rezeption von fiktionaler Unterhaltungsprosa im frühneuzeitlichen Island vgl. Driscoll 1997. Eine sehr aufschlussreiche Untersuchung zur Überlieferung einer einzelnen Saga bis ins 20. Jahrhundert am Beispiel der Dínus saga drambláta liefert Glauser 1994. 122 »The aim has been to publish all hitherto unpublished sagas within this genre that survive in vellum MSS and can therefore with certainty be assumed to be medieval.« Loth 1965: 10. 123 Vgl. Schier 1970: 105-115. Schier listet 30 Sagas auf, von denen Glauser die Hrings saga ok Tryggva, Jóns saga leikara und die Drauma-Jóns saga ausschließt, da die erste nur fragmentarisch überliefert ist, die zweite zu jung ist und auf rímur beruht und die dritte sich als Wandererzählung ohne originär isländischen Ursprung erwiesen hat. Vgl. Glauser 1983: 14-16. Da diese Abgrenzung für die Zielsetzung sinnvoll ist, ausschließlich komplette und originär isländische Texte des Spätmittelalters zu berücksichtigen, soll sie auch im Kontext dieser Arbeit übernommen werden. 124 Es sind dies im Einzelnen die folgenden Sagas: Adonias saga, Ála flekks saga, Bæring saga, Dámusta saga, Dínus saga drambláta, Ectors saga, Flóres saga konungs ok sona hans, Gibbons saga, Jarlmanns saga ok Hermanns, Kirialax saga, Konráðs saga keisarasonar, Mágus saga jarls, Mírmans saga, Nitida saga, Rémundar saga keisarasonar, Samsons saga fagra, Saulus saga ok Nikanors, Sigrgarðs saga frækna, Sigrgarðs saga ok Valbrands, Sigurðar saga fóts, Sigurðar saga turnara, Sigurðar saga þögla, Valdimars saga , Viktors saga ok Blávus, Vilhjálms saga sjóðs, Vilmundar saga viðutan, Þjalar-Jóns saga. Vgl. hierzu auch Glauser 1983: 13. 3. Die originalen Riddarasögur - eine Literatur des Fremden? 50 Vertreter einer vielgestaltigen Gattung, die als Ganzes den Hintergrund dieser Untersuchung bildet. Bei der Sichtung des Textcorpus hat sich herausgestellt, dass das Fremde in den originalen Riddarasögur immer wieder in bestimmten Erzählkontexten bzw. in Verbindung mit bestimmten inhaltlichen Aspekten in Erscheinung tritt. Diese Kontexte lassen sich zu folgenden sechs zentralen Betrachtungsebenen verallgemeinern: 1 Die räumlichen Dimensionen des Fremden, also seine Verortung innerhalb der erzählten Welt und entlang der Stationen der Heldenreise. Dieser Aspekt wird am Beispiel der Konráðs saga keisarasonar untersucht werden. 2 Das Fremde als Monstrum, also die Verkörperung des Fremden in der Gestalt monströser Figuren wie Riesen, Drachen oder Gestaltwandlern. Hierfür soll die Valdimars saga als Beispiel dienen. 3 Die sozialen Dimensionen des Fremden, also die Frage, inwiefern in der ritterlichen Saga-Welt Angehörige anderer sozialer Positionen narrativ verfremdet werden. Dieser Zusammenhang wird am Beispiel der Ála flekks saga untersucht werden. 4 Gender als Dimension des Fremden, also das Spiel mit verfremdeten Geschlechteridentitäten, das anhand der Sigurðar saga þögla betrachtet werden soll. 5 Die Bändigung des Fremden mithilfe von enzyklopädischem Wissen, also der Versuch seiner Erfassung mittels gelehrter Kategorisierung. Für diesen Zusammenhang wird die Kirialax saga als Beispiel dienen. 6 Das Fremde als Spiegel, also die Konstruktion spiegelsymmetrisch angelegter Erzählkonstellationen, in denen sich Fremdes und Eigenes gegenseitig reflektieren. Für dieses Phänomen wird die Dínus saga drambláta als Untersuchungsgegenstand herangezogen. Die Auswahl der sechs Sagas erfolgt primär unter dem Gesichtspunkt, jeweils einen Beispieltext zu finden, in dem der analysierte Aspekt in prägnanter und narrativ relevanter Form thematisiert wird. Bei der Behandlung der einzelnen Sagas wird näher darauf eingegangen werden, warum sie sich besonders als Exempel eignen. Zugleich sollen die gewählten Texte auch ein möglichst weites Spektrum der vielgestaltigen Gattung abdecken, um zu gewährleisten, dass die Ergebnisse der Analyse verallgemeinerbar sind und nicht etwa nur auf Randerscheinungen oder ein spezielles Subgenre zutreffen. So werden etwa die Konráðs saga keisarasonar und die Sigurðar saga þögla von der Forschung eher in die Nähe der kontinentaleuropäischen höfischen Dichtung gestellt, der sie in ihrem Motivinventar sehr verpflichtet sind, während hingegen die Valdimars saga und die Ála flekks saga gerne mit den Fornaldarsögur in Verbindung gebracht werden. Es werden also Sagas aus dem Umfeld beider großer Nachbargattungen berücksichtigt, die in ihrem Verhältnis zu den originalen Riddarasögur oben angesprochen wurden. Mit der Dínus saga drambláta und der Kirialax saga werden 3.3 Eingrenzung des Textcorpus 51 weitere Verwandtschaftsbeziehungen dieser heterogenen Gattung einbezogen, denn Erstere ist vermutlich von orientalisch-byzantinischen Quellen inspiriert, während Letztere vor allem aus der gelehrten Wissensliteratur schöpft. Die Textauswahl deckt also viele charakteristische Teilbereiche der originalen Riddarasögur exemplarisch ab. Dabei sind die genannten Annäherungen an andere Gattungen immer nur als holzschnittartig überzeichnete Tendenz zu sehen, der bei einer näheren Betrachtung von Einzeltexten ein buntes Konglomerat aus verschiedenen Traditionen und Motiven gegenübersteht. 125 125 Als Grundlage der Untersuchung dienen die im jeweiligen Kapitel angegebenen Editionen der Texte. Auf Vergleiche verschiedener Textträger im Sinne der New Philology muss aus Gründen der Praktikabilität verzichtet werden, käme ein solches Vorhaben bei der breiten Überlieferung der originalen Riddarasögur doch einer eigenständigen Forschungsarbeit gleich. Es werden jedoch an einzelnen relevanten Punkten verschiedene Redaktionen der Texte berücksichtigt, sofern diese in die Editionen aufgenommen wurden. Zur Methodik der New Philology im Kontext der originalen Riddarasögur vgl. Glauser 1998. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden Inter haec et hujusmodi advertendum est, quod mundi extremitates novis semper quibusdam prodigiis pollent; ac si natura licentius ludat in privato et remoto, quam in propatulo et propinquo. 126 Ranulph Higden: Polychronicon, 14. Jhd. Als erste Annäherung an das Phänomen des Fremden in den originalen Riddarasögur sollen im Folgenden seine räumlichen Aspekte am Beispiel der Konráðs saga keisarasonar untersucht werden. Diese Saga wird auf die Zeit um 1300 datiert und ist in über 40 Textzeugnissen überliefert. Sie ist somit eine der ältesten erhaltenen originalen Riddarasögur und steht in vielerlei Hinsicht der höfischen Erzählliteratur des Kontinents nahe, so dass sie in der älteren Forschung mitunter als Übersetzung eines verlorenen kontinentalen Originals betrachtet wurde. 127 Für die Untersuchung des erzählten Raumes ist sie in mehrfacher Hinsicht besonders gut geeignet: Zum einen unternimmt der Protagonist im Laufe der Handlung verschiedene Abenteuerfahrten, die zumindest oberflächlich eng den klassischen Erzählschemata eines ‚Aventiure-Ritters‘ folgen und somit als repräsentativ für das Raumkonzept des Genres gelten können. Zum anderen deckt der erzählte Raum der Saga ein weites Feld der im Mittelalter bekannten Geographie von Saxland bis Babylon ab, so dass sich am Text auch die verschiedenen Konnotationen untersuchen lassen, die mit der narrativen Aktivierung der einzelnen Räume evoziert werden. Schließlich zeichnet sich die Saga durch den Wechsel zwischen konkreten Räumen wie der Stadt Miklagarðr und unkonkreten Räumen wie unbenannten Wäldern oder von wilden Tieren bewohnten Ländern aus; das Nebeneinander und Ineinander verschiedener Raumkonzeptionen lässt sich somit an der Konráðs saga exemplarisch analysieren. Als Grundlage der Untersuchung dient die B-Redaktion der Saga in der von Otto Zitzelsberger erstellten Edition. 128 Die Lesarten der A-Redaktion und der jüngeren E-Fassung werden in einzelnen relevanten Fällen hinzugezogen. 129 126 Babington 1975: 360-361. »Note that at the farthest reaches of the world often occur new marvels and wonders, as though Nature plays with greater freedom secretly at the edges of the world than she does openly and nearer us in the middle of it.« Übersetzung nach Friedman 1981: 41. 127 So geht Henry Goddard Leach etwa davon aus, dass der Stoff Skandinavien, ähnlich wie die Þiðreks saga, durch die Vermittlung hanseatischer Kaufleute erreichte. Vgl. Leach 1921: 165. 128 Zitzelsberger 1987. Der Text wird im Folgenden mit KSK und Seitenangabe abgekürzt. Auf die B- Redaktion wird insbesondere zurückgegriffen, weil hier der für die Raumkonstruktion bedeutsame Anfang der Saga komplett erhalten ist. 129 Zu den Mauskripten der Konráðs saga keisarasonar vgl. Zitzelsberger 1987: xvii-xviii. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 54 4.1 Klare Grenzen? Zur räumlichen Verortung des Fremden Die Konráðs saga keisarasonar beginnt am Kaiserhof von Saxland, verlegt dann ihre Handlung ostwärts nach Miklagarðr und folgt schließlich der Abenteuerfahrt ihres Protagonisten über die Bláland-Inseln und wilde, nur von Löwen und Elefanten durchstreifte Länder, bis hin zu der prachtvollen, von Schlangen bewohnten Stadt Babylon in märchenhafter Ferne. Geographische Räume und Reisen durch den Raum nehmen in der Saga einen zentralen Stellenwert ein. Die Begegnungen des Helden mit dem Fremden finden zu einem großen Teil in der räumlichen Ferne statt. Schulz’ Ansatz, dieses Kriterium als Schlüsselelement des Fremden zu betrachten, findet vor diesem Hintergrund seine Berechtigung - wenn auch zu zeigen sein wird, dass damit lediglich eine Ebene eines vielschichtigen Konzepts erfasst wird. Wie aber ist der erzählte Raum der Saga narrativ gestaltet? Welche Rolle spielt die Bewegung des reisenden Helden durch den Raum? Und wo ist dabei das Fremde situiert, wo das Eigene, wo liegen die Grauzonen der Begegnung? In seiner klassischen Einführung Die Struktur literarischer Texte widmet Jurij Lotman der »Komposition des künstlerischen Raums« ein eigenes Kapitel. 130 Dabei betont er den zentralen Stellenwert, den die räumliche Komposition eines Textes für seine Abbildung der Wirklichkeit einnimmt, so dass seine Raumstruktur letztendlich ein »Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt« 131 darstellt. Der Charakter des erzählten Raumes als Modell der Wirklichkeit konstituiert sich insbesondere durch die (dichotome) semantische Aufladung topologischer Raumpositionen wie »hoch-niedrig«, »rechts-links« oder »nah-fern« mit wertenden Konnotationen wie »wertvoll-wertlos«, »gut-schlecht« oder, für unseren Kontext zentral, »eigenfremd«. 132 Über eine bloße Darstellung von Raum hinaus sind demnach auch weitere inhaltliche Aspekte eines Textes mit seinem Raumgefüge verbunden, »um das herum sich auch die nichträumlichen Charakteristiken ordnen«. 133 Konstitutiv für eine solche räumliche Gliederung der Erzählwelt ist das Konzept der Grenze. »Die Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird, ist eines seiner wesentlichsten Charakteristika.« 134 So führt Lotman etwa das Beispiel des Zaubermärchens an, für dessen Raum- und Erzählstruktur die binäre Abgrenzung von ‚Haus‘ (als vertrauter Ausgangspunkt des Helden) und ‚Wald‘ (als Ort der Abenteuer) entscheidend ist. Im Text liegt dann ein Ereignis vor, wenn ein Element eine Grenze überschreitet und von einem Raum in den anderen übergeht, also etwa der Held sein sicheres Zuhause verlässt und in den gefährlichen Wald vordringt. Für den Kontext der vorliegenden Untersuchung ist dabei insbesondere von Relevanz, dass Lotman explizit »die Identifikation des ‚Nahen‘ mit dem Verständlichen, Eigenen, Ver- 130 Vgl. Lotman 1993: 311-329. 131 Ebd.: 312. 132 Ebd.: 313. 133 Ebd.: 316. 134 Ebd.: 327. 4.1 Klare Grenzen? Zur räumlichen Verortung des Fremden 55 trauten, und des ‚Fernen‘ mit dem Unverständlichen, Fremden« 135 als typisches Beispiel für die Bildung von Weltmodellen über räumliche Merkmale anführt. Diese theoretischen Erwägungen Lotmans sind in der mediävistischen Literaturwissenschaft durch Karin Boklund in ihrer Untersuchung Spatial and Cultural Characteristics of Courtly Romance herangezogen worden. 136 Boklund geht dabei von einem einfachen Grundmodell aus, nach dem die Welt des arthurischen Romans dichotom in einen höfischen, positiv konnotierten Innenraum und einen nichthöfischen, negativ konnotierten Außenraum aufgeteilt ist. Die Räume sind durch eine klare Grenze getrennt. Eine Handlungssequenz wird dadurch eingeleitet, dass die Ordnung des Zentrums durch eine Bedrohung aus dem Außenraum in Frage gestellt wird, woraufhin der Held die Grenze überschreitet und im Außenraum für die Wiederherstellung der Ordnung im Inneren kämpft: [O]rder is reaffirmed through a ritually controlled venture into chaos, and the unity of the internal cultural space is guaranteed by the expulsion of the hero until he succeeds in transferring the conflict from himself to his opponent and in defeating that opponent in battle. 137 Die Handlungssequenz endet damit, dass die ursprüngliche Ordnung mit einer klaren Trennung von Innen und Außen restauriert wird. Boklund betont hierbei in Anlehnung an Lotman die zentrale Bedeutung eines singulären höfischen Zentrums als Ort des Eigenen, von dem das unbegrenzte, vielgestaltige Chaos der Außenwelt abgegrenzt ist: »[...] ‚cultural space‘ cannot tolerate more than one dominant boundary, which is equivalent to saying that it cannot tolerate more than one central space, integrated and harmonious.« 138 In Szenarien, wo dem Hof ein weiteres Zentrum gegenübergestellt wird - etwa der Gralshof im Erzählstoff von Parzival - muss es nach dieser Logik zwangsläufig zu einem Integrationsprozess kommen, in dem die erzählte Welt um ein gemeinsames Zentrum herum neu geordnet wird. Dieses Raumkonzept stellt zugleich ein kosmologisches Konzept dar, in dem der König die unverrückbare Mittelachse des Universums bildet, ein statischer Garant der höfischen Ordnung, die die Ritter gegenüber der Außenwelt vertreten - nach Boklund möglicherweise ein Reflex des quasi-sakralen Königtums in der keltischen Mythologie, auf deren Welt die arthurischen Erzählstoffe z. T. zurückgehen. In seiner Monographie Isländische Märchensagas überträgt Glauser diesen Ansatz Boklunds auf das Genre der originalen Riddarasögur. »Die Gegensätze in der dargestellten Welt der Märchensaga sind scharf, die Polarisierung ‚Gut‘ - ‚Bös‘ streng durchgeführt. Zentrale Kategorie der Oppositionenkonstituierung stellt dabei das Raumkonzept dar.« 139 Die Dichotomie vom Hof als Ort des Eigenen und dem Außenraum der Wildnis als Ort des Fremden macht nach Glauser ein zentrales Gliederungsmerkmal der erzählten Sagawelt aus, die hierin dem Vorbild der kontinentalen 135 Ebd.: 313. 136 Vgl. Boklund 1977. 137 Ebd.: 11. 138 Ebd.: 17. 139 Glauser 1983: 192. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 56 höfischen Literatur folgt. Die Polarität von Hof und nicht-höfischem Außenraum durchzieht die Sagas auf allen Ebenen, insbesondere auch auf der Ebene der vermittelten Ideologie, »die durch die Oppositionen ‚innen-heimisch-höfisch-gut‘ - ‚außen-fremd-nicht-höfisch-bös‘ definiert ist und die zentrale Kategorie ‚Raum‘ konkretisiert.« 140 Das Raumkonzept der originalen Riddarasögur ist also in der bisherigen Forschung vor allem vor dem Hintergrund Lotmanscher Polarisierungen betrachtet worden. Bezogen auf unser Thema des Fremden würde aus dieser Sichtweise folgen, dass sich das Verhältnis von Eigenem und Fremdem denkbar simpel darstellt: Was sich im Raum außerhalb des Hofes befindet, ist nicht nur fremd, sondern damit automatisch auch feindselig und böse und muss durch den Helden zur Restaurierung der höfischen Ordnung vernichtet werden. Dies entspräche einem ethnozentrischen Bild des Fremden mit nur geringem Reflexionspotential. Wie zu zeigen sein wird, finden sich jedoch in den originalen Riddarasögur unzählige Begegnungen und Figurenkonstellationen, die sich nicht befriedigend mit solch einer strengen Dichotomie erklären lassen. Für die Untersuchung solcher vieldeutiger Konstellationen bietet sich ein methodisches Werkzeug an, das ebenfalls von Jurij Lotman entwickelt wurde: das Konzept der Semiosphäre. Eine solche Semiosphäre ist definiert als »a specific semiotic continuum, which is filled with multi-variant semiotic models situated in a range of hierarchical levels.« 141 Sie stellt einen übergeordneten Raum dar, der alle semiotischen Sinnstiftungsvorgänge umfasst und miteinander vernetzt, die innerhalb eines bestimmten (kulturellen) Systems möglich sind. »The semiosphere is that same semiotic space, outside of which semiosis itself cannot exist.« 142 Ein Beispiel für eine solche Semiosphäre wäre etwa ein konkreter Kulturraum, der mit seinem Weltbild, seinen Werten und seinen Konventionen die Rahmenbedingungen für alle in ihm stattfindenden Semiotisierungen schafft und zugleich alle Semiotisierungen verbietet, die von diesem System nicht erfasst werden. Die Grenze zum nicht-semiotisierbaren Außenbereich ist jedoch potentiell durchlässig: [T]he semiotic border is represented by the sum of bilingual translatable ‚filters‘, passing through which the text is translated into another language […]. The border is a bilingual mechanism, translating external communications into the internal language of the semiosphere and vice versa. 143 140 Ebd.: 196. Siehe auch S. 47-48 der vorliegenden Arbeit. 141 Lotman 2005: 206. 142 Ebd.: 208. 143 Ebd.: 2005: 208-210. Die Grenze ist hier nicht länger der scharfe Trennstrich zwischen zwei dichotomen Räumen, sondern ein Filter, der gegenseitige Interaktion zulässt, indem er Einflüsse von außen ins Zeichensystem der Semiosphäre übersetzt. So können verschiedene Semiosphären nebeneinander bestehen und über die unscharfen Räume an ihren Grenzbereichen in Austausch stehen. Bezogen auf die Erzählwelt der originalen Riddarasögur kann der Hof als zentrale Semiosphäre betrachtet werden, aus der der 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 57 Held seine Sinnstiftung zieht. Der Raum außerhalb des Hofes ist nicht nach höfischen Maßstäben semiotisiert und somit potentiell bedrohlich, doch durch die Möglichkeit einer Übersetzung ins eigene Zeichensystem zugleich auch potentiell integrierbar und nicht zwangsläufig antagonistisch angelegt. Konstellationen wie Helden, die zu Monstern werden und somit die Grenzen einer klaren Dichotomie sprengen, lassen sich durch solche Translationsprozesse gut beschreiben und analysieren. Darüber hinaus weist Lotman darauf hin, dass gerade die Peripherie einer Semiosphäre einen besonders fruchtbaren Raum darstellt: »[I]t is the area of accelerated semiotic processes, which always flow more actively on the periphery of cultural environments [...].« 144 Durch den Einfluss des nahen Außenraumes kommt es hier besonders schnell zu neuen Semiotisierungsmöglichkeiten, der Innenraum erhält Impulse von außen. Für den reisenden Helden einer originalen Riddarasaga hat dies weitreichende Folgen: Die Reise in den fremdartigen, peripheren Außenraum beinhaltet immer auch eine Einflussnahme auf den eigenen Innenraum. Der Held kehrt niemals unverändert zurück, sondern bringt neue Aspekte mit sich, die den erzählten Raum der Saga am Schluss auf einer anderen Ebene neu ordnen. Das Fremde wird nicht einfach nur besiegt, um zum status quo zurückzukehren - es zwingt das Eigene dazu, sich im Zuge der Bewältigung des Fremden zu transformieren. Die Reise fort vom höfischen Zentrum leitet einen Translationsprozess ein, der Aspekte der Peripherie ins Zentrum strömen lässt. Um welche Aspekte es sich genau handelt und wie damit umgegangen wird, variiert von Saga zu Saga und wird in den folgenden Einzeluntersuchungen an verschieden en Beispielen aufgezeigt werden. Als Hauptbeispiel für die Gestaltung des erzählten Raumes soll dabei die Konráðs saga keisarasonar dienen. Die originalen Riddarasögur gewinnen einen gehörigen Anteil ihres Reizes dadurch, dass sie zugleich eine Literatur des Zentrums und eine Literatur der Peripherie sind: Sie transportieren vordergründig die Ideologie des Hofes, stellen jedoch zugleich immer wieder die damit verbundenen Konventionen in Frage, indem sie sie der Dynamik der unberechenbaren Peripherie aussetzen. Die Folge sind eine Vielzahl von Grauzonen und uneindeutigen in-between spaces im Bhabhaschen Sinne, wo Räume des Fremden und des Eigenen nicht immer klar abzugrenzen sind. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 4.2.1 Saxland - ein intaktes höfisches Zentrum? Konráðr, der Held der Konráðs saga, wächst als Sohn des Kaisers Ríkarðr am Hofe von Saxland auf. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft, denn ein großer Teil der originalen Riddarasögur nimmt seinen Anfang an einem europäischen, jedoch nicht-skandinavischen Königshof, vorzugsweise in Frakkland, England oder Sax- 144 Ebd.: 212. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 58 land. 145 Der Ausgangspunkt des Geschehens liegt also dezidiert in einem Zentrum der höfischen Welt, wobei es gewiss kein Zufall ist, dass insbesondere jene Länder bevorzugt werden, von denen die altnordische Literatur starke Impulse durch die translatio höfischer Stoffe empfangen hat. Konráðs Heimat wird im Text in ihrer Topographie nur skizzenhaft ausgearbeitet. Man erfährt lediglich über den Herrschaftsbereich seines Vaters, dass der Kaiser »aullum | heimi fyrir nordan haf« 146 vorsteht. Eine geographische Binnengliederung dieses Gebietes wird zunächst nicht entwickelt. Jedoch findet gleich zu Beginn der Handlung eine Bewegung innerhalb dieses Raumes statt. Konráðr wird in seiner Jugend an den Hof des gelehrten Jarls Roðgeirr gegeben, um dort zusammen mit dessen Sohn Roðbert aufzuwachsen und die Künste seines Ziehvaters zu erlernen: »ok nu war bvín f[er]d Konrads ok fara sidan med godu y|firlæti ok fridu forvneyti þar til ‹er› þeir koma heim.« 147 Durch diesen Vorgang der Bewegung, um an den Hof des Gefolgsmanns zu gelangen, wird implizit eine topologische Binnengliederung des höfischen Raumes vorgenommen: Er besteht zum einen aus dem höfischen Zentrum um Kaiser Ríkarðr und zum anderen aus dem Hof des Jarls Roðgeirr, der durch das Ansehen und die Fertigkeiten dieser Figur zwar deutlich als Teil der höfischen Welt konnotiert ist, sich im Vergleich zum zentralen Kaiserhof jedoch in einer marginalen Lage befindet. Diese ist dadurch markiert, dass sie für Konráðr, der dem Zentrum angehört, nur durch die Überwindung von geographischem Raum zu erreichen ist. Innerhalb der höfischen Semiosphäre, die der Saga-Text konstruiert, nimmt der Hof des Jarls eine periphere Position ein. Die Konsequenzen dieser topologischen Grundkonstellation für die Saga- Handlung werden deutlich, wenn man das weitere Schicksal der Ziehbrüder Konráðr und Roðbert verfolgt: Nachdem Konráðr seine höfische Ausbildung abgeschlossen hat, kehrt er zusammen mit seinem Ziehbruder an den kaiserlichen Hof zurück. 148 Somit wird nicht nur das erste Ereignis der Handlung mit der Rückkehr 145 Von den 27 Sagas, die im vorliegenden Kontext als originale Riddarasögur betrachtet werden, beginnen je sechs Texte in Frakkland und in Saxland, dicht gefolgt von vier Sagas, die in England ihren Anfang nehmen. Grikkland und Garðaríki bilden den Startpunkt für das Geschehen von jeweils zwei Sagas, während die übrigen Texte sich auf die europäischen Gegenden Róma, Valland und Sjólönd sowie die exotischeren Räume Syrien, Ägypten, Tyrkland und Tattaria aufteilen. 146 KSK: 1. der ganzen Welt nördlich des Meeres. Gemeint ist das Mittelmeer als Grenze zwischen Europa und Afrika, sodass der Kaiser also über Europa herrscht. 147 KSK: 3. Und nun war Konráðs Reise vorbereitet, und die Fahrtgenossen reisen daraufhin mit guter und ansehnlicher Ehrung, bis sie heimkommen. Mit heim ist in diesem Kontext das Reiseziel gemeint, also Roðgeirs Hof. 148 Die Reise, mit der dieser räumliche Wechsel vollzogen wird, ist ähnlich knapp beschrieben wie die Hinreise. Interessanterweise wird in der B-Redaktion der Saga explizit erwähnt, dass Konráðr und sein Gefolge »heim j Saxland« (KSK: 6. heim nach Saxland) kommen. Dies impliziert, dass der Herrschaftsbereich des Jarls außerhalb des eigentlichen Kernlandes des Kaisers gedacht ist, so dass die topologisch periphere Position nach dieser Version der Saga zudem mit einer deutlicheren ge graphischen Abgrenzung einhergeht. Dieses Detail wird jedoch ansonsten im Text nicht weiter aufgegriffen. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 59 ins Zentrum zu einem Ende gebracht, sondern zugleich auch ein neues Ereignis initiiert: Roðbert hat sich von der Peripherie ins Zentrum bewegt. Aus dem Jarlssohn ist der Ziehbruder und persönliche Vertraute des künftigen Kaisers geworden, er hält sich im Kernbereich der Macht auf und hat seine ursprünglich periphere Stellung soweit hinter sich gelassen, wie es einem Mann seines Standes möglich ist. Doch Roðbert gibt sich nicht damit zufrieden. Er hintergeht das Vertrauen seines Ziehbruders und lässt sich auf eine illegitime Liebschaft mit dessen Schwester Silvía ein, die er schließlich schwängert. Mit diesem Griff nach einer Braut, die als Kaisertochter standesmäßig über ihm steht, versucht er tiefer ins Zentrum vorzudringen, als es für ihn legitim ist. Damit wird ein zentraler Konflikt der Handlung ausgelöst, der schließlich dazu führt, dass Roðbert in Begleitung seines Ziehbruders, der ihn vor dem Zorn seines Vaters zu beschützen versucht, aus Saxland fliehen muss. Dieser Konflikt lässt sich direkt darauf zurückführen, dass Saxland keinen homogenen Raum der höfischen Idealität darstellt, sondern in Außen- und Innenbereiche binnengegliedert ist. Roðberts Vorstoß ins Zentrum führt zu einem Bruch dieser Ordnung, einer Schädigung in den Termini der Proppschen Märchenmorphologie. 149 Seine Rolle als ‚Schädiger‘ kann Roðbert hierbei jedoch nur einnehmen, weil er sich als Figur der Peripherie nicht im Zentrum der höfischen Welt befindet, sondern in ihren Grenzbereichen, wo die höfische Semiosphäre ans Außen grenzt. Roðbert fungiert in gewisser Weise als Übersetzer aus dieser Außenwelt ins Innen, indem er die nicht-höfischen Aspekte des Betruges und der Unkeuschheit in die Welt des Hofes hineinträgt. Die höfische Heimat des Saga-Helden Konráðr ist von Anfang an kein fester, ruhender Pol der Sicherheit inmitten einer chaotischen, unhöfischen Außenwelt, sondern von internen Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie gekennzeichnet. Die unhöfische Bedrohung der Ordnung, die den Helden schließlich von zu Hause in die Ferne treibt, dringt nicht punktuell und von außen in eine ansonsten heile Welt ein, sondern entwickelt sich aus diesen Spannungen in ihrem topologischen Grundaufbau. Auch der höfische Raum ist in die Unsicherheiten der Erzählwelt der originalen Riddarasögur eingebunden. 4.2.2 Miklagarðr - ein bedrohlicher Hof umgeben von bedrohlicher Fremde Nachdem sie aus Saxland geflohen sind, gelangen die Ziehbrüder direkt in einen weiteren höfischen Raum: nach Miklagarðr, dem Sitz des byzantinischen Kaisers. Das Reiseziel geht auf Konráðs Absicht zurück, dass er »kuezt aungan uilía heimsækia nema | þann sem rikaztur wæri j heiminum enn þat er stolkongrínn sialfur j Miklagardí«. 150 Somit vollzieht sich mit der dritten Reise der Saga eine weitere 149 »VIII. Der böse Gegenspieler fügt einem Familienmitglied einen Schaden oder Verlust zu. [...] Diese Funktion ist überaus wichtig, denn sie allein bringt die Märchenhandlung in Gang.« Propp 1972: 36. 150 KSK: 14. sagt niemanden aufsuchen zu wollen außer denjenigen, der am mächtigsten auf der Welt wäre, und das ist der byzantinische Kaiser selbst in Miklagarðr. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 60 Bewegung von der Peripherie ins Zentrum, diesmal jedoch von Konráðs Perspektive aus betrachtet. Im Vergleich zu Miklagarðr, das als mächtigster aller Königshöfe charakterisiert wird, nimmt seine Heimat Saxland eine periphere Stellung ein. 151 Der Text folgt hierbei Konráðs Perspektive eines Außenseiters, der sich zum ersten Mal dem Zentrum nähert, und schmückt die höfische Prachtentfaltung bei seinem Empfang in Miklagarðr breit aus: þa lætur kongr leika fyrir þeim med allzskyns leíkum ok ganga nu | allir wt leíkarar ok adrir lydir sumir med saungum edur horpum sumir sínfonum | edur sallteríum ok gigíum. sumir baru kertí motí þeim kongr síalfur geck mot þeim ok oll hans hird. | ‹O›k med þessari processio woru þeir j borgí leiddir ok j kongs holl. 152 Die Detailfülle dieser Prozession steht in deutlichem Gegensatz zu der nüchternen Skizzenhaftigkeit, mit der Konráðs höfische Heimat beschrieben ist, und betont somit die zentrale Stellung Miklagarðs. Mit der Bewegung hin zum Zentrum wiederholt sich auch das Motiv, dass dort um eine zum Zentrum gehörige Frau geworben wird: Diesmal geht es um die Tochter das Kaisers von Miklagarðr, Matthildr, der Konráðr während seines Aufenthalts bei Hofe näher kommt. Während sich jedoch Roðbert gegenüber Silvía auf der Achse der sozialen Schichtungen als Jarlssohn in einer marginalen Position befindet, gehört Konráðr ebenso wie Matthildr mitten ins Zentrum der höfischen Welt. In topologischer Hinsicht mag er sich Miklagarðr aus einer peripheren Position heraus annähern, doch auf der sozialen Ebene ist die Seite der Kaisertochter am zentralen Hof der Welt genau der richtige Ort für den höfisch-idealen Saga-Helden. Konráðr dringt direkt ins Zentrum vor, und im Gegensatz zu Roðgeirr gehört er hier auch legitimerweise hin. Die Bewegung von außen nach innen wird verdoppelt, diesmal jedoch unter einem positiven Vorzeichen. Doch Roðbert verhindert ein vorzeitiges Happy End der Saga, indem er einmal mehr als betrügerischer Agitator bei Hofe tätig wird: Er nutzt Konráðs fehlende Griechisch-Kenntnisse aus und kann den Kaiser davon überzeugen, dass er in Wahrheit der Prinz von Saxland sei und Konráðr lediglich sein Gefährte. Im Folgenden intrigiert er beim Kaiser gegen Konráðr und bemüht sich selber um Matthildrs Gunst. Der Ordnungsbruch, der zu Roðberts Flucht aus Saxland führte, wird somit nicht nur wiederholt, sondern zudem klimaktisch gesteigert: Diesmal nähert sich 151 Dieser topologische Aspekt des erzählten Raumes findet sich auch auf der geographischen Ebene wieder: Byzanz liegt deutlich näher an Troja als historischem Zentrum der Ritterschaft und Jerusalem als Zentrum der Heilsgeschichte und somit auch der Geographie als Saxland, das in der Nordhälfte der Welt eher marginal gelegen ist. 152 KSK: 16. Da lässt der König für sie aufspielen mit allen Arten von Kurzweil und es ziehen nun alle Spielleute aus und andere Leute, manche mit Gesängen oder Harfen, manche mit Leiern oder Zithern oder Geigen. Manche trugen ihnen Kerzen entgegen. Der König selbst ging ihnen entgegen und sein ganzes Gefolge. Und mit dieser Prozession wurden sie in die Stadt geführt und in die Königshalle. Die Übersetzung von »sínfonium« mit Leier und von »sallterium« mit Zither folgt der Interpretation von Baetkes Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, wo »e. Art Leier« für simfon (Baetke 1968: 534) und »zitherartiges Musikinstrument (? )« für salterium (Ebd.: 514) angesetzt wird. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 61 Roðbert nicht nur der Kaisertochter an, sondern macht sich gleich selber zu einem Kaisersohn. Um sich Konráðs zu entledigen, überredet Roðbert ihn zu Ausritten ins Umland der Stadt, um dort mit seinem Waffenspiel zu glänzen, und sorgt dafür, dass Konráðr bei seiner Rückkehr die Stadttore verschlossen vorfindet. Dies geschieht mit dem Hintergedanken, dass der wahre Kaisersohn in der Wildnis den Tod finden möge, denn Roðbert weiß über die Gegend zu berichten, »at hier er suo vhreínt at huería natt ma eíngí madur vtan borgar | vera vndir berum hímni fyrir sakir allzkyns dyra« 153 . Miklagarðr grenzt in der erzählten Topologie der Saga an die bedrohlichen Weltgegenden der Peripherie, wo fremdartige Gefahren auf den Reisenden lauern. Während für Konráðs Heimat Saxland ein bedrohlicher Wildnis-Raum als Außenwelt nicht thematisiert wird und auch für die beschriebenen Reisen durch dieses Land keine Rolle spielt, erweist sich die Umgebung Miklagarðs als äußerst gefährlich für einen Angehörigen des höfischen Innenraums. Die Bedrohlichkeit des Außenraumes um Miklagarðr manifestiert sich konkret in unterschiedlicher Form auf drei Ausritten des Protagonisten. Während des ersten Ausritts in den nahegelegenen Wald begegnet er zwei wilden blámenn, von denen der Kaiser zu berichten weiß, dass ».lx. manna hínna voskuztu ridi m t þeim braedrum þa lagu hinir eptir | er þessir settu undan eckí sarir« 154 . Die beiden schwarzen Berserker werden von Konráðr im Kampf besiegt und ihre Köpfe dem erstaunten Kaiser als Beweis der Heldentat präsentiert. Der Bericht von den sechzig Männern, die zuvor bereits vergeblich gegen die blámenn vorgegangen sind, steigert hierbei nicht nur Konráðs Leistung, sondern setzt die beiden Berserker zugleich auch in eine Beziehung zum Innenraum von Miklagarðr: Die blámenn sind keine punktuelle Reisebegegnung des Helden, die losgelöst vom höfischen Raum in der Fremde der Wildnis stattfindet, sondern eine präsente Bedrohung für Miklagarðr, mit der man bislang nicht fertig geworden ist. Der Raum dieses prunkvollen Hofes grenzt direkt an eine gefahrvolle und fremdartige Außenwelt, wo jenseits der Stadtmauern »traull« 155 wie die beschriebenen Berserker hausen. Die Reise nach Miklagarðr ist somit nicht nur eine Reise von der Peripherie an ein höfisches Zentrum, sondern zugleich auch die Reise vom Zentrum der eigenen Heimat in die Peripherie des Fremden. Miklagarðs Charakter als Grenzraum zwischen höfischem Eigenem und bedrohlicher Fremde wird besonders deutlich auf Konráðs zweitem Ausritt. Diesmal bleibt eines der Stadttore für ihn offen, doch wird dieses von einem angeketteten Löwen bewacht. Konráðr besiegt die Bestie, indem er sich mithilfe seines Speeres auf eine Steinsäule schwingt und dem Löwen von oben den Kopf abschlägt, gefolgt von der topischen Präsentation der Trophäe vor dem Kaiser. Bemerkenswert an dieser 153 KSK: 59. dass es hier so unrein ist, dass in jeder Nacht kein Mensch außerhalb der Stadt sein kann unter freiem Himmel wegen aller Arten von Tieren. 154 KSK: 57. 60 der tapfersten Männer gegen diese Brüder ritten, da lagen jene [Männer] hinterher darnieder, während diese [Brüder] unverwundet davonkamen. 155 KSK: 55. Trolle. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 62 Kampfepisode ist die räumliche Situierung des Löwen: am Stadttor von Miklagarðr, an der Schwelle zwischen Hof und Wildnis, zu keinem von beiden ganz zugehörig. So heißt es im Text über das Tier, dass es »eírdi aungum manní er bunndít | war j hlídínu nema þeim einum at þui gaf mat« 156 . Die Doppelnatur des Löwen kommt darin zum Ausdruck, dass er einerseits als wildes Geschöpf des Außenraums niemanden verschont, sich andererseits aber dem Menschen des Innenraums gegenüber gefügig zeigt, der ihn mit Nahrung versorgt. Die Existenz eines gefährlichen Löwen, der ein Stadttor bewacht, wird dabei im Text durchgehend als gegeben hingenommen, ohne dass der Hintergrund dieses ungewöhnlichen Umstandes näher erläutert würde. Das höfische Zentrum Miklagarðr ist nicht nur von Wildnis umgeben, sondern hat sich mit dem Löwen einen Teil dieser Wildnis zu eigen gemacht und besitzt einen hybriden Übergangscharakter zwischen höfischer Innenwelt und bedrohlicher Fremde. Der dritte Ausritt schließlich gipfelt in den Kampf gegen einen Drachen, womit auch diese Abfolge von Kämpfen klimaktisch erzählt wird. Der Drachenkampf gestaltet sich als Variante des Löwenritter-Motivs: 157 Als er sich dem Drachen nähert, bemerkt Konráðr, dass dieser einen Löwen mit seinen Klauen umschlossen hält. Er trennt die Klauen mit seinem Schwert ab und befreit den dankbaren Löwen, der dem Helden nun zu folgen bereit ist. Nachdem noch zwei Junge des Drachen erschlagen und Gold aus seinem Hort geborgen wurde, geht es samt Löwen zurück zur Stadt. Dieses recht konventionelle Erzählschema wird dadurch mit besonderer Bedeutung aufgeladen, dass es direkt auf den Löwenkampf beim zweiten Ausritt folgt. Während der Löwe am Stadttor als reißende Bestie dargestellt wird, mit der nur im direkten Kampf interagiert werden kann, ist der Löwe in der Wildnis des Drachenberges ein potentieller Verbündeter, dem der Held zu Hilfe eilt und von dem es heißt, dass er menschliche Sprache beherrsche und »allra | dyra uítrazt« sei. 158 Die Figur des Löwen ist nicht eindimensional auf eine Erzählfunktion als monströser Gegner des Helden beschränkt, sondern in verschiedenen Kontexten unterschiedlich konnotiert: zum einen als wilder Repräsentant des Außenraums, zum anderen als Symbol ritterlicher Stärke und Tugend. 159 Betrachtet man die räumliche Kontextualisierung dieser Zuschreibungen, so fällt auf, dass der Löwe jeweils der räumlichen Umgebung entgegengesetzt erscheint: Am Tor von Miklagarðr, an der Schwelle zum höfischen Raum, hat er zwar einen 156 KSK: 60. keinen Mann verschonte [das Tier], das am Tor festgebunden war, außer dem einen, der ihm Futter gab. 157 Zum Motiv des Löwenritters in der altnordischen Literatur vgl. Barnes 1994. Das Motiv geht letztlich auf Chrétiens Yvain zurück und erreichte Skandinavien in Form der am norwegischen Königshof entstandenen Ívens saga. Die konkrete Textstelle in der Konráðs saga ist nach Barnes nicht allein durch die Ívens saga beeinflusst, sondern durch »[a] combination of French, German, and Norse influence« gekennzeichnet. Ebd.: 395. 158 KSK: 68. das klügste aller Tiere. 159 Man denke hierbei nur an die Häufigkeit des Löwen als gemeine Figur auf Adelswappen, wo er als Symbol für Stärke und Königsherrschaft steht und sich zudem ikonographisch mit dem auferstandenen Christus assoziieren lässt. Vgl. Filip 2002. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 63 hybriden Status inne, doch in seiner erzählerischen Funktion überwiegt eindeutig seine Natur als reißende Bestie, die den Helden bedroht. In der Wildnis fern der Stadt hingegen tritt der Löwe in der topischen Situation des Drachenkampfes als Verbündeter auf, der implizit für höfische Werte wie Tapferkeit und Treue steht. In beiden Fällen ist er ein Fremder, der sich nicht in den Umgebungsraum fügt, sondern als Ordnungsbruch daraus hervorsticht. Es ist am Sagahelden, mit diesen Brüchen angemessen umzugehen, indem er den Löwen am Stadttor erschlägt und den Löwen in der Wildnis als seinen Begleiter in die Sphäre des Hofes überführt. Auf dem Rückweg in die Stadt finden Konráðr und sein Löwe die Tore noch immer verschlossen vor. Für Konráðr ist das der Anlass, seinen neugewonnenen Begleiter eine Probe seiner Kräfte geben zu lassen: »þu ert | allra dyra sterkazt ok uítrazt. huort muntu nu geta lostit vp þessa grin|d.« 160 Der Löwe kommt der Aufforderung nach und sprengt das Tor, woraufhin die beiden Gefährten den höfischen Innenraum betreten. Der gewaltsame Akt des Tordurchbrechens hat dabei eher den Charakter eines Eindringens von außen und wenig mit der siegreichen Heimkehr eines Drachenkämpfers gemein. Der Wiedereintritt in den höfischen Raum erfolgt nicht konfliktlos, sondern als Grenzdurchbrechung, die in der Zerstörung des Tors einen greifbaren Ausdruck findet. Konráðr bringt mit dem Löwen nicht nur eine Verkörperung der Rittertugenden nach Hause, sondern auch einen mächtigen Wildnisbewohner, dessen wilde Kraft er nutzt, um sich Zutritt zu verschaffen. In dieser Eigenschaft bleibt der Löwe ein Fremder im höfischen Raum. Konráðr führt einen Teil der Wildnis mit sich, in der er sich bewähren musste. Der Held selber hat sich verfremdet und ist in der Ferne zu einem anderen geworden als der, der einst aufgebrochen ist. Er führt seinen Tierbegleiter als Symbol seiner erwiesenen herausragenden Ritterschaft mit sich, aber auch als Verkörperung des Fremden, dessen Raum er durchlaufen hat. Der Löwe behält seine hybride Stellung zwischen Hof und Außenraum bei und überträgt diese Eigenschaft auf Konráðr, der zwischen diesen Semiosphären hin und her wechseln muss, um sich zu bewähren. Nachdem Konráðr den Drachen besiegt und seinen Löwenbegleiter errungen hat, folgen keine weiteren Ausritte in die Wildnis mehr. Mit den Trophäen seiner Heldentaten als Rückhalt kann Konráðr nun vor den Kaiser treten und sich als der offenbaren, der er wirklich ist - in griechischer Sprache, denn inzwischen hat er durch Matthildr die Landessprache erlernt. Damit hat er nicht nur die Gefahren des Außenraums gemeistert, sondern zugleich auch seine Entfremdung vom Innenraum überwunden: Miklagarðr ist zwar einerseits ein höfisches Zentrum, dem Konráðr als Kaisersohn seiner Natur nach zugehörig ist, andererseits jedoch auch ein Ort der Fremde, was sich darin ausdrückt, dass Konráðr zunächst die Landessprache nicht beherrscht und somit seine angestammte Position nicht einzunehmen vermag. Er entfremdet sich von seiner eigentlichen Stellung und wird durch Roðberts Intrige zu einem anderen gemacht, als Gefolgsmann an die Peripherie der höfischen Sphäre gedrängt. Der Wiedereintritt ins Zentrum gelingt ihm nicht nur durch seine Bewäh- 160 KSK: 69. Du bist das stärkste und klügste aller Tiere. Wirst du nun dieses Tor öffnen können? 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 64 rungsproben in der Wildnis, sondern auch durch das Erlernen der griechischen Sprache - ein Teil seiner standesgemäßen Ausbildung, den er in seiner Jugend versäumt hat und der somit zu seiner ritterlichen Perfektion noch fehlte. Miklagarðr erweist sich also in doppelter Hinsicht als Ort des Fremden: zum einen durch gefährliche, die Ordnung bedrohende Ungeheuer in der Wildnis, zum anderen als Ort des Selbstverlustes in der anderssprachigen Fremde, zu dessen Ausgleich auch die sprachliche Aneignung der Umgebung gehört. 161 Im räumlichen Erzählkonzept der Konráðs saga keisarasonar stellt Miklagarðr einen hybriden Grenzraum zwischen der Welt des Hofes einerseits und der fremdartigen, bedrohlichen Außenwelt andererseits dar, eine Ambivalenz, die exemplarisch in der doppeldeutigen Gestalt des Löwen verkörpert ist. Der Text kennt somit keine klare Dichotomie zwischen einem höfischen, eigenen Innen und einem nichthöfischen, fremden Außen. Stattdessen werden diese Kategorien zwar an der Oberfläche verwirklicht, dabei jedoch durch ein Wechselspiel zwischen Zentrum und Peripherie dekonstruiert. Die Reise nach Miklagarðr stellt weder ein Verbleiben in der höfischen Sphäre noch eine Grenzüberschreitung in einen chaotischen Außenraum dar, sondern den ersten Schritt in eine komplexe und vielfältige Welt, deren Fremdartigkeit zunimmt, je weiter der Held im Folgenden in sie vordringt. 4.2.3 Bláland - die ferne Wildnis Um seine vornehme Herkunft zu beweisen, wird Konráðr vom Kaiser auf eine gefährliche Mission ausgeschickt: Er soll einen Edelstein besorgen, der demjenigen gleicht, der sich im Besitz des Kaisers befindet. Damit beginnt der zweite Handlungskreis der Saga, deren Konflikt mit dem Aufdecken von Konráðs wahrer Identität und den bestandenen Bewährungsproben auf seinen Ausritten sonst zu einem Ende gekommen wäre. Dieser zweite Handlungskreis führt Konráðr fort vom Kaiserhof in noch fernere Weltgegenden. Die kenntnisreiche Matthildr kann ihm berichten, dass ein solcher Edelstein in einer von Schlangen bewohnten Stadt zu finden sei, doch die Reise dorthin führt durch das wilde Bláland. Als erstes Etappenziel geht es »til Blalandzeyía.« 162 Die Inseln werden dabei ähnlich knapp beschrieben wie die Anreise selbst: »‹E›ptir þetta byr Konradr ferd sína vel ok skíott. lætur bua skip med | skrautlígu foruneytí wr Miklagardí ok lettir æigi fyrr ferd sínní en hann k|emur til Bl landzeyia 161 Zum Motiv der Machtlosigkeit durch mangelnde Sprachkenntnisse vgl. Kalinke 1983: 859-861. Kalinke sieht die Geschichte von Konráðr als exemplum für die besondere Relevanz von Bildung und soliden Fremdsprachkenntnissen in der Welt der originalen Riddarasögur: »Konráðs saga keisarasonar illustrates superbly, what other Icelandic Romances merely intimate: that a protagonist’s success depends at least as much on a liberal education that inlcudes tuition in foreign languages as on chivalric training. Unlike the heroes of the continental romances from which the riddarasögur derive, the Icelandic heroes achieve renown as much for their learning and multilingualism as for their feats of prowess.« Ebd.: 861. Die Bedeutung der Gelehrsamkeit für den Helden einer originalen Riddarasaga wird in Kapitel 8 ausführlich behandelt. 162 KSK: 75. zu den Bláland-Inseln. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 65 med lídí sínu. hann lætur nu flytía sik til megínlandz« 163 . Das ist alles, was der Text über die Bláland-Inseln zu berichten weiß. Sie dienen weder als Kulisse für irgendeine Art von Handlung noch werden sie in ihrem topographischen Aufbau räumlich entfaltet. Dennoch eröffnet ihre Erwähnung im Text einen neuen Abschnitt im erzählten Raum der Saga: Der Eigenname Bláland fungiert als Chiffre, die dem Rezipienten vor dem Hintergrund der auf Island bekannten Länderkunde deutlich macht, dass der Held die höfische Sphäre nun komplett verlassen hat und sich in einer marginalen Region am äußersten Rande der Oikumene bewegt. 164 Die geographische Marginalisierung am Rande der Welt geht mit der topologischen Marginalisierung in der Entfernung vom höfischen Zentrum einher. Sobald er das Festland erreicht hat, lässt Konráðr sein Gefolge zurück und reist nur in Begleitung seines Löwen weiter. Nun muss er zwei Länder durchqueren, die »Leonaland« 165 und »Fí la|land« 166 genannt werden. Bereits diese Bezeichnungen durch die Eigennamen wilder Tiere machen deutlich, dass Konráðr sich fern vom Hof in einem Raum der Wildnis aufhält. Tatsächlich handelt es sich um ein »obygt land af monnum« 167 , das ausschließlich durch seine tierischen Bewohner definiert wird. Zuvor hat der Text mit geographischen Eigennamen gearbeitet, die aus der gelehrten Tradition bekannt sind und sich in die kanonische Kosmographie einordnen lassen. Die Gegenden Blálands jedoch entziehen sich dieser Tradition und werden nur durch kulturferne Geschöpfe bezeichnet. Sie liegen außerhalb des Systems, dem Konráðr entstammt, und sprengen mit ihrer Benennung den Rahmen der bekannten Kosmographie. Tiernamen ersetzen die Eigennamen aus der überlieferten Tradition, der Held hat einen Raum des Fremden erreicht, der nicht mehr auf herkömmliche Weise semiotisierbar ist. 168 163 KSK: 79-80. Danach bereitet Konráðr seine Reise gut und rasch vor. Er lässt ein Schiff mit stattlichen Fahrtgenossen aus Miklagarðr ausrüsten und hält mit seiner Fahrt nicht inne, bis er mit seiner Schar zu den Bláland-Inseln kommt. Er lässt sich nun zum Festland übersetzen. 164 In der altnordischen Kosmographie wird Bláland für gewöhnlich mit den entfernteren Regionen (Schwarz-)Afrikas, namentlich Äthiopien, gleichgesetzt; so etwa in der Länderkunde der Stjórn, wo es explizit heißt »Ethiopia sem uer k llum blaland« (Äthipien, das wir Bláland nennen) (zitiert nach Simek 1990: 549). Dies geht darauf zurück, dass der Eigenname Äthiopien in der gelehrten Tradition etymologisch mit der ‚sonnenverbrannten‘ Hautfarbe seiner Bewohner erklärt wird, was der altnordischen Namenskomponente blár für schwarz entspricht. Vgl. ebd.: 203. Allerdings ist in anderen kosmographischen Texten von drei Ländern namens Bláland die Rede, was wohl auf eine Vermischung mit dem dreigeteilten Mauretanien zurückgeht. Vgl. ebd.: 202-203. Die Länderbezeichnung meint also nicht zwangsläufig eine konkrete, geographisch genau verortbare Region in Afrika, sondern kann auch als verallgemeinernder Topos im Sinne von ‚weit weg, wo die dunkelhäutigen Menschen leben‘ aufgefasst werden. 165 KSK: 80. Löwenland. 166 KSK: 83. Elefantenland. 167 KSK: 75. von Menschen unbewohntes Land. 168 Man könnte argumentieren, dass sich Konráðr zumindest insofern noch im System der Kosmographie bewegt, als die Tierländer unscharfe Unterregionen von Bláland sind, das als Ganzes noch zum System gehört. In der A-Redaktion der Saga wird jedoch auch diese Zuordnung gesprengt: Hier heißt es nicht, dass sich Konráðr nach Matthildrs Rat »til Bl |lanz« (nach Bláland) übersetzen lassen soll, sondern lediglich, dass es »ameginlanð« (zum Festland) weitergeht. KSK: 75. An 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 66 Im Gegensatz zu den chiffreartig-knapp aufgeführten Bláland-Inseln werden Leonaland und Fílaland landschaftlich beschrieben: »þat land var hardla fagurt ok grasmikít ok gott agætlíga. þar woru allzkyns | alldin« 169 , heißt es über Leonaland, Fílaland wird gar wie folgt charakterisiert: »Suo fagurt ok gott sem hítt var landít er hann hafdi adr komít þa gæ|ddí þetta þo miklu fyrir sakir allzkyns grasa ok alldína var þetta betra« 170 . Die beiden Länder folgen als Steigerung aufeinander. Der Raum entfaltet sich auf Konráðs Reise durch eine Zunahme der landschaftlichen Reize, je weiter Konráðr in die fremden Länder vordringt. Von unwegsamem Gelände oder anderen topographischen Hindernissen ist hingegen nicht die Rede, wenn man einmal davon absieht, dass die beiden Länder durch ein Gewässer getrennt sind, dessen Überquerung Konráðr jedoch nicht aufhält. Das Fremde zeigt sich hier von seiner verlockenden Seite als üppiger Naturraum in der Ferne, möglicherweise inspiriert von solchen Topoi wie den wunderbaren Landschaften Indiens, die in der Regel kosmographisch mit der größeren Nähe zum irdischen Paradies erklärt werden. 171 Wenn diese Deutung zutreffend ist, bewegt sich Konráðr erneut in einem hybriden Doppelschritt in zwei Richtungen, gleichermaßen zum Zentrum und zur Peripherie: fort vom höfischen Zentrum in die periphere Wildnis und fort von der heilsgeschichtlichen Peripherie Europas hin zu jenem fernen Ursprung des Menschen, der irgendwo im Osten verloren ist. Diese Überlegung wird allerdings nicht direkt durch den Text gestützt, wo der Topos vom Paradies nicht explizit erwähnt wird, weswegen sie spekulativ bleiben muss. Zeitlich wird die Reise durch die Wildnis dadurch rhythmisiert, dass Konráðr jeweils nach der Durchquerung eines Landes eine Nachtrast einlegt. Die Fortbewegung selber wird dabei narrativ nicht ausgestaltet, sondern lediglich durch die punktuelle Darstellung des Endes der jeweiligen Reiseetappe angedeutet: »ok er hann kom til enda þess landz þa tekr hann sier n ttb l.« 172 Ein deutlich wirkmächtigeres Gliederungsprinzip als die zeitliche Stilisierung ‚ein Land - eine Tagesreise‘ stellt jedoch der Umstand dar, dass Konráðr in jedem der beiden Länder gegen das namensgebende Tier kämpfen muss. Die beiden Kämpfe sind parallel aufgebaut: Zunächst greift Konráðr auf das Wissen zurück, das Matthildr ihm bei den Reisevorbereitungen vermittelt hat, und setzt ein Tier gegen die Bestien ein, das diese jeweils besonders fürchten - im Falle des Löwen ein krähender Hahn, beim Elefanten ein Schwein. Anschließend wird das verunsicherte Untier dann mit direktem Gewalteinsatz erlegt. der Stelle der geographischen Bezeichnung Bláland steht hier ein nicht näher spezifiziertes Festland, das sich außerhalb des Systems fester geographischer Zuordnungen befindet. 169 KSK: 80. Dieses Land war sehr schön und reich mit Gras bewachsen und ganz hervorragend. Dort gab es alle Arten von Baumfrüchten. 170 KSK: 83. So schön und gut jenes Land war, durch das er zuvor gekommen war, so übertraf dieses es doch bei Weitem, denn wegen aller Arten von Gräsern und Baumfrüchten war dieses besser. 171 Der Topos vom irdischen Paradies im Osten, der insbesondere gerne mit Indien assoziiert wird, ist aus dem lateinischen Schrifttum auch in die altnordische Literatur eingewandert. Vgl. Johanterwage 2007. 172 KSK: 80. Und als er ans Ende dieses Landes kam, da richtet er sein Nachtlager ein. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 67 Auch die Abfolge dieser beiden Kämpfe ist als Klimax gestaltet: Der angreifende Löwe, dessen Artgenossen in der Saga ja schon vorkamen, wird knapp und ohne weitere Beschreibungen damit eingeführt, dass Konráðr »kennir at þat er leon« 173 . Der Elefant hingegen wird mit einer ausführlichen, im Kontrast zur skizzenhaften Gestaltung der Reise fast schon ausufernden Beschreibung bedacht: þar næst sa hann huar fram kom | dyr þat var suo h t at hofut þess bar litlu lægra enn hínar hæstu limar. f t|leggir þess woru akaflega h fir enn ei jafndigrir sem hæd þeirra var til | Snoppa þess var laung ok bíug at nedanverdu þat þottizt hann skilia | at med henní mundi hann dyrum bana. eyru hans woru mikil ok fax | mikit hardla. bak hans var breítt. þetta dyr hafdi helldr ha|la enn tagl at þuí er honum þottí ok var knutur mikill halanum. þat | þottízt hann sia mega at med þui mundi hann mega gera geig. hann var lod|ínn þar er hann mattí sia nema naranum þar þotti honum sem hellzt | mundi snokt vera. varla þottí honum sem vel mundi jarn bíta anars|stadar fyrir sakir þykt harsíns ok hardleik. klaufir woru honum mik|lar. 174 Die Kreatur wird in aller Fremdartigkeit als Repräsentant der exotischen Ferne dargestellt, wobei bezeichnend ist, dass die Darstellung konsequent Konráðs begrenzter Perspektive folgt. Die Besonderheiten des Elefanten, wie die Tötung von Tieren mit seiner »snoppa« oder die Unempfindlichkeit gegen Eisen, werden nicht etwa auktorial als Teil der Beschreibung präsentiert, sondern mit Phrasen wie »þottizt hann« oder »þotti honum« als Vermutungen Konráðs kenntlich gemacht. Die Fremdartigkeit des Elefanten als monströser Bewohner einer fernen Weltgegend wird dadurch betont, dass er nur von außen wahrgenommen wird und sich dadurch einer festen Kategorisierung entzieht - alles, was man über bloße Äußerlichkeiten hinaus über ihn erfährt, sind nur die Überlegungen eines Reisenden. Die klimaktische Steigerung der beiden Kämpfe besteht in der zunehmenden Fremdartigkeit der Gegner. Während in Leonaland nur ein Löwe lauert, der schon aus Miklagarðr bekannt ist, wird der Protagonist in Fílaland mit einem ausführlich beschriebenen Ungetüm konfrontiert, über das er nur Vermutungen anstellen kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Durchquerung der beiden Wildnisländer sich als doppelte, gegenläufige Klimax gestaltet. Die Schönheit des Naturraumes nimmt in dem Maße zu, in dem die Gegner fremdartiger und gefährlicher werden. So werden das immer tiefere Vordringen in eine kaum erforschte Welt und die immer größere Entfernung zum heimatlichen Raum des Eigenen narrativ inszeniert, 173 KSK: 81. erkennt, dass dies ein Löwe ist. 174 KSK: 84-86. Als Nächstes sah er, wie ein Tier hervorkam, das war so groß, dass sein Kopf [nur] wenig niedriger reichte als die höchsten Äste. Seine Unterschenkel waren unglaublich lang und nicht gleichdick, wie ihre Länge war. Sein Rüssel war lang und weiter unten gekrümmt. Das glaubte er [Konráðr] zu erkennen, dass er [der Elefant] mit ihm Tiere töten würde. Seine Ohren waren groß und seine Mähne sehr lang. Sein Rücken war breit. Dieses Tier hatte eher einen Schwanz als einen Pferdeschweif, wie ihm [Konráðr] schien, und es war ein großer Knoten am Schwanz. Das glaubte er [Konráðr] sehen zu können, dass er [der Elefant] mit ihm Verletzungen zufügen konnte. Er war behaart, dort wo er [Konráðr] hinsehen konnte, außer in der Leistengegend, dort schien es ihm [Konráðr], dass es am ehesten kahl zu sein. Kaum erschien es ihm [Konráðr] so, dass Eisen anderswo gut beißen würde wegen der Dichte und Härte der Haare. Große Klauen waren an ihm. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 68 ohne dass die Fortbewegung selber thematisiert oder gar eine ausführliche Reisebeschreibung eröffnet würde. Obgleich sich Konráðr in einem stilisierten Rahmen von zwei Tagesreisen und zwei Nachtrasten bewegt und dabei ‚realistischerweise‘ nicht allzu viel Strecke zurücklegen könnte, wird durch die erzählerische Auffüllung der erzählten Räume deutlich, dass sich der Held weit von seiner Ausgangsbasis entfernt hat und nunmehr inmitten der Fremde aufhält. 4.2.4 Die steinerne Brücke - der Übergang in die Jenseitswelt Die äußerste Grenze von Fílaland bildet erneut ein Fluss. Er wird von einem Steinbogen überspannt. Diesen muss Konráðr nach Matthildrs Anweisungen überqueren, um zum Ziel seiner Reise zu gelangen. Der Grenzfluss ist das erste topographische Hindernis im erzählten Raum der Saga, dessen Überwindung narrativ thematisiert wird. Nachdem Reisen im bisherigen Verlauf des Textes entweder in einen Satz zusammengefasst oder durch punktuelle Kampfbegegnungen dargestellt worden sind, rückt nun die reine Fortbewegung von Ort zu Ort in den Fokus der Erzählung. Entsprechend wird die unproblematische Bewegung des Helden an dieser Stelle erstmals unterbrochen: Konráðr sieht bereits den Grenzfluss vor sich liegen, bevor er in seiner zweiten Begegnung auf den Elefanten trifft. Hinterher setzt er seine Reise nicht in gleicher Weise ohne nähere Richtungsangabe fort, sondern er »fer | nu þar til er hann kemr til steínbogans« 175 . Obgleich der Fluss bereits in Sichtweite ist, muss Konráðr an ihm entlangreisen, bis er den Steinbogen als einzige Möglichkeit der Überquerung erreicht hat. Dies betont den Charakter des Flusses als scharf gezogene Grenze zwischen unterschiedlich semiotisierten Räumen. Der Steinbogen als einziger Zugang ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Konráðr nun eine andere räumliche Sphäre betritt. Dies wird dadurch unterstrichen, dass er seinen Löwen als Wächter seiner Habseligkeiten zurücklässt und die Grenze allein überschreitet. Hat er zuvor schon seine Mannschaft bei den Bláland-Inseln zurückgelassen, um sich den Gefahren der Tierländer nur mit seinem Tierbegleiter zu stellen, ist er bei seiner letzten Prüfung nun gänzlich auf sich gestellt. Für die besondere Schärfe der Grenzziehung spricht auch, dass Konráðr das Ziel seiner Queste, die Schlangenstadt, erst sehen kann, sobald er sich » mídiann steinbogan« 176 befindet, obgleich das umliegende Gelände als »sliett land« 177 beschrieben wird. Der fremde Raum jenseits des Flusses eröffnet sich ihm erst visuell, als er die Brücke mehr als zur Hälfte überquert hat und somit in diesen Raum eingedrungen ist. Von außen jedoch bleibt ihm der Anblick der Schlangenstadt verwehrt. Zusammen mit Matthildrs Warnung, sich auf dem Rückweg keinesfalls umzublicken, wird überdeutlich, dass die Brücke Konráðr in einen jenseitigen Raum führt, der grundsätzlich von der bisherigen Erzählwelt der Saga abgegrenzt ist. Hier geht es nicht mehr um das relative Vorankommen durch immer fremdartigere Gegenden, sondern um das Be- 175 KSK: 87. reist nun, bis er zum Steinbogen kommt. 176 KSK: 87. auf dem mittleren Steinbogen [= auf der Mitte des Steinbogens]. 177 KSK: 87. flaches Land. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 69 treten einer fremden, absolut abgegrenzten Welt für sich, ein dichotomes ‚Diesseits oder Jenseits‘. 178 Auch der Umstand, dass am Ende des Steinbogens eine große Schlange liegt, fügt sich in dieses Bild, ist doch die Konfrontation mit einer Wächterinstanz beim Übergang in eine Jenseitswelt ein geläufiger Topos. Konráðr überwindet die Schlange, indem er sich mit seinem Speer über sie hinweg schwingt, und betritt mit dieser Bewegung zugleich das Land jenseits des Flusses. Er hat die Prüfung der Anreise bestanden und den eigentlichen Zielort seiner Queste erreicht. 4.2.5 Die Schlangenstadt - ein unscharfer Jenseitsraum zwischen Hof und Wildnis Konráðs finales Abenteuer findet in der geheimnisvollen, von Schlangen bewohnten Stadt jenseits des Grenzflusses statt, deren detaillierte Beschreibung in der Saga viel Raum einnimmt. Über den genauen Hintergrund der Stadt, ihre Geschichte und den Grund dafür, dass sich hier nun Schlangen tummeln, wird dabei allerdings kein Wort verloren. Man erfährt lediglich von einer Vermutung Konráðs, »at fyrir aunduerdu mundu þar hafa rikir menn by|gt« 179 . Die Stadt wird also wohl einmal menschliche Bewohner gehabt haben, deren Verbleib aber im Dunkeln liegt. Der Jenseitsraum folgt hier unbekannten Gesetzen, die für den Helden nicht zu durchschauen sind, das Fremde lastet als das Unerklärbare allgegenwärtig über der Szenerie. In der späten E-Redaktion der Saga hingegen gestaltet sich das Szenario grundlegend anders: Hier wird die Schlangenstadt beim Namen genannt, und Konráðr erhält von Matthildr den Auftrag, »til borgar Babilonar« 180 zu reisen. Durch diesen Unterschied im Detail verliert der Raum jenseits des Flusses seine fremdartige Unschärfe und fügt sich ins System der bekannten Kosmographie ein. Das Reiseziel ist nun das biblische Babylon, das sich zwar an den äußersten Rändern der bekannten Welt befindet, aber dennoch fest im Gefüge der (heilsgeschichtlichen) Geographie integriert ist. Auch wird durch die konkrete Benennung der Stadt das Unerklärliche ihrer Situation als Wohnort von Schlangen durchbrochen. So findet sich etwa in der Weltbeschreibung der Hauksbók folgende Passage über das Schicksal Babylons: »var siðan borg su kallað babilon. þar fellr eufrates i gegnum. hon var lengi fiolmenn. til þess er þar vuxu usiðir sua at guð let þar vaxa orma fiolda til þess er menn matto þar eigi byggia. oc ero ormar þeir þar iafnan siðan.« 181 Nach dieser im Norden be- 178 Eine ausführliche Untersuchung des Jenseitsbrückenmotivs im Mittelalter findet sich bei Dinzelbacher 1973. Das Überqueren einer Brücke hat nach Dinzelbacher eine lange Tradition bei eschatologisch orientierten Jenseitsreisen (etwa in der Visionsliteratur), kommt jedoch auch in profanisierter Form als Probe des Helden in der Erzählliteratur vor: »Was hier von der eschatologischen Brücke gesagt wurde, gilt genauso für die profanisierte der Romane; sie ist schwieriger Übergang und trennt den wahren Helden vom minder tapferen. [...D]er Übergang liegt üblicherweise zwischen dieser ‚realen‘ Welt und einem wie auch immer gearteten Jenseitsreich.« Ebd.: 166. 179 KSK: 90. dass dort ursprünglich reiche Menschen gewohnt haben dürften. 180 KSK: 157. zur Stadt Babylon. 181 Simek 1990: 451. Diese Stadt wurde danach Babilon genannt. Dort fließt der Eufrates hindurch. Sie war lange Zeit sehr bevölkert, bis dahin, dass die Unsitten so zunahmen, dass Gott dort eine Menge 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 70 kannten Tradition ist also der Fluch Gottes dafür verantwortlich, dass die prächtige Stadt nun von Schlangen bewohnt wird. Aus dem fremdartigen Jenseitsort wird in dieser Redaktion der Saga ein verfluchter Ort an der Peripherie, der sich geographisch wie heilsgeschichtlich definieren lässt und das vertraute System des Eigenen trotz aller Exotik niemals völlig durchbricht. Obwohl sie zu großen Teilen einer identischen Handlungsstruktur folgen, lassen die beiden Saga-Fassungen hier ein unterschiedliches Raumkonzept erkennen. Bevor Konráðr die Stadt selber betritt, muss er zunächst ihr Umland durchqueren und sich dem Stadttor auf einer breiten Straße nähern. Das Land jenseits des Flusses wird dabei geographisch als »a enum yztum heimsiordum« 182 lokalisiert. Konráðr befindet sich also am äußersten Ende der Welt und somit in der marginalsten möglichen Position. Der Raum des Eigenen liegt maximal von ihm entfernt, seine Reise in die Fremde hat ihren Extrempunkt erreicht, aus der relativen Entfernung vom Eigenen ist ein absolutes Fremdes geworden. Es ist nur folgerichtig, dass nun auch die extremsten Fremdheitserfahrungen auf ihn warten. 183 Dies deutet sich bereits in der Beschreibung der Landschaft an: allar hædir ok aull hollt þottí honum vid gull | gloa. lyng woru þar stor þui landi ok margar gi r ok jardholr. [...] Gata la breid fra steinb|oganum til hallar. suo var hun allz sem gull af skrid orma suo þotti honum | at hyggia ok um at lítazt sem aull jardarhaull mundi full uera | af ormum. 184 Das Motiv der allgegenwärtigen Schlangen wird hier bereits eingeführt, doch halten sich diese noch an ihnen angemessenen Orten auf, in Erdlöchern in der Wildnis. Der goldene Schimmer auf den umliegenden Anhöhen wird nicht näher erklärt, aber zusammen mit der kurz darauf folgenden Bemerkung, dass die Straße durch das Gleiten der Schlangen goldartig beschaffen sei, kann man wohl auch dieses Merkmal als Hinweis auf das Vorhandensein der Kriechgeschöpfe deuten. Naturraum und Kulturraum sind jenseits der Brücke nicht mehr deutlich getrennt, die Schlangen Schlangen wachsen ließ, damit Menschen dort nicht siedeln konnten. Und die Schlangen sind seitdem immer dort. 182 KSK: 89. an den äußersten Landstrichen der Erde. 183 An dieser Stelle folgt der Aufbau der Saga der Extrempunktregel, die Karl N. Renner als Erweiterung von Lotmans Raumsemiotik formuliert: »Überschreitet ein Held die Grenze eines semantischen Feldes, dann führt ihn der Weg innerhalb dieses Feldes zu dessen Extrempunkt. Kehrt er in seinen Ausgangsraum zurück, dann ändert sich dort seine Bewegungsrichtung: Der Extrempunkt ist ein Wendepunkt.« Renner 1987: 128. Konráðr dringt ins semantische Feld der nicht-höfischen, nicht-menschlichen Fremde ein, durchquert es bis zu seinem Extrempunkt in der bizarren Schlangenstadt und tritt anschließend die Rückreise an. Die Extrempunktregel wurde von Werner Schäfke erstmalig auf das Untersuchungsfeld der originalen Riddarasögur angewendet. Schäfke greift auf dieses Konzept zurück, um seine mehrdimensionale Merkmalszwiebel zur semantischen Hierarchisierung höfischer Werte zu entwickeln. Vgl. Schäfke 2010. 184 KSK: 87-88. Alle Anhöhen und alle Hügel schienen ihm mit Gold zu glänzen. Große Schlangen gab es dort in dem Land und viele Spalten und Erdhöhlen. Eine breite Straße erstreckte sich vom Steinbogen zur Halle. So war sie komplett wie von Gold vom Gleiten der Schlangen, so erschien es ihm beim Denken und Umschauen, dass alle Erdhöhlen voll von Schlangen sein würden. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 71 verwischen beide Räume durch ihre Allgegenwart. Auffällig ist hierbei, dass der Text weiterhin der begrenzten Perspektive Konráðs folgt und die Umgebung mit einschränkenden Phrasen wie »þotti honum« durch seine Augen beschreibt. Diese Erzähltechnik, die schon zur Herausstellung der Fremdartigkeit des Elefanten gedient hat, wird auch hier dazu eingesetzt, das Fremde in seiner eingeschränkten Erklärbarkeit darzustellen. Fast alles, was man über den Jenseitsraum erfährt, ist von eingeschränkten Deutungen Konráðs bedingt, die von keiner auktorialen Instanz bestätigt werden. Der Jenseitsraum bleibt für eine sichere Erfassung unzugänglich. Bei der Beschreibung der Schlangenstadt selber sticht vor allem ihr ausufernder Prunk hervor: hun var mikil. Turnar hennar woru sem eir sæí. enn | vegir hennar woru med ymsum litum. J sumum stodum syndizt honum sem | gull sæí j sumum stodum sem suell edr gler. Vida var hun suo til at | lita sem silfur edr tínbradir. lit bar hun ser allra jnna fegurstu ste|ína. Myklir woru ok agætligir hennar turnar. 185 Dies ist der erste Eindruck, den der Text von der Schlangenstadt gibt, als Konráðr sie von außen betrachtet; später wird die Beschreibung durch vergleichbare Details aus dem Inneren der Stadt bis hin zur märchenhaft prunkvollen Königshalle ergänzt. Die Architektur entspricht komplett dem Ideal eines glanzvoll ausgestatteten, höfischen Zentrums. Nach Saxland und Miklagarðr ist die turmreiche Stadt damit der dritte höfische Raum, der in der Saga entfaltet wird, und er übertrifft die zuvor genannten an Pracht und Beschreibungsdichte um ein Vielfaches. Bei genauerer Betrachtung dieser Beschreibung fällt jedoch auf, dass sich ein zusätzlicher Unterton in die höfische Pracht mischt. Sämtliche Farben, in denen die Stadt erstrahlt, entstammen dem Bereich des Metallischen, Schillernden, sei es nun Kupfer oder Gold, Silber oder Glas. Dies mag zunächst einmal als Zeichen von phantastischem Reichtum und Teil der Prachtentfaltung gewertet werden, doch in Verbindung mit den zuvor geschilderten Schlangen des Umlandes ergibt sich noch eine weitere Assoziation: Die Schlangen überziehen alles, was sie berühren, durch ihr Kriechen mit einem goldenem Schimmer - so wird es explizit über die Straße gesagt und für die Anhöhen zumindest angedeutet. Wenn aber Schillern und Schimmern in der Saga mit der Anwesenheit der Schlangen verbunden ist, dann kann auch das vielfarbige Schillern der Stadt auch als Zeichen von Schlangenhaftigkeit gedeutet werden. Der städtische Kulturraum ist bereits in seiner Architektur direkt mit dem Motiv der Schlangen verbunden und so in seiner Funktion als Innenraum gebrochen, gehören doch Schlangen eigentlich ins Außen der Klüfte und Erdlöcher. In diese Deutung fügt sich auch, dass in den folgenden Beschreibungen der Stadt die Vielfarbigkeit der Schlangen explizit als Detail hervorgehoben wird: »med aullum litum woru þessir ormar sumir | grænir sumir huítir sumir freknottir sumir 185 KSK: 88. Sie war groß. Ihre Türme waren, als wenn sie aus Kupfer seien. Und ihre Mauern hatten verschiedene Farben. An einigen Stellen schien sie ihm, als wenn sie aus Gold sei, an einigen Stellen wie Eis oder Glas. Mancherorts war sie so anzusehen wie Silber oder geschmolzener Zinn. Sie trug auf sich die Farbe aller schönsten Steine. Hoch und prächtig waren ihre Türme. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 72 raudir edr suartir sumir brunir« 186 . Die Mauern der Stadt und die Leiber der Schlangen korrespondieren durch die ausführlich beschriebene Vielfarbigkeit miteinander, während der Text ansonsten mit Farbschilderungen eher zurückhaltend ist. Die erzählerische Verbindung zwischen höfischer Architektur und nicht-höfischen Bewohnern beschränkt sich also nicht auf das Motiv der schimmernden Kriechspur, sondern ist auch durch die Betonung ihrer Farbenpracht gegeben. Während Konráðr sich durch das Innere der Stadt bewegt, wird die Allgegenwart der Schlangen noch deutlicher betont: enn huorumtueggia megin hia strætínu kom up spordr vid spord [...] margir woru turnar j borgínní ok þottí honum sem æigi mundí sidr ormar j enum efstum turnum enn anarstadar jordu þuiat hann sa hueruetna renna or turnum gullklepra hann sa ok vida hanga ormsnallda or turnunum ofan ok or gluggum 187 . Es wird in eindringlichen, surreal anmutenden Bildern geschildert, wie die Schlangen vom kompletten Lebensraum der höfischen Gesellschaft Besitz ergriffen haben und selbst die stolz emporragenden Türme, das topische Zeichen für die Pracht einer Burganlage, so überschwemmen, dass sie aus den Fenstern heraushängen. Der Kulturraum ist von den Bewohnern des Naturraumes überlagert und gewinnt so einen hybriden Grenzraumcharakter zwischen höfischer Prachtentfaltung und gefährlicher Wildnis. Dies stellt eine Steigerung zum Grenzraum Miklagarðr dar, wo zwar ebenfalls beide Aspekte bereits vorhanden sind, das topographische Hindernis der Stadtmauer jedoch noch als Abgrenzung fungiert, die nur punktuell (in der hybriden Gestalt des angeketteten Löwen) durchbrochen ist. Die Reise des Helden in die Ferne führt ihn nicht nur in immer wunderbarere Naturräume und gefährlichere Gegenden, sondern auch in immer fremdartigere Raumkonstellationen, wo die topologische ‚Innen-Außen‘-Dichotomie seiner höfischen Welt durchbrochen ist und seine Kategorien von Peripherie und Zentrum in Frage gestellt sind. Die Durchquerung der Stadt gelingt Konráðr deshalb so problemlos, weil sämtliche Schlangen »j dai liggia« 188 . Für diesen Umstand entwickelt der Text zwei gegenläufige Erklärungsmodelle. Zum einen wird die Starre der Schlangen geographisch begründet: »þannueg þotti honum | solarlios bera sem þat land mundí liggia a enum yztum heimsiordum.« 189 Die marginale Position des Schlangenlandes führt also dazu, dass das Sonnenlicht hier schädliche Ausmaße angenommen hat und seine Bewohner lähmt. Diese Erklärung geht letztlich auf den Topos der mittelalterlichen Kosmographie zurück, dass die Länder des fernen Südens wegen der großen Son- 186 KSK: 91. Von allen Farben waren diese Schlangen, manche grün, manche weiß, manche gesprenkelt, manche rot oder schwarz, manche braun. 187 KSK: 89. Und auf beiden Seiten der Straße zeigte sich Schwanz auf Schwanz [...] Viele Türme waren in der Stadt und es schien ihm, dass nicht weniger Schlangen in den höchsten Türmen waren als anderenorts auf der Erde, denn er sah überall Goldschweife aus den Türmen kommen. Er sah auch mancherorts Schlangenmäuler von oben aus den Türmen und aus Fenstern hängen. 188 KSK: 88. in bewusstlosem Zustand liegen. 189 KSK: 88-89. Es schien ihm, dass das Sonnenlicht dies hervorrief, denn das Land dürfte in den äußersten Landstrichen der Erde liegen. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 73 nenhitze nicht bewohnbar bzw. durchquerbar seien. 190 Der zweite Erklärungsansatz wird implizit durch den Zeitpunkt von Konráðs Reise in die Schlangenstadt gegeben, denn seine letzte Nachtrast vor der Überquerung der Steinbrücke findet »vm aptan | fyrir huítsunnudag« 191 statt. Diese Zeitangabe ist umso exponierter, als die Saga ansonsten auf solche konkreten zeitlichen Festlegungen verzichtet. Damit könnte impliziert sein, dass der heilige Pfingsttag die Schlangen als Verkörperung des Bösen in Starre hält. 192 Der geographischen Begründung stünde dann eine zeitlich-heilsgeschichtliche Erklärung gegenüber. Beide Ansätze stehen im Text ohne weitere Ausführungen nebeneinander, es bleibt unklar, welcher von beiden zutreffend ist. Der geographische Ansatz wird dadurch relativiert, dass er nicht auktorial erfolgt, sondern als eine Vermutung Konráðs kenntlich gemacht ist, während der zeitliche Ansatz lediglich implizit ausgeführt wird, ohne dass die Saga das Wunder der Schlangenlähmung explizit benennen würde. Auch in Hinblick auf solche Kausalitäten bleibt der Jenseitsraum der Schlangenstadt für Deutungsansätze unzugänglich, und Konráðs Versuche, das Erlebte zu erklären, stellen vor diesem Hintergrund lediglich den erfolglosen Versuch dar, das Fremde in greifbare Kategorien zu fassen. Strukturell ist die Beschreibung der Schlangenstadt so aufgebaut, dass die Saga Konráðs Weg von außen nach innen folgt. Zunächst durchquert Konráðr als erste Grenze das Stadttor, das von zwei weiteren Schlangen bewacht wird, und folgt dann einer breiten Straße zur Königshalle, vor deren Tür ebenfalls zwei Schlangen lagern. Nach dieser zweiten Grenzüberschreitung dringt er tiefer in die Halle vor, passiert ein Schöpfgefäß mit prachtvollen Trinkhörnern, die sich genau »[a] mídíu hallargolfi« 193 befinden, und geht weiter, »þar til er hann kom at þeim hapalli er j ínnanuer|di haullínní var« 194 . Der Protagonist vollzieht eine weitere Bewegung von der Peripherie (der Stadtmauer) ins Zentrum (dem Thronpodest am Ende der Königshalle), wie er es bereits bei der Rückkehr an den Kaiserhof von Saxland und der Annäherung an Miklagarðr getan hat. Mit ihrer Binnengliederung in zentrale und periphere Positionen und der Bewegung des höfischen Helden, die ihn direkt ins Zentrum führt, entspricht die Schlangenstadt somit den beiden höfischen Räumen, die zuvor in der Saga etabliert worden sind. Am Ende der Welt, weit jenseits aller menschlichen Besiedlung, findet Konráðr einen Raum vor, der seinen gewohnten höfischen Kategorien so sehr entspricht, dass er sich hier mit traumwandlerischer Sicherheit bewegen kann. Die geographische Marginalisierung des Geschehens wird 190 »Weltkarten und geographische Texte des Mittelalters waren sich darüber einig, daß Afrika - abgesehen von einem schmalen Streifen am Mittelmeer - höchst unwirtlich und in der Nähe des Äquators überhaupt völlig unbewohnbar sei, weil dort wegen der großen Hitze auf Grund der senkrechten Sonneneinstrahlung menschliches Leben unmöglich wäre.« Simek 1992: 83-84. Hier wird also ein Topos aktiviert, der traditionell mit Afrika verbunden ist. Zusammen mit der Reisestation Bláland entsteht so der Eindruck, dass auch die Schlangenstadt in Afrika zu verorten sei, was allerdings ihrer Identifikation mit Babylon widerspräche. 191 KSK: 87. am Abend vor Pfingstsonntag. 192 So auch die Deutung der Textstelle bei Glauser. Vgl. Glauser 1983: 268. 193 KS: 91. in der Mitte des Hallenbodens. 194 KSK: 92. bis er dort zu dem erhöhten Podest kommt, das im innersten Teil der Halle war. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 74 durch das Phänomen eines Zentrums am äußersten Rande dekonstruiert. Obgleich die Schlangenstadt also einen hybriden Grenzort zwischen Wildnis und Kulturraum, Peripherie und Zentrum darstellt, folgt sie in ihrer internen räumlichen Gliederung den Regeln der höfischen Semiosphäre, wie sie in der Saga bereits zuvor konstituiert worden sind. Es ist bemerkenswert, dass auch die Schlangen sich dieser räumlichen Gliederung unterwerfen. Trotz ihrer erdrückenden Allgegenwart sind sie nicht als einheitliche Masse über die Stadt verteilt, sondern werden immer wieder an bestimmten markanten Positionen erzählerisch hervorgehoben: Hier wären zunächst die bereits erwähnten Schlangen zu nennen, welche die Tore von Stadt und Königshalle säumen und durch ihre Zweizahl den Eindruck von Schildwachen erwecken. Über das Innere der Königshalle heißt es weiterhin: »ok j sætum lagu ormar suo | þykt at huer snalldr var vid anan. hueruetna var gull þrutnat vpp j | millí þeirra ok stockanna nídr« 195 . Die Schlangen halten sich auf den Sitzen der Halle auf, dem angestammten Platz des Königsgefolges, umgeben von Reichtümern, wie sie eines solchen Gefolges würdig wären. Am Ende der Halle trifft Konráðr schließlich auf den gewaltigsten Bewohner der Schlangenstadt: ormur la j pall|inum hann var suo mikill at spordr hans tok annan vegg enn hofut j anan | koronu hafdi hann gyllda hofdí ok þar med ægishialm sa o|rmur þotti honun sofa ok var þo ogrligur míog. hann þurfti alla b|reidd pallzíns til rums æigi skortí þar nog gull vndir honum. 196 Auf jenem Hochsitz, der dem König der Halle gebührt, ruht eine riesige, gekrönte Schlange auf einem Hort von Gold. Hier eröffnen sich dem Rezipienten gleich zwei Assoziationsfelder aus verschiedenen Traditionen: Zum einen kann man die Krone der Schlange als Verweis auf den Basilisken verstehen, eine der gefährlichsten Schlangenarten, die der mittelalterlichen Naturkunde bekannt sind. 197 Zum anderen legen die Erwähnung des Ägirshelms und der Hort die Verbindung zum Drachen Fáfnir nahe, ein sehr plastisches Beispiel dafür, wie eine originale Riddarasaga verschiedene Quellen und Genres spielerisch verbindet. 198 Die gekrönte Schlange nimmt ihre zentrale Stellung auf dem Hochsitz am Ende der Halle gewiss nicht zufällig ein - sie ist gezielt an der Position des Königs platziert. Somit sind die hervorgehobenen Schlangen nach den strukturellen Vorgaben eines Hofstaates über den Raum verteilt, mit Wächtern in den Außenregionen, Höflingen in der Halle und einem König als Zentrum des Hofes. Der Naturraum hat den höfischen Kulturraum 195 KSK: 91. Und auf den Sitzen lagen Schlangen so dicht, dass jedes Schlangenmaul neben dem anderen war. Überall quoll Gold zwischen ihnen hervor und die Balken herunter. 196 KSK: 92-93. Eine Schlange lag auf dem Podest. Sie war so groß, dass ihr Schwanz an der einen Wand lag und ihr Kopf an der anderen. Eine goldene Krone hatte sie auf dem Kopf und zudem einen Ägirshelm. Diese Schlange schien ihm [Konráðr] zu schlafen und war doch sehr furchterregend. Sie brauchte die gesamte Breite des Podests an Raum. Es mangelte nicht an ausreichend Gold unter ihr. 197 Der Basilisk wurde als »König der Schlangen« betrachtet, sein Gift galt als tödlich für alle Lebewesen mit Ausnahme des Wiesels, ebenso wie die schiere Wirkung seines Blickes. Vgl. Hünemörder/ Brückner 2002. 198 Zum Motiv des Ägirshelms vgl. Simek 1995: 3-4. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 75 nicht einfach amorph überlagert, sondern sich dabei seinen Gesetzmäßigkeiten angepasst. Konráðr durchschreitet einen grotesken Anti-Hof, der von Bewohnern des nicht-höfischen Naturraumes gebildet wird. Die gleichbleibende Struktur macht dabei umso deutlicher, dass hier die Gesetze von Innen und Außen auf den Kopf gestellt sind. In diesem Kontext ist insbesondere das Detail von Relevanz, dass sich vor dem Thron des Schlangenkönigs zwei weitere Schlangen aufhalten: Ormar .íj | woru a golfínu lítler. annar þeirra war huítur sem sníor enn annar grænn | Þeir henda steín grænann míllum sín ok kastazt til ok henda míu|klíga. [...] alldri líet|u ormarnir hann jord koma helldr hendu þeir hann míuklíga med sínum | sníalldum. aungua s hann adra orma sik hræra enn þessa ok suo þ|ottí honum sem þessir ormar mundu til þess settir wera at leíka fyrir þeim er j p|allinum war ok honum þottí sem wera mundí kongr annara orma. 199 Die beiden Schlangen führen eine Art Ballspiel mit einem Edelstein auf, das nach Konráðs Vermutung zur Unterhaltung der großen Schlange auf dem Hochsitz dient, woraus er deren Status als König der anderen Schlangen ableitet. Auch höfisches Spiel zur Unterhaltung hat seinen Platz im hybriden Raum der Schlangenstadt. Diese Konstellation der Schlangen, die den König mit ihrer Geschicklichkeit erfreuen, weist eine auffällige Parallele zu einem weiteren Motiv der Saga auf: Bereits in Konráðs Jugendgeschichte wird ausführlich beschrieben, dass er solch eine besondere Begabung für das höfische Spiel besitzt, »at hann þotti framar leika en hinn er honum kenndi«. 200 Diese Spiele umfassen artistische Kunststücke wie das Aufnehmen eines Goldringes mit der Lanzenspitze im vollen Galopp oder den Wechsel von Schwert- und Schildhand, indem Konráðr beide Gegenstände in die Luft wirft und sie (natürlich ebenfalls auf dem Pferderücken) mit der jeweils anderen Hand auffängt. 