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Grenzüberschreitende Geschichten

2013
978-3-7720-5487-7
A. Francke Verlag 
Frederike Felcht

Ein Porzellanchinese, eine Zigarre, das Transatlantikkabel - solchen Dingen widmen H. C. Andersens Texte ihre Aufmerksamkeit. Den Dingen ist gemeinsam, dass sie Teil eines Netzwerks sind, in dem uns das Nächste mit dem Fernsten verbindet. Zugleich sind diese Texte selbst Teil der globalen Warenzirkulation, die sie beschreiben. Deshalb erzählt "Grenzüberschreitende Geschichten" in den Spuren der Texte eine Geschichte der Globalisierung. Mit der weltweiten Warenzirkulation verändern sich auch die Verhaltensweisen und Selbstbilder der Konsumenten: Die Macht der Dinge wächst. Globalisierungsund dingtheoretische Ansätze werden zur Analyse dieser Prozesse mit Überlegungen der Kritischen Theorie verbunden. So wird eine bislang weitgehend unbemerkt gebliebene, aktuelle Dimension von Andersens Märchen und Geschichten, Autobiographien und Reisebüchern sichtbar.

A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 49 Frederike Felcht Grenzüberschreitende Geschichten H. C. Andersens Texte aus globaler Perspektive Grenzüberschreitende Geschichten Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Oskar Bandle †, Jürg Glauser, Silvia Müller, Klaus Müller-Wille, Hans-Peter Naumann, Barbara Sabel, Thomas Seiler Beirat: Michael Barnes, François-Xavier Dillmann, Stefanie Gropper, Annegret Heitmann, Andreas G. Lombnæs Band 49 · 2013 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL Frederike Felcht Grenzüberschreitende Geschichten H. C. Andersens Texte aus globaler Perspektive Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die vorliegende Arbeit wurde 2011 von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim als Dissertation angenommen. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Christina Gehrlein, Frederike Felcht Druck und Bindung: Printed in Germany ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8487-4 Titelbild: Scherenschnitt von H. C. Andersen (Ballon mit zwei Männern in der Gondel, Eichenblatt und Schwan mit Tänzerin). Quelle: Odense City Museums Hubert & Co., Göttingen Dank Dass ich meinen Dank nur in dürre Worte kleiden kann, möge man verzeihen. Er ist im Ausdruck spärlich, aber desto reicher empfunden. Diese Arbeit durfte von den wertvollen Ratschlägen, der Kritik und Unterstützung meiner Betreuer Uwe Steiner und Heinrich Anz profitieren. Karin Hirdina, Jörn Ahrens, Helge Høibraaten und Holger Brohm haben mich dazu ermutigt, diesen Weg zu gehen und bei den so wichtigen ersten Schritten in die Wissenschaft mit Rat und Tat unterstützt. Pil Dahlerup, Lasse Horne Kjældgaard, Johan de Mylius und Solveig Brunholm haben meine Forschungsaufenthalte in Dänemark mit Hilfsbereitschaft, Interesse und Anregungen begleitet. Die Bibliothekarinnen und Bibliothekare der Kongelige Bibliotek und der Syddansk Universitet Odense haben meinen Bücherhunger mit großer Freundlichkeit gestillt. Die Kollegiatinnen und Kollegiaten des Promotionskollegs „Formations of the Global“ haben zum Erfolg des Projekts durch spannende Diskussionen und gemeinsame Zerstreuung beigetragen. Christina Gehrlein (die auch die Mühe auf sich genommen hat, das Manuskript zu lesen), Florentina Hausknotz und Anja Peltzer haben Wissenschaft zum Vergnügen gemacht. Dank Flora Coco und Diana Westermann wurde Mannheim zur zweiten Heimat. Ohne die Liebe und Unterstützung meiner Familie wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. All diesen Menschen bin ich zutiefst dankbar. Dank schulde ich auch der Landesgraduiertenförderung, der Georg Brandes Skole und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, die dieses Forschungsvorhaben durch Stipendien gefördert haben, sowie der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften für die großzügige Unterstützung bei den Druckkosten. Inhalt 1 Einleitung ............................................................................................................ 11 1.1 Anlauf: Globalisierung und Erzählen .................................................................... 11 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung ................................ 19 1.3 Die Konstruktion des Sozialen ................................................................................ 37 1.3.1 Quasi-Objekte ............................................................................................................ 37 1.3.2 Das Soziale als Kollektiv, Dinge als Aktanten ...................................................... 38 1.3.3 Dingprosa. Andersens wunderbare Dingwelten ................................................. 43 1.3.4 Dinge in H. C. Andersens Eventyr og Historier - ein Forschungsüberblick ... 50 1.3.5 Andersen und die Moderne: Dingtheoretische Perspektiven .......................... 65 1.3.6 Netzwerke .................................................................................................................... 75 Exkurs: Autorschaft ..................................................................................................... 79 2 Text-Räume ......................................................................................................... 84 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen .......................................................................... 85 2.1.1 „In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit.“ Interieurs ............ 85 2.1.2 „eine gigantische Rhetorik des Exzesses an Verschwendung und Produktion.“ Kopenhagen zwischen Vergnügen und Politik ........................... 93 2.2 Topographien von Netzwerken ............................................................................ 115 2.2.1 Reisen durch Weltstädte ......................................................................................... 115 2.2.2 (Ver-)Dichtung von Raum und Zeit: Lißt .......................................................... 122 2.2.3 Afrika und das Netz der Dinge .............................................................................. 130 2.3 Text-Netzwerke ........................................................................................................ 133 2.3.1 Netzwerken. Zur agency von Texten in Mit Livs Eventyr ................................. 133 2.3.2 Übersetzungen, Rezensionen, Publikum: Navigieren im world literary space ......................................................................... 144 Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa ........................... 159 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive ................................. 170 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren ............................................... 173 3.1.1 Aufstieg der Ordnung: Reichtum, Revolution, Exklusion .............................. 173 3.1.2 Sündenfälle? Emanzipation und Prostitution .................................................... 191 3.1.3 Warenproduktion, Mensch-Maschinen .............................................................. 201 3.2 Zeiten der Globalisierung ...................................................................................... 213 3.2.1 Dynamik der Dingwelt: Neuigkeit und Beschleunigung ................................. 213 3.2.2 „lavet, klistret, tegnet“: Geschichte(n) erzählen ............................................... 225 3.2.3 Dauer im Wandel: Reproduktion und Warenzirkulation ............................... 230 Inhalt 8 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen ............................. 239 3.3.1 Begrenzungen, Abgrenzungen I: Interieurs ....................................................... 239 3.3.2 Verbindungen I: Globale Warenwelten .............................................................. 249 3.3.3 Begrenzungen, Abgrenzungen II: Die Konstruktion der Nation .................. 260 3.3.4 Verbindungen II: Infrastrukturen ......................................................................... 266 4 Fazit ..................................................................................................................... 277 5 Literatur ............................................................................................................. 284 Vorwort Betrachtungen von Literatur, die vom Kleinen zum Großen gelangen, haben in Dänemark Tradition. Schon Georg Brandes’ Essay über „Det uendeligt Smaa“ og „det uendeligt Store“ i Poesien („Das unendlich Kleine“ und „das unendlich Große“ in der Poesie) (1869) würdigte das Detail. Ein kleiner Finger, der in einem Drama von Shakespeare erwähnt wird, ist darin der Ausgangspunkt für einen länderübergreifenden Literaturvergleich. 1 Die vorliegende Arbeit beginnt mit etwas, das noch unscheinbarer ist - einem Wurstspeiler -, und hat ein noch größeres Ziel: Sie verfolgt die Transformation eines bereits länger bestehenden europäischen Literaturraumes zu einem sich globalisierenden Netzwerk, das durch Übersetzungen und die Warenform seine Produkte vermittelt wird. Mit der Struktur dieses Netzwerks gerät auch die Entstehung von Nationalliteraturen in ihrem transnationalen Zusammenhang in den Blick. Obwohl diese Arbeit oft beim Detail verweilt, stellt sie große Fragen. Die Transnationalisierung von Literatur wird als Geschichte von Texten im doppelten Sinne betrachtet: Welche Geschichte haben die Texte und welche Geschichten erzählen sie? Diese Ebenen sind miteinander verwoben. Ihre Analyse wird von zwei Fragen geleitet: Inwiefern lassen sich in Andersens Texte Alternativen zu einem eurozentrischen Konzept von Subjektivität entdecken? Wie verhalten die Texte sich zu dem Wandel von Raum und Zeit, den Globalisierungsprozesse bewirken? Für ihre Beantwortung hat sich die Untersuchung kleiner Formen, insbesondere der Eventyr og Historier (Märchen und Geschichten), als besonders hilfreich erwiesen. Das hängt mit ihrem Verhältnis zu den Dingen zusammen, das für die hier vorgestellten Überlegungen von großer Bedeutung ist. Globale Perspektiven kann es nur in der Mehrzahl geben. Theorien mit universalem Geltungsanspruch und einem behaupteten Überblick über das Ganze vergessen, sich die Beschränkungen des eigenen Wissenshorizontes zu vergegenwärtigen, deren Erkenntnis gerade die Chance ist, die globales Schauen bietet. Der hier vorgestellte Blick entsteht in der Auseinandersetzung mit Andersens Texten. Sie sind ein hervorragendes Beispiel für eine Literatur, die globale Reichweite erlangt hat. Der Untersuchungsgegenstand ist insofern begrenzt, aber grenzüberschreitend. 1 Vgl. Brandes 1869, S. 447. 1 Einleitung 1.1 Anlauf: Globalisierung und Erzählen Eet og Andet af hvad der blev fortalt, fandt de, var ganske godt givet, men det Hele kunde være anderledes! „jeg vilde nu have fortalt saaledes og saaledes - -! “ Det var Kritiken, og den er altid saa klog - bag efter. Og den Historie gik Verden rundt, Meningerne om den vare deelte, men Historien selv blev heel; og det er det Rigtigste i Stort og Smaat, i Suppe paa en Pølsepind; man maa bare ikke vente Tak for den! Hans Christian Andersen, Suppe paa en Pølsepind (Dies und jenes von dem, was erzählt worden war, fanden sie ganz gut wiedergegeben, aber im großen und ganzen hätte es anders sein können! „Ich hätte es nun so und so erzählt! “ Das war die Kritik, und die ist immer so klug - hinterher. Und diese Geschichte wanderte um die ganze Welt, die Ansichten darüber waren geteilt, aber die Geschichte selber blieb ganz; und das ist das richtigste, im Großen wie im Kleinen, an der Suppe von einem Wurstspeiler; man darf nur keinen Dank dafür erwarten! Hans Christian Andersen, Suppe von einem Wurstspeiler) 2 Stets könnte die Geschichte anders erzählt werden, und jede/ r kann dazu beitragen. Auch die Geschichte, die diese Arbeit erzählt, steuert zur bereits bestehenden Andersen-Forschung eine Perspektive bei, die keineswegs die einzig mögliche ist. Es ist eine globalisierungstheoretisch fundierte und historisch kontextualisierende Perspektive, die sich auf Analysen ausgewählter Eventyr og Historier (Märchen und Geschichten) 3 Hans Christian Andersens stützt. Eine solche Perspektive gibt der Ander- 2 EoH 2, S. 159; SM(TD) 1, S. 706. Die verwendeten Übersetzungen der Eventyr og Historier stammen in der Regel von Thyra Dohrenburg, abgesehen von den Texten, die Heinrich Detering für seine Sammlung Schräge Märchen neu übersetzt hat. Relevante Unterschiede in den Übersetzungsvarianten werden ggf. diskutiert. In den Fällen, in denen eine eigene Übersetzung notwendig wurde, wird dies angemerkt. 3 Eventyr kann mit „Märchen“, aber auch mit „Abenteuer“ übersetzt werden. Die in dieser Arbeit (nach der verwendeten Ausgabe) Eventyr og Historier genannten Texte erschienen unter verschiedenen Bezeichnungen. Hießen die veröffentlichten Hefte zunächst Eventyr, fortalte for Børn (Märchen, für Kinder erzählt) (1835-1842), fiel bald der Zusatz fortalte for Børn weg. 1852-55 waren die Hefte mit Historier (Geschichten) betitelt, ab 1858 hießen sie schließlich Nye Eventyr og Historier (Neue Märchen und Geschichten). Der Wandel der Klassifikationen im Titel findet seine Entsprechung in der Heterogenität des unter demselben versammelten Materials, allerdings sprechen 1 Einleitung 12 sen-Forschung neue Impulse und kann dabei an bestehende kulturwissenschaftlich ausgerichtete Lektüren anknüpfen. 4 Zugleich gibt die Auseinandersetzung mit Andersens Texten Anlass, Globalisierungstheorien zu überdenken. Die Geschichte, die dabei erzählt wird, soll nicht Teil einer ‚großen Erzählung’ werden, obwohl ihr die Gefahr inhärent ist. Diese Gefahr begründet sich in der angestrebten historischen Kontextualisierung, bei der auf Arbeiten der historischen Globalisierungsforschung und die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins zurückgegriffen wird. Jene Ansätze entfalten, obgleich sie widersprüchliche Entwicklungen nicht verschweigen, nach wie vor ‚große Erzählungen’; Wallerstein bezeichnet die Weltsystemtheorie ausdrücklich als „grand narrative“ 5 . Nicht immer ist dabei offensichtlich, wie europäische und nordamerikanische Historiographie 6 auf Konzepte von Entwicklung zurückgreift, die in politischer und ökologischer Hinsicht problematisch sind und dazu tendieren, eurozentrische Überlegenheitserzählungen zu kontinuieren. 7 In diesem Zusammenhang wird hier nach Wegen gesucht, hegemoniale Konstellationen nicht als Vorsprung zu begreifen, sondern als Problem. Aufgrund ihres Gegenstandes nimmt die vorliegende Arbeit eine eurozentrische Perspektive in dem Sinne ein, dass sie sich schwerpunktmäßig mit europäischer Kulturgeschichte, in Verbindung mit einer textnahen Auseinandersetzung mit Literatur, befasst. Diese Kulturgeschichte wird Stimmen in sich aufnehmen, die eine bereits die „für Kinder erzählten“ Märchen auch Erwachsene an. Vgl. Anz 2005, S. 37-39; EoH 1, S. 14-45; Weinreich 2007; Lundskær-Nielsen 2007. Zur Unterscheidung von „Eventyr“ und „Historie“ bei Andersen vgl. auch Ebel 1994, S. 187-190; Korovin 2007; Möller-Christensen 1991. Suppe paa en Pølsepind wird hier mit dem Wort aus Andersens Bemerkungen zu den Märchen von 1868 als „Eventyr“ oder, in Übersetzung desselben, als „Märchen“ bezeichnet. Vgl. EoH 3, S. 382. 4 Wichtige Anregungen und Ideen lieferten z. B. die Arbeiten von Heinrich Detering und Heike Depenbrock, Johan de Mylius, Elisabeth Oxfeldt und Kirsten Wechsel. Einen Überblick über die Vielzahl der Publikationen Andersens sowie der Sekundärliteratur zu Andersen liefern die Bibliographien von Birger Frank Nielsen (1942) für den Zeitraum von 1822 bis 1875 sowie von Aage Jørgensen (1970, 1995 und 2007b) für den Zeitraum bis 2006. Der Forschungsüberblick bei Verholt (2004) ist ebenfalls sehr hilfreich, da er verschiedene Ansätze ausführlicher diskutiert. Auf der Homepage des H. C. Andersen-Centers gibt es die Möglichkeit zu Stichwortsuchen in den Bibliographien unter http: / / www.andersen.sdu.dk/ forskning/ bib/ bibsoeg.html (letzter Besuch am 30. Juli 2012). 5 Wallerstein 2004b, S. 21. 6 „Europäische und nordamerikanische Historiographie“ bezeichnet hier nur die dominanten Strömungen derselben, welche die hegemoniale Position der europäischen und der in derselben Tradition stehenden nordamerikanischen Länder (genauer: bestimmter Bevölkerungsteile derselben) diskursiv stützen. Natürlich ist die Historiographie dieser Räume weder homogen noch ein in ihrer Herausbildung internalistisch, d. h. ohne Beziehung zu seinem scheinbaren Außen, definierter Prozess. Der Begriff „westlich“ wird der Einfachheit halber im Folgenden als Synonym für „europäisch-nordamerikanisch“ verwendet. 7 Wie schwer es ist, diesen „großen Erzählungen“ zu entrinnen, zeigt sich an Jean-François Lyotards La Condition Postmoderne, das den Leser einerseits durch seine erhellenden Analysen sensibilisiert für Existenz und Krise großer Erzählungen, andererseits selbst mit den Begriffen „les sociétés les plus développées“ und „les pays en voie de développement“ (Lyotard 1979, S. 7, 15; vgl. auch ebd., S. 17) operiert. Zur Problematik von eurozentrischer Geschichtsschreibung aus der Perspektive von Entwicklung vgl. z. B. die konzentrierte Darstellung bei Dipesh Chakrabarty (2000, S. 3- 46). 1.1 Anlauf: Globalisierung und Erzählen 13 Kritik an der westlichen Historiographie formulieren, und ihre eigene Situiertheit nicht vergessen. Auch wenn die Arbeiten der historischen Globalisierungsforschung nicht naiv Fortschrittsgeschichten erzählen, bewegen sie sich meist im Rahmen von Entwicklungserzählungen, die chronologisch geordnet Prozesse nachvollziehen und es so ermöglichen, Geschehnisse an einem bestimmten Zeitpunkt in einer Ereigniskette zu verorten. Diese Ereignisketten werden oft zusätzlich periodisiert. Damit bleiben sie nahe an der Vorstellung einer homogenen und leeren Zeit. Dieses Konzept, auf das sich vielfältige kritische Untersuchungen von Geschichte und ihrer Schreibung beziehen, führte Walter Benjamin in den Thesen Über den Begriff der Geschichte ein. 8 Die Vorstellung einer homogenen und leeren Zeit begreift Zeit als ein vorgegebenes homogenes Kontinuum, in das Ereignisse eingefügt werden können, ohne dass sich die Zeit selbst dadurch verändert. Dieses Zeitverständnis ist nach Benjamin grundlegend für die Ideologie des Fortschritts. Ihr stellt Benjamin Geschichte als eine „mit Jetztzeit geladene[n] Vergangenheit“ 9 gegenüber. Die Vorherrschaft eines Geschichtsdenkens, das auf der Vorstellung einer homogenen und leeren Zeit basiert, hat auch Folgen für die Perspektive auf globale Prozesse. Nach Dipesh Chakrabarty sieht die moderne akademische Historiographie von den eigenen Zeitlichkeiten des Beschriebenen ab und wendet ihr Zeitverständnis auf alle Weltregionen gleichermaßen an. Der säkulare Code der scheinbar universell gültigen Zeit ist ihrer Alternativen, wie einer von Göttern, Geistern oder anderen übernatürlichen Kräften bevölkerten Zeit, beraubt. 10 Diese Vorstellung steht in enger Verbindung zur Ausbreitung des Kapitalismus sowie technologischer Neuerungen. Im 19. Jahrhundert erlebte sie eine massive Expansion. Das augenfälligste Zeichen der gleichmäßigen Quantifizierung und damit einhergehenden Entqualifizierung von Zeit war die zunehmende Bedeutung von Uhren. Diese rückten immer mehr Menschen als Taschenuhren zu Leibe. 11 Uhren bevölkern auch Andersens Texte. Eine Stichwortsuche zu „Uhr“ und „Uhret“ 12 im Arkiv for Dansk Litteratur ergibt, dass das Wort in vier Märchen, fünf Romanen und zwei Reisebüchern fällt. 13 Da sich im Arkiv for Dansk Litteratur nicht alle Texte Andersens finden, wird die Anzahl unter Einbeziehung aller Texte noch höher liegen. 8 Vgl. Benjamin 1974, S. 700 f. 9 Ebd., S. 701. 10 Vgl. Chakrabarty 2000, S. 73-77. 11 Vgl. Asendorf 1984, S. 100 f. Zur Uhr auch Baudrillard 1991, S. 121 f.; Osterhammel 2009, S. 121- 126; Simmel 1989, S. 615. 12 Andersen schrieb „Uhr“ meist mit „h“, im modernen Dänisch entfällt dieses. 13 Vgl. http: / / adl.dk (letzter Besuch am 30. Juli 2012). Dieses digitale Volltextarchiv, in dem sich zahlreiche Texte Andersens befinden, ist von unschätzbarem Wert, um solche Ergebnisse ermitteln zu können. Andersens Tagebücher sind unter http: / / www2.kb.dk/ elib/ mss/ hcadag/ / als digitale Volltexte zu finden. Hier sind auch die Almanache eingestellt, die jedoch keine Suchfunktion erlauben. 1 Einleitung 14 Diese Texte zeigen auf, wie Uhren - und darüber hinaus die mit ihnen verbundenen Veränderungen von Zeitkonzeptionen - in die Sprache eindringen. Ein Beispiel aus den Eventyr og Historier ist ABC-Bogen (Das ABC-Buch) (1858), in dem ein neues ABC-Buch auftritt, das ein altes ablösen soll. Das Stichwort zu „U“ ist im neuen ABC-Buch „Uhret“. Der unter diesem Stichwort verzeichnete Spruch lautet: „Skjøndt Uhret stadigt slaaer og gaaer, / Midt i en Evighed man staaer! “ („Auch wenn die Uhr stets schlägt und geht / Steht man mitten in einer Ewigkeit! “ [Übers. F. F.]) 14 In diesem Spruch wird der Widerstreit unterschiedlicher Zeitmodelle verhandelt, der Konflikt zwischen neu und alt, verstreichender Zeit und Ewigkeit. 15 Das neue ABC- Buch beschreibt eine neue Zeitordnung, in der die Uhrzeit zwar nicht die einzige, aber die am deutlichsten wahrgenommene ist. Auch menschliche Bewegungen verändern sich durch die Normierung der Zeit. Zentrale Orte dieses Wandels waren im 19. Jahrhundert Fabriken, in denen sich Körper-Maschinen-Hybride dem regelmäßigen Takt mechanisch ablaufender Zeit unterwerfen, sowie das Nachrichten- und Transportwesen. 16 Über die in mehreren Andersen-Texten prominente Metapher des „Mester Blødlos“ („Meister Blutlos“) 17 wird dieser Nexus von Zeitmessung, künstlichen Rhythmen und maschineller Bewegung indirekt eingeführt. Die Metapher bezeichnet in diesen Texten allgemein Maschinen und ihre Bewegungen, wird jedoch im Reisebuch I Sverrig (In Schweden) (1851) 18 auf eine Erzählung des schwedischen Dichters Adolph Törneros zurückgeführt, in der sie sich explizit auf eine Uhr bezieht. Die in Fabriken stattfindende Arbeitsteilung nimmt unmittelbar Einfluss auf die Zeitwahrnehmung der Arbeitenden. Mit der Technisierung und Aufspaltung des Produktionsprozesses in einzelne kurze Sequenzen setzt eine Mechanisierung und Beschleunigung der Körperbewegungen ein, die auch außerhalb der Fabrik um sich greift. Die Erfahrung als Ergebnis kontinuierlicher Abläufe, die ein Lernen erlauben, geht im industriellen Arbeitsprozess verloren, an ihre Stelle tritt die Notwendigkeit, schnell das Wesentliche zu erfassen und irrelevante Reize auszublenden. 19 14 EoH 2, S. 196. Die Übersetzung in SM(TD)1, S. 745 ist eine inhaltlich freiere, der sprachlichen Form jedoch nähere, gereimte Variante. In der vorliegenden Arbeit werden Kursivierungen, Fettdrucke und Sperrsatz aus Originalzitaten übernommen und nur eigene Hervorhebungen besonders gekennzeichnet. 15 In Kapitel 3.2 dieser Arbeit wird anhand weiterer Eventyr og Historier ausführlicher auf diese Aspekte eingegangen. 16 Vgl. Asendorf 1984, S. 100-108; Osterhammel 2009, S. 121-126. 17 Zwei dieser Texte werden im Prolog und in Teil 3 dieser Arbeit ausführlich behandelt: Det nye Aarhundredes Musa (Die Muse des neuen Jahrhunderts) (1861) sowie Dryaden. Et Eventyr fra Udstillingstiden i Paris 1867 (Die Dryade. Ein Märchen aus der Ausstellungszeit in Paris 1867) (1868). 18 Vgl. I Sverrig (In Schweden) (1851) in Re 2, S. 18 bzw. RB, S. 13 f. 19 Den Verlust von Erfahrung als Charakteristikum seiner Zeit beschrieb Walter Benjamin in Erfahrung und Armut. Vgl. Benjamin 1977, S. 213-219. Für das 19. Jahrhundert ist seine Unterscheidung von Erlebnis und Erfahrung zentral: „Gewohnheiten sind die Armatur der Erfahrung, Erlebnisse zersetzen sie.“ (Benjamin 1991, S. 430). Die Ersetzung von Erfahrung durch Erlebnisse ist ein Charakteristikum der Moderne. Sie kristallisiert sich unter anderem in den Figuren des Spielers und des Flaneurs. Vgl. ebd., S. 638 [O 12a, I]; 962-970 sowie Asendorf 1984, S. 7 f. Zur Rhythmisierung und Normierung menschlicher Körper in der Moderne vgl. auch Foucault 2001a. 1.1 Anlauf: Globalisierung und Erzählen 15 Parallelen hierzu finden sich in der Bewegung im neuen Raumtyp der modernen Großstadt. 20 Auch die journalistische Nachrichtenproduktion und -verbreitung trägt zu der beschleunigten Verarbeitung von Wahrnehmungen und dem Wandel der Taktung sozialer Interaktionen bei. Zeit wird in solchen Prozessen weitgehend entqualifiziert und fragmentarisiert. 21 Zugleich werden Arbeitskraft und Produkte durch den Warencharakter, den sie über die Entqualifizierung ihrer Tätigkeit bzw. Gebrauchseigenschaften gewannen, eingebunden in das übergeordnete wirtschaftliche System. Die Fragmentarisierung erlaubt so eine Unifizierung. Mit der zunehmenden Warenwerdung von Arbeitskräften und -produkten und der Unterwerfung sozialer Beziehungen unter die Logik des Marktes verbindet sich der widersprüchliche Prozess wirtschaftlicher Integration. 22 „Produktionsprozesse wurden im [sic] komplexen Warenketten miteinander verbunden“ 23 , erklärt Wallerstein zur Entstehung einer weltweiten kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Darin werden allerdings niemals alle Prozesse zu Waren. 24 Der Warenverkehr erlaubt die Ausweitung und Verdichtung des kapitalistischen Systems, indem durch ihn die gesellschaftlichen Beziehungen formalisiert sowie abstrahiert und damit austauschbar werden. Diese Veränderung von Wert im Kapitalismus schlägt sich seit dem 19. Jahrhundert vermehrt auf künstlerische Produkte und Produktionsweisen nieder, die in einen Widerstreit der Wertordnungen geraten. Einerseits wird Literatur zunehmend den Gesetzen des Marktes unterworfen; so werden beispielsweise Publikumsorientierung und Vermarktung der eigenen Biographie zu wichtigen Verkaufsinstrumenten des sich herausbildenden Typus des freien Autors. Andererseits behauptet Literatur, sich kritisch gegen die Ökonomisierung des Lebens zu stellen und dieser selbst enthoben zu sein. 25 Beide Aspekte betreffen auch Andersens Produktion. Zwar setzt die grenzüberschreitende Zirkulation literarischer Texte nicht erst im 19. Jahrhundert ein. Sie wird jedoch beschleunigt, erschließt größere geographische Gebiete und nimmt quantitativ zu. Damit folgt sie dem allgemeinen Trend der Warenzirkulation, der zugleich ein Globalisierungsprozess ist. Die Normierung von Zeit beeinflusst nicht nur Vorstellungen von Gesellschaft und damit auch die Geschichtsschreibung, sie ist zugleich Grundlage von Globalisierungsprozessen. 26 Mit der geographischen Erweiterung von Netzen des Austausches, in denen Menschen, Dinge und Nachrichten sich bewegten und bewegt wur- 20 Vgl. Asendorf 1984, S. 7; Simmel 1995a, S. 116-123; Zerlang 2002a, S. 24-26. Im Gedicht Östergade, poetisk betragtet (Östergade, poetisch betrachtet) (Di 1, S. 133-135, 606) sind Großstadtmotiv und Zeitmessung eindrucksvoll verbunden. 21 Vgl. Asendorf 1984, bes. S. 5 f. und passim; Harvey 1990, S. 99-112; Marx 1962. 22 Vgl. Asendorf 1984, S. 25-30; Marx 1962; Wallerstein 1984, S. 9-37. 23 Wallerstein 1984, S. 11. 24 Vgl. ebd., S. 19-23. 25 Vgl. Hörisch 1998, S. 11-34. 26 Vgl. Osterhammel 2009, S. 116-128. 1 Einleitung 16 den, wurde eine allgemeingültige Zeiteinteilung notwendig: der Konventionaltag. 27 Die gemeinsame Taktung erlaubte den weltwirtschaftlichen Wachstumsschub des 19. Jahrhunderts 28 und wurde umgekehrt durch diesen selbst vorangetrieben. Auch das Funktionieren großer gesellschaftlicher Komplexe wie der bereits erwähnten modernen Großstadt, deren Wachstum die Bevölkerungsstrukturen dieses Jahrhunderts wesentlich prägte, 29 basiert weitgehend auf einer normalisierten Zeiteinteilung. 30 Die Vereinheitlichung sozial und geographisch immer umfassenderer Aggregate fand in der Einführung der Weltzeit 1884 ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Normalisierung der Zeit steht also in engem Zusammenhang mit der Entstehung großer sozialer Netzwerke. Nach Benedict Anderson ist die Vorstellung steter anonymer und simultaner Aktivität in homogener und leerer Zeit eine Grundlage der Idee der Nation: „The idea of a sociological organism moving calendrically through homogeneous, empty time is a precise analogue of the idea of the nation, which also is conceived as a solid community moving steadily down (or up) history.“ 31 Anderson verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Zeitungen und Büchern für die Entstehung dieser Vorstellung von Zeit. Nach Anderson gibt es große Gemeinsamkeiten zwischen den Rollen, die Literatur und Geschichtsschreibung bei der Nationsbildung spielen. Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch Unterschiede zwischen literarischem und historiographischem Geschichteerzählen. Literatur und Geschichtsschreibung beziehen sich wechselseitig aufeinander. Inwiefern die Eventyr og Historier als Kritik an oder Bestätigung von nationalistischen Narrativen und eurozentrischen Weltbildern begriffen werden können, ist eine grundlegende Frage dieser Arbeit. Entgegen der Auffassung von Ulrich Beck 32 sind Globalisierungsprozesse nicht immer als Gegensatz von Nationalisierung oder Ablösung der letzteren durch erstere zu begreifen. Andersons Ansatz deutet bereits an, dass die moderne Vorstellung großer Gemeinschaften wesentlich durch diejenige von Nationen begründet wurde. Aktuelle Ansätze der Weltgeschichtsschreibung betonen die stabilisierende und strukturierende Funktion von Nationalstaaten in globalen Zusammenhängen sowie 27 Vgl. Asendorf 1984, S. 100-109; Bayly 2006, S. 32; Osterhammel 2009, S. 118-121; Schivelbusch 2004, S. 43-45. 28 Zur Herausbildung der Weltwirtschaft vgl. Bayly 2006; Cameron 1992, S. 84, 101 f., S. 161-166; Fäßler 2007, S. 78-84; Findlay/ O’Rourke 2007, S. 365 f., 402-407, 425-428; Fischer 1998, S. 36- 59; Jones 1987, S. 27 f.; Osterhammel/ Petersson 2007, S. 50-63. 29 Zu Binnenmigration und Urbanisierung vgl. Bayly 2006, S. 228-236; Fäßler 2007, S. 85; Kerner 2007, S. 40-61; Löw/ Steeets/ Stoertzer 2008, S. 21-29; Sassen 1997, S. 54-61. Das Bevölkerungswachstum, das die Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts wesentlich verursachte, war in Dänemark besonders hoch. Vgl. Bade 2000, S. 64. 30 Vgl. Simmel 1995a, S. 119 f. 31 Anderson 1983, S. 31. Vgl. auch ebd., S. 28-40. 32 „Denn Globalisierung meint, wie gesagt, vor allem eins: Denationalisierung - die Erosion, aber auch mögliche Transformation des Nationalzum Transnationalstaat.“ Beck 1997, S. 34. 1.1 Anlauf: Globalisierung und Erzählen 17 den interbzw. transnationalen 33 Charakter nationaler Bewegungen. 34 Damit soll nicht geleugnet werden, dass Nationalisierung und Globalisierungsprozesse in ein Gegensatzverhältnis treten können. Sie stehen aber nicht zwangsläufig in einem solchen. So teilen viele Imaginationen von Nationen mit solchen der Globalisierung die Grundlage der homogenen und leeren Zeit als ein Moment, das ihre Vorstellung ermöglicht. Diese Vorstellung wird materiell vermittelt, zum Beispiel durch Zeitmesser, Tageszeitungen und Romane, die den Eindruck simultan ablaufender Ereignisse in einem Kontinuum stützen. Damit tritt die Vorstellung von einer leeren und homogenen Zeit selbst in bestimmten historischen Konstellationen auf. Die Idee des Fortschritts ist nach Benjamin von der Vorstellung eines Menschengeschlechtes, das eine homogene und leere Zeit fortgehend durchläuft, nicht zu lösen. Eine Kritik an der Vorstellung des Fortschritts muss deshalb an dieser Vorstellung ansetzen. Auch eine globalisierungstheoretisch fundierte Geschichtsauffassung muss eine solche Vorstellung aufsprengen, indem sie deutlich macht, dass es sich hier um ein historisches Konstrukt handelt, das historiographischen Eurozentrismus begünstigt. Denn der Fortschrittsgedanke galt immer wieder auch der Legitimation von Herrschaft über Regionen, die nach dem eurozentrischen Geschichtsverständnis weniger entwickelt waren. Geschichtskonzeptionen prägen das Verständnis von Geschichte, vor dessen Hintergrund Handeln 35 stattfindet. Die Pluralität solcher Geschichtskonzeptionen anzuerkennen ist ein Schritt, Geschichte für Stimmen zu öffnen, denen der Zugang zum Zentrum westlicher Historiographie lange Zeit versperrt blieb. In postkolonial inspirierter Globalgeschichtsschreibung ist die historische und geographische Situiertheit des linearen Zeitmodells in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und die Forderung nach einer größeren Offenheit gegenüber alternativen Möglichkeiten des Zeitdenkens erhoben worden. 36 Eine solche Offenheit weisen die hier analysierten Texte weitgehend auf. Viele von Andersens Texten haben Teil an dem großen Projekt der Erzählung von Vergangenheit, das im 19. Jahrhundert eine nie dagewesene Bedeutung erlangte. Oft zeichnen sie sich nicht nur durch ihre große Sensibilität für den Wandel der Zeiterfahrung aus, sondern lassen auch die Koexistenz unterschiedlicher Zeitmodelle erkennen und stellen so eine alternative Form des Geschichte-Erzählens dar. Die hier skizzierten historischen Prozesse und die Problematik, die sich mit ihnen verbindet, betreffen diese Texte in mehrfacher Hinsicht. Einerseits reflektieren zahllose Texte Andersens die beschriebenen Normierungs- und Vernetzungsprozesse 33 „International“ bezeichnet in dieser Arbeit politisch institutionalisierte Kontakte, „transnational“ sogenannte zivilgesellschaftliche Beziehungen. Sie lassen sich selten eindeutig voneinander trennen. Vgl. Kocka 2004, S. 35. 34 Vgl. z. B. Balibar/ Wallerstein 1992, S. 87-130; Bayly 2006, S. 198; Osterhammel 2001, S. 330; Sassen 2008, S. 7, 49; Wallerstein 2004b, S. 42-58. 35 Zum Begriff des Handelns vgl. auch Kapitel 1.3.2. 36 Vgl. z. B. Chakrabarty 2000; Conrad/ Eckert 2007, S. 24; Osterhammel 2009, S. 116-118. 1 Einleitung 18 und entwickeln unterschiedliche ästhetische Strategien, mit ihnen umzugehen. Dabei reagieren sie auf den sich mit der Moderne massiv ausbreitenden Wandel von Wahrnehmungsrhythmen und Vorstellungen von Zeit, beispielsweise, indem Beschleunigung auf der Ebene der Textstruktur eines einzelnen Textes durch immer kürzer werdende Abschnitte erzeugt wird. 37 Auf der inhaltlichen Ebene nehmen sie aus diesen neuen Wahrnehmungsmustern erwachsende widersprüchliche Positionen wie Fortschrittsbegeisterung und darauf polemisch bezogene Vergangenheitssehnsucht in sich auf. Daneben halten sie jedoch auch das fest, was sich der Normierung nicht fügt oder einer anderen zeitlichen Logik angehört, und stellen Zeit als ein Ineinander unterschiedlicher Rhythmen und Figuren dar. Für den historischen Entstehungszusammenhang von Andersens Texten lässt sich festhalten, dass er wesentlich geprägt ist von modernen Verkehrs- und Kommunikationstechnologien. Andersens Publikationen sind Elemente transnationaler Netzwerke. Sie sind zudem eingebunden in quantitative Veränderungen in den Strukturen des Literaturmarktes, die einen qualitativen Umschlag mit sich führten. Dass Literatur zum Massenmedium wurde, ließ Andersens Veröffentlichungsgeschichte nicht unberührt. Dieser massenmediale Charakter wiederum verband sich mit politischen Aspekten wie der bereits genannten Nationalisierung, die durch die Standardisierung von Nationalsprachen vorangetrieben wurde. Zugleich transnationalisierte sich der Literaturmarkt durch Übersetzungen, die andererseits den Wettbewerb der Nationen untereinander beförderten. 38 Andersens Texte wurden durch die Verbreitung des Nationalismus auf sehr unterschiedliche Weise geprägt und nahmen umgekehrt großen Einfluss auf Konstruktionen dänischer Identität. In dieser Hinsicht haben sie manches mit ihrer zeitgenössischen Historiographie gemein. Da die Texte zugleich auf vielfältige Weise mit transnationalen bzw. außerdänischen Umgebungen verknüpft sind und sich von nationaler Beschränktheit oft kritisch distanzieren, nehmen sie eine Doppelperspektive ein, die es nicht erlaubt, sie eindeutig in einem nationalistischen oder in einem kosmopolitischen Kontext zu verorten. Die Offenheit gegenüber dem Neuen und das Interesse an migrantischen Existenzen überwiegen jedoch in den Prosatexten. 39 Wie Zeit strukturiert und wahrgenommen wird, bildet einen Schwerpunkt der Analysen der Eventyr og Historier. Es handelt sich hier um Fragen, die für den Globalisie- 37 Vgl. Depenbrock/ Detering 1991, S. 371-373. Diese Arbeit leistet keine umfassende Definition des Modernebegriffs. Der Moderne wird sich stattdessen auf verschiedenen Wegen angenähert. Ein zentrales Element des zugrunde liegenden Moderneverständnisses ist das Verhältnis von Dingen und Menschen, auf das in Kapitel 1.3.5 näher eingegangen wird. An dieser Stelle bezeichnet der Begriff vor allem die Ausbreitung des Wandels von Wahrnehmungsrhythmen und Zeitvorstellungen, die durch Technologien wie Eisenbahn oder industrielle Buch- und Zeitungsherstellung vorangetrieben wurde. Diese Technologien sind dem 19. Jahrhundert zuzuordnen. Es soll dadurch jedoch keine Zäsur zwischen modern und vormodern gesetzt werden, die das Ineinandergreifen verschiedener Zeitformen leugnen würde. 38 Vgl. Kapitel 2.3.2 und S. f. dieser Arbeit. 39 Zu Dichtungen und Liedern vgl. Detering 2001, S. 189-195. 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung 19 rungsdiskurs von grundlegender Bedeutung sind. So entwickelt Hartmut Rosa seine Globalisierungstheorie aus dem Phänomen der Beschleunigung, die Technik, Lebenstempo und sozialen Wandel umfasst. 40 Diesem Phänomen wenden sich die Textanalysen ebenso zu, wie sie das Spannungsfeld zwischen linearen und chronologischen Zeitmodellen und einem Zeitverständnis, das die Situiertheit von Zeitmodellen und die Superposition unterschiedlicher Zeiten berücksichtigt, ausloten. Die Geschichte, die auf der Basis chronologisch ablaufender Entwicklungen operiert, zeichnet sich durch ihren ausnehmend großen Einfluss auf die politische, kulturelle und ökonomische Praxis, insbesondere in Europa, aus. Die in ihr konstatierte Kontinuität wird so zur Grundlage sozialen Handelns und erzeugt wiederum das diesem Handeln scheinbar zugrunde liegende Phänomen. Deshalb kann auf Modernisierungstheorien und ähnliche Varianten kontinuierlicher Geschichtsschreibung nicht einfach verzichtet werden. Vielmehr müssen sie als ein Teil von Geschichte behandelt werden, dem andere gegenüber stehen. Die Geschichte bleibt damit im Sinne der gebrochenen Ganzheit des Zitats aus Suppe paa en Pølsepind „ganz“, denn das dem Zitat vorangegangene Märchen selbst besteht aus mehreren Geschichten (und Wahrheiten). Wie sie unterschiedliche Formen der Geschichtsschreibung zulässt, schließt meine Perspektive auf die Eventyr og Historier Hans Christian Andersens keine anderen literaturwissenschaftlichen Herangehensweisen aus, sondern ausdrücklich ein. Es ist kein Zufall, dass hier nur eine kleine Auswahl der Eventyr og Historier genauer betrachtet wird. Obgleich viele Texte wegfallen, weil eine Behandlung aller relevanten Eventyr og Historier den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, gibt es auch zahlreiche Beispiele, für die sich ein anderer Fokus empfiehlt. Die Eventyr og Historier sind kein homogenes Korpus. Erzähle ich also eine Geschichte, so funktioniert diese immer auch vor dem Hintergrund dessen, was nicht erzählt werden konnte. Das Ganze, das stellt jede/ r, der sich mit Globalisierungsprozessen auseinander setzt, fest, lässt sich nie darstellen. Deshalb ist es umso wichtiger, auf die Beschränkungen des eigenen Blicks hinzuweisen. 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung Darf von Globalisierung gesprochen werden, wo der Begriff selbst noch nicht (nachweisbar) existierte? Diese Frage stellt sich wohl als erstes, wenn Hans Christian Andersens Texte aus einer globalisierungstheoretischen Perspektive betrachtet werden. Da Globalisierung vielfach als gegenwartsdiagnostischer Begriff verwendet wird, scheint dies zunächst ein abwegiges Vorhaben zu sein. Bei den Phänomenen, die unter Globalisierung subsumiert werden, handelt es sich jedoch - wie durch die bereits begonnene historische Rekonstruktion einiger transbzw. internationaler Normierungs- und Vernetzungsprozesse angedeutet wurde - nicht ausschließlich 40 Vgl. Rosa 2005, S. 48, 333 ff. 1 Einleitung 20 um Erscheinungen, die in der jüngsten Geschichte auftreten. Stattdessen muss Globalisierung in weiten Teilen als ein Bündel langfristiger Prozesse betrachtet werden, die sich teilweise gegenseitig verstärken und alle Gesellschaftsbereiche umfassen. 41 Die vorliegende Arbeit orientiert sich deshalb einerseits an Ansätzen der historischen Globalisierungsforschung und legt besonderes Augenmerk auf deren kulturtheoretisch relevante Aspekte. Andererseits fragt sie nach den Möglichkeiten, die eine globale Perspektive eröffnet. Die Definitionen von Globalisierung sind zahlreich und oft widersprüchlich. 42 Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson machen als Kern der meisten Definitionsangebote die „Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen“ 43 aus. Peter E. Fäßler nennt die Expansion sozialer Interaktionsreichweiten, die Verdichtung von Interaktionsnetzwerken und die Entstehung globaler Reziprozität, die den strukturellen Transformationsprozess einbezogener Gesellschaften befördert, als Merkmale von Globalisierung. 44 Ausgehend von diesen Definitionsannäherungen lassen sich Faktoren nennen, die diese Prozesse eher vorantreiben (z. B. neue Transport- und Kommunikationstechniken) und solche, die sie hemmen (z. B. naturräumliche Interaktionsbarrieren). Jedoch sind bei genauerer Betrachtung den meisten Phänomenen beide Potentiale inhärent. So können neue Kommunikationstechniken ebenso einer emphatischen Hervorhebung des Lokalen wie einer Öffnung gegenüber weit entfernten Teilen der Welt dienen, und Fäßler verweist selbst auf die ambivalente Funktion des Ozeans als integrierendes und trennendes Medium. 45 Globalisierung lässt sich deshalb in Anlehnung an Christopher Baylys Geburt der modernen Welt eher als ein Prozess der Uniformisierung bei gleichzeitiger Komplexitätssteigerung beschreiben. 46 Es handelt sich um eine Form der Vernetzung, die andauernd neue Anschlussmöglichkeiten und hybride Formen 47 produziert, gleichzeitig jedoch Räume und Vorstellungswelten mit Differenzierungsprozessen durchzieht, die Exklusionen nach sich ziehen können. In dieser Arbeit wird unter Globalisierung ein widersprüchlicher historischer Prozess verstanden, in dessen Verlauf sich soziale Zusammenhänge schneller und leichter herstellen, der jedoch neue Formen des Ausschließens miterzeugt. Mit der historischen und der philosophischen Globalisierungsforschung wird angenommen, dass dieser Prozess nicht erst im 20. Jahrhundert einsetzt. Peter Sloterdijk unterteilt Globalisierung in drei Phasen, von denen die „terrestrische Globalisierung“ für unseren Zusammenhang zentral ist. Diese Phase weist die Merkmale der genannten Globalisierungsdefinitionen auf und umfasst die Zeit der europäischen 41 Vgl. Fäßler 2007, S. 24, 30-33; Osterhammel/ Petersson 2007, S. 108-111 und passim. 42 Vgl. Badura 2006a, S. 11-14; Beck 1997, S. 42-44; Fäßler 2007, S. 29 f. 43 Osterhammel/ Petersson 2007, S. 10. 44 Vgl. Fäßler 2007, S. 30-33. 45 Vgl. ebd., S. 38 f. 46 Vgl. Bayly 2006, S. 28-37; Conrad/ Eckert 2007, S. 21. 47 „Hybrid“ bezieht sich an dieser Stelle auf den Hybriditätsbegriff, der sich aus der postkolonialen Theorie entwickelt hat. Zu diesem nicht unproblematischen Begriff vgl. Ackermann 2004, S. 139- 144, 147-153; Kraidy 2005, S.vii, 49, 131 f. sowie Griem 2008. 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung 21 Expansion von 1492 bis 1945. Nach Sloterdijk „reißt die Globalisierung, die das gerasterte Außen überallhin trägt, die handelsoffenen Städte, zuletzt sogar die introvertierten Dörfer in den Verkehrsraum hinaus, der alle lokalen Besonderheiten auf die gemeinsamen Nenner kürzt - Geld und Geometrie.“ 48 Kategorien der direkten Nachbarschaft erweisen sich in Folge dieser Transformationen als unzureichend, „das Zusammensein mit anderen und anderem im erweiterten Raum zu interpretieren“. Es kommt zu einer „Katastrophe der Lokalontolologien, [...] die alte Poesie der Häuslichkeit“ löst sich auf. Im Gang dieser Aufklärungen werden sämtliche alteuropäische Länder de jure zu Standorten auf einer Kugeloberfläche; zahlreiche Städte, Dörfer, Landschaften transformieren sich de facto zu Stationen eines entgrenzten Verkehrs, in denen das muntere moderne Kapital unter seiner fünffachen Metamorphose als Ware, Geld, Text, Bild, Prominenz Durchzug hält. 49 Diese Erschließung geschah im 19. Jahrhundert in einem nie dagewesenen Umfang und Tempo; und sie löste Gegenreaktionen aus. Diese Arbeit zeigt einerseits, wie Andersens Texte selbst Teil dieser Ströme und ihrer Abwehr werden, andererseits, nach welchen Formen sie suchen, diesen Wandel literarisch wahrnehmbar zu machen und - gegebenenfalls - einer Kritik zu unterwerfen. Für die historische Kontextualisierung der Texte wird aufgrund des Schwerpunktes auf Globalisierungsprozessen auf (Welt-)Wirtschaftsgeschichte, Technik- und Mediengeschichte, Migrationsforschung sowie Weltgeschichtsschreibung zurückgegriffen. Hier finden sich Modelle für die Analyse großer Zusammenhänge, die oben bereits in ihrer Aussagekraft relativiert wurden. Sie können zwar wichtige Aspekte beleuchten, haben dabei aber teils die Tendenz, auszublenden, was sich der Logik dieser Zusammenhänge entzieht. Die Bedeutung des Konkreten/ Lokalen/ Partikularem bzw. Nichtglobalisierbaren für eine adäquate Beschreibung von Globalisierungsprozessen stellen andere Theoretiker in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Eine Spannung zwischen Mikro- und Makroebene der Analysen ist Globalisierungsdiskursen inhärent und Gegenstand endloser wissenschaftlicher Debatten, die sich dieser Problematik stets neu nähern, um ihr gerecht zu werden (und dabei zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen). 50 Diese Spannung lässt sich auch darauf zurückführen, dass Globalisierungsprozesse zwischen Materialität und Immaterialität angesiedelt sind und in dieser Doppelstruktur betrachtet werden müssen. So ist der Weltmarkt stets zugleich eine konkrete lokale Struktur des Warenhandels und eine virtuelle Institution quer durch den Raum, in der derselbe Austausch stattfindet. 51 Auch das in Globalisierungsprozessen 48 Sloterdijk 2006, S. 52 f. 49 Ebd., S. 53. 50 Vgl. z. B. die Auseinandersetzungen bei Larsen 2007, S. 28; Mazlish 2005; Robertson 1998; Sassen 2008; Steinmetz 2000, S. 195-200; Umbach 2002; Wallerstein 1997. 51 Dies ist ein Teil der Definition von Markt, die Wallerstein (2004b, S. 25) gibt. Er verweist darauf, dass selbst in einem Weltmarkt noch Interferenzen zwischen diesen Grenzen auftreten. Vgl. auch S. 8 dieser Arbeit. 1 Einleitung 22 zentrale Mediensystem weist diese Doppelstruktur auf. Ottmar Ette bemerkt: „Die Globalisierung ist ein Faktum und zugleich eine Fiktion, besser noch: eine Inszenierung.“ 52 Er erläutert diesen Gedanken durch die Bezugnahme auf das Medienereignis der weltweiten Millenniumsfeiern, die jedoch aufgrund der anhaltenden Bedeutung anderer kalendarischer Zeitordnungen nicht überall die gleiche Relevanz hatten. Sie sind global verbreitet, bleiben aber lokal verschieden. Dieses Beispiel stellt die Existenz der Globalisierung im Singular in Frage. 53 Diese Infragestellung gilt grundsätzlich. Wahrnehmung und Repräsentation von Globalisierung zeichnen sich durch eine Vielfalt aus, die keinen Standpunkt des Überblicks und der objektiven Fest-Stellung mehr zulassen. 54 Die globale Perspektive gibt es nicht, sie kann nur virtuell eingenommen werden, um bestimmte Zusammenhänge zu denken. Das bedeutet, dass sich mit dem gewählten Gegenstand der Analyse auch der Globalisierungsbegriff und die globale Perspektive verändern. Dies ist quasi das epistemologische Pendant zum Oszillieren von Globalisierung zwischen Materialität und Immaterialität. Globalisierung ist nämlich, wie der Einstieg bereits angedeutet hat, nicht nur ein Prozess, sondern auch eine Perspektive. Sebastian Conrad und Andreas Eckert stellen dies für die Geschichtswissenschaften heraus. 55 Es gilt nicht weniger für die Literaturwissenschaften, wie Svend Erik Larsen betont. 56 Eine globale Perspektive sucht nach Netzwerken und grenzüberschreitenden Prozessen, sie blickt über das Nationale hinaus. Globalisierung als Perspektive bedeutet, dass man sich die Situiertheit des eigenen Wissens und der Formen seiner Produktion bewusst macht und die Machtmechanismen nicht aus den Augen verliert, die Europa nicht nur innerhalb seiner selbst, sondern auch in Beziehung zu der übrigen Welt durchziehen. Dazu gehört die Macht des Geschichte-Erzählens, die auch im Geschichtenerzählen der Literatur enthalten ist. Trotz dieser Unschärfen des Globalisierungsbegriffs sind Gegenstand und Perspektive dieser Arbeit nicht beliebig. Denn die gewählten Eventyr og Historier sind in ihrem Inhalt, ihrer Veröffentlichungsgeschichte und der mit ihnen verbundenen Inszenierung des Autors Hans Christian Andersen 57 eng verflochten mit wiederkehrenden Themen der Globalisierungsforschung wie Intensivierung von transnationalem Handel, Wandel von Transport und Kommunikation, Vorstellung und Inszenierung von Welt oder Transnationalisierung der Biographie. Ziel der Arbeit ist es nicht, eine globalisierungstheoretische Methode zu entwickeln, die sich unverändert auf andere Texte anwenden ließe. 52 Ette 2001, S. 15. 53 Vgl. ebd., S. 15 f. 54 Vgl. Badura 2006a; 2006b, S. 49-56. 55 Vgl. Conrad/ Eckert 2007, S. 20-22. 56 Larsen S. 19, 23. Vgl. auch Damrosch 2003, S. 281. Damrosch arbeitet zwar mit dem Begriff Weltliteratur, sein Ansatz steht dem hier unternommenen Versuch einer globalisierungstheoretisch fundierten Lektüre jedoch methodisch in vieler Hinsicht nahe. 57 Zum Autorschaftsbegriff vgl. auch den Exkurs: Autorschaft. 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung 23 Es gilt vielmehr, aus der Erkundung der Vergangenheit Erkenntnisse für die heutige Zeit zu gewinnen, die sich gerade aus einem exemplarischen Verhältnis von Geschehenem zu Gegenwärtigem ziehen lassen. Darin folgt diese Arbeit einer Forderung Walter Benjamins: Man sagt, daß die dialektische Methode darum geht, der jeweiligen konkret-geschichtlichen Situation ihres Gegenstandes gerecht zu werden. Aber das genügt nicht. Denn ebensosehr geht es ihr darum, der konkret-geschichtlichen Situation des Interesses für ihren Gegenstand gerecht zu werden. 58 Der globalisierungsgeschichtliche Ansatz sucht der konkret-geschichtlichen Situation des Gegenstandes gerecht zu werden. Zugleich begründet sich das Interesse an einer globalisierungstheoretischen Perspektive in einer Position im Hier und Jetzt. Dieses Interesse ist im Sinne Benjamins im Forschungsgegenstand präformiert und konkretisiert ihn in das Jetztsein, so dass eine Durchdringung und Vergegenwärtigung vergangener Zusammenhänge auch das gegenwärtige Handeln auf die Probe stellt. 59 Inwiefern Texte Hans Christian Andersens diese Lesart zulassen, wird diese Arbeit darlegen. Das bereits erwähnte Märchen Suppe paa en Pølsepind dient im Folgenden als Ausgangspunkt, Aspekte einer globalisierungstheoretisch fundierten Perspektive zu erschließen. Da es sich hier um das Einführungskapitel handelt, werden sich diese Überlegungen stellenweise vom Eventyr-Text lösen. Obgleich Hans Christian Andersen zu den meistübersetzten Autoren der Welt gehört 60 , ist Suppe paa en Pølsepind, das 1858 erschien, eher eine Geschichte, die es schwerer hat, „Verden rundt“ („rund um die Welt“) zu gehen, wie das eingangs wiedergegebene Zitat für die im Märchen erzählte Geschichte behauptet. Das erklärt sich daraus, dass Suppe paa en Pølsepind schwer übersetzbar ist. „Suppe von einem Wurstspeiler“ ist Teil einer Redensart 61 , die auf Deutsch vollständig etwa lauten würde: „Das wird eine dünne Suppe, die von einem Wurstspeiler gekocht wird.“ 62 Eine stichprobenartige Suche nach Nachweisen bestätigt ihre Seltenheit im Deutschen. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm ist sie nicht enthalten. Auch ein Blick in Johannes Agricolas Sprichwörtersammlungen als einem Vertreter der frühen Tradition der Sammlung von Sprichwörtern, die in der Reformationszeit einsetzte, bleibt ergebnislos. 63 Karl Friedrich Wilhelm Wanders Sprich- 58 Benjamin 1991, S. 494. 59 Vgl. ebd., S. 494 f. 60 Vgl. http: / / databases.unesco.org/ xtrans/ stat/ xTransStat.a? VL1=A&top=50&lg=0 (letzter Besuch am 30. Juli 2012). Zu Andersen und dessen interlingualen Übersetzungen gibt es eine reichhaltige Forschung, vgl. z. B. Dal 1955; Hjørnager Pedersen 2004; Jones 1995. Im Sammelband Andersen og verden (de Mylius/ Jørgensen/ Hjørnager Pedersen 1993, S. 192-261) finden sich mehrere Aufsätze zu diesem Thema. 61 In der dänischen Ausgabe wird „Suppe paa en Pølsepind“ sowohl in Andersens eigenen Kommentar als auch im Anmerkungsapparat als „talemåde”, also Redensart, bezeichnet. Vgl. EoH 2, S. 481; EoH 3, S. 382. 62 Vgl. EoH 2, S. 481. 63 Vgl. Agricola 1971 (Original von 1534), S. 377-415. 1 Einleitung 24 wörter-Lexikon von 1876 (also erst nach Erscheinen des Märchens in deutscher Übersetzung veröffentlicht) führt die Redensart in abgewandelter Form - unter Verweis auf eine ebenfalls von Andersens Version abweichende dänische Variante: „Man kann gute Suppe aus Wurstfellen machen, wenn man noch genug dazu thut.“ 64 Statt Wurstfellen würden die Dänen „Radnägel“ einsetzen, heißt es in der Anmerkung zum Sprichwort. 65 Dieser Befund legt nahe, dass die Redensart im Deutschen im 19. Jahrhundert in der im Märchen enthaltenen Form nicht gebräuchlich war. Auch heute scheint die Redensart keinerlei Verwendung zu finden, in Lutz Röhrichs Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten 66 ist sie nicht enthalten. Thyra Dohrenburg erläutert in ihrer Übersetzung des Märchens in einer Anmerkung zum Titel: „Uralte dänische Redensart: Viel Geschrei um wenig Wolle, viel Lärm um nichts usw.“ 67 In Dänemark ist sie bis heute nachweisbar, aber altmodisch, und gehört nicht zu den gängigsten Redensarten. 68 Translatorische Friktionen lassen sich aber nicht nur für die interlinguale Übersetzung des Textes feststellen, sie sind vielmehr Ausgangspunkt der Geschichte, die der Text selbst erzählt. Bei einer Festgesellschaft des Mäusekönigs, bei der von den gereichten Speisen lediglich die Wurstspeiler übrig bleiben, kommt die Frage auf, wie man von einem Wurstspeiler Suppe kochen könne. Jede Maus hat von dieser Möglichkeit gehört, aber keine die Suppe schon einmal gekostet oder zubereitet. „Der blev udbragt en nydelig Skaal for Opfinderen, han fortjente at være Fattigforstander! var det ikke vittigt? “ („Es wurde sehr hübsch auf das Wohl des Erfinders getrunken, er verdiente es, Armenvorsteher zu sein! War das nicht witzig? “) 69 . Der Mäusekönig setzt schließlich einen Preis für die junge Maus aus, die die schmackhafteste Suppe von einem Wurstspeiler kochen kann: Sie soll seine Königin werden. Die Mäuse nehmen die Redensart also beim Wort, besser: beim Wurstspeiler, einem Holzstäbchen, das das Ende einer gestopften Wurst verschließt. 70 64 Vgl. Wander 1876, Sp. 974. 65 Zu dieser Variante vgl. auch Ida von Dühringsfeld (1863) sowie die dänische Sprichwort- Sammlung von Edvard Mau (1879), S. 548 Nr. 4905. 66 Vgl. Röhrich 1992. 67 SM(TD)1, S. 689. 68 Vgl. Toftgaard Andersen 1998, S. 211: „koge suppe på en pølsepind (gammeldags) behandle et ubetydeligt emne uden reelt indhold.“ („Suppe von einem Wurstspeiler kochen (altmodisch) einen unwichtigen Gegenstand ohne reellen Inhalt behandeln.“ [Übers. F. F.]) Vgl. auch Kragh 2003, S. 247. In dieser Sprichwörtersammlung ohne Erläuterungen „fra hele verden“ („aus der ganzen Welt“) wird nur eine dänische Variante verzeichnet, keine weiteren. In Knudsens Sprichwortsammlung ist die Redensart nicht enthalten (vgl. Knudsen 2005, S. 273 [Stichwort „Suppe“]), ebenso wenig in der etwas älteren Sammlung Brøndum-Nielsens (1942). In Politikens Ordsprogsleksikon findet sich eine etwas abweichende Variante: „Man kan koge Suppe på en Pølsepind, men den bliver derefter.“ („Man kann Suppe von einem Wurstspeiler kochen, aber sie wird dementsprechend.“ [Übers. F.F.]) (Bregenhøj/ Pått 1994, S. 203, Nr. 3911). 69 EoH 2, S. 149; SM(TD) 1, S. 689 f. 70 Vgl. EoH 2, S. 481. 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung 25 Zwar wollen alle Mäusedamen gerne Königin sein, aber nur wenige in die weite Welt hinausgehen, um zu lernen, wie man die Suppe kocht. „[A]t forlade Familie og de gamle Krinkelkroge“ („[D]ie Angehörigen und die alten Irrgänge zu verlassen“), das trauten sich nur vier Mäuse. Sie sind „unge og vævre, men fattige; “ („jung und behende, aber arm.“) 71 Die Hauptrisikoträger der zynischen Aufgabe, ein Rezept zu finden, das es erlauben soll, Arme quasi durch Abfall zu ernähren, sind also selbst arm. Dass sie zudem jung und weiblich sind, unterstreicht die Parallelen zwischen Mäusekönigreich und Menschenwelt hinsichtlich bestehender Machtstrukturen. Jede von den Mäusinnen bekommt einen Wurstspeiler, um den Grund ihrer Reise nicht zu vergessen. Ein Jahr später berichten sie. Eine der Mäuse wird zunächst tot geglaubt und auf der Versammlung durch einen Wurstspeiler mit Trauerflor repräsentiert. Die erste war mit einem Schiff - das zunächst noch die heimischen verworrenen Winkel („Krinkelkrog“) 72 perpetuierte - hinaus in die Welt gefahren. Der Koch dort hatte genug vertraute Zutaten zur Verfügung, so dass sie von ihm nicht lernen konnte, wie man die Suppe von einem Wurstspeiler zubereitet. Sie landete in einem fernen Land, in dem die Wälder keine Wege hatten („vildsomme skove“) 73 und die Wald- und Feldmäuse wenig wussten, besonders was die Bewirtung anging, wegen der die Maus ja eigentlich ins Ausland gereist war. Sie stieß dort schließlich auf eine Gruppe Elfen, die den Wurstspeiler als Maibaum entliehen. Dieser wurde prachtvoll geschmückt und begann, herrliche Glockenspielmelodien von sich zu geben. Bei der Rückgabe des Stöckchens nach dem Fest bat die Maus die Elfen, ihr zu erklären, wie man Suppe aus einem Wurstspeiler koche. Die Elfen erklärten, dies gehe so, wie sie es gerade gezeigt hätten: Sie habe ihren Wurstspeiler ja selbst kaum wieder erkannt. Und weil die Maus diese Erklärung, die auf den Sinn der Redensart bezogen ist (statt diese wörtlich zu nehmen), zu Hause nicht nur erzählen, sondern auch demonstrieren wollte, verzauberten die Elfen den Speiler so, dass nach der Heimkehr der Maus bei der Begegnung mit dem König Veilchen aus ihm sprießen. Die Veilchen duften so stark, dass der König den Mäusen, die dem Schornstein am nächsten stehen, befiehlt, ihren Schwanz ins Feuer zu halten, damit der unerträgliche Duft der Veilchen verdrängt werde. Bei der nächsten Bewegung, welche die Maus mit dem Speiler macht, verschwinden die Veilchen und es erklingen Küchengeräusche - in Ersetzung der Glockenspielmelodien des Elfenfestes. Diese Geräusche lassen die Zubereitung der Suppe akustisch eindrucksvoll nacherleben. Da aber kein Schmaus auf die Töne folgt, hört der Mausekönig die nächste Maus an. 71 EoH 2, S. 149; SM(TD) 1, S. 690 f. 72 „Krinkelkrog“ wird gemeinhin mit „(geheimer) Winkel“, bei Dohrenburg mit „Irrgang“, übersetzt, ist aber in seiner assoziativen und onomatopoetischen Qualität nicht übersetzbar. 73 EoH 2, S. 150. Dohrenburg übersetzt „vildsomme skove“ mit „tiefe Wälder“, „vildsom“ heißt in der Regel „weglos“. Vgl. SM(TD) 1, S. 692. Etymologisch ist es durch Anhängen von -som vom Adjektiv „vild“ („wild“) abgeleitet und weckt somit auf Dänisch Assoziationen, die über die deutsche Übersetzung hinausgehen. Vgl. Nielsen 1969, S. 456. 1 Einleitung 26 Die zweite Maus stammt aus der Bibliothek und erfuhr von ihrer Großmutter, dass man als Dichter Suppe aus einem Wurstpeiler kochen könne. Im Bestreben, Dichter zu werden, verleibte sich die Maus Verstand, Phantasie und Gefühl in Form einer Ameise, einer Feder des Gottes Phantasus und eines von Tränen durchtränkten Romans ein und verdarb sich an letzterem den Magen. All ihre Gedanken gingen danach in Holzstäbchen („Pinde“) 74 auf, über die sie jeden Tag dichten würde, wenn der König sie heiratete - das ist ihre Suppe. Der König will lieber die dritte Maus anhören. Bevor dies geschehen kann, tritt die vierte auf, die bereits tot geglaubt wurde und nun doch verspätet erscheint, um ihre Geschichte zu erzählen. Sie war in die größte Stadt gegangen und dort auf einen Gefängniswärter getroffen, der über seinen Gefangenen sagte, das Ganze sei nur Suppe von einem Wurstspeiler, aber diese Suppe könne dessen Kopf kosten. Auf diese Art weckte er das Interesse der Maus am Gefangenen, mit dem sie sich anfreundete und eine gute Zeit im Gefängnis verbrachte, bis dieser hingerichtet wurde. Nachdem sie kurzfristig selbst in Gefangenschaft (einen Käfig mit Tretmühle) geraten war, wurde sie freigelassen und traf schließlich auf eine Eule, die ihr erklären konnte, was es mit der Suppe vom Wurstspeiler auf sich hat. „’Suppe paa en Pølsepind er kun en menneskelig Talemaade og forstaaes paa forskjellig Maade, og hver troer sin er den rigtigste; men det Hele er egentligt ikke Noget! ’“ („’Suppe von einem Wurstspeiler ist nur eine menschliche Redensart und auf verschiedene Art und Weise zu verstehen, und jeder meint, seine wäre die richtige; aber das Ganze ist eigentlich nichts! ’“) 75 Um dieser Wahrheit („Sandheden“) willen, die ihrer Ansicht nach das Höchste und Beste ist und viel mehr als Suppe von einem Wurstspeiler, will die Maus Königin werden. Aber sie hat die Rechnung ohne die Maus gemacht, die bislang noch nicht sprechen konnte. Diese war nicht gereist, sondern im Lande geblieben, was ihrer Meinung nach das einzig Wahre ist. Sie fordert dazu auf, einen mit Wasser gefüllten Kessel aufzusetzen und tüchtig zum Sieden zu bringen. „’[...] kast nu Pinden i! Vil derpaa Musekongen behage at stikke Halen ned i det Skrupkogende og røre om! jo længer han rører, desto kraftigere bliver Suppen; det koster ikke Noget! der behøves ingen Tilsætninger, - kun røre om! ’“ („’[...] Werfen sie nun den Speiler hinein! Würde der Mäusekönig darauf die Freundlichkeit haben, den Schwanz in das tüchtig siedende Wasser zu stecken und umzurühren! Je länger Er rührt, desto kräftiger wird die Suppe; es kostet nichts! es bedarf keiner Zutaten - es muß nur umgerührt werden.’“) 76 Nachvollziehbarerweise fragt der Mäusekönig, ob das niemand anders tun könne. Als die Maus verneint, beschließt er, sie zu heiraten und die Zubereitung der Suppe bis zur Goldenen Hochzeit aufzusparen. Nach der Hochzeitsfeier bemerken einige der Mäuse, als sie wieder zu Hause sind, man könne dies nicht Suppe von einem Wurstspeiler nennen, eher sei es doch 74 Vgl. EoH 2, S. 156. 75 EoH 2, S. 158; SM(TD)1, S. 704. 76 EoH 2, S. 158; SM(TD)1, S. 705. 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung 27 Suppe von einem Mauseschwanz - und hier folgt das eingangs genannte Zitat und beschließt das Märchen. Im Eventyr wird nach der Übersetzung der Redensart in eine Alltagspraxis gesucht: ein Rezept für Suppe. Gefunden werden von den Mäusen, die erzählen, jedoch ein Verständnis für unterschiedliche Funktionsweisen von Sprache sowie Möglichkeiten des Wissenserwerbs; nur die letzte Maus liefert ein Rezept. 77 Über die verschiedenen Mäuse verhandelt Suppe paa en Pølsepind Weisen, sich zur Welt zu verhalten. In der ersten Maus kann der Typus des Entdeckers erkannt werden, der mit dem Schiff in unberührte Natur vordringt und dort eine Begegnung mit bislang gänzlich unbekannten Wesen (den Elfen, deren Bezeichnung die Maus erst durch diese selbst erfährt) ebenso wie mit den unwissenden und naturnäheren („Skovog Markmusene“ [„Wald- und Feldmäuse“] 78 ) Artgenossen erlebt. Die scheinbar wilde Natur, die Unwissenheit und Naturverbundenheit der Artgenossen in der Fremde sind nach Edward Said oder nach María Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan wiederkehrende Zuschreibungen in kolonialen Diskursen. 79 In diesem Zusammenhang ist es interessant zu bemerken, dass das Ziel des Schiffes „høit oppe i Norden“ („hoch oben im Norden“) 80 liegt, also in einer Region, in der Dänemark im 19. Jahrhundert großflächige koloniale Besitzungen hatte. Stellte die Reise auf dem Schiff noch eine Fortsetzung der heimischen Erfahrung dar, kommt es in der Begegnung mit den Elfen schließlich zum Erwerb eines neuen Wissens durch Begegnung mit dem Fremden, dieses Wissen ist magisch und übertrifft die Kenntnisse und Fähigkeiten der Maus. Durch die Überlegenheit des fremden Wissens werden die kolonialen Stereotype durchbrochen. Die Herausforderung von Wissensmodellen und ihre Erweiterung durch Begegnungen mit anderen Wissensmodellen ist nach Svend Erik Larsen ein zentrales Thema globalisierter Literaturwissenschaft. Im Gegensatz zu wissen-schaftlichem Wissen, das meist auf der Grundlage von Verdrängung operiert, kann Literatur nach Larsen verschiedene Wissensmodelle gleichzeitig erlauben. 81 Das verleiht ihr eine besondere Relevanz in Globalisierungsprozessen. Die Aneignung von Wissen in der Begegnung mit dem Fremden wird in Suppen paa en Pølsepind begünstigt durch die relative Behutsamkeit der Entdeckermaus, die zwar die mangelnden Kenntnisse der ausländischen Artgenossen verachtet, für das Neue der Elfengemeinde jedoch offen ist und von dieser schließlich auch den Hinweis auf die redensartliche Bedeutung der Suppe und zudem Möglichkeiten zu ihrer Zubereitung in einem (akustisch) illustrativen Sinne erhält. 77 Vgl. auch die Interpretation von van Hees (2006, S. 18 f.), die der vorliegenden ähnlich ist, den Akzent aber stärker auf die Frage setzt, ob es sich um ein modernistisches Märchen handelt. 78 EoH 2, S. 150; SM(TD) 1, S. 692. 79 Vgl. Castro Varela/ Dhawan 2005, S. 13, 15 f; Said 2003, S. 40 und passim. 80 EoH 2, S. 150; SM(TD) 1, S. 692. 81 Vgl. Larsen 2007, S. 38 f. 1 Einleitung 28 Es fällt auf, dass in dem Märchen nur die beiden Mäuse, die längere Zeit gereist sind, begreifen, dass es sich um eine Redensart handelt. Wissen, das durch Reisen erworben wird, wird so ein besonderer Status verliehen. Das Verständnis der eigenen Sprache erweitert sich in den Begegnungen mit Fremden. Dabei verläuft bei diesen beiden Mäusen die Kommunikation mit den Fremden ausgesprochen erfolgreich. Die Reaktion des Mäusekönigs, als auf den Zauber der Elfenwelt das Essen ausbleibt, macht jedoch deutlich, dass das Verständnis des Fremden und die Akzeptanz des mitgebrachten Wissens in der Heimat seine Grenzen kennt: ohne Schmaus kein sozialer Aufstieg. Das eindimensional instrumentalistische Wissenskonzept des Zentrums führt zur Unfähigkeit, das Wissen der Peripherien zu integrieren. Die zweite Maus setzt auf eine Kombination von Bücherbildung und einer durch diese Bildung bereits auf bestimmte Ziele ausgerichtete kürzere Reise (zu der Ameise, die sie frisst, und dem Baumgeist, die ihr den Kontakt zum Gott Phantasus vermitteln kann). Sie scheitert jedoch an der Einverleibung des Gefühls, das sie zu einer hölzernen Geschichtenerzählerin werden lässt, die zwar unendlich viel zu Hölzern erzählen kann, dabei vom Verständnis der Bedeutung der Redensart wie von einer praktischen Anwendung gleichermaßen entfernt bleibt. Der Text bricht hier selbstreflexiv das eigene Unterfangen. Erklärt die Großmutter der Maus: „’er man en Digter, saa kan man koge Suppe paa en Pølsepind.’“ („’Ist man ein Dichter, dann kann man Suppe von einem Wurstspeiler kochen.’“ 82 ), so beschreibt sie, was der Text selbst unternimmt: aus einer Redensart eine ganze Geschichte erzeugen. 83 Dass sich die Geschichte im Märchen selbst wiederum aus einem unscheinbaren Ding, dem Wurstspeiler, entwickelt, ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt. Andersens Texte zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen Dingen oftmals das zukommt, was aktuelle dingtheoretische Ansätze als agency bezeichnen. 84 In Suppe paa en Pølsepind werden Materialität, Körperlichkeit, Machtverhältnisse, Bedeutungen und Sprache in einem Prozess steter Verschiebungen und Umcodierungen in Bewegung gebracht, so dass am Ende auch alles anders gewesen sein könnte - vielleicht aber nicht zufällig die am nächsten am physischen Schmerz und der Einbeziehung vom Ding „Wurstspeiler“ angesiedelte Übersetzung gewinnt. Die zweite Maus übernimmt sich, sie verleibt sich zuviel ein, insbesondere zu viele tränendurchtränkte Romane. Grundlegender als die Anspielung auf die bis in die 1820er Jahre vorherrschende Kritik am Roman 85 ist vielleicht die Geste der Einver- 82 EoH 2, S. 153; SM(TD) 1, S. 697. 83 Vgl. auch H. C. Andersens eigenen Kommentar zu dem Märchen in EoH 3, S. 382 sowie van Hees 2006, S. 14-16. 84 Zum Begriff agency vgl. Kapitel 1.3.2. 85 Vgl. Auken 2008b; Auring u. a. 1984, S. 104f., 397 f., 442-444; Kristensen 1965, S. 28; für Deutschland (mit einem Schwerpunkt auf dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert) Jäger 1969, S. 57-64, 79-92. Das kulturelle Leben in Deutschland und Dänemark stand im 19. Jahrhundert in einem engen Austauschverhältnis, so dass Informationen über die deutsche Literaturgeschichte teilweise auch für dänische Zusammenhänge erhellend sein können. Insgesamt ist die 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung 29 leibung selbst, die hier dem Wissenserwerb dienen soll. Diese Geste erinnert (in einer zugegeben etwas gewagten Analogie, die sich mit dem Titel dieses Kapitels vielleicht eher als „Absprung“ bezeichnen lässt) an Beschreibungen des modernen Kapitalismus, wie sie sich etwa bei Peter Sloterdijk unter Bezugnahme auf Walter Benjamin oder bei Immanuel Wallerstein finden lassen. 86 Sie basiert im Märchen auf der Vernichtung des Wissenden (der Ameise, des Romans) oder auf Diebstahl an demselben (dem Gott Phantasus wird eine seiner Federn ohne sein Wissen ausgerissen). Der solcherart entstandene Zugewinn an Wissen drückt auf den Magen und bringt quasi selbst „Suppe von einem Wurstspeiler hervor“ - Geschichten, die sich um Holz drehen und zu dünn sind für den König. Der will die angebotenen Geschichten als Ersatz für die Suppe nicht hören. Die Einverleibung bringt eine sinnentleerte endlose Geschichtenproduktion hervor, die keinen Wert mehr hat. Der vierten Maus hat auf ihrer Reise die Fähigkeit, Freundschaften in der Fremde zu knüpfen und Gefahren zu entkommen, schließlich Einblick in die Wahrheit beschert. Die bereits zitierte Erklärung der Eule „’Suppe paa en Pølsepind er kun en menneskelig Talemaade og forstaaes paa forskjellig Maade, og hver troer sin er den rigtigste; men det Hele er egentligt ikke Noget! ’“ („’Suppe von einem Wurstspeiler ist nur eine menschliche Redensart und auf verschiedene Art und Weise zu verstehen, und jeder meint, seine wäre die richtige; aber das Ganze ist eigentlich nichts! ’“) 87 kommt in einer etwas einfacheren Sprache einer von Wolfgang Mieder gegebenen wissenschaftlichen Definition von „Redensart“ recht nahe: „Für jedes Sprichwort im Kontext gilt es entsprechend drei Aspekte zu beachten: seine Heterosituativität, seine Polyfunktionalität und seine Polysemantizität.“ 88 Die Aussage der Eule weicht jedoch in einem entscheidenden Punkt von Mieders Definition ab: Sie verweist auf das „Nichts“ des Ganzen. In der Tat könnte man annehmen, dass eine heterosituativ auftretende polyfunktionale und polysemantische Aussage keine kommunikative Funktion mehr erfüllen kann. Dass das Sprichwort von jedem anders verstanden werden kann, eigentlich aber nichts ist, verdeutlicht, dass Übersetzungen stets situationsabhängig sind, ihr Ursprung aber ein blinder Fleck bleibt, der zwar vielleicht nicht nichts ist, jedoch nie übersetzt werden kann, ohne um etwas ergänzt zu werden. Die Wahrheit ist dadurch ziemlich ernüchternd und trägt auf diese Weise den Keim ihres Untergangs in sich: Sie ist nicht angenehm, wie die Maus sagt, sie ist leer (ihr Kern ist nichts) und sie kann nicht überzeugen, weil sie praktisch nutzlos ist. In diesem letzten Punkt wird sie von der siegreichen dritten Maus überflügelt. Deren Vorgehen bezieht sich nur indirekt auf eine mögliche Außenwelt, indem sie die Positionen aller Reisenden verwirft und sich direkt ans Zentrum der Macht wendet. Ihr Vorgehen ist ignorant, aber effektiv. Tatsächlich ist sie die einzige, die Verbreitung des Romans eng verbunden mit der Geschichte der Übersetzungen. Vgl. Kristensen 1965, S. 28, 42, 44 f. 86 Vgl. Sloterdijk 2006; Wallerstein 2004a. 87 EoH 2, S. 158; SM(TD)1, S. 704. 88 Mieder 2002, S. 213. 1 Einleitung 30 den Zynismus der Machtverhältnisse im Königreich durchschaut und diesen unmittelbar beantwortet, indem sie die Gewaltausübung umdreht. Nicht zufällig ist sie die Maus, die selbst gedacht hat - hier finden wir 89 den Mut, sich „seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ 90 : Es handelt sich um eine aufgeklärte Maus. Nun soll der König, der kurz zuvor noch seinen Untertanen befohlen hatte, sich zu versengen, um den Veilchenduft zu verdrängen, selbst seinen Schwanz verbrühen. Bemerkenswert an dieser Übersetzung ist die Tatsache, dass sie auf einer anderen Ebene agiert, der Ebene materieller Praxis und der tatsächlichen Entwicklung eines Rezepts. Durch die Übersetzung der Redensart in diese Ebene gelingt es der letzten Maus, als Siegerin aus dem Wettbewerb hervorzugehen. Das ökonomisch motivierte Interesse des Königs, über ein Suppenrezept zu verfügen, das aus Abfall Essen macht, reduziert sich auf sein bloßes Interesse an der Erhaltung der eigenen körperlichen Unversehrtheit. In dieser Szene verschiebt sich das Verhältnis zwischen arm und reich, männlich und weiblich, und zwar aufgrund einer Übersetzung, in der Sprache als ein Akt der Machtausübung anerkannt wird. Es setzt sich nicht die Wahrheit („Sandheden“) durch, sondern die gewaltsamste Übersetzung, aber eben auch diejenige, die sich am ehesten auf die Dinge einlässt, mit denen sie es zu tun hat. Für einen kurzen Augenblick wird eine Vorstellung von Gerechtigkeit inszeniert, die offen legt, wie der Genuss des einzigen Privilegierten bezahlt werden müsste, wenn es Gerechtigkeit gäbe. Zu diesem Ausgleich kommt es nicht, der Aufstieg der Einzelnen wendet den Umsturz des Ganzen ab. Bei der Szene handelt es sich auch um eine Inversion philanthropischer Bemühungen um die Verbesserung der Nahrungssituation Armer, wie sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts beispielsweise von Count Rumford (1753-1814) ausgingen. Rumford, dessen Ideen zur Massenernährung in ganz Europa in Form von Suppenküchen Verbreitung fanden, nahm irrtümlich an, dass Wasser sehr nahrhaft war und wurde durch seine dünnen Suppen bald zum Gespött satirischer Autoren. 91 Statt dünne Armensuppe von Reichen propagieren zu lassen, wird das Rezept des Märchens von einer armen Maus vertreten und fordert vom König einen schmerzhaften Einsatz in der Zubereitung. Die Geschichte wandert nicht nur als übersetzter Text um die Welt, sondern auch als Text, dessen Inhalt gekennzeichnet ist von den Schwierigkeiten einer solchen Wanderung. Damit verweist sie auf Prozesse, die im Kontext von Globalisierung genannt werden. Das unübersetzbare Sprichwort führt in einen Brennpunkt literaturwissenschaftlicher Globalisierungsdiskussionen: das Problem der Übersetzung. 89 Es ist problematisch, „Ich“ zu schreiben, wenn das hier vertretene Ich-Verständnis die üblichen Subjekt-Objekt-Grenzziehungen nicht teilt. Das „Wir“ hat den Vorteil, inklusiver zu sein. Mit dem weitgehenden Verzicht auf Ich-Aussagen soll nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass diese Arbeit aus einer bestimmten Perspektive geschrieben wird. Das „Wir“ drückt die Hoffnung aus, diese Perspektive könne auch momentweise von anderen eingenommen werden. 90 Kant 1923, S. 35. 91 Vgl. Brown 1999, S. 111-113. Den Hinweis auf die Rumfordsche Suppe habe ich bei einer Projektpräsentation im Rahmen des Kompetenznetzwerks Skandinavistik erhalten. 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung 31 Übersetzung wird in dieser Arbeit in einem weiteren Sinne als zentraler Bestandteil kommunikativer Akte vor dem Hintergrund unterschiedlicher Voraussetzungen des Verstehens begriffen. Die Unterschiede können dabei sprachräumlich sein, umfassen aber auch kulturelle oder soziale Faktoren. Aus heutiger Perspektive ist die Übersetzung der Redensart zusätzlich erschwert: Neben das sprachräumlich und durch alltagskulturelle Faktoren begrenzte Verstehen tritt die historische Distanz, die dazu führt, dass auch die bloß wörtliche Übersetzung („Wurstspeiler“) einer Erläuterung bedarf. Die Tradition literarischen Übersetzens umfasst einen deutlich längeren Zeitraum als die vergangenen zweihundert Jahre, im 18. und 19. Jahrhundert kam es jedoch zu bedeutenden Veränderungen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts pluralisierten sich die Sprachen, aus denen und in die übersetzt wurde. 92 Andersen bewegte sich mit der Ausbildung in einer Lateinschule in einem schon lange existierenden fremdsprachlich geprägten Bildungsraum, der die Struktur des literarischen Feldes in Dänemark wesentlich beeinflusste. 93 Übersetzung hatte in den höheren Bildungsinstitutionen lange Zeit hauptsächlich zwischen Latein, Griechisch und Hebräisch und der jeweiligen Muttersprache stattgefunden. Latein war die Sprache der Wissenschaft, während am Hof Deutsch und Französisch zentral waren. Im Laufe des 18. und des 19. Jahrhunderts wurde jedoch nationale Bildung wichtiger. Dadurch gewannen auch die nationalen Sprachen an Bedeutung. 94 Andersen hatte in seiner frühen Begeisterung für Shakespeare und andere englische Autoren Teil an der wachsenden Bedeutung von Übersetzungen zwischen den sich formierenden Nationalsprachen, die mit der Vergrößerung des literarischen Marktes und seiner Stärkung einherging. 95 Die Erschließung eigener und fremder Nationalsprachen ging Hand in Hand; Nationalisierung und Transnationalisierung standen auch hier in keinem Gegensatzverhältnis. Gerade aus dem Vergleich mit Deutsch, Französisch und Latein war im 18. Jahrhundert der Wunsch nach einer in Höflichkeit, wissenschaftlicher und literarischer Ausdrucksfähigkeit gleichwertigen dänischen Sprache entstanden, 96 und die nationalromantische Zuwendung zur Volkssprache wird auch für Dänemark auf Herder zurückgeführt. 97 Die Geburt der Nationalphilologien war ein transnationales Ereignis. Der Fall des Deutschen ist für Dänemark insofern ein Sonderfall, als Dänemark bis ins 18. Jahrhundert in vieler Hinsicht ein bilinguales Land war. Königshof und Adel sprachen hauptsächlich deutsch, Verordnungen für das Heer waren zweisprachig, Soldaten und Handwerker sprachen oft eine Mischsprache aus Dänisch und 92 Für den deutschen Raum, der Dänemark stark beeinflusste, vgl. Tgahrt u. a. 1982, S. 5 f. 93 Vgl. Kristensen 1965, S. 34-37. 94 Vgl. Casanova 2004, S. 48-81; Conrad 1996; Feldbæk 1991, S. 253-261 (zur Situation in den Almueskoler, den kommunalen ländlichen Schulen, vgl. ebd., S. 262-282); Rerup 1992, S. 339 f. 95 Vgl. hierzu die Jugendschilderungen der Autobiographien sowie Bredsdorff 1954, S. 11-35. 96 Vgl. Fjord Jensen u. a. 1983, S. 253-261. 97 Vgl. Michelsen 2008, S. 34-56. 1 Einleitung 32 Deutsch und verbrachten ihre Wanderjahre im jeweiligen Nachbarland, was auf eine funktionierende Verständigung schließen lässt. In einigen Schulen wurde auf Deutsch unterrichtet und es gab große deutsche Kirchengemeinden. Ende des 18. Jahrhunderts entstanden jedoch sprachpuristische Ansätze, die sich ab dem 19. Jahrhundert mit nationalistischem Denken verbanden. Es kam zu einer sprachlichen Danisierung und die Spannungen zwischen dänisch- und deutschsprachiger Bevölkerung wuchsen. 98 Mit den politischen Konflikten ergab sich in diesem Verhältnis ein größeres Bewusstsein für trennende Aspekte. Dennoch blieb der Einfluss der deutschen Sprache und Literatur groß. Mit deutschsprachigen Zitaten und Ausdrücken durchsetzte Passagen sind in Andersens Reisebüchern und Autobiographien keine Seltenheit. 99 Eine Übersetzung schien nicht erforderlich zu sein. Zwar finden sich auch englische, französische und schwedische Zitate ohne Übersetzung, diese sind jedoch weitaus seltener. Diesen hybriden Elementen steht eine lange Geschichte von Übersetzungen gegenüber, denen Andersens Texte unterworfen waren, und die sie oftmals nationalsprachlichen Kulturen anpassten und dabei homogenisierten. Mit der wachsenden Zahl von Übersetzungen verband sich auch eine vermehrte theoretische Reflexion des Übersetzens; auf diesem Gebiet waren im 19. Jahrhundert vor allem deutschsprachige Denker wie Herder, Goethe, die Brüder Schlegel und Schleiermacher zentrale Figuren im europäischen Diskurs. 100 Dass Übersetzen emotionale, soziale, kulturelle und historische Distanzen umfasst, stellt schon Schleiermacher in Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813) klar. Er plädiert für eine bereichernde Befremdung durch Übersetzungen, die die Eigenart des Fremden nicht zugunsten des Eigenen einebnet. 101 Eine solche Bereicherung des Eigenen durch Fremdes lässt sich in Andersens Texten vielfach beobachten. Die Texte verbinden sich mit Intertexten anderer Länder und plädieren für eine länderübergreifende Offenheit. Soll eine Übersetzung erfolgreich die Fremdheit einer anderen Sprache transportieren, setzt dies nach Schleiermacher von Seiten des Lesers die Kenntnis zumindest möglichst vieler Übersetzungen aus unterschiedlichen Sprachräumen und Zeiten voraus, damit er bestimmte Formen der Fremdheit voneinander abzugrenzen lernt. 102 Vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung nationalistischer Abgrenzungsbestrebungen im 19. Jahrhundert ließe sich ergänzen, dass die Akzeptanz eines solch fremden Elements im Eigenen auch Toleranz erfordert. Für diese Tugend treten zahlreiche Eventyr og Historier ein. 98 Vgl. Winge 1992, S. 185-334. 99 Vgl. z. B. Re 1, S. 66, 80 f., 130, 135 f., 138, 170, 178-181 (Skyggebilleder af en Reise til Harzen, det sachsiske Schweitz etc. etc., i Sommeren 1831 (Schattenbilder von einer Reise in den Harz, die sächsische Schweiz etc. etc., im Sommer 1831) (1831)) oder Se 2, S. 87, 90 f., 107, 115, 134, 157, 164 f., 258, 260-263, 268 f., 281 286, 300, 308, 317, 319, 323; Se 3, S. 22, 151 (Mit Livs Eventyr (Meines Lebens Märchen) (1855)). 100 Vgl. Weissbort/ Eysteinsson 2006, S. 195; Tgahrt u. a. 1982, S. 6 f. 101 Vgl. Schleiermacher 2002, S. 67, 72, 84 f., 88-93. 102 Vgl. ebd., S. 82-84. 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung 33 Während die Eventyr og Historier die Ablehnung und Abwertung von Unbekanntem oft als Unverständnis entlarven, als Unfähigkeit, die Andersartigkeit des Anderen auszuhalten, wurden sie selbst vielfach Opfer einer simplifizierenden Einverleibung. Die Wahrnehmung Andersens als Autor von Kindermärchen hängt auch mit den unzureichenden Übersetzungen der Eventyr og Historier zusammen, die beispielsweise im englischen Sprachraum sexuelle Anspielungen tilgten, um britischen Moralvorstellungen zu entsprechen. 103 Es ist jedoch nicht allein bewusst entstellenden Übersetzungen zuzuschreiben, dass die Doppelbödigkeit der Eventyr og Historier ihren fremdsprachigen Lesern oft entgeht. Georg Brandes, einer der wichtigsten dänischen Literaturkritiker des 19. Jahrhunderts, erklärt in der deutschen Version seines Andersen-Essays mit Bedauern, dass es bei vielen Wendungen, die sich in Andersens Texten finden, unmöglich sei, sie in einer fremden Sprache wieder zu geben: „Für den Fremden dürften sonach besonders diejenigen darunter leiden, in denen Andersens Humor, der so fein und wohltuend ist, sich auf Kosten seiner mitunter etwas peinlich berührenden Empfindsamkeit geltend macht.“ 104 Dieses Problem stellt sich auch für die vorliegende Arbeit. Deshalb ist es immer wieder notwendig, die verwendeten Übersetzungen zu kommentieren oder selbst Alternativen vorzuschlagen. Dies ist nicht immer den Übersetzungen anzulasten, sondern der Unübersetzbarkeit mancher Aspekte der dänischen Sprache. Dennoch werden Übersetzungen keineswegs als Prozesse betrachtet, die unweigerlich einen Verlust gegenüber dem Original bedeuten. Übersetzungen sind notwendige Mittler in einem literarischen Netzwerk, die Nähe erzeugen können und Differenzen erkennbar machen. Denkt man über Übersetzungen im 19. Jahrhundert nach, muss nicht zuletzt der ökonomische Aspekt angesprochen werden. Mit wachsender Alphabetisierung und zunehmender Verbreitung literarischer Texte entstanden auch neue attraktive Märkte. Auch in dieser Hinsicht ist Andersen eine spannende Figur. Urheberrechtsdiskussionen trugen wesentlich zur Entstehung der Autorschaftskonzepte des 19. Jahrhunderts bei. 105 Andersens Selbstinszenierungen müssen auch in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Im Ausland setzte er sie gezielt ein, um wertvolle Kontakte zu knüpfen und zugleich für das Publikum eine Person hinter dem Text erkennbar werden zu lassen, die Lohn verdiente. Diese Kontakte erlaubten es, Honorare für die Übersetzungen seiner Werke zu sichern und unautorisierte Übersetzungen zu beschränken, indem er beispielsweise ausländischen Vertragspartnern seine Texte schickte und diese vor oder zeitgleich mit der dänischen Ausgabe veröffentlichen ließ. 106 103 Vgl. z. B. Jones 1993. 104 Brandes 1902, S. 120. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Anz 2005, S. 36. Andersens Übersetzerin Anne Bushby äußert in einem Brief an Andersen: „There is, however, a beautiful simplicity in the Danish language, of which the English language is scarcely capable.“ (zit. n. Bredsdorff 1954, S. 318). 105 Vgl. Kittler 1980, S. 150; Seville 2009, S. 13-16. 106 Vgl. z. B. Bredsdorff 1954, S. 141-226; Hersholt 1948. 1 Einleitung 34 Auch in Suppe paa en Pølsepind lässt sich erkennen, dass der Aufbruch in die Welt und der damit verbundene Wissenstransfer eine ökonomische Dimension haben. Die am Wettstreit teilnehmenden Mäuse sind ausnahmslos arm, was im Eventyr ihren Wagemut, in die Welt zu reisen (sofern sie dies tun), begründet. Ihre Bemühungen zielen auf den Erwerb eines spezifischen Wissens ab, dessen Einsatz ihnen in der Heimat den sozialen Aufstieg erlauben soll. Die Bewertung des erworbenen Wissens durch den König folgt einer Logik des ökonomischen Interesses, was sich an seinen Reaktionen auf die jeweiligen Antworten der Mäuse deutlich zeigt. Auf der Grundlage dieses nutzenorientierten Wissensverständnisses wird dem fremden Wissen durch den Mäusekönig sein Wert aberkannt. Damit folgt er einer allgemeinen Tendenz des 19. Jahrhunderts, das durch Asymmetrien im Wissenstransfer gekennzeichnet war. Die Rationalisierung und Instrumentalisierung von Wissen führte zu einer Nichtanerkennung außereuropäischen Wissens (abgesehen von religiösem und ästhetischem Wissen, dessen Wert jedoch keine allgemeine Anerkennung fand). 107 Suppe paa en Pølsepind nimmt gegenüber der gewinnorientierten und hierarchischen Gesellschaftsordnung eine kritische Haltung ein. Die dem königlichen Erkenntnisgewinn zugrunde liegende Absicht ist Ausdruck einer mäuseverachtenden Denkweise und wird zuletzt als solche bestraft. Die Suppe von einem Wurstspeiler soll aus einem in der Mäusegesellschaft überflüssigen Gegenstand eine Mahlzeit erzeugen; die Wurstspeiler sind das einzige, was beim anfänglichen Festessen übrig blieb. Die mit dieser Aufgabe verbundenen Witze gehen auf Kosten der Armen, die potentielle Konsumenten der Abfallsuppe sind. Am Ende aber kommt es - zumindest für einen begrenzten Zeitraum - zu einem Umschlag der Machtverhältnisse. 108 Dass die Ökonomie eine besonders zentrale Position hinsichtlich globaler Entwicklungen einnimmt, ist kaum zu bestreiten. 109 Sie stellt in ihrer materiellen, aber auch imaginativen Qualität einen thematischen Schwerpunkt dieser Arbeit dar, ohne, dass davon ausgegangen wird, dass sie als ein von Kultur oder Politik abtrennbares Gebiet existiert. 110 Angeschnitten wird in dem Märchen die Vorstellung von Raum - wie im Falle des Schiffes, das den heimischen Winkel fortsetzt, oder der scheinbar unberührten Natur, in der die erste Maus landet. Dass die Geschichten, die im Eingangszitat dieser Arbeit genannt wurden, rund um die Welt („Verden rundt“) gehen, ist Indiz der kugelförmigen Weltvorstellung, die das Pendant zu Globalisierung im räumlichen 107 Vgl. Osterhammel 2009, S. 1105, 1151 f. 108 Vgl. auch van Hees 2006, S. 16 f. 109 Der Begriff „Globalisierung“ stammt aus den Wirtschaftswissenschaften. Vgl. Osterhammel/ Petersson 2007, S. 7. Immanuel Wallersteins einflussreiches Konzept einer Weltgeschichtsschreibung fußt auf einem ökonomiehistorischen Ausgangspunkt Vgl. Wallerstein 1986, 1998, 2004a sowie zur Einführung 2004b. Hans-Heinrich Noltes Weltgeschichte ist von diesem Konzept inspiriert. Vgl. Nolte 2005, S. 338. 110 Vgl. diesbezüglich auch Wallerstein 1990a; 1990b, S. 63; 2004b, S. 21. 1.2 Absprung: Globalisierung - historische Perspektivierung 35 Denken ist. Raumvorstellungen sind oftmals gebunden an Normierungen - so wollen die Mäuse jeweils „til et af Verdens fire Hjørner“ („in eine der vier Ecken der Welt“ [Übers. F.F.]) 111 gehen. Dass die Welt sich in vier Ecken aufspannt, ist vermutlich eine Vorstellung, die im Zusammenhang mit zweidimensionalen Weltkarten entstanden ist. Solche normierten Vorstellungen können bestimmte Bewegungen im Raum wahrscheinlicher machen als andere, wie es auch in Suppen paa en Pølsepind zunächst der Fall zu sein scheint. Allerdings stellt sich heraus, dass die Wege der anfangs gerichtet auseinander strebenden Mäuse im Verlaufe des Märchens immer diskontinuierlicher und unterschiedlicher verlaufen; eine Maus verweigert sich der Bewegung sogar gänzlich. Diese räumlichen Details sind hinsichtlich der Struktur der Welt im Märchen aufschlussreich. Der privilegierte Status des auf Reisen erworbenen Wissens wurde bereits hervorgehoben, dabei ist entscheidend, dass das Reisen nicht nur den heimischen Winkel perpetuiert. Durch den Eindruck scheinbar unberührter Natur bei der Ankunft der ersten Maus im unbekannten Land wird zunächst ein typisches Bild europäischer Expansionsbestrebungen reproduziert und kurz darauf gebrochen durch das überlegene Wissen der Fremden. Auch die Ängste und Bequemlichkeiten, die einem Verlassen der Heimat im Wege stehen, werden angesprochen, ebenso wie die ökonomischen Motive, die es wahrscheinlich machen können. Konzepte von Raum und dessen Wahrnehmung sind für eine globalisierungstheoretisch fundierte Perspektive auf Literatur wichtige Ansatzpunkte. 112 Raum ist eine Schlüsselkategorie für die Analyse von Globalisierungsprozessen. Dabei sind mehrere Ebenen zu unterscheiden. Einerseits kommt es im 19. Jahrhundert mit der europäischen Expansion, der Technisierung der Welt, der Veränderung landwirtschaftlicher Produktionsweisen und neuen Konzepten der Stadt- und Raumplanung zu einer Umgestaltung des physischen Raums; zugleich verändert sich in diesem Zusammenhang die Vorstellung und Wahrnehmung desselben. Die Intensivierung weltwirtschaftlicher Austauschprozesse und die neuen Vorstellungen der Organisation sozialen Zusammenlebens, die mit der Vergrößerung von sozialen Netzwerken einhergehen, stehen in einem komplexen Wechselverhältnis. Der immer umfassenderen Einschließung von Gebieten stand die gleichzeitige Ausschließung bestimmter sozialer Strukturen gegenüber. Immanuel Wallerstein verweist darauf, dass universalistische Ideale im Kapitalismus von Sexismus und Rassismus begleitet werden, die Ausbeutungsverhältnisse stabilisieren. Rassistische Grenzziehungen bleiben dabei relativ flexibel. 113 Ein- und Ausschließung erscheinen nach Niklas Luhmann im Verlauf von Globalisierungsprozessen zunehmend ungesteuert und unsteuerbar. 114 Das führt einerseits zu Versuchen bewusster Ab- und Ausgrenzung, die so unterschiedliche räumliche Konstellationen wie das Interieur 111 EoH 2, S. 149. Dohrenburg übersetzt mit „in eine andere der vier Himmelsrichtungen“ (SM(TD) 1, S. 691). 112 Vgl. Ette 2001, S. 13 15; Steinmetz 2000, S. 194-198. 113 Vgl. Balibar/ Wallerstein 1992, S. 39-48. 114 Vgl. Luhmann 1994. 1 Einleitung 36 und den Nationalstaat hervorbringen. Diese Räume haben reale Gestalt und sind zugleich Phantasmagorien. Sie entstehen vor dem Hintergrund globaler Vernetzungsprozesse und werden, trotz ihres oftmals polemischen Verhältnisses zu denselben, durch diese erst erlaubt und vorangetrieben. Andererseits kommt es zu der bereits von Karl Marx konstatierten „Vernichtung des Raums durch die Zeit“, „d. h. die Zeit, die die Bewegung von einem Ort zum andren kostet, auf ein Minimum zu reduzieren“ 115 . Diese wurde durch neue oder ausgebaute Transport- und Kommunikationstechniken und die damit verbundene immer weiter reichende und schneller vonstatten gehende Zirkulation ermöglicht 116 und schloss Entmaterialisierungsprozesse, im 19. Jahrhundert vor allem für die Erscheinungsformen von Geld, ein. 117 In dieser Arbeit wird deshalb die Rekonstruktion zweier, im Globalisierungszusammenhang signifikanter Raumtypen ausgehend von ausgewählten Texten Andersens unternommen: Interieur und moderne Großstadt, letztere mit einem Akzent auf urbaner Unterhaltungskultur, für die das Kongelige Teater und der Tivoli, Kopenhagens Vergnügungspark, als Beispiele dienen. Diese Rekonstruktion bleibt in ihrem Zugang kontextabhängig; einerseits bestimmt durch die Forschungstraditionen, in die sie sich einschreibt, andererseits durch ihre Ausgangspunkte in den Texten Andersens. Zudem kann sie nur unvollständig erfolgen. Damit verbindet sich das Eingeständnis, dass eine objektive Rekonstruktion geschichtlicher Räume unmöglich ist. Das liegt einerseits daran, dass die hier vorgestellten Räume das Ergebnis eines transnationalen Vernetzungsprozesses sind, der eine endlose Kette von Vermittlungen und Übersetzungen entfaltet. Andererseits ist eine solche Rekonstruktion auch epistemologisch unmöglich. Ein vom Beobachterstandpunkt unabhängiger Raum ist nur eine Möglichkeit, Raum zu denken, deren Wahl wiederum nicht vom Beobachterstandpunkt unabhängig ist. Deshalb gibt es keine Raumdarstellung, die vom Darsteller unabhängig wäre. Nach David Harvey kann Raum auf drei verschiedene Arten verstanden werden: 1. Als absoluter Raum, der fixiert werden kann und innerhalb dessen Ereignisse verzeichnet und geplant werden können. 2. Als relativer Raum, der als Beziehung von existierenden Objekten zueinander begriffen wird und dessen Verständnis zudem abhängig ist von der ihm zugrunde gelegten Geometrie und den Kriterien seiner Inbeziehungsetzung. Diese Form des Raumdenkens entstand vor allem auf der Grundlage nicht-euklidischer Geometrie, die im Laufe des 19. Jahrhunderts systematisch entwickelt wurde. 3. Als relationaler Raum, der in Objekten enthalten ist in dem Sinne, dass die Existenz eines Objekts nur gesetzt werden kann, insofern es in sich Beziehungen zu anderen Objekten enthält und repräsentiert. Harvey verweist in diesem Zusammenhang auf Leibniz. Die Beziehung besteht hier im Unterschied zur zweiten Form weniger zwischen Objekten, sondern das Objekt selbst ist immer schon Beziehung. 115 Marx 1981, S. 438. 116 Vgl. z. B. die kompakte Übersicht bei Zorn 1977. 117 Zur zentralen Funktion von Geld, insbesondere Papiergeld, in transnationalen Homogenisierungsprozessen der Moderne vgl. Zons 2000, S. 16 f. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 37 [T]he relational view of space holds that there is no such thing as space or time outside the processes that define them. [...] The concept of space is embedded in or internal to process. [...] We must therefore focus on the relationality of space-time rather than of space in isolation. 118 Welcher Rahmen gewählt wird, um Raum zu denken, hängt vom behandelten Phänomen ab, zudem gibt es ein Zusammenspiel dieser Raummodelle, das ein dialektisches Spannungsverhältnis erzeugen kann. 119 Darüber hinaus ergänzt Harvey die Unterteilung erfahrenen, konzeptualisierten und gelebten Raums, die er von Lefebvre übernimmt. Handelt es sich bei ersterem um materiellen Raum, steht konzeptualisierter Raum für dessen Repräsentationen, während die letzte Kategorie Räume der Repräsentation, beispielsweise Erinnerungsräume, umfasst. So entsteht eine komplexe Matrix, anhand derer Räumlichkeit gedacht werden kann. 120 Aufgrund der Koexistenz dieser Raummodelle wird deutlich, dass eine vollständige Rekonstruktion geschichtlicher Räume auch unmöglich ist, weil sie zu viele Aspekte umfassen müsste. Die Texte Andersens eignen sich als Zugang, weil sich hier eine große Bandbreite an Raumkonzepten in ihrem Zusammenspiel rekonstruieren lässt, und zudem in den Texten typische Räume des 19. Jahrhunderts ebenso wie typische Räume von Globalisierungsprozessen eine Gestalt finden, die mit theoretischen Konzepten in einen Dialog treten kann. Die Texte liefern in Verbindung mit Theorien des Raumes wertvolle Impulse, Raumerfahrungen des 19. Jahrhunderts zu denken und mit ihnen den Zusammenhang ihrer Entstehung. Dabei wird von einer Wechselwirkung von Text und Welt ausgegangen. Bevor jedoch in Andersens Textmaterial eingetaucht wird, sollen noch einige grundlegende Gedanken zur Konstruktion des Sozialen vorausgehen. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 1.3.1 Quasi-Objekte Im Mäusekönigreich treffen die Mäuse an der Tafel zusammen. Mit einer Rattenmahlzeit eröffnet Michel Serres’ Parasit. Darin stellt Serres die Frage: „Was heißt das: miteinander leben, was ist das Kollektiv? “ 121 Und er entwickelt eine „Theorie des Quasi-Objekts“ 122 , in der das Kollektiv in der Zirkulation eines Quasi-Objekts entsteht. Das Quasi-Objekt markiert die jeweils am Kollektiv beteiligten Subjekte, 118 Harvey 2006, S. 123; zu den drei Konzepten vgl. ebd. S. 120-129. 119 Vgl. ebd., S. 126. 120 Vgl. ebd., S. 129 ff. 121 Serres 1987, S. 344. 122 Vgl. ebd., S. 344-360. Vgl. auch Roßler 2008, S. 82-85. Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen dem Begriff des Quasi-Objekts bei Michel Serres und bei Bruno Latour vgl. ebd., S. 89 f. 1 Einleitung 38 lässt sie hervor- und wieder zurücktreten; es ist das wahre Zentrum des Kollektivs anstelle der Subjekte. „Die Frage bleibt stets: Welche Dinge sind zwischen wem? “ 123 Eines der Beispiele, die Serres nennt, ist der Ball im Ballspiel, nach dem sich das Verhalten der Spielenden richtet. Das Kollektiv entsteht für Serres letztlich durch einen Verzicht des Ich, sein Zurücktreten, seine Delegation. „Partizipation ist die Wanderung des Ich durch Weitergabe“ 124 , so Serres. Das Zurücktreten wird im Spiel ermöglicht durch Stellvertreter wie den Ball. Ein anderer, ambivalent zu bewertender „Joker“ 125 , den Serres nennt, ist das Geld: „Ich bin reich, also bin ich. Das Geld ist voll und ganz mein Wesen. Der wahre Zweifel ist die Armut.“ 126 Auch die Sprache betrachtet Serres als Quasi-Objekt. Sprache kann sich dem Geld nähern, dann wird sie „zum blanksten und plattesten aller Quasi-Objekte“ und „schafft zeitweilige, konturlose Kollektivitäten, deren Macht ihrer Klebrigkeit proportional ist.“ Manchmal hat sie aber auch Teil an der Schaffung eines Wir, das für Serres zustande kommt, wenn Quasi-Objekte zu Subjekten werden, wenn die rasante Zirkulation einer „wachen Atmosphäre der Ekstase“ 127 weicht. Was bedeutet das? Das Wir ist verbunden durch den Tisch, an dem es sitzt, und die Sprache, die es spricht. Vielleicht ist es ein Innehalten, das das (An-)Erkennen des Tisches und der Sprache erlaubt und so das Wir schafft. Das Wir ist dann momenthaft gegenwärtig. Andersens Texte widmen Quasi-Objekten gesteigerte Aufmerksamkeit und können selbst als solche begriffen werden. 128 Sie begeben sich dabei auf die Spuren der Funktionsweise von Quasi-Objekten und werfen einen Blick auf sie, der gleichermaßen befremdet wie einleuchtet. Der Wurstspeiler und das dazugehörige Sprichwort in Suppe paa en Pølsepind können als ein solches Quasi-Objekt gelesen werden. Sie stellen eine Beziehung zwischen den Mäusen her und verändern ihren Status. Der Wurstspeiler kreuzt ständig die Grenzen zwischen Wort und Ding, und auch innerhalb dieser Gestalten transformiert er sich: vom tönenden Wunderspeiler zum zwingenden, einfachen Stück Holz in heißem Wasser; vom sprudelnden Erzählungsquell zum Ganzen, das eigentlich nichts ist. Dies Ganze wird aber vom Wurstspeiler, dem jeder seine eigene Bedeutung verleihen kann, zusammengehalten. Zuletzt thront der Wurstspeiler drohend über der Beziehung des Königspaars und stabilisiert so die neue Gesellschaft. 1.3.2 Das Soziale als Kollektiv, Dinge als Aktanten In Serres’ Parasit verschieben sich begriffliche Bedeutungen in den immer neuen Konstellationen ihres Auftretens, so dass eine Suche nach Definitionen in diesem Sprechen „mit mehreren Stimmen“ 129 auf immer Neues stieße. Der Begriff des So- 123 Serres 1987, S. 353. 124 Ebd., S. 350. 125 Ebd., S. 352. Zum Joker vgl. auch ebd., S. 235-250. 126 Ebd., S. 352. 127 Ebd., S. 357. 128 Vgl. Kapitel 2.3.1. 129 Vgl. Serres 1987, S. 15. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 39 zialen findet in der „Theorie des Quasi-Objekts“ keine Verwendung, hier wird meist „Kollektiv“ oder „Wir“ für miteinander verbundene Dinge und Menschen verwendet. 130 Die von Michel Serres beeinflussten Arbeiten Bruno Latours ziehen neben „Kollektiv“ auch den Begriff des Sozialen heran. Obgleich Latours Arbeiten Definitionen ein größeres Gewicht einräumen als diejenigen von Michel Serres, finden sich auch in ihnen unterschiedliche Begrifflichkeiten. 131 Die folgende Darstellung von Latours Texten erhebt nicht den Anspruch, diesen Begriffsverschiebungen nachzugehen oder ihre Systematik (falls von einer solchen gesprochen werden kann) zu erforschen. Sie soll lediglich die zentralen Punkte und ihre Relevanz für Andersenlektüren herausstellen. In seiner Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft setzt Latour sich ausführlich mit Definitionen des Sozialen auseinander. Sein Ziel hierbei ist es, den Begriff neu zu definieren. Indem Latour bestimmte Vorstellungen des Sozialen kritisiert, verdeutlicht er, was die Pointe seiner eigenen Definition ist. Der Begriff des Sozialen lässt sich seit dem 18. Jahrhundert nachweisen. 132 Er hat Teil an einer epistemischen Konstellation, die Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge rekonstruiert hat: dem Auftauchen des Menschen als „Falte in unserem Wissen“ 133 . Foucault verfolgt in seinen Werken unter anderem, wie moderne Vorstellungen von Subjektivität entstanden sind. Das Konzept einer autonomen und rationalen Subjektivität, die Ausgangspunkt intentionaler Handlungen ist, hat sich in vieler Hinsicht als problematisch erwiesen. Dieses Verständnis von Subjektivität beruht nach Latour auch auf der Verdrängung des dinglichen Anteils bei der Konstruktion des Sozialen. Im Deutschen Wörterbuch lässt sich in der Definition des Sozialen als „was die menschliche gesellschaft, das zusammenleben der menschen und seine staatlich-rechtliche-ordnung wie die wirtschaftlichen verhältnisse betrifft“ 134 das Primat des Menschlichen in Definitionen des Sozialen erkennen. Genau diese Form, Soziales zu denken, will Latour kritisch revidieren und so einen weiter gefassten Gesellschaftsbegriff etablieren. Dieses erweiterte Verständnis des Sozialen ist ebenso im Begriff selbst angelegt: Das lateinische socius kann neutraler als „teilnehmend, in Verbindung stehend, zugesellt“ 135 übersetzt werden. Latour kritisiert einen Begriff des Sozialen, der Dinge ausblendet. Diese Blindheit wird jedoch, wie wir noch sehen werden, in Andersens Texten immer wieder aufgehoben. Für den Wissenschaftssoziologen Latour dagegen ist das Ausgrenzen des Dinglichen aus Vorstellungen des Sozialen ein Charakteristikum der Moderne. 136 130 Im französischen Original: „collectif“ bzw. „nous“. Vgl. Serres 1980, S. 301-314. 131 Vgl. Kneer 2008, S. 275, 295-302. 132 Vgl. Kluge 1999, S. 773. 133 Foucault 1974, S. 27. 134 Grimm/ Grimm 1963, Bd. 10, 1. Abt., Sp. 1826. 135 Kluge 1999, S. 773. Vgl. Latour 2007, S. 18 f. 136 Vgl. auch Kapitel 1.3.5. 1 Einleitung 40 Der Großteil der Soziologie unterscheidet nach Latour den Realitätsbereich Gesellschaft von anderen Bereichen wie Ökonomie, Biologie, Recht oder Wissenschaft. 137 War das Soziale oder Gesellschaftliche in dieser Form von der Soziologie als Sphäre einmal zumindest vage definiert, wurde es als Erklärungsmodell herangezogen: „[M]it der Berufung auf ‚soziale Faktoren’ ließen sich die ‚sozialen Aspekte’ nicht-sozialer Phänomene erklären.“ 138 Den dieser soziologischen Richtung zugrunde liegenden Gesellschaftsbegriff kritisiert Latour als unzureichend. Er lehnt die Abgrenzung des Sozialen von anderen Realitätsbereichen ab. Die Akteur-Netzwerk- Theorie, deren prominentester Vertreter er ist, soll durch das „Nachzeichnen von Assoziationen“ 139 erklären, was die bisherige Soziologie weitgehend voraussetzte: das Entstehen sozialer Aggregate. Wie bei Michel Serres ist auch für Latour die Frage „Welche Dinge sind zwischen wem? “ hier zentral. Assoziationsbildungen lassen sich nicht ohne ihre dingliche Komponente erklären. Latour möchte - wie auch Martin Heidegger in seinem Text zum Ding - vor allem eine Wortbedeutung ins Gedächtnis rufen, die im dänischen ting, das auch das „Parlament“ bezeichnet, noch enthalten ist: die Bedeutung von Dingen in Versammlungen. 140 In Das Parlament der Dinge verwendet Latour den Dingbegriff „in seinem etymologischen Sinne [...], der immer auf einen Konfliktstoff innerhalb einer Versammlung verweist, die eine Diskussion führt, welche ein gemeinsam getragenes Urteil erfordert, im Unterschied zum Objekt.“ 141 Er definiert in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft Dinge als „umstrittene[n] Gegenstände[n] virtueller Versammlungen“ 142 . So ist dem Begriff die uneindeutige Definition in seiner Eigenschaft als Streitgegenstand eingeschrieben. Eine präzise Definition von Ding gibt es auch in Wörterbüchern nicht: Gerade das Unspezifische ist eine wichtige Komponente des Begriffs. Er kommt oftmals dann ins Spiel, wenn keine konkretere Bezeichnung gegeben werden kann oder will, wie auch das Ordbog over det danske Sprog für das dänische Äquivalent, ting, festhält. 143 Ein Ding kann sinnlich wahrnehmbar oder ge- 137 Vgl. Latour 2007, S. 12-15. Zum Begriff des Sozialen vgl. auch Strum/ Latour 1987, S. 784-786, 790-796. 138 Latour 2007, S. 13. 139 Ebd. 2007, 17. Vgl. ebd., S. 9-38 sowie die Kritik an Latours Darstellung der „Soziologie des Sozialen“ von Georg Kneer (2008, S. 279 f., 299-301) und Markus Schroer (2008, 373 f., 384, bes. FN 12). 140 Vgl. Heidegger 2000, S. 175-177; Latour 2007, S. 209. 141 Vgl. Latour 2010, S. 286. 142 Vgl. Latour 2007, S. 209. 143 Hier heißt es unter anderem, ting sei eine „ubestemt betegnelse for noget der sker“ („unbestimmte Bezeichnung für etwas, das geschieht“ [Übers. F. F.]), werde „brugt i videste forstand om hvad der erkendes“ („im weitesten Sinne gebraucht für etwas, das erkannt werde“ [Übers. F. F.]) und sei eine „betegnelse for genstand, man ikke kan ell. vil angive nærmere, mere præcist“ („Bezeichnung für Gegenstände, die man nicht näher, präziser angeben kann od. will“ [Übers. F. F]). Det Danske Sprog og Litteraturselskab 1946, S. 1495, 1506. Vgl. Mortensen 2006a, S. 78 f., FN 13; Müller- Wille 2009b, S. 135-137. Eine „Einführung in die Welt der Dinge“ liefert Böhme 2006, S. 39-153. Hier wird keine Definition gegeben, vielmehr werden verschiedene Wege gesucht, sich dem Ding anzunähern. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 41 dacht beziehungsweise vorgestellt sein, 144 meist impliziert der Begriff jedoch zumindest die Möglichkeit einer Materialisierung des so Bezeichneten. In dieser Arbeit dient der Dingbegriff einer Umgehung der Subjekt-Objekt-Dichotomie, in der die Verteilung von Aktivität und Passivität zugunsten des Subjekts geklärt zu sein scheint. Der Dinglichkeit der Objekte werden wir uns in der Regel erst in dem Moment gewahr, in dem sie die ihnen zugedachte Rolle verlassen, wenn sie versagen, zerbrechen, etwas Unerwartetes tun. 145 Andersens Marionetspilleren (Der Marionettenspieler) (1851), in dem sich der Traum eines Marionettenspielers erfüllt, dass seine Puppen lebendig werden und er dadurch zum Theaterdirektor wird, spielt mit dem Alptraum einer widerständigen Dingwelt. Als der Marionettenspieler sein widerspenstiges Ensemble nur noch durch den Hinweis zu bändigen weiß, es handele sich bei ihnen im Grunde doch nur um Marionetten, schlagen sie ihn tot. Der Marionettenspieler hat das Glück, aus seinem Traum wieder zu erwachen. 146 Die Hybride der Moderne dagegen sind nicht nur ein Traum. Beim reibungslosen Funktionieren entgehen Dinge oft unserer Wahrnehmung und scheinen vollkommen vom Menschen abhängig zu sein, ohne dass die umgekehrte menschliche Abhängigkeit von den Dingen berücksichtigt wird. Dass die Grenzziehung von menschlicher Gewalt und dinglicher Ohnmacht prekär ist, wird auch im marxistisch geprägten Begriff der Verdinglichung deutlich. 147 Wird eine Person „Ding“ genannt, so geschieht dies nach dem Deutschen Wörterbuch „oft mit geringschätzung, doch auch in mitleidiger und gütiger Stimmung, immer aber herabblickend“ 148 . Das in diesem Zitat erkennbar werdende hierarchische Element im Verhältnis zu Dingen ist für Latour von großer Bedeutung, da es zu einer Unterschätzung der Dinge für die Konstruktion des Sozialen führt. Eine Unterschätzung, die sowohl ihre Bedeutung als auch ihre Gefahren betreffen kann. Um die Rolle von Dingen in der Konstruktion des Sozialen angemessen zu berücksichtigen, reicht es nach Latour nicht aus, diese als bloß passive Produkte zu begreifen, die den Menschen zu Diensten sind. Vielmehr schlägt er einen neuen Handlungsbegriff vor, der Dingen Akteursqualitäten zugesteht. Dazu müssen in den 144 Vgl. Grimm/ Grimm 1962, Bd. 2, Sp. 1153. 145 Vgl. Böhme 2006, S. 39 ff.; Brown 2001, S. 3-7; Müller-Wille 2009b, S. 135 f.; Steiner 2008b, S. 244-250. 146 Der Text erschien erstmals 1851 als Kapitel IX von I Sverrig (In Schweden) und wurde in den Samlede Skrifter (Gesammelten Schriften) in leicht abgewandelter Form erneut abgedruckt. Vgl. Re 2, S. 46-50; EoH 3, S. 190-193, 437; RB, S. 50-54; SM(TD) 2, S. 197-202. 147 Verdinglichung ist in der marxistischen Tradition auch als positive Kategorie denkbar. So forderte beispielsweise Boris Arvatov, ein den Dingen gegenüber sehr aufgeschlossener Denker, einen fundamentalen Wandel im Umgang mit Dingen für das revolutionäre Russland, der die menschliche Psyche dingähnlicher und die Dinge zu Mitarbeitern, also aktiver werden lassen sollte (vgl. Brown 2001, S. 10). Trotz seines subjektzentrierten Verständnisses von Geschichte sah Lukács immerhin noch das größte revolutionäre Potential in der am weitesten verdinglichten Klasse (vgl. Lukács 1975, bes. S. 295 ff.). Zum Verhältnis Latours zu Verdinglichung vgl. auch Lindemann 2008, S. 350-353; 2009, S. 114 f. 148 Grimm/ Grimm 1962, Bd. 2, Sp.1161. 1 Einleitung 42 Bereich des Handelns auch nicht-intentionale Tätigkeiten einbezogen werden. 149 Diese kontraintuitive Position wird nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen hält, was es heißt, Wasser zu kochen oder einen Nagel in die Wand zu schlagen. Dass diese Handlungen wesentlich durch die an ihnen beteiligten Dinge gestaltet werden, lässt sich schwerlich bestreiten. 150 Latour erklärt, dass es vor allem Dinge sind, die sozialen Interaktionen Stabilität verleihen und das Entstehen und die Dauerhaftigkeit großer Aggregate erst erlauben. 151 Hartmut Böhme weist darauf hin, dass die „formative Kraft“ 152 der Dinge über physische Handlungsvollzüge hinausgeht. So werden beispielsweise Imaginationen und Einstellungen von Dingen geprägt. 153 Ein um Dinge als Aktanten 154 , wie Latour es nennt, erweiterter Handlungsbegriff ruft Unbehagen hervor, insofern er das Selbstverständnis des autonomen Subjekts bedroht und seine Macht begrenzt. Er zersetzt die gezogene Grenze zwischen rational und irrational, 155 zwischen modern und archaisch, fortschrittlich und primitiv, westlich und nicht-westlich. Genau darin gewinnt er seine kritische und zugleich globale Dimension. „Die zunehmende Macht der Dinge über die Menschen [ist, F. F.] [...] ein seit dem 19. Jahrhundert geläufiger Topos europäischer Kulturkritik“ 156 , so Karl-Heinz Kohl. Die Einsicht in ihre Existenz ist also nicht neu. Die Konsequenz, die Hartmut Böhme aus dieser Einsicht zieht, unterscheidet sich jedoch von der Linie der Kulturkritik, die er unter dem Oberbegriff Fetischismus für Ethnologie, Marxismus und Psychoanalyse rekonstruiert hat. Er plädiert dafür, Fetischismus als unverzichtbaren Bestandteil der Moderne zu begreifen, dessen Mechanismen ihre Gesellschaften integrieren. Zwar beschränkt Böhmes Fetischismusbegriff sich nicht allein auf jene mit Affekten aufgeladenen Mensch-Ding-Beziehungen, die für das Verständnis des Sozialen im hier vorliegenden Kapitel zentral sind, sondern behandelt (durchaus selbstreferenziell 157 ) auch fetischistische Mensch-Theorie-Beziehungen. Vor allem affektgeladene Mensch-Ding-Beziehungen sind nach Böhme für die Stabilisierung moderner Gesellschaften jedoch wesentlicher, als Rationalisierungsnarrative eingestehen wollen. 158 149 Zum Handlungsbegriff vgl. Latour 2000, S. 211-232; 2007, S. 25, 76-88, 122 125. Vgl. auch Böhme 2006, S. 72-94; Schroer 2008, S. 380-383, 386-389; Schüttpelz 2009, S. 133. 150 Vgl. Latour 1995, S. 143-146, 156; 2000, S. 239, 338-348; 2007, S. 122 f. 151 Vgl. Latour 2007, S. 66-72, 199-121, 339-349; Strum/ Latour 1987. 152 Böhme 2006, S. 18. 153 Vgl. ebd., S. 18 f. Ähnlich auch Baudrillard 1991, S. 149 f. 154 Für eine sehr kompakte Definition von Aktant vgl. Latour 2000, S. 372; Schulz-Schaeffer 2000, S. 189. Vgl. auch den im literaturwissenschaftlichen Zusammenhang interessanten Hinweis bei Latour (1995, S. 116 (Anmerkung)): „Der Begriff des Aktanten hat - neben dem des Akteurs - in der literarischen Semiotik den Begriff der Person oder der dramatis persona ersetzt, denn er umfaßt nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Objekte oder Konzepte.“ 155 Vgl. Böhme 2006, S. 76-84. 156 Kohl 2003, S. 8. 157 Vgl. Konersmann 2006. 158 Vgl. Böhme 2006, S. 22-32. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 43 Böhme und Latour begreifen das Soziale als Ensemble von Dingen (darunter können auch Tiere und Pflanzen fallen) und Menschen, die sich oftmals so verbinden, dass sie als Hybride bezeichnet werden müssen, das heißt als Mischwesen, die weder als Naturobjekte noch als gesellschaftliche Gegenstände angemessen beschrieben werden können. 159 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses des Sozialen setzen sich beide mit dem Begriff der Moderne auseinander, auf den in Kapitel 1.3.5 näher eingegangen wird. Zunächst jedoch werden Verbindungen zwischen Latours und Böhmes Theorie des Sozialen und Andersens Texten aufgezeigt. 1.3.3 Dingprosa. Andersens wunderbare Dingwelten Der Ausweitung der Dingwelten steht in der Literatur des 19. Jahrhunderts der Aufstieg des Prosagenres zur Seite. In Dänemark hatte der moderne Roman seinen Durchbruch in den 1830ern, also später als in Deutschland, Frankreich und England. Johan de Mylius verbindet die wachsende Beliebtheit des Romans mit der Liberalisierung der dänischen Wirtschaft und Gesellschaft und begründet die Durchsetzungsschwierigkeiten des Genres unter anderem mit der zentralen Stellung des Theaters in Dänemark. 160 Uwe C. Steiners Aufsatz Dingprosa. Gegenstände als Subjekte des Alltags heute und in der Kritischen Theorie zeigt auf, wie G. W. F. Hegel den Übergang der poetischen Erzählweisen Epos und Idylle in prosaische Narrative aus einer sich industrialisierenden und globalisierenden Dingwelt erklärt, die sich nicht mehr in poetischen Formen fassen lässt. Die mit Industrialisierung und globaler Arbeitsteilung verbundenen Entfremdung und Ausbreitung von Abhängigkeitsverhältnissen untergräbt zudem den Subjektstatus des Menschen. 161 Dies ist der Hintergrund, vor dem nach Steiner „[d]er Prosaroman [...] die Dinge als autonomagile, widerständige, fremde, zwischen Sinnentleerung und verborgener Sinnfülle opalisierende Realität“ 162 entdeckt. Hans Christian Andersen wird in der dänischen Literaturgeschichte eine bedeutende Rolle beim Schaffen neuer Prosaformen zugeschrieben: „Hos ham slog samtidsromanen igennem, og han skabte nye fortælleformer, som revolutionerede fortællesproget. Med ham tager den moderne danske prosa sin begyndelse“ („Der Gegenwartsroman hatte bei ihm seinen Durchbruch, und er schuf neue Formen des Erzählens, die die Erzählsprache revolutionierten. Mit ihm nimmt die moderne dänische Prosa ihren Anfang“ [Übers. F. F.]), 163 erklärt Klaus Peter Mortensen. Set i litteraturhistorisk lys er de uanselige hæfter med Eventyr, fortalte for Børn, der begyndte at udkomme en måned efter Improvisatoren, langt vigtigere end denne roman og dens efterfølgere. Selv om interessen for folkeeventyr og kunsteventyr var udbredt i 159 Zum Begriff Hybride vgl. Roßler 2008, S. 79-82 sowie Schroer 2008, S. 374-377. Grundlegend auch Donna Haraway (1995), der Latour neben Shirley Strum und Steve Glickman Die Hoffnung der Pandora widmete. 160 Vgl. de Mylius 1981, S. 21-36. 161 Vgl. Hegel 1970, Bd. 13, S. 197 f., 331-341; Bd. 15, S. 340-345; Steiner 2009b, S. 19-21. 162 Steiner 2009b, S. 22 f. 163 Mortensen 2008, S. 361. Zum Roman vgl. auch de Mylius 1981, S. 40. 1 Einleitung 44 tiden, så skabte H. C. Andersen med sine eventyr en original genre - eller måske snarere en hel vifte af fortælleformer, som han til stadighed udbyggede [...] (In literaturgeschichtlichem Licht betrachtet sind die unscheinbaren Hefte mit Märchen, für Kinder erzählt, die einen Monat nach Der Improvisator zu erscheinen begannen, weitaus wichtiger als dieser Roman und seine Nachfolger. Obwohl das Interesse für Volks- und Kunstmärchen in jener Zeit verbreitet war, schuf Andersen mit seinen Märchen ein originales Genre - oder vielmehr eine ganze Palette von Erzählformen, die er stetig ausbaute [...] [Übers. F. F.]) 164 Es sind nicht allein Andersens Romane, sondern noch deutlicher die Eventyr og Historier, die den Globalisierungsprozessen in der Welt der Dinge auf den Grund gehen und in denen Dinge eine wichtige Rolle spielen. Deshalb liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit auf ihrer Analyse. Umgekehrt erklärt Elias Bredsdorff die ungeheure Popularität von Andersens Texten in England und Schottland trotz der seiner Ansicht nach ausgesprochen schlechten Übersetzungen gerade aus ihrer besonderen Form dichterischer Phantasie: „Det var hans levendgørelse af døde ting, legetøj, husgeråd o. s. v.; det var spejlbilledet af menneskeverdenen iblandt blomster, buske og træer og i dyrenes og overtroens verden, der gjorde H. C. Andersen så populær.“ 165 („Es war seine Verlebendigung toter Dinge, des Spielzeugs, des Hausrats usw.; es war sein Spiegelbild der Menschenwelt in Blumen, Büschen und Bäumen und in der Welt der Tiere und des Aberglaubens, die H. C. Andersen so populär werden ließen.“ [Übers. F. F.]) Ohne Bredsdorffs klare Trennung von Mensch und Ding, Tier und Pflanze zu teilen, erkennt auch diese Arbeit in den Ding-, Tier- und Pflanzendarstellungen einen wesentlichen Faktor für die globale Verbreitung der Texte. Die Anschlussfähigkeit derselben liegt gerade in einem Verständnis des Menschlichen, das über das in europäischen wissenschaftlichen Diskursen zentrale Verständnis desselben als autonomes Subjekt hinausgeht, das meist als weiß, männlich und bürgerlich imaginiert wurde. Die Eventyr og Historier sind in vieler Hinsicht Dingprosa, wie Steiner sie definiert. Dem Roman tritt nämlich alsbald ein - nicht zuletzt der Alltäglichkeit gewidmetes - Genre oder Subgenre zur Seite, für das ich den Namen Dingprosa vorschlage. Dingprosa bezeichnet ein höchst heterogenes Feld, das sich sowohl formal, im weitesten Sinne durch die kleinere Form, als auch motivisch, durch ein sachliches Interesse an den Dingen, charakterisiert: eine Literatur, die sich von den Dingen thematisch informiert und zumal ästhetisch formiert erweist. [...] Es scheint, als biete sich die kleine Form insbesondere dort an, wo am konkreten Detail aufscheint, dass und wie Menschen und Dinge gemeinsam, mit Wilhelm Schapps Formulierung, in Geschichten verstrickt sind, als firmierten die Dinge selbst als Autoren höchst realer Geschichten [...]. 166 164 Mortensen 2008, S. 379. 165 Bredsdorff 1954, S. 520. 166 Steiner 2009b, S. 23 f. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 45 Nicht alle der Eventyr og Historier lassen sich als Dingprosa charakterisieren, in der nach Steiner thematisch „die Assoziation von Dingen und Menschen“ erkundet wird und Dinge oft nicht nur Sujet, sondern auch Subjekt sind. 167 Auf die meisten der in dieser Arbeit und in der dingtheoretischen Forschung zu Andersen behandelten Texte trifft dies jedoch zu. Auch das nach Steiner für Dingprosa typische Eingedenken verschwundener oder verschwindender Dinge 168 findet sich in den Eventyr og Historier. So ist die Ersetzung von Trandurch Gaslaternen Ausgangspunkt von Den gamle Gadeløgte (Die alte Straßenlaterne) (1847) und Gudfaders Billedbog (Des Paten Bilderbuch) (1868) 169 . Auffällig ist auch die Häufung handelnder Dinge in den Eventyr og Historier: Ein standhafter Zinnsoldat bewahrt Haltung und Stillschweigen (in Den standhaftige Tinsoldat (Der standhafte Zinnsoldat) (1838)); ein Kreisel gesteht einem Ball seine Liebe (in Kjærestefolkene (Die Liebesleute) (1843) 170 ); ein Puppentheater gibt eine Vorstellung für das restliche Spielzeug des Kinderzimmers (in Pengegrisen (Das Geldschwein) (1854) 171 ). Die Figuren und ihr Verhalten ließen sich auf den ersten Blick als schlichte Personifikationen lesen. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch nicht einfach menschliches Verhalten auf nicht-menschliche Wesen übertragen, sondern die jeweiligen Verhaltensformen sind auch in die Materialität der Dinge selbst eingeschrieben. 172 Darüber hinaus ließe sich für die genannten Beispiele fragen, ob das Verlorengehen und Gefundenwerden von Dingen, wie es der Zinnsoldat oder der Kreisel erleben, nicht Prozesse sind, die sich mindestens ebenso sehr dinglicher wie menschlicher agency verdanken. Und wer füllt das Kinderzimmer in Pengegrisen mit Spielzeug? Ist das Geld aus dem Bauch des Sparschweins dabei nicht ein wesentliches Element? Diese Fragen deuten an, dass die Eventyr og Historier nicht einfach Dinge vermenschlichen, sondern vielmehr komplexe Gemengelagen darstellen, in denen Handlungsfähigkeit nicht mehr ausschließlich Menschen zukommt. Zugleich sind diese komplexen Gemengelagen in vielen Fällen wirklichkeitsadäquater als Beschreibungen von Handlungen als lückenlose Kausalketten, an deren Anfang ein menschlicher Beschluss steht. Es zeigt sich, dass die Eventyr og Historier ein besonderes Wissen über die Dinge besitzen. Bei diesem Wissen handelt es sich, folgt man Uwe C. Steiners Überlegungen zu dem Thema Dinge und Literatur in einem Auf- 167 Vgl. ebd., S. 24. 168 Vgl. ebd., S. 25 f. 169 Vgl. S. 2 dieser Arbeit zu diesem Text. 170 Abgedruckt 1843 in den Nye Eventyr (Neuen Märchen) mit der Jahreszahl 1844 auf dem Titelblatt. Vgl. EoH 1, S. 518. 171 Erschienen 1854 im Folkekalender for Danmark 1855. Vgl. EoH 2, S. 475. Zu Pengegrisen vgl. auch S. 2 -2 dieser Arbeit. 172 Darauf verweisen aktuelle dingtheoretische Andersenstudien, auf die das kommende Unterkapitel ausführlicher eingeht. Zur Personifikation vgl. auch Steiner 2011, S. 200. 1 Einleitung 46 satz zu Franz Kafka, um ein literaturspezifisches Wissen, das sich von theoretischwissenschaftlichen Darstellungen von Dingen grundlegend unterscheidet. 173 Dass in Märchen „Zauberdinge“ auftreten, ist nach Max Lüthi, auf den auch aktuelle Publikationen der Märchenforschung verweisen, 174 ein charakteristisches Merkmal sogenannter Volksmärchen 175 . Insofern ist das Auftreten von Dingen mit besonderen Fähigkeiten in den Eventyr og Historier nicht außergewöhnlich. Von den zeitlosen und entindividualisierten Zauberdingen in Lüthis Sinne unterscheiden sich das in den Eventyr og Historier vorkommende Spielzeug, die ausrangierten Dinge oder die technischen Innovationen jedoch zumeist deutlich. Dinge werden oft detailliert gezeichnet oder haben eine Geschichte, manchmal sogar eine komplette Dingbiographie wie zum Beispiel in Hørren (Der Flachs oder Das Leinen) (1849) 176 . Sie sind nicht isoliert wie die Dinge des Volksmärchens nach Lüthi, 177 sondern stehen in vielfältigen Beziehungen zu ihrer Umgebung, die meist auf historisch spezifische Konstellationen hindeuten. So ist das Spielzeugensemble in Pengegrisen Teil eines typischen Kinderzimmers im 19. Jahrhundert, auch das Verhalten der einzelnen Figuren ist durchzogen von Anspielungen auf zeitgenössische Praktiken. Jedes Spielzeug hat zugleich seinen individuellen Charakter; eine kleine Beschädigung verleiht einer geleimten Puppe trotz ihrer wahrscheinlich seriellen Fertigung eine unverwechselbare Gestalt. 178 Auch die Titelfigur von Den gamle Gadeløgte (Die alte Straßenlaterne) (1847) hat eine individuelle, historisch präzise verortete Geschichte: Die alte, mit besonderen Fähigkeiten begabte Laterne weicht der moderneren Gasbeleuchtung und gewinnt eine neue Position im Gefüge von Menschen und Dingen. In ihren detaillierten Schilderungen und ihrer präzisen historischen Verortung stehen Andersens Dingentwürfe der Kunstmärchentradition näher als den sogenannten Volksmärchen, 179 ohne dass die Eventyr og Historier dieser in ihren Definiti nen umstrittenen Gattung eindeutig zugeordnet werden könnte, da in ihnen sehr unterschiedliche literarische Traditionen zitiert werden und sie ein sehr heterogenes Korpus darstellen. 180 173 Vgl. Steiner 2008b, S. 237 f. sowie die jüngsten Überlegungen zu Literatur und Handlungstheorie in Steiner 2011, S. 188 f. 174 Vgl. Lüthi 2004, S. 27-30, 177 f.; 2005, 13, 20 f., 25, 30 f., 39, 55 f.; Neuhaus 2005, S. 2-5, 24; Pöge-Alder 2007, S. 30. 175 Zu einer Kritik des Begriffs Volksmärchen vgl. Neuhaus 2005, S. 3 f. 176 S. u., S. 23 -2 . 177 Vgl. Lüthi 2005, S. 13. 178 Vgl. EoH 2, S. 115; SM(D), S. 224. 179 So wird oft E. T. A. Hoffmanns Nussknacker und Mausekönig als Vorläufer von Andersens tingseventyr (Dingmärchen) genannt. Vgl. z. B. Mayer/ Tismar 2003, S. 109; Mortensen 2006a, S. 72; Rubow 1967, S. 40; Schmitz 1974, S. 126 f.; Svendsen/ Svendsen 1964, S. 258. 180 Vgl. z. B. Anz 2005, S. 37-39; Bøggild 2009, S. 199-210; EoH 1, S. 15-45; Müller-Wille 2006, S. 171; Rubow 1967, S. 154. Zur Problematik, Kunstmärchen zu definieren, vgl. Apel 1978, S. 11- 13; Mayer/ Tismar 2003, S. 2-6; Tarot 1993, S. 8; Wührl 2003, S. 13. Für Märchen allgemein vgl. auch Bausinger 1999, Sp. 252-254. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 47 In Genrediskussionen wird der Begriff des Wunderbaren als Definitionsmerkmal von Märchen vorgeschlagen. 181 Das Wunderbare wird darin meist als den Naturgesetzen widersprechendes Geschehen bestimmt. 182 In den sogenannten Volksmärchen zeichnet es sich durch sein selbstverständliches Auftreten aus, während es in Kunstmärchen oft nicht von allen Figuren wahrgenommen wird oder vor dem Hintergrund eines sich durchsetzenden rationalistischen Weltbildes besonderer literarischer Rechtfertigung bedarf. 183 Diese Beschreibungen des Wunderbaren im Märchen scheinen in Andersens Fall weniger hilfreich zu sein. So ist im Weltausstellungsmärchen Dryaden. Et Eventyr fra Udstillungstiden i Paris 1867 (Die Dryade. Ein Märchen aus der Ausstellungszeit in Paris 1867) (1868) das Wunderbare gerade die moderne Dingwelt, die die menschliche Schöpfungskraft repräsentieren soll und dabei Kontrolle über die Menschen gewinnt. Die Trennung von Wunder und Wirklichkeit wird in dem, was man vor dem Hintergrund von Latours Akteur-Netzwerk-Theorie auch Andersens Realismus nennen könnte, infrage gestellt: Wirklichkeit haben in den Eventyr og Historier Dinge wie Menschen, und ihr Zusammenwirken ist es, das das Märchenhafte hervorbringt. „’[...] Ud af det Virkelige voxer just det forunderligste Eventyr; [...]’“ („’[...] Aus dem Wirklichen erwächst gerade das erstaunlichste Märchen; [...]’“) 184 heißt es in Hyldemoer (Holundermütterchen/ Das Holunderweibchen) (1844) 185 , einem Märchen, in dem eine Geschichte aus einer Teekanne heraus wächst. Dass diese Erzähltechnik nicht dem üblichen Märchenwunderbaren entspricht, verrät der Ausruf eines im Text die Zuhörerposition besetzenden Jungen: „’Men det var jo intet Eventyr! ’“ („’Aber das war doch kein Märchen! ’“) 186 . In Andersens Texten lässt sich oft eine Verbindung des poetischen Wunderbaren mit dem technisch Neuen erkennen, darin zwei Stränge der Begriffsgeschichte des Wunderbaren vereinend. 187 So wird in Et Stykke Perlesnor (Ein Stück Perlenschnur) 181 Vgl. Apel 1978, S. 14-28; Klotz 2002, S. 10-12; Mayer/ Tismar 2003, S. 2 f.; Neuhaus 2005, S. 11- 18; Pöge-Alder 2007, S. 24, 30 (Die hier angeführte Selbstverständlichkeit des Wunderbaren lässt sich jedoch vor allem für sogenannte Volksmärchen behaupten. Vgl. Neuhaus 2005, S. 8.); Wührl 2003, S. 2 f., 5-24. Für Rubow gründet das Volksmärchen in Magie. Vgl. ders. 1967, S. 20; zum Kunstmärchen vgl. ebd., S. 25-43. 182 Vgl. Klotz 2002, S. 4; Neuhaus 2005, S. 11, 17; Pöge-Alder 2007, S. 24. Apel legt dar, wie wichtig der historische Kontext für eine Bestimmung des Wunderbaren ist. Vgl. ders., S. 14-28. Für einen umfassenden Überblick über Wortgeschichte und Bedeutungswandel vgl. Barck 2005, S. 730-773. 183 Vgl. Apel 1978, S. 14-28; Neuhaus 2005, S. 8-11. 184 EoH 1, S. 336; SM(TD) 1, S. 355. In einem von Bredsdorff (1954, S. 476 f.) zitierten Artikel in Blackwood’s Edinburgh Magazine von 1860 wird die für den Erwachsenen erkennbare Verortung des Wunderbaren im Alltag als Grund dafür genannt, dass Andersens Märchen nicht nur Kinder ansprechen. 185 Der Text erschien erstmals 1844 in Gæa, æstetisk Årbog (Gæa, ästhetisches Jahrbuch) mit der Jahreszahl 1845 auf dem Titelblatt. Vgl. EoH 1, S. 521. 186 EoH 1, S. 336; SM(TD) 1, S. 355. Zu diesem Text vgl. auch Anz 2005, S. 43-46. 187 Vgl. Barck 2005, S. 745-756. Hinsichtlich des technische Neuerungen als Wunderbares deutenden, dabei zugleich potentiell fortschrittskritischen merveilleux scientifique lassen sich trotz gewichtiger Unterschiede auch Parallelen erkennen. Vgl. ebd., S. 761 f. Stellenweise ergeben sich sogar 1 Einleitung 48 (1859) die Eisenbahnlinie zwischen Korsør und Kopenhagen „ny og vidunderlig“ („neu und wunderbar“) 188 genannt. Das wunderbare Geschehen verbindet sich nicht allein in den Eventyr og Historier, sondern in vielen Märchen mit den darin auftretenden Dingen, in Volksmärchen insbesondere mit Gaben oder Zauberdingen. 189 Zu der den Dingen innewohnenden Macht im sogenannten Volksmärchen erklärt Max Lüthi: „Was das Märchen seinen Figuren wirklich schenkt, sind nicht Dinge, sondern Möglichkeiten.“ 190 Dass sich die Möglichkeiten von den Dingen nicht scheiden lassen, ist demgegenüber eine Einsicht, die Andersens Eventyr og Historier erlauben. Dies gilt vor allem für das Wunderbare, das aus der Begegnung mit neuen Technologien entspringt. Die Übertretung von Naturgesetzen als Kriterium zur Bestimmung des Wunderbaren erweist sich im Zusammenhang mit Andersens Texten als problematisch, da scheinbar überzeitlich geltende Naturgesetze sich oftmals als geschichtliche Konstrukte mit begrenzter Geltungsdauer erweisen; ihre Übertretung kann im Rahmen technischer oder wissenschaftlicher Veränderungen gedacht werden. Der Begriff des Wunderbaren unterliegt tiefgreifenden historischen Wandlungen, die mit religiösen und wissenschaftlichen Weltbildern eng verbunden sind. Andersens Texte zeugen von der Einsicht in diese Geschichtlichkeit des Wunderbaren. Oftmals integrieren sie das Wunderbare in Alltagszusammenhänge, aber auch in wissenschaftliche Kontexte (wie zum Beispiel in Vanddraaben (Der Wassertropfen) (1847 [engl. Übers.]) 191 ), und stellen so die Grenzziehung zwischen aufgeklärtrationaler Moderne und naiv-magischer Vorbzw. Nicht-Moderne infrage. Eine generelle Charakterisierung des Wunderbaren in Andersens Eventyr og Historier lässt sich nicht leisten, ohne die erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Texten zu nivellieren. Hier soll zunächst besonders auf den Zusammenhang von Erscheinungsformen des Wunderbaren mit einer sich transformierenden Dingwelt hingewiesen werden, der für Andersens Texten zentral ist. Die im kommenden Unterkapitel zusammengefassten Ansätze von Jette Lundbo Levy, Brigid Gaffikin, Klaus Müller-Wille sowie Thomas Seiler stellen heraus, wie bedeutsam die Industrialisierung, die damit verbundene Massenproduktion und beschleunigte Zirkulation sowie das Aufkommen neuer Dinge für die bei Andersen dargestellten Dingwelten sind. 192 Berührungspunkte zwischen den ästhetischen Verfahren des Surrealismus und Andersens Texten: Beide verbinden das Wunderbare mit der Alltagskultur. Vgl. zum surrealistischen Wunderbaren ebd., S. 764 sowie zu Andersen und dem Surrealismus Lundbo Levy 1998; Müller-Wille 2009b, S. 133. Finn Hauberg Mortensen (2006a, S. 71; 2006b, S. 47 f.) kritisiert Lundbo Levys These von Andersens Nähe zu surrealistischen Verfahren. 188 EoH 2, S. 285; SM(TD), S. 128. 189 Vgl. Lüthi 2004, S. 28; 2005, S. 55 f., 80 f.; Neuhaus 2005, S. 9. 190 Lüthi 2005, S. 80. 191 Vgl. EoH 1, S. 432 f.; SM(D), S. 197 f. Das Märchen erschien zunächst in englischer Übersetzung, bevor es 1848 erstmals auf Dänisch erschien. Vgl. EoH 1, S. 533 f. Zu Andersens Publikationsstrategien hinsichtlich der Erschließung von Übersetzungsmärkten vgl. auch Kapitel 2.3.2. 192 Vgl. Lundbo Levy 1998, S. 262, Gaffikin 2004, S. 190, 192, 196, Müller-Wille 2009b und Seiler 2008, S. 5-8; 2009, S. 95-97, 99-103. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 49 Gegenüber dem Wunderbaren, das sich als wunderbarer Alltag präsentiert und aus der Magie der Dinge speist, äußert Jens Tismar in seinen Ausführungen zu Andersens Eventyr og Historier Skepsis. Er konstatiert „Andersens Verfallenheit an die Gegenständlichkeit der Welt“ 193 und erklärt: Poesie soll bereits zur Erscheinung kommen, indem das Statische des Gegenstands in einem Geschehensablauf aufgehoben scheint und das leblose Objekt Sprache gewinnt. Das poetische Manöver hängt mit jener verschwommenen religiösen Annahme zusammen, daß in den Dingen wie in den Personen dieser Welt die Gedanken Gottes sich offenbaren. 194 Die religiöse Dimension ist in vielen der Eventyr og Historier sehr präsent. Dennoch greift diese Charakterisierung zu kurz, indem sie auf ein Erklärungsmodell zurückgreift, das die grundsätzliche Verbundenheit von Dingen und Menschen nicht anders als in einer triadischen Figur mit dem Göttlichen als übergeordnetem Verbindenden denken kann, während die Texte selbst sich vielmehr durch eine grundsätzliche Infragestellung der kategorialen Trennung zwischen Menschlich und Nichtmenschlich auszeichnen. Tismar ist aufgrund seiner klaren Vorstellung von der Marginalität und Passivität der Dingwelt der Zugang zu grundlegenden Fragen versperrt: Sind Gegenstände tatsächlich statisch, insbesondere in einer sich industrialisierenden Welt, in der große Netzwerke entstehen, die Dinge und Menschen in Bewegung setzen? Oder ist es nicht vielmehr eine Qualität von Andersens Texten, dass sie auf die explosionsartige Vermehrung von Dingen im 19. Jahrhundert und ihre gesteigerte Bedeutung in der Konstruktion des Sozialen gerade nicht mit der Leugnung dingweltlicher Eigendynamiken reagieren? Tismar erklärt im Anschluss an das bereits vorgestellte Zitat, dass es „[v]on dieser Einstellung [...] kein großer Schritt zur enthusiastischen Verherrlichung des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts“ 195 mehr sei, und gelangt so zu einer Interpretation von Den store Søslange (1871) und Dryaden. Et Eventyr fra Udstillungstiden i Paris 1867 (1868), in denen Telegraphenkabel und Weltausstellung „als ein Märchen des Fortschritts poetisch drapiert und verlebendigt“ 196 würden. Diese Interpretation überrascht angesichts der in diesen Texten deutlich thematisierten negativen Folgen der genannten Neuerungen. 197 In den Eventyr og Historier kommen zahllose beschädigte, entsorgte, zerstörte und sterbende Dinge zur Sprache. Diese erzählen ihre eigenen Geschichten und werden in ihrer sozialen Gestaltungskraft, mit deren Vor- und Nachteilen, gezeichnet. Dadurch wird auch die Position des autonomen Subjekts als alleiniges Subjekt der Geschichte untergraben. Mit der Geschichte der Dinge verbindet sich ein brüchiges Geschichtskonzept, das einer linearen Fortschrittsvorstellung zuwider läuft. 193 Mayer/ Tismar 2003, S. 108. 194 Ebd., S. 109. 195 Ebd., S. 109. 196 Ebd. Vgl. auch Tismar 1981, S. 20-24. 197 Vgl. auch die abweichenden Interpretationen in Kapitel 3.1.2, 3.1.3, 3.2.1, 3.3.2 und 3.3.4, die zumindest für Dryaden von der Sekundärliteratur überwiegend gestützt werden. 1 Einleitung 50 An die Stelle eines allmächtigen menschlichen Handelnden und dessen in technologischen Neuerungen verkörperten Willens tritt eine ineinander verstrickte Gesellschaft aus Menschen und Dingen. Ähnlich wie in Walter Benjamins Passagen-Werk sind es auch in den Eventyr og Historier meist die Dinge, die die Widersprüchlichkeit der modernen Geschichte erkennen lassen und das in ihrer Zeit vorherrschende Geschichtsverständnis aufbrechen; sie vereinen Urgeschichte und Moderne, und überhaupt alle möglichen geschichtlichen Zeiten. 198 Deshalb lohnt es sich, den Dingen in Andersens Texten auf den Grund zu gehen. Dies ist bislang erstaunlicherweise im Sinne aktueller dingtheoretischer Überlegungen noch verhältnismäßig selten und fast nur in Aufsätzen geschehen, die im Folgenden vorgestellt und mit meinen Ausführungen zu Dingen als Aktanten und dem gemeinschaftsstiftenden Potential von Dingen verbunden werden. 1.3.4 Dinge in H. C. Andersens Eventyr og Historier - ein Forschungsüberblick Auch wenn die aktuellen Aufsätze zu Andersen und den Dingen größtenteils jüngeren Datums sind, verbindet sich mit den Eventyr og Historier eine länger bestehende Diskussion um die tingseventyr (Dingmärchen). Als tingseventyr gelten in der Regel Märchen, in denen Dinge eine Hauptrolle spielen. 199 Fabeln und Erzählungen über Dinge, Tiere und Pflanzen in Versform waren in Dänemark schon vor den Eventyr og Historier, beispielsweise von Johan Clemens Tode veröffentlicht worden. 200 In Andersens Eventyr og Historier gewann jedoch die Sprache durch die Prosaform sowie die Erzählperspektive, indem sie die Dinglichkeit in allen Facetten, von der Materialität bis zur Biographie, durchdrang und daraus konsequent die Darstellung entwickelte, eine neue Qualität. Zugleich erreichten die Texte, auch dank der wachsenden Alphabetisierung, ein sehr breites Publikum. Bei den Analysen der tingseventyr sollte das Zusammenspiel von dinglicher, menschlicher und göttlicher agency berücksichtigt werden. Finn Hauberg Mortensen plädiert für ein weiteres Verständnis des Begriffs tingseventyr, da in nahezu allen Eventyr og Historier Anteile menschlichen oder göttlichen Handelns gegeben sind. 201 Diese Öffnung scheint auch sinnvoll, um die Ausblendung des Interagierens von Menschen und Dingen, die nach Latour für die Moderne charakteristisch ist, zu durchbrechen. Im Unterschied zu Mortensens Ansatz werden in dieser Arbeit zudem Tiere und Pflanzen stellenweise als Dinge klassifiziert, um die Trennung von 198 Vgl. auch Latour 1995, S. 98-104. 199 Vgl. z. B. Lundbo Levy 1998, S. 261; Sønsthagen/ Weinreich 2003, S. 448. F. J. Billeskov Jansen (1969, S. 273) unterscheidet die Märchen über Dinge von den Märchen über Dinge und Pflanzen; Bo Grønbech ([o. J.], S. 38-64) widmet den Märchen über Dinge, Tiere und Barneverden (Die Kinderwelt), d. h. die (relativ wenigen) Märchen, in denen Kinder die Hauptfigur sind, jeweils ein Unterkapitel. 200 Vgl. Rubow 1967, S. 61-69; Tode 1793, S. IX-XIV, 1-15, 18-48, 51-89, 102-107, 120-131, 135-153, 159-163, 170-184, 202 f., 218 f., 233-241, 253-256, 258-280, 284-286, 293-295, 317-322, 327-336. 201 Mortensen 2006a, S. 73-75. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 51 Natur und Kultur zu unterlaufen, die nach Latours Wir sind nie modern gewesen zu den problematischen Vorstellungen der Moderne gehört. 202 Paul V. Rubow stellt in seiner klassischen Studie zu Andersens Eventyr, deren erste Ausgabe 1927 erschien, Andersens Fähigkeit zu personifizieren besonders heraus und verbleibt damit weitgehend in einem anthropozentrischen Deutungsmuster, indem er die Aktivität der Dinge ausschließlich als menschliche Projektion deutet. Darüber hinaus jedoch stellt er fest, dass Erzähler wie der Kaufmannssohn aus Den flyvende Kuffert (Der fliegende Koffer) (1839) sich als genaue Kenner der Psychologie von Dingen erweisen und Dingen in vielen Eventyr eine ihrer Gestalt angemessene Sprache verliehen wird. 203 Damit verraten seine Analysen eine Sensibilität für den Überschuss der Dingdarstellungen in den Eventyr og Historier, die über bloße Allegorien hinausgehen. Die Konsequenz des Perspektivenwechsels, der sich in den tingseventyr vollzieht, unterstreicht Bo Grønbechs Dissertation von 1945, die unter dem Titel H. C. Andersens Eventyrverden mehrere Auflagen erzielte: De fleste af eventyrene om ting er ligeså realistiske som dyreeventyrene. [...] Man følger tingene selv og hører kun om det som de møder på deres vej og er i stand til at opfatte; hvad der ligger udenfor deres horisont eksisterer ikke så længe de er hovedpersoner. [...] [N]år synspunktet er tingenes eget og tingene derfor levende, bliver de mekaniske begivenheder til individuelle oplevelser, og hele billedet af det der sker, forvandles og bliver nyt. (Die meisten der Märchen über Dinge sind genauso realistisch wie die Tiermärchen. [...] Man folgt den Dingen selbst und hört nur von dem, was ihnen auf ihrem Weg begegnet und was sie begreifen können; was außerhalb ihres Horizontes liegt, existiert nicht, solange sie die Hauptpersonen sind. [...] [W]enn die Perspektive die der Dinge ist und die Dinge deshalb lebendig sind, werden die mechanischen Begebenheiten zu individuellen Erlebnissen, und das ganze Bild des Geschehens verwandelt sich und wird neu. [Übers. F. F.]) 204 Im Kapitel Det realistiske milieu (Das realistische Milieu) erläutert Grønbech anhand zahlreicher Beispiele, wie sich bei Texten über Tiere, Pflanzen, Dinge und Kinder durch das Hineinversetzen der Erzählperspektive in dieselben eine Gleichberechtigung gegenüber der üblichen menschlich-erwachsenen Perspektive ergibt. 205 202 Vgl. Mortensen 2006a, S. 70, 78 f. FN 13. Zur Problematik der Natur-Kultur-Dichotomie vgl. Latour 1995, S. 18-53. Nach Steiner (2009a, S. 244) ist es eine zentrale Eigenschaft der Dinge, gerade diese Unterscheidung aufzuheben. Auf die Rolle von Tieren komme ich am Beispiel Georg Brandes’ zurück (s. u.). Zu Tier- und Naturdarstellungen in den Eventyr og Historier vgl. auch Rubow 1967, S. 140 f. 203 Vgl. Rubow 1967, S. 140-144. Eine „Art von Personifizierung“ ist auch für Thomas Seiler (2008, S. 23, Anm. 2; 2009, S. 95, Anm. 1) ein Charakteristikum des Dingmärchens. 204 Grønbech [o. J.], S. 50. 205 Vgl. ebd., S. 68. 1 Einleitung 52 Polonca Kovačs Aufsatz Die lebendige Welt der leblosen Gegenstände von 1993 hält weitgehend an der Dichotomie Menschlich/ Nichtmenschlich fest, insofern er das Leben der Dinge auf die Reihe der Schöpfer zurückführt, die es hervorgebracht haben, 206 ohne zu reflektieren, inwieweit umgekehrt die Dinge ihre Schöpfer erst ermöglicht haben. Kovačs Interpretation von Textausschnitten steht unter einem unausgesprochenen Personifikationsparadigma, das Aktivität ausschließlich vom schen ausgehend denkt. Dagegen betont die jüngere Forschung die von der Materialität ausgehende Dynamik in den tingseventyr stärker und bewegt sich so vom Menschen als Ausgangspunkt der Betrachtungen und Gegenpol alles Dinglichen weg. Damit erhöht sich auch die Sensibilität für Vieldeutigkeiten und Widersprüche in den Texten. Ausgangspunkt der Betrachtungen in Jette Lundbo Levys Aufsatz Om ting der går i stykker. Ekelöf og Andersen (Über Dinge, die in Stücke gehen. Ekelöf und Andersen) 207 sind Notizen des schwedischen Dichters Gunnar Ekelöf. Ekelöf sieht in Andersen einen Wahlverwandten, der als Schrottkünstler oder Dingfinder arbeitet. 208 Lundbo Levy hat die von ihr behandelten Märchen in vier Gruppen unterteilt: 1. Spielzeugmärchen, die Geschlecht und Machtverhältnisse thematisieren, 2. Spielzeugmärchen, die Geschlecht und Tod behandeln, 3. Gebrauchsgegenstandsmärchen, die Geschlechterkonflikte und 4. solche, die Tod und Verwandlung oder Versöhnung thematisieren. 209 Sie stellt in ihren Interpretationen heraus, dass das Aussehen und die Handlungen der Dinge menschlichen gleichen. Zugleich beeinflusse die Materialität der Dinge den Handlungsverlauf. Dabei sei diese oft vieldeutig: Neben der für das Märchen bedeutsamen Rolle von dinglicher Formbarkeit und Schwäche erlaube die Materialität in Den standhaftige Tinsoldat (Der standhafte Zinnsoldat) (1838) auch eine Unvergänglichkeit, die die Protagonisten von lebenden Organismen unterscheide. 210 Auch in Kjærestefolkene 211 (Die Liebesleute) (1843) 212 bestimme die Materialität das Geschehen wesentlich. Der (weibliche) Ball betont seine schimmernde Oberfläche aus feinem Saffian, sein Aufwärtshüpfen lässt ihn die soziale Grenzüberschreitung 206 Vgl. Kovač 1993, S. 294. 207 „At gå i stykker“ kann auch mit „kaputt gehen; zerbrechen; zu Bruch gehen“ übersetzt werden. 208 Vgl. Lundbo Levy 1998, S. 259. Levy zieht eine Parallele zu den surrealistischen objets trouvés, was Mortensen kritisiert (2006a, S. 71; 2005b, S. 47 f.). Vgl. auch Müller-Wille 2009b, S. 133. 209 Vgl. Lundbo Levy 1998, S. 261. 210 Vgl. ebd., S. 262 f. Allerdings ist diese Unvergänglichkeit im Schlussbild des Märchens deutlich infrage gestellt, vgl. EoH 1, S. 191. 211 Vgl. EoH 1, S. 281-283. Bei Lundbo Levy findet sich die modernisierte Schreibweise des Titels (Kærestefolkene). Vgl. dies. 1998, S. 263. 212 Erstmals veröffentlicht 1843 in Nye Eventyr, mit der Jahreszahl 1844 auf der Titelseite. Vgl. EoH 1, S. 518. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 53 suchen; er möchte sich mit einer Schwalbe verloben. 213 Demgegenüber steht die grundlegende Solidität des verschmähten (männlichen) Verehrers, des Kreisels. Dieser ist gerade erst vergoldet worden, als er dem Ball nach Jahren zufällig im Müllkasten wieder begegnet. Der Ball dagegen hat nach einem zwischenzeitlichen fünfjährigen Aufenthalt in der Regenrinne das Aussehen eines alten Apfels angenommen. Der Stolz auf seine feine Herkunft bzw. Produktionsweise ist seinem Erscheinungsbild und -ort nicht mehr angemessen und das Interesse des Kreisels, der kurz darauf von einem Dienstmädchen gefunden wird, erlischt bei diesem Wiedersehen unter veränderten Bedingungen augenblicklich. Lundbo Levy sieht die dem Altern ausgesetzte Weiblichkeit in dem Märchen ebenso dargestellt wie das Scheitern der Geste der Welterschließung, die im Springen des Balls liegt. 214 Diese Interpretationen deuten an, dass die Eventyr og Historier nicht einfach Dingen menschliche Eigenschaften zuschreiben, sondern sich in die Materialität der Dinge, ihr Gewordensein und ihre Transformationen, hineinversetzen. Zuletzt betont Lundbo Levy das Begehren der Dinge nach Kontakt mit der Menschenwelt, der insbesondere durch die Figur der Hand immer wieder hergestellt wird. Die Hand verkörpert dabei potenziell Zärtlichkeit, aber auch Zerstörungskraft. Die Dinge werden meist erst gesehen und dann berührt, bei Letzterem enthüllen sich ihre Schwächen und Bruchstellen. 215 Die Mensch-Ding-Beziehungen sind somit immer ambivalent und fragil, gekennzeichnet von Sehnsucht und Furcht sowie ihrer begrenzten Dauer. Damit nähert sich die Interpretation einem Verständnis vom Sozialen als Kollektiv aus Dingen und Menschen an, wenn man in diesem Falle das Kollektiv als Ergebnis eines Strebens der Dinge nach den Menschen begreift, aus dem sich temporäre Verkettungen ergeben können. 216 Die Bedeutsamkeit der Materialität der Dinge betont auch Brigid Gaffikin. Sie behandelt in ihrem Aufsatz Material Witnesses. Hans Christian Andersen’s Tingseventyr and the Memories of Things von 2004 hauptsächlich vier Eventyr og Historier, in denen Abfalldinge durch das Erzählen ihrer Vergangenheit als Erinnerung wieder Wert gewinnen: Den gamle Gadeløgte (Die alte Straßenlaterne) (1847), Den gamle Liigsteen 213 Im Dänischen lassen sich das Geschlecht des Balls (bolden) und des Kreisels (toppen) aufgrund des fælleskøn, der identischen Form für männliche und weibliche Formen des grammatikalischen Geschlechts, erst in der Mitte des Märchens eindeutig identifizieren, als es heißt: „just fordi han [Toppen, F. F.] ikke kunde faae hende [Bolden, F. F.], derfor tog Kjærligheden til [...]“ (EoH 1, S. 282) „gerade weil er [der Kreisel, F. F.] sie [den Ball, F. F.] nicht bekommen konnte, deshalb nahm die Liebe zu [...]“ (Übers. F.F. Dohrenburg übersetzt an dieser Stelle mit den korrekten deutschen maskulinen Pronomen, hat aber bereits zuvor „en Svale“ (eine Schwalbe) mit „Schwälberich“ übersetzt und so die Weiblichkeit des Balles angedeutet. Vgl. SM(TD) 1, S. 287 f.). 214 Vgl. Lundbo Levy 2008, S. 263. 215 Vgl. ebd., S. 266 f. 216 Vgl. auch Mortensens (2006a, S. 74; 2006b, S. 51) Kritik an Lundbo Levys Eingrenzung der tingseventyr, die er aufgrund dieser Verbindung zur menschlichen Welt als zu eng gefasst sieht. 1 Einleitung 54 (Der alte Grabstein) (1852), Flaskehalsen (Der Flaschenhals) (1857) 217 und Theepotten (Die Teekanne) (1863) 218 . In diesen tingseventyr werden die Dinge von ihrem vertrauten Ort fortgerissen und befinden sich zunächst in einem Stadium der Nostalgie als körperlich realisierter Sehnsucht. Das Erzählen ihrer Geschichte formt diese Nostalgie in eine zumindest potentiell gemeinschaftliche Erfahrung um und ermöglicht ihnen eine neue heimatliche Verankerung. Dabei versöhnen sie sich mit den veränderten materiellen Bedingungen ihres Daseins. Die Vergangenheit bleibt so in den Objekten erhalten und ermöglicht ihnen als konkrete Erinnerung das Überleben in der Gegenwart. Gegenüber dieser konkreten Erinnerung steht die Erzählung des oft auch kommentierend eingreifenden heterodiegetischen Erzählers. Diese beiden Pole des Vergangenheitsbezugs verbindet Gaffikin mit Pierre Noras Unterscheidung von Erinnerung und Geschichte, hält aber fest, dass der Erzähler in den tingseventyr keineswegs immer kontinuierlich erzählt, wie dies nach Nora für Geschichte gilt, und zudem immer auf die Dinge und ihre Erinnerungen angewiesen bleibt. Damit handelt es sich bei den Geschichten, die erzählt werden, um Erinnerung und Geschichte zugleich. Gaffikin stellt das konkrete Erinnern der Objekte in den Kontext eines beschleunigten Wandels der Alltagsobjekte, der durch die einsetzende industrielle Massenproduktion ermöglicht wurde, und sieht im Festhalten an den ausgesonderten Dingen und ihren Erinnerungen ein Konzept des Geschichteerzählens, das eine Alternative zu dem von den Dingen distanziertem Geschichteschreiben darstellt. 219 Sie setzt ihre Interpretation von Ansätzen ab, in denen von der kulturellen und historischen Spezifität der Dinge in den tingseventyr zugunsten einer allegorischen Interpretation abgesehen wird, und schlägt stattdessen vor, die Objekte nicht allein metaphorisch, sondern auch als Objekte zu lesen. 220 So verbinden die Dingdarstellungen das romantische Interesse am Partiellen mit materiellen Bruchstücken, die sich poetischer Komplexität öffnen, und nähern sich dem Problem der Unendlichkeit über den symbolischen Tod eines Dings und seine anschließende Dauer in transformierter Gestalt. Auch Thomas Seiler stellt in seinem 2008 in den Anderseniana erschienen Aufsatz „Gjemt [er ikke] glemt.“ Erinnern und Vergessen in H. C. Andersens Dingmärchen 221 fest, 217 Der Text erschien erstmals 1857 im Folkekalender for Danmark 1858. Vgl. EoH 2, S. 482. 218 Der Text erschien erstmals 1863 im Folkekalender for Danmark 1864. Vgl. EoH 3, S. 413. 219 Zu diesem Aspekt vgl. Oxfeldt 2006, S. 207. Da sich der Aufsatz vor allem mit Fragen der Adaption am Beispiel filmischer und literarischer Klods-Hans (Tölpelhans)-Erzählungen auseinandersetzt, ist er im hier vorliegenden Zusammenhang ansonsten zu vernachlässigen. 220 Vgl. Gaffikin 2004, S. 189. Gaffikin unterscheidet nicht zwischen Ding und Objekt. 221 In seinem 2009 erschienenen Aufsatz „Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen“, einer Variante des Anderseniana-Aufsatzes, sucht er zudem Böhmes Fetischkonzept einzubeziehen und akzentuiert den Aktantenstatus von Dingen in historischen Prozessen (vgl. Seiler 2009, S. 99). Diese Einbeziehung erfolgt jedoch nur punktuell und erweitert die Ursprungsfassung nicht um wesentliche Gedanken. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 55 wie die Dinge in den Märchen versuchen, Gedächtnis im Sinne von Pierre Nora - das heißt auch in seiner Materialität - zu erhalten: Von ihnen geht affektive Erinnerung aus, die sie mit ihrer menschlichen Umwelt verbindet und den modernen Bruch zwischen Gegenwart und Vergangenheit hinauszögert. Diese von den Dingen geübte Mnemotechnik, wie man sie auch nennen könnte, 222 verschiebt sich nach Seiler in den analysierten Texten von der funktionalen in die ästhetische Sphäre; die Dinge sind in diesen aus ihrem Funktionszusammenhang entnommen und zu Gegenständen der Kunst geworden. Seiler betont wie Gaffikin, dass die auf die dichterische Imaginationskraft verschobene Erinnerungsleistung bei Andersen immer „in der Materie verankert“ 223 bleibt bzw. von dieser ausgeht. Er stellt seine Überlegungen in den Zusammenhang des Wandels der Dingwelt, der im 19. Jahrhundert insbesondere in der Industrialisierung begründet war. Während Lundbo Levy besonders die Verbindung von Hand und Ding herausstellte, handelt es sich in den von Seiler und Gaffikin angesprochenen Verbindungen zwischen Menschen und Dingen um solche, die über die unmittelbare Berührung hinausgehen und im Unterschied zu den bei Lundbo Levy beschriebenen von großer Dauerhaftigkeit sein können. In den tingseventyr verbinden sich Dinge und Menschen einerseits in der Erinnerung an die Vergangenheit, durch geteilte Erzählungen. Umgekehrt impliziert die Nostalgie nach dem Losreißen der Dinge aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang, dass diese zuvor eng mit ihrer Umgebung verbunden waren. Damit verschiebt sich das gemeinschaftsstiftende Potential der Dinge in den Eventyr og Historier von der vergangenen Vertraulichkeit des Einwohnens, das heißt dem Miteinanderwohnen über einen langen Zeitraum, wie sie beispielsweise Georg Simmel in der Philosophie des Geldes beschreibt, 224 in die Möglichkeit, eine gemeinsame Vergangenheit zu verkörpern. Zahlreiche wichtige Gedanken enthalten zwei Aufsätze von Finn Hauberg Mortensen aus dem Jahr 2006: Ting og eventyr (Ding und Märchen) sowie Ting og relation (Ding und Relation). 225 Die Dinge der Eventyr og Historier werden bei genauerer Betrachtung zu Relationen, so Mortensens erste These in Ting og eventyr. Vor diesem Hintergrund können physische Gegenstände in unterschiedlicher Art als Akteure („aktører“ 226 ) fungieren. Die Beziehungen zu anderen Dingen und ihre Anordnung durch Menschen bestimmen den Handlungsspielraum der Dinge mit. Er exemplifiziert dies an Hyrdinden og Skorsteensfeieren (Die Hirtin und der Schornsteinfeger) 222 Seiler schreibt an dieser Stelle nicht von einer dinglichen Mnemotechnik, sondern verweist auf Kontinuitäten zwischen Andersens Texten und der antiken Mnemonik. Vgl. Seiler 2008, S. 16; 2009, S. 108. 223 Seiler 2008, S. 21; 2009, S. 110. 224 Vgl. Simmel 1989, S. 637 f. 225 Vgl. Mortensen 2006a; 2006b. Sowohl ting als auch eventyr sind im Singular und Plural identisch, die Übersetzung könnte auch Dinge und Märchen lauten. „Relation“ kann auch mit „Beziehung“ übersetzt werden und wird auch für menschliche Beziehungen verwendet. 226 Mortensen 2006a, S. 62. 1 Einleitung 56 (1845), auf das auch die vorliegende Arbeit ausführlicher eingeht. Während Dinge in Ting og eventyr explizit Akteure genannt und als solche konzeptualisiert werden, werden sie in Ting og relation eher als passive Objekte gelesen, obgleich die Aufsätze abgesehen von der Abfolge der Abschnitte weitgehend deckungsgleich sind. 227 Die folgende Darstellung orientiert sich an Ting og eventyr. In einem nächsten Schritt wendet Mortensen sich Georg Brandes’ H. C. Andersen som Eventyrdigter (H. C. Andersen als Märchendichter) zu, dessen Erstveröffentlichung 1869 erfolgte. Dieser Essay des bedeutenden dänischen Literaturwissenschaftlers lobte Andersens Naivität als Annäherung an das Unbewusste, in dem Brandes „vort Fond og vor Styrkes Kilde“ 228 („unseren Grund und unserer Stärke Quelle“ [Übers. F. F.]) erkannte. Nach Mortensen muss Brandes’ Begriff des Unbewussten im Sinne von Freuds Verständnis des Vorbewussten oder des Es begriffen werden. Brandes fokussiere seine Andersenlektüre damit auf das, was der Mensch im Prinzip wissen könnte, und beziehe damit eine andere Position als die zeitgenössische idealistische Kritik an Andersen. Die idealistische Kritik griff Andersens Assoziationen des Konkreten an, weil sie das Ideal einer Kopplung von Phänomen und Idee einforderte. Dagegen habe Brandes die Erkenntnismöglichkeiten der Kopplung des Konkreten erkannt. „Dermed bevæger han sig fra et idealistisk verdensbillede med teocentrisk bagage til et antropocentrisk, hvor interessen gælder den enkeltes personlighedsvækst.“ 229 („Damit bewegt er sich von einem idealistischen Weltbild mit theozentrischem Gepäck zu einem anthropozentrischen, wo das Interesse dem Persönlichkeitswachstum des Einzelnen gilt.“ [Übers. F.F.]). Mortensen deutet die Nähe von Andersens Texten zu modernistischen Dinggedichten Johannes V. Jensens und Klaus Rifbjergs an, bevor er sich der bereits angesprochenen Definition von tingseventyr annähert. Mortensen plädiert dafür, die tingseventyr nicht so eng zu definieren, dass sie menschliche Akteure ausschließen, weil gerade die dinglich-menschliche Beziehung von besonderem Interesse für das Verständnis der tingseventyr sei und sich die Grenzen von Mensch und Ding nur schwer festlegen ließen, da beispielsweise Dinge Rollen einnehmen könnten, die in anderen Texten von Kindern, Tieren oder Pflanzen eingenommen würden. 230 Er eröffnet eine weitere Dimension der Dinglichkeit der Eventyr og Historier, wenn er im Hinblick auf selbstreflexive Märchen wie Tante Tandpine (Tante Zahnschmerz) (1872), die ihre eigene Materialität als Geschriebenes im Text herausstellen, 231 festhält: „Andersen er ikke blot en forfatter, der finder ting for at give dem mæle, men også en kunstner, der forlader sit værk. / [...] Pointeringen af eventyrenes tingskarakter qva kunstværker gør dem ikke til tingseventyr, men også disse har tingskarakter.“ 232 („Andersen ist nicht bloß ein Verfasser, der Dinge findet, um ihnen 227 Vgl. auch S. 2 6 dieser Arbeit. 228 Brandes 1984, S. 239; vgl. Mortensen 2006a, S. 67; 2006b, S. 41. 229 Mortensen 2006a, S. 68. 230 Vgl. ebd., S. 70, 73; 2006b, S. 47. 231 Vgl. S. 2 dieser Arbeit. 232 Mortensen 2006a, S. 71; vgl. 2006b, S. 48. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 57 Sprache zu geben, sondern auch ein Künstler, der sein Werk verlässt. / [...] Das Pointieren des Dingcharakters der Märchen als Kunstwerke macht diese nicht zu tingseventyr, aber auch diese haben Dingcharakter.“ [Übers. F. F.]) Mortensen schließt seine Überlegungen mit einem Verweis auf Michel Foucaults Ordnung der Dinge. 233 Darin stellt Foucault fest, dass das Menschliche, dessen Entstehung um 1800 ansetzt, zuerst unter einem biologischen Paradigma betrachtet werde, nachdem der Mensch, seine Psyche, seine Gruppe, seine Gesellschaft und die Sprache sich organisch entwickeln. 234 Auf dieses Paradigma führt Mortensen Brandes’ Andersenrezeption zurück. Darauf folgt nach Foucault ein machtorientiertes Modell, in dem der Mensch und seine Aktivität als Ausdruck von Erfolg in einer konflikthaften Welt gelesen werden. Das dritte Modell, das philologische bzw. linguistische, habe das Studium von Literatur und Mythen als Gebiet und bediene sich der Philologie. Im dritten Modell gilt es, Interpretationen und verborgene Bedeutungen zu finden, sowie Bezeichnungssysteme zu strukturieren und zu verdeutlichen. 235 Mortensen geht es bei seinem Hinweis auf Foucault vor allem um diese „lingvistiske vending“ 236 („linguistische Wende“ [Übers. F. F.]). Die Anwendung verschiedener Serien von Akteuren, selbstreflexiver Erzählerkommentare und die Verwendung von „talesproget“ 237 seien Ausdruck einer linguistischen Wende, die Andersens Zugehörigkeit zum Modernismus, definiert in einem transhistorischen Sinne als Formorientierung, Schriftbewusstsein und Selbstreferentialität unter Aufgabe des mimetischen Prinzips, unterstreichen. Damit spricht Mortensen wichtige Aspekte einer dingtheoretisch ausgerichteten Anderseninterpretation an: den Aktantenstatus von Dingen, der sich nicht auf eine Projektion menschlicher Eigenschaften auf Dinge beschränkt; den zentralen Stellenwert von Mensch-Ding-Beziehungen in den Eventyr og Historier; das Verhältnis der Dingdarstellungen zu materialistischen und anthropozentrischen Denkformen sowie die Reflexion der Dinglichkeit der Texte. Mortensens Hinweis auf Foucaults Archäologie der Humanwissenschaften ist auch wertvoll, weil die darin beschriebene Entstehung des Subjekts die des Objekts impliziert. Auf Brandes’ Essay und die Frage des Anthropozentrismus geht auch Klaus Müller- Willes Aufsatz zu Andersen und den Dingen ein, deshalb wende ich mich diesem Essay eingehender zu. Dass Dinge, Tiere und Pflanzen in den Eventyr og Historier eine gewichtige Rolle spielen, stellt Brandes darin gezielt heraus. „Udgangspunktet for hans [Andersens, F. F.] Kunst er Barnets Leg, der gjør Alt til Alt. [...] Nerven i denne Kunst er Barnets Indbildningskraft, der besjæler og personliggjør Alt [...] Forbilledet 233 Vgl. Mortensen 2006a, S. 76 f.; 2006b, S. 43. 234 Vgl. Foucault 1974, S. 431. 235 Vgl. ebd. 236 Mortensen 2006a, S. 77. 237 Ebd. Die Standardübersetzung von „talesprog“ ist „Umgangssprache“; „tale“ bedeutet jedoch „sprechen“, „gesprochene Sprache“ erscheint mir hier die passendere Übersetzung. 1 Einleitung 58 for saadan Poesi er Barnets Drøm“ 238 („Ausgangpunkt seiner [Andersens, F. F.] Kunst ist das Spiel des Kindes, das alles zu allem macht. [...] Der Nerv dieser Kunst ist die Einbildungskraft des Kindes, die alles beseelt und personifiziert [...] Das Vorbild für eine solche Poesie ist der Traum des Kindes“ [Übers. F. F.]). Brandes stellt diese poetische Strategie in den größeren Zusammenhang einer sich gegen den räsonierenden Verstand des 18. Jahrhunderts richtenden Hinwendung zum Unbewussten und zur Natur. 239 Dem entgegnet Klaus Müller-Wille: Dennoch stellt sich die Frage, ob die kindliche Phantasie, die Brandes Andersen unterstellt, nicht genau seinen eigenen Blick auf dessen Märchen prägt. Immerhin trägt er mit seinem Rekurs auf die Urszene der Subjektivität, die sich projizierend in den Dingen des alltäglich [sic] Lebens wiedererkennt, seinerseits dazu bei, die Texte Andersens auf eine Weise zu beseelen, dass sie als „lebendiges Ganzes“ erscheinen und als Ausdruck der „Einbildungskraft des Kindes“ in Anspruch genommen werden können. 240 Statt einer „’lebendige[n] Ganzheit’ biedermeierlicher Wohnzimmer-Interieurs“ inszeniert Andersen nach Müller-Wille „ein Tohuwabohu fremd wirkender Dinge [...], das eher an Lautreamonts [sic] spannungsreiche Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf dem Operationstisch“ erinnere. Die tingseventyr versteht Müller-Wille als Versuch, „mit dem Rekurs auf die Welt der Dinge genau die Grenzen dieser Projektion und damit auch die Grenzen des Subjekt- und Textverständnisses [zu] umreißen, das für Brandes noch Gültigkeit besitzt.“ 241 Die tingseventyr hinterfragen nach Müller-Wille also das Verhältnis von Subjekt und Dingen. Brandes’ Essay konstatiert jedoch hinsichtlich des Subjektverständnisses eine andere Form der Verwischung von Mensch-Ding-Grenzen in Andersens Texten: die zwischen Menschen und Tieren bzw. Pflanzen. Brandes stellt so die Grenzzersetzung zwischen Natur und Kultur, Mensch und Nicht-Mensch in der Figur des Tieres heraus. Da die Unsicherheit der Grenzziehung in Mensch-Tier-Beziehungen deutlicher als im Verhältnis zu (anderen) Dingen artikuliert wurde, lohnt es sich, kurz auf Brandes’ Betrachtungen über Tiere bei Andersen einzugehen. „Im Verhältnis zu Tieren spiegelt sich stets auch das Verhältnis zu den Dingen“, 242 erklärt Hartmut Böhme und begründet dies damit, dass Tiere und Dinge über weite historische Zeiträume den gleichen juristischen Status teilten. Zwar galten sie in der Frühneuzeit als Rechtssubjekte, diesen Status hatten sie jedoch weniger als Träger von Rechten, denn als Delinquenten. 243 Rainer Wiedemanns an Erving Goffmans Rahmenanalyse angelehnte Untersuchung von Mensch-Tier- Beziehungen lässt erkennen, dass Tieren in der Moderne jedoch nicht allein ein 238 Brandes 1984, S. 206 f. 239 Vgl. ebd., S. 218-220. Brandes’ Begriff des Unbewussten entspricht nach Mortensen, wie oben bereits bemerkt, eher dem Freudschen Vorbewussten oder Es. Vgl. Mortensen 2006a, S. 67 f. Zur Rolle des Unbewussten im Märchen vgl. auch Brandes 1902, S. 124; 1984, S. 239. 240 Müller-Wille 2009b, S. 133. 241 Ebd., S. 133 f. 242 Böhme 2006, S. 48. 243 Vgl. ebd., S. 47 f. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 59 Sachen-Status zukam, der sie der Natur zuordnete und sich in Umgangsformen wie industrieller Massentierhaltung zeigte. Stattdessen konnten Tiere, vor allem Hau tiere, etwa ab dem 19. Jahrhundert auch als Teil des Sozialen begriffen und, beeinflusst von der modernen Liebessemantik, geliebt werden. Diese Beziehungen hatten jedoch ihren Ort „im Binnenraum des Privaten“ 244 . Wiedemann kommt zu dem Schluss, dass Tiere zwar sowohl als Dinge als auch als partnerschaftliche Subjekte begriffen werden konnten, die Zuordnung selbst in der Moderne aber immer eindeutiger wurde: Tiere waren entweder Partnersubjekte oder Nutzobjekte. Insbesondere durch die Begegnung mit Tieren als Partnersubjekten wurde zugleich die Ambivalenz im Umgang mit Tieren erkannt und immer wieder auch problematisiert. Brandes betont, dass es sich bei den Tieren in den Eventyr og Historier fast immer um Haustiere handelt und entwickelt in diesem Zusammenhang eine Geschichte des Umgangs von Tieren mit Menschen und der gemeinsamen Kultur, die die Tiere etwas Menschliches entwickeln lasse und ihre Persönlichwerdung vorantreibe: „Andersen fremstiller ikke Dyret i Mennesket, men Mennesket i Dyren.