201 Am Hofe von Miklagarðr gelingt es Roðbert anschließend, Konráðr vor die Stadt zu locken, indem er ihm vorschlägt, dort für den Kaiser und seinen Hofstaat 199 KSK: 94-95. Zwei kleine Schlangen waren auf dem Boden. Eine von ihnen war weiß wie Schnee und die andere grün. Sie bewegen einen grünen Stein zwischen sich hin und her und werfen ihn sich zu und fangen ihn gewandt auf. [...] Niemals ließen die Schlangen ihn zu Boden fallen, eher fingen sie ihn gewandt mit ihren Schlangenmäulern. Er sah, dass keine andere Schlange sich bewegte als diese, und so schien ihm, dass diese Schlangen dazu eingesetzt seien, für die [Schlange] zu spielen, die auf dem Podest war, und ihm schien, dass sie der König der anderen Schlangen sein könnte. Zudem werden an dieser Textstelle die beiden zuvor eingeführten Erklärungsansätze für die Starre der Schlangen dekonstruiert: Es heißt, dass die beiden Schlangen sich als einzige bewegen, weil sie die Aufgabe hätten, den Schlangenkönig zu unterhalten. Hier werden Starre und Beweglichkeit nicht mehr auf das Klima oder das Datum Pfingstsonntag zurückgeführt, sondern an soziale Rollen und Aufgaben gebunden - zwei herausgestellte Mitglieder des Hofes glänzen mit ihrem Spiel, während der Rest passiv verharrt. Dieser dritte Deutungsansatz der vorgefundenen Konstellation wird ohne Glättungsversuche neben die ersten beiden Erklärungen gestellt und zudem ebenfalls als Vermutung Konráðs relativiert. Die genauen Hintergründe der Situation im Jenseitsraum bleiben im Dunkeln. 200 KSK: 4. dass er besser zu spielen schien als jener [=jeder], der ihn kannte. 201 Zitzelsberger bezeichnet Konráðr in diesem Kontext gar als »a kind of circus performer« und vergleicht die Beweise seiner Geschicklichkeit mit der Figur des jungen Siegfried. Zitzelsberger 1987: xiii. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 76 seine Ritterspiele vorzuführen, »at ollum þiki mikít gaman at hans leíkum« 202 . Das Motiv, dass als höfisches Unterhaltungsprogramm Proben von besonderer Geschicklichkeit gegeben werden, findet sich also schon im früheren Verlauf der Sagahandlung und ist eng mit der Kunstfertigkeit des Protagonisten verbunden. 203 Vor diesem Hintergrund sind die beiden Schlangen, die für den Schlangenkönig spielen, mehr als nur ein weiteres Detail in der Vermischung von Natur- und Kulturraum. Konráðr trifft hier auf ein Spiegelbild der Unterhalterrolle, die er zuvor für den Kaiser von Miklagarðr eingenommen hat, was insbesondere durch den identischen Sprachgebrauch um das Verb leika betont wird. Als Höhepunkt seines Weges durch den grotesk verdrehten Gegenhof der Schlangenstadt begegnet Konráðr dem Zerrspiegel-Pendant seiner eigenen Position bei Hofe in Gestalt der spielenden Schlangen. 204 Dass diese Begegnung den Zielpunkt seiner Reise darstellt, wird daran deutlich, dass der Edelstein, den die Schlangen sich zuwerfen, kein gewöhnliches Juwel ist. Es handelt sich um jenen Edelstein, den Konráðr für den Kaiser beschaffen soll und der den eigentlichen Grund für seine Reise bildet. Sofort macht sich Konráðr an die Bergung des begehrten Objekts. Dabei ist auffällig, dass die finale Prüfung der Schlangenstadt-Episode sich nicht etwa als Kampf des Protagonisten gegen die Schlangen gestaltet. Stattdessen greift Konráðr einmal mehr auf seine Geschicklichkeit zurück und fängt den Stein, der von den Schlangen geworfen wird, in der Luft auf, um sich dann mit seinem Speer in Sicherheit zu schwingen, sobald eine der Schlangen ihn wütend anstarrt. Konráðs ‚Kampf ‘ gegen die Schlangen ist keine gewaltsame Auseinandersetzung, sondern ein Wettstreit an Gewandtheit, den Konrad schließlich für sich entscheiden kann. Der Protagonist tritt somit auf seinem ureigensten, durch seine Vorgeschichte eng mit ihm verbundenen Feld des höfischen Spiels gegen seine schlangenhaften Spiegelbilder an. Dieses Spiel wiederholt sich, so dass Konráðr noch zwei weitere kostbare Edelsteine in seinen Besitz bringen kann. Dann wird beschrieben, dass die Schlangen »uaufduzt saman j hring ok hrau|ckuazt nídr j jordína« 205 . Kurz darauf wird die Königshalle von Erdstößen erschüttert: þa tok jordín at okyrrazt ok skialfa suo at honum þottí |aulldr rísa a hallargolfínu. þa gíordízt mikit brak til at h|eyra ok þottí honum þa gíorazt illur dæmur ok okyrleikur mikill ok skil|di hann eigi gíorla huort helldr war af hræríng jardarínnar giordu orma | ukyrra edur hítt at ormar okyrrazt ok kuíknudu. 206 202 KSK: 52. damit alle großes Vergnügen an seinem Spiel empfänden. 203 Auch Konráðs mehrfach erwähnte Technik, sich über Hindernisse mithilfe seines Speeres hinweg zu schwingen, wird übrigens bereits zu Beginn der Saga als eines seiner besonderen Kunststücke eingeführt. 204 Zur Spiegelbildlichkeit als Erzählprinzip der originalen Riddarasögur siehe Kapitel 9. 205 KSK: 96-97.wanden sich zu einem Kreis und ringelten sich auf die Erde nieder. 206 KSK: 97. Da begann die Erde unruhig zu werden und zu erbeben, so dass es ihm schien, dass sich alles auf dem Hallenboden erhob. Da kam viel Lärm zu hören auf und es schien ihm, dass übler Geruch aufkam und große Unruhe und er konnte nicht unterscheiden, ob die Unruhe der Schlangen eher durch die 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 77 Plötzlich kehren sich die Prämissen des Raumes der Schlangenstadt in ihr Gegenteil um: Waren bislang die beiden spielenden Schlangen die einzigen beweglichen Objekte inmitten einer Welt aus Starre und Unbeweglichkeit, sinken sie nun bewegungslos zu Boden, während die gesamte übrige Umgebung in Aufruhr gerät. Dabei ist es bezeichnend, dass Konráðr nicht unterscheiden kann, ob die Schlangen nun durch die Erdstöße bewegt werden oder sich selbständig zu regen beginnen - sie sind narrativ so eng mit der erzählten Architektur der Stadt verbunden, dass hier keine klare Trennung auszumachen ist. Konráðr flieht schließlich aus der erbebenden Stadt, wobei er noch einige ihrer Reichtümer zusammenraffen kann. Seine Fluchtroute ist eine Umkehrung seines Weges ins Zentrum, den er nun von innen nach außen durchläuft. Doch nicht nur seine Bewegungsrichtung ist in ihr Gegenteil verkehrt - auch die Beschreibung der Stadt hat sich von einem dämmrigen Starrezustand hin zu hektischer Dynamik verschoben: all|t þottí honum þa bregda þeim hættí sem adr hafdi verit ok ecki þotti | honum þa fysiligt þar at vera ok þat hefir hann sagt sidan at þa hafi | hann hellzt ottazt bædi eiturorma ok annat þa er þat bar vid. gnyr ger|dizt þa ok mikill. Nu gengr Konradr til dyranna at hyggia at þui er M|atthilldr hafdi mællt vid hann at hann skylldi alldri aptur lita huatke | ogna er fyrir hann bærí. þa þotti honum aull iordín hristazt ok allir | borgarveggir skialfa. hann heyrdi þa blastr ogurligan ok bresti stora | a bak ser aptur ok þar med blistrun ok ny ok allzkonar ognír. 207 Während ausführlich beschrieben wird, wie der Jenseitsraum um Konráðr herum zusammenzubrechen scheint, bleibt es doch im Unklaren, welche Kausalität hinter dieser Umwälzung steckt. Diese Unsicherheit wird zusätzlich durch das Gebot Matthildrs unterstützt, dass Konráðr sich auf dem Rückweg keinesfalls umwenden dürfe. Hiermit wird nicht nur ein klassischer Topos der Jenseitsfahrt bedient und die Bewegungsrichtung zurück ins Diesseits linear vorgeschrieben, sondern dem Protagonisten wird zudem auch die Möglichkeit genommen, das unheimliche Geschehen mit seinen Sinnen näher zu erfassen. Was auch immer gerade geschehen mag, es vollzieht sich vor allem auch »a bak ser aptur« und ist nur indirekt durch die beängstigende Geräuschkulisse erfahrbar. In diesem Kontext wird nun zum ersten Mal explizit von einer emotionalen Reaktion Konráðs angesichts der Wunder der Fremde berichtet: »þa hafi hann hellzt ottazt bædi eiturorma ok annat þa er þat bar vid«. Die beschriebene Reaktion ist Furcht - zum einen die konkret greifbare Furcht vor Bewegung der Erde verursacht wurde oder jenes, dass die Schlangen [selber] in Unruhe gerieten und lebendig wurden. 207 KSK: 98. Es schien ihm, dass alles sich veränderte auf jene Art, wie es zuvor gewesen war, und es erschien ihm nicht erstrebenswert, sich dort aufzuhalten, und das hat er seither gesagt, dass er damals am ehesten beides gefürchtet habe, die Giftschlangen und das andere, das sich zutrug. Großer Lärm kam dort auch auf. Nun geht Konráðr zur Tür, dessen eingedenkend, was Matthilldr ihm gesagt hatte, dass er niemals zurückblicken sollte, welcher Schrecken sich ihm auch immer zeigte. Da erschien es ihm, dass die ganze Erde erzitterte und alle Mauern der Stadt bebten. Er hörte da ein furchterregendes Brausen und großes Krachen hinter seinem Rücken und zudem Pfeifen und Lärm und alle Arten von Schrecken. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 78 den (sich regenden? ) Schlangen, zum anderen aber auch die vagere Furcht vor dem Unbekannten, das die bedrohliche Veränderung der Situation ausgelöst hat. An dieser Stelle erreichen Konráðs Begegnungen mit dem Fremden in der Welt ihren Höhepunkt: Die Kämpfe gegen Ungeheuer bei Miklagarðr folgen eher konventionellen Erzählmustern und lassen den Helden gänzlich unbeeindruckt. Bei der Durchquerung der Tierländer verhält es sich im Prinzip ähnlich, wobei jedoch die Beschreibung des wilden Elefanten bereits hauptsächlich auf Vermutungen des Helden gestützt ist. In der Schlangenstadt jenseits des Flusses ist die Situation noch uneindeutiger und für Erklärungsversuche nicht mehr zugänglich. All diese relativen Abstufungen von Fremdartigkeit werden bei Konráðs Flucht aus der Stadt durch das absolute, nicht mehr semiotisierbare Fremde ersetzt. Es ist für Konráðs nicht sinnlich erfassbar und nur durch die mittelbaren Symptome wie Lärm und Erschütterungen wahrnehmbar, es entzieht sich ihm und versetzt ihn doch (und gerade dadurch! ) in Furcht. Nicht-Wahrnehmbarkeit und Undurchschaubarkeit gehen mit der Unfähigkeit zur Bewältigung einher. Die erstmalig und einmalig geschilderte Furcht des jungen Ritters, fast schon ein Bruch einer Genre-Konvention, unterstreicht die Hilflosigkeit vor dem Fremden überdeutlich. Während die Saga ansonsten gerne auf Topoi aus der kosmographischen Überlieferung zurückgreift, sprengt sie mit dieser Darstellung des nicht-fassbaren Fremden die Grenzen der autoritativ belegten Wunder der Welt. Dies entspricht jenem Aspekt des Staunens über das Unerhörte, den Greenblatt bei seiner Darstellung der europäischen Reaktionen auf die Erfahrung der Neuen Welt anspricht. 208 4.2.6 Die Rückkehr aus der Fremde Diese Fluchtbewegung stellt zugleich den Extrem- und Wendepunkt von Konráðs Reise in die Fremde dar. Im Jenseitsraum am anderen Ufer des Flusses trifft er auf das Fremde in seiner absoluten, nicht mehr erfassbaren Form, das sich durch weitere Reiseabenteuer nicht mehr steigern lässt. Er hat nicht nur das geographische Ende der Welt erreicht, sondern auch die Grenze ihrer Systematisierbarkeit - und Erzählbarkeit. Entsprechend ist er gezwungen, den Rückweg anzutreten, heim in vertrautere Gefilde. Dabei wagt er noch einen Blick zurück, nachdem er den Steinbogen über den Fluss zur Hälfte überquert hat und sich somit wieder im diesseitigen Raum aufhält: » ok er hann var komínn mídian steínbogan þa litur hann aptur ok var þa | þui likazt landit at lita sem kolreykur væri allzstadar þar sem | honum hafdi gullzlitur syniz borgarueggíum edr gautunni sialfur | þa var allt suart at lita « 209 . Kohlenschwärze dominiert nun die Sicht, wo zuvor die Pracht der Schlangenstadt zu be- 208 Siehe S. 18-20. 209 KSK: 99. Und als er auf den mittleren Steinbogen [=die Mitte des Steinbogens] gekommen war, da schaut er zurück und da war dann auf ein solches Land zu blicken, dass Kohlenrauch überall wäre. Dort, wo es ihm goldfarben erschienen war, an den Mauern der Stadt oder auf den Straßen selber, da war alles schwarz anzusehen. 4.2 Das Fremde als Raumphänomen in der Konráðs saga keisarasonar 79 wundern war. Die fremde Welt jenseits des Flusses ist für die Wahrnehmung verborgen und somit endgültig unerschließbar. Was diese Veränderung genau bedeutet, wird in der Saga nicht weiter ausgeführt - weist die Abwesenheit der schillernden Schlangenfarben darauf hin, dass der Fluch, von Schlangen bewohnt zu sein, durch Konráðs Erfolg nun gebrochen ist, oder ist der erwähnte schwarze Rauch als Anzeichen darauf zu deuten, dass alle höfische Pracht nur Blendwerk war und Konráðr in Wahrheit buchstäblich einen Höllentrip hinter sich gebracht hat? Die Saga verweigert eine Ausdeutung des Geschehens, wo das Fremde nicht mehr zu greifen ist. Konráðs Heimreise wird in wenigen Sätzen zusammengefasst - nachdem die endgültige Prüfung des Steinerwerbs bestanden ist, gibt es keinen narrativen Raum für weitere Reisebegegnungen. Einzig die Durchquerung der beiden Tierländer wird durch den erneuten Kontakt mit ihren Bewohnern angedeutet, doch sucht Konráðr diesmal nur die Kadaver der von ihm erschlagenen Kreaturen auf, um sich einige Körperteile als Trophäen zu sichern. Während die Hinreise als Teil der Prüfung von Kampfbegegnungen bestimmt war, setzt die Rückreise den Erfolg des Helden fort, der nun die Früchte seiner Kämpfe ernten kann. Direkt im Anschluss an seine Rückkehr nach Miklagarðr präsentiert Konráðr die mitgebrachten Schätze Matthildr, die sie mit kundigem Blick mustert. Was für Konráðr in der Fremde nur aus der Außenperspektive als nicht näher bestimmbare Wunder und Reichtümer wahrnehmbar war, wird durch Matthildr nun greifbar gemacht: Sie bestimmt die errungen Edelsteine als »sm|aragdus« 210 , »kristhallus« 211 und »karbunk|ulus« 212 und ordnet sie so ins System der überlieferten Naturkunde ein; auch kann sie Hinweise auf die wundersamen Eigenschaften einiger erbeuteter Kostbarkeiten geben. Die aus der Fremde mitgebrachten Schätze werden ins System des Eigenen eingefügt und somit beherrschbar. Es handelt sich noch immer um besondere Wunderdinge aus der Ferne, doch sind sie nun erfolgreich in die Weltordnung integriert und somit letztlich nicht mehr so fremdartig, wie sie auf Konráðr noch in der Schlangenstadt wirkten. Durch den Transfer von der Peripherie der Welt in ihr höfisches Zentrum haben sie ihre Natur verändert und sich dem herrschenden Diskurs der Kategorisierung angepasst. Mit der Rückkehr des Helden werden auch alle Erzählstränge der Saga beendet und die Raumkonstellationen neu geordnet: Konráðr legt dem Kaiser von Miklagarðr den gesuchten Edelstein vor und besiegt ihn im Anschluss in der Tjost, woraufhin er endlich als sein Standesgenosse anerkannt wird - er hat den ihm angestammten Platz im Zentrum wiedererlangt. Auch der betrügerische Roðbert erhält den Platz, der ihm zusteht: In einem weiteren Lanzengang tritt Konráðr gegen ihn an, hebt ihn aus dem Sattel und reitet mit ihm »at dikí þui er grafit var fyrir vtan borgina | ok skytur Rodbert þar j ofan suo at hann stod fastur j þessi veisu allt til 210 KSK: 103. Smaragd. 211 KSK: 105. Kristall. 212 KSK: 106. Karfunkel. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 80 be|lltisstadar« 213 . Diese überdeutliche Geste der Demütigung zeigt nicht nur die Unterlegenheit des Hochstaplers, sondern befördert ihn zugleich aus dem durch die Mauer abgegrenzten Bereich des Zentrums hinaus in den Außenraum - der falsche Kaisersohn findet sich an der Peripherie im Schlamm wieder. Zumindest kann er von seinem Status als Ziehbruder Konráðs profitieren und wird nicht getötet, sondern lediglich ins Exil geschickt, wo er »fiengí nockut riki ok rædr þar fyrir medan hann lifir« 214 . Er erhält ein eigenes Reich, das jedoch noch nicht einmal einer namentlichen Erwähnung wert ist und offensichtlich vom höfischen Zentrum Miklagarðr aus gesehen eine Stellung am Rande der höfischen Semiosphäre einnimmt. Auch der Jarlssohn ist damit an den Ort zurückgekehrt, der ihm gebührt. Kurz vor Ende der Saga droht als letzter Konflikt eine Kollision der beiden höfischen Zentren Saxland und Miklagarðr, denn Konráðs Vater Ríkarðr glaubt, dass sein Sohn in Miklagarðr getötet wurde, und rüstet zu einem Rachefeldzug. Anstelle eines internen Krieges der höfischen Welt folgen jedoch die Versöhnung und ein prunkvolles Freundschaftsfest, nachdem Konráðr den Irrtum aufgeklärt hat und schließlich Matthildr von Miklagarðr zur standesgemäßen Gemahlin nimmt. Beide höfischen Zentren sind somit für die Zukunft unter der Herrschaft einer Kaiserdynastie geeint, die Gefahr der Spaltung gebannt und der Hof als idealer, geschlossener Raum etabliert. Hierbei ist auffällig, dass als gegenseitige Freundschaftsgeschenke die von Konráðr aus der Schlangenstadt mitgebrachten Schätze herumgereicht werden, während Konráðr die erbeuteten Elefantenstoßzähne als Schmuck für seine künftige Königshalle herrichten lässt. Aus der Fahrt in die außer-höfische Fremde resultiert so schlussendlich die Konsolidierung des höfischen Eigenen, symbolisiert durch den Einheit stiftenden Güteraustausch an fremdartigen Schätzen, womit sich die Saga zumindest auf der materiellen Ebene an die Fahrt des ‚klassischen‘ Artus- Helden anlehnt, der die Probleme des Hofs durch Aventiurefahrten in die Welt jenseits des Hofes löst. Schließlich wird auch ein Bogen zum Erfahrungsraum der Saga-Rezipienten geschlagen: Der Kaiser von Miklagarðr lässt Konráðs Abenteuer in dreifacher Ausfertigung aufzeichnen, wobei er ein Exemplar für sich behält, eines am Rikarðr von Saxland schickt und das dritte einem nicht näher benannten König von »Danmerkr« 215 zukommen lässt. Diese einmalige und ansonsten in der Handlung nicht weiter aufgegriffene Erwähnung Dänemarks hat offenbar die Funktion, den Transfer der Geschichte in den Norden zu erklären und zudem die prunkvolle, höfische Welt der Saga ein Stück weit den eigenen Bereich bestrahlen zu lassen. Ein weiterer fiktiver Überlieferungsweg hin zum isländischen Rezipientenkreis wird jedoch nicht entwickelt, so dass die Saga trotz des losen Bezugs zu einem skandinavischen Königtum letztlich in fernen Räumen verbleibt, die als Projektionsfläche für Vorstellungen von höfischer Pracht und exotischer Fremdheit zu dienen vermögen. 213 KSK: 113. zu diesem Graben, der außerhalb der Stadt angelegt war, und stößt Roðbert dort von oben hinein, so dass er komplett bis zum Gürtel in diesem Morast stand. 214 KSK: 114-115. irgendein Reich bekäme und darüber herrscht, solange er lebt. 215 KSK: 121 Dänemark. 4.3 Erzählte Räume zwischen Geographie, Topographie und Topologie 81 4.3 Erzählte Räume zwischen Geographie, Topographie und Topologie Die Raumanalyse der Konráðs saga macht deutlich, dass geographische Ortsbezeichnungen, topographische Gliederungen und topologische Semantisierungen von Orten im Text auf vielfältige Weise miteinander korrespondieren, zuweilen aber auch kollidieren. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche allgemeinen Gestaltungsprinzipien sich aus den untersuchten Phänomenen für die Raumgestaltung der Saga herleiten lassen. Hierbei ist zunächst einmal festzuhalten, dass in der Konráðs saga gerne Eigennamen aus der tradierten Länderkunde für Orte auf dem Weg des Helden herangezogen werden: Zu nennen sind hier vor allem Saxland, Miklagarðr, Bláland bzw. die Bláland- Inseln und schließlich, nach der E-Redaktion der Saga, die Stadt Babylon. Wie die Analyse gezeigt hat, sind diese Eigennamen nicht willkürlich im Sinne eines bloßen gelehrten Namedroppings gewählt, sondern eng mit der Funktion verbunden, die dem jeweiligen Raum in der Saga-Handlung zukommt. Grob gesprochen lässt sich eine klimaktische Steigerung der geographischen Bezeichnungen fort vom Ausgangspunkt ‚eigen/ vertraut‘ hin zum Extrempunkt ‚fremd/ unvertraut‘ festmachen: Saxland gehört als Heimat des Helden ganz dem höfischen Raum an, Miklagarðr überstrahlt Saxland sogar noch als höfisches Zentrum, grenzt jedoch bereits an die gefährliche, von Ungeheuern durchstreifte Wildnis des Außenraumes, die schließlich ganz die menschenleeren Regionen Blálands dominert und die Zuspitzung ihrer Fremdartigkeit im grotesken Anti-Hof der Schlangenstadt findet. Die Wahl der aufgeführten Ländernamen für die einzelnen Stufen dieser Klimax der Fremdartigkeit lässt sich mit den imagologischen Konnotationen erklären, die jeweils mit den Ländern verbunden sind. Jedes einzelne Land ist als Begriff mit stereotypen Images verknüpft, die dem Rezipienten aus unterschiedlichen Kontexten wie anderen Erzähltexten, gelehrter Tradition oder mündlicher Überlieferung vertraut sein mögen. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass einzelne Länder in ihrer literarischen Darstellung zwangsläufig auf unabänderliche Stereotypen festgelegt seien, doch scheinen mit vielen geographischen Verortungen zumindest verbreitete Konnotationen verbunden zu sein, die das Aufgreifen dieser Orte für bestimmte Erzählkontexte besonders attraktiv machen. 216 In diesem Zusammenhang ist zunächst einmal Saxland als Herkunft des Helden zu erwähnen. Wie bereits zu Beginn der Analyse ausgeführt wurde, sind insbesondere Saxland, Frakkland und England als Heimat der höfischen Riddarasaga- Protagonisten verbreitet. Alle drei Länder haben das imagologische Merkmal ge- 216 »Der Begriff der Images oder Bilder dient im Vergleich zur historischen Stereotypenforschung [...] einer Erweiterung des Objektbereichs in dem Sinne, dass über imagologische Aussagen im Rahmen eines sprachlich-gedanklichen Diskurses hinaus auch historisch originelle Einzel- oder Kollektivsichtweisen eines Landes Berücksichtigung finden [...].« Schwarze 2008: 314. Die imagologische Betrachtungsweise kann also sowohl verbreitete Stereotypen als auch den Einfluss markanter Einzeldarstellungen (etwa aus dominanten kosmographischen Texten) zum Gegenstand haben. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 82 mein, dass sie als herausragende Repräsentanten höfischer Kultur gelten, sind hier doch Erzählstoffe wie der arthurische Erzählkreis oder die chansons de geste beheimatet. Diese Traditionen haben die höfische Literatur Skandinaviens und somit auch (über den Umweg der übersetzten Riddarasögur) die originalen Riddarasögur maßgeblich beeinflusst. Angesichts dieser Vorbildfunktion verwundert es nicht, dass diese Länder mit Vorliebe als Heimat idealer höfischer Figuren herangezogen werden. Andererseits sind sie aus skandinavischer Sicht noch Teil des eigenen Horizonts und für Reisende erreichbar, liegen also nicht in märchenhafter Ferne wie etwa Indien oder Mesopotamien. Somit eignen sie sich als Ausgangspunkt des Eigenen, von dem aus dann das Fremde auf Reisen buchstäblich ‚er-fahren‘ werden kann. Saxland nimmt also (zusammen mit den beiden anderen ‚höfischen‘ Ländern) eine imagologische Doppelrolle ein: Es ist einerseits weit genug vom skandinavischen Eigenen der Saga-Rezipienten entfernt, um als Projektionsfläche für höfische Ideale und dem Wunsch nach Prachtentfaltung zu dienen, andererseits jedoch auch so fest in das bekannte geographische Umfeld und das gemeinsame Rahmensystem des christlichen Europa eingebunden, dass es in der erzählten Welt der Saga den Pol des Eigenen bilden kann. Mit Miklagarðr verhält es sich in dieser Hinsicht ähnlich, stellt doch die Stadt (nomen est omen) als Inbegriff weltlicher Prachtentfaltung ebenfalls eine dankbare Projektionsfläche dar. Die größere geographische Entfernung und die Nähe zum orientalischen Kulturraum erlauben es jedoch, hier bereits stärker mit Elementen der Fremdartigkeit zu arbeiten und die Stadt so als Grenzraum zwischen dem höfischen Eigenen und dem Fremden zu etablieren. 217 Bláland hingegen ist in der Länderkunde gänzlich anders konnotiert und gilt, ähnlich wie z. B. Serkland, als fremdartiger Raum jenseits des christlich-europäischen Eigenen, über dessen genaue Natur wenig bekannt ist. Entsprechend sind Konráðs Bewährungsproben in der Wildnis hier angesiedelt. In der E-Redaktion der Saga ist Babylon schließlich ist ein ferner Teil Asiens, der vor allem aus der Heilsgeschichte bekannt ist, jedoch deutlich außerhalb des Bereichs des Eigenen am Rande der Oikumene liegt - ein würdiger Ort für die finale Begegnung mit dem Fremden und etwa auf einer Ebene mit der Funktion anzusiedeln, die Indien für viele andere Sagas einnimmt. Die geographischen Bezeichnungen der Saga sind also nach imagologischen Gesichtspunkten angeordnet, nach dem aufsteigenden Grad ihrer Fremdartigkeit. Dabei kommt es weniger darauf an, dass ein bestimmter imagologischer Topos durch exakt ein bestimmtes Land repräsentiert wird, als vielmehr darauf, dass die erzählten Länder in Relation zueinander eine angemessene Reiseroute in die Fremde bilden. Es wäre beispielsweise sinnlos, Frakkland als Ort einer finalen Begegnung mit der fremdartigen Welt zu wählen, weil das imagologische Bild dieses Landes als Wiege 217 Generell wird Miklagarðr in der altisländischen Literatur eher positiv dargestellt. Es gilt nicht nur als Hort weltlicher Pracht, sondern zudem als Zentrum des Christentums, wobei das Schisma mit der Ostkirche in der Regel ignoriert wird. Nicht zuletzt ist es auch ein klassischer Ort in der Ferne, wo ein Reisender sein Glück machen kann, wohl auch in Anlehnung an jene Skandinavier, die in der Wärager-Garde zu Ansehen gekommen waren. Eine Darstellung der mit Byzanz verbundenen Images findet sich bei Barnes 2009. 4.3 Erzählte Räume zwischen Geographie, Topographie und Topologie 83 der höfischen Kultur dem entgegensteht. 218 Andererseits wäre es hingegen möglich, etwa England statt Saxland als Heimat des Helden oder India statt Babylon als Extrempunkt des Fremden zu etablieren, ohne die räumliche Erzählstruktur dadurch zu verändern - die Länder lassen sich mit einem ähnlichen Grad an relativer Fremdartigkeit erzählerisch aktivieren. Diese Überlegungen stellen selbstverständlich nur grobe Tendenzen der geographischen Raumgestaltung in den originalen Riddarasögur dar, die allerdings in der Konráðs saga keisarasonar mit bemerkenswerter Klarheit umgesetzt sind. Es existieren jedoch auch weniger eindeutige Fälle der relativen Zuordnung, wenn der Held etwa zwischenzeitlich nach Hause zurückkehrt und so die Klimax der Fremdartigkeit durchbricht (so etwa in der Ála flekks saga mit der Abfolge England-Tataria-England) oder nacheinander mehrere Länder vorkommen, zwischen denen sich keine eindeutige Steigerung feststellen lässt (so etwa in der Victors saga ok Blávus, wo es erst nach Afrika geht, um anschließend nacheinander Gegner in der Ostsee und auf Zypern zu bekämpfen). Auch die beiden aufgeführten Beispiele laufen jedoch letztendlich darauf hinaus, dass es den Helden als Extrempunkt der Fremde nach Indien verschlägt. 219 Die Räume der Konráðs saga lassen sich nicht auf ein rein dichotomes ‚Innen oder Außen‘ beschränken. Stattdessen bereist der Held eine Vielzahl von geographischen Räumen, die in ihrer Fremdartigkeit untereinander abgestuft sind und auch den Charakter von hybriden Übergangsräumen haben können. Trotz aller Abstufungen lastet diesen Überlegungen jedoch noch immer ein verdächtiges Maß an Dichotomie an - immerhin stellen die verschiedenen Saga-Länder lediglich Zwischenschritte zwischen den binären Polen ‚Eigen‘ und ‚Fremd‘ dar, und auch die Existenz von Grenzräumen impliziert, dass es klar konträre Bereiche geben muss, zwischen denen sie angesiedelt sind. Dass die erzählten Räume der Saga über eine relative Abstufung nach Fremdartigkeit hinaus weitaus komplexer konstruiert sind, zeigt sich, wenn man zusätzlich zur Saga-Geographie die Aspekte der Topographie und Topologie berücksichtigt. Für die Reise des Helden spielt die topographische Beschaffenheit der bereisten Länder in der Konráðs saga nur eine sehr untergeordnete Rolle. Seereisen von unbestimmter Länge werden stets in einem Satz zusammengefasst, konkrete Richtungsangaben werden nicht gegeben, topographische Hindernisse wie Gebirge scheinen nicht zu existieren. Die Reise verläuft stets unproblematisch, auf den nächsten Zielpunkt hin ausgerichtet, wo das Geschehen mit einer neuen Episode weitergehen wird. Ausnahmen bilden lediglich Kampfbegegnungen wie die mit dem Löwen und dem Elefanten, doch sind diese Reiseschwierigkeiten nicht direkt mit der Topogra- 218 Genau dies wird in der Sigurðar saga þögla getan, wo allerdings auch ein bedrohliches Abweichen vom idealen Raum des Höfisch-Eigenen in Gestalt eines stolzen meykóngr explizites Thema ist. Siehe hierzu Kapitel 7. 219 Im Falle Ális sogar darüber hinaus ans Ende der Welt, siehe Abschnitt 6.2.6. Selbst in der Dínus saga drambláta, deren Handlung symmetrisch zwischen Ägypten und Bláland aufgeteilt ist und eine lineare Heldenreise vermissen lässt, sind Ansätze einer Klimax im Raumgefüge feststellbar, wird doch zunächst das aus der klassischen Tradition bekannte Ägypten eingeführt, ehe das imagologisch deutlich weniger reich besetzte Bláland hinzugefügt wird. Siehe Abschnitt 9.2.1. 4. Von Saxland bis Babylon - die räumlichen Dimensionen des Fremden 84 phie des Landes verbunden. Handlungsrelevanz gewinnt die Topographie nur an jenen Textstellen, wo sie zugleich mit der topologischen Semantisierung des Raumes einhergeht. So erfährt man etwa über die Topographie der Landschaft außerhalb von Miklagarðr, dass es dort Wälder und einen Berg gibt. Die Wälder dienen als Hintergrund für Konráðs Kampf gegen die schwarzen Berserker, während auf dem Berg der Drachenkampf stattfindet. Wald und Berg stehen hier nicht als ausschmückende Details oder Landschaftsbeschreibung um ihrer selbst willen, sondern als topische Orte der Wildnis, wo Begegnungen mit Ungeheuern möglich sind - sie formen in topologischer Hinsicht den Außenraum rund um das höfische Zentrum Miklagarðr. Somit gewinnt die bewaldete bzw. bergige Topographie des Landes Relevanz als Chiffre für dieses fremdartige Außen. Ähnlich verhält es sich mit der topographischen Entfernung, die zwischen Kaiser Rikarðs Hof und dem Hof von Jarl Roðgeirr besteht und eine Reise Konráðs erforderlich macht - die Reise wird nicht näher ausgeführt, das Land nicht näher beschrieben, und dennoch ist die Entfernung handlungsfunktional, da sich in ihr zugleich die topologische Marginalisierung von Roðgeirs Hof ausdrückt, die Roðbert schließlich zu seinem betrügerischen Vorstoß ins Zentrum treibt. Am deutlichsten wird die Korrespondenz von Topographie und Topologie jedoch bei den Grenzsituationen der Saga: Die Mauern von Miklagarðr trennen als topographisches Hindernis den höfischen Innenraum vom wilden Außenraum (und beherbergen zugleich einen Löwenzwinger als Übergangsraum), und der Grenzfluss des Schlangenlandes trennt den fremdartigen Hof der Schlangenstadt von der Wildnis der Tierländer. In beiden Fällen geht mit der Einführung einer topographischen Trennung zugleich eine klare topologische Unterscheidung in ein Innen und ein Außen einher. Die Topographie der erzählten Welt an sich ist in der Saga nicht handlungstragend und wird größtenteils nur skizzenhaft ausgeführt, doch gewinnt sie Zeichencharakter, wenn ein topographisches Hindernis eine topologische Unterscheidung markiert. Obgleich die erzählte Welt der Saga in ihrer geographischen Ausdehnung durch unterschiedliche Grade an Fremdheit feinabgestuft ist, existieren durch die beschriebenen topologischen Abgrenzungen zugleich klare Fälle von Innen/ Außen-Dichotomien im Text. Diese entsprechen in groben Zügen den Ausführungen Boklunds zu den Raumkonzepten der arthurischen Welt, wenn man etwa die Konstellation um Miklagarðr als Opposition vom höfischen Innen und nicht-höfischen Außen betrachtet oder die Reise ins Schlangenland als Fahrt in eine nicht-Höfische Außenwelt, die letztlich der Konsolidierung des Hofes dient. Im erzählten Raum der Saga werden also mindestens zwei grundlegend verschiedene Raumkonzepte nebeneinander konstituiert: zum einen die relative Welt der Geographie, die eine Vielzahl unterschiedlich abgestufter Räume etabliert und mit konkreten geographischen Eigennamen aus der kosmographischen Tradition aufwartet , zum anderen die absolute Welt des höfischen Romans, wo ein höfisches Innen einem nicht-höfischen Außen gegenübergestellt ist, scharfe Grenzen wie Stadtmauern oder Flüsse existieren und statt konkreter Ortsnamen eher allgemeine (topo- 4.3 Erzählte Räume zwischen Geographie, Topographie und Topologie 85 graphische) Chiffren wie der ‚Wald‘ verwendet werden. 220 Hierbei bildet die relative Geographie den groben räumlichen Rahmen, in den dann einzelne Innen/ Außen- Konstellationen durch die Positionierung von höfischen Zentren oder Wildnis- Szenarien eingeschrieben werden. So entstehen im Erzählkosmos der Saga zwei verschiedene Kategorien von Räumen: einerseits ‚scharfe‘, konkret fassbare Räume, die sich durch imagologische Konnotationen ins System der bekannten Länderkunde einordnen lassen - andererseits ‚unscharfe‘, nur ungenau benannte Räume, deren Status in der Kosmographie fraglich ist. So stehen altüberlieferte Ländernamen und unspezifische Wildnis-Räume wie die Wälder um Miklagarðr oder die beiden Tierländer unverbunden nebeneinander, wobei der Raum der Schlangenstadt je nach Saga-Redaktion entweder als Babylon kosmographisch fassbar ist oder als geheimnisvoller Jenseitsbereich zu den unscharfen Räumen zählt. Dass diese unterschiedlichen Raumkonzepte nicht völlig unproblematisch ineinander greifen, zeigt der Text durch die Etablierung von hybriden Zwischenräumen wie dem Löwentor von Miklagarðr. Der zentrale Raum der Hybridität ist jedoch das fremdartige Szenario der Schlangenstadt, wo höfische Formen und Strukturen mit Inhalten des gefahrenvollen, fremden Außenraums zusammenfallen. Die Stadt stellt einen Architektur gewordenen Bruch klarer Raumverhältnisse dar, wo das topologische Innen/ Außen nicht mehr funktioniert und auch geographisch-kosmographische Erklärungsversuche nicht befriedigend greifen. Es ist nur folgerichtig, dass der Saga-Held hier seine extremsten Begegnungen mit dem Fremden hat, stellt doch der Anti-Raum dieser Stadt die bisher in der Saga konstituierten Raumkonzepte in Frage und dekonstruiert somit die Bändigung der erzählten Welt nach geographischen oder topologischen Gesichtspunkten als fragwürdiges Unterfangen. Konráðr, dem ansonsten so furchtlosen Helden, bleibt hier nur noch die Flucht. Der Raum des Fremden bewahrt sein Geheimnis, die Erzählwelt der Saga erweist sich als eine Welt der Unsicherheit, wo Kategorisierungen nur trügerische Sicherheit versprechen. 221 220 Kalinke hingegen betont vor allem den geographischen Aspekt des erzählten Raumes gegenüber der topologischen Dichotomie von Hof und Außenwelt: . »Instead, the Icelandic romanciers endeavoured primarily to depict with some semblance of verisimilitude the protagonist’s travels and sojourn in one or more foreign countries.« Kalinke 1983: 853. Wenn auch die Beobachtung zutreffend ist, dass das Raumkonzept der originalen Riddarasögur von dem der kontinentalen Vorbilder verschieden ist, so stellt diese Darstellung doch eine zu einseitige Vereinfachung zugunsten der geographischen Ebene dar. 221 Auch Boklund gesteht übrigens zu, dass höfische Texte von ihrem strengen Modell des kosmischen Zentrums abweichen können, nämlich dann, wenn sie nonmimetic sind. D. h., sie versuchen nicht eine bestehende Realität abzubilden, und können »ironic, satiric or frankly fictional« (Boklund 1977: 32) sein, wobei Boklund allerdings keinen Versuch unternimmt, diese recht pauschalen Kategorien abzugrenzen und zu hinterfragen, inwiefern sie überhaupt auf den Bereich der arthurischen Literatur anwendbar sind, die ja nicht die Mimesis der konkreten Lebensrealität des Ritteradels sein will, sondern dessen ideale Verklärung. Boklund geht davon aus, dass solche nichtmimetischen Texte sekundär vom strengeren Erzählkosmos der ‚klassischen‘ höfischen Texte abgeleitet sind und deren Strukturen spielerisch neu interpretieren - ein Ansatz, der durchaus auf die originalen Riddarasögur zutreffen mag, wie im Folgenden noch zu zeigen ist. Vgl. Boklund 1977: 32-33. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. 222 Friedrich Nietzsche, 1885 Die Verkörperung des Fremden in der Gestalt von Riesen und anderen Monstern soll im Folgenden anhand der Valdimars saga untersucht werden. Der Text wird auf das 15. Jahrhundert datiert ist und in rund 25 Abschriften überliefert. Im Gegensatz zur Konráðs saga, die stark der höfischen Literatur verpflichtet ist, steht sie in ihrem Motivinventar eher den einheimisch-norrönen Traditionen der Fornaldarsögur nahe. Für eine Untersuchung des monströsen Fremden eignet sie sich nicht nur wegen der Vielzahl von Ungeheuern, die ihre Handlung dominieren, sondern vor allem auch wegen des Umstandes, dass solche Monströsitäten in der Valdimars saga als Gegner des Protagonisten wie auch als seine Verbündeten zu finden sind und in den unterschiedlichsten Rollen und Funktionen auftreten. Textgrundlage der Untersuchung ist die Edition Loths. 223 5.1 Dem Fremden eine Gestalt geben - Monster als Normbrüche und Grenzgänger Der Mensch als einziges uns bekanntes Wesen, das über sich selbst nachdenken kann, nutzt diese Fähigkeit manchmal auf wunderbare Weise und denkt sich Geschichten und Gestalten aus, um mit deren Hilfe über sich selbst etwas zu erfahren. 224 So erklärt Werner Wunderlich die Existenz zahlloser fiktiver, phantastischer Wesenheiten in den Literaturen der Welt. Diese Wesen haben nach Wunderlich mythische Qualitäten, d. h. sie fungieren als Mittel der Welterklärung durch Geschichten in solchen Kontexten, wo Erklärbarkeit durch empirische Anschauung nicht gegeben ist: »Wovon wir keine genaue Vorstellung haben, was wir uns nicht erklären können, wovon wir nicht wissen, ob es existiert, nehmen wir dessen ungeachtet ernst, halten es für wahr und fürchten uns davor [...].« 225 Monströse Kreaturen sind Diskurs gewordene Verkörperungen des Unbekannten, des Fremden. Dabei ist das 222 Aus dem Aphorismus 146. Nietzsche 2009: 98. 223 Loth 1962: 51-78. Der Text wird im Folgenden mit VS abgekürzt. 224 Wunderlich 1999: 14. 225 Ebd.: 13. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 88 Monster vor allem durch seine Abweichung von den Normen des Eigenen charakterisiert: Widernatürliche, normabweichende Variationen, Anomalien und Deformationen sind also die Merkmale von tierischen und menschlichen Monstern von Mißgeburten, Zwittern, Riesen, Zwergen, Doppelbildungen, Vielbrüstigen, Wesen mit über- und unterzähligen oder zusammengewachsenen Extremitäten, Mischwesen aus verschiedenen Tieren oder aus Mensch und Tier. 226 Für den mittelalterlichen Rezipienten ist es völlig unerheblich, ob solche Wesen in der empirisch fassbaren Wirklichkeit tatsächlich existieren. Sie ziehen ihre Wahrheit aus ihrer Funktion in der Heilsgeschichte, wo etwa das Einhorn als Verkörperung Christi steht oder ein deformiertes Ungeheuer den Sünden der Menschheit eine Gestalt geben kann. 227 So leitet auch Isidor von Sevilla das Wort monstrum von monstrare ab: »Monstra vero a monita dicta, quod aliquid significando demonstrent, sive quod statim monstrent quid appareat.« 228 Die Wirklichkeit der Monströsitäten besteht nicht in ihrer ‚realen‘ Existenz, sondern in der tieferen Wahrheit ihrer hermeneutischen Symbolhaftigkeit. 229 Bettina Bildhauer und Robert Mill gehen davon aus, »that montrosity in the Middle Ages and the Renaissance hat the potential to be simultaneously productive of, and subversive of, hegemonic institutions and ideologies […].« 230 Dem Monströsen kommt die Doppelfunktion zu, das herrschende kulturelle System sowohl zu stützen als auch in Frage zu stellen. Die stützende Funktion ist vor allem mit der Möglichkeit der Selbstabgrenzung vom Monströsen verbunden: »[S]everal scholars have implied that medieval monsters themselves might be comprehended as the products of an early colonialist mentality, a blueprint for the systematic creation of distinctions between territories, nations and peoples.« 231 Nach dieser Interpretation dient das Monströse als Verkörperung der fremdartigen Außenwelt, deren Existenz für die Etablierung des Eigenen unumgänglich ist; das Monster nimmt im Mittelalter die Rolle ein, die der Orientale in der Sichtweise Saids im Diskurs des Kolonialismus ausfüllen wird. 232 Das subversive Potential des Monsters hingegen besteht darin, dass es durch seine schiere Existenz die Kategorien des Eigenen in Frage stellt. ‚Normal‘ und ‚unnormal‘ sind nicht scharf voneinander getrennt, sondern bedingen sich gegenseitig und schließen das jeweils andere schon mit ein. Das Monster kann 226 Ebd.: 24. 227 Vgl. ebd.: 29-30. 228 Monsters, in fact, are so called as warnings, because they explain something of meaning, or because they make known at once what is to become visible. Zitat und Übersetzung nach Verner 2005: 3. 229 Vgl. hierzu auch ebd.: 2-3. 230 Bildhauer/ Mill 2003: 4. 231 Ebd.: 8. 232 Auch Verner betont den stabilitätsstiftenden Aspekt des Monsters, in dessen Existenz sich immer eine höhere Macht offenbare. Zugleich konstatiert sie für das späteren Mittelalter jedoch auch die Tendenz, das Monster individueller und mit dynamischeren Konzepten zu behandeln. Vgl. Verner 2005: 155-158. 5.1 Dem Fremden eine Gestalt geben - Monster als Normbrüche und Grenzgänger 89 als Verkörperung dieser beunruhigenden Gegenseitigkeit fungieren, die an Kristevas Konzept des verdrängten Fremden im Eigenen erinnert: Monsters simply take this confusion [...] to an extreme. Collapsing the distinctions that create meaning by combining a thing and its opposite in one body, medieval monsters were frequently imagined as both human and not-human, animal and notanimal. 233 Das Konzept des Monströsen lässt sich nicht auf simples negativ konnotiertes Fremdes reduzieren. Stattdessen stellt das Monstrum einen Grenzgänger dar, der auf vielfältige Weise Aspekte des Eigenen und des Fremden zueinander in Beziehung setzt und dabei allzu simple Kategorisierungen in ihrer Unzulänglichkeit entlarvt. Jeffrey Jerome Cohen untersucht in seinem Aufsatz Monster Culture (Seven Theses), auf welche Weise genau sich diese Grenzgänger-Natur des Monsters in einem kulturellen System äußert. Dabei stellt er die These auf, dass der deformierte Körper eines Monsters immer als ein »cultural body« 234 zu deuten ist, der stellvertretend für ein kulturelles Moment der Unsicherheit steht. Diese Unsicherheit besteht nicht nur darin, dass das Monster durch seine Hybridität feste Kategorien in Frage stellt. Es dient zudem auch als Projektionsfläche für all das, was im eigenen Sozialgefüge nicht erwünscht ist, aber dennoch in seiner Verbotenheit verlockend erscheinen mag. »[T]he monster of prohibition polices the borders of the possible, interdicting through its grotesque body some behaviours and actions, envaluing others.« 235 Das besondere subversive Potential des Monsters besteht darin, dass es nicht etwa nur einzelne Aspekte einer bestimmten Kultur hinterfragt, sondern das gesamte kulturelle System in seiner Relativität offenbart und den Absolutheitsanspruch des Eigenen, das ‚Normale‘ zu sein, dekonstruiert: »By revealing that difference is arbitrary and potentielly free-floating, mutable rather than essential, the monster threatens to destroy not just individual members of a society, but the very cultural apparatus [...].« 236 Das Monster lauert an der Grenze zwischen Fremdem und Eigenem und zwingt durch seine beständigen Grenzübertretungen in beide Richtungen dazu, die Arbitrarität dieser Grenzziehung zu reflektieren. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass dieses subversive Spiel des Monströsen auch in der Erzählwelt der originalen Riddarasögur zum Tragen kommt. 237 233 Bildhauer/ Mill 2003: 13-14. 234 Cohen 1996: 4. 235 Ebd.: 13. Auch dieser Gedankengang weist Ähnlichkeiten zu Kristevas Aspekt des Fremden als verdrängtem Eigenen auf. Siehe S. 17-18. 236 Ebd.: 12. 237 Ein Versuch, die narrative Gestaltung des Monströsen in den Fornaldar- und Riddarasögur zu untersuchen, wird von Kathryn Hume unternommen. Vgl. Hume 1980. Allerdings ist diese Analyse noch stark von der abwertenden Sicht der älteren Forschung auf das Genre geprägt. »Why is such supernatural material - with a few exceptions - so trivial and artistically uninteresting in most of Icelandic literature? «, lautet eine Grundfrage der Untersuchung. Ebd.: 3. Hume kommt zu dem Ergebnis, dass die Fornaldar- und Riddarasögur das erzählerische Potential der alten Monster- Motive aus heidnischer Zeit verschenken würden, weil sie in einem ‚christlichen‘ Universum mit 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 90 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 5.2.1 Königin Lúpa - Trollfrau, Flugdrache und Regentin Die Valdimars Saga teilt mit der Konráðs saga keisarasonar das höfische Zentrum Saxland als Ausgangspunkt der Handlung. In der erzählten Welt dieser Saga wird das Land allerdings von einem König Filipus beherrscht, dessen Kinder Valdimar und Marmória mit den typischen Topoi der höfischen Idealität eingeführt werden. Die eigentliche Handlung beginnt damit, dass Valdimar in der Hauptstadt Saxlands ein prächtiges Turnier ausrichten lässt. Der junge Prinz tritt in der Tjost gegen verschiedene Gegner an, während seine Schwester Marmória von der Tribüne aus zuschaut. Noch während die Turnierkämpfe andauern, wird das Fest buchstäblich durch dunkle Wolken getrübt: ok nu af þuj at aull stundlig gledj lidr skiott ber monnum fyrer huar at ur vtnordri dro eirn skyvegg suartan miog upp himjnnen. hann dregr skiott yfer suo at um liten tima liden uar suo myrkt at eingen madr sa fingra sinna skil. þessum myrkua fylger ogurligr otte ok hrædzla. her med fylgir ogurligr nyr ok elldjngar. þui næst synjzt monnum allt lopted leika j loga einum 238 . In der Valdimars saga erwächst der handlungsmotivierende Mangelzustand nicht aus den internen Spannungen der höfischen Sphäre heraus, sondern er entsteht durch das Eindringen einer nicht-höfischen Bedrohung von außen. Die genaue Art dieser Bedrohung bleibt jedoch zunächst im Unklaren: Die Perspektive des Rezipienten wird durch Formulierungen wie »synjzt monnum« auf die begrenzte Sicht der entsetzten Turnierzuschauer beschränkt, durch deren Augen er wahrnimmt, wie nacheinander erst dunkle Wolken aufziehen, dann völlige Dunkelheit herrscht, allgemeiner Schrecken aufkommt, furchtbarer Lärm ertönt und schließlich Feuerlogen in der Luft aufflackern. Was als scheinbares Naturphänomen ‚dunkle Wolkenwand‘ beginnt, erweist sich als immer erschreckenderer Bruch der natürlichen Ordnung, der klarer Schwarz/ Weiß-Einteilung angesiedelt seien und den Weg eines idealen Helden zu einem garantierten Happy End verfolgten. Dabei ließen sie keinen Raum für die komplexen sozialen Konflikte oder ‚dunkleren‘ Charakter-Motivationen wie Gier etc. der Isländersagas, die nach Hume noch Spuren vorchristlicher Weltsicht in sich tragen. Somit blieben die Monster der Riddarasögur oberflächliche Kampfbegegnungen und seien nicht in gleicher Weise sozial semiotisiert, wie es etwa ein umgehender draugr als Bedrohung der Bauerngesellschaft in einer Isländersaga sei. Humes Deutung übersieht die komplexe Vielgestaltigkeit des Monströsen in der altnordischen Literatur und setzt zudem zu schubladenartig Isländersagas mit heidnischem Substrat und Riddarasögur mit christlicher Ideologie gleich. Dabei setzt sie die Oberflächlichkeit und Minderwertigkeit der Riddarasögur voraus, unternimmt jedoch keine Detailuntersuchung einzelner Texte, um diese Prämisse zu begründen. Es wird zu zeigen sein, dass »the multiplication of monsters in late medieval Icelandic literature, and the poor literature that figures them [...]« (Ebd.: 7) weitaus differenzierter ausgestaltet sind, als Hume es ihnen zugesteht. 238 VS: 54. Und nun, weil alle irdische Freude schnell vergeht, kommt es den Menschen vor Augen, dass von Nordwesten eine tiefschwarze Wolkenwand oben am Himmel aufzog. Sie zieht schnell über [sie], so dass es nach kurzer Zeit so dunkel war, dass kein Mensch seine Finger erkennen konnte. Dieser Dunkelheit folgt ungeheure Angst und Furcht. Hierauf folgt ungeheurer Lärm und Blitze. Als Nächstes scheint es den Männern, dass der ganze Luftraum in einer Flammenlohe entfacht ist. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 91 sich von völliger Dunkelheit bei Tage bis zu loderndem Himmelsfeuer steigert. Das Monströse bricht unbestimmt und in verdunkelter Form über die höfische Welt herein, als nicht-greifbarer Ordnungsbruch geradezu eine Verkörperung des Fremden. Erst nachdem sich durch diese bedrohlichen Phänomene »otte ok hrædzla« verbreitet haben, gerät die eigentliche Ursache des Geschehens ins Sichtfeld der Erzählung. Die Auflösung des Schreckens erfolgt durch einen noch größeren Schrecken: »en vr loganum sa þeir fliuga eirn ferligan flugdreka. hann beiner sinn flug nidr at stolinum sem Marmoria sat gripandj sinum bauluaudum klom fliugandi med hennar stol ok hana sialfa vpp j þenna loga.« 239 Der angreifende Flugdrache vollzieht mehrere ordnungsbedrohende Grenzüberschreitungen zugleich: Er dringt von außen in die höfische Sphäre ein, durchbricht mit der Dunkelheit, die ihn begleitet, die Grenzen von Tag und Nacht und entführt schließlich als Höhepunkt Prinzessin Mamoria aus dem Bereich, dem sie zugehörig ist, und trägt sie mit sich fort. Somit erweist er sich als Monstrum im Cohenschen Sinne, wobei auf eine nähere Beschreibung des Drachens, in der weitere monströs-bedrohliche Züge transportiert werden könnten, verzichtet wird. Stattdessen wird seine Monster-Natur allein durch sein Verhalten und die unheimlichen Begleitumstände seines Auftritts verdeutlicht. Hierbei ist es gewiss kein Zufall, dass die Saga ein großes Turnier als Zeitpunkt des Drachenüberfalls konstituiert - die Festivität zeigt den Hof in einem Idealzustand der Freude und ritterlichen Bewährung, zu dem der Ordnungsbruch durch den Drachen dann umso schärfer kontrastiert wird. 240 Im Folgenden reagiert Valdimar den Konventionen des Genres entsprechend und bricht bald in die unbekannte Ferne auf, um nach seiner entführten Schwester zu suchen. Für den Rezipienten sieht es in dieser Phase der Handlung so aus, als lägen in der Saga-Welt klare Verhältnisse vor: Der ritterliche Held dringt in den Außenraum vor, um ein bedrohliches Untier zu erlegen, das ein konstitutives Element des Innenraums entwendet hat - Boklunds höfische Dichotomie in Reinform. 239 VS: 54. Und aus der Flammenlohe sahen sie einen garstigen Flugdrachen fliegen. Er lenkt seinen Flug nach unten zum Sitz, auf dem Marmória saß, [sie] mit seinen verdammten Klauen ergreifend, mit ihrem Sitz und ihr selbst in diese Loge hinauffliegend. 240 In ihrer Untersuchung über das Phantastische in der Valdimars saga fasst Anna Hansen den Flugdrachen als die Verkörperung der schmerzlichen Geschwistertrennung beim Erwachsenwerden auf. Vgl. Hansen 2009: 69-70. In Hansens Lesart ist die Trennung Verwandter ein zentrales Thema der Saga, wobei die Reise des Helden in phantastische Gefilde seine charakterliche Entwicklung hin zu größerer Reife beim Umgang mit dieser Lebensrealität auf der Ebene des erzählten Raumes abbildet. Vgl. ebd.: 67-74. Hansens Deutung ist insofern interessant, als sie einen weiteren Ansatzpunkt für die Frage darstellt, inwiefern die originalen Riddarasögur durch die kunstvolle Verflechtung ihrer Motive zentrale Aspekte der Kultur ihrer Rezipienten reflektieren. Die Studie krankt allerdings daran, dass sie auf der dünnen Textbasis weniger ausgewählter Szenen spekulativ psychologisiert - so wird etwa der Topos des Beischlafs mit einer Riesenfrau als tabuisierter Ersatz für eine inzestöse Geschwisterbeziehung gedeutet, der Topos des Helden, der dem Riesen als Kind erscheint, als Regression in die Kindheit. Vgl. ebd.: 71. Andere Szenen und zentrale Gestalten werden hingegen gar nicht berücksichtigt, so dass diese Interpretation insgesamt auf einer recht einseitigen Lektüre der Saga fußt. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 92 Dass die Hintergründe des Geschehens komplexer sind, wird erst im späteren Verlauf der Handlung deutlich, wenn Valdimar Hilfe durch eine Riesenfamilie erhält, deren Vater Aper ihn über die wahre Natur des Flugdrachen aufklärt. Hinter dem Untier verbirgt sich Königin Lúpa von Risaland, die über zauberische Fähigkeiten verfügt: »ok suo er nu mickjt af sagt hennar trolldomj at hun hafdi þat vr huerju kongs rikj sem hun kaus. hun attj eirn dreka ham. hun fer med honum vm aull laund. med þeim trolldomj soktj hun systr þina « 241 . Bei der Königin handelt es sich also um eine Gestaltwandlerin, welche die Verwandlung mithilfe einer zaubermächtigen Drachenhaut vollzieht. Dieses Motiv wird hierbei als Analogon zum überlieferten Motiv der Wolfshaut eingeführt, die dem Hautwechsler die Verwandlung in einen Wolf erlaubt - das prominenteste Beispiel hierfür dürfte wohl die Verwandlung Sigmunds und Sinfjötlis in der Völsunga saga darstellen. 242 Auf diesen motivgeschichtlichen Hintergrund verweist auch der sprechende Eigenname Lúpa. Dass in der Valdimars saga mit dem Drachen eine im Vergleich zum ‚gewöhnlichen‘ Wolf ungleich monströsere Verwandlungsform gewählt wurde, lässt sich auf Lúpas trollartige Natur zurückführen: Während für menschliche Hautwechsler die Tierverwandlung einen Abstieg ins Unberechenbar-Bestialische darstellt, muss für die Trollfrau, deren Natur an sich bereits viel näher an diesem Bereich angesiedelt ist, ein Drache herhalten, um in Relation einen vergleichbaren Verwandlungsschritt zu vollziehen. 243 Hinter dem scheinbar dichotomen Angriff eines Monsters der Außenwelt auf den höfischen Innenraum steckt in Wahrheit eine hybride Erscheinung, die einerseits als Königin einem eigenen Hof vorsteht, andererseits aber die Verwandlung in eine für den Hof bedrohliche Bestie beherrscht. Der Riese Aper weiß Valdimar auch in einer Rückblende zu berichten, wie es zu dieser Konstellation gekommen ist: Auf einem Jagdausflug wird König Arkistratus von Risaland 244 bei Einbruch der Dunkel- 241 VS: 62-63. Und so wird nun Großes von ihrer Zauberei berichtet, dass sie das aus dem Reich jedes Königs bekam, was sie haben wollte. Sie besaß eine Drachenhaut. Sie durchreist mit ihr alle Länder. Mit dieser Zauberei raubte sie deine Schwester. 242 »En þeir finna eitt hús ok tvá menn sofandi í húsinu með digrum gullhringum. þeir h fðu orðit fyrir úsk pum, þvíat úlfahamir hengu í húsinu yfir þeim. It tíunda hvert dægr máttu þeir komask ór h munum. þeir váru konungasynir. þeir Sigmundr fóru í hamina ok máttu eigi ór komask ok fylgði sú náttúra, sem áðr var, létu ok vargsr ddu.« (Und sie finden ein Haus und zwei Männer mit dicken Goldringen schlafend im Haus. Sie waren zuvor verflucht worden, denn Wolfshäute hingen über ihnen im Haus. Sie waren Königssohne. Sigmundr und sein Begleiter legten die Wolfshäute an und konnten nicht mehr herauskommen und es ging auf diese Weise, wie es zuvor gewesen war, und sie ließen Wolfsgeheul erklingen.) Ebel 1983: 68-69. 243 Zum Motiv des Gestaltwandels in der Sagaliteratur vgl. Davidson 1978. Davidson weist darauf hin, dass es sich bei hamr nicht zwangsläufig um eine Haut im konkreten, greifbaren Sinne handeln muss, der Begriff kann vielmehr auch abstrakt ‚Gestalt‘ bedeuten. Vgl. ebd.: 126. Im vorliegenden Fall deuten jedoch die Konstruktionen »attj [...] ham« und »fer med honum« (besaß [...] eine Haut; durchreiste mit ihr) (VS: 63) darauf hin, dass an einen konkreten Gegenstand gedacht ist, der außerhalb der Besitzerin existiert. 244 Trotz des Eigennamens handelt es sich bei Risaland im Erzählkonzept der Saga höchstwahrscheinlich um ein Menschenreich und bei Arkjstartus um einen Menschenkönig. Siehe Abschnitt 5.2.8. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 93 heit von »myrkua þoku« 245 überrascht und verirrt sich. Schließlich trifft er auf Lupa, die mit zahlreichem Gefolge auftritt, dessen Fremdartigkeit betont wird: »þetta folk uar trollum likara en menszkum monnum.« 246 Lúpa geleitet den König »at einum kastala storum« 247 , wo er als Gast die Nacht verbringt. Beeindruckt von den immensen Reichtümern der Burg hält Arkistratus um Lúpas Hand an und macht sie schließlich zur Königin von Risaland. Die Begegnung ist durchsetzt mit Hinweisen auf Lúpas Natur. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der König im Wald auf seine künftige Gemahlin trifft, also topologisch betrachtet im nicht-höfischen, marginalisierten Außenraum. Hierzu fügt es sich auch, dass Lúpas Begleiter mit Trollen verglichen werden, also mit Monstren, die diesem Außenraum angehören. Lúpa selbst hingegen wird nicht explizit beschrieben, doch wird sie mit der Formulierung »þar var ein kona fyrir lidi [...]« 248 erst nach der Beschreibung des monströsen Volkes und implizit als Teil von ihm eingeführt, so dass sich der Troll-Vergleich auch auf diese Figur beziehen lässt; es ist jedenfalls auffällig, dass bei ihrer Einführung auf sämtliche höfischen Schönheits- Topoi verzichtet wird. Dieser Charakterisierung als monströses Geschöpf des Außenraums steht jedoch der höfische Impetus ihres Auftretens entgegen: Sie erscheint mit großem Gefolge, lässt sich standesgemäß vom Pferd helfen und vor den König führen, bietet nach höfischer Gepflogenheit ihre Gastfreundschaft an und bewohnt eine prächtige Burg, die über »eina haull fagrliga bvna« 249 verfügt, wo »allr bordbunadr uar en dyraztj« 250 . Dabei grenzt sie sich dezidiert vom nicht-höfischen Raum der Wildnis ab, indem sie dem König »sakjr jllra dyra« 251 davon abrät, unter freiem Himmel zu übernachten. Über ihre Herkunft, die ja entscheidend für eine höfische Identität ist, schweigt sie sich jedoch auf Arkistratus Frage hin aus: »Mitt nafn er Lvpa en kyn mjtt verdr ydur sidar sagt ok gangit til borda« 252 . Dieses Versprechen wird im weiteren Verlauf der Handlung nicht eingelöst. Weder Arkistratus noch der Rezipient erfahren im Folgenden etwas über Lúpas Familie, so dass die übergangslose Einladung zu Tisch wie eine hastige Ablenkung von einem unliebsamen Thema wirkt. Dass ihre Herkunft zumindest als zweifelhaft betrachtet werden darf, wird durch Lúpas Verbindung zum Raum der Wildnis deutlich: König Arkistratus wird durch dunklen Nebel zur Begegnung mit Lúpa getrieben, der an das Motiv der unnatürlichen Dunkelheit beim ersten Auftritt des Flugdrachen erinnert. Die Vermutung liegt nahe, dass hiermit ein zauberisches Wirken Lúpas dargestellt wird, die den König gezielt zu sich lockt. Ihr Zauber macht den Naturraum zu einem bedrohlichen Ort 245 VS: 60. dunklem Nebel. 246 VS: 61. Dieses Volk war Trollen ähnlicher als menschlichen Männern. 247 VS: 61. zu einer großen Burg. 248 VS: 61. dort stand eine Frau der Schar vor. 249 VS: 61. einer schön eingerichteten Halle. 250 VS: 61. alles Tafelgerät war äußerst kostbar. 251 VS: 61. der gefährlichen Tiere wegen. 252 VS: 61. Mein Name ist Lúpa und mein Geschlecht wird Euch später mitgeteilt werden, und geht zu Tisch. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 94 für Arkistratus, wo Lúpas Burg Sicherheit verspricht. Sie steht somit keineswegs so eindeutig auf der höfischen Seite der Raum-Dichotomie, wie sie den König glauben lassen will, sondern ist zugleich ein Geschöpf der Wildnis und des Außenraums, den sie mit ihrem Zauber beherrscht. Dass eine gestaltwandelnde Zauberin mit dem sprechenden Namen Lúpa den König ausgerechnet mit dem Verweis auf die Gefahr durch wilde Tiere in ihre Behausung lotst, stellt in diesem Kontext eine geradezu grotesk gebrochene Anti-Konstellation zum Topos der höfischen Gastfreundschaft dar. Arkistratus flieht vor der Bedrohlichkeit der Wildnis in die vermeintliche Sicherheit eines Hofes und gerät direkt in den Bau eines Monsters, das als Grenzgänger in beiden Räumen zu Hause ist. Auch im höfischen Bereich der Burg, über die Lúpa herrscht, findet sich ein Hinweis, der den Besucher misstrauisch stimmen sollte, nämlich die mehrfach betonte Pracht des Inventars, die schließlich in der Beschreibung der Schatzkammer gipfelt: »ser kongr ok hans hird at her er saman komen mikill ueralldar rikdomar.« 253 Diese Reichtümer, die einerseits natürlich simpel als Zeichen einer besonders üppigen Hofhaltung interpretiert werden können, sind andererseits in dieser zugespitzten Form in der Saga-Literatur häufig mit den Behausungen von Trollen und anderen Wesen der Außenwelt verbunden. Beispiele hierfür sind etwa die opulente Ausstattung jener Höhle, wo Sigurðr in der Sigurðar saga þökla bei zwei Trollfrauen zu Gast ist, oder die unermesslichen Reichtümer, die Konráðr keisarason in der fremdartigen Schlangenstadt vorfindet. 254 Vor dem Hintergrund dieses verbreiteten Motivs und in Verbindung mit der Beschreibung von Lúpas trollartigem Gefolge kann auch der Reichtum der Burg dahingehend gedeutet werden, dass Arkistratus hier in ein Reich von Trollen geraten ist. Dass er gleich im nächsten Satz nach der Darstellung der Reichtümer unvermittelt um Lúpas Hand anhält, spricht dafür, dass das Gold einen ganz eigenen Zauber auf den König auszuüben scheint, der sich ohne jeden Vorbehalt mit der reichen Fremden zweifelhafter Herkunft einlässt, während mit Warnhinweisen an den Rezipienten nicht gegeizt wird. Darüber hinaus kann der Riese Aper Valdimar auch berichten, wie es zu der Entführung seiner Schwester durch Lúpa gekommen ist: Nachdem sie an der Seite des Königs ins höfische Zentrum von Risaland vorgedrungen ist, übernimmt die Fremde rasch die Führung des Reiches. »Eptir hofit tok drottnjng oll rikis rad. hun uar stiornsaum ok hardlynd. let þegar handhauggua edr fothauggua edr drepa ef motj hennj uar gert.« 255 Von einer Regierungstätigkeit des Königs ist von nun an hingegen nicht mehr die Rede. Lúpa beschränkt sich keinesfalls auf die unterstützenden und repräsentativen Funktionen einer Königin, sondern agiert als Alleinherrscherin, die jeden töten oder verstümmeln lässt, der sich ihren Befehlen widersetzt. Lúpa 253 VS: 61. Der König und sein Gefolge sehen, dass hier große Reichtümer der Welt zusammengekommen sind. 254 Vgl. KSK: 91-94 und SSÞ: 152-159. 255 VS: 62. Nach dem Fest übernahm die Königin die komplette Herrschaft über das Reich. Sie war zum Herrschen befähigt und von harter Sinnesart. Sie ließ [der entsprechenden Person] sofort die Hand abschlagen, den Fuß abschlagen oder [sie] töten, wenn etwas gegen sie getan wurde. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 95 beraubt den König seiner Funktion und durchbricht die höfische Ordnung von Risaland von innen heraus. Durch ihre illegitime Herrschaft nähert sie den Hof von Risaland dem nicht-höfischen Außenraum an und erzeugt eine Sphäre, die ebenso hybrid ist wie sie selber als Grenzgeschöpf von Hof und Trollwildnis. Der so etablierte bedrohliche Zwischenraum wird aus der Sicht des Hofes von Saxland zum nichthöfischen Außenraum, aus dem heraus der ordnungsbedrohende Angriff des Flugdrachen erfolgt. Dieser Angriff wird jedoch nicht einfach nur dadurch motiviert, dass es in Lúpas Art als Grenzgeschöpf liegt, den Hof mit seiner klaren Ordnung zu destabilisieren. Er wird stattdessen darauf zurückgeführt, dass Lúpa als neue Gemahlin des Königs Arkistratus zugleich auch die Stiefmutter seiner Kinder Florida und Blabus ist. Diese fürchten die Fremde zunächst und ziehen sich vor ihrer hartherzigen Herrschaft in einen Turm der väterlichen Burg zurück. Dort sucht Lúpa sie eines Tages auf. »Lupa mælti þa: ‚huort uili þid sysken hallazt til mjn vm vinattu eda skuli þit sla til mjn ulfud‘. þau saugduzt giarna uilia hafa hana i modr stad. Lupa mælltj: ‚Ecki uillda eg at ykkr yrdj mein at grimd minnj‘.« 256 Obgleich sie als trollartige, tyrannische Stiefmutter alle Voraussetzungen erfüllt, nach dem Erzählmuster eines ‚Stiefmuttermärchens‘ zu agieren und die vorhandenen Kinder zu Gunsten der eigenen Nachkommen zu beseitigen, verhält sich Lúpa entgegengesetzt zu diesem Topos: Sie bietet Florida und Blabus ihre Freundschaft an und betont dabei ausdrücklich, dass ihre Stiefkinder nicht unter ihrem Grimm leiden sollen. Das zunächst negative Bild, das von ihrer Gewaltherrschaft gezeichnet wird, relativiert sich an dieser Stelle. Lúpa lässt ihren Grimm keineswegs undifferenziert an allem und jedem aus, sondern geht lediglich äußerst gewalttätig gegen ihre Feinde vor, während sie sich gegenüber ihren (angeheirateten) Angehörigen mild zeigt. Aus dieser Innenperspektive heraus betrachtet gewinnt die unnachgiebige Härte der Trollkönigin Züge einer Herrschertugend. Lúpa hält in der Folge nicht nur ihr Freundschaftsversprechen den Stiefkindern gegenüber, sondern erweist sich dabei auch als weitsichtige Lenkerin ihrer Dynastie: Sie besorgt eine standesgemäße Braut für den Königssohn Blabus - eben jene Prinzessin Marmória von Saxland, die sie in ihrer Flugdrachengestalt vom Hof ihres Vaters entführt. Dieser scheinbare Angriff von außen auf die Ordnung des Hofes dient also in Wahrheit zugleich der Konsolidierung eines anderen Hofes, dessen Fortbestand durch die Verheiratung des Thronerben gesichert werden soll. Königin Lúpa verfolgt hiermit das höfische Ziel einer dynastischen Heiratspolitik, für dessen Durchsetzung sie jedoch auf die wenig subtilen Zaubermittel der Trollwelt zurückgreift. Was zu Beginn der Saga wie ein einfacher Angriff des Fremden auf den geschützten Innenraum des Hofes wirkt, erweist sich im Verlauf der Handlung als das viel komplexere Resultat der hybriden Situation einer Trollfrau, die auf dem Thron einer Königin mit den ihr entsprechenden Mitteln agiert. Hierbei ist es bemerkenswert, 256 VS: 62. Dann sprach Lúpa: ‚Wollt ihr Geschwister in Freundschaft zu mir halten oder wollt ihr euch gegen meine Wildheit schlagen? ‘ Sie sagten, dass sie sie gerne an Mutter statt annähmen. Lúpa sprach: ‚Ich will nicht, dass euch Schaden durch meinen Zorn entsteht.‘ 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 96 dass sich die Zusammenhänge für den Saga-Rezipienten nur nach und nach klären: Es beginnt mit jener amorphen Wolke aus Dunkelheit, aus der sich schließlich die akute Bedrohung in Gestalt des Flugdrachen löst. Auf diesem Erkenntnisstand lässt der Text den Rezipienten für eine ganze Weile verharren, während Valdimar in die Welt hinaus zieht, um seine Schwester zu retten, noch immer in dem Glauben, einen Drachen zu jagen. Erst in der Begegnung mit einer hilfsbereiten Riesenfamilie offenbaren sich ihm (und somit dem Rezipienten, der seinen Wissensstand teilt) die wahren Hintergründe des Geschehens, und Lúpa wird durch die Erzählung ihrer Vorgeschichte eingeführt. Durch diese narrative Umsetzung der Informationsvermittlung nähert sich der Rezipient zusammen mit dem Helden nach und nach dem Bereich des Fremden an, der schließlich in der verwirrenden Hybrid-Gestalt Lúpas mündet. Mit Lúpa steht Valdimar ein Monstrum gegenüber, das neben den fremdartigen Eigenarten des Außenraums auch vertraute Konzepte als Herrscherin, Stiefmutter und Person des Hofes verkörpert. Dabei erweist sie sich in vierfacher Hinsicht als bedrohlicher Grenzgänger im Sinne Cohens: Sie ist zugleich Frau und Flugdrache, trollartiges Wildnisgeschöpf und Hofmitglied, Königsgattin und Alleinherrscherin, Stiefmutter und Erhalterin der Dynastie. Doch ehe Valdimar in ihren Bereich der monströsen Grenzdurchbrüche vordringen kann, muss er selber auf seiner Reise Grenzen durchbrechen und sich dem Monströsen annähern. Dies geschieht im Zuge eines zweijährigen Aufenthalts bei der besagten Riesenfamilie. 5.2.2 Von Monstern und Helfern - Valdimars Reise in die Riesenwelt Auf der Suche nach seiner entführten Schwester streift Valdimar zunächst für mehrere Tage ziel- und rastlos durch die Wildnis, bis er endlich auf einer Waldlichtung ohnmächtig wird. Im Schlaf zeigt sich ihm in einer Vision eine Frau, die ihm anrät, auf seiner Queste keine Hilfe abzulehnen, wer auch immer sie ihm anbietet. Außerdem vermacht sie ihm ein nimmerleeres Trinkhorn und ein Tischtuch, das stets Nahrung für ihn bereithält. Die Traumvision wird nur knapp und skizzenhaft geschildert, doch wird die Frauengestalt zumindest mit zwei Adjektiven bedacht: »sa hann þa ganga konu eina at ser afburdarstora ok miog þrifliga« 257 . Sie ist also einerseits prächtig anzusehen und andererseits groß, wobei die Ergänzung »afburdar-« ihre Größe als außergewöhnliche, im wahrsten Wortsinne überragende Eigenschaft beschreibt. Valdimar steht hier einem Wesen gegenüber, das sich zwar als freundlicher Helfer erweist, dabei aber durch eine ins Extreme gesteigerte Eigenschaft von der Norm abhebt und somit einen monströsen Zug gewinnt. 258 Dennoch wird er vom Wuchs der Erscheinung nicht abgeschreckt und nimmt dankend ihren Rat an. Auf seinem Weg in die Fremde besteht der erste Erfolg des Protagonisten darin, sich auf die Fremdartigkeit seines Gegenübers einzulassen. 257 VS: 55. Dann sah er eine außerordentlich große und sehr stattliche Frau auf sich zukommen. 258 Man denke hierbei auch an die diversen Wundervölker der mittelalterlichen Kosmographie, deren Monströsität häufig auch nur in der Übersteigerung einer einzelnen Eigenschaft wie gewaltigen Schlappohren oder hängenden Unterlippen besteht. Vgl. Friedman 1981: 5-25. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 97 Valdimar begegnet direkt im Anschluss an die Vision dem ersten Vertreter jener Riesenfamilie, die für ihn die zentrale Helferinstanz im Verlauf der Handlung darstellen wird. Daher ist anzunehmen, dass die enorme Körpergröße der Traumerscheinung bereits auf diese Welt der Riesen verweist. 259 So, wie Valdimar den Rat der Erscheinung bereitwillig annimmt, wird er auch im Folgenden immer wieder auf die Hilfe von Riesen zurückgreifen. Die Vision leitet somit den Grenzübergang von Valdimars höfischer Heimat in eine Welt des Fremdartigen, Monströsen ein und besitzt dabei zugleich die Handlungsfunktion, zu motivieren, warum der Held im Folgenden so offen für den Rat und die Gesellschaft von Wesen ist, die in der Literatur oft genug als monströse Gegner auftreten. Als Valdimar seine Reise fortsetzt, trifft er auf einen kleinen, glatzköpfigen Mann, der seinen Namen nicht preisgibt, sich jedoch als Gefolgsmann und Führer durch den Wald anbietet. Eingedenk der Traumvision nimmt Valdimar die Hilfe an und lässt sich vom Glatzkopf bis zu einem großen Berg führen, wo er sein Nachtlager aufschlägt. Im Schlaf vernimmt er wunderschönes Harfenspiel und stellt nach dem Erwachen fest, dass er sich plötzlich in einer Höhle befindet. Hier trifft er auf die Riesin Alba, die sich als Verursacherin der Harfenklänge herausstellt, ihn mit Namen begrüßt und ihre Hilfe anbietet. Valdimar ist endgültig in die Welt der Riesen eingetreten, wo er einige Zeit verbringt, um sich mit Hilfsmitteln und Informationen auszustatten, ehe er seine Queste fortsetzt. Nachdem Valdimars Begegnung mit den Riesen bereits durch eine Traumvision eingeleitet wurde, erfolgt auch der eigentliche Eintritt in den riesischen Lebensbereich im Schlaf, also im Zustand des Unbewussten und der Hilflosigkeit. Der Held überschreitet die Grenze nicht aktiv aus eigener Kraft, sondern findet sich auf geheimnisvolle Weise auf die andere Seite versetzt, wodurch seine Rolle im folgenden Verlauf der Saga-Handlung vorweggenommen wird: Er ist ein hilfloser Lernender, der wie ein Kind auf die Riesen angewiesen ist, um mit ihrer Hilfe seine Ziele erreichen zu können. Der Berg, an dessen Fuße Valdimar sein Nachtlager aufschlägt, kann dabei als Andeutung auf den Lebensraum der Riesen verstanden werden, die ja topisch in der Wildnis der Gebirge angesiedelt sind. Auch mit der Verortung der ersten Riesenbegegnung in einer Höhle folgt die Saga dieser Konvention und verdeutlicht so, dass sich Valdimar nun im nicht-höfischen Bereich des ungezähmten Naturraums befindet, zu Gast unter Wesen, die einer für ihn fremden Welt entstammen. 260 Zugleich wird der Lebensraum der Riesensippe jedoch nicht vollständig als unerschlossene Wildnis beschrieben. Als Valdimar tiefer in die Höhle vordringt, gelangt 259 Eine direkte Identifikation der Traumerscheinung mit einem der weiblichen Riesen, denen Valdimar im Folgenden begegnet, wird in der Saga hingegen nicht vorgenommen. Die Erscheinung nimmt die Welt der Riesen verallgemeinernd vorweg und lässt sich nicht auf eine konkrete Einzelfigur reduzieren. 260 Zum Riesenmotiv in der altnordischen Literatur vgl. Schulz 2004. Auf einige Ansätze dieser Studie wird im Folgenden noch im Detail eingegangen werden. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 98 er schließlich an eine »hurdu« 261 . Die Riesen grenzen ihren Wohnbereich durch eine Tür vom Außenbereich der übrigen Höhle ab und geben sich somit als kulturschaffende Wesen, die sich innerhalb des Naturraums ein geschütztes Heim geschaffen haben. Dieser Eindruck wird von der Innenausstattung der Riesenbehausung bestätigt: Alba hält sich »a palle« 262 auf und besitzt ein höfisches Musikinstrument, die Höhlenräume werden wie die Zimmer eines Hauses als »herbergi« 263 bezeichnet, es wird »agiætr aurgate med dyrum drykk« 264 aufgefahren, geschlafen wird in einem »sæng« 265 . Insgesamt entsteht so der Eindruck einer hybriden Raumkonstellation: Der Naturraum der Höhle im Berg wird durch Elemente einer prächtigen menschlichen Behausung als das Zuhause einer Riesenfamilie konstituiert, die so den Charakter von Grenzgängern zwischen höfischer Welt und Naturraum erhalten. Dies erinnert an Lúpas Burg im Wald, wo ja ebenfalls Elemente des Hofes und der Wildnis miteinander verwoben sind, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Lúpa gibt sich ihrem Gast Arkistratus gegenüber ganz als höfische Gastgeberin, der trollartige Charakter der Umgebung schimmert dabei in Form von Andeutungen durch. Valdimar hingegen scheint in der Höhle zunächst in eine Welt der Wildnis geraten zu sein, in der dann Raumelemente einer höfischen Menschenbehausung dieses Bild durchbrechen. Die interne Topographie des riesischen Lebensraumes ist aufgeteilt in die Höhle, wo Valdimar mit Alba und ihrem Vater lebt, einerseits und einen weiteren »biarg« 266 am Meeresstrand andererseits, wo Nigra beheimatet ist, die Großmutter der Riesenfamilie. Das Innere dieses Felsens wird nicht beschrieben und bleibt für Valdimar und somit auch für den Rezipienten ein geheimnisvoller Jenseitsraum, der der eigenen Erfahrung nicht zugänglich ist. Dass die Riesen in der Saga ihren Lebensraum als einen eigenständigen, abgeschlossenen Bereich begreifen, macht eine Bemerkung Nigras deutlich, die erwähnt, dass Albas Mutter ein bestimmtes Zaubermittel »af manheimum« 267 mitgebracht hätte. Der Text verortet die Riesen explizit außerhalb der Menschenwelt, zu der es jedoch Beziehungen gibt. Als Valdimar sich im späteren Verlauf der Handlung in Risaland aufhält, heißt es jedoch, dass die mit ihm verbündeten Riesen ihm »af Saxlandj« 268 zu Hilfe eilen. Der räumliche Bereich der Riesen ist also einerseits ein Teil von Valdimars Heimat Saxland (in Abgrenzung zum feindlichen Risaland) und andererseits ein von der Menschenwelt losgelöster Raum (in Abgrenzung zu Valdimars höfischer Heimat). Dieser in-between space zwischen Nähe und Fremde in topologisch-geographischer Hinsicht spiegelt sich in der hybriden Einrichtung der Riesenbehausung mit Elementen von Natur- und Kulturraum wieder. Der Charakter 261 VS: 57. Tür. 262 VS: 57. auf einem Podest. 263 VS: 58. Zimmer. 264 VS: 59. ausgezeichnete Speise mit teurem Trank. 265 VS: 59. Bett. 266 VS: 59. Felsen. 267 VS: 65. aus der Menschenwelt. 268 VS: 73. aus Saxland. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 99 der Riesengestalten in der Valdimars saga als monströse Grenzgänger ist somit auch in ihre räumliche Verortung eingeschrieben. 5.2.3 Alba - Riesentochter und höfische Gefährtin Die Riesentochter Alba, auf die Valdimar in der Höhle trifft, wird äußerlich wie folgt beschrieben: »hann ser a palle þessa helles huar kona sitr mickjl ok uæn. hun greiddj harit fra augum ser. þat uar suo mikjt at hun mattj aull hyliazt j.« 269 Während das Adjektiv »mickjl« auf ihre riesenhafte Natur verweist, wird Alba durch das Adjektiv »uæn« zugleich auch Schönheit zugeschrieben, wie dies mit einer identischen Formulierung auch bei einer nicht-riesischen, höfischen Figur möglich wäre. Dies ist insbesondere auffällig im Vergleich zur Schilderung von Valdimars riesenhafter Traumerscheinung, die im Text kurz vor der Begegnung mit Alba erfolgt: Hier wird die Größe der Frauengestalt einerseits durch den Zusatz »afburdar-« ganz besonders betont, während andererseits das zweite Element der Beschreibung nicht etwa »uæn«, sondern »þrifligr« ist, was zwar ebenfalls positiv konnotiert ist, aber eher mit ‚stattlich, prächtig‘ als mit ‚hübsch, attraktiv‘ zu umschreiben wäre. 270 Die beiden Frauengestalten haben also eine identische Beschreibungsstruktur gemein, bei der das erste Element sich auf ihre Riesennatur bezieht und das zweite Element ihr Äußeres positiv hervorhebt. Im Falle der Traumvision ist jedoch der riesische Anteil deutlich betont, da nicht nur das erste Element gesteigert ist, sondern auch noch das zweite Element eine gewisse Üppigkeit impliziert, die sich ins Bild der Riesenhaftigkeit einfügt. Alba hingegen wird mit einem ungesteigerten »mickjl« beschrieben - ‚groß‘, aber nicht ‚gewaltig groß‘. Das zweite Element »uæn« hat eine so allgemeine Wortbedeutung, dass sich hier keine Implikationen ergeben, die besonders üppigen Wuchs betonen würden. Valdimar sieht sich auf den ersten Blick einfach einer großen, attraktiven Frau gegenüber. Dem mag Albas auffälligstes Merkmal ein Stück weit entgegenstehen: ihre überlangen Haare, denen in der eigentlich knappen Beschreibung gleich zwei Sätze gewidmet werden. Einerseits könnte man diesen auffälligen Haarwuchs schlicht als Schönheitstopos werten, womit ihm keine weitere Funktion zukäme, als das Adjektiv »uæn« durch eine spezielle Form von Schönheit zu konkretisieren. 271 Andererseits stellt sich jedoch die Frage, ob dem körperlang wuchernden Haar nicht auch ein monströser Zug anhaftet. Immerhin ist hier ein Teil des menschlichen Äußeren über das Normmaß hinaus gesteigert, was ebenso wie die besondere Körpergröße der Riesen als Zeichen der Fremdheit gelesen werden kann. Insbesondere die Formulierung »mattj aull hyliazt j« erinnert an die Beschreibungen altnordischer 269 VS: 57. Er schaute zum Bankpodest dieser Höhle, wo eine große und schöne Frau saß. Sie strich sich das Haar von den Augen. Das war so lang, dass sie sich darin komplett einhüllen konnte. 270 So jedenfalls deutet Baetke in seinem Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur die Nuancen des Adjektivs aus. Vgl. Baetke 1965-1968: 782. 271 Man beachte etwa die Beschreibung der wunderschönen Sedentiana in der Sigurðar saga þögla, bei der der Topos des verhüllenden Körperhaares eindeutig als Teil einer rhetorischen Schönheitsbeschreibung verwendet wird. Vgl. SSÞ: 100. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 100 Wundervölker-Listen, wo z. B. Gleiches über die monströsen Segelohren der Panoti zu lesen ist. 272 Als Valdimar sich Alba zum ersten Mal nähert, streicht sie sich gerade die Haare aus den Augen. Der Haarwuchs bedeckt also offenbar zunächst ihr Gesicht und entzieht es der Wahrnehmung. Er fungiert als trennende Instanz zwischen Valdimar und seinem fremden Gegenüber. Die Kombination von besonderer Körpergröße und wucherndem Haar verleiht der Riesin einen monströsen Zug, der allerdings durch das Adjektiv »uæn« abgemildert wird. Das Monster ist hier insofern ein Grenzgänger, als es zwischen grotesk übersteigerten Attributen als Zeichen der Fremdheit einerseits und höfischer (und somit vertrauter) Schönheit andererseits angesiedelt ist. Diese Hybridität findet im Detail des Haarwuchses, der sowohl Zeichen von Schönheit als auch monströse Hyperbel sein kann, einen greifbaren Ausdruck. Handlungsfunktional kommt Alba die Rolle einer Helferin zu, die Valdimar die Unterstützung ihrer Familie sichert und ihn mit diversen Zauberdingen ausstattet. 273 Der bedrohliche, ordnungsgefährdende Aspekt des Monströsen hingegen findet in ihrem Verhalten keinen Ausdruck, sie ist ganz die devote Gefährtin des Helden. Einzig die Offenheit, mit der sie Valdimar gleich im Anschluss an ihre erste Begegnung eine sexuelle Beziehung anbietet, stellt einen Bruch dieses höfisch-weiblichen Rollenmusters dar: »huort uilltu kongsson liggia hia mer edr uilltu fa þer adra sæng« 274 . Mit diesem Angebot stellt sie sich in die Tradition der promiskuitiven Trollfrauen, die sich häufig durch unsittliche, enthüllende Bekleidung auszeichnen und den Sagahelden zuweilen heftig bedrängen. 275 Dieses Motiv verkörpert sich in Alba jedoch nur in einer abgeschwächten Form. Lediglich der Vorschlag, das Lager zu teilen, ist geblieben, wobei sie dem Helden aber explizit freistellt, sich dagegen zu entscheiden. In dieser narrativen Umsetzung liegt eine Analogie zur Beschreibung ihres Äußeren: Ein monströser Zug (in diesem Fall das normwidrige Sexualverhalten) wird zwar einerseits mit der Figur verbunden, andererseits aber so stark zurückgefahren, dass Alba insgesamt als positiv konnotierte Gefährtin des Helden agieren 272 So etwa im Wundervölkerverzeichnis der Hauksbók: »Panaðios heita þeir menn er œyru hafa sua mikil at þeir hylia allan likam sinn með«. (Panaðios heißen die Menschen, die so große Ohren haben, dass sie damit ihren ganzen Körper einhüllen.) Zitiert nach Simek 1990: 467. 273 Zum Motiv der »Helpful Giantess« vgl. McKinnell 2005: 181-196. Allerdings geht McKinnell hier davon aus, dass Alba keine direkte Helferfunktion hat: »Although Alba [...] persuades her father to receive Valdimar, becomes pregnant by him and and gives him a mirror [...], she does not actually help him.« McKinnell 2005: 188. Diese Deutung übersieht jedoch, dass die zentrale Funktion Albas darin besteht, Valdimar in die Riesenwelt zu integrieren - wenn sie ihn nicht als Gefährten angenommen hätte, wäre Valdimar auch nicht die Hilfe der übrigen Riesen zuteilgeworden. Ihre Helferfunktion äußert sich also darin, dass sie als Bindeglied zwischen Riesen und Menschen fungiert, was sich auch in ihrer halb-riesischen Natur (siehe unten.) ausdrückt. Insgesamt betrachtet McKinnel die Valdimars saga als »story whose traditional symbols had become devalued and half-forgotten.« Ebd. Es wird zu zeigen sein, dass diese Einschätzung zu kurz greift und die Valdimars saga stattdessen klassische Motive der Riesen-Mensch-Begegnung auf originelle Weise umdeutet. 274 VS: 59. Willst du, Königssohn, bei mir liegen oder willst du dir ein anderes Bett nehmen? 275 Siehe auch die Analyse der Trollfrau Nótt in der Ála flekks saga in Abschnitt 6.2.4 sowie die Erwägungen zu den Trollfrauen in der Sigurðar saga þögla in den Abschnitten 7.2.1-7.2.3. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 101 kann, deren fremdartige Herkunft kaum mehr als ein gelegentlich in Erinnerung gerufener Farbtupfer ist. Albas Großmutter Nigra geht in diesem Kontext soweit, explizit Albas »godmensku« 276 zu loben, also eine Eigenschaft, die bereits dem Wortstamm nach der menschlichen Sphäre entstammt und für gewöhnlich nicht mit der monströsen Riesenwelt in Verbindung gebracht wird. Bei dieser Gelegenheit gibt sie auch einen Hinweis darauf, wo dieser auffällige Charakterzug Albas herrühren mag: »godmensku modr þinnar« 277 ist die genaue Formulierung, die Nigra gebraucht. Alba hat ihre menschlichen Züge von ihrer (bereits verstorbenen) Mutter geerbt. Erst kurz vor dem Ende der Saga erfährt der Rezipient, dass diese Mutter eine Prinzessin von Smaland gewesen ist, also eine Menschenfrau. 278 Alba entspricht somit dem Erzähltopos des Halbtrolls, der als Kind zweier Welten zwischen Mensch und Monster ein hybrides Dasein fristet. 279 Auf der Ebene des Lebensraumes ist Alba ganz ein Bewohner der Riesenwelt; sie teilt die Höhlenbehausung ihrer riesischen Sippschaft und wird von dieser durchgehend als Verwandte akzeptiert. Auf der Ebene des Äußeren und des Verhaltens hingegen sind die riesisch-monströsen Züge stark zurückgenommen und Alba erweist sich als menschliche Helferin. Das führt soweit, dass sie letztendlich ein Kind von Valdimar erwartet und schließlich mit dessen Zustimmung den (am Saga-Ende erneut verwitweten) König Arkistratus heiratet, sich also als voll integrationsfähig in die höfische Sphäre erweist. Diese spezielle Form von Hybridität macht Alba zu einer idealen Helferfigur für Valdimar: Einerseits ist sie völlig in der fremdartigen Riesenwelt zu Hause und kann ihre Geheimnisse und Zauberkräfte für ihn aktivieren, doch andererseits teilt sie mit ihm die Verhaltensmuster der Menschenwelt, was ihre Rolle als unterstützende Gefährtin erst ermöglicht. Die Hybridität des monströsen Grenzgängers wird also in der Valdimars saga nicht etwa als Bedrohung inszeniert, sondern als vermittelnde Instanz, die eine fruchtbare Interaktion zwischen den entgegengesetzten Sphären der erzählten Welt und eine nutzbringende Aneignung des einstmals Fremden durch den Saga-Helden ermöglicht. 5.2.4 Aper - ein menschelndes Monstrum Gänzlich anders hingegen verhält es sich mit Albas Vater Aper, einem reinblütigen Riesen. Dieser wird äußerlich nicht beschrieben, wohl aber durch sein Verhalten als Monstrum charakterisiert. So warnt Alba Valdimar bei ihrer ersten Begegnung: »ef þu verdr eigi j burtu ur hellenum adr fadjr minn kemr heim þa finnr þu alldri þina systr sidan ok aunguan af Saxlandj þuit þu ert fyrrj daudr en dagr komj« 280 . Nach dieser Darstellung Albas ist Aper für Valdimar auf eine radikale, lebensbedrohliche 276 VS: 64. Gutmenschlichkeit. 277 VS: 64. die Gutmenschlichkeit deiner Mutter. 278 Vgl. VS: 76. 279 Vgl. in diesem Kontext auch die Gestalt der Hlaðgerðr in der Ála flekks saga. Siehe Abschnitt 6.2.5. 280 VS: 57-58. Wenn du dich nicht aus der Höhle fortmachst, bevor mein Vater nach Hause kommt, dann findest du niemals mehr deine Schwester und nichts von Saxland, weil du tot bist, bevor der Tag kommt. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 102 Art und Weise fremd: Der menschliche Eindringling droht vernichtet zu werden, sobald der Riese seiner gewahr wird. Der Fehler in der Sphäre der Riesenwelt wird ohne Umschweife ausgemerzt. Apers Monströsität beruht also auf der Bedrohlichkeit eines Anderweltbewohners, in dessen Bereich völlig andere Gesetze herrschen. Er ist weniger ein Grenzüberschreiter (wenn er natürlich auch mit der drohenden Tötung eines Hausgastes eine soziale Norm überschreitet) als vielmehr ein Grenzbewacher, der für den aus der fremden, höfischen Sphäre eindringenden Helden eine Gefahr darstellt. So vollzieht sich auch seine Heimkehr in die Riesenhöhle unter bedrohlichen Vorzeichen: »ok at deginum lidnum heyrer kongsson hrædjligan gny suo at allr helleren skalf sem a þrædj leikj. þar matte heyra hafan hliom.« 281 Apers Ankunft geschieht mit der dumpfen Gewalt eines Erdbebens und lässt die ganze Höhle erzittern. Die schiere Heftigkeit seines Auftritts trägt seine Monströsität nach außen. An dieser Stelle arbeitet der Text mit derselben Erzähltechnik wie schon bei der Inszenierung des angreifenden Flugdrachen in Saxland: Es wird auf eine genauere Beschreibung des Monstrums verzichtet, dafür werden jedoch die bedrohlichen Begleitumstände seines Erscheinens umso plastischer ausgemalt. Die erzählerische Wirkung ist in beiden Fällen dieselbe: Die Monströsität des Fremden wird einerseits durch die Brüche der natürlichen Ordnung in seinem Gefolge klar herausgestellt, während es andererseits in seiner konkreten Erscheinungsform im Dunkeln bleibt und somit dadurch besonderen Schrecken gewinnt, dass es für den Rezipienten nicht wirklich fassbar - eben im eigentlichen Sinne fremd - bleibt. Durch die Wiederholung dieses Erzählmusters wird angedeutet, dass Valdimar es nun mit einem ähnlichen übermächtigen Gegner zu tun haben wird, wie es bereits bei der Entführung seiner Schwester der Fall war. 282 Umso überraschender ist die Wende, die die Handlung direkt im Anschluss an Apers Heimkehr nimmt: Alba begrüßt ihren Vater und bittet ihn darum, dass Valdimar für eine Weile bei ihnen in der Höhle bleiben darf. Aper umarmt seine Tochter in einer geradezu häuslich-anrührenden Szene und gewährt diese Bitte. Anschließend wird Valdimar seinem Gastgeber vorgestellt: »hann [Aper] tok Ualldjmar ok sette kne ser ok mællte ‚alldri sa eg uænna barn jafnlited‘.« 283 Der Riese betrachtet den deutlich kleineren Helden als Kind, behandelt ihn entsprechend fürsorglich und setzt ihn sich auf die Knie. 284 Mit dieser scheinbar beiläufigen Geste 281 VS: 58. Und als der Tag vorüber ist, hört der Königssohn schrecklichen Lärm, so dass die ganze Höhle erbebte, als ob sie an einem Faden baumelte. Dort konnte man lauten Lärm hören. 282 McKinnells Feststellung, dass »there is little to distinguish giants from other beings in this saga« (McKinnell 2005: 188) wirkt vor dem Hintergrund einer solch krassen Darstellungen riesischer Fremdartigkeit etwas verwunderlich. 283 VS: 58-59. Er [Aper] nahm Valdimar und setzte ihn sich aufs Knie und sprach: ‚Niemals sah ich ein schöneres, vergleichbar kleines Kind.‘ 284 Schulz untersucht eine vergleichbare Textstelle in der Örvar Odds saga, wo Oddr vom Riesen Hildir als als kögarbarn bezeichnet und zu einem Riesenbaby in die Wiege gelegt wird. Dennoch nützt den Riesen im Folgenden die Stärke des Helden in verschiedenen Konflikten, es entsteht ein »wechselseitiges, einvernehmliches Profitieren von Riese und ‚Wickelkind‘.« Schulz 2004: 255. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 103 verschiebt sich das Verhältnis zwischen dem Saga-Helden und dem monströsen Fremden gleich auf zweifache Weise: Zum einen wird deutlich, wie sehr die Wahrnehmung des Fremden als Monstrum perspektivisch gebunden ist - Aper erscheint dem körperlich kleineren Valdimar als erderschütternder Normbruch, während der ‚winzige‘ Ritter für Aper nur ein Kind sein kann, läge doch ein erwachsenes Gegenüber dieser Größenordnung außerhalb der Normen der Riesenwelt. Zum anderen wird die Grenze zwischen Valdimar und der für ihn fremden Riesenfamilie mit der Geste des Auf-die-Knie-Setzens durchbrochen, denn dieser Akt ist zugleich auch als symbolische Handlung für die Anerkennung als Ziehsohn semantisiert. 285 Somit tritt Valdimar in den Kreis der Riesenfamilie ein. Nachdem Apers Auftritt zunächst als drohender Zusammenprall der Welten inszeniert wird, kommt es stattdessen zu einer Angleichung: Aus dem höfischen Helden, der in die hybride Riesenwelt mit Zügen von Hof und Wildnis eintritt, ist selber eine hybride Erscheinung geworden. Dieser Vorgang setzt sich im Kontakt mit den übrigen Mitgliedern der Riesenfamilie fort, was weiter unten ausgeführt wird. Auch Aper steht Valdimar im Folgenden als Helfer zur Seite. Seine konkreten Funktionen bestehen darin, dass er Valdimar in einer ausführlichen Rückblende- Erzählung über Königin Lúpa und ihre Machenschaften aufklärt und schließlich als Anführer jenes Heeres von Riesen fungiert, das Valdimar später in Risaland zu Hilfe kommt. 286 Hierbei wendet sich Alba zweimal mit einer formelhaft vorgetragenen Bitte an ihren Vater, um ihn dazu zu bewegen, Valdimar zu helfen: »þa er mjn modjr var ut boren jatadir þu mer eina bæn. þa bidr eg þig at þu reidjzt mer eigi edr mjnnj tiltekiu.« 287 - so lautet die Einleitung ihrer Bitte, Valdimar bei sich aufnehmen zu dürfen. Etwas später heißt es mit ähnlichem Impetus: »jatadir þu mer þvj siduzt- Auch in der Valdimars saga treten Held und Riesen in einen für beide Seiten günstigen Austausch, kann Valdimar seine Queste doch nur mithilfe der Riesensippe bestehen, während die Riesentochter Alba zum Schluss durch seine Vermittlung einen königlichen Ehepartner findet. Es ist keine Singularität dieser Saga, dass eine fruchtbare Interaktion mit dem Monströsen möglich ist, sondern durchaus ein lebendiger Topos, der in verschiedenen Texten der altnordischen Literatur aufgegriffen wird. 285 Man betrachte in diesem Kontext z. B. die folgende Szene aus der Haralds saga hárfagra: »Börn Haralds konungs voru þar hver upp fædd sem móðerni áttu. Guttormur hertogi hafði vatni ausið hinn elsta son Haralds konungs og gaf nafn sitt. Hann knésetti þann svein og fóstraði ok hafði með sér í Vík austur.« (Die Kinder König Haralds wurden dort aufgezogen, wo sie ihre mütterliche Sippe hatten. Herzog Guttormur hatte den ältesten Sohn König Haralds mit Wasser begossen und gab ihm seinen Namen. Er setzte sich den Knaben aufs Knie und machte ihn zu seinem Ziehsohn und hatte ihn bei sich in Vík im Osten.) Bergljót S. Kristjánsdóttir et al. 1991: 74. Das Aufs-Knie-Setzen und die Anerkennung als Ziehkind gehen hier als zeichenhafter Akt direkt miteinander einher, Valdimar wird also verbindlich in die Welt der Riesen integriert. 286 Hieraus ließe sich spekulativ rückschließen, dass Aper eine herausragende Stellung unter den Riesen genießt und als eine Art Adliger konzipiert ist, so dass es Valdimar hier mit riesenhaftverfremdeten Standesgenossen zu tun hätte. Obgleich diese Konstellation des gespiegelten Adelsstandes reizvoll ist, wird sie vom Saga-Text nicht direkt gestützt, da für Aper niemals ein Titel oder ein vergleichbares Machtattribut angegeben wird, obwohl die Sagaliteratur durchaus das Konzepts des Trollkönigs kennt. Siehe hierzu Abschnitt 6.2.6. 287 VS: 58. Damals, als meine Mutter zu Grabe getragen wurde, hast du mir die Bewilligung einer Bitte zugesagt. Dann bitte ich dich, dass du mir nicht zürnst oder meinem Vorgehen. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 104 um daugum minar modr at þu skylldjr mjnn vilia gera« 288 , woraufhin Aper mit seiner Erzählung beginnt. In beiden Fällen verweist Alba auf das Andenken ihrer verstorbenen Mutter, um ihren Vater Valdimar gewogen zu machen. Die Motivation für den Sinneswandel des zunächst als urwüchsig und gefährlich beschriebenen Riesen besteht also darin, dass seine Tochter ihn mit dem Verweis auf eine Menschenfrau besänftigt. Apers Monströsität einerseits und seine anrührende Bindung an seine menschliche Frau und halb-menschliche Tochter andererseits werden hier scharf miteinander kontrastiert (immerhin erfolgt Albas erste Bitte direkt im Anschluss an seinen erdbebenartigen Auftritt). Somit wird ein Bild des ‚sanften‘ Monsters gezeichnet, das trotz seines erschreckenden Wesens für menschliche Regungen zugänglich ist 289 - nicht umsonst wird von den Riesen der Valdimars saga godmenska als positiver Wert geführt. Das Fremde erweist sich hier als Äußerlichkeit, hinter der der Held Werte des Eigenen erblicken kann. Während Alba als ein hybrider Charakter zwischen Riesen- und Menschenwelt etabliert ist, dessen Verhalten und Äußeres aber überwiegend menschlich sind, gehört Aper äußerlich ganz der wilden, bedrohlichen Riesenwelt an, überrascht den Rezipienten aber durch erstaunlich menschliche Regungen. 5.2.5 Nigra - die Hüterin des Unzugänglich-Fremden Auf Nigra, die Großmutter der Riesenfamilie, trifft Valdimar erst, nachdem er sich bereits zwei Jahre in Albas Gesellschaft aufgehalten hat und von dieser schließlich ermahnt werden muss, seine Queste fortzusetzen. Zusammen mit Alba und Aper begibt sich der Held zum Meeresstrand, wo sich der Felsen erhebt, der Nigras Behausung darstellt. Auf Apers lautes Klopfen hin tritt die Riesengroßmutter aus dem Fels hervor. Im Gegensatz zu ihrem Sohn wird ihr eine ausführlichere Beschreibung gewidmet: »ein kelling suo liot ok leidjlig ful ok fiandlig at einskis mannz auga sa skringiligri skepnu. hun uar j skaurpum skinnstakkj h fdj ollu hæri en risen.« 290 Hier wartet der Sagatext endlich mit allen xenophoben, monströs übersteigerten Attributen auf, die der Rezipient von einem Geschöpf der Riesenwelt erwarten mag. Gleich in dreifacher Hinsicht wird Nigra als Monstrum charakterisiert: Sie ist so hässlich, dass man niemals ein schrecklicheres Geschöpf gesehen hat, wobei ihre Hässlichkeit durch das Adjektiv »fiandlig« einen Teufelsbezug und somit eine deutlich negative 288 VS: 60. Hast du mir in den letzten Tagen meiner Mutter zugesagt, dass du meinen Willen ausführen wolltest. 289 In der modernen Populärkultur entsprechen Gestalten wie Frankensteins Monster oder der Riesenaffe King Kong diesem Konzept. Nach Cohen ist ein Riese »the crushing figure from whose gaze one flees in terror [...] and the mirthful monster in whose embrace one rediscovers a forgotten world of pleasure and consumption. This duality of the giant, this sublime dread crossed with an enjoyment that plants itself deep in the body, is mainly a medieval inheritance.« Cohen 1999: xii. Die Doppelnatur des Riesen, die sich in Aper offenbart, ist also durchaus dem Motiv inhärent. 290 VS: 63. eine Alte, so hässlich und abscheulich, widerwärtig und teuflisch, dass keines Menschen Auge ein erbärmlicheres Geschöpf erblickt hat. Sie trug einen Mantel aus getrocknetem Fell, mit dem Kopf im Ganzen größer als der Riese. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 105 Konnotation gewinnt. Zudem durchbricht ihre Felltracht auch die höfischen Kleidungsnormen und charakterisiert Nigra als kulturfernes Wesen der Wildnis. Schließlich lässt auch ihre Körpergröße alle Normen hinter sich, wobei sie selbst ihren Sohn, den Riesen Aper, überragt. Nigra bildet den Extrempunkt des Monströsen, von allen Riesen ihrer Familie verkörpert sie am deutlichsten die Fremdartigkeit ihrer Welt für den Protagonisten. In diesen Kontext fügt sich auch der weiter oben angesprochene Umstand, dass ihr Lebensraum topographisch von dem der anderen Riesen isoliert ist. In der Begegnung mit Nigra vollzieht sich für Valdimar die Konfrontation mit dem Fremden erneut, nachdem er bereits zwei Jahre in der Höhle der Riesen gelebt und sich in ihre Welt eingefügt hat. Die Wand ihres Felsens, den Valdimar niemals betritt, stellt eine weitere Grenze des Fremden dar, Nigras abstoßendes Äußeres eine fleischgewordene Mahnung, dass sich Valdimar noch immer als Fremder in der Sphäre der Monster aufhält, wo er nicht wirklich heimisch werden kann. Nigras Isolation verdeutlicht somit die unüberwindbare Grenze, die Valdimar trotz aller gemeinsam verbrachter Zeit von den Riesen trennt und deren einzige Konsequenz der Aufbruch des Helden zum weiteren Verfolgen seiner Queste sein kann. Handlungsfunktional kommt Nigra für diese Queste die gleiche Rolle zu, die auch schon Aper ausfüllt: Sie ist eine Helferin des Helden, die jedoch von Alba zur Hilfe angetrieben werden muss. Den größten direkten Einfluss nimmt sie auf Valdimar durch das Verabreichen eines Zaubertranks, bevor dieser nach Risaland aufbricht: kelling stendr þa upp ok gengr jnn j bergit ok kemur ut med eitt horn stort berandj at kongsynj ok bad hann drekka. hann tekr hornet ok drekkr mikjn drykk ok finnr at afl ok orka hleypr j allan hans buk. risadotter þrift til hans ok glima þau sterkliga. lykr suo med þeim at Valldjmar fellr kne. kelling hlær en ok mællte ‚ofsnemma forþu med konurnar liufi mjnn ok drekk betr‘. hann drekkr j annat sinn. þau suipazt þa en sterkliga. þa fellr r(isa)dotter. kelling tekr þa hornet ok sagdj at hann mundj þa suo buit lata uera. hun gengr nu aptr j steinen 291 . Der Trank fungiert zunächst einmal schlicht als Zaubermittel, das dem Helden besondere Kräfte verleiht. Bedenkt man jedoch zusätzlich den narrativen Kontext und die Form der Darreichung, kommt ihm noch eine zusätzliche, entscheidende Funktion zu: Er gleicht Valdimar (zumindest ansatzweise) den Riesen an und macht ihn zu einem Teil ihrer Welt, d. h. er macht die Barriere des Fremden für den Helden weiter durchlässig. Dies zeigt sich darin, dass die Kräfte der Riesin Alba als direkte Bezugsgröße für die Kraftfülle dienen, die Nigra ihrem Menschengast zugedacht hat. 291 VS: 64. Die Alte steht dann auf und geht in den Fels hinein und kommt heraus mit einem großen Horn, es zum Königssohn tragend, und forderte ihn auf zu trinken. Er nimmt das Horn und trinkt einen großen Schluck und bemerkt, dass Kraft und Stärke durch seinen ganzen Körper fließen. Die Riesentochter packt ihn und sie ringen heftig miteinander. Es endet damit, dass Valdimar auf die Knie fällt. Die Alte lacht und sprach: ‚Zu schnell gingst du mit den Frauen, mein Lieber, und trinke besser.‘ Er trinkt ein weiteres Mal. Sie schlagen sich erneut heftig, da fällt die Riesentochter. Die Alte nimmt da das Horn und sagte, dass er es dabei belassen würde. Sie geht nun zurück in den Fels. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 106 Als er Alba im Ringkampf unterliegt, hat er offensichtlich noch keine Riesenkräfte erhalten und folglich nicht genug getrunken. Als er hingegen gewinnt, hat er nachgewiesen, dass er den Riesen nun in Hinblick auf seine Kraft auf Augenhöhe begegnen kann, und Nigra zieht zufrieden mit dem Rest des Trankes von dannen. Während seines zweijährigen Aufenthalts bei der Riesenfamilie wird Valdimar in ihre fremdartige Welt assimiliert, was einen Abschluss und Höhepunkt mit der Zauberwirkung des Trankes findet. 292 Durch seine abnormen Kräfte hat der Held nun selbst zumindest partiell die monströsen Eigenschaften seiner Umgebung angenommen. 293 Nun kann er seine Queste fortsetzen und seiner monströsen Kontrahentin Lúpa in ihr eigenes Reich folgen, das für ihn nicht mehr länger eine undurchdringliche Fremde darstellt. Zugleich gehen mit diesem Wandel auch weitere handlungsfunktionale Konsequenzen einher, die bei der Behandlung der Ereignisse in Risaland aufgegriffen werden sollen. 294 Durch die Begegnung mit Nigra erfährt Valdimars Aufenthalt in der fremdartigen Riesenwelt also gleich zweifach einen Höhe- und Wendepunkt: Zum einen findet seine Integration in die vormals fremde Welt der Monstren mit seinen neugewonnenen riesenhaften Zügen ihren Abschluss. Zum anderen verdeutlicht Nigra durch ihre monströs-überzeichnete Fremdartigkeit und die unzugängliche Isolation ihres Felsens jedoch auch, dass Valdimar trotz aller Annäherung nicht ins Herz der Riesenwelt vordringen kann. Als Beischläfer einer Riesin und Besitzer von Riesenkräften ist er trotzdem nicht vollständig Riese, sondern auch ein Fremder, dessen Welt vor der Felswand endet, wo Nigras Behausung beginnt. Valdimar befindet sich somit in einem in-between space, bei den Riesen aufgenommen und doch nicht vollständig zu ihnen gehörig. Dieser Zustand wird schließlich dadurch aufgelöst, dass er abreist, um seine Queste mit den neugewonnenen Kräften fortzusetzen. Bevor er ein grenzverletzendes Monster stellen kann, musste sich der Held zunächst selbst in einen Grenzgänger verwandeln. Doch beschränkt sich Nigras Funktion in der Saga nicht auf die Verkörperung der fremdartigen Riesenwelt in Relation zum nur partiell integrierten Valdimar. Stattdessen fungiert sie auch als Opponentin und Gegenpart zu Lúpa, mit der sie die zentrale Eigenart gemein hat, eine mächtige Zauberin mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten zu sein. Nigras Verwandlungsgestalt ist hierbei ein Greif, und sie vollzieht 292 »The line between gigantism and knighthood is thin and frequently trespassed.« So spitzt Cohen den Umstand zu, dass zwischen Ritter und Riese im höfischen Diskurs viele Berührungspunkte bestehen - etwa wenn ein Riese ritterlich gerüstet einen Kampf antritt, aber auch auf der ideologischen Ebene, wenn man beispielsweise den Riesen als Verkörperung von unrechtmäßiger Gewalt und Raubrittertum semiotisiert. Cohen 1999: 77. 293 In diesen Komplex mag sich auch die Eigenschaft des von Alba geschenkten Zauberspiegels fügen, den Besitzer bei Bedarf mit erschreckender Hässlichkeit zu schlagen, ihn also zum Monstrum zu machen. Dennoch hat dieses Teilmotiv nicht dieselbe Tragweite wie der Zaubertrank, da die Hässlichkeit zum einen nur eine Teiloption neben besonderer Schönheit darstellt, die ja nicht mit dem Monströsen zu assoziieren ist, und zum anderen die Verwandlung nur temporär begrenzt ist. 294 Siehe Abschnitt 5.3. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 107 die Verwandlung analog zu Lúpa, indem sie sich »gammshamjn« 295 überwirft. Entsprechend heißt es über das Verhältnis der beiden Trollfrauen, »at þar hefir fiandjn funndit modr sina« 296 . Die Redewendung drückt nicht nur aus, dass Nigra ihrer Gegnerin Lúpa an Macht mindestens ebenbürtig ist, sondern besitzt zudem durch das wiederholte Aufgreifen des Begriffs »fiandjn« einen leicht pejorativen Beiklang - trotz aller Nähe des Helden zur Riesenfamilie haben Nigras Trollkünste einen Nimbus des Unheimlichen, Bedrohlichen und verlieren ihre Fremdheit für den Helden wie für den Rezipienten nie vollständig. Neben dem Aspekt der Zauberei ist Nigra mit Lúpa auch durch den Aspekt der Herrschaftsausübung verbunden. Als Valdimar in Risaland Unterstützung durch ein Riesenheer erhält, heißt es, dass Nigra zu diesem Zwecke ein »allra trolla þing« 297 ausgerufen hat. Sie hat also offensichtlich einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf andere Angehörige ihres Volkes und vermag im Bedarfsfall ein Heer zu mobilisieren, als dessen Führer ihr Sohn Aper eingesetzt wird. Von einer Königsherrschaft oder einem entsprechenden Titel Nigras ist darüber hinaus jedoch nicht die Rede, und auch der Ablauf des angedeuteten Trollthings wird nicht näher ausgeführt. Die Parallele in der Rolle als Herrscherin beschränkt sich entsprechend auf den Umstand, dass Nigra ein Heer aufbieten kann. Dennoch lässt sich an diesem Teilaspekt ein zentraler Unterschied der beiden Figuren aufzeigen: Nigra handelt in ihrer herrschenden Funktion trotz ihres monströsen Äußeren in keiner Weise hybrid. Sie bewegt sich komplett in den Instanzen und Strukturen ihrer eigenen Welt (das ominöse Trollthing! ) und steht nicht, wie Lúpa, zwischen Menschenreich und Trollwelt oder den Rollenmustern als Königsgemahlin und energischer Alleinherrscherin. Nigra ist äußerlich deutlich monströser gezeichnet als ihre Opponentin und entsprechend ihrem Wesen und Verhalten nach eindeutig der Riesenwelt zugehörig. Sie ist eher eine Grenzbewahrerin (Valdimar muss außerhalb ihres Felsens bleiben) als eine Grenzdurchbrecherin. 298 Lúpa hingegen bewegt sich, wie weiter oben beschrieben, gleich mehrfach zwischen den Welten und stellt somit trotz ihrer äußerlich zentralen Position als Königin eines eigenen Hofes ein Monstrum im Sinne eines hybriden Grenzgeschöpfes dar. Gegen Ende der Saga, als Lúpa schon besiegt ist und alles auf die obligatorischen Abschlusshochzeiten hinaus läuft, erfährt der Rezipient aus Apers Munde eine brisante Begebenheit aus Nigras Vergangenheit: »hun [Alba] er mjn dotter en hennar modjr uar dotter kongs af Smalandj er Gallo het. soktj modjr mjn hana a þann hatt 295 VS: 75. die Greifenhaut. 296 VS: 66. dass dort der Teufel seine Mutter gefunden hat. 297 VS: 73. Thing aller Trolle. 298 Diese Funktionalisierung wird partiell dadurch durchbrochen, dass sie Valdimar den Trank überreicht, der für ihn die Grenze zur Riesenwelt durchlässiger macht. Sie holt jedoch den Trank aus der unzugänglichen Fremdheit ihres Felsens hervor, wodurch zugleich verdeutlicht wird, dass sie die Mächte einer Anderwelt hütet, die für den Helden nicht komplett zu verstehen oder gar zu bewältigen ist. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 108 sem Lúpa soktj Marmoriu« 299 . Albas Mutter war also die Tochter eines Menschenkönigs, die von Nigra aus dem ihr angestammten Bereich des Hofes von Smaland entführt wurde. Der direkte Verweis auf Lúpa macht deutlich, dass dies analog zur Entführung Marmórias geschehen ist, also in der Gestalt eines monströsen Angreifers durch das Anlegen der gammshamr. Diese zusätzliche Parallele zwischen Nigra und Lúpa, die mit trügerischer Beiläufigkeit erwähnt wird, hat weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung der gesamten Saga-Handlung. Immerhin besteht der Kern des Plots darin, dass Valdimar als Verteidiger des Hofes gegen Lúpa vorgeht, die sich durch die Entführung Marmórias als inakzeptable Bedrohung der Ordnung konstituiert hat. Nachdem nun alle Kämpfe geschlagen sind, Lúpa ihrer Strafe zugeführt wurde und die Geschwister wieder vereint sind, erfährt der Rezipient, dass eine der zentralen Helferfiguren des Helden einstmals genau jenen Ordnungsbruch begangen hat, der zum Motor der ganzen Handlung wurde. Mehr noch: Valdimars zentrale Helferin Alba verdankt ihre schiere Existenz der Entführung ihrer menschlichen Mutter, und einzig ihre Fürsprache mit Verweis auf ebendiese Mutter sichert Valdimar die Unterstützung der bedrohlichen Riesenfamilie. Anders formuliert: Der Held, der auszieht einen Ordnungsbruch zu bereinigen, kann seine Queste nur erfolgreich beenden, indem er auf Helfer zurückgreift, die als Repräsentanten desselben Ordnungsbruchs betrachtet werden müssen. Vor diesem Hintergrund erscheint das gesamte Unternehmen des Helden fragwürdig, und sein Kampf gegen die chaotischen Kräfte des fremden Außenraums erweist sich als eine bloße Frage der Perspektive. Was für Lúpa eine ordnungsstiftende Maßnahme zur Sicherung ihres Hofes ist, wirkt sich für die Bewohner Saxlands als ordnungszerrüttender Angriff von außen aus. Was für Valdimar als eine wohlgeordnete Familie von Helfern erscheint, ist in Wahrheit das Ergebnis eines Aktes, der einst wohl für König Gallo von Smaland (und seine direkt betroffene Tochter! ) einen beträchtlichen Ordnungsbruch dargestellt hat. Obgleich sie auf der Seite des höfischen Helden steht, ist das ‚menschenfreundliche Monster‘ Nigra nicht grundsätzlich von der Antagonistin Lúpa verschieden - sie ist lediglich erfolgreicher, denn ‚ihre‘ geraubte Prinzessin wurde offensichtlich nicht vorzeitig gerettet. Diese Enthüllung wird nicht von ungefähr ganz am Ende der Saga gemacht, nachdem der zentrale Konflikt beigelegt ist und einem allumfassenden Happy End nichts mehr im Wege zu stehen scheint. Durch diesen erzählerischen Kunstgriff wird das gesamte erfolgreiche Unternehmen des Helden rückwirkend in seiner Legitimation in Frage gestellt, hat der vermeintliche Verteidiger der Ordnung doch in Wahrheit nur einen punktuellen Standpunkt unter vielen verteidigt - die Prinzessinnenräuberin Lúpa ist besiegt, doch nur durch die Hilfe der Prinzessinnenräuberin Nigra. Dadurch wird das Erzählprojekt der Saga in den letzten paar Zeilen vor Ende in ein gänzlich neues Licht getaucht und deutlich gemacht, dass eine Positionierung des Helden in einem dichotomen Wertesystem aus ordnungsstiftenden höfischen und 299 VS: 76. Sie [Alba] ist meine Tochter und ihre Mutter war die Tochter des Königs von Smaland, der Gallo hieß. Meine Mutter hat sie auf dieselbe Art geraubt, wie Lúpa Marmória geraubt hat. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 109 ordnungsbedrohlichen nicht-höfischen Kräften zum Scheitern verurteilt ist. Die erzählte Welt der Saga erweist sich als deutlich komplizierter und facettenreicher als dieses simple Modell, auf dessen falsche Fährte der Rezipient zu Beginn der Handlung durch den vermeintlich klaren Sachverhalt des Angriffs eines Drachen auf einen Königshof gebracht wird. Die Figur Nigra gewinnt hierdurch auch auf der discours- Ebene einen monströsen Zug, wirkt sich doch ihr Ordnungsbruch nicht nur innerhalb der erzählten Welt aus, sondern dient zudem als überdeutliches Mahnzeichen (monstrum! ) dafür, dass das Erzählvorhaben einer Rittergeschichte mit ‚klaren Verhältnissen‘ schließlich vor der (monströsen? ) Komplexität der Welt kapitulieren muss. 5.2.6 Nissus - das Monstrum als ewiger Grenzgänger Im Vergleich zur zentralen Gestalt der Riesin Nigra scheint das letzte namentlich erwähnte Mitglied der Riesenfamilie zunächst eher marginal positioniert zu sein: Die Rede ist von Apers Sohn Nissus, bei dem es sich um ebenjenen Glatzkopf handelt, der Valdimar den Weg in die Welt der Riesen weist. Die Beschreibung seines Äußeren weicht signifikant von dem seiner Verwandten ab: »hann uar kollottr ok eckj stor uexti« 300 . Der erstgenannte Umstand der Glatzköpfigkeit steht dem Gesamtbild der Riesenfamilie nicht entgegen, wenn er auch einen Gegenpol zu Albas übermäßig wucherndem Haarwuchs bildet. Die Umschreibung »eckj stor uexti« jedoch fällt durch eine direkte Verneinung aus der Betonung besonderer Körpergröße heraus, die für sämtliche anderen Familienmitglieder eine Gemeinsamkeit darstellt. 301 Diese Sonderstellung der Figur setzt sich auch auf anderen Ebenen fort: Nissus ist räumlich nicht in der gemeinsamen Behausung der Riesenhöhle verortet, besitzt aber auch keinen eigenen Lebensbereich wie seine Großmutter Nigra. Stattdessen scheint er beständig unterwegs zu sein. Valdimar begegnet ihm zum ersten Mal im Wald. Am Abend verschwindet er mit Valdimars Pferd im Gehölz, um erst zwei Jahre später mit diesem wieder aufzutauchen, als Valdimar gerade bei Nigra vorspricht. Auch er erfüllt eine Helferfunktion für den Helden, unterscheidet sich jedoch von den anderen riesischen Helfern dadurch, dass er nicht etwa im Bereich der Riesenwelt zurückbleibt, sondern zusammen mit Valdimar in einem Steinkahn nach Risaland übersetzt. Hier lässt er den Helden in einem magisch geschützten Erdhaus zurück, um im Folgenden rastlos auf Erkundungen auszuziehen und diverse Besorgungen für Valdimars Queste zu erledigen. Ein charakteristischer räumlicher 300 VS: 56. Er war kahlköpfig und nicht groß an Wuchs. 301 Es wäre zu überlegen, ob der kleine Wuchs in Verbindung mit dem Kriterium der Kahlköpfigkeit ausreichen, um Nissus mit den typischen Topoi der Zwerge in Verbindung zu bringen, die sich für gewöhnlich ebenfalls durch geringe Körpergröße und Unansehnlichkeit auszeichnen. Wenn diese Deutung tragfähig ist, würde Nissus’ Entfremdung von den übrigen Familienmitgliedern so weit reichen, dass er in eine andere Klasse von Wesenheiten der niederen Mythologie transferiert wäre. Allerdings wird dieser Ansatz vom Text nicht weiter gestützt. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 110 Bezugspunkt ist mit dieser höchst dynamischen Gestalt nicht verbunden, der ihr zugeschriebene Bereich scheint die konstante Bewegung zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Nissus’ familiärer Einbindung. Während Albas Herkunft als Tochter eines Riesen und einer Menschenfrau eindeutig geklärt ist und Aper und Nigra ebenfalls ein klar umrissenes Verwandtschaftsverhältnis innerhalb ihrer Riesensippe aufweisen, bleibt es in Nissus’ Falle unklar, wie genau er sich in den Kontext der Familie einfügt. Hat er dieselbe Mutter wie Alba oder entstammt er einer anderen Verbindung? Über sein Verhältnis zu seinen Verwandten heißt es lediglich: » (isinn) heilsar þar sinum synj en r(isa)d(otter) sinum brodr.« 302 Er ist also als Sohn bzw. Bruder in die Familienstruktur integriert, wobei aber, im Gegensatz zu Alba, nichts an ihm auf die höfische Herkunft eines Elternteils hinweist, so dass seine Abstammung zumindest mütterlicherseits ungeklärt bleibt. 303 Am Ende der Saga wird er entsprechend auch übergangen, wenn Valdimar und seine Helfer standesgemäß verheiratet werden. Während Alba trotz ihrer halb-riesischen Herkunft als neue Gemahlin für König Arkistratus taugt, existiert kein weiblicher Gegenpart zu Nissus, dessen treue Dienste letztendlich unbelohnt bleiben. Diese Dienste umfassen vor allem diverse Boten- und Erkundungsgänge für Valdimar in Risaland: Er lockt die beiden Prinzessinnen Florida und Marmória in der Gestalt eines harfespielenden Jünglings in den Wald und somit in Valdimars Einflussbereich; anschließend verfährt er ähnlich mit Prinz Blabus, dem er in dieser Gestalt eine Herausforderung zu einem Kampf überbringt, der schließlich mit der Schwurbrüderschaft der beiden Prinzen endet. 304 Während sich Valdimar und seine jungen Standesgenossen in einem verborgenen Erdhaus im Wald versteckt halten, bricht Nissus immer wieder auf, um Lúpas weiteres Vorgehen auszukundschaften. Auch während dieser Phase der Handlung ist sein dynamisches Herumstreifen deutlich von der Statik der Szenerie im Erdhaus abgegrenzt, wie er auch schon zuvor von den Bewohnern der Riesenhöhle abgegrenzt war. Dabei erwähnt Nissus einmal über die Art seiner Erkundigungen: »leingstum er eg vm daga hia Lvpa d(rottningu). þickj mer þat mickjt gaman at hennar radagiord« 305 . Wie ist dieser Aufenthalt bei Königin Lúpa zu verstehen, die ja eigentlich die Antagonistin Valdimars und Nissus’ darstellt? Soll hier angedeutet werden, dass Nissus sich als eine Art Spion im direkten Umfeld der Gegnerin aufhält? Dem steht allerdings entgegen, dass Lúpa zuvor in einer Aufzählung der Mitglieder der verfein- 302 VS: 64-65. Der Riese begrüßt dort seinen Sohn und die Riesentochter ihren Bruder. 303 Man könnte höchstens seine nicht-riesenhafte Körpergröße als Beleg einer möglichen menschlichen Herkunft deuten, was allerdings im Text nicht explizit formuliert wird. 304 Dass Nissus mit dem besagten Harfenspieler identisch ist, geht aus dem Text nicht mit völliger Eindeutigkeit hervor, da die entsprechenden Szenen aus der begrenzten Perspektive der neugierigen Königskinder erzählt werden. Die Folgerung liegt jedoch nahe, da Nissus sich stets im Anschluss an die Harfenspieler-Szenen an Valdimar wendet, um ihn von dem Vollbrachten in Kenntnis zu setzen. Zudem stellt sein Harfenspiel natürlich auch eine Parallele zu dem seiner Schwester Alba dar. Vgl. VS: 66-72. 305 VS: 72. Meistens bin ich den Tag über bei Königin Lúpa. Es macht mir großen Spaß bei ihrer Regierungstätigkeit. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 111 deten Riesenfamilie auch Nissus erwähnt, ihn also ausdrücklich zu kennen scheint. Eine mögliche Täuschung der Königin durch Nissus wird im Text nicht ausgeführt, wenn auch sein Auftreten als jugendlicher Harfenspieler eine gewisse Verwandlungsfähigkeit impliziert. Oder ist die Selbstaussage so zu deuten, dass Nissus ebenso zu Lúpas Bereich wie in Valdimars Gefolge gehört, also in seiner Zuordnung zu den entgegengesetzten Sphären der Saga eine zwiespältige Doppelnatur offenbart? Mit seinem Handeln unterstützt er jedoch ausschließlich Valdimar, er wird niemals im Sinne Lúpas tätig, erscheint also parteilich gebunden. Da Nissus’ Verhältnis zu Lúpa im übrigen Text nicht weiter thematisiert wird, lässt sich die Aussage letztlich nicht eindeutig fassen. Sie fügt dieser dynamisch-wechselhaften Figur einen weiteren Aspekt hinzu, der ihre klare Zuordnung zusätzlich erschwert. Während Alba und Aper als Hybridgestalten verschiedene Mischverhältnisse von Elementen des Monströsen und des Höfisch-Eigenen repräsentieren und Nigra als die zum Körper gewordene Fremdheit der Riesenwelt erscheint, verkörpert Nissus den nicht greifbaren, stets entgleitenden Aspekt des Fremden. Er ist weder bei seinen riesischen Verwandten noch anderenorts zu Hause und ständig in Bewegung, entspricht mit seiner körperlichen Erscheinung nicht dem sonstigen Bild der Riesenwelt und wird auch bei den integrativen Verheiratungen am Ende der Saga übergangen. Als ewiger Grenzüberschreiter, der letztlich nirgendwo ankommt, erscheint er als herumstreunendes Monstrum, eine immer wieder in Erscheinung tretende Mahnung im Text, dass sich in der erzählten Saga-Welt keineswegs alles an seinen angestammten Platz fügt, sondern auch Elemente existieren, die nicht widerspruchsfrei ins Weltgefüge passen. 5.2.7 Risi, tr ll, j tunn und andere - eine Nomenklatur zur Kategorisierung des Monströsen In Ihrer Riesen-Monographie geht Schulz u. a. auf die verschiedenen Bezeichnungen wie j tunn, risi oder tr ll ein, mit denen diese Wesen in der altnordischen Literatur belegt werden. Ihren Ausführungen zufolge »kann von einer einheitlichen Verwendung der Termini keine Rede sein, eher scheint die Bevorzugung des einen oder anderen Riesen-Wortes auf die Vorlieben des Erzählers zurückzuführen zu sein.« 306 Dennoch stellt Schulz zumindest gewisse Tendenzen fest, inwiefern ein bestimmter Begriff im Kontext einer bestimmten Literaturgattung eher als Gattungsbezeichnung für eine Klasse übernatürlicher Wesenheiten dient oder als Zuweisung gewisser damit konnotierter Eigenschaften Verwendung findet. Auch wenn die originalen Riddarasögur dabei nicht ins Korpus der Untersuchung aufgenommen wurden, können Schulz’ Ergebnisse für andere Genres der altnordischen Literatur als Hintergrund für die folgende Analyse herangezogen werden, insbesondere, da auch die nah verwandten Fornaldarsögur berücksichtigt wurden. Die Frage, inwiefern Trolle und Riesen durch die Verwendung einer bestimmten Nomenklatur in der Literatur kategorisiert werden, ist für den vorliegenden Kontext insofern von besonderer Re- 306 Schulz 2004: 36. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 112 levanz, als der Versuch der treffenden Benennung und Kategorisierung eine der grundlegenden Strategien im Umgang mit dem potentiell bedrohlichen Fremden darstellt. Wie also werden die Repräsentanten der monströsen Riesenwelt in der Valdimars saga benannt? Ein erster, flüchtiger Blick auf den Text scheint Schulz’ These von der uneinheitlichen Verwendung der Begriffe zu bestätigen: Die Bezeichnungen risi, tr ll und j tunn werden in der Saga nebeneinander verwendet, wobei teilweise innerhalb derselben Szene ein und dasselbe Wesen mit unterschiedlichen Begriffen bedacht wird. Bei den weiblichen Vertretern der Riesenwelt herrscht eine ähnliche Buntheit vor, hier lassen sich die Begriffe flagð, tr ll und risadóttir ausmachen. Hinzu kommt, dass Riesen zuweilen auch nach ihrer geschlechtlichen Identität bzw. ihrer Rolle im Familienverband mit menschlichen Begriffen wie maðr, kona, kelling, faðir oder bróðir benannt werden. Doch wird diese Vielzahl von Bezeichnungen tatsächlich ausschließlich synonym verwendet, eine bloße sprachliche Variation zur Erzeugung von Abwechslung? Die nähere Analyse einzelner Textpassagen zeigt, dass die Valdimars saga keineswegs willkürlich auf das Spektrum der riesenhaften Begrifflichkeiten zurückgreift, sondern die einzelnen Begriffe jeweils mit einer spezifischen narrativen Funktion verbindet. Als Ausgangspunkt, der zur neutralen Bezeichnung der Sache dient, scheint hierbei der Begriff risi zu fungieren, mit dem insbesondere Aper zumeist bezeichnet wird und der zudem von allen verwendeten Begriffen mit der größten Häufigkeit im Text erscheint. Hierzu fügt es sich auch, dass Apers Tochter Alba standardmäßig in einer Abwandlung dieses Begriffs mit dem Kompositum risadóttir bezeichnet wird. Nach Schulz kommt in der altnordischen Literatur insbesondere dem Begriff j tunn die Funktion einer neutralen, weder positiv noch negativ konnotierten Riesenbezeichnung zu. Dieser Begriff ist zugleich stark mit den mythologischen Riesengeschöpfen der Edda verbunden. 307 Der in der Valdimars saga verwendete Begriff risi hingegen ist nach Schulz eher ein Spezifikum der Übersetzungsliteratur, wo er insbesondere für das lateinische gigas steht. In inhaltlicher Hinsicht geht damit eine Neuinterpretation der Riesenvorstellung einher: Risi impliziert eher ein Mitglied eines hochgewachsenen klassisch-antiken Wundervolkes und nimmt deutlich weniger auf die Riesengestalten der einheimisch-norrönen Mythologie Bezug. 308 Diese Deutungen Schulz’ stimmen insofern mit dem Befund in der Valdimars saga überein, als diese ins Genre der originalen Riddarasögur gehört und somit indirekt der höfischen Übersetzungsliteratur verpflichtet ist. Die standardmäßige Verwendung des Wortes risi überrascht in diesem Kontext nicht. Jedoch weisen die Riesen der Valdimars saga als zaubermächtige Bewohner der Berge von Saxland Züge auf, die an die einheimisch-norrönen Riesenvorstellungen angelehnt sind. Somit liegt eine Mischkonstellation vor: Ein Terminus, der im Kontext der höfischen Übersetzungsliteratur ins 307 Vgl. ebd.: 42. 308 Vgl. ebd.: 44. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 113 Altnordische eingewandert ist, wird als neutrale Bezeichnung für eine Riesensippe verwendet, deren Lebensart in der einheimischen Überlieferung verwurzelt ist. 309 Eine markante Abweichung von diesem Benennungsschema liegt vor, wenn beschrieben wird, wie Valdimar zum ersten Mal auf Aper trifft. »Risen tekr sina dottr j sinn fadm« 310 , heißt es hier zunächst über Aper, der nach Hause zurückkehrt und seine Tochter begrüßt. Nur wenige Sätze später jedoch wird berichtet, dass Valdimar »fyrir þetta troll« 311 geführt wird, als Alba ihn ihrem Vater vorstellen will. Die erste Konfrontation des Helden mit dem monströsen Herrn der Höhle, dessen erdbebenartigen Auftritt er zuvor miterlebt hat, stellt eine Situation des bedrohlichen Ungewissen dar - noch ist unklar, wie der riesenhafte Fremde letztlich auf Valdimars Anwesenheit reagieren wird. Der Begriff tr ll scheint in diesem Kontext mit einer potentiell pejorativen Konnotation aus der Perspektive des Helden heraus verwendet zu werden, der in Aper zunächst primär das Monster sieht. Dies fügt sich zu Schulz’ Beobachtung, »dass tr ll auch im Sinne einer Eigenschaftszuweisung verwendet werden konnte, die auf eine mehr oder weniger ausgeprägte ‚Trollhaftigkeit‘ verwies.« 312 Der Terminus tr ll bezeichnet also nicht zwangsläufig einen Riese bzw. eine bestimmte Art von Ungeheuer, er kann ebenso gut die Funktion besitzen, einer Figur besondere Monströsität zuzusprechen. 313 Nachdem Valdimar jedoch von Aper gastlich aufgenommen wurde, wird der Begriff nicht wiederholt, und es ist stattdessen wieder von einem risi die Rede, so etwa bei der nächsten darauf folgenden Erwähnung Apers im Text: »tekur (isi) j haund kongsynj« 314 . Die Verwendung der unterschiedlichen Bezeichnungen für die Bewohner der Riesenwelt scheint in der Valdimars saga also nicht direkt an unterschiedliche Klassen von Wesenheiten gebunden zu sein oder willkürlich zu erfolgen, sondern von der aktuellen Rolle der bezeichneten Figur in der Handlung abzuhängen: Aper als Vater und Gastgeber wird neutral als risi bezeichnet, wenn er jedoch als potentielle Bedrohung zum ersten Mal vor Valdimar aufragt, wird er aus der Sicht des Helden als tr ll wahrgenommen. Diese semantische Aufteilung der Begriffe lässt sich auch in den übrigen Szenen der Saga nachverfolgen, in denen der Terminus tr ll verwendet wird. So ist zum 309 Schulz weist darauf hin, dass diese Angleichung des risi an einheimische Traditionen in der Snorra Edda durch das Kompositum bergrisi geleistet wird: »Angesichts der breiten Tradition, die riesische Figuren mit Fels und Stein assoziiert, übernahm Snorri den Terminus und setzte den ‚Riesen‘ gewissermaßen in eine ihm gemäße Umgebung - so wurde aus dem risi ein bergrisi.« Schulz 2004: 45. In der Valdimars saga liegt eine vergleichbare Angleichung der Vorstellungen vor, wobei allerdings auf die sprachliche Konkretisierung durch das Element bergverzichtet wird. 310 VS: 58. Der Riese nimmt seine Tochter in die Arme. 311 VS: 58. vor diesen Troll. 312 Schulz 2004: 46. 313 Nach Schulz bezieht sich tr ll in mehr als 70% der Nennungen in den Fornaldarsögur und über 60% der Nennungen in den Islendingasögur nicht auf ein konkretes, riesenhaftes Ungeheuer, sondern wird im übertragenden Sinne zur Charakterisierung durch besondere Monströsität gebraucht, z. B. bei einer zauberkundigen Frau oder bei dem unheimlichen Widergänger-Kalb in der Eyrbyggja saga. Vgl. Schulz 2004: 45-46. 314 VS: 59. Der Riese nimmt den Königssohn bei der Hand. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 114 einen bei Arkistratus’ erster Begegnung mit Lúpa davon die Rede, dass die Leute in ihrem Gefolge »trollum likara en menszkum monnum« 315 sind - auch hier erscheint der Begriff also in einer potentiell bedrohlichen Situation, in diesem Fall bei einer Waldbegegnung, die letztendlich auf das Eindringen Lúpas in Arkistratus’ Königreich hinausläuft. Als Nigra ihr Heer gegen Risaland sammelt, ist zum anderen davon die Rede, dass sie zu diesem Zweck ein »allra trolla þing« 316 einberuft, wobei ihr Sohn Aper der »forstiore þessara trolla« 317 wird. Auch in diesem Kontext erscheinen die als tr ll bezeichneten Wesen in einer (aus der Perspektive Risalands heraus) bedrohlichen Situation, nämlich in ihrer Rolle als Invasoren. Zudem wird im Anschluss berichtet, dass außer Riesen auch »adrar skringiligar skepnur« 318 im Heer versammelt sind. Hier greift somit der erweiterte semantische Rahmen des Begriffs, der sich neben konkreten Riesengeschöpfen eben auch auf ‚Ungeheuerlichkeiten‘ allgemeinerer Art beziehen kann. Auch Nigra wird einmal als tr ll benannt. Dies geschieht in einem Ausspruch ihrer Widersacherin Lúpa, die sie als »hueriu trolli armarj« 319 bezeichnet - hier ist die intendierte Bedrohlichkeit der tr ll-Benennung bereits in dem pejorativen Adjektiv armr angelegt. Schließlich erscheint Lúpa selbst in der Rolle des tr ll: Nicht nur wird ihre Zauberkunst topisch als »trolldomj« 320 bezeichnet, sondern es heißt zudem über Lúpa und Nigra, die sich in verwandelter Gestalt bekämpfen: »þvj næst falla þesse troll njdr a j rd bædj« 321 . Auch in diesem Kontext ist die bedrohliche Monströsität der in verwandelter Gestalt kämpfenden Trollfrauen überdeutlich. Während risi in der Valdimars saga den Riesen per se bezeichnet, charakterisiert tr ll ihn stets in einer Rolle als Monstrum. Neben diesen beiden deutlich gegeneinander abgrenzbaren Begriffen existiert in der Saga mit j tunn noch eine weitere Benennungsvariante. Sie erscheint nur an vier Stellen im Text: Zum einen heißt es über das Riesenheer unter Apers Führung, dass man »ma þar sia margan tujhaufdadan jotun i þeirra flokkj.« 322 Einige Sätze später findet sich eine fast formulierungsgleiche Wiederholung: »mattj þar sia margan ogrligan jotun med tueimr eda þrimur haufdunum ok adrar skringiligar skepnur.« 323 Zum anderen kommt es in der Schlacht zwischen den angreifenden Riesen und Arkistratus’ Heer zu der Situation, dass Lúpa in Drachengestalt in den Kampf eingreift, »spyiandj eitri jotna lydin« 324 . Ein wenig später werden die gefallenen Riesen 315 VS: 61. Trollen ähnlicher als menschlichen Männern. 316 VS: 73. Thing aller Trolle. 317 VS: 73. Anführer dieser Trolle. 318 VS: 73. andere schreckliche Geschöpfe. 319 VS: 69. niederträchtiger als jeder Troll. 320 VS: 63. Zauberei [wortwörtlich: Trolltum]. 321 VS: 75. Danach fallen diese Trolle beide auf die Erde nieder. 322 VS: 73. Man kann dort manchen zweiköpfigen Riesen in dieser Schar sehen. 323 VS: 73. Man konnte dort manchen furchterregenden Riesen mit zwei oder drei Köpfen sehen und andere schreckliche Geschöpfe. 324 VS: 74. Gift auf die Schar der Riesen speiend. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 115 durch Nigras Zauberkraft wiederbelebt: »allir jotnar þeir er daudir lagu standu nu vpp ok berjazt j akafa.« 325 Der Begriff j tunn wird also nie mit den riesischen Hauptfiguren der Saga in Verbindung gebracht, sondern ausschließlich für die Menge der namenlosen Riesen in Apers Heer verwendet. Dabei ist auffällig, dass gerade den als j tnar bezeichneten Riesen durch ihre Zwei- oder gar Dreiköpfigkeit ein besonderer Grad an Monströsität zu eigen ist, der bei der Charakterisierung der Riesen-Hauptfiguren in dieser Form nicht zum Tragen kommt. 326 Der Begriff lässt sich also in der Erzählwelt der Valdimars saga auf eine Gruppe besonders fremdartiger Riesen einengen, die im Kollektiv auftreten und handlungsfunktional die Rolle von bedrohlichen Angreifern haben, dabei jedoch auf der Seite des Protagonisten in Risaland einfallen. Der Begriff j tunn, der im eddischen Kontext nach Schulz eher eine neutrale Gattungsbezeichnung der Riesen darstellt, hat also in der Valdimars saga eine Bedeutungsverschiebung hin zu ‚Riese von besonderer Monströsität‘ erfahren, während der Begriff risi seine Stellung als nicht-wertende Riesenbezeichnung eingenommen hat. Insgesamt betrachtet lässt das Bedeutungsfeld risi - tr ll - j tunn eine klare Abgrenzung zu: Die riesenhaften, aber menschlich gezeichneten Helferfiguren in Valdimars Umfeld werden als risi bezeichnet und durch diese Nomenklatur von den bedrohlichen j tnar abgegrenzt, die Aper in seinem Heer versammelt hat. Der Begriff tr ll hingegen ist weniger statisch und bezieht sich vielmehr darauf, dass der so bezeichneten Figur in ihrer aktuellen Rolle in der Handlung eine besondere Monströsität oder Bedrohlichkeit zugesprochen wird. Diese Form der Benennung geht eng mit der Darstellung der Riesen als Verkörperung des Fremden und Monströsen einher. Zum einen ist der Grad der Fremdartigkeit innerhalb der Riesenwelt durch die unterschiedlichen Termini in sich abgestuft - die risar, mit denen Valdimar jahrelang zusammenlebt, sind z. T. schon zu seinem Eigenem geworden (spätestens nach dem Konsum des Zaubertranks), während die j tnar mit ihrem monströsen Äußeren weiterhin die unzugängliche Fremdheit der Riesenwelt repräsentieren. Folgerichtig interagiert der Protagonist auch niemals direkt mit ihnen, es ist an Nigra, die ja ebenfalls die fremdartigen Aspekte der Riesenwelt verkörpert, sie für seine Sache zu mobilisieren. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Kontext dem Terminus tr ll als Zeichen für Monströsität und Fremdheit zu. Der Begriff macht durch seine wechselnde Vergabe deutlich, dass die Erfahrung des Fremden in der Valdimars saga eng an die Perspektive des Betrachtenden gebunden ist: Aper ist nicht per se ein tr ll, sondern aus der Sicht des Eindringlings Valdimar heraus, der zum ersten Mal solch einem gewaltigen Vertreter der Riesenwelt gegenübersteht. Analog hierzu wird selbst die fremdartige Nigra nicht im Sinne einer allgemeingültigen Feststellung als tr ll bezeichnet, sondern aus der Sicht ihrer Feindin Lúpa heraus, deren Pläne sie zu durchkreuzen droht. Die stark kontextabhängige Verwendung des Begriffs macht auch auf der sprachlichen 325 VS: 74. Alle Riesen, die dort tot darniederlagen, standen nun auf und kämpften mit Hitzigkeit. 326 Eine Ausnahme hiervon bildet die durch Hässlichkeitstopoi charakterisierte Nigra, siehe Abschnitt 5.2.5. Nigra wird allerdings auch nicht mit der neutralen Bezeichnung risi belegt. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 116 Ebene deutlich, dass das Eigene und das Fremde im Text nicht als dichotome, absolute Kategorien kontrastiert sind. Stattdessen ist die erzählte Welt der Saga von Unsicherheiten und Grauzonen geprägt, deren Wahrnehmung als fremd oder eigen eine Frage des Standpunkts ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Betrachtung der Bezeichnungen für weibliche Riesen im Saga-Text. Hier ist zunächst das Kompositum risadóttir zu nennen, das ausschließlich für Alba verwendet wird und in seinen semantischen Konnotationen dem Grundwort risi als neutrale Bezeichnung entspricht. Die Hervorhebung des Elements dóttir mag dabei auch dem Umstand geschuldet sein, dass Alba mütterlicherseits von Menschen abstammt und somit eine Riesentochter ist, ohne selber komplett Riesin zu sein - ein zusammengesetzter Begriff, der als direkte sprachliche Entsprechung für ihre hybride Position in der Saga-Welt fungiert. Dieser neutralen Bezeichnung ist der Begriff flagð gegenübergestellt, der ausschließlich zur Charakterisierung von Nigra und Lúpa herangezogen wird - so etwa bei ihrem Endkampf, welcher lange Zeit offen lässt, »huort flagdit driugara mun verda« 327 . Nach Schulz ist dieser Terminus primär auf »übernatürlich begabte Figuren, die negativ gewertet werden« 328 , bezogen und wird in den meisten Fällen explizit für weibliche Wesenheiten gebraucht. 329 Die Verwendung in der Valdimars saga entspricht diesem Schema exakt: Beide als flagð bezeichnete Figuren sind weibliche Zauberwirker, wobei Lúpa vor allem die Rolle einer Antagonistin zukommt. Doch auch Nigra ist als Vertreterin der fremdartig-unzugänglichen Riesenwelt keine unproblematische Figur, was spätestens bei der Erzählung von ihrem Prinzessinnenraub deutlich wird; auch hier ist ein gewisser pejorativer Beiklang also gegeben. Somit entspricht der Begriff flagð auf der weiblichen Seite funktional dem Begriff j tunn auf der männlichen Seite: Er steht für die monströsen Aspekte der Riesenwelt und ist deutlich weiter vom Eigenen des Protagonisten entfernt als der neutrale Begriff risi. Zudem wird, wie weiter oben schon ausgeführt wurde, in der Saga auch der Begriff tr ll vereinzelt für weibliche Riesen verwendet, und zwar ausschließlich dann, wenn sie als monströse Bedrohung auftreten. Dieser Begriff fällt semantisch weitestgehend mit flagð zusammen, denn im Gegensatz zu den männlichen Riesen kommt es bei den weiblichen Pendants nicht zu der Situation, dass ein und dieselbe Figur je nach Kontext pejorativ oder mit einem neutralen Begriff bezeichnet würde. 330 Es kann also ein Bedeutungsfeld risadóttir - tr ll - flagð für die Bezeichnung von weib- 327 VS: 75. welches Trollweib mächtiger sein wird. 328 Schulz 2004: 48. 329 Vgl. ebd.: 47-48. 330 Ein vergleichbares Phänomen liegt vielleicht damit vor, dass Nigra bei ihrer ersten Begegnung mit Valdimar, als sie primär in der Rolle der Helferin auftritt, konsequent nur mit der unspezifischen Bezeichnung kerling beschrieben wird, die ihre Riesennatur nicht direkt benennt und somit als Ersatz für eine fehlende Riesinnenbezeichnung ohne pejorativen Beiklang betrachtet werden könnte (der Sonderfall risadóttir kommt ja für Nigra nicht in Frage, da dies nicht ihrer familiären Rolle entspricht). Erst wenn Nissus im Nachhinein über sie spricht und dabei kontextbedingt ihre überlegenen Zauberkräfte lobt, wird das Wort flagð für sie eingeführt. Vgl. VS: 66. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 117 lichen Riesen angenommen werden, das analog zum männlichen risi - tr ll - j tunn funktioniert, dabei zwischen flagð und tr ll allerdings nicht näher unterscheidet. 5.2.8 Risaland - ein Land der Riesen? Im Kontext der Riesen-Nomenklatur muss auch auf die Verwendung eines weiteren Kompositums aus diesem Wortfeld eingegangen werden, das in der Saga immer wieder an zentraler Stelle in Erscheinung tritt: Die Rede ist von der Landesbezeichnung Risaland für den Machtbereich von König Arkistratus, der schließlich von Lúpa übernommen wird. Risaland ist nicht nur der wortwörtlichen Bedeutung nach ein ‚Land der Riesen‘, sondern tritt auch in der altnordischen Literatur immer wieder topisch in dieser Funktion auf. Bedingt durch diesen Topos ist das Risaland der Valdimars saga in der bisherigen Forschung häufig ebenfalls als Teil der Riesenwelt aufgefasst worden, König Arkistratus und sein Gefolge wurden entsprechend als Riesen betrachtet. So heißt es etwa bei Glauser über die große Endschlacht der Saga: »Lúpa will nun die Stiefkinder mit einem Heer aus ganz Risaland vernichten, so daß Kollr die Unterstützung der von Aper angeführten Riesen und Trolle aus Saxland holen muß. Die beiden Riesenheere verwickeln sich in eine fürchterliche Schlacht [...].« 331 Die Formulierung »die beiden Riesenheere« impliziert hier, dass auch Arkistratus’ Gefolge als riesenhaft betrachtet wird. Auch im Lexikon der altnordischen Literatur wird im Artikel zur Valdimars saga nacherzählt, dass »[z]wei Riesenheere - das von Valdimars freundl. Helfern und das der bösen Stiefmutter Lupa [...]« sich im Kampf gegenüberstünden. 332 Betrachtet man jedoch die Darstellung Risalands im Sagatext näher, so fällt auf, dass diese Zuschreibung zum Bereich der Riesenwelt einzig auf dem Eigennamen und dem damit verbundenen Topos beruht. Arkistratus und sein Gefolge werden nirgendwo im Text explizit mit irgendeiner der oben besprochenen Riesenbezeichnungen benannt, und auch die topologische Darstellung Risalands mit seiner Zweiteilung in eine königliche Burg und einen außerhalb dieses Bereichs liegenden Wald folgt komplett den Topoi eines gewöhnlichen, höfischen Menschenkönigreichs, während die klassischen Attribute der Riesenwelt wie Höhlen und Gebirge fehlen. 333 Zudem lassen sich diverse Textstellen in der Valdimars saga finden, deren narrative Gestaltung die Gleichsetzung Risalands mit einem Land von Riesen zusätzlich fragwürdig macht. 334 331 Glauser 1983: 305. 332 Simek/ Pálsson 2007: 409. 333 Dem könnte man entgegenhalten, dass natürlich auch der Topos des Riesenhofs existiert, der bewusst Elemente höfischer Prachtentfaltung in einer grotesk-verdrehten Form aufgreift. Siehe hierzu Abschnitt 6.2.6. Solche Elemente der entstellenden Übersteigerung lassen sich bei der Darstellung Risalands allerdings nicht finden. 334 Auch McKinnell erwähnt, dass »[i]t is not even clear whether the inhabitants of Risaland (‚the Land of Giants‘) in the army of Arkistratus are giants or not.« McKinnell 2005: 188. Auf die Gründe oder Folgen dieser Verwirrung wird allerdings nicht weiter eingegangen. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 118 In diesem Kontext ist zunächst der Umstand zu nennen, dass König Arkistratus’ erste Frau und Mutter seiner Kinder die »dotter kongs af Tattarja« 335 war. Tataria ist in der mittelalterlichen Länderkunde als eines der Länder des Ostens bekannt und somit fest in das System der Kosmographie integriert. 336 Es ist im Text keine Rede davon, dass die besagte Prinzessin von Tataria entführt worden wäre oder auf einem anderen außergewöhnlichem Wege nach Risaland gelangt sei - die Interaktion zwischen den beiden Ländern wird als problemlos vorausgesetzt. Wenn jedoch Risaland tatsächlich als ein Land von Riesen zu denken sei, widerspräche dies einer der erzählerischen Grundkonstruktionen der Saga: Der Kontakt zwischen Riesen- und Menschenwelt ist in allen anderen vorkommenden Fällen stets nur unter besonderen Umständen möglich, sei es nun die Entführung der Prinzessin von Smaland durch Nigra oder sei es Valdimars geheimnisvolle Ankunft in der Riesenhöhle begleitet von Albas Harfenspiel, was sich auch darin ausdrückt, dass Nigra explizit von einem »manheimum« 337 spricht, das getrennt von ihrem eigenen Bereich existiert. Wenn diese Abgrenzung in der erzählten Welt der Saga als Grundannahme gilt, macht die problemlose Heirat einer Prinzessin von Tataria es wahrscheinlich, dass Risaland als Teil der Menschenwelt anzusehen ist bzw. zumindest nicht mit dem Lebensbereich der Riesenfamilie auf einer Stufe steht. 338 Zudem wird bei König Arkistratus’ erster Begegnung mit Lúpa in der Wildnis explizit betont, dass Lúpas Gefolge »trollum likara en menszkum monnum« 339 ist. Diese Betonung ergibt nur Sinn, wenn es sich um ein relevantes Unterscheidungsmerkmal zu Arkistratus und seinen Leuten handelt. Wenn in dieser Szene hingegen Riesen auf Riesen treffen, wäre die besondere Betonung der Monströsität einer der beiden Seiten disfunktional, zumal auch explizit Menschen als normative Vergleichsgröße herangezogen werden. Insgesamt folgt die Erzählung von Arkistratus, der auf der Jagd von schwarzem Nebel überrascht und anschließend von Lúpas trollartigem Gefolge auf ihre Burg geführt wird, dem Erzählmuster eines Menschen, der in einen Bereich der Fremde geraten ist, was auch durch die topologische Verortung im Wald unterstrichen wird. Bei der Beschreibung der großen Schlacht zwischen dem Heer von Risaland und den angreifenden Riesen unter Apers Führung heißt es schließlich explizit, dass 335 VS: 60. Tochter des Königs von Tataria. 336 So heißt es etwa in einer altisländischen Weltbeschreibung, die in einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert überliefert ist (AM 764, 4to): »austr af norege er ruza land & þaðan tartara riki« (östlich von Norwegen ist Russland und dann das Tatarenreich) Zitiert nach Simek 1990: 438. In der Gliederung dieser Weltbeschreibung wird Tattaria übrigens als östlicher Teil von Europa eingeordnet, ist also noch nicht einmal den Wunderländern Asiens zugehörig. 337 VS: 65. Menschenwelt. 338 Eine mögliche andere Sichtweise bestünde darin, Risaland und den Bereich der Riesensippe als zwei verschiedene Abstufungen an Fremdheit zu sehen: Risaland wäre demnach zwar ein fremder Riesenbereich, aber durch seine Organisationsform als Königreich enger an Valdimars Eigenes angelehnt als Apers Riesenhöhle in der Wildnis. Gegen diese Sichtweise spricht jedoch das Fehlen verfremdender Momente bei der Darstellung Risalands. 339 VS: 61. Trollen ähnlicher als menschlichen Männern. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 119 Lúpa in Drachengestalt Gift » jotna lyd« 340 speit, woraufhin die später dazukommende Nigra mit ihrer Zauberkraft bewirkt, dass »allir jotnar þeir er daudir lagu« 341 wieder zum Leben erwachen. Die Verwendung dieses Begriffs ist nur sinnvoll, wenn j tunn ein Unterscheidungsmerkmal darstellt, das Apers Leute von den Bewohnern Risalands trennt. Würden hingegen auf beiden Seiten Riesen kämpfen, wäre nicht mehr klar differenzierbar, welcher Partei nun eigentlich der Angriff bzw. die magische Wiederbelebung gilt. Wann immer von dem Heer Risalands die Rede ist, wird ausschließlich der neutrale Begriff lyðr 342 verwendet, so dass eine ausreichende Differenzierung gegeben ist: Riesen auf der einen Seite, ein nicht näher spezifiziertes, jedoch nicht-riesenhaftes Heer auf der anderen Seite. Diese Befunde machen deutlich, dass außer dem Eigennamen nichts darauf hinweist, dass Risaland in der Saga als Lebensbereich von Riesen konzipiert ist. Sie stehen einer solchen Konzeption sogar eher entgegen, da die besprochenen Szenen unter der Annahme, dass auf der Seite Risalands Riesen beteiligt seien, nicht mehr ohne weiteres sinnvoll zu verstehen sind. Wie ist es dann aber zu deuten, dass Arkistratus’ Königreich in der Valdimars saga einen Namen trägt, der topisch so irreführend vorbelastet ist? Zunächst einmal kann man die Benennung simpel als Fremdheitschiffre lesen, in der die besondere Entfernung vom Eigenen des Helden und somit die gewaltigen Dimensionen seiner Ritterfahrt zum Ausdruck kommen. Dies geschieht analog dazu, wie etwa in der Konráðs saga keisarasonar die Bláland-Inseln das erste Zwischenziel auf Konráðs Queste nach dem Edelstein darstellen und dabei ebenfalls keine weitere Erzählfunktion haben, als geographische Entfernung und Fremdheit auszudrücken. 343 Ein wesentlicher Unterschied besteht hierbei darin, dass Bláland als Begriff der gelehrten Länderkunde entnommen und somit in der kosmographisch greifbaren Geographie angesiedelt ist. Risaland hingegen entstammt als Vorstellungsraum nicht der klassischen Gelehrsamkeit, sondern ist durch ein Wesen aus der heimischen Mythologie definiert und lässt sich geographisch bestenfalls vage im fernen Norden oder Osten ansiedeln. So entsteht durch die Benennung mit Risaland eine hybride Raumkonzeption: Die Saga beschränkt sich nicht darauf, Arkistartus’ Reich als weit entfernt zu charakterisieren, was in vielen anderen Texten des Genres mit geographischen Chiffren wie India oder Mesopotamia geleistet wird. Vielmehr impliziert die Benennung Risaland darüber hinaus auch einen weniger greifbaren Bereich des Fremden, Monströsen, der den unscharf umrissenen Tierländern 344 und Wildnisbereichen in der Konráðs saga ähnelt. Diese erweckte Erwartung wird nur unzureichend erfüllt: Risaland ist 340 VS: 74. auf die Schar der Riesen. 341 VS: 74. alle Riesen, die tot darniederlagen. 342 So ist etwa von »mannfallenu a Risalandz lyd« (Mannessterben in Risalands Volk) die Rede. VS: 74 . 343 Siehe Abschnitt 4.2.3. 344 Das Löwenland und das Elefantenland sind ja analog zu Risaland ebenfalls nach ihrem jeweils prominentesten (und für den Helden gefährlichsten) Bewohner benannt. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 120 ein Raum, in den das Riesenhaft-Monströse bereits eingedrungen ist, wie Lúpas Regentschaft beweist, er ist jedoch zugleich mit der ‚Hof-Wald‘-Topologie eines gewöhnlichen Menschenreiches ausgestattet. Dieser Widerspruch zwischen einer Benennung, die Monströsität impliziert, und der tatsächlich beschriebenen Situation, die weitestgehend dem höfischen Eigenen des Helden entspricht, spiegelt den besonderen Zustand des Landes auf der Ebene der Namensgebung wieder: Ein Menschenreich, das eigentlich den höfischen Erzählregeln folgt, wird von einer Trollfrau regiert, die ihre eigenen Regeln mitgebracht hat und somit letztlich einen Raum der Hybridität erzeugt. In der Valdimars saga ist also Risaland nicht etwa insofern ein Bereich des Monströsen, als es tatsächlich von Riesen bewohnt würde. Vielmehr drückt sich die besondere Monströsität des Landes gerade darin aus, dass hier das Monströse in der Gestalt Lúpas ins höfische Eigene eingedrungen ist. Dieser Missstand wird am Ende der Saga nicht etwa durch eine völlige Vernichtung des Monströsen behoben, sondern durch seine partielle Integration: Nachdem die Riesin Lúpa besiegt ist, wird die Halbriesin Alba die neue Ehefrau von König Arkistratus, so dass Risaland mit dieser menschlich-riesenhaften Mischdynastie seinen hybriden Status in einer sozial stabilisierten Form beibehält. 5.2.9 Namensverweigerung und sprechende Namen - die Macht der Benennung über das Fremde Im Gegensatz zum Kollektiv der mehrköpfigen Riesen in Apers Heer, die namenlos bleiben, sind die übrigen riesenhaften Figuren der Valdimars saga nicht nur individuell charakterisiert, sondern zudem auch mit persönlichen Eigennamen versehen, deren sprechender Charakter überdeutlich ist. An erster Stelle ist hier Lúpa (‚Wölfin‘) zu nennen, deren Name auf das gefährliche, bestialische Potential hinter ihrer Rolle als höfische Herrscherin verweist und einen Hinweis auf ihre Natur als Hautwechslerin liefert. 345 Ihre Gegenspielerin Nigra (‚die Schwarze‘) hingegen ist in ihrer Benennung vor allem durch die dichotome Abgrenzung zu ihrer Enkelin Alba (‚die Weiße‘) definiert: Die junge, als schön beschriebene Halbriesin, die als Gefährtin des Helden auftritt, steht für den ‚hellen‘ Part des Eigenen und Vertrauten, während die mit zahllosen Hässlichkeitstopoi belegte Riesengroßmutter für den ‚dunklen‘ Part des Fremden und Monströsen steht. In eine ähnliche Richtung zielt auch der Eigenname ‚Aper‘ (‚Eber‘), der ungestüme Tierhaftigkeit und somit letztlich die Entfernung vom Menschlich-Eigenen impliziert. Nissus hingegen fällt als Grenzgänger und Randgestalt auch aus dem sprechenden Benennungsschema der Riesenwelt heraus: Sein Eigenname hat keine unmittelbar ins Auge stechende Sachbedeutung, und der eventuelle Bezug zu diversen antiken Namensvorbildern bleibt zumindest insofern ungewiss, als in der Saga keine entsprechenden intertextuellen Andeutungen gemacht werden. 345 Siehe Abschnitt 5.2.1. 5.2 Das monströse Fremde in der Valdimars saga 121 Selbst eine solch oberflächliche und skizzenhafte Betrachtung der riesischen Eigennamen macht deutlich, dass Benennungen in diesem Bereich offensichtlich nicht willkürlich erfolgen, sondern in einer gewissen Beziehung zum Charakter des Benannten stehen. 346 Hieraus ergibt sich für das Thema der vorliegenden Untersuchung eine wichtige Konsequenz: Wenn die Natur des Monströsen mit der Nomenklatur des Monströsen in einer direkten Wechselwirkung steht, liegt in ebendieser Nomenklatur ein Schlüssel für diese monströse Natur. Anders formuliert: Erst wenn die fremden Wesen, mit denen der Sagaheld konfrontiert wird, benannt werden können, verlieren sie einen Teil ihrer gesichtslosen Fremdheit und fügen sich in eine gewisse Kategorisierbarkeit - wenn es sich auch um Kategorien mit jeweils nur einem Element handeln mag, was ja einen Individualnamen ausmacht. Kategorisierbarkeit aber stellt ein zentrales Werkzeug für die Bewältigung des zunächst amorphen Fremden dar. 347 Wer eine feste Kategorie in der Welt des Betrachters einnimmt, wird damit zu einem Teil von dessen Semiosphäre und verliert schlussendlich seinen Status als Fremder, um zu einem bloßen Anderen zu werden. Das verstörende Moment des Fremden und Monströsen geht verloren. Es ist daher kein Zufall und auch mehr als die bloße Übernahme eines verbreiteten Topos, dass die Riesengestalten der Valdimars saga höchst zurückhaltend mit der Preisgabe ihrer Eigennamen sind. So antwortet bereits Nissus bei seiner ersten Begegnung mit Valdimar auf dessen Frage nach seinem Namen: »nafn mjtt segi eg þer eigi en hins spyr eg huort þu villt þiggia fylgd mjna edr neita skiott« 348 . Obgleich er ihm ohne größere Umschweife seine Gefolgschaft anbietet, ist er im selben Atemzug dennoch nicht bereit, seinem künftigen Herren seinen Namen zu offenbaren - an diesem Kontrast zeigt sich die Bedeutung des Namenstabus für die Riesenwelt. Nissus wird ersatzweise mit der Hilfsbenennung »kollr« 349 bezeichnet, die auf seine Glatzköpfigkeit verweist; auch dem Saga-Rezipienten wird der wahre Name des Riesensohnes vorerst vorenthalten. Bei Valdimars erster Begegnung mit Alba trägt sich Ähnliches zu: »veit eg huat þu heitir Valldjmar son kongs af Saxlandj en myklu 346 De Saussure bezeichnet Zeichen, die diese spezielle Beziehung von Signifikant und Signifikat aufweisen, als Symbol: »Beim Symbol ist es nämlich wesentlich, daß es niemals ganz beliebig ist; es ist nicht inhaltlos, sondern bei ihm besteht bis zu einem gewissen Grade eine natürliche Beziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem. Das Symbol der Gerechtigkeit, die Waage, könnte nicht etwa durch irgend etwas anderes, z. B. einen Wagen, ersetzt werden.« de Saussure 2001: 80. Die Namen der Riesen stellen also symbolhafte Darstellungen gewisser stereotyper Konzepte wie der ‚weißen‘ Schönheit oder dem ‚schwarzen‘ Trollweib dar und umfassen somit ihre Essenz, werden also wohl darum nicht leichtfertig preisgegeben. Haubrichs konstatiert für die Namensdeutung der »archaischen Kulturen«: »Der Name verrät etwas über die Herkunft, Substanz oder Funktion einer Sache oder Person, die er bezeichnet.« (Haubrichs 1995: 351) Man kann für viele Diskurse des Mittelalters demnach einen »Zeichenrealismus« annehmen, »der von einer sinnhaften Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem« ausgeht. (Ebd.: 352) Ein solcher Zeichenrealismus herrscht auch bei den sprechenden, tabuisierten Riesennamen der Valdimars saga vor. 347 Hierauf wird in Kapitel 8 am Beispiel der Kirialax saga ausführlich eingegangen. 348 VS: 56-57. Meinen Namen sage ich dir nicht und das frage ich, ob du meine Gefolgschaft annehmen oder rasch ausschlagen willst. 349 VS: 56. Glatzkopf. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 122 er þer nær at efna heitstrenging þina ok leita epter systr þinnj en vita nafn mitt.« 350 So lautet hier Albas Antwort auf die Frage nach ihrem Namen. Selbst die zentrale Queste der Saga wird als einfacher lösbar dargestellt als den Namen eines Riesen zu erfahren. Die Vertreter des Fremden entziehen sich konsequent einer Benennung. Während seines gesamten zweijährigen Aufenthalts erfährt Valdimar die Namen seiner Gastgeber nicht, und der Rezipient bleibt zusammen mit ihm im ungewissen. Der Sagatext beschränkt sich darauf, die Riesen durch Umschreibungen wie risadóttir für Alba oder kerling für Nigra zu benennen. Erst relativ spät im Verlauf der Sagahandlung werden zumindest dem Rezipienten die Namen der Riesen mitgeteilt. Dies geschieht durch den Mund Lúpas, die ihren Ehemann Arkistratus vor der potentiell gefährlichen Riesensippe aus Saxland warnt und dabei deren Mitglieder namentlich aufzählt. 351 Die Benennung erfolgt hier nicht etwa durch eine freiwillige Preisgabe des Namens nach außen, wie es als Teil einer angemessenen Begrüßung üblich wäre. Stattdessen werden die Namen der Riesen durch ihre Feindin Lúpa aufgedeckt, die ihrerseits selber zur Riesenwelt gehört. Es handelt sich also um eine Enthüllung von innen, ausgeführt von einem Wesen, das selber dem Bereich des Monströsen angehört. Diese Enthüllung hat den Zweck, König Arkistratus die künftigen Angreifer Risalands aufzuzeigen und ihn darauf hinzuweisen, mit welchen Gegnern er es zu tun haben wird. Die Benennung stellt also einen ersten Ansatz der Bewältigung dar. Die Riesen selber jedoch behalten das Geheimnis ihres Namens konsequent für sich. Es gibt in der Saga keine Szene, in der sie sich Valdimar direkt namentlich vorstellen und ihm so Gelegenheit geben würden, sie im Bereich seines Eigenen zu kategorisieren. Allerdings spricht Nissus im Anschluss an Lúpas Enthüllung Valdimar gegenüber von »Njgra f drmodir min« 352 , wie auch die Erzählinstanz der Saga von nun an standardmäßig die Eigennamen der Riesen anstelle der indirekten Umschreibungen verwendet. 353 Sobald die Namen der Riesen einmal gefallen sind, ist das Tabu gebrochen und sie werden wie selbstverständlich gebraucht, ohne dass eine kausallogische Erklärung dafür geliefert würde, warum sich Nissus Valdimar gegenüber plötzlich so offen gibt (zuvor hatte er noch umschreibend von »flagdit faudrmodir mjn« 354 gesprochen). Doch ist das monströse Fremde mit der Preisgabe der Namen tatsächlich gebändigt? Für Valdimar, der unter Riesen lebte und durch ihren Zaubertrank ihnen angeglichen wurde, stellt das Wissen um die riesischen Eigennamen einen weiteren Schritt bei der Aneignung der Riesenwelt dar. Doch wie weiter oben schon ausgeführt wurde, ist diese Aneignung trotz aller Annäherung niemals komplett, sondern 350 VS: 57. Ich weiß, dass du Valdimar heißt, Sohn des Königs von Saxland, und du bist sehr viel näher dran, deinen Schwur zu erfüllen und deine Schwester zu finden [wortwörtlich: suchen], als meinen Namen zu wissen. 351 Vgl. VS: 69. 352 VS: 73. Nigra, meine Vatermutter. 353 Eine Ausnahme stellt wieder einmal Nissus dar, der weiterhin als Kollr bezeichnet wird. 354 VS: 66. das Trollweib, meine Vatermutter. 5.3 Der marginalisierte Held in seiner monströsen Erzählwelt 123 verharrt in einer Grauzone: Valdimar wird nicht zum Riesen, sondern er verbleibt ein höfischer Held, der manche Aspekte der Riesenwelt zu seinem Eigenen gemacht hat. Die Riesen offenbaren ihm nicht direkt ihre Namen, sondern diese werden auf diffuse Weise aus Lúpas Munde bzw. über die Erzählinstanz in die Handlung eingeführt. Dieser Umstand macht Valdimar zu einem Kategorien hinterfragenden Grenzgänger, was wiederum eine der zentralen Eigenschaften eines Monstrums darstellt. Überspitzt formuliert lässt sich somit festhalten, dass der Kontakt zu Monstern den Helden schließlich selbst zu einem Monster werden lässt, das zwei verschiedenen Welten angehört. Dieser Zustand beschränkt sich jedoch nicht darauf, dass die Riesenwelt ein Stück weit zu Valdimars Eigenem geworden ist, was sich für den Rezipienten u. a. durch die Preisgabe der tabuisierten Riesennamen ausdrückt. Stattdessen ist er im Umkehrschluss auch in mancherlei Aspekten zu einem Fremden für die Welt des Hofes geworden, was im Folgenden näher ausgeführt werden soll. 5.3 Der marginalisierte Held in seiner monströsen Erzählwelt Im Vergleich zu den Protagonisten vieler anderer originaler Riddarasögur ist Valdimar ein auffällig passiver Held. Er gelangt buchstäblich im Schlaf in die Riesenwelt, verbringt dort zwei Jahre untätig mit Alba und bricht dann auf ihr Betreiben hin wieder auf, wobei Nissus alle anstehenden Aufgaben für ihn erledigt. Selbst bei der großen Endschlacht der Saga ist er nicht einmal persönlich zugegen. Kurz gesagt: Er steht ganz im Schatten seiner übermächtigen riesischen Helferfiguren. Hierzu lassen sich insofern Parallelen in anderen Sagas finden, als die abenteuerlichen Aufgaben des Helden häufig nur durch übernatürlich begabte Helfer zu bewältigen sind, die dabei auch ohne seine Beteiligung in Aktion treten können. Die geradezu traumwandlerische Fähigkeit des Helden, ohne eigenes Zutun zur rechten Zeit auf den rechten Helfer zu treffen, lässt sich dabei durch einen Rückgriff auf die Gattung des Märchens mit der besonderen Begnadung des Helden erklären, der seine Erfolge keineswegs durch Leistungen oder moralische Vollkommenheit legitimieren muss. 355 Jedoch ist es eine Genre-Konvention der originalen Riddarasögur, den Helden durch besondere Waffentaten und andere Proben seiner Kraft glänzen zu lassen, wenn auch zentrale Teile seiner Aufgabe durch Helfer erledigt werden. Insbesondere in Schlachtszenen tut er sich für gewöhnlich hervor: In den mit topischen Wendungen konstruierten Rahmen der Schlacht werden einzelne Zweikämpfe des Hel- 355 »Im Märchen käme der Held ohne die Hilfe vor allem jenseitiger Figuren nicht zum Ziel. Diese Hilfe aber wird ihm in reichem Maße zuteil. Aus dem Nichts heraus treten die Jenseitigen auf ihn zu und reichen ihm ihre Gaben. Und wenn er sie zu ergreifen vermag, während sie dem Unhelden entgehen, so ist das oft durch nichts anderes begründet als eben dadurch, daß er der Held ist.« Lüthi 1997: 53-54. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 124 den eingefügt, die mit besonderer Detailfreude ausgeführt sind. 356 Die Valdimars saga stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar und verzichtet fast vollständig auf solche kämpferischen Inszenierungen ihres Protagonisten. Dabei wird in der Endschlacht durchaus dem skizzierten Erzählmodell entsprochen und ein Zweikampf näher beschrieben, doch wird dieser nicht etwa von Valdimar ausgetragen: Nu tekzt ok daudligt strid med drekanum ok gammjnum. huilizt nu allr lydr ok ser a þessi odæmj þujat þesse atgangr er svo hardr at menn þickjazt eigi vita huort flagdit driugara mun verda. Er nu suo sagt at þessir fiandr flaka j sundr af sarum en allir dalirner uoro fullir af blodj þessara flagda. 357 Der Endkampf findet zwischen einem Drachen und einem Greifen statt, die beide Verwandlungsgestalten zaubermächtiger Trollfrauen sind. Die Monster machen die Sache unter sich aus, für den Helden bleibt in der Schlacht kein Platz. Er hat seine ursprüngliche Funktion als tätiger Protagonist aufgegeben und ist zu einem bloßen Motivator der Handlung geworden, die dann von den Riesen vollzogen wird. 358 Dies drückt sich auch auf der topologischen Ebene darin aus, dass er sich am kriegerischen Höhepunkt der Handlung nicht etwa auf dem Schlachtfeld als zentralen Ort des Konflikts aufhält, sondern im geschützten Bereich des Erdhauses, das sich abseits im Wald befindet. Er ist zu einer Marginalie geworden und hat somit seinen Platz mit den Monstern getauscht, deren angestammter Ort ja eigentlich die Randposition jenseits des Zentrums ist. 359 Diese marginalisierte Position des Helden äußert sich auch bei dem einzigen Kampf, den Valdimar im Verlauf der Handlung selbst auszutragen hat. Als Blabus, der Königssohn von Risaland, eines Tages in den Wald reitet, nachdem Florida sich bereits Valdimar angeschlossen hat, trifft er dort auf Nissus in der Gestalt eines Harfe spielenden Jünglings. Als er darum bittet, die kostbare Harfe irgendwie erwerben zu dürfen, weist Nissus ihn an, am nächsten Tag bewaffnet wiederzukommen und um das Instrument zu kämpfen. Blabus erscheint wie vereinbart, und Nissus schickt Valdimar gegen ihn ins Feld. Die beiden Ritter erproben ihre Stärke in der Tjost und im Schwertkampf und erkennen sich schließlich als gleichwertig an, indem sie fóst- 356 Man denke hierbei z. B. an die Schlacht gegen König Solldan in der Kirialax saga, in der insbesondere die Zweikämpfe des Protagonisten und seiner Begleiter hervorgehoben sind. Siehe Abschnitt 8.2.5. 357 VS: 74-75. Nun hebt sich ein tödlicher Streit zwischen dem Drachen und dem Greifen an. Alles Kriegsvolk verharrt nun und schaut zu dieser ungeheuerlichen Begebenheit, denn dieser Kampf ist so hart, dass es den Menschen erschien, nicht zu wissen, welches Trollweib mächtiger sein wird. Es wird nun berichtet, dass diese Feinde auseinandergehen wegen ihrer Wunden, und alle Täler waren voll vom Blut dieser Trollweiber. 358 Hierzu fügt es sich dann auch, dass die diversen Zaubermittel, die Valdimar von den Riesen erhält, sich allesamt als blinde Motive erweisen. Nicht eines von ihnen spielt im weiteren Verlauf der Handlung als Hilfsmittel des Helden irgendeine Rolle. Während die monströsen Helfer zu dominierender Größe anwachsen, verkommen jene Hilfsmittel konsequenterweise zur Bedeutungslosigkeit, deren Zweck eigentlich darin bestünde, den Helden handlungsfähig zu machen. 359 Vgl. hierzu auch Kalinkes Konzept des Passive Protagonist, das sich allerdings konkret auf eine Figur in der Rolle des Brautwebers bezieht. Kalinke 1990: 109-155. 5.3 Der marginalisierte Held in seiner monströsen Erzählwelt 125 br æ ðralag schwören. Nachdem Valdimar ihm einen Ring seiner Schwester Florida gezeigt hat, schließt sich Blabus der verborgenen Gesellschaft im Erdhaus an. 360 Die narrative Gestaltung dieses Kampfes erfolgt konventionell nach dem Erzählschema ‚Waldbegegnung - Herausforderung - ausgewogener Kampf - Schwurbrüderschaft‘. Die Rahmenbedingungen des Kampfes jedoch brechen mit der Konvention: Für gewöhnlich trifft nach diesem Erzählschema der Held einer Saga in der Wildnis auf einen unbekannten Kontrahenten, mit dem er sich misst und der sich im Zuge des Kampfes als ebenbürtiger Standesgenosse herausstellt. Die hieraus folgende Schwurbrüderschaft bildet den Auftakt künftiger gemeinsamer Abenteuer. 361 In der Valdimars saga hingegen ist die Konstellation umgekehrt gestaltet: Der Protagonist dringt nicht etwa in einen für ihn fremden Wald ein, sondern befindet sich bereits als Herausforderer dort. Es ist Blabus von Risaland, das vom Standpunkt des Helden aus eigentlich die Fremde darstellt, der von außen in den Wald gelangt und somit ereignishaft eine Grenze überschreitet. Valdimar ist in dieser Konstellation nicht der höfische Held, der den Hof für eine Queste verlässt, sondern vielmehr ein Teil der nicht-höfischen Außenwelt, wo er Blabus als ‚Aventiure-Begegnung‘ herausfordert. Er ist in der Begleitung des Riesensohnes (zumindest vorübergehend) zu einem Wildnisbewohner geworden und nimmt konsequenterweise auch im klassischen ‚Aventiure-Mechanismus‘ die marginale Position eines solchen ein: aus der Perspektive des Blabus ein Repräsentant der außer-höfischen Fremde, die es zu bewältigen gilt. Auch der Ausgang des Kampfes steht ganz im Zeichen der Marginalisierung des Helden. Folgt die Schwurbruderschaft der ebenbürtigen Gegner an sich noch den Genre-Konventionen, gilt dies nicht mehr für ihre Folgen: Die frischgebackenen Schwurbrüder ziehen nicht etwa gemeinsam auf Abenteuer aus, um sich in der Welt zu beweisen. Stattdessen folgt Blabus seinem Schwurbruder Valdimar ins Erdhaus und verharrt dort tatenlos zusammen mit ihm und den beiden Prinzessinnen. Während die Schwurbruderschaft des Saga-Helden mit einem fremden Königssohn normalerweise dazu führt, dass dieser Repräsentant des Fremden nun ebenfalls als höfischer Held aktiviert und somit ins Eigene überführt wird, liegt in der Valdimars saga der umgekehrte Fall vor: Zusammen mit Valdimar und dessen riesischem Gefolgsmann wird auch Blabus zu einer Randerscheinung und begibt sich willig in eine marginale topologische Position. Keiner der beiden Königssöhne begeht im weiteren Verlauf der Handlung noch irgendwelche Rittertaten. Doch nicht nur der Topos der Schwurbrüderschaft führt ins Leere - die gesamte handlungslogische Funktion des Zweikampfes ist fragwürdig. Er dient lediglich dazu, Blabus von Lúpas Hof fortzubewegen und ihn in Valdimars riesische Welt zu integrieren. Dies gelingt durch jenen Ring Floridas, den Valdimar schließlich vorzeigt, um Blabus seine Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Hierzu ist der Kampf jedoch unnötig. Rein handlungsfunktional hätte es genügt, Nissus bei seiner ersten 360 Vgl. VS: 69-72. 361 Vgl. hierzu etwa die Begegnung zwischen Victor und Blávus in der Victors saga ok Blávus, die dem geschilderten Schema entspricht. Vgl. Loth 1962: 6-9. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 126 Begegnung mit Blabus als Überbringer des Ringes auftreten zu lassen, um zu einer vergleichbaren Konstellation zu gelangen. Der Genre-typische Zweikampf erweist sich so als ein scheinbar blindes Motiv. Eine mögliche Erklärung hierfür besteht darin, dass die Begegnung zweier fremder Prinzen topisch so stark mit der Abfolge von Kampf und Schwurbruderschaft verbunden ist, dass diese Sequenz hier auch ohne handlungsfunktionale Notwendigkeit ins Rollen gebracht wird. Zudem stellt der Kampf gegen einen ritterlichen Standesgenossen natürlich eine einladende Möglichkeit dar, den Saga-Helden durch die Schilderung seiner Rittertaten zu profilieren. Beide Erklärungsansätze greifen jedoch zu kurz. Die Inszenierung des Helden in Kampfsituationen scheint nicht das Interesse der Valdimars saga zu sein - jedenfalls nützt sie die unzähligen Gelegenheiten nicht, die die Reise des Helden in die Riesenwelt eigentlich hierzu geboten hätte, ist doch die Begegnung zwischen Mensch und Riese topisch nur zu oft mit Kämpfen verbunden. Dass gerade jener einzelne Kampf gegen Blabus mit diesem Erzählkonzept bricht, um eine isolierte Kampfschilderung um ihrer selbst willen zu konstruieren, ist in diesem Kontext wenig wahrscheinlich. Auch der topische Zwang zum Zweikampf bei der Ritterbegegnung überzeugt nicht als Erklärung, da auch die Begegnung selbst an sich nicht handlungsnotwendig wäre - Blabus’ Schwester Florida etwa wird durch Nissus in den Wald gelockt, ohne dass Valdimar direkt an dieser Aktion beteiligt wäre, so dass nicht ersichtlich ist, warum seine Beteiligung bei der Integration Blabus’ zwingend erforderlich sein sollte. Die Funktion des scheinbar blinden Zweikampf-Motivs besteht vielmehr darin, den ritterlichen Helden Valdimar als Höhepunkt seiner Integration in die Riesenwelt in einer durch und durch marginalen, dem Hof entgegengesetzten Position zu zeigen. Es handelt sich bei der Waldbegegnung um eine ‚Anti-Aventiure‘ als erzählerischer Extrempunkt der Marginalisierung: Der zum monströsen Grenzüberschreiter gewordene ritterliche Held bedroht einen Vertreter des Hofes, der von innen in den Außenraum vorzudringen versucht. Die invertierte Rolle Valdimars kristallisiert sich in dieser Szene vor der intertextuellen Negativ-Folie üblicher Zweikampf- Begegnungen, die dem Rezipienten aus anderen Texten des Genres vertraut sein mögen, besonders kontrastreich heraus. 362 362 In seiner Studie Image on the Edge untersucht Michael Camille die Funktion von Marginalien in der Kunst des Mittelalters, von Buchmalereien am Rande von Handschriften bis hin zu grotesken Wasserspeiern an den Außenwänden von gotischen Kathedralen. Nach Camille zieht die Marginalie ihre Berechtigung aus den strengen Strukturen der hierarchischen Ordnung des mittelalterlichen Weltbilds: »The medieval image-world was, like medieval life itself, rigidly structured and hierarchical. For this resaon, resisting, ridiculing overturning and inverting it was not only possible, it was limitless. Every model had its opposite, inverse antimodel.« Camille 1992: 26. Die Marginalie ist dabei der Ort, von dem aus die Ordnung des Zentrums in Frage gestellt und konterkariert wird, wie Camille etwa am Beispiel von marginalen Illustrationen in einem Codex mit arthurischen Texten ausführt: »Once again, in this manuscript the marginal ‚play‘ glosses and provides an ironic commentary on the central action of the text and its illustrations, which narrate the adventures of the Knights of the Round Table.« Ebd.: 106. Die Marginalisierung des Helden in der Valdimars saga folgt dieser Tradition. Valdimar hält sich gleich in doppelter Hinsicht in einer marginalen Position auf: Geographisch befindet er sich im fernen Risaland, topologisch im Wald 5.3 Der marginalisierte Held in seiner monströsen Erzählwelt 127 Diese Invertierung des Helden auf der histoire-Ebene kann für die discours-Ebene des Erzählkonstrukts nicht folgenlos bleiben: Dadurch, dass Valdimar von der monströsen Welt der Riesen immer mehr assimiliert wird, entsteht eine Leerstelle an jener Position, die eigentlich der Protagonist der Erzählung zu füllen hätte. Wie oben schon geschildert, wird diese Leerstelle durch Valdimars Riesenverbündete ausgefüllt. Eine Saga, die als klassischer Auszug des Helden in die Fremde beginnt, entwickelt sich zu einer Saga über eine Gruppe von Riesen und ihren Kampf gegen eine ebenfalls riesische Kontrahentin. Die Erzählwelt scheint nicht nur fest in Monsterhand zu sein - durch diese Umkehrung der Verhältnisse gewinnt auch die Erzählung selber monströse Züge, sie stellt die Erzählordnung, die der Rezipient von solch einer Saga erwartet, auf den Kopf. Die Valdimars saga stellt insofern ein Monstrum dar, als sie geläufige Topoi ihres Genres dekonstruiert und seine Grenzen in Frage stellt, indem sie diese überschreitet. Die Erwartungen der Rezipienten, die durch die Flugdrachen-Episode zunächst auf eine klassische Dichotomie zwischen Held und Monster eingestimmt werden, erfahren eine gezielte Enttäuschung durch die Etablierung eines monströsen Helden einerseits und in der Heldenrolle agierender Monster andererseits. Dabei bleibt selbst die Setzung Lúpas als klare Antagonistin des marginalen Helden wie seiner aktiveren Riesengefährten nicht unangetastet, ist doch fraglich, worin sich die Seite des Protagonisten eigentlich von Lúpa unterscheidet: Beide Seiten stellen höfischriesische Hybridkonstellationen in verschiedener Ausprägung dar, beide haben einen Prinzessinnenraub auf dem Kerbholz, beide setzen Zauberei als primäres Mittel für ihre Ziele ein - von einem höfischen Helden, der zur Stabilisierung des Hofes die bedrohlich-fremdartigen Mächte der Außenwelt bezwingt, bleibt hier nicht mehr viel übrig. Die Wahrnehmung des Fremden erweist sich als relativ und perspektivisch gebunden. Solch eine Auflösung weltstabilisierender Kategorien aber macht nach Cohen den Kern des Monströsen aus. Selbst das Ende der Saga, das sich topisch mit einer Reihe von Hochzeiten vollzieht, sorgt nur scheinbar für klare Verhältnisse. Zwar sind die beiden fremdartigen Trollfrauen Lúpa und Nigra zu Tode gekommen, ist Marmória nicht länger eine Gefangene in einem fernen Land, hat Valdimar seine Queste erfolgreich hinter sich jenseits des Hofes. Von hier aus kann er als Anti-Held einer Anti-Aventiure die Ordnung des höfischen Romans auf den Kopf stellen und als geheimnisvoller Waldgegner Blabus herausfordern. Solche marginalen Konstellationen sind in den originalen Riddarasögur eher die Regel als die Ausnahme - die Texte lieben Orte am Rande der bekannten Welt und ihre monströsen Bewohner um der narrativen Lizenzen willen, die diese Orte fern vom Zentrum ihnen eröffnen. Siehe hierzu auch die Erwägungen über die Lizenzen des Fremden in Abschnitt 10.3.1. In ihrer Untersuchung über Gargoyles im Kirchenbau betont Janetta Rebold Benton einen weiteren wichtigen Aspekt der Marginalisierung: die künstlerische Freiheit des Gestaltenden. »Pecularities were permitted to proliferate at the peripherie - of the page and of the church. Once outside the main scene or outside the confines of the church, literally and figuratively, illuminator and sculptor could work outside the normally restrictive rules.« Rebold Benton 1996: 163. Die Marginalie eröffnet Freiheiten des experimentellen Spiels in der künstlerischen Gestaltung, die in den autoritativ festgelegten Codes des Zentrums nicht möglich wären, stellt also den idealen Ort der Subversion dar. 5. Drachen, Riesen, Ungeheuer - das Fremde als Monstrum 128 gebracht und in Florida von Risaland sogar eine standesgemäße Braut gefunden. Doch die so erreichte Stabilität beruht keineswegs auf der erfolgreichen Bewältigung des Fremden oder auch nur auf dessen Verdrängung an seinen angestammten marginalen Ort. Stattdessen ist das Fremde in der Gestalt der Riesentochter Alba, die mit Valdimars Schwiegervater Arkistratus verheiratet und so in dessen Geschlecht integriert wird, mitten in die finale Heiratskonstellation der Saga eingebunden. Riesenwelt und Menschenwelt vermengen sich endgültig in einer gemeinsamen Dynastie miteinander, die neu entstandene Stabilität beruht auf dem Grundzustand der Hybridität, aus dem keine weiteren Konflikte hervorzugehen scheinen. Die Saga hat eine lange Transformation abgeschlossen, die mit der scheinbar klar dichotomen Situation des vom Hof losziehenden Helden beginnt und schließlich in eine monströse Neukonzeption des ‚Hofes‘ gipfelt, in den menschliche wie riesische Elemente gleichermaßen einfließen. Menschen und Monster haben sich zu einem monströsen Ganzen vermengt. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden People are strange, when you’re a stranger, faces look ugly, when you’re alone ... 363 The Doors: People are strange, 1967 Als Textbeispiel für die Untersuchung der sozialen Dimensionen des Fremden soll im Folgenden die Ála flekks saga dienen. Die Sage ist um 1400 herum entstanden und wird, ebenso wie die Valdimars saga, gerne in die Nähe der Fornaldarsögur gestellt. Sie eignet sich zum einen besonders gut für die Darstellung der sozialen Ebene des Fremden, weil hier Vertreter unterschiedlicher sozialer Gruppen miteinander interagieren - Könige und Kleinbauern, Knechte und wohlhabende Hofbesitzer. Dass einige dieser Figuren der Menschenwelt angehören, während andere dem Reich der Trolle entstammen, verleiht dem literarischen Spiel mit den sozialen Rollen eine besondere Brisanz. Zum anderen bietet sich die Ála flekks saga an, weil sie diverse Motive aus der einheimisch-norrönen Tradition aufgreift und insbesondere auch ungewöhnlich viel bäuerliches Handlungspersonal auffährt, so dass sich hier vielleicht Berührungspunkte zum sozialen Milieu der Rezipienten finden lassen, die ja ebenfalls häufig dem (aristokratisierten) Großbauerntum entstammten. Als Textgrundlage der Untersuchung dient die Edition Åke Lagerholms. 364 6.1 Der Fremde im eigenen Sozialsystem Wie jedes soziale System besitzt auch die fiktive Gesellschaft der originalen Riddarasögur verschiedene Positionen, sei es nun König oder Jarl, Großbauer oder Knecht. Auf den ersten Blick mag es abwegig erscheinen, hierin eine potentielle Quelle für Erfahrungen von Fremdheit zu sehen. Immerhin gehören alle diese Positionen einem gemeinsamen Rahmensystem an, stellen sich also nicht gegenseitig in Frage, sondern bedingen sich sogar. Ein König und ein Bauer sind einander nicht fremd, sondern sie sind im Waldenfelsschen Sinne anders. Trotzdem kann es auch innerhalb eines solchen Sozialsystems zu Konstellationen der Fremdheit kommen. Immer dann, wenn eine Figur ihren angestammten Platz im sozialen Gefüge verlässt und eine Position einnimmt, die ihr eigentlich nicht zukommt, überschreitet sie Grenzen und stellt Kategorien in Frage. Dies gilt für den ehrgeizigen Jarlssohn, der 363 Aus dem Album Strange Days, erschienen 1967 bei Elektra Records (Produzent: Paul A. Rothschild). 364 Lagerholm 1927: 84-120. Der Text wird im Folgenden mit AS und Seitenangabe abgekürzt. Die Absatzzählung dieser Ausgabe wird in den Zitaten nicht wiedergegeben. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 130 nach der Stellung des Kaisersohnes strebt, genauso wie für den Königssohn, der unerkannt bei bäuerlichen Zieheltern aufwächst. Beide sind Fremde in einem sozialen Raum, dem sie nicht angehören und in den sie von außen eingedrungen sind. Die Bewegung erfolgt hier nicht auf einer konkreten räumlich-geographischen Ebene, doch sie kann zu ähnlich hybriden Konstellationen führen wie die Interaktion mit grotesken Monstern in fernen Weltgegenden. »Es gibt keine Welt, in der wir je völlig zu Hause sind, und es gibt kein Subjekt, das je Herr im eigenen Hause wäre.« 365 Dieses Waldenfelssche Diktum über das moderne Subjekt gilt im übertragenen Sinne auch für die erzählten Gesellschaften der originalen Riddarasögur: Keine von ihnen ist so komplett in einem unverrückbaren Eigenen verankert, dass sie völlig ohne selbstentfremdende Widersprüche wäre. Wie solche Konflikte in den Sagas narrativ umgesetzt und ausgedeutet werden, soll der Untersuchungsgegenstand dieses Kapitels sein. Bei der Betrachtung des Fremden auf der sozialen Ebene muss jener Umstand besonders berücksichtigt werden, den Glauser »[d]ie pragmatische Dimension mittelalterlicher Literatur« nennt. 366 Damit ist gemeint, dass Literatur im Mittelalter stets einen Sitz im Leben als Auftragsliteratur einer bestimmten Klientel hat, deren Bedürfnisse in den Texten angesprochen werden. Bevor die erzählten Gesellschaften der originalen Riddarasögur betrachtet werden können, stellt sich die Frage, in was für einer Gesellschaft eigentlich dieses literarische Genre entstanden ist und welches soziale Milieu an der Produktion dieser Texte interessiert war. Die Entstehungszeit der originalen Riddarasögur reicht von der Zeit um 1300 bis weit in die Neuzeit hinein. Sie entstammen also nicht der Godenzeit des isländischen Freistaats, sondern der Zeit nach der norwegischen Machtübernahme um 1262/ 64. Die ältere Forschung hat dies zum Anlass genommen, eine Kausalverbindung zwischen dem politischen Geschehen und der Literaturgeschichte zu ziehen und in den originalen Riddarasögur eine abgeflachte Literatur der Weltflucht zu sehen, deren Entstehung direkt mit dem Verlust der politischen Unabhängigkeit einhergeht. 367 Im Gegensatz zu dieser Simplifizierung zeichnet Glauser ein deutlich differenzierteres Bild: Nach dem Ende des Bauernfreistaats bildeten sich auf Island zunächst im Umfeld des norwegischen Statthalters neue soziale Eliten heraus, deren Mitglieder oft den alten Godenfamilien entstammten, nun jedoch aristokratische Titel als Gefolgsleute des norwegischen Königs trugen. Diese norwegisch geprägte Feudalaristokratie wurde im Laufe des Spätmittelalters durch weitere Familien ergänzt, die Reichtum durch den Besitz von Fischereistationen in den Westfjorden gewonnen hatten, war doch der Handel mit Stockfisch im Zuge des wachsenden englischen Einflusses auf Island immer mehr zu einem dominanten Wirtschaftsfaktor für die Insel geworden. Auch diese ‚neureichen‘ Familien legten Wert auf aristo- 365 Waldenfels 1997: 11. 366 Glauser 1983: 61. 367 Vgl. ebd.: 1-10. Glauser bezeichnet diese Sichtweise als »einen Mythos [...], der sich nicht zuletzt vortrefflich für die Herausbildung einer isländischen nationalen Identität instrumentalisieren ließ [...].« Glauser 1998: 10. 6.1 Der Fremde im eigenen Sozialsystem 131 kratische Selbstdarstellung und Prachtentfaltung, wenn sie auch nicht im direkten Umfeld eines Hofes standen. Macht und Reichtum akkumulierten sich in den Händen dieser neuen Eliten, die häufig blutige Kämpfe untereinander austrugen, während weite Teile der einfachen Landbevölkerung zusehends verarmten. 368 In diesem Zusammenhang spricht Glauser davon, dass die originalen Riddarasögur »als Ausdruck dieser Zeit ausgeprägter sozialer Gegensätze entstanden« 369 seien und benennt als sozialen Träger der Texte »die neue, durch die um 1300 einsetzenden sozialen und ökonomischen Veränderungen reich gewordene, dünne Schicht von Kleinadligen, Großbauern und Fischereiunternehmern.« 370 Die originalen Riddarasögur sind demnach die Literatur einer neu aufgestiegenen Oligarchie mächtiger isländischer Familien, die nach aristokratischer Selbstdarstellung strebten. Solche Selbstdarstellung in literarischer Form bietet bekanntlich die kontinentale höfische Literatur des Hochmittelalters. Der materielle Reichtum und die Privilegien der feudalen Oberschicht werden hier legitimatorisch mit einem System sozialer Werte und Tugenden verbunden, die der äußeren Prachtentfaltung innere Sinnhaftigkeit verleihen. Nach der Schilderung der Dichter erhielt der ganze höfische Gesellschaftsbetrieb mit seinem materiellen Prunk und seinen zeremoniellen Umgangsformen überhaupt erst einen Sinn, wenn man ihn auf das Ideal der Courtoisie, der höfischen Vollkommenheit, bezog [...]. 371 In seinem großen Überblickswerk zur höfischen Kultur betont Joachim Bumke, dass jenes Ideal der Courtoisie keineswegs der gelebten Wirklichkeit der Oberschicht entspricht, sondern vielmehr deren literarische Überhöhung darstellt, in gewisser Hinsicht gar einen Gegenentwurf zu den realen, nur allzu unvollkommenen Verhältnissen. Höfische Literatur ist also einerseits auf die Bedürfnisse einer bestimmten sozialen Schicht ausgerichtet, die sie in ihren adligen Protagonisten auch abzubilden versucht, stellt jedoch andererseits keine mimetische Darstellung realhistorischer sozialer Verhältnisse dar, sondern vielmehr die Konstruktion einer Idealgesellschaft, deren höchste Krone der Artushof ist. Hierbei spielt insbesondere eine Vielzahl von ritterlichen Tugenden eine zentrale Rolle, die weit über die Anforderungen des Waffenhandwerks hinausreichen: Der Ritter sollte nicht nur Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit besitzen, er sollte nicht nur vornehm, schön und geschickt in den Waffen sein, sondern er sollte auch die feinen Sitten des Hofes beherrschen, die Regeln des Anstands und der Etikette, die richtigen Umgangsformen, den guten Ton, vor allem gegenüber den Damen. 372 Äußerliche Tüchtigkeit, innere Werte und die Befolgung sozialer Normen sind untrennbar miteinander verbunden und implizieren sich gegenseitig. Äußere Schön- 368 Vgl. ebd.: 29-60. 369 Ebd.: 60. 370 Ebd.: 77. 371 Bumke 2008: 381. 372 Ebd.: 425. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 132 heit und höfische Prachtentfaltung sind ein Spiegel der inneren Vollkommenheit, höfische Umgangsformen werden so zum direkten Ausdruck von Tugenden. Die enorme Wirkungsmacht dieser ideologischen Selbstdarstellung weit über das Hochmittelalter hinaus ist bekannt, beeinflussen solche Vorstellungen doch selbst unser zeitgenössisches Bild von ‚ritterlichem‘ Verhalten oder den Tugenden eines ‚Kavaliers‘. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch der norwegische König Hákon Hákonarson Mitte des 13. Jahrhunderts auf die höfische Literatur zurückgriff, um seine frisch erstarkte Zentralherrschaft ideologisch zu untermauern. Surely the king whom Matthew of Paris characterized as vir discretus et modestus atque bene litteratus must have been well-informed of literary trends in other countries, and realized the advantage of emulating prestigious European courts in literary matters. 373 Unter seinem Einfluss wurde der norwegische Königshof für einige Jahrzehnte zu einem höchst fruchtbaren literarischen Milieu, das altnordische Übersetzungen verschiedener volkssprachlicher Stoffe hervorbrachte, u. a. auch die ersten übersetzten Riddarasögur nach dem Vorbild der französischen arthurischen Literatur. Eine primäre soziale Funktion dieser Texte bestand auch in Norwegen darin, eine prestigeträchtige, idealisierte Selbstdarstellung der adligen Oberschicht zu bieten. 374 Der Wirkungsgrad der übersetzten Riddarasögur beschränkte sich jedoch nicht auf den norwegischen Hof. Die Sagas wurden auch auf Island bereitwillig aufgenommen und abgeschrieben - die meisten von ihnen liegen heute nicht mehr in einer altnorwegischen Fassung vor, sondern in jüngeren altisländischen Abschriften. Vor diesem Hintergrund liegt es nah, dass auch die neu entstandene (Quasi-)Aristokratie des spätmittelalterlichen Island ihren Selbstausdruck in den Projektionen der höfischen Literatur gesucht hat. 375 Im Gegensatz zu Kalinke, die vor allem den Charakter der Riddarasögur als prestigeträchtiges Unterhaltungsprogramm der Oberschicht betont, sieht Barnes die soziale Funktion dieser Texte auch in ihrer didaktischen Funktion. Die Kürzung von Passagen, die die amor cortois zum Thema haben, erfolgt nach Barnes in den Riddarasögur v. a. »in order to focus attention on kings and heroes.« 376 Dieser neue Fokus der Aufmerksamkeit soll dazu dienen, dem Rezipienten beispielhafte Vertreter der ritterlichen Tugenden vor Augen zu führen: »[...T]he riddarasögur served essentially the same function as their later French counterparts: to instruct the nobility in the more practical ideals and duties of chivalry by means of example in a palatable literary form.« 377 Barnes sieht die Riddarasögur funktional in der Nähe solcher Gattungen wie dem Königsspiegel und als weltliches Gegenstück zu den exempla der heil- 373 Kalinke 1981: 20. 374 Vgl. Kalinke 1981: 20-45. Man kann Kalinkes Ausführungen vorhalten, dass sie den didaktischen Wert der Riddarasögur zu sehr zugunsten ihrer Funktion als elitäre Unterhaltung abwerten, doch ist nicht zu bestreiten, dass der Transfer des Prestiges ferner Höfe nach Norwegen einen zentralen Motivator für die Übersetzung höfischer Texte unter König Hákon darstellt. 375 Zur Geschichte der übersetzten Riddarasögur vgl. Glauser 2005. 376 Barnes 1975: 153. 377 Ebd. 6.1 Der Fremde im eigenen Sozialsystem 133 agra manna sögur. 378 Ihr didaktischer Zweck ist demnach ähnlich stark zu bewerten wie ihre Funktion als standesgemäße Unterhaltung. Gerd Wolfgang Weber hingegen grenzt seinen Ansatz dezidiert von Barnes’ Ausführungen ab. Nach seiner Lesart sind die Riddarasögur nicht für eine didaktische Funktion geeignet, da sie bei ihrer Übernahme in den Norden ihren höfischen ideologischen Überbau verloren hätten - was nicht verstanden wurde, sei ausgelassen worden. Weber bezeichnet diesen Prozess als »decadence of feudal myth« 379 und bezieht sich darauf, dass die Geschichten in Skandinavien im Prinzip auf jenes Niveau zurückfallen, das sie als volkstümliche Stoffe vor der Sinnstiftung durch Chrétiens belle conjointure hatten: [T]hese foreign texts were stripped bare of their feudal ideology and thereby reduced to story-patterns which resembled the traditional story patterns which were autochthonous: the fornaldarsaga, the fairy tale and the mythic story-patterns.« 380 Aus der Entwicklungsgeschichte des arthurischen Helden wird so eine lineare Aneinanderreihung von sinnentleerten Reiseabenteuern: »[...] the sequence of aventure loses its ‚meaning‘ and becomes a mere addition of events [...] . 381 Webers Deutung reiht sich in den Impetus der älteren Forschung ein, dass es sich bei den Riddarasögur um eine Art literarische Schwundstufe handelt, die eine holzschnittartigflache Welt entwirft und nicht mehr viel vom semiotischen Gehalt der kontinentalen höfischen Literatur in sich trägt. Allerdings ist Sinnstiftung keineswegs nur durch abstrakte Exkurse über höfische Werte oder eine psychologisierende Entwicklung des Protagonisten möglich - auch die anderen Aspekte der erzählten Welt tragen unzählige implizite Semiotisierungen in sich, die zusammen ein sinnstiftendes Ganzes ergeben. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass die soziale Funktion der höfischen Kultur in den originalen Riddarasögur nicht etwa geschwunden ist, sondern an die Bedürfnisse des neuen Zielpublikums angepasst wurde. Die Entstehung dieses Genres kann als Versuch gedeutet werden, eine aktualisierende translatio des höfischen Diskurses durch die Schaffung eigener Texte mit einem ähnlichen Erzählsujet vorzunehmen. 382 Wenn im Folgenden die sozialen Aspekte des Fremden in den originalen Riddarasögur näher untersucht werden, soll darum insbesondere die Frage im Vordergrund stehen, inwiefern die Texte einerseits die sozialen Normen der kontinentalen höfischen Literatur wiederspiegeln, sie aber andererseits auch dekonstruieren und an die speziellen Bedürfnisse der isländischen Rezipienten anpassen. 378 Ebd.: 157-158. 379 Weber 1986: 415. 380 Ebd.: 425. 381 Ebd.: 451. 382 Vgl. Glauser 1983: 219-233. Dieser Gedanke wird im Schlusskapitel wieder aufgegriffen. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 134 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 6.2.1 Áli als verlorener Sohn - zwischen Königshalle und Bauernkate Bereits im ersten Kapitel der Ála flekks saga werden soziale Abgrenzungen als zentrales Erzählthema vorgestellt: »Kotbœr einn var skammt frá h llinni. Þar átti atsetu karl, sá er Gunni hét. Hann átti sér kerlingu, þá er Hildr hét. Þau váru bæði mj k óríkr.« 383 Diese kontrastive Gegenüberstellung von Königshalle und Bauernkate etabliert plakativ zwei der sozialen Welten, deren Interaktion die weitere Saga- Handlung prägt. Áli, der Sohn des Königs von England und Held der Saga, überschreitet gleich zu Beginn der Handlung die Grenzen dazwischen. Aufgrund einer ungünstigen Geburtsprophezeiung wird er in der Wildnis ausgesetzt. Das Bauernpaar Gunni und Hildr nimmt sich des unbekannten Kindes an und zieht es auf. Später wird Áli auf einem Fest am Königshof von seiner leiblichen Mutter wiedererkannt und schließlich von seinem Vater als Sohn angenommen. 384 Noch vor dem Einsetzen der eigentlichen Haupthandlung vollzieht der Protagonist also einen zweifachen Wechsel von der höfischen Welt seiner Geburt in die Lebenswelt der Bauern und wieder zurück. Dass er als gebürtiger Königssohn in der Bauernkate stets ein Fremder bleiben wird, zeigt sich, als seine Zieheltern ihm einen Namen zu geben versuchen: En hvert þat nafn, sem þau [Gunni und Hildr] gáfu honum at kveldi, mundu þau aldri at morni. […] Einhvern morgun stóð karl upp snemma, ok gekk at rúmi því, er sonr hans lá í, ok þá mælti hann: ‚Sefr þú, Áli flekkr? ‘ En hann sagði sik vaka. Þetta nafn bar hann síðan. 385 Lagerholm deutet diese Begebenheit so, dass die ersten Namen, die von Áli regelrecht ‚abgleiten‘, wohl als bäuerliche Namen aus der Lebenswelt der Zieheltern stammen und dementsprechend dem Protagonisten unangemessen sind, seine wahre Natur nicht widerspiegeln. 386 Erst der Name Áli, der in Verbindung mit dem Bei- 383 AS: 85. Eine Bauernkate war nah bei der Halle. Dort hatte ein Alter, der Gunni hieß, seinen Wohnsitz. Er hatte eine alte Frau, die Hildr hieß. Sie waren beide sehr arm. 384 Es ist auffällig, dass » llum beztum m nnum« (alle besten Menschen) (AS: 87) zu dem Fest eingeladen sind. Wenn man diese allerdings als die Großen und Mächtigen des Reiches interpretiert, die zum Gefolge des Königs gehören, stellt sich die Frage, warum auch Ális Zieheltern anwesend sind, die explizit als »mj k órík« (AS: 85) charakterisiert werden. Hier wird in der Saga der Widerspruch aufgeworfen, dass Áli einerseits fern der höfischen Welt bei ärmlichen Bauern aufwächst, andererseits aber im Rahmen einer prunkvollen höfischen Festivität in den Kreis seiner Standesgenossen wiederaufgenommen wird. 385 AS: 86-87. Und an jeden Namen, den sie [Gunni und Hildr] ihm am Abend gaben, erinnerten sie sich am Morgen nicht mehr. [...] Eines Morgens stand der Alte früh auf und ging zu dem Bett, in dem sein Sohn lag, und dann sprach er: ‚Schläfst du, Áli flekkr? ‘ Und er [Áli] sagte, dass er wach sei. Diesen Namen trug er fortan. 386 Vgl. Lagerholm 1927: 86, Anmerkung zu Z.15/ 16. Zudem wird hier auch als möglicher Grund für das Misslingen der ‚Namensanhaftung‘ (nafnfestr) erwogen, dass ein passendes Geschenk zu diesem Anlass fehle. Dieser Aspekt scheint in der Ála flekks saga allerdings von untergeordneter Be- 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 135 namen flekkr dem Ziehvater eines Morgens beiläufig und scheinbar zufällig über die Lippen kommt, bleibt schließlich an ihm ‚haften‘. Gunni, dem ja die höfische Herkunft seines Ziehsohnes nicht bewusst ist, wird in einem quasi-prophetischen Akt dazu inspiriert, ihn plötzlich mit einem angemessenen Namen anzusprechen. Dies fügt sich in den Umstand ein, dass König Ríkarðr, Ális leiblicher Vater, über die Sehergabe verfügt, wodurch er um das künftige schwere Schicksal seines Sohnes weiß. 387 In der Namensgebungsszene wird nun Gunni eine vielleicht prophetische, zumindest aber unbewusst-wahre Verkündigung in den Mund gelegt, wodurch die explizit benannte Sehergabe des königlichen Vaters implizit auf den bäuerlichen Ziehvater projiziert wird. Hierbei ist beachtenswert, dass die Vergabe des angemessenen Eigennamens zusammen mit dem besagten Beinamen erfolgt, der wohl als ‚Fleck‘ im Sinne des auffälligen Muttermals zu deuten ist, das den Helden kennzeichnet: »hann hafði flekk á hœgri kinn.« 388 Dieses namensgebende Merkmal scheint jedoch für die Handlung der Saga keine besondere Rolle zu spielen und wird, nachdem es einmal eingeführt wurde, nicht weiter erwähnt. Wenn man allerdings bedenkt, dass Ális Jugendgeschichte eine Geschichte von Verlust (die Aussetzung in die Welt außerhalb des Hofes) und Wiedervereinigung (seine Wiedererkennung durch die Königin) ist, kommt dem flekkr dennoch eine entscheidende Bedeutung zu: Er entspricht dem klassischen Topos, dass die Wiedererkennung eines Vermissten bevorzugt durch ein besonderes körperliches Kennzeichen erfolgt, insbesondere durch ein unverwechselbares Muttermal. In der Ála flekks saga wird ein solches Kennzeichen als Bedingung der Wiedererkennung nicht explizit erwähnt. Die Verbindung des auffälligen, ansonsten nicht motivierten Beinamens mit der geschilderten Jugendgeschichte legt jedoch die Überlegung nahe, ob das Wiedererkennungsszenario am Königshof nicht im Kontext dieses verbreiteten Topos zu denken ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann auch der Umstand deuten, dass Áli den Beinamen zusammen mit seinem Eigennamen erhält: Sein Ziehvater Gunni verleiht dem Sohn nicht nur spontan einen angemessenen Namen, sondern er spricht zudem auch mit dem Beinamen einen unfreiwilligen prophetischen Hinweis darauf aus, dass Áli schließlich später bei Hofe (anhand seines ‚Flecks‘) wiedererkannt werden und somit wieder in jene Welt eintreten wird, der er eigentlich zugehörig ist. Ális Aufenthalt in der Welt seiner bäuerlichen Zieheltern ist ein Aufenthalt in der Fremde, in einer Umgebung, der er genau so wenig angehört wie den fernen geographischen Regionen, die er im späteren Verlauf der Saga bereist. Das Problem der Namensgebung zeigt, dass es Gunni und Hildr nicht gelingt, ihren Ziehsohn in ihre eigene Welt zu assimilieren und zu einem Dazugehörigen zu machen 389 - der einzige deutung zu sein, da ja auch die erfolgreiche spontane Benennung des Helden durch seinen Ziehvater Gunni nicht mit einem Akt des Schenkens verbunden ist. 387 Vgl. AS: 84. 388 AS: 86. Er hatte einen Fleck an der rechten Wange. 389 Dieser Versuch drückt sich auch darin aus, dass Hildr nach dem Auffinden des ausgesetzten Säuglings einen Geburtsvorgang simuliert, um Áli symbolisch zu ihrem leiblichen Sohn zu machen. Vgl 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 136 Name, der an ihm haften bleibt, ist ein Name der höfischen Welt, zudem noch verbunden mit dem Beinamen des ‚Flecks‘, der schon seine spätere Reintegration in den Königshof vorausdeutet. Die Interaktion von Fremdem und Eigenem ist in der Saga bereits als zentrales Handlungsmoment vorhanden, noch ehe der Held zu seiner ersten Reise aufgebrochen ist. Der Wechsel zwischen den andersartigen sozialen Lebenswelten etabliert das Fremde in der eigenen Heimat, wodurch das schematische Konzept des eigenen, vertrauten Hofes im Kontrast zur fremden, nichthöfischen Außenwelt, die es zu erkunden gilt, um eine weitere Achse ergänzt und zugleich hinterfragt wird. Die spiegelbildliche Aufspaltung der prophetischen Gabe auf den König als leiblichen Vater einerseits und den Bauern als Ziehvater andererseits weist schon darauf hin, dass es nicht um eine simple antithetische Gegenüberstellung dieser beiden sozialen Welten geht. Ein Blick auf den weiteren Verlauf der Saga-Handlung offenbart, dass das Verhältnis der beiden Jugendwelten Ális sich differenzierter gestaltet. 6.2.2 Áli als Bestie - zwischen Ausgrenzung und Integration Nachdem er bis ins ferne Tataria in der Welt herumgekommen ist, kehrt Áli schließlich unter denkbar ungünstigen Umständen in seine englische Heimat zurück: Der Fluch eines Trolls hat ihn in einen Werwolf verwandelt, der reißend über Mensch und Tier herfällt und, als besondere Zuspitzung des Fluches, dazu verdammt ist, im Reich des eigenen Vaters zu wüten. Der zur Bestie gewordene Held hat die Grenzen der Menschlichkeit überschritten und ist als Fremder heimgekehrt, der die monströsen, unheimlichen Aspekte der von ihm bereisten Außenwelt in den geschützten Bereich des Eigenen hinein transportiert, die Fremde gleichsam mit sich führt. Nachdem Áli seine Jugend als Königssohn unter Bauern verbracht hat, wird er an dieser Stelle erneut als Fremder in der eigenen Heimat dargestellt, zu einem Monster unter Menschen verfremdet. 390 Als König Ríkarðr Kunde von dem Ungetüm erhält, das in seinem Reich umgeht, handelt er entschlossen: Er lässt den Werwolf für vogelfrei erklären und ein Kopfgeld auf ihn aussetzen. Als dieser Versuch fruchtlos bleibt, beteiligt er sich selbst mit seinem Gefolge an der Jagd auf den Wolf, der ihm jedoch entkommt. Im Anschluss an diese erfolglose Jagd wird eine Begegnung des verfluchten Áli mit seinen alten Zieheltern geschildert: AS: 86. Hierin zeigt sich die Vergeblichkeit des Vorhabens, einen gebürtigen Abkömmling des Hofes dauerhaft ins Bauernleben zu integrieren. 390 Eine ausführliche Darstellung der Kulturgeschichte des Werwolf-Motivs findet sich bei Roberts 1999. Áli ähnelt nach Roberts’ Darstellung dem Typus des »‚sympathischen‘ Werwolf[s]«, der seit dem 12. Jahrhundert in der Literatur anzutreffen ist. Ebd.: 568. »In diesen Geschichten ist der Werwolf immer das Opfer eines Fluches, den eine treulose Person aus seiner nächsten Umgebung bewirkt hatte; im Gegensatz zu Gestaltwandlern, die freiwillig oder durch göttliche Bestrafung verwandelt wurden.« Ebd.: 571. Zum Gestaltwandel-Motiv in der altnordischen Literatur vgl. Davidson 1978 und Abschnitt 5.2.1. 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 137 Eitt kveld kemr vargrinn í garðshorn til Gunna ok Hildar. Þar lét vargrinn allt í friði, ok s[ett]iz í garð þann, er var fyrir bœ karls. Kerling sér þetta, ok mælti við karl sinn: ‚Engi aug[u] hefi ek líkari sét, en í vargi þessum ok var í Ála flekk! ‘ ‚Ekki sýniz mér svá‘, segir hann. 391 Bei der Darstellung dieser Szene fällt auf, dass sie komplett der begrenzten Perspektive Gunnis und Hildrs folgt. Der abendliche Besucher des Hofes wird lediglich als »vargrinn« bezeichnet, ohne dass die Erzählinstanz erwähnen würde, dass es sich um Áli handelt, von dessen Verwandlung die Zieheltern nichts wissen. 392 Hildr vermeint dennoch ihren Ziehsohn in dem Wolf zu erkennen, da sie seine Augen deutlich an die Ális erinnern. Diese Beobachtung wird dadurch relativiert, dass Gunni sie nicht teilt. Hier werden zwei aus dem begrenzten Wissen der Figuren heraus getroffene Aussagen nebeneinandergestellt, ohne dass eine übergeordnete Instanz ihre Widersprüchlichkeit auflösen würde. Ális Fremdartigkeit in der Gestalt des Werwolfs wird narrativ dadurch Rechnung getragen, dass er wie ein unbekanntes, von außen in die Menschenwelt eindringendes Wesen geschildert wird, das nur in der Wahrnehmung der mit ihm konfrontierten Menschen sichtbar ist und vom Erzähler durch die lapidare Bezeichnung »vargrinn« auf seine bloße Kreatürlichkeit reduziert wird. Die Perspektive der Saga hat sich an dieser Stelle zeitweilig umgekehrt: Sie folgt nicht länger dem Schicksal des Helden in der Fremde, sondern sie nimmt die Position derjenigen ein, in deren Welt der verfremdete Held von außen eindringt. Áli wird nicht nur auf der Inhaltsebene zum Ungeheuer - durch den auffälligen Perspektivwechsel wird er auch erzähltechnisch wie ein solches behandelt. In der Gegenwart seiner Zieheltern zeigt der wolfsgestaltige Áli Züge seiner alten Menschlichkeit, indem er sich friedlich verhält und von Hildr mit Abfällen füttern lässt, ehe er sich wieder in den Wald zurückzieht. Doch nimmt er noch in derselben Nacht sein bestialisches Wüten wieder auf: »Þat er nú af varginum at segja, at hann hljóp á skóg, ok reif fé til da[uða, ok á] þessi nótt drepr hann þrjá hjarðarsveina konungs.« 393 Der Kontrast zum friedlichen Umgang mit den Zieheltern wird dadurch noch gesteigert, dass die drei Hirtenknaben die ersten Opfer des Werwolfs sind, die in der Saga direkt genannt werden, während es ansonsten nur recht abstrakt heißt, dass das Ungeheuer »reif þar bæði menn ok fé til dauðs« 394 . Außerhalb der ziehel- 391 AS: 101-102. Eines Abends kommt der Wolf in die Hütte zu Gunni und Hildr. Da verhielt sich der Wolf ganz friedlich und setzt sich auf den Hof, der vor der Hütte des Alten war. Die Alte sieht das und sprach zu ihrem Alten: ‚Keine Augen habe ich ähnlicher gesehen als in diesem Wolf, und das war bei Áli flekkr [= ich habe keine Augen gesehen, die Áli flekks Augen ähnlicher waren, als bei diesem Wolf]! ‘ ‚Mir scheint das nicht so‘, sagt er. 392 Die bestimmte Artikelendung -inn weist den Leser natürlich implizit darauf hin, dass es immer noch um den in einen Wolf verwandelten Áli geht. Während jedoch im Vorkapitel auch sein Eigenname Verwendung findet, wird dieser nun konsequent vermieden und durch den Begriff vargr ersetzt, solange die Perspektive auf der Fremdwahrnehmung der vermeintlichen Bestie liegt. 393 AS: 103. Das ist nun von dem Wolf zu berichten, dass er in den Wald lief und das Vieh zu Tode riss, und in dieser Nacht tötet er drei Hirtenjungen des Königs. 394 AS: 100. sowohl Menschen als auch Vieh zu Tode riss. Beachtenswert ist an dieser Stelle, wie in der Saga der klassische Topos vom Gegensatz ‚Wolf und Schaf‘ bzw. ‚Wolf und Hirten‘ aufgegriffen wird, um den Wolf Áli als Mörder der Hirten deutlich 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 138 terlichen Welt, wo er schon einmal als Fremder angenommen wurde, ist der Held wieder ganz eine reißende Bestie. Der König reagiert, indem er eine große Treibjagd auf den Wolf ausrufen lässt, zu der auch Gunni und Hildr hinzugezogen werden. Schließlich wird der Werwolf in die Enge getrieben und von einem vierfachen Mannesring festgesetzt. Als der König dazu ansetzt, die Tötung des Wolfes zu verfügen, bittet Hildr für diesen um Gnade und verspricht, ihn von weiteren Untaten abzuhalten, wenn er ihr überlassen würde. Entgegen dem Rat seiner Hofleute gewährt der König die Bitte mit der Begründung: »Veita mundi Áli þér, Hildr! Þessa bœn, ef hann væri hér« 395 . Der Wolf Áli wird um des Menschen Áli willen gerettet, der seiner Ziehmutter ihre Bitte gewährt hätte. Dass König Ríkarðr von Áli als einem Nichtanwesenden spricht, zeigt in dieser absurden Zuspitzung sehr deutlich, dass er seinen Sohn, im Gegensatz zu Hildr, nicht zu erkennen vermag. 396 Der bäuerlichen Ziehmutter gelingt hier etwas, woran der königliche Vater gescheitert wäre: Áli wird gerettet, da die Aufhebung des Fluches daran gebunden war, dass eine Frau für die Bestie um Gnade bittet. 397 König Ríkarðr verhält sich in jeder Hinsicht so, wie es von einem gewissenhaften Landesherrn zu erwarten ist: Er versucht seine Untertanen vor dem Werwolf zu schützen, lässt Jagden auf ihn ausrichten und beteiligt sich schließlich persönlich daran. Dennoch führt sein vorbildliches Verhalten fast zur Katastrophe: Dadurch, dass er den zum Fremden gewordenen Áli nicht in dem Werwolf wiedererkennt und ihn als einen Feind behandelt, steht er kurz davor, den Verwandtenmord am eigenen Sohn auf sich zu laden und zudem noch den einzigen Erben seines Reiches auszulöschen. König Ríkarðr handelt als idealer höfischer Herrscher und wird der Situation damit doch nicht gerecht. Der dichotome Ansatz vom eigenen Hof, den es zu bewahren gilt, im Gegensatz zur fremden, ordnungsbedrohenden Außenwelt, die in der Gestalt des Werwolfs bekämpft werden muss, erweist sich als fatal. Die Bauersfrau Hildr hingegen, die nicht in die Kategorien des Hofes eingebunden ist, vermag die Grenze von Fremdem und Eigenem zu verwischen und den verlorenen Ziehsohn in der Bestie wiederzuerkennen. 398 Damit wird zugleich das Motiv der Wiedervereinigung verdoppelt, da zuvor außerhalb der menschlichen, wohlgeordneten Gesellschaft zu situieren, was umso mehr zugespitzt wird, wenn man dazu das christliche Symbol vom guten Hirten bedenkt. 395 AS: 103. Áli würde dir, Hildr, diese Bitte gewähren, wenn er hier wäre. 396 Dies steht in besonderem Kontrast zu der anfänglich eingeführten Sehergabe des Königs. 397 Ális eigentliche Rückverwandlung erfolgt auf dem Hof seiner Zieheltern und ist zusätzlich noch mit dem Topos vom Verbrennen des Wolfsfells kombiniert. Dieser Zug dürfte ein Zugeständnis an die starke Verbindung von Gestaltenwandel und Tierkleid in der skandinavischen Tradition sein, da er ja handlungsfunktional eigentlich überflüssig ist - die Auflage des Fluches ist schließlich bereits durch Hildrs Gnadengesuch erfüllt. Vgl. die Ausführungen zum hamr-Motiv bei Davidson 1978. 398 Diese Szene erinnert an den Lai Bisclavret der Marie de France. Auch hier wird der durch einen Fluch in einen Werwolf verwandelte Held vom König gejagt und schließlich gestellt. Er erfährt Gnade, weil er dem König flehentlich den Fuß küsst und so in seiner Menschennatur erkennbar wird. Vgl. Rieger 1980, V.135-160. Roberts führt diese Geschichte als typisches Beispiel des Motivs vom Werwolf als verfluchten Menschen auf, weist allerdings auch darauf hin, dass der Hinter- 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 139 ja schon Ális leibliche Mutter einst den zum Bauern verfremdeten Sohn wiedererkennt hat. Während die prophetische Vorausahnung auf Vater und Ziehvater aufgeteilt wird, ist das (Wieder-)Erkennen des Sohnes den beiden Müttern gegeben. Beide Elternpaare werden somit in ihrem Einfluss auf Áli über die Standesgrenzen hinweg gespiegelt dargestellt. Zum zweiten Mal wird Áli durch seine bäuerlichen Zieheltern das Leben gerettet: Während sie ihn als Säugling vor dem Verhungern in der Wildnis bewahrt haben, beschützt Hildrs Einfühlungsgabe ihn nun vor der Welt des Hofes, die ihm feindlich gegenüberstehen muss, solange er ihre Ordnung als Bestie bedroht. Der heimtückische Mechanismus des Troll-Fluches, dass ein reißender Werwolf, der außerhalb der menschlichen Gesellschaft steht, wohl kaum auf eine Gnadenbitte hoffen kann, wird somit durchbrochen. Ális Hybridstellung zwischen seiner höfischen Herkunft und der bäuerlichen Welt seiner Zieheltern erweist sich hier als seine Stärke - hätte er in dieser Situation nur auf seinen Vater zurückgreifen können, wäre er als Bedrohung des Hofes ausgetilgt worden. Die anfängliche Gegenüberstellung von h ll und kotbœr stellt somit keinen dichotomen Gegensatz in der Biographie des Helden dar, sondern vielmehr zwei Seiten seiner lebensprägenden Identität. Indem Áli im Verlauf der Saga-Handlung verschiedene Metamorphosen durchläuft, gelangt er über die Grenzen seiner sozialen Stellung hinaus und durchbricht den Topos des ritterlichen Helden, dessen Welt von fest gefügten Kategorien geprägt ist. 6.2.3 Blát nn und Glóðarauga - Trolle bei Hofe als Bedrohung von unten Das hart Leben, das Áli von seinem Vater noch vor der Geburt prophezeit worden ist, 399 nimmt seinen Anfang, als Áli eines Abends am Königshof der Magd Blát nn begegnet. Diese spricht den Fluch über ihn aus, dass er in den Wald gehen und ihre Schwester Nótt, die Trollfrau, ehelichen solle. Áli reagiert mit einem Gegenfluch, der Blát nn in eine Steinplatte verwandelt, auf der man im eldahúss das Feuer anzündet und die schließlich zerspringt. 400 Das bewahrt ihn jedoch nicht davor, den väterlichen Hof unter Zauberzwang verlassen zu müssen, um sich auf den Weg zu Nótt zu machen. grund von Bisclavrets Verwandlung letztendlich im Unklaren bleibt, so dass hier im Prinzip auch der Typus des freiwilligen, schurkisch agierenden Werwolfs vorliegen könnte - Marie de France betreibt hier nach Roberts ein geschicktes Spiel mit verschiedenen Topoi rund um den Werwolf. Vgl. Roberts 1999: 571-572. Albrecht Classen sieht die Erkenntnis des Menschlichen im Werwolf als Zeichen für die potentielle Integrierbarkeit des Fremden in die höfische Gesellschaft, sofern es sich deren Verhaltensnormen beugt: »Der ‚Fremde‘ erscheint mithin, repräsentiert durch das fremdartige Tier, durchaus integrierfähig und wird tolerant in ihre Mitte aufgenommen, weil es über die gleichen Wertvorstellungen und Verhaltensmuster wie die Höflinge verfügt [...].« Classen 1996: 17. 399 Vgl. AS: 85. 400 Bei diesem Wechselspiel von Fluch und Gegenfluch handelt es sich um das klassische ál g-Motiv, das die gesamte Saga als Handlungsmotor durchzieht. Vgl. Power 1987. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 140 Man kann davon ausgehen, dass es sich bei Blát nn, die sich als Schwester einer tr llkona bezeichnet, ebenfalls um eine Trollfrau (oder zumindest eine Halbtrollin) handelt, auch wenn der Text dies nicht explizit macht und sie lediglich als »at llu illa fallin« 401 bezeichnet. Ihre Zauberfähigkeit und die eher animalisch anmutende Beschreibung »Hon grenjaði hátt« 402 grenzen sie jedenfalls deutlich von den Menschen des Königshofes ab. 403 Ihre Stellung unter diesen Menschen ist denkbar schlecht: Sie steht als »ambátt« 404 , also als Magd, auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter. Dies kommt auch in der Begründung zum Ausdruck, die sie für die Verfluchung Ális gibt: »‚Þú Áli! ‘, segir hon, ‚hefir mik aldri kvatt með góðum orðum, ob skal ek nú launa þér þat [...].‘« 405 Der Königssohn Áli hat die weit unter ihm stehende Magd Blát nn niemals mit freundlicher Aufmerksamkeit bedacht und wird darum von ihr verflucht. Diese Begründung entspricht einem Aufbegehren gegen die anerkannte soziale Ordnung durch die Trollmagd, die mit ihrem Los ‚ganz unten‘ unzufrieden erscheint. Blát nn wird gleich in doppelter Hinsicht als fremd dargestellt: zum einen durch ihre unmenschliche Natur als Trollfrau und zum anderen durch ihr Aufbegehren gegen die gegebene Sozialordnung. Dadurch wird die Begegnung zwischen Menschen und Trollen, die in der Saga- Literatur häufig von Fremdheit und Feindseligkeit gekennzeichnet ist, im Rahmen einer neuen Bipolarität verortet: dem ‚klassischen‘ Gegensatz zwischen der geordneten Welt der Menschen einerseits und dem bedrohlichen Wildnisreich der Trolle in Wäldern und Bergen andererseits wird in der Ála flekks saga der neue Gegensatz zwischen dem hochadligen Status des Königssohnes einerseits und der niederen sozialen Position der Magd andererseits entgegengestellt. Feindseligkeiten entstehen nicht durch eine Konfrontation von Menschen und Ungeheuern in der Wildnis, sondern durch den Sozialneid der Trollmagd, die sich nicht in die Ordnung der Menschen einfügen will. Die Trollin am Königshof stellt somit eine Bedrohung von innen (genauer gesagt: von unten) für die höfische Welt des Protagonisten dar. Eine Wiederholung dieser Konstellation findet sich im späteren Verlauf der Saga, als Áli im Begriff ist, den Mädchenkönig Þornbj rg zu heiraten. 406 Diesmal geht die Bedrohung von einem Knecht am Hofe Þornbj rgs aus: Glóðarauga, ein Bruder der Nótt und somit ebenfalls Angehöriger der Trollsippe, mit der Áli seit der Verfluchung durch Blát nn immer wieder aneinandergerät. Der Troll spricht kurz vor der 401 AS: 88. in jeder Hinsicht schlecht beschaffen. 402 AS.: 89. Sie brüllte laut. 403 In diesem Kontext ist interessant, dass auch Áli als höfischer Held der Geschichte über die Fähigkeit verfügt, Flüche auszusprechen. Allerdings beschränkt er sich dabei konsequent auf Gegenflüche gegen die Übergriffe seiner trollischen Feinde, womit dem Handlungsschema des ál g entsprochen wird (siehe Fußnote 400). 404 AS: 88. Magd. 405 AS: 89. ‚Du, Áli‘, sagt sie, ‚hast mich niemals mit guten Worten begrüßt, und das werde ich dir nun heimzahlen [...].‘ 406 Zum Motiv des meykóngr siehe Abschnitt 7.2.4. Bei Þornbj rg handelt es sich insofern um eine untypische Vertreterin des Topos, als sie den werbenden Helden nicht demütigt und auch umgekehrt nicht auf demütigende Weise besiegt wird. Vgl. hierzu auch Wahlgren 1938: 64-65. 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 141 Hochzeitsnacht jenen Fluch über Áli aus, der ihn in einen Werwolf verwandelt. 407 Im Gegenzug verflucht Áli wiederum den Troll, der schließlich zu Tode kommt. Auch hier ist die Begründung der Verfluchung aufschlussreich: »‚Gott hyggr þú nú til, Áli! ‘ segir hann ‚at sofa hjá meykonungi; en nú skal ek launa þér þat, [er þú] lagðir á Blát nn, systur mína, ok því legg ek þat á þik, at þú verðir at vargi [...].‘« 408 Explizit gibt Glóðarauga Rache für seine verfluchte Schwester als Grund für sein Handeln an. Zusätzlich kommt in der höhnischen Einleitung »Gott hyggr þú nú til, Áli! […]at sofa hjá meykonungi« jedoch auch die unverhohlene Schadenfreude darüber zum Ausdruck, dem Königssohn die Verbindung mit einer standesgemäßen Braut verdorben zu haben. Auch hier erfolgt der zauberische Angriff auf Áli also durch einen Angehörigen der untersten sozialen Schicht, der ihm neidvoll entgegentritt und aus seiner angestammten Position in der höfischen Welt zu stoßen versucht. Wie in der Blát nn-Episode steht Ális Gegner ihm nicht nur als Ungeheuer, 409 sondern auch als sozial nicht ebenbürtiger (und somit unrechtmäßiger) Herausforderer gegenüber. Ein als Nicht-Mensch und Nicht-Aristokrat gleich doppelt verfremdeter Gegner attackiert Áli aus einer inferioren Position heraus mit einem Fluch, in dem neben trollischer Feindseligkeit auch Sozialneid mitschwingt. Während die Saga bei Ális Interaktion mit seinen bäuerlichen Zieheltern die Standesgrenzen verwischt und die Werte des Hofes als einzigen möglichen Bezugsrahmen in Frage gestellt hat, entwirft sie hinsichtlich der feindseligen Trolldienerschaft das Gegenbild einer streng gefügten Standesgesellschaft, in der Magd und Knecht so weit vom Königssohn Áli entfernt stehen, dass sie noch nicht einmal menschliche Züge tragen. Ihre Angriffe auf Áli stellen in diesem Kontext eine Bedrohung dieser Gesellschaftsordnung durch zerstörerische Kräfte von innen dar, auf die der Held als ordnungsstiftende Instanz zu reagieren hat. Die Bewältigung des Konflikts findet klassischerweise durch einen (in diesem Falle unfreiwilligen) Auszug des Helden in die bedrohliche Welt außerhalb des Hofes statt. 6.2.4 Nótt - eine anti-soziale Trollfrau in der Wildnis Nachdem er durch Blát nns Fluch vom Königshof fortgetrieben wurde, durchstreift Áli tagelang die Wildnis. Schließlich gelangt er in jenes Tal, wo die Trollfrau Nótt lebt, die der Fluch ihm als Gemahlin zugedacht hat. War mit der Magd Blát nn zuvor noch eine Trollfrau als (inferiorer und potentiell zerstörerischer) Teil der Menschenwelt in Erscheinung getreten, wird an dieser Stelle nun eine Trollin in ihrem natürlichen Lebensraum vorgestellt: Nótt haust in einer Höhle, die für Áli nur durch 407 Siehe Abschnitt 6.2.2. 408 AS: 99. ‚Du freust dich nun sehr darauf, Áli‘, sagt er, ‚beim Mädchenkönig zu liegen. Und nun werde ich dir das heimzahlen, was du Blát nn, meiner Schwester, auferlegt hast, und darauf erlege ich dir das auf, dass du zum Wolf wirst [...].‘ 409 Auch im Falle Glóðaraugas wird die Entmenschlichung des Trolls durch sein tierhaftes Geheul zum Ausdruck gebracht: »Glóðarauga grenjaði þegar ógurliga« (Gloðarauga heulte furchterrend) AS: 99. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 142 eine Kletterpartie zu erreichen ist, bereitet sich »hrossakj t ok manna« 410 als Nahrung zu, trägt einen unzüchtig geschnittenen Kittel und verhält sich Áli gegenüber sexuell zudringlich. Damit ist eine ganze Reihe von stereotypen Topoi erfüllt, die in der Sagaliteratur immer wieder zur Darstellung weiblicher Trolle herangezogen werden. 411 Sandra Ballif Straubhaar weist in diesem Kontext darauf hin, dass die Konfrontation des Helden mit hässlichen Trollfrauen als Begegnung mit Repräsentantinnen kultureller Fremdheit gedeutet werden können, etwa als Reflexe skandinavisch-samischer Begegnungen, worauf insbesondere die Lebensweise der Trolle als Wildnisbewohner hinweist. 412 Sie entwickelt anhand mehrerer Fornaldarsögur das Schema eines Helden, der als Aggressor ins Gebiet der Trollfrauen eindringt und gegen sie gewalttätig wird, weil sie seine Vorstellungen von Sittsamkeit, Kultur und weiblichem Rollenverhalten in Frage stellen: »These trollwomen are embodiments of what an inept ‚hero‘ fears, and so it is no wonder they are marked as Other.« 413 Dieses Schema findet sich in der Ála flekks saga nicht wieder. Áli dringt nicht aus eigenem Willen in Nótts Tal ein, sondern gezwungen durch den Fluch. Er flieht aus der Höhle der Trollin statt aktiv gegen sie vorzugehen und lässt sich auch nicht auf einen Austausch verbaler Schmähungen mit ihr ein, was für die von Straubhaar untersuchten Begegnungen typisch wäre. Obgleich also die Trollfrau Nótt zweifelsohne mit allen typischen Merkmalen eines erschreckenden, nicht-menschlichen Gegners aus der Trollwelt gezeichnet wird, kommt es dennoch nicht zu einer direkten Konfrontation. Die Bewältigung des Fremden durch brachiale Gewalt, wie sie für die Begegnung von Mensch und Troll in der Wildnis topisch wäre, bleibt (vorerst) aus. Nótt erweist sich als der gefährlichste von Ális Trollgegnern: Nicht nur, dass dem Helden bei ihrer ersten Begegnung nichts als die Flucht bleibt; im späteren Verlauf der Saga verflucht sie ihn zudem als Rache für Blát nns und Glóðaraugas Schicksal durch eine Traumerscheinung, womit sie dem Helden gleich zweimal in die Quere kommt. Getötet werden kann sie schließlich nur durch ihren Bruder, den Trollkönig J tunoxi, als einzige Angehörige der Trollsippe, mit der Áli nicht aus eigener Kraft fertig wird. Das Motiv der Trollfrau, die als Rächerin ihrer Angehörigen auftritt und dabei deutlich gefährlicher als die männlichen Trolle wird, findet sich in diversen Texten der Saga-Literatur; hier wird in der Darstellung Nótts also ebenfalls ein verbreiteter Topos bedient. 414 410 AS: 93. Pferde- und Menschenfleisch. 411 Siehe auch die Analyse der Trollfrauen in der Sigurðar saga þögla in Abschnitt 7.2.1-7.2.3 sowie die Erwägungen zur Halbriesin Alba in der Valdimars saga in Abschnitt 5.2.3. 412 Vgl. hierzu den ähnlichen Ansatz bei Lindow 1995. 413 Straubhaar 2001: 116. 414 Puhvel geht davon aus, dass dieses Motiv durch den Einfluss keltischer Erzähltraditionen über kriegerische Hexengestalten in die altnordische Literatur gelangt ist, da es sich in älteren, z. B. eddischen Quellen in dieser Form nicht findet. Vgl. Puhvel 1987. Da sich in der Ála flekks saga auch andere Spuren keltischen Erzählguts nachweisen lassen (vgl. Power 1987), ist diese Annahme im gegebenen Kontext durchaus denkbar. Puhvel konstatiert, dass sich das Motiv der gefährlichen Trollfrau außer in manchen späteren Sagas im germanischen Raum nicht fände, geht dabei aber leider nicht auf die naheliegende Parallele im altenglischen ‚Beowulf‘ ein, wo Grendels Mutter als Rächerin ihres Sohnes auftritt und dabei dem Helden einen deutlich härteren Kampf liefert. 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 143 Während die Ála flekks saga bei der Darstellung der beiden ‚Unterschicht-Trolle‘ Blát nn und Glóðarauga eigene Wege geht und die Fremdheit des Trolls auf die soziale Ebene projiziert, bewegt sie sich mit der Einführung der Trollfrau Nótt ganz im Bereich der verbreiteten Topoi. An die Stelle des Sozialverbandes der Menschen, in dem die zerstörerischen Trolle als Fremdkörper Unheil stiften, tritt die menschenleere Wildnis, wo der Held sich als Fremder bewegt, der sich angesichts der Gefahren dieser Jenseits-Welt behaupten muss. 415 Die Darstellung der ‚klassischen‘ Trollfrau Nótt als Menschenfresserin im Ödland ist somit keineswegs ein bloßes Versatzstück aus althergebrachten Erzählmotiven, sondern eine spiegelbildliche Umkehrung der Grundkonstellation von Fremdheit und Vertrautheit: Nun bewegt sich der Held in der Welt der Trolle; hier hat Nótt die Oberhand, der höfische Königssohn ist als Eindringling in der inferioren Position und auf Hilfe angewiesen, um in dieser lebensfeindlichen Umgebung bestehen zu können. Diese erhält er von einem Wesen, das ebenso wie er die Grenzen der Welten zu überschreiten gewohnt ist. 6.2.5 Hlaðgerðr - die soziale Integration einer Halbtrollin Bevor Áli bei Nótts Höhle angelangt, stößt er zunächst auf ein großes Haus in einem Tal. Hier lebt die Halbtrollin Hlaðgerðr, die ihre Herkunft mit folgenden Worten beschreibt: »Fyrir dal þessum ræðr móðir mín, er Nótt heitir, ok til hennar ertu sendr. Faðir minn var mennskr maðr, ok til hans bregðr mér meirr at betr er« 416 . Sie ist also die Tochter der Trollfrau Nótt und eines Menschenmannes, schlägt jedoch mehr nach ihrem Vater, was von ihr positiv bewertet wird. 417 Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter wird sie als »eina fríða kona« 418 beschrieben, was ebenfalls ihre Menschlichkeit betont, Elemente des Fremden jedoch stark zurücknimmt - kein äußeres Merkmal scheint auf ihre trollische Herkunft hinzuweisen, die nur dadurch bekannt wird, das Hlaðgerðr selber sie thematisiert. Auch der Umstand, dass sie ein Haus bewohnt, stellt sie in die Nähe der Menschenwelt: Die Halbtrollin hält sich in einem geschützten, häuslichen Raum inmitten der Wildnis auf, braucht also wie ein Mensch die Sicherheit eines Herdes, während ihre Trollmutter in einer Höhle haust und somit Teil der Wildnis ist, vor der ein Haus Schutz gewähren soll. Hlaðgerðrs Fähigkeiten reichen jedoch über das menschliche Maß hinaus. Durch ihre Sehergabe erkennt sie Áli, der ihr noch nie zuvor begegnet ist, und weiß um seinen Fluch. Sie steht ihm als Schenker-Figur im Sinne der Märchen-Morphologie zur Seite und lässt ihm die Hilfe zuteil werden, die er später benötigen wird, um das 415 Hier liegt der Fall eines unscharfen Raumes vor, der sich geographisch nicht fassen lässt und irgendwo zwischen England und Tartaría angesiedelt ist. Er ist lediglich topologisch als Gegenentwurf zum heimatlichen Hof definiert. Siehe Abschnitt 4.3. 416 AS: 90 Über dieses Tal herrscht meine Mutter, die Nótt heißt, und zu ihr bist du gesandt. Mein Vater war ein menschlicher Mann, und nach ihm schlage ich mehr, was besser ist. 417 Zum Motiv der Halbtrollin siehe auch die Ausführungen zur Riesentochter Alba in Abschnitt 5.2.3. 418 AS: 90. eine schöne Frau. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 144 Abenteuer in Nótts Höhle zu bestehen: 419 eine Axt, um den Aufstieg zur Höhle über Trittstufen zu bewältigen, ihren gewaltigen Schoßhund, der die verschlossene Höhle für Áli aufbricht, sowie Schweinefleisch, das Áli ausstreuen soll, um Nótt von der Verfolgung abzulenken. Hlaðgerðr setzt die zauberischen Mittel der Trollwelt ein, um dem Helden das Überleben in dieser für ihn bedrohlichen Umgebung zu ermöglichen. Sie fungiert als Mittlerfigur zwischen der fremden Welt der Trolle und dem Bereich der Menschen, aus dem Áli stammt. 420 Auch diese Konstellation erfährt im späteren Verlauf der Saga eine Umkehrung: Nachdem Áli den Trollkönig J tunoxi besiegt hat, wird er von dem sterbenden Troll dazu verflucht, nicht eher Ruhe zu finden, bis er Hlaðgerðr wiedergefunden hat. Dies gelingt ihm schließlich nach langer Suche in dem Menschenkönigreich Svíþjóð en mikla, also außerhalb der Trollwelt, wo er ihr zuvor begegnet ist. Diesmal ist es Hlaðgerðr, die sich in einer (im wahrsten Wortsinne) brenzligen Situation befindet und auf Hilfe angewiesen ist: »ok er hon hjá konungi, ok ætlar hann at láta brenna hana í eldi, þvíat hann ætlar, at hon sé tr llkona, ok á morgin skal þetta frammgengt verða«. 421 Der König von Svíþjóð beabsichtigt, Hlaðgerðr wegen des bloßen Verdachts auf ihre trollische Herkunft öffentlich verbrennen zu lassen; man beachte in diesem Kontext die vorsichtige Formulierung »hann ætlar, at hon sé«, es liegt also lediglich eine (im Konjunktiv geäußerte) Vermutung des Königs und noch nicht einmal Gewissheit vor. Die Halbtrollin, ein Eindringling aus der Wildnis, ist in der für sie fremden Menschenwelt ähnlich großen Gefahren ausgesetzt, wie es Áli zuvor als Eindringling in der Trollwelt war - die Eigenschaft der Fremdheit erweist sich hier als perspektivisch gebunden. 422 419 Vgl. Propp 1972: 43-52. 420 Lotte Motz widmet in ihrer Untersuchung über weibliche Figuren im germanischen Mythos ein eigenes Kapitel den Helden der Fornaldars ö gur, die in der Wildnis auf Trollfrauen treffen. Vgl. Motz 1993. Hierbei kommt sie zu dem Schluss, dass diese Erzählsequenzen häufig den Charakter von Initiationserzählungen haben: »The encounter with the woman in the cave, in all her forms, mistress, helpful friend, or captured princess, has added a new dimension to his [the heros] life. […] We thus meet here, as in many fairy tales, a combination of the scenarios of the male and of the female rites of passages. […] It is always a giantess who is encountered by the hero, and it is in her home, amidst the rocks and glaciers of Giantland, where his manhood is created.« Motz 1993: 63-64. Bei allen Vorbehalten, die gegenüber anthropologisch-verallgemeinernden Deutungen von Erzählungen gewiss angebracht sind, trifft dieses Erklärungsmodell auf die Begegnung von Áli und Hlaðgerðr doch zu: Der Held bricht als Jüngling vom väterlichen Hof auf, erlebt ein Abenteuer im Tal der Trollfrauen, und trifft im direkten Anschluss auf den Mädchenkönig Þornbj rg, den er ehelicht, womit er endgültig zum Mann wird. Hlaðgerðr durchbricht allerdings insofern das von Motz aufgezeigte Schema, als sie keineswegs eine wilde Höhlenbewohnerin ist, sondern zur Hälfte der Menschenwelt angehört und in einem Haus lebt. Die Trollfrau- Erzählfunktionen bedrohliches Wildnisgeschöpf und Helferin des Helden sind hier zwischen Nótt und Hlaðgerðr aufgespalten. Vgl. zudem McKinnell 2005: 181-196 zum Motiv der Riesin als Helferfigur. 421 AS: 117. und sie ist beim König, und er plant sie im Feuer verbrennen zu lassen, weil er annimmt, dass sie eine Trollfrau sei, und am Morgen soll dies vollzogen werden. 422 Vgl. hierzu auch Straubhaars Bemerkung zu den Trollen in den von ihr untersuchten Fornaldarsögur: »The ‚trolls‘, male or female, are marked as deserving of death and shame because of their difference from the common run of humankind. […] Thus here again, what we fundamentally 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 145 Áli übernimmt nun die Helferfunktion, die Hlaðgerðr zuvor für ihn ausgefüllt hat, und rettet die Halbtrollin vor dem Flammentod. Im Anschluss daran legt er vor König Eireik von Svíþjóð ein gutes Wort für Hlaðgerðr ein: »Hon er at llu því vel fallin [...]þó at ætt [hennar] sum sé eigi góð.« 423 Auffällig ist, dass Hlaðgerðr hier genau mit der gegenteiligen Formulierung zu der Charakteristik beschrieben wird, mit der zu Beginn der Saga ihre trollische Tante Blát nn eingeführt wird: »at llu illa fallin« 424 . Sie wird also zu der übrigen Trollsippe in direkten Gegensatz gestellt: Als spezifisches Individuum mit menschlichen Zügen kann sie als positive Figur bewertet werden, wenn auch in der deutlichen Abgrenzung zum Rest der Sippe der allgemeine Impetus bestehen bleibt, dass Trolle fremdartig und unheilbringend sind. Auch hierin wird ihr Sonderstatus als hybride Mittlerfigur deutlich, die die vorgegebene Opposition von feindseliger Trollwelt und höfischer Menschenwelt durchbricht. Ális Fürsprache für Hlaðgerðr ist schließlich so erfolgreich, dass König Eireik um die Hand der Halbtrollin anhält, die plötzlich von der verfolgten, halbmenschlichen Außenseiterin zur Königin eines Menschenreichs an der Spitze der sozialen Hierarchie aufsteigt. Dies ist zum einen mit dem Topos der glücklichen Heirat am Ende einer originalen Riddarasaga zu begründen, wobei häufig auch Nebenfiguren vermählt werden, um alle Erzählstränge zu einem Ende zu führen. Gleichzeitig stellt jedoch diese extreme Verbindung von König und Halbtrollin, die alle sozialen Schichten der Menschenwelt überspringt, auch noch einmal als deutliches Signal am Saga-Ende die festen Standeskategorien der höfischen Welt in Frage, die durch Ális bäuerliche Zieheltern und seine zeitweilige Werwolf-Metamorphose ja schon zu Beginn der Handlung problematisiert worden sind. Hlaðgerðrs halbtrollische Natur, vor Kurzem noch Grund genug, sie hinzurichten, stellt nun nicht einmal mehr einen Hinderungsgrund für eine Hochzeit in die höchsten Kreise dar. Schärfere Kontraste sind kaum denkbar, um die soziale Schichtung der höfischen Riddarasögur geradezu plakativ zu dekonstruieren. In beiden Hlaðgerðr-Episoden wird das Motiv der Eheschließung zwischen Menschen und Trollen auf gegensätzliche Art und Weise aufgegriffen: Ális Abstecher in die Trollwelt erfolgt unter der Prämisse, dass er das böse Trollweib Nótt heiraten muss, wovor ihn Hlaðgerðrs Hilfe bewahrt. Bei ihrer zweiten Begegnung am Ende der Saga hingegen stellt die Heirat des Menschenkönigs Eireik mit der Halbtrollin einen Teil des obligatorischen Happy End dar, wozu Ális Hilfe maßgeblich beiträgt. 425 have in these thirteenthand fourteenth-century narratives are not simply legendary or mythic encounters, but also xenophobic, ethnocentric, and colonial ones.« Straubhaar 2001: 118-119. 423 AS: 118. Sie ist in jeder Hinsicht gut beschaffen [...] obwohl ihre Familie zum Teil nicht gut sei. 424 AS: 88. in jeder Hinsicht schlecht beschaffen. 425 Diese Konstellation kann als Beispiel für die Vorliebe der originalen Riddarasögur betrachtet werden, spiegelsymmetrische Handlungsabläufe zu konstruieren. Auf diese Erzähltechnik wird in Kapitel 9 ausführlich eingegangen werden. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 146 Die individuelle Disposition der Figuren scheint der Saga an dieser Stelle deutlich wichtiger zu sein als ein binäres Oppositionsschema zwischen ‚guten‘ Menschen und ‚bösen‘ Trollen: Während eine potentielle Heirat mit der abstoßend negativ dargestellten Trollfrau Nótt eine ernsthafte Bedrohung für den Helden darstellt, erlebt die Halbtrollin Hlaðgerðr, die sich als wohltätige Helferfigur betätigt, am Ende der Saga sogar den sozialen Aufstieg zur Königin (und somit letztlich auf eine Ebene mit Áli). In keiner anderen Figur kristallisiert sich die Vorliebe der Ála flekks saga für die Durchbrechung scheinbar fest gefügter sozialer Kategorien so klar heraus wie in dem hybriden Charakter der Hlaðgerðr - Trollfrau und Mensch, Ausgestoßene und Königin. 6.2.6 J tunoxi - der Trollkönig am Ende der Welt Bislang wurden Trolle als sozial benachteiligte Fremde in der Menschenwelt, Ungeheuer in der Wildnis oder, im Falle Hlaðgerðrs, Wanderer zwischen diesen beiden Welten betrachtet. Die Ála flekks saga fährt jedoch noch eine vierte Variation des klassischen Trollmotivs auf: Trolle als Bewohner eines eigenen Trollkönigreichs. Nachdem Áli durch eine Traumvision der Nótt mit unheilbaren Wunden geschlagen wurde, die nur durch einen Bruder der Nótt behandelt werden können, reist er in der Begleitung Þornbj rgs auf der Suche nach einem Heilmittel in der Welt herum. Im fernen Indien erfahren sie schließlich, dass der Troll J tunoxi, König des Trollkönigreiches am Ende der Welt und Bruder der Nótt, eine wundersame Heilsalbe besitzt, die allein Áli zu helfen vermag. 426 Hierbei fällt zunächst einmal die unbestimmte Ortsangabe des Trollkönigreichs auf: »J tunoxi ræðr fyrir þ[ví l]andi, er allt er út við heimsendann« 427 . Unmittelbar zuvor wurde die ausgedehnte Suche nach dem Heilmittel durch solch exotische geographische Bezeichnungen wie »Affrícám«, »Ásíám« und »Indíáland« 428 dargestellt, was sich ins Gesamtbild der Saga fügt, die auch sonst mit klangvollen Ortsnamen aus allen Winkeln der mappa mundi nicht zurückhaltend verfährt. Jenes Land aber, wo sich das Ziel der Suche befindet, wird nicht einmal mehr mit einem Eigennamen bedacht, sondern lediglich durch die wage Ortsbestimmung »við heimsendann« charakterisiert. Dieser Umstand weist darauf hin, dass das Königreich der Trolle nicht auf einer Ebene mit den diversen Ländern der bekannten Welt situiert ist. Es liegt außerhalb des kosmographischen Wissenssystems - am Ende der Welt, also an der weitestmöglich entfernten Peripherie, wo eine klare Kategorisierung durch sprachliche Benennung nicht mehr möglich ist. Somit ist es dem nicht näher benannten Trollwald, wo Áli einst auf Nótt und Hlaðgerðr getroffen ist, viel ähnlicher als den Ländern der Menschen, die der Held bislang bereist hat. 426 Indien als Ort, wo man vom wundertätigen Heilmittel erfährt, reiht sich in die zahlreichen positiven Topoi, die in der altnordischen Literatur mit diesem fernen Land verbunden sind. Vgl. Johanterwage 2007: 83. 427 AS: 109. J tunoxi herrscht über das Land, das ganz außen am Ende der Welt liegt. 428 AS: 108. Afrika, Asien, Indien. 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 147 Es handelt sich bei dem Trollkönigreich um einen unscharf definierten, jenseitigen Raum mit diffusen Grenzen. Dies wird besonders deutlich, wenn J tunoxi im späteren Verlauf der Saga von seinem Königreich zur Höhle der Nótt reist. Über seine Rückreise heißt es: »ok fimm nóttum síðarr kemr hann heim í sitt ríki« 429 . Der Trollkönig hat also fünf Tage gebraucht, um sein Reich am äußersten Ende der Welt, in das Áli und Þornbj rg erst nach jahrelangen Irrfahrten gelangt sind, von jener Höhle aus zu erreichen, in die Áli einst binnen 18 Tagen von seiner englischen Heimat aus gelangt ist. Die Diskrepanz der Reisezeiten und Entfernungsverhältnisse ist überdeutlich; die trollischen Lebensbereiche lassen sich nicht in einem geographischen Bezugssystem fixieren. 430 Während das Trollkönigreich in seiner räumlichen Situierung der unbestimmten Wildnis von Nótts Reich ähnelt, ist sein interner Aufbau durchstrukturiert und an die höfischen Verhältnisse der Menschenwelt angelehnt: J tunoxi steht als König an der Spitze des Reiches. Seine beiden Brüder Leggr und Liðr unterstehen ihm als Vasallen. Der König residiert standesgemäß in einer Halle und empfängt die menschlichen Besucher würdig. Er ist zudem an einer Heirat mit Þornbj rg interessiert, die er zur Bedingung für Ális Heilung macht; er betrachtet die Ehe mit einer Menschenkönigin also als angemessene Verbindung. Zu der geplanten Hochzeit werden »CC flagða« 431 als stattliches Gefolge eingeladen. 432 Das Trollkönigreich ist insgesamt als spiegelbildlicher Gegenentwurf zu den höfischen Königreichen der Menschen angelegt. Den Bodensatz der Gesellschaft bilden auch hier unfreie Diener: die beiden Menschenmänner Mandán und Andán, die dem Trollkönig nur unwillig dienen und die J tunoxi einst, wie der Leser später erfährt, von ihrem Vater, einem Jarl, geraubt hat. Die Menschen sind Fremde im Trollkönigreich, ähnlich wie die Magd Blát nn oder der Knecht Glóðarauga in der Menschenwelt Fremde sind: »eru hér ok eigi fleiri mennskir en vit« 433 . Schließlich verbünden sich Mandán und Andán mit Áli gegen ihren Herren und tragen zu seiner Vernichtung bei. Die menschlichen Knechte entwickeln somit ein ähnlich zerstörerisches Potential der Bedrohung von innen bzw. von unten, wie dies zuvor schon die Trolle als sozialer Bodensatz bei den Menschen getan haben. Das Motiv des verräterischen Dieners, der den Hof von innen heraus destabilisiert, wird also in gespiegel- 429 AS: 113. und fünf Nächte später kommt er nach Hause in sein Reich. 430 In diesem Kontext ist auch der Umstand bezeichnend, dass Áli von Nótts Höhle aus zu Fuß nach Tartaría gelangt. Er bricht also von den britischen Inseln auf, durchquert den Trollwald und findet sich plötzlich in Asien wieder. Vgl. AS: 94-96. Siehe hierzu auch die Erwägungen zu den unscharfen Räumen der originalen Riddarasögur in Abschnitt 4.3. 431 AS: 113. 200 Trollweiber. 432 In seiner Studie über die Feste von Riesen kommt Simek zu dem Schluss, dass die meisten Sagas »use these parties in order to enforce the image of the sinister side of giants and trolls [...].« Simek 2000: 394. Dies bezieht sich vor allem auf die rauen Umgangsformen und brutalen Belustigungen, die topisch mit Riesenfesten verbunden sind. In der Ála flekks saga wird solches Verhalten der Riesen allerdings nicht beschrieben. Hier besteht die Funktion des Festes darin, den Charakter des Trollreiches als Anti-Hof zu betonen, stellt doch ein Fest einen höfischen Idealzustand der standesgemäßen Freude dar. 433 AS: 113. Hier gibt es auch nicht mehr Menschen als uns beide. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 148 ter Form verdoppelt. Das Fremde bleibt potentiell bedrohlich, selbst wenn man es durch eine Einordnung in das herrschende soziale System scheinbar bewältigt hat. Trollwelt und Menschenwelt interagieren in der Ála flekks saga auf vielfältige Art und Weise miteinander und sind keineswegs auf eine bloße Opposition beschränkt. Hierbei kommt insbesondere die Erzähltechnik der Spiegelung zum Einsatz, bei der eine bestimmte Konstellation einmal aus menschlicher Perspektive und einmal mit umgekehrten Vorzeichen aus Trollsicht umgesetzt wird. 434 Soziale Rollen als König oder Knecht, Dazugehöriger oder Außenseiter sind dabei ein weitaus dominanteres Unterscheidungsmerkmal zur Schaffung von Unterschieden als die bloße Abstammung aus der Troll- oder Menschenwelt. Die Saga spielt mit der Durchbrechung von Standesgrenzen auf der einen Seite und des scheinbar fest gefügten Gegensatzes von Trollen und Menschen auf der anderen Seite. Der menschliche Held kann zur Bestie werden, Trolle sind nicht nur bedrohliche Wildnisbewohner, sondern auch Helfer oder gar Angehörige eines eigenen (Gegen-)Hofes. Die Überschreitung von Grenzen und die Infragestellung von klaren Kategorien werden auch bei der Behandlung des klassischen Troll-Motivs als zentrales Anliegen der Saga erkennbar. 6.2.7 Der Held und seine Standesgenossen - der vertraute Hof in der Fremde Auf seinen abenteuerlichen Reisen trifft Áli nicht nur auf diverse Vertreter der Trollwelt, sondern auch auf menschliche Bewohner ferner Länder, mit denen es zu interagieren gilt. Diese entstammen zumeist seinem eigenen adligen Stand, sind Könige, Jarle oder deren Kinder und somit ebenfalls der Welt des Hofes zugehörig. Die erste Begegnung dieser Art vollzieht sich, nachdem Áli aus dem Wald um Nótts Höhle geflohen ist und in das Reich Tataria gelangt. Dort trifft er auf den Mädchenkönig Þornbj rg, seine spätere Frau, und hält sich zunächst unter einem falschen Namen bei Hofe auf, ohne auf seine königliche Herkunft hinzuweisen. Es ist bemerkenswert, wie rasch Þornbj rg dennoch die wahre Natur ihres Gastes errät: Meykonungr spurði sína menn, hvat manna þeir ætlaðu hann vera. En þeir s gðuz þat eigi vita, ok fréttu hana, hvat hon ætlaði. Hon sagði þá: ‚Þat ætla ek‘, sagði hon, ‚at hann sé konungsættar, ok hafi orðit fyrir ál gum‘; ok fell þar niðr þetta mál. 435 Es fällt dem Mädchenkönig offensichtlich nicht schwer, in dem geheimnisvollen Wanderer einen fluchbeladenen Standesgenossen zu erkennen. Schließlich übernimmt Áli sogar das Kommando über das Heer des Mädchenkönigs, um die beiden Jarle von Indien abzuwehren, die Þornbj rg als unliebsame Brautwerber bedrängen. Auf seinen obligatorischen Sieg folgt die ebenso obligatorische Hochzeit mit dem Mädchenkönig, nun schon unter seinem wahren Namen als Sohn des Königs von England. Obgleich es den Helden mittellos in unbekannte Ferne verschlägt, bereitet 434 Zu dieser Erzähltechnik siehe Kapitel 9. 435 AS: 96. Der Mädchenkönig fragte seine Männer, was sie glaubten, was für ein Mann er [Áli] sei. Und sie sagten, dass sie das nicht wüssten, und fragten sie, was sie glaubte. Sie sprach dann; ‚Das glaube ich‘, sagte sie, ‚dass er aus einem königlichen Geschlecht stammt und unter einen Fluch gefallen ist.‘ Und das Thema wurde beendet. 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 149 es ihm keine Probleme, sich am örtlichen Königshof zu integrieren. Die gemeinsame höfische Kultur zählt nach Darstellung der Saga mehr als räumliche Distanz, Sprachbarrieren oder mögliche kulturelle Unterschiede, die komplett ausgeklammert werden. Diese Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen höfischen Bezugssystem über Landesgrenzen und beliebige Entfernungen hinweg geht soweit, dass Þornbj rg in Áli mit intuitiver Sicherheit ihresgleichen erkennt. Auch Álfr und Hugi, die besagten Jarle von Indien, gehören diesem gemeinsamen Wertesystem an. Da sie jedoch als Aggressoren von außen auftreten und die Brautwerbung um Þornbj rg auch mit Gewalt durchzusetzen bereit sind, werden sie zunächst als Gegner behandelt und von Áli bekämpft. Hugi wird während der Kämpfe getötet, Álfr hingegen nach höfischer Manier verschont und durch einen Friedenseid gebunden, ehe man ihm freien Abzug nach Indien gewährt. Er tritt jedoch wieder in Erscheinung, als Áli und Þornbj rg später auf der Suche nach einem Heilmittel in sein Reich gelangen: En er hann vissi, at Þornbj rg dróttning var þar komin, gengr hann sjálfr ofan til strandar með sína menn, ok er hann finnr Ála ok dróttningu, fagnar hann þeim vel ok verðr þó hryggr við þat at Áli er svá litt haldinn. Hann býðr þeim til sín með alle sína menn. 436 Der ehemalige Feind, der Áli bei ihrer letzten Begegnung im Kampf gegenüberstand, verhält sich seinen Gästen gegenüber nun nach allen Regeln der höfischen Gastfreundschaft und nimmt sie gut bei sich auf; später übernimmt er sogar die Funktion eines Helfers, indem er ihnen von J tunoxi und seiner Wundersalbe berichtet. Die gemeinsame höfische Identität, die bei der Begegnung von Áli und Þornbj rg schon über Grenzen und Entfernungen hinweg verbunden hat, kann nun sogar den kriegerischen Konflikt der Vergangenheit überbrücken. Die ausgesöhnten Gegner intergieren auf einer gemeinsamen, höfischen Kommunikationsebene als Gleichwertige und Verbündete nebeneinander. Das Konzept der Rache (immerhin hat Álfr im Kampf gegen Áli seinen Bruder verloren) wird in diesem Kontext nicht einmal angedacht. Als Áli und Þornbj rg kurz darauf in J tunoxis Königreich ankommen, weist im Text nichts darauf hin, dass sie es mit der Trollwelt zu tun haben: Heldr dróttning nú í burt af Indiálandi, ok er eigi sagt af hennar ferð fyrr en hon kemr við land J tunoxa. Ok er hann veit, at tígnir menn eru komnir, lætr hann bjóða þeim heim til veizlu. Dróttning þiggr þat [...]. Gengr dróttning nú frá skipum með sínum m nnum til hallar J tunoxa, ok tekr hann vel við þeim ok fréttir dróttningu at nafni ok at erendum. 437 436 AS: 108-109. Und als er erfuhr, dass Königin Þornbj rg dorthin gekommen war, ging er persönlich mit seinen Männern zum Strand hinab. Und als er Áli und die Königin trifft, heißt er sie gut willkommen und wird darüber traurig, dass Áli in einem so schlechten Zustand ist. Er lädt sie zu sich ein mit allen ihren Männern. 437 AS: 110-111. Die Königin bricht nun aus Indien auf und von ihrer Reise wird nichts berichtet, bis sie in das Land J tunoxis kommt. Und als er erfährt, dass würdige Menschen gekommen sind, lässt er sie zu sich nach Hause zu einem Festmahl einladen. Die Königin nimmt dies an [...]. Die Königin geht nun mit 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 150 Der Empfang beim Trollkönig verläuft nach allen Regeln des höfischen Umgangs; die Beschreibung dieser Szene unterscheidet sich nicht wesentlich von der zuvor behandelten Ankunft im Menschenreich Indien. Die gemeinsame Zugehörigkeit zur höfischen Oberschicht greift hier selbst über die Grenze zwischen Menschen und Nicht-Menschen hinweg und ermöglicht die Kommunikation auf einer gleichen Ebene (in diesem Falle allerdings nur zum Schein, denn Áli und Þornbj rg nähern sich J tunoxi unter falschen Namen, um an seine Heilsalbe zu gelangen). Auch der trollische Gegenhof fügt sich in das globale System der ‚höfischen Weltsprache‘ ein. Natürlich erweisen sich auch Mandán und Andán, Ális heimliche Verbündete am Trollhof, letzten Endes als Jarlssöhne und Standesgenossen. Bezeichnenderweise bietet Áli ihnen zunächst die Schwurbrüderschaft an; erst nachdem dieser Bund geschlossen wurde, offenbaren sie ihm ihre Herkunft: »En J tunoxi hertók okkr frá Pollíníú jarli, feðr okkrum.