“ 245 („Andersen stellt nicht das Tier im Menschen, sondern den Menschen im Tier dar.“ [Übers. F.F.]) Die Grenzüberschreitungen zwischen Menschen- und Tierwelt haben eine irritierende Qualität: „Det kan jo nemlig ikke negtes, at man undertiden faar en Tvivl, om hvad det Hele med at lade Dyrene tale i Grunden har at betyde.“ 246 („Es kann ja nämlich nicht bestritten werden, dass man manchmal Zweifel bekommt, was das Ganze im Grunde zu bedeuten hat, die Tiere sprechen zu lassen.“ [Übers. F. F.]) Aber auch Brandes selbst erkennt, dass es unmöglich ist, über Tiere zu sprechen - „endog rent videnskabeligt“ („sogar rein wissenschaftlich“) - ohne ihnen Eigenschaften beizulegen, die wir von uns selbst kennen. Er beeilt sich zu betonen, Tiere „jo ikke har en eneste menneskelig Egenskab.“ 247 („ja keine einzige menschliche Eigenschaft haben.“ [Übers. F. F.]). Damit sucht er die Trennung von Menschlich und Nichtmenschlich aufrecht zu erhalten. Aber woher kommt diese Unmöglichkeit, über Tiere zu sprechen, ohne etwas über Menschen auszusagen? Andersen er [...] ikke direkte Psykolog, han er mere Biolog end særligt Menneskekjender. Hans Forkjærlighed er at fremstille Mennesket igjennem Dyret eller Planten, at sé det udviklende sig fra dets Natugrund. Al Kunst indeholder et Svar paa det Spørgsmaal hvad Mennesket er. Spørg Andersen, hvorledes han definerer Mennesket, og han vil svare: Mennesket er en Svane, udruget i Naturens Andegaard. 248 (Andersen ist [...] nicht direkt Psychologe, er ist mehr Biologe als besonderer Menschenkenner. Seine Neigung ist es, den Menschen durch das Tier oder die Pflanze darzustellen, ihn sich aus seinem Naturgrund entwickelnd zu sehen. Alle Kunst enthält eine Antwort auf die Frage, was der Mensch ist. Frag Andersen, wie er den Menschen 244 Wiedemann 1998, S. 373. Vgl. Buchner-Fuhs 1998, S. 281-283; Wiedemann 1998, S. 364 ff. 245 Brandes 1984, S. 225. Vgl. ebd., S. 224-226, 245. 246 Ebd., S. 245. 247 Ebd. 248 Ebd., S. 235. 1 Einleitung 60 definiert, und er wird antworten: Der Mensch ist ein Schwan, ausgebrütet im Entenstall der Natur. [Übers. F. F.]) In der Trennung von Biologie und Psychologie, die Letzterer die Menschenkennerschaft bevorzugt zuspricht, spiegelt sich die von Latour nachgezeichnete moderne Trennung von naturwissenschaftlicher und gesellschaftswissenschaftlicher Repräsentation wider, 249 diese wird jedoch gerade im Bereich der Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer problematischer, da hier zunehmend naturwissenschaftliche Methoden an Gewicht gewinnen und die philosophische Psychologie - nicht ohne Konflikte - ergänzen. 250 Wie prekär die Grenzziehung zwischen Mensch und Tier ist, war dem Darwinkenner 251 Brandes bewusst, dennoch unternimmt er in seinem Essay immer wieder Versuche, diese Grenze zu schützen. Die Trennung wird jedoch von den in Brandes’ Andersen-Porträt angesprochenen menschlichen Eigenschaften des Tieres unterlaufen. Nach Brandes ist das Tier eine Erleichterung für den psychologisch Interessierten, der keinen „hel, sammensat Karakter“ 252 („ganzen, zusammengesetzten Charakter“) umfassen kann, sondern jeweils nur einzelne Eigenschaften. In diesem Sinne nutze Andersen Tierdarstellungen, so Brandes. Tatsächlich verfahren Andersens Texte nicht nach dem Muster von ganzheitlichen Charakterdarstellungen, das Brandes vor Augen hat. Die Eventyr og Historier gehen jedoch auch über die in ihnen unternommene Beleuchtung einer bestimmten Charaktereigenschaft meist deutlich hinaus. Gaffikin und Müller-Wille halten fest, dass das Erkennen moralischer Wahrheiten, die sich aus den Texten lesen lassen, für ein angemessenes Verständnis derselben keineswegs ausreicht. So ist Kjærestefolkene weit mehr als eine schlichte Parabel auf ‚Hochmut kommt vor dem Fall’, wie Müller- Wille betont. 253 Die Eventyr og Historier beleuchten nicht das Einzelne als Teil eines Ganzen, sondern verfolgen vielmehr, wie sich aus dem Einzelnen ein oftmals überraschendes Ganzes - man könnte vielleicht sagen: ein nicht rein menschlicher Charakter - zusammensetzt. Die Menschen in den Texten reichen ebenso über sich hinaus wie die Dinge in sie hinein; Andersens Texte zeichnen Netzwerke auf statt ganzer Charaktere in Brandes’ Sinne. 254 Darin geben sie jedoch eine Antwort auf die Frage, was der 249 Latour 1995, S. 40-43. 250 Vgl. Lück 2002, S. 37-39, 46-54, 57-69; Schönpflug 2004, S. 269, 279-281, 283-313. 251 Vgl. Busk-Jensen u. a. 1985, S. 194 f.; Busk-Jensen 2009, S. 21; Ingwersen 1992, S. 263. 252 Brandes 1984, S. 235. Zu Brandes’ Ideal eines in sich ruhenden Charakters vgl. auch sein Dichterporträt Andersens in der deutschen Ausgabe seiner Gesammelten Werke. Vgl. ders. 1902, S. 112. 253 Vgl. Gaffikin 1998, S. 188 f.; Müller-Wille 2009b, S. 143, 155. 254 Das Aufzeichnen von Netzwerken ist die zentrale Methode der Akteur-Netzwerk-Theorie. Nach Latour gehört es zu einem guten Bericht, die Zusammensetzung des Sozialen stets neu zu erkunden und dabei nicht von bekannten Ursachen und Wirkungen vorneherein feststehender Akteure auszugehen, sondern stets danach zu fragen, wie ein Akteur andere dazu bringt, unerwartete Dinge zu tun, und dabei potentiell allen Beteiligten agency zuzugestehen. Darin könnte man Parallelen zu Andersens Erzähltechnik erkennen, auch wenn Latour am Unterschied zwischen fiktionalen und wissenschaftlichen Texten festhält. Vgl. Latour 2007, S. 219-221; 223 f., 226 f. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 61 Mensch ist, wie Brandes es von der Kunst fordert - vorausgesetzt, man folgt Bruno Latours Definition des Menschen: Man müsste von Morphismus sprechen. Im Menschlichen kreuzen sich Technomorphismen, Zoomorphismen, Physiomorphismen, Ideomorphismen, Theomorphismen, Soziomorphismen, Psychomorphismen. Ihre Allianzen und ihr Austausch definieren alle zusammen den anthropos. Ein Wesen, das Morphismen zusammenbraut und mischt, reicht das nicht als Definition? 255 Müller-Wille nimmt Brandes’ Essay zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, um sich den „Beziehungsgeflechten, mit denen Subjekte und Dinge respektive Subjekte und Waren auf subtile Weise ineinander verwoben sind“, in Andersens Texten zu widmen, und hält unter Verweis auf die Essaysammlung Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft fest, Andersen führe die Reflexion über das Imaginäre politischer Herrschaft in den Dingmärchen weiter, wobei er sich nun allerdings - seinem grundlegenden Interesse für die Welt der Moderne gemäß - für die Effekte einer, wenn man so will, ökonomischen Imagination interessiert, die sich an der Welt der alltäglichen Dinge orientiert. 256 Müller-Willes Ausführungen zur Definition von Dingen stellen das Potential des Dingbegriffs zu einer Überwindung von Subjekt-Objekt-Dichotomien zugunsten von komplexen Subjekt-Objekt-Relationen heraus. In Anlehnung an Giorgio Agamben nennt Müller-Wille Dinge „eine dritte Zone [...], in der sich nicht nur Subjekte und Objekte in Relation zueinander setzen, sondern in der sich sogar der Raum, auf dem diese Relation gründet, selbst konstituiert“ 257 . Er verweist auf Böhmes „andere Theorie der Moderne“ und den darin rekonstruierten Fetischismusdiskurs, die Böhme als Auseinandersetzung mit dem „geleugneten Einfluss [...] der fetischisierten Warenwelt in der europäischen Moderne“ 258 interpretiere. Am Beispiel des Märchens Pen og Blækhuus (Feder und Tintenfass) (1859) 259 entwickelt Müller-Wille, wie komplexe Subjekt-Objekt-Bezie-hungen in den Eventyr og Historier reflektiert werden. Im Märchen entwickelt sich ein Streit zwischen Feder und Tintenfass darüber, wer von ihnen beiden literarische Kunstwerke entstehen lasse. Im Anschluss an den unentschiedenen Disput werden im Text die Gedanken des Feder und Tintenfass besitzenden Dichters wiedergegeben. Dieser kehrt nach einem Violinkonzert heim und stellt fest, dass weder Violine noch Bogen auf ihre Leistungen stolz sein sollten - ebenso wenig jedoch die Menschen, die er als Instrumente Gottes begreift. Müller-Wille macht darauf aufmerksam, dass der Text mit dem entscheidenden Hinweis schließt, dass all dies als Parabel niedergeschrieben wurde und so wieder auf den Akt des Schreibens verweist: 255 Latour 1995, S. 183. 256 Müller-Wille 2009b, S. 135. 257 Ebd., S. 136. 258 Ebd., S. 137. 259 Das Märchen erschien 1859 in Nye Eventyr og Historier. Fjerde Samling (Neue Märchen und Geschichten. Vierte Sammlung) mit der Jahreszahl 1860 auf dem Titelblatt. Vgl. EoH 2, S. 498. 1 Einleitung 62 In diesem Sinne macht sich der Text nicht über die Instrumente lustig, die sich unverschämter Weise anmaßen als eigenständige Subjekte agieren zu können, sondern im Gegenteil über den Dichter, welcher der beunruhigenden Erfahrung einer subjektgefährdenden Autonomie der Dinge kurioserweise mit Hilfe seiner Schreibinstrumente Herr zu werden versucht. 260 Müller-Wille erkennt in der im Märchen erwähnten Parabel einen intertextuellen Verweis auf eine französische Fabel, in der die Moral wiederum einem Fauteuil in den Mund gelegt wird. Die agency der Dinge wird intertextuell multipliziert. Zudem verweist der Text auf die Fabrikproduktion englischer Stahlfedern, die den Federkielen zur Seite treten, und reflektiert so den Wandel des Schreibens durch den Wandel der Dingwelten im Zuge industrieller Massenfertigung. 261 „Der Leser wird [...] mit einer beunruhigenden Dinglichkeit des Textes konfrontiert“ 262 , die auch den Leseakt beeinflusst. Diesen Aspekt greift Müller-Wille noch einmal auf und verweist auf Andersens ersten Roman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 (Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829) (1829) 263 , in dem ein Buch als Ware dargestellt wird, das seine Dingbiographie erzählt und so den Blick des Lesers auf die Schrift als Medium des Dichters lenkt. Auch in Hørren - en Historie (Das Leinen oder Der Flachs - eine Geschichte) (1849) werden nach Müller-Wille weniger die Zeichen als dingliche Zeichenträger akzentuiert. 264 In Laserne (Die Lumpen) (1868) 265 wird neben der „zeichentheoretische[n] Diskussion“ 266 der Zusammenhang von Buchdruck und nationaler Stereotypisierung reflektiert. Er nennt in diesem Zusammenhang auch Den stumme Bog (Das stumme Buch) (1851) 267 und geht schließlich auf Nissen hos Spekhøkeren (Der Nisse beim Speckhöker) (1852) 268 ein, das „auf die merkwürdige Verschränkung von symbolischen und ökonomischen Wert aufmerksam [macht], welche die Ware Buch [...] auszeichnet“ 269 . Müller-Wille sieht in den tingseventyr auch „Ansätze zu einer phänomenologisch anmutenden Reflexion über das Verhältnis von Körpererfahrung und Dingen“ 270 , die 260 Müller-Wille 2009b, S. 139. 261 Vgl. EoH 2, S. 288. 262 Müller-Wille 2009b, S. 139 f. 263 Vgl. Müller-Wille 2009b, S. 147; Bl, S. 194-197; FR, S. 44-48. Zur Reflexion des Warencharakters von Literatur in der Fodreise vgl. auch Bronfen 2009, S. 120-130. Zur Fodreise vgl. auch S. , Fußnote 453 und S. dieser Arbeit. 264 Zu Hørren vgl. S. 2 -2 dieser Arbeit. 265 Das tingseventyr wurde erstmals gedruckt im Folkekalender for Danmark 1869, der im Dezember 1868 erschien. Vgl. EoH 3, S. 440. Zu Laserne vgl. auch Kap. 3.3.3. 266 Vgl. Müller-Wille 2009b, S. 148. 267 Die Geschichte erschien erstmals als Kapitel der Reiseschilderung I Sverrig (In Schweden) (1851) und wurde später in die Eventyr og Historier aufgenommen, in denen es 1863 gedruckt wurde. 268 Die Geschichte wurde erstmals gedruckt in Historier. Anden Samling, erschienen 1852 mit der Jahreszahl 1853 auf dem Titelblatt. 269 Müller-Wille 2009b, S. 269. 270 Ebd., S. 141. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 63 er anhand der Stopfnadel-Hand-Kopplung in Stoppenaalen (Die Stopfnadel) (1845) 271 sowie der Verbindung medizinischer Instrumente, Schmerz und Hand in Tante Tandpine (Tante Zahnschmerz) (1872) 272 demonstriert. Körperliche Selbstwahrnehmung und das taktile Begreifen der Dinge sind voneinander abhängig. In einem weiteren Schritt entwickelt er, wie die Eventyr og Historier „auf das das Wechselverhältnis zwischen Ding-Welt und spezifischen Begehrens-strukturen eingehen“ 273 . Der Wandel der Dingwelt sowie indirekt auch ihr Warenstatus werden beispielsweise im Verfall ehemaliger Waren zu Müll thematisiert. Für Kjærestefolkene zeigt Müller-Wille, wie im Begehren des für den Kreisel unerreichbaren Balls ein „Moment des präsentierten Entzugs - einer anwesenden Abwesenheit - entfaltet“ 274 wird. Der Kreisel verliebt sich immer mehr in den Ball, gerade weil er ihn nicht bekommen kann. Auch Den standhaftige Tinsoldat eröffnet mit einem dinglichen Begehren des Zinnsoldaten nach der papiernen Tänzerin, das nach Müller-Wille durch einen Mangel, das fehlende Bein des Zinnsoldaten, begründet ist. Hier entfaltet das Begehren eine lähmende Widersprüchlichkeit: Unbeweglich verharren die Tänzerin und der Soldat inmitten der nächtlich bewegten Spielzeugwelt. Indem die Dingmärchen den bekannten Topos der unerreichbaren Liebe allerdings auf ein auf Dinge ausgerichtetes Begehren übertragen, lassen sie sich indirekt auf eine Reflexion von Waren ein, die - da sie nicht nur einen Gebrauchswert, sondern auch abstrakte Tauschwerte verkörpern - eben den in sich widersprüchlichen Charakter von Fetischen annehmen [...]. 275 Die Analogie der Ware zum Fetisch liegt für Müller-Wille mit Agamben (der sich wiederum auf Marx bezieht) darin, dass sie als Zeichen zweier unvereinbarer Wirklichkeiten niemals ganz besessen werden könne. Ihr Besitzer kann sich der Ware niemals gleichzeitig als Gebrauchsgegenstand und als Wert erfreuen; selbst wenn die Ware physisch bis zu ihrer Zerstörung verändert wird, bleibt sie nach Agamben ungreifbar. 276 Obgleich dies von Müller-Wille nicht weiter erläutert wird, lässt sich aus seinen Ausführungen erschließen, dass der Wandel der Begehrensstrukturen den Wunsch nach vollständigem Besitz des Dings einschließt und es vor allem dieser ist, der dessen Ungreifbarkeit problematisch werden lässt. Das moderne Mensch-Ding- Verhältnis zeichnet sich, wie dargestellt, durch das Anwachsen der Hybride ebenso wie durch die Negation autonomer Dinglichkeit aus. Diese Negation autonomer Dinglichkeit hat in der Erzeugung des Begehrens eine zentrale Funktion inne. Anhand des sich ständig verschiebenden Begehrens eines Kragens im gleichnamigen Märchen Flipperne (Der Kragen) 277 demonstriert Müller-Wille, wie weitrei- 271 Das Märchen erschien zunächst 1845 im von P. L. Møller herausgegebenen ästhetischen Jahrbuch Gæa für das Jahr 1846. Vgl. EoH 1, S. 530. 272 Vgl. zu Tante Tandpine S. 2 -2 dieser Arbeit. 273 Müller-Wille 2009b, S. 142. 274 Ebd., S. 143. 275 Ebd., S. 144 f. 276 Vgl. Agamben 2005, S. 69; Müller-Wille 2009b, S. 145. 277 Das tingseventyr erschien zuerst in englischer Übersetzung von Charles B. Lohmeyer unter dem Titel The False Collar in A Christmas Greeting to my English Friends. Auf Dänisch wurde es 1848 1 Einleitung 64 chend Andersens Reflexion moderner Begehrensstrukturen ist und inwiefern sie an Theorien des Fetischismus anschließen könnte. In Flipperne vermischt „sich das sexuelle Begehren völlig mit dem unmöglichen Begehren nach dem nicht mehr allein über seinen Nutzen definierten Warenfetisch“ 278 : Der Kragen verliebt sich im Verlauf des Märchens in ein Strumpfband, ein Bügeleisen, eine Schere und einen Kamm. Darüber hinaus soll der Rückgriff auf den Fetischbegriff anzeigen, dass Andersens Texte an einer historischen Zäsur in Mensch-Ding-Beziehungen ansetzen: Auf der einen Seite tragen die auf Projektionen gründenden und von Projektionen handelnden Märchen dabei dazu bei, über die in der Umwandlung des handwerklichen Gegenstandes in einen Massenartikel implizit enthaltene Verwandlung der Dinge zu reflektieren, die nunmehr nicht als reine Gebrauchsgegenstände, sondern als Teil einer komplexen Begehrensökonomie fungieren. Auf der anderen Seite scheint sich Andersen für so etwas wie eine Rettung der zu bloßen Waren verkommenen Dinge zu interessieren. Dies ließe sich an den vielen Märchen nachweisen, die vom Verfall der Waren zu Müll handeln. Dieser Verfall trägt zur Individualisierung der seriell verfertigten Dinge bei. 279 In seinem Fazit stellt Müller-Wille heraus, dass Andersens Texte die „Dinglichkeit der Medien, über die sich das Subjekt performativ konstituiert“, unterstreichen. Thematisiert werde zugleich die „subtile[n] Verdinglichung des Subjektes“ in einer medien- und körpertheoretisch angelegten Erörterung des komplexen Subjekt- Objekt-Wechselspiels, das im Rahmen einer expandierenden Warenwelt den Kunst- Konsum-Nexus enger werden lässt und Begehrensstrukturen verändert. Zudem entwickle Andersen eine „Ästhetik der beschädigten und fragmentierten Gegenstände, die zumindest einen indexikalischen Bezug auf eine dem Subjekt grundlegend entzogene Wirklichkeit garantieren sollen.“ Die Märchen geben jedoch keineswegs dem Begehren nach ‚Authentizität’ und ‚Präsenz’ nach, das in der Diagnose der zu Waren verkommenen und entfremdeten Dinge mitschwebt, sondern machen gerade auch in ihrer Aufmerksamkeit für den fetischisierten Müll oder für das in seiner unbegreiflichen Materialität fetischisierte Papier deutlich, dass dieser Wunsch nach ‚Authentizität’ und ‚Präsenz’ selbst nur ein Effekt der Warenökonomie ist. 280 Aus den aktuellen Arbeiten zu Andersen und den Dingen lassen sich vier Punkte zusammenfassend hervorheben: 1. Das Geschehen in den Eventyr og Historier ist nicht einfach das Ergebnis einer Projektion menschlicher Eigenschaften auf Dinge, sondern vielmehr wesentlich bestimmt von der Materialität der Dinge und dingweltlichen Dynamiken. erstmals abgedruckt. Vgl. EoH 1, S. 535. Zur transnationalen Publikationsgeschichte von Andersens Texten, für die Flipperne ein Beispiel ist, vgl. auch Kapitel 2.3.2. 278 Müller-Wille 2009b, S. 145. 279 Ebd., S. 146. 280 Ebd., S. 155 f. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 65 2. Dinge werden nicht isoliert gezeichnet, sondern in ihren Beziehungen. Diese Beziehungen haben nach Mortensen und Müller-Wille Rückwirkungen auf das menschliche Selbstverständnis. 3. Die Eventyr og Historier behandeln Dinge im Kontext einer sich wandelnden Dingwelt. Industrielle Massenproduktion, beschleunigte Warenzirkulation und neue bzw. rasant anwachsende Dingwelten verändern Mensch-Ding-Beziehungen. Diese Beziehungsgeflechte werden in ihrer Komplexität erkundet und zum Teil auch kritisiert, ohne einfache Lösungen anzubieten. Dabei wenden sich die Eventyr og Historier wiederholt selbstreflexiv der Frage nach der Dinglichkeit oder dem Warencharakter von Texten zu. 4. Tingseventyr, insbesondere solche, deren Hauptfiguren beschädigte Dinge sind, thematisieren oftmals Prozesse des Erinnerns und Erzählens und die Materialität von Gedächtnis. 1.3.5 Andersen und die Moderne: Dingtheoretische Perspektiven In den vorgestellten Aufsätzen wurde mehrfach die Modernität von Andersens Texten angesprochen. Der Modernebegriff in der Andersenforschung ist von unterschiedlichen disziplinären Ansätzen geprägt. 281 Einerseits werden Texte, die sich durch Genreübertretungen, Experimente in Ausdruck und Darstellung, Selbstreferentialität, Formorientierung und Schriftbewusstsein auszeichnen können, dem Modernismus bzw. der Moderne zugeordnet und die genannten Eigenschaften als Ausweis der Modernität Andersens begriffen. 282 Diese Richtung sucht den überwiegend in kunst- und literaturtheoretischen Diskussionen des frühen 20. Jahrhunderts erstmals als Substantiv auftretenden Begriff „Moderne“ transhistorisch zu verwenden. 283 Eine andere Argumentationslinie, die Andersens Texten einen modernen Charakter zuspricht, akzentuiert den Wandel des Alltags stärker: Sie greift auf einen wahrnehmungstheoretisch fundierten Modernebegriff zurück, der insbesondere die umfassenden technischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts in ihren Auswirkungen auf die ästhetische Praxis in Augenschein nimmt. Diese Linie der Forschung orien- 281 Zum Thema Andersen und die Moderne vgl. insbesondere die beiden Sammelbände von Aage Jørgensen und Henk van der Liet (2006) sowie Klaus Müller-Wille (2009). Müller-Wille liefert darin einen pointierten Forschungsüberblick zu diesem Thema. Vgl. ders. 2009a. 282 Für diese Richtung vgl. z. B. Anz 2005, S. 36-38 (Anz unterscheidet allerdings modernistisch und modern, letzterer Begriff steht der zweiten hier dargestellten Forschungslinie nahe. Vgl. ebd., S. 47, 49.); Detering 1999, S. 60 f.; Müller-Wille 2009c, S. 164. Modernisme kann mit Moderne und Modernismus übersetzt werden. Teilweise findet in der Sekundärliteratur auch det moderne (das Moderne) Verwendung, um Andersens Texte zu charakterisieren (z. B. „Det er det bedste af Andersens historier, og det er det mest moderne: Det er dem man ikke kan blive færdig med, netop fordi de i deres opbygning er ufuldstændig og ikke selv rykker ud med en forklaring.“ [„Das ist das Beste an Andersens Geschichten, und das ist das Modernste: Man kann mit ihnen nicht fertig werden, genau weil sie in ihrem Aufbau unvollständig sind und selbst nicht mit einer Erklärung herausrücken.“] Møller 2006, S. 86.). 283 Vgl. Gumbrecht 1987, S. 120-126. 1 Einleitung 66 tiert sich stärker am historischen und sozio-logischen Modernebegriff. Jener geht zum Beispiel von einem Wandel familiärer Strukturen, Urbanisierung, Industrialisierung, der Forderung individueller politischer Rechte, Bürokratisierung und Säkularisierungserscheinungen aus. Im Anschluss an die Theorien von Karl Marx und Max Weber setzt Moderne nach den meisten dieser Ansätze etwa um die Zeit der Renaissance ein, kulminiert jedoch im 19. Jahrhundert. Dieses Verständnis von Moderne, das seit den 1950er und 1960er Jahren in den Geschichts- und Sozialwissenschaften vermehrt diskutiert wurde, ist in den vergangenen Jahrzehnten aus einer postkolonialen bzw. globalen Perspektive erweitert und aufgrund seiner oftmals eurozentrischen Prämissen kritisiert worden. 284 Bei allen Unterschieden innerhalb des Forschungszweiges ist postkolonialen und globalgeschichtlichen Ansätzen die Aufmerksamkeit auf transnationale Verflechtungen und globale Zusammenhänge gemein. Geographische Ungleichgewichte in Infrastrukturen und Technologien werden nicht einfach als ‚Zurückgebliebenheit’ interpretiert, sondern als strukturierende Elemente in einem komplexen Beziehungsgeflecht, ohne die Moderne nicht gedacht werden kann. Für den Zweig der Andersenforschung, der dem historisch-soziologischen Moderneverständnis nahe steht, kann auf Aufsätze von Wolfgang Behschnitt, Aage Jørgensen, Heike Depenbrock und Heinrich Detering hingewiesen werden. Insbesondere die Wahrnehmung von Industrialisierungsprozessen, intensiviertem Verkehr, medialen und gesellschaftlichen Veränderungen steht dort im Fokus. Dagegen spielt die postkoloniale bzw. globalgeschichtliche Erweiterung des Modernebegriffs oft keine Rolle. 285 Die vorgestellten Ansätze, Moderne zu definieren, können auch miteinander verbunden werden, wie das zum Beispiel in Andersen und die Dinge hinsichtlich eines kunsttheoretisch akzentuierten und eines historisch-soziologischen Modernebegriffs geschieht. Die vorliegende Arbeit greift alle vorgestellten Facetten des Moderneverständnisses auf. Sie ist besonders den Arbeiten verpflichtet, die für ein historischsoziologisches Verständnis von Moderne stehen, und erweitert es um postkoloniale bzw. globalgeschichtliche sowie dingtheoretische Perspektiven. Wie bereits angesprochen kam es im 19. Jahrhundert zu einem Wandel der modernen Dingwelt. Sie wuchs mit neuen Produktions-, Konsumtions- und Zirkulationsmustern. Nicht allein die Anzahl, auch die Diversität verfügbarer Dinge nahm zu. 286 Die so differenzierten Gegenstände fanden zum Beispiel Einsatz in neuartig strukturierten Produktionsprozessen. In diesem Zusammenhang erklärt Karl Marx: „Zu Birmingham allein produziert man etwa 500 Varietäten von Hämmern, wovon 284 Vgl. Bayly 2006, S. 21-27; Conrad/ Eckert 2007. Einen Überblick über die soziologische Forschung der 1950er und 1960er Jahre liefert Lepsius 1977. 285 Vgl. z. B. Behschnitt 2005; Jørgensen 2007a; Depenbrock/ Detering 1988, 1991, 1993. Eine Ausnahme stellt der frühe Aufsatz von Schwarzenberger (1962) dar, der zwar nicht den Begriff Moderne verwendet, die moderne Gestalt von Andersens Dichtung jedoch ebenso betont wie er auf kolonialkritische und feministische Züge hinweist. Vgl. ebd., S. 27, 33 f. 286 Vgl. Böhme 2006, S. 17 f.; Ruppert 1993, S. 23 f.; Simmel 1989, S. 617-654. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 67 jeder nicht nur für einen besondren Produktionsprozeß, sondern eine Anzahl von Varietäten oft nur für verschiedne Operationen in demselben Prozeß dient.“ 287 Georg Simmel stellt klar, dass der Wandel der Dingwelt ebenso sehr die Konsumtion betrifft. Die Spezifikation der Produkte wird seiner Meinung nach erst durch die moderne Geldwirtschaft ermöglicht, da sie den Austausch der Produkte zur Befriedigung immer unterschiedlicher werdender Interessen erst erlaubt. 288 Die moderne Geldwirtschaft ist auch an der wachsenden Mobilisierung von Menschen und Dingen beteiligt, beispielsweise in Form von Investitionen in Eisenbahnnetze. 289 Diese wachsende Mobilisierung ist ein wesentliches Moment von Globalisierung. 290 Durch die räumliche Expansion von Wirtschaftskreisläufen und durch die Kosten senkenden Effekte der neuen Transporttechnologien konnten Produkte billiger auch weit entfernte Verbraucher erreichen. Dies wiederum führte zu der Entstehung neuer Zeitökonomien, Arbeitsformen und sozialer Verhaltensweisen. Christopher Bayly demonstriert dies am Beispiel des Frühstücks, wie es sich während des vom Historiker Jan de Vries als „Revolution des Fleißes“ beschriebenen Wandels von Arbeitsmustern im 17. und 18. Jahrhundert herausbildete. Kaffee-, Tee- und Zuckerkonsum erlaubten eine effektive Energiezufuhr und optimierten so die Nahrungsaufnahme hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Konsumenten. 291 Ein wesentlicher Unterschied des Handels im 19. Jahrhundert zu dem vorhergegangener Epochen liegt darin, dass nicht mehr nur Luxusgüter, sondern auch Produkte des alltäglichen Verbrauchs über weite Distanzen gehandelt wurden und sich vor allem in ökonomischen Zentren die erhältliche Warenpalette vervielfältigte. 292 Zudem waren weite Teile der europäischen Bevölkerung in den Wandel der Konsummuster einbezogen. Dies schuf neue Bedürfnisse und beschleunigte Konsumrhythmen. 293 Dadurch veränderte sich das Verhältnis zwischen Dingen und Menschen. Dieser Veränderung widmen sich heute zunehmend soziologische und kulturgeschichtliche Studien. Bruno Latours Verständnis der Moderne beruht auf dem Verhältnis von Menschen und Dingen. In Wir sind nie modern gewesen betont er, dass Moderne zahllose Bedeutungen haben kann. Einen Bedeutungskern identifiziert er jedoch im Verweis auf den Lauf der Zeit: Einem neuen Regime, einer Beschleunigung, einer Revolution der Zeit stehe eine archaische und stabile Vergangenheit gegenüber. Dieses Selbstverständnis der Modernen bestätigt auch Hans Ulrich Gumbrechts begriffsge- 287 Marx 1962, S. 361. 288 Vgl. Simmel 1989, S. 617-654. 289 Vgl. Cameron 1991, S. 295-299; 1992, S. 142, 157 f. 290 Für Johannes Rohbeck (2000, S. 13) gehören Globalisierungsprozesse „von Anfang an zum Projekt der Moderne“. 291 Vgl. Bayly 2006, S. 70-72. Zu globalen Konsumzusammenhängen als kulturellem Faktor vgl. auch Wünderich 1997, S. 796-798. 292 Vgl. z. B. Findlay/ O’Rourke 2007, S. 383 f. 293 Vgl. Ruppert 1993, S. 27 f. 1 Einleitung 68 schichtliche Untersuchung in den Geschichtlichen Grundbegriffen. 294 Dem entgegnet Latour, dass der angenommene Bruch zwischen Modernen und Vormodernen nicht so stattgefunden hat, wie er vorgestellt wird. Seine zentralen Thesen sind, dass Moderne sich einerseits durch Praktiken der „’Übersetzung’“ 295 auszeichnet, in denen Hybride entstehen, das heißt Mischwesen zwischen Natur und Kultur, Mensch und Nicht-Mensch. 296 Dieses Ensemble von Praktiken erzeugt Netze. Zugleich schaffen „Reinigungspraktiken“ „getrennte ontologische Zonen, die der menschlichen Wesen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits.“ Diese bilden das Gebiet der „Kritik“. 297 Wir sind nie modern gewesen ist ein Plädoyer, diese beiden Ensembles von Praktiken nicht getrennt, sondern gemeinsam zu betrachten. Das soll es wieder erlauben, die Hybriden zu denken. Hinter dieser Forderung steht zu Beginn von Wir sind nie modern gewesen auch die Hoffnung, dass die gemeinsame Betrachtung beider Praktiken die explosive Vermehrung von Hybriden beenden kann - indem ihre Bedeutung anerkannt wird, lässt sie sich verlangsamen. 298 Darin hat dieses Programm auch eine ökologische Dimension. 299 Das Programm einer Verlangsamung der Hybridproduktion hält Latour jedoch nicht konsequent durch - bereits am Ende von Wir sind nie modern gewesen erklärt er: Die Größe der Modernen liegt in der Vermehrung der Hybriden, in der Ausweitung eines bestimmten Typs von Netzen, in der beschleunigten Produktion von Spuren, in der Vervielfachung der Delegierten und der sich vorwärtstastenden Produktion relativer Universalien. Ihr Wagemut, ihre Forschung, ihre Innovation, ihr Basteln, ihr jugendlicher Leichtsinn, der sich stets vergrößernde Radius ihres Handelns, die Schöpfung von der Gesellschaft unabhängiger stabilisierter Objekte, die Freiheit einer von Objekten befreiten Gesellschaft - alle diese Eigenschaften wollen wir behalten. 300 In dieser Unentschiedenheit hinsichtlich seiner Ziele ist ein Kritikpunkt an Latour zu formulieren. 301 Er lässt jedoch die wertvollen analytischen Akzentverschiebungen, die seine Theorie leistet, unberührt. Dass der ungeheuren Vermehrung der Hybriden in der Moderne ein theoretisches Defizit hinsichtlich der Bedeutung von Dingen in der Konstruktion des Sozialen als Folge der „Reinigungspraktiken“ gegenübersteht, ist eine für die vorliegende Arbeit zentrale Idee. In diese Lücke tritt jedoch, wie bereits dargestellt, zumindest teilweise die Literatur mit dem ihr eigenen Wissen. 294 Vgl. Gumbrecht 1987, S. 126; Latour 1995, S. 18 f. 295 Latour 1995, S. 19 und passim. 296 Vgl. Roßler 2008, S. 79-82. 297 Latour 1995, S. 19; vgl. Belliger/ Krieger 2009, S. 120 f. 298 Vgl. Latour 1995, S. 21; 2001, S. 277. 299 In Das Parlament der Dinge entwickelt Latour genauer, was er unter politische Ökologie versteht. Dabei greift er seine Kritik an der Trennung von Natur und Gesellschaft auf. Vgl. Latour 2010. Zu Latours politischer Ökologie vgl. auch die Kritik bei Gill 2008, S. 66-72; Lindemann 2009, S. 117 f. sowie, auf Lindemanns Kritik Bezug nehmend, Harrasser 2009. 300 Latour 1995, S. 177. Vgl. auch ders. 2010, S. 241 f. 301 Vgl. auch Harrasser 2009. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 69 Die Trennung von Menschen und Dingen findet nach Latour ihren Niederschlag in der Unterscheidung von wissenschaftlicher und politischer Repräsentation: Während Erstere nicht-menschliche Wesen repräsentiert, ist Letztere für die Menschen zuständig. Gleichzeitig jedoch werden die natur-wissenschaftlichen Fakten menschlich im Labor fabriziert und politische Herrschaft überragt in ihrer materiellen Dauerhaftigkeit die Menschen bei weitem. Diese Paradoxe werden verdrängt, indem die Konstruiertheit der Natur und die nicht konstruierten Anteile der Gesellschaft gleichermaßen geleugnet werden und die Arbeit der „Reinigung“, das heißt das Verbot, Hybride zu denken, und der „Vermittlung“, das heißt das Erzeugen derselben, absolut getrennt bleiben. Zusätzlich gestützt wird diese „Verfassung der Moderne“ dadurch, dass Gott einerseits aus dem Spiel der Gesetze der Natur sowie der Republik verbannt wurde, andererseits als individuelle Spiritualität zugelassen. Die Entwicklung der Modernen konnte durch diese Einkapselung Gottes in Metaphysik und Spiritualität ungestört verlaufen. 302 Mit diesen die Moderne konstituierenden Asymmetrien verbinden sich weitere. Latour stellt für die moderne Zeitlichkeit fest: Sie resultiert aus der brutalen Trennung zwischen dem, was keine Geschichte hat, jedoch in der Geschichte auftaucht - die Dinge der Natur - und dem, was nie aus der Geschichte heraustritt - die Leidenschaften und Mühen der Menschen. Aus der Asymmetrie zwischen Natur und Kultur wird damit eine Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft. 303 Latour erhebt Einspruch gegen die Geschichten von Fortschritt und Niedergang, die jeweils immer nur in eine Richtung denken können. Es stimmt zwar, daß die Mobilisierung der Welt und der Kollektive in immer größerem Maßstab die Akteure vervielfacht, aus denen sich unsere Gesellschaften und Naturen zusammensetzen. Aber nichts in dieser Mobilisierung weist auf einen geordneten und systematischen Lauf der Zeit hin. 304 Dieses Zeitkonzept erlaubt es, Moderne durch die immer weiter reichende Mobilisierung der Welt und der Kollektive zu charakterisieren. Insofern sind wir durchaus modern gewesen: Modern ist das Wuchern der Hybride, deren Bedeutung in unseren Gesellschaftskonzepten jedoch nicht angemessen anerkannt wird. 305 Latours Charakterisierung der Moderne setzt sich zugleich von der Vorstellung ab, dieser Vorgang impliziere eine Trennung von unserer Vergangenheit und eine lineare Entwicklung. Stattdessen begreift Latour die Hybriden „als Gemenge verschiedener Epochen, Ontologien und Gattungen“ 306 . In der Moderne dehnen sich Netze aus. Darin liegt auch ein erhebliches Moment von Globalisierung. Aber sie sind nicht vollkommen neu, sondern vereinen unterschiedliche Zeitschichten. Deshalb lässt 302 Vgl. Latour 1995, S. 41-50. Vgl. auch Lindemann 2008, S. 350-354. 303 Latour 1995, S. 97. 304 Ebd., S. 98. 305 Vgl. ebd., S. 145, 156 f. 306 Ebd., S. 99 f. 1 Einleitung 70 sich Globalisierung nicht als Geschichte eines von Europa ausgehenden Fortschritts erzählen. Latour weist darauf hin, dass lineare Zeitvorstellungen auch der Rechtfertigung von globalen Ausbeutungszusammenhängen dienten. 307 In kolonialen Kontexten spielte die Idee von entwickelten westlichen Zivilisationen, denen ‚primitive’ Gesellschaften gegenüber standen, eine wichtige Rolle. 308 Beim Betrachten von Andersens Texten lässt sich feststellen, dass die Unterscheidung von Primitiv und Fortschrittlich in diesen zwar auftritt, jedoch selten ungebrochen bleibt. 309 Ein kleines Beispiel soll an dieser Stelle einen Einblick in die Weltordnungen der Texte geben. Ausnahmsweise wird ein Romanauszug herangezogen, da es sich um eines der deutlichsten und zugleich kompaktesten Beispiele handelt. Wie in vielen europäischen Ländern waren Dänemarks Selbst- und Fremdbilder von der Unterscheidung in entwickelte europäische Nationen und primitive Kolonisierte geprägt. Diese Unterscheidung war in der Kolonialpolitik, insbesondere im Fall Grönlands ab den 1830er Jahren, von zentraler Bedeutung. 310 Spuren eines solchen Wahrnehmungsmusters von Grönländern finden sich im Roman De To Baronesser (Die beiden Baronessen) (1848) 311 . Die Beschreibung der Grönländer wird jedoch einem ungezogenen Jungen, dem vierzehnjährigen Grönlandfahrer Elimar, in den Mund gelegt, dessen Erzählen sich nach dem Effekt richtet, den es auf sein Publikum ausübt: Kommandoren selv, i hvor meget han holdt af Sønnesønnen, indlod sig aldrig med ham, var mod ham ordknap, kort, han var Kommandor og Elimar Skibsdreng, og det gik allerbedst. Dog iaar var det ikke at skjule, at han med en ikke ringe Fornøielse hørte Elimar fortælle om Grønland og Grønlænderne, dem han selv saa godt kjendte; men Elimar fortalte dog bedst for Præstens Keike og for lille Elisabeth, i hvem han ogsaa havde de meest opmærksomme Tilhørere. Grønlændernes Griserier, der bleve udmalede i al deres Ækelhed, interesserede særledes Keike, som var Reenligheden selv; derimod Beskrivelsen af de svømmende Iisstykker, der saae ud som Kirker og Slotte, Hvalfiske, der sprøitede Vandstraaler ud af Næsen, og Kjøretøiet med ti til sexten Hunde for, var det Bedste for Elisabeth. Imidlertid klagede dog Keike, at Elimar var blevet kaad og næsviis paa en ny Maade, og at han allerede begyndte at tale om Kjærester. 312 (Der Kommandeur selbst, wie viel er auch vom Enkel hielt, ließ sich niemals mit ihm ein, war ihm gegenüber wortkarg, kurz, er war Kommandeur und Elimar Schiffsjunge, 307 Vgl. ebd., S. 104. 308 Jürgen Osterhammel (2005) rekonstruiert solche Vorstellungen für moderne „Zivilisierungsmissionen“, deren Auftreten er hauptsächlich im 19. und frühen 20. Jahrhundert verortet. Osterhammel macht zugleich deutlich, dass das Ideal der Zivilisierung insbesondere in seiner Umsetzung von großen Widersprüchen gekennzeichnet war. 309 Vgl. auch Kapitel 2.2.3. 310 Vgl. Hansen 2008; Jensen 2008d, S. 80 f. 311 Der Roman erschien 1848 zunächst in englischer Übersetzung, im selben Jahr auch noch auf Dänisch mit der Jahreszahl 1849 auf dem Titelblatt. Vgl. Ro 2, S. 577. 312 Ro 2, S. 400. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 71 und das ging am allerbesten. Doch dieses Mal war es nicht zu verbergen, dass er Elimar mit nicht geringem Vergnügen von Grönland und den Grönländern erzählen hörte, die er selbst so gut kannte; aber Elimar erzählte doch am besten für des Priesters Keike und die kleine Elisabeth, in denen er auch die aufmerksamsten Zuhörer hatte. Die Schweinereien der Grönländer, die in all ihrer Ekelhaftigkeit ausgemalt wurden, interessierten besonders Keike, die die Reinlichkeit selbst war; dagegen war die Beschreibung von schwimmenden Eisstücken, die aussahen wie Kirchen und Schlösser, Walfischen, die Wasserstrahlen aus der Nase spritzten, und dem Fuhrwerk mit zehn bis sechzehn Hunden davor das Beste für Elisabeth. Indessen klagte jedoch Keike, dass Elimar auf eine neue Art ausgelassen und naseweis geworden war, und dass er schon begann, über Liebschaften zu sprechen. [Übers. F. F.]) Durch den naseweisen Erzähler und dessen Publikum, das danach giert, vom ekelhaften Anderen zu hören, ist das Narrativ diskreditiert. Die Vorstellung einer nach historischem Fortschritt hierarchisch geordneten Welt wird durchbrochen, indem eine fragwürdige Figur die scheinbar überlegene europäische Erzählposition besetzt. Das aus einem älteren Dienstmädchen und einem kleinen Mädchen bestehende, somit in den Codierungen der westlichen Gesellschaften unterlegene Positionen besetzende Publikum, lässt in seinem Bestreben nach Abgrenzung bzw. seiner Neugier ahnen, dass die scheinbare, vom ‚Primitiven’ trennende Überlegenheit des Europäers vor allem dessen eigenem Wunschdenken entspringt. Zugleich beobachtet der Kommandeur die Szene mit Behagen. Ein unzuverlässiger Erzähler berichtet einem ungebildeten Publikum, was es hören will, und der erwachsene Mann mit gehobener Position genießt es, dem othering 313 der Grönländer beizuwohnen. Diese Szene wiederum spielt auf einer Insel der Halligen, die Wolfgang Behschnitt zu Dänemarks „äußerster Peripherie“ 314 zählt. Die zitierte Stelle weist so eine Vielzahl von Bezügen auf, die eine komplexe Geographie des Erzählens entwerfen und dabei eine dichotomische Weltsicht unterlaufen. Kehren wir nun wieder zu Latours Ausführungen zurück und gehen auf Kritik an ihnen ein. Es wird von vielen Seiten infrage gestellt, ob Latours Charakterisierung der Moderne korrekt ist. 315 Man kann festhalten, dass Latours Darstellung der bisherigen theoretischen Bemühungen um die Moderne vielfach verkürzt und einseitig zugespitzt sind. Dies hat natürlich auch eine strategische Funktion bei der Positionierung im wissenschaftlichen Feld; die Ausführungen sind prägnant, sie provozieren Widerspruch und erregen so Aufmerksamkeit. Auch ist seine Kritik an linearen Zeitmodellen und den Vorstellungen eines primitiven Anderen nicht so einzigartig wie seine Darstellung stellenweise vermuten lässt. Auf diese Aspekte soll jedoch nicht en détail eingegangen werden. Stattdessen wird ein Kritikpunkt Hartmut 313 Zu diesem Begriff vgl. Gairola 2001, S. 16-18; Thieme 2003, S. 203. 314 Behschnitt 2006, S. 414. 315 Vgl. z. B. die Kritik von Latours Modernekritik bei Kneer 2008, S. 264-274 sowie die kritische Darstellung zu Latours Positionierung zu Vormoderne, Moderne, Postmoderne und Nichtmoderne bei Schroer 2008, S. 363-371. 1 Einleitung 72 Böhmes aufgegriffen, der Latours Theorie grundlegender infrage stellt, ohne auf die aus ihr gewonnenen Erkenntnisse verzichten zu müssen: Die Einsicht in den Illusionscharakter der Moderne (wir sind nie modern gewesen) liegt nicht jenseits der Moderne - in einer Postmoderne, im Dekonstruktivismus, einer zweiten oder reflexiven Moderne, die der ersten epochal folgen würde; sondern sie gehört strukturell zu ihr. Moderne heißt gerade, dass Selbstverzauberung und ihre Aufklärung so zusammengehören wie Fetischisierung und ihre Kritik. 316 Dieses Argument untermauert Böhme wissenschaftsgeschichtlich, indem er den Fetischismusdiskurs rekonstruiert und herausstellt, wie früh der Fetischismusbegriff bereits der Selbstbeschreibung europäischer Gesellschaften galt. Allerdings hält er auch fest, dass ein wichtiges Ziel des wissenschaftlichen Fetischismusdiskurses die Aufhebung des Fetischcharakters durch dessen Entlarvung war. Gegen diese Geste der Entlarvung richtet er sich beispielsweise in der Analyse von Marx’ Theorie des Warenfetischismus und nähert sich damit Latours Standpunkt wieder an, der in Die Hoffnung der Pandora eindrucksvoll das Scheitern der Entlarvung eines Fetisches schildert. 317 Es lässt sich also festhalten, dass neben der von Latour konstatierten Ausblendung hybrider Praktiken seit Beginn der Moderne auch deren Erkenntnis stand, die jedoch zumeist in die Forderung nach ihrer Abschaffung oder zumindest Kontrolle mündete. An dieser Stelle gilt es, diese Überlegungen durch Steiners These, dass Literatur oft ein grundlegend anderes Verhältnis zu Ding-Mensch-Beziehungen einnimmt als die bei Böhme und Latour beschriebenen theoretischwissenschaftlichen Diskurse, zu ergänzen. Mit Steiner lässt sich als weiterreichende These vermuten, dass die mit der Moderne einsetzende Dingproblematik in den Wissenschaften, die Latour und Böhme mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten feststellen, in der Literatur ein Gegengewicht findet: In der Literatur steht nach Steiner ‚das Ding’ quer zu den Disziplinen, die es in der Moderne in Gesetzmäßigkeiten aufzulösen suchen. 318 Und in der Literatur wird den Dingen oftmals agency zuerkannt, wie auch die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen. Im Fetischismusdiskurs scheint eine Seite der globalen Dimension auf, die Dingen in modernen Gesellschaften zukommt. (Die andere Seite ist ihr Vernetzungspotential, auf das noch eingegangen wird.) Denn im Fetisch kreuzen sich Vorstellungen vom Anderen im Sinne eines Bewohners der Ferne mit Normen, die den Umgang mit Dingen betreffen, die wiederum in der eigenen Kultur in der Position des Anderen, des Objektes, festgeschrieben werden sollen. Gerade in dem Moment der Begegnung und des Näherrückens, der mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Massenfernmigration 319 (und damit auch: Masseneinwanderung) und der explosi- 316 Böhme 2006, S. 75; vgl. Kneer 2008, S. 268 f. 317 Vgl. Böhme 2006, S. 307-327; Latour 1999, S. 327-359. 318 Vgl. Steiner 2008b, S. 237 f.; 2011, S. 188 f. 319 Vgl. z. B. Bade 2000, S. 121-185 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 73 ven Vermehrung der Dinge 320 eintrat, wird der Fetisch als Distanzierungsfigur eingesetzt, die bis heute nachwirkt. Dass Ver- und Entzauberung sich in der Moderne oftmals als ein und derselbe Prozess erweisen, lässt sich auch aus vielen Texten Andersens erschließen. Dies soll in dieser Arbeit geschehen. Eine besondere Facette der Dingwelt soll in diesem Zusammenhang noch angesprochen werden: die Technik, hier vor allem verstanden als großes maschinelles Ensemble. 321 Ihr kommt in den Reisebüchern und vielen der hier behandelten Eventyr og Historier eine wichtige Rolle zu. Insbesondere die Beschleunigung von Transport und Kommunikation sind wiederkehrende Motive, implizit aber auch neue Produktionstechniken, die einen Wandel im Verhältnis zwischen Dingen und Menschen herbeiführten, wie Müller-Wille anhand der Papierherstellung dargestellt hat. 322 Dass die technisch gestützte Beschleunigungserfahrung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Moderneverständnis seit dem 19. Jahrhundert steht, bezeugt beispielsweise Gumbrechts Artikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen, zuletzt hat Hartmut Rosa eine umfassende Arbeit zum Thema Beschleunigung vorgelegt, die auch die Verbindung zu Globalisierungsprozessen zieht. 323 Technik soll hier noch einmal gesondert angesprochen werden, da Fortschrittsvorstellungen des 19. Jahrhunderts mit technischen Neuerungen aufs engste verbunden sind - und sich zugleich in technischen Artefakten die Durchmengung der Zeiten in der Moderne in ihren Extremen verkörpert. Gerade „zwischen der Welt der modernen Technik und der archaischen Symbolwelt der Mythologie“ 324 erkannte Walter Benjamin Korrespondenzen. Vor allem die technische Produktion des frühen 19. Jahrhunderts ist „traumbefangen“ 325 ; so imitieren neue Stoffe bereits bekannte. Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt in diesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor, sich gegen das Veraltete - das heißt aber: gegen das Jüngstvergangene - abzusetzen. 326 Benjamins Erklärungen zur Durchmengung der Zeiten in der Moderne unterscheiden sich von Latours unter anderem durch den Akzent auf der psychischen Aktivität der Menschen, deren Tun, Denken und Träumen an dieser Durchmengung einen 320 Vgl. Böhme 2006, S. 17 f.; Ruppert 1993, S. 23 f.; Simmel 1989, S. 617-654. 321 Vgl. Hühn/ Kranz/ von der Lühe 1998, Sp. 943-945. Einen aktuelleren Überblick über Möglichkeiten, Technik zu definieren, liefert der im Internet verfügbare Aufsatz von Werner Rammert (1999). 322 Vgl. Müller-Wille 2009b, S. 151. 323 Vgl. Gumbrecht 1978, S. 107 ff.; Rosa 2005, S. 48, 333 ff. 324 Benjamin 1991, S. 576. 325 Ebd., S. 213; vgl. ebd., S. 216 f. 326 Ebd., S. 46 f. Vgl. Marx 1962, S. 404, Anm.103. 1 Einleitung 74 deutlicher als bei Latour benannten Anteil hat. Insbesondere Kinder erfüllen die Aufgabe, „die neue Welt in den Symbolraum einzubringen“ 327 : Zunächst wirkt das technisch Neue freilich allein als solches. Aber schon in der nächsten kindlichen Erinnerung ändert es seine Züge. Jede Kindheit leistet etwas Großes, Unersetzliches für die Menschheit. Jede Kindheit bindet in ihrem Interesse für die technischen Phänomene, ihre Neugier für alle Art von Erfindungen und Maschinerien die technischen Errungenschaften an alte Symbolwelten. Es gibt nichts im Bereiche der Natur, das solcher Bindung von Hause aus entzogen wäre. Nur bildet sie sich nicht in der Aura der Neuheit sondern in der der Gewöhnung. In Erinnerung, Kindheit und Traum. 328 Wie bereits gesehen verweist Georg Brandes in H. C. Andersen som Eventyrdigter auf die Nähe der Eventyr og Historier zum Spiel des Kindes und dem Traum. 329 Betrachtet man Texte wie das Jernbanen (Die Eisenbahn)-Kapitel aus En Digters Basar (Eines Dichters Basar) (1842), zu dem Wolfgang Behschnitt eine detaillierte Interpretation vorgelegt hat, 330 wird deutlich, wie sehr auch Andersens Texte (die ja vielfach als Kinderliteratur rezipiert wurden und werden) leisten, was nach Benjamin bevorzugt Kinder vermögen. Technik ist jedoch in Andersens Texten oft ambivalent besetzt; die Integration in alte Symbolwelten erfolgt nicht nur über Wunscherfüllungsphantasien, sondern auch in Anbindung an das Unheimliche oder Übermächtige, die albtraumhafte Kehrseite der Phantasie, die in der Dingwelt ihre Entsprechungen findet. 331 Damit wird die Verflechtung von Technik und Menschen zweideutig nicht nur auf der Ebene der Realität, als wechselseitige Beherrschungs- und Ermöglichungsstruktur und Durchmengung zeitlicher Ebenen, sondern auch in ihrer literarischen Darstellung. Nach Benjamin treibt die moderne Technik die Kunst im späteren 19. Jahrhundert vor sich her: Unter europäischen Aspekten sahen die Dinge so aus: In allen gewerblichen Erzeugnissen ging im Mittelalter und bis zum Beginn des 19 ten Jahrhunderts die Entwicklung der Technik viel langsamer vor sich als die der Kunst. Die Kunst konnte sich Zeit nehmen, die technischen Verfahrungsweisen mannigfach zu umspielen. Der Wandel der Dinge, der um 1800 einsetzt, schrieb der Kunst das Tempo vor und je atemberau- 327 Benjamin 1991, S. 493. Jean Baudrillard (1991, S. 157) warnt vor der Vorstellung technischen Fortschritts, hinter dem die Moral zurückbleibt: „Unter dem Vorwand der moralischen Unzulänglichkeit weicht man der tatsächlich bestehenden Kontradiktion aus: daß nämlich gerade die gegenwärtige Produktionsordnung [...] dem realen technologischen Fortschritt Hemmnisse in den Weg legt und dadurch auch die Neuordnung der sozialen Verhältnisse verhindert. [...] Wie wäre es übrigens möglich, daß das System der Technik und der Objekte sich harmonisch zu entfalten vermag, das System der menschlichen Handlungen, die an jenen beteiligt sind, aber stagniert oder verkümmert. [...] Menschen, Techniken, Bedürfnisse und Gegenstände strukturieren sich ja wechselseitig in jeder Richtung.“ Vgl. zur Problematisierung der Idee technischen Fortschritts auch Benjamin 1974, S. 699. 328 Benjamin 1991, S. 576. 329 Vgl. Brandes 1984, S. 206 f. und S. dieser Arbeit. 330 Vgl. Behschnitt 2005, S. 175-178. 331 Vgl. Behschnitt 2005. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 75 bender dieses Tempo wurde, desto mehr kommt es zum heutigen Stand der Dinge: Die Möglichkeit, daß die Kunst keine Zeit mehr findet, in den technischen Prozeß sich irgendwie einzustellen, wird absehbar. Die Reklame ist die List, mit der der Traum sich der Industrie aufdrängt. 332 In Andersens poetologischem Programm für die Moderne, wie er es in Det nye Aarhundredes Musa (Die Muse des neuen Jahrhunderts) (1861) 333 entwirft, lässt sich auch eine Auseinandersetzung mit dem von Benjamin beschriebenen Problem erkennen. An einer anderen Stelle beschreibt Benjamin diesen Prozess als die Emanzipation der Gestaltungsformen von der Kunst: Den Anfang macht die Architektur als Ingenieurkonstruktion. Es folgt die Naturwiedergabe als Photographie. Die Phantasieschöpfung bereitet sich vor, als Werbegraphik praktisch zu werden. Die Dichtung unterwirft sich im Feuilleton der Montage. Alle diese Produkte sind im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben. Aber sie zögern noch auf der Schwelle. 334 Der letzte Satz spricht ein Moment an, das für Andersen insofern besondere Relevanz hat, als er zumindest phasenweise einer der ersten freien Autoren Dänemarks war und sich durch Schreiben finanzieren musste. 335 Da dies allein über den kleinen dänischen Markt unmöglich war, suchte er gezielt den Kontakt zu ausländischen Märkten. 1.3.6 Netzwerke Für die Beschreibung solch grenzüberschreitender Aktivitäten hat Pascale Casanova einen wichtigen literaturwissenschaftlichen Ansatz vorgelegt. Die World Republic of Letters beschreibt Pascale Casanova in erster Linie anhand der Arbeiten ausgewählter Autoren, die in bestimmten globalen Macht- und Marktverhältnissen positioniert sind. Ihre Überlegungen zu Literatur aus einer transnationalen Perspektive (die in einigen Punkten dennoch gallozentrisch genannt werden muss 336 ) erweitern gegenüber ihrem Vorbild Bourdieu die historische und geographische Reichweite des behandelten literarischen Feldes. 337 Casanova entwickelt die Struktur der World Republic of Letters ausgehend von der Annahme, dass Literaturen ein spezifisches literarisches Kapital aufweisen, das sich unter anderem aus deren Geschichtlichkeit, das heißt vergangenen literarischen Erfolgen und deren Anerkennung in anderen Literaturen, speist und eng zusammenhängt mit der Entfaltung der Nationalliteraturen. Autoren positionieren sich in diesem literarischen Feld vor allem über ihre Haltung zum nationalen literarischen 332 Benjamin 1991, S. 232. 333 Vgl. den Prolog zu Teil 3. 334 Benjamin 1991, S. 59. 335 Vgl. Auring u.a. 1984, S. 135 f.; Busk-Jensen u.a. 1985, S. 356. 336 Vgl. Damrosch 2003, S. 27; Prendergast 2004, S. 8 ff., bes. auch FN 3. 337 Vgl. Casanova 2004. Die Überlegungen von Jurt 1998 gehen in eine ähnliche Richtung. Bourdieus wegweisende Studie bezog sich nur auf Frankreich. Vgl. Bourdieu 2001. 1 Einleitung 76 Erbe. Die World Republic of Letters hat Zentren und Peripherien; die Anerkennung eines Autors im Zentrum ist für die Akkumulation literarischen Kapitals von großer Bedeutung. Dieses Erklärungsmodell der literarischen Welt als eines Wettbewerbs nationaler Literaturen ist in vieler Hinsicht hilfreich, aber begrenzt. Christopher Prendergast weist darauf hin, dass neben Nationen auch andere Variablen Berücksichtigung verdienen, ebenso wie der Wettbewerb nicht das einzig denkbare Verhältnis der Elemente zueinander ist. 338 In Kapitel 2.3.2 wird auf Casanovas Ansatz für die Analyse von Übersetzungsprozessen zurückgegriffen. Um die Gestalt transnationaler literarischer Netzwerke zu beschreiben, wird zuvor am Beispiel des Theaters entwickelt, wie transnationale Räume in Verbindung mit literarischen Texten entstehen können, und welche Bedeutung der agency von Texten in solchen Netzwerken zukommen kann. Ein grundsätzliches Problem eines globalen literaturwissenschaftlichen Ansatzes ist die Frage nach der Textnähe der Analyse, die insbesondere im Zusammenhang mit der Weltliteratur-Forschung intensiv diskutiert wird. In Casanovas Studie finden sich keine close readings. Franco Moretti plädiert explizit für einen Verzicht auf direkte Textlektüren und für das Zurückgreifen auf Sekundärliteratur bei Untersuchungen des Problems Weltliteratur, um „beyond the canon“ 339 blicken zu können. Die vorliegende Arbeit hält dagegen an close readings als Bestandteil eines globalisierungstheoretisch fundierten literaturwissenschaftlichen Ansatzes fest. Mit David Damrosch wird davon ausgegangen, dass sich die mit Globalisierungsprozessen einhergehenden kulturellen Differenzierungen nicht aus einer reinen Überblicksperspektive erfassen lassen: „[S]ystemic approaches need to be counterbalanced with close attention to particular languages, specific texts: we need to see both the forest and the trees.“ 340 Damrosch begreift Weltliteratur als ein Netzwerk, in dem Texte über ihre ursprüngliche Kultur, die Damrosch hier überwiegend sprachlich definiert, hinaus zirkulieren. 341 Die Figur des Netzwerks scheint zum Weiterdenken auch deshalb besonders geeignet, da sie im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewann. Sie prägte die Vorstellungen und Beschreibungen von Verkehrssystemen. 342 Goethes Überlegungen zu Weltliteratur setzten wiederum die Entwicklung solcher Verkehrssysteme teilweise voraus und wurden davon auch semantisch berührt. 343 Die Weltliteratur-Forschung setzt sich mit vielen Fragen auseinander, die auch für eine globalisierungstheoretisch ausgerichtete Literaturwissenschaft zentral sind. Eine Abgrenzung beider Themenfelder unternimmt Horst Steinmetz, der unter Weltliteratur vor allem solche Texte versteht, die auf eine supraregional erscheinende Weltkultur abzielen, die universale Geltung beansprucht, während „Literatur der 338 Vgl. Prendergast 2004, S. 7 f., 11-25. 339 Vgl. Moretti 2004, S. 151. 340 Damrosch 2003, S. 26. 341 Vgl. Damrosch 2003, S. 1-6, 281. 342 Vgl. Böhme 2004, S. 28-32. 343 Vgl. Goethe 1958, S. 364. 1.3 Die Konstruktion des Sozialen 77 Globalisierung“ regional gebundene Kulturen darstelle. 344 Diese Abgrenzung ist jedoch insofern problematisch, als diese jeweiligen literarischen Strömungen als chronologisch aufeinanderfolgende vorgestellt werden. Dagegen erweisen sich auch in der hier behandelten Literatur des 19. Jahrhunderts Globales und Lokales als untrennbar verbunden. Das Netzwerkmodell ist besonders geeignet, um genau diese Verbindung zu betrachten. Die Stärke des Netzwerkmodells bei der Erfassung des Lokal-Global-Nexus stellt auch Bruno Latour heraus, dessen Netzwerkverständnis für diese Arbeit ebenfalls grundlegend ist. 345 Während soziologische und historische Netzwerkbegriffe oft nur Menschen als relevante aktive Elemente begreifen, 346 ist Latours Netzwerkbegriff weiter gefasst, hier kommt potentiell allen Bestandteilen eines Netzwerks, auch Dingen, agency zu. Dinge erlauben vor allem die Stabilisierung von Verknüpfungen und die Ausweitung der geographischen Reichweite von Netzwerken. 347 Beim Netzwerkbilden können sich Eigenschaften und Verhalten belebter und unbelebter Natur, involvierter technischer Artefakte, anderer sozialer Akteure, Normen und Institutionen durch ihre wechselseitige Relationierung verändern. 348 Da für Latour ihre Dynamik ein zentrales Merkmal von Netzwerken ist, stehen bei der Beschreibung von Netzwerken jene Elemente im Vordergrund, die Transformationen und Übersetzungen bewirken, also keine bloßen Zwischenglieder, sondern Mittler sind: „Mittler übersetzen, entstellen, modifizieren und transformieren die Bedeutung oder die Elemente, die sie übermitteln sollen.“ 349 Netzwerke sind Assoziationen, deren Beschreibung „kontinuierliche Verbindungen erstellen [muss, F. F.], die von einer lokalen Interaktion zu jenen anderen Orten, Zeiten und Aktanten führen, durch die eine lokale Stätte dazu gebracht wird, etwas zu tun.“ 350 Dabei gilt: „Maßstab ist die Leistung der Akteure selbst.“ 351 Mit diesem Wissen soll es nach Latour gelingen, das Globale zu lokalisieren. Umgekehrt gilt es, das Lokale zu globalisieren. Zwar sind die meisten Bestandteile einer Situation in dieser selbst bereits vorhanden, aber auch dieses Lokale wird hervorgebracht durch andere Dinge [...]: andere Stätten, andere Momente, andere Akteure, andere Agenten, die es verstanden haben, durch manchmal subtile, manchmal radikale Veränderungen ein riesiges Repertoire von Existenzformen zu mobilisieren, die nicht (noch nicht) sozial sind. 352 344 Vgl. Steinmetz 2000. Zu Steinmetz’ Verständnis von Weltliteratur vgl. auch Clüver 1986; 1988; Steinmetz 1988a; 1988b. 345 Vgl. Latour 2007, S. 286-298. Vgl. auch Serres 1993, S. 317-420, bes. 331 f., 361 f., 364-367, 377, 379 und 406 ff. 346 Vgl. z. B. Fuchs 2007, S. 81; Halling/ Fangerau 2007, S. 271; Schulte Beerbühl/ Vögele 2009; Weyers 2009. 347 Vgl. Strum/ Latour 1987, S. 795 f. 348 Vgl. Schulz-Schaeffer 2000, S. 188. 349 Latour 2007, S. 70; vgl. ebd., S. 223 f., 226-231 zum Netzwerkbegriff. 350 Ebd., S. 299. 351 Ebd., S. 319. 352 Ebd., S. 333. 1 Einleitung 78 Auf der Grundlage dieses Netzwerkbegriffes kann auch ein literarischer Text als Mittler in einem Vernetzungsvorgang begriffen werden. Einerseits kommt es im Verlauf der Entstehung und Verbreitung eines Textes - insbesondere im Zeitalter der industriellen Produktion und massenhaften Vermarktung von Literatur - zu zahlreichen Assoziationen zwischen Menschen und Dingen. Andererseits verändert sich mit der Literarisierung wiederum die den Text umgebende Welt, auf die dieser zurückwirkt. So kam es im 19. Jahrhundert vermehrt zu Literaturtourismus, der die bereisten Orte zum Teil massiv prägte. 353 In Andersens Texten finden wir Spuren dieses Phänomens. Andersen besuchte landschaftliche Sehenswürdigkeiten, die ihm aus literarischen Texten bekannt waren. In Mit Livs Eventyr (Meines Lebens Märchen) (1855) gibt der Erzähler an, vom Anblick der Kreidefelsen von Møn enttäuscht gewesen zu sein, weil seine Erwartungen aufgrund von Molbechs Schilderungen derselben übertrieben waren. 354 Andersens Eventyr og Historier sowie stellenweise die Reiseschilderungen sind oftmals selbst Beschreibungen eines Netzwerks im Latourschen Sinne. Sie verfolgen beispielsweise die Wanderungen eines Geldstücks (in Sølvskillingen (Der Silberschilling) (1861) 355 ) oder die Transformationen des Flachses (in Hørren). Mit solchen Dingbiographien liegt eine Form vor, die nach Ivan Kopytoff das Potential hat, Charakteristika von Kulturen sichtbar zu machen. 356 Die Texte folgen globalen Warenströmen und zeigen dabei auf, wie sich aus den wechselseitigen Vermischungen und Abhängigkeiten eine grundlegend transnationale moderne Kultur herausbildet. Dass sie dabei auch die eigene Materialität und den eigenen Warencharakter reflektieren, gibt ihrer Warenexistenz eine kritische Wendung. Im Unterschied zur Ware, wie Marx sie beschreibt, machen die Texte ihre Herkunft gerade nicht vergessen. Sie verweisen vielmehr auf sie sowie auf den Warencharakter und die Herkunft der sie umgebenden Produkte, deren Wanderung durch die globalen Warenketten sie Schritt für Schritt herausarbeiten. Damit werden die Texte zu einer kritischen Ware, die die globalen Abhängigkeitsverhältnisse erkennen lassen, in die sie selbst verstrickt sind. Gleichzeitig wird aber nicht allein die Kehrseite dieser Abhängigkeiten herausgestellt, sondern auch ihre erneuernde Kraft, die in Texten wie Det nye Aarhundredes Musa begrüßt wird. Der Untergang des Alten und der Verlust des Vertrauten, der in den Texten melancholische Gefühle hervorruft, birgt in sich immer auch die Chance, im Neuen und Unbekannten Freiheit und neue Erkenntnisse zu gewinnen. 353 Vgl. Piatti 2008, 267-299, bes. S. 276-280. 354 Vgl. Se 2, S. 85; MLM, S. 106; Houe 1996, S. 138-141. 355 Erstmals abgedruckt im Folkekalender for Danmark 1862, der 1861 herauskam. Vgl. EoH 3, S. 416. 356 Vgl. Kopytoff 2006. Exkurs: Autorschaft Die Rezeption von Andersens Texten ist in hohem Maße geprägt von dem Spannungsfeld, das sich aus den Komponenten „forfatterperson, biografi og værk“ („Verfasserperson, Biographie und Werk“) 357 zusammensetzt, wie Ivy York Möller-Christensen in ihrer Studie Den gyldne trekant (Das goldene Dreieck) für Andersens Durchbruch in Deutschland 1831-1850 nachweist. Diese Verbindung gilt nicht nur für Deutschland. In Frankreich, England und Deutschland, literarischen Zentren des 19. Jahrhunderts, ist die Durchsetzung der Texte wesentlich mit biographischen und autobiographischen Skizzen, Vorworten und anderen Texten verbunden, die Andersen als den armen Jungen aus Dänemark inszenieren, der es mit seiner kindlichen Phantasie und Unschuld bis in die höchsten gesellschaftlichen Schichten gebracht hat. 358 Auch die Kritiken in Dänemark (positive wie negative) begründeten sich oftmals durch die Annahme, die Texte verwiesen direkt auf den Charakter des Autors. 359 In Andersens Texten finden sich häufig explizite oder implizite intertextuelle Verweise auf andere Texte Andersens, neben Zitaten oder dem Hinweis auf einen bestimmten Text beispielsweise auch charakteristische Motive wie der Storch, deren persönliche Bedeutung für den Autor durch die autobiographischen Texte dargelegt wird. Die Autobiographien etablieren Verbindungen mit der Person des Autors. So gibt es in Mit Livs Eventyr wiederholt Szenen, in denen Andersen anhand seiner europaweit zirkulierenden Portraits erkannt wird. Oft wird er in den Autobiographien auch von Leserinnen und Lesern wie ein alter Bekannter begrüßt und dies wird damit begründet, dass sie ihn aufgrund seiner Texte persönlich zu kennen vermeinen. Diese häufigen Verweise auf den Autor, die enge Verbindung von Biographie und Werk, kommen einem auf einem starken Autorschaftskonzept beruhenden Literaturverständnis entgegen, wie es sich nach Michel Foucault im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Herausbildung eines literarischen Marktes, auf dem der Text zur Ware wird, herausbildet. 360 Dieses Autorschaftskonzept entsteht in Verbin- 357 Möller-Christensen 1992, S. 113; die Übersetzung lehnt sich an die deutsche Zusammenfassung an, vgl. ebd., S. 297. 358 Vgl. Bredsdorff 1954, S. 431-435; Høybye 1954, S. 152 f.; Marmier 1837; Möller-Christensen 1992, S. 106 f. Da die Popularität Andersens in den USA zu Beginn seiner Karriere wesentlich auf den englischen Übersetzungen beruhte, die rasch, teilweise zeitgleich, auf dem amerikanischen Markt erschienen (wegen des fehlenden internationalen Copyright-Abkommens oft auch als Raubkopien), gelten die Beobachtungen von Bredsdorff hier mit Einschränkungen ebenfalls. Vgl. Hersholt 1948, S. 175 f.; Rossel 1993, S. 517-520. Zur amerikanischen Rezeption liegen leider keine umfassenden Untersuchungen vor. 359 Vgl. Kierkegaard 1997; Nielsen 1990, S. 139 f., 145 f., 151 f., 155-157, 167, 182. 360 Vgl. Foucault 2001b; S. 1015 f. Exkurs: Autorschaft 80 dung mit der Figur des freien, nicht mehr von adligen Mäzenen abhängigen, professionellen Autors. Andersen war zwar kein reiner freier Autor, da er über weite Zeiträume vom dänischen Königshaus finanziell unterstützt wurde, jedoch in deutlich höherem Maße als andere dänische Autoren von seinem Publikum abhängig. 361 Auf diese Publikumsabhängigkeit führt die Dansk litteraturhistorie (Dänische Literaturgeschichte) auch die Art und Weise zurück, wie er seine Lebensgeschichte inszeniert und interpretiert. 362 Zudem gilt mit Alois Hahn, dass die Interpretation des eigenen Lebens von den zur Verfügung stehenden sozialen Institutionen hierfür geprägt ist. Die Autobiographie, die Hahn zu diesen Institutionen zählt, liefert Muster für Andersens Selbstdeutungen, wie sich auch an den Anspielungen auf Goethes Dichtung und Wahrheit ablesen lässt. 363 Die Verweise auf die Person des Verfassers bedienten ein Publikumsinteresse, das sie zugleich stimulierten. Häufig verband sich mit dem Interesse an der Verfasserperson ein normatives Verständnis davon, was es heißt, eine Person zu sein. Im Gefolge der idealistischen Tradition wurde die Person als raumzeitlich existierende Einheit von Subjektivität begriffen, die durch ihre Abgrenzung von der Welt und anderen Wesen definiert wird und über Vernunft, Intentionalität und die Fähigkeit zu aktivem Handeln verfügt. 364 Dass Andersens Selbstbeschreibungen solchen Kriterien nicht durchgängig entsprechen, forderte Kritik heraus. Die Andersenforschung ist von dem Autorschaftskonzept des 19. Jahrhunderts in hohem Maße geprägt. Wie es Friedrich Kittler für die Literaturwissenschaft dieser Zeit herausarbeitet, stehen weniger die Texte als ihr Schöpfer im Vordergrund. 365 Der Verweischarakter der Texte lädt auch Wissenschaftler dazu ein, eine unmittelbare Verbindung zur Person des Autors herzustellen. Das Interesse an Andersens Person hat sich bis heute erhalten, und die biographische Andersenforschung ist ein wichtiger Forschungszweig. Dazu gehören entstehungsgeschichtliche Untersuchungen, 366 Arbeiten zu Leben und Werk, zu denen teilweise auch die Biographien gezählt werden können, 367 oder Dag Heedes queere Analyse von Andersens Texten, die an vielen Stellen biographisch argumentiert. 368 Hinzu kommen Studien zu abwegigeren Fragestellungen, zum Beispiel Jens Jørgensens und Rolf Dorsets Versuche, die These zu belegen, dass es sich bei Andersen um ein uneheliches Kind des späteren Königs Christian VIII. handelt, 369 oder Leo Ottosens H. C. Andersens sexualitet, das - wie schon Hjalmar Hjelweg und Palle Lauring zuvor - die Frage behandelt, ob die Kreuzchen, die sich stellenweise hinter Andersens Almanacheinträgen befinden, dafür stehen, dass er onaniert hat (und nach einhundertfünfundsechzig Seiten zu 361 Vgl. Auring u. a. 1984, S. 134-139. 362 Vgl. ebd., S. 124. 363 Vgl. Hahn 1987, S. 9-13, 16-18. Zum Intertext Dichtung und Wahrheit s. S. 8 . 364 Vgl. Frank 1988; Fuhrmann u.a. 1989, Sp. 300-319. 365 Vgl. Kittler S. 142 f., 150. 366 Vgl. z. B. Topsøe-Jensen 1934; 1940. 367 Vgl. z. B. Andersen 2004; 2005; Bredsdorff 1983; Brix 1970; de Mylius 1993; 1995. 368 Heede 2005. 369 Vgl. Dorset 2004; Jørgensen 1987. 81 dem Ergebnis kommt, dass die Bedeutung des Zeichens ein Rätsel bleibt). 370 Die psychoanalytische Forschung teilt, trotz eines anderen Autorschaftsverständnisses, mit der biographischen Forschung in der Regel das Interesse an der Person des Verfassers. 371 In der vorliegenden Arbeit stehen dagegen Andersens Texte und ihre Globalität im Vordergrund. Die Lektüren fragen nach den ästhetischen Strategien der Texte und setzen diese in Beziehung zu ihrem historischen Kontext, der aus einer globalen Perspektive betrachtet wird. Vor diesem Hintergrund spielt zwar die Inszenierung von Autorschaft stellenweise eine wichtige Rolle, und zwar dort, wo sie an der Etablierung von Netzwerken beteiligt ist. Aufgrund des weniger subjektzentrierten Verständnisses von agency, das der Arbeit zugrunde liegt, ist die Suche nach Zusammenhängen zwischen persönlichen Aufzeichnungen und Briefen und den hier analysierten publizierten Texten von untergeordneter Bedeutung. Es wird jedoch aufgrund der Forschungslage häufig auf Erkenntnisse von Sekundärliteratur zurückgegriffen, die auf dieser Herangehensweise beruhen. In dieser Arbeit geht es nicht darum, Handlungsketten zu rekonstruieren, die auf ein verursachendes Subjekt zurückgeführt werden sollen, sondern vielmehr die Entstehung von Netzwerken aufzuzeigen und dabei unterschiedliche Aktanten zu berücksichtigen. Auch Texten wird in diesem Rahmen eine eigenständige agency zugestanden (wie gezeigt wird, weisen die Texte selbst auf diese textliche agency hin), sie werden als Mittler im Latourschen Sinne begriffen. 372 In der Berücksichtigung der Materialität des Textes, seiner dinglichen Existenz, unterscheidet sich der hier vorliegende Ansatz wiederum von einem Verständnis von Autorschaft als rein diskursivem Phänomen. Im Fokus der Analysen stehen - neben den bereits genannten und mit diesem Problem zusammenhängenden Konzeptionen von Raum und Zeit - die Kollisionen des Subjektverständnisses der europäischen philosophischen Tradition mit alternativen Entwürfen, wie sie sich in den Texten vollzieht. Der engen Autorbindung steht nämlich eine Gegenbewegung in den Texten gegenüber, die die zeitgenössische Kritik teils implizit erfasst und angegriffen hat: die Darstellung eines (im Wortsinne) nicht definierten Subjekts, das vielmehr Teil eines Netzwerks aus Dingen, Texten und Menschen ist. So kann Kierkegaards Kritik an Andersens Prosa in Af en endnu Levendes Papirer (Aus eines noch Lebenden Papieren) (1838) auch als Ausdruck eines Unbehagens gelesen werden, das in der Abwesenheit eines vernünftigen autonomen Subjekts nach dem zeitgenössischen philosophischen Ideal in Andersens Prosa wurzelt. Kierkegaards Kritik greift sowohl Andersen als auch die Hauptfigur des kritisierten Romans Kun en Spillemand (Nur ein Geiger) (1837) an. Beiden fehlt, was Kierkegaard „Livs-Anskuelse“ („Lebensanschauung“) nennt, die „Transsubstantion“ der Erfah- 370 Vgl. Helweg 1954, S. 94-96; Lauring 1981; Ottosen 2007. Einen Überblick über die Mythen um Andersens Person, denen Forschungsarbeiten gewidmet wurden, liefert Ottosen 2005. 371 Vgl. z. B. Duve 1967; Lotz 1988. 372 Zum Begriff „Mittler“ vgl. S. 7 . Exkurs: Autorschaft Exkurs: Autorschaft 82 rung in eine „tilkæmpet af al Empirie urokkelig Sikkerhed i sig selv“ 373 („von aller Empirie erkämpften unerschütterlichen Sicherheit in sich selbst“ [Übers. F. F.]). Kierkegaard fordert von Andersen „den constituerende Total-Overskuende (en Livs-Anskuelse)“ („die konstituierende Total-Übersicht (eine Lebensanschauung)“ [Übers. F. F.]) 374 , also Geschlossenheit und eine über den Dingen stehende Perspektive. Diesem Ideal eines geschlossenen, von den Dingen unabhängigen Charakters, entsprechen weder Andersen, dessen Charakter Kierkegaard nach eigenen Angaben aus dessen Texten erschließt, 375 noch die Hauptfigur des Romans Kun en Spillemand. Beide sind zu sehr in ihre Umgebung verstrickt. 376 Damit trifft Kierkegaard einen Punkt, der in dieser Arbeit positiv gewendet wird. Die Infragestellung bzw. Auflösung des die europäische Philosophie des 19. Jahrhunderts dominierenden Subjekt- und Personverständnisses, die sich in den Texten vollzieht, gibt anderen Perspektiven Raum. Dass Andersens Publikum zu einem großen Teil aus Frauen und Kindern besteht und im Verlauf der Geschichte immer größere geographische Regionen einschließt, lässt sich zumindest teilweise dadurch erklären, dass in seinen Texten vernünftige europäische Männer selten die größte Bedeutung haben. Die Auflösungstendenzen des in Mit Livs Eventyr entworfenen Autorsubjekts behandelt Kapitel 2.3.1. Neben dieser textuellen Repräsentation existieren auch visuelle Autorbilder wie Skulpturen, Abbildungen und Photographien, die nicht zuletzt zu Werbungszwecken eingesetzt wurden. 377 Der Autor zerfällt in diese Repräsentationen, die teilweise widersprüchlich sind - Andersen erhält, je nach Darstellung, unterschiedliche Gesichter. Dies betrifft auch das Werk selbst, das zwar wiederkehrende und die Autorbindung stärkende Elemente enthält, aber eben auch ausgesprochen heterogen ist, was sich auch darin zeigt, dass nicht nur alle literarischen Genres vertreten sind, sondern viele Texte sich bekannten Kategorisierungen gänzlich entziehen. Dieser Auflösung des Subjekts entspricht auf erzähltechnischer Ebene der Perspektivwechsel in die Welt von Dingen, Tieren und Pflanzen, die sich durch Hybridisierung und Migration immer weiter globalisiert. Indem die Dinge sprechen, löst sich das Erzählen vom Menschen. Die Kontextabhängigkeit der Selbstrepräsentationen und ihr teilweise fragmentarischer Charakter erinnern an das, was Hartmut Rosa als postmoderne oder auch globalisierte „situative Identität“ beschreibt. Mit abnehmender Planbarkeit des Lebens aufgrund eines sich beschleunigenden sozialen und technologischen Wandels 373 Kierkegaard 1997, S. 32. 374 Ebd., S. 38. 375 Vgl. ebd., S. 38 f. 376 Zu Kierkegaards Angriff vgl. auch K. Andersen 2004, S. 156; Anz 2005, S. 49-53; de Mylius 1999, S. 109-118, 122; 2005, bes. S. 19, das Nachwort von Johan de Mylius in NS, S. 362-366 und V. Sørensen 1973, S. 10-18. 377 Andersen sorgte selbst dafür, dass Bekannte Portraits von ihm besaßen. Vgl. Thage 2007, S. 25. So berichtet Andersen in einem Brief an Henriette Wulff, dass eine Daguerrotypie von ihm, die sie ihm geliehen hatte, abgezeichnet und diese Zeichnung dreitausendmal abgedruckt werden solle. Vgl. BrW II, S. 192 f.; Thage 2007, S. 22. 83 entwickelt sich eine zunehmende Gegenwartsorientierung des Handelns. Identitäten werden instabil und lösen sich von einem festen Ort. Zu einer situativen Identität gehört nach Rosa, der hierbei auf Tilmann Habermas’ Studie zu geliebten Objekten zurückgreift, auch, dass Kontinuität durch Objektbeziehungen erzeugt wird. 378 In Mit Livs Eventyr finden wir solche Objektbeziehungen, wenn dem Zurückerhalten eines vergessenen Regenschirms eine detaillierte Schilderung des Ablaufs gewidmet oder der Verlust einer Miniaturordenssammlung beklagt wird. 379 Auch die textuelle Selbstrepräsentation kann als ein solcher Versuch, Dauerhaftigkeit zu erlangen, gelesen werden. 380 Dieser Versuch wird in Kapitel 2.3 in Beziehung gesetzt zu den Funktionsweisen der materiellen Kultur, der Andersens Texte selbst angehören: einer sich globalisierenden Textkultur. 378 Vgl. Rosa 2005, S. 352-390. In dem offenen Charakter von Andersens Selbstdeutungen lässt sich auch ein Anknüpfungspunkt zu Manfred Franks Konzept von Individualität erkennen, das Modifikationen von Sinn im Verlauf eines Lebens zulässt. Vgl. Frank 1988, S. 21-28. 379 Vgl. Se 3, S. 258 f. 380 Vgl. Brostrøm/ Lund 1991, S. 120, 136. Exkurs: Autorschaft 2 Text-Räume „Jeg er saa let! “ sagde Storkeungerne, „det kribler og krabler mig lige ud i Benene som om jeg var fyldt med levende Frøer! hvor det er deiligt at skulle reise udenlands! ” Hans Christian Andersen, Dynd-Kongens Datter „Mir ist so leicht! “ sagten die Storchenjungen, „es kribbelt und krabbelt mir bis in die Beine, als wären sie voll von lebendigen Fröschen! wie ist das herrlich, ins Ausland zu reisen! “ Hans Christian Andersen, Schlammkönigs Tochter 381 In Andersens Texten spielen Vögel, insbesondere Störche, eine wichtige Rolle. 382 In dem Roman Kun en Spillemand (Nur ein Spielmann) (1837) ist der Storch ein unübersehbares Leitmotiv, und das Märchen Storkene (Die Störche) (1839) trägt ihn sogar im Titel. Neben der geläufigen Anspielung auf den Storch als Vogel, der die Kinder bringt, steht das Tier vor allem in seiner Eigenschaft als Zugvogel im Zentrum der Texte. Das Vogelmotiv verbindet sich mit dem des Reisens und mit Fragen der Zugehörigkeit zu einem Land oder Ort. Reisen ist in zahllosen Texten Andersens von zentraler Bedeutung. 383 Nicht nur in den Reiseschilderungen, auch in den Romanen und Eventyr og Historier wird gereist, und diese Tätigkeit wird in diesen Texten ausführlich kommentiert. Daneben erzählen die Autobiographien ebenfalls in weiten Teilen vom Reisen. Der Autor Andersen wird in ihnen als die Verkörperung des Reisenden inszeniert. Die Räume, die in Andersens Texten erschlossen werden, sind von einer so eminenten Vielfalt, dass es unmöglich ist, sie umfassend darzustellen. Dieser expansive Zug der Texte (die zudem als physische Texte ebenfalls durchaus als raumgreifend bezeichnet werden können) ist es jedoch zugleich, der sie aus einer globalisierungstheoretischen Perspektive relevant erscheinen lassen. Gerade weil die Texte sich 381 EoH 2, S. 205; SM(D), S. 85. Dohrenburg übersetzt den ersten Satz mit „Ich bin so leicht! “, was dem Original näher ist. Vgl. SM(TD) 2, S. 14. 382 Eine Suche mit den Stichwörtern „Fugl“, „Fuglen“, „Fugle“, „Fuglene“ („Vogel“, „der Vogel“, „Vögel“, „die Vögel“) im Arkiv for Dansk Litteratur ergab 387 Treffer, darin sind jedoch Dopplungen für die Eventyr og Historier zu verzeichnen. Andererseits sind nicht alle Werke Andersens in diesem Online-Archiv enthalten. Die Stichwörter „Stork“, „Storken“, „Storkene“ („Storch“, „der Storch“, „die Störche“) ergeben 105 Treffer in verschiedenen Märchen und Romanen mit Dopplungen bei den Eventyr og Historier. Weitere prominent auftretende Vögel sind Schwan, Schwalbe und Nachtigall. Vgl. http: / / adl.dk (letzter Besuch am 30. Juli 2012). Zum Motiv der Schwalbe und des Storchs in der dänischen Literatur unter Berücksichtigung von Texten Hans Christian Andersens vgl. auch die Essays von Hans Edvard Nørregård-Nielsen (1998a und 1998b) anlässlich der Ausstellung Fuglefri; zum Storch in den Eventyr og Historier vgl. Grønbech [o. J.], S. 41- 44. 383 Vgl. Kapitel 2.2. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 85 nicht auf den Erfahrungshorizont einer dänischen Kleinstadt beschränken, auch diesen Bezugspunkt aber nicht aufgeben, lassen sie sich als Teil eines Vernetzungsprozesses identifizieren, den sie wiederum selbst vorantreiben. Dieser Teil widmet sich anhand von Abschnitten aus Andersens Autobiographien und Reiseschilderungen zunächst zwei Raumtypen, die in ihren materiellen, konzeptuellen und phantasmagorischen Dimensionen ausgelotet werden: dem Interieur und der modernen Großstadt. Im Zusammenhang mit der Großstadt wird auch dem Theater (am Beispiel des Kongelige Teater und des Tivoli) besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Bewegungen und Austauschprozessen stehen Grenzziehungen gegenüber, deren Maßstab schließlich mit der Nation globale Dimensionen erreicht. Daran anschließend wird erkundet, wie sich mit den Stadtschilderungen außerdänischer Städte eine zunehmend globale Perspektive des Erzählens entwickelt, die hybride Topographien erschließt. Mit dem Reisen verbindet sich in En Digters Bazar (Eines Dichters Basar) (1842) ein Kunstverständnis, das sich durch zeitliche und räumliche Superpositionen auszeichnet. In welchem Maße hybride Räume von dinglichen Austauschprozessen durchdrungen sind und welche Konsequenzen dies für Mensch-Ding-Beziehungen in Netzwerken hat, verdeutlicht eine kurze Betrachtung des Afrikakapitels von I Spanien (In Spanien) (1863). Schließlich wendet sich eine Analyse von Mit Livs Eventyr der Rolle von Texten in Vernetzungsprozessen und der Herausbildung eines transnationalen literarischen Raumes zu. Den in den Texten und durch dieselben erschlossenen Raumdimensionen wird sich aus einer historisch und philosophisch akzentuierten Perspektive angenähert, extratextuelle Zusammenhänge werden ausgehend von den Textbeispielen nachgezeichnet. In Teil 2 werden Texte herangezogen, deren Schauplätze und Handlungszonen sich näher am „Pol des Realen“ 384 bewegen (ohne je mit diesem deckungsgleich zu sein), als dies in Teil 3 der Fall ist, in dem uns das Interieur und die Großstadt in weiteren Facetten begegnen. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 2.1.1 „In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit.“ Interieurs Walter Benjamin beschreibt das Interieur als Universum des sich im 19. Jahrhundert neu formierenden Privatmannes, in dem dieser „die Ferne und die Vergangenheit“ 385 versammelt. Diese Funktion übernehmen in den Eventyr og Historier beispielsweise die Nippes, deren Effekt zugleich vorgeführt und durchschaubar wird. Wo die kleinen und stummen Dinge zu Hauptakteuren werden, lässt sich erkennen, dass die 384 Piatti 2008, S. 136. Für eine Übersicht über Modelle der Referenz zwischen Georaum und Textraum vgl. ebd., S. 131-147. 385 Benjamin 1991, S. 52. 2 Text-Räume 86 scheinbar außerhalb aller Zirkulationsprozesse stehende Dingwelt in diese einbegriffen ist und dass diese Sehnsuchtsobjekte eine eigene Geschichte haben, die andere Wünsche und (Ent-) Täuschungen impliziert als die ihres menschlichen Besitzers. 386 Darin entsprechen sie Theodor W. Adornos Feststellung über das Interieur: „Das Selbst wird im eigenen Bereich von Waren ereilt und ihrem geschicht-lichen Wesen.“ 387 Über Adornos Analyse des Interieurs hinausgehend treten die Dinge der Märchen, Geschichten und Autobiographien uns jedoch nicht allein als „Schein unveränderlicher Natur“ 388 entgegen, sondern entfalten eigene Geschichten, die das scheinbar Unveränderliche in Bewegung bringen. Der Rückzug in die Innerlichkeit, den das bürgerliche 389 Interieur erlauben sollte, wird dadurch gestört. Materialität und Phantasmagorie reiben sich manches Mal aneinander. Diesem Verhältnis von Materialität und Phantasmagorie widme ich besondere Aufmerksamkeit, da es auch für Globalisierungsprozesse zentral ist. Diese verlaufen, wie bereits dargestellt, 390 immer zwischen konkreten lokalen Strukturen und einem vorgestellten Weltganzen, die sich wechselseitig prägen. Darin sind sie nicht zufällig dem Markt verwandt, wie Immanuel Wallerstein ihn definiert: „A market is both a concrete local structure in which individuals or firms sell and buy goods, and a virtual institution across space where the same kind of exchange occurs.“ 391 Walter Benjamin stellt fest, dass sich im Interieur, das vom Sammler als seinem „wahre[n] Insasse[n]“ bewohnt wird, eine „Verklärung der Dinge“ vollzieht, die für das Verhältnis der Menschen zu den Dingen im Kapitalismus des 19. Jahrhundert charakteristisch ist: „Der Sammler träumt sich nicht nur in eine ferne oder vergangene Welt sondern zugleich in eine bessere, in der zwar die Menschen ebensowenig mit dem versehen sind, was sie brauchen, wie in der alltäglichen, aber die Dinge von der Fron frei sind, nützlich zu sein.