« 438 Auch hier liegt wieder eine Konstellation vor, in der sich adlige Standesgenossen intuitiv untereinander erkennen und auf eine gemeinsame Ebene begeben. Áli würde den beiden Dienern am Hofe des Trollkönigs wohl kaum die Schwurbruderschaft anbieten, wenn er sie nicht für gleichwertig erachtete; für gewöhnlich bleibt dieser Bund in den Riddarasögur jedenfalls gleichermaßen vielversprechenden jungen Königssöhnen vorbehalten, die oft genug zuvor ihre Gleichwertigkeit in einem Zweikampf ausgetestet haben. 439 Ähnlich, wie Þornbj rg zuvor in dem Fremden an ihrem Hof den verfluchten Königssohn erkannt hat, erkennt Áli nun also in den beiden Dienern Seinesgleichen. Ihre letzte Anwendung in der Saga findet die höfische Kommunikationsplattform schließlich, als Áli sich vor König Eireik von Svíþjóþ für Hlaðgerðr ausspricht. Nachdem er sich dem König mit Namen und Herkunft vorgestellt hat, antwortet dieser folgendermaßen: »G rla þekki ek þína ætt [...] ok eru vit [fr]ændr« 440 . Hierauf folgt wieder das obligatorische Angebot höfischer Gastfreundschaft. Nachdem in der Fremde von Tataria oder Indien allein die gemeinsame höfische Kultur das verbindende Elemente zwischen Áli und seinen Standesgenossen gebildet hat, kommt an dieser Stelle noch ein weiterer Faktor hinzu: König Eireik kennt Ális Familie und ist sogar mit dieser verwandt. Svíþjóð liegt Ális Heimat England deutlich näher als die exotischen Länder Asiens und gehört bereits (zumindest im weiteren Sinne) zum vertrauten Bereich Europas. Entsprechend wird das Band der höfischen Kultur nun ergänzt durch die Bande von Vertrautheit und Verwandtschaft. Das Ergebnis ist das gleiche wie schon beim Umgang mit der Aristokratie des Ostens: Man kommt auf einer gemeinsamen Ebene zusammen, findet eine Einigung (in diesem Fall über das Schicksal Hlaðgerðrs) und trennt sich in Freundschaft. Die geteilten höfischen Werte ermöglichen es dem Saga-Helden, auch in weiter Ferne mit seinen Standesgenossen zu interagieren, als seien sie vertraute Verwandte. ihren Männern von den Schiffen fort zu J tunoxis Halle, und er nimmt sie gut auf und fragt die Königin nach ihrem Namen und ihrem Anliegen. 438 AS: 113. Und J tunoxi hat uns von unserem Vater, dem Jarl Pollíníus, hierher geholt. 439 Siehe hierzu die Beispiele aus der Valdimars saga und der Viktors saga ok Blávus auf S. 125. 440 AS: 118. Ich kenne deine Familie genau [...] und wir beide sind Verwandte. 6.2 Die soziale Ebene des Fremden in der Ála flekks saga 151 Es wird somit eine Art Universalverwandtschaft durch einen gemeinsamen Standeshintergrund postuliert, die letztendlich fremden Weltregionen die Fremdheit raubt: Wenn der höfische Held an jedem Hof zu Hause ist und auf Unterstützung hoffen darf, kann auch eine noch so große geographische Entfernung ihn nicht von seiner vertrauten Umgebung trennen. Die höfische Kultur wird in der Saga als eine universelle Kommunikationsform dargestellt, durch die die Welt erstaunlich klein wird. Umso subversiver erscheinen in diesem Zusammenhang die oben besprochenen Grauzonen und Durchbrechungen von Kategorien im Umgang von Menschen und Trollen oder Adligen und Bauern, durch die dieses scheinbar so universell funktionierende Prinzip durchbrochen und in Frage gestellt wird. 6.2.8 Bárðr - ein Großbauer zwischen Bauernstand und Aristokratie Als er auf seiner Suche nach Hlaðgerðr in Svíþjóð ankommt, übernachtet Áli am Hofe eines Bauern namens Bárðr. Obgleich dieser Hof zunächst durch die Formulierung »litlum bœ« 441 als klein bezeichnet wird, verfügt Bárðr doch über eine deutlich aufwendigere Hofhaltung als es etwa von Ális bäuerlichen Zieheltern berichtet wird: In Bárðrs Stube sitzen seine beiden Töchter »á palli« 442 , die ihren Vater und den Gast höflich begrüßen. Als dann die Tafel zum Essen gerichtet wird, kommen die »verkmenn« 443 des Bauern dazu, was darauf hinweist, dass Bárðr eine größere Wirtschaft mit mehreren Knechten unterhält. Nach dem Essen begibt man sich zur Ruhe: »Ok þá er þeir h fðu etit ok drukkit sem þá lysti, var framm borin fœðan ok ofan tekinn [borðbúnaðr], ok fóru menn at sofa. Áli lá einn saman.« 444 Die Formulierung »sem þá lysti« erinnert eher an ein fürstliches Gastmahl als an die Tafel eines Bauern; Armut und Nahrungsknappheit scheinen Bárðrs Haushalt jedenfalls fremd zu sein. Dem Umstand, dass Áli alleine schläft, lässt sich zudem indirekt entnehmen, dass Bárðr auf seinem Hof über die Möglichkeit verfügen muss, Gäste in separaten Räumlichkeiten unterzubringen. Insgesamt wird so das Bild eines wohlhabenden Großbauern gezeichnet, der Áli gegenüber die Pflichten der Gastfreundschaft ähnlich gewissenhaft wahrnimmt wie seine diversen aristokratischen Gastgeber zuvor. Obgleich die Szene im bäuerlichen Kontext spielt, werden höfische Prachtentfaltung und Umgangsformen zumindest angedeutet. Im Folgenden übernimmt Bárðr für Áli die Funktion eines Helfers, indem er ihn über Hlaðgerðrs Notsituation informiert und ihn am nächsten Morgen an den Ort begleitet, wo die Halbtrollin hingerichtet werden soll. Nachdem Áli Hlaðgerðr aus ihrer Bedrängnis befreit hat, übergibt er sie an Bárðr, der auf sie achtgibt, bis Áli den König davon überzeugen kann, ihr Leben zu verschonen. Bárðr wird als eine Persönlichkeit dargestellt, die die Macht besitzt, die gegen den Willen des Königs befreite 441 AS: 116. kleiner Hof. 442 AS: 116. auf dem Podest. 443 AS: 117. Knechte. 444 AS: 117. Und dann, als sie gegessen und getrunken hatten, wie es ihnen gelüstete, wurde die Speise fortgetragen und das Tischgerät abgetragen, und die Menschen gingen schlafen. Áli lag für sich alleine. 6. Von Bauern, Knechten und Königssöhnen - die sozialen Dimensionen des Fremden 152 Halbtrollin für eine Weile beschützen zu können. Er steht dem Helden als Führer in dem fremden Reich Svíþjóð zur Seite und erweist sich dabei als wertvoller Verbündeter bei der Befreiung Hlaðgerðrs. Dies alles fügt sich in die oben beschriebene Darstellung Bárðrs als wohlhabender Großbauer, der eine aristokratisch anmutende Hofhaltung betreibt und sich in eine Reihe mit Ális adligen Helfern aus den zuvor bestandenen Abenteuern einordnen lässt. Zwar muss in diesem Kontext einschränkend darauf hingewiesen werden, dass sich die Wege von Áli und Bárðr nach der Befreiung Hlaðgerðrs sang- und klanglos wieder trennen, ohne dass der Bauer später belohnt würde oder auch nur Erwähnung fände. Áli geht zu ihm also keine vergleichbar verbindliche Beziehung wie zu den Helfern aus seinem eigenen Stand ein. Dennoch verkörpert Bárðr den Typus eines aristokratisch hofhaltenden Großbauern, der mit dem hochadligen Helden zwar nicht auf einer Augenhöhe verkehrt, für ihn aber einen ähnlich wichtigen Verbündeten wie die diversen adligen Helferfiguren darstellt. Während die beiden explizit als »órík« 445 bezeichneten Kleinbauern Gunni und Hildr zu Beginn der Saga in deutlichem Kontrast zur Welt des Hofes eingeführt werden, fügt Bárðr sich eher in diese Welt ein. Auch für den Bauernstand wird in der Saga eine soziale Binnendifferenzierung vorgenommen, die jeweils mit unterschiedlichen erzählerischen Absichten verbunden ist: Ális bäuerliche Zieheltern stehen im größtmöglichen Kontrast zum prunkvollen Bereich des Hofes, um den hybriden Charakter des Helden als Kind zweier Welten umso eindrücklicher in Szene setzen zu können. 446 Bárðr hingegen verkörpert die Verbindung von bäuerlicher Wirtschaftsform und höfischen Tugenden. Für Rezipienten aus der agrarischen Oberschicht Islands dürfte die Figur Bárðr eine Art Bindeglied zwischen der exotischen, höfischen Welt des Sagahelden einerseits und der eigenen bäuerlichen Lebenswirklichkeit andererseits darstellen - ein Bindeglied, das zwar in einer eher marginalen Position am Rande der Handlung auftritt, aber dennoch fest in die Reihe der Helfer eingefügt ist, die den Helden auf den Weg zum Erfolg begleiten. 445 AS: 85. arm. 446 Wenn auch ihr Erscheinen auf dem Fest König Rikarðs diese Konzeption durchbricht, siehe S. 134. 6.3 Das Spiel mit der verfremdeten Sozialordnung Soziale Ordnungen haben in der Ála flekks saga sowohl die verbindende Funktion, ein gemeinsames Eigenes zu definieren, als auch die trennende Funktion, sich von einem Fremden abzugrenzen. Sie folgen dem Assmannschen Doppelbegriff von Identität und Alterität. Am deutlichsten wird dies am Beispiel des universalen Geltungsanspruchs der höfischen Gesellschaft, der adlige Standesgenossen auf der ganzen Welt von England über Tataria bis nach Indien einem umfassenden System zuordnet, das nur Andere und keine Fremden kennt. Seine Mitglieder sind dezidiert 6.3 Das Spiel mit der verfremdeten Sozialordnung 153 abgegrenzt von solchen antisozialen Erscheinungen wie der Trollfrau Nótt, die einsam in der Wildnis haust. Angehörige niederer Stände ordnen sich dem System unproblematisch zu, solange sie auf ihrem angestammten Platz verweilen und somit seine Kategorien anerkennen. Zu Ereignissen im Lotmanschen Sinne kommt es dann, wenn Standesgrenzen überschritten werden, also einzelne Figuren sich an soziale Positionen begeben, die ihnen nicht geziemen - sei es, dass der Königssohn Áli bei Bauern aufwächst, oder sei es, dass die Magd Blát nn gegen ihre inferiore Stellung aufbegehrt. Dabei sind Kategorien der sozialen Entfremdung direkt mit der Kategorie des Monströsen verbunden: Die beiden Knechte, die gegen ihre adligen Herrn vorgehen, sind zugleich monströse Trolle; ihre Standesgenossen, die von unten gegen den Trollkönig vorgehen, sind im Umkehrschluss Menschen. Bei flüchtiger Betrachtung ist das eine Konstellation, die von klarer Dichotomie geprägt ist: auf der einen Seite die Hofgesellschaft als globales System des Eigenen, auf der anderen Seite das Monster, das entweder außerhalb dieses Systems steht oder es als Fremdkörper von innen bedroht. Dynamische Grenzgänger wie Áli, der zum Werwolf wird, oder Hlaðgerð, die von der verfolgten Halbtrollin zur Königin aufsteigt, zeigen jedoch, dass die Grenzen des Systems durchlässig sind und beständig in Frage gestellt werden. Es lässt sich also keineswegs mit Weber argumentieren, dass die originalen Riddarasögur ihren feudal myth von den Werten der höfischen Gesellschaft komplett zugunsten einer oberflächlichen Erzählwelt abgestreift hätten. Stattdessen wird das Konzept des Hofes als soziales Zentrum übernommen, sein universaler Geltungsanspruch jedoch dekonstruiert. Die erzählte Welt der originalen Riddarasögur ist geprägt von Dynamik und Hybridität, ihre Grenzen sind nicht nur auf der räumlichen Ebene unstet und verhandelbar, sondern auch auf der Ebene der erzählten Sozialbeziehungen. Somit wäre es zu simpel, ihren sozialen ‚Sitz im Leben‘ einfach nur als eskapistische Unterhaltungsliteratur der sozialen Elite Islands inklusive quasiaristokratischer Selbstinszenierung festzumachen. Im Schlusskapitel wird näher darauf einzugehen sein, welche Rezipientenbedürfnisse stattdessen mit dem dynamischen Sozialsystem der originalen Riddarasögur angesprochen werden. 7. Trollfrau und meykóngr - das fremde Geschlecht Why, there’s a wench! Come on, and kiss me, Kate. 447 William Shakespeare: The Taming of the Shrew, 1623 Nachdem im Vorkapitel die sozialen Dimensionen des Fremden untersucht worden sind, soll im Folgenden ein wichtiger Sonderfall dieser Dimension den Fokus bilden: der gender-Aspekt bzw. die Ebene der zwischengeschlechtlichen Beziehungen. Als Beispiel hierfür wird die Sigurðar saga þögla dienen. Der breit überlieferte Text aus dem 14. Jahrhundert steht einerseits den Topoi der höfischen Literatur recht nahe, bringt andererseits aber auch viele Motive aus der norrönen Überlieferung in die Handlung ein, so dass sich die narrative Darstellung und Reflexion höfischer wie einheimisch-isländischer Konzepte von Geschlechtlichkeit gut anhand der Saga diskutieren lässt. In der Sigurðar saga þögla wird das Spiel mit verschiedenen Konzeptionen von sex und gender im Rahmen zweier klassischer Motivkomplexe betrieben, die beide für das Genre der originalen Riddarasögur typisch sind. Zentraler Hauptkonflikt der Saga ist die Bezwingung eines meykóngr, also eines unbeugsamen weiblichen Königs, der nicht bereit ist, seine Alleinherrschaft für die inferiore Position als Gemahlin des Helden aufzugeben. Der Weg des Protagonisten zu diesem Sieg führt u. a. über die Begegnung mit zwei Trollfrauen, die als Helferinnen fungieren und mit ihrer Lebensweise jenseits der gender-Normen der höfischen Semiosphäre stehen. Obgleich der Kontakt mit den beiden Trollinnen oberflächlich betrachtet nur eine abenteuerliche Reisebegegnung darstellt, ist die Episode doch maßgeblich mit dem übergeordneten Konflikt der Bezwingung des meykóngr verbunden. Somit erfolgt die Konfrontation mit dem Fremden in der Sigurðar saga þögla an zentraler Stelle insbesondere in der Gestalt verfremdeter gender-Konzepte, was im Folgenden näher auszuführen ist. Textgrundlage der Untersuchung ist die Edition Loths. 448 7.1 Mehr als eine Dichotomie - Geschlechterbeziehungen als Ebene des Fremden Die sexuelle Differenz ist aber nie einfach nur eine Funktion materieller Unterschiede, die nicht in irgendeiner Weise von diskursiven Praktiken markiert und geformt wäre. [...] Anders gesagt, das ‚biologische Geschlecht‘ ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird. Es ist nicht eine schlichte Tatsache oder ein stati- 447 Schücking 1996: 404. 448 Loth 1963: 95-259. Der Text wird im Folgenden mit SSÞ und Seitenangabe abgekürzt. 156 scher Zustand des Körpers, sondern ein Prozeß, bei dem regulierende Normen das ‚biologische Geschlecht‘ materialisieren [...]. 449 So fasst Judith Butler den Umstand in Worte, dass auch elementare Alltagswahrnehmungen wie die Existenz zweier körperlich verschiedener Geschlechter keine objektive Wahrheit darstellen, sondern durch den Filter aktueller Diskurse geprägt sind. Es geht nicht nur darum, sex als Umschreibung »von biologischen Geschlechtsmerkmalen« und gender zur Umschreibung der »soziokulturellen Funktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit« 450 voneinander zu trennen. Stattdessen wird die Existenz eines solchen ‚biologischen‘ sex als diskursbedingt in Frage gestellt, der Körper als kulturelles Konstrukt begriffen. Der Nutzen solcher Erwägungen beschränkt sich nicht auf die theoretische Auseinandersetzungen der postmodernen Avantgarde. Auch bei der Betrachtung fremder Kulturen und vergangener Zeitepochen ist es hilfreich, die Mahnung im Hinterkopf zu behalten, dass die Binärität von männlich und weiblich keine anthropologische Universalie darstellt, sondern dem Diskurs einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt entstammt. Wenn im Folgenden gender-Funktionen als Aspekt des Fremden in den originalen Riddarasögur untersucht werden, darf also nicht unkritisch unsere zeitgenössische Vorstellung von Geschlechtsidentitäten auf Texte aus dem spätmittelalterlichen Island übertragen werden. Stattdessen ist zu fragen, vor dem Hintergrund welcher gender-Diskurse die Sagas ihre narrative Inszenierung der Geschlechtlichkeit entfalten. Glücklicherweise haben gender-Themen als Kategorie der Kulturwissenschaft schon lange in die Mediävistik Einzug gehalten. Einen bedeutenden Ansatz für die Erforschung der Konzeption von Geschlechtlichkeit im europäischen Mittelalter stellt dabei Thomas Laqueurs one-sex theory dar. Laqueur zufolge ist die Dichotomie von männlich und weiblich in ihrer heutigen Form ein Konstrukt der Neuzeit. Frühere Epochen dagegen betrachteten Männer und Frauen als verschiedene Ausprägungen eines gemeinsamen Geschlechts. Sie unterscheiden sich vor allem darin, dass sie anatomisch komplementär aufgebaut sind - die weiblichen primären Sexualorgane entsprechen exakt den männlichen, sind jedoch in den Körper hinein zurückgezogen. Dies wird als körperlicher Ausdruck von Unterlegenheit aufgefasst: »Women, in other words, are inverted, and hence less perfect men. They have exactly the same organs but in exactly the wrong places.« 451 Aus dieser ‚Gleichheit‘ der Körper folgt, dass sex als Differenzierungskategorie für die Vormoderne weitaus weniger wichtig ist als die sozialen gender-Rollen: To be a man or a woman was to hold a social rank, a place in society, to assume a cultural role, not to be organically one or the other of two incommensurable sexes. Sex before the seventeenth century, in other words, was still a sociological and not an ontological category. 452 449 Butler 1997: 21. 450 Feldmann/ Schülting 2008: 244. 451 Laqueur 1990: 26. 452 Ebd.: 8. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.1 Mehr als eine Dichotomie - Geschlechterbeziehungen als Ebene des Fremden 157 In den originalen Riddarasögur wird diese direkte Verbindung von Geschlecht und sozialem Rang beispielsweise am Motiv des meykóngr deutlich, wenn eine Königstochter aus eigenem Willen zu einem Maskulinum wird, sobald sie in den Rang eines Herrschers aufsteigt. 453 Laqueurs one-sex theory ist in der Forschung nicht ohne Kritik geblieben: The conceptual and social dependence of the female on the male and the woman on the man does not make medieval distinction of sex and gender superficial; indeed, it is one of the important distinctions - on that medieval commentators called attention to in their readings of Genesis. 454 Zu diesem Schluss kommt Joan Cadden in ihrer Untersuchung über Meanings of sex difference in the Middle Ages. Dabei lehnt Cadden das Konzept der one-sex theory und ihrer Prämissen nicht völlig ab, sondern schränkt lediglich die universelle Gültigkeit dieses Modells ein und stellt ihm eine Vielzahl von »other models not reducible to Laqueur’s« 455 in Diskursen wie Medizin, Scholastik und Naturphilosophie entgegen. Es ist also wichtig zu beachten, dass die folgende Untersuchung nicht vor ‚dem Hintergrund des gender-Diskurses im Mittelalter‘ erfolgen kann, weil ein solcher Einzelentwurf nicht existiert und eine grobe Vereinfachung darstellen würde. Stattdessen sind aus der Fülle mittelalterlicher gender-Diskurse jene Konzepte herauszugreifen, die für den kulturellen Hintergrund der originalen Riddarsögur von besonderer Relevanz sind. Dies sind zum einen die gender-Konzepte der höfischen Literatur und zum anderen jene Darstellungsformen von Geschlechtlichkeit, die sich in anderen Texten der altisländischen Literatur finden, in deren Kontext sich die Sagas einfügen. Die Beziehung der Geschlechter im höfischen Roman ist geprägt vom zentralen Ideal der höfischen Liebe, also der dienenden Hingabe des Ritters an seine Minnedame. 456 »O, quam mira res est amor, qui tantis facit hominem fulgere virtutibus 453 Siehe Abschnitt 7.2.4. 454 Cadden 1993: 281. 455 Ebd.: 3. 456 Wie genau dieses Konzept zu definieren und abzugrenzen ist, ist in der Forschung umstritten. Der Terminus amour courtois ist jedenfalls kein mittelalterlicher Begriff, sondern wurde erst im 19. Jahrhundert geprägt, um die Liebesbeziehungen der höfischen Literatur zu charakterisieren. Vgl. Bumke 2008: 503-505. Haug setzt sieben verschiedene Diskursebenen an, die zu bedenken sind, wenn über Liebesdinge vor dem Hintergrund hochmittelalterlicher Kultur gesprochen wird: 1. der kirchlich-kanonistische Diskurs; 2. der medizinische Diskurs; 3. der feudale Diskurs; 4. der philosophisch-theologische Diskurs; 5. der höfisch-literarische Diskus; 6. der burleske literarische Diskurs; 7. der theoretischdidaktische Diskus. Vgl. Haug 2004: 16. Es »ergibt sich ein so heterogenes Mit- und Gegeneinander von Konzepten, daß es illusorisch wäre, die Befunde in eine einheitlich-durchgängige Geschichte integrieren zu wollen.« Ebd.: 11. Im Folgenden können also keine Aussagen über die vielfältigen Liebes- und Geschlechterdiskurse des europäischen Mittelalters im Ganzen getroffen werden, sondern es soll lediglich eine konkrete Ausprägung dieser kulturellen Phänomene in der speziellen Gattung der originalen Riddarasögur betrachtet werden. 158 tantisque docet quemlibet bonis moribus abundare! « 457 Aus diesem Dictum des Andreas Capellanus geht hervor, dass höfische Liebe eng mit der höfischen Tugendlehre verknüpft ist, deren höchsten Ausdruck sie darstellt und deren Ideale sie zugleich stärken soll. Es handelt sich also um jene Beziehungs- und Interaktionsform, die Mann und Frau anstreben sollten, um sich ins soziale Ganze des Hofes auf die vorteilhafteste Weise einzufügen. Geschlechtsidentität und soziale Position gehen auch hier direkt miteinander einher - wer seiner Rolle als Ritter bzw. Minnedame gerecht wird, erlangt damit in dem Maße gesellschaftliches Ansehen und Achtung, wie er sich einem postulierten Ideal anzunähern vermag. Höfische Liebe war eine Gesellschaftsutopie. Liebe stand als Kennwort für eine neue, bessere Gesellschaft, eine Gesellschaft, die es nicht gab und die es in der Wirklichkeit nicht geben konnte, die nur im poetischen Entwurf der Dichter existierte. 458 In der idealisierten Welt des arthurischen Hofes stellt höfische Liebe das höchste Ideal der Geschlechterbeziehung dar, dem die ritterlichen Helden nachstreben. Passagen, die über höfische Liebe reflektieren, werden in den altnordischen Bearbeitungen der arthurischen Stoffe zumeist nur sehr oberflächlich abgehandelt oder gar komplett gekürzt. 459 Entsprechend kommt diesem Konzept auch in den originalen Riddarasögur nur eine marginale Rolle zu. Zwar ist die Suche nach einer standesgemäßen Braut ein zentraler Handlungsmotor der meisten Texte dieses Genres, doch liegt der Schwerpunkt eindeutig auf den Abenteuern, die für ihre Erringung zu bestehen sind, und weniger auf der höfischen Interaktion mit der Erwählten, wenn sie dann in greifbare Nähe gerückt ist. Das Konzept des dienenden Ritters, der im Namen seiner Dame auszieht, ist der Gattung weitgehend fremd, Eheschließungen werden primär unter dem dynastischen Gesichtspunkt des Machtzuwachses betrachtet. Dennoch ist bei der folgenden Untersuchung auch zu berücksichtigen, inwiefern nicht doch einzelne Elemente aus dem höfischen Liebesdiskurs sich in einer originalen Riddarasögur erhalten haben können bzw. welchen Transformationen sie unterworfen worden sind, damit sie sich in die Gesetze der erzählten Welt einfügen. Es wird zu zeigen sein, dass höfische Liebe als Ideal zwar keinen konstitutiven Stellenwert für die Gattung einnimmt, wohl aber gelegentlich in verschiedenen Varianten mit z. T. subversiv-konterkarierendem Charakter zitiert wird. The fact that in certain circumstances in Old Norse literature a woman could assume the social powers of a man, and be praised for her vigour and assertiveness, is the cultural obverse of the process that saw men losing their ‚maleness‘ through various forms of humilition. 460 457 O was für eine wunderbare Sache ist die Liebe, die den Menschen in so vielen Tugenden erstrahlen lässt und ihn eine solche Fülle edler Sitten lehrt. Zitat und Übersetzung nach Bumke 2008: 522. 458 Bumke 2008: 528. 459 Weber bezeichnet die Rezipienten der Riddarasögur als »audience which ignores the subject of amour cortois, simply because it does not understand its ‚social meaning‘.« Weber 1986: 436. 460 Quinn 2005: 519. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.1 Mehr als eine Dichotomie - Geschlechterbeziehungen als Ebene des Fremden 159 So fasst Judy Quinn den bemerkenswerten Umstand zusammen, dass in vielen Texten der altnordischen Literatur ‚männliche‘ und ‚weibliche‘ Funktionen im sozialen Gefüge nicht etwa durch das ‚biologische Geschlecht‘ der Figuren, sondern durch ihre Verhaltensweisen geprägt sind. Eine entschlossene Großbäuerin, die ihre Angelegenheiten selber in die Hand nimmt, kann die gleiche soziale Anerkennung wie ihre männlichen Pendants erfahren und entsprechend positiv im Text dargestellt sein, während ein Mann, der sich als wenig entschlussfreudig und nachgiebig erweist, in seiner ‚männlichen‘ Position ggf. nicht mehr ernstgenommen wird. Carol Clover spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Laqueur davon, dass »there was finally just one ‚gender‘« 461 in der altnordischen Literatur. Damit ist gemeint, dass nicht etwa zwei verschiedene gender-Positionen für Männer und Frauen bestehen, die an das jeweilige sex gekoppelt wären, sondern ein gemeinsamer Wertmaßstab von Tüchtigkeit und sozialem Ansehen für beide sexes, dessen oberes Ende ‚mannhaft‘ konnotiert ist und dessen unteres Ende als ‚weibisch‘ gilt. 462 Es handelt sich also um »a socity, in which being born male precisely did not confer automatic superiority, […] in which distinction had to be acquired, and constantly reacquired, by wresting it from others.« 463 Clover macht die möglichen Positionen in dieser Gesellschaft an den Adjektiven blauðr und hvatr fest, wobei Ersteres für ‚weibische‘ Weichheit steht, Letzteres für ‚männliche‘ Härte. »If a woman is normally blauðr, she is not inevitably so, and when she is hvatr, she is thought unusual, but not unnatural.« 464 Es ist die beständige Aufgabe des Saga-Helden, dafür zu sorgen, dass er am hvatr-Ende der Skala steht, während Figuren wie ein selbstbewusster meykóngr, der sich dem Helden erfolgreich widersetzt, gleichermaßen seine soziale Legitimation wie seine männliche gender-Identität in Frage stellen, ihn also einer Verfremdung unterwerfen. 465 461 Clover 1993: 77. 462 Hierzu fügt es sich auch, dass in der Sagaliteratur der pejorative Vorwurf gegenüber Männern, homosexuelle Handlungen zu begehen, stets nur in der Form artikuliert wird, dass der Beleidigte dabei den ‚passiven‘ Part übernehme, sich also einer weiblichen gender-Position annähere. Vgl. Jochens 1996: 387. 463 Clover 1993: 78. 464 Ebd.: 69. Clover führt zudem aus, dass sich der Bereich blauðr keineswegs auf die Position von Frauen beschränkt, sondern zudem auch Kinder, Alte, Sklaven und andere Menschen umfasst, die sich und ihre Ehre nicht selbständig verteidigen können. Vgl. Clover Ebd.: 78. 465 Quinn weist darauf hin, dass die altnordische Literatur eine erstaunliche Vielzahl von Frauengestalten kennt, die eine ‚mannhafte‘ gender-Position einnehmen, von der Walküre über den meykóngr bis hin zu besagten autarken Hofbesitzerinnen. Hierbei stellt häufig Wissen bzw. die prophetische Sehergabe ein speziell weiblich konnotiertes Mittel der Machtausübung dar. Vgl. Quinn 2005: 526-529. 160 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 7.2.1 Die inkompatiblen Welten von Trollen und Menschen als Grundbedingung der Trollfrauen-Begegnung Der erste Teil der Sigurðar saga þögla weist in seinem narrativen Aufbau Züge eines Drei-Brüder-Märchens auf. König Lodivikus von Saxland hat drei Söhne: Hálfdan, Vilhjálmr und Sigurðr. Während sich Hálfdan und Vilhjálmr in verschiedenen höfischen Künsten auszeichnen, ist der jüngste Bruder Sigurðr ein kolbítr, der seinen Beinamen »enn þogle« 466 deshalb trägt, weil er mit sieben Jahren noch immer kein einziges Wort gesprochen hat und allgemein für stumpfsinnig gehalten wird. Der erste Handlungskreis der Saga beschreibt die Abenteuer der beiden älteren Brüder, die auf Wikingfahrt einige Erfolge erzielen, dann aber daran scheitern, um den meykóngr Sedentiana zu werben und dabei schwer gedemütigt werden. 467 Der dritte Bruder Sigurðr steht im Zentrum des zweiten Handlungskreises. Inzwischen zu einem stattlichen Mann herangereift, lässt er sich von seinem Ziehvater als Ritter ausstatten und zieht auf Abenteuer aus, wobei er einen Drachen erschlägt und einen Löwen als Begleiter gewinnt. 468 Die Trollfrauen-Episode findet statt, als Sigurðr, beladen mit Gold aus dem Drachenhort, das Gebirge Alpes überquert und schließlich in den Bergen sein Zelt für die Nachtruhe aufschlägt. Über jene Berge wird vor der Trollbegegnung einleitend berichtet, dass in ihren vielen Höhlen »war þann tijma vijda bygt af ymsum jllkykuenndum e(dur) j tnum þeim er eckj * ttv edli wid veralldarmenn« 469 . Die örtliche Ungeheuer-Population wird explizit als nicht-zugehörig zum Bereich des Menschlichen und somit als fremd charakterisiert. In dieselbe Richtung weist auch die Aussage der Trollfrau Flegða gegenüber Sigurðr im späteren Verlauf der Handlung, »at þat mun eckj samfært edli uort tr lla e(dur) þuijlikra manna mennskra sem þier erut« 470 - Menschen und Trolle erscheinen auch aus Trollsicht als inkompatibel, die beiden Welten werden in der Saga als getrennte Semiosphären mit nur wenig durchlässiger Grenze gesetzt. Als Folge hiervon sind Begegnungen mit Trollen und Riesen in der Sigurðar saga þögla praktisch immer dichotome Kampfbegegnungen, in deren Verlauf das Bedrohlich-Fremde durch direkten Gewalteinsatz bezwungen wird - sei es nun ein Volk von Zyklopen, gegen das Hálfdan und Vilhjálmr auf ihrer Abenteuerfahrt kämpfen, seien es riesenhafte Wundervölker im exotischen Heer von Bláland oder seien es einzelne Riesengestalten wie der bedrohliche skruðr, die immer wieder als Schädiger des Hofes von außen auftreten und mit Waffengewalt besiegt werden. 466 SSÞ: 98. der Schweigsame. 467 Siehe Abschnitt 7.2.5. 468 Auch diese Episode ist natürlich eine Variante des klassischen Löwenritter-Motivs. Vgl. Barnes 1994: 396-398 und S.59-62. 469 SSÞ: 147. es in dieser Zeit weithin von verschiedenen Ungeheuern oder diesen Riesen besiedelt war, die keine[gemeinsame] Natur mit den Menschen der Welt hatten. 470 SSÞ: 154. dass es keinen Umgang zwischen der Natur von uns Trollen und solchen menschlichen Männern [gibt], wie Ihr einer seid. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 161 7.2.2 Fála und Flegða - ein doppelter Normbruch durch Dominanz und Lüsternheit Eine Ausnahme von diesem simplen Erzählschema liegt in genau den beiden Fällen vor, wenn die Begegnung zwischen Mensch und Troll zugleich auch eine Begegnung zwischen verschiedenen Geschlechtern ist - zum einen bei Sigurðs Begegnung mit den Trollfrauen und zum anderen bei jener Gelegenheit, wenn Sigurðr den meykóngr Sedentiana in Riesengestalt demütigt, worauf weiter unten noch einzugehen ist. Auch die beiden Trollfrauen Fála und Flegða scheinen sich zunächst in das Schema der gewaltsamen Trollbegegnung einzufügen, treten sie doch Sigurðr als nächtliche Räuberinnen gegenüber, die sich über das Fleisch seiner Pferde hermachen wollen. Dabei wird in einem kurzen Dialog der Schwestern noch einmal verdeutlicht, wie inkompatibel die beiden Welten sind: Sigurðs Last- und Reittiere werden als attraktive Nahrungsquelle betrachtet, während der vor dem Zelt schlafende Löwenbegleiter des Ritters als Hund kategorisiert wird. 471 Diese Fehleinschätzung wird den Trollinnen zum Verhängnis: Sigurðs Streitross 472 lässt sich nicht einfach fortführen, sondern schaltet die Trollfrau Fála durch einen Huftritt gegen den Kiefer aus, während der vermeintliche Hund sich auf Flegða stürzt und ihr die Kopfhaut vom Schädel reißt. Die misslungene Semiotisierung der Menschenwelt mit den unzutreffenden Übersetzungskonzepten ‚Nahrung‘ für Pferd und ‚Hund‘ für Löwe hat sich als fatal erwiesen. Die beiden Trollfrauen sind kampfunfähig und schutzlos dem Schwert Sigurðs ausgeliefert, der inzwischen aus seinem Zelt gekommen ist. Sie flehen mit dem Versprechen um ihr Leben, es mit großen Reichtümern zu vergelten. Sigurðr geht darauf ein und lässt sich von den beiden Trollinnen in ihre Behausung führen. Interaktion, die über die bloße Dichotomie einer Kampfbegegnung hinaus geht, ist so möglich geworden. Betrachtet man diesen ersten Auftritt der beiden Trollfrauen unter dem Gesichtspunkt der Inszenierung von gender-Konzepten, fällt zunächst natürlich der Umstand ins Auge, dass es sich überhaupt um weibliche Angreifer handelt. Vom ritterlichen Vertreter eines fremden Königshofes über beutegierige Berserker bis zu monströsen Geschöpfen der Riesenwelt hat es der Held einer originalen Riddarasaga in den meisten Fällen mit männlichen Kontrahenten zu tun. Zumindest hinsichtlich des gender-Aspekts begegnen ihm seine Gegner auf Augenhöhe. Vor dem Hintergrund der one-sex theory stellt der Angriff der beiden Trollfrauen insofern einen besonders schweren Ordnungsbruch dar, als sie nicht nur unprovoziert einen Reisenden überfallen, sondern sich zudem auch noch über ihre angemessene Stellung im Gefüge der Welt hinwegsetzen. Aus der mangelnden Perfektion des weiblichen Geschlechts folgt seine inferiore hierarchische Stellung auf der gender-Ebene, und 471 Vgl. SSÞ: 148. 472 Es ist jedenfalls anzunehmen, dass es sich bei dem »hestinum [...] feitare ok miklu meire vexti« (dickeren und weitaus größer gewachsenem Pferd) (SSÞ: 149) um das Streitross handelt, das aufgrund seiner kräftigeren Statur irrtümlich für eine lohnendere Beute als das Lasttier gehalten wird; ein konkreter Begriff wird nicht genannt, da der Text hier der begrenzten Perspektive Flegðas folgt, der für die fremden Wesen aus der Menschenwelt passende Kategorien fehlen. 162 ebendiese ‚natürliche‘ Hierarchie wird bedroht, wenn Fála und Flegða den männlichen Ritter Sigurðr zu berauben trachten. Ihre Fremdartigkeit beruht nicht nur auf ihrer monströsen Natur als Geschöpfe der Riesenwelt, sondern wird insbesondere auch durch ihr Geschlecht getragen, das im Widerspruch zu ihrem Verhalten als Aggressorinnen steht. 473 Vor der Hintergrund der von Clover postulierten gender- Verhältnisse in der altnordischen Literatur lässt sich die Szene so deuten, dass die Trollinnen als hvartr aufzutreten- und den Helden in eine blauðr-Position zu drängen versuchen, was dieser jedoch erfolgreich verhindert und so seinen hvatr-Status als Held bestätigt. Die beiden Trollfrauen werden mit gängigen Hässlichkeitstopoi beschrieben: »miog storskoren svort synis mikil vextj sem trollum til heyrde«. 474 Dabei impliziert der nachgefügte Zusatz, dass diese aus Menschensicht erschreckenden Attribute aus Trollperspektive die Norm darstellen; die beiden Sphären werden auch im Detail auseinander dividiert und als sich gegenseitig fremd definiert. Einen genderspezifischen Bezug gewinnt die Beschreibung, wenn die Bekleidung der Trollfrauen näher in Augenschein genommen wird: »Geitskinnzopla hennar war rum. eigi miog sidug. stutt bakit enn sijd fyrir.« 475 Der Ziegenfellmantel steht nicht nur für Naturnähe (und somit Kulturferne), sondern stellt zudem durch seinen auffälligen Schnitt einen Normbruch dar, der umso mehr in den Vordergrund gerückt erscheint, als das Äußere der Trollfrauen ansonsten nur sehr skizzenhaft beschrieben wird. Die Kürze des Mantels im Rücken bringt es mit sich, dass hier mit Gesäß und Unterleib ein Teil der weiblichen Anatomie offen liegt, der für gewöhnlich ‚züchtig‘ verborgen ist. 476 Dieses ‚schamlose‘ Detail ist mehr als nur eine weitere Unterstreichung der Kulturfremdheit dieser Wesen, die sich nicht nach höfischen Normen zu kleiden wissen. Es taucht als Topos ausschließlich in Verbindung mit weiblichen Trollen auf, während männliche Trolle zwar auch als abgerissen und primitiv bekleidet erscheinen können, dabei aber keine vergleichbare Betonung ihrer Unzüchtigkeit erfahren. In Verbindung mit ihren weiblichen Trägerinnen geht mit den gewagten Kleidungsstücken eine Kette wertender Assoziationen einher: Zunächst einmal ist die offen zur Schau gestellte Freizügigkeit natürlich als Hinweis auf eine entsprechend normwid- 473 Die Trollfrauen erfüllen gleich zwei verschiedene Merkmale, die charakteristisch für die Wundervölker der mittelalterlichen Kosmographie sind, nämlich zum einen ein groteskes Äußeres und zum anderen ein Verhalten, das aus europäischer Sicht als ‚unsittlich‘ zu bezeichnen ist. Auch im Kontext der Wundervölker sind dabei Verhaltensweisen besonders häufig, die gender-Konzepte oder sexuelle Tabus durchbrechen, wie etwa das kämpfende Frauenvolk der Amazonen oder jenes Volk der Frauenverleiher, das seine Töchter und Ehefrauen bereitwillig durchreisenden Fremden zur Verfügung stellt. Vgl. Simek 192: 117-122. Die Trolle der originalen Riddarasögur folgen somit häufig Erzählmustern, die mit Motiven der Wundervölker-Lehre verwandt zu sein scheinen, was Schulz auch für die Riesen der Fornaldarsögur konstatiert. Siehe auch S. 37-38. 474 SSÞ: 149. sehr grobschlächtig, mit schwarzem Antlitz, groß gewachsen, wie es zu Trollen dazugehörte. 475 SSÞ: 149. Ihr Ziegenfellmantel war weit. Nicht sehr sittsam, kurz am Rücken, aber vorne weit herabhängend. 476 Auch bei diesem Detail handelt es sich um einen geläufigen Topos. Vgl. etwa den ähnlich geschnittenen Rock der Trollin Nótt in der Ála flekks saga, siehe S. 142. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 163 rige Sexualmoral zu deuten. Der Bekleidungstopos ist eng verbunden mit dem Motiv der promiskuitiven Trollfrau, die dem Saga-Helden sexuelle Avancen macht und dabei häufig dominant und fordernd auftritt. Ein Beispiel für diesen Typus ist die Trollin Nótt in der Ála flekks saga, die Áli in ihr Bett zu locken versucht; doch selbst die weitestgehend positiv gezeichnete und mit höfischen Schönheitstopoi beschriebene Halbriesin Alba in der Valdimars saga fordert den Protagonisten offen zu einer sexuellen Beziehung auf. 477 Die beiden Trollfrauen der Sigurðar saga þögla treten nicht mit vergleichbarer Vehemenz auf, wenn auch Flegðas Überlegung, ob Sigurðr nicht bei ihnen in der Höhle bleiben könnte, in eine entsprechende Richtung weisen mag. Doch auch ohne konkrete Sexualhandlungen deutet das Detail des unzüchtigen Mantels vor dem Hintergrund des gängigen Trollfrauen-Topos an, dass Fála und Flegða die Schamlosigkeit und Lüsternheit anderer Trollfrauen teilen. Diese Eigenart stellt gleich einen doppelten Normbruch dar, richtet sie sich doch nicht nur gegen das christliche Ideal der Keuschheit, sondern durchbricht zudem noch einmal die gender-Hierarchie zwischen Mann und Frau durch das aktive und fordernde Auftreten der Trollfrauen. Mit dem doppelten Normbruch von Dominanz und Lüsternheit geht eine weitere Steigerung des misogynen Impetus der Episode einher: Die Trollfrauen werden als weibliche Wesen gezeigt, die selbstbestimmt und ohne männlichen Vormund leben (ihr Vater ist vor Kurzem verstorben), wobei sie sich fordernd-aggressiv geben. Gleichzeitig stellen diese ‚ungezügelten‘ weiblichen Wesen offen eine exhibitionistische, sexuell aktive Ader zur Schau. Die Folgerung liegt nahe, das eine mit dem anderen zu verbinden und die Trollfrauen als (überspitztes) exemplum dafür zu deuten, was geschieht, wenn Frauen sich ohne männliche Kontrolle zu entfalten drohen: Ihre (insbesondere sexuellen) Untugenden treten offen und ungezügelt zu Tage. Dies fügt sich in die im christlichen Mittelalter verbreitete Vorstellung ein, dass mit der mangelnden (körperlichen) Perfektion der Frau zugleich auch ein moralisches Defizit einhergehe. Dieses Defizit wird häufig in der Gestalt eines gesteigerten sexuellen Appetits beschrieben, wie es etwa Cadden auf der Grundlage des medizinischen Diskurses im Mittelalter zusammenfasst: On the other hand, the association of the womb with the penis suggests it is an active, sexual organ [...] and therefore (by metonymy) the women are dominated by an insatiable sexual appetite. [...T]he woman is all appetite in the more colloquial sense that she craves all the pleasure of the flesh. 478 In der Gestalt der beiden Trollfrauen wird dieses Konzept von Weiblichkeit in die außermenschliche Sphäre verlegt und erfährt damit gleichermaßen eine Übersteigerung und Verharmlosung: Die Trollfrauen können als kulturferne Wesen so dominant und lüstern auftreten, wie es für eine höfisch semantisierte, menschliche Figur nicht möglich wäre, doch dadurch, dass sie Trollfrauen sind, kann dieses Verhalten bestaunt werden, ohne dabei subversives Potential zu entwickeln - es handelt sich ja 477 Siehe hierzu die Abschnitte 5.2.3 und 6.2.4. 478 Cadden 1993: 178. 164 ‚nur‘ um Trolle, die im Sagatext dezidiert als von den Menschen verschieden charakterisiert werden. Zudem haftet dem Auftritt der Trollfrauen ein gewisser burlesker Zug an, der ihre Grenzüberschreitung weiter entschärft und deutlich hervortritt, wenn die beiden durch Sigurðs Tiere besiegt werden, ohne dass der Held auch nur sein Schwert zu ziehen bräuchte. Das Fremde tritt hier in einer gebändigten, sich selbst besiegenden Form auf und stellt mehr ein Verkörperung der schlimmen Folgen normwidrigen Verhaltens als eine wirkliche Bedrohung dar. Dabei bleibt es jedem Rezipienten selbst überlassen, die Eigenschaften der beiden monströsen Frauengestalten auf eine allgemeinere Vorstellung von Weiblichkeit auszuweiten. 479 7.2.3 Das gezähmte Geschlecht - die Trollfrauen als Sigurðs Dienerinnen Nachdem sich Fála und Flegða Sigurðr unterworfen haben, geleiten sie den Ritter und seinen Löwen in ihre nahegelegene Höhle. Diese ähnelt in ihrer hybriden Topographie der Riesenhöhle in der Valdimars saga: In den Naturraum einer Felsspalte ist eine (in diesem Falle geheime) Tür eingelassen, hinter der sich der Kulturraum der luxuriös ausgestatteten Trollbehausung verbirgt. Während jedoch in der Valdimars saga beide Arten von Raum ineinander verschränkt erscheinen, liegt in der Sigurðar saga þögla eine stärkere Abgrenzung voneinander vor, die durch die Etablierung eines Zwischenraumes abgestuft wird. Auf die Höhle, die als »skard« 480 eindeutig dem Naturraum angehört, folgt ein großes Zimmer mit auffälligen Sitzmöbeln: »hæglig sæte huorumtveggja megin og unnit til bergith. suo stor ath vel mattu .iij. menn sitja ‹ij› hueriu« 481 . Die Trollfrauen erklären Sigurðr, dass ihr verstorbener Vater dieses Zimmer angelegt hat, um befreundete Riesen aus den umliegenden Bergen zum Gastmahl zu laden. Dahinter folgt ein weiterer Raum, der durch seine prunkvolle Ausstattung glänzt: »þetta herbergi war allt tjalldath jnnan med guduefiarpelle, þar sier hann virdulig sænng med gulligum sparl kum.« 482 Dieser Raum ist speziell zur Bewirtung von »burdugum m nnum og kurteisum« 483 eingerichtet. Interessanterweise befindet sich jedoch auch das Bett der beiden Schwestern hier. In dieser Raumkomposition werden die Felsspalte als Ort der Wildnis einerseits und der explizit als höfisch bezeichnete innere Raum als Ort der Kultur andererseits gegeneinander abgegrenzt, wobei die Festhalle der Riesen die beiden Extrempole als Zwischenraum mit Aspekten beider Welten trennt - hier finden sich sowohl kostbare Wandbehänge als auch einfache, aus dem Stein gehauene Sitzgelegenheiten. Die Dichotomie zwischen Mensch und Troll ist nicht etwa mit der Dichotomie zwischen Naturraum und Kulturraum identisch, wie die Tendenz zur 479 Zum Topos des Kampfes gegen Trollfrauen in der Wildnis vgl. auch Straubhaar 2001 sowie Abschnitt 6.2.4. 480 SSÞ: 152. Felsspalte. 481 SSÞ: 152. hohe Sitze auf beiden Seiten, die aus dem Berg herausgearbeitet waren, so groß, dass drei Männer gut auf jedem sitzen konnten. 482 SSÞ: 152. Dieses Zimmer war innen ganz mit erlesenen Stoffen behängt, dort sah er ein würdiges Bett mit goldenen Vorgängen. 483 SSÞ: 152. vornehmen und höfischen Männern. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 165 scharfen Abgrenzung in der Saga eigentlich vermuten lassen sollte. Stattdessen ist der Bereich der Trolle als hybrider Grenzbereich definiert, der nicht an den höfischen Innenraum herankommt, jedoch auch nicht mit der ungeformten Natur der Felsspalte identisch ist. Nach der Logik dieses Raumkonzeptes wäre hier auch der Ort Fálas und Flegðas. Dass sie stattdessen in einem Raum nächtigen, der nach ihren eigenen Worten eigentlich für höfische Gäste vorgesehen ist und sich somit außerhalb ihres Bereichs befindet, ist als weiterer Ausdruck der beständigen Ordnungsbrüche zu sehen, die die beiden Schwestern durch ihre ungezügelte Lebensweise begehen. Die weitere Handlung spielt sich ausschließlich im höfischen Innenraum ab, wo die Trollfrauen Sigurðr fürstlich bewirten. Konsequenterweise hat Sigurðr als Vertreter des Hofes hier die superiore Stellung inne, die ihm gebührt - die Trollinnen jedoch gehen ganz in ihrer neuen Rolle als seine devoten Dienerinnen auf. Die ‚natürliche‘ Hierarchie zwischen Mann und Frau ist wiederhergestellt. Das ungeschlachte Äußere der Trollfrauen ist nicht mehr länger physiognomischer Ausdruck ihres verwahrlosten Wesens, sondern steht im Gegensatz zu ihrer neuen Rolle: »og þo at flagdkonar þessar være liotar og storskornar þ kunnu þær fulluel at þionna S(igurdi).« 484 Sigurðr schläft bis in den Mittag hinein in einem prunkvollen Bett, wird mit fürstlichen Mahlzeiten verwöhnt, bekommt Unmengen an Geschmeide und Kostbarkeiten angeboten und wird am Ende gar mit einigen mächtigen Zaubergegenständen ausgestattet. Er ist verwundert, in der Trollhöhle solche höfische Prachtentfaltung vorzufinden, wie sie selbst »j midium heiminum j keisaraligu hasæti« 485 nicht anzutreffen ist. Der Sagatext spielt hier mit der Umkehrung der Verhältnisse, dass solch ein marginaler Ort wie eine Trollhöhle in der Wildnis den Kaiserhof als absolutes Zentrum der höfischen Welt zu übertreffen vermag. Hierfür wird auch eine Erklärung geliefert: skurðr, der Vater der beiden Trollschwestern, hat all diese Dinge mit Zauberkraft aus der ganzen Welt in seinen Besitz gebracht. Sie sind also nicht etwa der Trollwelt wesenhaft inhärent, sondern wurden als Folge diverser zauberischer Ordnungsbrüche aus dem Zentrum hierher transferiert. Obgleich in der Trollhöhlenepisode einige Ansätze zu hybriden Konstellationen vorhanden sind, bleibt die Sigurðar saga þögla bei ihrer Darstellung der beiden Trollfrauen insgesamt recht stark einer dichotomen Abgrenzung zur Menschenwelt verhaftet. Diese plane Polarisierung betrifft auch Sigurðs Beziehung zu Fála und Flegða: Er verbleibt im Folgenden in der Rolle des höfischen, männlichen Gebieters, dem die beiden Trollfrauen bedingungslos dienen. Es werden keine weiteren Versuche unternommen, diese klare Hierarchie zu dekonstruieren. Die Trollinnen haben die Funktion von übernatürlichen Helferinnen übernommen und entsprechen in dieser Eigenschaft Figuren wie Alba in der Valdimars saga oder Hlaðgerðr in der Ála flekks saga. Während sich diese Helferinnen jedoch durch ihren hybriden Status zwischen 484 SSÞ: 154. Und obwohl diese Trollweiber hässlich und grobschlächtig waren, konnten sie Sigurðar dann vollendet dienen. 485 SSÞ: 154. in der Mitte der Welt am kaiserlichen Hochsitz. 166 Trollen und Menschen auszeichnen und am Ende durch eine Heirat in die Menschenwelt integriert werden, trifft dies auf Fála und Flegða nicht zu - sie verlassen niemals ihre marginale Position in der Trollwelt und gehen auch keine Beziehung zu einem Menschenmann ein. Die Bereiche bleiben getrennt. Bei seiner Abreise gibt Sigurðr noch Anweisungen, die zurückgelassenen Reste des von ihm erbeuteten Drachenhorts zu bergen und zu verwahren, wozu die beiden Schwestern sich willig bereiterklären. Dann ist die Episode beendet und Sigurðr zieht seiner Wege. Im späteren Verlauf der Handlung ruft er einmal die beiden Trollinnen während eines Seegefechts um Hilfe an, woraufhin sie als mächtige Wale erscheinen, um ihm beizustehen. 486 Er begegnet ihnen jedoch nie wieder in ihrer eigentlichen Gestalt. Somit erscheint die Begegnung mit den beiden Trollfrauen als isolierte Station auf der Abenteuerfahrt des Helden, die zwar die Funktion hat, ihm zauberische Unterstützung zukommen zu lassen, darüber hinaus jedoch schematisch austauschbar bleibt und in ihrer Thematisierung von sex und gender nicht über simple Misogynie in Trollverkleidung hinaus reicht. Dieser oberflächlichen Einschätzung steht jedoch ein entscheidendes Detail entgegen: Unter den Zaubergegenständen, die Sigurðr von den Trollfrauen überreicht werden, befindet sich auch eine Holztafel, in die verschiedene Spiegel eingelassen sind. Diese haben die Eigenschaft, denjenigen, der in sie hineinblickt, in unterschiedlichen Gestalten erscheinen zu lassen, u. a. auch als grobschlächtiger Riese oder als hässlicher Zwerg. Diese Holztafel spielt im späteren Verlauf der Sagahandlung eine zentrale Rolle, wenn Sigurðr mir ihrer Hilfe den meykóngr Sedentiana, der seinen Brüdern übel mitgespielt hat, schwer demütigt und schließlich bezwingt. Es ist gewiss kein Zufall, dass Sigurðr das Hauptmittel zur ‚Zähmung‘ Sedentianas ausgerechnet aus der Hand zweier weiblicher Wesen empfängt, die gerade aus einer durchbrochenen gender-Rolle in den untergeordneten Normzustand zurückgekehrt sind. Durch diese Zuordnung wird die Begegnung mit den beiden Trollfrauen zu einem prologartigen Vorspiel für den zentralen Konflikt der Saga, der ebenfalls im Bereich der gender-Konventionen angesiedelt ist. Während jedoch im Falle Fálas und Flegðas klare, dichotome Verhältnisse vorherrschen, ist der Konflikt mit Sedentiana deutlich komplexer konstruiert. Die Bändigung der beiden Trollfrauen als unproblematisch vollzogener Akt der Anpassung wird so zu einer Negativ-Folie, vor der sich der weitaus problematischere Fall Sedentianas kontrastiv abhebt. 487 7.2.4 Sedentiana - ein meykóngr zwischen Vollkommenheit und superbia Die zweite dominierende Zentralgestalt der Saga neben Sigurðr ist Sedentiana, die Königin von Frakkland. Die Figur ist eine typische Vertreterin des meykóngr-Topos, der in den originalen Riddarasögur weit verbreitet ist und erstmalig von Erik Wahl- 486 Vgl. SSÞ: 171. 487 Zum Motiv der Trollfrau als Helferin vgl. auch McKinnell 2005: 181-196 und Motz 1987 sowie die Abschnitte 5.2.3 und 6.2.5. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 167 gren in seiner Monographie The Maiden King in Iceland systematisch untersucht wurde. [A] woman, young, unmarried and accomplished, rules a country, and rejects suitors for her hand. A young and talented hero of royal birth sets out to win her and has difficulty in doing so. In the end they are united. Before this happy consummation, however, each has demonstrated skill and ingenuity in outwitting the other. 488 Sämtliche Aspekte dieser Zusammenfassung Wahlgrens lassen sich in der Geschichte von Sigurðr und Sedentiana wiederfinden, wie sich im weiteren Verlauf dieses Kapitels zeigen wird. In ihrer Studie Bridal-quest Romance in Medieval Iceland widmet Marianne Kalinke dem Misogamous Maiden King ein eigenes Kapitel. 489 Hier macht sie u. a. deutlich, dass es sich bei dem Konzept des meykóngr nicht etwa um einen Machthaber handelt, der zufällig weiblichen Geschlechts ist, sondern um eine komplette Neuorientierung der gender-Rolle: The title kóngr is not synonymous with dróttning; indeed, the emphatic use of what is ordinarily a title applied to a male ruler suggests that the word dróttning is perceived primarily as a designation for a woman whose power is secondary and participatory, deriving from a husband who is king. 490 Indem der meykóngr die Funktion des Alleinherrschers ausfüllt, wird er nicht nur in grammatikalischer Hinsicht zu einem Maskulinum. Die enge Verzahnung von gender-Identität und sozialer Position gebietet es, dass die Herrscherin zu einem Herrscher wird. Nach Clovers Terminologie hat sich ihre Position auf dem fließenden Kontinuum zwischen blauðr und hvatr deutlich in Richtung auf das Letztere verschoben. 491 Auch Kalinke betont, dass der meykóngr mindestens ebenso sehr ein politisch-soziales wie ein gender-spezifisches Phänomen ist. The figure of the maiden king, despite its bizarre character, appears to be a fictional realization - albeit presumbly unwitting on the part of the Icelandic authors of romance - of an actual problem in medieval society: the dilemma of wealthy and powerful heiresses […]. 492 Die Misogamie des meykóngr ist letztlich ein Frage von Macht und Machtverlust. Solange er in der männlichen Position bleibt, behält er auch den Zugriff zur Macht; wenn er sich durch Heirat in die weibliche Position begibt, fällt die Macht an den erfolgreichen Freier. Die Reintegration des verfremdeten Geschlechts in die höfische gender-Ordnung durch den Saga-Helden geht also direkt mit einer Wiedergewinnung von Macht über die zu bewältigende Welt einher. 488 Wahlgren 1938: 25. Wahlgrens Analyse ist im Übrigen sehr positivistisch orientiert und gibt vor allem eine erste Bestandsaufnahme des Themas, bleibt in ihrer Interpretation des Topos jedoch recht oberflächlich. 489 Kalinke 1990: 66-108. 490 Ebd.: 69. 491 Siehe S. 159. 492 Kalinke 1990: 83. 168 Sedentiana ist die Tochter von König Flores von Frakkland und dessen Frau Blanchiflur. Es wird einleitend darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Elternpaar um eben jene Flores und Blanchiflur handelt, deren Schicksal in der nach ihnen benannten Saga berichtet wird; die Handlung wird zudem kurz zusammengefasst. Durch diese Ansippung nimmt die Sigurðar saga þögla intertextuellen Bezug auf einen der beliebtesten höfischen Erzählstoffe des Mittelalters. Die Geschehnisse in Sedentianas Elterngeneration werden als mögliche Hintergrundfolie für die Geschichte ihrer Tochter aktiviert. Auch der Erzählstoff von Flores und Blanchiflur behandelt als zentrales Element eine Begegnung mit dem Fremden, bei der gender als Kategorie eine wichtige Rolle spielt: die Beziehung einer Christin zu einem Heiden. Nachdem das klassische Erzählschema von der Trennung und Wiedervereinigung der Liebenden durchlaufen wurde, nimmt die Geschichte von Flores und Blanchiflur schließlich ein gutes Ende - Flores wird von seiner Geliebten zum Christentum bekehrt und somit ins Eigene der Rezipienten integriert, der trennende Grundkonflikt ist aus dem Weg geräumt. Die eigentlich hierarchisch angelegte Rollenverteilung in der Mann-Frau-Beziehung kommt hierbei zu einem interessanten Ausgleich: Flores erweist sich zwar durch die Rettung Blanchiflurs aus der Ferne ordnungsgemäß als aktiver und superiorer Part der Beziehung, doch umgekehrt wird Blanchiflur auch zur Retterin Flores’, der sich als Heide in Glaubensdingen in der inferioren Position befindet und hilfsbedürftig ist. Die Geschichte Sedentianas entfaltet sich als Weiterführung dieses Erzählthemas unter umgekehrten Vorzeichen. Wieder geht es um eine ungleiche Beziehung und Hilfsbedürftigkeit, doch diesmal ist es Sedentiana, die durch ihren künftigen Gemahl aus ihrer selbstgewählten Rolle als männerverachtender meykóngr ‚befreit‘ werden muss. Während es in der Elterngeneration um eine integrative Annäherung an das einstmals Fremde auf dem Wege einer Beziehung zwischen den Geschlechtern geht, ist im Falle Sedentianas die Geschlechtlichkeit das trennende Element: Sigurðr und Sedentiana gehören eigentlich beide der höfischen Kultur Europas und somit einem gemeinsamen Eigenen an, doch durch Sedentianas Weigerung, ihre darin vorgesehene gender-Funktion zu erfüllen, wird sie diesem Eigenen entfremdet. Dieser Entfremdung wird durch eine noch krassere Entfremdung Sigurðs begegnet, der allerlei monströse Gestalten annimmt, um Sedentianas Stolz zu brechen. Flores und Blanchiflur integrieren das Fremde durch ihre den Normen entsprechende gender- Beziehung - Sigurðr und Sedentiana integrieren eine gestörte gender-Konstruktion durch einen Akt der Entfremdung. Im Folgenden soll näher dargestellt werden, wie dies vor sich geht und narrativ in Szene gesetzt wird. Die Einführung Sedentianas in die Saga erfolgt gleich zu Beginn des Textes, nachdem König Lodivicus und seine drei Söhne vorgestellt worden sind, obgleich diese Figur erst viel später für die Handlung relevant wird. Damit ist sie als gleichwertige Zentralfigur neben Sigurðr und seinen Brüdern etabliert. Sedentiana wird mit einem wahren Feuerwerk an Schönheitstopoi vorgestellt, die mit blumiger Rhetorik vorgebracht werden: 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 169 suo war hun hæuersklig j lijkams uexti at *hun war sem vaxinn eyr matuliga mior. Hennar augu woru skijnandi sem sti rnur j heidbiortu uedre og af þeim synnduzt geislar skijna. Hofudit uar bollot sem eyjar þær er gullz lit hafa med skinan‹d›e birte sem logannde elldr e(dur) solar geislar. Ok medur sinu fagra h re matti hun hylia sinn lijkama allann. suo woru hennar kinnur og hinn væne munnur. þetta allt war suo fagurliga skapat ath avllum war þat audsynt ath natturann hafdi þar alla virct lagit medur sialfre hamingiunne ath skapa hana langt wm fram adrar meyiar er þ woru j ollum heiminum. 493 Hinzu kommen noch herausragende Fertigkeiten in den höfischen Künsten und den Wissenschaften. Alles in allem ist das eine Beschreibung, die an Eindeutigkeit kaum zu überbieten ist: Sedentiana wird als ideale Vertreterin der höfischen Welt dargestellt, deren weiblichem gender-Muster ihre Veranlagung vollkommen entspricht. Jedoch wird dieses Bild der Vollkommenheit bereits im nächsten Satz empfindlich gestört: »Enn þ er þessi hinn dyrliga mær s sig prydda ok skrydda ollum heimsins natturugi fum wmfram adrar jungfrur j heimi‹n›um med snilld ordo og ollum frodskap. þ tok hennar metnadur og ofse ath prutna.« 494 Sedentiana ist sich ihrer eigenen Vollkommenheit bewusst und entwickelt aus diesem Bewusstsein einer Sonderstellung heraus einen ausgeprägten Hochmut. Damit aber entfremdet sie sich den höfischen Idealen, denen sie sonst so umfassend entspricht, denn die Tugenden rechter Angemessenheit und Bescheidenheit sind ihr nun nicht mehr gegeben. Sedentiana wird nicht per se als stolzer, unnahbarer meykóngr eingeführt - stattdessen wird ihre Entwicklung von einer höfischen Prinzessin hin zu einer solchen Gestalt psychologisierend nachvollziehbar gemacht. Eine Schlüsselstellung hat hierbei der Begriff náttúra inne, der gleich zweimal in der kurzen Textpassage fällt: Sedentianas herausragende Eigenschaften sind durch die Formulierung »natturugi fum« als Gaben der Natur charakterisiert und stammen somit letztlich von Gottes Schöpfung. Ihre Eigenarten sind ordnungsgemäß im System des größeren Ganzen vorgesehen. Es findet kein aktiver Versuch statt, sich zu etwas Besserem aufzuschwingen, indem etwa bestimmte Künste trainiert oder das Äußere durch Schmuckwerk aufgebessert würden. Und dennoch folgt aus Sedentianas herausragender Disposition keine Stellung als vorbildliche Vertreterin des Hofes, sondern ein Abstieg in Stolz und Hochmut. An dieser Stelle ist dem Sagatext ein deutlich misogyner Zug zu eigen: Obgleich Sedentiana von Natur aus alles besitzt, um zu einer wahren Verkörperung des Hofes zu werden, verkommt sie doch 493 SSÞ: 100. Sie war so höfisch-vollkommen hinsichtlich des Wuchses ihres Körpers, dass sie wie gewachsenes Schilf war, überaus schmal. Ihre Augen waren scheinend wie Sterne bei klarem Wetter und aus ihnen schienen Lichtstrahlen zu scheinen. Der Kopf war rund wie diese Inseln, die goldene Farbe haben mit scheinendem Glanz wie brennendes Feuer oder Sonnenstrahlen. Und in ihr schönes Haar konnte sie ihren ganzen Körper einhüllen. So waren ihre Wangen und ihr schöner Mund, dieses alles war so hübsch beschaffen, dass es allen offensichtlich war, dass die Natur mit ihrem eigenen Geschick dort alle Sorgfalt darangesetzt hatte, sie weit vor allen anderen Jungfrauen zu schaffen, die es auf der ganzen Welt gab. 494 SSÞ: 100. Und da, als diese herrliche Jungfrau sich geschmückt und verziert sah mit allen Naturgaben der Welt, vor allen Jungfrauen der Welt hinsichtlich Meisterschaft in Worten und aller Arten von Gelehrsamkeit, da begann sie, in Hochmut und Überheblichkeit zu verfallen. 170 zur Verkörperung eines Bedrohlich-Fremden, da sie ihre Gaben nicht mit angemessener Bescheidenheit zu tragen vermag. Ihr defizitäres weibliches Naturell ist besonders anfällig für die Sünde der superbia, und ihre sonstige Vollkommenheit schützt sie nicht etwa davor, sondern wirkt als zusätzlicher Katalysator. In dieser Hinsicht stellt sie das invertierte Gegenstück zu den beiden Trollfrauen Fála und Flegða dar: Die Trollinnen setzen sich über gender-Konventionen hinweg, weil sie unvollkommene Wesen sind, in ihrer Rohheit und Hässlichkeit denkbar weit von den Idealen des Hofes entfernt. Sedentiana hingegen begeht denselben Ordnungsbruch, weil ihre vermeintliche Vollkommenheit sie dazu anstachelt. In beiden Fällen stellt eine Frau, die nicht angemessen ‚gezügelt‘ wird, eine Gefahr für das soziale Gefüge dar. Dass es mit dieser Zügelung nicht allzu weit her ist, zeigt sich an den Vorkehrungen, die König Flores trifft, als er sich im Alter zusammen mit seiner Frau aus allen weltlichen Belangen zurückzieht: Seine Tochter Sedentiana wird nicht etwa einem männlichen Vormund unterstellt, sondern bekommt durch Treueide sämtlicher Vasallen alle Macht in Frakkland zugesprochen. Erst in dieser Machtposition wird aus der stolzen Prinzessin ein meykóngr im eigentlichen Sinne: »vill hun sig kong lata kalla.« 495 Aus einem rein passiven Gefühl der Überlegenheit, das sie alle Freier verschmähen lässt, wird ein aktives Vorgehen gegen alle, die sich ihrem Willen widersetzen: »enn let hun huern þann drepa er af bra hennar uilia og skipan og ottuduzt hana allir.« 496 Die Ontogenese des meykóngr wird durch den Dreischritt ‚höfische Prinzessin - stolze Prinzessin, die alle Freier abblitzen lässt - gefürchtete Gewaltherrscherin‘ beschrieben und kausal durch Sedentianas (weiblichen) Stolz begründet, der erst durch ihre Vollkommenheit und dann durch ihre Machtfülle immer weiter anschwillt. Obgleich Sedentiana weitgehend dem aus anderen originalen Riddarasögur bekannten Topos des meykóngr entspricht, unterscheidet sie sich durch diesen detailliert beschriebenen Prozess doch in einem zentralen Punkt von Figuren wie etwa dem meykóngr Þornbj rg von Tataria in der Ála flekks saga oder dem meykóngr Fulgída von India in der Victors saga ok Blávus: Sedentiana ist keine Repräsentantin eines absolut gesetzten Fremden, die irgendwo in weiter Ferne residiert, wo merkwürdige Sitten herrschen und die Gesetze und Regeln des Eigenen nicht gelten. Sie ist ein Mitglied der eigenen, höfischen Semiosphäre, deren Vorgaben sie nur zu gut erfüllt hat, herrscht gar über das Ursprungsland der höfischen Kultur. 497 Sedentiana entfremdet sich aus dem Bereich des Eigenen heraus, bis sie in sozialer Hinsicht zu einem Monstrum geworden ist, das die Kategorien von gender und sozialer Ordnung in Frage stellt. Sie bewegt sich nicht auf einer Ebene mit Trollfrauen, die von Natur 495 SSÞ: 102. Sie will sich König nennen lassen. 496 SSÞ: 102 Und sie ließ jeden töten, der sich nicht nach ihrem Willen und ihrer Entscheidung richtete, und alle fürchteten sie. 497 Somit ist die Sigurðar saga þögla eine der wenigen originalen Riddarasögur, deren zentrale Abenteuerfahrt den Helden nicht in märchenhafte Ferne führt, sondern in ein europäisches Königreich. Dieser Bruch mit den Genre-Konventionen bildet Sedentianas Verfremdung aus dem Bereich des Eigenen heraus auf der Ebene des erzählten Raumes ab. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 171 aus monströs sind, oder mit Völkerschaften der Ferne, deren marginale Position ihre Fremdartigkeit bedingt. Stattdessen entspricht sie eher dem Typus des höfischidealen Riddarasaga-Helden, der in ein Monstrum verwandelt wird, übertragen ins Weibliche. So wie Áli flekkr als Werwolf das Menschsein hinter sich lässt oder Valdimar immer weiter die Grenze zur fremden Welt der Trolle überschreitet, übt Sedentiana ihre Herrschaft jenseits aller gender-Grenzen aus, indem sie sich selbst zum männlichen Herrscher erklärt. In seinem Beitrag über Cross-dressing and Gender Role Change in the Middle Ages analysiert Vern Bullough eine ganze Reihe unterschiedlicher Beispiele aus den Literaturen des Mittelalters für Männer und Frauen, die die gender-Rolle des anderen Geschlechts übernehmen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass the reason female crossing of the gender barriers was tolerated in the medieval period, even encouraged, was because it was assumed such women were striving to become more male-like and therefore better persons. Male impersonation of female, on the other hand, not only led to a lower status but was suspect because most male writers could find only one possible explanation for a man’s adopting woman’s guise, namely a desire to have easier access to women for sexual purposes. 498 Für die positive Beurteilung weiblicher gender-Überschreitungen bezieht sich Bullough vor allem auf einige Heiligenviten, in denen Frauen in der Verkleidung von Männern ein vorbildliches Leben führen, wobei oft erst nach ihrem Tod ihr wahres Geschlecht offenbar wird. Der Impetus ist hier geprägt von Respekt gegenüber der Frau, die es geschafft hat, trotz ihres Geschlechts solch ein Maß an ‚männlichen‘ Tugenden zu entfalten. Doch weist Bullough darauf hin, dass auch weniger unproblematische Beispiele für solche Konstellationen zu finden sind, etwa der legendäre weibliche Papst Johannes oder der Fall der Jean d’Arc, bei deren Prozess zwei von zwölf Anklagepunkten ihre gender-Überschreitung betrafen. 499 Die Sigurðar saga þögla gesellt sich zu diesen problematischen Fällen, erfolgt Sedentianas Durchbruch der gender-Grenzen doch nicht aus einem Wunsch nach größerer Vollkommenheit heraus, sondern motiviert durch überheblichen Stolz, der aus einem Zuviel an (weiblicher) Vollkommenheit entstanden ist. Allerdings nimmt Sedentiana auch nicht wirklich komplett die Rolle eines Mannes an, sondern übernimmt lediglich den Titel eines männlichen Herrschers, ohne darüber hinaus typisch männliche Aktivitäten wie Waffenhandwerk o. ä. zu betreiben. Sie usurpiert die superiore Machtposition eines Mannes, ohne dabei zugleich dessen vollkommenere Natur anzustreben, so dass sie im Endeffekt nicht etwa als mächtiger König charakterisiert wird, sondern als grausame Herrscherin, vor deren Zorn niemand sicher ist. Ihre Herrschaft stellt trotz aller Machtfülle eine Destabilisierung des Hofes dar, dessen Normen keinen geschützten Raum mehr bilden und dessen langfristiger Bestand zudem durch das Fehlen dynastischer Erben gefährdet ist. 498 Bullough 1996: 225. 499 Vgl. ebd.: 230-231. 172 Sedentianas Entfremdung vom Hof wird im Sagatext vor allem auf der Ebene des erzählten Raumes ausgedrückt: Direkt nach seiner Krönung lässt der meykóngr außerhalb der Hauptstadt eine uneinnehmbare Festung am Meer errichten, die so gut geschützt ist, dass man sie nur mittels einer aufwändigen Seilwindenkonstruktion betreten kann. Wenn Sedentiana sich nicht hier aufhält, bewohnt sie ein prächtig ausgestattetes »lopthus« 500 in der Hauptstadt, das sie verborgen hält und keine Verbindung zu den weiteren Gebäuden der Stadt besitzt. Beide für Sedentiana errichteten Gebäude dienen primär dem Zweck der Isolation - sie residiert nicht dort, wo ihre Eltern Hof gehalten haben, sondern zurückgezogen hinter mächtigen Steinmauern. Sedentianas Mutter Blanchiflur wurde eine Generation zuvor von einem sarazenischen Adligen in einem Turm gefangengehalten, bis schließlich Flores als ihr Retter erschienen ist - Sedentiana hat sich den Turm ihrer Gefangenschaft selbst geschaffen. Sie selber ist das Monster, das sie gefangen hält, bis Sigurðr sie endlich befreien kann. Während jedoch die Fremdheit von Blanchiflurs Entführer in seiner fremdländisch-heidnischen Ethnie bestand, besteht die Fremdheit Sedentianas als ihrer eigenen Kerkermeisterin in ihrem Bruch von gender-Normen. 7.2.5 Die missglückte Zähmung der Widerspenstigen - Hálfdan und Vilhjálmr bei Sedentiana Ein erster Versuch, Sedentianas Isolation zu durchbrechen und sie in die höfische Gesellschaft zurückzuführen, wird in der Saga von Sigurðs älteren Brüdern Hálfdan und Vilhjálmr unternommen. Die beiden gehen dabei nicht besonders geschickt vor, unternehmen sie doch nichts anderes, als eine direkte Werbung um den meykóngr als Gemahlin für Hálfdan vorzubringen, woran schon viele vor ihnen gescheitert sind. Unglücklicherweise begeben sich die Brüder für ihre Werbung ohne ihr Gefolge in Sedentianas Seefestung, wo sie dem Zorn des meykóngr schutzlos ausgeliefert sind, der sich durch diesen Antrag beleidigt fühlt. Sie werden gedemütigt, gefoltert und verstümmelt und anschließend freigelassen, da Sedentiana ihre Rache nicht fürchtet. Bevor die Brüder ihr Anliegen vortragen, werden sie jedoch zunächst standesgemäß bewirtet: Enn Sed(entiana) uar fyrir j sinne haull og ganga fyrir hana ok kuedia hana sæmiliga. enn hun tok þeim blidliga ok quad til eidu vijn ok vænan orgata. suo langan tijma sem þeim vel likade. enn þeir toku þacksamliga hennar bode. og voru þar þessa nott j godum fagnade. 501 Sedentiana gibt sich als großzügige höfische Gastgeberin, die es ihren Gästen an nichts mangeln lässt, und erscheint so in jeder Hinsicht wie ein voll integriertes Mitglied der Hofgesellschaft. Als jedoch am nächsten Morgen Hálfdan und Vilhjálmr an 500 SSÞ: 182. erhöhtes Gebäude. 501 SSÞ: 124. Und Sedentiana residierte in ihrer Halle, und sie treten vor sie und grüßen sie ehrenvoll. Und sie nahm sie freundlich auf und ordnete die Verpflegung mit Wein und schöne Speisen an, solange, wie es ihnen gefiel. Und sie nahmen ihre Einladung dankbar an und waren dort diese Nacht bei guter Bewirtung. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 173 sie herantreten, um ihr kostbare Geschenke zu übergeben, zeigt sich Sedentianas Unwille, sich den herrschenden Normen zu unterwerfen: »en hun q(uadzt) eigi þiggia villi giarfir þeirra sagdiz uera yfrid ik ok þatt eitt umskipte gera at þeim þetti ser betur henta adrer peningar.« 502 Sie verweigert sich der höfischen Sitte, Geschenke als Zeichen der Großzügigkeit anzunehmen, mit dem Hinweis auf ihren immensen Reichtum. Ihr Stolz verbietet es ihr, in den Kreislauf des gegenseitigen Austauschs von Symbolen der Anerkennung einzutreten und isoliert sie so vom höfischen Miteinander. Statt ihrerseits Gegengeschenke zu machen, schlägt sie vor, gleichwertige Waren gegeneinander zu tauschen, was von Vilhjálmr entrüstet abgelehnt wird: »Wilh(ialmur) s(egir) at hann vill heita iddari oc enn vera kongssonn enn eigi kaupmadur.« 503 Obgleich es faktisch auf dasselbe hinaus käme, Waren direkt zu tauschen oder Geschenke und gleichwertige Gegengeschenke zu machen, ist letzteres für Sedentiana nicht akzeptabel, da sie sich nicht in die integrative gegenseitige Abhängigkeit zu begeben bereit ist, die mit verpflichtender Dankbarkeit einhergeht. Für Vilhjálmr hingegen ist Schenken als Zeichen von fürstlicher Großzügigkeit der einzige akzeptable Weg, während ein Tauschhandel seinem Standesbewusstsein entgegensteht. Sedentianas Streben nach unbedingter Unabhängigkeit führt letztlich zur sozialen Isolation von ihren Standesgenossen. Als Vilhjálmr, der mit den Geschenken eigentlich die Werbung vorbereiten wollte, daraufhin im Namen seines Bruders um Sedentianas Hand anhält, eskaliert die Situation vollends: »þ matti skiott si og finna mikinn eidesuip drott(ningu) þuiat hun blicnade oll ok lijtur e‹i›dugliga til Vilhjálms« 504 . Die detailliert beschriebene Reaktion Sedentianas projiziert deutlich sichtbar ihre inneren Emotionen auf die Ebene physiognomischer Zeichen - sie ist erfüllt von ungezügeltem Zorn. Dieses Detail ist wesentlich für die Beurteilung des darauf folgenden Geschehens: Sie lässt Hálfdan und Vilhjálmr binden, auf verschiedene Arten foltern und schließlich auf ihr Schiff zurückwerfen. Sedentiana handelt getrieben von ihren übermächtigen Emotionen, derer sie nicht Herr werden kann. Primärer Auslöser ist wieder ihr Stolz, wie aus ihrer Begründung der Misshandlungen hervorgeht: »þu hefir nu birt þik sialfann. at þu uilldir at os færa skomm til sannrar suiuidingar. þuiat þrælar nogir mega hier finnazt j uoru riki. ath os synazt betur bodner enn þessi þinn bro(dir)« 505 . Der Antrag, sich einem Mann wie Hálfdan unterzuordnen, erscheint ihrer hochmütigen Selbstbestimmtheit so unangemessen, dass sie ihn als Beleidi- 502 SSÞ: 125. Aber sie sprach, dass sie ihre Gaben nicht annehmen wolle, [und] sagte, dass sie sehr reich sei, und nur das mit ihnen tauschen würde, das ihnen besser zu passen [schien] als andere Kostbarkeiten [= sie schlägt vor, gleichwertige Waren mit ihnen zu tauschen]. 503 SSÞ: 125. Vilhjálmr sagt, dass er Ritter heißen will und ein Königssohn sei und kein Kaufmann. 504 SSÞ: 126. Da konnte man schnell sehr zorniges Aussehen an der Königin sehen und entdecken, weil sie komplett blass wurde und zornig auf Vilhjálmr blickte. 505 SSÞ: 126. Du hast dich nun selbst offenbart, dass du uns Scham zu wahrer Schande zufügen willst. Denn hier in unserem Reich mag es manche Knechte geben, die uns als besseres Angebot erscheinen als dein Bruder hier. 174 gung auffasst. 506 Ihr Zorn ist eine direkte Folge ihres Stolzes und somit letztlich ihrer schwachen weiblichen Natur, die ihren Gefühlen ganz ausgeliefert ist und sie in der Rolle als Herrscherin zur Tyrannin macht. Das Detail, dass sie die beiden Brüder »sem æningia e(dur) suicara« 507 fesseln lässt, verdeutlicht in diesem Kontext zusätzlich, wie weit sie sich von der höfischen Semiosphäre entfernt hat: Ein Antrag, der im Rahmen dieser Semiosphäre völlig legitim wäre, wird von ihr als versuchtes Verbrechen semantisiert, die Ausführenden als Übeltäter stigmatisiert. Der meykóngr teilt nicht länger einen gemeinsamen semiotischen Raum mit seinen Standesgenossen und ist zu einem Fremden geworden. Die unmittelbare Reaktion der geschundenen Brüder besteht darin, dieses Fremde aus Rache ausmerzen zu wollen. Sie unternehmen weitläufige Kriegszüge in Frakkland, können Sedentiana damit jedoch nicht direkt schaden. Auch Sigurðr, der im späteren Handlungsverlauf seine Brüder zu rächen trachtet, versucht das Fremde zunächst durch die direkte Konfrontation zu bändigen: Er stellt gemeinsam mit Schwurbrüdern, die er auf seinen Abenteuerfahrten gewonnen hat, ein mächtiges Heer zusammen und fällt in Frakkland ein. Doch während der Schlacht um ihre Hauptstadt Treverisborg gelingt es der klugen Sedentiana, Sigurðr und seine Gefährten durch eine Kriegslist in ihre Gewalt zu bringen. Sie lässt sie in einen Kerker werfen, wo sie Hungers sterben sollen, doch die Schwurbrüder können durch glückliche Umstände entkommen. Nachdem sich nun gezeigt hat, dass ein gewaltsames Vorgehen gegen den entfremdeten meykóngr sinnlos ist, entwickelt Sigurðr schließlich eine angemessenere Strategie zu seiner Bewältigung. 7.2.6 Die Zähmung des monströsen meykóngr durch einen monströsen Helden Bei seinem weiteren Vorgehen gegen Sedentiana macht Sigurðr exzessiven Gebrauch von übermenschlichen Helfern und den diversen Zaubergegenständen, die er auf seinen Fahrten errungen hat. Zunächst einmal lässt er Sedentianas Zauberstein, mit dessen Hilfe sie alles Geschehen in ihrem Reich beobachten kann, durch einen dienstbaren Zwerg entwenden. Anschließend verwendet er den Zauberspiegel der Trollfrauen, um sich das Aussehen eines abstoßenden Fremdländers zu geben, reist unter dem falschen Namen Amas nach Treverisborg und ersucht den meykóngr um Gastfreundschaft. Als diese gewährt wird, besteht Sigurðr darauf, dass Sedentiana während seines Aufenthalts in Treverisborg anwesend sei. Sie geht auf seine Forderung ein, überlistet den hässlichen Fremden jedoch dadurch, dass sie sich ausschließlich in ihrem geheimen Gemach aufhält, wo dieser sie nicht zu Gesicht bekommen kann. 506 In diesem Kontext betont sie, dass Hálfdans Antrag insbesondere auch beschämend sei, da sie doch schon Fürsten aus dem Südteil der Erde abgewiesen habe. Vgl. SSÞ: 126. Offensichtlich spielt der Text hier auf die imagologische Assoziation an, dass exotisch-ferne Länder des Südens sich nach den Topoi des Genres durch besonderen Prunk und Reichtum auszeichnen, der sie deutlich von Europa abhebt. 507 SSÞ: 127. wie Räuber oder Betrüger. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 175 Sigurðr handelt nicht länger als Repräsentant der höfischen Welt, sondern verschleiert als Teil seines Planes bewusst seine herausragenden Eigenschaften in einem Akt der gezielten Entfremdung. Der ritterliche Held erscheint nun mit »oskubleikum lit og storskinne sionu sem eins bergbua« 508 , und die Bewohner von Treverisborg finden es bedauerlich, »ath hann skyllde skapadr med suo suartre sionu suo listiligur sem hann uar at ollu dru« 509 . Zudem bedeckt er sein Gesicht mit einem Pelz und gibt sich als Sohn eines afrikanischen Königs aus. Die Verfremdung erfolgt auf mehreren Ebenen zugleich durch Monströsisierung, Verhüllung und Verweis auf einen peripheren Raum. Sigurðr begibt sich somit auf eine Ebene mit Sedentiana, indem er ihre Entfremdung von der höfischen Welt auf seine Weise nachvollzieht, ja sogar noch überbietet. Dieser Vorgang beschränkt sich jedoch explizit auf sein Äußeres, während sein Verhalten gegenüber Sedentianas Gefolgsleuten weiterhin das eines würdigen Fürsten ist: »Enn sakir þess ath hann hafdi eigi gullit sparit þenna uetur uid iddara og hirdmenn drott(ningar) þ uoru honum allir lidugir til þiono(stu).« 510 Hierdurch stellt er einen invertierten Gegenentwurf zu Sedentiana dar: Während der meykóngr in seinem Äußeren den höfischen Idealen bis zu Perfektion entspricht, durchbricht sein Verhalten die Konventionen dieser Welt auf bedrohliche Weise; der verwandelte Sigurðr hingegen hat das Äußere eines hässlichen Fremden aus dem Außenraum, der jedoch die höfischen Werte des Innenraums vollendet verinnerlicht hat. Die Saga lässt keinen Zweifel daran, welcher Kombination der Vorzug zu geben ist, wird doch Sedentiana von ihren Gefolgsleuten gefürchtet, während sie den geheimnisvollen Fremden hoch achten. In einem direkten Kommentar der Erzählinstanz heißt es über Sedentianas List, sich vor dem abstoßenden Fremden nicht sehen zu lassen: »kann nu og at uera at nu mættj ueralldlig uizka aunnur annare j gegn og kome krokur motj kroc.« 511 Durch das Sprachbild der ineinandergreifenden Haken wird der Eindruck von Symmetrie und Gleichartigkeit erzeugt - Sigurðs List sorgt dafür, dass sich Ritter und meykóngr endlich auf einer Ebene begegnen und in einen direkten Wettstreit der Verstandeskräfte treten können. Auch hier ist die Saga allerdings nicht frei von einem gewissen 508 SSÞ: 194. aschbleicher Farbe und grobschlächtigem Äußeren wie bei einem Bergbewohner . 509 SSÞ: 198. dass er mit solch einem Aussehen geschaffen [sein] soll, so kunstfertig, wie er in jeder anderen Hinsicht war . Die Nennung der schwarzen Hautfarbe steht im Widerspruch zur ersten Beschreibung des verwandelten Sigurðs, wo er mit einem aschfahlen Bergbewohner verglichen wird. Anscheinend vermischt der Text hier verschiedene Figurationen von Fremdheit wie sie etwa der blámaðr oder der bergbewohnende Riese verkörpern, zu einem heterogenen Konstrukt, das vor allem Sigurðs Fremdartigkeit betonen soll, ohne sich auf ein konkretes Äußeres festzulegen. Diese Erzähltechnik stellt eine Analogie zu jener Tendenz der originalen Riddarasögur dar, verschiedene Konzepte fremdartiger Wesen miteinander zu vermischen, wie dies etwa bei den schwarzen Berserkern der Kirialax saga der Fall ist. Siehe Abschnitt 8.2.6. 510 SSÞ: 198. Und weil er in diesem Winter nicht an Gold für die Ritter und Hofleute der Königin gespart hatte, da waren ihm alle Leute zu Diensten. 511 SSÞ: 196. Es kann nun sein, dass nun ein weltlicher Verstand dem anderen entgegenstünde und Haken in Haken käme. 176 misogynen Impetus, wird doch Sedentianas erfolgreiche Gegenlist begründet mit »hollgroinne vnndirhyggiu og prettum« 512 . Nachdem Sigurðr in seiner Verkleidung als Amas den ganzen Winter über Sedentiana durch ihre selbstgewählte Klausur im geheimen Gemach nicht zu Gesicht bekommen hat, geht er schließlich im Sommer zur Offensive über. Er benutzt den Spiegel der Trollfrauen erneut, um sich diesmal ein strahlendschönes Äußeres zu geben, und zieht zudem einen ebenfalls von ihnen stammenden Fingerring auf, dessen Anblick in jeder Frau Liebe zum Träger entfacht. In dieser Aufmachung reitet er vor Sedentianas Gemach, wo diese gerade einen neugierigen Blick nach draußen riskiert. Sie verfällt sofort in brennende Liebe zu dem wunderschönen Ritter und versucht zu ihm zu gelangen, doch dieser reitet von ihr fort, lässt sie jedoch immer wieder näher zu sich herangekommen, und lockt sie auf diese Weise in die Wildnis hinaus. Als Sedentiana am Abend in einem Schneesturm zu erfrieren droht, erscheint ihr Sigurðr in der Gestalt eines hässlichen Schweinehirten und bietet ihr Schutz vor dem Unwetter im Austausch dagegen an, dass sie sich ihm hingibt. Die verzweifelte Sedentiana willigt nach einigem Zögern ein. An den folgenden zwei Tagen wiederholt sich dieses Spiel, wobei Sigurðr sie tagsüber als strahlender Ritter Amas weiter fortlockt und während des abendlichen Schneesturms in der Gestalt eines Zwerges und schließlich gar als gewaltiger Riese auftritt, um so die Demütigung des meykóngr perfekt zu machen. Nach der dritten Nacht erwacht Sedentiana in ihrem heimischen Garten und erkennt, dass sie einem zauberischen Gaukelspiel aufgesessen ist. In dieser Sequenz der Sagahandlung vollzieht sich die (gewaltsame) Reintegration Sedentianas in die geltenden Normen der Hofgesellschaft. Durch die Kombination von Zauberring und betörendem Äußeren sorgt Sigurðr dafür, dass Sedentiana sich ernsthaft für einen standesgemäßen Partner zu interessieren beginnt. Der edle, wunderschöne Ritter Amas stellt genau die Art von guter Partie da, die Sedentiana als vollkommener Erbin eines großen Reiches eigentlich zustünde (und die sie vermutlich schon vielfach ausgeschlagen hat). Doch mit Sedentianas ausbrechendem Interesse an Amas ist keineswegs schon ihre Rückkehr in ihre angestammte gender- Position vollzogen. Sie nähert sich Amas nicht etwa zurückhaltend und als höfische Gastgeberin in einem angemessenen sozialen Gefüge, sondern stürzt ohne Begleiter direkt auf ihn los: wit þessa syn bra henne suo miog at hun ogladdizt ottadizt og angradizt og suo undarligur girndar gneisti flaug um hennar briost og hiarta suo ott og akaft at hun kenndi sig eigi lifva mega jnnan litils tijma ef hun misti elsku og astar þessa hins kurteisa iddara [...]. en drott(ning) sotte eptir med aluoru og lijkams lystug ath finna hann og hafa uidurmæle uid hann. 513 512 SSÞ: 196. fleischgewordener Falschheit und Ränken. 513 SSÞ: 199-200. Von diesem Anblick wurde sie so sehr bewegt, dass sie traurig wurde, sich ängstigte und sich quälte. Und der Funke eines solch wundersamen Verlangens flog um ihre Brust und ihr Herz, so rasend und hitzig, dass sie erkannte, nicht mehr lange leben zu können, wenn sie die Liebe und Zuneigung 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 177 Sedentiana wird weiterhin von heftigen Gefühlen dominiert, die sich ihrer Kontrolle entziehen, diesmal ausgelöst durch die Macht des Ringes. Sie nähert sich Amas getrieben durch blinde Leidenschaft und nicht etwa als potentielle dynastische Partnerin. 514 Noch immer haftet ihr der selbstherrliche Zug an, sich einfach zu nehmen wonach sie begehrt, wenn er auch diesmal ins Tragische gekehrt ist, da Amas sich ihr erfolgreich entzieht. In einem perfiden Spiel mit Erwartungen und deren Dekonstruktion präsentiert sich Sigurðr zunächst in einer Gestalt, die allen Vorbehalten Sedentianas gegenüber ihren ‚minderwertigen‘ Freiern gerecht zu werden scheint, um anschließend durch die erneute Verwandlung den Spieß umzudrehen und sie zur Bittstellerin zu machen, deren Begehren nicht erhört wird. Sedentianas Wahrnehmung der Welt als ihrer Perfektion nicht ebenbürtig erweist sich so als eine rein perspektivgebundene Fehleinschätzung, hinter dem verschmähten Fremden verbirgt sich ein idealer Vertreter des Hofes, der ihr auf Augenhöhe begegnet. Hierein fügt es sich als besonders pikantes Detail, dass Sigurðr sich als Sohn eines Königs von Afrika ausgibt, hat Sedentiana doch zuvor bei der Demütigung seiner Brüder höhnisch darauf hingewiesen, dass sich schon mächtige Fürsten aus dem Südteil der Welt vergeblich um sie bemüht hätten. Die hierauf folgende Demütigung Sedentianas durch ihre mehrfache sexuelle Unterwerfung wird komplett aus der begrenzten Perspektive Sedentianas erzählt, so dass der Rezipient ihr Ausgeliefertsein in der Wildnis und gegenüber den erschreckenden Fremden unmittelbar nachvollziehen kann. Dabei folgt die Handlungssequenz dem klassischen Schema einer dreifachen Klimax mit Achtergewicht. Das Element, das hierbei eine Steigerung erfährt, ist der Grad der Fremdheit, den Sigurðs Verwandlungsgestalten aufweisen: Bereits der Schweinehirt ist in seiner Stellung denkbar weit vom Hof entfernt und weist zudem durch seine Profession eine Verbindung zum Tierhaft-Kulturfernen auf, doch handelt es sich zumindest noch um einen Menschen. Der Zwerg steht bereits außerhalb der menschlichen Sphäre, die Begegnung findet entsprechend an einem Felsen im Wald statt, also an der topischen, marginal gelegenen Wohnstätte einer solchen Kreatur. Die Demütigung, sich einem solchen Wesen hingeben zu müssen, wird durch eine detailfreudige Beschreibung seines fremdartigen Äußeren unterstrichen: »Sem hun hafdi sier nidr kastad undir steininn ser hun einn liotann og lijtinn duerg hia sier stannda. Hann hafdi suartann fotsijdan kyrtil af skinnum geruann. hann uar digur og h fudmikill. enn eigi lengri enn einnar stiku har.« 515 Der Riese, der den abschließenden Höhepunkt bildieses höfischen Ritters entbehren müsste [...] Und die Königin verfolgte ihn mit vollem Ernst und fleischlicher Begierde, um ihn zu finden und ein Gespräch mit ihm zu führen. 514 In diesem Kontext sei darauf hingewiesen, dass in der altnordischen Literatur Verben des Redens in entsprechend eindeutigen Situationen auch als Umschreibung für den Geschlechtsakt dienen können, so dass die Formulierung »hafa uidurmæle uid hann« möglicherweise auch einen Unterton fleischlichen Begehrens aufweist. Vgl. Jochens 1996: 371-372. 515 SSÞ: 205. Als sie sich am Felsen niedergeworfen hatte, sah sie einen hässlichen und kleinen Zwerg bei sich stehen. Er trug einen schwarzen, fußlangen Kittel, der aus Fellen gemacht war. Er war dick und großköpfig und nicht größer als ein stika [Längenmaß]. 178 det, scheint zunächst einmal als nicht-menschliches Gegenüber auf einer Ebene mit dem Zwerg zu stehen, doch die weitaus ausführlichere, an Hässlichkeitstopoi reiche Beschreibung seiner Gestalt sorgt für eine deutliche Steigerung: þ sier hun [...] einn j tunn storan. suartan og suipillann. nas storan og nefbiugan. og suo krokott ath hlyckur s sem nefinu uar tok odrum megin langt ut hans hruckottu kinn ath þij illa eyra er hann bar sijnum suijuirdliga uanga. enn nasirnar ut adra kinn ofan langt fra eyrunum. og uoro þær suo flæstar ath smair men mattu smiuga j huora. og þar nidr ur s hun liggia eina stora listu miog osyniliga allt nidur bringu. þuij eigi olict sem þat uære frodan vr honum. munnur hans er suo sem iokla sprunga. e(dur) gi r þær er uotnn falla ur. og uar hann bade skackur ok skialgur. augun uoru sem skallhettir suartir og lodnir. og uotnn .ij. flyte j midiu. enn hans haus uar harlaus og glittade sem suell. enn hy suart og sijtt med u ngum. 516 Diese detailreiche Ausgestaltung grotesker Monströsität überbietet schon allein durch ihre Ausführlichkeit die Darstellung des Zwerges. Zudem wird der Riese dadurch, dass kleine Menschen in seinen mächtigen Nasenlöchern Platz finden sollen, bildgewaltig von der Sphäre des Menschlichen fort hin zur Sphäre von Naturphänomenen wie Höhlen und Felsspalten geführt, was durch weitere Sprachbilder wie die ‚Gletscherquelle‘ seines Mundes gestützt wird. In ihrer rhetorischen Struktur ähnelt die Passage zudem stark der klassischen Schönheitsbeschreibung, mit der Sedentiana in die Saga eingeführt wird 517 - alle Vollkommenheit, aus der sie ihr überhebliches Selbstverständnis zieht, ist in der Gestalt des Riesen in ihr krasses Gegenteil invertiert. 518 Die Demütigung Sedentianas erfolgt zum einen natürlich dadurch, dass sie überhaupt gezwungen ist, sich als unantastbar-isolierter meykóngr dahergelaufenen Fremden hinzugeben. Durch die nicht-höfische Fremdartigkeit ihrer Bettgenossen wird die Demütigung dahingehend gesteigert, dass Sedentiana später mit ihrem angeblichen unersättlichen sexuellen Appetit verhöhnt wird. So kommentiert Sigurðr ihren Umgang mit dem Schweinehirten, sobald ihre Schande öffentlich wird: Nu kann uera ath þat birtizt hier sem eistari Ouijdus s(egir) og margir adrir frædemenn ath um slijct munde f m trua mega. hyggit ath huersu rugg þessi munde 516 SSÞ: 207-208. Da sieht sie [...] einen großen Riesen, schwarz und von hässlichem Äußeren, mit großen Nasenlöchern und krummer Nase, und [die Nase war] so gekrümmt, dass die Biegung, die in der Nase war, auf der einen Seite weit auf seine elende Wange reichte, bis zum schlechten Ohr, das er auf seiner hässlichen Wange trug. Und die Nasenlöcher [reichten] weit von den Ohren herab hinaus auf die andere Wange. Und sie waren so groß, dass sich kleine Männer in jedes von ihnen schmiegen konnten. Und dort unten sah sie einen großen, sehr unansehnlichen Rand daran hängen, ganz herab bis zur Brust, nicht unwahrscheinlich, dass dies sein Geifer war. Sein Mund ist so wie eine Gletscherspalte oder eine Felsspalte, aus der Wasser stürzt. Und er war sowohl krumm als auch schräg. Seine Augen waren wie Schalenkappen, schwarz und zottelig. Und zwei Bäche flossen in der Mitte. Und sein Kopf war haarlos und glitzerte wie Eis, aber schwarze, lang herabhängende Stoppeln [waren] auf den Wangen. 517 Siehe Abschnitt 7.2.4. 518 Zur Transformation des Helden zum Riesen siehe auch die Untersuchung von Valdimars Annäherung an die Reisenwelt in Abschnitt 5.2.5. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.2 Der gender-Aspekt des Fremden in der Sigurðar saga þögla 179 uerit hafa ef nockur nytur madur hefdi leyniliga til hennar leitat er suo suijuirdligum sodfant leyfdi sitt fadmlag 519 . Sigurðs gedemütigte Brüder spotten über ihre Peinigerin und den Zwerg: »foruitne hefir henni a uerit. at henni nægde eigi at proua menzka menn helldr jamuel þuijlijc kuikindi« 520 . Über den Riesen heißt es noch derber: »og þat þicki mier truligt ath su megi eigi mey kallazt er hann lagdi medal sinna beina« 521 . Das erzwungene Beilager mit dem Hirten und den beiden Nicht-Menschen wird als Aufhänger herangezogen, um ein weiteres Mal klassische misogyne gender-Konstrukte auf Sedentiana zu beziehen. Diesmal geschieht dies durch den Vorwurf der Neugier und der sexuellen Ausschweifung, die als vermeintlicher Grund für ihren Umgang mit solchen Männern weit unter ihrem Stand benannt werden. Der äußere Kontrollverlust der Nötigung zum Beischlaf wird auf einen inneren Kontrollverlust durch den (typisch weiblichen) Charakterfehler mangelnder Affektkontrolle projiziert und durch den autoritativen Verweis auf ‚Meister Ovid‘ als Beispiel für einen allgemeingültigen Sachverhalt dargestellt. Sedentiana, die sich aller Welt überlegen glaubte, wird in eine inferiore Position unter Wesen gezwungen, die geradezu Antithesen zur höfischen Vollkommenheit darstellen - letztendlich eine grotesk-sexualisierte Variante des König Drosselbart- Motivs. 522 Die Saga folgt diesem Motivkomplex auch dahingehend, dass die demütigende Unterwerfung den entscheidenden Schritt zur Reintegration der Widerspenstigen darstellt. Oberflächlich betrachtet lässt sich dies so deuten, dass Sedentiana durch ihre beschämende Unterordnung jene Demut und Bescheidenheit erlangt, die ihr zur wahren höfischen Vollkommenheit noch gefehlt haben. Ein genauerer Blick auf die Demütigungsszenen zeigt jedoch, dass dieser Aspekt nur eine Seite ihres Wandels darstellt: Als Sedentiana ihre Jungfernschaft an den Schweinehirten verliert, »undradizt hun miog huersu hans lijkame uar glediligr« 523 ; der Geschlechtsakt wird nicht als Vergewaltigung dargestellt, sondern euphemistisch mit der Formulierung »Amors leikum« 524 umschrieben. Ähnlich verhält es sich in den folgenden Nächten mit dem Zwerg und dem Riesen - sobald sich Sedentiana erst einmal widerwillig auf den Kontakt eingelassen hat, vollzieht sich dieser überraschend angenehm, und der hässliche Fremde erscheint ihr auf einmal als menschlicher Partner; selbst der grobschlächtige Riese wirkt »eigi stærre enn menzkr madur« 525 . Sigurðr 519 SSÞ: 240. Nun kann es sein, dass sich hier zeigte, was Meister Ovidius sagt und viele andere Gelehrte, dass in solchen Belangen nur wenigen [Frauen] getraut werden kann. Denkt euch, wie treu diese gewesen sein dürfte, wenn irgendein fähiger Mann heimlich zu ihr gekommen wäre, die solch einem schändlichen Wicht ihre Umarmung erlaubte. 520 SSÞ: 241. Neugier hat sie getrieben, dass sie sich nicht damit begnügte, menschliche Männer zu erproben, sondern lieber gleichermaßen solche Kreaturen. 521 SSÞ: 243. Und das scheint mir wahrlich, dass die nicht Jungfrau genannt werden kann, bei der er zwischen den Beinen gelegen hat. 522 Vgl. Wäckerlin 1998: 425. 523 SSÞ: 203. verwunderte sie sich sehr, wie angenehm sein Körper war. 524 SSÞ: 203. Amors Spiel. 525 SSÞ: 209. nicht größer als ein menschlicher Mann. 180 zeigt sich Sedentiana während des Liebesspiels in seiner wahren Gestalt, die ihrer Schönheit angemessen ist. So stellt die sexuelle Unterwerfung nur scheinbar eine Zähmung durch Schande dar, handelt es sich doch in Wahrheit um die ersten Kontakte zu ihrem künftigen Partner, demgegenüber eine inferiore Position in der sozialen Ordnung vorgesehen ist. Sedentianas schnelle Bereitschaft, den aufgenötigten Geschlechtsakt mit den fremdartigen Wildnisgestalten als etwas Angenehmes hinzunehmen, bedient zum einen natürlich den misogynen Topos der unersättlichen Frau. Zum anderen zeigt sich hierin jedoch auch ihre Rückkehr ins höfische Eigene, erkennt sie in Sigurðs wahrer Gestalt doch ebenjenes Eigene unbewusst wieder, dem sie sich nun endlich willig unterwirft. 526 Analog zum hässlichen Ritter Amas stellen auch Sigurðs weitere Verwandlungsgestalten eine Invertierung von Sedentianas Situation dar: Während der meykóngr äußerlich dem höfischen Ideal entspricht, sich innerlich jedoch ungezügelt-monströs verhält und den Hof durch die Durchbrechung seiner Kategorien gefährdet, gibt sich der verwandelte Sigurðr äußerlich monströs, erweist sich im Kern jedoch als höfisches Gegenüber. Der monströse meykóngr muss auf einen monströsen Helden treffen, um endlich in seine Schranken verwiesen zu werden. Sedentiana begegnet ihrer eigenen Monströsität in der durch Sigurðr veräußerlichten Form, kann dadurch jedoch schließlich ihre innere Monströsität überwinden. Dies wird besonders deutlich, als sie im Anschluss an die Nacht mit dem Zwerg am Morgen erwacht und ein Tablett mit erlesenen Speisen und Wein neben sich vorfindet: »og duergr þesse mun hafa uerit miklu hæuerskare enn hana uarde« 527 . Sedentiana gesteht sich hier ein, dass sie ihr Gegenüber falsch beurteilt hat; der Zwerg ist keineswegs ein verachtenswertes Monstrum, sondern ein würdiger Vertreter höfischer Werte, der ihr großzügige Bewirtung zukommen lässt. Diese Relativierung zeigt exemplarisch Sedentianas Wandel auf, die sich nicht mehr länger als einzige wahre Repräsentantin der Vollkommenheit sieht, sondern nun auch bereit ist, die Welt um sie herum als an diesen Idealen partizipierend zu begreifen. Somit wird ihre isolierende Entfremdung zurückgenommen und ihre Wiederaufnahme in die Hofgesellschaft ermöglicht. Während dem monströsen meykóngr Sedentiana eine Partnerschaft mit Monstern angemessen war, ist die gewandelte Sedentiana nun bereit für eine Partnerschaft mit einem würdigen höfischen Gegenüber, wie Sigurðr es darstellt. Die damit verbundene Unterordnung hat in der Semiosphäre des Hofes nicht mehr länger Züge einer Nötigung, sondern stellt eine erwünschte inferiore Position dar, die notwendig ist, um ihre weibliche Natur 526 Kalinke relativiert, dass das meykóngr-Motiv keineswegs misogyn sei, sondern sich primär durch weibliche Misogamie konstituiere. Vgl. Kalinke 1990: 66-108. Dem hält Glauser zu Recht entgegen, dass die originalen Riddarasögur eine »fundamentale, geradezu ‚strukturelle‘ Aggression« (Glauser 1994: 397) hinsichtlich zwischengeschlechtlicher Beziehungen beinhalten. Zudem ist zu bedenken, dass die Misogamie des meykóngr letztlich durch seine superbia, also einem Teilbereich seiner weiblichen Unvollkommeheit, motiviert ist und somit in misogynem Licht erscheint. 527 SSÞ: 206. und dieser Zwerg wird viel höfischer gewesen sein, als ihr gewahr gewesen war. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.3 Die reetablierte Geschlechterordnung - ein Happy End? 181 angemessen unter Kontrolle zu halten. Die Reintegration in den Hof bringt somit zwangsläufig auch die Korrektur ihrer zügellos-destruktiven gender-Misskonzeption mit sich. 7.3 Die reetablierte Geschlechterordnung - ein Happy End? Nachdem Sedentiana das Lager mit dem vermeintlichen Riesen geteilt hat, stellt sie am nächsten Morgen fest, dass sie sich im Garten ihrer geheimen Behausung in Treverisborg befindet und offensichtlich getäuscht worden ist. Ihr wird klar, dass Sigurðr in Wahrheit bei ihr gelegen hat - und dass sie von ihm schwanger ist. Im Folgenden bewegt sich der Fokus der Saga für eine Weile von Sedentiana fort, um von den Abenteuerfahrten Sigurðs und seiner Schwurbrüder zu berichten. In der Zwischenzeit bringt Sedentiana einen Knaben zur Welt, den sie nach ihrem Vater Flores benennt und heimlich in der Abgeschiedenheit ihres verborgenen Gemachs aufzieht. Obgleich sie durch ihren Kontakt zu Sigurðr potentiell integrationsfähig geworden ist, gibt sie die selbstgewählte Isolation vorerst nicht auf. Für eine vollständige Rückkehr in die Hofgesellschaft fehlt ihr ein passender männlicher Partner, der ihre weiblichen Defizite auszugleichen vermag und zudem ihrem Kind als Vater Legitimation verschaffen kann. Die Gelegenheit zur kompletten Aufhebung ihrer Entfremdung ergibt sich, als Sigurðr sie einige Jahre später erneut in Frakkland besucht, in Begleitung seiner Brüder und Schwurbrüder. Dabei unternimmt Sigurðr die Fahrt explizit mit der Begründung, »ath þeir proui stormennzku Seden(tianu) drott(ningar) hinnar miklu« 528 . Es geht also darum, die Großzügigkeit Sedentianas als Gastgeberin zu prüfen, die sich ja bei früheren Anlässen als äußerst unzugänglich gezeigt hat. Sigurðr führt die Probe aufs Exempel durch, ob sein Umgang mit dem meykóngr tatsächlich zu einer Annäherung an die höfischen Gepflogenheiten geführt hat. Die Perspektive wechselt wenig später zu Sedentiana, die von der Ankunft ihrer Gäste erfährt. Ihre Reaktion unterscheidet sich deutlich von den vormaligen Gelegenheiten: »þessi tijdindi koma nu til Se(dentianu) drott(ningar) og kallar hun at sier sitt hæsta ad. eptir frettande huersu fagna skyldi S(igurdi) þ gla og hans fostbrædrum.« 529 An dieser Stelle wird zum ersten Mal erwähnt, dass in Frakkland überhaupt so etwas wie ein Rat existiert, der die Herrscherin bei ihren Entscheidungen unterstützen kann. Während Sedentiana zuvor immer nur aus der Isolation heraus agiert hat und ihre Entscheidungen einzig von ihrer aktuellen Befindlichkeit abhängig gemacht hat (man denke an die plastische Beschreibung ihres Zorns über Vilhjálms Antrag), sieht man sie nun zum ersten Mal als Teil jenes sozialen Gefüges, das ihr Hof darstellt: Sie wendet sich an den Rat, um eine angemessene Entschei- 528 SSÞ: 235. dass sie die Freigiebigkeit der großen Königin Sedentiana erprobten. 529 SSÞ: 235. Diese Neuigkeiten kommen nun zu Königin Sedentiana, und sie ruft den höchsten Rat zu sich, fragend, wie Sigurðr þ gli und seine Schwurbrüder empfangen werden sollten. 182 dung zu treffen, und lässt sich ihr Handeln nicht länger ausschließlich durch ihren Stolz diktieren. Alle Gäste werden zu einem fürstlichen Festmahl geladen, bei dem Sedentiana als Gastgeberin persönlich anwesend ist. Doch auf dieser Feierlichkeit zeigt sich, dass die Figur noch immer nicht gänzlich in ihrer angestammten Position angekommen ist: Als Teil der Unterhaltung ihrer Gäste lässt Sedentiana ein Schauspiel aufführen, bei dem zwei ihrer Knechte die Folterung Hálfdans und Vilhjálms an Puppen nachstellen. Die Brüder sind beschämt und erzürnt über diese Zurschaustellung ihrer Demütigung, die sie bislang geheim gehalten haben. Sedentiana vollzieht ein weiteres Mal das Verhaltensmuster des meykóngr und bringt sich ihnen gegenüber in eine unangemessen superiore Position. Das grausige Schauspiel wird an drei Tagen nacheinander wiederholt und bildet somit einen symmetrischen Gegenpol zur dreifachen Demütigung Sedentianas durch Sigurðr. Dieser nimmt die erneute Herausforderung an und geht seinerseits dazu über, nun auch die vergangenen Erniedrigungen Sedentianas an die Öffentlichkeit zu bringen: An drei Tagen nacheinander erscheinen der Schweinehirt, der Zwerg und der Riese vor der Festgesellschaft und fordern die Königin für sich, da sie schließlich das Lager mit ihr geteilt haben. Dieser dreifache Auftritt vollzieht sich analog zu den zurückliegenden Demütigungen klimaktisch. Während der Schweinehirte und der Zwerg sich noch mit dem Schwertknauf aus der Festhalle prügeln lassen, greift der Riese einfach nach Sedentianas Thron und droht ihn mitsamt der Königin fortzutragen. In ihrer Verzweifelung ruft Sedentiana Hálfdan und Vilhjálmr um Hilfe an, die den Riesen schließlich in die Flucht schlagen und die Königin an ihren angestammten Platz zurückbringen; die Misshandlung der Brüder ist somit gerächt, sie haben ihre superiore Stellung gegenüber Sedentiana durch deren Rettung wiedererlangt. Diese Handlungssequenz steht im Widerspruch zu Sedentianas zuvor vollzogenem Wandel, der sie in der Rolle der höfischen Gastgeberin vermeintlich in ihre angestammte Position befördert hat. Eine kausale Motivation für die erneute Demütigung der Brüder wird im Text nicht explizit gegeben, doch die symmetrische Wiederholung der Dreizahl legt nahe, dass Sedentiana hier ihre eigene Demütigung dagegen aufzurechnen und somit ihre Überlegenheit zu festigen versucht. Obgleich sie in ihrem Verhalten den höfischen Normen bereits näher gekommen ist, legt sie es doch noch immer auf ein Kräftemessen an, solange kein Mann an ihrer Seite sie endgültig ihrer angemessenen gender-Position zugeführt hat. Dies stellt allerdings auch den letzten Versuch dieser Art dar, denn auf die öffentliche Erniedrigung durch die Auftritte ihrer drei unhöfischen Beischläfer reagiert Sedentiana höchst empfindlich: Sie eilt vom Festmahl fort, schließt sich in ihrer Kammer ein und erscheint am nächsten Tag in Trauerkleidung. Die Isolation, die bislang als selbstgewählte Klausur aus dem Gefühl der Überlegenheit heraus erfolgte, ist nun zu einem unerwünschten Zustand geworden, der durch Scham begründet ist. Was zuvor ein Zeichen von Stärke und Unabhängigkeit war, kann nun als Zeichen von Schwäche und Unvollständigkeit gelesen werden, die der Ergänzung durch einen Mann bedarf. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.3 Die reetablierte Geschlechterordnung - ein Happy End? 183 Bei der narrativen Gestaltung der Beischläfer-Auftritte ist auffällig, dass hier Sigurðr als handelnde und sprechende Figur agiert und den Auftritt von Schweinehirt, Zwerg und Riese direkt kommentiert, obgleich er ja eigentlich der Handlungslogik zufolge mit diesen Wesen identisch sein müsste. Er verschwindet nicht etwa vom Festmahl, um gleich darauf in verwandelter Gestalt zurückzukehren, sondern scheint durchgehend anwesend zu sein, während die drei groben Gestalten ihre Forderungen vortragen. Dieser Widerspruch wird auf der histoire-Ebene der erzählten Welt nicht aufgelöst. Auf der discours-Ebene der Saga als Erzählkonstrukt kann diese Auffälligkeit jedoch so gedeutet werden, dass sich Sigurðr wie Sedentiana nicht mehr länger auf der Ebene des Fremdartig-Monströsen bewegen: Sigurðr ist in dieser Sequenz ganz Vertreter des Hofes, der sich im höfischen Rahmen des Festes bewegt. Die Verwandlungsgestalten sind als nicht-höfische Aspekte seiner selbst, die nun nicht mehr benötigt werden, von ihm abgespalten und treten als Fremdkörper von außen auf. Nachdem sie aus der Halle geprügelt wurden, haben sie keine weiteren Auftritte in der Saga mehr - Sigurðr hat Sedentiana endgültig in die Semiosphäre des Hofes eingebunden, und da die Königin ihre monströse gender-Konzeption aufgegeben hat, braucht der Held ihr auch nicht länger als Monster gegenüberzutreten. Die Szene mit dem Riesen bildet dabei diese neue Positionierung Sedentianas auf der räumlichen Ebene ab: Sie befindet sich inmitten der Hofgesellschaft und wünscht auch dort zu bleiben, doch ein Monster von außerhalb versucht sie nach draußen zu tragen, was auf ihren massiven Protest stößt. Monströsität ist nicht mehr länger ein inneres Problem der Königin, die ihre Position nun akzeptiert hat, sondern eine Bedrohung von außen, der der Hof schlagkräftig zu begegnen weiß. Die durchbrochenen Kategorien sind wiederhergestellt, die Welt des Hofes stabilisiert. Im direkten Anschluss hieran tritt der Knabe Flores auf, der trotz seines jungen Alters höchst vielversprechende Anlagen zeigt. Nach einigem Geplänkel, in dem der Knabe seine Klugheit und Eloquenz demonstriert, erkennt Sigurðr ihn als seinen Sohn an. Damit ist auch Sedentianas öffentliche Schande aufgehoben, denn »uist er hann helldr giæz mannz sonn enn þussa edur duerga« 530 , wie einer von Sigurðs Schwurbrüdern bemerkt. Anschließend trägt Sigurðr seine Werbung um Sedentiana vor und kommentiert dazu: »enn upp fra þessum tijma skal hun ollu ada ockir j millum.« 531 Der Antrag wird angenommen, wobei betont wird, dass »fystu þess allir h fdingiar« 532 . Es wird eine Situation geschaffen, in der Sedentiana frei über den Antrag des Werbenden entscheiden kann, wie es sich im höfischen Diskurs gehört. Die explizite Erwähnung der Großen des Reiches stellt jedoch klar, dass es sich keineswegs um eine rein persönliche Wahl handelt, sondern um eine Entscheidung, die Sedentiana in ihrer sozialen Funktion als Königin trifft. Dass sie schließlich Sigurðr aus freien Stücken zum Mann nimmt, ist nicht etwa Ausdruck ihres unabhängigen Willens, sondern ein Fügen in die übergeordneten Normen, die diese Handlung von ihr erwarten. Sedentiana ist in ihrer angestammten gender-Positon soweit stabilisiert, 530 SSÞ: 246. gewiss ist er eher der Sohn eines berühmten Mannes als der von Riesen oder Zwergen. 531 SSÞ: 246. Und von nun an soll sie alles zwischen uns bestimmen. 532 SSÞ: 246. alle Häuptlinge dies unterstützten. 184 dass ihr wieder Entscheidungsbefugnis eingeräumt werden kann - es besteht keine Gefahr mehr, dass ihr Stolz ihr Handeln dominiert, und sie verhält sich so, wie es sich ihrer Rolle im Gefüge des Hofes geziemt. Mit ihrem künftigen Gemahl Sigurðr hat ihre weibliche Unvollkommenheit endlich die notwendige Ergänzung erfahren und Sedentiana ist zu einer wahrhaft vollkommenen Vertreterin des Hofes geworden. Sigurðs und Sedentianas Hochzeit wird retardierend verschoben, denn einmal mehr wird der Hauptstrang der Saga durch eine weitere Abenteuerfahrt Sigurðs unterbrochen, auf der auch seine Brüder und Schwurbrüder mit angemessenen Partnerinnen versorgt werden. Die Hochzeitsfeier wird als Abschluss der Saga mit allem topischen Prunk beschrieben. Keine weiteren Überschreitungen von gender- Grenzen stören mehr den Idealzustand der höfischen Freude. Sedentiana fügt sich ganz in ihre angestammte Position ein, was sich insbesondere darin ausdrückt, dass ihr bei der Schilderung der Feierlichkeiten keinerlei aktive Handlungen mehr zugesprochen werden: »þar næst er j‹nn› leidd Seden(tiana) d (ottning)« 533 , heißt es über ihren ersten Auftritt beim Fest, und weiter »war Sed(entiana) d (ottning) leidd til sætis einn gulligan stol gegnt frami fyrir S(igurdi)« 534 . Sie erscheint nur noch als passives Patiens der höfischen Zeremonialhandlungen und nicht länger als aktive Herrscherin. Auffällig ist jedoch auch, dass sie auf dem Ehrenplatz gegenüber der Zentralfigur Sigurðr Platz nimmt und somit in eine Dichotomie der Gleichwertigkeit zu ihm gestellt wird; dadurch, dass beide ihre angestammte gender-Position erfüllen, werden sie als ideales höfisches Paar gleichermaßen mit Ehre bedacht, Sedentiana hat als Gefährtin Sigurðs mehr Ruhm und Ansehen erlangt, als es ihr in ihrer Position als selbstherrlicher meykóngr, der niemanden über sich duldet, möglich war. Der Hof hat einen Zustand der Stabilität erreicht, der auch über Sigurðs und Sedentianas Herrschaft hinaus andauern wird, denn die Saga berichtet abschließend, dass ihr Sohn Flores an seinen Vater Sigurðr heranreichen wird. Nachdem die Monströsität des stolzen meykóngr gebändigt ist, geht die erzählte Welt der Saga in einen Zustand der klaren Dichotomie über, in dem der ideale Hof das Zentrum bildet und monströse Unvollkommenheit Wesen des Außenraumes, wie den beiden Trollfrauen, vorbehalten bleibt, deren Hilfe Sigurðr letztendlich seinen Sieg über Sedentiana verdankt. In letzterem Umstand deutet sich an, dass der Ausgang der Saga vielleicht nicht ganz so unproblematisch und eindeutig ist, wie das strahlende Hoffest der Hochzeit an der Textoberfläche glauben machen will. Die Sigurðar saga þögla polarisiert Hof und Außenraum mit ungewöhnlicher Schärfe, was sich etwa darin ausdrückt, dass die völlige Inkompatibilität von Troll- und Menschenwelt mehrfach betont wird. Sedentianas Stolz, der zur Entfremdung vom höfischen Zentrum führt und monströse Verhaltensweisen in den Hof trägt, stellt einen Mangelzustand dar, der mit allen Mitteln zu bekämpfen ist. Diese scharfe Dichotomie bringt zwangsläufig die Etablie- 533 SSÞ: 258. Als Nächstes wird Königin Sedentiana hereingeführt. 534 SSÞ: 258. Königin Sedentiana wurde zu ihrem Sitz auf einem goldenen Stuhl gegenüber von Sigurðr geführt. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 7.3 Die reetablierte Geschlechterordnung - ein Happy End? 185 rung einer Hierarchie mit sich - der Hof steht über der Außenwelt, das Zentrum über der Peripherie, die höfische Königin über der Trollfrau. Vor dem Hintergrund dieser Überlegenheit des Hofes müsste es den Vertretern des höfischen Welt ein Leichtes sein, das bedrohliche Fremde aus dem Außenraum zu besiegen, wie in den vielen topischen Riesen- und Berserkerkämpfen der Saga auch immer wieder betont wird. Bei der Beseitigung des zentralen Missstandes jedoch, den Sedentianas selbstherrliche Herrschaft als meykóngr darstellt, versagen die vermeintlich überlegenen Kräfte des Hofes. Kampfesmut und höfischer Liebesdienst, zwei zentrale Säulen der Ritterschaft, stellen sich beide als unzureichend heraus. Der Aspekt des Liebesdienstes, der ja in den originalen Riddarsögur für gewöhnlich deutlich hinter dem Aspekt der kämpferischen Ritterschaft zurücktritt, wird dabei durch die Fahrt Hálfdans und Vilhjálms repräsentiert. Die beiden versuchen Sedentiana mit höfischem Benehmen, kostbaren Geschenken und wohlgesetzten Worten als Gemahlin Hálfdans zu reintegrieren - und der Ausgang ist desaströs. Der Aspekt des ritterlichen Kampfes findet seinen Ausdruck in der Heerfahrt Sigurðs, der die Macht des meykóngr offen herausfordert und damit auf ein bewährtes Vorgehen zurückgreift, das ihm gegen Drachen und Riesen schon mehrfach den Sieg beschert hat. Gegen Sedentianas List ist jedoch alle ritterliche Stärke chancenlos, und selbst der bislang unbesiegte Protagonist der Saga gerät in Gefangenschaft. Die genuinen Konfliktbewältigungsstrategien des Hofes haben an Sedentiana versagt. Wenn Sigurðr ihr im Folgenden ihren hellseherischen Zauberstein raubt und ihr durch zauberisches Blendwerk die Erniedrigung durch Monster vortäuscht, hat er den Bereich der höfischen Semiosphäre verlassen und ist selber zu einem Fremden geworden. Hálfdan und Vilhjálmr werden durch Sedentianas Schergen ungerechtfertigterweise »sem æningia e(dur) suicara« 535 in Fesseln gelegt - Sigurðr aber ist de facto zu einem Räuber und Betrüger geworden. Als angemessene Reaktion auf Sedentianas monströsen Hochmut erweist sich nicht etwa ein höfischer Gegenpol, sondern ein Gegenangriff auf ebenjener Ebene des anti-höfischen Monströsen, auf die sich auch Sedentiana begeben hat. An diesem Punkt liegt die entscheidende Verbindung zur scheinbar isolierten Episode mit den beiden Trollfrauen Fála und Flegða: Jene Wesen, die das Monströse als ureigene Natur besitzen, statten den höfischen Ritter Sigurðr mit dem nötigen Maß an Monströsität in Form des Zauberspiegels aus, um das soziale Monstrum Sedentiana schlussendlich besiegen zu können. In der scharfen Dichotomie von Hof und Außenraum erweist sich der Hof keineswegs als so absolut überlegen, wie es die vermeintlich simple Grundkonstellation der erzählten Welt nahelegt. Stattdessen werden die Kräfte der nicht-höfischen Außenwelt benötigt, um die Probleme des Hofes zu lösen. In der engen Verschränkung durchbrochener gender-Konzepte mit dem Monströsen stellt sich ebendieses Monströse als Schlüssel zur Reintegration des monströsen Fremdkörpers im höfischen Zentrum heraus - sobald das Monster durch eine ihm ebenbürtige Monströsität besiegt wurde, verschwindet mit dem monströsen 535 SSÞ: 127. wie Räuber oder Betrüger. 186 Hochmut zugleich auch Sedentianas gender-Fehlkonzeption und sie steht für ihre Rolle als ideale Königin zur Verfügung: ein Ideal, dem ein fahler Beiklang durch ebenjene anti-höfischen Kräfte anhaftet, die zu seiner Etablierung notwendig waren. Die scheinbar klare Dichotomie von Hof und Außenwelt oder Mensch und Monster wird so in Frage gestellt, vermeintlich eindeutige Kategorien der Welterklärung dekonstruiert. Das ‚fremde Geschlecht‘ bedrohlich-dominanter Weiblichkeit verschwindet nicht völlig im umfassenden Idealbild eines unproblematischen Hofes, sondern bleibt als Teil einer uneindeutig-monströsen Welt latent bestehen, wo selbst der monolithische Vollkommenheitstopos des Hofe sich als trügerisch erweist. 7. Trollfrau und meykóngr das fremde Geschlecht 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung Die älteste und stärkste menschliche Gefühlsregung ist die Angst, und die älteste und stärkste Art von Angst ist die Angst vor dem Unbekannten. 536 H. P. Lovecraft, 1927 Die Bewältigung der Welt erfolgt in den originalen Riddarasögur nicht nur durch ritterliche Waffentaten oder zaubermächtige Helferfiguren. Im Folgenden soll die Kirialax saga als Beispiel dafür dienen, wie zudem auch gelehrtes Wissen als zentrales Mittel zur Weltbewältigung eingesetzt wird. Der Text ist mit rund zehn vollständigen Zeugnissen nur vergleichsweise dünn überliefert und wird auf das 14. Jahrhundert datiert. Die Saga eignet sich besonders gut für die Analyse des Wissensaspektes, weil sie von allen überlieferten originalen Riddarasögur die meisten Anleihen aus der gelehrten Sachliteratur schöpft, was Robert Cook dazu veranlasst hat, sie als »bookish romance« 537 zu bezeichnen. Hier ist jedoch ein caveat lector angebracht: Auch wenn in anderen originalen Riddarasögur ebenfalls auf enzyklopädische Überlieferung (insbesondere hinsichtlich Welt- und Länderkunde) zurückgegriffen wird, stellt die Kirialax saga mit ihrem überaus gelehrten Impetus doch einen Sonderfall innerhalb des Genres dar. Für die Übertragung der Ergebnisse dieser exemplarischen Untersuchung auf andere Texte muss darum im Auge behalten werden, dass hier ein sehr zugespitztes Beispiel vorliegt, das sich nur in abgemilderter Form transferieren lässt. Die Kirialax saga liefert durch ihre Vielzahl gelehrter Motive, die in unterschiedlichsten Kontexten variiert werden, einen dankbaren Untersuchungsgegenstand für die Frage, wie gelehrte Tradition sich in der altnordischen Erzählliteratur niederschlagen kann. 538 Daneben soll auch besonderes Gewicht auf die Darstellung und Funktionalisierung von Wissenserwerb und -anwendung innerhalb der erzählten Welt gelegt werden. Als Textgrundlage der Untersuchung dient die Edition von Kristian Kålund. 539 536 Lovecraft 1995: 7. 537 Cook 1985: 303. 538 Einen Einblick in die diversen gelehrten Quellen der Saga bietet Cook 1985: 305-308. 539 Kålund 1917. Der Text wird im Folgenden mit KS und Seitenangabe abgekürzt. 8.1 Enzyklopädik als Erzählprinzip In den bisherigen Kapiteln wurde mit den Aspekten Raum, Monströsität, soziale Positionen und gender die Darstellung des Fremden auf vier verschiedenen Inhaltsebenen 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 188 untersucht. Im Folgenden soll es nur bedingt um einen weiteren Inhaltsaspekt gehen. Vielmehr soll eine zentrale Strategie betrachtet werden, mit deren Hilfe der Sagaheld wie auch der Rezipient die Bewältigung des Fremden auf verschiedenen Ebenen angehen können: seine Erfassung durch intellektuelle Erkenntnisfähigkeit bzw. seine Kategorisierung mithilfe der gelehrten Tradition der Enzyklopädik. Der Nutzen dieser Strategie liegt auf der Hand: Fremd ist etwas, das die Kategorien des Eigenen durchbricht und in Frage stellt. Was jedoch mithilfe dieser Kategorien fassbar und denkbar ist, stellt im Waldenfelsschen Sinne kein Fremdes mehr dar, sondern lediglich ein weiteres im System integriertes Anderes. Es wird zu zeigen sein, dass die Bewältigung des Fremden in den originalen Riddarasögur keineswegs nur durch den starken Schwertarm des Helden erfolgt, sondern dass seine Bändigung durch die Fesseln fester Begrifflichkeiten ein ebenso probates Mittel zu seiner Überwindung darstellt. Das spätantike Bildungsgut wurde dem Mittelalter nicht in ungeformter oder verfließender Vielfalt vermittelt, sondern vielmehr in einem geordneten Kanon von Lehrgegenständen. [...] Den ‚Lehrplan des Abendlandes‘ begründete Martianus Capella im 4./ 5. Jahrhundert n. Chr. durch seine maßgebliche Darstellung der Sieben Freien Künste [...]. 540 Auf der Grundlage dieses spätantiken Wissenskanons wurde imVerlauf des Mittelalters eine Vielzahl von enzyklopädischen Lehrwerken geschaffen, von den einflussreichen Originum seu Etymologiarum libri XX des Isidor von Sevilla im 7. Jahrhundert bis hin zum Speculum Triplex des Vinzenz von Beauvais im 13. Jahrhundert, das die umfangreichste überlieferte Enzyklopädie des Mittelalters darstellt. 541 All diese Werke gehen auf den »Gedanken der umfassenden Darstellung der sichtbaren und unsichtbaren Wirklichkeit« 542 zurück, haben also das programmatische Ziel, das Wissen von der Welt in systematisierter Form möglichst erschöpfend darzustellen. Für den Kontext der vorliegenden Untersuchung bedeutet dies, dass im Sinne der Enzyklopädik möglichst keine Entität existieren sollte, für deren Beschreibung nicht zugleich eine passende kanonische Kategorie zur Verfügung steht. Eine Enzyklopädie, die ihre hehre Aufgabe tatsächlich erfüllt, würde also eine Welt erschaffen, die nur noch aus verschiedenen Arten des Anderen in einem gemeinsamen System besteht, den Bereich des Fremden jedoch komplett durch seine begriffliche Erschließung negiert. Dieser Ansatz hat sich auf die erzählte Welt der originalen Riddarasögur ausgewirkt, zählen doch zu ihren vielen Quellen auch verschiedene enzyklopädische Werke des Mittelalters. Die einzige Enzyklopädie, die komplett ins Altisländische übersetzt worden ist, ist der Elucidarius. Daneben waren jedoch auch nachweislich zentrale Werke wie Isidors Etymologiae oder Plinius’ Naturalis Historiae auf Island 540 Mazal 1975: 20-21. 541 Vgl. die Überblicksdarstellung bei Mazal 1975: 20-23 sowie die ausführlichere Darstellung zur Geschichte der antiken und mittelalterlichen Enzyklopädik bei Collison 1964: 21-81. Eine kurze Bibliographie zur mittelalterlichen Enzyklopädik liefert Simek 1990: 11. 542 Bernt 2002: 2032. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 189 bekannt und wurden auch in der volkssprachlichen Literatur rezipiert. Mit Lehrwerken wie der norwegischen Konungs skuggsjá oder Sammlungen wie der Hauksbók sind zudem auch einheimische Ansätze überliefert, Wissen in kompilierter Form zusammenzutragen. 543 Die originalen Riddarasögur haben den enzyklopädischen Werken nicht nur auf der Inhaltsebene einzelne Wissensfragmente als bunte Motive des Fremden entnommen, wenn etwa Wundervölker des fernen Ostens auftreten oder auf das ‚historische‘ Personal des Trojanerkrieges Bezug genommen wird. Auch auf der discours-ebene können sie enzyklopädische Züge annehmen, wenn sie den Kosmos von seinen (höfischen) Zentren bis an die Marginalien ausbreiten und dabei alles an seinen rechten Platz weisen - oder den Helden dafür sorgen lassen, dass z. B. die Monster der Marginalien wieder an ihren Platz zurückgetrieben werden. Neben der höfischen Ordnung ist auch die auktorial überlieferte Ordnung des Kosmos eine wichtige Vorlage des Eigenen, von der die Darstellung des grenzüberschreitenden Fremden sich abgrenzt. Der Sagaheld ist dabei oftmals nicht nur ein Wächter des Hofes, sondern zudem ein Beschützer der kosmischen Weltordnung bzw. ein Überschreiter ihrer Grenzen, wenn er in eine hybride Konstellation verfällt. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 8.2.1 Ein touristischer Reiseanlass Im Gegensatz zu den bisher behandelten Texten nimmt die Kirialax saga ihren Anfang nicht an einem höfischen Zentrum Westeuropas wie England oder Saxland. Der Provenienz ihres Titelhelden entsprechend, dessen Eigenname wohl letztlich auf die norröne Verballhornung des griechisch-byzantinischen kurios Alexios 544 zurückgeht, liegt der Ausgangspunkt der Handlung in »Athenu borg i Gricklandi« 545 . Die Geschichte wird in zwei Handlungskreisen erzählt: Zunächst wird von der Brautwerbungsfahrt des griechischen Königs Laicus berichtet, nach deren erfolgreichem Ausgang dann als eigentliche Haupthandlung die Abenteuer geschildert werden, die Laicus’ Sohn Kirialax auf einer Weltreise erlebt. Trotz des eher untypischen Ausgangsortes Grickland folgt der erzählte Raum dabei grob der Regel der steigenden imagologischen Fremdheit der vorkommenden Länder, wie sie für die Konráðs saga keisarasonar herausgearbeitet wurde: Auf seiner Brautwerbungsfahrt gelangt Laicus von Griechenland an der Peripherie Europas ins morgenländische Syria, während Kirialax’ große Welterkundungsfahrt über Frigia bis ins ferne India führt. Der Reiseanlass der Welterkundung stellt einen zentralen Unterschied zu anderen Texten des Genres dar: Kirialax wird nicht durch einen Mangelzustand am heimischen Hof in die Welt hinaus getrieben wie etwa Valdimar, der nach seiner entführten Schwester sucht, oder Konráðr, den Roðberts Verrat forttreibt. Auch geht es 543 Vgl. Simek 1990: 25-30. 544 Der Name bezieht sich vermutlich auf den Kaiser Alexius I. Comnenus, der von 1081 bis 1118 über Byzanz herrschte, oder einen seiner gleichnamigen Nachfolger. Vgl. Cook 1985: 303-304. 545 KS: 1. der Stadt Athen in Griechenland. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 190 Kirialax nicht primär darum, seinen Ruhm auf Heerfahrten zu mehren oder eine standesgemäße Braut zu finden, ein Topos, der in typischer Form bei der Ausfahrt von Sigurðs þöglis älteren Brüdern Hálfdan und Vilhjálmr entfaltet wird. Stattdessen ist der Held der Kirialax saga darauf aus, »ann[ar]ra landa at vitja ok framandi herra ok h fðingja siði at kanna« 546 . Dieser Reiseanlass führt zu einem besonderen Erzählfokus der Saga: Das Fremde tritt hier nicht überwiegend als eine Bedrohung aus dem Außenraum auf, die um der Integrität des höfischen Innenraums willen besiegt werden muss, sondern es stellt den Grund für eine Reise dar, deren Ziel die empirische Erfahrung und Erfassung ebendieses Fremden ist. Dabei werden auch genretypische Erzählmuster von Kampf und Waffengewalt aktiviert, doch im Vordergrund steht der Typus des gelehrten, intellektuell offenen Helden, dessen Strategie insbesondere in der Verbindung eigener, empirischer Reiseerfahrungen mit autoritativem kosmographischen Wissen besteht. 8.2.2 Der Kampf gegen den Honocentaurus - ein Sieg der Kunstfertigkeit Die Brautwerbungsfahrt von Kirialax’ Vater Laicus, mit der die Saga ihren Anfang nimmt, wird insgesamt sehr konventionell erzählt: Der »krapt-audgi riddari« 547 Laicus zieht aus, »at fremia sinn krapt á annarligum þiodum« 548 und gelangt auf seiner Heerfahrt schließlich nach Syria - ein völlig pragmatischer, zweckbezogener Reiseanlass, der die späteren touristischen Interessen Kirialax’ noch nicht erahnen lässt. König Dagnus von Syria hat eine wunderschöne Tochter namens Mathidia, die allen höfischen Idealen entspricht. Er wacht jedoch so eifersüchtig über sie, dass er bislang alle Freier abgewiesen hat. Laicus von Grickland hält ebenfalls um Mathidias Hand an und droht damit, im Falle einer Ablehnung Syria mit seinem Heer zu verwüsten. Dagnus geht nicht darauf ein und schickt Laicus eine Streitmacht unter dem Befehl seines Sohnes Egias entgegen. Laicus und Egias treffen schließlich in der Schlacht aufeinander, und nach einem harten Kampf wird Egias besiegt. Die beiden Recken schließen daraufhin Frieden, gehen Schwurbruderschaft 549 ein und nehmen Verhandlungen auf, die damit enden, dass Laicus Mathidia als Frau zugesprochen wird, zusammen mit einem Teil des Königreichs Syria. Nach diversen höfischen Festlichkeiten kehrt Laicus mit seiner neuen Gemahlin nach Griechenland zurück. Im Anschluss an die Festivitäten wird in einem Exkurs davon berichtet, wie Egias von Syria einst das Ungeheuer Honocentaurus erschlagen hat. Die Episode ist auf den ersten Blick nur sehr locker in den Erzählfluss der Kirialax saga eingebunden. Dies macht schon die Einleitung durch die Erzählinstanz deutlich: »[A]f þeim sama Eggia finz i frædi-bokum skrifat eitt æfintyr undarligt, ok þo at þat snerte ei þessa saugu, þa skal þo fyri forvitnis sakir segir þan atburd, þo at nockurum monnum þicki 546 KS: 20. andere Länder kennenzulernen und die Sitten fremder Herren und Häuptlinge zu erfahren. 547 KS: 1. mächtige Ritter. 548 KS: 1. um seine Macht über fremde Völker zu mehren. 549 Die hier allerdings »kompana skap« (Freundschaft) genannt und durch einen bloßen Händedruck geschlossen wird (KS: 6); der Autor der Saga legt Wert darauf, dass seine erzählte Welt sich primär aus der klassisch-antiken Gelehrsamkeit speist und weniger aus dem einheimisch-norrönen Sujet. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 191 hann otruligr vera.« 550 Fast entschuldigend wird der Rezipient hier darauf aufmerksam gemacht, dass es zu besagtem Egias noch eine Geschichte zu erzählen gibt, die aber (scheinbar) keinerlei Relevanz für den Fortgang der Saga besitzt. Die Episode wird somit als in sich geschlossener þáttr definiert, der nicht als Teil der eigentlichen Handlung zu betrachten ist, sondern als ausgelagerter Zusatz. Warum wird ihr dann trotzdem Raum im Text zugebilligt? Der Erzähler gibt die ebenso schlichte wie treffende Begründung selbst: »fyri forvitnis sakir«, um der Neugier willen. Die Geschichte wird einfach erzählt, weil sie interessant sein könnte, ihr Geschehen zudem »undarligt« ist und dem Zuhörer »otruligr« erscheinen mag. An diesem Einleitungssatz wird ein zentrales Anliegen der Kirialax saga deutlich: Dem Rezipienten soll ein buntes Florilegium an merkwürdigem Geschehen aus dem ganzen Weltenkreis dargereicht werden, wie er in den gelehrten Büchern dokumentiert ist. Dabei ist die Attraktivität der einzelnen Episoden wichtiger als die erzählerische Gesamtkonzeption. Darüber hinaus ist die Honocentaurus-Episode jedoch mehr als ein bloßes Beispiel für die Wunder der Welt - ihre in sich geschlossene Handlung kann zugleich auch als eine Art Prolog für die spätere Haupthandlung um Kirialax gedeutet werden, mit der sie das Motiv des Sieges der Gelehrsamkeit über das Fremde gemeinsam hat. Der Inhalt der Episode ist schnell zusammengefasst: Auf einer Heerfahrt in Afrika begegnet Egias einer vortrefflichen Prinzessin und hält um ihre Hand an. Doch vor der Vermählung muss sich der syrische Prinz erst im Kampf gegen ein Ungeheuer beweisen, eben jenen Honocentaurus, der durch das Teufelswerk einer schwarzkünstlerischen Prinzessin entstanden ist. Glücklicherweise befindet sich in Egias’ Gefolge ein listenreicher »smidr« 551 namens Dydalos. Dieser konstruiert ein »hus med undarligum krokum ok skotum þeim sem aptur ok fram lágu um skoten« 552 , in dessen gewundene Gänge der Honocentaurus mit einem Fleischköder gelockt wird. Dort attackiert Egias das Monstrum, indem er auf den Mauerkronen des Labyrinths entlangläuft und immer wieder von oben auf den Honocentaurus einschlägt, bis er ihm schließlich den Kopf abtrennt. Das Ungeheuer ist besiegt, der Prinz kann sich an seiner standesgemäßen Braut erfreuen. Jenes heimtückische Haus aber, in dem der Honocentaurus sein Ende fand, wird seither als »Domus Dydali« oder »Vaulundar hus« bezeichnet. 553 Das Vorbild für diese Episode ist offensichtlich: Es handelt sich um eine Variante der antiken Sage von Theseus und dem Minotaurus, allerdings mit deutlich veränderten Personenkonstellationen. Egias ersetzt Theseus in der Rolle des unerschrockenen Ungeheuerbezwingers. Die kretische Prinzessin Ariadne, die Theseus nach 550 KS: 10-11. Über ebendiesen Egias steht in den gelehrten Büchern ein wunderbares Abenteuer geschrieben, und obwohl es diese Saga nicht betrifft, wird dieses Ereignis doch um der Neugier willen berichtet, auch wenn es einigen Menschen unglaublich erscheinen mag. 551 KS: 11. Schmied. 552 KS: 11. Haus mit wundersamen Biegungen und Gängen, die rückwärts und vorwärts am Gang lagen [= sich aneinander vorbei wanden]. 553 KS: 12. Völunds Haus. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 192 der antiken Überlieferung mit ihrer Faden-List den Weg aus dem Labyrinth weist, ist hier auf eine rein passive Funktion als umworbene Braut reduziert, die keinen eigenen Beitrag zum Geschehen leistet. Der Minotaurus ist durch den Honocentaurus ersetzt, den der isländische Physiologus als Mischwesen aus Mensch und Tier kennt. 554 Das Labyrinth ist nicht seine Heimstätte, sondern eine Falle, in der er schließlich umkommt. Dädalos behält seine Rolle als listenreicher Baumeister jedoch bei, und durch seinen Eigennamen und das zentrale Motiv des Labyrinths bleibt die Geschichte trotz aller Veränderungen gut wiedererkennbar. Über diesen Bezug zur antiken Sagenwelt hinaus lässt sich auch eine unmittelbare Quelle für Egias’ Honocentaurus-Kampf in der Kirialax saga in der altnordischen Literatur finden: Es handelt sich um einen Text über die Entstehung des Begriffs Volundarhus, der in der Handschrift AM 736 III 4to überliefert ist und den Cook in seinem Verhältnis zur Darstellung in der Kirialax saga untersucht. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die Saga sich an besagten Text anlehnt, jedoch eine ganze Reihe von Veränderungen vornimmt. Insbesondere ist es im Quellentext die Prinzessin selbst, die Egias den Rat gibt, ein Labyrinth für den Honocentaurus zu konstruieren, dessen Vorgeschichte hier nicht erzählt wird, während Dädalus als Figur gar nicht in Erscheinung tritt. Zudem wird der Honocentaurus hier nicht direkt vom Helden erschlagen, sondern er stirbt nach sieben Tagen im Labyrinth vor Hunger. Nach Cook hat der Autor der Kirialax saga Veränderungen an der Geschichte vorgenommen, um »a more complete story« zu erzählen und zudem »in line with the classical version« zu kommen. 555 Welche Auswirkungen hat nun aber die spezielle Darstellungsart der Kirialax saga, wenn man den Kampf gegen den Honocentaurus als Konfrontation des Helden mit dem Fremden betrachtet? Zunächst einmal ist augenfällig, dass der Autor der Kirialax saga, im Gegensatz zu seiner altnordischen Quelle, Wert darauf legt, die Herkunft des Ungeheuers Honocentaurus näher zu beleuchten: »Þar hafdi veret su kongs dottir, er lært hafdi forneskiu ok fitonsanda krapt. Svo segizt, at hun hafdi at ser vanit eirn gradung med fiolkyngi ok blotskap, ok þar med hafi getnadr ordit ok fædz upp þat dyr, er Hono- 554 »Honocentaurus heitir dýr, þat er vér k llum finngálkan. Þat er maðr fram en dýr aptr [...].« (Honocentaurus heißt ein Tier, das wir finngálkan nennen. Das ist vorne ein Mensch und hinten ein Tier [...].) Halldór Hermannsson 1938: 17. In der allegorischen Ausdeutung des altisländischen Physiologus steht die menschlich-tierhafte Doppelgestalt des Honocentaurus für jene Menschen, die mit sich selbst uneins sind, also ihre Rede jeweils an die Meinung des Gesprächspartners anpassen. Vgl. ebd. 555 Cook 1985: 312. Cook weist zudem darauf hin, dass das zentrale Motiv des Labyrinths durch besagte Veränderungen zu einem blinden Motiv verkäme - schließlich stirbt der Minotaurus nicht vor Hunger in den gewundenen Gängen, sondern wird direkt erschlagen. Hierzu ist anzumerken, dass auf der Ebene solcher ‚erzähllogischen‘ Erwägungen selbst das Labyrinth der antiken Sage eigentlich unnütz ist - wofür ein kompliziertes Kunstwerk, wenn es auch ein simpler Kerker täte? Das Labyrinth ist ein klassischer Topos, jedoch innerhalb der erzählten Geschichte nicht völlig motiviert. Diese ‚Unstimmigkeit‘ setzt sich bis in die Version der Kirialax saga hinein fort, wird jedoch nicht erst durch die hier vorgenommenen Veränderungen hervorgerufen. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 193 centaurus heitir.« 556 Während im Quellentext die Existenz des wilden Ungeheuers einfach als gegeben vorausgesetzt wird, bemüht sich die Saga darum, eine solche Monströsität ‚rationalisierend‘ zu erklären: Sie ist ein Geschöpf dunkler Magie, genauer gesagt von einer Prinzessin geboren, die sich durch Zauberkunst einen Stier gefügig gemacht hat. 557 Das Ergebnis ist ein grenzüberschreitendes Mischwesen zwischen Mensch und Tier, das die Ordnung der Welt gleich in zweifacher Hinsicht bedroht: zum einen durch sein zerstörerisches Wüten, zum anderen aber auch durch seine schiere Existenz, die die wohlgefügten Kategorien der Schöpfung und somit der göttlichen Ordnung durchbricht - ein Monster im klassischen Sinne Cohens. Die Kirialax saga bemüht sich um die Darstellung eines geschlossenen, kosmographisch geordneten Weltsystems, wo alles seinen Platz hat. In solch einer Welt kann der Honocentaurus nicht einfach als ‚Fehler im System‘ existieren. Somit ist es nur folgerichtig, dass die Saga seine Herkunft durch teuflische Zauberei erklärt, also durch eine Kraft, die die Gesetze der geordneten Schöpfung durchbricht. Gleichzeitig wird damit auch das klassisch-antike Motiv der kretischen Königin Pasiphae aufgegriffen, die durch einen von Poseidon gesandten Stier geschwängert wird und den Minotaurus gebiert, allerdings in einer dämonisierten, christlich umgedeuteten Form. Die Erklärung des Honocentaurus nützt der Saga-Autor also geschickt, um zugleich auch weiteres ‚Bildungsgut‘ in seinem Erzähltext unterzubringen, ein Kunstgriff, der sich häufig in der Saga findet und viel zu ihrer weltchronikhaften Wissensfülle beiträgt. Der Honocentaurus tritt dem Helden als Monster und Bruch der Weltordnung gegenüber. Auf einer anderen Betrachtungsebene ist dieser Bruch jedoch auch ein Teil der Welt, weil er sich durch schwarze Magie erklärt, die zwar ein verwerflicher Ordnungsbruch ist, aber innerhalb des christlichen Weltsystems als potentiell möglich gedacht wird. Während in der Quelle der Episode der Honocentaurus ein genuin Fremder bleibt, der ohne weitere Begründungen außerhalb der Welt des Helden existiert und diese in Frage stellt, ist der Honocentaurus der Kirialax saga durch seine ‚weltkonforme‘ Entstehungsgeschichte ein (wenn auch fehlerhafter und bedrohlicher) Teil dieser Welt. Das Fremde wird hier dadurch relativiert, dass es sich im Rahmen einer bestehenden Ordnung und eines überlieferten Wissenskanons bewegt - sei es auch nur als durch Überlieferungen über die schwarze Magie belegter Bruch dieser Ordnung. Der Honocentaurus ist nicht nur seiner körperlichen 556 KS: 11. Dort hatte es jene Königstochter gegeben, die die Kunst der Zauberei und Wahrsagerei erlernt hatte. So wird es berichtet, dass sie sich einen Stier mit Zauberei und Opferwerk gefügig gemacht hatte, und von ihm war sie schwanger geworden und brachte jenes Tier zur Welt, das Honocentaurus heißt. 557 Hier liegt ein weiteres Beispiel für das misogyne Motiv der sexuell unersättlichen Frau vor, die selbst vor nicht-menschlichen Partnern nicht halt macht. Siehe Abschnitt 7.2.6. Wurde das Motiv im Falle Sedentianas noch dadurch abgemildert, dass hinter den Monstern in Wahrheit Sigurðr in veränderter Gestalt steckte, wird es hier in aller Konsequenz zu Ende geführt: Der Ordnungsbruch erzeugt einen weiteren Ordnungsbruch im System der Schöpfung. In beiden Fällen wird das Motiv durch die Verbindung mit einem weiteren Aspekt des Fremden zusätzlich verschärft: Bei Sedentiana kommt ihr monströses Verhalten als Gewaltherrscherin hinzu, bei der ungenannten Prinzessin mit dem Stier ihre Zauberkünste. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 194 Gestalt nach ein Hybrid. Er ist einerseits ein fremdartiges Monster, das die Kategorien der Welt in Frage stellt, doch er ist andererseits so entstanden, wie man es von solch einer Entität im Rahmen der Überlieferung erwarten darf. Die äußerliche Bedrohlichkeit des Fremden bleibt bestehen, doch in seinem Kern ist es kein eigentliches Fremdes mehr, sondern lediglich ein besonders extravaganter Teil des bestehenden Systems, ein Fünkchen Chaos im festen Rahmen der autoritativ erklärten und erklärbaren Welt. Das grenzüberschreitende Monster wird dadurch ‚gezähmt‘, dass mit dem Wirken schwarzer Magie eine denkbare Kategorie für Grenzüberschreitungen im System angelegt wird. Diese Tendenz, alles Geschehen in ein übergeordnetes Weltschema einzuordnen, findet sich schon bei den einleitenden Rahmenumständen der Episode. In der Quelle heißt es lediglich unspezifisch, dass Prinz Egias ins Land König Solldans reist, um dessen Tochter zu freien. In der Kirialax saga hingegen wird der Auszug des Helden detailliert begründet: Svo bar til þan tima, sem opt nefndr Eggias var bedin til herferdar med Valintiniano keisara at fara i Affrikam, þvi at tveir hertugar af Mauritania med oflyanda her ættladu at strida á Italiam ad eyda Romam, ok eptir bodi Bonifaci pafa for Valintinianus moti þessum hertugum; en Teodosius anar kongren sat eptir at giæta rikisins fyri á-hlaupum hermanna nordan um fiall, er en villdu vinna Romam. 558 Der kurze Abschnitt bietet eine Fülle an Personennamen und geographischen Bezeichnungen - ein Kaiser Valintinianus, der mit Egias in den Krieg zieht, ein Papst Bonifatius, in dessen Auftrag sie nach Afrika reisen, zwei mauretanische Herzöge als Gegner sowie ein König Teodosius, der Italia in ihrem Rücken verteidigt. Später kommt zudem »Getulia« als die Bezeichnung des Landes in Afrika hinzu, wo Egias den Honocentaurus jagt. All diese konkreten Angaben sind insofern bemerkenswert, als sie für die Handlung der Episode keinerlei Bedeutung haben - sie sind ebenso überflüssig für den Plot des Þáttr, wie dieser selbst überflüssig für den Plot der gesamten Saga ist. Hat der Autor sie also nur als schmückendes Beiwerk ergänzt? Zunächst einmal verstärkt die Nennung der diversen Länder- und Personennamen natürlich den Impetus der Gelehrsamkeit, der die gesamte Kirialax saga programmatisch durchzieht. Die ausführliche Einleitung geht jedoch über ein bloßes Namedropping um seiner selbst willen hinaus: Durch die konkrete Benennung von Personen und Ländern wird die Geschichte von Egias und dem Honocentaurus, die in der Quelle noch im unspezifischen Nirgendwo eines ‚Es war einmal ein tapferer Prinz...‘ schwebt, fest in der Welt verankert. Dies geschieht sowohl auf der geographischen Ebene (Benennung der Handlungsorte) als auch auf der historischen Ebene (Benennung der handelnden Figuren mit Namen, die aus der Historie vertraut 558 KS: 11. So trug es sich zu dieser Zeit zu, dass der oft erwähnte Egias zu einem Heereszug zusammen mit Kaiser Valintinianus berufen wurde, um nach Afrika zu fahren, denn zwei Herzöge aus Mauretanien hatten vor, Italien mit einem niemals fliehenden Heer anzugreifen und Rom zu verwüsten, und nach dem Gebot Papst Bonifatius’ zog Valintinianus diesen Herzögen entgegen; und König Teodosius II. blieb zurück, um das Reich vor den Angriffen der Krieger aus dem Norden jenseits der Berge zu beschützen, die ebenfalls Rom erobern wollten. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 195 klingen mögen). Der Geschichte wird ihr Ort und ihre Zeit in der Welt zugewiesen. 559 Die Kirialax saga bemüht sich also nicht nur darum, einzelne Gestalten wie den Honocentaurus durch passende Erklärungen in ein Gesamtsystem einzuordnen. Auch ganzen Erzähleinheiten wie der betrachteten Episode werden durch ihre konkretisierende räumliche und zeitliche Verortung feste Koordinaten im System des enzyklopädischen Weltwissens zugewiesen. In diesen Kontext fügt sich schließlich auch die dritte wesentliche Ergänzung der Kirialax saga im Vergleich zu ihrer Quelle ein: die Einführung des Baumeisters Dydalos als Konstrukteur des Labyrinths. Mit ihm tritt ein weiteres Element aus dem antiken Intertext der Episode ins Geschehen, der Autor der Kirialax saga beweist einmal mehr seine Gelehrsamkeit. Von noch größerer Bedeutung ist jedoch die Gelehrsamkeit, die die Figur Dydalos innerhalb der Handlung auffährt - schließlich ermöglicht erst seine listenreiche Konstruktion die erfolgreiche Tötung des Honocentaurus. In der direkten Quelle der Saga kommt dieser Ruhm der namenlosen Prinzessin zu, die dem Helden detaillierte Anweisungen gibt, wie der Honocentaurus im Labyrinth zu fangen ist. 560 Egias führt ihren Plan aus und kommt dadurch zum Erfolg - die Klugheit seiner künftigen Frau und seine ritterliche Schlagkraft ergänzen sich als vorbildliche höfische Tugenden. In der Kirialax saga wird die Prinzessin nun durch jenen besagten Dydalos ersetzt - nach Cook eine Annäherung an die antike Gestalt des Stoffes und zudem eine Reduktion der Braut des Helden auf eine konventionellere, passive Rolle. 561 Diese Veränderung hat jedoch noch weitreichendere Konsequenzen: Der Helfer des Helden ist nicht mehr seine standesgemäße Partnerin, sondern ein Baumeister aus seinem Gefolge, eine Figur also, die nicht der höfischen Welt des Rittertums entstammt, sondern im Bereich der Gelehrsamkeit zu Hause ist. An dieser Stelle nimmt die Bedeutung des Weltwissens für den Sagatext eine neue Dimension an: Wissen wird nicht nur durch gelehrte Einschübe und Benennungen im Verlauf der Handlung dem Rezipienten präsentiert - auch innerhalb der erzählten Welt ist Wissen von zentraler Bedeutung. Ohne die gelehrte Kunstfertigkeit des Dydalos kann Egias nicht zum Bezwinger des Honocentaurus werden. Der Held ist von einem Helfer abhängig, dem keinerlei ritterlichen Werte wie Tapferkeit oder Kampfkraft zugeschrieben werden, der dafür aber als vorbildlicher und tatkräftiger Baumeister gezeichnet wird. Einem einseitig auf Bewährung im Kampf ausgelegten Helden tritt hier die Welt des nutzbringenden Wissens gleichwertig gegenüber. Geschieht dies in der Quelle noch im höfischen Gewande, mit einem klugen Plan aus dem Munde einer Prinzessin, so ist es in der Kirialax saga der Beitrag eines 559 Dass die Begegnung mit dem Honocentaurus dabei in Afrika stattfindet, also an einem marginalen Ort der mappa mundi, folgt dem verbreiteten Topos, das extreme, ausufernde Fremde an die Ränder der Welt zu verbannen. Siehe hierzu die Analyse des erzählten Raumes in Kapitel 4. 560 Möglicherweise ist die Prinzessin als Urheberin des Planes ein Reflex der klugen Ariadne aus der griechischen Sage. Vgl. Cook 1985: 311. 561 Vgl. Cook 1985: 312. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 196 Gelehrten, der bescheiden als smiðr bezeichnet wird und anscheinend nicht zum höfischen Hochadel gehört. Unterstrichen wird die Bedeutung von Dydalos’ Beitrag zum erfolgreichen Honocentaurenkampf dadurch, dass sein Labyrinth seitdem als Domus dydali bezeichnet wird. Dydalos wird so zu einem Kulturheros, dem Schöpfer eines neuen Meisterwerks der Kunstfertigkeit, das bis in die Gegenwart der Rezipienten hinein seinen Namen trägt. Der höfische Held Egias bleibt daneben erstaunlich blass - er bezwingt zwar das Ungeheuer und bekommt die Prinzessin, doch der besondere Nachruhm, dass eine Institution dauerhaft nach ihm benannt wird, bleibt ihm verwehrt. Eher erscheint der listige Dydalos als der eigentliche Held dieser Episode. In der von Gelehrsamkeit geprägten Welt der Kirialax saga ist Wissen genauso wichtig wie Tüchtigkeit im Kampf. 562 Vor diesem Hintergrund wird nun auch die Funktion der scheinbar beiläufig eingeschobenen Episode für den Gesamtzusammenhang der Saga deutlich: Der Triumph des kunstfertigen Baumeisters Dydalos ist dem weiteren Verlauf der Geschichte prologartig vorausgeschaltet, um den besonderen Wert von Wissen und Gelehrsamkeit herauszustellen. Diese Fähigkeiten erweisen sich als überlebenswichtig für das Bestehen in einer Welt voller exotischer Gefahren. Kirialax, der eigentliche Held der Haupthandlung, zeichnet sich ebenso durch Wissen und Erfindungsgabe wie durch einen starken Schwertarm aus. Er vereint somit die beiden Tugenden in sich, die der Þáttr vom Honocentaurus in den getrennten Gestalten des Egias und des Dydalos jeweils mustergültig präsentiert. 563 8.2.3 Kirialax am Scheideweg: Kriegertum versus Gelehrsamkeit Kirialax’ besondere Doppelbegabung für Wissenschaften wie Ritterschaft wird bereits bei der Schilderung seiner Ausbildung ausführlich dargestellt: 562 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass der lateinische Terminus Domus Dydali mit der altnordischen Umschreibung Volundarhus wiedergegeben wird. Der kluge Baumeister Dydalos wird hier also zum listenreichen Zauberschmied V lundr norrönisiert. Ein Blick auf dessen Sage, wie sie etwa in der eddischen V lundarkviða (vgl. Neckel 1962: 117-123) erzählt wird, eröffnet einen weiteren aufschlussreichen Subtext für die Kirialax saga: Der Meisterschmied V lundr wird von König Níðuðr gefangengehalten und gezwungen, für ihn zu arbeiten. Der kunstfertige Protagonist ist hier nicht mehr als ein Sklave des weltlichen Herrschers. Doch V lundr rächt sich an seinem Peiniger, indem er dessen Söhne durch eine List tötet und schließlich mit selbstgefertigten Flügeln entkommt - die Parallelen zu Dädalos sind offenkundig. Letztendlich siegt also V lundrs Kunstfertigkeit über Níðuðrs Macht. Auch hier liegt eine erzählerische Konstellation vor, in der Wissen selbstbewusst mit den Fähigkeiten des kriegerischen Herrscherstandes kontrastiert wird - und sich als potenter erweist. 563 Kalinke sieht eine ähnliche Konstellation in den beiden Ziehbrüdern Konráðr und Róðbert in der Konráðs saga keisarasonar: Während Ersterer sich allein durch ritterliche Fertigkeiten auszeichnet, glänzt Letzterer vor allem durch Gelehrsamkeit und Sprachkenntnisse. »Neither Konráðr nor Róðbert conform to the Icelandic concept of the ideal hero; because of their individual insufficiencies they must act in tandem.« Kalinke 1983: 861. Während jedoch Egias und Dydalos erfolgreich zusammenarbeiten, geraten die ungleichen Ziehbrüder in einen Konflikt, der einen zentralen Handlungsmotor der Sagahandlung darstellt. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 197 Laicus fær nu sinum syni hinu villduztu meistara at kenna honum bokfrædi, ok at þvi name var hann siau ar i samt, ok þa hafdi hann yfir farit liberalis artes ok var nu ordin dyr klerkr ok diupr i skilningu, ok sem hann hefir feingit meistara dom ok margskonar frædi, hverfr hann brutt fra bokname ok nemr þessu næst [...] allz kynz riddarligar listir, ok hveria sem hann nam, var hann skiott aullum þeim framari, er honum kendu. 564 Diese Beschreibung entspricht grundsätzlich dem verbreiteten Riddarasaga-Topos vom höfischen Helden, der sich nicht nur durch ritterliche Künste auszeichnet, sondern zudem noch mit seiner Gelehrsamkeit glänzt. Auffällig ist jedoch der hohe Stellenwert, der Kirialax’ intellektuellen Qualitäten dabei zugemessen wird: Die Bezeichnung als »klerkr«, der die »meistara dom« gewonnen hat, reicht deutlich über das Niveau eines allgemeingebildeten Laien hinaus und verweist auf die Welt der professionellen (klerikalen) Buchgelehrsamkeit. Entsprechend ist König Laicus unentschlossen, wie der künftige Werdegang seines Sohnes aussehen wird: en son minn er fridr madr ok æskiliga vaxen. micill ok sterkligr, ok hedan af hæfir þat, at hann profi sialfan sig, til hvers manz hann verdr ætladr. Profazt oss hann verda munu omiukr til ridarligrar atferdar, sem roskum ok tignum manne hæfir, þa er hann ordin svo frodr á bok ok svo godr gramaticus, þa skal hefia hann til kennimanz slektar, ok verdi biskup edr abote. En ef hann profazt framr i frækleik ok vaskr til vapns, þa ma hann med sinum vaskleik vinna ser til handa riki, borgir ok kastala med minum styrk ok fulltingi. 565 Die Laufbahn als gelehrter Kleriker wird einer Karriere als ritterlicher Eroberer gegenübergestellt. Erst nachdem Kirialax sich bei einem eigens hierfür ausgerufenen Turnier als herausragender Ritter erwiesen hat, wird er von seinem Vater mit einer ritterlichen Ausrüstung versehen und begibt sich auf der Suche nach neuen Erfahrungen in die Fremde. Ein Versagen in diesem Probekampf hätte Kirialax’ weiteren Lebensweg auf die Sphäre der Gelehrsamkeit beschränkt. In diesem Fall wäre er lediglich eine weitere Figur vom Typus des Dydalos oder Egias, die sich nur in einer der beiden Lebenswelten auszeichnet. Erst die Synthese von Gelehrsamkeit und Ritterschaft macht Kirialax zum wahren Helden der Saga. Nur wer auf beiden Gebieten zu Hause ist, besitzt die notwendigen Fähigkeiten, sich in der Welt der Kirialax saga zu behaupten. Stärke alleine versagt, wo vielgestaltige Fremdheit nach der Ord- 564 KS: 13-14. Laicus führte nun seinem Sohn die besten Lehrmeister zu, um ihn in der Buchgelehrsamkeit zu unterrichten, und bei diesem Unterricht war er insgesamt sieben Jahre, und dann hatte er die artes liberales gemeistert und war nun ein tüchtiger Kleriker und tief in seinem Verständnis geworden, und als er die Meisterschaft und viele Arten von Gelehrsamkeit erlangt hat, wendet er sich vom Unterricht durch Bücher ab und erlernt als Nächstes [...] alle Arten ritterlicher Künste, und bei allem, was er erlernte, war er schnell allen überlegen, die ihn kannten. 565 KS: 14-15. Und mein Sohn ist ein schöner Mann und wünschenswert gewachsen, groß und stark, und darum geziemt es sich, dass er sich beweist, zu was für einem Mann er bestimmt ist. Wenn sich für uns herausstellt, dass er ungeeignet zu ritterlichem Verhalten wäre, wie es die Tapferkeit und die Ehre eines Mannes erfordern, dann ist er [doch] so gelehrt in den Büchern geworden und ein so guter grammaticus, dass er in den Stand eines Gelehrten erhoben werden und Bischof oder Abt werden soll. Und wenn er sich als herausragend an Tapferkeit und Kühnheit mit der Waffe erweist, dann kann er mit seiner Kühnheit sich ein Reich erwerben, Städte und Burgen, mit meiner Macht und Unterstützung. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 198 nung durch Wissen verlangt. Dieses Prinzip, das in Kirialax’ Jugendgeschichte etabliert wird, findet im Folgenden auf der Abenteuerfahrt des Helden seine praktische Anwendung. 566 8.2.4 Der Kampf gegen König Solldans Ungeheuerheer - ein Sieg des Wissens Die touristische Welterkundung führt Kirialax und die Ritter seines Gefolges in das Königreich Frigia, wo sie von König Soba standesgemäß bewirtet werden. Doch schon bald nach ihrer Ankunft droht dem Land Gefahr in Gestalt des heidnischen Königs Solldan von Babilon, der mit einem gewaltigen Heer anrückt, um Frigia zu unterwerfen. In seinen Reihen findet sich eine Vielzahl monströser Geschöpfe: Oss er flutt, at Solldan kongr hefir oflyianda her allra kynia ok þioda, blamanna ok iotna, ok skringiligar skepnur med hrædiligum ásionum, ok hafa sumir augu á brioste ok bringu ok eru haufud-lauser, sumir eru en haufut-lauser ok hafa mun ok naser á herdar blaudum, sumir hafa eyru svo micil, at þeir mega hylia sig i, sumir hafa hundz hofut ok geyiar sem hundar. Þeir hafa i dromundunum marga fila ok kastala med hernum ok eru þeir til þess ætladir hinir hrædiligu iotnnar ok skessiligu skrimls ok blamenn at fylgia fram filunum i orostu ok hræda svo menzka menn bædi med hrædiligum rauddum ok grimligum ásionum, ok med þessu vinnr hann sigr aullum þiodum 567 . Diese Aufzählung grotesker Völkerschaften geht vermutlich auf das Wundervolk- Verzeichnis der Hauksbók zurück und umfasst neben Riesen, blámenn und Kämpfern auf Kriegselefanten auch Panoti (Großohrige), Cynocephali (Hundsköpfige) und zwei Varianten von Blemmyae (Kopflose). 568 Dass sowohl die aus der einheimischen skandinavischen Tradition bekannten Riesen als auch dunkelhäutige Menschen mit den Wundervölkern der klassischen Gelehrsamkeit in einem Atemzug genannt und ihnen somit an Monströsität gleichgestellt werden, ist ein verbreiteter Topos, der sich auch in anderen Texten findet. 569 Eine Besonderheit der Kirialax 566 Kirialax entspricht also dem Idealtypus des umfassend gebildeten ritterlichen Helden, der nach Kalinke in den originalen Riddarasögur gefordert wird: »The type of hero cultivated in Icelandic romances is a polyglott, a traveller who couples physical and intellectual prowess [...].« Kalinke 1983: 853. 567 KS: 28. Uns wird berichtet, dass König Solldan ein niemals fliehendes Heer aus allen Völkern und Geschlechtern hat, blámenn und Riesen, und schreckliche Geschöpfe mit erschreckendem Antlitz. Und manche haben die Augen auf der Brust und sind kopflos, manche sind auch kopflos und haben Mund und Nase auf den Schulterblättern, manche haben so große Ohren, dass sie sich darin einhüllen können, manche haben einen Hundekopf und bellen wie Hunde. Sie haben in den Dromonen viele Elefanten mit Kastellen beim Heer, und es sind diese furchterregenden Riesen und schrecklichen Ungeheuer und blámenn dazu bestimmt, den Elefanten in die Schlacht zu folgen und so menschliche Männer gleichermaßen mit ihren furchterregenden Stimmen und grimmigem Äußeren zu erschrecken, und damit erringt er [Solldan] den Sieg über alle Völker. 568 Vgl. Simek 2007: 226 und Simek 1990: 466-467. Die Wundervölker der Kirialax saga entsprechen in dieser Ausgabe den Nummern 11, 14 und 31 des Hauksbók-Verzeichnisses. Allgemeines zu den Wundervölkern im Mittelalter findet sich bei Friedman 1981. 569 So erscheinen Riesen als Teil der überlieferten Wundervölker auch im Verzeichnis der Hauksbók: »Risar ero kallaðar þioðer þer er stercaster ero. þeir ero sumír viðr eígnar sem aðrar menn en sumír ero mannskœðir.« (Riesen werden die Völker genannt, die am stärksten sind. Einige sind wei- 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 199 saga stellt hingegen die Funktion dar, die diese Wesen in Solldans Heer erfüllen: Sie sollen die Gegner durch ihr erschreckendes Aussehen und ihren furchtbaren Lärm in Angst versetzen, was sich offensichtlich als wirksame Taktik herausgestellt hat - bislang hat Solldan auf diese Weise stets den Sieg errungen. Die Ungeheuer sind also mehr als nur exotisches Beiwerk in der Beschreibung eines heidnischen Heeres aus den fernen Ländern Asiens. 570 Sie sind eine Waffe der psychologischen Kriegsführung. Solldan setzt seine monströsen Untertanen gezielt ein, um Furcht zu erzeugen, instrumentalisiert also ihre Fremdartigkeit. Diese Fremdartigkeit ist natürlich relativ zur Semiosphäre von Solldans europäischen Gegnern zu sehen, die für solche extravaganten Völkerschaften keine Kategorien kennt und somit durch sie befremdet und bedroht wird. 571 Umgekehrt folgt aus dieser Konstellation, dass für König Solldan und sein Gefolge die Ungeheuer keineswegs fremdartig sind, da sie schließlich in Solldans Machtbereich zu Hause sind und somit einen Teil der Semiosphäre darstellen, die jene fernen Länder umfasst. Die Kirialax saga operiert bei der Darstellung des Ungeheuerheeres mit zwei unterschiedlichen perspektivischen Blickrichtungen: auf der einen Seite die Leute des frigischen Königs Soba, die verstört von den schrecklichen Wesen berichten, die Fuß in ihr wohlvertrautes Königreich gesetzt haben, auf der anderen Seite der heidnische König Solldan, der dieselben Wesen ganz selbstverständlich als Teil seines Heeres mit sich führt und sich zudem geschickt darauf versteht, ihre erschreckende Wirkung auf die unvorbereiteten Betrachter auszunutzen. Glücklicherweise kann König Soba auf die Hilfe seines Gastes Kirialax zurückgreifen, der seine Gelehrsamkeit nun in einen praktischen Rat umsetzt: testgehend wie andere Menschen, aber manche sind den Menschen übel gesonnen.) Zitiert nach Simek 1990: 466. Die Doppelnatur des Riesen als potentieller Feind oder Helfer ist bereits in dieser knappen Charakterisierung angelegt. Zum Riesen als Repräsentanten des Fremden vgl. Schulz 2004: 231-252. 570 Ein Beispiel für ein Ungeheuerheer, das mit rein ausschmückender Funktion auftritt, ist Ermedons Heerschar in der Sigurðar saga þögla: »Fyrst blamenn og berserkj duerga og dularfolc isa og egintroll. hann hafdi folc af Jndia lande er Cenoefalj het. þeir gou Sem hunndar og h fdu hunndz h fud. Hann hafdi og þ menn er hofdu eitt auga j midiu enne. enn sumir uoru haufudlausir og hofdu munn og augu briostj. þeir uoru og þar er augu hofdu herdarbl dum. þetta folc war stort Sem isar en biartir sem bic.« (Zuerst Schwarze und Berserker, Zwerge und verhülltes Volk, Riesen und Trolle. Er hatte ein Volk aus Indien dabei, das Cynocephali hieß. Sie bellten wie Hunde und hatten einen Hundekopf. Er hatte auch diese Männer dabei, die ein Auge mitten auf der Stirn hatten. Und einige waren kopflos und hatten Mund und Augen auf der Brust. Auch diese waren dort, die die Augen auf den Schulterblättern hatten. Dieses Volk war groß wie Riesen und dunkel wie Pech.) SSÞ: 177. Hier wird eine vergleichbare Aufzählung grotesker Geschöpfe geliefert, doch auf ihre möglicherweise befremdende oder erschreckende Wirkung wird nicht weiter eingegangen. Sie dienen lediglich dazu, Ermedons exotische Herkunft aus dem Königreich Bláland mit einigen pittoresken Details zu unterstreichen. Im darauf folgenden Kampf spielen sie keine besondere Rolle und werden beiläufig erschlagen. 571 Hier zeigt sich, dass auch das Monster als Durchbrecher von Kategorien im Cohenschen Sinne (siehe S. 89) letztlich perspektivgebunden ist, kann es sich doch stets nur relativ zu den Kategorien des Betrachters monströs verhalten. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 200 ‚Þat er mitt rad‘, segir Kirialax, ‚at þer lated skióta skialld-borg ok velet undir hina rauskuztu riddara, en bogmenn ok þa, sem fimaztir eru til at skiota, uppe á skialldborgini þer skulu hafa med ser sma kastala af tre lukta vel, en fyri innan þa skuli þer lykia storar mys ok smar micin fiolda, ok þa er þer komit sem næst filunum, skiotid fram at þeim trekaustulum, þeir sem til eru settir [á skialldborginne, ok briotit þá svo i sundr at mysnar hlaupi á fílana, þvi þat er ecki kvikendi i verollduni, at fillin ottezt svo sem musena, eptir þvi sem Ysidorus biskup segir i sinni xi. […] bok Ethimologiarum [...].‘ 572 Kirialax ist seinen frigischen Gastgebern insofern einen Schritt voraus, als die Geschöpfe in Solldans Heer ihm keineswegs vollkommen fremd sind. Als guter Gelehrter ist er versiert in Enzyklopädik und Naturgeschichte, kann sogar Isidor von Sevilla als direkte Quelle für seine Ausführungen nennen. Entsprechend ist ihm auch die größte Schwachstelle seiner Gegner bekannt, nämlich die überlieferte Angst der Elefanten, die die Spitze von Solldans Angriff bilden, vor Mäusen. Diese integriert er nun seinerseits in die Kriegsführung, in Form von Wurfgeschossen, die mit lebenden Mäusen gefüllt sind. Seine List hat schließlich Erfolg: Die anrückenden Kriegselefanten fliehen panisch vor den freigesetzten Mäusen, und die monströsen Angreifer in ihrem Gefolge werden anschließend von Sobas Leuten überrannt. Solldans Taktik, die Furcht vor dem Fremden zu instrumentalisieren, geht nicht auf. Sie scheitert an Kirialax’ Belesenheit, die es ihm erlaubt, auch mit fremden Dingen jenseits der eigenen Erfahrungswelt souverän umzugehen. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen über das Kampfverhalten der Ungeheuer: »ok þo at þeir væri hrædiligir, voru þeir ecki iafntraustir til bardaga listar« 573 . Die Bedrohung erfolgt also nicht durch überlegen Kampfkraft, sondern allein durch die verstörende Wirkung des Fremden. Dem gelehrten Kirialax sind jedoch aus der Überlieferung Kategorien bekannt, die auch die Wesen aus Solldans Machtbereich umfassen - er kennt ihre Schwächen und Eigenheiten und kann angemessen darauf reagieren. Das Fremde bleibt nur so lange bedrohlich, wie der Betrachter es nicht in seine eigene Ordnung einzuordnen vermag. Sobald es jedoch in die eigene Semiosphäre integriert ist, verliert es seinen Status als Fremdes und wird zu einem bloßen Anderen, das denkbar und berechenbar ist und überwunden werden kann. Diesen entscheidenden Schritt kann Kirialax, im Gegensatz zu seinen frigischen Verbündeten, durch sein gelehrtes Vorwissen vollziehen. Der Angriff des Fremden wird erfolgreich gekontert, indem ihm seine Fremdheit durch Wissen genommen wird. 572 KS: 29-30. ‚Das ist mein Rat‘, sagt Kirialax, ‚dass ihr eine Schildburg errichten lasst und unter den tapfersten Rittern und Bogenschützen eine Auswahl trefft. Und diejenigen, die am geschicktesten beim Schießen sind, auf der Schildburg [positioniert]. Sie sollen kleine, gut verschlossene Holzkästchen mit sich führen, und in diese sollt ihr eine große Menge kleiner und großer Mäuse einschließen, und dann, wenn die Elefanten ihnen am nächsten kommen, beschießt sie mit den Holzkästchen, [dies tun] diejenigen, die in der Schildburg sind, und brecht diese entzwei, so dass die Mäuse den Elefanten entgegenlaufen. Denn es gibt kein Lebewesen auf der Welt, das der Elefant so fürchtet wie die Maus, demzufolge, was Bischof Isidor im 11. Buch Ethimologiarum sagt [...].‘ 573 KS: 36. Und obwohl sie furchterregend waren, waren sie nicht gleichermaßen zuverlässig in der Kriegskunst. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 201 8.2.5 Der Kampf gegen König Solldans heidnisches Ritterheer - Waffengang und Religionsdisput Doch mit dem Sieg über Solldans monströse Vorhut ist die Bedrohung noch nicht abgewendet. Als Nächstes rückt ein gewaltiges Ritterheer gegen Frigia vor, dessen vier Abteilungen jeweils von einem der Söhne König Solldans angeführt werden. Die nun folgende Schlacht wird genretypisch erzählt, indem vor allem die Zweikämpfe der herausragenden Anführer beschrieben werden. So entsteht eine spiegelbildliche Konstellation, bei der Kirialax und seine drei treuesten Gefolgsleuten den vier Söhnen Solldans gegenüberstehen. Die scharfe Symmetrie wird durch die Eigennamen der beteiligten Personen deutlich: Auf der einen Seite stehen Romanus, Romarik sowie ein dritter, nicht benannter Ritter ihrem Herrn Kirialax bei. Auf der anderen Seite stehen die Königssöhne Adonias und Aggeus sowie zwei nicht benannte Brüder. Es werden also jeweils zwei R-Namen und zwei A-Namen antagonistisch kontrastiert. Dabei ist es kein Zufall, dass Kirialax’ Begleiter Namen mit der Stammsilbe »Rom-« tragen, wodurch auf die christlich-römische Tradition als verbindende Gemeinsamkeit Europas verwiesen wird. Die Angreifer von außen aber stehen außerhalb dieser Tradition und somit auch außerhalb des Ordnungssystems, das Kirialax und seine Gefährten repräsentieren und verteidigen. Einerseits sind die beiden kämpfenden Parteien als christliche Streiter und heidnische Angreifer in denkbar schärfster Dichotomie dargestellt - sie gehören unterschiedlichen Ordnungssystem an, die einander in Frage stellen und sich im reinsten Sinne fremd sind. Andererseits werden jedoch auch die Angreifer als »riddara[r]« 574 bezeichnet, ihre Anführer gar als Königssöhne 575 - ein Titel, den sie mit Kirialax gemeinsam haben. Somit stehen sich andererseits auf beiden Seiten Kämpfer gegenüber, die durch eine gemeinsame Ordnung gebunden sind, nämlich den Idealen des höfischen Rittertums, das ihren Stand charakterisiert. Entsprechend gibt Kirialax seinen Leuten vor der Schlacht die Anweisung, Solldans Söhne nicht zu töten, sondern mit der Aussicht auf Lösegeld gefangenzunehmen, sie also wie einen unterworfenen ritterlichen Gegner zu behandeln. 576 Es entsteht die paradoxe Situation zweier widerstreitender Ordnungsprinzipien - als Christen und Heiden sind die Gegner einander unversöhnlich fremd, als Angehörige einer höfischen Oberschicht folgen sie den gleichen Idealen des Kriegeradels, denken und verhalten sich also im Rahmen gleicher Kategorien. Dieses Paradoxon wird bei der Darstellung der Kämpfe nicht etwa durch die klare Gegnerschaft der Kontrahenten entkräftet, sondern durch die erzählerische Ausgestaltung der Heiden vertieft und ausgebaut. Die heidnischen Kämpfer werden keineswegs als stumme, gesichtslose Gegner dargestellt, die lediglich als ‚Schwertfut- 574 Vgl. KS: 32: »Her eptir byr han [Solldan] riddara lid sitt« (Daraufhin macht er [Solldan] sein Ritterheer bereit). 