“ 392 386 Vgl. zu diesem Aspekt die Analyse von Hyrdinden og Skorsteensfeieren in Kapitel 3.3.1. 387 Adorno 2003, S. 65. 388 Ebd. 389 Der Begriff „bürgerlich“ ist insofern problematisch, als er Gefahr läuft, ein Phantasma zu reproduzieren, das „das Bürgertum“ selbst erzeugt: die Vorstellung seiner selbst als einer homogenen gesellschaftlichen Gruppe. Diese Vorstellung erfordert die Konstruktion eines Idealbürgers um den Preis der Ausgrenzung des Abweichenden, ohne, dass sie je endgültig erfolgreich sein könnte, da die Kriterien der Inklusion in sich widersprüchlich sind. Es soll deshalb nicht suggeriert werden, dass das Bürgertum eine homogene soziale Gruppe darstellt, und dass es eine bürgerliche Identität ohne Spannungen zwischen subjektiver Empfindung und vorherrschenden Moralvorstellungen sowie dem Selbstbild des Bürgertums und der sozialen Wirklichkeit gäbe. (Zum Zusammenhang von sozialer Dynamisierung, der Konstruktion eines phantasmagorischen Idealbürgers und den damit verbundenen Ausgrenzungsmechanismen, hier vor allem verdeutlicht anhand der Ausgrenzung von Juden, vgl. Mosse 1985.) Beim bürgerlichen Interieur handelt es sich um eine ebenso materiell und ökonomisch wie phantasmagorisch bestimmte Räumlichkeit. „Das Bürgertum“ bringt sich in einem widersprüchlichen Selbst- und Fremddefinitionsprozess hervor, an dem bürgerliche Ideologien ebenso wie charakteristische materielle Umgebungen, ökonomische und politische Aktivitäten beteiligt sind. 390 Vgl. S. 2 dieser Arbeit. 391 Wallerstein 2004b, S. 25. 392 Benjamin 1991, S. 53. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 87 Im Interieur stellt sich eine relative Autonomie der Dinge her, die den Träumen der Menschen entgegen kommt. Andersens Texte wissen um die phantasmagorische Qualität des Interieurs; zugleich aber auch darum, was es bedeutet, wenn die Menschen nicht mit dem versehen sind, was sie brauchen. In seiner Autobiographie Mit Livs Eventyr siedelt der Erzähler den Ursprung des Autors Andersen effektvoll in diesem Dazwischen an. 1805 levede i Odense i en lille, fattig Stue et nygift Par, der holdt uendeligt meget af hinanden, en ung Skomager med sin Kone, han, neppe to og tyve Aar, et forunderligt begavet Menneske, en ægte poetisk Natur, hun, nogle Aar ældre, uvidende om Verden og Livet, men fuld af Hjerte. Nylig var Manden blevet „Frimester“ og havde selv tømret sammen sit Skomagerværksted og sin Brudeseng; til denne havde han brugt Træ- Stilladset, der kort forud havde baaret Liigkisten med en afdød Grev Trampe, som laae udstillet paa Parade; de sorte Klædes Lister, der siden endnu altid sad paa Sengestedet, var en Erindring herom. Istedetfor det grevelige Liig, omgivet af Flor og Candelabrer, laae her den anden Apri11805, et levende, grædende Barn, det var mig Hans Christian Andersen. (Im Jahre 1805 lebte in der Stadt Odense in einer kleinen ärmlichen Stube ein jung verheiratetes Pärchen, das sich unendlich liebhatte, es war ein junger Schuhmacher und seine Frau; er kaum zweiundzwanzig Jahr, ein begabter Mensch und eine poetische Natur, sie einige Jahre älter, ohne Kenntnisse von Welt und Leben, aber mit einem Herzen voller Liebe. Der Mann war kürzlich Meister geworden und hatte seine Werkstatt und sein Ehebett selbst zusammengezimmert; zu dem letzteren hatte er ein hölzernes Gestell verwendet, das kurz zuvor den Sarg eines verstorbenen Grafen Trampe, als dieser auf seinem Paradebett lag, getragen hatte. Die schwarzen Tuchreste, die an den Brettern haftengeblieben waren, erinnerten noch daran. An Stelle der gräflichen Leiche, umgeben von Flor und Kandelabern, lag hier am 2. April 1805 ein lebendes, weinendes Kind, nämlich ich, Hans Christian Andersen.) 393 Es folgt eine Beschreibung der Wohnung, auf die ich weiter unten genauer eingehe. Andersens Autobiographien 394 wurden oftmals kommentiert und dabei meist auf ihren ‚Realitätsgehalt’ überprüft, was in einigen Fällen den Vorwurf der Lüge 395 nach sich zog. Ein solcher Umgang mit autobiographischem Material ist in dieser Arbeit nicht beabsichtigt. 396 Die hier verwendeten autobiographischen Texte haben eine literarische (hier: im Unterschied zur dokumentarischen) Form, wie sich bereits aus den Titeln der zu Andersens Lebzeiten erschienen Autobiographien erschließen 393 Se 2, S. 13; MLM, S. 5. Vgl. auch Se 1, S. 179; MML, S. 4. 394 Zu Andersens Lebzeiten erschienen verschiedene Autobiographien. In dieser Arbeit stehen Mit Livs Eventyr sowie Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung im Vordergrund, da es sich um zu Lebzeiten veröffentlichte Texte Andersens handelt. Neben den Autobiographien trugen auch verschiedene Artikel über Andersens Biographie, an deren Zustandekommen er in unterschiedlichem Ausmaß beteiligt war, maßgeblich zu seiner Wahrnehmung als Autor, insbesondere im Ausland, bei. Vgl. mit einem Schwerpunkt auf Deutschland Möller-Christensen 1992, S. 88-117; de Mylius 2001. 395 Vgl. Dorset 2004, S. 70; Mayer 1981, S. 225 f., 231. 396 Zur Problematik von Wahrheit und Lüge in der Forschung zu Andersens Autobiographien vgl. auch Auring u. a. 1984, S. 124-126; Möller-Christensen 1992, S. 209-212. 2 Text-Räume 88 lässt. Helge Topsøe-Jensen zeigt zwar auf, dass insbesondere Mit Livs Eventyr zugleich reich an dokumentarischen Elementen ist. 397 Diese dokumentarischen Elemente sind jedoch Elemente eines literarischen Spiels, das der Konstruktion eines Autorbildes diente, die auch aus marketingstrategischen Gründen erfolgte. 398 Andersens erste, auf Deutsch erschienene Autobiographie Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung 399 versetzt ebenso wie die fortgesetzten Versionen von Mit Livs Eventyr (bzw. The Story of My Life) 400 mittels des Märchenbegriffes schon im Titel die Grenze zwischen Realität und Fiktion, 401 auch wenn in der deutschen Version der Zusatz „ohne Dichtung“ eine solche Grenze zu implizieren scheint. Der intertextuelle Verweis auf Goethes Autobiographie jedoch ist wiederum ein Zeichen literarischen Formbewusstseins; der Text schreibt sich in eine autobiographische Tradition ein. 402 Die Grenze zwischen Realität und Fiktion existiert in Andersens Texten (wie auch in der Wirklichkeit) in einer eindeutig bestimmbaren Fixiertheit nicht. Wie in Dichtung und Wahrheit wird auch in Mit Livs Eventyr und Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung auf den ersten Seiten - bei Andersens Texten durch den Gebrauch des Modalverbs „skal“ („soll“) - ein Zweifel hinsichtlich der Wahrheit des Erinnerten eingeschrieben: „Min Fader skal de første Dage have siddet ved Sengen hos min Moder og læst høit for hende af Holberg, mens jeg skreg himmelhøit.“ („Mein Vater soll die ersten Tage nach meiner Geburt am Bett bei meiner Mutter gesessen und ihr aus Holbergs Komödien vorgelesen haben, während ich laut schrie.“) 403 Es bleibt hier offen, wer es ist, der erinnert. Der dänische Titel spielt zudem mit der Unbe- 397 Vgl.Topsøe-Jensen 1934, S. 177. 398 S. Exkurs: Autorschaft, Kapitel 2.3.1, 2.3.2. 399 Die dänische Version in Se 1 beruht auf dem Manuskript, das die Grundlage der deutschen Fassung ist. Vgl. Se 1, S. 384. 400 Die Fortsetzung von Mit Livs Eventyr erschien zuerst 1871 in der englischsprachigen Ausgabe in New York und wurde erst 1877 in Dänemark herausgegeben. Eine dänische Ausgabe von Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung erschien nicht vor 1942. Vgl. Se 1, S. 384; Se 3, S. 418. Anhand dieser Tatsachen wird deutlich, wie transnational Andersens Publikationsstrategie ausgerichtet war. Vgl. zu diesem Aspekt Kapitel 2.3.2. 401 Vgl. Möller-Christensen 1992, S. 211 f. 402 Auch der Beginn der Autobiographien weist Parallelen auf: Dichtung und Wahrheit, Mit Lis Eventyr und Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung prognostizieren im ersten Absatz des ersten Kapitels den günstigen Verlauf des Lebens, verbinden im Folgenden die Geburt des Dichters mit dem Motiv des Todes (Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung enthält noch eine kurze Charakterisierung Dänemarks, die vermutlich der Publikation in Deutschland geschuldet ist) und schildern im nächsten Absatz den Wohnraum der Kindheit. Vgl. Goethe 1985, S. 13 f.; Se 1, S. 179 f.; MML, S. 3 f.; Se 2, S. 13 f., MLM, S. 4 f. Weitere intertextuelle Bezugspunkte der Autobiographien werden in der Sekundärliteratur diskutiert. Helge Topsøe-Jensen (1940, S. 29-51) zeigt, wie Andersen Artikel anderer Verfasser über sich als Quelle verwendete; Jack Zipes (2006, S. 88) sieht Parallelen zwischen Oehlenschlägers Aladdin und der Lebensgeschichte Andersens. De Mylius (2001, S. 169-172) interpretiert den Zusatz „ohne Dichtung“ als Anspielung auf das Biographiekonzept Fritz Petits, der Andersens Biographie in ein „Lebensmärchen“ verwandelt hatte. 403 Se 2, S. 13; MLM, S. 5. (Das Wortspiel „læst høit“/ „skreg himmelhøit“ bleibt in der deutschen Ausgabe unübersetzt. Vgl. auch Se 1, S. 179; MML, S. 4.) In Dichtung und Wahrheit wird diese Unsicherheit expliziter formuliert. Vgl. Goethe 1985, S. 11 f., 13 f. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 89 stimmtheit hinsichtlich der bezeichneten Textform: Eventyr kann sowohl „Märchen“ als auch „Abenteuer“ bedeuten. 404 Da Eventyr sowohl die Singularals auch die Pluralform ist, kann der dänische Titel auch als eine Reihe von Märchen verstanden werden. 405 Andersens Texte der Lüge zu bezichtigen verkennt, dass Literatur ein besonderes Verhältnis zur Realität hat, das sich beispielsweise im Spiel mit Polysemien wie denen des dänischen Titels niederschlägt. Die Opposition von Wahrheit und Lüge setzt eine Eindeutigkeit von Aussagen voraus, die in literarischen Texten selten behauptet wird. In den Texten lässt sich stattdessen die Technik des Enthüllens und Verbergens beobachten, die für Literatur charakteristisch ist. 406 Die oben wiedergegebene Beschreibung des jungen Brautpaars folgt auf einen überschwänglichen Auftakt, der den Leser wissen lässt: Mit Liv er et smukt Eventyr, saa rigt og lyksaligt! havde jeg, som Dreng, da jeg fattig og ene gik ud i Verden, mødt en mægtig Fee, og hun havde sagt: „vælg din Bane og dit Maal, og da, efter din Aands Udvikling, og som det fornuftigviis maa gaae til i denne Verden, beskytter og fører jeg Dig! “ min Skjebne kunde da ikke have været lykkeligere, klogere og bedre ledet, end den er. Mit Livs Historie vil sige Verden hvad den siger mig: der er en kjærlig Gud, der fører Alt til det Bedste. (Mein Leben ist ein hübsches Märchen, reich und überaus glücklich! Wäre mir, als ich, ein Knabe noch, arm und allein in die Welt hinausging, eine mächtige Fee begegnet und hätte sie mir gesagt: „Wähle deine Bahn und dein Ziel, und je nach deiner geistigen Entwicklung und wie es vernünftigerweise in dieser Welt zugehen muß, will ich dich schützen und führen! “ - mein Schicksal hätte nicht glücklicher, klüger und besser geleitet werden können, als es geschehen ist. Die Geschichte meines Lebens wird der Welt sagen, was sie mir sagt: Es gibt einen liebevollen Gott, der alles zum besten führt.) 407 Es wird im weiteren Verlauf des Textes klar, dass dieses Leben nicht nur glücklich war, sondern auch von großer Armut, Ängsten, Einsamkeit und körperlichen Beschwerden geprägt. Dies lässt sich zwar vielleicht mit den Prüfungen des Helden im Märchen vereinbaren; das vom Erzähler geschilderte Unglück reicht jedoch oftmals so weit, dass der euphorische Beginn der Autobiographie nicht mehr gerechtfertigt scheint. 408 Diese Bewegung zwischen Konstruktion und Dekonstruktion der Erzählungen des Aufsteigers, des Genies oder des kindlichen Märchenhelden 409 hat ihre 404 Vgl. de Mylius 2001, S. 164-169. 405 Vgl. Brostrøm/ Lund 1991, S. 120. 406 Zu diesem Aspekt aus einer metaphorologischen und ästhetiktheoretischen Perspektive vgl. auch Steiner 2006, bes. S. 17 ff., 242. 407 Se 2, S. 13; MLM, S. 5. Vgl. auch Se 1, S. 179; MML, S. 3. 408 Ein Höhepunkt dieser Koexistenz von Triumph und Tragik ist die Schilderung der Festlichkeiten anlässlich Andersens Ernennung zum Ehrenbürger von Odense, während derer der Ich-Erzähler von unerträglichen Zahnschmerzen heimgesucht wird. Vgl. Se 3, S. 325-347, bes. S. 345 ff. Die deutsche Übersetzung enthält leider nur die erste Ausgabe von Mit Livs Eventyr bis 1855, deshalb ist diese Episode in ihr nicht enthalten. 409 Vgl. auch Detering 2001, S. 183; Jørgensen 1996, S. 264 f.; Möller-Christensen 1992, bes. S. 104- 113; 268-275. 2 Text-Räume 90 Entsprechung in einer Realität, die sich in einem ständigen Austausch gegenläufiger Phantasmagorien und Materialitäten befindet. Die auf diesen Anfang folgende Szene mit dem aus einem Sarggestell gezimmerten Ehebett, in dem anstelle der Leiche ein Kind liegt, ist ein Indiz der Armut, die das geschilderte Leben auch dann noch prägt, als Andersen erfolgreicher Autor geworden ist. Das Bild des Leichenbettes, in dem der Dichter gezeugt und geboren wird, deutet eine Verwandtschaft zwischen Schreiben und Tod an. 410 Das Schreiben ist einerseits ein Streben nach Unsterblichkeit, einer Verdrängung des Todes, indem sich die Autor-Funktion ewig im literarischen Diskurs erhält, andererseits führen insbesondere die Autobiographien zum Verschwinden der empirischen Person Andersens hinter und Verschmelzen mit der erzählten Figur. Das Schreiben löscht ihn so aus, indem es ihn neu erschafft. Dies ist auch ein Grund für die Schwierigkeit, Autor- Funktion und Erzähler in ihrem Verhältnis zueinander zu analysieren. 411 Auch die konkrete Gestalt des Bettes und ihre Geschichte sind bemerkenswert. Ähnlich, wie Benjamin es für die „traumbefangen[e] [...] technische Produktion“ 412 beschreibt, versucht auch hier ein Hersteller, das Material, aus dem sein Erzeugnis ist, zu tarnen. Das Artefakt ist aber nicht industriell gefertigt, und deshalb nicht scheinbar geschichtslos wie das Massenprodukt: „[D]e sorte Klædes Lister, der siden endnu altid sad paa Sengestedet, var en Erindring herom.“ („Die schwarzen Tuchreste, die an dem Bett haftengeblieben waren, erinnerten noch daran.“) Die Erinnerung an die Herkunft ist nicht getilgt. Das Interieur der Werkstatt in Mit Livs Eventyr weist auf ein typisches bürgerliches Interieur hin, ist aber immer durch ein ‚noch nicht’ gekennzeichnet. Das Ding, das aus einem nichttechnisierten Produktionsprozess hervorgeht, fungiert als Speicher von Erinnerungen; es verdrängt den Tod nicht, sondern nimmt ihn in sich auf. Zugleich ist es Teil eines Verwertungskreislaufes, der ein soziales Gefälle beschreibt. In der fürstlichen Sphäre ist es zu einem letzten Ding 413 (im Wortsinne) geworden und danach aus ihr ausgeschieden; in der Armut des Frimesters, der zur untersten zunftlosen Handwerkerschicht gehört, 414 wird der Rest des Einen zum Alles des Anderen: zu Braut- und Kindbett. Die 410 Vgl. jedoch Mortensens Interpretation dieses Bildes vom Säugling anstelle des Grafen als Umkehrung der traditionellen Generationsordnung, als eine Variante des Bildungsgedankens, in der Kindlichkeit von besonderer Bedeutung ist (Se 1, S. 22 f.). Mortensen bezieht sich hier auf das zu Andersens Lebzeiten nicht veröffentlichte Levnedsbog, eine sehr frühe Autobiographie, und erklärt, dass der Bildungsgedanke in den späteren Autobiographien nicht mehr als Grundlage des Verständnisses von Leben und Entwicklung des Dichters dient. Vgl. ebd., S. 35. Zur Verwandtschaft zwischen Schreiben und Tod vgl. Foucault 2001b, S. 1008 f. 411 Mortensen nennt dies einen „hårfine balancegang mellem selvudslettelse og selvbevidsthed“ („haarfeine[n] Balancegang zwischen Selbstauslöschung und Selbstbewusstsein“), eine Verdoppelungsstrategie im Erzählen, die den Schreibenden zweideutig konstruiert. Vgl. Se 1, S. 14. 412 Benjamin 1991, S. 213. 413 Zu letzten Dingen und ihren Metamorphosen vgl. auch Böhme 2006, S. 121-124. 414 Vgl. Bredsdorff 1983, S. 18; Se 2, S. 354. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 91 Abstraktion sozialer Vorgänge in der Figur der Ware ist in dieser Welt nicht so vollkommen, dass sie hierarchische Zusammenhänge unkenntlich werden lässt. Wir finden kurz darauf eine Beschreibung des Interieurs, die wie eine Miniatur bürgerlicher Interieurs erscheint: Een eneste lille Stue, der næsten var opfyldt med Skomagerværkstedet, Sengen og den Slagbænk, hvori jeg sov, var Barndoms-Hjemmet, men Væggene vare behængte med Billeder, paa Dragkisten stod smukke Kopper, Glas og Nipserier og henne over Værkstedet, ved Vinduet, var en Hylde med Bøger og Viser. I det lille Kjøkken hang over Madskabet Tinrækken fuldt af Tallerkener, det lille Rum syntes mig stort og rigt, Døren selv, der i Fyldingen stod malet med Landskab, var mig dengang lige saa betydende som nu et heelt Billedgalleri! Fra Kjøkkenet kom man ad en Stige op paa Loftet, hvor der i Tagrenden, mellem vort og Naboens Huus stod en Kasse Jord med Purløg og Persille, min Moders hele Have; i mit Eventyr: Sneedronningen blomstrer den endnu. (Ein einziges Stübchen, fast ganz ausgefüllt von der Schuhmacherwerkstatt, dem Bett, der Schlafbank, auf der ich schlief, war meiner Kindheit Behausung; die Wände waren mit Bildern behangen, auf der großen Kommode standen bunte Tassen, Gläser und Nippessachen. In der Ecke der Stube neben dem Fenster befand sich ein Brett mit Büchern und Liedern. In der kleinen Küche hing über dem Schrank ein Regal voll glänzender Teller und Geschirre. Der kleine Raum schien mir groß und reichlich ausgestattet, selbst die Tür, in deren Füllung eine Landschaft gemalt war, hatte damals für mich dieselbe Bedeutung wie heute eine Bildergalerie. Von der Küche führte eine Leiter auf den Boden, und hier oben in der Dachrinne, zwischen unserem und des Nachbars Haus, stand ein Kasten, mit Erde gefüllt, in ihm wuchsen Schnittlauch und Petersilie - der ganze Garten meiner Mutter. In meinem Märchen ‚Die Schneekönigin’ blüht er noch.) 415 Der kardinale Fehler dieser mit Bildern, Glas, Büchern und Nippes vollgestopften Wohnung in Bezug auf ein bürgerliches Interieur liegt in den ersten beiden Teilsätzen: Die Werkstatt füllt die Stube beinahe zur Gänze. Den ökonomischen Verhältnissen kann im Interieur scheinhaft nur entkommen, wer mindestens zwei Zimmer hat. Folgerichtig erzählt der Text im Anschluss vom vorhergegangenen sozialen Abstieg der Familie des Vaters und dessen Jugendhoffnung, in die Lateinschule zu gehen, die sich jedoch zerschlagen hatte. Der Raum der Kindheit ist durchsetzt von einer Sehnsucht nach Bürgerlichkeit, die immer unerfüllt bleibt. Die eigenen Zimmer, von denen erzählt wird, sind stets (zu) klein. 416 Statt eines Interieurs, das eine Aufhebung der Macht der Verdinglichung vortäuscht, finden wir ein vorgetäuschtes Interieur, das im Nachhinein verklärt wird. Diese Verklärung wiederum ist von vorneherein - durch das der Beschreibung der mehr oder weniger nutzlosen Dinge vorangehende Bett - gebrochen: „[D]ie Gewalt der Sachen reicht weiter als die metaphorische Absicht.“ 417 Die „metaphorische Absicht“ des Textes kalkuliert mit einem bürgerlichen Publikum, das in der Werkstatt seine eigene Wohnung en minia- 415 Se 2, S. 13 f.; MLM, S. 6. Vgl. auch Se 1, S. 180; MML, S. 5. 416 Vgl. auch Se 2, S. 43 f., 61, 73; MLM, S. 49, 71, 89 f. 417 Adorno 2003, S. 64 f. 2 Text-Räume 92 ture zu erkennen meint. Die Armut erhält sich jedoch unausweichlich in den Dingen. Vorgetäuschter Überfluss ist zudem nur reizvoll, wenn er Platz zu füllen hat. Die Phantasmagorie erträgt die Nähe des Nutzens nicht. Die Miniaturisierung zersetzt die Gemütlichkeit, die sie zugleich erzeugt. Die Scheinhaftigkeit des Raumes im Interieur verliert sich durch das Eindringen der Arbeit in dieses. Zu klein ist das Zimmer als Werkstatt; der Raum wird dominiert vom Totenbett, das die Spuren seiner Herkunft trägt. Nicht zufällig fehlt auch der Rosenstrauch aus Sneedronningen (Die Schneekönigin) (1844) 418 im kleinen Garten der Mutter: Hier sind die wenigsten Dinge tatsächlich vom Nutzen befreit. Für den Leser bleibt durchsichtig, dass Größe und Reichtum des Raumes, die der Erzähler als Kind wahrzunehmen vorgibt, nur ein Schein sind, der in den Dingen liegt und dessen Entzauberung zugleich in ihnen lauert. Dieses Interieur bereitet vor allem eines vor: sein Verlassen. Statt dem von Adorno bei Kierkegaard festgestellten Wegfall der Dingwelt zugunsten einer objektlosen Innerlichkeit als Reaktion auf die Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt durch deren Warencharakter geht der Autor Andersen den umgekehrten Weg und wendet sich nach außen. 419 Auf die zu kleinen Räume reagiert er mit dem Auszug aus dem privaten Raum. Der Warenwerdung der Welt, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend vollziehen wird, ist er als einer der ersten freien Autoren Dänemarks ein Vorreiter. Das Ich der kapitalistischen Gesellschaft findet sich nicht im Rückzug auf sich selbst, weil es auch in ihr, trotz der neu erwachten Sehnsucht danach, kein vom Außen unabhängiges Innen gibt. Diese Sehnsucht saugt vielmehr das Außen ins Innen als unaufhörlicher Strom von Waren - Dinge, die Menschen für ihre Träume brauchen. Insofern ist Andersen das ultimative Produkt: Er verkauft nicht nur Märchen, sondern auch sein Leben als Märchen, in dem sich der unwahrscheinliche Traum des sozialen Aufstiegs Schritt für Schritt erfüllt. Da dieser Traum aber den Preis hat, dass er sich nur öffentlich vollziehen kann, weil er auf seinen Verkauf angewiesen bleibt, sprengt das Produkt die phantasmagorische Innerlichkeit auf: Der Autor wird nicht einfach zur Ware, er macht sich dazu. Bezogen auf die Räumlichkeit nimmt der Autor Andersen die Verminderung des Wohnens vorweg, die nach Benjamin das 20. Jahrhundert charakterisiert: das Leben im Hotelzimmer. Der Wohnsucht des 19. Jahrhunderts 420 entkommt der Autor nicht ganz, da er sich bei Besuchen reicher Bekannter vielfach in fremden Interieurs einquartiert und vor allem zu Beginn seiner Karriere aus finanziellen Gründen auf gæsteri, Besuche bei wohlhabenden Bekannten zum Essen, angewiesen ist. 421 Deren Interieurs sind jedoch für ihn keine privaten Rückzugsräume, sondern Orte, an de- 418 Vgl. EoH 1, S. 304 und passim; SM(TD) 1, S. 315 und passim. Der Text erschien 1844 in Nye Eventyr. Anden Samling, das Heft trug die Jahreszahl 1845 auf dem Titelblatt. 419 Der Angriff Kierkegaards auf Andersen in Af en endnu levendes papirer kann eventuell auch als Ausdruck dieser Differenz gelesen werden. Vgl. S. 8 dieser Arbeit. 420 Vgl. Benjamin 1991, S. 291 f. Das Ende des 19. Jahrhunderts heißt auf Dänisch sogar Klunketiden, übersetzt etwa „Troddelzeit“ oder „Quastenzeit“. 421 Vgl. z. B. Se 1, S. 216; MML, S. 64; Se 2, S. 76; MLM, S. 95. Vgl. auch Auring u. a. 1984, S. 135 f. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 93 nen er Gaben empfängt, die ihm das Überleben ermöglichen. Im Gegenzug unterhält er die Gesellschaften. 422 Andersens Texte wiederholen immer wieder die Geste des Ausbrechens, die im ersten Kapitel von Mit Livs Eventyr mit dem Mut der Verzweiflung so beschrieben wird: „,Man gaaer først saa gruelig meget Ondt igjennem,’ sagde jeg, - ‚og saa bliver man berømt! ’“ („‚Man geht erst durch so schrecklich viel Schlechtes’, sagte ich, ‚und dann wird man berühmt! ’“ [Übers. F. F.]) 423 Nicht der Rückzug auf das Selbst ist das Ziel, sondern seine Anerkennung durch andere. Die Berühmtheit, die in Mit Livs Eventyr beschrieben wird, basiert auf einer Aufhebung des privaten Rückzugsraumes. Statt der Unabhängigkeit des Autors werden seine Vernetzung, seine Mobilität, seine Verbreitung, seine Integration in Kommunikations- und Transportnetzwerke betont. Dahinter stehen keine „autonome Ethik der absoluten Person“ 424 und auch nicht die mit dieser Ethik verbundenen Differenzbestimmungen. Hat bei Kierkegaard laut Adorno „[a]n Negern und Sängerinnen [...] die ethische Allgemeinheit ihre Grenze“, 425 fängt sie in Andersens Texten gerade bei solchen Figuren an: bei Mulatten, Opernsängerinnen, Judenmädchen. 426 Im 19. Jahrhundert gewinnen zwei komplementäre Praktiken an Bedeutung: Die wachsende grenzüberschreitende Zirkulation von Menschen und Dingen und das Setzen von Grenzen, die die Scheidung von Innen und Außen aufrechterhalten und so Schutzräume konstituieren sollen. Obgleich diese Grenzen immer von einer sich mit wachsender Vernetzung noch steigernden Hybridität kultureller Phänomene unterlaufen werden, 427 sollte ihre reale Gewalt nicht unterschätzt werden. 2.1.2 „eine gigantische Rhetorik des Exzesses an Verschwendung und Produktion.“ Kopenhagen zwischen Vergnügen und Politik Die moderne Großstadt ist ein charakteristischer Raum des 19. Jahrhunderts: Die Zahl derer, die in Städten lebten, steigerte sich sprunghaft, und mit der Verstädterung kam auch die Urbanisierung als eine Lebensweise, die von größerer sozialer Mobilität gekennzeichnet ist, von organisierter Dichte und neuen Freiräumen. 428 Der Stadt nähern wir uns von außen, so wie die meisten Menschen des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit gerieten weite Teile der europäischen Bevölkerung 422 Vgl. Andersen 2004, S. 42-45. 423 Se 2, S. 33. In der sonst verwendeten von Tove Fleischer herausgegebenen Übersetzung geht der Charakter einer aktiven räumlichen Bewegung verloren: „‚Man hat erst viel Leid durchzumachen’, sagte ich, ‚aber dann wird man berühmt! ’“ (MLM, S. 35). Vgl. auch Se 1, S. 193; MML, S. 26. Die Übersetzung wird auch im Kommenden dort durch eigene Übersetzungen abgelöst, wo sie suboptimal erscheint. 424 Adorno 2003, S. 72. 425 Ebd., S. 73. 426 Vgl. Horatio im Drama Mulatten (Der Mulatte) (1840); die Verehrung der Sängerin Jenny Lind in Mit Livs Eventyr; Naomi in Kun en Spillemand. 427 Zum Hybriditätsbegriff vgl. auch S. 2 , Fußnote 47 dieser Arbeit. 428 Vgl. Löw/ Steets/ Stötzer 2008, S. 21-29. Nahezu das gesamte 19. Jahrhundert hindurch erfuhr auch Kopenhagen ein starkes Bevölkerungswachstum, vgl. Københavns Amt 1999, S. 21 f. 2 Text-Räume 94 in Bewegung. 429 Wie den Ich-Erzähler in Mit Livs Eventyr zog es die meisten Migranten in die großen Städte. „Larm og Tummel“ („Lärm und Tumult“) 430 begrüßen den Neuankömmling in Kopenhagen. Allerdings erklärt der Erzähler, dass es sich bei den Menschenaufläufen, die der junge Andersen bei seiner ersten Begegnung mit einer - wenn auch verhältnismäßig kleinen 431 - Großstadt erlebte, um die so genannte „Jødefeide“ („Judenfehde“) 432 , handelte. Dieser Pogrom war am Abend zuvor in verschiedenen europäischen Ländern ausgebrochen. 433 Die Menschenmengen der Großstadt werden auf diese Weise sogleich in ihrem explosiven Gewaltpotenzial vorgestellt. Zudem handelt es sich um eine konzertierte Erhebung, wie sie im 19. Jahrhundert in europäischen Städten zunehmend typisch werden sollte. Damit schreiben sich Synchronisierungsprozesse in den Text ein, die bereits die weitgehende Europäisierung der Perspektive in Andersens Autobiographien andeuten. 434 Der Erzähler erklärt, von dem Trubel nicht überrascht gewesen zu sein, entsprach er doch dem Bild, das er von seiner Weltstadt erwartet hatte. Dass er bereits vor seiner Ankunft ein Bild von Kopenhagen im Kopf hat, weist auf die Wahrnehmung der Stadt vor dem Hintergrund einer bereits durch Texte, Personen und Bilder erfolgten Vermittlung hin. Die Bezeichnung Kopenhagens in der späteren Autobiographie Mit Livs Eventyr als „min Verdens Stad“ („meine[r] Weltstadt“) 435 - zuvor war sie nur 429 Vgl. Bade 2000, S. 85-168, bes. S. 85, 92; Sassen 1997, S. 27-34, 47-61. 1835 waren 53% derjenigen, die einen Kopenhagener Gewerbeschein erhielten, in Kopenhagen geboren worden, der Rest stammte aus dem übrigen Dänemark oder dem Ausland. Vgl. Jensen/ Smidt 1982, S. 14. Trotz der großen Wanderungsbewegungen sollte der Anteil der Sesshaften nicht unterschätzt werden. Vgl. Osterhammel 2009, S. 183. 430 Se 2, S. 37; MLM, S. 39; Se 1, S. 197; MML, S. 30. 431 Kopenhagen war, verglichen mit anderen europäischen Großstädten, eher klein, im skandinavischen Raum jedoch im 19. Jahrhundert mit Abstand die größte Stadt. Da Kopenhagen 1801 über 100.000 Einwohner zählte, während Odense als größte Kleinstadt im Königreich (Altona, das außerhalb desselben lag, war größer) etwa 5.800 Einwohner hatte (vgl. Bjørn 2003, S. 84), lässt sich im Falle der Autobiographien Andersens von einer neuen Raumerfahrung sprechen, zumal der urbane Eindruck durch die städtebaulich bedingte extrem hohe Bevölkerungsdichte noch verstärkt worden sein dürfte. Vgl. Andersen 2005, S. 28 f.; Sandberg 2003, S. 119 f. 432 Se 2, S. 37; MLM, S. 39; Se 1, S. 197; MML, S. 30. 433 Vgl. ebd. Der Erzähler gibt in Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung an, am 5. September 1819 in Kopenhagen eingetroffen zu sein, in Mit Livs Eventyr ist es der 7. September. Beide Male ist der Ausbruch der Jødefeide für den vorherigen Abend angegeben. Die Anmerkungen der Herausgeber datieren Andersens Ankunft auf den 6. September, den Ausbruch der Fehde, die von Deutschland auf Dänemark übergriff, auf den 4. September. Vgl. Se 1, S. 400; MML, S. 30; Se 2, S. 359; MLM, S. 39. Zu der Datierung vgl. auch Topsøe-Jensen 1934, S. 174 f. Durch die Datierung entsprechen Andersens Texte scheinbar historiographischen Konventionen; indem die Datierungen verschieden sind, lassen sie jedoch zugleich die Unmöglichkeit durchscheinen, die Ereignisse in einer objektiven Reihenfolge zu verorten, die sich aus der Ausgangssituation des Erinnerns ergibt. Berhard Glienke erkennt in seiner Interpretation ein Muster hinter dem Ereignis der Jødefeide bei Eintritt in die Stadt: Jedes Mal, wenn Andersen oder seine Helden erstmals in einer großen Stadt eintreffen, sendet der Himmel ein Zeichen. Vgl. Glienke 1996, S. 39-41. 434 Zu Andersens europäischer Perspektive vgl. z. B. Houe 1996, S. 127 f., 139; Kofoed 1996a; 1996b, [S. 7 f. (Die Einleitung ist nicht paginiert.)]. 435 Se 2, S. 37; MLM, S. 39. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 95 „die, damals für mich größte[n], Stadt“ 436 - ist ein Indiz der inzwischen erfolgten Verortung in einem Netzwerk von Städten. Es zieht den jungen Andersen sofort zum Theater. In der Einschätzung der Jødefeide als gewöhnliches städtisches Geschehen und der darauf folgenden Bewegung zum Ort der Sehnsüchte wird die Gewaltsamkeit der Ereignisse, die Allan Mylius Thomsen „de alvorligste, [sic] etniske urogligheder i byens historie“ 437 („die schwersten ethnischen Unruhen in der Geschichte der Stadt“ [Übers. F. F.]) nennt, anerkannt und verdrängt zugleich. Die Vorstellung, die Jødefeide sei Teil des normalen städtischen Lebens, stellt der Erzähler im Nachhinein als provinzielle Naivität dar und markiert so, dass es sich nicht um den üblichen Lärm und Trubel handelte. Dass aber für das Theater trotz der Ereignisse Billetts verkauft werden (die der junge Andersen aus den Autobiographien nicht kauft, als er erschrocken erkennt, dass der Billettverkäufer, der ihn anspricht, sie ihm nicht schenken will, wie er gedacht hatte), verdoppelt diese naive Haltung gegenüber der Gewalt indirekt. Vor dem Hintergrund der Jødefeide, die in der Geschichtsschreibung meist in Beziehung gesetzt wird zur extrem angespannten wirtschaftlichen Lage Dänemarks, 438 erscheint das vom Theater gebotene Vergnügen wie ein Tanz am Abgrund. Das städtische Leben ist auch in Kopenhagen frivol im Sinne Siegfried Kracauers (der mit diesen Worten Offenbachs Paris beschrieb): „Die Frivolität: sie bestand nicht ohne weiteres darin, daß man die Wirklichkeit durch rauschende Vergnügungen übertönte, sie lag vielmehr nur dort vor, wo man den Ernst der Wirklichkeit spürte und sie dennoch auf die leichte Schulter nahm.“ 439 Aber nicht allein das Vergnügen im Angesicht der Krise war es, das die Menschen in die Städte zog. Meist war Migration durch Armut erzwungen, die sich auch aus Umwälzungen in den landwirtschaftlichen Produktions- und Besitzverhältnissen ergab. Das gilt vor allem für die Binnenmigration. Teils erforderte politische Verfolgung die Auswanderung in ein anderes Land. 440 Begegnungen mit politischen Exilanten finden sich auch in Mit Livs Eventyr, zum Beispiel mit Heinrich Heine und 436 MML, S. 30; vgl. Se 1, S. 197. 437 Thomsen 2000, S. 159. 438 Vgl. Bjørn 2003, S. 89; Thomsen 2000, S. 159 f.; Sonnenberg 2004, S. 24. Zur wirtschaftlichen Situation Dänemarks vgl. auch Bagger 2004, S. 13; Bohn 2001, S. 91 f.; Bjørn 2003, S. 113-117, 143-154; Feldbæk 1993, S. 162 f., 183-203; Hansen 1972, S. 103-112; Skovgaard-Petersen 1985, S. 63-68. 439 Kracauer 1980; S. 202. Zu dieser Einschätzung vgl. auch Auring u. a. 1984, S. 205 f.; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 179-184; Sonnenberg 2004, S. 27. 440 Vgl. Bade 2000, S. 28-31, 63-80, 98 f., 187-209; Bayly 2006, S. 166-168; Cameron 1992, S. 101 f.; Fäßler 2007, S. 84 f.; Findlay/ O’Rourke 2007, S. 407-411; Jones 1987, S. 28; Osterhammel/ Petersson 2007, S. 60 f; Sassen 1997, S. 47-49, 50-61. Bezüglich der Umwälzungen in der dänischen Landwirtschaft vgl. Bagger 2004, S. 13, 63-65; Bjørn 2003, S. 15-20, 38-64, 147-154; Bohn 2001, S. 90-95; Feldbæk 1982, S. 146-194; Skovgaard-Petersen 1985, S. 59-74, 94-121. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. auch Hvidt 1990, S. 26-29. Für das Kopenhagener Umland vgl. Københavns Amt 1999, S. 17-23. 2 Text-Räume 96 Peter Andreas Heiberg, den Vater Johan Ludvig Heibergs, in Paris. 441 Auch bei weniger unmittelbarem Zwang konnten der Wunsch nach sozialem Aufstieg und persönlicher Freiheit zum Verlassen des Geburtsortes führen. 442 Indem Andersen erklärtermaßen berühmt werden möchte und die Freiwilligkeit seines Weggangs aus Odense betont, träumt er diesen Traum in einer publikumsorientierten Variante. In globaler Perspektive werden diese Formen der Migration ergänzt durch die Fernmigration wie zum Beispiel Massenauswanderung in die USA, 443 die auch in Andersens Autobiographien Spuren hinterlässt. 444 Der Neuankömmling in Kopenhagen sucht bald die Tänzerin Madame Schall auf, um ihr sein Empfehlungsschreiben zu überreichen, das er dem alten Buchdrucker Iversen in Odense abgerungen hatte. Als er endlich vorgelassen wird, tanzt er einen weiblichen Solopart mit seinem Hut als Tamburinersatz vor, nachdem er sich zuvor seiner Stiefel entledigt hat. 445 Sowohl ein starker Aufstiegswunsch als auch eine gewisse Enthemmtheit sprechen aus diesem Verhalten: Die Stadt ist ein großes Versprechen. Freiheit und Wohlstand wollen sich jedoch nicht sofort einstellen. Nach der Tänzerin (die ihn für wahnsinnig hält) weist auch der Theaterdirektor den Bewerber ab. Aber das Versprechen des besseren Lebens hält auch den Abgewiesenen in der Stadt. Die Stadt, die Michel de Certeau eine „gigantische Rhetorik des Exzesses an Verschwendung und Produktion“ 446 nennt, zieht die Menschen an, die diese Rhetorik erst funktionieren lassen, und das stete Umschlagen von Integration und Überflüssigmachen, das moderne Städte kennzeichnet, 447 bedroht die soziale Position der Städter stets neu. In Andersens Autobiographien finden wir ein entsprechendes Umschlagen von kleinen Erfolgen auf dem Weg zur ersehnten Stelle am Theater in ihr Gegenteil. Das Auf und Ab ist begleitet von permanenter Armut. Die Kammer des Neuankömmlings liegt in einer Straße, die für Prostitution bekannt ist. Ihre in Mit Livs Eventyr 448 en passant erwähnte Umbenennung ist ein Indiz für die auch in Kopenhagen einsetzenden, allerdings noch nicht erfolgreichen Ordnungsbestre- 441 Vgl. Se 1, S. 232; MML, S. 88 f.; Se 2, S. 114 f., 118 f.; MLM, S. 145 f., 151 f. Die Begegnung mit Heiberg wird im Märchen meines Lebens ohne Dichtung nicht erwähnt. Zu den Hintergründen der Landesverweisung P. A. Heibergs vgl. Fjord Jensen u. a. 1983, S. 467 ff., bes. S. 482-487, 501-505 und Michelsen 2007. Heiberg trug auch zur Politisierung (und Nationalisierung) des Theaters wesentlich bei. Vgl. Fjord Jensen u. a. 1983, S. 566-577 und Michelsen 2007. 442 Sassen 1997, S. 59. 443 Vgl. ebd., S. 183-252, bes. S. 235 ff. 444 Vgl. z. B. Se 3, S. 29, 141; MLM, S. 490, 651 (vgl. S. 1 dieser Arbeit). Dass Andersens enge Freundin Henriette Wulff zeitweise in den USA lebte, war keiner geplanten Auswanderung, sondern einer schweren Erkrankung ihres Bruders während einer gemeinsamen Reise zu schulden. Vgl. Se 3, S. 204-207, 433 f. 445 Vgl. Se 1, S. 194, 197 f.; MML, S. 27 f., 31 f.; Se 2, S. 34-38; MLM, S. 37, 40 f. 446 De Certeau 1988, S. 180. Er bezieht sich an dieser Stelle auf New York. Vgl. auch Jensen/ Smidt (1982, S. 13-15) zu Kopenhagen als riskantem sozialem Möglichkeitsraum. 447 Vgl. de Certau, S. 184. 448 Vgl. Se 2, S. 42; MLM, S. 47. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 97 bungen, die Teil der „Transformation der Tatsache Stadt in das Konzept der Stadt“ 449 sind und im 19. Jahrhundert die ungeheuren Umgestaltungen europäischer Großstädte einleiteten. Die Bewohner des feinen Endes der Straße wünschten 1823 einen eigenen Straßennamen für ihren Teil derselben, um sich von der Prostitutionsgegend abzusetzen; diesem Wunsch entsprach Frederik VI nicht ganz, als er die ganze Straße umbenennen ließ. 450 Das Bündnis von Bürgertum, Adel und Königshaus war nicht frei von Reibungen. 451 Aber solche politischen Hintergründe begegnen uns in den Texten fast nie explizit. Auch die großen Umwälzungen, die das Antlitz der europäischen Städte veränderten, zum Beispiel die Anlage von Kanalisationssystemen, Gasbeleuchtungen oder ganzen Stadtvierteln, treten eher en passant in den Texten auf, seltener aus einer Perspektive des Überblicks. Das hängt damit zusammen, dass der Erzähler meist einen Weg durch die Stadt wählt. 452 Dieser Weg ist - beispielsweise durch andere Texte oder Bilder - verbunden mit einer Vorstellung von der Stadt, seine Erzählung stellt die Stadt in einer bestimmten Form erst her. 453 Vom Flaneur Benjamins unterscheidet den Autor Andersen jedoch, dass er nicht nur eine Stadt, sondern bald darauf ganz Europa durchwandert, und dessen Grenzen sogar phasenweise hinter sich lässt. Dies ist ein Aspekt, der ihn aus einer globalisierungstheoretischen Perspektive interessant macht. 454 449 De Certeau 1988, S. 183. Vgl. auch Çinar/ Bender 2007, S. xv; Benjamin 1991, S. 56 f. und passim, bes. die Konvolute C, E und P. Martin Zerlangs Überlegungen zur Wahrnehmung der Stadt lassen sich mit diesem Aspekt einer Konzeptualisierung verbinden. Vgl. ders. 2002a, bes. S. 7-20, 147- 156. Einen wichtigen Aspekt für die Konzeptualisierung Kopenhagens im Zeitraum 1844-1865, den Einfluss der Hygienebewegung auf die Stadtplanung, beleuchtet Ulrik Okkels Iversen (2004). 450 Vgl. Thomsen 2000, S. 61. 451 Vgl. Kofoed 1996b, S. 20; Skovgaard-Petersen 1985, S. 24-28, 166-172. 452 Zu dieser Perspektive allgemein vgl. auch de Certeau 1988, S. 85-92, 179 ff.; zu Andersens Texten vgl. Glienke 1996, S. 43-48. 453 Vgl. de Certeau 1988, S. 188-208; Çinar/ Bender 2007, S. xiv f. In Andersens literarischem Durchbruch, Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 (Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829) (1829), wird dieser Weg durch Stadt und Vorstellungswelt in einer phantasievollen intertextuellen Form vollzogen. In einer Szene tritt der Ich-Erzähler in ein gigantisches Kaleidoskop ein, das alle Theatereffekte des 19. Jahrhunderts (z. B. Wasserfälle, brennende Städte, gestrandete Schiffe und die Hölle) zeigt, nachdem ein Zeitsprung ins Jahr 2129 stattgefunden hat. Am Ende der Vorstellung versinken die Wände des Kaleidoskops im Boden, und der Ich-Erzähler bewegt sich durch einen Vorraum, der mit künstlichen Menschen bestückt ist, die sich durch Dampfkraft bewegen. Er durchquert eine Galerie, deren Bücherregale mit sprechenden Katalogen ausgestattet sind. Zuletzt landet er auf einem Turm, der einen Überblick, ein „Panorama“ (Bl, S. 181; FR, S. 28) über die Stadt erlaubt, und über seinem Kopf braust ein „Luft-Dampskib“ („Luft- Dampfschiff“) (ebd.) dahin. Schon in einem der ersten Texte spielt also die Stadt und ihre Wahrnehmung in Verbindung mit neuen Techniken eine zentrale Rolle. Zur kaleidoskopischen und panoramatischen Wahrnehmung der Stadt vgl. Zerlang 2002a, S. 147-156. Zur Fodreise insgesamt, auch hinsichtlich ihres Bezugs zur Großstadt vgl. Auken 1996; Bronfen 2009; Ipsen/ Nielsen 2005, S. 43-86. 454 Vgl. auch King 2007, S. 5-8. 2 Text-Räume 98 Diese Wanderung vollzieht sich jedoch, bevor sie auch ausgedehnte geographische Räume erschließt, zunächst an einem Ort, der einen zentralen transnationalen Raum im Dänemark des 19. Jahrhunderts darstellt: im Theater. Hier versammeln sich Menschen, Texte und Dinge aus ganz Europa. „’[…] Gaaer man i Theatret, da er Geographien ligesaa vigtig som Placaten, man maa vide hvor man er’“, 455 („’[…] Geht man ins Theater, ist die Geographie genauso wichtig wie das Plakat, man muss wissen, wo man ist’“, [Übers. F. F.]) heißt es in De to Baronesser. Das Zitat bezieht sich auf die Orte der dramatischen Handlung, die oftmals exotisch sein konnten. Aber nicht allein in diesem Sinne überschritt das Theater Ländergrenzen. Schon in den Kindheitsschilderungen ist der kleine Andersen Zuhörer, Zuschauer, Schauspieler und Autor von Theaterstücken, in seinem Puppentheater zudem noch Regisseur. Die ersten Vorstellungen in Odense, die er sieht, sind auf Deutsch. Die Stücke, die er sich als Kind ausdenkt, bestehen zum Teil aus einem sprachlichen Kauderwelsch aus deutschen, französischen und englischen Ausdrücken, das königliches Sprechen widerspiegeln soll. 456 Darin ist die große Rolle bereits angedeutet, die fremde Sprachen in der dänischen Kultur spielten; vor allem die Rolle des Deutschen wird in der Hauptstadt noch größer werden. 457 Die dänische Kulturelite hatte oft enge Kontakte zu deutschen Kollegen und teils auch ein deutsches Publikum. 458 Umgekehrt wurden in Dänemark deutsche Stücke in der Originalsprache aufgeführt und deutsche Theatergruppen tourten durch das Land. Dänemark war in weiten Teilen ein - mindestens - zweisprachiger Staat. Allerdings nahmen die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen Ende des 18. Jahrhunderts zu, und der dänische Staat betrieb eine zunehmend antideutsche Sprachpolitik. 459 Die Absonderung des Dänischen vom Deutschen (und, auf der anderen Seite, des Norwegischen vom Dänischen) war ein politischer Prozess, der sich hauptsächlich im 19. Jahrhundert vollzog. 460 Die damit einhergehende Normierung der dänischen Sprache ist ebenfalls ein politisches Projekt, das vorangetrieben wurde von Zeitgenossen Andersens wie Christian Molbech, dessen Interesse an Sprache im Kontext des aufkommenden Nationalismus stand. 461 Ein einflussreicher Ort, an dem diese Normierungsprozesse sich öffentlich vollzogen, war das Kongelige Teater. Dessen Bühne war einer der wenigen Orte im ansonsten von verschiedenen Dialekten gefärbten Dänemark, auf denen rigsmål (das 455 Ro 2, S. 341. 456 Vgl. Se 1, S. 179-195; MML, S. 3-29; Se 2, S. 13-35; MLM, S. 5-38. Zur sprachlichen Situation des Theaters in Odense vgl. auch Winge 1991, S. 127. 457 Vgl. Se 1, S. 201; MML, S. 36; Se 2, S. 41; MLM, S. 45. Vgl. auch Bagger 2004, S. 13; Brostrøm/ Lund 1991, S. 27; Detering 2001, S. 180 f.; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 188 f. 458 „Deutsche“ bezeichnet an dieser Stelle Einwohner der Staaten des Deutschen Bundes. 459 Vgl. Winge 1992, S. 325-334. 460 Vgl. Oxfeldt 2005, S. 56; Skovgaard-Petersen 1985, S. 190-198, 238-243; Winge 1991, S. 128- 149; 1992, S. 30-32, 325-334. Zur Abgrenzung des Norwegischen vom Dänischen vgl. auch Kapitel 3.3.3. 461 Vgl. Borup 1954, S. 168-172, 203-246; Brostrøm/ Lund 1991, S. 30; Conrad 1996, S. 112-120, 191-193. Zur Rolle von Sprachpolitik in Dänemark aus einer globalen Perspektive vgl. Jensen 2008a, S. 61 f. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 99 dänische Pendant zu Hochdeutsch) gefordert wurde. 462 Auch Christian Molbech war hier von 1830 bis 1842 Mitglied der Direktion, 463 und eine seiner bis heute bekannten Amtshandlungen ist eine vernichtende Kritik an Andersens ersten Einreichungen von Vaudevilletexten, dessen Schreiben er als Schmieren („smøre“) klassifizierte. 464 Dass Andersens Texte nicht den geltenden sprachlichen Normen entsprachen, war ein zentraler Angriffspunkt der dänischen Kritiker. 465 Bis heute wird in der Sekundärliteratur diskutiert, ob Andersen Legastheniker war. 466 Die Fixierung der Kritik auf das korrekte Schreiben erklärt sich auch aus der nationalen Bedeutung, die dem sprachlichen Normierungsprojekt zukam. Im Kongelige Teater wurden jedoch gleichzeitig zahlreiche Stücke deutscher, französischer und englischer Provenienz aufgeführt, was seiner Aufgabe einer nationalen Identitätsformierung vordergründig zu widersprechen scheint. 467 Das Theater spielte für das dänische nation building eine wichtige Rolle, und diese Rolle steht in einem engen Verhältnis zu seiner Eigenschaft als transnationaler Text-Raum. Das mutet zunächst paradox an. Es ist jedoch ein Charakteristikum des Nationalismus (insbesondere in seiner romantischen Ausprägung), dass er sich in einem transnationalen Austausch- und Abgrenzungsprozess entwickelte, 468 dessen Protagonisten im dänischen Fall nicht in nationale Schablonen passten. Das hängt damit zusammen, dass die Akkumulation literarischen, kulturellen und symbolischen Kapitals, 469 die im Prozess des nation building von großer Bedeutung ist, in der 462 Vgl. Brostrøm/ Lund 1991, S. 27 f. 463 Vgl. Engberg 1995, S. 148, 226. Borup (1954, S. 196) charakterisiert Molbechs Ernennung zum Theaterdirektor als „total Mistforstaaelse“ („totales Missverständnis“), da dieser nicht die Voraussetzungen für diese Aufgabe erfüllt habe. Sein Spezialgebiet war die Zensur, bei den übrigen Au gaben mischte er sich selten ein. Vgl. ebd., S. 197-199. 464 Vgl. Brostrøm/ Lund 1991, S. 36 f. Vgl. auch Sondrup Andersen 2005, S. 203-205, 226 f., 230 f. Zu Molbechs Angriffen auf Andersens Dramen vgl. auch Se 2, S. 194-197; MLM, S. 254-257. 465 Vgl. z. B. Se 1, S. 206 f., 224-230; MML, S. 47 f., 75-84; Se 2, S. 54, 88-98, 173 f.; MLM, S. 64, 111-125, 226 f.; Brøndsted 1972, S. 44-49, 52; Brostrøm/ Lund 1991, S. 36 f. 466 In der jüngeren Forschung wird dies verneint. Vgl. Brostrøm/ Lund, S. 29-31; Kihl/ Gregersen/ Sterum 2001. 467 Vgl. Auring u. a. 1984, S. 211-217, 229-234, 244-246; Engberg 1995, S. 181-183, 199-217, 229- 231, 291 f., 319, 323 f., 339, 345 f.; Kristensen 1965, S. 47-51; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 203-205, 216-220. Shakespeare wurde jedoch Anfang des 19. Jahrhunderts vom dänischen Publikum schlechter angenommen als in anderen europäischen Ländern, was auch mit dem Krieg zusammenhing. 468 Michelsen 2008, S. 13-84, bes. S. 50-56; Kofoed 1996b, S. 17-20; Rerup 1992, S. 338; Skovgaard-Petersen 1985, S. 190-198. 469 Die Begriffe kulturelles und symbolisches Kapital gehen auf Pierre Bourdieu zurück, der Begriff literarisches Kapital auf Pascale Casanova, die sich auf Bourdieu bezieht (vgl. S. f. und Kap. 2.3.2 zu Casanova). Bourdieus Theorie des literarischen Feldes ist ein wertvoller Ansatz zur Beschreibung von Literatur, weil er in der Lage ist, die Komplexität von Beziehungen auch als Machtverhältnisse aufzuzeigen, ohne dabei kulturelle Faktoren und deren Eigendynamik zu vernachlässigen. Bei Bourdieus Beschreibung von Autonomisierungsprozessen im literarischen Feld in seinem Hauptwerk zu diesem Thema, Die Regeln der Kunst (2001), gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass er sich auf einen bestimmten historischen und geographischen Ausschnitt beschränkt, der von meinem abweicht. Zudem ist sein Ansatz eher anthropozentrisch. Die Aussagekraft seiner 2 Text-Räume 100 (in diesem Falle: dramatischen) Literatur, aber auch in Musik und Tanz, vielfach über Zentren verlief, die sich außerhalb Dänemarks befanden, insbesondere Deutschland und Frankreich. Kopenhagen dagegen hatte eine Doppelstellung, die sich (sowohl in kultureller als auch ökonomischer Hinsicht) als semiperipher charakterisieren lässt: Einerseits lag es am Rande der europäischen Zentren, andererseits war es ein Zentrum Skandinaviens 470 und bis ins 20. Jahrhundert hinein Hauptstadt und Handelszentrum einer Kolonialmacht. Bis 1845 war Tranquebar dänische Kolonie, erst 1916 wurden die westindischen Besitzungen Dänemarks an die USA verkauft. Die Färöer Inseln und Grönland wurden zwar im Laufe des 20. Jahrhunderts innenpolitisch weitgehend selbstständig, sind aber bis heute mit Dänemark in rigsfællesskab („Reichsgemeinschaft“) verbunden. Von den Kolonien im Norden wurde neben dem nach dem verlorenen Krieg 1814 an Schweden abgetretenen Norwegen einzig Island vollständig unabhängig. 471 Die Positionierung als koloniales Zentrum und europäische Peripherie wirkte sich auf die dänische Selbstbilder aus. Mit dem Verlust Norwegens gerieten diese zusätzlich in Bewegung: „The fact that the double monarchy split internally forced the two nations to view what had previously been considered part of the Self as the Other. Positions in Self-Other and center-periphery binaries are thus slippery and also relative.“ 472 Zahlreiche Akteure mit einer zentralen Funktion für die Konstruktion einer nationalen Identität durch das Theater hatten einen zumindest bikulturellen Hintergrund und Zugang zu Kunst, der sich zwischen Zentren und Peripherien bewegte. So war zum Beispiel die nordische Tragödie Hakon Jarl des deutsch-dänischen Grenzgängers Oehlenschläger, dessen Dramen und Gedichte von großer Bedeutung für die Formierung einer dänischen Nationalliteratur waren, in Deutschland entstanden. Oehlenschläger schrieb und publizierte sowohl auf Dänisch als auch auf Deutsch und sein Literaturverständnis war wesentlich von der deutschen Romantik geprägt. 473 Nach Elisabeth Oxfeldt setzt Aladdin die dänische nationale Identität von Studie zu Genese und Struktur des literarischen Feldes für mein Gebiet ist dadurch eingeschränkt. Vgl. Bourdieu 1983; 1985, S. 10 f.; 2001; Jurt 1995, S. 78 f.; Müller 1986, S. 164-169. 470 Vgl. Auring u. a. 1984, S. 13; Oxfeldt 2005, S. 11-15. 471 Zu Dänemarks aktuellem Selbstbild als ehemalige Kolonialmacht vgl. Jensen 2008a. Einen kurzen, ansatzweise kritischen Überblick über alle Kolonien liefert Døygaard (2002). Dänemark war ein Vorreiter der Abschaffung des Sklavenhandels (die jedoch bis 1848 nicht die Sklaverei selbst mit einschloss). Svend E. Green-Pedersen (1979) weist auf die ökonomischen Hintergründe der Abschaffung des Sklavenhandels hin. Vgl. auch Hornby 1980, S. 180-189. Die spätere Abschaffung der Sklaverei ist vor allem auf den politischen Druck zurückzuführen, den Sklaven ausübten, und der sich angesichts der Entwicklungen in den englischen und französischen Kolonien noch verschärfte (vgl. Fihl 2008, S. 98; Hornby 1980, S. 243-261; Hoxcer Jensen 1983, S. 43 f.; Jensen 2008b). Ole Feldbæks (1982, S. 208-221) Darstellung Bysamfundet 1730-1807 (Die Stadtgesellschaft 1730-1807) verdeutlicht zudem, wie stark insbesondere die Kopenhagener Geschichte mit der kolonialen verwoben ist. Vgl. zu diesem Aspekt auch Jensen 2008c; Lauring 1998. 472 Oxfeldt 2005, S. 13. 473 Vgl. Anz 2001; Engberg 1995, S. 185 f.; Kofoed 1996b, S. 17-19; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 198-200; Svane 2008. Umgekehrt war Oehlenschläger auch in Deutschland erfolgreich. Vgl. Albertsen 2001; Anz 2001, S. 148-150. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 101 Deutschland ab, indem es eine Verbindung zwischen Dänemark und dem Orient etabliert. Die komisch gebrochene Orientalisierung Kopenhagens ließ dessen nationale Charakteristika erst sichtbar werden. Zugleich trat der Text in Konkurrenz zu französischen Übersetzungen von 1001 Nacht und stellte so auch eine Verbindung zu Frankreich her, die Oxfeldt als Abgrenzung von Deutschland liest. 474 Zwar ist diese Interpretation zu eindeutig antideutsch, da Oehlenschläger sich mit seinen Dramen, darunter Aladdin, auch auf dem deutschen Markt präsentierte. 475 Es gilt aber, den transnationalen Charakter des Stückes, seine Verortungsfunktion für Dänemark und die Doppelbesetzung des Orients 476 durch Identifikation und Fremdheit festzuhalten. Auch Heibergs Vaudevilles, die auf der Grundlage französischer und deutscher Musik entstanden, waren an den patriotisch-royalen Konsekrationen, deren Schauplatz das Theater zunehmend werden sollte, maßgeblich beteiligt. 477 Und der Durchbruch der dänischen Musik, die als national gilt, wurde hauptsächlich getragen von Künstlern, die aus dem Ausland stammten: 478 Der Kapellmeister und die Komponisten des Theaters waren in Deutschland geboren worden, der Erste Sänger in Frankreich und der Gesangsmeister Siboni, der zu den frühen Förderern Andersens gehört, 479 in Italien. Der Fall des Ballettmeisters August Bournonville ist charakteristisch für die Akkumulation kulturellen und symbolischen Kapitals für Dänemark in einer Stadt des Zentrums. Paris war die zentrale Ballettstadt des 19. Jahrhunderts, sodass Bournonvilles Ausbildung dort besonders wertvoll war. Durch diese Ausbildung stieg Bournonvilles Bedeutung für Dänemarks Ballett, die er selbstbewusst ausspielte. Dabei riskierte er sogar einen Bruch mit dem König und setzte schließlich seine Vorstellungen hinsichtlich Stellung und Salär am Theater durch. Er sollte das Ballett auf internationales Niveau bringen, was ihm nicht ganz gelang: Auch seine erfolgreichsten Solotänzerinnen ließen sich in Paris fortbilden. 480 Akteure wie Oehlenschläger, Heiberg, Siboni oder Bournonville haben in Andersens Autobiographien eine wichtige Stellung als Förderer oder Kritiker inne. Damit 474 Vgl. Oxfeldt 2005, S. 22-53, bes. S. 22-27. 475 Vgl. Albertsen 2001, S. 134; Anz 2001, S. 155. 476 Der Orient wird hier mit Edward Said (2003) als eine imaginierte Einheit verstanden, die keine geographische Entsprechung haben muss. Vgl. ebd., S. 4-7, 49-73. Zur orientalistischen Imagination gehörte im dänischen Falle meist auch China. 477 Vgl. Engberg 1995, S. 199-202; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 210-216. Heibergs Ästhetiktheorie war maßgeblich von Hegel beeinflusst. Vgl. Auken 2008a. 478 Vgl. Engberg 1995, S. 202-231; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 205 f. 479 Vgl. Se 1, S. 199 f.; MLM, S. 34-36; Se 2, S. 40-43; MML, S. 43-48. 480 Bournonville war der Sohn des aus Frankreich stammenden Antoine Bournonville. Seine Ausbildung hatte das Kongelige Teater finanziert, deshalb verstand es Bournonvilles zwischenzeitliches Engagement in Paris als Vertragsbruch und es kam zu Auseinandersetzungen, die seine Heimkehr verzögerten. Vgl. Engberg 1995, S. 255-278; Fridericia 1979. Die Konflikte, die sich anlässlich der Ausbildung seiner Primaballerinen in Paris ergaben, bewerten Engberg und Fridericia unterschiedlich. 2 Text-Räume 102 bilden die Autobiographien ein Netzwerk von Texten und Personen ab, die im Theater zusammenkommen. Zudem wird die politische Funktion des Theaters als öffentlicher Raum in den Autobiographien deutlich. 481 Das Kongelige Teater hatte eine einflussreiche Stellung in der öffentlichen Meinungsbildung. Potentiell versammelte es insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts alle Schichten und war einer der wenigen Orte ihrer regelmäßigen Zusammenkunft in hoher Zahl und Dichte. In Mit Livs Eventyr heißt es: „Paa den Tid da Politiken aldeles ingen Rolle spillede hos os, var Theatret ‚det Offentlige’ [...]“ 482 („In jener Zeit, als die Politik bei uns noch keine Rolle spielte, war das Theater ‚das Öffentliche’ [...]“ [Übers. F. F.] 483 ). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Publikum homogener und das Kongelige Teater elitärer. Gleichzeitig verlor es durch wachsende Konkurrenz an Bedeutung. 484 Jürgen Habermas hat in Strukturwandel der Öffentlichkeit einen grundlegenden Wandel dargestellt, der sich im 19. Jahrhundert vollzog: von einer repräsentativen zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Im Kongelige Teater koexistierten diese beiden Formen verhältnismäßig lange. Obgleich die Position des Königs in der Öffentlichkeit schwächer wurde, verschwanden repräsentative Elemente nicht. Im Theater lässt sich die gleichzeitige Stärkung des Bürgertums bei Erhaltung repräsentativer monarchischer Elemente beobachten. Die Struktur des Raumes ist dabei für seine Funktion von großer Bedeutung. So war zum Beispiel im frühen 19. Jahrhundert das Stehparkett der Ort der Kritik im Kongelige Teater. 485 In Andersens Autobiographien finden sich die Regeln für deren Ausübung: Fünf Minuten lang durfte nach einem Stück applaudiert oder gepfiffen werden. 486 Die Bedeutung des Theaters als städtischer Raum spiegelt sich auch in seiner zentralen Lage am vornehmsten Platz der Stadt wieder. Schon bald nach seiner Eröffnung im Jahr 1748 musste es erweitert werden. Insbesondere der Eingangsbereich erwies sich als zu klein. Er wurde 1774 um einen tempelartigen Anbau und 1792 um zwei Zugangspavillons ergänzt, die es den fahrenden Gästen erlaubten, trockenen Fußes ins Theater zu gelangen. Zudem wurde der Theaterraum ständig ausgebaut. Schon in den 1850ern wurden Diskussionen über die Errichtung eines ganz neuen Gebäudes geführt, das in den 1870ern schließlich errichtet wurde. 487 Die Verbindung mit dem Stadtraum ebenso wie die Aufnahmekapazität wurde also suk- 481 Diese Rolle veränderte sich im Zuge des politischen Wandels in Dänemark stetig, insbesondere mit Verabschiedung des Grundgesetzes 1849. Das Theater war jedoch über weite Teile des 19. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung für die literarische Öffentlichkeit Dänemarks. Vgl. Auring u. a. 1984, S. 21, 205-263; Engberg 1995, S. 175-178, 219-227, 293-302; Hvidt 1990, S. 179 f.; Kofoed 1996b, S. 20; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 177 f., 189-194. 482 Se 2, S. 192. 483 In MLM wird übersetzt: „die ‚Öffentlichkeit’“ (statt „’das Öffentliche’“). Vgl. MLM, S. 249. 484 S. S. 1 -1 . 485 Vgl. Engberg 1995, S. 176 f., 309. Zur Raumordnung im Theater vgl. auch Habermas 1990, S. 100. 486 Vgl. Se 1, S. 249 f.; MML, S. 115; Se 2, S. 191-193; MLM, S. 251. In Se 1 sind zehn Minuten angegeben. 487 Vgl. Nørlyng 2002, S. 6-14. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 103 zessive erweitert, das Theater öffnete sich aufgrund des Andrangs auch architektonisch. Die Bedeutung räumlicher Strukturen und einer physischen Präsenz der Versammelten sowie einer über rationale Verständigungsprozesse hinaus-gehenden Kommunikation als wichtige Facetten von Öffentlichkeit betonen Alev Çinar und Thomas Bender in ihrer Einführung The City: Experience, Imagination, and Place. Damit ergänzen sie Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff. 488 Dieser kann zudem - anknüpfend an Benedict Andersons Darstellung der Bedeutung kapitalistischer Druckmedien für die Erzeugung einer nationalen Identität 489 - auch hinsichtlich der Rolle des Theaters für die Bildung einer nationalen Identität weiter gedacht werden. Habermas bettet die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in das Zusammentreffen vom sich seit der Frühen Neuzeit verdichtenden transnationalen Waren- und Nachrichtenverkehr mit den entstehenden National- und Territorialstaaten ein. 490 Die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit wird damit in ihren Voraussetzungen im bereits beschriebenen Spannungsfeld von national und transnational verortet. Nicht allein ihre Entstehung ist jedoch in diesem Spannungsfeld angesiedelt. Auch die Elemente des ausgebildeten Netzwerks im Sinne Latours, das sich mit dem Kongelige Teater und seiner öffentlichen Rolle verbindet, bewegen sich zwischen nationalem und transnationalem Pol: Welche Texte, Requisiten, sprachlichen und inhaltlichen Normen, Bühnenbilder etc. Eingang fanden, war stets das Ergebnis eines konfliktvollen Austauschprozesses. In Andersens Texten ist das Theater ein zentraler Bestandteil städtischen Lebens, der selbst urbanen Charakter hat. Hier ballten sich Menschen unterschiedlicher sozialer Positionen und Herkunft relativ eng zusammen und blieben dabei zugleich durch sich wandelnde materielle und immaterielle Grenzziehungen geordnet, wie es für urbane Räume des 19. Jahrhunderts charakteristisch ist. Die Ordnung des Publikums entsprach zu Beginn noch der feudalen Stadt, in der die unterschiedlichen Stände sich räumlich sehr nahe sind, allerdings eine klare Unterscheidung zwischen den Ständen bzw. Adelsrängen herrscht. Im Falle des Theaters erfolgte die Differenzierung durch die verschiedenen Logen und Saalplätze. Bis in die 1820er gab es zudem traditionell Gratisplätze für Maschinisten auf einer Brücke über die Kulissen. 491 Mit dem Bürgerlichwerden des Theaters verschwanden sukzessive die Vorrechte des Adels, aber auch der „Pöbel“ und das Stehparterre, dem in absolutistischen Zeiten Möglichkeiten eingeräumt worden waren, Kritik zu äußern - „at nogen anden 488 Vgl. Çinar/ Bender 2007, S. xiii f. 489 Vgl. Anderson 1983, bes. S. 28-49, 67-79. Oxfeldt (2005, S. 64 f.) verweist ebenfalls auf die Möglichkeit, Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit mit Benedict Anderson zu erweitern und zeigt außerdem, dass in der dänischen literarischen Öffentlichkeit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts apolitische Unterhaltung keineswegs ungewöhnlich war. 490 Vgl. Habermas 1990, S. 69-85. 491 Vgl. Auring u. a. 1984, S. 262 f.; Engberg 1995, S. 173-178, 221-224; Jensen/ Smidt 1982, S. 32; Se 2, S. 234 f.; MLM, S. 305 f. Auch das Märchen Moster (Tantchen) (1866) befasst sich u. a. mit dieser Raumaufteilung und deren Veränderung. 2 Text-Räume 104 samfundsgruppe skulle ønske at lade kritik komme til udtryk, anså man ikke for tænkeligt.“ 492 („dass irgendeine andere gesellschaftliche Gruppe Kritik zu äußern wünschte, sah man als undenkbar an.“ [Übers. F. F.]). Das Publikum des Kongelige Teater wurde homogener, während zugleich private Theater auch für die verdrängten Schichten an Anziehungskraft gewannen. Die kleinstädtische Ausgabe des Theaters in Slagelse, die Andersens Autobiographien zeichnen, hat dagegen parodistische Züge: In einem alten Stall angesiedelt, von dem aus man die Kühe hören kann, und mit einer Kulisse versehen, die Slagelse selbst darstellt und somit den Schauplatz aller Stücke dorthin verlegt, ist es das provinzielle Gegenstück zur Illusionsmaschine des Großstadttheaters, bei dessen erstem Besuch der kleine Andersen in Tränen ausbrach. 493 Aber auch in Slagelse sind Schüler anzutreffen, die nicht dort geboren sind und auch nicht dort bleiben werden, so wie der junge Andersen. Die Welt ist in Bewegung. Später wird der Autor auf seinen Reisen durch ganz Europa an zahllosen Abenden Aufführungen besuchen, von denen die Reisebücher und Autobiographien erzählen. Denn nicht nur die Texte, die Musik, der Tanz und die Künstler waren transnational, auch die Berichterstattung wurde es zunehmend. Andersens Autobiographien und Reisebücher sind Zeugnisse dieser Tatsache und nutzen sie zugleich, um die eigene Prominenz zu erweitern. So kann das fortgesetzte Schreiben über die Opernsängerin Jenny Lind, die Andersen kennen lernte, als sie noch kein Weltstar war, auch als Teil einer europäischen Vermarktungsmaschinerie gewertet werden. Es hob ebenso sehr Linds wie Andersens Status. 494 Sowohl in der deutschen als auch der dänischen Autobiographie lässt der Erzähler Linds Namen fallen (die Praxis des name dropping ist ein hervorstechendes Merkmal der Autobiographien), deren Berühmtheit in ganz Europa er in diesem Zusammenhang ebenso hervorhebt wie ihre enge Freundschaft. 495 Obgleich der Einschließung immer auch eine Ausschließung entspricht und nicht jeder Kopenhagener den Eintritt für das Theater zahlen konnte, war es doch ein Vergnügen, das sich nahezu alle Schichten zumindest ab und an leisteten. 496 Diese Eigenschaft verlor das Kongelige Teater jedoch unter Johan Ludvig Heibergs Führung ab den 1830er Jahren zunehmend, als das Bürgertum begann, die unteren Schichten aus diesem Raum zu vertreiben, indem es sein elitäres Kulturverständnis 492 Vgl. Engberg 1995, S. 309. Das Zitat bezieht sich auf den Umbau von 1857. 493 Vgl. Se 2, S. 38 f., 66; MLM, S. 41 f., 79; Se 1, S. 198, 212 f; MLM, S. 33, 57. 494 Elias Bredsdorff stellt heraus, wie ausgeklügelt diese Strategien bereits im 19. Jahrhundert waren. Vgl. ders. 1983, S. 228. Vgl. auch Engberg 1995, S. 287 f. 495 Vgl. Se 1, S. 280-283; MML, S. 161-167; Se 2, S. 271-275, 312-314; Se 3, S. 33-41; MLM, S. 356-363, 417-421, 497-507. Die Charakterisierung dieser Freundschaft als Geschwisterverhältnis wird teilweise als enttäuschte Liebe interpretiert, insbesondere unter Bezugnahme auf Tagebuchmaterial. Vgl. z. B. Andersen 2005, S. 395-403; Bredsdorff 1983, S. 195-198, 206-211. 496 Vgl. Engberg 1995, S. 173, 222 f.; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 192. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 105 sukzessive durchsetzte. 497 Auf die elitäre Tendenz des Kongelige Teater antworteten die privaten Theater. Die sozialen Grenzen wurden dabei neu gezogen, der städtische Raum neu aufgeteilt. Die Stadt war Ort ständiger Veränderungen. Das Kongelige Teater, das den jungen Andersen letztlich nach Kopenhagen zieht, ist ein dicht besetzter gesellschaftlicher Raum. Einerseits war es nach Dorthe Sondrup Andersen der Ort des (städtischen) Versprechens vom sozialen Aufstieg; 498 auch wenn dieser Aufstieg keine vorbehaltlose Aufnahme in die bürgerliche Gesellschaft bedeuten musste. Darsteller und insbesondere Darstellerinnen wurden auf der Bühne bewundert, galten außerhalb des Theaters jedoch oft als moralisch zweifelhafte Personen. 499 Andersens Sehnsucht, eigene Stücke aufgeführt zu sehen, lässt sich auf die zentrale Funktion des Theaters im öffentlichen Leben Dänemarks zurückführen. Sondrup Andersen nennt das Kongelige Teater des 19. Jahrhunderts einen „massekommunikationsapparat med kun én kanal“ 500 („Massenkommunikationsapparat mit nur einem Kanal“ [Übers. F. F.]). Vor allem war es jedoch einer der wenigen Orte, an denen Autorschaft bereits mit einem nennenswerten Lohn verbunden war. Das Theater zahlte nach der Länge des Stücks und der Anzahl der Aufführungen, die sich wiederum nach dem Zuspruch des Publikums richtete. 501 Es ist damit auch Teil einer Vergnügungsindustrie, die Kopenhagen im 19. Jahrhundert deutlich zu prägen begann. 502 Diese Prägung wurde insbesondere mit der Anlage des Tivoli sichtbar, die 1843 in einer ersten, aus militärischen Gründen leicht abreißbaren Form erfolgte. 503 Im Tivoli wurde bald darauf auch das erste private Theater, das Casino, eröffnet, nachdem das Theatermonopol 1848 aufgehoben worden war. Schon vor dieser Aufhebung gab es Aufführungen - vor allem von Pantomimen nach englischem und italienisch-französischem Vorbild - auf den Jahrmärkten und in den kleinen Thea- 497 Vgl. Engberg 1995, S. 219 f.; Kristensen 1965, S. 63 67; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1993, S. 21 24. Zu Heibergs Kritik am bislang in Kopenhagen herrschenden Geschmack vgl. Zerlang 2002a, S. 24-28. 498 Vgl. Sondrup Andersen 2005, S. 11-13. Bredsdorff (1983, S. 183 f.) betont, dass die wenigen Aufsteiger Dänemarks, denen es gelang, Klassenschranken zu durchbrechen, Künstler waren und nennt als Beispiele die Schauspielerin Johanne Luise Heiberg, den Bildhauer Bertel Thorvaldsen sowie Hans Christian Andersen. Vgl. auch Kristensen 1965, S. 24. 499 Vgl. Engberg 1995, S. 161-170; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 194-196. Für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert vgl. die Schilderungen bei Fridericia 1979, S. 14-23, 67 f. Vgl. auch Ro 2, S. 367-369. 500 Sondrup Andersen 2005, S. 12. Vgl. eine entsprechende Bemerkung in Se 2, S. 194; MLM, S. 254. 501 Vgl. Se 1, S. 227 f., 250; MML, S. 79-81, 115 f.; Se 2, S. 92-94, 193 f.; MLM S. 118-122, 252 f.; Se 3, S. 112; MLM, S. 611; Re 1, S. 19 f.; Wechsel 2005, S. 122-124. Zur Berechnung des Honorars vgl. auch Sondrup Andersen 2005, S. 260. Zu Andersens finanzieller Abhängigkeit vgl. Auring u. a. 1984, S. 134-137; Houe 1996, S. 149 f. 502 Vgl. Busk-Jensen u. a. 1985, S. 108-116; Hvidt 1985, S. 175-180; Jensen/ Smidt 1982, S. 33-40. 503 Kopenhagen war von Gebieten umgeben, in denen keine Steingebäude errichtet werden durften, damit im sie Kriegsfall schnell geräumt werden konnten. Diese Gebiete verschoben sich sukzessive nach außen. Vgl. Jensen/ Smidt 1982, S. 33-35, 91 f. 2 Text-Räume 106 tern außerhalb der Stadtmauern, aber mit dem Fall des Theatermonopols nahm die Entwicklung privater Unterhaltungsstätten zusätzlich Fahrt auf. 504 Zugleich veränderte sich mit der Eröffnung des Tivoli die Ökonomie der Kultur ebenso wie das Stadtbild. Beide Aspekte sind miteinander verzahnt: Der Tivoli war durch eine Aktiengesellschaft finanziert worden und hatte eine erste Bresche in die Abgrenzung der Stadt vom Umland geschlagen. 505 Aktiengesellschaften waren es auch, die den Ausbau der Stadt vorantrieben. 1852 erlaubte die Versetzung der Demarkationslinie die Entstehung neuer Stadtviertel vor den Toren der Stadt, ab 1856 wurde die Festung stillgelegt und teilweise eingerissen. 506 Der Tivoli ist damit das erste Element einer Erweiterung der Stadt in Richtung einer offenen Stadt, die sich durch ihre unklaren Grenzen nach dem Fall der Stadtmauern auszeichnet. Diese Öffnung der Stadt hat Teil an einer gesamteuropäischen städtebaulichen Tendenz. 507 Ökonomisch betrachtet ist der Tivoli ein Zeichen der Umstrukturierung der Finanzwelt Dänemarks Mitte des 19. Jahrhunderts, in der private Banken und Aktiengesellschaften an Bedeutung gewannen; dabei orientierte man sich an der Londoner Finanzwelt. 508 Auch hier kann man von einer neuen Offenheit sowie einer Bereitschaft zum kalkulierten Risiko, das erst die Ausbreitung kapitalistischer Wirtschaftsformen erlaubt, 509 sprechen. Die in der zweiten Jahrhunderthälfte einsetzenden Großbauprojekte entsprachen dem sich verändernden Gesicht der Stadt, die aufgrund ihres starken Bevölkerungswachstums neue Formen finden musste, ihre Bevölkerung zu organisieren. Neben dem Durchbrechen einer traditionellen Stadtform reetabliert der Tivoli allerdings eine „by i byen“ („Stadt in der Stadt“) 510 , wie Martin Zerlang geschlossene, um ein Zentrum geordnete und konzentrierte städtische Räume nennt. Beide Aspekte sind Teil derselben urbanen Ordnung: Die moderne Großstadt bringt geschlossene, ähnlich wie ein Interieur strukturierte Räume besonders in dem Mo- 504 Vgl. Engberg 1995, S. 311-313; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1992, S. 230-245, 248; 1993, S. 12-14, 38-48, 54-56. Eine weitere Form privater Theater waren Amateurtheater in Handwerkerclubs. Vgl. Kristensen 1965, S. 22. 505 Vgl. Zerlang 2002a, S. 14. 506 Vgl. Københavns Amt 1999, S. 21; Jensen/ Smidt 1982, S. 91-104, 124-128, 150-157. 507 Vgl. Hansen 1968; Haugsted 1993, S. 13-57; Pedersen 1980; Zerlang 2002a, S. 11-15 und passim. 508 Vgl. Skovgaard-Petersen 1985, S. 87-90. 509 Zu diesem Zusammenhang vgl. Bonß 1995. 510 Vgl. Zerlang 2002a, bes. S. 16-24. Das Kongelige Teater ist ebenfalls eine Form der „by i byen“. (Vgl. ebd., S. 17.) Zwar war Kopenhagen zur Zeit seiner Entstehung noch eine städtebaulich geschlossene (von Stadtmauern umgebene) Stadt, aufgrund seines extremen Außenhandels war Kopenhagen in einem bestimmten Sinne jedoch auch damals offen. Diese ökonomisch begründete Offenheit reduzierte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts während der Wirtschaftskrise und wuchs ab ungefähr 1828, nach dem Ende der Landwirtschaftskrise, wieder an. Vgl. Hansen 1972, S. 137 ff. Meine Überlegungen sind Martin Zerlang zu Dank verpflichtet. Im Rahmen eines Gaststipendiums der Georg Brandes Skole vom 7. Dezember 2008 bis 7. Februar 2009 hatte ich Gelegenheit zu einem Gespräch, in dem er mir wertvolle Hinweise gab. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 107 ment hervor, in dem sich ihre physischen Grenzen öffnen und sie dadurch unüberschaubar wird. Ausgrenzung und Einschließung werden hier neu verhandelt. Die räumliche Absonderung von Arbeit und Freizeit teilt den phantasmagorischen Charakter des Interieurs. Im Tivoli wird ge- und verkauft, aber der Handel hat das Gesicht des Vergnügens. Martin Zerlang beschreibt den Tivoli jedoch zugleich als Ort, in dem urbane Verhaltensweisen und eine demokratische Kultur entstehen konnten. 511 Diese Formen waren auch im Falle des Tivoli stark transnational geprägt: Architektonischer Orientalismus und europäische Vorbilder anderer Vergnügungsstätten waren für seine Gestalt ausschlaggebend, außerdem waren die Gründer des Tivoli immer wieder auch im Ausland tätig. 512 Bernhard Glienke verdeutlicht, wie Kopenhagen in Andersens Texten in einem Netzwerk von Städten positioniert wird, und wie sich diese Stellung mit dem Wandel des architektonischen Antlitzes der Stadt verschiebt. Kopenhagen wird unter anderem als Paris des Nordens imaginiert. Diese Imagination verbindet Glienke mit der Errichtung des Tivoli, der Ausdruck einer neuen Konsumkultur ebenso wie des bevorstehenden politischen Systemwechsels ist. 513 Auch Oxfeldt zeigt, dass der Tivoli ein wichtiges Element in der Positionierung Dänemarks in der Welt war. 514 Diese Positionierung beinhaltet eine wachsende Identifikation mit einer Massenkultur, die neue Formen der Wirtschaft und des Vergnügens hervorbringt, die miteinander verbunden sind. Der Konsum exotischer Genusswaren, die Kleidung moderner Industrieprodukte in ein orientalisches Gewand und die ersten Formen ökonomischen Freihandels von Luxuswaren in Dänemark auf dem Basar des Tivoli ließen diesen zu einem Experimentierfeld urbaner Verhaltensweisen und neuer Wirtschaftsformen werden, die von vorneherein in ein globales ökonomisch-soziales Netzwerk eingebettet waren. Die weltläufige Urbanität wurde in ihrer Miniaturisierung zugleich scheinbar überschaubar. Durch die Orientalisierung erhielt sie ein exotisches Kleid, das einerseits die Entstehung einer modernen Massenkultur und der sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen (noch) verschleierte und imaginär in der Fremde verortete. Gerade die Orientalisierung erlaubte es jedoch zugleich, sich mit neuen Verhaltensweisen und modernen Dingwelten vertraut zu machen sowie neue künstlerische Formen auszuprobieren. 515 Paradoxerweise waren der Orient und insbesondere China um 1839-42, also zur Zeit des Opiumkrieges, auch eine Chiffre für die Rückständigkeit der absolutisti- 511 Vgl. Zerlang 2002a, S. 97-107; 2002b. Das Kapitel zum Tivoli in Bylivets kunst ist zuvor auf Englisch als Aufsatz erschienen, der sich von der Buchfassung jedoch leicht unterscheidet. Vgl. ders. 1993. Vgl. auch Busk-Jensen u. a. 1985, S. 13, 110. 512 Vgl. Haugsted 1993, S. 11 f., 58-61, 68-70, 74, 102 ff.; Oxfeldt 55-58, 67-82; Zerlang 1993, bes. S. 89-106; 2002, bes. S. 107-122. 513 Vgl. Glienke 1996, S. 42. 514 Vgl. Oxfeldt 2005, S. 55-58, 67-82. 515 Vgl. ebd.; Zerlang 1997; 2002a, S. 101-122. 2 Text-Räume 108 schen Regierungsform. Diese Chiffre erlaubte es, die Zensur zu umgehen. 516 Vergangenheit und Zukunft wurden so in Gestalt des Orientalischen distanziert, dabei miniaturisiert und scheinbar kontrollierbar und kamen dadurch auf einer anderen Ebene der Bevölkerung erst nahe. Vielleicht wurde aus dieser Position heraus das Jetzt erst greifbar? Auch in Mit Livs Eventyr wird der Tivoli transnational positioniert, er „kan maale sig med, om det ikke overgaaer i Anlæg og Plan, alle andre lignende Forlystelsessteder“ 517 („kann sich mit allen anderen vergleichbaren Vergnügungsstätten messen, wenn nicht in Anlage und Plan übertreffen“ [Übers. F. F.] 518 ). Der Erzähler betont, dass der Gründer des Tivoli, Georg Carstensen, inzwischen in Amerika Anerkennung genießt, nachdem er den Glaspalast von New York 519 errichtet hat. „Vi havde da en ung talentfuld Mand, begavet med et mærkværdigt Talent til, uden selv at have Midler, dog at bringe disse tilveie, naar det gjaldt om at gjennemføre en Idee, et virkeligt Genie i sin Virken, han vidste at skaffe Kjøbenhavnerne et ‚Tivoli’“ [...] 520 („Wir hatten damals einen jungen, talentvollen Mann, begabt mit einem merkwürdigen Talent, ohne selbst die Mittel zu haben, diese doch zu beschaffen, wenn es galt, eine Idee durchzuführen, ein wirkliches Genie in seinem Wirken, er wusste den Kopenhagenern einen ‚Tivoli’ zu verschaffen [...]“ [Übers. F. F.] 521 ). Hier ist die für damalige Kopenhagener Verhältnisse noch ungewöhnliche Finanzierung durch eine Aktiengesellschaft angedeutet. Dass auch das Casino eine Aktiengesellschaft war, wird kurz darauf explizit angesprochen. 522 Carstensen wurde oft verspottet, „‚maître de plaisir‘“ 523 genannt, so der Erzähler, obgleich sein Wirken Nutzen und Freude brachte und seine Gutmütigkeit sein größter Fehler war. So baut er Parallelen zwischen Carstensen und sich auf, denn in Mit Livs Eventyr wird der Erfolg Andersens ebenso hervorgehoben wie die (zumindest aus der Erzählerperspektive) meist ungerechtfertigten Angriffe auf ihn, auch als zu gutmütig beschreibt er sich. 524 Implizit verbindet sich damit die Aussage, dass Carstensen und Andersen zur Akkumulation kulturellen und symbolischen Kapitals für Dänemark beitrugen und darin nicht genügend wertgeschätzt wurden. 516 Vgl. Oxfeldt 2005, S. 56 f., 82-87. Dagegen waren China, Persien und der Orient Ende des 18. Jahrhunderts noch Modelle einer guten Gesellschaft und Vorbilder für Dänemarks Zukunft. Vgl. Zerlang 2002a, S. 98 f. 517 Se 3, S. 111. 518 Die Übersetzung in MLM (S. 609) lässt „om det ikke overgaar“ („wenn nicht übertreffen“) fallen. 519 Vgl. Se 3, S. 111; MLM, S. 609; Zerlang 2002b, S. 315 f., 319-326. 520 Se 3, S. 111. 521 Die Übersetzung in MLM (S. 609) ist etwas geglättet, indem sie die Wiederholung „talentfuld“/ „Talent“ weglässt und das heute in einer solchen Formulierung gebräuchlichere „bemerkenswert“ für „merkwürdig“ einsetzt, das auf Dänisch jedoch ebenfalls als eigenständiges Wort existiert („bemærkelsesværdig“). 522 Vgl. Se 3, S. 111; MLM, S. 609 f. 523 Se 3, S. 111. 524 Vgl. z.B. Se 2, S. 88 f.; MLM, S. 111 f. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 109 Dabei hatten sie keine Berührungsängste mit einer auf das Vergnügen abzielende Auffassung von Kultur, die sich elitären Konzepten widersetzt. Auf Bitten des Theaterdirektors des Casino, Hans Wilhelm Lange, schrieb Andersen ein auf einer Vorlage aus 1001 Nacht beruhendes Märchen des österreichischen Dichters Ferdinand Raimund für das Theater um, das ausgesprochen erfolgreich aufgeführt wurde. 525 Nach Aussagen des Erzählers in Mit Livs Eventyr kamen „alle Classer fra de Fornemste til de Fattigste [...] at see det“ 526 („alle Klassen von den Vornehmsten bis zu den Ärmsten, [...] es zu sehen“ [Übers. F. F.] 527 ). Sein Verhältnis zu diesem Theater, „hvor Mængden for en billig Priis fik Musik og Skuespil, og Staden selv et Sted, stort og smagfuldt, til dets meest besøgte Concerter og Maskerader, kort sagt, et Locale til egentlige Folkeforlystelser“ 528 („wo die Menge zu einem billigen Preis Musik und Schauspiel bekam, und die Stadt selbst eine Stätte, groß und geschmackvoll, für ihre meistbesuchten Konzerte und Maskeraden, kurz gesagt, eine Räumlichkeit für eigentliche Volksbelustigungen“ [Übers. F. F.] 529 ), wurde zu einer Erfolgsgeschichte, die er nicht ohne Seitenhiebe auf das Kongelige Teater und die „Dialectisk-Interessant[e]“ 530 literarische Kritik - gemeint ist vor allem der hegelianisch geschulte Geschmacksrichter Johan Ludvig Heiberg - erzählt. Andersens Stücke entsprachen weniger den Kriterien bildungsbürgerlich geprägter Zensoren und kamen den Theaterbesuchern der unteren und mittleren Schichten entgegen, weshalb er besonders an den privaten Theatern große Erfolge feierte. 531 Ohne hier ins Detail gehen zu können, möchte ich einige Aspekte betonen, die Andersens dramatische Arbeit betreffen. Obgleich negative Kritiken und Publikumsreaktionen sowie abweisende Theaterdirektoren bzw. SchauspielerInnen in den Autobiographien vielfach erwähnt werden und Andersen in der Sekundärliteratur oft als erfolgloser Theaterdichter gezeichnet wird, 532 sprachen viele seiner Dramen ein breites Publikum an. Diese Erfolgsstücke standen nahezu immer in engem Zusammenhang mit transnationalen Intertexten und Andersens Kenntnissen des außerdänischen Theaters, teilweise handelte es sich bei den Texten um direkte Übersetzungen aus einer anderen Sprache. 533 Andersen wirkte als Kulturimporteur, 525 Vgl. Se 3, S. 111 f.; MLM, S. 609-611; Barfoed Møller 1995, S. 49-52. 526 Se 3, S. 112. 527 MLM (S. 610) ergänzt „Klassen“ um „der Gesellschaft“. 528 Se 3, S. 111. 529 MLM (S. 609) stellt „bekam“ „vorgesetzt“ voran und ruft so negative Konnotationen hervor, die im Original nicht gegeben sind. 530 Se 3, S. 113; vgl. auch ebd., S. 112 f. 531 Vgl. Andersen 2005, S. 612 f.; Engberg 1995, S. 312; Kvam/ Risum/ Wiingaard 1993, S. 12-15; Sk 1, S. 38, 40, 50 f. 532 So kommt Andersen als Dramatiker im jüngsten Beitrag zu Dansk Litteraturs Historie von Klaus Peter Mortensen (2008) nicht vor, während Auring u. a. (1984, S. 140 f.) erklären, dass sein Durchbruch am Theater ausblieb, ohne die Erfolge an privaten Theatern zu erwähnen. 533 Vgl. Barfoed Møller 1995, S. 13-30, 49-63 und passim; 1999. In der Einleitung der Skuespil- Ausgabe wird der häufig vorhandene Kontrast zwischen Publikumserfolg und Kritikerablehnung besonders deutlich. Vgl. Sk 1, S. 19, 26, 30-35, 38 ff. 2 Text-Räume 110 der sich von der entstehenden Massenkultur europäischer Metropolen und exotischen Szenerien gleichermaßen inspirieren ließ. Kirsten Wechsel zeigt, wie Mulatten (Der Mulatte) (1840), das sowohl am Kongelige Teater als auch im Casino mehrfach aufgeführt wurde, mit dem begehrenden Blick des Publikums und dessen Raumwahrnehmung arbeitet, indem es Erotik, Luxus und Exotik (von großer Bedeutung sind hierbei auch die Requisiten) ebenso wie starke räumliche Kontraste, zum Beispiel zwischen dunklem Kerker und erleuchtetem Ballsaal oder kleinem Zimmer und weitem Sklavenmarkt, auf die Bühne bringt, und so das Publikum in seinen Bann zu ziehen vermochte. 534 Diese Art der Begeisterung unterscheidet sich von der Domestizierung des Blicks, die Heiberg im Theater vollziehen wollte. 535 Damit findet sich eine der Öffentlichkeit allgemein inhärente Ambivalenz auch im Theater wieder: Während einerseits neue Techniken der Kontrolle ausgeübt werden, die sowohl vom gerade durch die literarische bzw. theatralische Öffentlichkeit geschulten Selbst als auch von den es umgebenden sozial-räumlichen Strukturen ausgehen können, findet sich andererseits im Theater ein kalkulierter Exzess, der das Begehren der Menge befriedigen soll. (Letzteres auch, um Publikum anzulocken und das Theater zu finanzieren.) Die Zähmung dieser widerstreitenden Pole durch die räumliche Ordnung des Theaters ist labil. Denn das Theater ist durchlässig für das es umgebende Geschehen, wie sich an seiner Transnationalität ebenso wie an seiner Funktion für die nationale Identitätsbildung zeigt. Beide Aspekte waren es, die es zu einem Schauplatz von Massenbewegungen werden ließen. Der Erzähler von Mit Livs Eventyr beschreibt eine solche Massenbewegung anlässlich der Geschehnisse von 1848, die das Ende des dänischen Absolutismus ebenso einleiteten wie das Zerbrechen des multinationalen Staates. Dänemark erhielt eine Verfassung und der erste Schleswig-Holsteinische Krieg brach aus. 536 534 Vgl. Sk 2, S. 346, 355, 359, 368; MU S. 31, 34, 36, 40; Wechsel 2005. Zu szenischen Effekten in Mulatten vgl. auch Barfoed Møller 1995, S. 26-28. Mit Livs Eventyr schildert, dass sich ein höherer Beamter aus Westindien, dem der Erzähler im Vorgemach des Königs begegnet, gegen das Stück aussprach, „da det vilde være af skadelig Indflydelse paa de Sorte paa vore vestindiske Øer; ‚men det skal heller ikke opføres paa de vestindiske Øer! ’ svarede man ham.“ (Se 2, S. 197) („da es von schädlichem Einfluss auf die Schwarzen auf unseren westindischen Inseln sein würde; ‚aber es soll ja nicht auf den westindischen Inseln aufgeführt werden! ’ antwortete man ihm.“ [Übers. F.F. Die von Tove Fleischer herausgegebene Übersetzung weicht in einigen Punkten ab, unter anderem wird „Sorte“ mit „Neger“ übersetzt. Vgl. MLM, S. 256.]). Da in Westindien 1839 ein öffentliches kostenloses Schulsystem mit Schulpflicht (auch für Sklavenkinder) eingeführt worden war, waren die Vorbehalte des Beamten gegenüber dem Stück vielleicht nicht ganz unberechtigt. Vgl. Døygaard 2002, S. 57. Nachweise einer Rezeption in Westindien sind mir jedoch nicht bekannt. 535 Vgl. Zerlang 1997, S. 84 f.; 2002a, S. 24-28. 536 Kritische Darstellungen der Ereignisse von 1848 liefern Auken 2008c; Bjørn 2003, S. 327 ff., bes. S. 332-334; Jensen/ Smidt 1982, S. 82-88; Rerup 1992, S. 344-356, Skovgaard-Petersen 1985, S. 218 ff. Die Darstellung in Dansk litteraturhistorie (Busk-Jensen u. a. 1985, S. 27-31) ist zwar kritisch gegenüber der Selbstgerechtheit des Bildungsbürgertums, sieht jedoch weniger stark die von Beginn an vorhandene nationalistische Gefahr der Ereignisse. Zu Andersens Perspektive auf das Geschehen vgl. auch Korsgaard 2005. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 111 Aaret 1848 rullede op, et mærkeligt Aar, et Vulkan-Aar, hvori de store Tidsbølger ogsaa skyllede blodigt hen over vort Fædreland. [...] Gjennem Europa gik store Bevægelser, Revolutionen brød ud i Paris, Louis Philippe med Familie forlod Frankrig; som mægtige Søer gik Oprøret gjennem Tysklands Byer; her hjemme læste vi endnu kun herom. - Her alene var et Fredens Hjem! her kunde man endnu aande frit, tænke paa at besøge Kunst, Theater og alt det Skjønne. Men Freden varede kun kort, de store Døninger naaede allerede op til os. Oprøret brød nu ud i Holsteen. Rygtet slog ned som en Lynstraale og Alt var i Bevægelse. En utrolig Menneskemasse samlede sig i Casinos store Sal og næste Morgen drog Deputationen til Kongen, jeg stod paa Slotspladsen og saae den store Skare. - Snart var bekjendt i Staden, [sic] Kongens Svar og Ministeriets Afskedigelse. Jeg var i forskjellige Kredse Vidne til de høist forskjellige Indtryk af Begivenhederne. Gjennem Gaderne droge Dag og Aften store Folkeskarer syngende fædrelandske Sange; der skete ingen Excesser, men der var noget Uhyggeligt i at møde disse næsten fremmede Horder, disse mig ubekjendte Ansigter, det var, som om en heel anden Slægt var traadt frem. 537 (Das Jahr 1848 brach an, ein merkwürdiges, ein Vulkan-Jahr, in dem die großen Zeitwogen auch blutig über unser Vaterland hinrollten. [...] Durch Europa gingen große Bewegungen, die Revolution brach in Paris aus, Louis Philippe mit Familie verließ Frankreich; gleich mächtigen Wogen ging der Aufstand durch Deutschlands Städte; hier daheim lasen wir noch nur darüber. - Hier alleine war eine Heimat des Friedens! hier konnte man noch frei atmen, daran denken, Kunst, Theater und all das Schöne zu besuchen. Aber der Friede dauerte nur kurz, die großen Dünungen erreichten uns schon. Der Aufruhr brach nun in Holstein aus. Das Gerücht schlug ein wie ein Blitzstrahl und alles war in Bewegung. Eine unglaubliche Menschenmasse versammelte sich im großen Saal des Casinos und am nächsten Morgen zog die Deputation zum König, ich stand auf dem Schlossplatz und sah die große Schar. - Bald waren in der Stadt die Antwort des Königs und die Verabschiedung des Ministeriums bekannt. Ich war in verschiedenen Kreisen Zeuge der höchst verschiedenen Eindrücke von den Ereignissen. Durch die Straßen zogen Tag und Abend große Volksscharen, vaterländische Lieder singend; es geschahen keine Exzesse, aber es war etwas Unheimliches darin, diesen fast fremden Horden, diesen mir unbekannten Gesichtern zu begegnen, es war, als sei ein ganz anderes Geschlecht plötzlich aufgetaucht. [Übers. F. F.]) 538 Das Begehren der Masse, mit dem er als Theaterdichter operiert, ist dem Königsfreund Andersen unheimlich. Das „ganz andere Geschlecht“ taucht nur scheinbar plötzlich und nicht zufällig im Casino - oder alternativ im Hippodrom, das einem 537 Se 3, S. 71 f. 538 Die Übersetzung in MLM (S. 549, 551 f.) gibt die Atemlosigkeit in Interpunktion und Syntax nicht ganz wieder, zudem sind hier Erklärungen eingeschoben, die im Original nicht enthalten sind. 2 Text-Räume 112 Teil der Bewegung ihren Namen gab 539 - auf. Diese Orte umfassten die ökonomische ebenso wie die politische Potenz der Menge und standen mit dem Außen, der Welt, in Verbindung. Die europäische Politisierung, die zunächst noch abgehalten werden konnte, ergriff den Raum der Stadt, der nun erst zu einer politischen Öffentlichkeit im eigentlichen Sinne wurde. Dieser politische Charakter wird vom Erzähler als Fremdheit wahrgenommen und als Naturkatastrophe metaphorisch in seiner Geschichtlichkeit verkannt. Das Unheimliche, das er im Zusammenhang mit der Volksbewegung spürt, weicht bald einer allzu heimlichen Wahrnehmung. Zwar ist der Erzähler zerrissen angesichts seiner freundschaftlichen Kontakte nach Deutschland, und der Skandinavismus, den er im Zusammenhang mit dem schleswig-holsteinischen Krieg in erster Linie preist, hat einen multinationalen Charakter. Dennoch spricht aus den Schilderungen streckenweise eine nationale Begeisterung, die Andersens Autobiographie zuvor fremd war. 540 Die allgemeine skandinavische Verbrüderung und das Wegfallen der Standesunterschiede sind Zeichen eines Ausnahmezustandes; es herrscht Krieg. Der Rausch bleibt nicht ungebrochen. Andersen nennt die Deutschen in einem Brief an die englische Literary Gazette, den er auf Bitten eines hohen Beamten, Dänemark in der ausländischen Presse zu verteidigen, am 13. April 1848 sandte, „et ærligt, sandhedskjærligt Folk“ („ein ehrliches, wahrheitsliebendes Volk“) 541 , das zu Klarheit über die Verhältnisse kommen und dann wieder Hochachtung und Freundschaft (für Dänemark) empfinden würde. Er setzt sich aufgrund eines Briefes eines unbekannten Deutschen für dessen kriegsgefangenen Sohn ein, und bald schon treiben ungerechte Kritiken ihn wieder aus Dänemark fort. 542 539 Das Casino war am 11. März öffentlicher Versammlungsort für ca. 2300 vor allem national Gesinnte, während sich am folgenden Tag im Hippodrom der linke Kopenhagener Flügel der Bewegung einfand, der stärker das demokratische Anliegen als die nationale Frage betonte. Vgl. Skovgaard- Petersen 1985, S. 219 f. Vgl. auch Auken 2008d und Busk-Jensen u. a. 1985, S. 78-81 und 84 ff. zu Meïr A. Goldschmidt und Hans Egede Schack, die zwei wichtige Sprecher der Hippodrom- Bewegung waren. Das Hippodrom trug das A/ S (Aktieselskab [Aktiengesellschaft]) sogar in seinem Namen und war eine Reitschule, in deren Gebäude auch Konzerte und Verlosungen stattfanden. 1857 wurde es zu einem Volkstheater umgebaut. In der Einladung zur Aktienzeichnung, die in den Adressecomptoirs Efterretninger am 11. Dezember 1845 erschien, ist ein Argument für die Errichtung eines Hippodroms, dass die meisten größeren Städte des Auslands über eine solche Einrichtung verfügen. Vgl. Hassø 1945, S. 22-34. 540 Vgl. auch Detering 2001; Galster 1954, S. 49 ff.; de Mylius 1981, S. 257-264. Detering begreift die Ereignisse von 1848 als einen Wendepunkt in Andersens Verhältnis zu Dänemark als Nation. Während Galster vor allem Andersens Sehnsucht nach Frieden betont, stellt Detering Andersens Nationalisierung dar, jedoch nicht ohne den friedlichen Charakter seiner patriotischen Lyrik herauszuarbeiten. De Mylius betont die mit der nationalen Bewegung verbundenen Ängste Andersens. 541 Se 3, S. 74; MLM S. 555. 542 Vgl. Se 3, S. 73-84; MLM, S. 552-569. 2.1 Innen/ Außen: Raumerfahrungen 113 Aber die kurze Passage, in der Geschichte (in der Bedeutung des Wortes, die im 19. Jahrhundert vorherrschte) explizit geschildert wird, bereitet der Leserin des 21. Jahrhunderts trotz dieser Zugeständnisse Unbehagen, insbesondere der in Mit Livs Eventyr zitierte Brief nach England. Bei diesem Brief handelt es sich um einen verhältnismäßig unmittelbaren, das heißt nicht retrospektiv geschriebenen, Eindruck aus jenen Tagen. Der Brief sollte den nationalen Anspruch in einem europäischen Zentrum, London, vertreten und betont die Rechtmäßigkeit des dänischen Krieges ebenso wie die nationale Begeisterung. 543 Hier wird bereits deutlich, wie europäisch der Schleswig-Holsteinische Konflikt innerhalb kürzester Zeit werden sollte. Es ist aus einer globalisierungstheoretischen Perspektive nicht ohne Ironie zu bemerken, dass die Asynchronität der Transport- und Kommunikationsnetzwerke von Sune Auken als eine Ursache für den Ausbruch der Aufstände angegeben wird. Eine Schleswig-Holsteinische Delegation und die neue Regierung hatten erfolgreich eine friedliche Teilung ausgehandelt und schickten einen Spezialkurier mit dieser Nachricht und der Aufforderung, Ruhe zu bewahren, nach Schleswig-Holstein. Doch die Reise war lang, so dass die Botschaft die Herzogtümer erst erreichte, nachdem diese bereits aus der Zeitung Berlingske Tidende vom Casinotreffen, dem Volksmarsch und dem Abgang der alten Regierung erfahren hatten. Diese Nachricht wurde als Kriegserklärung aufgefasst und eine Aufstandsregierung gebildet. Mit der Begründung, der König habe seine Regierungsfreiheit verloren, erstürmte der Prinz von Nør die Festung von Rendsborg. Die Nachricht von der friedlichen Teilung erreichte die Aufständischen zu spät. 544 Aber solche Feinheiten sind angesichts der elektrisierten Öffentlichkeit, in das ein unzutreffendes Gerücht wie ein Blitzstrahl eingeschlagen hatte, 545 vielleicht weniger relevant und finden keinen Eingang in die Geschichtsschreibung des nationalisierten Dänemarks jener Tage. Die Menge, die das Ende der absoluten Monarchie und ein Grundgesetz mit einem relativ weitreichenden Wahlrecht (das Frauen ebenso wenig wie Besitzlose einschloss) 546 erzwang, ist nicht zu trennen von jener, die den ersten Schleswig- Holsteinischen Krieg forcierte. Das beinahe revolutionäre Jetzt, in dem die absolutistische Vergangenheit und die technisch entfremdete Zukunft vergnügliche orientalische Gewänder tragen und in ihrer Miniaturisierung kontrollierbar erscheinen, erweist sich nicht nur als demokratisch, sondern leider auch als national. 543 Johan de Mylius (1981, S. 262) verweist jedoch darauf, dass der Brief den Wunsch verrät, sowohl ein guter Däne als auch ein guter Europäer zu sein. 544 Vgl. Auken 2008c, S. 543. 545 Es gab keinen Aufstand in Schleswig-Holstein, als Orla Lehmann dies beim Casinotreffen andeutete. Vgl. ebd., S. 541 f. 546 Wahlberechtigt waren nur mündige Männer, die Miete zahlten oder Wohneigentum besaßen. Der Rest bekam ein indirektes Wahlrecht. Kein Wahlrecht hatten neben Frauen Männer ohne Hausstand und solche, die in privaten Dienstverhältnissen standen. Vgl. Rerup 1992, S. 351. 2 Text-Räume 114 Im nationalen Narrativ tritt das Geschichtliche oft als scheinbar Natürliches, immer schon Vorhandenes auf. 547 Auf diese Art charakterisieren Adorno und Benjamin auch die Wahrnehmung des Interieurs und der Stadt. Letztlich handelt es sich nach ihrer Analyse bei diesem Phänomen um eine Gestalt des Kapitalismus. Die Entstehung von Nationalismus ist von verschiedenen Faktoren beeinflusst, über deren Anteile in der Forschung keine Einigkeit herrscht. Den Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaftsform und Nationalismus betonen jedoch mehrere einflussreiche Ansätze. 548 Der dänische Nationalismus ist zu komplex, um ihn ausschließlich auf die zunehmende kapitalistische Durchdringung der Kommunikationssysteme zurückzuführen und als Ausdruck von Widersprüchen zwischen Politik und Wirtschaft, Menschlichkeit und Technik zu lesen. Dies sind jedoch gewichtige Aspekte. Es ist im Falle der Ereignisse von 1848, die dazu beitrugen, dass Dänemark ein neues Grundgesetz bekam und eine konstitutionelle Monarchie wurde, mitzudenken, dass diese Entwicklung wesentlich von den Nationalliberalen ausging, die auch auf wirtschaftlicher Ebene eine liberale Politik durchsetzten. 549 Die neuen Wirtschaftsformen schufen wiederum teilweise erst die Räume, in denen sich demokratische Positionen entwickeln und schließlich auch durchsetzungsstark artikulieren konnten, wie gezeigt wurde. Die nationale Entflammung ging von Räumen aus, die ebenso ein Produkt der veränderten ökonomischen Prinzipien wie Orte der neuen Konsumkultur waren. Städtische Nationalliberale verbündeten sich mithilfe literarischer und journalistischer Massenmedien mit der Landbevölkerung. 550 Vergleichbar dem im Interieur ebenso wie in der „by i byen“ erzeugten Effekt, wird im nationalen Narrativ Innerlichkeit konstruiert, die phantasmagorisch angesichts der Vernetztheit seines Entstehens ist. Die Sozialkonstruktion der Nation ist, ebenso wie das Interieur oder die „by i byen“, ohne ihr Außen undenkbar, ihre Grenzen sind scheinhaft, aber leider (und das unterscheidet sie vielleicht von den Erstgenannten) zugleich auch auf tödliche Art real. Ebenso wie das Interieur und die „by i byen“ kommt der Nationalismus mit einer zunehmenden Unüberschaubarkeit der Verhältnisse auf und suggeriert deren Überwindung. Das findet in dem Brief Andersens seinen Niederschlag in dem bestimmten Gefühl, im Recht zu sein gegenüber den Schleswig-Holsteinern, obgleich die politische Situation unübersichtlicher kaum sein könnte. Dennoch wird man Mit Livs Eventyr, das im Gegensatz zu dem zitierten Brief nach Abklingen der nationalen Begeisterung verfasst wurde, nicht gerecht, wenn man es in dieser unbegründeten nationalen Selbstgewissheit stehen lassen würde. Gewissheit bezüglich der sozialen Zugehörigkeit ist in Andersens Autobiographien 547 Vgl. Anderson 1983, S. 19; Osterhammel 2009, S. 606. 548 Zu den wichtigsten Ansätzen, die Überlegungen zum Zusammenhang von Wirtschaftsform und Nationalismus einbeziehen, zählen Anderson (1983); Deutsch (1972); Gellner (1999); Hobsbawm (1983 und 2004). Vgl. auch den Überblick von Hans-Ulrich Wehler (2001). 549 Vgl. Hansen 1972, S. 122-136, Rerup 1991, S. 368 f. 550 Die Interessensdifferenzen von städtischen Nationalliberalen und Landbevölkerung stellten sich allerdings bald heraus. Vgl. Rerup 1992, S. 345 ff. 2.2 Topographien von Netzwerken 115 selten, und so gesellen sich auch der nationalen Begeisterung zahllose Gegenbeispiel kosmopolitisch inspirierter Offenheit und Ablehnung der eigenen Nation zu Seite. Der eigentliche Weg, um die Stadt oder das Land wahrnehmen zu können, ist es nicht, eine Mauer zu ziehen. Sondern möglichst viele Städte und Länder zu sehen. Und von außen auf die Heimat zu blicken. 2.2 Topographien von Netzwerken 2.2.1 Reisen durch Weltstädte Dänemark und die Geographien der Texte verändern sich, sobald Andersen auf Reisen geht. Die frühesten Reiseschilderungen waren auf Dänemark beschränkt. 551 Die Besetzung literarischer Landschaften 552 spielt in ihnen sowie dem ersten über Dänemark hinausreichenden Reisebericht, Skyggebilleder af en Reise til Harzen, det sachsiske Schweitz etc. etc., i Sommeren 1831 (Schattenbilder von einer Reise in den Harz, die sächsische Schweiz etc. etc., im Sommer 1831) (1831), eine wichtige Rolle. Doch schon in den Skyggebilleder sind Städte wichtige Anlaufpunkte, deren Bedeutung mit der zunehmenden Nutzung moderner Transportmittel in den späteren Reisebüchern wächst. Nachdem Kopenhagen in der Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 (Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829) (1829) intertextuell verortet wurde, wird es in den Reisebüchern ab den Skyggebilleder und den Autobiographien mental ins Ausland mitgenommen und immer wieder verglichen mit dem Neuen. Die Reisebücher und die Autobiographien tragen zudem das Außen ins Innen. Insbesondere der bereits erwähnte kulturjournalistische Einschlag in Kombination mit dem praktizierten name dropping war auch ein Weg, die Leser in die moderne Kultur und ihre tragenden Persönlichkeiten einzuführen. 553 Motive aus der Kopenhagendarstellung finden sich in potenzierter Form auch in der Darstellung anderer Städte, die in Andersens Topographie eine zentrale Stellung innehaben. Bernhard Glienke verortet in der „ersten Städteliga“ 554 dieser Topographie London, Rom und Paris. Die Hierarchisierungen in dieser Topographie stehen in engem Zusammenhang mit der Einbindung der Städte in Handels- und Verkehrsnetzwerke, der Qualität ihrer technischen und kulturellen Infrastrukturen sowie ihrer Besetzung durch europäische Eliten in Kultur und Politik. 551 Vgl. Re 1, S. 48-63; Se 1, S. 223; MML, S. 72 f.; Se 2, S. 85-87; MLM, S. 106-109. 552 Andersen besuchte landschaftliche Sehenswürdigkeiten, die ihm aus literarischen Texten bekannt waren. S. o. S. . Zu Andersens Dänemark vgl. auch Behschnitt 2006, S. 391-438. Behschnitt arbeitet vorwiegend mit den Romanen und den Eventyr og Historier. Hier findet sich auch ein Überblick über die „literarische Erschließung Dänemarks 1800-1870“. Vgl. ebd., S. 277-340. 553 Vgl. Re 1, S. 22. Es handelt sich hierbei um die Einleitung von Klaus Peter Mortensen. 554 Glienke 1996, S. 47. Vgl. auch Draga Alexandru 2007, S. 110 f. 2 Text-Räume 116 Auf Kopenhagen folgt in Mit Livs Eventyr als nächste Weltstadt Paris. Glienkes Feststellung, dass Frankreichs Hauptstadt „negativ markiert gegenüber dem positiven und dennoch kontrastiven Paar Rom und London“ 555 sei, lässt sich in dieser Eindeutigkeit nicht aufrecht erhalten, 556 trifft aber grundsätzlich zu. Die erste Beschreibung der Stadt in Mit Livs Eventyr vermittelt ein Gefühl der Fremdheit. Diese Fremdheit ist doppelgesichtig, sie umfasst die verlassene Heimat ebenso wie die besuchte Fremde. Paris distanziert den Besucher durch überschäumendes Leben, das in Mit Livs Eventyr zugleich von bedrohlichen Anzeichen revolutionären Aufruhrs durchsetzt ist. 557 Hier findet sich die Gefahr der Menge wieder, die bereits den Eintritt in Kopenhagen kennzeichnete. Doch diesmal ist der Ich-Erzähler von Beginn an in der Lage, diese Zeichen nicht mehr provinziell zu lesen, sondern in ihrem politischgewaltsamen Potential zu erkennen. Die Festlichkeiten anlässlich der Julirevolution werden als Tanz auf dem Vulkan wahrgenommen. Zudem haben sie Teil an einer bisweilen schmerzhaften Reizüberflutung. Andererseits wächst in Paris die Distanz zu Dänemark. In Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung und Mit Livs Eventyr schildert der Erzähler, wie er nach langem Warten den ersten - unfrankierten - Brief aus Dänemark entgegen nimmt, der sich beim Öffnen als Schmähbrief erweist. Aufgrund seiner häufigen Begleitung durch andere dänische Reisende kommt er nicht ausreichend mit der französischen Kultur und Sprache in Kontakt und beschließt deshalb, allein in die Schweiz weiter zu reisen, um seine Französischkenntnisse zu verbessern. 558 Von dort bricht er nach Rom auf. Italien erlebt die Leserin von Mit Livs Eventyr zunächst als eine Abfolge von Bildern. 559 Die Kontakte zu bildenden Künstlern, die der Ich-Erzähler in Rom knüpft, 555 Glienke 1996, S. 48. 556 Die Festlichkeiten und Begegnungen in Paris werden nicht durchgängig negativ charakterisiert. Vgl. Se 2, S. 110-119; MLM, S. 139-153. Umgekehrt sind Rom und London nicht nur positiv gezeichnet. Vor allem die zweite und die dritte Begegnung mit Rom sind teilweise enttäuschend. Vgl. Se 2, S. 211-215, 328-330; MLM, S. 275-280, 440-444. Die Londonschilderungen umfassen neben der durch das exzessive Gesellschaftsleben hervorgerufenen Erschöpfung auch den Eindruck schockierender Armut (s.u.). 557 So wird Andersen am ersten Morgen in Paris davon geweckt, dass eine Menschenmenge aus einem Gebäude stürmt. Erst später erfährt er, dass es sich um ein Vaudeville-Theater handelt und genau dann ein Gewitter ausgebrochen war, als die Vorstellung endete. Vgl. Se 2, S. 110; MLM, S. 140 f. Bei den Vorbereitungen zu den Juli-Feierlichkeiten begegnet er an einer noch verdeckten Statue einer alten Frau, die mit einem Ausdruck von Wahnsinn zu ihm spricht: „’der har de sat ham op! imorgen rive de ham ned igjen, ha, ha, ha! jeg kjender de Franske! ’“ („’Dort haben sie ihn aufgestellt! Morgen reißen sie ihn wieder herunter, hahaha, ich kenne die Franzosen! ’“). Andersen verlässt daraufhin „uhyggelig stemt“ („[u]nheimlich gestimmt“) (Se 2, S. 117; MLM, S. 149) den Platz. Die Anzeichen der Gefahr sind im Märchen meines Lebens ohne Dichtung noch nicht zu spüren. Vgl. Se 1, S. 232 f.; MML, S. 88-90. 558 Vgl. Se 1, S. 232 f.; MML, S. 88-90; Se 2, S. 112 f., 115-117, 118; MLM, S. 142 f., 147-149, 151. 559 Vgl. Se 2, S. 127-144; MLM, S. 164-187. Eine vergleichbare Darstellungstechnik findet sich im Roman Improvisatoren (Der Improvisator) (1835). Im Märchen meines Lebens ohne Dichtung ist 2.2 Topographien von Netzwerken 117 verbinden sich harmonisch mit den bildhaften Schilderungen. Hier ist der Erzähler in ein soziales Netzwerk von Künstlern aus Dänemark, Norwegen, Schweden und Deutschland eingebunden. Anlässlich des Weihnachtsfestes 1833 schreibt er ein Lied, dessen skandinavistischer Grundton ihm von den anwesenden Dänen und von hoch stehenden Persönlichkeiten aus der Heimat vorgeworfen wird. So kontrastiert die multinationale Gemeinschaft der Künstler, als deren Teil der Ich-Erzähler sich empfindet, mit der engstirnigen Haltung der Kopenhagener Elite und inszeniert den Andersen zugleich als Vorreiter des aufkommenden Skandinavismus. 560 Aus einer globalisierungstheoretischen Perspektive ist von den Stadtportraits die Londonschilderung zentral, da hier der Weltstadtcharakter am deutlichsten hervortritt. Von Holland aus reist Andersen mit einem Dampfschiff Richtung englischer Hauptstadt, umgeben von Auswanderern nach Amerika. Bewegung in die Stadt und Bewegung in die Welt werden so vereint. Da jeg i Morgenstunden kom op paa Dækket igjen, kunde jeg øine den engelske Kyst; ud for Themsens Munding laae i Tusindeviis Fiskerbaade som en uhyre Kyllingeflok, som sønderrevne Papirstykker, som et heelt Marked eller en Leir med Telte. Themsen forkynder rigtignok, at England er Havets Behersker, her flyve dets Tjenere ud, hele Skarer af talløse Skibe; hvert Minut kommer der som Staffet, Dampskib paa Dampskib, en Løber var det med tungt Røg-Flor i Hatten, hvor øverst den røde Ildblomst blussede. Brystende sig som en Svane gled det ene store Seilskib os forbi efter det andet; Lystjagter med rige unge Gentlemen viste sig, Fartøi fulgte paa Fartøi, jo høiere vi kom op paa Themsen, tog Vrimlen til; [...]. (Als ich morgens wieder an Deck kam, konnte man die englische Küste erkennen. Vor der Mündung der Themse lagen Tausende von Fischerbooten gleich einer ungeheuren Schar junger Hühner, gleich zerrissenen Papierstücken, gleich einem ganzen Jahrmarkt 561 oder einem Lager von Zelten. Die Themse verkündet offenbar, daß England der Beherrscher der Meere ist. Hier fliegen seine Diener aus, ganze Scharen von zahllosen Schiffen. Ununterbrochen kommt wie in einer Staffel Dampfschiff auf Dampfschiff, gleich einem Läufer mit schwerem Rauchschleier am Hut, an dem ganz oben die rote Feuerblume leuchtet. Sich brüstend wie ein Schwan, glitt ein großes Segelschiff nach dem anderen vorüber. Lustjachten mit reichen, jungen Gentleman tauchten auf, dieser bildhafte Charakter dagegen kaum vorhanden. Vgl. Se 1, S. 235 f.; MML, S. 92-95. Die Verwobenheit der Darstellungen mit der Malerei ist bereits für die Skyggebilleder hervorzuheben. Vgl. Houe 1996, S. 140 f.; Svane 2000, S. 146-156. Diesen intermedialen Aspekt von Andersens Texten behandeln auch Jørgen Bonde Jensen (1993; zu ausgewählten Märchen, Reisebüchern, Improvisatoren und der Fodreise), Annegret Heitmann (2009; mit einem Schwerpunkt auf En Digters Bazar), Klaus P. Mortensen (Re 1, S. 29 f.; zu En Digters Bazar) und Johan de Mylius (2004, S. 133-211; zu ausgewählten Märchen und Billedbog uden Billeder (Bilderbuch ohne Bilder) (1839- 1840)). 560 Vgl. Se 2, S. 135-144; MLM, S. 174-187. Zum Skandinavismus vgl. Bjørn 1990, S. 253-257; Rerup 1991, S. 362-368. 561 „Marked“ kann sowohl mit „Markt“ als auch mit „Jahrmarkt“ übersetzt werden. 2 Text-Räume 118 Fahrzeug auf Fahrzeug. Je weiter wir die Themse hinaufkamen, um so [sic] mehr nahm das Gewimmel zu.) 562 Die Boote auf dem Fluss erscheinen als ungeheurer Hühnerhaufen, als Ansammlung von Papierfetzen, als ganzer (Jahr-)Markt und Lager mit Zelten. Die Themse ist geprägt von einem unübersichtlichen Durcheinander, das dennoch eine, wenn auch wechselhafte, Ordnung verrät. Das ungeheure Verkehrsaufkommen wird sogleich in Beziehung gesetzt zu Englands maritimer Vormachtstellung. Markt und Lager, globale Seeherrschaft und Fernmigration verbinden sich in dieser Darstellung mit dem Globalisierungsmedium Meer. London präsentiert sich als Knotenpunkt eines globalen Netzwerkes. Der Blick auf die Themse verdeutlicht die machtvolle Stellung von Städten in der globalen Topographie des 19. Jahrhunderts. Neben dem nationalstaatlichen Territorialprinzip etablierten sie eine transnationale Geographie der Beziehungen. An der Spitze einer solchen Geographie stand, zumindest für den Bereich des Handels, London. 563 In Andersens London macht die Massenauswanderung Station und es ist die Schaltzentrale des Empires. Neben dem militärisch Machtvollen steht die feine Lebensart der Gentlemen. Die Anatomie der Moderne, die in dieser Anreise erfahren wird, ist kontrastiv, aber wandelbar: Es kann immer zum Umschlag zwischen Macht und Ohnmacht, Überfluss und Mangel kommen. Diese Anatomie setzt sich in die Stadt hinein fort. In der Englandschilderung werden Vergnügen und gehobenes Gesellschaftsleben ausgebreitet und scharf mit der Armut kontrastiert, die den Besucher schockiert. Im Folgenden werden die Dampfschiffe von der Eisenbahn und überfüllten Omnibussen abgelöst. Der Verkehr durchdringt gleichermaßen Wasser und Land, das andauernd sich bewegende Meer findet seine Entsprechung im Wimmeln der Menschen, das eine eigene See formiert. Die ungeheure urbane Verdichtung zeigt sich an Verkehrsinseln, auf die sich Fußgänger beim Überqueren der Straßen retten müssen. In London ist alles in Bewegung, dabei jedoch ruhig. „Alt suser travlt, halvt stille, forbi“ („Alle saust zwar geschäftig, aber doch leise vorüber“) 564 . Gegenüber dem lebendigen Lärm von Neapel steht das geschäftige Treiben der englischen Hauptstadt, eine endlose Bewegung, die als ewige, über den Tod der Einzelnen hinausgehende, vorgestellt wird: Og altid gaaer denne Sø! Altid! naar engang alle disse Mennesker, vi nu see færdes, ere i deres Grave, rører sig endnu her den samme Travlhed, altid de samme Bølger med Omnibus, Caps, Karrer, de vandrende Mænd med Skilter for og bag, Skilter paa Stænger, Skilter paa Vogne med Annoncerne, Luftballonerne, Buskmænd, Vauxhall, Panoramaer og Jenny Lind. 562 Se 3, S. 29 f.; MLM, S. 490 f. Glienke (1996, S. 46-49) liefert eine schöne Analyse dieser Passage, die herausarbeitet, wie der Text die Großstadt als Abfolge von Wahrnehmungen wiedergibt und sich dabei klimaktisch steigert, um schließlich das Tempo und die Masse der Eindrücke an späterer Stelle durch Wiederholungen zentraler Motive und Metaphern aufzufangen. Jenny Linds Name dient schließlich als Scharnier zum nächsten Textabschnitt, der von Andersens Kontakten in London handelt. 563 Vgl. Osterhammel 2009, S. 382, 386. 564 Se 3, S. 30; MLM, S. 492. 2.2 Topographien von Netzwerken 119 (Immer ist diese See bewegt! Immer! Wenn einmal alle diese Menschen, die man hier sich dahinbewegen sieht, in ihren Gräbern liegen werden, wird sich hier noch immer dieselbe Geschäftigkeit kundtun, stets dasselbe Wogen von Omnibussen, Cabs, Karren, den wandernden Männern mit Schildern vorn und hinten, Schildern an Stangen, Schildern auf Wagen mit Anzeigen von Luftballons, Buschmännern, Vergnügungsorten, Panoramen und Jenny Lind.) 565 Mit der Ewigkeit des Immerneuen in Form bewegter Werbeschilder führt diese Londonschilderung geradewegs ins Herz kapitalistischer Zeitlichkeit, wie Walter Benjamin sie im Passagen-Werk beschreibt. 566 Die Werbung vereint in sich das Neueste mit dem Ewiggleichen. Der angezeigte Buschmann zwischen Luftballons, Vergnügungsorten, Panoramen und Jenny Lind verkörpert die Zeitlosigkeit des rauschhaften Vergnügens, das seine eigene Geschichtsvergessenheit hervorbringt. Nur in Europa kann der Buschmann zu dem scheinbar geschichtslosen Wesen werden, als das er ausgestellt wird, denn nur hier gibt es einerseits die Vorstellung fortschreitender Entwicklung einzelner Völker, an deren Spitze die Europäer stehen, und andererseits die nostalgische Sehnsucht, den tatsächlichen Entwicklungen, die nicht allein ein Voranschreiten ins Gute bedeuten, zu entkommen. Der Buschmann wird zur Projektionsfläche dieser zweifachen Zeitlichkeit. Er reist ins militärischkommerzielle Zentrum des Weltsystems und hält sich dort an Orten von Unterhaltung und Vermarktung auf. Damit handelt es sich um eine entschieden moderne und hybride Figur. Wie Jenny Lind, einer der ersten transkontinentalen Opernstars, 567 zeigt er die Globalisierung der Vergnügungsindustrie an, die sich im 19. Jahrhundert intensiviert. Schon die sandwichmen deuten darauf hin, dass der Erzähler in London nicht mehr ausschließlich Kunst, Künstler und gehobenes Gesellschaftsleben sucht, wie dies in Paris und Rom noch weitgehend der Fall ist. Die Londonschilderung entwickelt eine Doppelperspektive. Nach seitenlangen Ausführungen über prominente Bekannte, Opernabende und die eigene Popularität wird abrupt die Rückseite einer Gesellschaft gezeigt, in der es das wichtigste ist, fashionable zu sein. „High life“ har jeg seet og - „Armod“, disse ere de to Poler i min Erindring. - „Armod“ saae jeg personificeret i en bleg, udhungret ung Pige, i slidte, elendige Klæder, skjule sig i Hjørnet af en Omnibus, „Elendigheden“ saae jeg, og dog sagde den ikke et Ord i al sin Jammer, det var den forbudt; jeg husker Tiggerne, Mænd og Qvinder, de bare paa Brystet et stort, stivt Papir med de skrevne Ord: „Jeg døer af Sult! Forbarmelse! “ De tør ikke tale, det er dem ikke tilladt at betle, og saa glide de som Skygger forbi. [...] Jeg saae Mange, og man sagde mig, at i mit Qvarter var kun Faa, i de Riges aldeles Ingen, det var lukket for den stakkels Parias Slægt. Alt i London bliver Industri, ogsaa Betleriet, det gjælder om bedst at kunne drage Opmærksomheden hen paa sig, og jeg saae et Arrangement, hvorved det tilfulde opnaaedes. 565 Se 3, S. 31; MLM, S. 492 f. 566 Vgl. Benjamin 1991, S. 674-680, 695 f. Auf die moderne Zeitlichkeit im Zeichen der Neuigkeit geht Kapitel 3.2.1 ausführlicher ein. 567 Vgl. Osterhammel 2009, S. 30. 2 Text-Räume 120 (Das ‚high life’ habe ich hier gesehen und ‚die Armut’. Dies sind die beiden Pole meiner Erinnerung. ‚Armut’ sah ich verkörpert in einem bleichen, ausgehungerten, jungen Mädchen in abgetragenen, elenden Kleidern; es saß in einer Ecke des Omnibusses. ‚Das Elend’ sah ich, und dennoch sagte es kein Wort in all seinem Jammer, es war ihm verboten. Ich entsinne mich der Bettler, Männer und Frauen, die auf der Brust ein Stück Karton trugen, darauf stand: ‚Ich sterbe vor Hunger! Erbarmen! ’ Sie wagen es nicht, zu sprechen, denn es ist ihnen verboten, zu betteln, und so gleiten sie einem Schatten gleich vorüber. [...] Ich sah viele dieser Unglücklichen, und man sagte mir, daß sie in meinem Quartier nur wenig und in dem der Reichen überhaupt nicht vorkommen, denn das sei für das arme Geschlecht der Paria verboten. Alles in London ist ein Gewerbe, also auch die Bettelei; es gilt die Aufmerksamkeit auf die beste Weise auf sich zu lenken, ich sah ein Arrangement, wodurch dies vollständig erreicht wurde.) 568 Das Arrangement besteht aus einem Witwer mit Kindern in Trauerflor, die im Rinnstein stehen, um den Durchgang nicht zu behindern, und von dort aus Streichhölzer verkaufen, um das Bettelverbot zu umgehen. Auch das Betteln wird professionalisiert und optimal vermarktet. England ist vollständig durchdrungen von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in der jede Handlung bewertungsfähige Ware ist. Als Industrie begriffen fällt selbst das Betteln unter das Gebot des Fleißes, das die Armen durch die Übertragung der Verantwortung für ihre Situation ablenkt von der möglichen Aussichtslosigkeit der Anstrengung. Ebenso wie die hektische Bewegung des Geschäfts ist auch die Armut von Ruhe umgeben. Den Bettelnden wird das Sprechen verboten. Gegen die Bemühungen der Reichen, die Armen stumm und unsichtbar zu machen, sich abzuschotten gegenüber den Ausgestoßenen, steht das Erzählen von ihnen. Der Text vereint beide Welten in sich. Der Ich-Erzähler bewegt sich zwischen Armen und Reichen. Er holt das Schweigen der Armen unüberhörbar in die Stuben der Wohlhabenden, die sich zuvor als begeisterte Leser seiner autobiographischen Texte erwiesen haben, zu denen auch der uns vorliegende Text gehört. Der autobiographische Bestseller, der seinen Autor selbst zur Ware werden lässt, übersetzt die Stimmen derer, die ohne ihn nicht gehört werden, in die Lebenswelt jener, die ohne mediale Vermittlung nicht hören wollen. Obgleich Andersen Teil der Vergnügungsindustrie ist, bohren sich seine Texte stellenweise wie Stacheln in die bürgerlichen Wohnstuben. Im Londoner Wahlkampf setzt eine karnevaleske Veränderung des einfachen Volkes ein, das sonst so demütig auftritt. Die Abgeordneten sind zur Überzeugungsarbeit verpflichtet, die Gesellschaftsordnung scheint umgekehrt. Der Spektakelcharakter des Wahlkampfes verdeutlicht zugleich seinen Ausnahmestatus. Redner werden mit verdorbenen Apfelsinen und Aas beworfen; Gedränge, Fahnenumzüge und Musik prägen die Kundgebungen. Das religiöse Fest wird von der politischen Inszenierung abgelöst. London ist eine Stadt voller Widersprüche. Die Gewalt der Wirtschaftsordnung wird der relativ demokratischen Politik gegenübergestellt, deren Schilderung wiederum eine vorsichtige Kritik an der Lage im eigenen Land erlaubt: „Valgtiden, med 568 Se 3, S. 42 f.; MLM, S. 510. 2.2 Topographien von Netzwerken 121 alle dens Arrangementer og Udskeielser, dem vi i vort Land nok ogsaa komme efter, er første Gang seet ganske folkeligt og broget.“ 569 („Die Zeit der Wahlen, mit all ihren Vorbereitungen und Auswüchsen, die wir in Dänemark sicher auch einmal übernehmen werden, ist beim ersten Anblick ganz volkstümlich und festlich.“ [Übers. F. F.] 570 ) Zehn Jahre nach seinem ersten Aufenthalt in London besuchte Andersen Charles Dickens in England und veröffentlichte 1860 einen mehrteiligen Bericht über diesen Besuch in der Zeitschrift Berlingske politiske Avertissements-Tidende. 571 Der Text nimmt die Londonschilderung aus Mit Livs Eventyr wieder auf, setzt im wimmelnden Verkehr ein und führt dann in den Glaspalast. Vor dem enormen Publikum von zwölftausend Menschen wird dort Händel aufgeführt, obgleich der Eintrittspreis eher hoch liegt, wie der Erzähler festhält. In der Londondarstellung der Artikelserie von 1860 gerät jedoch die Armut, die das Londonportrait der Autobiographie zeigte, mit der gesteigerten Verzauberung durch die aufwändigen Inszenierungen von Opern und Dramen aus dem Blickfeld. Die Armen finden nur noch indirekt, als Objekt der Wohlfahrt reicher Gönner, Eingang. Das mag auch daran liegen, dass in den Städten Englands um diese Zeit ein Wendepunkt erreicht wurde; die Unterschichten konnten sich insgesamt besser ernähren und lebten seltener in extrem beengten Wohnverhältnissen. 572 Dennoch lässt sich festhalten, dass die zweite Londonschilderung vor allem von der Überwältigung durch die Unterhaltungsindustrie geprägt ist. Ergänzt wird die betörende Wirkung der zunehmend an ein Massenpublikum gerichteten Aufführungen um den intensiven Eindruck, den ein Ausflug in die Produktionsstätte ihres medialen Supplements, der Massenpresse, hinterlässt. Die Massenpresse trug wesentlich zur Erschaffung der Medienstars bei, die Publikum anlockten. Von der Popularisierung der celebrities sollte nicht zuletzt Andersens Aufnahme in England und Schottland deutlich geprägt sein. Die englische Presse hatte sich seiner, auch aufgrund biographischer Skizzen seiner Person in den Übersetzungen seiner Texte, intensiv angenommen. 573 Die Druckerei der Times, die im 19. Jahrhundert hinsichtlich der Produktionstechniken mehrfach Maßstäbe setzte, besticht den Erzähler in ihrer Raumaufteilung durch „en næsten militair Disciplin“ („[eine] fast militärische[n] Disziplin“), in der die verschiedenen Artikel eigene Abteilungen haben. Die Arbeitsorganisation ist perfektioniert worden. „Menneskeaanden regjerer her med Dampens Kræfter“ 569 Se 3, S. 44. 570 Die Übersetzung in MLM entfernt sich an dieser Stelle in der zweiten Hälfte des Satzes etwas weiter vom dänischen Original. 571 Vgl. Re 2, S. 160-183; RB, S. 161-197. Eine materialreiche Studie zum Verhältnis von Andersen und Dickens hat Elias Bredsdorff (1951) vorgelegt. 572 Vgl. Osterhammel 2009, S. 332 f. 573 Vgl. Bredsdorff 1951, S. 14; 1954, S. 428-488. Andersens Verhältnis zur Presse war auch in England gespalten. Neben die Freude über seine Bekanntheit trat der Ärger über schlechte Kritiken. Vgl. Re 2, S. 179 f.; RB, S. 191 f. 2 Text-Räume 122 („Der menschliche Geist regiert hier mit den Kräften des Dampfs“); „Hr. Blodløs“ („Herr Blutlos“) ist auch hier anzutreffen. Aus dem Kohlendampf der City wächst Avisernes nymphaea alba, Dronningeblomsten med flere end halvtresindstyve tusinde Blade; to Gange i Døgnet sætter den Blomst og Blade og strøer dem derpaa ud over Verden, fra Lapland til Hindostan; jeg saae denne Blomst springe ud, hørte dens Blade udfolde sig i Minutet; det var saa overvældende, saa gjennemrystende, at jeg syntes at staae midt i et brusende Vandfald. (die Nymphea alba der Zeitungen, die Königin der Blumen mit mehr als fünfzigtausend Blättern. Zweimal am Tag setzt sie Blüten und Blätter und streut sie dann über die Welt, von Lappland bis Hindustan; ich sah diese Blüte aufspringen, hörte, wie sich ihre Blätter innerhalb einer Minute entfalteten; das war so überwältigend, so erschütternd, daß ich glaubte, mitten in einem brausenden Wasserfall zu stehen.) 574 Maschinelle Produktion und Distribution werden als überwältigende Naturgewalt wahrgenommen. Gleichzeitig behauptet der Text, diese werden vom Menschengeist regiert. Der regierende menschliche Geist wird wiederum auch durch die Arbeitsorganisation geformt, wie die militärisch empfundene Aufteilung des Raumes andeutet. Die kapitalistische Produktionsweise bildet Handlungsketten, in denen zunehmend unentscheidbar wird, welcher Aktion von Menschen und welche von Dingen ausgeht. Das zeigt ein Zugunglück, das gegen Ende des Textes dargestellt wird. Der Menschengeist regiert die Kräfte des Dampfes eben doch nicht allein. Mit diesen mensch-dinglichen Handlungsketten verbindet sich ein expansiver Zug, der für Eisenbahn und Times gleichermaßen gilt. Die ganze Welt wird überschwemmt von den Waren, die London verlassen. England ist nicht nur Seemacht, sondern auch Medienimperium. 2.2.2 (Ver-)Dichtung von Raum und Zeit: Lißt Auch in der Orientreiseschilderung En Digters Bazar (Eines Dichters Basar) (1842) ist London Sinnbild einer maschinell hochgerüsteten Welt- und Geschäftsstadt, dies wird im hier vorgestellten Kapitel Lißt 575 deutlich. Schauplatz der Handlung von Lißt ist jedoch Hamburg, dem diese Eigenschaften ebenfalls zugeschrieben werden. Dieser Städtetypus rückt damit an Dänemarks Landesgrenzen und wird zu dem Ort, an dem sich das Tor zur Welt und der Beginn eines künstlerischen Aufbruchs verschränken. Das Heimatland des Erzählers dagegen hat in En Digters Bazar provinzielle Züge, die sein Verlassen nötig machen, um künstlerische Bedeutung jenseits der Landesgrenzen zu gewinnen. Ein Stück seiner Heimat nimmt der Erzähler mit auf die Reise, 574 Re 2, S. 177; RB, S. 187. 575 Die Schreibung von Nachnamen war Mitte des 19. Jahrhunderts in Dänemark kaum standardisiert (vgl. Brostrøm/ Lund 1991, S. 29); der Titel des Kapitels verweist auf den Komponisten und Pianisten Liszt. 2.2 Topographien von Netzwerken 123 als Gefühl der Enge wie auch als Sehnsucht nach Nähe. Dadurch gewinnt die Topographie des Textes einen hybriden Charakter sich überlagernder Räume. 576 In Lißt wird die Schilderung des Konzerts, das der berühmte Pianist in der Hansestadt gibt, verwoben mit einer Reflexion der modernen Strukturen von Zeit und Raum. Die grenzüberschreitende Bewegung der Kunst eröffnet einen Horizont, der über Europa hinausreicht. Die Reiseschilderung formuliert im Anschluss an die in Lißt vollzogene mentale Reise ihre Realisierung in dinglich-menschlichen Netzwerken aus. Der Erzähler bewegt sich in Lißt nicht durch den Raum, aber der Raum ist kristallisierte Bewegung als Knotenpunkt eines globalen Netzwerks. Diese stillgestellte Bewegung wird in der Kunst entfesselt. „I London, denne Maskinernes store Verdens By, eller i Hamborg, dette europæiske Handels-Contoir, bliver det charakteristisk, første Gang at høre Lißt, da svarer Tid od Sted til hinanden, og i Hamborg skulde jeg høre ham.“ („Wenn man in London, dieser großen Weltstadt der Maschinen, oder in Hamburg, diesem Handelskontor Europas, Liszt zum ersten Mal hört, dann wird das zum Charakteristikum, dann entsprechen sich Zeit und Ort, und ich sollte ihn also in Hamburg hören.“) 577 Der Ort der neuen Kunsterfahrung muss ein Zentrum Europas oder eine Weltstadt sein. Der Londondarstellung vergleichbar, werden Städte über ihren Industrialisierungsgrad und ihre technische Vorreiterrolle („Maskinernes store Verdens By“) bzw. ihre Funktion als Handelsknotenpunkt („dette europæiske Handels-Contoir“) bestimmt. Damit greift der Erzähler auf zwei charakteristische Momente zurück, die den Status von Städten in der globalen Topographie des 19. Jahrhunderts mitbestimmen. Dass es zur Vorstellung einer solchen globalen Topographie kam, lässt sich auch auf die Vernetzung der Städte zu einem „Weltstädtesystem“ 578 mit intensivem Austausch und der wachsenden, unterschiedlich gewichteten Bedeutung einzelner Städte im System weltweiter Arbeitsteilung zurückführen. Im Typus des weltbekannten Virtuosen werden Ökonomie und Technik, in denen Hamburg und London Führungspositionen innehaben, auch auf dem Gebiet der Kunst wirksam. 579 Liszts Auftritt zieht ein zahlungskräftiges internationales Publikum an und die Fähigkeiten des Pianisten werden zunächst technisch definiert: Vor Tidsalder er ikke længer Phantasiens og Følelsens, den er Forstandens, den techniske Færdighed i enhver Kunst og i enhver Haandtering er nu en almindelig Betingelse for deres Udøvelse; Sprogene ere blevne saa uddannede, at det næsten hører til at skrive Stiil, det at kunne sætte sine Tanker i Vers, der for et halvhundrede Aar siden vilde have gjaldt for en sand Digters Arbeider; i hver stor By finder man i dusinviis Folk, der exeqverer Musik, med en saadan Færdighed at de for tyve Aar siden kunde have ladet sig høre som Virtuoser. Alt Technisk, saavel det Materielle, som det Aandelige er i vor Tid i sin høieste Udvikling, vor Tid erholder herved en Flugt, selv i de døde Masser! 576 Vgl. Felcht 2010b, S. 126-132. 577 Re 1, S. 226; DB, S. 15. 578 Osterhammel 2009, S. 362. 579 Zum Virtuosen vgl. auch Betz 2001, S. 23 f.; Jungmann 2008, S. 25-29; Osterhammel 2009, S. 30. 2 Text-Räume 124 (Unser Zeitalter ist nicht länger das der Phantasie und des Gefühls, es gehört dem Verstand an, die technische Fertigkeit in jeder Kunst und jedem Gewerbe ist nun zur allgemeinen Bedingung ihrer Ausübung geworden; die Sprachen haben sich so weit ausgebildet, daß es fast schon zur Pflichtübung geworden ist, seine Gedanken in Versen abfassen zu können, die noch vor einem halben Jahrhundert als Arbeit eines wahren Dichters gegolten hätten. In jeder großen Stadt findet man Dutzende von Leuten, die mit einer solchen Fertigkeit Musik betreiben, daß sie sich noch vor zwanzig Jahren hätten als Virtuosen hören lassen können. Alles Technische, das Materielle wie das Geistige, ist in unsrer Zeit in seiner höchsten Entwicklung, und unsre Zeit erlangt eine Geschwindigkeit hierdurch, daß selbst die toten Massen nicht widerstehen.) 580 Der technische Fortschritt, der Geist und Materie gleichermaßen erfasst, durchdringt die Sprachen und ihren Gebrauch. Auch hier optimiert sich die Produktion. Mit der massenhaften Ausbreitung künstlerischer Fähigkeiten steigen die Anforderungen an den Einzelnen. Dies äußert sich auch in der Schärfe der Kritik, die ausgehalten werden muss: Vore Verdens-Genier, ere de ikke Mode-Skummet kun af denne Brydning i vor Tidsudvikling, men ægte Aander, maae kunne udholde den kritiske Sønderlemmelse og hæve sig høit over det der kunde tilegnes; [....] - de maae som Coraldyret sætte endnu en Størrelse til Kunstens Træ, eller deres Virksomhed er ingen! 581 (Unsere Welt-Genies, sind sie nicht nur der Mode-Schaum der Woge unsrer Zeitentwicklung, sondern echte Geister, müssen die kritische Zerstückelung aushalten und sich hoch über das erheben, was erlernt werden konnte; [....] - sie müssen wie das Korallentier dem Baum der Kunst noch ein Stück hinzufügen, oder ihre Wirksamkeit ist keine. [Übers. F. F.] 582 ) Obgleich das Genie ausdrücklich nicht nur „Mode-Skum“ sein darf, ist seine Dauerhaftigkeit im Vergleich mit dem anwachsenden Korallenriff doch zu Beginn daran gebunden, dass es etwas Neues schöpft. Die stete Perfektionierung wird begleitet von einer Überbietungsgeste. Dass Künstler auch Teil des „Mode-Skum“ sein könnten, verweist bereits auf die Verbindung von Markt und Kunst in der Figur des Virtuosen, die sich im 19. Jahrhundert mit einem anwachsenden Publikum vollzog. Die Kritik hat Teil an diesem Markt, indem sie als Konsekrationsinstanz darin mitwirkt. 583 Das Vertrauen in den prinzipiellen Fortschritt der Kunst ist zunächst ungebrochen. 580 Re 1, S. 226 f.; DB, S. 15. 581 Re 1, S. 227. 582 DB (S. 16) übersetzt „die kritische Zergliederung bestehen“, aufgrund des bissigen Verhältnisses zur Kritik, das En Digters Bazar durchzieht, bevorzuge ich eine etwas schärfere Übersetzung. 583 Vgl. zur wachsenden Bedeutung wirtschaftlicher Zusammenhänge in der Literatur des hunderts Habermas 1990, S. 248-266 und passim. Der Kommerzialisierung zunächst wi strebende, von ihr jedoch oft später eingeholte Bewegungen stellt für die französische Literatur und Malerei Bourdieu (2001) dar. Zur Entwicklung einer bürgerlichen Musikkritik vgl. Jungmann 2008, S. 20 f. Jungmann behandelt auch das Entstehen eines Musik-Marktes sowie am Beispiel des Walzers erste Distinktionsversuche, die sich gegen den massenhaften Kunstgenuss wendeten. Vgl. ebd., S. 20-36. 2.2 Topographien von Netzwerken 125 Mit dem Auftreten des Klavierkünstlers treten jedoch neben das lineare Fortschrittsnarrativ weitere Zeitmodelle: Som et electrisk Slag gik det gjennem Salen, da Lißt traadte ind; de fleste Damer reiste sig, det var som kom der en Solglands over hvert Ansigt, som om alle Øine modtog en kjær, elsket Ven! [...] Hele Lißts Ydre og Bevægelighed viser strax en af disse Personligheder, man bliver opmærksom paa i og alene ved deres Eiendommelighed; Guddomshaanden har paatrykt dem et eget Stempel, der gjør dem kjendelig mellem Tusinde. Som Lißt der sad foran Fortepianoet, var paa mig det første Indtryk af hans Personlighed, dette Udtryk af stærke Lidenskaber i hans blege Ansigt, at han forekom mig en Dæmon, der var naglet fast til det Indstrument hvorfra Tonerne udstrømmede, de kom fra hans Blod, fra hans Tanker; han var en Dæmon, der skulde spille sin Sjæl fri; han var paa Torturen, Blodet flød og Nerverne sittrede; men alt som han spillede svandt det Dæmoniske, jeg saae det blege Ansigt faae et ædlere og skjønnere Udtryk, den guddommelige Sjæl lyste ud af hans Øine, ud af hvert Træk, han blev skjøn, som Aand og Begeistring kan gjøre det! [...] Den som beundrer Kunsten i technisk Færdighed maa bøie sig for Lißt, den som det Geniale, det af Gud givne henriver, bøier sig endnu dybere! vor Tids Orpheus har ladet Tonerne bruse gjennem Maskinernes store Verdens By og man fandt og erkjendte, som en Kjøbenhavner har sagt, „hans Fingre ere lutter Jernbaner og Dampmaskiner,“ hans Genius endnu mægtigere til at drage Verdensaanderne sammen, end alle Jernbaner om Jorden. Vor Tids Orpheus har ladet Tonerne klinge i det europæiske Handels Contoir og, i det mindste i Øieblikket, troede Folket Evangeliet: Aandens Guld har en mægtigere Klang end Verdens. 584 (Es ging wie ein elektrischer Schlag durch den Saal, als Lißt eintrat; die meisten Damen erhoben sich, es war als ob ein Sonnenglanz über jedes Gesicht käme, als ob alle Augen einen lieben, teuren Freund begrüßten! [...] Lißts ganzes Äußeres und seine Beweglichkeit zeigen sogleich eine dieser Persönlichkeiten, auf die man allein durch deren Eigentümlichkeit aufmerksam wird; die Hand des Göttlichen hat ihnen einen eigenen Stempel aufgedrückt, der sie kenntlich macht unter Tausenden. Wie Lißt dort vor dem Pianforte saß, war der erste Eindruck seiner Persönlichkeit auf mich, dieser Ausdruck starker Leidenschaften in seinem bleichen Gesicht, dass er mir wie ein Dämon vorkam, der festgenagelt war an dieses Instrument, aus dem die Töne strömten, sie kamen aus seinem Blut, seinen Gedanken; er war ein Dämon, der seine Seele freispielen musste; er wurde gefoltert, das Blut floss und die Nerven zitterten; aber als er spielte schwand das Dämonische, ich sah sein bleiches Gesicht einen edleren und schöneren Ausdruck bekommen, die göttliche Seele leuchtete aus seinen Augen, aus jedem Zug, er wurde schön, wie Geist und Begeisterung es bewirken können! [...] Wer die Kunst in technischer Fertigkeit bewundert muss sich vor Lißt verneigen, wen das Geniale, das von Gott gegebene hinreißt, verneige sich noch tiefer! der Orpheus unserer Zeit hat die Töne durch die große Weltstadt der Maschinen brausen lassen und man fand und erkannte, wie ein Kopenhagener es sagte, „seine Finger sind lauter Eisenbahnen und Dampfmaschinen,“ sein Genius noch mächtiger darin, die Weltgeister zusammenzubinden, als alle Eisenbahnen auf der Erde. Der Orpheus unserer Zeit 584 Re 1, S. 227 f. 2 Text-Räume 126 hat die Töne im europäischen Handelskontor klingen lassen, und zumindest für den Augenblick glaubte das Volk dem Evangelium: Das Gold des Geistes hat einen mächtigeren Klang als das der Welt. [Übers. F. F.] 585 ) Das Fortschrittsnarrativ wird ergänzt um die Metamorphose des Dämonischen, um die religiöse Erlösung, den Rausch, den Mythos und, etwas später, die Revolution. Liszts Auftritt erzählt von der Perfektionierung menschlicher Fähigkeiten ebenso wie vom sensationell Einmaligen, von der scheinbaren Vertrautheit des Prominenten mit seinem Publikum und seiner absoluten Fremdheit, vom Göttlich-Genialen und dem Dämonischen. In Orpheus vereinigen sich Mythos und Technik. Alles wird in diesem Konzert eingefangen, so dass der Raum eine ungeheure Konzentration verschiedener Erfahrungen von Zeit fasst. Die Metaphorik der Eisenbahn- und Dampfmaschinenfinger verweist auf das Eindringen der Hybridwesen in die Kunst. Obgleich zuletzt das Gold des Geistes mit dem der Welt kontrastiert wird, lässt die Darstellung des Publikums zu Beginn des Kapitels keinen Zweifel daran, wer dieses Gold konsumiert: Salen, ja selv Sideværelserne, straalede af Lys, Guldkjæder og Diamanter! ikke langtfra, hvor jeg stod, laae i en Sopha en Jødepige, feed og pyntet, hun lignede en Hvalros med Vifte. Solide Hamborger-Kjøbmænd stode murede op paa hverandre, som var det en vigtig Børs-Sag der skulde afhandles; der sad dem et Smiil ved Munden, som havde de alt kjøbt Papirer og vundet utroligt. (Der Saal, ja selbst die Nebenräume strahlten von Lichtern, goldnen Ketten und Diamanten. Nicht weit von meinem Platz lag auf einem Sofa ein jüdisches Mädchen, feist und geputzt, wie ein Walroß mit Fächer. Solide Hamburger Kaufleute standen wie aneinandergemauert, als gelte es wichtige Börsengeschäfte zu verhandeln, und ein Lächeln stand auf ihren Gesichtern, als hätten sie Papiere gekauft und unglaublich verdient.) 586 Es sind die wohlhabenden Geschäftsleute und ihre mit Kostbarkeiten behängten Frauen, die das Konzert besuchen und den Künstler zu dem machen, was er ist. Die Konzentration unterschiedlicher Zeiterfahrungen wird im Falle des Textes durch den Bericht vom Konzert geleistet, der die Performanz einer intensiven akustischen und atmosphärischen Verdichtung textuell wiedergibt und dabei noch steigert: Man bruger tidt, uden at tydeliggøre sig det, Udtrykket: et Hav af Toner, og et saadant er det der strømmer ud fra Fortepianoet, hvor Lißt sidder. Instrumentet synes forvandlet til et heelt Orchester [...]. Jeg har truffet paa Politikere, der ved Lißts Spil begreb, at den rolige Borger kunde gribes ved Marseilliaisens Toner, til at tage Geværet, styrte sig fra Hjem og Arne og kjæmpe for en Idee! jeg har ved hans Spil seet rolige Kjøbenhavnere med dansk Efteraars Taage i Blodet blive politiske Bacchanter; Mathematikere have svimlet i Klangfigurer og Beregninger om Lyden. Unge Hegelia- 585 Die Atemlosigkeit und Begeisterung schlagen sich im Original stärker in Interpunktion und Syntax nieder, als dies in der Übersetzung in DB (S. 16 f.) der Fall ist, deshalb werden hier und beim übernächsten Zitat eine eigene Übersetzung vorgezogen. 586 Re 1, S. 226; DB, S. 15. 2.2 Topographien von Netzwerken 127 nere [...] skuede i dette Tonehav Videnskabens bølgeformige Fremskriden mod Fuldendelsens Kyst, Digteren fandt i den sit hele Hjertes Lyrik [...]! - den Reisende, ja jeg slutter fra mig selv, han faaer Tonebilleder af hvad han seer eller skal see, jeg hørte hans Spil, som en Ouverture til min Reise, jeg hørte hvor mit eget Hjerte bankede og blødte ved Afskeden fra Hjemmet; jeg hørte Bøgernes [sic] Levvel, Bølgerne som jeg igjen først skulde høre ved Terracinas Klipper; det klang som Orgeltoner fra Tydsklands gamle Domkirker, Gletscherne rullede fra Alpernes Bjerge og Italien dandsede i Carnevals Dragt [...] Toner jeg ikke kjendte, Toner jeg ei har Ord for, tydede paa Orienten, Phantasiens Land, Digterens andet Fædreland! 587 (Man braucht oft, ohne sich das deutlich zu machen, den Ausdruck: ein Meer von Tönen, und ein solches ist es, was aus dem Pianoforte strömt, wo Lißt sitzt. Das Instrument scheint in ein ganzes Orchester verwandelt [...]. Ich bin auf Politiker getroffen, die durch Lißts Spiel begriffen, dass der ruhige Bürger durch die Töne der Marseillaise ergriffen werden konnte, das Gewehr zu nehmen, von Haus und Herd zu stürzen und für eine Idee zu kämpfen! ich habe durch sein Spiel ruhige Kopenhagener mit dänischem Herbstnebel im Blut politische Bacchanten sehen werden; Mathematiker wurden schwindelig in Klangfiguren und Berechnungen von Lauten. Junge Hegelianer [...] erschauten in diesem Tonmeer den wellenförmigen Fortschritt der Wissenschaften auf die Küste der Vollendung zu, der Dichter fand darin die Lyrik seines ganzen Herzens [...]! - der Reisende, ja ich schließe von mir selbst, er bekommt Tonbilder von dem, was er sieht oder sehen soll, ich hörte ein Spiel, wie eine Ouverture zu meiner Reise, ich hörte wie mein eigenes Herz schlug und blutete beim Abschied vom Heim; ich hörte das Lebewohl der Wellen, die Wellen, die ich erst wieder an Terracinas Klippen hören sollte; es klang wie Orgeltöne von Deutschlands alten Domkirchen, die Gletscher rollten aus den Bergen der Alpen und Italien tanzte im Karnevalskostüm [...]! [...] Töne, die ich nicht kannte, Töne, für die ich keine Worte habe, deuteten auf den Orient, das Land der Phantasie, des Dichters zweites Vaterland! [Übers. F. F.]) Der Topos des durch das Klavier erzeugten Orchesters begründet sich musikgeschichtlich in den neuen technischen Möglichkeiten des Klaviers; Liszt teilte bereits 1837 in einem Brief an Adolph Pictet diesem seine Einschätzung mit, das Klavier könne ein Orchester ersetzen. 588 Kunst und Technik sind im Klavier untrennbar verbunden. Nicht allein ein ganzes Orchester evoziert Andersens Text, sondern gleich die ganze Welt. Der Erzähler-Zuhörer begibt sich im performativ aufgeladenen Konzertsaal auf eine Reise. Ausgehend vom europäischen Handelskontor, in dem Zeit und Ort einander entsprechen, entfalten sich ein Meer von Tönen und ganz Europa. Die eingangs angekündigte Entsprechung von Zeit und Ort erweist sich im Verlauf des Konzertes als Überlagerung von Zeiten und Orten. Wie im Handelskontor, das virtuell und real von Warenströmen aus der ganzen Welt durchzogen ist und sich aus vergangenen, aktuellen und geplanten Transaktionen speist, ist auch der Konzertsaal ein Knotenpunkt unterschiedlicher Zeit- und Raumordnungen. 587 Re 1, S. 228. Bei „Bøgerne“ handelt es sich um einen Tippfehler, wie ein Zitatabgleich mit der 1944er Ausgabe (R&R 6, S.58) unterstreicht. 588 Vgl. Jungmann 2008, S. 26. 2 Text-Räume 128 In dem Kapitel, das Lißt vorausgeht, segeln Amerikaauswanderer am Erzähler vorbei und es wird eine rührende Wiedersehenszene zwischen einem Matrosen und seiner Familie geschildert. Das Meer trennt und verbindet gleichermaßen. Auch das Meer der Töne ist ein globales Medium, das Bürger, Bacchanten und Hegelianer anspricht. Ob seine rauschhaften Wellen Poesie, Politik oder Wissenschaft durchfluten, hängt von der konkreten Wahrnehmungssituation ab. In jedem Fall führt es zu einer Überschreitung der Grenzen des Üblichen. Das gilt auch für den Reisenden, der hier zugleich Dichter ist. Mit den Tonbildern erreicht er das Land der Phantasie. Dieses Land ist das zweite Vaterland des Dichters, für dessen Virtuosität das Konzert des Klaviervirtuosen den Auftakt darstellt. Der Superposition unterschiedlicher Zeitwahrnehmungen und Zeitkonzeptionen entspricht die Superposition der Verortungen im Raum, die unter explizitem Bezug auf die Welt als Ganze erfolgt und in ihren ökonomischen, technischen und virtuellen Dimensionen angesprochen wird. Dabei erlebt der Leser, dass dieser Effekt eines verschiedene Zeitkonzeptionen und räumliche Begrenztheit transzendierenden Erlebens auch so erfolgreich ist, weil die Inszenierung des künstlerischen Auftritts mit genau diesen Momenten arbeitet. Liszt ist - wie der Ich-Erzähler selbst - der durch die Lande fliegende Künstler, 589 der nur für den Augenblick des Auftritts zugegen ist und so den elektrischen Schlag auslösen kann, der sich aus der Spannung des Publikums ergibt. Es handelt sich hier um eine bewusst inszenierte Grenzüberschreitung, 590 die jedoch nicht allein Ekstase, sondern im Gegenteil genauso sehr das Gefühl erzeugt, in ein Länder übergreifendes Publikum eingebunden zu sein. Diese Einbindung leistet der Künstler, dessen verbindende Kraft diejenige der Eisenbahnen sogar übersteigt. Der Text treibt dieses einbindende Überschreiten noch weiter, indem er die Konzertschilderung auch zu einem poetologischen Programm erhebt. Zu Beginn des Kapitels wird eine intermediale Schnittstelle erzeugt, in der das Fortschreiten technischer Virtuosität des dichterischen wie musikalischen Könnens erklärt wird. Liszts genialer Auftritt leitet über zu einer Vision der im Text noch folgenden Reise, die er als „Ouverture“ eröffnet. Diese Reise bringt unaussprechliches Neues und deutet auf den Orient, der zugleich das Land der Phantasie ist. In diesem Bild ist die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Realität und Fiktion eingeschlossen. In hochkonzentrierter Form entfaltet die Szene Repräsentationsmöglichkeiten von Welt: in der Weltstadt, durch den aktuellsten Stand der Technik, im Weltgenie bzw. den Weltgeistern, in der Weltreise und in der poetischen Vorstellung derselben, die 589 Vgl. Re 1, S. 228; DB, S. 18. 590 Nach Madeleine Herren (2005) handelt es sich hierbei um ein Charakteristikum des „globalen Subjekts“. Obgleich die Vorstellung, es gebe „das globale Subjekt“ (ebd., S. 2) sich in dieser Form mit meinen theoretischen Prämissen nicht vereinbaren lässt und ich Herrens Postulat, dass dessen Grenzüberschreitung nicht als Weg zu einem jenseits der Grenze liegenden Ziel beschrieben werden kann, nicht teile, erkenne ich für Fälle wie Liszt und Andersen die Bedeutung der inszenierten Grenzüberschreitung für den transnationalen Charakter ihrer Biographie an. 2.2 Topographien von Netzwerken 129 scheinbar noch durch die musikalische („Toner jeg ei har Ord for“ [„Töne, für die ich keine Worte habe“]) überboten wird. Dabei führt der Text vor, dass nicht nur die Musik ausdrückt, was dem Wort verschlossen bleibt, sondern auch die Literatur den Rahmen des musikalischen Erlebnisses erweitern kann, indem sie das setting und die Publikumsreaktionen wiedergibt und festhält, was ohne die Fixierung als Text (damals noch) flüchtig ist - den Auftritt. Die Künste ergänzen sich wechselseitig und gehen ineinander über, wie der durch die Lande fliegende Künstler praktizieren sie eine permanente Überwindung von Distanzen. In En Digters Bazar wird Welt durch Reisen dargestellt, und es ist ein wichtiges Element dieser Darstellung, dass sie Europa zeitweise verlässt. An der Grenze des Sagbaren liegt die Phantasie, das zweite Vaterland des Dichters - in der Nähe des Orients, der somit direkt neben der eigentlichen, imaginären Heimat platziert wird, die es nur als künstlerische Schöpfung gibt. Reisen ist hier ein literarisches Programm, Grenzüberschreitungen erlauben erst Kunst. 591 Damit wird die Sprachkunst als solche entortet und entgrenzt, 592 und diese Bewegung ist Gegenstück einer sich nationalisierenden Sprache und Literatur. Diese Technik der Entortung schlägt sich wiederum auf die Topographie des Textes nieder. En Digters Bazar arbeitet wesentlich mit Überblendungen von dänischen und außerdänischen Bildern, mit schnellen Abfolgen von Eindrücken, mit Exotisierungen des Vertrauten ebenso wie des Fremden. Diesen Aspekten entsprechen auf der Inhaltsebene Medien, die die Wahrnehmung verändern. 593 Neben einem der Eisenbahn gewidmeten Kapitel, das facettenreich auslotet, wie die neue Transporttechnik die Landschaft ebenso wie deren Wahrnehmung transformiert, 594 finden sich zum Beispiel auch Verweise auf die Daguerrotypie 595 oder ein Perspektiv aus der Kindheit, das die Folie der Wahrnehmung von Augsburg darstellt. 596 Diese Superpositionen implizieren, dass eine eindeutige Zuordnung von fremd und eigen in En Digters Bazar nicht erfolgen kann, vielmehr verschieben sich ständig die Positionen der Wahrnehmung und des Wahrgenommenen. Bjarne Thostrup Thomsen hat eine weitgehend dekontextualisierte, auf den orientalistischen Aspekt fokussierte Lesart des Orient-Teils aus En Digters Bazar vorgelegt, die dessen Motive nicht mit dem Rest des Reisebuches in Beziehung setzt. 597 Auf einem Mittelmeerdampfer spielt sich folgende Szene ab, die vielleicht am deut- 591 Vgl. Brostrøm/ Lund 1991, S. 10 f.; Houe 2006, S. 12 f., 17 f. Houes Bewertung, die Vielfalt der wiedergegebenen Eindrücke sei ein Zeichen für die Labilität des Autors, die sich negativ auf die Qualität des Textes auswirkt, teile ich nicht. Vgl. dagegen Mortensens Einschätzung des Bazar als Meisterwerk, das das literarische Pendant eines orientalischen Basars darstellt: Re 1, S. 27-30. Zur Bedeutung des Reisens für Andersens Texte vgl. auch H. Andersen 2005; Houe 1996. 592 Vgl. Brostrøm/ Lund 1991, S. 119 f. 593 Vgl. Felcht 2010b, S. 127. 594 Vgl. Behschnitt 2005, S. 173-178 595 Vgl. Se 1, S. 227; DB, S. 16. 596 Vgl. Se 1, S. 243 f. ; DB, S. 34 f. 597 Vgl. Thorup Thomsen 2006. 2 Text-Räume 130 lichsten zeigt, warum die Interpretation des Orient-Teils nicht ohne Berücksichtigung der Position Dänemarks in der Reiseschilderung erfolgen kann: For de Fleste ombord var jeg den, der syntes at være meest langveis fra; jeg kom fra Norden. „Fra Danmark! “ gjentog vor romerske Geistlige, der gik til Jerusalem, „Danmark! De er altsaa en Amerikaner? “ Jeg forklarede ham, at Danmark laae langt fra Amerika, men han rystede paa Hovedet, som Fruen i „de Danske i Paris“ og sagde, som hun: „Ikke saa langt endda! ikke saa langt endda! “ 598 (Für die meisten an Bord war ich der, der am weitesten weg zu sein schien; ich kam aus dem Norden. „Aus Dänemark! “ wiederholte unser römischer Geistlicher, der nach Jerusalem ging, „Dänemark! Sie sind also ein Amerikaner? “ Ich erklärte ihm, dass Dänemark weit entfernt von Amerika läge, aber er schüttelte den Kopf, wie die Frau in „die Dänen in Paris“ und sagte, wie sie: „Gar nicht so weit! gar nicht so weit! “ [Übers. F. F.] 599 ) Gemeinsam mit Dänemark wird an dieser Stelle auch der Ich-Erzähler exotisiert. Nähe und Ferne werden als relationale Beziehungen erkennbar. In dieser Topographie werden geographische Festlegungen durch prozesshafte Strukturen ersetzt. Es ist eine Topographie der Netzwerke. 2.2.3 Afrika und das Netz der Dinge Diese Netzwerke werden wesentlich durch Dinge hergestellt, insbesondere in ihrer warenförmigen Gestalt. Aus der Funktion von Dingen, die in den Texten herausgearbeitet wird, ergeben sich stellenweise globale Topographien in dem Sinne, dass sie kulturelle Hybridisierungsprozesse erkennbar werden lassen, die sich aus der Geschichte der Netzwerkbildung und ihrer aktuellen Gestalt im globalen Kapitalismus ergeben. Dies wird anhand der Afrikareiseschilderung I Spanien (In Spanien) (1863) verdeutlicht. In I Spanien entsteht durch die Sichtbarmachung eines Netzwerkes eine imaginäre Geographie, die gängigen Afrikabildern zuwider läuft. Zwar scheint die Ankunft in Marokko das Muster einer in zivilisiertes und unzivilisiertes Benehmen geographisch geteilten Welt zu bestätigen. Den Empfang der marokkanischen Juden, die die Reisenden und ihr Gepäck in der Hoffnung auf ein Verdienst an Land tragen, empfindet der Erzähler als Plünderung. Die Begleitung von Jugendlichen in die nächste Stadt beschreibt er respektlos: „ledsagede af en Snees halvnøgne Barbarer; vare vi ikke ogsaa paa Barbarernes Kyst, i Landet hvorfra i gammel Tid Sørøverne gik ud, som fra Tunis, Algier og Tripolis, for at øve Rov og Drab.“ („begleitet von etwa 598 Re 1, S. 371. 599 Die Übersetzung in DB folgt einer altertümlicheren Diktion als das Original. Vgl. ebd, S. 183. Zu der Anspielung auf das Vaudeville Die Dänen in Paris vgl. auch DB, S. 453. 2.2 Topographien von Netzwerken 131 zwanzig halbnackten Barbaren - waren wir nicht auch an der Küste der Barbaren, in jenem Land, von dem in alter Zeit die Seeräuber auszogen, so aus Tunis, Algier und Tripolis, um Raub und Totschlag zu verüben? “) 600 Die Begegnungen mit muslimischen und jüdischen Marokkanern werden jedoch zunehmend positiv geschildert. Entscheidend für das Afrikabild sind zudem die Dingdarstellungen, die Afrika in eine länderübergreifende Geschichte einbinden und keineswegs als unzivilisierte Wildnis portraitieren. Der Ankunft in Afrika ist eine Reise durch Spanien vorausgegangen. Spanien ist in der Reiseschilderung durchdrungen von den architektonischen Leistungen der maurischen Besetzer und nimmt selbst eine ambivalente Position zwischen weltstädtischen Momenten und provinziellem Verfall ein. 601 Die Hierarchie der Kontinente verliert in der materiellen Kultur an Eindeutigkeit und es kommt zu einer stärker regional differenzierten Topographie. Das bedeutet nicht, dass Ausbeutungszusammenhänge und Machtverhältnisse ausgeblendet werden. Ihre Legitimierung durch eine kulturelle Hierarchie fortgeschrittener Völker gegenüber scheinbar primitiven unterbleibt jedoch. Die europäisch-afrikanisch-amerikanische Geschichte wird durch die in der Reiseschilderung auftretenden Konsumgüter ein unentwirrbares Geflecht. Im Kapitel Et Besøg i Afrika (Ein Besuch in Afrika) gibt der Erzähler die Geschichte einer Zigarre wieder. In Kuba von afrikanischen Sklavinnen produziert, kommt die mit den Sehnsüchten, der Trauer und den Erinnerungen einer Sklavin aufgeladene Zigarre nach Afrika zurück, wo der Erzähler sie raucht und Gedanken und Gefühle ihrer Produzentin damit freisetzt. 602 Hier wird mit der Herkunft der Zigarre und den Bedingungen ihrer Herstellung ein globaler Ausbeutungszusammenhang in Erinnerung gerufen. Tabakkonsum zieht sich durch die gesamte Reiseschilderung; so rauchen die Spanier zu jeder Gelegenheit. Der Zigarre ist sogar ein Gedicht gewidmet. 603 Analog zur Vorstellung einer weltumspannenden Warenkette windet sie sich in immer neuen Transformationen durch den gesamten Text. Dieses durchgängig präsente Produkt erhält in Afrika seine Herkunftsgeschichte, eine Geschichte von Verschleppung und Ausbeutung. Damit wird die Dingbiographie zum Instrument, die Herkunftsvergessenheit der Ware zu brechen. Dieser Dingbiographie - einer Form, die nach Ivan Kopytoff kulturanalytisches Potential hat - 604 steht eine Szene gegenüber, die verdeutlicht, wie weit sich die Dinge in Warenketten von ihrer Herkunft entkoppeln können. In Tanger sieht der Erzähler bei einem jüdischen Andenkenhändler Ting, man kunde hjembringe til Danmark, som en Erindring fra Tanger. Senere fandt jeg rigtignok i Paris, hos en af de der handlende Tyrker, ganske de samme Sager, og da 600 Re 2, S. 332; RB 2, S. 162 f. 601 Vgl. Müller-Wille [im Druck, S. 5-9 (das mir vorliegende Manuskript ist nicht paginiert)]. 602 Vgl. Re 2, S. 338; RB 2, S. 171. 603 Vgl. Re 2, S. 355; RB 2, S. 195. 604 Vgl. Kopytoff 2006. 2 Text-Räume 132 jeg spurgte om disse kom fra Tanger, fortalte han mig, at de alle bleve forarbeidede i Paris, derfor kun vare halv saa dyre her, som ovre i Afrika. De gik fra Frankrig i store Forsendelser til Algier, Oran og alle de afrikanske Middelhavs-Byer; kjøbte i disse, var de jo altid Erindring om Afrika, og i Erindringen lyser Phantasus-Blusset. (Dinge, die man als Andenken aus Tanger mit nach Dänemark nehmen könnte. Später fand ich bei einem der handelnden Türken in Paris genau die gleichen Sachen, und als ich danach fragte, ob sie aus Tanger stammten, erzählte er mir, sie würden alle in Paris verfertigt und seien deshalb nur halb so teuer wie in Afrika. Sie gingen von Frankreich in großen Sendungen nach Algier, Oran und in alle afrikanischen Mittelmeerstädte; wenn man sie dort kaufte, waren sie allemal eine Erinnerung an Afrika, und in der Erinnerung leuchtet das Feuer des Phantasus.) 605 Der Andenkenladen erweist sich als Element eines globalen Marktes hybrider Produkte. Darin sind es europäische Reisende oder Touristen, die „mauriske Sager, som Skjorteknapper, Brystnaale og Broscher“ („maurische[n] Sachen wie Hemdenknöpfe, Brustnadeln und Broschen“) 606 erwerben; Dinge, die als Fetische funktionieren: Der diesen Dingen zugeschrieben maurische Charakter ist illusionär. Ihre wahre Geschichte darf nicht erzählt werden, damit sie weiterhin die Gefühle auslösen können, die die Kaufentscheidung begründen. Damit verhalten sich die Europäer so fetischistisch, wie sie es im frühen ethnologischen Diskurs von den Afrikanern behaupteten. 607 Sie besetzen Dinge mit Gefühlen, die ihnen nach einem aufgeklärtrationalen europäischen Selbstverständnis nicht zukommen dürften. Auch hier wird eine geographische Unterteilung der Welt in Primitiv und Fortschrittlich fragwürdig. Gerade die Figur des Touristen verdeutlicht, dass dieses fetischistische Verhalten auch in Verbindung steht mit dem Wandel der Konsumkultur, der sich im 19. Jahrhundert vollzog. Das Wort Tourist lässt sich seit etwa 1800 belegen. Das Phänomen Tourismus verband sich unter anderem mit der Beschleunigung des Reisens durch Eisenbahn und Dampfschiff, mit einer durch wachsende Reise- und Bewegungsfreiheit aufkommenden Mobilität - und der Ausweitung des Reisens auf immer größere gesellschaftliche Kreise. 608 Darin gleicht Tourismus anderen Luxusgütern, deren Konsum sich im Laufe des 19. Jahrhundert aus unterschiedlichen Gründen demokratisierte. Tourismus impliziert komplexe Konsumvorgänge, die zu vielfältigen affektiven Besetzungen einladen und neue Vorstellungsräume eröffnen. Er hatte Anteil am modernen Wandel von Begehrensstrukturen, wie ihn Müller- Wille im Aufsatz zu Andersen und den Dingen angesprochen hat. 609 Der Komplex aus 605 Re 2, S. 341; RB 2, S. 175 f. 606 Re 2, S. 341; RB 2, S. 175. 607 Zum Fetisch vgl. Apter 1993; Böhme 2006. Zum Fetischcharakter von Souvenirs und der Globalisierung der Souvenirproduktion vgl. Löfgren 1999, S. 85-88. 608 Vgl. Hachtmann 2007, S. 9-17, 71-76; Löfgren 1999, S. 32 f., 161-163 und passim; Zorn 1977, S. 132 f. 609 Vgl. Hachtmann 2007, S. 75; Löfgren 1999, S. 7 f., 26-28, 267-271, 274-277, 281 f. Hachtmann und Löfgren verdeutlichen dies auch am Beispiel des modernen schwelgerischen Naturtourismus, den Hachtmann als Gegenpol zur Verarmung von Emotionen im bürgerlichen Alltag sieht. Vgl. Hachtmann 2007, S. 61 f.; Löfgren 1999, S. 26-40, 48-58, 109-111. 2.3 Text-Netzwerke 133 Gefühlen und Imaginationen, der sich mit der Reise verbindet, wird im gegebenen Beispiel des Souvenirs an ein Ding geknüpft, das selbst Teil einer langen Warenkette ist, die Europa und Afrika verbindet. Dieses fetischistische Ding kommt aus Frankreich, einem der Zentren der Moderne, um in Afrika an Europäer verkauft zu werden. Fetischismus und Moderne sind im Beispiel untrennbar verbunden. 2.3 Text-Netzwerke 2.3.1 Netzwerken. Zur agency von Texten in Mit Livs Eventyr Zu den Quasi-Objekten, die Netzwerke bilden, gehören auch Texte. Wie Michel Serres es für Quasi-Objekte generell beschreibt, werden Texte erst zu dem, was sie sind, wenn sie sich mit Subjekten verbinden. 610 Bei diesen Zusammentreffen verändern sich der Text und die Individuen, zwischen denen er zirkuliert. Zirkulierende Texte schaffen ein Kollektiv und punktuell auch Individuen. Im Rahmen des Buchmarktes des 19. Jahrhunderts ist das durch das Wandern der Texte entstehende Kollektiv von einer anwachsenden grenzüberschreitenden Austauschbewegung geprägt. Andersens Texte schaffen sehr weitreichende Netzwerke. Teil 3 zeigt, wie die Eventyr og Historier einerseits die Entstehung dinglicher Netzwerke nachzeichnen, andererseits auf ihre eigene Dinglichkeit verweisen. Dabei reflektieren sie auch ihren Warencharakter und die damit verbundenen Produktionsmechanismen. Das vorliegende Unterkapitel untersucht die agency von Texten in Mit Livs Eventyr. Die Rolle von Texten bei der Konstruktion des Ichs wird im Zusammenhang mit den sozialen Funktionen, die Texte inne haben, und der Herausbildung von Text-Netzwerken im 19. Jahrhundert betrachtet, so dass das Bild einer transnationalen Textkultur entsteht. Mit der Zirkulation der autobiographischen Texte wird ungewiss, wo das Subjekt, das sich vom Quasi-Objekt nicht eindeutig abgrenzen lässt, zu lokalisieren ist. Andersens Autobiographien, biographisch argumentierende Rezensionen und biographische Skizzen über Andersen, aus denen in Mit Livs Eventyr zitiert wird, 611 waren in weiten Teilen Europas und Nordamerikas verbreitet. Zugleich können sie als Teil seines Ichs gelesen werden. In der Zusammenfassung der Kritik Kierkegaards am Roman Kun en Spillemand aus Af en endnu Levendes Papirer erklärt der Erzähler von Mit Livs Eventyr: „Jeg fik dengang det ud af den, at jeg var ingen Digter, men en digterisk Figur, der var løbet ud af min Gruppe, og at det var en tilkommende Digter givet at stille mig i den, eller 610 Vgl. Serres 1987, S. 344-351. In diesem Unterkapitel lehne ich mich an Serres’ Terminologie an. 611 Vgl. Se 2, S. 90 f., 168 f., 175, 178, 201, 221, 236, 307; Se 3, S. 173-177; MLM, S. 115, 222, 227 f., 232 f., 263, 307 f., 409. Der Anhang aus Se 3 ist in MLM leider nicht enthalten, da diese Texte im deutschen bzw. englischen Original wiedergegeben werden, ist eine Übersetzung aber auch nicht erforderlich. 2 Text-Räume 134 at benytte mig som Figur i en Digtning, hvori han skabte mit Supplement! “ („Ich las damals aus der Abhandlung, daß ich kein Dichter sei, sondern eine dichterische Figur, die aus ihrer Gruppe hinausgetreten sei, und daß es einem künftigen Dichter anheimgegeben sein müsse, mich wieder in die Gruppe hineinzustellen oder mich als Figur in einer Dichtung zu benutzen, in der er eine Ergänzung zu mir gestalte.“) 612 und paraphrasiert so folgenden Auszug aus Af en endnu Levendes Papirer: [H]ans [Andersens, F. F.] egen Virkelighed, hans egen Person forflygtiger sig til Digt, saa at man virkelig i enkelte Øieblikke fristes til at troe, at Andersen er en Figur, der er løben bort fra en af en Digter componeret, endnu ikke færdig Gruppe; og unægteligt er det vistnok, at Andersen kunde blive en meget poetisk Person i et Digt, hvorved da netop hele hans Digten ville blive opfattet i sin fragmentariske Sandhed. 613 ([S]eine [Andersens, F. F.] eigene Wirklichkeit, seine eigene Person verflüchtigt sich zu Dichtung, so dass man in einzelnen Augenblicken wirklich zu glauben versucht ist, dass Andersen eine Figur ist, die aus einer von einem Dichter komponierten, noch nicht fertigen Gruppe fortgelaufen ist; und es ist gewiss unbestreitbar, dass Andersen eine sehr poetische Person in einem Gedicht werden könnte, genau dadurch könnte dann sein Dichten in seiner fragmentarischen Wahrheit verstanden werden. [Übers. F. F.]) Das Fragmentarische der Dichtungen und die mangelnde charakterliche Geschlossenheit des Autors werden in Kierkegaards Kritik assoziiert; die Text-Mensch- Grenze ist in seiner Lektüre durchlässig geworden. 614 Obgleich der Erzähler von Mit Livs Eventyr sich an dieser Stelle von Kierkegaard ironisch zu distanzieren scheint, spielen die Autobiographien selbst virtuos mit der bei Kierkegaard beschriebenen Ungewissheit der Grenze zwischen Text und Mensch. Die daraus resultierende wechselhafte Verortung des Ichs ist nach Serres typisch für dessen Zusammenspiel mit Quasi-Objekten. 615 In diesem Sinne können auch die zahlreichen Verweise in Mit Livs Eventyr auf Schilderungen aus bereits erschienen Texten Andersens, auf ihre Rezeption oder Entstehungsgeschichte, die auf diese Weise mit dem Erzähler verbunden werden, 616 als ein Mechanismus der Identitätserzeugung gelesen werden, der Andersens Identität als Knotenpunkt von Texten fasst. 617 612 Se 2, S. 179; MLM, S. 234. 613 Kierkegaard 1997, S. 31. 614 Vgl. auch S. 8 dieser Arbeit. 615 Vgl. Serres 1987, S. 344-351. 616 Vgl. z. B. Se 2, S. 153, 168-183, 191, 194, 197-212, 216, 224-227, 302 f., 316; Se 3, S. 85, (für die folgenden Angaben aus der Fortsetzung von Mit Livs Eventyr liegt keine deutsche Übersetzung vor) 184, 190 f., 193, 210, 213, 218 f., 220, 230, 232, 240, 242, 250, 254, 269, 281-283, 322, 329 f.; MLM, S. 200 f., 222-238, 248, 253, 256-276, 281 f., 293-298, 401-403, 423 f., 571. 617 Ähnlich äußern sich Torben Brostrøm und Jørn Lund: „Selve Andersens liv er et kunstprodukt, en eksistens i sproget“ („Andersens Leben ist ein Kunstprodukt, eine Existenz in der Sprache“ [Übers. F. F.]) (Brostrøm/ Lund 1991, S. 120), ist die leitende These von Flugten i sproget (Die Flucht in die Sprache), und sie erklären den Drang, jedes noch so kleine Detail schriftlich festzuhalten: „[N]år man som H. C. Andersen lever i sproget, der i den talte form er en flygtig størrelse, må den skrevne manifestation repræsentere stabiliteten og sikre identiteten.“ („Wenn man wie H. C. 2.3 Text-Netzwerke 135 Mit Livs Eventyr unterscheidet das Ich stellenweise nicht von seinen Texten, beispielsweise wenn der Erzähler anlässlich einer Begegnung mit Chamisso bemerkt: „[J]eg forærede ham mine ‚Digte’, og han blev den Første, der oversatte mig, den Første, der indførte mig i Tydskland.“ („[I]ch verehrte ihm meine ‚Gedichte’, und er sollte der erste werden, der mich übersetzte, der erste, der mich in Deutschland einführte.“) 618 Mit den Gedichten wird auch das Ich übersetzt. Diese textlich verfasste Identität orientiert sich zwar vor allem in den frühen Autobiographien noch an traditionellen Entwicklungskonzepten wie der Bildungsidee 619 oder an den von Ivy York Möller-Christensen herausgearbeiteten Mythen vom Aufstieg des Proletariers, des Triumphs des Dichtergenies und den Abenteuern eines des kindlich-naiven Märchenhelden 620 und wird so mit der Vorstellung einer in sich geschlossenen Person beziehungsweise eines göttlich gesteuerten Lebensplanes verbunden. Klaus P. Mortensen stellt jedoch fest, dass die Autobiographien nicht von einer zusammenhängenden Lebensdeutung gesteuert zu sein scheinen, sondern „mere og mere situationsbundne, udvendige og fragmenterede jo længere frem vi når i tid.“ 621 („mehr und mehr situationsabhängig, äußerlich [„udvendig“ kann auch mit „oberflächlich“ übersetzt werden] und fragmentarisch, je weiter wir in der Zeit voranschreiten.“ [Übers. F. F.]). Helge Topsøe-Jensen weist in seiner Studie zum Märchen meines Lebens ohne Dichtung darauf hin, dass die Aufgabe der Geschlossenheit der biographischen Sinnkonstruktion mit einer Zunahme von Reiseerinnerungen einhergeht. 622 Dieser Zusammenhang von räumlicher Öffnung und Auflösung des dargestellten Subjekts lässt sich auch für Mit Livs Eventyr feststellen. Die Auflösung schlägt sich zudem in einer Zersplitterung der Erzählperspektive nieder, die durch ausführliche Zitate aus Gedichten von Andersen für Freunde und Bekannte sowie für und über ihn, Briefen an ihn, Rezensionen, Zeitungsartikeln und anderen Texten Andersens aufgesprengt wird. 623 Der Text vereint dadurch unterschiedliche Perspektiven, Geschehens- und Persönlichkeitsschilderungen. Andersen in der Sprache lebt, die in der gesprochenen Form eine flüchtige Größe ist, muss die schriftliche Manifestation Stabilität repräsentieren und die Identität sichern.“) (ebd., S. 136). 618 Se 2, S. 90; MLM, S. 115. 619 Vgl. hierzu Klaus P. Mortensens Einleitung zu den Autobiographien in Se 1, S. 19 ff. Klaus Müller- Wille (2006, S. 139) hält fest: „Wie bei Oehlenschläger führt die kritische Thematisierung des Geniegedankens zu einer schleichenden Auflösung der Textfunktion Autorschaft, die es Andersen erlaubt, durchaus modern anmutende Textkonzepte zu realisieren.“ 620 Vgl. Möller-Christensen 1992, S. 104-113. 621 Se 1, S. 16. Vgl. auch Möller-Christensen 1992, S. 217 ff. 622 Vgl. Topsøe-Jensen 1940, S. 146. 