575 Vgl. z. B. KS: 38: »nockrir af þessum kongsonum« (einige von diesen Königssöhnen). 576 Tatsächlich kommt auch nur einer der Söhne Solldans in der darauffolgenden Schlacht ums Leben. Vgl. KS: 46. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 202 ter‘ der Protagonisten dienen - ganz im Gegensatz zu den Ungeheuern der Vorhut, die sich nur durch Lärm und Brüllen bemerkbar machen und einer Sprache entbehren, mit der sie eine eigene Sicht der Dinge verbalisieren könnten. Die heidnischen Ritter sprechen während der Kampfhandlungen und kommentieren das Geschehen aus ihrer Perspektive. »Hin helgi Maumet gefi þeim skamm ok svivirdi þær hendr, er þer urdu at skada, minn fagri frændi, ok nu i stad skal eg þin hefna.« 577 - so kommentiert einer der Heiden den Tod eines Mitstreiters. Der Königssohn Adonias fordert kurz darauf seinen Kontrahenten Kirialax mit folgenden Worten heraus: »Heyr þu hin svikafulle ok hin saurlifi putu son, hver lefdi þer at gera svo micin skada a þeim monnum, sem Maumet gudi saunnum þionum, ok hann verdi þer reidr ok steypi þer ok þinu ofdrambi« 578 . Ähnliche Phrasen verwendet auch Aggeus bei seiner Herausforderung an Romanus: Hvat gaf hin helgi Jubiter mer at sauk, er hann let svo illan dag yfir mic koma, at svo ofrodir menn, at eigi vita skil á himna gudinum Jubiter, skulu svo micla audn gera á hans lyd, ok helldr vil eg fyri fara minu lifi en eg hefni eigi minna godra frænda ok vina. 579 Die Heiden berufen sich also mit inbrünstiger Überzeugung auf ihre Götter »Maumet« und »Jubiter« und geloben in ihrem Namen das, was ein christlicher Streiter auch geloben würde - Rache für die gefallenen Verwandten und Gefährten. Sie sprechen nicht nur mit menschlicher Stimme, sondern aktivieren zudem einen Diskurs der kriegerischen Ehrverpflichtung, der direkt der Lebenswelt ihrer europäischen Gegner (und wohl auch der Saga-Rezipienten) entspringt. Die Phrasen werden somit auf beiden Seiten austauschbar, und Kirialax, der sein Gegenüber als »hin heidni hundr« 580 beschimpft, sagt damit nichts anderes aus als die Heiden Adonias und Aggeus, die den Irrglauben ihrer christlichen Gegner brandmarken. Die Darstellung der heidnischen Ritter, die religiöse Gefühle äußern und Treue zu ihren Gefährten zeigen, erfolgt völlig analog zur Darstellung der christlichen Ritter - mit einem umgekehrten Vorzeichen. Dies beschränkt sich nicht auf die Ebene von Beleidigungen und Herausforderungen. Wenn Adonias sich Kirialax mit den Worten unterwirft »ok gef eg upp mitt sverd vopnsottir ok yfir komen, en þo villda eg þiggia lifit« 581 , dann spricht er als 577 KS: 39. Der heilige Maumet lasse demjenigen Scham und Schande zukommen, der dir zum Verderben wurde, mein schöner Verwandter, und nun werde ich dich stattdessen rächen. 578 KS: 40. Höre, du betrügerischer, schmutziger Hurensohn, wer hat dir erlaubt, solchen Schaden unter den Männern anzurichten, , die dem wahren Gott Maumet dienen, und er möge dir zürnen und dich und einen Übermut zu Fall bringen. 579 KS: 43. Was gab der heilige Jubiter mir für eine Schuld, dass er einen so bösen Tag über mich kommen lässt, dass so ungebildete Männer, dass sie den himmlischen Gott Jubiter nicht erkennen, so große Verwüstungen unter seinem Volk anrichten, und lieber will ich mein Leben lassen, als meine guten Verwandten und Freunde nicht zu rächen. 580 KS: 40. heidnischer Hund. 581 KS: 42. und ich übergebe mein Schwert, mit der Waffe besiegt und überwunden, und doch wollte ich das Leben annehmen. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 203 höfischer Ritter, der einen Standesgenossen als überlegen anerkennt und vor dem Hintergrund eines gemeinsamen höfischen Diskurses um Schonung bittet. Aggeus verwebt die religiöse und die höfische Ebene miteinander, indem er sich folgendermaßen über seinen Gegner Romanus äußert: »Micill riddari ertu ok mattugur um fram flesta menn ok fullr skadi, er þu truir eigi á himna gudin Jubuter ok tapar þinu lifi i þvilikri villu.« 582 Er spricht dem gegnerischen Ritter nicht nur als Gleichgestellter ein Lob für seine kämpferischen Fähigkeiten aus, sondern beklagt zugleich, dass ein solcher Mann dem Irrglauben des Christentums anhängt. Auch aus heidnischer Sicht verbinden sich also nach Darstellung der Saga höfische Fähigkeiten und religiöse Tugenden zu einem Idealbild, dem Romanus eben traurigerweise nicht entspricht, weil er nicht den Gott Jupiter anerkennt. So entwirft der Text eine gespiegelte Doppelperspektive, in der die Kontrahenten sich jeweils gegenseitig als ritterlich ebenbürtig, aber religiös verblendet wahrnehmen - eine Verdoppelung des klassischen Topos vom ‚edlen Heiden‘, der so in seiner perspektivischen Gebundenheit entlarvt wird. 583 Romanus nimmt Aggeus’ Aussage zum Anlass, sich seinerseits über seine Sichtweise der heidnischen Götter auszulassen: Þvi eru þer heidingiar villtare llum skepnum i verolldini, at þer truid á þa skepnuna, sem sialf spillti ser med m rgum odadum ok giorde sidan morg undr med diofiligum krapti, en vær kristnir menn truum eigi á skepnu, helldr á skapara allrar skepnunar, ok þat vita menn, at Saturnus ok Jubiter voru menn ok af monnum komnir 584 . Er dekonstruiert den Glauben der Heiden also mithilfe der klassischen Argumente des Euhemerismus: Die angeblichen Götter seien in Wahrheit Menschen der Vorzeit gewesen, und die Heiden würden künstliche Geschöpfe anbeten, während sich die Christen an den Schöpfer selbst wenden. Diese Argumentationsweise ist typisch für die Textgattung des Religionsdisputs, einer Form der Apologetik, in der die christliche Religion (natürlich erfolgreich) gegen Vertreter anderer Glaubensrichtungen im Wortstreit verteidigt wird. 585 Aus dem Kontext einer archetypischen Schlachtbeschreibung sticht Romanus’ apologetische Aussage jedoch scharf hervor. Die Ritter Romanus und Aggeus bekämpfen sich nicht nur mit dem Schwert, sondern führen auch einen Religionsdisput. Der Zweikampf findet somit auf beiden 582 KS: 44. Du bist ein großer Ritter und mächtiger als die meisten Männer und es ist ein großer Schaden, dass du nicht an den himmlischen Gott Jubuter glaubst und dein Leben in einem solchen Irrglauben verdirbst. 583 Zum Motiv des edlen Heiden in der altnordischen Literatur vgl. Lönnroth 1969. 584 KS: 44. Darum seid ihr Heiden irriger als alle Geschöpfe auf der Welt, weil ihr an solche Geschöpfe glaubt, die sich selbst mit vielen Untaten verdorben haben und seither viele Wunder mit teuflischer Kraft bewirkt haben. Aber wir Christenmenschen glauben nicht an die Geschöpfe, sondern an den Schöpfer aller Geschöpfe, und das wissen die Menschen, dass Saturnus und Jubiter Männer waren und von Menschen abstammen. 585 Ein klassisches Paradigma dieser Gattung ist die byzantinische Apologie des Aristides, die als Teil der Barlaams saga ok Josaphats in die altnordische Literatur Eingang gefunden hat. Vgl. Astås 1990: 8-9 sowie die ausführliche Darstellung des Religionsdisputs in der Tradition von Barlaam und Josaphat bei Peri 1959. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 204 Ordnungsebenen zugleich statt - zum einen gleichwertig als Duell zweier höfischer Ritter, zum anderen als ungleicher Streit zwischen Christen und Heiden. Romanus bleibt auf beiden Ebenen Sieger. Seinen euhemeristischen Argumenten kann Aggeus nur einen wütenden Angriff entgegensetzen, bei dem er letztendlich entwaffnet wird. Diese exponierte Episode macht deutlich, dass es in der Kirialax saga keine strikte Polarisierung in ein positiv konnotiertes Eigenes einerseits und ein negativ konnotiertes Fremdes andererseits gibt. Es geht nicht um eine bloße Bekämpfung des Fremden, stattdessen werden Konfrontation und Interaktion parallel gesetzt. Die Überwindung der Bedrohung von außen erfolgt nicht durch reine Gewalt, sondern durch eine Mischung aus Ritterschaft und Gelehrsamkeit. Somit stellt sich Romanus, der Aggeus in Kampf und Religionsdisput überlegen ist, in eine Reihe mit Kirialax, der zuvor Solldans Ungeheuerheer durch überlegenes Wissen bezwungen hat. Die besiegten Königssöhne aber werden nicht etwa als Bedroher der Ordnung vernichtet, sondern in ritterlicher Manier unterworfen und verschont - durch ihren höfischen Hintergrund sind sie nicht nur Vertreter der fremden, heidnischen Welt, sondern zugleich Mitglieder des eigenen Bezugssystems, die nach den gegebenen Handlungsmustern behandelt werden können. 586 Sie sprengen somit die Kategorien einer rein polaren Sichtweise und fordern komplexere Strategien der Weltbewältigung und Weltaneignung heraus. 8.2.6 Die mauretanischen Berserker - ein Sieg der Empirie Nachdem Solldans Söhne besiegt und ihre Ritter versprengt sind, geht nun der König selbst mit der Hauptmacht seines Heeres zum Angriff über. Dabei tun sich insbesondere zwölf seiner Krieger hervor: Nu koma fram i lidi Solldans kongs tolf hans kappar utan af Mauritania mi g svartir af solar bruna, svo sterkir at varla matti manligr kraptr vidstanda, ok svo storir sem risar ok magnadir med pukans krapte, svo at ngan þeira bitu iarn. Þeir rada þegar á fylkingina Soba kongs ok drepa margan mann. 587 Die zwölf mauretanischen Krieger werden mit allen Mitteln der xenophoben Dämonisierung beschrieben: Sie sind nicht etwa nur dunkelhäutig, sondern durch das Adverb »mi g« sogar als ‚sehr schwarz‘ beschrieben, wobei die klassische Erklärung »af solar bruna« nicht fehlen darf, die Assoziationen an ferne Länder nahe der unbewohnbaren Südhälfte der Welt erweckt. 588 Ihre Stärke, die menschliche Kraft 586 Siehe auch die Untersuchung der höfischen Kultur als universales Bezugssystem in der Ála flekks saga in Abschnitt 6.2.7. 587 KS: 47. Nun rücken in Solldans Heer zwölf seiner Krieger aus Mauretanien vor, tiefschwarz von der Sonnenhitze, so stark, dass menschliche Kraft [ihnen] kaum widerstehen konnte, und so groß wie Riesen und verstärkt durch die Macht des Teufels, so dass keiner von ihnen durch Eisen verwundbar ist. Sie greifen sofort König Sobas Heer an und töten viele Männer. 588 Der Topos, dass dunkle Hautfarbe auf die Sonneneinwirkung in heißen Ländern zurückzuführen sei, findet sich schon in der antiken Wissensliteratur. Man vergleiche etwa den etymologischen Erklärungsversuch des Eigennamens Äthiopier als verbrannte Gesichter. Siehe S. 65. Auch in der 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 205 übersteigt, sowie der Vergleich »storir sem risar« heben sie aus der Sphäre des Menschlichen heraus und stellen sie in die Nähe des Monströsen, maßlos Übersteigerten. Ihre Unverwundbarkeit gegen Eisen, die auf die Macht des Teufels zurückgeführt wird, rundet die Dämonisierung ab - die Mauretanier sind nicht nur schwarz und riesenhaft, sondern letztendlich Verkörperungen des Bösen. Im weiteren Verlauf der Handlung, wenn Kirialax gegen die Mauretanier im Kampf vorgeht, werden diese konsequent als Berserker bezeichnet. 589 In diesen Kontext fügt sich auch ihre Eisenresistenz, die in der skandinavischen Tradition topisch als Besonderheit von Berserkern genannt wird. 590 D. J. Beard stellt in seiner Studie The Berserkir in Icelandic Literature eine Typologie von sieben typischen Berserker- Formen auf, die sich im Wesentlichen auf die folgenden beiden Handlungsfunktionen reduzieren lassen: Der Berserker fungiert in der Sagaliteratur üblicherweise als ein Aggressor von außen, der die Ordnung bedroht und von räuberischer Erpressung lebt - bis er schließlich als von einem Stärkeren erschlagen wird. Außerdem treten Berserker als geachtete Vorkämpfer im Gefolge eines Königs auf, die stets in vorderster Reihe kämpfen und ihre Kampfeswut als Teil eines Heeres ausleben, also keineswegs außerhalb der Ordnung stehen. 591 Die zwölf mauretanischen Berserker nehmen eine Zwischenstellung zwischen diesen beiden Funktionen ein: Sie sind einerseits in das Heer von König Solldan integriert, der jedoch andererseits als Aggressor von außen auftritt, indem er aus der Peripherie der Welt nach Europa vorstößt und so die bestehende Ordnung bedroht. 592 Im Kampf gegen die mauretanischen Berserker hilft keine klassische Bildung weiter. Kirialax versucht sein Glück brachial mit dem Schwert: »Nu mætir Kirialax einum af fyrr saugdum berserkium ok hauggr til hans med sinu goda sverdi ofan i hans skalla, ok var þvi likt sem han hiuggi i glerstein hin hardazta« 593 . Hier wird nicht nur die Vergeblichkeit eines solchen konventionellen Angriffs bildhaft beschrieben, sondern zudem mit dem Glasstein-Vergleich der Berserker noch weiter aus dem Bereich des Menschlichen entfernt und dem Mineralisch-Unbelebten angenähert. Als Folge des vergeblichen Angriffs empfängt Kirialax eine Wunde durch die Axt des Berserkers. Auch in dieser brenzligen Situation greift Kirialax nicht auf seinen überlegenen Intellekt zurück, um eine hilfreiche List zu ersinnen - die Fremdartigkeit mittelalterlichen Enzyklopädik hat sich dieser Topos erhalten. Ebenso war die Vorstellung verbreitet, dass die südlichen Regionen Afrikas aufgrund der großen Hitze unbewohnbar seien, also die natürliche Grenze der von Menschen bewohnten Oikumene darstellen. Siehe ebd.. In diesem Kontext stellt also schwarze Hautfarbe eine deutlich sichtbare Verkörperung äußerster Marginalisierung dar. 589 Vgl. z. B. KS: 49. 590 Vgl. Beard 1978: 101. Beard geht davon aus, dass idiomatische Redewendungen wie »Á þá bítu eigi járn« (sie biss kein Eisen) für Unverwundbarkeit den Topos geprägt haben, dass Berserker durch Holzkeulen, stumpfe Waffen u. ä. zu verwunden sind. 591 Vgl. Beard 1978: 101-102 und ebd.: 111. 592 Nach der Beardschen Typologie sind Solldans Berserker ein Mischtyp aus »1 The King’s berserkir« und »7 The semi-magical ‚Viking‘ berserkir«. Ebd.: 102. 593 KS: 49. Nun trifft Kirialax einen der zuvor erwähnten Berserker und schlägt ihm mit seinem guten Schwert von oben auf die Glatze, und es war, als ob er auf härtesten Glasstein geschlagen hätte. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 206 dieses grotesken und unverwundbaren Gegners übersteigt seine Möglichkeiten der Kategorisierung. Stattdessen springt er zornig vom Pferd und schlägt mit einem beidhändigen Hieb zu, der die Haut des Berserkers zwar nicht schneidet, ihm aber die Axt aus der Hand schleudert. Nun erst gelingt es Kirialax, mit einer innovativen Umgestaltung der Situation die Oberhand zu gewinnen: »Kirialax gripr nu þa s mu auxi ok snyr nu fra ser hamrinum ok slær nu svo micit h gg i hans skalla, at hausen lamdizt allr i mola, ok fell hann [= berserkrinn] daudr á iord.« 594 Indem er die Axt des Berserkers ergreift und seinem Gegner mit ihrem hölzernen Schaft den Kopf zerschmettert, zieht Kirialax die Lehre aus seinen beiden vergeblichen Angriffsversuchen mit dem Schwert: Wo scharfes Eisen nicht beißt, mag vielleicht ein stumpfer Schlag mit einer Holzwaffe weiterhelfen. Die Lösung entstammt diesmal nicht der gelehrten Überlieferung, sondern der direkten empirischen Beobachtung und folgerichtigen Interpretation. Dies wird um so deutlicher, wenn man die Bekämpfung der übrigen elf Berserker betrachtet: Sem þetta ser Romanus, at þessa fulu berserki munu eigi iarn bita, ridr hann skynndiliga fra bardaganum i skogen ok rætir ser upp eina eikikylfu ok svidr i elldi. Sidan ridr hann aptur til orostunnar ok kemr at einum berserkinum ok slaer hann med kylfu þeiri i h fudit [...] Rida þeir Kirialax nu badir at berserkiunum ok lemia þa, þar til er allir lagu daudir á vellenum 595 . Der Einsatz des Holzschaftes als Schlagwaffe bleibt keine spontane Einzelaktion. Stattdessen wird die hieraus gewonnene Erkenntnis von Romanus mit dem Bau einer gehärteten Holzkeule zu Ende gedacht und perfektioniert. Die Keule kommt systematisch zum Einsatz, um die verbliebenen Berserker mit der nun bekannten Bekämpfungsmethode zu erledigen. Die Saga führt in dieser Episode also den Gewinn einer empirischen Erkenntnis exemplarisch in ihren Teilschritten vor: Auf den Fehlversuch mit dem Schwert folgt der erste erfolgreiche Versuch mit dem Holzschaft. Die Holzkeule stellt die abstrahierte Erkenntnis aus diesem Versuch dar: Es wird eine Waffe mit den relevanten Eigenschaften ‚stumpf und hölzern‘ konstruiert, die dann in gleichen Situationen (den weiteren Berserkerkämpfen) unter gleichen Bedingungen zum Einsatz kommt, den Versuch also immer wieder erfolgreich wiederholt. Die Formulierung »Sem þetta ser Romanus« betont dabei noch einmal, dass es hier um Erkenntnis aus äußerer Anschauung geht. Während gegen das Ungeheuerheer Wissen aus der gelehrten Tradition zum Sieg führt und gegen die heidnischen Ritter Überlegenheit in den Künsten von Rit- 594 KS: 49. Kirialax ergreift nun ebendiese Axt und schleudert das Axtblatt von sich und schlägt nun einen so gewaltigen Hieb auf seine Glatze, dass der Schädel komplett in kleine Teile zerschmttert wurde, und er [= der Berserker] fiel tot zu Boden. 595 KS: 49-50. Als Romanus das sieht, dass diesen gemeinen Berserker Eisen nicht verwunden würde, reitet er schnell von der Schlacht fort in den Wald und reißt sich eine Eichenholzkeule aus und härtet sie im Feuer. Danach reitet er zurück in die Schlacht und trifft auf einen Berserker und schlägt ihm mit dieser Keule auf den Kopf [...] Kirialax und er reiten nun beide auf die Berserker los und erschlagen sie, bis alle tot auf dem Feld lagen. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 207 terschaft und Disputatio bewiesen wird, hilft gegen die grotesk-fremdartigen Berserker nur die empirische Beobachtung der Situation, aus der komplett neue Erkenntnisse gezogen werden müssen. Die Kirialax saga zeigt also am Verlauf dieser Schlacht auf, wie verschiedene Arten von intellektuellen Fähigkeiten jeweils zur Überlegenheit und letztlich zum Sieg führen. Die reine Brachialgewalt schneidet dagegen schlecht ab, wie Kirialax’ vergeblicher Schwertkampf gegen den Berserker plastisch demonstriert. 8.2.7 Solldans Unterkönige - die Schlacht als Weltkrieg zwischen Zentrum und Peripherie Mit dem Tod der mauretanischen Berserker gerät Solldans Heer endgültig ins Hintertreffen und wendet sich schließlich zur Flucht. Dabei kommen in den Kampfhandlungen acht von Solldans Unterkönigen um, was durch eine knappe, listenartige Aufzählung berichtet wird: Þar fellu atta kongar af Solldanikongi: kongr af Tyra ok kongr af Bosra, kongr af Getulia ok kongr [af] Numidia, kongr af Mauritania, kongr af Tingitana ok kongren af S[ir]tes ok kongren af Fenicia. Þar fellu allir kappar hans ok berserkir, iarlar ok hertugar sextigir at taulu. 596 Hier geht es der Saga nicht mehr darum, die Schlacht plastisch zu schildern oder mögliche Arten der Konfrontation mit dem Fremden auszuführen. Die Darstellungsform ist bis zur Beiläufigkeit verknappt, was in auffallendem Gegensatz zum Inhalt der Auflistung zählt, nämlich dem gewaltsamen Massensterben bedeutender Herrscher. Durch diesen Kunstgriff wird die Machtfülle des besiegten Königs Solldan auf ebenso einfache wie eindrückliche Weise greifbar gemacht: Seine Niederlage reißt Könige aus den verschiedensten Winkeln der Welt in den Untergang, und zwar in so großer Zahl, dass ihr Tod im Einzelnen keinen eigenen Bericht wert ist. Es wird auf den Diskurs des geographischen Wissens von der Welt zurückgegriffen, um Solldans Macht durch die Fülle der von ihm abhängigen Länder zu charakterisieren. Solldans Machtbereich erstreckt sich überwiegend auf Gegenden in Asien und Afrika. Er herrscht über periphere Regionen der Welt, die weit vom Zentrum des europäischen Erfahrungshorizonts entfernt liegen. 597 Sein Überfall auf Frigia ist 596 KS: 50-51. Dort fielen acht Könige von König Solldan: der König von Tyra und der König von Bosra, der König von Getulia und der König von Numidia, der König von Mauritania, der König von Tingitana und der König von Sirtes und der König von Fenicia. Dort fielen alle seine Kämpfer und Berserker, Jarle und Herzöge, 60 an der Zahl. Lediglich der numidische König sticht hier insofern heraus, als sein Tod durch Kirialax’ Hand beim Kampf um sein Feldzeichen schon zuvor geschildert worden ist. Vgl. KS: 50. Auch diese Szene beschränkt sich jedoch auf eine knappe Darstellung ohne nähere Ausschmückungen und dient als Einleitungssequenz für die kurz darauf folgende Liste der gefallenen Könige. 597 Nach der Darstellung mittelalterlicher Oikumene-Karten ist natürlich Jerusalem als Ort des Heilsgeschehens das Zentrum der Welt. Hinsichtlich der Fremdheit eines Objektes ist es hingegen zweckdienlicher, als Zentrum die Erfahrungswelt des Eigenen zu setzen und folglich als peripher und somit fremd anzunehmen, was sich außerhalb dieses Systems befindet. Im Rahmen der Kiri- 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 208 mehr als nur der Angriff irgendeines Königs auf ein beliebiges Reich. Es handelt sich vielmehr um einen Angriff der Peripherie auf das Zentrum und somit um eine Bedrohung der Weltordnung selbst. Vor Beginn der Kampfhandlungen geht Kirialax seinen touristischen Interessen nach und besucht »fyri forvitnis sakir ok skemtanar« 598 die herausragenden Sehenswürdigkeiten der Umgebung: die Ruinen des alten Troja mit den nahegelegenen Gräbern von Hektor, Achilles und anderen Großen des trojanischen Krieges. Mit dem Land Frigia verteidigt Kirialax also zugleich die Überreste Trojas vor den fremdländischen Angreifern. Somit wird das Geschehen des trojanischen Krieges als intertextueller Hintergrund für die folgenden Kämpfe gegen Solldans Heer heraufbeschworen. 599 Kirialax wird in die Tradition der Helden von Troja eingereiht, deren Gräber er die Ehre erwiesen hat, wobei es nur folgerichtig ist, dass er im folgenden Kampf die Rolle eines Verteidigers inne hat: Dies stellt ihn an die Seite der Verteidiger Trojas, die in der mittelalterlichen Troja-Rezeption tendenziell als die positivere Partei dargestellt werden. 600 In der höfischen Literatur des Mittelalters wird Troja topisch als der Ursprung aller Ritterschaft betrachtet. 601 Vor diesem Hintergrund ist Kirialax trotz der peripheren Lage Frigias an der Grenze von Europa und Asien der Verteidiger eines Zentrums: Er verteidigt die Urheimat der höfischen Kultur, der er entstammt, vor feindlichem Zugriff und somit letztendlich ein weltordnendes System des Eigenen vor dem Fremden. Mit einem zusätzlichen Verweis auf Alexander den Großen, der die Gräber der Helden von Troja ausgeschmückt haben soll, wird eine weitere zentrale Identifikationsfigur der höfischen Welt angesprochen. Hierbei ist im Kontext der Saga vor allem interessant, dass Alexanders Rolle traditionell die eines Welteroberers und Bezwingers Asiens ist. Auch in diese Tradition reiht sich Kirialax ein, allerdings werden beide Funktionen in veränderter Form aufgegriffen: Er erobert die Welt insofern, als er sie umfassend bereist und seinem Wissensdurst unteralax saga wäre somit das christliche und höfische Europa, das Kirialax als mustergültiger Königssohn vertritt, das Zentrum des Eigenen, von dem ausgehend entfernte Weltgegenden als fremd definiert werden. Für den peripheren Charakter von Solldans Herrschaftsgebiet kommen beide Ansätze auf das gleiche hinaus, da die meisten seiner Länder sowohl relativ zu Europa als auch nach der Darstellung Jerusalem-zentrierter Weltkarten am äußersten Rand positioniert sind. 598 KS: 25. aus Neugier und zum Vergnügen. 599 Der Erzähler beruft sich hierbei direkt auf die Darstellung des »meistari Dares« (Meister Dares) (KS: 27), also des Dares Phrygius, und führt so einmal mehr seine Gelehrsamkeit durch die Bezugnahme auf eine antike Quelle vor Augen. Tatsächlich dürften die Ausführungen zu Troja der auf Dares beruhenden Trójumanna saga entnommen sein. Vgl. Cook 1985: 315. Der Topos des Besuchs an den Gräbern der trojanischen Helden ist traditionell mit Alexander verbunden und findet sich in dieser Form auch in der Alexanders saga, die wohl auch zu den Vorlagen der Kirialax saga gehört. Vgl. Cook 1985: 314. 600 »In der Wertung der Parteien folgt die mittelalterliche Trojadichtung meist dem protrojanischen Dares.« Lienert 2001: 105. 601 »Bei der genealogischen Ansippung mittelalterlicher Herrschaft an die Antike spielt Troja die zentrale Rolle. ‚Ursprung‘ der Gegenwart ist Troja im Bewußtsein mittelalterlicher adliger Rezipienten auch in ideologischer Hinicht, als idealer Beginn der zentralen höfischen Werte Ritterschaft und Minne[.]« Lienert 2001: 103. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 209 tänig macht, und er erweist sich als ein Bezwinger des gefährlichen Ostens, indem er Frigia erfolgreich gegen den Angriff eines asiatischen Herrschers verteidigt. Der Kampf um Troja wird in der mittelalterlichen Antiken-Literatur als Urbild und Übersteigerung aller Kriege dargestellt. Auf beiden Seiten ziehen die unterschiedlichsten Völkerschaften zur Unterstützung von Griechen oder Trojanern ins Feld, so dass in diesem Kontext überspitzend von der narrativen Inszenierung eines Weltkriegs gesprochen werden kann. 602 Auch dieser Topos wird in der Kirialax saga durch die zahlreichen Unterkönige fremdländischer Völker im Gefolge Solldans aufgegriffen. Der Kampf um Frigia verkörpert vor diesem Hintergrund den zentralen Konflikt zwischen dem Innen und dem Außen, dem Zentrum und der Peripherie. Unzählige Völker drängen von den Rändern der Welt herbei, um das historische Zentrum der höfischen Kultur anzugreifen. Die Weltordnung ist gleich in zweifacher Hinsicht bedroht: zum einen auf der geographischen Ebene durch das Eindringen von Wesenheiten, die ihren Platz am Rande der mappa mundi haben, ins Zentrum, und zum anderen auf der ideologischen Ebene durch den drohenden Verlust jenes gemeinsamen Zentrums, auf das die höfische Kultur der Ritterschaft zurückgeht. Die Welt droht durch die Auflösung einer verbindlichen Ordnung sich selber fremd zu werden, Kirialax tritt als ein Verteidiger des Eigenen vor dem Fremden in Erscheinung. 8.2.8 Der Friedensschluss - die Bändigung des Fremden durch seine Marginalisierung Nachdem sein Heer zurückgeschlagen wurde, entschließt sich König Solldan, Sendboten mit wertvollen Geschenken zu Kirialax und König Soba zu schicken und Verhandlungen aufzunehmen. Man kommt schließlich dahingehend überein, dass Solldan den Eid schwört, niemals wieder Sobas Land zu bedrängen, und im Gegenzug mitsamt seinen gefangenen Söhnen freien Abzug erhält. Das Treffen der Könige endet mit einem höfischen Topos: »ok gefa nu hvorir audrum trygdir ok dyrmætar giafir, ok skilia nu med vinattu« 603 . Von der anfänglichen Feindschaft ist nichts mehr zu bemerken, die gemeinsame höfische Kultur erweist sich einmal mehr als eine universale Verständigungsgrundlage, durch die selbst verfeindete Christen und Heiden auf einer Augenhöhe kommunizieren können. Die Behandlung, die dem Fremden in diesem Zusammenhang wiederfährt, ist bemerkenswert. Es wird einerseits keineswegs komplett vernichtet, um die bedrohte Ordnung des Eigenen zu bewahren, wie dies häufig beim Kampf gegen monströse Gegner geschieht. 604 Andererseits wird es jedoch auch nicht ins Eigene integriert, 602 So äußert etwa Lienert über den Roman de Troie des Benôit de Sainte Maure: »Der Trojaroman erzählt eine große historische Katastrophe, den Untergang einer ganzen Welt.« Lienert 2001: 110. 603 KS: 56-57 und jeder gibt nun dem anderen Friedensgelöbnisse und kostbare Gaben, und sie trennen sich nun in Freundschaft. 604 Man denke hierbei z. B. an den Honocentaurus, der von Egias als Bedroher der Ordnung erschlagen wird. Vgl. Abschnitt 8.2.2. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 210 wie dies etwa der Fall wäre, wenn die besiegten Heiden die Taufe auf sich nehmen würden, um sich ins christliche Wertesystem einzufügen, oder wenn es zu einer dynastischen Heirat zwischen den ehemaligen Feinden käme. Stattdessen wird das Fremde schlichtweg an seinen Ort zurückgeschickt, ohne dass sich dabei etwas an seiner Natur verändern würde. Solldan wird auch weiterhin als heidnischer König über exotische und monströse Völkerscharen am Rande der Welt herrschen. Trotzdem kann das Fremde insofern als überwunden gelten, als der Status quo der bestehenden Weltordnung wiederhergestellt ist. Das Fremde ist an die Marginalien der Welt zurückgedrängt, wo es hingehört, das Zentrum ist nicht länger durch einen Angriff aus der Peripherie bedroht. Durch die Wiederherstellung dieser Grundkonstellation relativiert sich die Fremdheit der asiatischen Angreifer, denn nun haben sie wieder ihren angestammten, marginalen Platz im kosmographischen Weltsystem eingenommen und fungieren nicht mehr länger als systemgefährdender Störfaktor im Zentrum. Somit fügen sich auch die exotischsten Wesen aus Solldans Gefolge ins System der Welterklärung durch kosmographisches Wissen ein. Sie sind kategorisierbar als das, was am Rande seinen Platz hat, und stellen nicht mehr länger ein bedrohliches Fremdes dar, sondern lediglich ein merkwürdiges, aber dennoch denkbares Anderes. Das Fremde wird in dieser zentralen Episode der Kirialax saga also letztendlich nicht durch Waffengewalt überwunden, sondern durch seine enzyklopädische Kategorisierbarkeit. Sobald es an den Ort zurückgedrängt ist, wo die gelehrte Tradition Europas es vermutet, verliert es seinen Schrecken und hört auf, das Eigene in Frage zu stellen. Seine wuchernde Exotik wird durch definierbare Grenzen beschnitten, die es auf die Größe eines weiteren (wenn auch sehr bunten) Mosaiksteins im Gefüge eines wohlgefügten und erklärbaren Kosmos der Gelehrsamkeit reduzieren. 605 Die Annahme, dass die ganze Welt solcherart angeeignet und zu etwas Eigenem gemacht werden kann, wird im weiteren Verlauf der Kirialax saga einer weiteren Probe unterzogen, wenn sich die Stoßrichtung der Bewegung ändert und der Held Kirialax nun seinerseits zu den fernen Marginalien des Kosmos aufbricht, um ihre Wunder zu erfahren. 8.2.9 Der Kampf um Sizilien - die Marginalisierung und Reintegration des Nordens in der Historie Nachdem er mit seinem Gefolge aus Frigia aufgebrochen ist, steuert Kirialax als nächste Reisestation die Insel Sicilia an. Hier hat Kaiser Zeno gerade unter einer Invasion des Wikingers Eugenius »af nordr-halfu heimsins« 606 zu leiden und wird von dessen Heer in seiner Hauptstadt Syracusana belagert. Kirialax eilt dem be- 605 Diese Akzeptanz des Fremden, sofern es nur seinen Ort nicht verlässt, ist wohl zudem bedingt durch die hybride Natur Solldans und seiner Söhne, die ja durchaus auch der höfischen Sphäre angehören. So besteht zumindest in einem Aspekt ein gemeinsames Bezugssystem, das die Absolutheit des Fremden relativiert. Siehe hierzu auch Abschnitt 6.2.7. 606 KS: 57-58. aus der Nordhälfte der Welt. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 211 drängten Kaiser zu Hilfe und schlägt Eugenius’ Heerschar schließlich in einer gewaltigen Feldschlacht in die Flucht. Diese Episode ist analog zu Kirialax’ Abenteuer in Frigia aufgebaut: Der Held erreicht ein neues Land, das von einem Invasor bedroht wird, steht dem örtlichen Herrscher im Kampf bei und treibt die Angreifer schließlich zurück. Die räumliche Ausrichtung des Angriffs ist im Falle von Sicilia allerdings eine andere: Es geht nicht um eine fremdartige-bedrohliche Macht von den Rändern der Welt, sondern um einen Wikinger aus deren Nordhälfte, also letztlich eine Gestalt, die dem Eigenen der Saga-Rezipienten deutlich näher steht als Solldans exotisches Heer. Entsprechend wird bei der Schilderung der Schlacht auf alle xenophoben Fremdheitstopoi verzichtet; Eugenius gebietet über unzählige Krieger, doch Wundervölker, Berserker oder andere Monströsitäten sind nicht darunter. Die Kämpfe werden völlig konventionell und topisch beschrieben, ohne dass ein vergleichbares Spiel mit verschiedenen Formen der Fremdheitsbewältigung wie bei der Schlacht um Frigia auch nur in Ansätzen erkennbar wäre. Die Grundkonstellation, dass ein höfisches Zentrum durch das ordnungsbedrohende Vorrücken der Peripherie in Bedrängnis gerät, wird jedoch auch in dieser zweiten Schlachtenepisode beibehalten. Bei der Peripherie handelt es sich in diesem Falle allerdings nicht um die Wunder des Ostens, sondern um die Heimat des Wikingers, also das nördliche Europa, das in der erzählten Welt der Saga relativ zur höfischen Prachtentfaltung des Südens ebenfalls einen marginalen Status aufweist. Dabei ist auffällig, dass der Kampf gegen Eugenius’ Wikingerheer in keiner Weise die einheimischen Motive und Erzählmuster aufgreift, die sich durch den Auftritt einer solchen Gestalt eigentlich aktivieren ließen. Seine Kämpfer werden sogar explizit mit dem Terminus »riddari« bezeichnet, er selber bei einem Lanzengang aus dem Sattel geworfen - alles folgt der gängigen Erzählweise eines Kampfes in der Welt des höfischen Rittertums, außer der Bezeichnung víkingr und der Herkunftsangabe weist nichts auf die besondere Art des Gegners hin. 607 Die norröne Erzähltradition ist in der Darstellung der Kirialax saga so unerheblich, dass sie in der Gestalt des angreifenden Wikingers regelrecht an den Rand gedrängt wird. Handlungsfunktional besteht der Sinn dieser Episode darin, den Erzählanlass für einen Exkurs zu bilden, in dem verschiedene historische Ereignisse in Europa geschildert werden. Der besagte Wikinger Eugenius entkommt nämlich Kirialax’ Heer und wird sich später einmal als Eroberer von Romaborg hervortun, »eptir þvi sem Gesta Rómánorum segir.« 608 Hierauf folgen weitere historische Schilderungen der Taten Theodoricus’, der »kallazt a danzka tungu Þidrekr« 609 , Attilas und anderer Größen der Völkerwanderungszeit, belegt durch weitere Verweise auf Werke der Gelehrsamkeit. Außer der verbindenden Figur Eugenius’ weisen diese Schilderun- 607 Ein Gegenbeispiel hierzu wäre etwa die Victors saga ok Blávus, wo neben den Wundern Afrikas und Indiens auch die beiden Seekönige nundr und Randver auftreten, die schon durch ihre norröne Nomenklatur herausgehoben sind und auch ansonsten in ihrer Darstellung eher den Topoi der Wikingersaga entsprechen. Vgl. Lambertus 2009. 608 KS: 62. dem zufolge, was die Gesta Romanorum berichten. 609 KS: 63. in nordischer Sprache Þidrekr genannt wird. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 212 gen keinen weiteren Bezug zur Haupthandlung der Saga auf, sie sind also auf ähnliche Weise eingeschoben wie die Geschichte vom Honocentaurus. Und genauso wie die Honocentaurus-Episode sind auch die historiographischen Darstellungen mehr als bloß eine Erwähnung interessanter Dinge um in ihrer selbst willen oder eine reine Zurschaustellung von Gelehrsamkeit. Immerhin wird dem Nordmann Eugenius hier als Eroberer Roms eine zentrale welthistorische Bedeutung zugesprochen. Mit Theoderich und Attila werden zudem Figuren thematisiert, die aus dem norrönen Erzählgut hinlänglich bekannt sind, zugleich auch eine darüber hinausgehende historische Bedeutung haben. Durch diese Auswahl der referierten historischen Themen wird die norröne Tradition indirekt doch wieder in die Saga integriert. Allerdings betrifft dies nur jene Teile, die dadurch ‚veredelt‘ sind, dass man den Stoff auch in der Tradition der klassischantiken Gelehrsamkeit findet. Die Saga bleibt ihrer Grundausrichtung auf ebendiesen Diskurs treu und grenzt sich durch die dekonstruierte Wikinger-Episode sogar explizit von norrönen Einflüssen ab, gibt sich jedoch offen für jene Motive, die sich historiographisch ‚belegen‘ lassen. Es findet ein Prozess der translatio unter umgekehrtem Vorzeichen statt: Fremdes wird nicht etwa ins Eigene übersetzt, indem man es mit Begriffen aus der eigenen Semiosphäre belegt, wie das z. B. der Fall ist, wenn griechisch-antike Götternamen eine interpretatio norröna erfahren. 610 Stattdessen wird das Eigene einheimischer Erzählstoffe in die Semiosphäre der gelehrten Buchtradition überführt, indem jene Stoffe herausgehoben werden, die sich auch in dieser Tradition finden lassen. 8.2.10 Die Fahrt nach Jerusalem - das Zentrum der Heilsgeschichte als erster Wendepunkt der Reise Auf den historiographischen Exkurs folgt die Schilderung von Kirialax’ nächstem Reiseziel: die terra sancta mit ihren Orten des Heilsgeschehens. Der Aufenthalt in Jerusalem wird hauptsächlich in Form einer rein deskriptiven Darstellung der heiligen Stätten berichtet, ohne dass die Erlebnisse Kirialax’ und seiner Gefährtin narrativ weiter entfaltet würden. Nach einer ausführlichen Beschreibung der Heiligtümer heißt es lediglich lakonisch: »Kirialax ok hans kumpanar kaunnudu alla helga stadi i Iorsala borg«. 611 Anschließend werden auch die Heilsstätten außerhalb der Stadt besucht, wobei die Formulierung »sakir forvitni« 612 deutlich macht, dass es sich nach wie vor um eine touristische Unternehmung zum Zwecke der Welterfahrung handelt und nicht etwa um eine genuine Pilgerfahrt. Die Episode endet mit dem topischen Bad im Jordan. 610 Vgl. etwa die Gleichsetzung der antiken Sibyllen mit der Göttin Sif im Prolog der Snorra Edda: »spákona þá, er Síbíl hét, er vér k llum Sif« (die Seherin, die Sibil hieß, die wir Sif nennen). Lorenz 1984: 44. 611 KS: 66. Kirialax und seine Gefährten besichtigten alle heiligen Stätten in Iorsala borg. 612 KS: 66. aus Neugier. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 213 Nachdem Kirialax zuvor schon mit Troja das Zentrum der weltlichen Geschichte und den Ursprung der Ritterschaft besucht hat, erreicht er nun im Heiligen Land zudem das Zentrum der Heilsgeschichte, das in der mittelalterlichen Kosmographie darüber hinaus als Mittelpunkt der geographischen Welt aufgefasst wird. Allerdings ist der Besuch in Troja fest in einen übergeordneten Erzählkontext eingebunden, aktiviert er doch den Trojanischen Krieg als Projektionshintergrund für die Schlacht um Frigia. Der Jerusalem-Episode fehlt eine solche Kontextualisierung. Die Aufzählung der heiligen Stätten hat eher den Charakter eines gelehrten Exkurses, als dass sie funktional in den Handlungsbogen der Kirialax saga eingebunden wäre. Eine solche Einbindung findet lediglich auf der Ebene des erzählten Raumes statt: Jerusalem ist als spiritueller Gegenpol zum weltlich-heidnischen Troja konzipiert. Indem Kirialax diese beiden Pole bereist, erreicht er die Extrempunkte der eigenen christlich-höfischen Semiosphäre. Seine Reise hat somit die Welt des Eigenen komplett abgedeckt. Es ist nur folgerichtig, dass nach der Jerusalem-Episode keine weiteren Beschreibungen von Reisen im Bereich der eigenen, westlicheuropäischen Semiosphäre mehr folgen. Stattdessen werden Kirialax’ Fahrten nun auf jenen Bereich ausgeweitet, der jenseits dieser Sphäre liegt: die legendären Länder des fernen Südens und Ostens. Der Extrempunkt des Eigenen stellt zugleich einen Wendepunkt der Handlung dar, die sich nun primär der Konfrontation mit dem Fremden zuwendet. 613 8.2.11 Die Wunder der Ferne - eine Fahrt ins bekannte Unbekannte Auf seiner Fahrt »til sudralfu veralldar« 614 durchlebt Kirialax eine Reihe von Konfrontationen mit fremdartigen Orten und Kreaturen. Zunächst trifft er auf zwei Felseninseln, die bei Nacht leuchten, weil sie von Gold und Silber durchsetzt sind. Anschließend erreicht er die Küste Indiens, wo er einen Blick auf weitere schimmernde Goldberge in der Ferne erheischen kann. Bei einem Landgang begegnen ihm der Vogel Phönix sowie andere exotische Vogelarten. Als man für weitere Erkundungen die Pferde zurücklässt, ist plötzlich Lärm aus jenem Tal zu hören, wo die Tiere zurückgeblieben sind: Ein Schwarm Greifen hat sich über sie hergemacht. 615 Nach einem harten Kampf gegen die mächtigen Geschöpfe eilt man zu den Schiffen zurück und sticht rasch wieder in See. Kirialax’ weitere Reisen in der Fremde werden lakonisch damit zusammengefasst, dass er ganz Asien und Afrika »til Herculis stolpa« 616 am Ende der Welt bereist und dabei zahlreiche »undarliga hluti, dyr ok 613 Auch diese Handlungsabfolge kann als Beispiel für Renners Extrempunktregel gelesen werden. Siehe S. 70. 614 KS: 67. in die Südhälfte der Welt. 615 Einen Überblick über das Greifen-Motiv bietet McConnell 1999. Sowohl die Funktion als Hüter von Goldschätzen (hier: die fernen Goldberge) als auch die Vorliebe für Pferdefleisch sind nach McConnell klassische Greifen-Topoi. Auch in diesem Detail folgt die Saga der gelehrten Überlieferung. 616 KS: 72. bis zu den Säulen des Hercules. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 214 skrimsl miog skessilig« 617 zu sehen bekommt und überwindet. Doch werden diese Begegnungen in der Saga »sakir fáfrædis« 618 nicht näher berichtet. Gerade jene Geschehnisse, die am weitesten vom vertrauten Bereich des Eigenen entfernt stattfinden, werden im Text am intensivsten mit Quellenbelegen aus der Wissensliteratur unterfüttert: Für die beiden Inseln und die Beschreibung des Phönix wird einmal mehr auf Isidor verwiesen, für den sprechenden Vogel Sitacus werden gar zwei lateinische Verse 619 eines als »meistari« bezeichneten Dichters 620 direkt zitiert und mit einer altnordischen Übersetzung versehen. Neben weiterem gelehrten Namedropping besteht die Funktion dieser gehäuften Verweise vor allem darin, die schier unglaublichen Dinge am Rande der Welt autoritativ zu belegen und somit auszuschließen, dass der Rezipient sie als unterhaltsame Fiktionen auffassen könnte. Phönix und Goldberge werden so implizit auf eine Ebene mit Entitäten wie den Wundern der terra sancta oder den Kriegselefanten in Frigia gestellt, die ebenfalls als Teil der bekannten Welt legitimiert und in ihrer Existenz erwiesen sind, mag man sie auch in weiter Ferne antreffen. Der lateinische Einschub aktiviert dabei direkt den gelehrten Diskurs durch den Wechsel in die Sprache der klerikalen Gelehrsamkeit und setzt so einen deutlichen textuellen Akzent für die Seriosität und Glaubwürdigkeit all dessen, was in der Saga über die fernen Weltgegenden berichtet wird. Diese narrative Vorgehensweise hat unmittelbare Auswirkungen auf die Darstellung des Fremden in diesem Abschnitt des Textes: Durch die massive Einbindung in den kosmographischen Diskurs wird das Fremde nicht etwa als zu erforschendes Unbekanntes belassen, sondern von Anfang an in die eigene Semiosphäre der Gelehrsamkeit integriert - was immer auch Kirialax in Indien vorfindet, hat bereits eine eigene, feste Kategorie samt lateinischer Bezeichnung. Die Entdeckungsreise »med forvitni« 621 verkommt so zu einer bloßen Bestandsaufnahme - der reisende Held bestätigt als Augenzeuge, dass an den Rändern der Welt tatsächlich all jene erstaunlichen Dinge vorhanden sind, die die gelehrte Tradition hier ansiedelt, aber eben auch nicht mehr. Statt einer Reise in die unbekannte Fremde findet lediglich eine Reise an die schwer zugängliche Peripherie des Eigenen statt. Selbst die äußersten Ränder des Erdenkreises sind der universalen Semiosphäre der enzyklopädischen Gelehrsamkeit unterworfen. 622 Dieser universalen Kategorisierbarkeit des ‚bekannten Fremden‘ steht jedoch die Art und Weise entgegen, wie die einzelnen Begegnungen erzählt werden: Kirialax 617 KS: 71-72. wundersame Dinge, Tiere und sehr schreckliche Ungeheuer. 618 KS: 72. aus Unkenntnis. 619 »Sitacus a vobis aliorum nomina discam / hoc didici per me dicere Cesar ave. Þetta segir svo: Annara naufn mun eg ydr nema, nam eg at mer, ver heill ok vel komen kiæri.« (Das heißt so: Einen anderen Namen werde ich von euch nehmen,[diesen] nahm ich mir: Sei gesund und willkommen, Kaiser.) KS: 70. 620 KS: 70. Meisters Nach Kålund handelt es sich um den Satiriker Mertialis, wobei die Textstelle aus der Stjórn übernommen ist. Vgl. KS: 70, Anmerkung 3 und 4. 621 KS: 70. mit Neugier. 622 Siehe hierzu die Erwägungen Greenblatts in Abschnitt 1.5. 8.2 Wissen und Weltbewältigung in der Kirialax saga 215 trifft zwar auf alle genannten Wunder des Ostens, aber er interagiert nur minimal mit ihnen. Stets entzieht sich ihm die Möglichkeit, auch nur einen näheren Blick darauf zu werfen. So erweisen sich etwa die beiden Inseln aus Gold und Silber als völlig unzugänglich: »Enn sem þeir kvomu nær eyiunum, voru þær sæbrattar ok luktar haumrum, ok mattu eigi komazt i eyiarnar.« 623 Die Goldberge in Indien können nicht erreicht werden »sakir drepsamligra dreka ok grimmra griffona« 624 . Der prächtige Vogel Phönix »flo braut þegar þeir nalguduzt« 625 . Lediglich mit den Greifen ist eine direkte Interaktion möglich, doch diese besteht in einem harten Kampf, der Kirialax und seinem Gefolge aufgezwungen wird. 626 Trotz des oberflächlichen Sieges über die Kreaturen ist der Ausgang unbefriedigend: Die Entdecker sehen sich nicht nur gezwungen, ihre Erkundungen abzubrechen und möglichst rasch zu den Schiffen zurückzukehren, sondern Kirialax verliert zudem noch zwei seiner Ritter, die von Greifen davongetragen werden, »ok alldri sa þeir þa siðan« 627 . Am unglücklichen Schicksal dieser beiden namenlosen Nebenfiguren zeigt sich deutlich der Charakter der exotisch-fernen Weltgegenden in der Kirialax saga: Es handelt sich um eine menschenleere Wildnis, die maximal vom höfischen Kulturraum entfernt ist und für den Reisenden nichts als den Tod bereithält, während sie ihre Schätze unerreichbar verschließt. Prachtvolle Königshöfe von märchenhaftem Reichtum, wie sie in den originalen Riddarasögur gerne im Osten verortet werden, sucht man hingegen vergebens. Entsprechend sind auch die Erzählgesetze der höfischen Queste hier außer Kraft gesetzt: Auf den Sieg über die Greifen folgt kein weiteres Vordringen in deren Territorium, keine Bergung eines Schatzes oder der Aufbruch zur nächsten Herausforderung auf dem Heldenweg. Stattdessen wendet sich Kirialax zur Flucht, da sich Indien als nicht bezwingbar erwiesen hat. Kirialax und sein Gefolge werden als inkompatibler Fremdkörper ausgesondert und in ihren eigenen Bereich zurückgetrieben - eine Gegenbewegung zur Vertreibung König Solldans aus Frigia, der auf umgekehrtem Wege als Fremder ins höfische Zentrum einzudringen versucht hat. Noch nicht einmal die entführten Reisegefährten werden gerettet - die menschenfeindliche Wildnis hat über die höfischen Entdecker gesiegt und ihnen ihre Regeln des nackten Überlebens aufgezwungen. Das primäre Merkmal der Wunder des Ostens ist somit ihre Unzugänglichkeit. Kirialax ist es vergönnt, sie aus der Ferne zu bewundern, doch ihre empirische Erfassung entzieht sich ihm. Damit aber gewinnen sie trotz ihrer Kategorisierbarkeit im enzyklopädischen Wissenssystem einen Status, der sie zu einem Fremden im Sinne 623 KS: 67. Und als sie nah an die Inseln herankamen, waren diese mit Steilküsten versehen und von Felsen umschlossen, und sie konnten nicht auf die Inseln gelangen. 624 KS: 68. wegen tödlicher Drachen und grimmiger Greifen. 625 KS: 68. flog davon, sobald sie sich näherten. 626 Johanterwage weist darauf hin, dass das Indienbild der Kirialax saga der Beschreibung in der Stjórn folgt. Vgl. Johanterwage 2007: 81. Die Funktion der Indienepisode sieht sie darin, Kirialax als Erkunder unbekannter Weltgegenden noch stärker in Analogie zu Alexander zu setzen, wie dies ja schon durch den Besuch in Troja anklingt. Vgl. ebd.: 81-82. 627 KS: 71. und niemals sahen sie diese danach wieder Auch die Funktion als Entführer von Menschen ist ein klassischer Topos des Greifen-Motivs. Vgl. McConnell 1999. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 216 Waldenfels’ macht, das mit den Mitteln des Eigenen nicht begriffen werden kann: »Eigenes entsteht, indem sich ihm etwas entzieht, und das, was sich entzieht, ist genau das, was wir als fremd und fremdartig erfahren.« 628 Kirialax’ Reisebegegnungen werden auf zwei unterschiedlichen Ebenen scheinbar widersprüchlich dargestellt: Zum einen wird durch autoritative Quellenverweise überdeutlich darauf verwiesen, dass es sich bei allem Gesehenen um Bestandteile des Eigenen handelt, die ihren festen Platz in der bekannten Kosmographie haben. Zum anderen weist jedoch das wiederholte Motiv des Sich-Entziehens darauf hin, dass es sich um genuin fremde Entitäten handelt, zu denen sich der höfische Held letztlich als inkompatibel erweist - das eindrücklichste Beispiel hierfür sind die beiden Ritter, die vom Fremden regelrecht verschlungen werden, indem die Greifen sie ihrem unbekannten Schicksal entgegentragen. Dieses Spannungsfeld entsteht aus der narrativen Grundprämisse der Saga, die Entdeckungsreise eines höfischen Helden mit den Mitteln und vor dem Hintergrund der enzyklopädischen Kosmographie zu beschreiben. Diese Prämisse bringt es zwingend mit sich, dass alles, was dem Helden begegnet, bekannt und kategorisierbar ist, soll die erzählte Welt sich doch im legitimierten Rahmen des Wissenskanons bewegen. Ein namenloses Grauen vor dem Fremden, wie es etwa den Kaisersohn Konráðr befällt, als hinter seinem Rücken die Schlangenstadt mit Getöse kollabiert, ist der Kirialax saga fremd. An seine Stelle tritt die Faszination des exotischen Anderen, dessen angestammtes Gebiet die Marginalien der Welt sind - ein Anderes, das jedoch insofern fremd für den Helden ist, als er nicht in dessen System passt und als Fremdkörper solange mit Ungeheuerlichkeiten konfrontiert wird, bis er schließlich die Flucht antritt. Die marginalen Geschöpfe der Welt werden also nicht per se und ihrem Wesen nach als fremd dargestellt, haben sie doch ihren festen Platz im Wissenskanon. Stattdessen nehmen sie relativ zum Helden, der in ihr Gebiet eindringt, die Rolle des Fremden ein, das sich dem Entdecker entzieht und sogar gefährlich für ihn werden kann. Der Grad der Fremdheit ist somit keine absolute Frage der Beschaffenheit als vielmehr eine relative Frage der Positionierung innerhalb der Welt: Solange alle Geschöpfe sich dort befinden, wo sie laut Wissenskanon hingehören, ist alles in Ordnung und die Macht der enzyklopädischen Gelehrsamkeit reicht aus, um die ganze Welt zu einem Eigenen zu machen, indem sie jedem Ding seinen Platz zuweist. Sobald in dieses statische, weltumspannende System jedoch Bewegung kommt, 628 Waldenfels 2006: 20. indem eine Entität der Peripherie sich aufs Zentrum zubewegt oder umgekehrt, kommt es zu einer Situation der Fremdheit. Die inkompatiblen Subsysteme von Peripherie und Zentrum prallen dann als Fremdkörper aufeinander und stellen das System in seiner Gesamtheit so lange in Frage, bis dieser destabilisierende Zustand wieder aufgehoben ist. 8.3 Imagologische Topoi und gelehrte Details - die Saga als erzählerische Weltchronik 217 Dies ist zum einen der Fall, als König Solldan bei dem Versuch, Frigia (und somit Troja! ) zu erobern, von der Peripherie ins Zentrum vordringt und schließlich erfolgreich zurückgeschlagen wird. So erschreckend seine monströsen Gefolgsleute auch gewirkt haben mögen - sobald sie wieder ihre angestammte Heimat erreicht haben, die die Kosmographie ihnen zuweist, ist der Zustand der Fremdheit vorüber, ohne dass eine völlige Vernichtung oder Assimilation von Solldans Heer erforderlich gewesen wäre. Das gleiche Schicksal erfährt nun jedoch auch Kirialax, als er aus dem Zentrum in die Peripherie Indien vorzudringen versucht: Es gelingt ihm gleichfalls nicht, sie zu erobern, indem er sie ihrer Schätze beraubt oder gar hier Land nimmt. Stattdessen wird auch er schließlich zurückgeschlagen und muss an seinen angestammten Platz im Zentrum zurückkehren - das kosmographische System stabilisiert sich selber dadurch, dass seine Entitäten im jeweils anderen Teilbereich langfristig nicht überlebensfähig sind, obgleich sie im Ganzen betrachtet ein gemeinsames System des kategorisierbaren Eigenen bilden. 629 Die Kirialax saga erteilt somit Konzepten der grenzüberschreitenden, Kategorien durchbrechenden Monströsität eine Absage, wie sie etwa in der Valdimars saga ausgebreitet werden. Stattdessen konstruiert sie eine Welt der klaren Grenzziehung, wo Fehler im System zwar vorkommen können, aber letztendlich ausgemerzt werden wie der monströse Honocentaurus. Wer aber den Schlüssel zum rechten Verständnis des Systems in Form von enzyklopädischen Wissen besitzt, der wird sich letztlich auch bei der Weltbewältigung als erfolgreich erweisen - allerdings nur, solange er sich im ihm angemessenen Bereich bewegt, wie Kirialax’ Rückschläge in India deutlich machen. 8.3 Imagologische Topoi und gelehrte Details - die Saga als erzählerische Weltchronik Nach seiner Fahrt an die äußersten Marginalien der Welt kehrt Kirialax wieder an den heimatlichen Hof zurück - die grand tour des jungen Welterkunders endet damit, dass es schlichtweg nichts mehr zu erkunden gibt. Es schließt sich ein weiterer Handlungskreis an, in dem Kirialax um die Tochter des Kaisers von Miklagarðr wirbt und letztendlich erfolgreich ist, nachdem er in einem Turnier seine Stärke bewiesen hat. Dieser konventionelle Abschluss der Handlung greift jedoch kaum auf Kirialax’ Fahrten zurück, wenn man davon absieht, dass sein dabei gewonnener Ruhm und die Beweise seiner Tüchtigkeit gepriesen werden. Hieran wird einmal mehr deutlich, wie sehr die Welterfahrung in der Kirialax saga Selbstzweck ist: Als Kirialax heimkehrt, ist er zwar an Ruhm und Erfahrungen reicher, hat jedoch weder eine standesgemäße Partnerin noch eine angemessene Königsherrschaft gewon- 629 Dieses Konzept weist Parallelen zu Simmels relationalem Fremdheitsbegriff auf, der das Fremde dadurch definiert, dass eine Entität sich in einen Raum bewegt, der qualitativ von ihr unterschieden ist. India ist nicht per se fremd, sondern in Relation zu Kirialax, der in diesen Bereich eingedrungen ist. Siehe Abschnitt 1.3. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 218 nen 630 - hierfür muss eine neue Fahrt losgelöst von jedem Erkundungsinteresse unternommen werden, die weitgehend eine in sich geschlossene Geschichte darstellt. Die Saga folgt zwar in ihrem Aufbau den Genre-Konventionen vom ausziehenden Helden, der in der Welt Braut und Gut gewinnt, doch ist ihr quantitativ überragender Hauptteil nicht auf dieses Ziel ausgerichtet, sondern primär der gelehrten Aneignung der Welt gewidmet. Dieser Umstand schlägt sich direkt auf die Darstellung des erzählten Raumes nieder: Wie am Beispiel der Konráðs saga keisarasonar herausgearbeitet wurde, beschränkt sich die imagologische Konzeption von Ländern und Völkern in den originalen Riddarasögur zumeist auf relativ abstrakte Chiffren für den jeweiligen Grad an Fremdartigkeit - England oder Saxland sind höfische Zentren des Eigenen, Byzanz ein Übergangsraum in den Orient, Mesopotamia oder India Orte fremdartiger Wunder etc., ohne dass die konkreten Eigenarten, die über diese Länder überliefert sind, erzählerisch aktiviert würden; sie bleiben letztendlich innerhalb ihres Fremdheitsgrades austauschbar. 631 Die Kirialax saga hingegen greift über solche bloßen Chiffren hinaus und aktiviert gezielt Details, um den Besonderheiten der einzelnen dargestellten Regionen gerecht zu werden. Ein markantes Beispiel hierfür findet sich gleich zu Beginn der Saga, wenn Kirialax’ Vater Laicus gegen Egias von Syria kämpft und ihn schließlich samt Pferd zu Fall bringt. In dieser bedrängten Situation ruft Egias aus: »Fordæmdr se sa Arabicus, er mer gaf svo veykan hest, þviat eg skylldi hafa unnet fagran sigr, ef hann hefdi eigi falsazt.« 632 Die kurze Sentenz enthält gleich zwei imagologische Stereotypen, mit denen die Figur des nicht näher benannten Arabers belegt wird: Zum einen wird Arabien als Herkunftsland von Pferden dargestellt, die eines syrischen Prinzen würdig sind. Zum anderen wird jedoch durch die Schwäche des vermeintlich edlen Tieres das Bild eines gerissenen orientalischen Händlers gezeichnet, der Egias schlicht betrogen hat. Die Wirkmächtigkeit beider Stereotypen ist so groß, dass sie auch einem modernen Rezipienten noch vertraut erscheinen. Dabei ist zu beachten, dass Egias’ Ausruf keinerlei Funktion für die weitere Sagahandlung besitzt und auch nicht wieder aufgegriffen wird - er dient lediglich dazu, den Orient als Ort der Handlung mit einem anschaulichen Detail zu beleben und zu ‚authentifizieren‘. Auch die Darstellung des Kaiserhofes zu Miklagarðr am Ende der Sagahandlung weist einen vergleichbaren Umgang mit einem imagologischen Topos auf: In der üppigen Beschreibung der prachtvollen Hofhaltung werden unter anderem auch zwölf goldene Abbilder schöner Jungfrauen erwähnt, die auf mechanische Weise ein wunderschönes Pfeifenspiel betreiben, wenn der Seewind durch sie hindurchgeleitet 630 Zwar wurde Kirialax ein Teil von Frigia übertragen, doch stellt dieser Teilerfolg noch keine würdige Herrschaft für den überragenden Helden dar. Diese manifestiert sich erst in der Krone von Miklagarðr. 631 Siehe Abschnitt 4.3. 632 KS: 6. Verdammt sei dieser Araber, der mir ein so schwaches Pferd gegeben hat, denn ich hätte einen schönen Sieg erringen sollen, wenn er mich nicht betrogen hätte. 8.3 Imagologische Topoi und gelehrte Details - die Saga als erzählerische Weltchronik 219 wird. 633 Dieses Wunderwerk ist zunächst einmal eine Übernahme aus der Karlamagnus saga. 634 Es bedient jedoch auch einen Stereotyp, der über den internen Wirkungskreis der altnordischen Literatur hinausreicht: Kunstvolle Musikautomaten werden im Mittelalter oft als typisches Charakteristikum des byzantinischen Hofes bzw. des Ostens im Allgemeinen betrachtet und gerne erwähnt, um märchenhaften Reichtum anzudeuten. 635 Die Kirialax saga greift hier also einen Topos auf, der über den Kreis der heimischen Sagaliteratur hinaus speziell mit Miklagarðr assoziiert ist. Auch die mechanischen Bildsäulen dienen keinem handlungsfunktionalen Zweck - ihre einzige Funktion besteht darin, den Handlungsort mit einem ‚typischen‘ imagologischen Detail zu verdichten. Auf einer ähnlichen Ebene lassen sich auch die weiter oben schon angesprochenen, ausführlichen Beschreibungen des Heiligen Landes, der Gräber der Helden von Troja oder der Wunder Indiens betrachten - in allen Fällen handelt es sich um Sammlungen imagologischer Topoi aus der gelehrten Tradition mit z. T. nur geringem handlungsfunktionalem Wert. Dieses erzählerische Vorgehen stellt eine prägende Besonderheit der Kirialax saga dar. Obgleich sie strukturell eine klassische Heldenreise beschreibt, liegt ihr inhaltlicher Schwerpunkt auf der ausführlichen Ausbreitung der Welt, die bereist wird. Dies drückt sich bereits in der Motivation des aufbrechenden Kirialax auf, aus Neugier die Welt erkunden zu wollen, und wird dann auch konsequent bei der Darstellung seiner Fahrt umgesetzt. Wissen ist das primäre Anliegen des gelehrten Helden wie auch der überaus auskunftswilligen Erzählinstanz. Die Kirialax saga kann somit, etwas überspitzt, als eine Art in Sagaform verpackte, enzyklopädische Weltchronik betrachtet werden, die den Erdenkreis aus der Perspektive des reisenden Ritters zu erfassen versucht. Dabei kommt es dem Text weniger auf eine ‚umfassende‘ Darstellung an als vielmehr auf eine gelungene Blütenlese besonders herausragender und interessanter Weltdinge. Wissen erweist sich gleich in mehrfacher Hinsicht als das zentrale Thema der Kirialax saga: Auf der discours-Ebene bildet die gelehrte kosmographische Tradition den Rahmen, in dem die Handlung der Saga sich entfaltet; ihr erzählter Raum weist so viele Übereinstimmungen mit der überlieferten Geographie wie nur möglich auf. Auf der Ebene der histoire hingegen ist der Drang nach Wissen nicht nur die Hauptmotivation des Helden Kirialax, sich auf seine große Erkundungsfahrt zu begeben, sondern Wissen stellt zugleich auch eine zentrale Methode der Konfliktbewältigung dar - sei es nun im Kampf gegen den Honocentaurus oder sei es bei der Vertreibung der Kriegselefanten durch den Einsatz von Mäusen. Welterfahrung und Weltbewältigung sind so untrennbar miteinander verbunden: Nur wer um die Weltdinge weiß und ihre charakteristischen Eigenarten kennt, ist in der Lage, sich erfolgreich in der Welt zu behaupten. Kirialax stellt durch seine Verbindung von Ritterschaft und gelehrter Meisterschaft den Idealtypus eines Helden im Sinne dieser 633 Vgl. KS: 87. 634 Vgl. Cook 1985: 306. 635 Vgl. Ernst 2003: 60-62. 8. Wissen als Waffe des gebildeten Helden - die Bändigung des Fremden durch Kategorisierung 220 Weltkonstruktion dar, der seinen Erfolg aus der Umsetzung von Wissen in tatkräftiges Handeln zieht. In der Welt der Kirialax saga ist letztendlich alles durch Wissen erklärbar - das bedrohliche Fremde ist nur auf den ersten Blick fremd, kann jedoch durch ein entsprechendes Maß an Gelehrsamkeit durchschaut, kategorisiert und somit letztlich zu einem bloßen Anderen ohne subversives Potential gemacht werden. Selbst die Wunder des Ostens oder die monströsen Bewohner ferner Weltgegenden sind Teil einer weltumspannenden Semiosphäre der Gelehrsamkeit. Fremdes im eigentlichen, bedrohlichen Sinne entsteht nur dann, wenn die Ordnung dieses wohlgefügten Systems durch dynamische Bewegungen einzelner Elemente durchbrochen wird. In diesem Fall ist es Aufgabe des Helden, diesen Zustand zu beenden und das System zur Geschlossenheit zurückzuführen - natürlich vor allem Kraft seines Wissens, das so zu einem selbsterhaltenden Prinzip der Weltbewältigung durch Welterfahrung wird. 636 636 Diese Konstellation wird umgekehrt, wenn Kirialax als Fremdkörper in India eindringt. Nun ist es Aufgabe der Monster, nämlich der Greifen, den Helden an seinen angestammten Platz zu verweisen. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen Omnis mundi creatura quasi liber et pictura nobis est et speculum. 637 Alanus ab Insulis, 12. Jhd. Immer wieder kommt es in den originalen Riddarasögur zu Situationen, in denen Repräsentanten des Fremden dem Sagahelden als Spiegel seiner selbst gegenübertreten. Man denke hierbei etwa an den grotesk gespiegelten Anti-Hof der Trolle in der Ála flekks Saga oder auch an die heidnischen Ritter als invertierte Abbilder ihrer christlichen Pendants in der Kirialax saga. 638 Solche Konstellationen sollen im Folgenden anhand der Dínus saga drambláta untersucht werden. Der Text stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist mit rund 35 Abschriften reich überliefert. 639 Es wird in der Forschung allgemein angenommen, dass er letztendlich auf griechischorientalische Erzähltraditionen zurückgeht, womit er eine weitere wichtige Quelle der originalen Riddarasögur repräsentiert, die bislang noch nicht berücksichtigt worden ist. Die Dínus saga eignet sich besonders gut für die Analyse von Spiegelkonstellationen, weil sie einen ausgeprägt symmetrischen Handlungsaufbau besitzt, wie schon Einar Ólafur Sveinsson bemerkt: »Aber trotz allem ist dieses reiche Phantasiespiel in ein festes Schema gebracht und eine strenge Symmetrie macht sich geltend.« 640 Textgrundlage der Untersuchung ist die ältestes Redaktion der Saga nach der Edition von Jónas Kristjánsson. 641 9.1 Das Fremde als Spiegel Der Spiegel festigt Verhältnisse und verspricht damit ihre Handhabbarkeit. Selbst unbewegt, gestattet er, Bewegungen minutiös abzubilden, indem er die Welt diesseits und jenseits der Spiegelfläche in synchroner Dynamik zeigt. Weltkenntnis steht im Zeichen von Selbsterkenntnis und umgekehrt [...]. 642 637 Alanus ab insulis 1960: 579. Jede Kreatur der Welt / ist wie ein Buch und Bild / für uns und wie ein Spiegel. Die Jahresangabe 1960 beruht auf einer Schätzung, da der eingesehene Nachdruck einer Ausgabe von 1855 undatiert ist. 638 Siehe Abschnitt 6.2.6 bzw. 8.2.5. 639 Zur Überlieferung der Dínus saga vgl. Glauser 1994: 385-438. 640 Einar Ólafur Sveinsson 1929: 53. 641 Jónas Kristjánsson 1960: 3-94. Der Text wird im Folgenden mit DS und Seitenangabe abgekürzt. 642 Konersmann 1991: 33-34. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 222 So beschreibt Ralf Konersmann eine zentrale Funktion der Spiegel-Metapher, die insbesondere für die reflektierende Selbstbetrachtung des modernen Subjekts stehen kann. Auf der individualpsychologischen Ebene wäre es gewiss zu weit gegriffen, solch einen dezidiert auf die Moderne bezogenen Ansatz unvermittelt auf Texte des Spätmittelalters anzuwenden. Dennoch soll im Folgenden gezeigt werden, dass für die narrative Konzeption vieler originaler Riddarasögur (selbst-)reflektierende Spiegelungen konstitutiv sind. Das bedeutet nun nicht, dass der reisende Sagaheld ein differenziertes Subjekt im modernen Sinne sei, das durch seine Welterfahrung schließlich zu höheren Einsichten der Selbsterkenntnis gelangt. Wohl aber werden in seiner Welterfahrung viele Werte und Institutionen, für die er einsteht, durch Konfrontationen mit dem Fremden in einen (Zerr-)Spiegel geworfen und in Frage gestellt. So verhält es sich etwa bei dem Hof des Riesenkönigs in der Ála flekks saga, der spiegelbildlich zu Ális englischem Heimathof konzipiert ist, oder bei dem gewaltsamen Religionsdisput in der Kirialax saga, in dem ein christlicher und ein heidnischer Ritter nicht nur Schwerthiebe tauschen, sondern zudem die jeweilige Religion des anderen aus einer spiegelnden Außenperspektive heraus zu dekonstruieren versuchen. Der reisende Held ist ein Fokuspunkt für solche spiegelnden Erfahrungen der Fremdheit, seine Interaktion mit dem Fremden ist nicht selten eine Interaktion mit spiegelbildlich verzerrten Aspekten des Eigenen. 643 Mirror symmetry creates the necessary relations between structural diversity and structural similarity, which allow dialogic relationships to be built. On the one hand, the systems are not identical and give out diverse texts, and on the other, they are easily converted, ensuring mutual translatability. 644 So definiert Lotman eine zentrale Funktion spiegelsymmetrischer Konstellationen: Sie ermöglichen Übersetzbarkeit und Konvertierbarkeit aus unterschiedlichen Semiosphären heraus durch strukturelle Ähnlichkeiten, die eine Anpassung des Fremden ins Eigene erlauben. Spiegelsymmetrie ist somit nicht nur ein Mechanismus der (Selbst-)Reflexion, sondern zudem ein Medium der Interaktion. Man denke etwa an Valdimars Verhältnis zu seiner riesischen Geliebten Alba: Der Ritter nähert sich der Welt der Riesen an, während die Riesin sich zum Schluss der Welt des Hofes annähert, weil beide Welten strukturale Symmetrien wie etwa Positionen in der Familie aufweisen, die eine Integration möglich machen. Hierbei ist zu beachten, dass die Spiegelsymmetrie nur einen situativen Rahmen stellt, per se jedoch keinen Inhalt trägt. »[T]hey determine the semiotic situation, but not the content of this or that communication.« 645 Es lassen sich also verschiedene Teilbereiche von Semiosphären ineinander spiegeln. Dieser Umstand soll im Folgenden genutzt werden, um die Funktion gespiegelter Konstellationen systematisch für jene Aspekte des Fremden zu untersuchen, die bislang Thema dieser Arbeit waren. Es wird zu zeigen sein, dass Raum, Monster, 643 Hier greift Kristevas Konzept vom bedrohlichen Fremden als verdrängtem Aspekt des Eigenen. Siehe Abschnitt 1.4. 644 Lotman 2005: 220. 645 Ebd.: 224. 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 223 Sozialgefüge, gender-Kategorien und angewandtes Weltwissen jeweils auch als Spiegelmotiv in Erscheinung treten können. 646 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 9.2.1 Hin und her zwischen zwei gespaltenen Zentren - der gespiegelte Raum Das spiegelsymmetrische Erzählprinzip der Dínus saga drambláta verrät sich bereits zu Beginn der Saga bei der Entfaltung des erzählten Raumes. Die Saga weicht hier von dem verbreiteten Schema ab, zunächst kurz ein höfisches Zentrum wie Frakkland oder Saxland zu umreißen, um anschließend den Rest der Welt auf den Fahrten des Helden nach und nach in Szene zu setzen. Stattdessen werden kurz nacheinander die beiden zentralen Handlungsorte Ägypten und Bláland eingeführt, womit der erzählte Raum im Wesentlichen auch schon erfasst ist. Ein sukzessives Erkunden und Ausweiten des Raumes durch einen fahrenden Ritter findet nicht statt. Von den bisher behandelten Sagas weist einzig die Sigurðar saga þögla Parallelen zu diesem Erzählkonzept auf: Auch hier wird Frakkland als Herrschaftsbereich Sedentianas im direkten Anschluss an den heimischen Hof des Helden beschrieben und somit implizit als dessen Gegenpol im späteren Handlungsverlauf gesetzt. Der ausgeprägte Erzählfokus auf die Interaktion von Held und gegnerischem meykóngr stellt das verbindende Element dar, das in beiden Sagas die Einführung ihrer Heimaträume in rascher Folge motiviert: Der spiegelbildliche Antagonismus ist so schon aus der elementaren Raumopposition ersichtlich. Die Sigurðar saga verwendet im Folgenden jedoch die klassischen Erzählschemata der Heldenfahrt, wenn die Erlebnisse Sigurðs und seiner Brüder in der Welt beschrieben werden, ihr Raum ist also keineswegs auf eine bipolare Saxland-Frakkland-Opposition beschränkt. Die Dínus saga hingegen fokussiert sich fast komplett auf den eng umrissenen Rahmen Ägypten- Bláland und erhebt somit die Spiegelsymmetrie zu einem zentralen Gestaltungselement. Im Vergleich zu den Prinzipien, die anhand der Konráðs saga keisarasonar für die Raumgestaltung herausgearbeitet wurden, sticht die Dínus saga gleich in zweifacher Hinsicht hervor: Zum einen ist ihr Ausgangsraum kein typischer Repräsentant des höfischen Eigenen wie England oder Saxland, sondern das ferne Ägypten, ein Teilbereich der fremdartigen Welt des Ostens. Zum anderen beschränkt sich die Gestaltung des Ausgangsraumes keineswegs auf einige skizzenhafte Pinselstriche, stattdessen wird Ägypten nach einem Prolog über die Dreiteilung der Welt eine recht ausführliche Beschreibung zuteil: Der Fluss Nil und die durch Alexander gegründete Hauptstadt Alexandria werden ebenso erwähnt wie der Umstand, dass der König hier einst »Pharäö« genannt wurde, später aber »Tholomeus«. 647 Die Beschrei- 646 Weitere Analysen zu spiegelbildlichen Konstellationen in den originalen Riddarasögur anhand der Ectors saga und der Victors saga ok Blávus finden sich bei Lambertus 2009. 647 DS: 4. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 224 bung des Landes wird mit gelehrten Details angefüllt und imagologisch angereichert. Hier steht die Dínus saga der Kirialax saga nahe, wenn der Gelehrsamkeitsdiskurs sich auch weitaus weniger in den Vordergrund drängt. 648 Auch die Regel, dass die erzählten Räume in ihrer Abfolge eine Klimax der Fremdheit anstreben, lässt sich in der Dínus saga wiederfinden: Auf das fremdartige Ägypten folgt das noch unbekanntere Bláland, das chiffrenartig-unkonkret als »mestur hlutur rijkis j Affrichä« 649 charakterisiert wird. Statt eines gelehrten Exkurses über Geographie und Geschichte des Landes werden hier lediglich seine »jøtnar«, »bl menn« und »skiesseligar skiepnur« 650 und die gewaltige Sonnenhitze erwähnt, was der bedrohlichen Unbestimmtheit eines ‚Hic sunt leones‘ gleichkommt. Der Name seiner Hauptstadt wird mit »Bl schumia« 651 angegeben, was offenbar lediglich eine Variation des blár-Motives darstellt, das für die Fremdartigkeit Afrikas steht. Zu Beginn der Sagahandlung werden die Königshöfe der beiden Länder topisch als Orte einer idealtypischen, prunkvollen Hofhaltung eingeführt: auf der einen Seite der mächtige König Tholomeus mit seiner Gemahlin Díana in Ägypten, auf der anderen Seite der nicht weniger gewaltige König Maximilianus mit seiner Gemahlin Maxencia in Bláland. Beide Königspaare lassen den dazu passenden vielversprechenden Nachwuchs nicht vermissen: Dínus, der junge Königssohn von Ägypten, ist ebenso schön wie in allen Künsten bewandert, von Philotemia, der Königstochter von Bláland, lässt sich Ähnliches berichten. Beide Figuren dominieren das Saga-Geschehen von Anfang an: Die Einführung des erzählten Raumes beider Länder erfolgt nicht etwa rein statisch, sondern wird jeweils dynamisch durch eine Szene ergänzt, in der das jeweilige Königskind an seinen Vater herantritt und um die Errichtung eines eigenen Palastes für sich und sein Gefolge bittet. Die beiden Könige gewähren schließlich die Bitte, Dínus zieht sich mit 40 edlen Rittern in seine eigene Halle zurück, während Philotemia 40 anmutige Jungfrauen mit sich nimmt. Teil des neu etablierten Hofes ist jeweils auch ein besonderer Vertrauter: im Falle Dínus’ sein Gefährte Grammaton, im Falle Philotemias ihre Dienstmaid Peticula. Zudem verfügen beide Königskinder über ein Paar Sendboten, die ihre Belange in der Außenwelt betreiben: Nicius und Niciánus dienen Dínus, während Dasius und Dacianus Philotemias Aufträge erfüllen. Die symmetrische Parallelität dieser Konstellation ist überdeutlich - beide Höfe stehen sich als direktes Spiegelbild gegenüber. Mit der Abspaltung des jeweiligen persönlichen Hofes um Dínus und Philotemia vollzieht sich das erste Ereignis der Saga-Handlung im Lotmanschen Sinne: Eine Grenze der bestehenden Raumordnung wird überschritten. Diese Grenzüberschrei- 648 In der mittleren Redaktion der Saga nach Am 184, fol. werden die gelehrten Details weiter ausgebaut und z. B. darauf hingewiesen, dass Dínus »i þa borg Egiptalandzsem Memphis heyter« (in der Stadt von Ägypten, die Memphis heißt) ausgebildet wird. DS: 99. 649 DS: 11. größter Teil des Reiches in Afrika. 650 DS: 11. Riesen, Schwarze, schreckliche Geschöpfe. 651 DS: 11. 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 225 tung findet im vorliegenden Fall dadurch statt, dass innerhalb eines bestehenden Raumes eine neue Grenze gezogen wird: Der einstmals vollständige, ungeteilte Hof wird in zwei Subbereiche auseinanderdividiert, der erzählte Raum gewinnt eine Binnengliederung in den Hof von Dínus bzw. Philotemia einerseits und den Hof ihres jeweiligen königlichen Vaters andererseits. Mit dieser Unterteilung des höfischen Zentrums aber geht das Aufkommen jener Mangelsituation einher, die schließlich die Saga-Handlung ins Rollen bringt. Dies wird insbesondere in Dínus’ Falle deutlich: Seine Motivation für die Errichtung eines eigenen Palastes ist nicht etwa nur der Wunsch nach einer unabhängigen Hofhaltung. Stattdessen ist dieser Schritt primär durch sein dramb motiviert, einer dominanten Eigenschaft, die für ihn und die Saga namensgebend ist: Dijnus k(öngs)son sets nu j sinn kastala, med sijnumm sueinumm, so mikel tur og megtugur, ad hann vill onguumm þess vnna ad lijta þä fegurd, med þeim blöma, sem bar hanz asiöna, helldur hulde hann hana med þeirre himnu, er so var h tud sem hun væri holldgröinn vid hanz asiönu. þad var annad hanz dramb ad einginn skilldi so diarffur madur, huorke jnnlendskur nie wtlendskur, rijkur nie örijkur, ad sinn föt skillde jnn setia vmm þann kastala, sem köngsson og hanz þienarar sattu j, firer vtann ordlof 652 . Es handelt sich also um einen bewussten Akt der Isolation - Dínus hält sich vom Hof seines Vaters fern, weil er niemandem den Anblick seiner Schönheit gönnt. Sein Handeln ist von übersteigertem Stolz geleitet, der die Integrität des Hofes zu destabilisieren droht. Der Held zieht nicht etwa in die Welt hinaus, um sich standesgemäß Ruhm und Ansehen zu erwerben, sondern zieht sich selbstverliebt völlig von der Welt zurück - ein eklatanter Mangel, der eine erfolgreiche Weltbewältigung unmöglich macht. Im Falle Philotemias wird übersteigerter Stolz nicht explizit als Grund für die Selbstisolation in einem eigenen Palast genannt, und tatsächlich vollzieht sich die Abgrenzung in ihrem Fall auch weniger absolut, da sie sich immer noch für Festlichkeiten am Hofe ihres Vaters sehen lässt. Auch ihr Handeln ist jedoch von Hochmut geprägt. Dies drückt sich zum einen darin aus, dass sie topisch alle Freier abweist, die um ihre Hand anhalten. Zum anderen ist sie nicht bereit, die Schilderungen über Dínus’ vortreffliche Perfektion einfach so hinzunehmen, als Händler aus Ägypten ihr von dem Königssohn berichten. Stattdessen strebt sie danach, ihre absolute Überlegenheit zu beweisen, indem sie ihn demütigt - und die Sagahandlung nimmt ihren Lauf. Die Ankunft der ägyptischen Händler am Hofe von Bláland stellt das nächste Handlungsereignis nach raumsemiotischer Sichtweise dar: Die Grenze zwischen 652 DS: 9-10. Dínus, der Königssohn, residiert nun in seiner Burg, mit seinen Edelknaben, so stolz und mächtig, dass er es niemandem gönnen will, diese Schönheit zu betrachten, mit dieser Blüte, die sein Angesicht trug. Lieber verhüllte er sie mit einem Fell, das so beschaffen war, dass es an seinem Gesicht befestigt war. Das war zudem sein Stolz [= Folge seines Stolzes], dass kein Mann so verwegen [sein] sollte, weder einheimisch noch ausländisch, reich oder arm, seinen Fuß ohne Erlaubnis in die Burg zu setzen, wo der Königssohn und seine Diener residierten. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 226 Ägypten und Bláland wird überschritten, Dínus und Philotemia kommen durch den Bericht der Händler zum ersten Mal indirekt in Kontakt miteinander. Dies gibt den Anstoß für eine Grenzüberschreitung in der Gegenrichtung: Philotemia schickt ihre Sendboten Dasius und Dacianus nach Ägypten aus, damit sie Dínus einen verzauberten Apfel zukommen lassen. Auf diese Weise vollzieht sich die Interaktion zwischen den beiden erzählten Räumen Ägypten und Bláland während der gesamten Sagahandlung: ein konsequentes Hin und Her, bei dem eine Aktion der einen Seite eine gegenläufige Reaktion der anderen Seite zur Folge hat. Die Bewegungen werden dabei nicht etwa als erzählte Reise entfaltet, sondern in knappster Form zu bloßen Zwischenschritten reduziert, wie dies auch schon am Beispiel der Konráðs saga keisarasonar herausgearbeitet wurde. Formeln wie »og lietti ei sinni ferd fir enn þeir koma j Egifftal(and)« 653 decken sämtliche Reisevorgänge pauschal ab. Insgesamt kommt es zwölfmal zu einer solchen Aktion/ Reaktion-Bewegung zwischen Ägypten und Bláland: 1 Die ägyptischen Händler reisen nach Bláland und berichten dort von Dínus. 2 Philotemia schickt ihre Sendboten mit dem verzauberten Apfel nach Ägypten. 3 Dínus verzehrt den Apfel, entbrennt Dínus in Liebe zu Philotemia und bricht mit seinem Gefolge nach Bláland auf. 4 Nachdem er dort mit Zauberei gedemütigt wurde, im Gegenzug aber auch Philotemia zauberisch gedemütigt hat, kehrt er wieder nach Ägypten zurück. 5 Auf Rache sinnend, schickt Philotemia erneut ihre Sendboten aus, diesmal mit einem Zaubertrank. 6 Der verzauberte Dínus macht sich wieder liebeskrank nach Bláland auf, wo ihm und seinen Gefährten Hörner angehext werden. Er revanchiert sich, indem er Philotemia und ihre Jungfrauen ebenfalls liebeskrank werden lässt und in Krähen verwandelt. 7 Dínus und seine Gefährten ziehen als gehörnte Monstren nach Ägypten zurück, verfolgt von den liebeskranken Krähen. 8 Der Zauberer Anachorita bricht von Bláland nach Ägypten auf und nimmt die entzauberten Jungfrauen wieder mit sich zurück. 9 Sendboten aus Bláland reisen nach Ägypten und laden Dínus zu einem Festmahl ein. 653 DS: 18. und ließen mit ihrer Reise nicht nach, bis nach Ägypten kamen. 10 Dínus folgt der Einladung nach Bláland, wo er getötet werden soll; es gelingt ihm jedoch, zurück nach Ägypten zu entkommen, nachdem er das Lager mit Philotemia geteilt hat. 654 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 227 11 König Maximilianus bricht mit seinem Heer nach Ägypten auf, um Dínus zu unterwerfen. 12 Nach dem finalen Friedensschluss am Ende der Saga kehrt der König mit seinem Heer nach Bláland zurück. Diese Abfolge lässt sich im Kern auf drei Versuche Philotemias reduzieren, Dínus zu bezwingen, indem sie ihn nach Bláland lockt und dort demütigt, woran sich jeweils eine vergleichbar schwere Demütigung durch Dínus anschließt. Es liegt eine klassische klimaktische Dreizahl in der Erzählabfolge vor, deren Achtergewicht darin besteht, dass Dínus bei dem letzten Versuch sogar aus Rache getötet werden soll. Die anschließende Heerfahrt des Maximilianus nach Ägypten erfolgt nicht auf Philotemias Betreiben und stellt einen hiervon losgelösten, finalen Handlungskreis der Saga dar. In allen aufgeführten Fällen aber gilt, dass ein Ereignis in der Saga-Handlung stets mit einer (wechselseitigen) Grenzüberschreitung zwischen Ägypten und Bláland einhergeht. Die von Boklund postulierte Zweiteilung in einen höfischen Innenraum einerseits und eine nicht-höfische Außenwelt als Ort der Bewährung für den Ritter andererseits ist in der Dínus saga drambláta nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Während die meisten originalen Riddarasögur zumindest partiell dieses Schema verwirklichen, um es dann im Zuge der Handlung zu durchbrechen, ist selbst die Grundvoraussetzung einer linearen Fahrt des Helden fort vom höfischen Zentrum in der Dínus saga nicht gegeben. Anstelle einer absoluten Polarisierung in ein eigenes Innen und ein fremdes Außen stehen sich hier zwei höfische Zentren in einer relativen Abgrenzung auf Augenhöhe gegenüber. Sowohl Dínus als auch Philotemia haben hierbei die Rolle eines Vertreters des höfischen Eigenen (ihrer lobenswerten Kunstfertigkeit), der sich an der Weltbewältigung versucht, indem er sich einen fremden Teil der Welt unterwirft - nämlich den jeweils anderen. Der stolze Selbstanspruch, das absolute Zentrum der höfischen Welt zu sein, verträgt sich nicht mit der Existenz eines zweiten Zentrums um die Person des jeweils anderen herum und macht diesen so zu einem Fremden im Sinne einer Bedrohung des eigenen Kategorisierungssystems. Die symmetrische Spiegelung der beiden Handlungsorte bildet dabei die Relativität dieser Fremdheitskonstellation auf der räumlichen Ebene ab. Jedoch weist die Raumkonzeption der Dínus saga daneben auch eine absolute Raumachse auf, die durch die scharfe Opposition einer Gut/ Böse-Dichotomie definiert ist. Diese Achse ist keineswegs direkt mit den beiden Ländern Ägypten und Bláland verbunden, sondern tritt an jenen wenigen Stellen der Handlung auf, wenn 654 Eine Detailanalyse dieser Vergewaltigungsszene hinsichtlich der subtilen Veränderungen, die sie in unterschiedlichen Redaktionen des Textes erfährt, findet sich bei Glauser 1994: 394-400. Im vorliegenden Kontext können diese Nuancen allerdings außer Acht gelassen werden. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 228 das Hin und Her der wechselseitigen Interaktion von einem dritten Raum von außen beeinflusst wird. Auch dieser Einfluss von außen wird spiegelsymmetrisch in die Handlung eingebracht, findet er doch in einem Fall in Ägypten und im anderen Fall in Bláland statt. In Ägypten hat dieser Einfluss die Gestalt des geheimnisvollen Fremden Heremita, der in Dínus’ Dienste tritt und ihm im Folgenden mit seiner Zauberkraft dabei behilflich ist, Philotemias Anschlägen zu entgehen. Dieser Fremde entpuppt sich am Ende der Sagahandlung als Wallterus, der weise Sohn des Königs von Indien, der angereist ist, um Dínus uneigennützig zu helfen. Indien wird somit als ein drittes höfisches Zentrum jenseits der wechselseitigen Kabale zwischen Ägypten und Bláland eingeführt, von wo zauberische Hilfe zu erwarten ist. 655 Es belegt auf der absoluten Raumachse die Position des Guten. In Bláland hingegen tritt die Gestalt des Anachorita 656 als zaubermächtige Beraterfigur auf, »eitt kuikuendi eda manneskiu þar uar suart asyndar ok lodit sem saudr«. 657 Dieser stammt nicht etwa aus einem weiteren Land, sondern wird von Damianus, einem seherisch begabten Gefolgsmann des Königs Maximilianus, in einer Höhle außerhalb der Stadt entdeckt. Hier stellt also die Wildnis jenseits des Hofes den Raum da, von dem aus Einfluss auf die Polarität der beiden Länder genommen wird, wobei die Fremdartigkeit dieses Bereichs dadurch betont wird, dass die Erzählinstanz selbst Anachoritas Status als Mensch im Unklaren lässt. Anachorita richtet im Laufe der Handlung Schaden an, indem er Dínus’ Palast in Flugdrachengestalt bedroht, als er die verwandelte Philotemia mit ihren Jungfrauen nach Bláland zurückholt, und indem er maßgeblich dazu beiträgt, dass Maximilianus sich auf einen Feldzug gegen Ägypten begibt. Am Ende der Saga weiß Heremita schließlich zu berichten, dass Anachorita in Wahrheit »pukin sjalfr« 658 ist, seine räumliche Zuordnung ist also nicht zufällige die Tiefe einer Höhle. Dieser Ort nimmt somit auf der absoluten Raumachse der Saga die Position des Bösen ein. Das Konzept dieser absoluten Raumachse des Guten und des Bösen wird in der Saga an späterer Stelle noch deutlicher aufgegriffen, nämlich wenn Heremita seine Zauberkraft benutzt, um König Maximilianus allerlei Blendwerk vorzugaukeln und ihn so vom Angriff auf Ägypten abzuhalten. Im Laufe dieser Episode lässt er dem König unter anderem auch Visionen zukommen, in denen Teufel aus der Hölle heraufsteigen und Engel vom Himmel herabkommen, um sein Heer aufzuhalten. 659 Auch wenn es sich bei den Visionen im Endeffekt um eine Illusion handelt, macht das Aufgreifen dieses Motives doch deutlich, dass der relative Konflikt der beiden Zentren vor dem Hintergrund des absoluten Konfliktes von Gut und Böse verortet 655 Vgl. zu diesem Topos Johanterwage 2007. 656 Auch die Benennung Heremita und Anachorita macht natürlich zudem die spiegelbildliche Parallelität dieser beiden Figuren deutlich, sind doch beide Begriffe letztlich Umschreibungen für einen monastischen Einsiedler. 657 DS: 40. dort war ein Lebewesen oder Mensch, mit einem schwarzem Antlitz und zottelig wie ein Schaf. 658 DS: 89. der Teufel selber. 659 Vgl. DS: 79-80. 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 229 ist. Dabei kommt Bláland temporär durch Anachoritas Einfluss der Pol des Bösen zu, während Ägypten durch Heremitas Hilfe auf der Seite des Guten steht. Hierbei handelt es sich jedoch keinesfalls um unumstößliche Zuschreibungen, zumal der Konflikt der beiden Hofzentren seinen Anfang nimmt, bevor die beiden Gestalten von außen dazukommen. 660 Stattdessen wird die Opposition des absoluten Konflikts dadurch aufgelöst, dass Anachorita zum Schluss in den Nil geworfen wird, also räumlich wieder nach unten verschwindet, wohin er gehört. Die scharfe Grenze zwischen Ägypten und Bláland wird durch die topische Eheschließung zwischen Dínus und Philotemia aufgehoben, der einstmals geteilte Raum verändert sich zu einem umfassenden Ganzen, wo nur noch Heremitas Einfluss des Guten wirksam ist. Diese Synthese wird auch wiederum auf der räumlichen Ebene ausgedrückt, nämlich dadurch, dass Dínus von König Maximilianus sieben Unterkönigreiche von Bláland als Hochzeitsgeschenk erhält. Der Raum der beiden Königreiche ist nicht mehr scharf voneinander getrennt, die sinnstiftende Einheit des Hofes ist wiederhergestellt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die räumliche Grundkonstellation der Dínus saga drambláta in dem spiegelsymmetrischen Hin und Her zwischen zwei höfischen Zentren besteht, die beide mit Absolutheitsanspruch auftreten und den des anderen damit relativieren. Die Ebene dieses relativen Konflikts wird von einer weiteren, absoluten Raumachse überschattet, auf der die Mächte des Guten und des Bösen aus jeweils einem dritten Raum heraus auf den Konflikt Einfluss nehmen und ihn somit zeitweilig auf die Ebene einer absoluten Opposition heben. Die Überwindung der gegenseitig konstruierten Fremdheit erfolgt durch eine räumliche Synthese der beiden Zentren zu einem gemeinsamen Ganzen, dessen höfischer Absolutheitsanspruch nun endlich gerechtfertigt ist. 9.2.2 Die gegenseitige Monströsisierung - gespiegelte Monster Die Darstellungsebene des monströsen Fremden scheint in der Dínus saga zunächst einmal nicht vergleichbar spiegelsymmetrisch angelegt zu sein wie die Ebene des erzählten Raumes. Während Ägypten mit einigem gelehrten Hintergrundwissen als makelloses Königreich und Zentrum des höfischen Eigenen eingeführt wird, enthält die Beschreibung Blálands an zentraler Stelle Hinweise auf die Riesen, blámenn und 660 Die scharfe Polarisierung auf der absoluten Gut/ Böse-Achse wird sogar an einer Stelle der Handlung ironisiernd konterkariert: Als Dínus Philotemia den Apfel zukommen lässt, der Philoctema und ihre Jungfrauen in Krähen verwandeln wird, lässt er diesen durch eine Dachluke ihres Palast zu Philoctema hinunterfallen. Diese geht daraufhin davon aus, dass »þette er komid vr Paradijs, og er þetta fullkomid vissu merke huorsu Gude lijkade vel huorsu þesse k(öngs)s(on) heffur hier vtleijkinn vered«. (DS: 47. Dies ist aus dem Paradies gekommen und ist ein vollkommenes Zeichen dafür, wie sehr es Gott gefallen hat, wie diesem Königssohn hier mitgespielt wurde) Dínus’ fatale Zaubergabe wird als Gottesgeschenk fehlgedeutet, das zudem noch auf Dínus’ erfolgreiche Demütigung zurückgeführt wird - die kurze Episode macht deutlich, dass es den Akteuren des relativen Konflikts zwischen Ägypten und Bláland keineswegs möglich ist, klar zu erkennen, auf welcher Seite der absoluten Raumachse sie dabei stehen. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 230 Ungeheuer, die hier anzutreffen sind. Von den beiden dargestellten Räumen weist also nur einer Elemente des monströsen Fremden auf. Es scheint hier eine asymmetrische Konstellation vorzuliegen, in der Bláland trotz aller Idealität seines Hofes zumindest auf der Ebene des Monströsen die funktionale Rolle des nicht-höfischen, bedrohlich-fremden Außenraumes übernommen hat. Dieser Eindruck wird durch eine Begebenheit auf Dínus’ erster Reise nach Bláland bestärkt: Nachdem er mit seinen Gefährten zu Philotemia und ihren Jungfrauen in ihren Palast eingeladen wurde und gerade das Lager mit der Prinzessin teilen will, werden Dínus und seine Ritter plötzlich von monströsen blámenn angegriffen, die nach Philotemias Aussage im Dienste ihres Vaters stehen: fader minn heffur vnder sier og sijnu valldi 40 þeirra riddara sem komner eru vnder allann bruna sölarinnar, so harder og sterker ad firer þeim stendur einginn liffande madur, suarter sem byk, og jllgiarner, so þeir eijra onguu, nema ad giora skada og fordiørf-un, og aller eru þeir lijkare diøfflumm enn mønnum 661 . Die schwarzen Ritter werden mit allen Registern der xenophoben Monströsität beschrieben, bis hin zu einem direkten Teufelsvergleich und dem Hinweis, dass sie nichts so sehr lieben wie Schaden anzurichten. Im Kampf erweisen sie sich als ausgesprochen harte Gegner, gegen die Eisen nichts auszurichten vermag, sie scheinen also zudem noch Züge des topischen Berserkers zu besitzen. Schließlich sinken Dínus und seine Gefährten erschöpft von dem harten Kampf zu Boden und schlafen ein. Beim Aufwachen finden sie sich in einem Eichenhain außerhalb der Stadt wieder und müssen feststellen, dass sie die ganze Zeit gegen 40 Eichen gekämpft haben - Philotemia hat sie mit zauberischem Blendwerk genarrt. Das Monströse ist hier kein genuiner Bestandteil Blálands, sondern vielmehr eine durch die anfängliche Beschreibung geschürte Erwartung, der Philotemia mit ihrer Illusion entspricht. Erzählperspektivisch ist die Episode so gestaltet, dass der Rezipient Dínus’ begrenzten Erkenntnisstand teilt und erst zusammen mit dem jungen Ritter erfährt, dass der ganze topisch beschriebene Kampf eine Illusion war. Es wird spielerisch das Erzählmuster des Helden aktiviert, der in der Fremde gegen schreckliche Monster kämpft, um dann ernüchternd dekonstruiert zu werden: Die Monster sind harmlose Eichen, die dem Bereich des kategorisierbaren Eigenen angehören, der Held ist nicht etwa ein siegreicher Weltbewältiger, sondern das getäuschte Opfer einer bewusst irreführend angelegten Erwartungshaltung an den Text. Dínus rächt sich für die zugefügte Schmähung, indem er vor seiner Abreise nach Ägypten eine Tafel mit Zauberzeichen in Philotemias Palast anbringt, die jeden, der die Tafel erblickt, dazu veranlasst, seine Kleider abzuwerfen und in einen nackten Tanz zu verfallen. Philotemia und ihre Jungfrauen erliegen diesem Zauber ebenso wie der König und sein Hofstaat, die nach dem Rechten sehen wollen, und schließlich gar der Erzbischof der Stadt mit seinem klerikalen Gefolge. Das gesamte höfi- 661 DS: 31-32. Mein Vater hat unter sich und seiner Herrschaft 40 von diesen Rittern, die komplett aus der Sonnenhitze gekommen sind, so hart und stark, dass ihnen kein lebender Mann widersteht, schwärzer als Pech und Missetaten verrichtend, so dass sie niemanden verschonen, sondern Schaden und Verderben anrichten, und sie alle sind Teufeln ähnlicher als Menschen. 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 231 sche Zentrum Blálands verlässt durch den nackten Tanz den Bereich des höfischkultivierten und vollzieht somit eine Selbstdemütigung. Erst Anachorita vermag schließlich den Zauber der Tafel zu brechen, indem er sie mit verbundenen Augen zerstört. Dínus’ Racheakt ist insofern ein monströses Element zu eigen, als hier die Grenzen sozialer Normen in Verbindung mit einer körperlichen Veränderung überschritten werden: Unzüchtige Nacktheit und das unhöfische Verhalten des wilden Tanzes gehen miteinander einher. So wird Philotemia in die Nähe solcher Wesen wie jener Trollfrauen gestellt, deren Monströsität sich häufig ebenfalls dadurch ausdrückt, dass sie sich unzüchtig kleiden und Teile ihres Körpers unbedeckt lassen. 662 Während Dínus gegen illusionäre Gegner von monströsem Aussehen kämpft, wird Philotemia zu einer monströsen Verhaltensweise jenseits aller höfischen Normen gezwungen. In beiden Fällen erfolgt die Demütigung über das Medium des Monströsen. Allerdings ist die konkrete Ausgestaltung dieses Mediums an die literarische gender-Konstruktion der jeweiligen Figur gebunden: Der männliche Riddarasaga-Held, der seine Bewährung topisch im Kampf sucht, macht sich im Streit gegen ‚monströse‘ Eichen lächerlich, während sein weibliches Pendant, das topisch eine Verkörperung aller höfischen Umgangsformen sein sollte, mit ihrem nackten Tanz sämtliche Anstandsregeln bricht - zwei genretypische Archetypen, die sich durch ihre gegenseitigen Demütigungen spiegelbildlich verkehren. Obgleich es zunächst den Anschein hat, dass Bláland asymmetrisch als ein fremdartiger Ort des Monströsen im Vergleich zum ‚eigenen‘ Ägypten konzipiert ist, liegt das Monströse auf der handlungsfunktionalen Ebene bei Dínus’ erster Bláland- Fahrt in symmetrischer Form vor, gebrochen lediglich durch die Spiegelachse des gender-Konstrukts. Philotemia konfrontiert Dínus mit Monstern und bezahlt dafür, indem sie selber zum sozialen Monstrum gemacht wird. Beide Repräsentanten des Hofes begegnen sich dabei als gespiegeltes Zerrbild ihres Ideals und kommen gleichermaßen schlecht weg. Auf Dínus’ zweiter Bláland-Fahrt ist die Spiegelbildlichkeit des Monströsen noch deutlicher zu erkennen. Philotemia und ihre Jungfrauen verabreichen Dínus und seinen Gefährten nun einen Trank, der sie in Zauberschlaf versetzt und dabei körperlich deformiert: »Nu sem þeir uilia hrêra sig uerdr þeim nockut stirt hôfudit ok þers uerda þeir uarir at holldgroin horn uoru komin a þeirra hôfut suo stor sem a gaumlum uxa« 663 . Mächtige Hörner machen Dínus und seine Gefolgschaft zu hybriden Gestalten auf halbem Wege zwischen Mensch und Tier und somit zu klassischen Monstern. Dínus’ Reaktion erfolgt in gewohnter Symmetrie: Er lässt Philotemia und ihren Jungfrauen einen Apfel zukommen, der ebenfalls gestaltenwandlerische Wirkung hat: »og so skiött sem þær eru sijna fætur komnar, bregdur 662 Siehe hierzu die Darstellung der Trollfrau Nótt in der Ála flekks saga in Abschnitt 6.2.4 oder der Trollfrauen in der Sigurðar saga þögla in Abschnitt 7.2.2. 663 DS: 45. Nun, als sie sich bewegen wollen, wird ihnen der Kopf ein wenig beschwerlich, und sie werden dessen gewahr, dass im Fleisch verwachsene Hörner an ihre Köpfe gekommen waren, so groß wie bei alten Ochsen. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 232 nockud vndarliga vid, þuiad ä þeirra lijkama eru nu komner vænger med fidre, og so bunar ad lit sem kr kur« 664 . Auch hier besteht die Monströsität in einer partiellen Vermischung mit dem Tierreich, in diesem Fall durch das Anhexen von Krähenflügeln. Da die Schar später als »fuglar« 665 bezeichnet wird, ist darüber hinaus anzunehmen, dass der Text hier die komplette Verwandlung in eine Krähe impliziert. Die Verwandlungen haben nicht nur demütigenden Charakter, sondern sind darüber hinaus lebensbedrohlich: Nachdem Dínus mit seinen Gefährten in seinen Palast zurückgekehrt ist, liegen sie allesamt krank danieder. Philotemia und ihre Jungfrauen hocken, angelockt vom Liebeszauber des Apfels, in Krähengestalt auf den Mauern des Palastes und drohen in dieser Situation vor Hunger und Schwäche einzugehen. Es liegt eine deutliche Klimax an Bedrohlichkeit im Vergleich zur ersten Demütigungsepisode vor: Die dauerhafte Verwandlung in ein Monstrum ist mehr als nur eine Schmach - es ist ein Akt der gewaltsamen Verfremdung von sich selbst, der eine Weiterexistenz im Rahmen des Hofes nicht mehr erlaubt und sich folgerichtig als potentiell tödlich für seine Repräsentanten erweist. Der gehörnte Dínus befindet sich somit in einer ähnlich prekären Lage wie der in einen wilden Werwolf verwandelte Áli - die nicht mehr vorhandene Kompatibilität zur Hofgesellschaft bedroht die schiere Existenz des Helden. In dieser verfahrenen Situation treten nun Heremita und Anachorita als Instanzen von außen auf, die den bedrohlichen Zustand lösen: Heremita vermag Dínus und sein Gefolge von den Hörnern zu befreien, während Anachorita die verwandelten Jungfrauen nach Bláland zurückbringt und ihnen ihre ursprüngliche Gestalt wiedergibt. Dabei sucht er Dínus’ Palast in der Gestalt eines monströsen Flugdrachen heim, der den Himmel verdunkelt und giftigen Geifer niederregnen lässt. Dies ist der Auftakt für eine Verschiebung des Aspekts der Monströsität im weiteren Handlungsverlauf: Bei der dritten Begegnung zwischen Dínus und Philotemia geht es nicht länger darum, den anderen monströs zu verfremden, sondern es wird mit nackter Gewalt vorgegangen - Philotemia versucht Dínus durch die Krieger ihres Vaters töten zu lassen, Dínus vergewaltigt Philotemia. Doch Heremita und Anachorita, die mit ihrer Zauberei im Hintergrund wirksam sind, tragen den Aspekt der gespiegelten Monströsität weiter: Auf Anachoritas Verwandlung in einen Flugdrachen folgen gleich zwei Episoden, in denen Heremita eine Drachengestalt gegen Bláland einsetzt. Als König Maximilianus mit seinen Kriegern loszieht, um Dínus auf seiner dritten Bláland-Fahrt zu erschlagen, wird er durch Heremitas Zauberwerk davon abgehalten: Unnatürliche Dunkelheit hindert seine Schar am Vorankommen, anschließend »siä þeir hrædelega dreka med eijtre bläsande og ellde vr sier spijande« 666 . Letztendlich stellt sich jedoch heraus, dass es sich bei den Monstern lediglich um Kröten und 664 DS: 49. Und sobald sie auf ihre Füße gekommen sind, geschieht etwas Merkwürdiges, denn an ihre Körper sind nun Flügel mit Federn gekommen, und hinsichtlich der Farbe so beschaffen wie [bei] Krähen. 665 DS: 49. Vögel. 666 DS: 66. sahen sie einen furchterregenden Drachen, Gift ausblasend und Feuer speiend. 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 233 anderes Kriechgetier an einem Tümpel handelt, in den Heremitas Blendwerk die bláländische Ritterschar geführt hat. Maximilianus ist somit analog zu Philotemias Täuschungsmanöver mit den als schwarze Berserker inszenierten Eichen ausmanövriert worden. Bei einer weiteren Episode tritt Heremita selbst in der Gestalt eines Flugdrachen auf: Als Maximilianus mit seiner gewaltigen Heerschar bereits in Ägypten lagert, wird er von Heremita aus seinem Zelt gelockt und trifft draußen auf »einn stör(ann) og hrædeligann flugdreka« 667 , der den verschreckten König mit sich fortträgt. Im Folgenden erweist er sich als Verwandlungsgestalt von Heremita, der Maximilianus nacheinander an drei verschiedene Orte trägt, wo er ihm die Vergeblichkeit seines Angriffs auf Ägypten durch erschreckende Visionen gewaltiger Gegenstreitkräfte verdeutlicht. Auch bei diesem Drachen handelt es sich jedoch in Wahrheit um Blendwerk, wie Heremita am Ende der Saga aufklärt: Er hat den bezauberten König lediglich in der Nähe seines Zeltes herumgeschleppt und keineswegs als Drache durch die Luft getragen. Es liegt eine oberflächliche Spiegelbild-Konstellation vor, bei der beide helfenden Instanzen der Gut/ Böse-Achse Drachengestalt annehmen, um ihre Ziele durchzusetzen. Im Falle des teuflischen Anachorita handelt es sich jedoch um eine wirkliche Verwandlung, was dadurch bestätigt wird, dass durch seinen giftigen Geifer tatsächlich Gefolgsleute von Dínus sterben; der christliche Topos des drachengestaltigen Teufels wird hiermit bedient. Heremita hingegen setzt lediglich illusionäre Drachenvisionen zur Abschreckung der Gegner ein, verwandelt sich dabei aber nie leibhaftig. Die Monströsität der beiden Ratgeber-Gestalten verhält sich auf der formalen Ebene symmetrisch, nämlich gleichermaßen drachengestaltig, auf der Ebene des dahinterliegenden Wesens jedoch entgegengesetzt: Anachorita ist auch seinem Wesen nach ein Monstrum, Heremita ein strahlender Königssohn, der Monster lediglich vorgaukelt. Auch der Topos vom schrecklichen Ungeheuer-Heer, der bereits am Beispiel der Kirialax saga untersucht worden ist, hat in der Dínus saga drambláta eine spiegelsymmetrische Bearbeitung erfahren. Als König Maximilianus sein Heer gegen Ägypten sammelt, werden unter anderem auch die vielen monströsen Geschöpfe aufgezählt, die zu seiner Streitmacht gehören: »bæde suarter blämenn, og hrædeliger risar, og ønnur skrimsl, med ögurlegumm äsiönumm, fijlar voru marger j hernum og wlffalldar, og høfdu kastala ä bake« 668 . Ähnlich wie in der Kirialax saga werden hier Schwarze, Riesen, Ungeheuer und Kriegselefanten als erschreckende Repräsentanten des Fremden in einem Atemzug genannt, zudem noch ergänzt durch Kamele. Dafür sind die monströsen Wundervölker, die in der Kirialax saga detailiert beschrieben werden, auf ein farbloses »ønnur skrimsl« reduziert, teilt doch die Dínus saga nicht den weltchronikhaften Charakter der Kirialax saga. Auch die Funktionalisierung der Monster im Krieg unterscheidet sich in den beiden Versionen des To- 667 DS: 76. einen großen und furchterregenden Flugdrachen. 668 DS: 71. sowohl schwarze blámenn als auch furchterregende Riesen und andere Geschöpfe mit schrecklichem Aussehen. Es waren viele Elefanten und Kamele im Heer, und sie hatten Kastelle auf dem Rücken. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 234 pos: Sind die Ungeheuer in der Kirialax saga primär eine bewusste Inszenierung von Fremdheit zum Erschrecken der Feinde, haben sie in der Dínus saga eine weitaus bodenständigere Funktion: »jøtnar og risar briöta skiött borger og vegge« 669 . Die ungeheure Stärke der Riesen dient hier als Belagerungswaffe, besondere Furcht auf Seiten der Ägypter wird jedoch nicht explizit als Effekt der Monster erwähnt - ein Indiz dafür, dass Ägypten und Bláland hinsichtlich ihrer Fremdartigkeit eher relativ zueinander auf Augenhöhe interagieren und weniger als Innenraum und Außenraum konzipiert sind. Auf ägyptischer Seite kann kein vergleichbares Monsterheer aufgestellt werden. Als jedoch Heremita König Maximilianus innerhalb seines Blendwerks zu entführen scheint, zeigt er ihm erschreckende Visionen: »þiöder, suma med coronu sem könga, enn suma riddara, störa sem hina stæstu risa« 670 . Diese Riesen sollen nach Heremitas Ausführungen in Ägyptens Heer dienen - auch die Gegenseite kann also auf die Unterstützung ungeheurer Wesenheiten zurückgreifen, das Monströse tritt wieder in symmetrischer Konzeption auf. Zudem bildet diese Episode eine Parallele zur zuvor beschriebenen Spiegelung von Heremitas und Anachoritas Einsatz von Drachengestalten: Während Anachorita dafür sorgt, dass Maximilianus wirkliche Riesen in seinem Heer versammelt und mit ihnen gegen Ägypten zieht, beschwört Heremita illusionäre Riesen herauf, um den König von seinem Vorhaben abzubringen. Wieder ist Anachorita das Monströse wesenhaft zugeordnet, während Heremita es lediglich der Form nach in Szene setzt. Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Vision, in der Maximilianus zu sehen glaubt, dass »hinn ytste hlutur jardarinnar opnist, og þar vpp fare hiner suørtustu diøfflar [...].« 671 Heremita gaukelt illusionäre Teufel vor, während Anachorita der leibhaftige Teufel ist. Eine besondere Klimax findet dieser zauberische Wettstreit des Monströsen schließlich darin, dass Heremita als dritte Vision »eingla sueiter med logande suerdum« 672 erscheinen lässt. Auf dieser Ebene kann der teuflische Anachorita kein spiegelsymmetrisches Pendant entgegensetzen - das zauberische Kräftemessen endet in einer Asymmetrie zugunsten Heremitas, der die Mächte des Guten vertritt. Die herausragende Bedeutung der Engel (und somit von Heremitas Sieg) wird durch die Durchbrechung der ansonsten streng symmetrischen Erzählstruktur besonders scharf herausgestrichen. Die absolute Gut/ Böse-Achse setzt sich schlussendlich gegen die relative Achse der gegenseitigen Monströsisierung durch. 9.2.3 König, Prinz, Gefolgsleute - gespiegelte Sozialordnungen Die soziale Ordnung des Hofes ist in der Dinus saga drambláta keine Ebene der Verfremdung, wie sie es etwa in der Ála flekks saga oder in der Konráðs saga keisarasonar darstellt: Kein Knecht versucht gegen seinen Herrn vorzugehen, kein Adliger usur- 669 DS: 74. die Riesen zertrümmern rasch Städte und Mauern. 670 DS: 78. Völker, manche mit Kronen wie Könige, manche Ritter, größer als der größte Riese. 671 DS: 79. der äußerste Teil der Erde sich öffnete, und daraus hervor fahren die schwärzesten Teufel. 672 DS: 80. Engelsscharen mit flammenden Schwertern. 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 235 piert einen höheren Rang, der ihm nicht zusteht, keine fremdartigen Anti-Höfe bedrohen die Konzeption des Eigenen. Stattdessen ist das höfische Sozialgefüge für beide Parteien des Konflikts verbindlich, die entsprechend mit einer völlig analogen internen Struktur präsentiert werden: An der Spitze steht das jeweilige Königspaar, danach folgt Dínus in seiner Rolle als Prinz bzw. Philotemia in ihrer Rolle als Prinzessin, darunter stehen die 40 edlen Gefolgsleute, die die beiden jeweils um sich gesammelt haben, und schließlich folgen die Dienstboten, unter denen die beiden Paare Nicius und Niciánus bzw. Dasius und Dacianus besonders erwähnt werden. Hinzu kommen die namenlosen Unterkönige und anderen Großen der Reiche, die bei Festen und Kriegszügen als Statisten auftreten, darüber hinaus aber keine Handlungsfunktion aufweisen. Heremita und Anachorita schließlich stehen außerhalb dieser Hierarchie, ist doch ihre wahre Natur und somit auch der ihnen angemessene Rang bis zum Ende der Saga zweifelhaft. Beide Höfe weisen eine feste, hierarchische Sozialstruktur auf, die im Verlauf der Handlung niemals in Frage gestellt oder dekonstruiert wird. 673 Dennoch ist die Hofgesellschaft der Dínus saga kein völlig unproblematisches, statisches Konstrukt, das keinen Anlass für Konflikte böte: Beide Höfe werden als ein absolutes Zentrum eingeführt, doch ihre Doppelung macht ebendiesen Absolutheitsanspruch zunichte. Der besondere Stolz Dínus’ und Philotemias, der als Handlungsmotor dient, ist in diesem Kontext mehr als nur eine individuelle, tadelnswerte Charaktereigenschaft - er ist der Ausdruck eines Selbstverständnisses als herausragender Vertreter eines idealen Hofes, für den bereits die potentielle Existenz eines zweiten solchen Zentrums eine Bedrohung der Selbstkonstruktion darstellt. Das (absolute) Eigene wird dadurch in Frage gestellt, dass es irgendwo auf der Welt ein vergleichbares Eigenes gibt. Der im vorangegangenen Unterkapitel beschriebene Versuch der Monströsisierung dieses Gegenübers ist die folgerichtige Reaktion auf diesen Zustand: Indem der andere zum Monster degradiert und verfremdet wird, bestätigt er die Position des eigenen Hofes als Zentrum des Eigenen in Relation zu einer minderwertigen Außenwelt. Die Querelen der beiden Königskinder tragen stellvertretend den Konflikt zweier Sozialordnungen aus, die zwar intern perfekt geregelt sind, dafür aber einer Abgrenzung nach außen bedürfen, die durch den zweiten, identisch aufgebauten Hof in Frage gestellt wird. Die Dínus saga durchbricht mit diesem Konstrukt gezielt eine klassische Erzählkonvention der originalen Riddarasögur: Die Opposition des höfischen Helden einerseits und der zu erkundenden Außenwelt andererseits wird durch die gewählte doppelperspektivische Darstellung aus der Sicht zweier Höfe zu einem multizentrischen Ansatz revidiert, bei dem Innen und Außen, Eigen und Fremd 673 Eine Ausnahme hierzu stellt Philoctemas Demütigung durch ihren nackten Tanz dar, in den schließlich der gesamte Hof von Bláland einfällt, wobei alle sozialen Grenzen verwischen. Diese Episode wird jedoch explizit als durch Zauberkraft verursachter Ausnahmezustand dargestellt, der für alle Beteiligten beschämend ist; sobald der Zauber aufgehoben ist, besteht die Ordnung wieder in ihrer etablierten Form, ohne dass ihre kurzfristige Aufweichung eine langfristige Folge zeigen würde. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 236 nur noch eine Frage des Standpunktes des Betrachters sind. Beide höfischen Sozialordnungen sind exakt spiegelsymmetrisch aufgebaut, doch ist das Betreiben Dínus’ und Philotemias darauf ausgerichtet, die Symmetrie zu durchbrechen und einen asymmetrischen Zustand zu erzeugen, bei dem das Gegenüber in die topologische Position des nicht-höfischen Außenraumes gedrängt wird. Die Auflösung dieses Konflikts besteht topisch in einer dynastischen Heirat: Indem Dínus und Philotemia im Rahmen des gemeinsamen sozialen Systems vermählt werden, verschmelzen beiden Höfe zu einem größeren Ganzen, das keine gegenseitige Abgrenzung mehr nötig hat. Für diesen Schritt ist es jedoch zunächst notwendig, das Gegenüber als einen sozial angemessenen Partner akzeptieren zu können, also den anderen Hof als einen weiteren legitimen Repräsentanten des Eigenen anzuerkennen. Hierzu sind Dínus und Philotemia zu Beginn der Sagahandlung noch nicht fähig, isolieren sie sich doch beide von der Welt, weil sie dort nicht Ihresgleichen finden zu können glauben. Ihre Versuche der gegenseitigen Demütigung stellen auf der sozialen Betrachtungsebene zugleich eine gegenseitige Annäherung dar: Sie beweisen sich immer wieder, dass sie über gleichwertige Kräfte und Möglichkeiten verfügen und somit letztendlich Vertreter gleichwertiger Höfe sind, die sich im Rahmen eines gemeinsamen Bezugssystems bewegen. 9.2.4 Die gegenseitige Zähmung der Widerspenstigen - das gespiegelte Geschlecht In der Forschung wird die Dínus saga drambláta gemeinhin unter jene Sagas subsummiert, die das Motiv des heiratsunwilligen meykóngr als zentralen Bestandteil aufweisen. 674 Diese Zuordnung ist insofern zutreffend, als Philotemia zumindest zwei prägende Charakteristika das meykóngr trägt: Sie weist nicht nur aus Stolz alle Freier zurück, sondern ist zudem darauf aus, ihr männliches Gegenüber für seine Anmaßung zu demütigen, ihr auf Augenhöhe begegnen zu wollen. Zugleich fehlen ihr jedoch typische Eigenarten dieses Motivs: Philotemia ist nicht etwa eine Alleinherrscherin wie Sedentiana in der Sigurðar saga þögla, die ihre Macht nicht an einen Mann abzugeben gedenkt, sondern als Prinzessin ihrem Vater Maximilianus untergeordnet - entsprechend wird sie auch niemals explizit mit dem Terminus meykóngr bezeichnet. Jedoch lässt sich vermutlich ihre selbständige Hofhaltung in einem eigenen Palast als eine eingeschränkte Form von Alleinherrschaft interpretieren. Zudem besitzt sie nicht die typische Passivität eines meykóngr: Für gewöhnlich sucht der Held den meykóngr aktiv auf, der von solchen Avancen in Ruhe gelassen zu werden wünscht, bemüht sich um dessen Gunst und wird dann als Reaktion darauf gedemütigt - man vergleiche das Schicksal der Brüder Sigurðs. Die Demütigung des Helden ist in solchen Fällen die direkte Folge einer Brautwerbungsfahrt, die er aus freien Stücken unternommen hat. In der Dínus saga unternimmt Philotemia jedoch den ersten Schritt: Sie lockt Dínus durch einen Apfel zu sich, der ihn in Liebe zu ihr ent- 674 Sie zählt zu den Texten, die sowohl bei Wahlgren 1938 als auch bei Kalinke 1990 behandelt werden. 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 237 brennen lässt, und demütigt ihn dann im oben analysierten Kampf gegen die illusionären blámenn. Der Ablauf dieser Episode entspricht der typischen Erstbegegnung zwischen Held und meykóngr: Auf die Ankunft des Helden folgt eine festliche Bewirtung, in deren Verlauf der Held dem meykóngr näher zu kommen versucht. Dieser geht zum Schein darauf ein, doch kurz vor dem ersehnten Beilager erfährt der Held stattdessen eine Demütigung und wird für seine Anmaßung verspottet. Auf der handlungsfunktionalen Ebene wäre es dennoch verfehlt, die Konfrontation von Dínus und Philotemia als Auftakt einer typischen meykóngr-Erzählsequenz zu betrachten. Dadurch, dass Philotemia Dínus zu sich gelockt hat, fehlt die Legitimation ihres Verhaltens, den Freier für seine Dreistigkeit bestrafen zu wollen - die Annäherung ist ja von ihr gewollt. Diese Motivation ist der eines typischen meykóngr entgegengesetzt: Jener will von allen Freiern in Ruhe gelassen werden und vergrault sie durch Misshandlungen, Philotemia lockt gezielt einen Freier an, mit dem sie ihre (zauberischen) Kräfte messen kann. Die typische meykóngr-Episode ist asymmetrisch aufgebaut: Der Held dringt von außen in den Bereich des meykóngr ein und bedrängt ihn mit seiner Werbung, wogegen der meykóngr sich zur Wehr setzt. In der Dínus saga hingegen liegt eine symmetrische Konstellation vor: Dínus und Philotemia versuchen sich gegenseitig zu demütigen, um ihre Überlegenheit zu beweisen, wobei die erste Initiative von Philotemias Seite ausgeht. Auch der klassische Topos der meykóngr erscheint in einer spiegelsymmetrisch angelegten Variation. In einer typischen meykóngr-Geschichte hat der meykóngr die Rolle des Störfaktors inne, der seine angestammte gender-Position nicht zu akzeptieren bereit ist und somit die höfische Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht. Der männliche Held hingegen erfüllt seine gender-Funktion als fahrender Ritter, der Ruhm und Macht erwirbt, aufs Vorbildlichste und bringt schließlich auch den meykóngr auf den rechten Pfad zurück, indem er ihn in seiner inferioren gender-Position ins höfische Ideal reintegriert. Auch dieser zentrale Handlungsmechanismus verhält sich in der Dínus saga anders: Durch seine selbstgewählte Isolation in seinem Palast kommt Dínus keineswegs dem Ideal nah, das im Genre der originalen Riddarasögur einen Helden konstituiert - er zieht nicht auf Abenteuerfahrt aus, erwirbt sich keinen Ruhm und hält auch von sich aus nicht nach einer standesgemäßen Partnerin zur Mehrung von Macht und Ansehen Ausschau. Er verweigert sich seiner angestammten gender- Position in ähnlich eklatanter Weise wie sein weibliches Gegenstück. Die Durchbrechung von gender-Konstruktionen ist hier nicht auf die Rolle des meykóngr beschränkt, sondern spiegelbildlich auf beide Beteiligten aufgeteilt. Überspitzt formuliert kann vor diesem Hintergrund Dínus sogar als ein männlicher meykóngr bezeichnet werden: Er verweigert sich den Aufgaben seiner gender- Position, isoliert sich in Passivität von der Welt und tut dies alles getrieben von seinem übersteigerten Stolz, der letztendlich die Kehrseite seiner höfischen Vollkommenheit ist - eine Sammlung von Eigenarten, wie sie etwa auch auf den klassischen meykóngr Sedentiana in der Sigurðar saga þögla zutreffen. Umgekehrt übernimmt Philotemia ein Stück weit die Funktion des fahrenden Helden, indem sie den ersten 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 238 Schritt tut, die bestehende Situation zu ändern. Sie hört durch reisende Händler von Dínus’ Vollkommenheit und seinem eigentümlichen Lebenswandel und fühlt sich dadurch dazu gereizt, den stolzen Prinzen zu unterwerfen - eine Konstellation, wie sie typischerweise in umgekehrter Form vorliegt, wenn der Saga-Held von einer fernen, unnahbaren Schönheit hört und sich aufmacht, um sie zu erobern. Lediglich die eigentliche Motivation der Unterwerfung ist eine andere, geht es Philotemia doch nicht darum, Dínus zum Gemahl zu gewinnen, sondern lediglich darum, ihre größere Vollkommenheit in den Künsten zu demonstrieren. Die Dínus saga verfremdet an dieser Stelle gezielt ein typisches Motiv ihres Genres, indem sie die Figurenkonstellation partiell umkehrt und aus einer asymmetrischen Brautwerbungsfahrt einen symmetrischen Wettbewerb der gegenseitigen Unterwerfung macht. Dabei folgt die Saga insofern dem klassischen meykóngr-Erzählmuster, als der männliche Part letztendlich die Oberhand gewinnt - alle Versuche der Demütigung sind als klimaktische Abfolge angelegt, bei der Dínus’ Gegenaktion stets eine Steigerung an demütigendem Pontential darstellt, was schließlich mit Philotemias Defloration seinen Höhepunkt findet. Trotzdem ist dieses Zugeständnis an den Genre- Topos nicht als einseitige Zähmung Philotemias durch Dínus zu deuten. Das Grundproblem des übermäßigen Stolzes, der die Integration in die höfische Welt in einer angemessenen (gender-)Position verhindert, ist beiden Figuren zu Beginn der Saga gleichermaßen zu eigen. Auch Dínus durchläuft durch die mehrmalige Konfrontation mit einer Vertreterin des Hofes, die seiner Vollkommenheit gleichkommt, einen Wandel, der es ihm am Ende der Saga erlaubt, sich in seiner Rolle als künftiger König in die Hofgesellschaft einzufügen. Beide Figuren rücken aus der selbstgewählten Marginalisierung ins Zentrum und erfüllen als König und Königin ihr vorgesehenes gender-Konstrukt. Der Fortbestand ihrer Dynastien ist nun gesichert, der Bestand des Hofes gewahrt. Die Dínus saga drambláta ist die Geschichte einer wechselseitigen Zähmung der Widerspenstigen, bei der beide Geschlechter sich spiegelsymmetrisch gegenüberstehen. Es gelingt dem Text, das scheinbar grundlegend asymmetrische Motiv des zu unterwerfenden meykóngr um eine Spiegelachse herum zu gruppieren und auf zwei Figuren mit unterschiedlichem gender-Hintergrund aufzuteilen, ohne dass seine typischen Charakteristika dabei verloren gingen. Die symmetrische Konstruktion erweist sich auf jeder Betrachtungsebene als ein wirkmächtiges und dominantes Erzählprinzip. 9.2.5 Ein Wettstreit in den Künsten - der gespiegelte Aspekt der Gelehrsamkeit Die höfische Vollkommenheit der beiden Protagonisten Dínus und Philotemia drückt sich neben ihrer Schönheit insbesondere auch in ihrer Beherrschung der höfischen Künste aus. Dabei ist auffällig, dass bei der narrativen Ausgestaltung ihrer Ausbildung in der Jugend den Künsten der Gelehrsamkeit ungleich mehr Raum eingeräumt wird als ihren übrigen Fähigkeiten. So heißt es etwa über Dínus: 9.2 Spiegelkonstellationen in der Dínus saga drambláta 239 þä var hann vnder bök settur, og nam hann first Grammaticam, þar næst Musicam, Rethoricam, Dialecticam, Geometricam, Astronomiam og Aritmeticam og þær böklegar lister, er meijstara‹r› m ttu honum kienna, og so frammtt lærde hann ad hann vann þä j spurningumm, sem aadur voru hanz meijstarar 675 . Über seine ritterlichen Künste wird hingegen nur lapidar erwähnt: »tök hann þä ad nema allar riddaraligar lister [...].« 676 Die unterschiedliche Gewichtung ist deutlich. Auch Philotemias Gelehrsamkeit wird ausführlich beschrieben: hun hafdi so vel numid allar 7 bokligar lister med øllumm greinumm sem aff sierhuorre list mä giorast, edur greinast, so einginn var henner lijke j øllu þui köngz rijki. so mikid haffde hun numid aff phitöns anda list, og rwnamaalumm, ad j þeim hlutumm hugde hun onguann vera munde sinn jaffna j allre verølldinni, þui henni var kunnug øll jardar nättura, og himenntungla gangur, og stiørnufræde øll, og nätturur allra þeirra grasa, steina triä kuista og bruna 677 . Weitere höfische Künste, die über solche Wissenschaften hinausgingen, werden nicht genannt. Die Schönheitstopoi, die in den originalen Riddarasögur gerne bei der Einführung weiblicher Figuren den Ritterschaftstopoi des Helden entgegengesetzt werden, fallen in Philotemias Fall recht kurz und unkonkret aus: »þar fæddist ein döttur væn og virduglig, ærlig ok æskelig sem einskins mannz auga haffdi sied, þui lijkt blöm fædast jørdina, aff hollde og blöde mannligu « 678 . Auch hier liegtein deutli cher Schwerpunkt auf den Künsten der Gelehrsamkeit, die vor allen anderen höfischen Tugenden betont werden. In dieser Vollkommenheit in den gelehrten Künsten liegt auch die eigentliche Motivation Philotemias, sich auf einen Wettstreit mit Dínus einzulassen. So heißt es über ihre Beweggründe, nachdem sie durch die ägyptischen Händler von dem kenntnisreichen Königssohn erfahren hat: »Nu kiemur j hug k(öngs) d(öttur) ein logande girnd j hennar hiartta og freistne, ei til holldligrar girndar edur nockrar elsku, helldur til ad pröva sijna kunnättu, j möti Dijnus og hann vtleijka og yffer vinna« 679 . Die üblichen Gründe für das gesteigerte Interesse an einem fernen Königskind - 675 DS: 7. Da wurde er an die Bücher gesetzt, und er lernte zuerst Grammaticam, danach Musicam, Rheoricam, Dialecticam, Geometricam, Astronomiam und Aritmeticam und diejenigen Buchwissenschaften, die die Meister ihm beibringen konnten. Und so vortrefflich lernte er, dass er diejenigen im Disput besiegte, die zuvor seine Meister gewesen waren. 676 DS: 7. Er begann dann, alle ritterlichen Künste zu erlernen. 677 DS: 12-13. Sie hatte alle sieben Buchwissenschaften so gut mit allen Zweigen erlernt, die man aus jeder Kunst ziehen oder abzweigen kann, dass niemand im ganzen Königreich ihr gleich war. So viel hatte sie von der Wahrsagerei und Runenkunde gelernt, dass ihr in diesen Dingen niemand auf der ganzen Welt ihresgleichen zu sein schien. Denn sie war aller Naturkräfte der Erde kundig und des Laufs der Himmelsgestirne, und aller Sternkunde, und der Naturkräfte aller Gräser, Steine, Bäume, Äste und Quellen. 678 DS: 12. Dort wurde eine schöne und würdige Tochter geboren, ehrbar und wünschenswert, wie es [noch] keines Menschen Auge gesehen hatte. Eine solche Blüte wurde auf der Erde geboren, aus menschlichem Fleisch und Blut. 679 DS: 15 Nun kam der Königstochter ein brennendes Verlangen ins Herz und die Versuchung, nicht zu fleischlichem Verlangen oder anderer Liebe, eher danach, ihre Kunstfertigkeit gegen Dínus zu erproben und ihn zu überlisten und zu überwinden. 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 240 Liebe und Verlangen - werden hier explizit ausgeschlossen, Philotemia geht es einzig darum, ihre vielgelobte Kunstfertigkeit zu erproben. Aus diesem Hintergrund ergibt sich, dass gelehrte Kenntnisse im Folgenden das Medium der gegenseitigen Übertrumpfungsversuche sind. Dabei setzt die Saga Wissen und die Fähigkeit zum praktischen Handeln direkt gleich - Dínus’ und Philotemias Einsichten in die Natur der Welt führen dazu, dass sie über zauberische Möglichkeiten verfügen: Philotemia präpariert einen Apfel und einen Trank, die jeweils Dínus und seine Leute in Liebe entbrennen lassen, und versteht sich zudem darauf, das Blendwerk mit den schwarzen Berserkern zu inszenieren und Dínus’ Gefolgschaft mit einem weiteren Trank Hörner wachsen zu lassen. Dínus beherrscht im Gegenzug die Kunst, zaubermächtige Buchstaben zu schreiben, die jeden Betrachter zum Tanzen zwingen, und bereitet einen Apfel zu, der Philotemia und ihre Jungfrauen nicht nur mit Liebeskrankheit schlägt, sondern darüber hinaus in Krähen verwandelt. Solche Handlungen werden mit beiläufiger Selbstverständlichkeit als Bestandteil ihrer Gelehrsamkeit betrachtet und nicht etwa als frevlerische Zauberei verdammt. Die Künste der beiden Protagonisten und der Helferfigur Heremita unterscheiden sich in ihrer Beschaffenheit nicht wesenhaft von den Zaubereien des teuflischen Anachorita. 680 Aus dem Wissen über die Welt folgt direkt die Fähigkeit, diese Welt auch zu beeinflussen und letztendlich zu bewältigen. In dieser Hinsicht nähert sich die Dínus saga drambláta dem Impetus der Kirialax saga an. Andere Formen der Auseinandersetzung finden in der Dínus saga hingegen kaum statt: Maximilianus’ Überfall auf Dínus während der dritten Bláland-Fahrt wird durch einen Schutzzauber Heremitas verhindert, sein Feldzug gegen Ägypten wird dank des geschickt eingesetzten Blendwerks abgebrochen. Wenn man einmal von dem Kampf gegen die 40 schwarzen Berserker absieht, der sich ja im Nachhinein als illusionäres Konstrukt herausstellt, kommt in der gesamten Dínus saga nicht eine einzige kämpferische Auseinandersetzung vor, in der sich der Held ritterlich bewähren würde - eigentlich eine Ungeheuerlichkeit angesichts der Genre-Konventionen der originalen Riddarasögur. Gelehrsamkeit ist die primäre Ebene des Konflikts, Ritterschaft bleibt komplett als schmückendes Beiwerk im Hintergrund. In diesem Kontext kann man Philotemias Versuch, Dínus bei seiner dritten Bláland-Fahrt brachial und ohne jede Kunstfertigkeit durch eine Übermacht von 3000 Rittern erschlagen zu lassen, bereits als Eingeständnis ihrer Unterlegenheit deuten - ihr fällt auf der eigentlich angemessenen Ebene der Auseinandersetzung keine passende Erwiderung mehr ein. Dínus hingegen bleibt auf der ursprünglichen Ebene und entledigt sich der Angreifer durch einen Zauber, den Heremita ihm in Form eines Tuches mitgegeben hat. Der symmetrische Konflikt ‚Wissen gegen Wissen‘ schlägt hier in einen asymmetrischen Konflikt ‚Wissen gegen Gewalt‘ um, was seine Steige- 680 Eine Ausnahme mag hierbei darin bestehen, dass Anachorita während seiner tatsächlichen Verwandlung in einen Drachen einige junge Männer aus Dínus’ Palast mit seinem tödlichen Gifthauch umbringt, was möglicherweise als eine deutlich offensivere Form des Schadenszaubers zu deuten wäre. Siehe Abschnitt 9.2.2. 9.3 Die gespiegelte Erzählwelt als Frage der Perspektive 241 rung in Maximilianus’ Heerzug gegen Ägypten findet, der ebenfalls durch Heremitas Zauberkünste gestoppt wird. Noch stärker als in der Kirialax saga wird hier die Dominanz der Gelehrsamkeit über die Künste der weltlichen Ritterschaft herausgekehrt. Es geht jedoch nicht um einen einzelnen Helden, der als Vertreter des Eigenen die Welt des Fremden bereist und durch gelehrte Kategorisierung bändigt. Stattdessen ist diese Rolle, wie es dem Erzählprinzip der Dínus saga drambláta entspricht, spiegelsymmetrisch auf die beiden Figuren Dínus und Philotemia aufgeteilt, die sich gegenseitig durch ihr Wissen zu überwältigen versuchen. Der absoluten Dominanz einer monolithischen, weltumspannenden Gelehrsamkeit wird hier das relative Konzept eines Wettstreits entgegengestellt, in dem es um den geschickten Einsatz jenes Wissens geht: Beide Kontrahenten haben die Künste zutiefst durchdrungen, doch letztendlich zählt nur die Art und Weise, wie listenreich sie ihr Wissen in die Tat umsetzen. So gehen Wissen und Handeln in der Dínus saga direkt miteinander einher, wobei sie das zentrale Medium der Weltgestaltung und Weltbewältigung bilden. 9.3 Die gespiegelte Erzählwelt als Frage der Perspektive Die vorangegangenen Unterkapitel haben aufgezeigt, dass in der Dínus saga drambláta spiegelbildliche Konstellationen auf allen Erzählebenen ein zentrales Gestaltungsmedium darstellen. Zwei höfische Zentren begegnen sich auf Augenhöhe und relativieren gegenseitig ihren Absolutheitsanspruch, bis der Konflikt schließlich durch eine Synthese der beiden Höfe gelöst wird. Das Eigene wurde im vermeintlich Fremden erkannt, die Versuche der gegenseitigen Monströsisierung haben ein Ende und werden von der Begründung einer gemeinsamen Dynastie abgelöst. Eine so pointiert zugespitzte Symmetrie, wie sie zwischen Ägypten und Bláland besteht, stellt ein Unikum dar. Doch auch andere Texte des Genres der originalen Riddarasögur lassen zumindest in Ansätzen oder während einzelner Episoden Züge einer solchen Spiegelkonstellation erkennen. So tritt das Fremde z. B. als Spiegel auf, wenn der Held in einem Vertreter einer monströsen Gegenwelt plötzlich höfische Züge zu entdecken vermag, etwa während Valdimars Aufenthalt bei der Riesenfamilie oder, in der Form eines Zerrspiegels, bei Ális Abenteuern am Hofe des monströsen Trollkönigs. Umgekehrt kann auch der Held zu einem Spiegel des Fremden werden, wenn etwa Áli durch den Trollfluch in einen Werwolf verwandelt wird oder Sigurðr þögli monströse Riesen- und Zwergengestalt annimmt, um Sedentianas Stolz zu brechen - bezeichnenderweise erfolgt die Verwandlung in diesem Fall sogar mittels eines magischen Spiegels. Die Welt der originalen Riddarasögur ist an der Textoberfläche häufig so gestaltet, dass sie Boklunds Beobachtung einer dichotomen Unterscheidung in höfische Räume des Eigenen und nicht-höfische Räume des Fremden zu entsprechen scheint. Doch führt eine Vielzahl solcher spiegelbildlicher Konstellation dazu, dass die 9. Symmetrische Konstellationen und gegenseitige Spiegelungen - das Eigene im Fremden erkennen 242 scheinbar klaren Grenzen der erzählten Welt überschritten und Eigenes und Fremdes ineinander gespiegelt werden, so dass es sich häufig lediglich als Frage des perspektivischen Standpunkts darstellt, was eigentlich als fremd oder monströs zu betrachten ist. Die spiegelsymmetrische Erzählweise stellt ein zentrales Medium zur Relativierung der erzählten Welt dar. Anstelle einer klaren Dichotomie werden so Situationen der Hybridität und in-between spaces erzeugt, in denen der Sagaheld sich immer wieder neu positionieren muss - mal wird der Held zum Monster und mal ist das Monster der Held. Der Absolutheitsanspruch des Hofes, der das zentrale Erzählkonzept der arthurischen Welt darstellt, lässt sich angesichts so vieler Relativierungen auf den unterschiedlichsten Erzählebenen nicht aufrechterhalten. Die monozentrische Welt des arthurischen Rittertums weicht in den originalen Riddarasögur einer multizentrischen Welt verschiedener Höfe, Gegenhöfe und partiell höfischer Grauzonen, die allesamt komplex gegeneinander gespiegelt sind und gleichermaßen Aspekte des Eigenen wie des Fremden aufweisen. Mal nagt das Fremde in Form subversiven Sozialneids am eigenen Zentrum, mal erweist sich ein marginaler Ort der Wildnis plötzlich als ein Bereich von ‚Monstren‘ mit quasi-höfischen Verhaltensweisen. Der spiegelsymmetrische Grundaufbau der Dínus saga drambláta ist vor diesem Hintergrund mehr als nur die spielerische Verwirklichung eines schrulligen Erzählprinzips. In der durchgehenden symmetrischen Relativierung dieser Saga drückt sich der multizentrische Ansatz der Weltkonzeption in den originalen Riddarasögur besonders deutlich aus. Diese Saga verwirklicht auf allen Ebenen, was vielen anderen Vertretern der Gattung zumindest partiell zu eigen ist: Sie bündelt in zugespitzter Form die gegenseitige perspektivische Relativierung von Eigenem und Fremden. Der Wandel der beiden Figuren Dínus und Philotemia im Laufe der Saga ist mehr als nur die Geschichte einer persönlichen Entwicklung hin zu größerer Tugendhaftigkeit - die Anerkennung des jeweils anderen als angemessener dynastischer Partner stellt zugleich die Anerkennung des vermeintlich Fremden als einen anderen möglichen Ausdruck des Eigenen dar. Das Konzept eines monolithischen Zentrums, das nur inferiore Peripherie neben sich duldet, wird zugunsten einer Öffnung nach außen aufgegeben. Mit der topischen Heirat am Schluss der Saga geht ein Wechsel der Perspektive einher, die nun offen für ein multizentrisches Weltkonzept wird. Die Grenzen des Eigenen und Fremden erweisen sich als Frage des Standpunkts, Weltbewältigung besteht in der Abkehr vom Absolutheitsanspruch hin zur Anerkennung relativer Vielheit. Die Erzählwelt der originalen Riddarasögur erweist sich in dieser Hinsicht als erstaunlich postmodern. 10. Schlussbetrachtungen Viele Zimmer haben Fenster, doch öffnen sich diese nur jeweils wiederum auf andere, meist größere Räumlichkeiten. Obwohl die Erfahrung ihn bisher niemals anderes gelehrt hat, bewegt Hor bisweilen die Vorstellung, einmal an eine letzte, äußerste Wand zu gelangen, deren Fenster den Ausblick auf etwas gänzlich anderes gewähren. 681 Michael Ende: Der Spiegel im Spiegel, 1984 10.1 Das Fremde als Erzählgegenstand und Erzählprinzip Victor trifft auf Blávus und setzt seine Reise mit dem schwarzafrikanischen Ritter an seiner Seite fort. Jarlmannr reist nach Serkland und wird mit allerlei Ungeheuererscheinungen konfrontiert. Vilmundr verlässt das heimatliche Tal und stapft unbedarft in eine Burg hinein, die er für einen Berg hält. Nitida besorgt sich Zaubermitteln vom Rande der Welt, um ihre Herrschaft als meykóngr zu verteidigen. Alle vier Beispiele, die zu Beginn der Untersuchung skizziert wurden, beschreiben Begegnungen mit dem Fremden. Während sie in Kapitel 1 nur oberflächlich ausgedeutet werden konnten, haben die Analysen im Hauptteil das notwendige Handwerkszeug bereitgestellt, um sie nun nach differenzierten Kategorien aufzuschlüsseln: Nitida greift auf Mittel der Künste und der Gelehrsamkeit zurück, um ihre problematische gender-Konstruktion als meykóngr zu verteidigen. Herausragende Fähigkeiten und übermütiger Stolz gehen miteinander einher und entfremden sie den Gesetzen der Hofgesellschaft. Sie wird zum sozialen Monstrum, das die bestehende Ordnung bedroht und hinterfragt. Auch Vilmundr steht außerhalb der Gesellschaft, hat seinen Platz in der höfischen Rangordnung noch nicht gefunden. Entsprechend dringt er wie ein Ungeheuer der Außenwelt in die Burg ein; er ist fremd wie ein Troll, weil ihm ein angemessener Platz im sozialen Gefüge fehlt. Eigenes und Fremdes werden in seiner Wahrnehmung der Burg als Berg dabei in ihrer perspektivischen Gebundenheit entlarvt: Für den ‚Naturburschen‘ Vilmundr ist der Hof nicht etwa das Zentrum der Welt, sondern ein Berg, ein peripherer Bestandteil der menschenfeindlichen Wildnis. Die Erscheinungen, die Jarlmannr beobachtet, sind vielgestaltige Repräsentanten des Monströsen, deren groteske Körper als kulturelle Körper gelesen werden wollen. 681 Ende 1984: 12. 10. Schlussbetrachtungen 244 Sie bilden die Fremdartigkeit des heidnischen Königreichs ab, in das der Held sich auf seiner Reise gewagt hat. Victor schließlich erblickt im höfischen Ritter Blávus ein Spiegelbild seiner selbst. Sein Gegenüber ist kein wilder blámaðr, der bezwungen werden muss, sondern ein Repräsentant des Hofes mit einem fremdartigen Äußeren. Das Eigene erkennt sich hier im Fremden wieder, die Spiegelsymmetrie ermöglicht eine fruchtbare Kommunikation und verweist ebenfalls auf die Perspektivgebundenheit der Weltwahrnehmung. All diese Begegnungen mit dem Fremden sind zudem raumsemantisch konnotiert: Victor begegnet Blávus im Wald, also im topischen Außenraum jenseits des Hofes, wo Abenteuer und Gefahren lauern. Die Ungeheuer treten Jarlmannr aus einer Felswand entgegen, überschreiten die Grenze zwischen der Menschenwelt und einem diffusen Jenseitsreich, das im Verborgenen bleibt. Auch Vilmundr ist ein Grenzüberschreiter, dringt er doch vom Außen ins Innen ein, ohne es zu bemerken, da seiner begrenzten Perspektive die nötigen Begrifflichkeiten fehlen. Nitida schließlich muss bis an die äußersten Grenzen der Welt vordringen, um jene Mittel zu besorgen, die ihre soziale Sonderstellung als meykóngr sichern - geographische Marginalität bereitet die soziale Marginalität vor. Die Raumkonstellationen wirken auf den ersten Blick dichotom, wird doch in jedem der geschilderten Fälle mit deutlich erkennbarem Innenraum und Außenraum gearbeitet. Boklunds höfische Raumsemantik scheint sich zu bestätigen. Dieser Eindruck wird jedoch relativiert, wenn man einen näheren Blick auf die Sagas wirft, in die die Begegnungen eingebettet sind: Victor und Blávus treffen im weiteren Verlauf der Handlung auf Brüderpaare von Wikingern und Gestaltwandlern, denen sie im Kampf gegenüberstehen. Sie dienen den Waffenbrüdern als dunkler Zerrspiegel und sind auch untereinander gespiegelt, machen also aus der scheinbar simplen Gegenüberstellung ein komplexes Spiel mit mehreren Spiegelachsen. 682 Jarlmannr betrachtet nicht nur groteske Ungeheuerlichkeiten aus der Außenperspektive, sondern wird selbst bald zu einer hybriden Ungeheuerlichkeit werden, wenn er zum Schein die Verlobung mit dem monströsen Trollweib eingeht, das den Ungeheuern vorsteht - als Steigerung der Hybridität ist sie zudem die Halbschwester des örtlichen Königs. Der Held steht hier dem Monströsen nicht einfach gegenüber, sondern überschreitet die Grenze zu ihm. Vilmundr, der weltfremde Außenseiter, wird sich bald zu einem herausragenden Vorkämpfer des Hofes wandeln; die monströs übersteigerte Kraft, die er aus dem Außenraum mitbringt, wandelt sich zur Stütze des Innenraums. Nitida wechselt ihre soziale Position immer wieder in einem komplexen Ablauf von Intrigen und Gegenintrigen, leiht einmal gar einer einfachen Schweinemagd ihre Gestalt; ihre Stellung erweist sich als uneindeutig und instabil. Die Sagas sollen an dieser Stelle nicht weiter besprochen werden. Die Beispiele dürften jedoch ausreichen, um aufzuzeigen, dass das Fremde sich in den originalen Riddarsögur nicht mit einfachen Binäritäten wie höfisch versus nicht-höfisch fassen lässt. Die Ergebnisse, die 682 Vgl. Lambertus 2009. 10.1 Das Fremde als Erzählgegenstand und Erzählprinzip 245 im Hauptteil in Einzelanalysen gewonnen wurden, lassen sich auch auf andere Texte des Genres übertragen. Das Fremde ist ein zentrales Erzählthema der originalen Riddarasögur und kann die Gestalt zahlloser Motive vom tumben Riesen bis hin zur sozial entfremdeten Königin annehmen. Zugleich ist die Technik der Verfremdung auch ein zentrales Erzählprinzip der Gattung. Zu Beginn wird eine einfache, durchschaubare Welt präsentiert, deren Zentrum der ideale Hof des heldenhaften Königssohnes ist. Diese Welt wird durch ein Eindringen des Fremden von außen erschüttert, etwa durch den angreifenden Flugdrachen in der Valdimars saga, so dass die Fronten für das sich entwickelnde Geschehen klar zu sein scheinen: Innen gegen Außen, Hof gegen Wildnis, Eigen gegen Fremd. Diese Erwartungshaltung auf kunstvolle Art und Weise zu enttäuschen, macht den erzählerischen Reiz der originalen Riddarasögur aus. Sie versprechen eine Schema-Welt nach einfachen Regeln und durchbrechen die selbstgestellten Regeln mit einer Vielzahl von hybriden Grauzonen-Konstellationen, bis die erzählte Welt am Ende zu einem hochkomplexen Gebilde geworden ist, das sich solcher simplen Kategorisierung entzieht. In dieser Hinsicht sind die Sagas selbstreflexiv - sie entwerfen ein simplifizierendes Weltbild und problematisieren es immer wieder in den Wirrungen ihrer Handlung, bis der Held endlich seine finale Position in einer oft hybriden Konstellation gefunden hat. Dabei werden verschiedene Ebenen des Fremden gerne übereinander projiziert: Wer die soziale gender-Ordnung verletzt, nimmt zugleich auch monströse Züge an. Wer in weiter räumlicher Ferne lebt, kann der Vertreter eines grotesk anti-höfischen Sozialsystems sein. Wer sich dem Hof entfremdet, kann zur nicht-menschlichen Bestie werden. Die genaue Art und Weise, wie und auf welchen Ebenen das Fremde zum Tragen kommt, ist dabei der Gestaltung der individuellen Sagas überlassen. Es gibt keine gattungsumfassende ‚Poetik des Fremden‘, wohl aber ein dominierendes Erzählprinzip der spielerischen Verfremdung, das in zahlreichen Varianten auftreten kann. Das Fremde präsentiert sich dabei stets als Bruch eines bestehenden Systems und Problematisierung bestehender Kategorien im Sinne Waldenfels’. Die unzähligen Grauzonen, die durch seine beständigen Grenzüberschreitungen entstehen, lassen sich mit dem Terminus der Hybridität nach Bhabha beschreiben. Die originalen Riddarasögur folgen den Schemata der höfischen Erzählwelt und verwerfen sie zugleich. Der ritterliche Held erweist sich auf seiner Reise als Vorkämpfer der Ordnung und kann ein Happy End an einem stabilisierten Hof garantieren, doch ist diese Ordnung keineswegs eine klare Dichotomie zwischen Eigenem und Fremdem, sondern ein dynamisches Kontinuum verschiedener Einflüsse. Der Hof büßt seine Absolutheit als unumstößliches Zentrum der Erzählwelt ein, die transportierte Weltsicht ist eher post-höfisch relativierend als höfisch im klassischen Sinne. 10. Schlussbetrachtungen 246 10.2 Die vielen Gesichter des Fremden Die vorliegende Untersuchung hat ergeben, dass sich auf den verschiedenen Betrachtungsebenen unterschiedliche Strategien der narrativen Gestaltung und Funktionalisierung des Fremden ausmachen lassen. Sie sollen im Folgenden noch einmal systematisch zusammengefasst werden, bevor dann die Frage nach dem Lebenskontext einer solchen ‚Literatur des Fremden‘ im spätmittelalterlichen Island gestellt werden wird. Auf der Ebene der räumlichen Darstellung des (fernen) Fremden besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der topologischen Polarisierung in absolute Räume wie Hof und Wildnis einerseits und einer relativen Geographie andererseits. Diese Geographie folgt der Tradition der klassischen lateinischen Kosmographie und reichert die Sagas mit allerlei Eigennamen an, die aus der altnordischen Länderkunde bekannt sind. Der Grad der Fremdheit, der imagologisch mit einem bestimmten Land verbunden ist, steht dabei chiffreartig für die Entfernung des reisenden Helden vom Eigenen, wobei die Abfolge der Länder mit Vorliebe klimaktisch aufgebaut ist. Konkrete geographische Bezeichnungen sind mit vagen Topoi wie ‚im Wald‘ verwoben, konkrete und unkonkrete Räume gehen fließend ineinander über. Die Folge ist eine Vielzahl von hybriden Grauzonen- und Grenzräumen, wo das Fremde in vielfältiger Form zu Hause ist. Bei der Darstellung des monströsen Fremden kommt es zur Durchmischung scheinbar klarer Erzählkategorien wie Held und monströser Widersacher. Der Held kann zu einem hybriden Geschöpf werden, indem er sich etwa mit Riesen einlässt und z. T. ihre Natur annimmt. Umgekehrt treten auch die grotesken Repräsentanten des Fremden häufig als hybride Erscheinungen auf, die immer wieder Grenzen überschreiten und in Frage stellen. Monster agieren im Cohenschen Sinne als Durchbrecher fest gefügter Kategorien und dominieren vielfach die Handlung. Sie machen auf die Arbitrarität kultureller Normen aufmerksam und enthüllen die Wahrnehmung des Fremden als eine Frage des perspektivischen Standpunkts. Die soziale Dimension des Fremden kommt vor allem dann zum Tragen, wenn die Grenzen eines sozialen Standes überschritten werden und etwa ein Königssohn bei Bauern aufwächst oder eine trollische Magd ihren adligen Herrn verflucht. Wer sich innerhalb eines festen Sozialsystems in eine Kategorie begibt, die ihm nicht angemessen ist, stellt sich außerhalb seiner Grenzen und macht sich zu einem Fremden. Der soziale Stand stellt jedoch nicht nur eine Grenze dar, sondern zugleich ein verbindendes Spektrum des Eigenen - der reisende Sagaheld wird auch in fernsten Weltregionen sofort unter seine adligen Standesgenossen integriert. Konstellationen wie ein monströser Hof von Trollen am Ende der Welt zeigen, dass auch soziale Kategorien dabei einem hybridisierendem Spiel unterworfen werden können. Durchbrochene Kategorien von gender-Konzepten gehen in der narrativen Darstellung der Sagas in der Regel ebenfalls mit Topoi aus der Ebene des Monströsen einher. So ist etwa ein offensives Sexualverhalten ein Attribut fremdartiger Trollfrauen, und auch ein menschlicher meykóngr kann zum Monstrum stilisiert erschei- 10.3 Funktionen des Fremden 247 nen. Gleichzeitig berühren solche Konstellationen die Entfremdung auf der sozialen Ebene, wird doch ein meykóngr auch dadurch zu einem Fremden, dass er die Grenzen seiner angestammten sozialen Funktion durchbricht. Dass jedoch der Held zum Monster werden muss, um den meykóngr in seine angestammte gender-Rolle zu reintegrieren, macht diese einseitige Zuschreibung zweifelhaft und lässt die Werte des Hofes in einem bedenklichen Licht erscheinen - auch hier entzieht sich die erzählte Welt der originalen Riddarasögur einer klaren Polarisierung. Mächtiger als Schwert und Speer ist das Wissen des Helden für die Bewältigung des Fremden. Wo die erzählte Welt der Saga kosmographischen Traditionen folgt, lässt sich das Fremde zuweilen auf ein bloßes Anderes reduzieren, dass seinen festen Platz an den Marginalien einer geschlossenen Welt hat, etwa im Falle der klassischen Wundervölker. Dennoch ist auch in solchen Kontexten das Fremde keineswegs seiner verstörenden Wirkmächtigkeit beraubt: Sobald es von den Marginalien ins Zentrum vordringt, wird es zu einem relationalen Fremden, das die bestehende Ordnung bedroht und an seinen angestammten Platz verwiesen werden muss. Umgekehrt wird der Held zurückgedrängt und muss seine Bewegungsrichtung hin zum Zentrum ändern, wenn er sich zu weit an die Ränder der Welt hinauswagt, wo das unzugängliche Fremde verortet ist. Vielfach treten in den originalen Riddarasögur Konstellationen auf, in denen das Fremde als gespiegelter Widerpart des Eigenen agiert. Dann entzieht es sich einer Bekämpfung durch herkömmliche Mittel, käme doch seine Vernichtung einer Selbstvernichtung gleich. Eine solche symmetrische Spiegelung kann auf jeder der besprochenen Ebenen des Fremden stattfinden. Auf die Spitze getrieben wird eine solche Spiegelung, wenn mehr als ein höfisches Zentrum existiert, mit dessen Perfektion ein Absolutheitsanspruch verbunden ist, der kein weiteres Zentrum dulden kann. Zur Auflösung des Konflikts ist die Anerkennung der hybriden Konstellation notwenig, dass Fremdes sich im Eigenen ebenso findet wie Eigenes im Fremden. 10.3 Funktionen des Fremden Angesichts einer solchen Fülle von Motiven des Fremden und verfremdenden Erzählelementen stellt sich zwangsläufig die Frage, was dieser Befund für den ‚Sitz im Leben‘ der originalen Riddarasögur im spätmittelalterlichen Island bedeutet. Hierbei lassen sich drei wesentliche Betrachtungsebenen unterscheiden: das Fremde als literarisches Spiel und Experiment, die Konfrontation mit dem Fremden als Medium der Weltbewältigung angesichts kolonialer Erfahrungen sowie das Fremde als potentieller (Zerr-)Spiegel der sozialen Situation des Rezipienten. Die drei Aspekte sollen im Folgenden näher ausgeführt werden. 10.3.1 Literarisches Spiel und die Lizenzen der Marginalie Die originalen Riddarasögur sind eine Gattung des freien, imaginativen Spiels und des erzählerischen Experiments. Diese spielerische Tendenz der originalen Riddara- 10. Schlussbetrachtungen 248 sögur wurde gelegentlich schon in der Forschung erwähnt, so etwa bei Schlauch, die die Victors saga ok Blávus in der Tradition literarischer Parodien sieht, 683 oder bei Barnes, die konstatiert, dass the riddarasögur offer both an Icelandic reading of monarchal power, with ludic overtones, and a sophisticated reading of chivalric romance which provides its audience with wish-fulfilment and surface glamour but simultaneously encodes an underlying critique of the conventions of the genre. 684 Die Sagas gewinnen ihren besonderen Reiz dadurch, dass sie auf einen Baukasten vertrauter Motive und Erzählschemata zurückgreifen, diese begrenzten Vorgaben jedoch durch kühne Neukombination und Umdeutungen ad infinitum ausweiten. Der Rezipient ist einerseits in der Erzählwelt zu Hause, deren charakteristischen Motive und Gestalten er schon aus anderen Texten des Genres kennt, wird aber andererseits bei jeder unbekannten Riddarasaga aufs Neue überrascht, in welcher Form die Vorgaben diesmal verfremdet und ausgeweitet werden. In diesem Kontext sei an die besonderen erzählerischen Lizenzen erinnert, die die Ansiedlung der Handlung an den Marginalien der Welt mit sich bringt: 685 Wenn es darum geht, die Geschicke fiktiver Helden und Monster in weiter Ferne zu erzählen, kann der Erzähler bei der Gestaltung der Geschichte auf eine erstaunliche Gestaltungsfreiheit zurückgreifen. Er ist nicht an die autoritative Überlieferung über die heimischen Könige oder die mächtigen Familien Islands gebunden, sondern kann nach Belieben aus allen Traditionen schöpfen, um einen neuen Text zu kreieren. Die Lizenz der Ferne ermöglicht es, das Ungeheure literarisch-experimentell auszukosten und sich zugleich im wortwörtlichen Sinne davon zu distanzieren. Der Schöpfer einer originalen Riddarasaga besitzt somit ähnliche ‚künstlerische Freiheiten‘, wie der Steinmetz, der einen grotesken Gargoyl erschafft - was fern vom Zentrum ist, darf den Kanon spielerisch in Frage stellen, ohne dass es zu Sanktionen kommen muss. Der Erzählgegenstand des extravaganten Fremden erweist sich so als machtvolle erzählerische Legitimation für freies Spiel und subversives Hinterfragen von Konventionen. 686 10.3.2 Koloniale Erfahrungen und die Bewältigung einer uneindeutigen Welt Es hat sich gezeigt, dass Konstellationen von hybrider Uneindeutigkeit und inbetween spaces zwischen scheinbar eindeutigen topologischen Positionen konstitutiv für die narrative Gestaltung der originalen Riddarasögur sind. Der Nährboden, aus dem diese theoretischen Konzepte hervorgegangen sind, ist die Auseinandersetzung 683 Vgl. Schlauch 1976. 684 Barnes 2000: 283. 685 Siehe S. 126-127. 686 Diese Freiheiten sind natürlich dann zurückgenommen, sobald sich eine Saga stark an der Autorität der gelehrten Überlieferung orientiert. Doch selbst in diesem Rahmen sind durch die freie Kombination der überlieferten Elemente durchaus spielerisch-experimentelle Konstellationen möglich. 10.3 Funktionen des Fremden 249 mit kolonialen Machtdiskursen in den Postcolonial Studies. Es stellt sich die Frage, inwiefern der kulturelle Hintergrund der originalen Riddarasögur Momente aufweist, die man als ‚koloniale Erfahrungen‘ im weitesten Sinne deuten könnte. Zunächst einmal stellt natürlich Island per se einen prädestinierten Hintergrund für koloniale Konzepte dar, ist man sich in den literarischen Diskursen der Insel doch nur zu bewusst, dass die Landnahme von Norwegen aus noch nicht allzu lange zurückliegt. Aspekte wie Mobilität, Entdeckungen, Aneignung fremder Länder und Interaktion mit der nicht-skandinavischen Bevölkerung durchziehen die komplette Sagaliteratur - man denke nur an die Vínland-Fahrten, die Eroberung einzelner Teile Irlands und Schottlands oder die Etablierung der Siedlungen auf Grönland. Dieser in der literarischen Tradition verwurzelte historische Hintergrund mag einer der Gründe dafür sein, dass die Bewältigung einer fremdartigen Welt sich als zentrales Erzählthema der orginalen Ridddarasögur etablieren konnte. Zudem ist auch zu bedenken, dass gerade das Spätmittelalter seit dem Ende des Freistaats 1262/ 64 sich als Epoche verstärkter Einflussnahme von außen auf Island darstellt - zum einen durch die Oberherrschaft des norwegischen Königs, zum anderen aber auch durch den zunehmenden wirtschaftlichen Einfluss Englands. Die Rezipienten der originalen Riddarasögur, die sich ja aus der oligarchischen Elite dieser Zeit zusammensetzen, sind dazu prädestiniert, die kolonialen Implikationen einer solchen Konstellation zu reflektieren, stehen sie doch als ‚Funktionäre‘ der norwegischen Krone oder Magnaten im Fischhandel genau an der Schwelle der Kontakte nach außen. Als globaler Hintergrund der Gattung ist schließlich noch zu bedenken, dass Europa sich im Spätmittelalter verstärkt für die Welt jenseits der eigenen westlichenchristlichen Semiosphäre zu öffnen beginnt. Hierbei stellt natürlich die Entdeckung der Neuen Welt Ende des 15. Jahrhunderts ein Zentralereignis dar, ebenso wie die Erschließung des östlichen Handelsweges nach Indien, um nur die populärsten Punkte zu nennen. Die hier untersuchten Riddarasögur liegen historisch zu früh, um als Reaktion auf solche Veränderungen im Weltbild gedeutet zu werden, aber möglicherweise lässt sich die fortdauernde Produktivität der Gattung bis weit in die Neuzeit hinein u. a. darauf zurückführen, dass die Sagas fruchtbare Muster für die Deutung und Bewältigung einer größer gewordenen Welt liefern. Wenn den originalen Riddarasögur also auch kein ‚kolonialer‘ Diskurs im modernen Wortsinne zugrunde liegt, lassen sich in ihrem historischen Hintergrund und im literarischen Milieu ihrer Entstehungszeit doch genügend Aspekte finden, die eine literarische Verarbeitung mit ähnlich hybriden Darstellungsmustern bedingen können. 10.3.3 Ein Spiegel des Rezipienten Im Kapitel über die sozialen Dimensionen des Fremden wurde gesagt, dass mittelalterliche Literatur nicht als Selbstzweck betrachtet werden darf, sondern stets im Kontext ihres Sitzes im Leben zu sehen ist, der für gewöhnlich den Interessen von Auftraggebern und Zielpublikum entspricht. Im Schlusskapitel seiner Märchensaga- 10. Schlussbetrachtungen 250 Monographie fasst Glauser die soziale Funktion der originalen Riddarasögur prägnant zusammen als »Literatur für Ritter, vor allem aber für solche, die es gerne geworden wären.« 687 Hiermit ist gemeint, dass die Sagas als aristokratische Selbst darstellung einer Oberschicht gedient haben, die im höfischen Prunk der Ritter dichtung eine »feudale Utopie« 688 gesehen hat, selber aber eigentlich nicht im engeren Sinne zum ritterlichen Kleinadel gezählt werden kann. Wie schon ausgeführt worden ist, gehörten die Rezipienten der Texte vermutlich einer heterogenen Elite aus Großbauernfamilien, Kleinaristokratie und Fischereiunternehmern an. Diese dünne Schicht erhielt ihre Macht nicht unproblematisch, sondern war häufig in harte und verlustreiche Kämpfe um ihre Vorrechte verstrickt. In diesem Umstand sieht Glauser das besondere ‚utopische‘ Potential der originalen Riddarasögur: In der Märchensaga ließ sich die Welt überschauen, konnten Konflikte gelöst werden, war das glückliche Ende vorprogrammiert, während die faktischen sozialen und politischen Widersprüche wohl oft genug die Form chaotischer und undurchschaubarer Ereignisse annahmen. 689 Wie die vorliegende Analyse gezeigt hat, sind Verfremdung und Uneindeutigkeit ein Merkmal der originalen Riddarasögur. In diesem Umstand liegt der Schlüssel zum Verständnis ihrer sozialen Situierung: Die Sagas reflektieren die Situation einer quasi-aristokratischen Elite, die sich nur zu bewusst ist, dass ihre oligarchische Vormachtstellung nicht etwa statisch und gottgegeben ist, sondern erst vor Kurzem errungen wurde und jederzeit wieder verlorengehen kann. Die Helden der originalen Riddarasögur sind zwar Hochadlige von Geburt und somit ideale Projektionsfiguren für das Bedürfnis nach Prunk und Selbstdarstellung, aber sie sind vor allem auch Aufsteiger, die sich in einer fremdartigen Welt bewähren müssen. Sie übernehmen ihr Königtum und ihre standesgemäße Braut nicht unproblematisch, sondern müssen sich die stabile Machtstellung, die sie am Ende einnehmen, hart erkämpfen. Dabei agieren sie nicht einseitig als Vertreter des Hofes, die sich einer fremden Außenwelt erwehren müssen. Stattdessen gehen sie verschiedenste Interaktionen und Allianzen mit dieser Außenwelt ein, nützen die Macht ihrer Verbündeten geschickt und finden durch eine Mischung aus Kampfkraft und Findigkeit schließlich eine Möglichkeit, sich in der Dynamik der Welt zu behaupten. Die Helden der originalen Riddarasögur stellen Aktualisierungen des höfischen Heldentypus nach den speziellen Bedürfnissen der isländischen Oberschicht im Spätmittelalter dar. Sie folgen oberflächlich den Idealen des Hofes und verteidigen sie gegen eine nicht-höfische Außenwelt, sind jedoch eigentlich geprägt von einem Ideal des tüchtigen Zupackens und Ergreifens von günstigen Gelegenheiten. 690 Sie sind Meister der Weltbewältigung im höfischen Gewande und verbinden so die 687 Glauser 1983: 233. 688 Ebd. 689 Glauser 1983: 230. 690 In eine ähnliche Richtung weist auch Kalinkes Charakterisierung des Riddarasaga-Helden als »a pragmatist with an intuitiv grasp of the means - now intellectual, now physical - most appropriate for attaining an end.« Kalinke 1983: 854. 10.4 Ausblick 251 Aspekte der aristokratischen Selbstdarstellung, der unterhaltsamen Abenteuerliteratur und der Selbstreflexion der eigenen Situation der Rezipienten miteinander. Der zentrale Aspekt des Fremden hat hierbei die Funktion, die Vielgestaltigkeit und Uneindeutigkeit der Erzählwelt auf den verschiedenen Betrachtungsebenen zu gewährleisten. Nur dadurch, dass der Held unterschiedliche Möglichkeiten der Bewältigung für unterschiedliche Situationen des Fremden findet, kann er seine Tüchtigkeit beweisen. Es geht nicht darum, eine ideal geordnete Welt darzustellen, sondern darum, verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen, in einer ungeordneten Welt trotz aller Widrigkeiten einen angemessenen Platz (nämlich an der aristokratischen Spitze der Gesellschaft) zu erkämpfen. 10.4 Ausblick »The sagas [=die originalen Riddarasögur] are a fantastic web of narrative from many sources. No study of the present proportions could unravel the entire skein of incident, and countless features in these and other sagas await an explanation.« 691 So äußert sich Erik Wahlgren 1938 über die Ergebnisse seiner Analyse zum meykóngr in den originalen Riddarasögur. Heute, mehr als 70 Jahre nach dem Erscheinen von Wahlgrens Dissertation, bleibt dem wenig hinzuzufügen. Die originalen Riddarasögur haben nicht nur ihre Faszination bewahrt, sondern auch den größten Teil ihres Geheimnisses. Unzählige Aspekte der Gattung warten auf ihre Erforschung, gar nicht zu reden von Detailstudien zu einzelnen Sagas oder jenem immensen Corpus jüngerer Texte, die bislang noch unediert sind. Die vorliegende Studie hat es sich zum Ziel gesetzt, dem Netz des Verständnisses, das über den Texten liegt, die eine oder andere neue Verknüpfung hinzuzufügen. Die Gattung der originalen Riddarasögur stellt mit ihrer Fülle an extravagant verwobenen Stoffen der verschiedensten Provenienz und ihrer Vorliebe für das experimentelle Spiel zweifellos ein besonderes Faszinosum dar, bei dem noch viele weitere Verknüpfungen auf ihre Entdeckung warten. Möge diese Arbeit dazu anregen, dass an dem Netz auch zukünftig weitergeknüpft wird. Daneben wäre auch zu überlegen, ob die Perspektive des Fremden auf die originalen Riddarasögur beschränkt bleiben muss. Wenn auch andere Gattungen weitaus weniger eklektisch im bunten Spiel der Traditionen und Motive sind, dürften sich dennoch überall weitere Konstellationen von Verfremdung und Uneindeutigkeit finden. Im engeren Sinne ist hierbei an Studien zu übersetzten Riddarasögur und Fornaldarsögur gedacht - bei Letzteren wäre insbesondere interessant, inwiefern die Komponente der ‚Vorzeit‘ auch eine temporale Komponente der Verfremdung mit sich bringt. Aber auch Isländersagas, Königssagas, Heiligenviten und zahllose weitere Texte mehr enthalten Momente des Fremden, die einer näheren Untersuchung wert sind. So wäre etwa zu prüfen, inwiefern fremdartige Elemente wie das Auftreten von draugar oder das Wirken zauberkundiger Menschen konstitutiv für die Erzähl- 691 Wahlgren 1938: 60. 10. Schlussbetrachtungen 252 welt der Isländersagas sind, deren ‚Realismus‘ die ältere Forschung ja ausführlich gepriesen hat. Auch wäre es gewiss aufschlussreich, näher zu untersuchen, inwiefern der Einfluss fremder Völkerschaften sich auf den Machtdiskurs der Königssagas auswirkt - man denke hierbei nur an Figuren wie Harald Schönhaars samische Frau Snäfrid. In den Heiligenviten schließlich wäre nicht nur interessant zu verfolgen, wie das oft fremdländische Milieu der Texte rezipiert wird, sondern zudem auch zu untersuchen, welche Erzählmomente des Fremden bei der Begegnung mit dem Jenseitigen wie Teufelserscheinungen oder göttliche Visionen aktiviert werden. Darüber hinaus wäre es zudem lohnenswert, die Beschäftigung mit dem Fremden aus einer komparatistischen Perspektive anzugehen. Hierzu bietet sich etwa ein Vergleich der originalen Riddarasögur mit jüngeren höfischen Erzählgattungen aus anderen Kulturkreisen an, z. B. den mittelhochdeutschen nachklassischen Artusromanen oder manchen parodistisch angelegten Texten aus der englischen oder französischen Literatur. Es stellt sich die Frage, ob sich gewisse Muster ‚post-höfischen‘ Erzählens ausmachen lassen, die mit dem Ansatz der originalen Riddarasögur vergleichbar sind bzw. sich aufschlussreich von ihm angrenzen lassen. Auch hierzu möge die vorliegende Studie als Anregung dienen. Das Fremde lauert überall, selbst dort, wo sich das Eigene am meisten zu Hause fühlt. Es dient als Spiegel und Zerrspiegel, der den Rezipienten immer wieder auf sich selbst zurückwirft und zur Reflexion herausfordert. Vielleicht können wir im Spiegel der originalen Riddarasögur nicht nur uns selbst erkennen, sondern auch schemenhafte Reflexe jener Menschen, die einst als Erste in diesen Spiegel schauen durften. Dann schaut uns über die Jahrhunderte hinweg ein Fremdes entgegen, das im Kern unser Eigenes ist. 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Herausgegeben von Jürg Glauser und Hans-Peter Naumann. 2001, 638 Seiten Band 32 Jürg Glauser / Barbara Sabel (Hrsg.): Skandinavische Literaturen in der frühen Neuzeit. 2002, 350 Seiten Band 33 Susanne Kramarz-Bein: Die Þiðreks saga im Kontext der altnorwegischen Literatur. 2002, 396 Seiten Band 34 Astrid Surmatz: Pippi Långstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext. 2005, 618 Seiten Band 35 Iris Ridder: Der schwedische Markolf. Studien zu Tradition und Funktion der frühen schwedischen Markolfüberlieferung. 2002, 276 Seiten Band 36 Barbara Sabel: Der kontingente Text. Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit. 2003, 171 Seiten Band 37 Verschränkung der Kulturen. Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern. Zum 65. Geburtstag von Hans-Peter Naumann herausgegeben von Oskar Bandle, Jürg Glauser und Stefanie Würth. 2004, 582 Seiten Band 38 Silvia Müller: Schwedische Privatprosa 1650-1710. Sprach- und Textmuster von Frauen und Männern im Vergleich. 2005, 370 Seiten Band 39 Klaus Müller-Wille: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist. 2005, XII, 510 Seiten Band 40 Jürg Glauser (Hrsg.): Balladen-Stimmen. Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen. 2012, 195 Seiten Band 41 Anna Katharina Richter: Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. 2009, X, 327 Seiten Band 42 Jürg Glauser / Anna Katharina Richter (Hrsg.): Text - Reihe - Transmission. Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800. 2012, 319 Seiten Band 43 Lena Rohrbach: Der tierische Blick. Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur. 2009, XII, 382 Seiten Band 44 Andrea Hesse: Zur Grammatikalisierung der Pseudokoordination im Norwegischen und in den anderen skandinavischen Sprachen. 2009, 254 Seiten Band 45 Jürg Glauser / Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.): Rittersagas. Übersetzung, Überlieferung, Transmission. 2013, ca. 270 Seiten Band 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.): Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne. 2009, 241 Seiten Band 47 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. Reprint der Erstauflage mit einer Einführung von Kurt Braunmüller. 2011, XXV + 117 Seiten und 23 Karten Band 48 Simone Ochsner Goldschmidt: Wissensspuren. Generierung, Ordnung und Inszenierung von Wissen in Erik Pontoppidans Norges naturlige Historie 1752/ 53. 2012, 296 Seiten Band 49 Frederike Felcht: Grenzüberschreitende Geschichten. H.C. Andersens Texte aus globaler Perspektive. 2013, 312 Seiten Band 50 Thomas Seiler (Hrsg.): Wildgänse und Windmühlen. Aspekte skandinavisch-iber(oamerikan)ischer Kulturbeziehungen. 2013 Band 51 Klaus Müller-Wille/ Joachim Schiedermair (Hrsg.): Wechselkurse des Vertrauens. Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus. 2013, XXVII + 217 Seiten Band 52 Hendrik Lambertus: Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern. Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur. 2013, 260 Seiten In den originalen Riddarasögur, die sich im spätmittelalterlichen Island großer Beliebtheit erfreuten, erleben reisende Ritter Abenteuer in exotischer Ferne. Sie kämpfen gegen Ungeheuer, treten in Wettstreit mit selbstbewussten Mädchenkönigen und kommen auf ihren Reisen bis nach Indien oder Afrika. Immer wieder stehen dabei Begegnungen mit dem Fremden im Vordergrund - mal als monströser Herausforderer, mal als (Zerr-)Spiegel des ritterlichen Helden. Der vorliegende Band untersucht solche Begegnung narratologisch auf verschiedenen Ebenen, von der räumlichen Situierung über Aspekte des Monströsen bis hin zur Dekonstruktion von Gender-Konventionen. Dabei wird deutlich, dass die Grenzen zwischen Held und Monster nur scheinbar klar gezogen sind. Ein Königssohn kann zum bestialischen Werwolf werden oder eine ,unzüchtige‘ Trollfrau sich als Helferin des Helden erweisen. Es entstehen Grauzonen und Uneindeutigkeiten, die den Leser herausfordern und unter der Oberfläche der ritterlichen Abenteuerwelt die stets aktuelle Frage nach der Identität von Eigenem und Fremdem aufwerfen.