623 Vgl. z. B. Se 2, S. 62 f., 70-73, 90 f., 98-100, 104-109, 115 f., 119, 123 f., 154, 164 f., 172-175, 178, 180 f., 198-201, 206 f., 246, 248, 250 f., 253, 258, 260-263, 280-284, 286, 307-309, 317, 323; Se 3, S. 22, 64-68, 73-75, 77-79, 85, 89 f., 96, 102 f., 105-107, 115-117, (die folgenden Stellen finden sich nicht in der deutschen Übersetzung, da diese den Anhang und die Fortsetzung der Jahre 1855-67 nicht enthält, diese Einschränkung gilt auch in den kommenden Fußnoten) 160-177, 190 f., 199, 203, 205 f., 209 f., 222 f., 237-239, 246-249, 278, 285 f., 289, 309, 320 f., 335-343, 345; MLM, S. 73 f., 86-89, 115, 125-128, 134-137, 146-148, 152 f., 185 f., 202, 215, 224 f., 228 f., 232 f., 235-237, 257-263, 270, 320, 324, 329, 331, 339, 343-345, 369-371, 374, 378, 409-412, 2 Text-Räume 136 Die Wiedergabe von Dokumenten, die neben den Zitaten im Hauptteil auch durch einen in der 1855er Ausgabe bereits enthaltenen Anhang erfolgt, hat einerseits einen beglaubigenden Charakter; 624 andererseits bricht sie mit der monoperspektivischen Deutung des Geschehens und verweist zugleich auf die Textualität des Erzählten. Einige der zitierten Texte stützen die Ausführungen des Erzählers, andere übernehmen selbst darstellende Funktionen, wieder andere, wie der im Anhang zitierte Brief Ørsteds 625 , eröffnen einen Raum für Kritik. Die Autobiographie ist durchzogen von anderen Texten, wirkt stellenweise wie eine Collage. Mit Livs Eventyr wird zum Ausgangspunkt eines Textnetzwerkes, das wuchernd die Welt erschließt. Die Autobiographie hat agency. So berichtet der Erzähler von einem Brief, den er von einem ihm unbekannten Studenten erhalten hatte. Dieser Student hatte als kleiner Junge Andersens Märchen gelesen und war darüber so glücklich gewesen, dass er von Sorge erfüllt worden war, als er hörte, dass Andersen schwere Zeiten überstehen musste. Deshalb hatte er seine Mutter gebeten, ein vierblättriges Kleeblatt an Andersen zu schicken. Dieses Kleeblatt fand der inzwischen erwachsen gewordene Student Jahre später nach dem Tod seiner Mutter in ihrem Psalmenbuch und schickte es Andersen zusammen mit dieser Geschichte in einem Brief. „Det var omtrent Indholdet af Brevet, som er blevet borte for mig; jeg husker ikke den unge Mands Navn, har ikke kunnet takke ham, men nu, efter Aaringer læser han maaskee her min Hilsen og Tak.“ 626 („Das war ungefähr der Inhalt des Briefes, der mir abhanden kam; ich erinnere mich nicht an den Namen des jungen Mannes, konnte ihm nicht danken, aber nun, Jahre später, liest er vielleicht hier meinen Gruß und Dank.“ [Übers. F. F.]) Mit Livs Eventyr übernimmt an dieser Stelle die Dankesgeste, die durch die verlorene Adresse auf postalischem Wege unmöglich geworden ist. Es bleibt jedoch ungewiss, ob sie ihren Empfänger erreicht, denn der Dank erfolgt in der Fortsetzung von Mit Livs Eventyr, die für den amerikanischen Markt bestimmt war. Das gilt auch für die Richtigstellung eines Details aus I Spanien, die der Erzähler anlässlich der Rüge einer aufmerksamen englischen Leserin unternimmt. Diese Richtigstellung wird nicht direkt an die Leserschaft von I Spanien gerichtet, sondern an die amerikanischen Leserinnen und Leser von Mit Livs Eventyr. 627 Festhalten lässt sich, dass die Autobiographie hier Handlungsfunktionen übernimmt. Dank und Richtigstellung richten sich nicht mehr ausschließlich an jeweils eine Person, die Leserschaft der Autobiographie wird eingebunden. Damit gewinnen die beiden 425 f., 435, 480, 542 f., 545-547, 553-555, 560-562, 570, 578 f., 586 f., 596-598, 601, 603-605, 615-617. 624 Vgl. Topsøe-Jensen 1934, S. 177. 625 Vgl. Se 3, S. 164 f. Auch eine brieflich geäußerte Kritik Oehlenschlägers an Ahasverus wird ausführlich zitiert, darauf folgen jedoch Zeugnisse einer positiven Aufnahme des Textes in einer deutschen Anthologie sowie einer späteren Rezension der gesammelten Werke in der Dansk Maanedsskrift (Dänischen Monatsschrift). Vgl. Se 3, S. 66-69; MLM, 545-547. 626 Se 3, S. 247. 627 Vgl. Se 3, S. 256 f. 2.3 Text-Netzwerke 137 Handlungen eine weitere Dimension, sie werden Teil einer Inszenierung des Ichs vor seinem Publikum. Texte sind an der Herstellung und Erhaltung von menschlichen Beziehungen in Mit Livs Eventyr wesentlich beteiligt. Dies ist charakteristisch für die Kultur, der Mit Livs Eventyr selbst angehört. Darin lassen sich verschiedene Typen von Texten unterscheiden. Einerseits treten in Mit Livs Eventyr beglaubigte Dokumente auf, deren materielle Präsenz für den weiteren Handlungsverlauf von größter Bedeutung ist und die eine abwesende Autorität am Ort der Vorlage versammeln. So wird mehrfach angesprochen, wie Passprobleme oder fehlende Creditivschreiben die Weiterreise verzögern beziehungsweise die Route beeinflussen. 628 Das erste Reisestipendium erhält Andersen auch aufgrund einer Reihe von Empfehlungsschreiben, die in der Beilage zu Mit Livs Eventyr zitiert werden. 629 Texte können also den Zugang zu Geld vermitteln oder Bewegungen im Raum erlauben, die ohne sie unmöglich wären. Materielle Präsenz und die virtuelle Verbindung zum Ausstellenden sind auch für das Funktionieren der Empfehlungsschreiben wichtig, die auf den Reisen immer wieder die Türen zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen öffnen, umgekehrt scheitern manche Begegnungen aufgrund ihres Fehlens. 630 „En skriftlig Tilladelse“ („Eine schriftliche Genehmigung“) 631 erlaubt den Zutritt zu ansonsten geschlossenen gesellschaftlichen Räumen, wie den Besuch eines italienischen Gefängnisses für Galeerensklaven oder des George Heriots Hospitals, eines schottischen Waisenhauses. Bewegungen und Aufenthalte des Erzählers werden oftmals durch Briefe ermöglicht, etwa wenn Frederika Bremer dem Erzähler bei der Schwedenreise Unterkünfte vermittelt, indem sie Freunde und Bekannte anschreibt, 632 oder ein Einladungsschreiben von Minister Rantzau-Breitenburg zu einem Besuch beim dänischen Königspaar auf Föhr führt. 633 Dass der Erzähler sich mehrfach auch als literarischer Tourist bewegt, verdeutlicht, dass die Steuerung von Bewegungen durch Texte auch auf diesem weniger unmittelbar an eine bestimmte materielle Erscheinungsform eines Textes gekoppelten Wege auftritt. 634 In England erklärt der dänische Gesandte, Graf Reventlow, Andersen bei seiner Ankunft, er benötige keine Empfehlungsschreiben; er sei durch 628 Vgl. z. B. Se 2, S. 333-336; Se 3, S. 14 f., 140, 151; MLM, S. 449-452, 468 f., 650, 666. Bei dem Pass kann z. B. der Name Christian den Verdacht wecken, es handele sich um eine religiöse Sekte, erklärt der Erzähler, oder der Pass ist aufgrund einer falschen Nummer unauffindbar. Im letzten aufgeführten Textbeispiel unternimmt Andersen mit König Max einen Ausflug nach Österreich; es verdeutlicht umgekehrt, wie sehr es das Reisen erleichtert, wenn man keinen Pass benötigt. 629 Vgl. Se 3, S. 160-163. 630 Vgl. z. B. Se 2, S. 90, 277, 324 f.; Se 3, S. 23, 50, 305; MLM, S. 114 f., 365, 435-437, 428 f., 522. 631 Se 2, S. 128; MLM, S. 163. Vgl. Se 3, S. 49; MLM, S. 521. 632 Vgl. Se 3, S. 84; MLM, S. 569 f. 633 Vgl. Se 2, S. 286 f.; MLM, S. 578 f. 634 Vgl. z. B. Se 2, S. 122; Se 3, S. 14, 16, 46 ff.; MLM, S. 155, 467, 470, 517 ff. 2 Text-Räume 138 seine Schriften bekannt und empfohlen. 635 Obgleich die übersetzten Publikationen sich nicht mehr unmittelbar auf Andersen zurückführen lassen (bei seinem ersten Besuch unterhielt Andersen noch keine geschäftlichen Beziehungen nach England, die ersten Übersetzungen erfolgten, ohne dass er sein Einverständnis gegeben hätte), können sie Kontakte etablieren. Ihnen kommt ein relativ personen-unabhängiges Handlungspotential zu. Als materiell vorhandenes Ding können Texte je nach Kontext einen unterschiedlichen Status einnehmen. So kann eine Begegnung mit Jenny Lind in London nur durch eine hinterlassene Visitenkarte Andersens und Linds Antwortschreiben auf diese vermittelt werden. 636 Hier steht die Vermittlungsfunktion der Schreiben im Vordergrund. Das Antwortschreiben Jenny Linds schenkt der Erzähler später der Frau von Charles Dickens: „Hun var i høi Grad opfyldt af Jenny Lind, ønskede saa gjerne at eie hendes Haandskrift, men denne var det saare vanskeligt at erholde, jeg havde det lille Brev, hvormed Jenny Lind havde hilset mig velkommen i London, og sagt mig sin Bopæl, det fik nu Mistress Dickens.“ („Sie verehrte Jenny Lind, wünschte so sehr, ihre Handschrift zu besitzen, doch die war äußerst schwer zu bekommen, ich hatte den kleinen Brief, mit dem Jenny Lind mich in London willkommen geheißen und mir die Adresse ihrer Wohnung mitgeteilt hatte, diesen bekam nun Mistress Dickens.“ [Übers. F. F.]) 637 An dieser Stelle wird der Brief eine Gabe, deren Wert auf der Authentizität der Handschrift beruht. Die Materialität des Schreibens und die damit verbundene fetischistische Besetzung werden nun zentral. Das Sammeln von handschriftlichen Texten berühmter Persönlichkeiten betreibt der Erzähler auch selbst. So bekommt er einen Brief Jean Pauls sowie eine Handschrift Walter Scotts geschenkt. 638 Das Entstehen des modernen Autorschaftsverständnisses mit dem dazugehörigen Interesse an der Person des Autors ist eng verbunden mit der Entwicklung einer fetischistisch aufgeladenen Massenkultur. Die Jagd nach dem authentischen Objekt geht aus der massenhaften Verbreitung kultureller Produkte hervor, die den Starkult entstehen lassen, der das Begehren nach Autogrammen hervorruft. Sowohl Walter Scott als auch Jean Paul waren transnational bekannte Autoren. Auf seinen Reisen wird der Erzähler stets von einem Album begleitet, in das sich seine berühmten Bekanntschaften eintragen. Die Bedeutung des Albums für den Erzähler verdeutlicht beispielsweise die folgende Szene: Jeg havde, som før er omtalt, fra Prindsessen af Preussen et smukt Album, hvori var flere interessante Haandskrifter, Majestæterne [Kong Christian VIII. og Dronning Caroline Amalie, F. F.] saae det, og da jeg fik det tilbage, havde Kong Christian den Ottende selv skrevet deri de betydningsfulde Ord: 635 Vgl. Se 3, S. 31; MLM, S. 493. 636 Vgl. Se 3, S. 33 f.; MLM, 497 f. 637 Se 3, S. 61. MLM (S. 539) übersetzt unbestimmt mit „einen kleinen Brief“. Dass es sich um denselben Brief handelt, der zuvor erwähnt wurde, wird durch die wörtliche Übersetzung deutlicher. 638 Vgl. Se 2, S. 317; Se 3, S. 57; MLM, S. 425, 533. 2.3 Text-Netzwerke 139 „Ved sit velanvendte Talent at skaffe sig selv en hædret Stilling er bedre end Gunst og Gave. Disse Linier skulle minde Dem om Deres velvillige Christian R.“ Det var dateret „den anden April“, Kongen vidste, den var min Fødselsdag. Ogsaa Dronning Caroline Amalie havde skrevet hædrende, dyrebaare Ord - ingen Gaver kunde glæde mig mere end netop denne Skat i Aand og Ord. (Ich hatte, wie zuvor erwähnt wurde, von der Prinzessin von Preußen ein hübsches Album erhalten, das mehrere interessante Handschriften enthielt, die Majestäten [König Christian VIII. und Königin Caroline Amalie, F. F.] sahen es sich an, und als ich es zurückbekam, hatte König Christian VIII. diese bedeutungsvollen Worte hineingeschrieben: „Sich durch sein wohlangewandtes Talent selbst eine ehrenvolle Stellung zu erwerben ist besser als Gunst und Gabe. Diese Zeilen mögen Sie erinnern an Ihren wohlwollenden Christian R.“ Dies war auf „den zweiten April“ datiert, von dem der König wusste, dass er mein Geburtstag war. Auch Königin Caroline Amalie hatte ehrende, kostbare Worte geschrieben - keine Geschenke können mich mehr erfreuen als dieser Schatz aus Geist und Worten. [Übers. F. F.]) 639 Der „Skat“ („Schatz“), der Eintrag des Königs, besteht aus „Aand og Ord“ („Geist und Worten“ 640 ), und die Worte müssen in diesem Fall auch in ihrer materiellen Existenz gedacht werden, als Eintrag im kostbaren Album, das Handschriften wie Kapital anhäuft und mit jedem Beitrag wertvoller wird. Auf diese Materialität deutet auch die typographische Gestaltung des Zitats hin, das in der 1855er-Ausgabe von Mit Livs Eventyr gesperrt gesetzt ist. 641 Der Eintrag des Königs stützt den Mythos des talentierten Selfmademans, der ein zentrales Element in Andersens Selbstdarstellungen ist, die wiederum zu seinen Erfolgen in England, Frankreich und Deutschland wesentlich beitrugen. 642 Diese Selbstdarstellung wird nun durch das Königswort beglaubigt. Die Einträge im Album dokumentieren nicht nur Andersens Bekanntschaften, sie bestätigen oder er- 639 Se 3, S. 20. MLM (S. 477 f.) übersetzt „folgende für mich bedeutsame Worte“ und schränkt so die Aussage stark ein. 640 Im Dänischen wird in der Regel für „Wort“/ „Worte“/ „Wörter“ die gleiche Form, „ord“, verwendet. 641 Vgl. SSk 21-22, S. 402. 642 Vgl. Bredsdorff 1954, S. 431-435; Høybye 1954, S. 152 f.; Marmier 1837; Möller-Christensen 1992, S. 106 f. Da die Popularität Andersens in den USA zu Beginn seiner Karriere wesentlich auf den englischen Übersetzungen beruhte (vgl. Hersholt 1948, S. 175 f.; Rossel 1993, S. 517-520), gelten die Beobachtungen von Bredsdorff hier zum Teil ebenfalls. Zur amerikanischen Rezeption liegen leider keine umfassenden Untersuchungen vor. 2 Text-Räume 140 gänzen die Repräsentationen des Ichs. Immer wieder werden in Mit Livs Eventyr handschriftliche Widmungen auf Bildern, Albumeinträge und Gedichte zitiert, die dem Erzähler geschenkt werden. 643 Andersen erscheint in den Gedichten beispielsweise als von den Deutschen geliebter Herrscher der Märchenwelt, 644 als derjenige, der den Dingen ihre Geheimnisse ablauscht, der Kinderaugen zum Sprechen bringt, 645 oder als das arme Kind aus Odense. 646 Der Erzähler bemerkt zu dem Gedicht Andersen von Ida Hahn-Hahn („Solch ein Gewimmel von Elfen und Feen / Blumen und Genien im fröhlichen Scherz, / Aber darüber viel - geistiges Wehen, / Aber darunter - ein trauriges Herz“ 647 ): „[D]et var gjennem det mørke Glas i „Kun en Spillemand“ og Eventyr-Verdenen hun betragtede mig som Digter [...].“ („Als Dichter betrachtete sie mich durch das dunkle Glas in ‚Nur ein Spielmann’ und durch die Märchenwelt.“) 648 Andersen wird mit seinen Texten identifiziert; zugleich erscheint der durch mediale Vermittlungen, „gjennem det mørke Glas“ Betrachtete gefärbt. Die Ansicht ändert sich mit der Folie, das heißt den Texten, aufgrund derer auf den Charakter des Autors geschlossen wird. Auf diese Weise wird die Verbindung zwischen Verfasser, Biographie und Werk als Vermittlungsprozess dargestellt. Ein unmittelbarer Rückschluss vom Text auf das Wesen seines Verfassers ist nicht möglich, das Gesehene hängt von der Perspektive des Betrachters und den Medien der Erkenntnis ab. Albumeinträge, Briefe und Publikationen sind die zentralen Textformen in Mit Livs Eventyr. Die Grenze zwischen diesen Formen ist nicht immer eindeutig, da weder das Album noch die Briefe ausschließlich dem privaten Gebrauch vorbehalten sind. Die Gedichte im Album sowie Andersens Briefe wurden oftmals publiziert, nicht allein als Zitate in den Autobiographien, sondern auch in Gedichtsammlungen 649 beziehungsweise als eigenständige Zeitungsartikel. 650 In Mit Livs Eventyr werden zudem ganze Briefe an Andersen abgedruckt. Daran wird deutlich, dass die Texte ein Kommunikationsnetzwerk etablieren, das sich nicht eindeutig bestimmten Personenbeziehungen zuordnen lässt. Einerseits werden die Texte in stark abweichenden Rezeptionssituationen gelesen, sie richten sich auf mehreren Ebenen an sehr unterschiedliche Empfänger. Ein publizierter Brief beispielsweise ist sowohl persönlich als auch öffentlich. Andererseits wurde in Kapitel 2.1.1 bereits angesprochen, dass Mit Livs Eventyr die Grenze zwischen Fakt und Fiktion nicht eindeutig zieht, obwohl die Autobiographie oft als dokumentarischer Text aufgefasst wurde. Auch daraus ergibt 643 Vgl. z. B. Se 2, S. 283 f., 286, 319, 323; Se 3, S. 22, 24, 85, 89 f., 103, 238 f., 278, 285 f.; MLM, S. 374, 378, 427 f., 435, 480, 483, 570, 578 f., 597 f. 644 Vgl. Se 2, S. 286; MLM, S. 378. 645 Vgl. Se 2, S. 319; Se 3, S. 22, 176; 278, 285; MLM, S. 427 f., 480. 646 Vgl. Se 3, S. 24; MLM, S. 483. 647 Se 2, S. 283 f. Das Gedicht wird auf Deutsch zitiert. 648 Se 2, S. 283; MLM, S. 374. 649 So z. B. Heinrich Heines Albumeintrag vom 4. Mai 1843; vgl. Se 2, S. 258, 427; MLM, S. 339. 650 So z. B. der bereits erwähnte Brief an Jerdan, der in der Literary Gazette veröffentlicht wurde. Vgl. Se 3, S. 73-75, 388; MLM, S. 553-555. 2.3 Text-Netzwerke 141 sich eine gewisse Eigenständigkeit der Texte gegenüber den Menschen, die sie verbinden. In Mit Livs Eventyr übernehmen Texte in Beziehungen verschiedene Funktionen. Texte stabilisieren Beziehungen über räumliche und zeitliche Distanzen, generieren zwischenmenschliche Begegnungen und erzeugen Netzwerke. So bleibt der Erzähler nach seiner Abreise mittels Briefen mit seinen Freunden in Weimar in Verbindung. 651 Auch eine Gabe wie das Buch, das Bettina von Arnim dem Erzähler auf seine weitere Reise mitgibt, kann eine Begegnung über die unmittelbare physische Begegnung hinaus fortsetzen. 652 Dass Begegnungen erst aufgrund von Texten ermöglicht werden, zeigt sich beispielsweise beim Parisbesuch 1843. Hier begründet der Erzähler die freundliche Aufnahme, die er vielerorts genießt, mit seiner inzwischen erlangten Bekanntheit, die sich Xavier Marmiers biographischer Skizze sowie Nicolas Martins Übersetzungen einiger Gedichte, die als Artikel in französischen Zeitschriften erschienen waren, verdankt. 653 Im Unterschied zum ersten Parisbesuch, bei dem die Zahl der neuen Kontakte überschaubar blieb, 654 findet Andersen nun Zugang zu zahlreichen bekannten Schriftstellern und Künstlern. Die Verbreitung seiner Texte sowie seiner Lebensgeschichte sind hierfür wesentlich. Sie vermitteln dem Erzähler neue Kontakte. Das Text-Netzwerk, in das der Erzähler eingebunden ist, reicht über den jeweiligen Aufenthaltsort hinaus. Andersen erhält in Paris einen Brief: En tydsk Familie, der hører til en af de meest dannede og elskværdigste, jeg har lært at kjende, havde med stor Glæde læst mine oversatte Skrifter, og dertil min korte Biographie foran i „nur ein Geiger“, de fattede den hjertligste Interesse for mig, hvem de personlig slet ikke kjendte, [...] og bad mig, som en kjær Gjest, at lægge Hjemreisen over deres By, og der en Tid finde et Hjem, dersom jeg fandt mig vel i det. (Eine deutsche Familie, die zu den gebildetsten und liebenswürdigsten gehörte, die ich kennengelernt habe, hatte mit größter Freude meine übersetzten Schriften und dazu meine kurze Biographie in ‚Nur ein Spielmann’ gelesen; diese Menschen faßten das innigste Interesse für mich, den sie persönlich gar nicht kannten, [...] und baten mich, die Heimreise über ihre Stadt zu machen und dort bei ihnen als lieber Gast eine Zeitlang ein Heim zu finden, falls ich mich bei ihnen wohl fühlen würde.) 655 Er nimmt diese Einladung an und findet sich gleichsam „adoptered“ („adoptiert“) von seinen deutschen Fans, die er wiederholt besucht. Der Brief erlaubt die Herstellung des Kontakts, weil er Zeit und Raum überwinden kann. Der Kontaktwunsch 651 Vgl. Se 2, S. 281; MLM, S. 370 f. 652 Vgl. Se 2, S. 285; MLM, S. 376 f. 653 Vgl. Se 2, S. 251; MLM, S. 328 f. Dass Andersens Texte dazu dienten, Kontakte zu etablieren, betonen auch Brostrøm und Lund (1991, S. 16). 654 Vgl. Se 2, S. 113-115, 118 f.; MLM, S. 144-146, 151-153. 655 Se 2, S. 259; MLM, S. 340 f. 2 Text-Räume 142 beruht auf der Kenntnis von Andersens Texten. Die zwischenmenschliche Begegnung ist also wesentlich von Texten gesteuert. In Mit Livs Eventyr sind Andersens Texte mehrfach der Grund dafür, dass Menschen ihn ansprechen. Dabei handelt es sich um prominente Persönlichkeiten ebenso wie um Kinder und wenig Vermögende. Vor allem Nur ein Spielmann, dem eine biographische Skizze vorangestellt worden war, und Das Märchen meines Lebens wecken bei Andersens erwachsenen Leserinnen und Lesern das Gefühl, ihn zu kennen, auch ohne ihm persönlich begegnet zu sein. 656 So bittet ein Deutscher während des Schleswig-Holsteinischen Krieges den Erzähler mittels eines Briefes, für seinen gefangen genommenen Sohn zu bürgen, damit dieser entlassen werden kann, und begründet sein Vertrauen in Andersen mit der Lektüre von Das Märchen seines Lebens. Und tatsächlich setzt der Erzähler sich aufgrund des Briefes für den jungen Mann ein; es stellt sich jedoch heraus, dass die Gefangenen bereits nach Deutschland ausgeliefert worden waren. Dass der Einsatz dennoch erwähnt wird, dient der nachträglichen Rechtfertigung des Vertrauens, das der Briefschreiber in Andersen gesetzt hatte - erneut durch eine Autobiographie. 657 Der Erzähler genießt das Gefühl, aufgrund seiner Texte weltweit bekannt zu sein. Der von einer Amerikatournee wiedergekehrte norwegische Violinvirtuose und Komponist Ole Bull berichtet, „at jeg i Amerika havde mange Venner, at disse paa det meest deeltagende havde spurgt ham om mig, at de engelske Oversættelser af mine Romaner vare eftertrykte der og ved Godtkjøbs-Udgaver vidt udbredte i Landet.“ („daß ich bereits in Amerika viele Freunde besäße und daß diese teilnehmend nach mir gefragt hätten, daß die englischen Übersetzungen meiner Werke dort nachgedruckt und durch billige Ausgaben weit verbreitet worden seien.“) Darauf folgt die Bemerkung: „Mit Navn var fløiet over det store Verdenshav! - jeg følte mig ganske lille ved Tanken herom, men glad, inderlig lykkelig! “ („Mein Name war also über das weite Weltmeer geflogen - bei diesem Gedanken fühlte ich mich allerdings ganz klein, war aber doch innig froh und glücklich.“) 658 Und angesichts seiner freundlichen Aufnahme in Holland erklärt der Erzähler: „Hvor er det deiligt, en Velsignelse af Gud, at være ude i Verden, sidde i en stor Stad aldeles ukjendt, aldeles en Fremmet [sic], og dog vide med Vished, at have Venner, sig ubekjendte, aldrig seete Venner, vide at mødte mig noget Uheld af Betydning, jeg var kjendt og tilvisse da ikke reent forladt.“ 659 („Wie ist es schön, ein göttlicher Segen, draußen in der Welt zu sein, ganz unbekannt in einer großen Stadt zu sitzen, ganz ein Fremder, und doch mit Gewissheit zu wissen, Freunde zu haben, unbekannte, niemals gesehene Freunde, zu wissen, dass, träfe mich ein Unglück von Bedeutung, ich bekannt wäre und gewiss nicht vollkommen verlassen.“ [Übers. F. F.]) Auch hier wird deutlich, dass die Texte Vertrauen erzeugen, diesmal handelt es sich um das Vertrauen in 656 Vgl. Se 2, S. 285 f., 334; Se 3, S. 79 f., 88, 92, 153, 212; MLM, S. 377, 450 f., 563 f., 575 f., 582, 668 f. 657 Se 3, S. 79 f., MLM, S. 563-565. 658 Se 2, S. 336; MLM, S. 452 f. 659 Se 3, S. 302 f. 2.3 Text-Netzwerke 143 die Leserschaft. An einer Stelle äußern sich ambivalente Gefühle angesichts der vielen Übersetzungen der Texte. Diese Ambivalenz beruht auf der Angst, das von den Leserinnen und Lesern entgegengebrachte Vertrauen zu enttäuschen: Der er noget Opløftende og tillige Skrækkende i, at see sine Tanker gaae vidt omkring og ind i Menneskene; det er næsten ængsteligt saaledes at tilhøre Mange. Det Ædle og Gode bliver en Velsignelse, men vore Vildfarelser, det Onde, have ogsaa deres Spirer i sig, og uvilkaarligt paatrænger sig Tanken: Gud, lad mig aldrig nedskrive et Ord, hvorfor jeg ikke hos Dig kan gjøre Regnskab. (Es liegt etwas Erhebendes und zugleich Erschreckendes darin, zu sehen, wie die eigenen Gedanken weit in die Welt wandern zu den Menschen; es hat etwas Beängstigendes, auf diese Weise vielen anzugehören. Das Edle und Gute wird zu einem Segen, aber unsere Irrungen, das Böse, trägt auch seinen Keim in sich, und der Gedanke drängt sich unwillkürlich auf: Gott, laß mich nie ein Wort niederschreiben, über das ich nicht Rechenschaft ablegen kann bei Dir.) 660 Zwar werden die Autobiographien zu Medien des Vertrauens, aber letztlich bleibt offen, ob dieses Vertrauen gerechtfertigt ist. Unabhängig davon befördert das wechselseitig entgegengebrachte Vertrauen die Entstehung von Netzwerken, und darin ist das literarische Netzwerk Andersens den ökonomischen Netzwerken seiner Zeit, die zunehmend auf Investitionen beruhen, die Vertrauen voraussetzen, verwandt. Wie das Geld, das die wirtschaftlichen Netzwerke zusammenhält, kreuzen auch die literarischen Texte bei ihrem Zirkulationsprozess immer wieder die Grenze von Materialität und Immaterialität. Mit Livs Eventyr ist ein zirkulierender Text und zugleich von den Fäden des literarischen Netzwerkes durchzogen. Der transnationale Charakter dieses Netzwerks lässt sich unter anderem daran erkennen, dass im Anhang der Autobiographie ein Brief von Chamisso, ein Artikel über Andersen aus den Jahrbüchern der Gegenwart sowie das Postscript einer Ausgabe von I Sverrig und The story of my life in der englischen popular library, die Texte in Massenauflagen zu günstigen Preisen verbreitete, zu finden sind. 661 Die deutschen Texte und das englische Postscript werden jeweils im Original zitiert. Die Entstehung von Andersens Texten wird in Mit Livs Eventyr in dem sich herausbildenden transnationalen Netzwerk aus Buchmarkt und Presse verortet, von dem die Autobiographie selbst ein Teil ist. Dies lässt sich beispielsweise an folgender Schilderung verdeutlichen: I et Nummer af „Household words“ havde Dickens samlet en Deel arabiske Ordsprog og Talemaader, mellem disse fremhævede han i en Note: „When they com [sic] to shoe the Paschas horses, the beetle stretched out his leg.“ (Arabic). This is exquisite; we commend it to the attention of Hans Christian Andersen. 660 Se 2, S. 303; MLM, S. 402. 661 Vgl. Se 3, S. 160 - 177; zur popular library vgl. ebd., S. 108. 2 Text-Räume 144 Jeg følte stor Lyst til at give Eventyret, men det kom ikke, først nu ni Aar efter netop paa Aarets næstsidste Dag, under Besøget paa Basnæs hvor jeg tilfældigt læste Dickens Ord, sprang pludseligt frem Eventyret: „Skarnbassen“. 662 (In einer Nummer von „Household words“ hatte Dickens einige arabische Sprichwörter und Redensarten gesammelt, darunter hob er dieses in einer Anmerkung hervor: „When they com [sic] to shoe the Paschas horses, the beetle stretched out his leg.“ (Arabic). This is exquisite; we commend it to the attention of Hans Christian Andersen. Ich fühlte große Lust, ein Märchen dazu zu schreiben, aber es kam nicht, erst nun, neun Jahre später, genau am vorletzten Tag des Jahres, während meines Besuches auf Basnæs, wo ich zufällig Dickens’ Worte las, entsprang plötzlich das Märchen „Der Mistkäfer“. [Übers. F. F.]) Durch den Verweis auf Dickens’ Artikel wird die Entstehungsgeschichte sowohl mit der englischen Presse, deren globaler Charakter in dieser Arbeit anhand der Artikelserie Et Besøg hos Charles Dickens i Sommeren 1857 (Ein Besuch bei Charles Dickens im Sommer 1857) 663 herausgearbeitet wurde, als auch mit der arabischen Kultur verbunden; Basnæs wird ein vernetzter Ort, von dem ein Beitrag zu den transnationalen literarischen Textströmen ausgeht. Die Entstehungsgeschichte von Dryaden (Die Dryade) (1868) ist ein weiteres Beispiel für eine Verortung der Textproduktion in einem sowohl lokalen als auch globalen Bezugsrahmen. In Paris liest der Erzähler einen Artikel über die Weltausstellung, in dem es heißt, dass niemand außer Charles Dickens ein dichterisches Bild dieser bunten Herrlichkeit zu liefern imstande wäre. Zwar zweifelt der Erzähler daraufhin zunächst an seinem eigenen Plan, genau dies zu versuchen, aber er gibt ihn nicht auf. Dies lässt sich daran ablesen, dass er kurz darauf auf Dryaden verweist, das Märchen zur 1867er Weltausstellung. 664 Dryaden entsteht in Auseinandersetzung mit der Weltausstellung, die der Erzähler von Mit Livs Eventyr besucht. Die Ausstellung ist lokal (in Paris) verortet und versucht gleichzeitig, die ganze Welt zu versammeln. Der Text tritt zudem in einen über die französische Presse vermittelten Wettstreit mit einem englischen Autor. 2.3.2 Übersetzungen, Rezensionen, Publikum: Navigieren im world literary space Mit diesem Wettstreit nähern wir uns dem Mechanismus an, den Pascale Casanova als „unification of literary space through competition“ 665 bezeichnet. Wichtige Akteure in diesem Wettstreit sind nach Casanova Rezensenten und Übersetzer sowie andere Mittler zwischen den einzelnen Literaturen. In dem Wettstreit ist der Erwerb literarischen Kapitals das Ziel. Literarisches Kapital bezeichnet die Wertschätzung, 662 Se 3, S. 233. 663 S. S. 1 1 f. Vgl. Re 2, S. 160-183; RB, S. 161-197. 664 Vgl. Se 3, S. 321 f. 665 Casanova 2004, S. 87. 2.3 Text-Netzwerke 145 die einem Text entgegen gebracht wird. Es wird von Autoren vor allem durch die Anerkennung der Kritik, durch Übersetzungen und durch dauerhaften (im Unterschied zu kurzfristigem) Erfolg erworben. Übersetzungen in Sprachen mit einer langen und als bedeutend eingeschätzten literarischen Tradition, Sprachen mit einem hohen Maß an literariness, wie Casanova es nennt, sind für den Erwerb literarischen Kapitals zentral. Umgekehrt tragen Texte, die über lange Zeiträume erfolgreich sind, übersetzt und durch die Kritik anerkannt wurden, zur Steigerung des literarischen Kapitals einer Nation bei. Der world literary space kennt Zentren und Peripherien; die Literatur der Zentren verfügt über viel literarisches Kapital. Für die Akkumulation nationalen literarischen Kapitals spielt neben dem Zeitraum der Akkumulation das Vorhandensein eines entsprechenden professionellen Milieus, in dem angesehene Verleger, eine spezialisierte Presse, Salons und andere Vermittlungsinstanzen auf ein kultiviertes Publikum treffen, eine wichtige Rolle. Hinzu kommen die Größe des jeweiligen Buchmarktes und sein Einfluss auf die Gesellschaft sowie die Beurteilung und der Ruf einer Literatur. 666 Casanova macht einen „common standard for measuring time“ 667 aus, der Maßstab des literarischen Wettstreits ist, der sich zwischen den einzelnen (weitgehend sprachlich, im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend auch national definierten) Literaturen abspielt. Die Orientierung an diesem Standard fordert von den Autoren, auf der Höhe der Zeit, das heißt der gegenwärtigen Entwicklungen, zu sein. Nach Casanova ist Paris die Hauptstadt der literarischen Welt des 19. Jahrhunderts. Vor allem dort wird definiert, was modern ist. An diesem Standard orientieren sich alle internationalen 668 Autoren, die sie von den (‚zurückgebliebenen’) nationalen Autoren abgrenzt, die traditionellen, überlieferten Formen verpflichtet sind. Mit ihren stilistischen Innovationen setzen sich die internationalen Autoren in Beziehung zu den Entwicklungen im Zentrum und distanzieren sich dabei von ihrer Nationalliteratur, oder aber eine Verbindung von internationalem Anspruch und Bezugnahme auf nationale Literatur bringt den gewünschten Erfolg im Zentrum. Der französische Standard zeichnet sich nach Casanova durch seinen Universalismus und eine sukzessive Emanzipation der Literatur vom Politischen und Nationalen aus. Zudem kontrastiert Casanova die Vorreiter auf der imaginären literarischen Zeitachse, die das Zentrum vorgibt, mit den Verfassern kommerzieller Literatur. 669 Casanovas Darstellung lehnt sich an Pierre Bourdieus Die Regeln der Kunst an. Bourdieu beschreibt die Autonomisierung der französischen Literatur mit einem Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; Casanova erweitert diesen Ansatz um eine transnationale Perspektive. Die Vorherrschaft Frankreichs wird nach Casanova 666 Vgl. ebd., S. 9-23, 82-85. 667 Ebd., S. 87. 668 Casanova verwendet „international“ im Sinne von „transnational“ wie in Fußnote 33, S.17 dieser Arbeit definiert. 669 Vgl. Casanova 2004, S. 34-115. Zur Gegenüberstellung von kommerzieller Literatur und Avantgarde vgl. ebd., S. 168-172. 2 Text-Räume 146 vor allem von England und Deutschland herausgefordert, aber nach ihrem Modell bleibt Frankreichs Dominanz im 19. Jahrhundert letztlich ungebrochen. Zwar verläuft Andersens Eingliederung in die World Republic of Letters teilweise anders, als Casanova dies beschreibt. Dennoch ist Casanovas Ansatz ein guter Ausgangspunkt, um die in Mit Livs Eventyr beschriebene Transnationalisierung von Andersens Texten zu konturieren. Die Lektüre von Mit Livs Eventyr wird dabei mit Erkenntnissen der Rezeptions- und Übersetzungsforschung zu Andersen kombiniert. Mit Livs Eventyr inszeniert Andersen als internationalen Autor im oben beschriebenen Sinne. Diese Inszenierung erfolgt durch die Geschichte, die Andersens Texten gegeben wird. Gegen Casanovas Ansatz wurde der Vorwurf des Gallozentrismus 670 erhoben, und tatsächlich ist die Stellung Frankreichs in Andersens Fall nicht so zentral, wie das folgende Zitat aus einem Interview mit dem dänischen Autor Henrik Stangerup, das in The World Republic of Letters wiedergegeben wird, suggeriert: „It was Andersen’s dream [...] to be translated into French.“ 671 Dies ist der einzige Verweis auf Andersen in The World Republic of Letters. Die französische Literatur war weder auf der Ebene intertextueller Einflüsse auf Andersens Produktion noch hinsichtlich ihrer Verbreitung oder der Akkumulation literarischen Kapitals der Hauptbezugspunkt. Zwar lässt sich der Einfluss der französischen Literatur auf Andersens dramatische Arbeiten deutlich erkennen. So kam es bei Mulatten (Der Mulatte) (1840) sogar zu Plagiarismus-Vorwürfen, da der Stoff einer französischen Vorlage entstammte. 672 Allerdings waren die deutsche und die englische Literatur für Andersens Texte, vor allem die Prosa, bedeutendere Impulsgeber. 673 Dies geht auch aus Mit Livs Eventyr hervor. 674 Andersens Texte werden in Beziehung zu diesen ebenfalls zentralen Literaturen gesetzt und so in einem transnationalen Text-Raum verortet. Die Texte sollten nahezu alle literarischen Räume des 19. Jahrhunderts erobern, und diese Eroberungen werden in Mit Livs Eventyr sorgfältig verzeichnet. Mit Livs Eventyr ist durchzogen von Angaben zu erschienenen Übersetzungen, teilweise wiederholen diese sich sogar. Diese Übersetzungen umfassen zahlreiche Sprachen und erreichen so weit entfernte und große Regionen wie Russland und Amerika. Dabei 670 Vgl. Damrosch 2003, S. 27; Prendergast 2004, S. 8 ff., bes. auch Fußnote 3. 671 Casanova 2004, S. 99. 672 Vgl. Høybye 1954, S. 146 f.; Se 2, S. 203; MLM, S. 264. Åström (1972, S. 99) stellt klar, dass die dänische Kritik in Mulatten kein Plagiat erkannte, sondern lediglich bestritt, dass es sich um ein „originales“ Stück handelte, wie auf dem Titelblatt von Mulatten angegeben war. Die entsprechenden Passagen in Mit Livs Eventyr sind weniger differenziert. 673 Vgl. Høybye 1954, S. 150. 674 So übernimmt Andersen in dem Pseudonym, unter dem sein erstes Buch erschien, die Vornamen William Shakespeares und Walter Scotts und nennt als wichtigste Einflüsse in der Zeit um 1830 Walter Scott, Hoffmann und Heine. Vgl. Se 2, S. 59, 87 f.: MLM, S. 69 f., 111. 2.3 Text-Netzwerke 147 nimmt Frankreich keine wichtigere Stellung als andere Literaturen ein. 675 Zwar hatte Frankreich eine Vermittlungsfunktion inne. Dies lässt sich zum Beispiel daran erkennen, dass der erste Text über Andersen, der in Russland erschien, eine Übersetzung von Xavier Marmiers Artikel war, wie Ljudmilla Braudes Aufsatz zu Andersen in Russland feststellt. Allerdings erfolgten die ersten Übersetzungen von Andersens Texten ins Russische auf der Grundlage schwedischer Übersetzungen, und es ist nur dieser Pfad, der in Mit Livs Eventyr erscheint. 676 Frankreich spielte für die Verbreitung und Anerkennung von Andersens Texten zwar eine wichtige Rolle, die Hauptrollen besetzten jedoch seine mächtigsten Kontrahenten im world literary space, Deutschland und England. 677 Poul Høybye stellt in seiner Studie zu H. C. Andersen og Frankrig (H. C. Andersen und Frankreich) fest, dass Andersens Texte über Deutschland nach Frankreich gelangten. 678 Deutschland war für Andersens Positionierung im entstehenden globalen literarischen Feld zu Beginn seiner Karriere der wichtigste Vermittler, von hier aus gelangten die Texte als Übersetzungen auch nach England. 679 Die erste Werkausgabe mit der ersten publizierten Autobiographie erschien in Deutschland, dies wird in Mit Livs Eventyr ausdrücklich erwähnt. 680 Später waren England und die USA für Andersen zentrale Märkte. Das lässt sich daran erkennen, dass achtzehn der Eventyr og Historier, zwei der Romane, ein Reisebuch sowie die definitive Ausgabe der Autobiographie auf Englisch erschienen, bevor sie auf Dänisch veröffentlicht wurden. 681 Diese Publikationsstrategie war dem mangelnden internationalen Urheberrechtsschutz geschuldet. Sie wird in Mit Livs Eventyr nicht explizit thematisiert. In der amerikanischen Fortsetzung jedoch wird zu Beginn auf deren Erscheinen in der neuen englischen Ausgabe der gesammelten Schriften hingewiesen, so dass der Text signalisiert, dass er für Amerika produziert wurde. 682 Übersetzungen werden in Mit Livs Eventyr nicht nur aufgezählt und dabei gewissermaßen kartiert. Geschildert werden auch persönliche Begegnungen mit Übersetzerinnen und Übersetzern wie Adalbert von Chamisso, Mary Howitt und dem holländischen Dichter Nepheu, 683 und der Erzähler tritt selbst als Übersetzer in Erscheinung. So arbeitet er gemeinsam mit Professor Wolff an einer deutschen Übersetzung 675 Vgl. Se 2, S. 174 f., 204 f., 221, 226, 251, 267, 302 f.; Se 3, S. 23, 64 f., 80, 105, 144 f., 155, 181; MLM, S. 226, 228, 266, 291, 296, 328, 352 f., 401 f., 482, 542 (der Hinweis, dass Ahasverus auf Deutsch und Dänisch erschien, fehlt in MLM, vgl. ebd., S. 544), 565, 602, 656-658, 670. 676 Vgl. Braude 1989, S. 6; Se 2, S. 174. Der Hinweis auf die russische Übersetzung fehlt in der deutschen Übersetzung. Vgl. MLM, S. 228. 677 Zu Deutschland und England in Casanovas Modell vgl. dies. 2004, S. 73-79. 678 Vgl. Høybye 1954, S. 152. 679 Vgl. Bredsdorff 1954, S. 489, 495 f., 503; Hjørnager Pedersen 2004, S. 18-20, 84, 103, 116, 128, 154 f., 170, 226. 680 Vgl. Möller-Christensen 1992, S. 204; Se 3, S. 144 f.; MLM, S. 656-658; Topsøe-Jensen 1940, S. 13-28. 681 Vgl. Bredsdorff 1954, S. 621 f. 682 Vgl. Se 3, S. 181. 683 Vgl. Se 2, S. 90; Se 3, S. 40 f., 296 f.; MLM, S. 115, 506 f. 2 Text-Räume 148 seiner Gedichte und übersetzt ein Gedicht von Byron ins Dänische. 684 Die Schwierigkeiten, die Übersetzungsprozesse mit sich bringen können, werden ebenfalls behandelt. So heißt es anlässlich einer Begegnung mit dem Illustrator Otto Speckter: „Til mine Eventyr begyndte han just paa Billeder saa ypperlige, saa geniale, saa fulde af Humor, de findes i en af de engelske Udgaver og i en mindre heldig af de tyske Oversættelser, hvor ‚grimme Ælling’ er gjort til ‚grüne Ente’ og derfa spadseret over i fransk Oversættelse, som ‚le petit Canard vert.’“ („Er begann gerade Bilder für meine Märchen, diese waren so hervorragend, so genial, so voller Humor, sie finden sich in einer der englischen Ausgaben und in einer weniger glücklichen von den deutschen Übersetzungen, in der das ‚hässliche Entlein’ zu ‚grüne Ente’ gemacht wurde und von dort in eine französische Übersetzung hinüber spaziert ist, als ‚le petit Canard vert’.“ [Übers. F. F.]) 685 Die ausführlichste Reflexion über eine Übersetzung findet sich in der amerikanischen Fortsetzung von Mit Livs Eventyr. Entgegen Casanovas Darstellung, nach der Französisch über ein Höchstmaß an literariness verfügt und deshalb im Allgemeinen große Wertschätzung erfährt, äußert der Erzähler sich eher despektierlich über diese Sprache: Med min Medvirken, [sic] blev ogsaa under Opholdet her [i Locle, F. F.] en Oversættelse begyndt; jeg lærte og saae til min Forundring hvor rigt paa Udtryk for Følelser og Stemninger det danske Sprog er fremfor det franske; dette har tidt kun eet Ord hvor vi have et heelt Udvalg. Det franske Sprog vil jeg kalde plastisk, tilnærmer sig Billedhuggerkunsten hvor Alt er bestemt, klart og afrundet, men vort Modersmaal har en Farve-Rigdom, en Afvexling i Udtryk der betegner de forskjellige Stemninger. Jeg var glad ved mit Modersmaals Rigdom, hvor er det blødt og klangfuldt, naar det tales som det skal tales. I Locle paa Jurabjergene kom jeg til denne Erkjendelse. (Unter meiner Mitwirkung wurde während des Aufenthaltes hier [in Locle, F. F.] eine Übersetzung begonnen; ich lernte und sah zu meiner Verwunderung, wie reich an Ausdrücken für Gefühle und Stimmungen die dänische Sprache gegenüber der französischen ist; diese hat oft nur ein Wort, wo wir eine ganze Auswahl haben. Die französische Sprache will ich plastisch nennen, sie nähert sich der Bildhauerkunst, wo alles bestimmt, klar und abgerundet ist, aber unsere Muttersprache hat einen Farbenreichtum, eine Abwechslung im Ausdruck, der die verschiedenen Stimmungen bezeichnet. Ich war froh über den Reichtum meiner Muttersprache, wie ist es sanft und klangvoll, wenn gesprochen wird, wie gesprochen werden soll. In Locle auf den Jurabergen kam ich zu dieser Erkenntnis. [Übers. F. F.]) 686 Erst der Vergleich mit der anderen Sprache erlaubt es, die Vorzüge der eigenen deutlich zu erkennen. Diese Erkenntnis findet außerhalb der Heimat statt, wird durch ihr Verlassen ermöglicht. Und sie entsteht während eines Übersetzungsprozesses, der das Eigene in die fremde Sprache transponiert. 684 Vgl. Se 3, S. 16 f.; MLM, S. 471, 473. 685 Se 2, S. 249 f. Die Übersetzung in MLM (S. 326) weicht an dieser Stelle relativ weit vom Original ab. 686 Se 3, S. 231. 2.3 Text-Netzwerke 149 Dass in Mit Livs Eventyr hauptsächlich auf positive deutsche und englische Rezensionen verwiesen wird, 687 verdeutlicht, dass sich Andersens durch Rezensionen erworbenes literarisches Kapital vor allem aus diesen beiden literarischen Märkten speist. Deren Prominenz in der Autobiographie erklärt sich teilweise auch daraus, dass der Vorläufer von Mit Livs Eventyr, Das Märchen meines Lebens, auf dessen Grundlage die dänische Fassung entstand, 688 sich an ein deutsches Publikum richtete. Nachdem der Durchbruch in England zum Veröffentlichungszeitpunkt von Das Märchen meines Lebens bereits erfolgt war und überwiegend über deutsche Übersetzungen vermittelt wurde, 689 konnte auch mit dem Erreichen der englischen Leserschaft durch die deutsche Autobiographie gerechnet werden. Betrachtet man die Schilderungen des Erwerbs literarischen Kapitals durch Rezensionen, lässt sich auf die bei Casanova beschriebene zeitliche Ordnung zurückgreifen. Grundsätzlich können Einwände gegen die zentrale Stellung Frankreichs in dieser chronologischen Hierarchie Einwände erhoben werden. So steht die in der Sekundärliteratur vielfach konstatierte Modernität von Andersens Texten nicht so eindeutig mit einer Orientierung an literarischen Formen, die über Paris vermittelt wurden, in Beziehung, wie Casanovas Ansatz nahe legt. Torben Brostrøm und Jørn Lund stellen fest, dass Andersen mit dem Billedbog uden Billeder (Bilderbuch ohne Bilder) (1839) das formbewusste Prosagedicht erfinde, dessen Entdeckung in der Regel der französischen Romantik zugeschrieben werde und das seine Vollendung in Baudelaires Petits poèmes en prose (1869) finde. Andersens prosalyrische Texte weisen nach ihrer Analyse Gemeinsamkeiten mit Baudelaires Arbeiten auf. 690 Übernimmt man Casanovas Zeitmodell, das mit Fortschrittsvorstellungen eng verwandt ist, erscheint Andersen als Vorreiter einer erst später in Paris erscheinenden literarischen Innovation. Diese Innovation wurde von der dänischen Kritik wahrgenommen. Die prosalyrischen Ansätze wurden zwar in einer Historier-Rezension von 1855 noch abgelehnt, in einer Eventyr og Historier-Rezension von 1858 jedoch bereits positiv hervorgehoben. 691 Auch Heinrich Detering zeigt in seinem Aufsatz The Phoenix Principle. Some Remarks on H. C. Andersen’s Poetological Writings Parallelen zwischen Andersens poetologischen Schriften und Charles Baudelaires poèmes en prose auf. 692 Dabei lässt sich keine zentrale Stellung von Paris für die Vermittlung der 687 Vgl. z. B. Se 2, S. 174 f., 180, 204 f., 226, 266-269 (hier wird jedoch auch eine französische Rezension zitiert, vgl. S. 267 f.); Se 3, S. 68 f.; 105 f., 174-177; MLM, S. 227-230, 235 f., 266, 296, 351- 355, 548 f., 602. 688 Zu dem Verhältnis der beiden Autobiographien vgl. Topsøe-Jensen 1934, S. 174-181. 689 Den Durchbruch in England datiert Bredsdorff (1954, S. 438) auf die Jahre 1846 und 1847. 690 Vgl. Brostrøm/ Lund 1991, S. 103-107, 113-116. 691 Vgl. Nielsen 1990, S. 169, 176 f. Auch zu Det nye Aarhundredes Musa (Die Muse des neuen Jahrhunderts) (1861) findet sich eine Rezension, die den Text als ein „i Prosa skrevet Digt om Poesiens Fremtid“ („in Prosa verfasstes Gedicht über die Zukunft der Poesie“ [Übers. F. F.]) und „Noget af det Smukkeste, som Andersen har skrevet“ („einer der schönsten Texte, die Andersen geschrieben hat“ [Übers. F. F]) charakterisiert. Vgl. ebd., S. 195. 692 Vgl. Detering 1999, bes. S. 60-62, 64. 2 Text-Räume 150 Texte, die Brostrøm, Lund und Detering analysieren, feststellen. Die chronologische Hierarchie mit einer über Paris laufenden Literatur an der Spitze lässt sich also nicht aufrechterhalten. Die Beispiele legen vielmehr nahe, literarische Innovationen als zeitlich und räumlich breiter gestreute Prozesse aufzufassen. Casanovas Modell der Akkumulation literarischen Kapitals ist für die Analyse der Transnationalisierungsprozesse in Mit Livs Eventyr dennoch hilfreich, wenn man die zentralen Positionen von England und Deutschland im world literary space stärker berücksichtigt. Denn wie bei Casanova beschrieben positionieren Andersens Texte sich in einem literarischen Wettbewerb der Nationen. Dabei spielen sie ein doppeltes Spiel: Einerseits suchen sie Anerkennung in Dänemark und versuchen zugleich, den Status der dänischen Literatur im sich globalisierenden literarischen Feld zu heben. Andererseits distanzieren die autobiographischen Texte sich von Dänemark, indem die negative dänische Kritik der positiven Aufnahme im Ausland gegenüber gestellt wird. Diese Gegenüberstellung kann dem ausländischen Publikum auch schmeicheln, wie Ivy York Möller-Christensen für Deutschland festhält. 693 Das Zitat eines schwedischen Artikels über Andersen in Mit Livs Eventyr zeigt, wie die ausländische Kritik die Erzählung aus den biographischen Texten übernimmt: „Vi kjende vel de hæse Stemmer, som af Misundelse og Kammeratskab hæve sig i det gode Naboriges Hovedstad mod en af dets ypperste Sønner; men disse Røster maae forstumme, Europa lægger sin Opinion i Vægtskaalen, og dets Dom er endnu aldrig forkastet. Andersen tilhører som Digter ikke blot Danmark, men hele Europa, og den Hylding, som den svenske Ungdom, ved Sverrigs søndre Universitet, bragte ham, turde vel - saa haabe vi - gjøre den Braad uskadelig, hvormed Smaalighed og Misundelse i hans eget Fædreland søger at gjøre hans Laurbær til en Tornekrands. [...]“ („Wir kennen wohl die heiseren Stimmen, die sich aus Neid und Kameradschaft in der Hauptstadt des lieben Nachbarlandes gegen einen seiner vortrefflichsten Söhne erheben; aber diese Stimmen müssen verstummen, Europa legt seine Meinung in die Waagschale, und sein Urteil ist noch nie verworfen worden. Andersen gehört als Dichter nicht bloß Dänemark, sondern ganz Europa, und die Huldigung, die ihm die schwedische Jugend, an Schwedens südlichster Universität dargebracht hat, dürfte wohl - so hoffen wir - den Stachel unschädlich machen, mit dem Kleinlichkeit und Missgunst in seinem eigenen Vaterland ihm seinen Lorbeer zu einem Dornenkranz zu machen suchen. [...] [Übers. F. F.])“ 694 Nicht die dänischen Stimmen, sondern die europäische Meinung spricht das gültige Urteil über den Sohn des Nachbarreiches. Die schwedische Rezension verdeutlicht, dass die ausländische Kritik einen Dialog mit den biographischen Texten aufnimmt. Dabei tritt sie in Widerstreit zur dänischen Kritik und treibt auf diese Weise die „unification of literary space through competition“ voran. 693 Vgl. Möller-Christensen 1992, S. 98. 694 Se 2, S. 201. MLM (S. 263) übersetzt „Kammeratskab“ mit „Mißgunst“. 2.3 Text-Netzwerke 151 Umgekehrt versucht eine dänische Kritik, das Bild der positiven Aufnahme in Deutschland zu trüben, ein Versuch, dem Mit Livs Eventyr sogleich entgegentritt: [E]t kjøbenhavnsk Blad har sagt, at den lystige Satiriker Glaßbrenner, [sic] har givet mig et Hip som Eventyr-Digter, jeg har ikke kunnet finde det, derimod har jeg fra ham et Digt: An H. C. Andersen Verständen wir, was bunte Vögel singen, Die Düfte, die aus Blumen zu uns bringen, Verständen wir, was in den Gräbern lebt, Und was das kalte Leben oft begräbt, - Und könnten die Geheimniße erlauschen Aus Waldesweh’n und Meeresrauschen Verständen wir was holde Kinderaugen sagen: Wir bräuchten Deine Werke nicht zu übertragen! A. Glaßbrenner Dette tyder ikke paa, at Manden har saa meget imod mig! (Eine Kopenhagener Zeitung behauptete, daß der heitere Satiriker Glaßbrenner mir als Märchendichter einen Hieb versetzt habe. Ich habe das nicht bemerken können, dagegen besitze ich das nachstehende Gedicht von ihm: An H. C. Andersen Verständen wir, was bunte Vögel singen, Die Düfte, die aus Blumen zu uns dringen, Verständen wir, was in den Gräbern lebt Und was das kalte Leben oft begräbt - Und könnten die Geheimnisse erlauschen Aus Waldeswehn und Meeresrauschen, Verständen wir, was holde Kinderaugen sagen; Wir bräuchten Deine Werke nicht zu übertragen. A. Glaßbrenner Dies Gedicht läßt nicht darauf schließen, daß dieser Mann viel an mir auszusetzen hatte.) 695 Hier wird das Bild des internationalen Autors verteidigt, während die dänische Kritik dessen Glaubwürdigkeit bestreitet. Als die schwedische Autorin Frederika Bremer bei einem Besuch in Dänemark erzählt, wie viel Andersen in ganz Schweden gelesen wird, wird ihr geantwortet: „Bild ham dog ikke noget ind! “ („Machen Sie ihn doch nicht eingebildet! “) 696 Während diese Reaktion leider anonym bleibt, wird an anderer Stelle angegeben, dass 695 Se 3, S. 22; MLM, S. 480. Zu der betreffenden Kritik, die Goldschmidt in Corsaren veröffentlichte, vgl. auch Nielsen 1990, S. 167. 696 Se 2, S. 228; MLM, S. 300. 2 Text-Räume 152 „en af vore første Bladredacteurer“ („einer unserer ersten Zeitungsredakteure“) sich weigerte, die Berichte englischer Zeitungen über die Ehren, die Andersen in London erfahren hatte, in sein Blatt aufzunehmen: „’Folk vilde jo troe, at de gjorde Nar af Andersen derovre! ’“ („’die Leute würden ja glauben, dass man Andersen dort zum Narren gehalten hatte! ’“ [Übers. F. F.]) 697 Zuvor war Andersen nach seiner Rückkehr nach Kopenhagen auf der Straße als „‘[…] vor udenlandske berømte Ourangoutang! ‘“ („‘[…] unser im Ausland so berühmt gewordene[r] Orang-Utan! ‘“) 698 bezeichnet worden. Durch diese Szenen wird die Kopenhagener Gesellschaft als missgünstige und misstrauische, dadurch ihr eigenes literarisches Kapital beschneidende geschlossene Gesellschaft gezeichnet. Aus Mit Livs Eventyr spricht ein Streben nach Anerkennung, die sowohl auf nationaler als auch auf transnationaler Ebene gesucht wird. Andere Autoren, Kritiker und möglichst alle Leserinnen und Leser sollen die Texte wertschätzen. Der Weg zur Anerkennung durch die Kritik verläuft nach der Darstellung von Mit Livs Eventyr über den transnationalen Pol; die Anerkennung der Kritik in Dänemark setzt zeitlich verzögert ein. Dass Andersens Autobiographien den rezeptionshistorischen Untersuchungen von Helge Topsøe-Jensen und Erling Nielsen zufolge die dänische Ablehnung teilweise zuspitzen 699 und sich umgekehrt bei der schwedischen, englischen und deutschen Kritik auf die positiven Rezensionen konzentrieren und negative, wie sie Nielsens, Bredsdorffs und Möller-Christensens Studien ermitteln, 700 nur selten erwähnen, unterstreicht, dass diese Internationalität auch gesucht und als solche inszeniert wird. Allerdings muss festgehalten werden, dass die dänischen Rezensionen, vor allem in den späten 1830er und frühen 1840er Jahren, teilweise sehr scharf waren und zahlenmäßig weit hinter den deutschen zurückblieben. Letzteres ist auch, aber nicht ausschließlich, auf die schwach ausgebildete dänische Presselandschaft zurückzuführen. 701 Insofern decken sich die Autorinszenierung, die Verbreitungswege und die Aufnahme der Texte durch die Kritik zumindest teilweise, die wechselseitige Einwirkung dieser Elemente aufeinander trieb den Transnationalisierungsprozess voran. Die Auseinandersetzung mit der dänischen Kritik ist ein Streit um literarisches Kapital im Sinne Casanovas. So finden sich in einem biographischen Portrait in 697 Se 3, S. 64. Die Übersetzung in MLM (S. 541) gibt diese Replik nicht in direkter Rede wieder. Vgl. auch die Anmerkung in Se 3, S. 386, aus der hervorgeht, dass es der Redakteur der Berlingske politiske og Averstissements-Tidende war, der den Bericht ablehnte, während Fædrelandet einen ausführlichen Auszug brachte. 698 Se 3, S. 62; MLM, S. 540. 699 Vgl. Nielsen 1990, S. 123-127, 133 f., 139; Topsøe-Jensen 1934, S. 178 ff.; 1940, S. 167-169, 175, 179 f. Vgl. auch Möller-Christensen 1992, S. 62 f., FN 26; Åström 1972, S. 76-78. 700 Vgl. Bredsdorff 1940, S. 428-488; Möller-Christensen 1992, S. 81-87, 102 f., 201-203, 225-231, 236-253, 255 f., 266; Nielsen 1990, S. 131 f., 191; Åström 1972, S. 61 f. 701 Vgl. Möller-Christensen 1992, S. 81 f., 119, 126, 159, 164; Nielsen 1990, S. 123 f., 129, 131, 133, 136, 138 f., 143. Auch in England wurde die erste Übersetzung, The Improvisatore, die jedoch erst 1845 erschien, ausgiebig in der Presse besprochen und in Auszügen abgedruckt. Vgl. Bredsdorff 1954, S. 428-434. 2.3 Text-Netzwerke 153 Dansk Pantheon, das in Mit Livs Eventyr zitiert wird, Spuren der bei Casanova ausgemachten zeitlichen Ordnung: „[...] Hos de fleste af vore Digtere træde ofte et tidligere Bekjendtskab med Lidenkaberne, tidligere indre Erfaringer eller ydre Anledning istedetfor det primitive Naturkald, og et saadant kan i vor Literatur neppe med den afgjorte Bestemthed paavises Nogen som hos Oehlenschläger og Andersen. Heraf kan man forklare den Kjendsgjerning, at den Første saa ofte her hjemme har været Gjenstand for critiske Angreb, og at den Sidste egentligt først har vundet fuldstændigt Anerkjendelse som Digter i Udlandet, hvor en ældre Civilisation allerede har hidført Afsmag for Skoletvangen og en Reaction tilbage mod det Naturlige og Friske, medens vi Danske endnu nære en from Respect for Skolens nedarvede Aag og udlevede Reflections- Viisdom. [...]“ („[...] Bei den meisten Dichtern in unserer Zeit tritt häufig eine frühe Bekanntschaft mit den Leidenschaften zutage, frühe innere Erfahrungen oder äußere Anlässe an Stelle der ursprünglichen Naturbegabung. Dies kann in unserer Literatur kaum mit so viel entschiedener Bestimmtheit nachgewiesen werden wie bei Oehlenschläger und Andersen. So ist die Tatsache zu erklären, daß ersterer hierzulande so oft Gegenstand kritischer Angriffe gewesen ist und daß der letztere eigentlich erst vollständige Anerkennung als Dichter im Ausland gefunden hat, wo eine ältere Kultur schon eine Abneigung gegen den Schulzwang und eine Reaktion zurück zum Natürlichen und Frischen hervorgerufen hat, während wir Dänen noch einen frommen Respekt vor dem ererbten Joch und der überlebten Betrachtungsweisheit der Schule empfinden. [...]“) 702 Die Anerkennung Oehlenschlägers und Andersens wird hier über ausländische Literaturen vermittelt, die auf eine längere Tradition zurückblicken und infolgedessen bereits weiter entwickelt sind. Die Position ausländischer Literaturen in der chronologischen Ordnung impliziert, dass der Bruch mit der Regelpoesie bereits vollzogen wurde und Offenheit für Innovationen entsteht. Die dänische Kritik wird in Mit Livs Eventyr als kleinlich charakterisiert, sie hält sich vor allem an orthographischen Fehlern auf und ist nicht in der Lage, bedeutende Werke zu identifizieren. So schweigt sie über Improvisatoren, bis der Roman im Ausland ein Erfolg geworden ist, und reagiert dann mit einer schulmeisterlichen Zurechtweisung. Die Märchen werden zunächst als kindliches Treiben verworfen. 703 Auch die Schilderung der positiven Aufnahme von Ahasverus in Deutschland, der die acht Jahre später geäußerte Anerkennung in Dänemark durch die Dansk Maanedsskrift (Dänische Monatsschrift) anlässlich einer des Erscheinens der gesammelten Schriften zur Seite gestellt wird, 704 deutet an, dass Dänemarks Rezensionswesen verspätet reagiert. Dass die deutsche Gesammt-Ausgabe sieben Jahre vor der dänischen Werkausgabe erschien, 705 fügt sich ebenfalls in diese chronologische Ordnung. Dieses Zurückgebliebensein lässt sich 702 Se 2, S. 236; MLM, S. 308. 703 Vgl. Se 2, S. 173-176; MLM, S. 226-231. 704 Vgl. Se 3, S. 68 f.; MLM, S. 548 f. 705 Vgl. Se 3, S. 144 f.; MLM, S. 656-658. 2 Text-Räume 154 auch als Zeichen der Provinzialität lesen, mit Casanova: als Indiz der peripheren Position der dänischen Kritik gegenüber den Zentren des world literary space. Mit Livs Eventyr verrät ein Bewusstsein für den stattfindenden literarischen Wettstreit der Nationen und schildert Andersen als eine die dänische Literatur voranbringende Kraft. So wird zu dem deutschen Artikel Andersen und seine Werke von Dr. C. A. Mayer bemerkt, diese Abhandlung „i alle Tilfælde er hædrende for dansk Literatur“ („ehrt auf alle Fälle die dänische Literatur“ [Übers. F. F.]) 706 , und an späterer Stelle wird wiederholt, sie „tør vistnok kaldes en Roes for dansk Literatur, som det var af en stor Betydning for mig, men det synes ikke, at Nogen her hjemme har lagt Mærke til dette ellers meget læste Skrift; aldrig er Anmeldelsen blevet nævnet“ („darf als ein Lob auf die dänische Literatur gelten und war für mich von großer Bedeutung. Aber es scheint so, als ob niemand den Artikel in der sonst viel gelesenen Zeitschrift bemerkt hätte, die Besprechung ist in der Heimat niemals erwähnt worden“). 707 Neben dem transnationalen Streit um literarisches Kapital findet sich in den Autobiographien aber auch ein klares Bewusstsein für die sozioökonomischen Differenzen, die den Schwierigkeiten mit der dänischen Kritik zugrunde lagen: [V]i [Andersen og Ørsted, F. F.] samtalede oftere om, hvori det egentlig kunde ligge, at jeg maatte kjæmpe saa meget og saa længe, og vi mødtes i Erkjendelse af flere sandsynlige Aarsager. Nogen Skyld kom vel fra min første Armod, min Afhængighed af Menneskene; de kunde ikke, det der ogsaa i Udlandet er blevet bemærket, glemme, at de havde seet mig som fattig Dreng løbe om og skyde op; nogen Skyld laae vel ogsaa i, som min Biograph i „Dansk Pantheon“ bemærker, at jeg ikke vidste og ikke brugte de Midler, flere Forfatter tidt benytte, for at vinde ved Kammeratskab; dernæst, hvad H. C. Ørsted beklagende indrømmede, det meget ansete Maanedsskrifts Strenghed og Mangel paa al Velvillie mod mig, endelig Gjengangerbrevenes Haan, Bladcritiken, der fulgte Tidens Strømninger, kort sagt, den trykte offentlige Dom, som øvede endnu sin Magt hos os, der bøiede os for Authoriteter; til alt dette kom ogsaa det, at vi have Alle stor Modtagelighed for det Morsomme, Latterlige, og jeg havde den Skjæbne ved flere keitede, ellers høist velmeente Artikler at blive udstillet saaledes; der var en Tid, at Avisen fra Odense, min Fødeby, altid nævnede mig: „vort Byes Barn“ og gav om mig Efterretninger, der aldeles ikke kunde være af nogen Interesse for Publicum. (Wir [Andersen und Ørsted, F. F.] unterhielten uns des öfteren darüber, woran es eigentlich liegen mochte, daß ich so viel und so lange kämpfen mußte, und wir stimmten in der Feststellung mehrerer mutmaßlicher Ursachen überein. Einiges ist ja sicher auf meine anfängliche Armut zurückzuführen, meine Abhängigkeit von den Menschen; sie konnten nicht, was auch im Ausland bemerkt worden ist, vergessen, daß sie mich als armen Jungen herumlaufen und in die Höhe schießen sagen. Einiges war wohl auch darauf zurückzuführen, wie mein Biograph im ‚Dänischen Pantheon’ bemerkt, daß ich die Mittel nicht kannte und benutzte, die mehrere Schriftsteller oftmals anwenden, um Anhänger zu erringen, ferner, was H. C. Ørsted bedauernd zugab, die Strenge und der Mangel an jeglichem Wohlwollen von seiten der sehr angesehenen Monatsschrift ge- 706 Se 2, S. 269. MLM (S. 355) übersetzt mit „die jedenfalls ehrenvoll für die dänische Literatur ist“. 707 Se 2, S. 307; MLM, S. 409. 2.3 Text-Netzwerke 155 gen mich, schließlich der Hohn der ‚Gespensterbriefe’ 708 , die Zeitungskritik, die den Strömungen der Zeit folgte, kurz gesagt, das gedruckte, öffentliche Urteil, das noch immer seine Macht bei uns ausübt, dem wir uns wie einer Autorität unterwerfen. Zu diesem allen kam noch hinzu, daß wir eine große Empfänglichkeit für das Komische, Lächerliche haben, und es war mein Schicksal, durch mehrere ungeschickte, sonst höchst wohlgemeinte Artikel in dieser Weise hervorgehoben zu werden. Es gab eine Zeit, in der nannte mich die Zeitung von Odense, meiner Geburtsstadt, immer ‚Kind unserer Stadt’ und ließ Mitteilungen über mich erscheinen, die für das Publikum von keinerlei Interesse sein konnten.) 709 Die Strenge der Kritik und der Autoritätsglauben der Leserinnen und Leser sind Zeichen dafür, dass der dänische literarische Raum der Tradition verhaftet bleibt und wenig innovationsfähig ist; zusätzlich wird die Odenser Presse als provinziell eingestuft. Darüber hinaus geht aus dieser Darstellung hervor, dass die Gründe für die Schwierigkeiten im eigenen Land auch in einem Mangel an persönlichem kulturellem und symbolischem Kapital zu suchen sind, 710 den Andersen zwar aufholte, der jedoch nie vergessen werden sollte (auch hierin drückt sich der konservative Charakter der dänischen Literaturszene aus). Im Ausland wiederum tritt Andersen erst in Erscheinung, als er bereits „grueligt meget Ondt igjennem“ („durch schrecklich viel Schlimmes hindurch“ [Übers. F. F.]) 711 gegangen ist, unter anderem durch eine schulische Ausbildung, und bereits erste literarische Erfolge vorweisen kann. Diese zeitliche Verzögerung erleichterte die von Ivy York Möller-Christensen beschriebene Mythologisierung des Verhältnisses von Leben und Kunst. Die Verbindung von Biographie und Werk, die in dänischen Rezensionen zu den in Mit Livs Eventyr beschriebenen schulmeisterlichen Auslassungen führte, hatte im Ausland einen anderen Effekt. Hier erzeugten die Aufstiegsgeschichte und die vermeintliche Naivität des Autors wohlwollendes Interesse. 712 Neben literarischem Kapital zog Andersen ökonomischen Gewinn aus den literarischen Märkten Englands und Deutschlands. Er unterhielt Geschäftskontakte in diese beiden Länder, während er aus Frankreich niemals ein Honorar oder Freiexemplare erhielt. 713 Dort erwirbt er hingegen eine gebrauchte Fassung des Billedbog uden Billeder zu einem hohen Preis, da das Buch ausverkauft ist, wie eine Anekdote aus Mit Livs Eventyr berichtet. 714 Die geschäftlichen Beziehungen nach Deutschland und England werden in Mit Livs Eventyr benannt. Neben den Verweisen auf literarische Einflüsse und Rezensionen ergibt sich vor allem aus diesen Hinweisen das Bild 708 Es handelt sich um eine Anspielung auf die von Henrik Hertz 1830 anonym veröffentlichten Gjenganger-Breve eller poetiske Epistler fra Paradis (Gespensterbriefe oder poetische Episteln aus dem Paradies), in denen unter anderem Andersen verspottet wurde. Vgl. Se 2, S. 417. 709 Se 2, S. 226 f.; MLM, S. 297 f. 710 Zu den Begriffen des kulturellen und symbolischen Kapitals vgl. Bourdieu 1983. 711 Se 2, S. 33. 712 Vgl. Bredsdorff 1954, S. 431, 433; Möller-Christensen 1992, S. 60-66, 99 ff. 713 Vgl. Høybye 1954, S. 151. 714 Vgl. Se 3, S. 317 f. 2 Text-Räume 156 des transnationalen literarischen Raumes mit Deutschland und England als zentralen Polen. So wird berichtet, wie die Professoren Hase und Wolff in Leipzig Angebote deutscher Verleger vermitteln, die Andersen ein Honorar für die Übersetzungen seiner Schriften sichern sollen, und Andersen schließlich mit dem Verleger Lorck handelseinig wird. Zwar wird sogleich darauf verwiesen, dass der Besuch in Leipzig mehr einbrachte als ein Honorar, nämlich Besuche bei Bekannten wie Brockhaus und Mendelssohn. 715 Aber dieses Zugeständnis an die Distanz, die Literatur von Ökonomie meist behauptet, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ökonomische Fragen in Mit Livs Eventyr mehrfach explizit thematisiert werden. 716 Auch auf den Vertrag, den Andersen bei seinem Englandbesuch mit Richard Bentley abschloss, wird eingegangen. Mary Howitts sehr persönliche und negative Kritik von den Werken Andersens, die nicht mehr von ihr übersetzt wurden, wird auf ihre Enttäuschung über das Ausscheiden aus dem Übersetzungsgeschäft infolge dieses Vertrages mit Bentley zurückgeführt. 717 Dieser ökonomische Faktor verdient Aufmerksamkeit, um die in Mit Livs Eventyr erzählte Transnationalisierungsgeschichte vollständig zu erfassen. Casanovas Ansatz berücksichtigt ökonomische Strukturen kaum und kontrastiert literarische Innovation und kommerziell erfolgreiche Literatur stellenweise stark. 718 Demgegenüber ist das Transnationalisierungsnarrativ von Mit Livs Eventyr deutlich von ökonomischen Strukturen geprägt. So heißt es: Jeg var ret productiv, og mine Skrifter hørte til dem hjemme, som altid bleve kjøbte og læste; for hver ny Roman erholdt jeg et høiere Honorar, men man vil huske paa, hvor langt danske Bøger kjøbes, og at jeg ikke fra Heibergs og Maandesskriftets Slotsaltan var erklæret for Tidens betydende Digter, saa blev Honoraret ringe, - imidlertid jeg levede - naturligviis ikke som man i England tænkte sig det, naar man der nævnede Improvisatorens Digter; - jeg erindrer Charles Dickens Forbauselse senere ved at høre mit Honorar for denne Bog. „Hvad har De faaet“, spurgte han; jeg svarede, „19 ₤! “ „for Arket? “ [sic] gjentog han. „Nei“, sagde jeg, „for hele Bogen.“ „Ja, vi misforstaae vist hinanden“, blev han ved, „De kan ikke for det hele Værk, Improvisatoren, have faaet 19 ₤, det har De erholdt for Arket! “ - jeg maatte beklage at det var ikke Tilfældet, Arket blev omtrent kun ½ ₤ [sic] „Du min Gud! “ udbrød han „det er jo ikke til at troe, fortalte De det ikke selv.“ - Vistnok kjendte Dickens ikke danske Forhold, maalte Indtægten efter den, han fik i England; men rimeligt er det, at min Oversætterinde der vandt mere, end jeg som Forfatter, men nok om det, jeg levede - rigtignok under en Deel Savn. (Ich war recht produktiv, und meine Arbeiten wurden stets gekauft und gelesen, für jeden neuen Roman bekam ich ein höheres Honorar, aber man muß bedenken, welch kleines Absatzgebiet dänische Bücher haben und daß ich vom Schloßaltan Heibergs und seiner Monatsschrift eben nicht als der bedeutendste Dichter der Zeit ausgerufen wurde und daß mithin das Honorar gering blieb - indes ich lebte -, allein keineswegs 715 Vgl. Se 2, S. 319; MLM, S. 428 f. 716 Vgl. z. B. auch Se 2, S. 92, 193 f., Se 3, S. 112, 250; MLM S. 118, 252 f., 611. 717 Vgl. Se 3, S. 105 f.; MLM, S. 602 f. 718 Vgl. Casanova 2004, S. 11, 168-172. 2.3 Text-Netzwerke 157 so, wie man es sich etwa in England vorstellte, wenn man dort von dem Autor des ‚Improvisator’ sprach. Ich entsinne mich noch an Charles Dickens’ Erstaunen, als er die Höhe meines Honorars für diesen Roman erfuhr. „Wieviel haben Sie bekommen? “ fragte er mich. Ich antwortete: „Neunzehn Pfund! “ - „Für den Bogen? “ fragte er. „Nein“, erwiderte ich, „für das ganze Buch.“ Aber wir verstehen einander falsch“, fuhr er fort. „Sie können doch unmöglich für das ganze Werk, für den ‚’Improvisator’, nur neunzehn Pfund erhalten haben, das werden sie jedenfalls für den Bogen erhalten haben.“ Ich mußte bedauern, daß dem nicht so war, für den Bogen machte es ungefähr ein halbes Pfund aus. „Du mein Gott“, rief er aus, „das ist ja nicht zu glauben, wenn sie es nicht selbst sagten! “ - Allerdings kannte Dickens die dänischen Verhältnisse nicht, bemaß mein Honorar an dem, das er in England bekam. Aber es ist wahrscheinlich, daß meine Übersetzerin dort mehr bekam als ich, der Verfasser, in Dänemark. Doch genug davon, ich lebte - freilich unter einigen Entbehrungen.) 719 Der lukrative englische wird dem kleinen dänischen Markt gegenübergestellt und die ökonomische Situation eines Verfassers, der einer peripheren Literatur angehört, explizit thematisiert. Die Inszenierung Andersens als internationaler Autor erfolgt in Mit Livs Eventyr nicht ganz konsequent, da neben der Anerkennung durch die Kritik die Anerkennung des Publikums eine zentrale Größe ist. Die Anerkennung ausländischer Kritiker und die Zahl Leserinnen und Leser, darunter auch die dänische Leserschaft, werden gegen die dänische Kritik in Stellung gebracht. 720 Die Einbeziehung der dänischen Leserinnen und Leser hebt die für die Literaturkritik unternommene scharfe Kontrastierung zwischen In- und Ausland hinsichtlich der Leserschaft in weiten Teilen auf. Die Rolle der Kritik wird im Wettstreit um literarisches Kapital als Auseinandersetzung zwischen nationalen literarischen Szenen gelesen, für die Leserschaft gilt aber offensichtlich eine andere Kategorisierung. Dass die dänischen Leserinnen und Leser gegenüber dem ausländischen Publikum nicht abgewertet werden, hängt auch mit den ökonomischen Interessen Andersens zusammen, die Mit Livs Eventyr nicht verschweigt: „Min danske Boghandler Reitzel sagde mig en Dag at mine samlede illustrerede Eventyr vare udsolgte, han vilde give en ny Udgave, for den første havde jeg erholdt kun 300 Rdlr, nu tilbødes mig 3000 Rdlr. Det kom uventet som en Lotterilod; [...].“ („Mein dänischer Buchhändler [d. h. Verleger, F. F.] Reitzel sagte mir eines Tages, dass meine gesammelten illustrierten Märchen ausverkauft waren, er wollte eine neue Ausgabe herausbringen, für die erste hatte ich nur 300 Taler erhalten, nun wurden mir 3000 angeboten. Das kam so überraschend wie ein Lotterielos; […].“ [Übers. F. F.]) 721 Zudem lässt sich die Popularität bei den Leserinnen und Lesern auch als Widerlegung der Kritikerurteile lesen. Diese Form der Widerlegung ist für Andersens Fall gerade aufgrund einiger Innovationen möglich, die er in die dänische Literatur ein- 719 Se 2, S. 187 f.; MLM, S. 244. 720 Vgl. z. B. Se 2, S. 173-181, 199-205, 224-228, 264-269, 302 f. (die Angaben von S. 173-175 werden hier wiederholt); Se 3, S. 21-23, 68 f.; 105 f., 174-177; MLM, S. 225-238, 259-268, 293- 300, 347-355, 401-403, 480-484, 548 f., 600-602. 721 Se 3, S. 250. 2 Text-Räume 158 brachte. Die Nähe zur gesprochenen Sprache, die (behauptete) Naivität und Kindlichkeit der Texte und die Versetzung der Erzählperspektive in Dinge, Tiere und Pflanzen bedeuteten einen bewussten Bruch mit akademischen literarischen Traditionen; viele Texte, allen voran die Eventyr og Historier ließen sich relativ voraussetzungslos verstehen (auch wenn sie dem literarisch Gebildeten noch deutlich mehr Bedeutungsdimensionen anbieten konnten). In Mit Livs Eventyr erfolgt die Akkumulation literarischen Kapitals sowohl durch die Anerkennung durch die Kritik der literarischen Zentren als auch durch Leserinnen und Leser aller literarischen Räume. Die Kritikgeschichte, die Mit Livs Eventyr erzählt, lässt sich als Inszenierung eines internationalen Autors lesen. Diese bereits in Das Märchen meines Lebens erfolgte Inszenierung tritt in Mit Livs Eventyr mit der Kritik in einen Dialog, so dass es zu Rückkopplungseffekten wie der zitierten schwedischen Kritik und der Richtigstellung hinsichtlich der Anerkennung durch Glaßbrenner erkennen kommt. Demgegenüber wird das Publikum überwiegend als globale Größe behandelt, nationale Unterschiede spielen hier eine sehr viel geringere Rolle. Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa Die zentrale Stellung der Eventyr og Historier in einer globalisierungstheoretisch fundierten Arbeit ließe sich auch durch ihre extrem weitreichende Verbreitung begründen. Andersens bis heute andauernde Popularität verdankt sich schließlich hauptsächlich einigen Eventyr og Historier. Die Textauswahl in diesem Teil der Arbeit beruht jedoch weniger auf dieser Rezeptionsgeschichte als auf den ästhetischen Eigenschaften der gewählten Texte. Paul V. Rubow stellt in seiner Studie H. C. Andersens Eventyr fest, dass Andersen in den Eventyr „Knudens Løsning“ („die Lösung des Knotens“ [Übers. F. F.]) 722 gefunden zu haben meinte: eine Form, die es ihm erlaubte, seinen Anspruch an die Poesie einzulösen, Realismus und Phantasie zu vereinen. Dieser Form wird der Prolog sich annähern. Ein Blick auf das poetologische Programm, das sich mit den Eventyr og Historier verbindet, bildet den Auftakt zum thematisch gegliederten Teil exemplarischer Textanalysen. Im Anschluss an die Überlegungen von Gerhart Schwarzenberger, Johan de Mylius, Heinrich Detering und Heike Depenbrock lässt sich Det nye Aarhundredes Musa (Die Muse des neuen Jahrhunderts) (1861) als poetologischer Essay lesen. 723 Neben diesem Text können noch weitere genannt werden, die an Andersens Entwurf einer Poetologie Teil haben. So finden sich im Reisebuch I Sverige (In Schweden) (1851) wichtige Überlegungen zu einer modernen Poetologie, 724 von denen beispielsweise das Kapitel Fugl Phønix (Vogel Phönix) als separater Text in den Eventyr og Historier erschien. In Fugl Phønix wird Poesie nach dem Muster der Phönixsage als Prozess ständiger Erneuerung begriffen. 725 Heinrich Detering analysiert in seinem Aufsatz The Phoenix Principle. Some Remarks on H. C. Andersen’s Poetological Writings darüber hinaus Folkesangens Fugl (Der Vogel des Volksliedes) (1864). 726 Hier wird die andauernde, erlösende Kraft des folkesangs gefeiert (der nach Detering weniger als Äquivalent des deutschen Volksliedes denn als Inbegriff der nordischen Tradition begriffen werden sollte) 727 . Die poetologischen Qualitäten 722 Rubow 1967, S. 167. 723 Vgl. Schwarzenberger 1962, S. 35; de Mylius 1995, S. 322 f., Depenbrock/ Detering 1991, S. 377- 386; Detering 1999, S. 51 f., 57-60. 724 Vgl. Behschnitt 2006, S. 410; Brøndsted 1967, S. 5-34; Depenbrock/ Detering 1993; Detering 1999, S. 55-57. 725 Vgl. Detering 1999, S. 55. 726 Erstmals im Folkekalender for Danmark 1865 veröffentlicht, der 1864 erschien. Vgl. EoH 3, S. 413. 727 Ich teile Deterings Interpretation im Weiteren nicht ganz, da er davon ausgeht, der Text verliere den Vogel aus den Augen. Dabei übersieht er offenbar die Aussagen „Vi høre Sangen; vi høre den nu her i Stuen“ („Wir hören das Lied; wir hören es jetzt hier in der Stube“) sowie „Nu synger den [Folkesangens Fugl, F. F.] for os herinde.“ („Jetzt singt er [der Vogel des Volksliedes, F. F.] für uns hier drinnen.“) (EoH 3, S. 54; SM(TD) 2, S. 404), aus denen hervorgeht, dass der Vogel auch in der Gegenwart des Textes präsent bleibt. Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa 160 von Tante Tandpine (Tante Zahnschmerz) (1872) hat zuletzt Klaus Müller-Wille herausgestellt. 728 Dieser Text wird in Kapitel 3.1.1, mit einem Fokus auf dem Zusammenhang von Literatur und Markt analysiert. Der Prolog konzentriert sich auf Det nye Aarhundredes Musa, dessen Entwurf einer globalen Poetik bei der Analyse von Hvad man kan hitte paa (Was man sich ausdenken kann) (1869) 729 in Kapitel 3.3.2 um ein Dingprosa-Programm ergänzt wird. Zu Beginn von Det nye Aarhundredes Musa stehen die Fragen, wie diese neue Muse für die Kinder unserer Kindeskinder aussehen wird, was sie singt, welche Saiten der Seele sie berühren und zu welchem Höhepunkt sie ihre Zeit führen wird. Die Reife dieser Muse wird von der Gegenwart nicht erlebt werden, sie liegt in einer für den Sprecher unerreichbaren Zukunft. 730 Demgegenüber stehen die „Nutids-Poeter“ („Gegenwartsdichter“) 731 , deren Schriften wahrscheinlich dem Vergessen anheim fallen werden und die unter erheblichem Druck stehen. Det nye Aarhundredes Musa nennt dafür zwei Gründe. Besteht einerseits die Forderung an die Poesie, in aktuelle Parteikämpfe einzugreifen, erwarten andere sich vor allem Entspannung oder soziale Distinktion von ihrer Lektüre, die zudem den Regeln des Marktes unterliegt: Wer seinen ökonomischen und kulturellen Reichtum sichtbar zum Ausdruck bringen möchte, sendet einen Boten in den Buchladen und lässt diesen kaufen, was empfohlen wurde; andere lesen, was sie umsonst bekommen können, die Reste. 732 Die Literatur gerät also unter den Einfluss der Ökonomie. Vor dem Hintergrund einer zunehmend ökonomisch ausgenutzten Zeit scheint die Frage nach einer „Fremtids Poesie, som Fremtids Musik, [...] til Donquixotiaderne“ („Zukunftspoesie, wie Zukunftsmusik, [...] zu den Donquijotiaden“) 733 zu gehören, das Reden über sie wird mit Berichten über Reiseentdeckungen auf dem Uranus verglichen. Der Text eröffnet nun jedoch eine andere Perspektive und verfolgt dieses scheinbar unmögliche Projekt der Beschreibung eines anderen Ortes der Poesie. 734 Gelten die Gefühle des Menschen den Gelehrten als bloße Nervenschwingungen, so spielt auf diesen (Nerven-)Saiten nach Det nye Aarhundredes Musa der unsichtbare 728 Vgl. Müller-Wille 2009c. 729 Auch dieser Text erschien zuerst auf Englisch im amerikanischen Riverside Magazine. Vgl. EoH 3, S. 443. 730 Vgl. EoH 2, S. 382; SM(D), S. 130. Mit Heinrich Detering gehe ich davon aus, dass der Begriff des Jahrhunderts hier nicht kalendarisch gelesen werden sollte, sondern als Bezeichnung einer neuen Ära, die sich von der vergangenen unterscheidet. Vgl. Detering 1999, S. 59. 731 EoH 2, S. 382; SM(D), S. 129. 732 Vgl. EoH 2, S. 382; SM(D), S. 129 f. Vgl. auch Grage 2009, S. 222 f. 733 EoH 2, S. 382; SM(D), S. 130. 734 Vgl. Detering 1999, 59 f. Dieser andere Ort der Poesie unterscheidet sich von den Heterotopien, die Foucault in Andere Räume (2002) beschreibt, durch seine Unwirklichkeit. Er funktioniert jedoch nicht als bloße Perfektionierung oder Kehrseite der Gesellschaft, wie Foucault es für die Utopie beschreibt. Vielmehr weist er Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Umfunktionierbarkeit, der Überlagerung unterschiedlicher Räume und des Bruchs mit der herkömmlichen Zeit auf, die Foucault den Heterotopien zuschreibt. Deshalb scheint mir die Bezeichnung „anderer Ort der Poesie“ hier treffender als „Utopie der Poesie“. 161 göttliche Geist, dieser klingt durch diese, „og den forstaaes af de andre Strængespil, saa at de klinge derved i sammensmeltende Toner og i Modsætningens stærke Dissonantser. Saaledes var det, saaledes bliver det i den store Menneskeheds adskriden i Friheds Bevidsthed! “ („und das verstehen die anderen Saitenspiele, so daß sie dabei selber klingen, im Zusammenklang oder in den heftigen Dissonanzen der Gegensätze. So war es, so wird es sein im Voranschreiten der großen Menschheit im Freiheitsbewußtsein.“) 735 Einerseits ist in der Vorstellung eines Voranschreitens Richtung Freiheit ein Nachhall von Hegels Geschichtsphilosophie erkennbar. Andererseits liegt in der Metaphorik des Zusammenklanges auf der Grundlage eines gegenseitigen Verständnisses bereits der Schlüssel zu einem Modell von Literatur, das sich mit Goethes Idee der „Weltliteratur“ vergleichen lässt. 736 Denn diese Metaphorik wird an entscheidender Stelle wieder aufgegriffen; dort, wo das Programm der neuen Muse bestimmt wird. Zunächst wird die Kindheit der neuen Muse geschildert und die Frage nach ihrer Verortung aufgeworfen, auf die in diesem Prolog weiter unten eingegangen wird. Darauf folgt eine Darstellung ihres Programms. Es wird über Negationen definiert: Die Muse will nicht als Epigone vergangener Zeiten auftreten, sich nicht mit irrationalen, kunstvollen Einfällen einschmeicheln, ist keine Regelpoesie, kein (romantisches) Wiederaufgreifen von Saga-Motiven. Den französischen „Roman-Kipper“ („Roman-Kneipen“) steht sie ebenso fern wie „Hverdagshistoriernes Chloroform“ („dem Chloroform der Alltagsgeschichten“ [Übers. F. F.]) 737 . Dagegen fällt ihre positive Bestimmung scheinbar knapp aus: 738 „en Livs-Elixir vil hun bringe! hendes Sang i Vers og Prosa vil være kort, klar, rig! Nationaliteternes Hjerteslag, hver er kun eet Bogstav i det store Udviklings-Alphabet, men hvert Bogstav griber hun med lige Kærlighed, stiller dem i Ord og slynger Ordene i Rythmer til sin Nutids Hymne.“ („ein Lebenselixier will sie bringen! ihr Lied in Vers und Prosa wird kurz sein, klar, reich! der Herzschlag der Nationalitäten, jede ist nur ein Buchstabe im großen Entwicklungsalphabet, aber jeden Buchstaben ergreift sie 735 EoH 2, S. 382 f.; SM(D), S. 130. 736 Goethes wichtigste Äußerungen zur Weltliteratur sind zusammengestellt in Goethe 1958, S. 361- 364 sowie etwas umfassender bei Strich 1946, S. 397-400. Zu Goethes Idee der Weltliteratur gibt es zahlreiche Studien. Einen kompakten Überblick über die bestehenden Diskussionen liefert Birus 1995. Vgl. auch Hoesel-Uhlig 2004. Heinrich Detering (2001, S. 174-177) stützt meine Interpretation, dass Det nye Aarhundredes Musa ein weltliterarisches Programm entwirft. 737 EoH 3, S. 386. In Deterings Übersetzung steht „Romanspelunken“, „Alltagsgeschichten“ wird kursiviert, wahrscheinlich, um die Anspielung auf die Hverdagshistorier, eine Bezeichnung für die Romane und Novellen Thomasine Gyllembourgs, zu verdeutlichen. Im Original fehlt jedoch diese Kursivierung und erlaubt so neben dieser Assoziation auch ein weiteres Verständnis des Begriffs. Vgl. SM(D), 135; EoH 2, S. 511. 738 Insbesondere Heike Depenbrock und Heinrich Detering vertreten die Auffassung, es gäbe kaum positiv bestimmte Eigenschaften der neuen Muse. Vgl. Depenbrock/ Detering 1991, S. 382-384; Detering 1999, S. 61 f.; Schwarzenberger 1962, S. 35 f. Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa 162 mit gleicher Liebe, ordnet sie zu Worten und verknüpft die Worte im Rhythmus zu ihrer Gegenwartshymne.“) 739 Das Herz schlägt national verschieden, die neue Muse verbindet jedoch diese einzelnen „Buchstaben“ und ordnet aus ihnen die Worte, die sie „im Rhythmus zu ihrer Gegenwartshymne“ verknüpft. Die nationale Besonderheit ist also in eine transnationale Ordnung eingebunden. Und diese transnationale Ordnung steuert auf eine gewaltige Transformation hin: Snart falder den chinesiske Muur; Europas Jernbaner naae Asiens aflukkede Cultur- Archiv, - de to Cultur-Strømme mødes! da maaskee bruser Fossen med sin dybe Klang, vi Nutids Gamle ville skjælve ved de stærke Toner og fornemme deri et Ragnarok, de gamle Guders Fald, glemme, at hernede maae Tider og Folkeslægter forsvinde, og kun et lille Billede af hver, indesluttet i Ordets Kapsel, svømmer paa Evighedens Strøm som Lotus-Blomst, og siger os, at de Alle ere og vare Kjød af vort Kjød, i forskjellig Klædning; Jødernes Billede Straaler [sic] fra Bibelen, Grækernes fra Iliade og Odyssee, og vort -? (Bald fällt die chinesische Mauer; Europas Eisenbahnen nähern sich Asiens verschlossenem Kulturarchiv, - die zwei Kulturströme begegnen einander! da vielleicht tost der Wasserfall mit seinem tiefen Klang, wir Gegenwarts-Alten würden zittern unter den starken Tönen und darin ein Ragnarök erkennen, den Sturz der alten Götter, würden vergessen, daß hienieden Zeiten und Geschlechter verschwinden müssen und daß nur ein kleines Bild von jedem, eingeschlossen in die Kapsel des Wortes, auf dem Strom der Ewigkeit schwimmt wie eine Lotosblüte und uns sagt, daß sie alle Fleisch waren und sind von unserem Fleisch, in verschiedener Kleidung; das Bild der Juden leuchtet aus der Bibel, das der Griechen aus Ilias und Odyssee, und unser eigenes -? ) 740 Die Transformation der Muse erwartet der Text für einen Moment kultureller Begegnung, der durch die Eisenbahn ermöglicht wird. Diese Begegnung umfasst an dieser Stelle Asien und Europa. Schon zuvor ist deutlich geworden, dass die Muse genauso aus „Columbus’s Fund, Frihedslandet, hvor de Indfødte bleve et jaget Vildt og Afrikanerne Trældyr“ („de[m] Fund des Kolumbus, [dem] Freiheitsland, wo die Eingeborenen zu Jagdwild geworden sind und die Afrikaner zu Sklavenvieh“) oder aus „Antipodernes Verdensdeel“ („de[m] Weltteil der Antipoden“) 741 , also Australien, kommen könnte. Dass die Beschreibung Amerikas bemerkenswert kritisch ist, stellt bereits Gerhart Schwarzenberger heraus. 742 Deutlich wird an diesen Stellen die globale Dimension des poetologischen Programms. Diese äußert sich auch in der Beschreibung ihres ersten Auftretens: „Hendes Vuggegænge gik fra det yderste Punkt, Menneske-Fod betraadte paa Norpols Undersøgelserne til saavidt det levende Øie saae ind i Polar-Himlens ,sorte Kulsække’.“ („Die Kufen ihrer Wiege reichten vom äußersten Punkt, den eines Menschen Fuß bei den Nordpolforschungen betrat, so weit, wie das lebendige Auge in den schwarzen Kohlensack des Polarhimmels hin- 739 EoH 2, S. 386; SM(D), S. 135. 740 EoH 2, S. 387; SM(D), S. 135 f. 741 EoH 2, S. 386; SM(D), S. 134. 742 Vgl. Schwarzenberger 1962, S. 27. 163 aufsah.“) 743 Die neue Muse umfasst das von Europäern erreichte und erforschte, teils gewaltsam an sich gerissene Land. Hier lässt sich eine Parallele zum Begriff der Weltliteratur erkennen, wenn man Weltliteratur im Anschluss an die Überlegungen von Horst Steinmetz und Gerhard Kaiser mit Industrialisierung und Kapitalismus in Beziehung setzt und die Entstehung der neuen Poesie in deren Gefolge ansiedelt. 744 Wie Pascale Casanova beschreibt auch Det nye Aarhundredes Musa die Transnationalisierung von Literatur und verortet die literarischen Zentren zunächst im europäischen Raum. 745 Dass der Buchmarkt zugleich kapitalistischen Charakter hat, wird bereits zu Beginn von Det nye Aarhundredes Musa angesprochen. Europa zeichnet sich durch ein hohes Maß an Kapitalbesitz aus, der ökonomisches, kulturelles und literarisches Kapital umfasst. Dieses Konzept einer neuen Literatur ist insofern eurozentrisch, als es in Konsequenz dieser Konzentration von Europa ausgehend denkt; in der Beschreibung Amerikas in Det nye Aarhundredes Musa wird jedoch die Gewaltsamkeit des europäischen Expansionsprozesses dargestellt; die Begegnung mit China setzt ungeheure Energien auf beiden Seiten frei und führt schließlich zur Entstehung einer neuen Poesie. Es handelt sich also nicht um einen „blind Eurocentrism“ 746 , der Machtasymmetrien und Konflikte ignoriert, wie dies Christopher Prendergast im Zusammenhang mit Goethes Weltliteraturbegriff bezeichnet und auch für diesen verneint hat. Im Unterschied zu Goethes verstreuten Äußerungen, die sich vor allem auf die Produktion und Verbreitung, weniger auf die Gestalt literarischer Texte beziehen, formuliert Det nye Aarhundredes Musa zugleich ein ästhetisches Programm, indem der Text neben den Entstehungsbedingungen in einer zunehmend industriell und kapitalistisch durchdrungenen Gesellschaft mögliche Inhalte der neuen Literatur berücksichtigt. Diese Inhalte speisen sich einerseits aus den Entdeckungen der Forschung: „Herlige Faddergaver bleve lagte paa hendes Vugge. I Mængde er strøet der som Bonbons Naturens skjulte Gaader med Opløsning; af Dykkerklokken er rystet vidunderligt ,Nips’ fra Havets Dyb. Himmelkortet [...] blev lagt aftrykt som Vuggeklæde. Solen maler hende Billeder; Photographien maa give hendes Legetøj.“ („Herrliche Taufgeschenke sind ihr in die Wiege gelegt. Reichlich wie Bonbons sind darüber die verborgenen Rätsel der Natur mitsamt ihrer Auflösung hingestreut, aus der Taucherglocke ist wunderbarer Nippes aus den Meerestiefen ausgeschüttet. Die Himmelskarte [...] ist ihr als bedruckte Wiegendecke hingelegt. Die Sonne malt ihr Bilder; die Photographie gibt ihr Spielzeug.“) 747 Hier ist die Technologie das Kinderspielzeug, das aufgelöste Rätsel der Natur erscheint als Bonbon. Von den Tiefen des Meeres bis zum Himmel wird alles gesammelt, kartographiert, photographisch erfasst und verfügbar gemacht. Als miniaturisierte Nippes und kindgerechtes Taufgeschenk lassen die Resultate der Entdeckun- 743 EoH 2, S. 383; SM(D), S. 131. 744 Vgl. Kaiser 1980, S. 15, 21; Steinmetz 1988a, 1988b; Clüver 1986, 1988. 745 Vgl. auch Kapitel 1.3.6 sowie Kap. 2.3.2 für eine kritische Auseinandersetzung mit Casanova 2004. 746 Prendergast 2004, S. 3. 747 EoH 2, S. 383; SM(D), S. 131 f. Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa 164 gen die ihnen üblicherweise zugeschriebene heroische Größe vermissen. Die europäisch-rationalistischen Forscher behandeln die Welt als Spielplatz, ihr Treiben rückt so in die Nähe der kindlichen Vergnügungen, die sie den vermeintlich primitiven Anderen gerne unterstellten. Dabei geben sie der Muse die Mittel zur Abschaffung des Gegenwärtigen in die Hand, die auf die Begegnung mit Asien folgen wird. Das von den „Nutids Gamle“ („Gegenwarts-Alten“) erkannte Ragnarök ist ein Rückgriff auf die nordische Mythologie und beschreibt ein apokalyptisches Szenario, einen Kampf zwischen Asen und Riesen, auf den eine neue glückliche Welt folgen wird. 748 Dabei vergessen („glemme“) die Gegenwarts-Alten, dass „Tider og Folkeslægter“ („Zeiten und Geschlechter [letztere sind hier durch die Vorsilbe „Folke“ als Bezeichnung für Volksgruppen markiert, F. F.]“) verschwinden müssen und sich im Neuen nur als kleines Bild, „indesluttet i Ordets Kapsel“ („eingeschlossen in die Kapsel des Wortes“), erhalten. In dieser Form erinnert das Kommende an seine Gemeinsamkeit mit dem Alten. Insofern unterliegt Heike Depenbrocks 749 Interpretation des Textes genau dem Fehler der „Nutids-Gamle“, wenn sie in Det nye Aarhundredes Musa ein „apokalyptisches Modell“ erkennt, in dem „der behauptete geschichtliche Prozess eine schlechterdings unüberbietbare Finalität“ gewinne und erklärt: „Durch den Einsatz wohlertrauter ‚autoritativer’ Denk- und Darstellungsschemata in Form literarischer und religiöser Allusionen und die Verwendung von Natur-Metaphern werden die Schwierigkeiten einer positiven Bestimmung der neuen Poesie überdeckt.“ 750 Der Text erklärt vielmehr, dass sich der apokalyptische Charakter nur aus einer Gegenwartsperspektive ergibt, die nicht die Perspektive der Muse selbst ist. Zudem sind die Islandsagas bereits zu „gamle Guder“ („alten Göttern“) erklärt worden, die tot sind, und mit denen in der neuen Zeit weder Sympathien noch Verwandtschaften bestehen. 751 An die Stelle dieses apokalyptischen Verständnisses des Geschehens tritt das Wissen, dass Zeiten und Völker verschwinden müssen und nur noch als Erinnerungsbild erhalten bleiben. Der Text erwartet ein radikal anderes Verständnis von Menschheit und Geschichte. Deshalb kann er auch schließen mit einem Gruß, der an die Gladiatoren Roms erinnert und doch über den Tod hinaus denkt: Vær hilset, Du Musa for Poesiens nye Aarhundrede! vor Hilsen løfter sig og høres, som Ormenes Tanke-Hymne høres, Ormen, der under Plovjernet skæres over, idet et nyt Foraar lyser og Ploven skærer Furer, skærer os Orme sønder, for at Velsignelsen kan groe for den kommende nye Slægt. Vær hilset, Du det nye Aarhundredes Musa! 748 Vgl. EoH 2, S. 511 f.; Sturluson 1971, S. 68-77; Krause 1997, S. 72-79. 749 Dass Depenbrock diesen Teil des Aufsatzes verfasst hat, geht aus Depenbrock/ Detering 1991, S. 386, Endnote 1 hervor. 750 Depenbrock/ Detering 1991, S. 384. 751 EoH 2, S. 386; SM(D), S. 135. Vgl. Deterings (1999, S. 59f.) Ausführungen zur paradoxen Struktur der Ragnarökmetaphorik. 165 (Sei gegrüßt, du Muse des neuen Jahrhunderts der Poesie! unser Gruß erhebt sich und wird gehört, wie die Gedankenhymne des Wurms gehört wird, des Wurms, der unter der Pflugschar zerschnitten wird, während der neue Frühling erglänzt und der Pflug die Furchen zieht und uns Gewürm kurz und klein schneidet, damit der Segen wachsen kann für das kommende neue Geschlecht. Sei gegrüßt, du, die Muse des neuen Jahrhunderts! ) 752 Johan de Mylius geht in seiner Interpretation dieser Passage davon aus, dass der Wurm im Grunde gar nicht gehört werde und wertet sie als Ausdruck eines weitreichenden Pessimismus. Andersen verstehe unter Poesie nur noch ein bloßes Überleben, keine Macht über das Leben oder Erklärung desselben mehr, sei aber immerhin noch in der Lage, aus diesem Untergang einen starken Text zu schaffen: „Selv om Historien er opløst i fragmenter og er ophørt med at være en historie i og for sig, så er den blevet en tekst af en anden art, en tekstuel gestus, der henter styrke ud af opløsning og intethed.“ 753 („Obwohl die Geschichte aufgelöst ist in Fragmente und aufgehört hat, eine Geschichte an und für sich zu sein, ist es ein Text anderer Art geworden, ein textueller Gestus, der seine Stärke aus der Auflösung und dem Nichts bezieht.“ [Übers. F. F]). Demgegenüber assoziiert Heinrich Detering diese Passage stärker mit dem Phönixmotiv, und betont die Begrüßung dieser Zerstörung. Das Neue bleibt jedoch auch in dieser Interpretation „almost empty“ 754 . Zwar bleibt die Gestalt der neuen Muse unscharf. Es lohnt sich aber, ihre Entstehungsgeschichte genauer zu betrachten, als dies in der Sekundärliteratur der Fall ist, und dadurch die vermeintliche Gehaltlosigkeit des literarischen Programms zu relativieren. Die Muse ist „Folkets Barn paa Faders Side, sund i Sind og Tanker, Alvor i Øiet, Humor paa Læben. Moderen er den høibaarne academi-opdragne, [sic] Emigrantens Datter med de gyldne Rococo Erindringer. („[v]on der väterlichen Seite her [ist sie] ein Kind des Volkes, gesund in Sinn und Verstand, Ernst im Blick, Humor auf den Lippen. Ihre Mutter ist die hochwohlgeborene, akademieerzogene Emigrantentochter mit den goldenen Rokokoerinnerungen.“) 755 In ihr durchmengen sich soziale und politische Gegensätze. (Emigrant ist eine zeitgenössische Bezeichnung für einen Flüchtling vor der Französischen Revolution. 756 ) Vor allem aber liest sie: „Skrækkeligt Meget har hun læst, altfor Meget, hun er jo født i vor Tid, grumme Meget maa glemmes igjen og Musaen vil forstaae at glemme.“ („Schrecklich viel hat sie gelesen, viel zuviel, sie ist ja in unserer Zeit geboren, entsetzlich viel muß wieder vergessen werden, und die Muse wird zu vergessen wissen.“) 757 In diesem „altfor Meget“ spiegelt sich die wachsende Produktivität des 752 EoH 2, S. 387; SM(D), S. 136. 753 De Mylius 2004, S. 264 f. 754 Detering 1999, S.61. 755 EoH 2, S. 383; SM(D), S. 131. 756 Vgl. EoH 2, S. 509. 757 EoH 2, S. 384; SM(D), S. 132. Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa 166 Buchmarktes wider. Aber der in Det nye Aarhundredes Musa dargestellte Prozess des Lesens (der 1001 Nacht, die Bücher Mose, Bidpais’ Fabel vom Fuchs, Shakespeare, Holberg, Molière, Aristophanes und anderes umfasst) und Vergessens (hierunter fällt alles, was in ihrer negativen Bestimmung genannt wurde) beschreibt zugleich die Produktion eines kulturellen Gedächtnisses, das sich durch seine große geographische und soziale Inklusivität und den Verlust vieler europäischer Texte auszeichnet. 758 Die Erzeugung des Gedächtnisses erinnert auch an die Darstellung der Musen in Grundtvigs Græsk og Nordisk Mythologi for Ungdommen (Griechischer und nordischer Mythologie für die Jugend) (1847) als Töchter der Mnemosyne, was nicht nur „H u k o m m e l s e , men ligesaavel O p m ær k s o m h e d “ („nicht nur G e d ä c h t n i s , sondern genauso A u f m e r k s a m k e i t “ [Übers. F. F.]) 759 bedeute. In seinem Kompendium Globalisierung weist Peter Fäßler auf die technischen Voraussetzungen von Weltliteratur hin und nennt das Vorhandensein von Speichermedien für Informationen und die Geschwindigkeit ihrer Reproduktion in diesem Zusammenhang als wichtigen Globalisierungsfaktor. 760 Det nye Aarhundredes Musa beschreibt diesen Speicherungsprozess demgegenüber als einen zwar technisch bedingten, aber zugleich um nichttechnische Selektionsprozesse ergänzten Vorgang. Betrachtet man die Beschreibungen dessen, was die neue Muse nicht ist, sind es vor allem europäische Texte, die weichen müssen. Hier gewinnt Det nye Aarhundredes Musa eine prophetische Qualität, wenn man an die mit der Weltliteratur-Debatte verknüpfte Kritik der europäisch-nordamerikanisch dominierten institutionellen Kanonisierung denkt. Auf den neuen Technologien der Vernetzung rast die Muse des neuen Jahrhunderts einer grundlegenden Transformation der Literatur entgegen, in Richtung ihrer Öffnung für außereuropäische Traditionen, die nicht mehr nur als Opfer des europäischen Expansionsprozesses auftreten, sondern als Gegenmächte, die in der Lage sind, die gesamte Gestalt der Literatur zu verändern. Eine Auflösung der nach Nationalkulturen differenzierten Literatur im Wasserfall der Zeit ist eine Möglichkeit, diese Veränderung zu denken, die der Text nahe legt. Die Muse des neuen Jahrhunderts eignet sich jedoch nicht nur literarische Texte, sondern auch Kunst und Musik an. 761 Dieses intermediale Element findet sich auch in der Anspielung auf Wagners Kunstwerk der Zukunft. 762 Die musikalische Metapho- 758 Mein Begriff von kulturellem Gedächtnis unterscheidet sich hier wesentlich von demjenigen Assmanns. Der in Det nye Aarhundredes Musa beschriebene Prozess des Vergessens und Erinnerns ist eher nicht „identitätskonkret“ im Assmannschen Sinne, da er weniger von abgrenzbaren Kulturen ausgeht, sondern die kulturellen Übersetzungs- und Durchmischungsprozesse anerkennt, die sich mit Globalisierung verbinden, und kommt vor diesem Hintergrund zu einem globalen Gedächtniskonzept. Vgl. Assmann S. 12-17. Zum kulturellen Gedächtnis vgl. auch Welzer 2004, S. 167-169. Heinrich Detering (2001, S. 175-177) weist im Aufsatz „Dänemark und Deutschland einander gegenüber.“ Kosmopolitismus, Bikulturalität und Patriotismus bei H. C. Andersen, der sich mit Det nye Aarhundredes Musa nur kurz auseinandersetzt, auf den kosmopolitischen Charakter dieser Passage hin. 759 Grundtvig 1847, S. 44. 760 Vgl. Fäßler 2007, S. 91. 761 Vgl. EoH 2, S. 384; SM(D), S. 132. 762 Vgl. EoH 2, S. 382, 509; SM(D), S. 130; Grage 2009. 167 rik dient darüber hinaus auch der Darstellung der den Text durchziehenden Frage der Zeitlichkeit. An der Thematik der Zeitlichkeit setzt Heike Depenbrocks Kritik des Textes an. Wie bereits angedeutet erklärt Depenbrock, dass Det nye Aarhundredes Musa „[d]urch den Einsatz wohlvertrauter und ‚autoritativer’ Denk- und Darstellungsschemata [...] die Schwierigkeiten einer positiven Bestimmung der neuen Poesie überdeckt. Indem auf diese Weise positive Gegenbilder evoziert werden, wird die radikal-utopische Negation des Negativen [...] zerstört.“ Der Text desavouiere „seinen eigenen systematisch-argumentativen Anspruch: Die dem gewählten Vorstellungsbereich immanenten Bewertungen werden konnotativ auf den zu beschreibenden Gegenstand übertragen, ohne daß diese Verbindungen explizit gemacht würden“, „Argumentation vortäuschend - [wird] Argumentation gerade vermieden.“ 763 Aber der Text hat keinen systematisch-argumentativen Anspruch und täuscht diesen auch nicht vor. Die Veröffentlichung in einer Märchensammlung ist kein Zufall. Vielmehr ist es gerade die nicht systematisch-argumentative, sondern literarische Struktur, die seine Stärke auf geschichtsphilosophischer Ebene ausmacht. Depenbrock unterstellt dem Text ein „ideologisch-affirmative[s] Verfahren“, das auf „Natur- und Entwicklungsvorstellungen und ihre[r] Anbindung an einen emphatischen Poesiebegriff“ beruhe. Sie zitiert in ihrer Kritik Habermas, wenn sie erklärt, der Text ziele darauf ab, „’die Zukunft als eine Quelle der Beunruhigung mit Hilfe teleologischer Geschichtskonstruktionen zu verstopfen’.“ 764 Dieses Zitat überrascht, da Habermas im zitierten Textabschnitt gerade Benjamins Geschichtsphilosophie gegen Kosellecks Fortschrittsbegriff in Stellung bringt. 765 Mit Benjamins Geschichtsphilosophie wiederum könnte man zu einem vollkommen anderen Ergebnis kommen als Depenbrocks Interpretation. Das von Depenbrock eingeforderte argumentativ-systematische Geschichtsverständnis führte insbesondere in der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, bei politisch so unterschiedlichen Denkern wie Fourier und Hegel, meist eine Idee von Fortschritt mit sich. Die Vorstellung des Fortschritts ist nach Benjamin aus vielerlei Gründen zu kritisieren. Benjamin setzt aber grundlegender an, wenn er die Vorstellung eines Menschengeschlechtes, das eine homogene und leere Zeit fortgängig durchläuft, ablehnt. 766 Was er an die Stelle dieses Geschichtsverständnisses setzt, ist eine Form des assoziativen Verfahrens, das Depenbrock kritisiert. Depenbrock verweist in einer Anmerkung zwar auf diese Möglichkeit einer positiven Bewertung des „metaphorischen/ allegorischen/ tropischen Verfahrens“ 767 im Gefolge von Benjamin, Stierle, Link und White, erklärt jedoch sogleich darauf, dass metaphorische Rede auch affirmativ eingesetzt werden kann, indem sie bestehende Diskurse stabilisiert. Dem könnte man entgegnen, dass zumindest die im 19. Jahrhundert bekannten argumentativ- 763 Vgl. Depenbrock/ Detering 1991, S. 384. 764 Ebd. 765 Vgl. Habermas 1986, S. 21-26. 766 Vgl. Benjamin 1974, S. 700 f. 767 Depenbrock/ Detering 1991, S. 389, EN 24. Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa 168 systematischen Verfahren Benjamins Kritik nicht entgehen würden, und insofern das assoziative Verfahren in jedem Falle vorzuziehen wäre. Dies würde aber die bei Depenbrock aufgeworfene Frage nach dem Geschichtsverständnis von Det nye Aarhundredes Musa noch nicht beantworten. Es ist bereits deutlich geworden, dass der Selektionsprozess, den der Text beschreibt, eher der Entwurf einer globalen Poetik ist. Wenn Depenbrock erklärt, dass dieser Aneignungs- und Selektionsprozess nur dazu diene, „eine andere Unschuld auf höherem Niveau“ wiederzugewinnen, „weil ein Zurückversetzen in den Stand der Unschuld, des Vorwissens nicht möglich erscheint“, 768 abstrahiert sie gerade von den konkreten Beschreibungen dieses Selektionsprozesses, die der Text liefert. Dass darin das Ableben der Isländersagas, die im Gründungsnarrativ des skandinavischen nation building eine zentrale Rolle einnehmen, proklamiert wird, erlaubt es, die von Depenbrock unterstellte „Stabilisierung bestehender Diskurse“ 769 angesichts der zeitgleich stattfindenden Nationalisierung Dänemarks zu negieren. Stattdessen beschreibt der Text ein sich globalisierendes kulturelles Gedächtnis, dessen unbedingte Voraussetzung - nicht: unnötige, aber nicht zu tilgende Vorgeschichte, wie Depenbrock suggeriert - die im Text beschriebenen Vernetzungsprozesse sind. In seiner Übersetzung fügt Heinrich Detering auch die Andersen „selbst noch neuen Lesefrüchte und Bildungsanspielungen“ ein, die dieser „in der Handschrift noch in Randnotizen aufgeschlüsselt“ 770 hatte und verweist damit indirekt auf ein spezielles Moment des Textes. Die Muse des neuen Jahrhunderts hat ihre Einheit in einem gemeinsamen Rhythmus, dem Rhythmus der Gegenwart. Obgleich die Gegenwart des Textes erfüllt ist von „klapprende Maskiner, Locomotivets Piben, Sprængning af materielle Klipper og Aandens gamle Baand“ („klappernden Maschinen [...], dem Pfeifen der Lokomotiven, den Sprengungen der materiellen Klippen und der alten Bande des Geistes“) 771 , ist es aber nicht dieser industriell-technologische und antitraditionelle Lärm, der die neue Muse auszeichnen wird. Sie wird zwar geboren in „vor store Nutids Fabrik [...], hvor Dampen øver sin Kraft, hvor Mester Blodløs og hans Svende slide Dag og Nat“ („unserer großen Gegenwarts- Fabrik [...], wo der Dampf seine Kräfte erprobt, wo Meister Blutlos und seine Knechte Tag und Nacht schuften“) 772 , zeichnet sich aber durch eine komplexere zeitliche Struktur aus, die der Text selbst seine Leser praktisch vollziehen lässt: Die Anspielungen, die sich nicht allein auf Lesefrüchte beschränken, lassen die Leser genau den Selektionsprozess durchlaufen, den der Text beschreibt. Was aktualisiert wird, entscheidet nicht allein der Text, sondern sein/ e zukünftige/ r Leser/ in. Det nye Aarhundredes Musa ist erstaunlich treffsicher in der Einschätzung dessen, was sich im kulturellen Gedächtnis erhalten wird und was dem Vergessen anheim fällt. Die Aktualisierung der Geschichte in der Erinnerung bleibt jedoch 768 Ebd., S. 383. 769 Ebd., S. 389, EN 24. 770 SM(D), S. 129. 771 EoH 2, S. 383; SM(D), S. 131. 772 Ebd. 169 in jedem Fall an die zeiträumliche Position ihres Erkennens gebunden. Damit lässt der Text im Vollzug begreiflich werden, was Walter Benjamin als „eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit“ beschreibt, die sich „aus dem Kontinuum der Geschichte“ heraussprengen lässt. 773 Für die vorliegende Lektüre bedeutet dies: Sie erkennt die globale Dimension der neuen Muse. Ihren Nachfolgern offenbart sich vielleicht eine andere. 773 Benjamin 1974, S. 701. Vgl. auch ders. 1991, S. 494 f. Prolog: Eine globale Poetik - Det nye Aarhundredes Musa 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine „ungeheure Warensammlung“, die einzelne Ware als Elementarform. Karl Marx, Das Kapital 774 Der Konnex zwischen Transnationalisierungskonzepten und Ökonomie ist traditionell eng. 775 Auch für die kommenden Analysen stellt Ökonomie (im weitesten Sinne) einen Ausgangspunkt der Überlegungen dar. Ökonomie steht in diesem Fall für Aspekte der Produktion, Konsumtion und Akkumulation von Gegenständen und die gesellschaftlichen Strukturen, die sich mit diesen Prozessen verbinden. Auf das Auftreten dieser Phänomene auf inhaltlicher Ebene und ihre sprachliche Gestaltung wird sich das Augenmerk zunächst richten. Es ließe sich auch fragen, ob die Eventyr og Historier selbst eine bestimmte Ökonomie auszeichnet. Die Ökonomie des Märchens, so Volker Klotz, lasse nur „die engste Relation von Zweck und Mittel“ 776 zu. Das Volksmärchen 777 wird meist durch einsträngige Handlung, eindimensionale Figuren und eine einfache Sprache charakterisiert, 778 während sich Kunstmärchen durch eine komplexe Sprache und Handlung sowie die Psychologisierung der Figuren auszeichnen. 779 Ausgehend von solchen Definitionen ergibt sich jedoch ein disparates Bild, wendet man sich den Eventyr og Historier zu. 780 Die Texte zeichnen sich gerade durch ein vielseitiges Spiel mit Texttraditionen aus, 781 erlauben keine eindeutige Zuordnung zu Kunstbzw. Volksmärchen und sprengen oft genug ganz den Rahmen des „Märchens“. Ein Charakteristikum vieler Eventyr og Historier ist ihre besondere Form, Mündlichkeit zu evozieren. 782 Damit verbindet sich eine Lust, die bisher gültigen Regeln des Schrei- 774 Marx 1962, S. 49. 775 S. o., S. 3 . 776 Klotz 2002, S. 4. 777 Zur Kritik am Begriff des Volksmärchens vgl. Neuhaus 2005, S. 3 f. 778 Vgl. ebd., S. 5. Grundlegend zum Volksmärchen Lüthi 2004 und 2005. Vgl. auch Pöge-Alder 2007. 779 Vgl. Neuhaus 2005, S.8. Zum deutschen Kunstmärchen, auf das Andersens Texte sich teilweise beziehen, auch Wührl 2003. 780 Zur Stellung von Andersens Märchen zur Volksmärchentradition vgl. Ebel 1994, S. 105-120. 781 Vgl. z. B. Anz 2005, S. 37-39; Bøggild 2009, S. 199-210; EoH 1, S. 15-45; Müller-Wille 2006, S. 171; Rubow 1967, S. 154. 782 Vgl. z. B. J. Andersen 2005, S. 303-305 (zur Bedeutung des öffentlichen Erzählens der Märchen für Andersens Produktion auch ebd., S. 276 ff.); Alnæs 1975, S.104; Anz 2005, S. 35 f.; Brandes 1902, S. 118 f.; Dal 1955, S. 151 f.; EoH 1, S. 16 19; Stirling 1965, S. 98, 155. Eine kompakte Einführung in Elemente der Oralität in Andersens Eventyr og Historier liefert Menzel 1999. Vgl. aber 171 bens zu brechen. Diese Lust am Regelbruch lässt keine universell gültigen Aussagen über die Eventyr og Historier zu; sie fordert vielmehr genaue Lektüren heraus. 783 Mit der Bezugnahme auf die Volksmärchentradition schreiben die Eventyr og Historier sich in eine intertextuelle Tradition ein, die durch die literarische Entdeckung der Volkskultur zur Konstruktion des Nationalen beigetragen hat. Diese Tradition ist eng verbunden mit Herders Kulturverständnis, in dessen Gefolge unter anderem die deutschen Volksmärchensammlungen entstanden. Die literarische Konstruktion des Nationalen war ein transnationales Ereignis. Herders Ideen wurden in vielen Ländern, darunter auch Dänemark, aufgegriffen. Oftmals wurde das Nationale erst im Vergleich mit anderen Nationen erzeugt. 784 Die Eventyr og Historier verhalten sich zu dieser Tradition jedoch sehr frei, sie spielen mit ihren Elementen und durchbrechen typische Strukturmerkmale der sogenannten Volksmärchen (so haben viele der Eventyr og Historier kein Happy End). Dabei lösen sie sich auch von der Konstruktion eines Nationalcharakters, an dem die sogenannten Volksmärchen mitwirken sollten. Dies hängt auch mit den Dingen zusammen, die uns in den Eventyr og Historier begegnen. Denn ein wesentlicher Unterschied zu den sogenannten Volksmärchen sind die Dingwelten der Eventyr og Historier. Wie bereits in Teil 1 dargelegt stellen der ungeheure Anstieg der den Menschen im Alltag umgebender Dinge und die gleichzeitige theoretische Anstrengung, die unternommen wurde, um diese Dinge vom Menschen zu sondern, eine Grundbewegung der Moderne dar. Auf die immer neuen Formen der wechselseitigen Beeinflussung von Menschen und Dingen reagierten die Wissenschaften mit der Verbannung dinglicher Macht in den Bereich des Fetischismus, des Abnormalen. Diesen Weg gehen die Eventyr og Historier selten, dazu nehmen sie die Dinge zu ernst und wissen zu genau um die Konstruiertheit des autonomen Subjekts und seiner Verfügungsgewalt. Das folgende Unterkapitel behandelt Texte, die Aussagen über die Grundlagen kapitalistischer Wirtschaftsordnungen und ihre literarische Reflexion erlauben. Im 19. Jahrhundert zeigte ein komplexes Zusammenspiel technologischer, politischer und sozialer Prozesse seine Wirkung; Produktionsabläufe wandelten sich ebenso wie Konsumverhalten und soziale Strukturen, Wahrnehmung und Selbstverständnis der Menschen. Dieser Wandel ließ auch die hier behandelten Texte nicht unberührt. Darin lässt sich eine grundlegende Veränderung des Mensch-Ding-Verhältnisses feststellen. Die Dingdarstellungen der Eventyr og Historier beleuchten oftmals die Effekte, die die moderne Warenwirtschaft auf die Konstruktion des Sozialen hat. „Die Ware vergesellschaftet real, und zwar durch scheinhafte Verhältnisse“ 785 , fasst auch die Ausführungen zu den Märchen der Brüder Grimm bei Ebel 1994, S. 133-137, und Andersens Stellung zu Grimms Märchen, ebd., S.138-151. 783 Zur Kritik an der Annahme, Andersen habe einen homogenen eventyrstil entwickelt vgl. de Mylius 1986a, S. 311-330 sowie 2004, S. 13; Müller-Wille 2006, S. 171. 784 Vgl. Michelsen 2008, S. 50-56; Casanova 2004, S. 77-79. 785 Steiner 2009a, S. 246. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 172 Uwe Steiner Adornos Überlegungen zur Ware zusammen. Die Eventyr og Historier lassen diese gesellschaftsbildende Kraft erkennen und verlegen das Märchenhafte in die Dinge. Dieses Märchenhafte bringt nicht allein Gutes, es hat auch eine gewaltsame Kehrseite. Das Janusköpfige des schönen Scheins der modernen Warenwelt wird so erkennbar. Die Vergesellschaftung, die als Einbeziehung von Menschen und Dingen in den Warenkreislauf erfolgt, wird zunehmend global. Es kommt zu transnationalen Austauschprozessen: „Warenverkehr hat immer auch Kulturtransfer bedeutet.“ 786 Ein System weltweiter Arbeitsteilung, das von komplexen Warenketten durchzogen ist, entsteht. 787 Der Welt-Raum wird von der Ware durchdrungen: Wenn Kaufen, Verkaufen, Mieten, Vermieten, Kredit nehmen und Verleihen Operationen sind, die sämtliche Lebensaspekte in der Großen Installation berühren, kann es nicht ausbleiben, daß die Erreichbarkeit der Dinge durch Geldvermittlung ein korrespondierendes Weltgefühl erzeugt. Zunächst ist ein unermeßlicher Zuwachs an erreichbaren Objekten zu erleben - zuletzt wird die Koinzidenz von Weltinnenraum und Kaufkraftraum wahrscheinlich [...]. 788 Kapitel 3.3 geht den Effekten der kapitalistischen Warenwirtschaft auf die Raumstruktur nach und zeigt, wie die Eventyr og Historier aus den modernen Dingwelten ein poetologisches Programm entwickeln, dessen Globalität sich aus der genauen Beobachtung moderner Mensch-Ding-Beziehungen speist. Welche Zeitstrukturen die Texte aufweisen und wie sie Veränderungen in der Zeitwahrnehmung darstellen, wird in Kapitel 3.2 betrachtet. Einerseits finden sich in den Eventyr og Historier Spuren der „Vernichtung des Raums durch die Zeit“, „d. h. die Zeit, die die Bewegung von einem Ort zum andren kostet, auf ein Minimum zu reduzieren“ 789 . Dass Beschleunigungsprozesse ein wesentliches Charakteristikum von Globalisierung sind, stellt Hartmut Rosas Beschleunigung heraus, das seinen Globalisierungsbegriff ausschließlich aus der Beobachtung solcher Prozesse entwickelt. In den hier vorliegenden Interpretationen wird deutlich, wie die Eventyr og Historier die Folgen von Beschleunigungsprozessen reflektieren. Dass sie die Beschleunigungsbewegungen stellenweise mit globalen Vernetzungsprozessen verbinden, erlaubt es, das Verhältnis von Zeitzu Raumwahrnehmungen in die Analysen mit einzubeziehen. Barney Warf und Santa Arias assoziieren die Vernichtung des Raums durch die Zeit mit der Dominanz der Geschichtswissenschaften im Europa des 19. Jahrhunderts gegenüber geographischen Fragen. Hier wurde Raum temporalisiert, indem die Distanz zu Europa als zeitliche Zurückgebliebenheit begriffen wurde. 790 Ein solches Raumverständnis unterlaufen die Eventyr og Historier durch die in ihnen dargestellten Mensch-Ding-Beziehungen. Darüber hinaus erkunden Andersens Texte Möglichkeiten, Geschichte zu erzählen, und entfalten dabei eine Plurali- 786 Ebd., S. 251. 787 Vgl. Wallerstein 1986, S. 9-37. 788 Sloterdijk 2006, S. 325. 789 Marx 1981, S. 438. 790 Vgl. Arias/ Warf 2009, S. 2 f. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 173 tät von Zeit- und Geschichtsvorstellungen, deren kritisches Potential spätestens mit der postkolonialen Historiographiekritik ersichtlich wurde. Auch für die Eventyr og Historier selbst lässt sich keine eindeutige Entwicklungslinie ausmachen. So wie die Texte immer wieder auf den Status des Erzählens und seine Bedeutung für die Strukturierung der Zeit zurückkommen, wird sich deshalb im Folgenden aus der Auswahl und Anordnung der Texte die Struktur der Analyse ergeben. Der Zugriff auf die Texte erfolgt aus einer Perspektive des Jetzt, das die Eventyr og Historier gerade in ihrer Geschichtlichkeit betrifft, 791 und auf dem Hintergrund eines spezifischen Interesses. Mittels exemplarischer Analysen wird das Verhältnis ausgewählter Texte zu kulturhistorischen Vorgängen untersucht. Diese Perspektive ist für den hier unter Beobachtung stehenden Teilbereich fruchtbar. Andersens Texte entstanden im Kontext von Transnationalisierungs- und Nationalisierungsprozessen, gewandelten Konsumtions- und Produktionsstrukturen, ökonomischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Veränderungen, umgekehrt formiert sich im literarischen Diskurs ein gesellschaftliches Selbstverständnis, das nicht unabhängig von der Einbindung des literarischen Marktes in transnationale Zusammenhänge begriffen werden kann. 792 In den behandelten Texten finden sich Momente, welche die Verlockungen einer immer größer und vielseitiger werdenden Dingwelt reflektieren; es gibt Texte, die eine Mensch-Ding-Abgrenzung kritisch hinterfragen; es wird vom Erfolg und den Kehrseiten seiner Herrschaft erzählt. Die Texte zeigen Möglichkeiten der Wahrnehmung zeitgenössischer und historischer Prozesse und ihrer Interpretation auf und entziehen sich dabei oft genug der Eindeutigkeit. Diese Widerständigkeit geben die vorliegenden Interpretationen nicht verloren. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 3.1.1 Aufstieg der Ordnung: Reichtum, Revolution, Exklusion Fyrtøiet (Das Feuerzeug) erschien 1835 als Eröffnungsmärchen des ersten Heftes der Eventyr, fortalte for Børn, die wiederum den Auftakt der Märchenhefte bildeten. Dass die dänische Kritik mit den Märchen zunächst Schwierigkeiten hatte, ist wenig erstaunlich. Sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht wichen Andersens Eventyr von den bisher geltenden Regeln ab. Sie näherten sich der Alltagssprache an und erlaubten ihren Protagonisten Freiheiten, die in „für Kinder erzählten“ Märchen ungeheuerlich waren. 793 Obgleich es sich nicht um Andersens erste Märchendich- 791 Vgl. zu diesem Standpunkt Benjamin 1991, S. 494 f. (Fragment K 2,3) sowie S. 1 der vorliegenden Arbeit. 792 Vgl. auch Kapitel 2.3. 793 Vgl. [Anonym] 1836, S. 75; Andersen 2005, S. 286-294; Auring u. a. 1984, S. 146-150; Bredsdorff 1983, S. 145 f.; Brøndsted 1972, S. 53 f. Nielsen (1990, S. 123-127, 129-131, 133 f., 138- 140) weist jedoch auch auf positive Rezensionen hin. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 174 tung handelte, bezeichnete Fyrtøiet „einen markanten und bewußten Neuanfang“ 794 , so Heinrich Detering. Das Märchen greift auf bekannte Vorlagen wie das Aladinmotiv zurück, ist jedoch eine sehr eigenwillige Variante des Stoffs. 795 Es geht um Reichtum in Fyrtøiet, der auf wunderbare Weise als Schatz vorhanden ist. Damit liegt diese Fülle den Regeln einer Politischen Ökonomie voraus; weder Produktion noch Arbeit spielen eine grundlegende Rolle. 796 Fyrtøiet deutet aber nicht allein auf eine quantitative Vermehrung des Besitzes, sondern auch auf eine Differenzierung der Dinge durch einen globalisierten Warenverkehr hin. Damit ist der Reichtum märchenhaft und modern zugleich. Der Text bringt seinem Protagonisten einen Schatz und seiner Leserin eine Erzählung, die großzügig in ihren Details ist und sprüht vor Lebendigkeit und der Freude am Exzess. Der stilistisch vollzogene Abschied von einer an traditionelle Regeln gebundenen Poesie geht auf der Handlungsebene einher mit der Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen. „Der kom en Soldat marcherende henad Landeveien: een, to! een, to! han havde sit Tornister paa Ryggen og en Sabel ved Siden, for han havde været i Krigen, og nu skulde han hjem.“ („Da kam ein Soldat die Landstraße entlangmarschiert; Eins, zwei! Eins, zwei! er hatte seinen Tornister auf dem Rücken und einen Säbel an der Seite, denn er war im Krieg gewesen, und nun wollte er nach Hause.“) 797 Durch die eingeschobene wiederholte Exklamation „een, to! een, to! “ versetzt der Erzähler den Für eine aktuelle literaturgeschichtliche Einordnung von Andersens Märchen allgemein vgl. auch Mortensen 2008, S. 379-384, 398-400; Müller-Wille 2006, S. 171-173. 794 Vgl. SM(TD) 2, S. 719. 795 Vgl. Alnæs 1975, S. 107, 112 f.; Auring u. a. 1984, S. 148 f.; Baggesen 1993, S. 20 f.; Ebel 1994, S. 108, 112; Jørgensen 1999, S. 274; de Mylius 2004, S. 47-53; SM(TD) 2, S. 743 f. Nach seiner dramatischen Verarbeitung durch Adam Oehlenschläger war der Aladdinstoff in Dänemark äußerst populär. Vgl. Andersen/ Emerek 1975, S. 71 ff.; Oxfeldt 2005, S. 21-53. In Andersens Bemærkninger (Bemerkungen) zu den Märchen gibt er an, Fyrtøiet sei eine freie Wiedergabe eines dänischen Volksmärchens, das er als Kind gehört habe. Vgl. EoH 3, S. 369. Zu den Volksmärchen- Elementen in Fyrtøiet vgl. Rubow 1967, S. 133. Eine Variante des Volksmärchens, die allerdings erst 1854 festgehalten wurde, findet sich in Tveden 2004, S. 62-65. Das blaue Licht weist viele Ähnlichkeiten zu Fyrtøiet auf, jedoch an entscheidenden Stellen auch wesentliche Abweichungen. Vgl. KHM, S. 560-564; Klotz 2002, S. 251. 796 Vgl. Foucault 1974, S. 12 f., 211-213. Es geht hier nur um den Reichtum als Ausgangspunkt des Ökonomischen und die geringe Relevanz von Produktion und Arbeit; der Begriff der Politischen Ökonomie bei Foucault umfasst noch mehr Aspekte. Vgl. Ruoff 2007, S. 166-168. Die psychoanalytische Interpretation von Lotz assoziiert die starrenden Hunde mit dem Publikum und kann deshalb erklären, es gehe in dem Märchen darum, Geld zu verdienen. Vgl. ders. 1988, S. 140. Für de Mylius (2004, S. 51), der im Soldaten einen eventyreren, einen Abenteurer im Sinne eines pikaresken Helden erkennt, ist die zugrunde liegende Weltsicht des Märchens explizit „ikke lineært og ‚økonomisk’, men netop episodisk og uberegnligt, med åben horisont.“ („nicht linear und ‚ökonomisch’, sondern gerade episodisch und unberechenbar, mit offenen Horizont.“ [Übers. F. F.]). „Ökonomisch“ verweist hierbei auf eine Besprechung von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre durch Novalis. Vgl. ebd., S. 374, Anm. 16. 797 EoH 1, S. 79; SM(D), S. 207. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 175 Leser in die Rolle eines Zuhörers. 798 Dabei trägt dieser ‚unmittelbare’ Erzählstil dazu bei, als selbstverständlich auszugeben, was eigentlich das Resultat einer Dekontextualisierung ist: Ein einzelner Soldat marschiert nicht. Die fehlende soziale Einbindung des Soldaten bei gleichzeitig nachwirkender Disziplinierung des Körpers ist die antithetische Ausgangsfigur zum Schluss des Märchens. Die komische Figur, die sich noch in der Isolation dem Gesetz der Disziplin beugt und dafür keine Dankbarkeit erwarten kann, wird am Ende der Geschichte zum pikaresken Helden 799 , der die soziale Ordnung aufsprengt, sich befreit nimmt, was er will, und dafür vom Volk gefeiert wird. Auf der Landstraße begegnet der Soldat einer Hexe, die ihn bittet, ihr ein Feuerzeug aus einem hohlen Baum zu holen. Im Gegenzug darf er so viel vom ebenfalls im Baum verborgenen Schatz mitnehmen, wie er tragen kann. Der Dialog zwischen Soldat und Hexe besteht zu Beginn aus zahllosen Ausrufesätzen, die sich mit wenigen Fragen ablösen. Als schließlich die Hexe ihr Anliegen vorträgt, wiederholen sich ihre Angaben jeweils mit Variationen: Drei Hunde muss der Soldat in der Höhle nacheinander auf ihr/ e 800 „blaatærnede Forklæde“ („blaukarierte Schürze“ 801 ) setzen. Detering weist auf die hier angelegte Spannung zwischen der biedermeierlichen Schürze und dem karnevalesken Ende des Märchens hin (wobei er sich auf Bachtins Literatur und Karneval zu beziehen scheint). 802 Die Größe der Hunde steigert sich mit dem Wert des Materials, das sie bewachen. Sind die Augen des ersten so groß wie Teetassen, hat der zweite schon mühlsteingroße Augen und die Augen des letzten Hundes sind so gewaltig wie der „Rundetaarn“. 803 Die Ortlosigkeit des Volksmärchens wird durch den Hinweis auf den Kopenhagener Turm aufgehoben. Auch handelt es sich bei den Teetassen nicht um einen für Volksmärchen typischen Gegenstand, sondern um ein Ding, das unmittelbar auf den globalen Warenverkehr verweist. Tee und Porzellan sind im 19. Jahrhundert Produkte einer Geschichte weltweiter Vernetzung mit lokalen Variationen. 804 Zugleich entsprechen die Kupfer-, Silber- und Goldmünzen, die die Hunde bewachen, und die später auftretende Prinzessin im Kupferschloss der nach Lüthi typisch märchenhaften Vorliebe für das Metallische. 805 Die Verweise auf die Märchentradition werden mit modernen Elementen verbunden. Die Heterogenität der Dingwelt ist wesentlich für das gebrochene Verhältnis des Eventyrs zum traditionellen Volksmärchen. 798 Die spezielle Form fingierter Mündlichkeit gilt weithin als ein besonderes Merkmal von Andersens Texten. Vgl. S. 1 , Fußnote 7 . Zu diesem Einstieg in das Märchen vgl. auch Ebel 1994, S. 119; de Mylius 2004, S. 46 f. 799 Vgl. de Mylius 2005, S. 50 f. Nach der Typisierung von Daemmrich/ Daemmrich (1995, S. 306- 308) könnte man auch ein Spielart des Schelmen in ihm sehen. 800 „Forklæde“ hat im Dänischen den Genus intetkøn (sächliches Geschlecht). 801 EoH 1, S. 79; SM(D), S. 208. 802 SM(TD) 2, S. 719. Vgl. auch Jørgensen 1999, S. 274. 803 EoH 1, S. 79. 804 Zur Geschichte des Porzellans vgl. Bencard 2000, speziell zum Service vgl. Houkjær 2007; zur Geschichte des Tees, mit einem Schwerpunkt auf dem Britischen Empire, vgl. Macfarlane/ Macfarlane 2003, S. 31-201. Zur Interpretation der Hunde vgl. auch Baggesen 1993, S. 18 f. 805 Vgl. Lüthi 2004, S. 30. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 176 Der Soldat handelt so, wie die Hexe es ihm gesagt hat. Durch die Ausführung der bereits vorhergesagten Handlungen wird der auf der Inhaltsebene folgende Reichtum in der Struktur des Textes als wiederholte dreistufige Klimax vorweggenommen. „God Aften! “ sagde Soldaten og tog til Kasketten, for saadan en Hund havde han aldrig seet før; men da han nu saae lidt paa ham, tænkte han, nu kan det jo være nok, løftede ham ned paa Gulvet og lukkede Kisten op, nei Gud bevares! hvor der var meget Guld! han kunde kjøbe for det hele Kjøbenhavn og Kagekonernes Sukkergrise, alle Tinsoldater, Pidske og Gygngeheste, der var i Verden! Jo der var rigtignok Penge! - („Guten Abend! “, sagte der Soldat und legte die Hand an die Mütze, denn so einen Hund hatte er nie zuvor gesehen; aber als er ihn nun ein bißchen angeguckt hatte, dachte er, jetzt ist es aber genug, hob ihn auf den Boden herunter und machte die Kiste auf - nein du barmherziger Gott! was war das viel Gold! er konnte dafür das ganze Kopenhagen kaufen und die Zuckerstangen der Bäckerfrauen, alle Zinnsoldaten, Peitschen und Schaukelpferde, die es auf der Welt gab! O ja, das war allerdings Geld! -) 806 Der Soldat befüllt seine Taschen, seinen Tornister, seine Mütze und die Stiefel, die Überfülle wird auch im Maß des Reichtums deutlich: Das ganze Kopenhagen - und Zuckerschweinchen, Zinnsoldaten, Peitschen und Schaukelpferde! Die für Kinder hergestellten Süßigkeiten erinnnern daran, wie weit sich der Zuckerkonsum, der mit der Geschichte des transatlantischen Dreieckshandels eng verbunden ist, 807 bereits in Europa verbreitet hatte. Der Überfluss weckt Gier; so schlägt der Soldat kurzerhand der Hexe den Kopf ab und nimmt das Feuerzeug mit, als sie ihm nicht verraten will, was sie damit vorhat. Damit erinnert sein Verhalten an einen Goldrausch, wie er besonders europäische Eroberer in Amerika traf. 808 Danach macht der Soldat sich auf den Weg in die Stadt. Dort kauft er sich neue Kleider und wird zu einem vornehmen Herren. Dass Kleider Leute machen, hat schon Quintillian festgestellt, 809 und es gilt auch in Fyrtøiet. Die Menschen im Wirtshaus erzählen dem Gast von ihrer Stadt, ihrem König und der schönen Prinzessin, die niemand sehen darf, da dem König prophezeit wurde, sie werde eines Tages „en ganske simpel Soldat“ („einen ganz simplen Soldaten“) 810 heiraten. Der Soldat lässt es sich wohl ergehen, geht ins Theater und gibt den Armen Almosen. „- Han var nu riig, havde pæne Klæder, og fik da saa mange Venner, der Alle sagde, han var en rar En, en rigtig Cavalier, og det kunde Soldaten godt lide! “ („- Er war jetzt reich, hatte schöne Kleider, und da hatte er bald so viele Freunde, die sag- 806 EoH 1, S. 80; SM(D), S. 209. Der Reichtum an Satzzeichen scheint für die Übersetzung von Dohrenburg zu viel geworden zu sein: Bei ihr entfällt der Gedankenstrich. Vgl. SM(TD) 1, S. 7. 807 Vgl. Mintz 1987; Osterhammel 2009, S. 338. 808 1693-95 erlebte Brasilien den ersten transatlantische Migrationsbewegungen auslösenden Goldrausch. Der vielleicht bekannteste Goldrausch begann 1848 in Californien. Vgl. North 1994, S. 121, 145 f. Zu diesem Goldrausch aus globalgeschichtlicher Perspektive vgl. Osterhammel 2009, S. 194, 391, 478 f., 481, 1224. 809 Die Redensart ist auch in Dänemark gebräuchlich. Vgl. Vogel-Jørgensen 1955, S. 466. 810 EoH 1, S. 81; SM(D), S. 211. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 177 ten alle, was für ein netter Mensch er wäre, ein richtiger Kavalier, und das hörte der Soldat gern! “) 811 Die vielen Freunde folgen erst auf den Reichtum und die schönen Kleider. So verdeutlicht schon der Satzbau, dass sie durch das Geld angelockt worden sind, und sie verlassen den Soldaten, als es aufgebraucht ist - wegen der vielen Treppen, die nun zu seiner Dachkammer führen. 812 Mit Stadt, Theater und mehrstöckigem Wohnhaus wählt Fyrtøiet spezifisch moderne Schauplätze. Hier wird der soziale Zusammenhalt durch Geld erzeugt; Armut führt zu Einsamkeit. Zufällig verwendet der Soldat in dieser Situation das Feuerzeug, das sich als magischer Gegenstand entpuppt. Die Hunde erscheinen und sind ihm zu Diensten. Sie bringen ihm Geld - und die Prinzessin, die im Kupferschloss eingesperrt ist. „Det er rigtignok midt paa Natten,“ sagde Soldaten, „men jeg vilde saa inderlig gjerne see Prindsessen, bare et lille Øieblik! “ Hunden var strax ude af Døren, og før Soldaten tænkte pa det, saae han ham igjen med Prindsessen, hun sad og sov paa Hundens Ryg og var saa deilig, at enhver kunde see, det var en virkelig Prindsesse; Soldaten kunde slet ikke lade være, han maatte kysse hende, for det var en rigtig Soldat. („Es ist zwar mitten in der Nacht“, sagte der Soldat, „aber ich würde so schrecklich gern die Prinzessin sehen, bloß einen kleinen Augenblick! “ Sogleich war der Hund zur Tür hinaus, und ehe der Soldat sich’s versah, kam er mit der Prinzessin zurück, sie saß und schlief auf dem Rücken des Hundes und war so wunderschön, daß jeder sehen konnte, sie war eine wirkliche Prinzessin; der Soldat konnte einfach nicht anders, er musste sie küssen, denn er war ein richtiger Soldat.) 813 Am nächsten Morgen erzählt die Prinzessin von ihrem wunderlichen Traum von einem Hund, auf dessen Rücken sie geritten war, und einem Soldaten, der sie geküsst hatte. Daraufhin wacht eine Hofdame in der nächsten Nacht an ihrem Bett. Als erneut der Hund erscheint, um die Prinzessin zu entführen, folgt die Hofdame dem Tier. Sie markiert das Haus, in dem es verschwindet, mit einem Kreuz aus Kreide. Der Hund bemerkt jedoch das verräterische Zeichen und setzt Kreuze an alle Häuser der Stadt, so dass der Soldat unbehelligt bleibt. Men Dronningen var nu en meget klog Kone, der kunde mere, end at kjøre i Kareth. Hun tog sin store Guldsax, klippede et stort Stykke Silketøi i Stykker, og syede saa en lille nydelig Pose; den fyldte hun med smaae, fine Boghvedegryn, bandt den paa Ryggen af Prindsessen, og da det var gjort, klippede hun et lille Hul paa Posen, saa Grynene kunde drysse hele Veien, hvor Prindsessen kom. (Aber die Königin war nun eine sehr kluge Frau, die mehr konnte als in der Kutsche fahren. Sie nahm sich ihre große goldene Schere, schnitt ein Stück Seidenstoff in Stücke und nähte daraus einen niedlichen kleinen Beutel; den füllte sie dann mit kleinen, feinen Buchweizenkörnchen, band ihn der Prinzessin auf den Rücken, und als das ge- 811 Ebd. 812 Vgl. EoH 1, S. 82; SM(D), S. 211. 813 EoH 1, S. 82; SM(D), S. 212. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 178 tan war, schnitt sie ein kleines Loch in den Beutel, daß die Körnchen den ganzen Weg herausrieseln konnten, den die Prinzessin entlangkam.) 814 So kommt das Königspaar dem Soldaten auf die Spur, er wird verhaftet und soll gehenkt werden. Das Feuerzeug hat der Soldat daheim im Wirtshaus vergessen, aber ein Schuhmacherjunge bringt es ihm zu seiner Zelle, als er ihm dafür vier Schilling verspricht. Als der Soldat bereits die Schlinge um den Hals hat, bittet er um eine letzte Tabak-Pfeife. Der Tabak als ursprünglich amerikanisches Genussmittel passt ins Bild, das uns den Vorläufer eines Westernhelden zeigt. Wie der Soldat eignet der Westernheld sich Reichtum, zum Beispiel Land, meist an, indem er sich seiner Widersacher durch einen einfachen Gewaltakt entledigt. Die Pfeife wird ihm gewährt, und als er sein Feuerzeug anschlägt, erscheinen die Hunde. Sie werfen Rat und Richter sowie das alte Königspaar in die Luft, „saa de faldt ned og sloges reent i Stykker.“ („daß sie herabfielen und glatt in in Stücke geschlagen wurden.“) 815 Damit kehren sich nicht nur die gesellschaftlichen Machtverhältnisse um, auch die Mensch-Ding-Zuordnung wird verkehrt; Søren Baggesen erklärt: „til slut hvor hundene viser hvad for bæster de faktisk er, bliver det [Fyrtøiet, F. F.] til et tingseventyr, på den måde at alle soldatens modstandere bliver til dukker“ 816 („am Ende, als die Hunde zeigen, was für Bestien sie sind, wird es [Das Feuerzeug, F. F.] zu einem Dingmärchen, indem alle Gegner des Soldaten zu Puppen werden“ [Übers. F. F.]). In Fyrtøiet tritt mit dem Feuerzeug ein machtvolles Ding auf, das den Handlungsverlauf wesentlich beeinflusst und Verdinglichungseffekte zeitigt. Dieses Ding entspricht jedoch noch weitgehend dem Zauberding des Volksmärchens. Das Volk ruft, der „lille Soldat“ („kleine[r] Soldat“) solle Herrscher sein und die schöne Prinzessin haben. Die Jungen pfeifen auf den Fingern, die Soldaten präsentieren, die Hunde tanzen vor der Kutsche des Soldaten. „Prindsessen kom ud af Kobberslottet og blev Dronning, og det kunde hun godt lide! “ („Die Prinzessin kam aus dem Kupferschloss und wurde Königin, und das gefiel ihr sehr! “) Es wird acht Tage lang Hochzeit gefeiert, mit den Hunden am Tisch - „og [de, F. F.] gjorde store Øine“ („und [sie, F. F.] machten große Augen“). 817 Dieses Märchen „kunne more Børn; men det er saa langt fra, at Disse deri ville kunne finde nogen Opbyggelse“(„könnte Kinder amüsieren; aber es ist ganz und gar nicht so, dass diese darin Erbauung finden könnten“ [Übers. F. F.]) 818 , fürchtete ein zeitgenössischer dänischer Rezensent, und störte sich daran, dass die Prinzessin nachts von einem Soldaten geküsst wird und dies als sonderbaren Traum erinnert. 814 EoH 1, S. 83; SM(D), S. 213 f. 815 EoH 1, S. 84; SM(D), S. 215. 816 Baggesen 1993, S. 19. 817 EoH 1, S. 85; SM(D), S. 215. Zu diesem Satz erklärt Ebel: „Das Spiel mit der fingierten Realität einer Welt von Hunden mit großen Augen geht über in ein Spiel mit idiomatischen Wendungen, die sich verselbständigen.“ Ebel 1994, S. 120. 818 [Anonym] 1836, S. 75. Vgl. Andersen 2005, S. 292-294; Bredsdorff 1983, S. 145 f.; Brøndsted 1972, S. 53 f. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 179 Noch stärker könnte sich jedoch das anarchistische Schlussmoment des Textes auswirken, in dem der kleine Soldat die Obrigkeit zerfetzen lässt, um Kinder auf nicht erbauliche Ideen (im Sinne des Rezensenten) bringen. 819 Nachdem schon das Maß des Reichtums (Zuckerschweinchen, Zinnsoldaten, Peitschen und Schaukelpferde), das für den Soldaten angelegt wird, diesen der Kinderwelt gefährliche nahe gerückt hatte, lädt die Bezeichnung „lille Soldat“ kindliche Leser zur Identifikation ein. Uwe Ebel verweist darauf, dass die Rolle des Erzählers in dem Märchen die Kinderperspektive als solche hervorkehrt und sich somit zugleich an den erwachsenen Leser wendet, der die kindliche Naivität goutieren solle. Dazu treibe der Erzähler die bewusst hergestellte Naivität bis zur Komik. 820 Er geht jedoch in diesem Zusammenhang nicht darauf ein, dass die Figuren des Märchens, die mit dieser Kinderperspektive verbunden werden, insbesondere der Soldat und die Prinzessin, eine subversive Funktion einnehmen. Die kindliche Perspektive wird über ihre Vertreter im Märchen verbunden mit einer Position der Stärke, die einen gesellschaftlichen Umsturz bewirkt. Durch diese Verschiebung der Machtverhältnisse zeigt die „kindliche Naivität“ eine aggressive Kehrseite. Die Stärke der kindlichen Figuren in den Machtverhältnissen des Märchens befreit sie von einer verharmlosenden Idealisierung und erlaubt ein komplexes Verständnis von Kindlichkeit. Sollten Erwachsene diese Form der Kindlichkeit tatsächlich noch goutieren, zeichnet sich ein neuer Umgang mit kindlichem Selbstbewusstsein ab. Die oben erwähnte Rezension spricht jedoch eher gegen eine Akzeptanz kindlicher Autonomiebestrebungen bei der erwachsenen Leserschaft. Auch die Frauen des Märchens, kluge und gefährliche Frauen, 821 bergen als role model sozialen Sprengstoff. In der Prinzessin verbindet sich die kindliche mit der weiblichen Figur. Zwar kann der nächtliche Kuss des Soldaten auch als gewaltsame Grenzüberschreitung gelesen werden, da er erfolgt, als die Prinzessin schläft und keine Ablehnung äußern kann. Der nächtliche Ausflug ist jedoch zugleich der Weg aus der Einsamkeit des Kupferschlosses. Die Freude am Königinnenstatus zeichnet die Prinzessin als machtbewusste Frau. Sie genießt die Befreiung von den sexuellen Restriktionen der Eltern. Sowohl der Status der Kindlichkeit als auch das Verständnis von Weiblichkeit entgeht Volker Klotz in seinem Vergleich von Fyrtøiet mit Das blaue Licht der Brüder Grimm vollständig, wenn er zu dem Schluss kommt, Andersens Version sei eine harmlose Variante dieses Märchens. 822 Die Bühne der Märchenwelt betreten die 819 Die subversive Seite des Märchens entgeht Jack Zipes in seiner insgesamt eher oberflächlichen Lesart von Andersen vollständig. Vgl. Zipes 2006, S. 90 f. Vgl. dagegen Auring u. a. 1984, S. 148- 150. 820 Vgl. Ebel 1994, S. 120. 821 Vgl. EoH 1, S. 83; SM(TD) 1, S. 11. 822 Vgl. Klotz 2002, S. 251. Seine offenbar positive Einschätzung der Tatsache, dass die Prinzessin in Das blaue Licht drei Nächte lang niedrigste Dienste tun muss, „in sozialer Umkehrung“, wie er meint, ist dabei besonders problematisch, weil es sich hier um eine offensichtlich sexistische Passage im Märchen handelt - schließlich straft der Soldat nicht direkt den König, der ihn entlassen hat. Vgl. KHM, S. 562. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 180 Eventyr, fortalte for Børn vielmehr mit einem mutigen Auftakt, der den Reichtum der Tradition, aus der sie stammen, vor Augen führt und einer programmatischen Neuerung unterzieht. Handelt es sich beim kleinen Soldaten um eine Geschichte, in der Reichtum und Arbeit nicht aufeinander bezogen sind, verhelfen „Ærlighed og Driftighed“ („Ehrlichkeit und Regsamkeit“) 823 in „Alt paa sin rette Plads! “ (Alles, wo es hingehört 824 ) (1852) 825 zu Wohlstand. Hier greifen bereits bestimmte Grundzüge kapitalistischer Sozialstrukturen. De Mylius erkennt in dem Märchen einen Kommentar zur Umstrukturierung der Gesellschaft. 826 „Det er over hundrede Aar siden! “ („Es ist über hundert Jahre her! “) heißt die Eröffnung des Märchens. Eine Gänsemagd wird in der ersten Szene von einem vorbeireitenden Gutsherrn in den Graben gestoßen, der dabei „’Alt paa sin rette Plads! ’“ („’Alles, wo es hingehört! ’“) 827 ruft. Der Erzähler kommentiert diese Szene mit einem Kinderliedzitat: „’Rige Fugl kommer susende! ’“ („’Reiche Vögel kommen angerauscht! ’“) 828 , deutet aber schon an, dass der Reichtum des Gutsherrn im Niedergang begriffen ist: „- Gud veed hvor riig han var endda.“ 829 („- Gott weiß, wie reich er noch war.“ [Übers. F. F.] 830 ) Das Mädchen kann sich an einem Weidenzweig festhalten, der jedoch bricht. Im letzten Moment hält sie die Hand eines fahrenden Strumpfhändlers. „Alt paa sin rette Plads! “ wiederholt dieser im Scherz. Der abgebrochene Zweig wird in die Erde gesteckt. Der Strumpfhändler möchte am Gutshof seine Waren verkaufen, nicht im großen Saal, „dertil var han for ringe! “ („dazu war er zu gering! “ 831 ), sondern an das Gesinde. Er wird jedoch in den Festsaal gerufen, wo die hohen Herren während ihres Saufgelages Spott mit ihm treiben. „Alt paa sin rette Plads! “ sagt er zur Gänsemagd, als er das Gut verlässt, sein Platz sei die offene Landstraße. Der Weidenzweig wächst an, und während der Baum gedeiht, geht es mit dem Hof bergab. 832 823 EoH 2, S. 59; SM(TD) 1, S. 556. 824 Der Titel wird in SM(TD) 1 ohne Satzzeichen angegeben. Eine wörtliche Übersetzung wäre: „Alles an seinem rechten Platz! “ Vgl. auch de Mylius 2004, S. 277 f. zu den verwendeten Redewendungen sowie Andersens eigenen Kommentar zur Entstehung des Märchens in EoH 3, S. 377. 825 Der Band Historier. Anden Samling erschien am 30. November 1852, trug jedoch die Jahreszahl 1853 auf dem Titelblatt. Vgl. EoH 2, S. 469 f. 826 In diesem Zusammenhang nennt er auch noch Stormen flytter Skilt (Der Sturm zieht mit den Schildern um) (1865) und Gartneren og Herskabet (Der Gärtner und die Herrschaft) (1872).Vgl. de Mylius 2004, S. 272. Vgl. auch Zipes 2006, S. 100 f. 827 EoH 2, S. 58; SM(TD) 1, S. 554 f. 828 Ebd. Der Reim wird im Kommentar ausführlicher wiedergegeben, darin spielt die Gegenüberstellung von einem reichen schnellen und einem armen hinkenden Vogel eine zentrale Rolle. Vgl. EoH 2, S. 470 und de Mylius 2004, S. 278, der abweichend von einem „folkevisecitat“ („Volksweisenzitat“) schreibt. 829 EoH 2, S. 58. 830 Dohrenburg übersetzt: „Gott weiß, wie reich er überhaupt war.“ SM(TD) 1, S. 555. 831 EoH 2, S. 59; SM(TD) 1, S. 555. 832 Vgl. EoH 2, S. 59; SM(TD) 1, S. 556. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 181 Sechs Jahre später übernimmt der fahrende Händler den Gutshof, nachdem er genug Kapital akkumuliert hat; der alte Gutsherr hatte durch Zechen und Spielen sein Vermögen verloren. De Mylius erläutert, diese Entwicklung in der Geschichte habe ihre Wurzel in der Wirklichkeit: im Wachstum des Handels in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 833 Die Frau des Händlers ist nun keine Prinzessin, die nachts Soldaten küsst, sondern die Gänsemagd, „som altid havde været skikkelig, from og god; “ („die immer ordentlich, fromm und gut gewesen war; “ 834 ) auf dem Hof wird es behaglich. Die Mutter kümmert sich um die inneren, der Herr um die äußeren Belange: Rollenverteilung und Arbeitsteilung erfolgen nach den Regeln des historischen Kapitalismus. 835 Die Nachfahren des Paares werden bald adlig, die Geschichte setzt hundert Jahre später wieder ein. Der Herrenhof trägt die Insignien des Reichtums, klare Fensterscheiben, großzügige Rosenpflanzungen, gepflegte Rasenflächen von außen; innen kostbare Gemälde, „og der stod med Silke og med Fløiel Stole og Sophaer, der næsten kunde gaae paa deres egne Been, Borde med blanke Marmorplader, og Bøger i Safian og Guldsnit...“ („und hier standen mit Seide und Sammet überzogene Sessel und Sofas, die fast auf ihren eigenen Beinen gehen konnten. Tische mit blanken Marmorplatten und Bücher in Saffian und mit Goldschnitt...“) 836 - ein typisches Interieur, das in Benjamins Passagen-Werk hätte eingehen können: Die Gegenstände sind verhüllt, nutzlos, teuer und bestehen teilweise aus ursprünglich exotischen Materialien wie Saffian und Seide. 837 Zu diesem Interieur bemerkt de Mylius: „Gennemgående for beskrivelsen af den nye herregård er, at tingene ikke er der som det, de er i kraft af deres funktion eller nytteværdi. [...] Velstanden, som blev skabt af de gamle folks arbejde, er blevet et formål i sig selv, løsrevet fra arbejdet.“ 838 („Durchgehend gilt für die Beschreibung des neuen Herrenhofes, dass die Dinge nicht da sind als das, was sie Kraft ihrer Funktion oder ihres Nutzwertes sind. [...] Der Wohlstand, der durch die Arbeit der alten Leute geschaffen wurde, ist zum Ziel in sich selbst geworden, losgerissen von der Arbeit.“ [Übers. F. F.]) Aus dem Interieur lässt sich eine fortschreitende Kapitalisierung der Gesellschaft lesen, in der undurchsichtig wird, woher Wohlstand kommt. Bei den Produkten tritt ihr Gebrauchswert zurück, stattdessen werden sie Zeichen des Reichtums. Die alten Portraits sind dagegen in die Knechtskammer verbannt worden; „rigtigt Skrammel var det, især to gamle Potrætter, det ene en Mand i rosenrød Kjole og med Paryk, det andet en Dame med puddret opsat Haar og en rød Rose i Haanden“ 833 Vgl. de Mylius 1986b, S. 36. 834 EoH 2, S. 60; SM(TD) 1, S. 556. 835 Vgl. Wallerstein 1984, S. 20 f. Eine grundlegende Kritik an Wallersteins Kapitalismus-Begriff findet sich bei Imbusch 1990, besonders S. 68-77, 117. Wallersteins Erläuterungen zu Rollenverteilung und Arbeitsteilung sind m. E. plausibel. 836 EoH 2, S. 61; SM(TD) 1, S. 559. Die Länge der Akkumulation gibt die Übersetzung aufgrund der Unterbrechung der Satzstruktur durch den Punkt leider nicht wieder, dabei wird hier syntaktischer Überfluss zur Markierung des Reichtums auf der Inhaltsebene eingesetzt. 837 Zum Interieur vgl. Kapitel 2.1.1; 3.3.1. 838 De Mylius 1986b, S. 38. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 182 („richtiger Trödel 839 war es, namentlich zwei alte Porträts, das eine ein Mann im rosa Frack und mit einer Perücke, das andere eine Dame mit gepudertem, hochfrisiertem Haar und mit einer Rose in der Hand“) 840 - die Portraits der Urahnen, deren Kleidung und Frisur sie als Figuren des Rokoko ausweist. 841 Die Nachkommen der Urahnen haben trotz ihrer guten Ausbildung nicht alle „lige gode Hoveder“ („gleich gute Köpfe“ [Übers. F. F]) 842 . Der überwiegende Teil der Familie distanziert sich vom Sockenhändler und der Gänsemagd, einzig die junge Baronesse weiß die vergangene „patriarchalische Gemütlichkeit“ gebührend zu würdigen. 843 Der Hauslehrer, Sohn eines Pfarrers, hält dem jungen Mädchen eine Rede über Adel und Bürgertum, in der er den Adelsstand gegen die Angriffe seiner Gegner verteidigt, sofern er sich edel verhält gegenüber seinen Mitmenschen. Wo der Adel dagegen den Bürger allein aufgrund seines Standes verachte, „’[...] der er Adelen gaaet i Forraadnelse, blevet til Maske af den Slags, som Tespis gjorde sig dem, og man morer sig over Personen og giver den Satiren i Vold.’“ („’[...] dort ist der Adel in Fäulnis übergegangen, zu einer Maske geworden von jener Art, wie Thespis sie sich machte, und man belustigt sich über die Person und wirft sie der Satire in die Arme.’“) 844 . „Alt paa sin rette Plads! “ zeichnet ein komplexes Geschichtsbild: Wie der Weidenbaum, der noch vor dem Aufstieg der Familie gepflanzt wurde und ihr Zeichen geworden ist, 845 einhundert Jahre später von Grund auf gespalten ist und überwuchert von anderen Pflanzen, „ligesom en heel lille hængende Have“ („geradezu ein ganzer hängender kleiner Garten“) 846 , so gibt es in den gehobenen Kreisen Momente des Niedergangs und Zerfalls, aber auch des Aufblühens von neuem Leben. Zwar gibt es zyklische Bewegungen im Zentrum der gesellschaftlichen Macht, diese laufen jedoch nicht zeitgleich ab, so dass es zu einem Ineinander gegenläufiger Prozesse kommt. Gute wie schlechte Köpfe gibt es im Adel, die sich in verschiedenen Rhythmen ablösen. Grundsätzlich sind die Grenzen zwischen Adel und Bürgertum durchlässig. 847 Am Ende des Märchens löst die Flöte des Pfarrerssohnes eine Revolution aus, die alle an ihren rechten Platz zu blasen scheint. Diese Revolution zeigt bei genauerer Betrachtung, dass die gesellschaftliche Durchlässigkeit Grenzen kennt: Der Stallknecht fliegt nur in die Dienerkammer, „ikke i Storstuen, der kunne han ikke kom- 839 Eine alternative Übersetzung ist „Gerümpel“ oder „Kram“, was die Portraits der Ordnungsklasse des Abfalls noch näher brächte. 840 EoH 2, S. 61; SM(TD) 1, S. 559. Das Rot der Rose ist in der Übersetzung abhanden gekommen. 841 Vgl. hierzu Friedell 1996, 577 f. 842 EoH 2, S. 60. Vgl. SM(TD) 1, S. 558: „doch sie hatten nicht alle einen guten Kopf“. 843 Vgl. EoH 2, S. 61, 64; SM(TD) 1, S. 559 f. 844 EoH 2, S. 65; SM(TD) 1, S. 561 f. 845 Die erste Begegnung von Magd und Händler endet mit der Pflanzung des Baumes, ihr Portrait ist von Weidenzweigen umgeben. Vgl. EoH 2, S. 58-61; SM(TD) 1, S. 555-558. 846 EoH 2, S. 60; SM(TD) 1, S. 558. 847 Vgl. auch Wallerstein 2004a, S. 90 Anm. 32, der diesen Sachverhalt für das 18. Jahrhundert - allerdings nur für die gewählten Beispiele Frankreich und Großbritannien - konstatiert. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 183 me“ („nicht in die große Stube, dort konnte er nicht hinkommen“) 848 . Einen Aufstieg verzeichnen neben dem Knecht allein die junge Baronesse und der Pfarrerssohn, die es an den Vorsitz der Tafel weht. Während ein alter Graf an seinem Platz bleibt, werden einige Mitglieder der vornehmen Gesellschaft sowie eine reiche Großhändlerfamilie und zwei reiche Bauern der Umgebung in den Schmutz geblasen 849 - und auch das nur für kurze Zeit, denn: „det var en farlig Fløite; lykkeligviis sprak den ved den første Lyd, og det var godt, saa kom den i Lommen igjen: ‚Alt paa sin rette Plads! ’ / Dagen efter talte man ikke om den Begivenhed, derfor har man den Talemaade ‚at stikke Piben ind! ’“ („es war eine gefährliche Flöte; zum Glück platzte sie beim ersten Ton, und das war gut, nun kam sie wieder in die Tasche: ‚Alles, wo es hingehört! ’ / Am nächsten Tage sprach man nicht von dem Ereignis, daher hat man die Redensart: ‚die Pfeife einstecken! ’“) 850 Der Begriff der Revolution fällt in der Geschichte nicht; 851 stattdessen ist der Ton der Flöte, der den umwälzenden Sturm verursacht, so anhaltend, als klänge er von einer Dampflokomotive. 852 Damit weckt er die Assoziation der industriell-technischen Revolution - und führt so auf die Spur des eigentlichen Wandels, der am Ende der Geschichte steht, eines Wandels der Struktur der Dingwelt. Die Geschichte verteidigt bürgerliche, teilweise auch feudale Wertesysteme und liefert ein Bild vom Aufstieg des Bürgertums. Sie ist aber nicht frei von Ambivalenzen. 853 So wird das wiederkehrende „Alt paa sin rette Plads! “ jeweils in unterschiedlicher Bedeutung verwendet: Rufen die Hochmütigen den Spruch, wenn sie Gewalt gegen Niedergestellte ausüben, verwendet der Händler und Urahn den Satz überwiegend ironisch. Dadurch wird die Aussage, die Flöte sei in der Tasche an ihrem rechten Platz, unterlaufen. Auch die Tatsache, dass am nächsten Tag von dem Ereignis nicht mehr gesprochen wird, macht die „gefährliche Flöte“ nicht zwangsläufig ungefährlich: Der Text transportiert das Geschehene weiterhin. Am Ende ist alles wieder in der alten Ordnung außer der Position der alten Portraits. Nachdem ein Kunstkenner sie als Meisterwerke eingeschätzt hat, werden sie instand gesetzt und hängen an einem Ehrenplatz. 854 Damit ist der Wert der Bilder als Überlieferung der familiären Tradition abgelöst worden von ihrem Marktwert: Sie 848 EoH 2, S. 66; SM(TD) 1, S. 563. Eventuell kann jedoch der erste Besuch des Sockenhändlers beim Hofe als Parallelstelle gelesen werden. Dieser kommt auch in den Festsaal, obgleich er dafür zu gering ist (s. o.), und übernimmt schließlich den Hof. 849 De Mylius wertet dies als Gegenschlag von „Andersens Version der nationalen Revolution“ gegen städtische Kapitalisten und Bauern, die zu politischen Machtfaktoren heranwachsen. Vgl. ders. 1986b, S. 42 und 2004, S. 275. 850 EoH 2, S. 66; SM(TD) 1, S. 564. Diese Redensart bedeutet im Dänischen sowohl „zurückhaltend in seinem Auftreten werden“ als auch „sein Vorhaben aufgeben“. Vgl. EoH 2, S. 470. 851 De Mylius (1986b, S. 40; 2004, S. 275) verweist auf die bürgerliche Revolution von 1848 49, die - wie die hier beschriebene - nur von kurzer Dauer und nicht eigentlich gesellschaftsumstürzend war und auf die Verfassungsänderung in Dänemark von 1849, die der Abschaffung von Adelsprivilegien diente. Vgl. auch Zipes 2006, S. 100. 852 Vgl. EoH 2, S. 65; SM(TD) 1, S. 563. 853 Vgl auch de Mylius 1986b, S. 40-43. 854 Vgl. EoH 2, S. 66; SM(TD) 1, S. 564. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 184 sind eine Investition wert. 855 Was der Dampflokomotiventon der Flöte hervorgebracht hat, ist eine beinahe unmerkliche Verschiebung in der Ordnung der Dinge; während die Mächtigen, wie bei nahezu jeder Revolution, 856 nur einem kurzfristigen Abstieg unterworfen sind und die Stallknechte niemals weiter kommen als bis in die Dienerkammer. Aber: „Evigheden er lang, længere end denne Historie! “ („Die Ewigkeit ist lang, länger als diese Geschichte! “) 857 - es kann noch viel passieren. 858 Die sich in „Alt paa sin rette Plads! “ nur andeutende Durchdringung der Welt durch kapitalistische Ordnungssysteme ist der Geschichte in Hjertesorg (Herzeleid/ Herzenskummer 859 ) (1852) vorangestellt worden, das das Historier-Heft des Jahres 1853 860 eröffnet. „Det er egentligt en Historie i to Dele, vi her komme med; første Deel kunde gjerne være borte, - men den giver Forkundskaber, og de ere nyttige! “ („Eigentlich ist es eine Geschichte in zwei Teilen, mit der wir hier ankommen; der erste Teil könnte gut wegfallen, - aber er gibt Vorkenntnisse, und die sind immer nützlich.“) 861 , kündigt der Erzähler an. Dass „wir“ 862 (die Erzählperspektive) uns auf einem Herrenhof befinden, lenkt den Blick von oben nach unten. 863 Die Geschichte ist, entgegen der Ankündigung des Erzählers, ein Meisterwerk an sprachlicher Effizienz: Auf nicht einmal zwei Seiten findet sich ein komplexes, systemkritisches Gesellschaftsbild. Nach Svend Erik Larsen ist die Grenze zwischen nicht-ökonomisch und ökonomisch in Hjertesorg durchlässig. Wenn die Vorkenntnisse, die der erste Teil liefert, 855 Eventuell kann die „Alt paa sin rette Plads! “ vorangehende Geschichte Hjertesorg (s. u.) an dieser Stelle auf den kommenden Text bezogen werden: Denn in Hjertesorg spielt „en Udstilling“ (EoH 2, S. 57) („eine Ausstellung“, wird in den beiden verwendeten Übersetzungsvarianten nicht wörtlich übersetzt), die Eintritt kostet, eine zentrale Rolle. Dass die Portraits über ihre Schätzung des Kunstkenners als ausstellungswürdig klassifiziert werden, kann als ihr Eintreten in eine kapitalistische Verwertungslogik interpretiert werden. Auch de Mylius (2004, S. 276) betont, dass die Gemälde allein aufgrund ihres Geldwertes aufgestiegen sind. 856 Zur jahrhundertelangen Kontinuität der Familien, die der Oberklasse angehörten, vgl. Wallerstein 1984, S. 37. 857 EoH 2, S. 66; SM(TD) 1, S. 564. 858 De Mylius (1986b, S. 43) geht davon aus, dass die Werte, die die Geschichte transportiert, im Unveränderlichen, in Natur und moralischen Qualitäten verankert seien, und deshalb könne sie am Ende „die Pfeife einstecken“ (d. h. nicht mehr aktiv eine Entwicklung vorantreiben) und die Ewigkeit „alles an den rechten Platz“ bringen lassen. Diese Überlegungen basieren auf der m. E. nicht zutreffenden Vorstellung, der geschichtliche Charakter von Natur und gesellschaftlichen Wertvorstellungen spiele in der Geschichte keine Rolle. 859 Dohrenburg übersetzt Herzeleid, Detering Herzenskummer. In diesem Abschnitt wechsle ich zwischen den Übersetzungsvarianten, da die Übersetzung von Dohrenburg der Übersetzung von Detering stellenweise vorzuziehen ist. 860 Vgl. EoH 2, S. 469 f. 861 EoH 2, S. 56; SM(D) 1, S. 204. Im dänischen Original findet sich kein „immer“ entsprechendes Wort. 862 Bredsdorff (2006, S. 144 f.) wertet dies als dichterischen oder königlichen Pluralis Majestatis, mit dem der Erzähler eine ambivalente Position zwischen Empathie und Mangel an Einfühlungsvermögen einnimmt. 863 Vgl. SM(TD) 2, S. 723; Jørgensen 1988, S. 158-161. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 185 als nützlich bezeichnet werden, wechselt der Text vom literarischen ins ökonomische Register. 864 Bereits im ersten Satz wird deutlich, dass der Erzähler in Hjertesorg eine zentrale Rolle spielt, und er erweist sich zugleich als unzuverlässig. So wäre der zweite Teil des Textes, sofern man entweder die zweite Hälfte des Textes oder den einen Satz umfassenden Absatz, nach dem es heißt: „det er anden Deel“ („das ist der zweite Teil“) 865 , darunter versteht, entgegen der Aussage des Erzählers ohne den ersten Teil nicht zu verstehen. Die Geschichte läuft auf den ersten Blick in zwei aufeinander folgenden Parallelkonstruktionen ab. Die Struktur des Textes wird jedoch durch den in der Mitte des Textes stehenden Einschub „det er anden Deel“ mehrdeutig. Auf diesen zweiten Teil folgt noch etwa die Hälfte des Gesamttextes. Während einige Interpreten in dem Einschub nur die Ankündigung des zweiten Teils erkennen, wird für andere aus der eingangs behaupteten Zweiteiligkeit mindestens eine Dreiteiligkeit; einige Interpretationen identifizieren sogar vier oder fünf Teile. 866 Das Verhältnis von Teil und Ganzem ist problematisch geworden. 867 Das gilt für den Text, aber auch für die darin gezeigte(n) Gesellschaft(en). Die Ökonomie durchdringt in Hjertesorg alle gesellschaftlichen Bereiche, auch das Erzählen selbst, während zugleich eine kritische Distanz der Literatur zu ihr behauptet wird. Es ist einerseits die Sprache, vor allem die Schriftsprache, die in Hjertesorg Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Mitgliedern der Gesellschaft herstellt. 868 Andererseits ist es das Geld, in Form von Aktien und Hosenträgerknöpfen. Mit den Aktien wird die Trennung zwischen Schreiben und ökonomischem Handeln durchlässig. Die durch die Medien des Geldes und der Schrift gestifteten Zusammenhänge sind zweifelhaft, der Wert ihrer Aussagen ist nicht gedeckt. 869 Die Aktien, die arbiträre Knopfwährung, deren Geltung höchstwahrscheinlich von begrenzter Dauer ist, und der unzuverlässige Erzähler stehen nicht für Solidität. Eine Gerberwitwe besucht in Hjertesorg den Herrenhof, als der Hausherr gerade aus ist. Man soll Aktien für ihre Gerberei kaufen. „Wir“ raten ihr, die Papiere in einem Umschlag zu hinterlegen, auf den sie den Namen des Hofeigentümers schreiben soll. Nicht zufällig handelt es sich bei diesem um einen „‘Generalkrigskommissær, Ridder, etcetera‘“ („‘Herrn Generalkriegskommissar, Ritter, etcetera‘“) 870 - militärische Macht und ökonomische Macht ergänzen sich in der Gesellschaft, die gezeich- 864 Vgl. Larsen 1975, S. 116 f.; 121 f. 865 EoH 2, S. 56; SM(D), S. 205. 866 Vgl. Barlby 2005, S. 95-102; Larsen 1975, S. 109-113; Svendsen 1999, S. 257-260; Sørensen 1973, S. 151-156. 867 Vgl. Barlby 2005. 868 Vgl. Larsen 1975, S. 109-113. 869 Zu dem Zusammenhang von Geld und Literatur und dem ihnen gemeinsamen Problem der Deckung vgl. Hörisch 1998, S. 11-34. 870 EoH 2, S. 56; SM(D), S. 204. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 186 net wird. 871 Die Aktie, die der Logik marktwirtschaftlicher Konkurrenz unterworfen ist, gehört zugleich einer Logik der Gewalt an. Die Witwe beginnt, den Namen zu schreiben, bleibt jedoch bei „Generalkrigs“ stehen und seufzt: „’jeg er kun et Fruentimmer! ’“ („’Ich bin nur ein Frauenzimmer! ’“) 872 Zwischen den Vorgängen, die gesellschaftliche Macht garantieren, und dem weiblichen Geschlecht steht für die Witwe eine unüberwindbare Distanz. Im zweiten Teil des Textes wird deutlich, wie früh diese Distanz implementiert wird. 873 Hjertesorg etabliert mit der Begegnung auf dem Herrenhof eine Verbindung zwischen der Fähigkeit zu schreiben und gesellschaftlicher Macht. Diese Verbindung lässt die Ambivalenz des literarischen Erzählens deutlich werden, denn den Mächtigen stehen in Hjertesorg die Schwachen gegenüber, auf die keine Rücksicht genommen wird. Der Erzähler blickt zwar weitgehend solidarisch auf die Armen und Ohnmächtigen, ist aber nicht Teil von ihnen und wahrt Distanz. Zudem hilft er ihnen nicht, obwohl dies möglich wäre. 874 Mit sich führt die Witwe einen Mops. Weil er von seinem Frauchen auf dem Boden abgesetzt wird, während sie schreibt, knurrt er: „[H]an var jo ogsaa taget med for sin Fornøielse og Sundheds Skyld, og saa skal man ikke sættes paa Gulvet.“ („[E]r war schließlich auch zum Vergnügen und seiner Gesundheit wegen mitgekommen, und dann soll man nicht auf den Boden gesetzt werden.“) 875 Die Gerberwitwe ist einerseits ohnmächtig im Versuch, Kapital einzuwerben, andererseits ohne Mitgefühl für ihren noch ohnmächtigeren Begleiter. 876 Alle Figuren in Hjertesorg haben Teil an einer Ökonomie, die keine Solidarität erlaubt, obgleich aus deren Mangel Leid entsteht. Die unerfüllten Wünsche der einen erlauben erst die Freuden der anderen. Das Äußere des Mopses wird durch Speckrücken und Plattnase charakterisiert. Er beißt nicht, so die Witwe, denn: „han har ingen Tænder. Han er ligesom Lem af Familien, trofast og arrig, men dette er han tirret til af mine Børnebørn; de lege Bryllup, og saa vil de have ham til at være Brudepige, og det anstrænger ham, det gamle Skind! “ Og hun afleverede sine Papirer og tog Moppen paa Armen. Det er første Deel - som nok kunde undværes! „Moppen døde! “ det er anden Deel. 871 Vgl. auch die Parallelen zu dieser Verbindung in der Weltgeschichtsschreibung bei Nolte 2005, S. 188 f. Der Generalkrigskommissær stand u. a. der Rekrutierung von Soldaten vor. Vgl. EoH 2, S. 469. 872 EoH 2, S. 56; SM(D), S. 204. Für biographische Angaben zu einer Begegnung, die Hjertesorg zugrunde liegen könnte, vgl. Jacobsen 1975. 873 Vgl. dagegen die Interpretation von Holmgaard (1974, S. 93), der in der Witwe eine ausschließlich negativ besetzte Figur erkennt. Aufgrund der Annahme, Andersens Universum lasse generell nur kleine Mädchen, Königinnen und aufopfernde Mütter als positive Frauenfiguren zu, übersieht er die Funktion struktureller Gewalt für die Genderkonstellationen in Hjertesorg: Der Text lässt erkennbar werden, dass Frauen hier systembedingt weniger Möglichkeiten haben, ihre Potentiale zu realisieren. Zum Begriff „strukturelle Gewalt“ vgl. Galtung 1975, S. 12, 16 ff. 874 Vgl. Barlby 2005, S. 107-109; Bredsdorff 1993, S. 19 f.; Larsen 1975, S. 112-117. 875 EoH 2, S. 56; SM(D), S. 204. 876 Vgl. Bredsdorff 1993, S. 14. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 187 („er hat keine Zähne. Er gehört sozusagen zur Familie, ist treu und gehässig, aber dazu wird er von meinen Enkeln aufgestachelt; die spielen Hochzeit, und dann wollen sie, er soll Brautjungfer sein, und das strengt ihn an, die alte Haut! “ Und sie ließ ihre Papiere da und nahm den Mops auf den Arm. Das ist der erste Teil der indessen zu entbehren wäre! Der Mops starb! - Das ist der zweite Teil.“) 877 Das nicht mit übersetzte „Lem“ („Glied“), das den Mops „sozusagen“ als Glied der Familie ausweist, würde stärker deren systemischen Charakter durch die Analogie zum Körper transportieren: 878 Die Familie braucht auch die schwachen Glieder, um sich an ihrem Leid zu erfreuen. Mit dem Mops hat sich der Blick dem ‚Ganz unten’ zugewandt. Die Figur des Mopses verbindet zugleich die beiden längsten Teile des Textes. 879 Als „Brudepige“ wird ihm eine weibliche Rolle aufgezwungen. Deren gesellschaftliche Bedingtheit wird so auf die Spitze getrieben, um in der Qual des Mopses und seiner Schwäche die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern zu problematisieren. Diese Problematisierung unternimmt der Text konsequent für alle Figuren. Der Mops beißt nicht, denn er hat keine Zähne, aber bissig („arrig“ wird bezogen auf Hunde meist mit „bissig“ übersetzt 880 ) ist er doch: Ohnmacht und Wut des missbrauchten letzten Gliedes der Familie sind grenzenlos, so wie die oft unbewusste Grausamkeit der Überlegenen. Die äußerlich sichtbare Deformation als Resultat einer Züchtung zeigt dem Menschen das Ergebnis seines Tuns als Fratze. 881 Als „wir“ eine Woche später die Handelsstadt besuchen und dort ein Gasthaus beziehen, geht unser Ausblick aus dem Fenster auf die Materialien für die Gerberei der Witwe: Leder und Häute („Skind og Huder“). So wird zwischen dem Mops, den die Witwe als „gamle Skind“ bezeichnet hatte, und den ökonomischen Aktivitäten der Dame eine Brücke geschlagen. Dass sich die Gerberei, deren Umwandlung in eine Aktiengesellschaft offenbar geplant ist, mit dem Häuten von Tieren befasst, die zugleich über die Figur des Mopses als schwächster Teil der Familie ausgewiesen 877 EoH 2, S. 56; SM(TD) 1, S. 552. Detering übersetzt die partikularisierende Synekdoche „det gamle Skind“ mit „das arme Luder“, wodurch die unmittelbare Verbindung zwischen der Haut des Mopses und den Häuten der Gerberei („Skind og Huder“, EoH 2, S. 56) nicht mehr ersichtlich ist. Vgl. SM(D), S. 204. 878 Auch in der Übersetzung von Detering geht „Lem“ verloren. Vgl. SM(D), S. 204. 879 Vgl. Bredsdorff 1993, S. 13 f.; 2006, S. 141-143. 880 Dohrenburg übersetzt mit „gehässig“, Detering mit „bösartig“ (SM(D), S. 204), vielleicht in Anlehnung an die Charakterisierung des Mopses in Brehm’s Illustrirtes Thierleben (vgl. Brehm/ Schödler 1868, S. 201). Das Oxymoron, dass es einen zahnlosen bissigen Hund geben könnte, leuchtet im Kontext der Geschichte jedoch ein. Zur Figur des Mopses, der im 19. Jahrhundert als Altjungfernhund und Spiegelbild seiner Herrin galt, und den Ruf hatte, ein launenhaftes, unartiges und verhätscheltes Tier von Frauen zu sein, die es nicht verstanden, mit ihrem Hund und ihren Gefühlen umzugehen, vgl. Buchner-Fuchs 1998; S. 284 f. 881 Vgl. auch SM(TD) 2, S. 723. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 188 wurden, weist auf den Umgang des ökonomischen Systems mit seinen schwächsten Gliedern hin. 882 Zwar wird der Mops beerdigt (und nicht gehäutet), dennoch entzieht auch seine Leiche sich nicht der kapitalistischen Verwertungslogik: „Børnene dandsede rundt om Graven, og den ældste af Drengene, en practisk Yngling paa syv Aar, foreslog, at der skulde være en Udstilling af Moppens Grav og det for Alle fra Strædet; “ („Die Kinder tanzten rund ums Grab, und der älteste der Knaben, ein praktischer Jüngling von sieben Jahren, schlug vor, Mopsens Grab sollte ausgestellt werden, und zwar für alle aus der Gasse; “) 883 statt einer Trauerszene kommt es zu einem karnevalistischen Fest. 884 Für die Besichtigung des Mopsgrabes wird Eintritt in Höhe von einem Hosenträgerknopf erhoben - „det var Noget enhver Dreng havde, og han ogsaa kunde levere for Smaapigerne; og det Forslag blev eenstemmigt antaget.“ („so einen hatte jeder Junge, und das konnten sie auch für die kleinen Mädchen mitliefern; und dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen.“) 885 Alle Kinder der Gasse und der Hinterhäuser kommen und zahlen einen Knopf, um das Grab des Mopses zu sehen, heißt es, „og det var nok saa meget værd.“ („und das war die Sache wohl wert.“) 886 Im Zentrum des Warenumschlagssystems, das die Menschen verbindet, steht der Tod. Produktion und Konsumtion sind mit den Todesstätten Gerberei und Grab verbunden. 887 Der Tod steht auch in der Mitte des Textes: „Moppen døde! “ Um diesen stillen Kern entfaltet sich eine Gesellschaft von Spekulation und Spektakel, die auch das Lebensende zu einem guten Geschäft macht. Anstelle des langfristigen Lebensentwurfes, der sich mit der zur Parodie verkommenen Hochzeit verbindet, tritt eine durch Hosenträgerknöpfe kurzfristig zusammengehaltene Gesellschaft. Leichen werden dabei zur Geschäftsgrundlage. Gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt es nicht ohne Exklusion, die Zahl der eingeschlossenen überwiegt dabei stets die 882 Vgl. die interessante Analogie in der Motivwahl bei Marx: „Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die - Gerberei.“ Marx 1962, S. 191. 883 EoH 2, S. 57; SM(D), S. 205. 884 Vgl. Johansen 2007, S. 590-592. 885 EoH 2, S. 56; SM(TD) 1, S. 552. Die Übersetzungsvariante von Detering ist zwar insgesamt näher am Original was den Satzbau betrifft, leider berücksichtigt sie aber nicht, dass die Jungen den Knopf nicht den Mädchen geben, sondern ihn für sie abliefern. Das impliziert eine viel weiter reichende Entmündigung der Mädchen, als ihnen die Verfügungsgewalt über das symbolische Geldzeichen zu überlassen. Vgl. SM(D), S. 205. 886 EoH 2, S. 57; SM(D), S. 205. Dohrenburg übersetzt: „und das war wirklich viel wert.“ (SM(TD) 1, S. 552). Noch enger am Text wäre m. E.: „und das war schon so viel wert.“ So bleibt die Ambiguität des Originals (die die Übersetzungsvarianten widerspiegeln) erhalten, die offen lässt, ob der Wert „wirklich“ groß ist, oder nur ein angemessenes Preis-Leistungsverhältnis vorliegt - das in seiner offensichtlichen Unangemessenheit (zu sehen gibt es nur einen mit Scherben geschmückten Erdhügel) die Bedeutung gesellschaftlicher Konventionen für den Preisbildungsprozess widerspiegeln würde. 887 Vgl. Holmgaard 1974, S. 96. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 189 der ausgeschlossenen Elemente. Die Exkludierten haben keinen Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen. Das Umschlagen von Überfluss in Knappheit und von Knappheit in Überfluss prägt die Ökonomie in Hjertesorg. Der eigentlich reichlich vorhandene Zugang zum Grab wird künstlich verknappt und dadurch kostbar. Knappheit ist ein Charakteristikum der Währung, die nur den Jungen zur Verfügung steht; knapp und Knopf sind im Dänischen zudem Homonyme. Zugleich sind Hosenträgerknöpfe aber auch überflüssig, weil der Hosenträger ein Zusatzsicherungssystem ist. 888 Der gesellschaftliche Zusammenhang wird durch willkürliche Wertsetzungen erzeugt, Knappheit und Überfluss sind Gegenstand eines immerwährenden Aushandlungsprozesses. Wechsel zwischen Knappheit und Überfluss kennzeichnen auch den Erzählstil, in dem der Erzähler durch die Thematisierung von scheinbar überflüssigen Äußerungen auf sich selbst verweist und gleichzeitig mit wenigen Worten viel erzählt. 889 Damit wird die verbreitete Charakterisierung der Literatur als funktional überflüssiger Gesellschaftsbereich und als Gegenpol zum Ökonomischen aufgenommen und zugleich gebrochen. 890 Ein schönes, aber armes Mädchen scheint für das harte Los der Schönheit in einer von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmten Welt zu stehen. 891 Es hat keinen Jungen, der für es zahlt und bleibt deshalb vor dem Tor. 892 Als alle Kinder weg sind, beginnt es zu weinen: „hun alene havde ikke seet Moppens Grav.“ („sie allein hatte Mopsens Grab nicht gesehen.“) 893 Durch diese Figur wird klar, dass auch in der Kindergesellschaft strenge Mechanismen von Inklusion und Exklusion greifen. Über die Zulassung zum Innen entscheiden diejenigen, die immer schon darin waren, und dort sind die Wertmaßstäbe durch die Eigengesetzlichkeiten der Kapitalakkumulation gesetzt: Alles wird Ware, sogar die Besichtigung eines Scherbenhaufens, der den Tod des Unterlegenen markiert. 894 Es greift eine hierarchische Struktur, in der das Stimmrecht bei denen liegt, die über Kapital (ein Mopsgrab) verfügen (oder diesen Kindern sehr nahe stehen), und in der es mehr oder weniger starke Abhängigkeiten gibt, die soziale Kontrolle erlauben, welche die Kontrolle über den Raum 888 Vgl. Barlby 2005, S. 105 f. 889 Vgl. Svendsen 1999, S. 257-260. 890 Zu Literatur als Kunst des Überflusses und ihrer gleichzeitigen Erfassung durch den ökonomischen Code vgl. Hörisch 1998, S. 18-26. 891 Vgl. Larsen 1975, S. 119 121. Larsen erkennt in der literarischen Wertschätzung der unbewussten Schönheit des Mädchens den Ausdruck einer Überlegenheit der Schrift über die wirtschaftlichen Exklusionsmechanismen. 892 Holmgaard (1974, S. 97) erklärt: „Det der gav adgang ‚var noget enhver Dreng havde’, men ikke pigerne, de må gå i par med drengene for at komme ind. Det er det, den yndige lille pige ikke gør, og det giver hendes seksualnegatoriske positivitet.“ („Was den Zutritt verschafft ist ‚etwas, das jeder Junge hatte’, aber nicht die Mädchen, diese müssen mit den Jungen im Paar gehen. Das ist es, was das schöne kleine Mädchen nicht tut, und das verleiht ihr ihre sexualnegatorische Positivität.“ [Übers. F. F.]) 893 EoH 2, S. 57; SM(D), S. 206. 894 Vgl. Larsen 1975, S. 111; Møller 2006, S. 89. Nach Larsen (1975, S. 114) ist die Kinderwelt noch grausamer als die Erwachsenenwelt. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 190 mit einschließt. Auch das ausgeschlossene Mädchen ist verstrickt in das sozial erzeugte Begehren und ohne Mitgefühl. Sie weint nicht über den Tod des Mopses, sondern über das entgangene Spektakel. 895 Dass die Jungen den Mädchen den Eintritt bezahlen (oder auch nicht), greift das Motiv des „armen Frauenzimmers“ vom Beginn der Geschichte auf. Das Mädchen hat wie die Witwe keinen Mann und deshalb keinen ausreichenden Besitz, um gesellschaftlich inkludiert zu sein. Zum weinenden Mädchen bemerkt der Erzähler: Det var Hjertesorg og stor, som den Voxnes tidt kann være det. Vi saae det ovenfra - og ovenfraa seet - denne, som mange af vore og Andres Sorger, - ja saa kunne vi lee af dem! - det er Historien, og den, som ikke forstaaer den, kan tage Actier i Enkens Garveri. (Das war Herzenskummer und groß, wie der von Erwachsenen es oft sein kann. Wir sahen es von oben mit an - und von oben betrachtet - dieser, wie mancher von unserem und anderer Leute Kummer, - ja, da sieht er zum Lachen aus! - das ist die Geschichte, und wer sie nicht versteht, der kann ja Aktien kaufen auf die Gerberei der Witwe.) 896 Dazu stellt Detering fest, dass die Doppelperspektive, die am Ende des Textes reflektiert wird, zugleich eine erzählerische und eine soziale ist: „‚von oben’ schaut der Erzähler, der bei ‚Generalkriegskommissars’ ein- und ausgeht, an den Blick von unten aber kann er sich gut erinnern; ‚von oben’ schaut er als versöhnlicher Humorist, ‚von unten’ als erbitterter Satiriker.“ 897 Jørgen Holmgaard stellt dar, wie sich der Text auf die wachsende Durchdringung des dänischen Marktes durch den globalen Kapitalismus, insbesondere in Form von Aktienhandel und Industrialisierung bestimmter Zweige der Produktion, bezieht. Er nimmt an, Hjertesorg fordere zu einer Positionierung gegen die neue Geldwirtschaft zugunsten überlieferter geistiger Werte auf, die ein geistiges Vermögen voraussetzten. 898 Geistige Vermögen jedoch sind in Hjertesorg untrennbar mit ökonomischem Kapital verbunden. Durch diese Kopplung wird die von Holmgaard behauptete idealistische Aussage des Textes untergraben. Der Erzähler ist offensichtlich integriert in die Welt der Wohlhabenden, er spricht immer als Teil eines reichen „wir“. Svend Erik Larsen betont, dass das „wir“ sich auf einer hohen sozialen Stufe befindet, sich frei bewegen kann und keine Geldsorgen hat. 899 Zwar ruft der Erzähler zum Ausstieg aus dem System des Hautabziehens auf: Nur wer nicht versteht, dass der Kummer allein von oben zum Lachen aussieht, kann 895 Bredsdorff (2006, S. 142) geht davon aus, dass sie weint, weil die anderen Kinder sie allein zurücklassen, betont aber ebenfalls, dass sie nicht den Tod des Mopses betrauert. 896 EoH 2, S. 57; SM(D), S. 206. 897 SM(TD) 2, S. 723. Møller (2006, S. 90 f., 101 f.) und Holmgaard (1974, S. 92 f.) betonen dagegen die Unzugehörigkeit des Erzählers zu allen gesellschaftlichen Positionen. 898 Vgl. Holmgaard 1974, S. 98. Sehr ähnlich ist in diesem Punkt auch die Interpretation von Sørensen 1973, S. 155. Holmgaards Interpretation bezieht sich dabei auf die Biographie Andersens, vgl. Holmgaard 1974, S. 95 f. 899 Vgl. auch Larsen 1975, S. 110. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 191 noch Aktien kaufen. Aber es ist nur der Blick von oben, der überhaupt die Wahl lässt, aus der ‚Aktiengesellschaft‘ auszusteigen. Unten herrscht dagegen die Gewalt der Exklusion oder der erzwungenen Inklusion. Der Widerstand des Unten findet in der Figur des zahnlos bissigen Mopses seine tragische Entstprechung. Dass der Erzähler stets als „wir“ spricht, ist letztlich das Eingeständnis der Unmöglichkeit des Ausstiegs: „Wir“ sind immer schon drin. Betrachtet man den Schluss im Lichte dieser Durchdringung des Literarischen durch das Ökonomische, ließe sich mit Barlby fragen, ob es nicht eher wirtschaftliche Gründe sind, die dagegen sprechen, Aktien von der Witwe zu kaufen, die sich offenbar nicht gut auskennt im Geschäftsleben. 900 Nach dieser Lesart ist auch der Erzähler Teil des ökonomischen Denkens, von dem er sich zugleich distanziert. Der Wert des Erzählten ist so unsicher geworden wie der von Aktien und Knopfgeld. Das Verdienst des Erzählers liegt darin, die Brüche des Ganzen sichtbar zu machen. 3.1.2 Sündenfälle? Emanzipation und Prostitution Wenige Dinge sind uns so nahe wie unsere Kleidung. Zu Beginn des Märchens De røde Skoe (Die roten Schuhe) (1845) muss die kleine Karen 901 diese Erfahrung auf schmerzhafte Art machen: Sie ist so arm, dass sie im Sommer barfuß und im Winter mit großen Holzschuhen gehen muss, von denen sie einen grässlich roten Spann bekommt. Die alte Schustersfrau aus dem Bauerndorf näht aus Stoffresten ein Paar rote Schuhe für das Mädchen, die sie an dem Tag bekommt, an dem ihre Mutter beerdigt wird. Als Karen mit ihren Schuhen hinter dem Sarg geht, fährt „en stor, gammel Frue“ („eine große, alte Frau“) 902 vorbei, die Mitleid mit ihr hat und zum Priester sagt: „’hør, giv mig den lille Pige, saa skal jeg være god imod hende! ’“ („’Hören Sie, geben Sie mir das kleine Mädchen, dann will ich gut zu ihr sein! ’“) 903 Was hier als Akt der Barmherzigkeit auftritt, hat die Kehrseite, dass Karen sich strengen Regeln unterwerfen muss und die alte Dame zu einem späteren Zeitpunkt pflegen soll. Damit ist die Großzügigkeit der Frau zugleich eine Investition in die eigene Zukunft. Dass Karen als Gabe vom Priester zur reichen Dame wandert, lässt sie zum Gegenstand werden, über den andere verfügen. Og Karen troede det var altsammen for de røde Skoe, men den gamle Frue sagde at de vare gruelige, og de bleve brændte, men Karen selv blev klædt paa reent og net; hun 900 Vgl. Barlby 2005, S. 107 f. 901 Der Name wird im Original stets kursiv gesetzt; dies gilt für die meisten Namen in den Eventyr og Historier. Einige Interpreten, die biographisch orientiert verfahren, gehen davon aus, dass der Name auf Andersens in den Autobiographien verschwiegene Halbschwester Karen verweist. Vgl. Bredsdorff 1983, S. 20; Brix 1970, S. 157-159; Lotz 1988, S.25; Nyborg 1962, S. 159-161; SM(TD) 2, S. 753 f. 902 EoH 1, S. 349; SM(TD) 1, S. 385. 903 EoH 1, S. 349; SM(TD) 1, S. 386. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 192 maatte lære at læse og sye, og Folk sagde at hun var nydelig, men Speilet sagde: „Du er mere end nydelig, Du er deilig! ” (Und Karen glaubte, das sei alles wegen der roten Schuhe, aber die alte Dame sagte, die wären grauenhaft, und sie wurden verbrannt, aber Karen selber wurde sauber und nett angezogen; sie mußte lesen und nähen lernen, und die Leute sagten, sie sei reizend, aber der Spiegel sagte: „Du bist viel mehr als reizend, du bist schön! “) 904 Das Mädchen assoziiert seinen sozialen Aufstieg mit den roten Schuhen, die die alte Dame verbrennen lässt. Symbolisch könnten die Schuhe für Sexualität, Eitelkeit und Sünde stehen, 905 und ihre Verbrennung geht einher mit einer Unterordnung Karens unter die Gesetze der Sittlichkeit. Zusätzlich sind die Schuhe jedoch in jeder Phase der Geschichte mit sozialem Aufstieg assoziiert und markieren jeweils das Erlangen eines höheren Grades an Emanzipation von Autoritäten, 906 so an dieser Stelle den Verlust der Mutter, der mit der Freiheit zum Bruch gesellschaftlicher Konventionen einhergeht: Karen trägt bei der Beerdigung rote Schuhe. Nach dem Verbrennen der roten Schuhe wird Karen Disziplinierungsmaßnahmen unterworfen, die sie auf die Rolle des reizenden Mädchens festlegen sollen, das ohne eigene sexuelle, politische und soziale Ansprüche auftritt. Als Karen in einer Volksmenge die mit ihrer Tochter durch die Lande reisende Königin vor einem Schloss bewundert, sieht sie die Prinzessin durch ein Fenster. Der einzige Schmuck der Königstochter sind ihre roten Schuhe aus Saffianleder. Die roten Schuhe werden zum Symbol der höchsten gesellschaftlichen Position. Nun soll Karen konfirmiert werden (und damit wird wieder eine Schwelle überschritten, die auch ihr Mündigwerden als Christin bedeutet); dazu bekommt sie unter anderem neue Schuhe. In der Stadt, dem späteren Ort sündhafter Verlockung, nimmt der reiche Schuhmacher Maß an ihrem Fuß, aber Karen entdeckt bereits in einem Glasschrank das Objekt ihres Begehrens: ein Paar rote Schuhe. Diese Schuhe waren eigentlich für ein Grafenkind gefertigt, dem sie aber nicht passten. Da die alte Dame schlecht sieht, nimmt sie nicht wahr, dass die Schuhe rot sind, und kauft sie der kleinen Karen. Dass es sich um einen Schuh handelt, der eigentlich für ein Grafenkind gefertigt wurde, zementiert die Verbindung der Schuhe mit sozialem Aufstieg. Der Schuster präsentiert seine Waren in gläsernen Vitrinen; Schuhe und Stiefel fesseln den Blick: „Det saae nydeligt ud“ („Es sah wunderhübsch aus“ 907 ). Hier greift ein Mechanismus der Warenpräsentation, der erstaunlich modern ist. 908 Die Präsen- 904 Ebd. 905 Vgl. auch Sørensen 1973, S. 197, Anm. 6; Thastum Leffers 1994, S. 64. 906 Vgl. Mackie 2001, S. 233. 907 EoH 1, S. 350; SM(TD) 1, S. 386. Die Übersetzung ist relativ stark, „nydeligt“ ist auch mit „nett“ übersetzbar. Die hyperbolische Tendenz der Übersetzung stützt die von mir angenommene Bedeutung des Details. 908 Zur Rolle des Auges in der modernen Verkaufssituation vgl. Asendorf 1984, S. 35. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 193 tation der Ware hinter Glas verleiht ihr eine Aura. Es ist nur folgerichtig, dass die Schuhe sich wenig später der kleinen Karen bemächtigen. 909 Durch den weitgehenden Verzicht auf eine zeittypische Dingwelt abstrahiert das Märchen scheinbar von einer historisch konkreten Situation, 910 doch mit dem Motiv der Schuhe wird die Zeit in die Welt der Dinge zurückgeholt. Das Saffianleder weist die Schuhe der Prinzessin als Produkt aus, das in Nordeuropa erst seit etwa 1770 in größerem Ausmaß verbreitet war. 911 Die Inszenierung des fertigen Produkts, das ausdrücklich nicht für Karen angefertigt worden ist, sondern nach seiner Ablehnung durch den Grafen als Ware den Markt betreten hat, lässt Karens zweites Paar roter Schuhe als Übergangsobjekt (im Wortsinne, nicht in der Bedeutung nach Winnicott 912 ) zwischen dem handwerklich-traditionellen Produktionsverfahren und einer ausgereiften kapitalistischen Absatzform auftreten. 913 Auch auf anderen Ebenen sind die Schuhe Übergangsobjekte: Der soziale Aufstieg Karens wird ebenso mit ihnen verbunden wie die Schwellensituationen einzelner Lebensabschnitte, die besondere rites de passage erfordern, die hier von der Kirche arrangiert werden. Karen trägt die Schuhe zu ihrer Konfirmation, und die alte Dame erfährt aus dem Dorfgespräch, dass sie rot sind. In der Kirche ist Karen das Ziel aller Blicke, sogar die Bilder mit den Portraits der Priester und ihrer Frauen blicken auf ihre Schuhe. Die Trennung zwischen Menschen und Dingen wird durchlässig, und es sind hier die Dinge, die menschliche Züge haben, nachdem Karen eingangs zum Objekt zwischen Priester und Dame geworden war. Die Orgel spielt, der Priester spricht von der Taufe, dem Pakt mit Gott, und dass Karen nun ein großer christlicher Mensch werden solle, aber sie kann nur an ihre Schuhe denken. Die Botschaft an das Ohr wird verdrängt durch die Macht der neuen Blickordnung, die sich um die Schuhe formiert. 914 Beim nächsten Kirchgang trägt Karen erneut die roten Schuhe, obgleich ihr das verboten worden war. Am Eingang wartet ein alter Soldat mit Krückstock „og med et underligt langt Skjæg, det var meer rødt end hvidt, for det var rødt; “ („und einem sonderbar langen Bart, der war mehr rot als weiß, denn er war rot; “) 915 - eine merk- 909 Vgl. Benjamin 1991, S. 560 (Fragment M 16a, 4): „Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.“ 910 Eine solche Abstraktion gilt als Merkmal des Volksmärchens, vgl. Lüthi 2005, S. 20 f. 911 Vgl. den Eintrag „Safian“ in Lund u. a. 2000, S. 486. 912 Vgl. Winnicott 1969. 913 Die ökonomische Struktur Dänemarks für den Entstehungszeitraum des Märchens wird ebenfalls oft als Übergangsphase charakterisiert. Während in der Landwirtschaft industrielle Produktionstechniken zunahmen und der Handel eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems einnahm, kam es erst relativ spät zu einer umfassenden Industrialisierung anderer Fertigungszweige. Vgl. Bjørn 2003, S. 322-324; Busk-Jensen u. a. 1985, S. 16 f.; Løkkegaard 1994, S. 6-52; Sørensen 1973, S. 57-59. 914 Zum Zusammenhang zwischen Religiosität und Hierarchie der Sinne vgl. auch Barthes 1974, S. 76 f. Barthes beschreibt den Aufstieg des Gesichtssinnes und die damit verbundene Verdrängung des theologisch begründeten Primat des Ohrs in der Neuzeit. Hier lassen sich Parallelen zu den Vorgängen in De røde Skoe erkennen. 915 EoH 1, S. 350; SM(TD) 1, S. 387. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 194 würdige Beschreibung, die dem Soldaten Züge einer Teufelsgestalt verleiht. 916 Das Eigenleben der Schuhe scheint er durch einen Klaps unter Karens Schuhsohle zu befördern, bei dem er sagt: „‚See, hvilke deilige Dandseskoe! ’ [...] ‚sid fast, naar I dandse! ’“ („‚Sieh mal an, was für schöne Tanzschuhe! ’ [...] ‚Sitzet fest, wenn ihr tanzt! ’“) 917 Auch diesmal blicken wieder alle in der Kirche auf Karens Schuhe. Dem Mädchen scheint es, als ob die Schuhe im Kelch schwömmen. Sie vergisst, den Psalm zu singen und das Vaterunser zu beten. Hier verschwimmem der heilige Gegenstand und die roten Schuhe, und es kündigt sich die daraus entstehende Gefahr an, denn als Karen die Kirche verlässt, sagt der Soldat erneut „‚see hvilke deilige Dandseskoe! ’“ und Karen muss tanzen: „det var ligesom om Skoene havde faaet Magt over dem [Benene, F. F.]“ („es war fast, als hätten die Schuhe Gewalt über sie [die Beine, F. F.] bekommen“) 918 . Von den Schuhen, die von den sakralen Gegenständen in Karens Wahrnehmung nicht mehr eindeutig zu trennen sind, geht die Gefahr aus, dass sie sich des Menschen ermächtigen, und zwar im Gegensatz zu den geweihten Gegenständen auch außerhalb des Rahmens, den der Kultus ihnen setzt. 919 Die grundlegende Trennung von heilig und profan 920 verliert ihre gesellschaftsstrukturierende Macht, stattdessen tragen die roten Schuhe die magische Kraft hinaus aus der Kirche. Die Dinge machen sich den Menschen untertan, die Schuhe sind es fortan, die Karen bewegen; Karens Füße haben keine Macht mehr über sie. Diese Ermächtigung der Dinge und die damit einhergehende Entthronung des Menschen, die libidinöse Besetzung der Ware durch den Kunden 921 sowie die wenig später einsetzende permanente Bewegung der Schuhe im Märchen zeigen strukturelle Analogien zu marxistischen Beschreibungen der Warenzirkulation und des Warenfetischismus, ohne allerdings auf die diesem Phänomen in der marxistischen Analyse zugrunde liegenden Mechanismen der Geldwirtschaft und Abstraktion von dem Gemachtsein der Ware zu stoßen. 922 Der Text registriert lediglich die Erschütterung einer religiös dominierten Welt durch die Verführungen des Konsums, lässt in den ersten beiden Kirchenszenen profan und sakral ineinander fließen und gibt den Schuhen Macht über Karen. Zwar hat der alte Soldat einen entscheidenden Anteil an der Belebung der Schuhe, ihre prominente Stellung in Karens Denken und Fühlen hatten die Schuhe jedoch auch schon vor der Begegnung mit ihm. 916 Vgl. Nyborg 1962, S. 160 f.; Thastum Leffers 1994, S. 64; Sørensen 1973, S. 195. 917 EoH 1, S. 350; SM(TD) 1, S. 387. 918 EoH 1, S. 351; SM(TD) 1, S. 388. 919 Es deutet sich hier an, dass eine „permanente Dauer des Kultus“ (Benjamin 1985, S. 100) möglicherweise ein Merkmal des neuen Mensch-Ware-Verhältnisses ist (das Zitat bezieht sich bei Benjamin auf den Kapitalismus als Ganzes). Vgl. auch Erin Mackies (2001, S. 239) Interpretation dieser Szene. 920 Für Emile Durkheim (1994, S. 61-68) ist dies die grundlegende Definition der Religion. 921 Zur sexualisierten Ware vgl. auch Kohl 2003, S. 106-115. 922 Vgl. Marx 1962. Gelungene, relativ kompakte Überblicke zu Marx’ Verständnis des Warenfetischismus finden sich bei Asendorf 1984, S. 25-30 und passim und Böhme 2006, S. 285-372. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 195 Als der Kutscher Karen schließlich auf den Wagen hebt, tritt sie sogar die alte Dame, so widerspenstig sind die Schuhe - vielleicht ist es aber auch Karen, die sich gegen das ihr zugedachte Los wehrt. Die Mensch-Ding-Grenze lässt sich für das Hybridwesen aus Mädchen und Schuhen nicht mehr ziehen. Die Schuhe werden nun in einen Schrank gestellt, aber Karen kann davon lassen, sie anzuschauen. Nu laae den gamle Frue syg, de sagde at hun kunde ikke leve! pleies og passes skulde hun og ingen var nærmere til det, end Karen; men henne i Byen var der et stort Bal, Karen var inviteret; - hun saae paa den gamle Frue, der jo dog ikke kunde leve, hun saae paa de røde Skoe, og det syntes hun der ingen Synd var i; - hun tog de røde Skoe paa, det kunde hun jo ogsaa nok; - men saa gik hun paa Bal og saa begyndte hun at dandse. (Nun lag die alte Dame krank, man sagte, sie werde wohl sterben; gepflegt und gewartet mußte sie werden, und niemand war mehr dazu verpflichtet als Karen; aber in der Stadt war ein großer Ball, Karen war eingeladen - sie sah auf die alte Dame, die ja doch sterben mußte, sie sah auf die roten Schuhe, und sie fand, daß das keine so große Sünde wäre - sie zog die roten Schuhe an, das konnte sie ja auch ruhig tun - aber dann ging sie zum Ball, und dann begann sie zu tanzen.) 923 Hier beginnt der Abstieg von Karen, fortan kann sie nicht mehr aufhören zu tanzen und verliert die Kontrolle über ihre Füße. Das „men“ („aber“) signalisiert, dass sie eine Grenze überschritten hat. Karen verstößt gegen das moralische Gebot, 924 die alte Dame zu pflegen, und dieser Verstoß wird im weiteren Verlauf streng geahndet. Zugleich impliziert diese Passage, dass das Mädchen offenbar als Pflegerin eingeplant war, und es sich somit nicht um reine Barmherzigkeit gehandelt hatte, sie aufzunehmen. Die Einladung zum großen Ball in der Stadt bietet ihr eine andere Perspektive als die Pflege der alten Dame, „der jo dog ikke kunde leve“ („die ja doch nicht leben konnte“). Die repressive Moral der alten Dame scheint dem Untergang geweiht. Das Mädchen könnte auf dem Ball in der Stadt seine Schönheit einsetzen, um seine soziale Position erneut zu erhöhen. Aber mit dem Erwachen der Schuhe zum Eigenleben setzt sich stattdessen die ganze Gewalt des Gesetzes durch. Karen muss, so spricht der strenge Engel mit Schwert, dem sie tanzend im Wald begegnet, „’dandse paa dine røde Skoe, til Du bliver bleg og kold! til din Hud skrumper sammen som en Beenrads! [...]’“ („’tanzen in deinen roten Schuhen, bis du blaß und kalt wirst! bis deine Haut einschrumpft wie an einem Knochengerippe! [...]’“) 925 So solle sie eitlen Kindern ein mahnendes Beispiel sein. Sie muss allein durch die Nächte tanzen, reißt sich blutig und wird im Vorbeitanzen Zeugin der Beerdigung der alten Dame. Zuletzt wendet das Mädchen sich an den Scharfrichter, der ihr auf ihren Wunsch hin die Füße abschlägt und eine Prothese schnitzt. Er lehrt sie die Psalmen, die Sün- 923 EoH 1, S. 351; SM(TD) 1, S. 388. Die Übersetzung ist relativ frei: Karen ist nicht verpflichtet, sondern nur näher an dieser Aufgabe als alle anderen Menschen. 924 Dabei muss berücksichtigt werden, wie ambivalent die moralischen Instanzen in dem Märchen auftreten. 925 EoH 1, S. 352; SM(TD) 1, S. 389. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 196 der singen, und Karen küsst die Hand, die die Axt geführt hat, bevor sie fortgeht. Sie möchte nun die Kirche besuchen, denkt, sie habe genug gelitten und möchte dort gesehen werden. Aber die abgeschlagenen Schuhe tanzen vor der Türe und verwehren ihr den Eintritt an zwei aufeinander folgenden Sonntagen. Schließlich bittet sie, als Dienstmädchen von einem Pfarrershaushalt aufgenommen zu werden, und lebt dort in Demut, Bescheidenheit und Frömmigkeit, ohne sich zu trauen, die Kirche zu besuchen. Das Märchen schließt mit einer Vision Karens kurz vor ihrem Tod, in der ihre Kammer zum Kirchenraum wird und sie so die Messe besuchen kann. Die Pfarrersleute sagen: „Det var Ret Du kom, Karen! “ „Det var Naade! “ sagde hun. Og Orgelet klang og Børnestemmerne i Choret løde saa blødt og deiligt! Det klare Solskin strømmede saa varmt gjennem Vinduet ind i Kirkestolen hvor Karen sad; hendes Hjerte blev saa fuldt af Solskin, af Fred og Glæde, at det brast; hendes Sjæl fløi paa Solskin til Gud, og der var der Ingen som spurgte om de røde Skoe. („Das war recht, daß du gekommen bist, Karen! “ „Es war Gnade! “ sagte sie. Und die Orgel tönte, und die Kinderstimmen auf dem Chor erklangen gar weich und schön! Der helle Sonnenschein strömte ganz warm durch das Fenster bis zum Gestühl, wo Karen saß; ihr Herz ward so von Sonne erfüllt, von Frieden und Freude, daß es brach; ihre Seele schwebte auf den Sonnenstrahlen zu Gott empor, und dort gab es niemanden, der nach den roten Schuhen fragte.) 926 Peer E. Sørensen erklärt zu diesem Märchen: „Æventyret er en regulær pietistisk farvet omvendelseshistorie.“ 927 („Das Märchen ist eine reguläre pietistisch gefärbte Bekehrungsgeschichte.“ [Übers. F. F.]). Er verweist zugleich auf das angedeutete, jedoch nicht entfaltete Motiv des armen Mädchens, das eine höhere soziale Position anstrebt, seine Eitelkeit büßen muss und am Ende als Dienstmädchen seinen rechten Platz findet. 928 Die soziale Ordnung vom Beginn des Märchens wird am Ende radikal wiederhergestellt. Mit dem Abhacken der Füße wird Karen zurückgeworfen auf die niedrigste soziale Position. Die Assoziation der Schuhe mit dem sozialen Aufstieg bewahrt auch noch bei ihrem Verlust Gültigkeit, indem Letzterer den Abstieg unabänderlich festschreibt. Ob Karens Dienstmädchenstellung bereits der „rechte Platz“ ist, bleibt jedoch unklar. Es war „Recht“ 929 zu kommen, sagt der Priester, als das Mädchen zuletzt doch in der Kirche ist, aber Karen verneint dies. Das Recht, zumindest in seiner diesseitigen Realisierung, hat vielmehr die Gestalt des Schwertes, das der Engel hält, und der Axt, die der Scharfrichter führt. Die Rationalität des 926 EoH 1, S. 353; SM(TD) 1, S. 392. 927 Sørensen 1973, S. 195. 928 Vgl. dazu auch Nyborg 1962, S. 167 f.; Thastum Leffers 1994, S. 62-70, deren Interpretation den sprechenden Titel „De røde Skoe på de gale fødder“ („Die roten Schuhe an den falschen Füßen“) trägt. 929 Im dänischen Original wird „Ret“ groß geschrieben. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 197 irdischen Rechts, das auf einer Verdrängung des materiellen Begehrens besteht, ist ins Maßlose übersteigert und somit in ihr Gegenteil umgeschlagen. Finn Hauberg Mortensen erklärt zu den Interpretationen, die im Märchen eine gelungene Reintegration in die bestehenden Gesellschaftsstrukturen erkennen, es handele sich um eine naive Lektüre, die über die im Text beschriebenen Grausamkeiten hinwegsieht. 930 In ihrer inspirierenden, auf einem positiven Fetischbegriff basierenden Interpretation des Textes, erklärt Erin Mackie: „the censure of Karen’s fetishism itself works through fetish supernaturalism“ 931 - Nicht nur Karen, auch ihre Umgebung ist fixiert auf die roten Schuhe. Der Antifetischismus der Gesellschaft ist nicht minder zwanghaft als der von ihr durch neue Verkausformen beförderte Fetischismus. Die Worte, die der Engel in seinem ersten Auftritt spricht, sind von ausgesuchter (und in Andersens Eventyr og Historier nahezu einmaliger) Grausamkeit. Karen wird bestraft für ihre Bemühungen, sich aus einem vorgegebenen Rollenverständnis zu befreien und ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Die Gewalt, die sie den roten Schuhen über sich einräumt, sowie ihren Wunsch, gesehen zu werden, muss sie mit einem hohen Preis bezahlen. Der einzige Ausweg ist zugleich der Verlust eines Stücks von sich selbst und dessen Ersetzung durch eine Prothese sowie die vollkommene Armut. Die Erlösung aber fällt erst mit dem Tod des Mädchens zusammen. Dass die inzwischen ohne Verbindung zum Menschen weiter tanzenden Schuhe den Weg zur Kirche (und damit zur Erlösung) blockieren, verrät, wie autonom ihre Bewegungen bereits geworden sind. Das durch gesellschaftliche Strukturen wie die Warenpräsentation beförderte Begehren, das sich mit den Schuhen verbindet, das Begehren nach sozialem Aufstieg und materiellem Besitz, das Begehren danach, über seine Kleidung als Person wahrgenommen zu werden und das libidinöse Verlangen, das damit verbunden ist, kann nicht verdrängt werden, ohne eine Amputation des Selbst zu fordern. Das autonome Subjekt, das seine Sinnlichkeit der Pflicht absolut unterordnet, ist ein Invalide. Und sogar das amputierte Selbst bleibt im Bann des begehrten Dings. Die eigentliche Gnade aber ist erst dann erreicht, wenn niemand mehr nach den roten Schuhen fragt. Dieser Moment ist in dieser Welt unerreichbar. Das Weltausstellungsmärchen Dryaden (Die Dryade) (1868) wird auch in den kommenden Kapiteln eine wichtige Rolle einnehmen. 932 Detering sieht in dem Text die „Synthese des Andersenschen Spätwerks“ 933 . Aufgrund der Veröffentlichung des Märchens in einem separaten Heft sowie des verhältnismäßig großen Umfangs kann man eine intendierte Sonderstellung des Märchens im Korpus der Eventyr og Histo- 930 Vgl. Mortensen 1993, S. 129. 931 Mackie 2001, S. 234. 932 Zur Entstehung vgl. Andersens eigenen Kommentar in EoH 3, S. 395 f.; de Mylius 2004, S. 254- 256; Pallis 1982, S. 21-25 und SM(TD) 2, S. 786 f. 933 SM(TD) 2, S. 786. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 198 rier vermuten. 934 Der Grund, Dryaden wiederholt aufzugreifen, ist jedoch vor allem, dass das Märchen in der Wahl seiner Motive ein Brennspiegel des 19. Jahrhunderts ist, so dass Detering es „Andersens ‚Passagen-Werk’“ 935 nennt. Schauplatz des Geschehens sind die Weltausstellung von Paris 1867 und das Pariser Umland, das nicht genauer lokalisiert wird. Mit diesen Orten verbinden sich unterschiedliche Zeitkonzeptionen und Lebenswelten. 936 Die Hauptfigur des Märchens ist eine Figur, die der griechischen Mythologie entstammt: Eine Dryade ist eine Baumnymphe. 937 In diesem Unterkapitel interessiert vor allem das Motiv der Prostitution, das über die Figur der schönen Mari eingeführt wird. Das Mädchen lebt in der ländlichen Region, in der die Dryade ihre ersten Lebensjahre verbringt. Der var imellem Landbyens Børn en lille Pige, saa pjaltet, saa fattig, men deilig at see paa; altid sang hun og loe hun, bandt røde Blomster i sit sorte Haar. „Kom ikke til Paris! “ sagde den gamle Præst. „Stakkels Barn! kommer Du der, det bliver din Fordærv! “ Og dog gik hun derhen. Dryaden tænkte tidt paa hende, de havde jo Begge samme Lyst og Længsel efter den store Stad. (Es war unter den Dorfkindern ein kleines Mädchen, so zerlumpt, so arm, aber wunderschön anzusehen; immer sang sie und lachte, band sich rote Blumen in ihr schwarzes Haar. „Geh nicht nach Paris! “ sagte der alte Pfarrer. „Armes Kind! wenn du dahin kommst, das wird dein Verderben! “ Und doch ging sie dahin. Die Dryade dachte oft an sie, sie hatten ja beide dieselbe Lust, dasselbe Verlangen nach der Stadt.) 938 Einige Jahre später kehrt Mari zurück: Da kom hen ad Veien en stadselig Vogn med en fornem Dame, selv kjørte hun de letspringende smukke Heste; en pyntet lille Jockey sad bag paa. Dryaden kjendte hende igjen, den gamle Præst kjendte hende igjen, rystede med Hovedet og sagde bedrøvet: „Du kom derind! det blev din Fordærv, stakkels Mari! “ „Hun en Stakkel! “ tænkte Dryaden, „nei, hvilken Forvandling! hun er klædt op til Hertuginde! det blev hun i Fortryllelsens Stad. O var jeg dog der i al den Glands og Pragt! den lyser selv op paa Skyerne i Natten, naar jeg seer derhen, hvor jeg veed at Byen findes.“ 934 Andersen war enttäuscht, als Georg Brandes Dryaden nicht so zu würdigen wusste, wie er es sich erhofft hatte, was die Bedeutung des Märchens für Andersen unterstreicht. Vgl. Bredsdorff 1994, S. 72; de Mylius 2004, S. 255 f. 935 SM(D), S. 139. 936 Vgl. hierzu auch Depenbrock/ Detering 1991 sowie de Mylius 1976, S. 126-131. 937 Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Baumnymphe, die ihren Baum unter gewöhnlichen Umständen nicht verlassen kann. Zur Dryade in der griechischen Mythologie vgl. Rose 1969, S. 165 f. 938 EoH 3, S. 198; SM(D), S. 141. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 199 (Da kam den Weg entlang ein aufgeputzter Wagen mit einer vornehmen Dame, sie lenkte selbst die leichtspringenden schönen Pferde; ein geputzter kleiner Jockey saß hinten auf. Die Dryade erkannte sie wieder, der alte Pfarrer erkannte sie wieder, schüttelte den Kopf und sagte betrübt: „Du bist hineingekommen! das wurde dein Verderben, arme Marie! “ „Sie - arm! “ dachte die Dryade, „nein, was für eine Verwandlung! sie ist zu einer Herzogin ausstaffiert! das geschah ihr in der Zauberstadt. O wär ich doch dort in all dem Glanz und Licht! das leuchtet sogar hinauf zu den Wolken in der Nacht, wenn ich dahin sehe, wo ich weiß, daß die Stadt ist.“) 939 Die Prophezeiung des Priesters, die Schönheit des Mädchens und ihr rasanter sozialer Aufstieg in der Großstadt, die im Text immer auch einer traditionell geprägten Lebenswelt gegenüber gestellt wird, sowie Maris Erscheinen ohne einen männlichen Partner, der sie finanziert, bilden ein Konglomerat von Indizien dafür, dass sie ihr Geld als Prostituierte verdient. 940 Damit ist sie die personifizierte Warenwerdung des Menschen, aber auch ihr eigener Händler; mit Benjamins Worten „Verkäuferin und Ware in einem“ 941 . Im Unterschied zu Karen wird Mari für ihren sozialen Aufstieg, der auch bei ihr mit Sexualität und materiellem Begehren verbunden ist, nicht bestraft, jedoch deutet die Parallelisierung der Figuren von Mari und der Dryade an, dass der Preis des städtischen Lebens der Verlust kultureller Wurzeln und des Jenseits ist. Das Verderben, das in der „Stadt der Verzauberung“ für den Priester liegt, ist für Mari ein Weg zur Selbstermächtigung: Ihre Wiederkehr ist auch ein Bild der Emanzipation, sie steuert die Kutsche, während der kleine Jockey hinten auf dem Wagen sitzt. 942 Der marginalisierte Mann ist zugleich das Gegenstück zur weiblichen Ding- 939 EoH 3, S. 198 f.; SM(D), S. 142. 940 Die Übersetzung Deterings von Længsel mit „Verlangen“ statt „Sehnsucht“ forciert das sexuelle Moment des Textes. Bei einer Übersetzung mit „Sehnsucht“ ließe sich in der Bindung des romantischen Sehnsuchtsmotives an die moderne Großstadt die im Text ebenfalls unternommene ironische Abgrenzung von der romantischen Natur- und Vergangenheitsverklärung deutlicher erkennen. Stougaard-Nielsen (2006, S. 150 f.) betont eine spezifisch moderne Dimension des Begehrens, wenn er erklärt, Dryaden sei „not a Little-Mermaid story about the longing and erotic desires of the protagonist entering adulthood, but instead a story about the visual, scopophilic desires of the urban crowd engaged in and defining the modern spectacle of the real as communal desire.“ Zur Annahme, Mari sei eine Prostituierte, vgl. auch Jørgensen 2007a, S. 203 f.; de Mylius 1976, S. 128 f.; 2004, S. 257. 941 Benjamin 1991, S. 55. Andersen selbst hat einmal das Bordell in seinen Tagebüchern aus dem Jahr 1867 als „Menneske Boutik“, also Menschen-Boutique, bezeichnet. Da, Bd. 7: 1866 1867, S. 280. Vgl. de Mylius 2004, S. 257. 942 Zu diesem Bild bemerkt Johan de Mylius (1976, S. 129): „Måske man endda kan sige, at hendes nye liv opfattes som naturstridigt (fruen, der selv kører vognen).“ („Vielleicht kann man noch dazu sagen, dass ihr neues Leben als widernatürlich aufgefasst wird (die Frau, die selbst den Wagen fährt).” [Übers. F. F.]) Leider erwähnt er dabei nicht, wer Maris neues Leben als naturwidrig auffasst und was dies bedeutet. In Dryaden existiert eine ausgeprägte Naturmetaphorik für technische Phänomene, es geht also eher um eine sich entwickelnde neue Natur als Naturwidrigkeit. Das hat andere Konsequenzen für das Technik- und Gesellschaftsverständnis des Textes als de Mylius’ Ausführungen an dieser Stelle nahe legen. - 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 200 werdung: Geschmückt und ohne Pferd ist der Jockey kein Jockey mehr, sondern Accessoire. Andererseits kann die kutschfahrende Mari auch als Einbruch der Macht der Ware, die sie verkörpert, in die Peripherie gelesen werden. Im weiteren Verlauf des Märchens zeichnet sich ab, dass die traditionelle Lebensweise des Dorfes untergeht, der alte Priester bleibt seiner Dorfschule fern, das Gebäude verfällt; stattdessen leuchtet Paris im entfernten Gesichtskreis der Dryade - die Stadt und mit ihr der Verfall der Sitten breiten sich aus. 943 Zugleich ist die Stadt der Ort, an dem keine gottgegebene Ordnung 944 mehr über das Leben des Einzelnen entscheidet, sondern sich eine kapitalistische Wirtschaftsordnung auf die Sozialstruktur niederschlägt. Das größere Maß an sozialer Mobilität, das sich in der Stadt realisiert, erlaubt zumindest die Hoffnung auf den Aufstieg (der letztlich für die meisten nur ein leeres Versprechen bleibt). Dass die neue Mobilität ihren Preis hat, erfährt die Dryade, die eine einzige rauschhaft luxuriöse Nacht gegen ein einfaches, aber langes Leben eintauscht. Maris Emanzipation sowie ihr Aufstieg auf der gesellschaftlichen Leiter bleiben zugleich vor dem Hintergrund ihres Zustandekommens begrenzt. Den Hinweis auf diese Begrenzung liefert die Kleidung „op til Hertuginde“. Im Gegensatz zu einer Herzogin (die anderen Systemzwängen unterworfen ist) bleibt Mari abhängig vom Verkauf ihres Körpers, und die Insignien der Macht, zu denen ihre Kleidung gehört, sind auf diesem Wege auch Zeichen der Unterwerfung unter das Gesetz des Marktes. Die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs durch den Einstieg in die Warenwirtschaft ist zwar vom materiellen Aspekt her unbegrenzt - Maris Wohlstand unterscheidet sich nicht von dem einer Adligen - zugleich bleibt sie gekoppelt an die Verdinglichungsmechanismen, die diesem System inhärent sind. Dabei ist diese Form der Begrenzung von Emanzipation universal. Die Dryade sehnt sich von Beginn des Textes an danach, ganz Mensch zu werden, was ihr schließlich gelingt. Sobald sie jedoch menschliche Gestalt angenommen hat, wird sie verglichen mit Mari: „I samme Nu sad hun under de gasbestraalede, bladfulde Grene, ung og deilig, som stakkels Mari, til hvem der blev sagt: ’den store Stad bliver din Fordærv! ’“ („Im selben Moment saß sie unter den gasbeleuchteten, dichtbelaubten Zweigen, jung und schön, wie die arme Marie, zu der gesagt worden war: ’die große Stadt wird dein Verderben! ’“) 945 Damit wird die Dryade ebenfalls eingebunden in eine Welt universeller Warenwerdung. Das Motiv der Prostitution wird immer wieder aufgegriffen, die Prostitution durchdringt die gesamte Gesellschaft. So bewegen sich in der Magdalenenkirche reich gekleidete Damen, die vornehme weibliche Welt, die wahren Herzoginnen: Sortklædte, i de kosteligste Stoffer, syede efter sidste og høieste Mode, skred her hen over det blanke Gulv den fornemme qvindelige Verden. Vaabenet stod i Sølvspænderne paa den i Fløiel indbundne Bønnebog og paa det stærkt parfumerede fine Lommetørklæde med de kostbare Brüsseler Kniplinger. 943 Vgl. EoH 3, S. 200; SM(D), S. 142 f. 944 Vgl. EoH 3, S. 215; SM(D), S. 164. 945 EoH 3, S. 206; SM(D), S. 152. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 201 (Schwarzgekleidet, in den kostbarsten Stoffen, nach der letzten und vornehmsten Mode genäht, schritt hier über den blanken Boden die vornehme weibliche Welt dahin. Das Wappen prangte auf den Silberspangen der in Samt eingebundenen Gebetbücher und auf den parfümierten feinen Taschentüchern mit den kostbaren Brüsseler Spitzen.) 946 Hier vermutet die durch die Stadt irrende Dryade auch Mari, es vermengt sich der Reichtum der vornehmen Damen mit dem Reichtum durch Prostitution. Zugleich verweist der Name des Gebäudes auf die biblische Sünderin. 947 Angedeutet wird durch diese Verbindung von Ehrbarkeit und Sünde, dass auch die Ehe warenförmig ist. 948 Die Warenform bestimmt die Identität der Frauen maßgeblich auch über deren kostbare Kleidung, die unter dem Diktat der neuesten und höchsten Mode steht. 949 Selbst der Duft der Frauen ist nur Parfum. Die widerstreitenden Wertordnungen der Aristokratie, der zunehmend kapitalistisch strukturierten Warenwelt und der christlichen Religion durchdringen sich im „i Fløiel indbundne Bønnebog“ und dem „fine Lommetørklæde med de kostbare Brüsseler Kniplinger“, auf denen das Wappen des Adels prangt. In der Wahrnehmung gewinnt jedoch der Reichtum der Dingwelt über die christliche Botschaft und das Symbol des Adels. 3.1.3 Warenproduktion, Mensch-Maschinen Eine weitere Facette neuer Formen von Verdinglichung und Ding-Mensch- Beziehungen findet sich in Dryaden: Die industrielle Produktion tritt hier als Inszenierung in Erscheinung. „’[...] Mester ‚Blodløs’ rører her sine Staalog Jern-Lemmer i Maskinernes store Ring-Sal [...]’“ („’[...] Meister ‚Blutlos’ bewegt hier seine Stahl- und Eisenglieder im großen Ringsaal der Maschinen [...]’“), 950 heißt es in den ersten Berichten 951 von der Weltausstellung, die im Märchen aufgeführt werden. Das „Mester ‚Blodløs’“-Motiv 952 wird noch einmal aufgegriffen, als die Dryade bereits in Paris ist und ihre Nacht in menschlicher Gestalt sich dem Ende nähert. Der künstliche Wasserfall am Eingang des großen Aquariums der Weltausstellung wird von Meister Blutlos getrieben. Damit wird die technische Natur zum Hüter der Schwelle, die 946 EoH 3, S. 208; SM(D), S. 154. 947 Zu Maria Magdalena als literarischem Motiv vgl. Frenzel 1992, S. 496-499. 948 Vgl. dazu auch Lukács 1975, S. 194 f. 949 Über den Zusammenhang von neuer Kleidung und Verhalten vgl. auch Simmel 1995b, S. 15. 950 EoH 3, S. 200; SM(D), S. 144. 951 Der Berichtscharakter wird erzeugt durch distanzierende Äußerungen der Erzählinstanz wie „sagde de“ (EoH 3, S. 200) („sagten sie“) oder „Tilvisse saaledes var det, saaledes lød Efterretninger derom, hvo hørte det ikke? “ (EoH 3, S. 201) („Ja gewiß, so war es, so klangen die Nachrichten davon, wer hörte sie nicht? “ (SM(D), S. 146)). 952 Andersen verwendet das Motiv in verschiedenen Texten und hat es von Adolph Törneros übernommen, der es mit einem Gefühl des Entsetzens assoziierte. Vgl. Re 2, S. 18; RB, S. 13 f., 210, Anm. 14. Das Kapitel Trollhättan des Reisebuchs I Sverige ist in diesem Zusammenhang besonders interessant. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 202 zugleich ein Tor zur Hölle ist. 953 Mit den Aquarien betritt die Dryade einen Abyss, einen Ort äußerster Gottferne, und hört hier die Hammerschläge der Arbeiter, die Tag und Nacht arbeiten müssen, damit alles bald vollendet sein kann. 954 Die Arbeiter müssen sich dem Rhythmus der Maschine und der Warenwelt unterwerfen. Die Kopplung der Gottferne mit dem Klang der Hammerschläge aus der Ferne lässt Unheil erahnen - auch die größte Kanone der Welt wurde in Paris 1867 ausgestellt. 955 Die neue Natur, in der die kapitalistische Warenproduktion auf der Weltausstellung auftritt, hat zwar einerseits die Gestalt einer „Pragtblomst“ („Prachtblume“) oder „Eventyrblomst“ („Märchenblume“) 956 , zugleich aber ist sie getrieben durch die Glieder des Meister Blutlos. Damit könnte man unter Bezugnahme auf Walter Benjamin sagen: Die anorganische Welt, die sich mit dem lebendigen Leib in Form der Arbeit an der Maschine verbindet, ist das Gegenstück der fetischistischen Verbindung des Konsumenten mit der Ware in der Mode auf dem Gebiet der Produktion. 957 In Dryaden ist der Zusammenhang von Ermächtigung und Entmächtigung des Menschen durch industrielle Produktion als versteckter Vorgang dargestellt; die Menschen hinter der Maschine bekommt der Ausstellungsbesucher nicht zu sehen. Dennoch lässt uns der Text die Hammerschläge der Arbeiter hören. Damit wird das scheinbar natürlich Vorhandene, der Überfluss der Warenwelt, in Beziehung gesetzt zu seiner verschleierten Herkunft aus der Arbeit derjenigen, deren Rhythmus sich dem der Maschine unterwerfen muss. 958 Zu Tante Tandpine (Tante Zahnschmerz) (1872) gibt Andersen in den Bemærkninger til Eventyr og Historier (1874) an, es sei das letzte Märchen, das er geschrieben habe. 959 Zwar ist es in der Tat als letzter Text im letzten Heft der Nye Eventyr og Historier erschienen, jedoch geht die Forschung davon aus, dass es sich dabei nicht um das letzte Märchen handelte, das Andersen verfasste. 960 Die Platzierung des Textes im Heft und die Angabe Andersens erlauben es, Tante Tandpine als abschließenden Kommentar zu der erfolgreichen Märchenserie zu begreifen. Der Text führt seine Leser ebenso wie Andersens Bemerkung dazu gezielt in die Irre. 953 Vgl. Benjamin 1991, S. 813 (Fragment X 7a,3). Das Motiv des mechanisch getriebenen Wassers wird am Ende des Textes noch einmal aufgegriffen, vgl. EoH 3, S. 214 und die Interpretation dieser Stelle bei de Mylius 2004, S. 254-259, besonders 258 f. 954 Vgl. EoH 3, S. 213; SM(D), S. 162. 955 Vgl. Barth 2007, S. 72; Kretschmer 1999, S. 83-85; Walch 1967, S. 132. 956 EoH 3, S. 200; SM(D), S. 144. 957 Vgl. Benjamin 1991, S. 51. 958 Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Horkheimer/ Adorno 2004, S. 4 f.; Benjamin 1991, S. 822 f. (Fragment X 13a). 959 Vgl. EoH 3, S. 400. 960 Vgl. EoH 3, S. 454; Bøggild 2005, S. 65; Kramer 2004, S. 7; SM(D), S. 270; Müller-Wille 2009c, S. 161; Sørensen 1973, S. 267; Topsøe-Jensen 1956, S. 194-197. Bøggild und Kramer nutzen diese Ungereimtheit als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 203 Das Märchen greift auf Motive aus Nissen hos Spekhøkeren (Der Wichtel beim Fettkrämer 961 ) (1852) 962 zurück. In Nissen hos Spekhøkeren bewahrt ein Student aus Liebe zur Dichtung ein Buch davor, zum Einpacken der Waren des Krämers verwendet zu werden, und verzichtet stattdessen auf seinen Käse. Der Nisse, der beim Krämer lebt, weil es dort jedes Jahr zu Weihnachten Grütze mit Butter darin gibt, wähnt den Krämer beleidigt, als der Student sagt, dieser verstehe nichts von Poesie. Der Nisse befragt mit Hilfe eines ausgeliehenen Gebisses die Dinge des Krämers, die mit diesem „Mundlæder“ („Mundwerk“) 963 reden können. Als auch sie zustimmen, dass der Student dem Krämer Unrecht getan habe, möchte der Nisse es dem Studenten heimzahlen. Er trifft diesen im neuen Buch lesend an. Aus dem Buch fällt ein Lichtstrahl, der sich in einen wunderbaren Baum verwandelt. Der Nisse ist so fasziniert, dass er erwägt, sich dem Studenten anzuschließen, aber der Gedanke an die Butter des Krämers hält ihn davon ab. Am Ende des Märchens steht das Nachbarhaus in Flammen. Alle stürzen hinaus mit ihren kostbarsten Gütern, nur der Student betrachtet das Geschehen in Ruhe vom Fenster aus. Der Nisse rettet das Buch des Studenten, weil es das wahrhaft Wertvolle ist, und weiß nun, zu wem er gehört - meint er. Als das Feuer gelöscht ist, kehrt er aber doch zum Fettkrämer zurück, der Grütze wegen. Dies kommentiert der Erzähler mit: „Og det var ganske menneskeligt! - Vi andre gaae ogsaa til Spekhøkeren - for Grøden.“ („Und das war durchaus menschlich! - Wir anderen gehen auch zum Fettkrämer - der Grütze wegen.“) 964 Im Märchen erweist sich der Nisse als käuflich und die Kunst als Wert, der sich gegen eine geldbestimmte Wertordnung nicht behaupten kann. Nur ihre wahren Liebhaber können den ökonomischen Mangel akzeptieren, den ein der Kunst gewidmetes Leben mit sich bringt. Der Student verzichtet auf seinen Käse und betrachtet den Brand ohne Sorge um sein Hab und Gut, aber auch: um sein Leben. Im Anschluss an diese möglicherweise tödliche Selbstvergessenheit aus Liebe zur Literatur passt es, dass Tante Tandpine zeitlich der Tod eines dichtenden Studenten vorauszuliegen scheint. Dieser Student unterscheidet sich jedoch im Leiden an seiner Existenz deutlich von demjenigen aus Nissen hos Spekhøkeren. Tante Tandpine beginnt mit dem Satz: „Hvorfra vi har Historien? -“ („Woher wir die Geschichte haben? -“ 965 ) Die Syntax impliziert an dieser Stelle, dass die Frage eigentlich eine vorhergegangene Frage wieder aufgreifen müsste (sonst würde die Frage „Hvorfra har vi historien? “ lauten). Kramer erklärt zu diesem Einstieg: „Thus, what begins the narrative is not the narrator asking the question but rather a reader (or a listener) beyond the text itself whose traces are found within the grammar.“ 966 961 Vgl. EoH 2, S. 67-71; Müller-Wille 2009c, S. 176. Ein Nisse ist „koboldhafter als die deutschen ‚Wichtel’“, so Detering. SM(TD) 2, S. 761. Vgl. auch die Angaben zum Nisse bei Gerndt 1971, S. 18, 95 f., 127. „Spekhøkeren“ übersetzt Detering in Tante Tandpine mit „Speckhöker“ (s. u.). 962 Das Heft erschien 1852 mit dem Jahr 1853 auf dem Titelblatt. Vgl. EoH 2, S. 470 f. 963 EoH 2, S. 67; SM(TD) 1, S. 566. 964 EoH 2, S. 71; SM(TD) 1, S. 569. 965 EoH 3, S. 343; SM(D), S. 256. 966 Kramer 2004, S. 31. Vgl. auch ebd., S. 30. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 204 Der Text, könnte man sagen, hat sich schon vor seinem Beginn auf den Markt begeben: Er nimmt seinen Leser vorweg. Und spricht ihn im kommenden Satz mit „Du“ an: „ - Vil Du vide det? / Vi har den fra Fjerdingen, den med de gamle Papirer i.“ („Möchtest du es wissen? / Wir haben sie aus der Tonne, der mit den alten Papieren.“) 967 Die Herkunft des Textes ist die Recyclingtonne. Mangen god og sjelden Bog er gaaet i Spekhøkeren og Urtekræmmeren, ikke som Læsning, men som Nødvendigheds Artikel. De maae have Papir til Kræmmerhuus for Stivelse og Kaffebønner, Papir om Spegesild, Smør og Ost. Skrevne Sager er ogsaa brugelige. Tidt gaaer i Bøtte, hvad der ikke skulde gaae i Bøtte. (Manches gute und seltene Buch ist zum Speckhöker oder Gemüsekrämer gegangen, nicht als Lesestoff, sondern als Gebrauchsartikel. Da wird Papier benötigt zu den Tüten für Stärke und Kaffeebohnen, Einwickelpapier für Salzhering, Butter und Käse. Geschriebenes ist auch ganz brauchbar. Oft ist im Eimer, was nicht im Eimer sein sollte.) 968 Der Erzähler kennt einen Grünwarenlehrling, Sohn eines Speckhökers, der „en levende Redningsanstalt for en ikke ringe Deel af Literaturen“ („eine lebendige Rettungsanstalt für einen nicht geringen Teil der Literatur“) 969 ist, und Texte aus den Tonnen seiner Eltern und seines Prinzipals sammelt. Der Junge hat - neben wichtigen Akten und Skandalmitteilungen unter Freundinnen - auch die Blätter herausgezogen, die durch ihre besonders schöne und deutliche Handschrift die Aufmerksamkeit des Erzählers wecken. Sie stammen, so der Lehrling, von einem Studenten, der vor einem Monat gestorben ist, und der schwer an Zahnschmerzen gelitten hatte. „’[...] Det er ganske morsomt at læse! [...]’“ („’[...] Das ist ganz unterhaltsam zu lesen! [...]’“) 970 Für ein halbes Pfund grüner Seife 971 hatten die Eltern das Geschriebene, „’[...] en heel Bog og lidt til [...]’“ („’[...] ein ganzes Buch und noch etwas mehr [...]’“) 972 , von der Wirtin des Studenten gekauft. Der Erzähler liest nun das Ge- 967 EoH 3, S. 343; SM(TD) 2, S. 698. An dieser Stelle ziehe ich die Übersetzung von Dohrenburg vor, auch wenn Detering in der Regel näher am Original bleibt. Die Übersetzung von „Fjerdingen“ mit „Eimer“ bei Detering ist jedoch etwas unglücklich, da Detering auch in den letzten beiden Sätzen mit „Eimer“ übersetzt, das Ausgangswort in diesem Falle jedoch „Bøtten“ ist. Damit suggeriert die Übersetzung ein höheres Maß an textlicher Geschlossenheit, als im dänischen Original erkennbar ist. Bei Dohrenburg wiederum fehlt der vorletzte Satz „Alt gaaer i Bøtten.“ in der Übersetzung, wahrscheinlich, weil Andersen ihn in einer späteren Ausgabe gestrichen hat. Vgl. SM(TD) 2, S. 711; Topsøe-Jensen 1956, S. 209. 968 EoH 3, S. 343; SM(D), S. 256. 969 EoH 3, S. 343; SM(TD) 2, S. 698. Auch hier ziehe ich Dohrenburgs Übersetzung vor. Detering übersetzt „levende Redningsanstalt“ mit „leibhaftiger Rettungsinstanz“. Vgl. SM(D), S. 256. 970 EoH 3, S. 343; SM(D), S. 257. 971 Thastum Leffers hält dieses Detail für eine Unaufmerksamkeit Andersens, stattdessen hätte er eher grünen Speck wählen sollen, den es damals gab. Vgl. Thastum Leffers 1994, S. 94. Dagegen argumentiert Bøggild (2000, S. 180-183) überzeugender dafür, die schlüpfrige Seife, für die der Text eingetauscht wird, als Hinweis darauf zu interpretieren, dass der Text sich einer Interpretation entzieht. 972 EoH 3, S. 343; SM(D), S. 257. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 205 schriebene und teilt es mit. Es setzt eine ebenfalls mit Tante Tandpine betitelte Binnenerzählung ein, die in vier Kapitel unterteilt ist. 973 Das Sammeln ist nach Walter Benjamin „eine Form des praktischen Erinnerns“ 974 . Auch der Gemüsewarenlehrling sammelt gegen das Vergessen. Die Blätter des dichtenden Studenten verlieren bei ihm zunächst ihren Nutzen, wie Benjamin es als typisch für den Prozess des Sammelns beschreibt. Allein für den Büchersammler gilt jedoch, dass er „seine Schätze nicht unbedingt aus ihrem Funktionszusammenhange gelöst hat“ 975 . Mit dem Erzähler tritt diese Form des Sammelns auf. Die Texte sind in der Tonne aus ihrem Funktionszusammenhang gelöst und in ihre bloße Materialität zurückgefallen, das heißt in einen neuen Kreislauf der Dinge gelangt. Diesem werden sie nun wieder entrissen, um aufzusteigen in das Gebiet des Gelesenen. Die Frage nach dem Verhältnis von Wert und Nutzen in der Literatur, die schon Nissen hos Spekhøkeren aufwarf, wird auf diese Weise neu gestellt. Es wird dabei deutlich, dass Literatur nicht unabhängig von ihrer Materialität existiert und diese - im Extremfall - ihren (Gebrauchs-)Wert stellt. Finn Barlby interpretiert Tante Tandpine als „part[s] of a Grand Narrative of the market, of the man, and of melody, i. e. poetry“ 976 , und erklärt: The new market is a huge and chaotic transformation of norms and values that have been prized highly till now, so that the quickest turnover of the fastest (read: most miserable) products is crucial. With a few more details, these are the conditions of the poetical market: It teems. It shifts. It is scrapped, and ends in the paper barrel. 977 Die Dichtung und der Dichter als Teilnehmer des Literaturmarktes (und damit als Warenproduzenten) stehen im Folgenden im Zentrum der Analyse. Laut Rahmenerzählung ist der Erzähler der Binnenerzählung ein verstorbener Student. Aber am Ende von Tante Tandpine erklärt der Rahmenerzähler: „Bryggeren er død, Tante er død, Studenten er død, ham fra hvem Tankegnisterne gik i Bøtten.“ („Der Brauer ist tot, Tante ist tot, der Student ist tot, er, dessen Gedankenfunken in den Eimer gingen.“ [Übers. F. F.]) 978 Finn Barlby weist darauf hin, dass die familiäre Anrede „Tante“ (statt „Tanten“, das heißt die Tante), mit der nun der Rahmenerzähler die Tante des Studenten bezeichnet, den Schluss nahelegt, dass Binnen- und Rahmenerzähler identisch sind. Der Erzähler ist unzuverlässig, treibt Schabernack mit seinem Leser. Auch wenn man nicht so weit geht, beide Erzähler zu identifizieren, kann die Zuverlässigkeit des Rahmenerzählers aufgrund dieses Details in Zweifel gezogen werden. 979 973 Die einzelnen Teile sind nummeriert. Kramer (2004) reflektiert in seiner Interpretation das Verhältnis von Tante Tandpine zum romantischen Fragment. 974 Vgl. Benjamin 1991, S. 271 (Fragment H I, a2). Vgl. auch ebd., S. 279 f. (Fragment H 4a,1). 975 Ebd., S. 275 (Fragment H 2,7; H 2a,1). 976 Barlby 1999, S. 514. 977 Ebd., S. 524. Vgl. auch Müller-Wille 2009c, S. 161 f. 978 EoH 3, S. 353. Meine Übersetzung weicht von Deterings nur darin ab, dass Detering „Tante er død“ mit „die Tante ist tot“ übersetzt. Vgl. SM(D), S. 269. 979 Vgl. Barlby 1993/ 94, S. 78; 1997, S. 101 f.; 105, 108-111; 1999, S. 524; Bøggild 2005, S. 66 f. Vgl. auch Kramer (2004, S. 16, Anm. 5), der in der Erzählstruktur die Textualität des studentischen Er- 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 206 In der Binnenerzählung erinnert sich der Student an seine Kindheit, in der seine Tante ihm Süßigkeiten zusteckte. Auch nun verwöhne sie ihn mit Süßem, indem sie sagt, dass er Dichter werde. Klaus Müller-Wille macht deutlich, wie der Text durch die Begeisterung der Tante für alles, was der Student erzählt, den Leser dazu bringt, auf die Metaphorik, die der Student verwendet, gezielt zu achten. 980 Das gilt besonders für die Verbindung von Zucker, Zahnschmerz und Poesie. Der Student erklärt: Jeg har i mig Noget af Poeten, men ikke nok. Tidt naar jeg gaaer i Byens Gader synes det mig, som gaaer jeg i et stort Bibliothek; Husene ere Bogreoler, hver Etage en Hylde med Bøger. Der staaer en Hverdagshistorie, der en god gammel Komedie, videnskabelige Værker i alle Fag, her Smuds-Literatur og god Læsning. Jeg kan phantasere og philosophere over alt det Bogværk. Der er Noget i mig af Poeten, men ikke nok. Mange Mennesker have vist ligesaa Meget i sig deraf som jeg, og bære dog ikke Skilt eller Halsbaand med Navnet Poet. Der er givet dem og mig en Gudsgave, en Velsignelse, stor nok for En selv, men altfor lille til at stykkes ud igjen til Andre. (Ich habe in mir etwas von einem Poeten, aber nicht genug. Oft wenn ich durch die Straßen der Stadt gehe, kommt es mir vor, als ginge ich durch eine große Bibliothek; die Häuser sind Bücherregale, jede Etage ist ein Bord mit Büchern. Da steht eine Alltagsgeschichte, dort eine gute alte Komödie, wissenschaftliche Werke aus allen Fächern, hier Schundliteratur und gehobene Lektüre. Ich kann phantasieren und philosophieren über all das Bücherwerk. Es ist in mir etwas von einem Poeten, aber nicht genug. Viele Menschen haben bestimmt genausoviel davon wie ich, und tragen doch kein Schild oder Halsband mit dem Namen Poet. Es ist eine Gottesgabe, die ihnen und mir gegeben ist, ein Segen, groß genug für einen selbst, aber allzu klein, um sie wieder mit anderen zu teilen.) 981 Für Kramer ist die hier erfolgende Poetisierung der Stadtwahrnehmung bereits die Antwort auf die Frage, ob der Student ein Dichter ist. 982 Die Frage, warum er „nicht genug“ vom Poeten hat, lässt sich damit auf einer neuen Grundlage stellen, nämlich nicht auf die Dichtung bezogen, sondern auf deren Rezeption. Die Vielfalt der vorgestellten Bücher zeigt einen ausdifferenzierten Literaturmarkt, der Formen des Massenkonsums impliziert. 983 Auch das Motiv der Stadt verweist auf die Masse. Der zählers wie auch der Figur des Studenten betont sieht. Dass für Barlby nach Kramer der studentische Erzähler und die Figur des Studenten dieselben sind, gibt Barlbys These nicht ganz korrekt wieder. Nach Barlby sind vielmehr Binnen- und Rahmenerzähler identisch. De Mylius (2004, S. 260) sieht zwar eine Nähe zwischen dem Rahmenerzähler und dem Studenten, identifiziert sie jedoch nicht. Er bezieht sich nicht explizit auf Barlby. 980 Vgl. Müller-Wille 2009c, S. 170. 981 EoH 3, S. 344; SM(D), S. 257 f. 982 Kramer 2004, S. 17. Meine folgenden Überlegungen weichen von Kramers Interpretation ab. Nach Kramer, der den Text eher aus der Perspektive einer romantisch-fragmentarischen Poetologie liest, ist es der fehlende Einblick in „das Ganze“, der dem Studenten fehlt. 983 Vgl. Habermas 1990, S. 248 ff. Dabei geht es mir an dieser Stelle nur um den beschriebenen historischen Prozess der Entstehung einer Massenkultur, nicht um die bei Habermas gezogenen Schlüsse. Da Sørensen (1973) auf der Grundlage von Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff operiert, kann der skandinavische Raum in das Modell einbezogen werden. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 207 Student schildert an anderer Stelle intensiv sinnlich und realistisch die Qualen des großstädtischen Lärms, den die zusammengepferchten Tiere und Menschen verursachen. 984 Dort wird die unangenehme Kehrseite der Massenhaftigkeit dargestellt. Dass der Poet sich der Masse nicht mitteilen kann, stellt sein „nicht genug“ dar, dabei ist ihm bewusst, dass eine Etikettierung als Dichter es wesentlich erleichtert, sich auf den Markt zu begeben: das Schild oder Halsband mit dem Namen Poet. Im folgenden Kapitel von Tante Tandpine wird Tante Mille vorgestellt. Die Tante ist die Tante der Mutter, wird aber von den Kindern ebenfalls Tante genannt. Sie ist also keine echte Tante des Studenten. Ohne Rücksicht auf die Zähne der Kinder gibt sie ihnen Süßes; es wäre grausam, es ihnen zu verwehren, sagt sie. Dass sie selbst früher an Zahnschmerzen gelitten hat, lässt jedoch ihre Großzügigkeit grausam erscheinen. 985 Damals gab ihr Freund, Brauer Rasmussen, ihr den Spitznamen Tante Tandpine, aber nun hat sie die prächtigsten weißen Zähne. „Hun sparede ogsaa paa dem, sov ikke med dem om Natten! sagde Brygger Rasmussen“ („Sie schonte sie auch, schlief in der Nacht ohne sie! sagte Brauer Rasmussen“), und erhellt so, dass es sich um ein Gebiss handelt. Als die Tante träumt, sie verliere einen Zahn, und daraus folgert, sie werde einen wahren Freund oder eine wahre Freundin verlieren, antwortet der Brauer lächelnd: „‚Var det en falsk Tand! ’ [...] ‚saa kan det kun betyde at De mister en falsk Ven! ’“ („‚Wenn es ein falscher Zahn war! ’ [...] ‚dann kann es nur bedeuten, daß Sie einen falschen Freund verlieren! ’“) 986 Zucker war eines der ersten in einem globalen Zusammenhang erzeugten Massenkonsumgüter. 987 Natürlich gab es schon vor seiner nahezu alle Bevölkerungsschichten in Westeuropa umfassenden Verbreitung Zahnschmerzen. Das neue Konsummuster zeitigte aber im 19. Jahrhundert verheerende Folgen für die Zahngesundheit, wie der Zahnarzt Kai O. Mehlsen in seinem Aufsatz zu Tante Tandpine darlegt. 988 Dass die massenhafte Verbreitung eines Produkts schädlich sein kann, betrifft in Tante Tandpine nicht nur Zucker, sondern auch Literatur. 989 Als der Student noch ein kleiner Junge war, versprach ihm die Tante, dass der Brauer nach seinem Tod zu einem Engel werde. Der Junge fragte daraufhin nach der Beerdigung des Brauers: „’Tante! ’ [...] ‚Troer Du ikke, at han [Englen, F. F.] kommer nu! eller at naar Storken igjen bringer os en lille Broder, han da bringer os 984 Vgl. EoH 3, S. 346 f. Diese Beschreibung erinnert an das Stadtbild von Kopenhagen vor der Öffnung der Stadt. Vgl. Andersen 2005, S. 28 f.; Jensen/ Smidt 1982, S. 20. Zu der Schilderung des Studenten vgl. auch Müller-Wille 2009c, S. 175 f. 985 Zur Ambivalenz dieser Figur vgl. auch V. Sørensen 1973, S. 23 f. 986 EoH 3, S. 345; SM(D), S. 259. 987 Vgl. Mintz 1987; Osterhammel 2009, S. 338. 988 Mehlsen 2005, S. 203 f. 989 Eine schöne Interpretation des Zahnmotivs, die auf den löchrigen Zustand der Zähne wie des Lebens verweist, findet sich bei de Mylius 2004, S. 260 f. Thastum Leffers (1994, S. 87) erklärt, über verfaulte Zähne zu schreiben, stelle einen Tabubruch in der zeitgenössischen Literatur dar. Ähnlich auch Sørensen 1973, S. 29. Bøggild (2005, S. 68 f.) dagegen erkennt im Zahnmotiv eine Verbindung traditioneller Vanitaselemente (den Zahn der Zeit) mit neuen Aspekten. So werden die Zähne in einem Gespräch mit Tante Mille mit einer Soldatenmetaphorik verbunden. Vgl. EoH 3, S. 348 f. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 208 Englen Rasmussen.’“ („’Tante! ’ [...] ‚Glaubst du nicht, daß er [der Engel, F. F.] jetzt kommt! oder wird der Storch, wenn er uns wieder einen kleinen Bruder bringt, uns dann den Engel Rasmussen bringen? ’“) 990 Diese Frage erweckte in der Tante den Eindruck, aus dem Jungen werde ein Dichter. Ihre Überwältigung angesichts der kindlichen Phantasie lässt aber auch ersichtlich werden, dass ihre Worte nicht die Wahrheit waren: Sie glaubte nicht, dass der Brauer zum Engel wird. Die Tante wird zur teilnehmenden Freundin in Zahnschmerzen wie Dichterschmerzen, an denen der Student gleichermaßen leidet. Am Ende dieses Kapitels krümmt sich der Student wie ein Wurm vor Schmerzen. 991 In der Charakterisierung der oberflächlich besonders kinderfreundlichen Tante ist das Moment der Falschheit ein entscheidendes Mittel, ihre Darstellung ironisch zu brechen. Die Engführung der Motive Zahn und Dichtung im Schmerz wirft ein anderes Licht auf ihre Aussagen. Die Frage der Echtheit oder Richtigkeit ihres Literaturverständnisses drängt sich auf. „’Skriv bare alle dine Tanker ned,’ sagde hun, ’og put dem i Bordskuffen; det gjorde Jean Paul; han blev en stor Digter, som jeg rigtignok ikke holder af, han spænder ikke! Du maa spænde! og Du vil spænde! ’“ („’Schreib einfach alle deine Gedanken auf’, sagte sie, ‚und leg sie in die Tischschublade; so machte es Jean Paul; er wurde ein großer Dichter, den ich allerdings nicht mag, er ist nicht spannend! Du mußt spannend sein! und du wirst spannend sein! ’“) 992 Dass der Student spannend schreiben soll, ist eine Forderung, die auch für Literatur gilt, die sich an ein breites Publikum richtet. Als der Student den Lärm in seiner Mietswohnung schildert, hält die Tante ihn dazu an, alles niederzuschreiben, dann wäre er so gut wie Dickens. „‚Du maler, naar Du taler! Du beskriver dit Huus, saa man seer det! Det gyser i En! - Digt videre! Læg noget Levende ind i det, Mennesker, yndige Mennesker, helst ulykkelige! ’” 993 („‚Du dichtest, wenn du berichtest! 994 Du beschreibst dein Haus, daß man es vor sich sieht! Es graust einen! - Dichte weiter! Leg etwas Lebendes hinein, Menschen, liebreizende Menschen, am besten unglückliche! ’“) 995 Zu diesen Zeilen bemerkt Barlby: It is almost a definition of the trivial or popular literature of mass culture. This literature must be light, straightforward, and depict reality. It must be exciting and moving. Thus what is demanded is realism, titilation and sensitivity. Those are the standard tales of Biedermeier, „hverdagshistorier“. 996 990 EoH 3, S. 346; SM(D), S. 260. 991 Hier wird das Motiv des Wurms aus dem Text wieder aufgenommen, zugleich erinnert der Wurm in diesem Text auch an Det nye Aarhunderts Musa. Vgl. S. 16 f. 992 EoH 3, S. 346; SM (D), S. 260. 993 EoH 3, S. 347. 994 Eigentlich: „Du malst, wenn du redest.“ in der Übersetzung von Detering bleibt jedoch das Homöoteleuton des Originals erhalten. 995 SM(D), S. 262 f. 996 Barlby 1999, S. 518; vgl. ders. 1993/ 94, S. 80 f. „Hverdagshistorier“ ist, wie in Tante Tandpine auch, eine Anspielung auf Thomasine Gyllembourg. Vgl. zu Gyllembourg Müller-Wille 2006, S. 170 f. Zur Begriffsgeschichte von Biedermeier im skandinavischen Raum vgl. auch Horne Kjældgaard 2004, S. 8-18. Vgl. auch Kramers (2004, S. 21) Ausführungen zu Barlby, in denen er Barlbys 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 209 Im letzten Kapitel unterhalten sich Tante Mille und der Ich-Erzähler nach einem Theaterbesuch und kommen auf Zähne zu sprechen. Der erste Zahn war der Zahn der Unschuld, später kommen unter Schmerzen die Weisheitszähne hinzu. Zuletzt verliert man wieder alle. Das in diesem Gespräch implizite Motiv des Sündenfalls wird im sich anschließenden Traum des Studenten aufgegriffen. 997 Dieser Traum wird zur Tortur. Die Zähne setzen bereits beim Einschlafen zum großen Zahnschmerz an, und es erscheint dem Studenten eine Gestalt: „Nei, det var hende selv, Fru Tandpine! hendes Forfærdelighed Satania infernalis, Gud frie og bevare os fra hendes Besøg.“ („Nein, das war sie selbst, Madame Zahnschmerz! Ihre Entsetzlichkeit Satania infernalis, Gott schütze und bewahre uns vor ihrem Besuch.“) 998 Barlby bemerkt zum Auftreten mythologischer oder märchenhafter Elemente wie der Satania infernalis: „They are employed to explain what is absent or ineffable, that is the cause of explanation why the market is the way it is.“ 999 Nathaniel Kramer erklärt, die Satania infernalis sei die Gegenfigur zum naiven Literaturverständnis von Tante Mille, sie stehe für das schlechthin Unrepräsentierbare. 1000 Die Dichterambitionen des Studenten werden grausam bestraft, „‚Stor Digter skal have stor Tandpine, lille Digter lille Tandpine! ’“ („‚Großer Dichter soll großen Zahnschmerz haben, kleiner Dichter kleinen Zahnschmerz! ’“) 1001 Der Student fleht die Erscheinung an, von ihm abzulassen. Er soll dafür gestehen, so die Gestalt, dass sie mächtiger als Poesie, Philosophie, Mathematik und Musik ist, mächtiger als alle abgemalten und in Marmor gehauenen Gefühle. „‚[...] Jeg blev født tæt ved Paradisets Have, udenfor, hvor Vinden blæste og de vaade Paddehatte groede. Jeg fik Eva til at klæde sig paa i det kolde Veir, og Adam med. Du kan troe, der var Kraft i den første Tandpine! ’“ („‚[...] Ich wurde dicht beim Paradiesgarten geboren, draußen, wo der Wind wehte und die feuchten Pilze wuchsen. Ich brachte Eva dazu, sich etwas anzuziehen bei dem kalten Wetter, und Adam obendrein. Du kannst mir glauben, es lag Kraft im ersten Zahnschmerz! ’“) 1002 Unter sich immer weiter steigernden Schmerzen schwört der Student, nicht mehr dichten zu wollen. Die Gestalt erklärt, in Zukunft solle er sie als Tante Mille sehen, die ihn zum Dichten auffordere, aber wenn er ihr glaube und das Dichten wieder aufnehme, werde sie ihn mit Zahnschmerzen bestrafen. Zum Abschied verursacht sie beim Studenten einen solchen Schmerz, dass er beinahe in den Tod hinübergleitet. Er wird von der Tante geweckt. Nachdem er sie verabschiedet hat, schreibt er auf, was vor uns liegt, versichert aber: „Det er ikke paa Vers og det skal aldrig blive trykt - -.“ („Es ist nicht in Versen, und These stützt und auf die Objektwerdung der Poesie als Ware hinweist. Dass Barlby das Zitat um den Hinweis auf Dickens verkürzt, macht seine Interpretation etwas glatter, als es der Text erlaubt. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass eine Spitze gegen Dickens in Tante Tandpine beabsichtigt ist. 997 Vgl. auch Bøggild 2005, S. 69; de Mylius 2005, S. 225-227. 998 EoH 3, S. 349; SM(D), S. 265. 999 Barlby 1999, S. 517. 1000 Vgl. Kramer 2004, S. 23-26. Vgl. auch Müller-Wille 2009c, S. 163-176. 1001 EoH 3, S. 350; SM(D), S. 266. 1002 EoH 3, S. 350; SM(D), S. 267. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 210 es soll niemals gedruckt werden - -.“ 1003 ) Dennoch scheint ihn dies nicht gerettet zu haben. Nach de Mylius greift Tante Tandpine auf das Motiv des leidenden Dichters zurück und universalisiert es, indem es zu einem generellen Leiden an der Existenz wird. In diesem allesverzehrenden Pessimismus liege ein Teil der Modernität des Textes. 1004 Barlbys Interpretation, die von der Identität von Binnen- und Rahmenerzähler ausgeht, betont dagegen stärker die lustvolle Irreführung des Lesers. Der Tod des Dichters ist nur vorgetäuscht, der Weg in die Tonne nicht endgültig, da der Text uns vorliegt. 1005 Wie aber ist das Leiden des Dichters, das in jedem Falle existiert, konkret repräsentiert? Satania infernalis ist eine zuletzt in ihrer Form diffuse Figur. Die Herkunft des Leidens lässt sich nicht eindeutig verorten. „[...] jeg [Fru Tandpine, F. F.] skal give Dig Jern og Staal i Kroppen, faae Traad i alle dine Nervetraade! “ Det var som gik der en gloende Syl ind i Kindbenet; jeg vred og vendte mig. „Et udmærket Tandværk! “ sagde hun, „et Orgel at spille paa. Mundharpe-Concert, storartet, med Pauker og Trompeter, Fløite piccolo, Basun i Viisdomstanden. Stor Poet, stor Musik! “ Jo hun spillede op og forfærderlig saae hun ud, selv om man ikke saae mere af hende end Haanden, den skyggegraa, iiskolde Haand, med de lange syletynde Fingre; hver af dem var et Piinsels-Redskab: Tommeltot og Slikkepot havde Knivtang og Skrue, Langemand endte i en spids Syl, Guldbrand var Vridbor og Lillefinger Sprøite med Myggegift. („[...] ich [Madame Zahnschmerz, F. F.] werde dir Eisen und Stahl in den Körper treiben, all deine Nervenfäden auffädeln! “ Es war, als führe mir ein glühender Pfriem in den Kiefer; ich krümmte und wand mich. „Ein fabelhaftes Zahnwerk! “ sagte sie, „eine Orgel zum Aufspielen. Maul-trommelkonzert, großartig, mit Pauken und Trompeten, Flöte piccolo, Posaune im Weisheitszahn. Großer Poet, große Musik! “ Ja, sie spielte auf, und entsetzlich sah sie aus, auch wenn man nicht mehr von ihr sah als die Hand, die schattengraue, eiskalte Hand, mit den langen pfriemdünnen Fingern; jeder von ihnen war ein Peinigungsinstrument: Däumling und Schlecker hatten Kneifzange und Schraube, Mittelmann lief in einem spitzen Pfriem aus, Goldfinger war ein Drehbohrer und Kleinfinger eine Spritze mit Mückengift.) 1006 Hier verschmelzen Mensch und (Zahn-)Technik zu einem untrennbaren Hybridwesen von teuflischer Gestalt. Einerseits handelt es sich hierbei um die Instrumente des Zahnarztes, der Text blickt aus der Perspektive eines Patienten auf die Hand des behandelnden Arztes und seine Instrumente. 1007 Die Nervenfäden, die auch mit 1003 EoH 3, S. 352; SM(D), S. 268. Bøggild (2005, S. 66) wertet dies als Lüge, der Text des Studenten sei vielmehr darauf ausgerichtet, gedruckt zu werden 1004 Vgl. de Mylius 2004, S. 261-263. 1005 Vgl. Barlby 1993/ 94, S. 78; 1997, S. 96-98, 101 f., 105, 108-111. 1006 EoH 3, S. 350; SM(D), S. 266. 1007 Vgl. Topsøe-Jensen 1956, S. 198. 3.1 Die Macht der Ware: Ökonomie und Begehren 211 „Nervendrähte“ übersetzt werden können, insbesondere, da die Satania infernalis ankündigt, Eisen und Stahl in den Körper des Patienten zu treiben, deuten andererseits die Entstehung einer ‚nervösen Ästhetik’ an, die sich auf wissenschaftlicher Ebene in einer naturwissenschaftlichen Experimentalisierung der Ästhetik niederschlug 1008 und kulturgeschichtlich in Zusammenhang mit der Verbreitung der Elektrizität gestellt werden kann. 1009 Die Verdrahtung des Mundraums weist auf die Verdrahtung der Weltkommunikation durch Telefon und Telegraph hin. Die durch diese Form der Verdrahtung entstehende Beschleunigung und Verdichtung verursacht eine dauerhafte Nervenreizung, die schmerzhaft empfunden wird. Auf eine solche moderne Nervosität verweist auch die Beschreibung der lauten Stadtwohnung. 1010 Indem die Hand der Fru Tandpine als Pars pro toto für die ganze Gestalt steht, wird die Figur auf die Gewalt, die von ihr ausgeht, reduziert. Diese Gewalt wird noch Furcht erregender dadurch, dass sie technisch forciert ist. 1011 Geht man mit Barlby davon aus, dass die Gestalt der Satania infernalis eine Erklärung dafür ist, was abwesend und unbeschreiblich am Markt bleibt, könnte man in der Beschreibung der Figur einen Hinweis darauf erkennen, dass auch die Durchdringung des Menschen mit der technischen Welt und die Übernahme des Handelns durch Technik, die im Kontext dieses Marktes vor sich geht, diesen unheimlich machen. Die Hybridwesen der Moderne zeigen hier ihr düsteres Gesicht. Aufgrund der beschriebenen bescheidenen Lebensumstände des Studenten 1012 und des Ursprungs der Gestalt der Satania infernalis in Feuchtigkeit und Kälte lässt sich weiterhin annehmen, dass auch Armut das Leiden verursacht. Die Vertreibung aus dem Paradies hat in diesem Märchen nie stattgefunden; im Paradies war es immer schon kalt. Nur der Sündenfall des Publikumserfolgs erlaubt den Zugang zur Wärme. Der Student ist getrieben von dem Zwang, sich auf einem Literaturmarkt durchzusetzen, der ihn Mechanismen unterwirft, die sein eigenes Verständnis von Literatur zu pervertieren drohen: So antwortet Tante Mille auf die virtuose Beschreibung der Wirklichkeit in der Stadt, die der Student liefert, mit der Forderung nach schönen unglücklichen Menschen, die der realistischen Qual bedrängender Sinneseindrücke eine kitschige Wendung geben würden. 1013 Gerade durch die Beschreibung wird jedoch zugleich ersichtlich, dass Wohlstand, der eine andere Wohnsituation erlauben würde, eine erlösende Funktion einnehmen könnte. Da aber die geschützte Wohnsituation in dem Text mit Tante Mille verbunden wird, ist sie von ihrem Literaturverständnis kaum zu lösen. Die Auslieferung des Schriftstellers an den Markt hat ihren literarischen Preis, so scheint es. 1014 Nach Jacob Bøggilds 1008 Vgl. Barck/ Heininger/ Kliche 2000, S. 375-377. Der hier angegebene Teil stammt von Dieter Kliche. 1009 Vgl. Asendorf 1984, S. 110-125. 1010 Vgl. EoH 3, S. 346 f.; SM(D), S. 261-263. 1011 Zum Motiv der zerstörenden Hand vgl. auch Daemmrich/ Daemmrich 1995, S. 186. 1012 Vgl. EoH 3, S. 346 f.; SM(D), S. 261-263. 1013 S. o., S. 20 . Vgl. EoH 3, S. 346 f.; de Mylius 2005, S. 263. 1014 In diesem Zusammenhang noch einmal der Hinweis, dass Andersen einer der ersten dänischen Schriftsteller war, der sich vor allem zu Beginn seiner Karriere weitgehend selbst finanzierte und 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 212 Analyse trägt die Beziehung des Studenten zu seiner Tante inzestuöse Züge, die Bøggild als Zeichen eines eigentlich gebotenen Abstands wertet. Die Notwendigkeit dieses Abstands bezieht er auf das Literaturverständnis der Tante. Statt sich von dem Vertrauten, der Tante, bestätigen zu lassen, erfordere Literatur eine Öffnung gegenüber dem Neuen und Unbekannten. 1015 Genau dieses Neue findet sich aber im Text selbst. Tante Tandpine selbst dementiert die scheinbare Unvereinbarkeit von ökonomischem und literarischem Wert. Der hochgradig selbstreflexive Text mit sich entziehenden Erzählerpositionen, kunstvoll verwobenen Motiven, überbordender Metaphorik und einer physisch werdenden Sprache erscheint in einer der populärsten literarischen Reihen des 19. Jahrhunderts, den Eventyr og Historier. Indem er als Ware auf den eigenen Warencharakter und die Qualen der Produktion verweist, hebt der Text zugleich das Vergessen seiner Herkunft auf, das nach Marx charakteristisch für die Entstehung des Warenfetischismus ist. 1016 Der Text endet mit der Rahmenerzählung, die einsetzt, nachdem der Erzähler/ Student versichert hat, dass das, was er aufgeschrieben hat, nicht in Versen ist und niemals gedruckt werden soll: Ja her holdt Manuskriptet op. Min unge Ven, den vordende Urtekræmmersvend, kunde ikke opdrive det Manglende, det var gaaet ud i Verden, som Papir om Spegesild, Smør og grøn Sæbe; det havde opfyldt sin Bestemmelse. Bryggeren er død, Tante er død, Studenten er død, ham fra hvem Tankegnisterne gik i Bøtten. Alt gaaer i Bøtten. Det er enden paa Historien, - Historien om Tante Tandpine. (Ja, hier hörte das Manuskript auf. Mein junger Freund, der angehende Krämergeselle, konnte das Fehlende nicht auftreiben, es war in die Welt hinausgegangen, wie das Papier, in das Salzheringe, Butter und grüne Seife eingewickelt sind; es hatte seine Bestimmung erfüllt. Der Brauer ist tot, die Tante ist tot, der Student ist tot, er, dessen Gedankenfunken in den Eimer gingen. Am Ende ist alles im Eimer. Das ist das Ende der Geschichte, - der Geschichte von Tante Zahnschmerz.) 1017 Aber am Ende ist die Geschichte eben nicht im Eimer und zu Ende, da sie nun wieder am Beginn einsetzt. Diese zyklische Struktur spiegelt den Kreislauf der Waren wieder, an dem Literatur Teil hat, und sie ist ein Ausweg. Dass das Dichten seinen Preis hat, dass es sich verändert mit dem Entstehen eines Literaturmarktes mit Massenleserschaft, ist eine Seite des Textes. Die andere Seite ist die, dass der dem Leser immer wieder Phasen von Armut durchlebte. Vgl. Auring u. a. 1984, S. 134-139; Busk-Jensen u. a. 1985, S. 356. 1015 Vgl. Bøggild 2005, S. 70 f. 1016 Vgl. Marx 1962, S. 85-98. 1017 EoH 3, S. 352 f.; SM(D), S. 268 f. Korrekt müsste die Übersetzung nicht „die Tante ist tot“, sondern „Tante ist tot“ lauten (s. o. S. 20 ). 3.2 Zeiten der Globalisierung 213 real vorliegende Text wenig Rücksichten auf ein Massenpublikum nimmt, das nach biedermeierlicher Literatur verlangt. Andersen schließt die Eventyr og Historier nicht mit dem Schmerz, der das Schaffen begleitet, sondern mit dem Witz „Alt gaaer i Bøtten.“ Gelesen zu werden, das heißt auch, den literarischen Markt zu betreten, ist Himmel und Hölle zugleich. 1018 3.2 Zeiten der Globalisierung 3.2.1 Dynamik der Dingwelt: Neuigkeit und Beschleunigung Mit der industriellen Massenproduktion beschleunigt sich im 19. Jahrhundert die Warenzirkulation. Immer mehr Produkte werden immer schneller konsumiert. Das hat Einfluss auf die Wahrnehmung von Zeit. Diese Entwicklung lässt die Eventyr og Historier nicht unberührt. Dieses Unterkapitel geht der Zeitstruktur des modernen Konsums nach. Wir werfen dabei zunächst mit Ole Lukøie (Ole Luköie) (1841) 1019 einen Blick in das Kinderzimmer von Hjalmar. Die Raumstruktur der Kinderstuben in den Eventyr og Historier behandelt Kapitel 3.3. Ole Lukøie, die Titelfigur des Textes, ist dem deutschen Sandmännchen vergleichbar. Abends spritzt er Kindern Milch in die Augen, damit sie ihn nicht sehen können, und erzählt ihnen dann Geschichten. In Andersens Eventyr besucht er an sieben Abenden Hjalmar. Im ersten Abschnitt wird von einem heterodiegetischen Erzähler die Figur Ole Lukøie eingeführt, die im weiteren Verlauf die Erzählfunktion übernimmt. Beide Erzählinstanzen, der heterodiegetische Erzähler und Ole Lukøie, versprechen, dass Hjalmar Geschichten erzählt bekommen wird, sieben Stück, für jeden Abend der Woche eine. Hjalmar wird jedoch, wie Johan de Mylius feststellt, keine einzige wirkliche Geschichte erzählt. Stattdessen schickt Ole Lukøie ihn auf Ausflüge und er bekommt verschiedene Bilder und Szenen zu sehen. 1020 Der Text liefert einander rasch abwechselnde Eindrücke, die Korrespondenzen ebenso wie Sprünge aufweisen. Die vorliegende Analyse konzentriert sich auf die Zeitdarstellungen in Ole Lukøie. „’Hvad skulle vi nu have for i Nat? ’“ („’Was haben wir nun heute nacht vor? ’“) 1021 fragt Hjalmar an diesem Abend Ole Lukøie. „Have for i nat - det er ikke en historie, men en ‚action’, noget, der skal udspille sig“ 1022 („Heute Nacht vorhaben - das ist 1018 Vgl. Barlby 1999, S. 519, der an dieser Stelle jedoch nicht vom Rezipienten, sondern vom sich investierenden poetischen Subjekt spricht. 1019 Erstmals abgedruckt in Eventyr, fortalte for Børn. Ny Samling. Tredie Hefte, das 1841 mit der Jahreszahl 1842 auf dem Titelblatt erschien. Vgl. EoH 1, S. 514. 1020 Vgl. de Mylius 2004, S. 21-29. De Mylius’ These, dass dem erwachsenen Leser dabei gezeigt werde, welchen Eindruck das Leben der Erwachsenen auf einen kindlichen Betrachter machen muss, ist dagegen weniger plausibel. 1021 EoH 1, S. 249; SM(TD) 1, S. 247. 1022 De Mylius 2004, S. 24. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 214 keine Geschichte, sondern ‚Action’, etwas, das sich abspielen soll“ [Übers. F. F.]), erklärt de Mylius. Hjalmar möchte unterhalten werden. Der Zusammenhang von Geschichtenerzählen und Unterhaltungskultur reicht im Falle von Ole Lukøie über den Eventyr-Text hinaus. Andersen veröffentlichte ein gleichnamiges Theaterstück mit deutlich abweichendem Inhalt, das im Casino- Theater aufgeführt wurde. 1023 Nach Helge Topsøe-Jensen bot dieses Stück dem Zuschauer einiges fürs Auge 1024 und gleicht darin Ole Lukøies Angeboten an Hjalmar. Das Stück würde ebenfalls eine nähere Betrachtung lohnen. Topsøe-Jensen zeigt dessen weitreichenden Parallelen zu Wilhelm Hauffs Das kalte Herz auf und erwähnt dabei eine interessante Abweichung: Der Protagonist von Ole Lukøie bekommt kein steinernes Herz, sondern eine goldene Uhr eingepflanzt. Die Uhr soll dazu führen, dass er nie wieder lustig trällert, denn das ist der Preis, den er für den erwünschten Reichtum zahlen soll. Der teuflische Blake, der Hauffs Holländer-Michel entspricht, erklärt dazu: „Dette giør det bedre! - ved hvert ‚dik, dik! ’ forstaaer Du, falder der en Guld-Skilling i Din Lomme, - Penge! altid Penge! Din Lomme er Fortunati Pung! “ 1025 („Dies macht es besser! - mit jedem ‚tick, tick! ’ verstehst Du, fällt ein Gold-Schilling in Deine Tasche, - Geld! immer Geld! Deine Tasche ist der Geldbeutel des Fortunatus! “ [Übers. F. F.]) Die Uhr, die anstelle des Herzens schlägt und stets Geld erzeugt - deutlicher lässt sich die Invasion der modernen Zeitmessung und -ökonomie in den menschlichen Körper kaum darstellen. Diese Verbindung von Körper, Uhr und Geld findet sich im Eventyr-Text jedoch nicht. Hier lässt sich stattdessen in den Episoden Mandag (Montag) und Søndag (Sonntag) erkennen, wie die moderne Forderung nach einer effektiven Zeitnutzung auch die Kinder einschließt. Am Montag muss Ole Lukøie zunächst Ordnung in Hjalmars Schreibheft bringen, indem er die Buchstaben exerzieren lässt, damit sie lernen, sich aufrecht zu halten. Deshalb kann er an diesem Abend keine Geschichte erzählen. Am Sonntag zeigt Ole Lukøie Hjalmar seinen Bruder, den Tod. 1026 Diesem müssen alle Menschen ein gutes Notenheft vorweisen können, dann erzählt dieser ihnen eine schöne Geschichte. Andernfalls müssen sie die garstige Geschichte hören. Deshalb rät Ole Lukøie Hjalmar: „’see bare til at Du har en god Characteerbog! ’“ („’Sieh nur zu, daß du ein gutes Zeugnisheft hast! ’“) 1027 Dann müsse er keine Angst haben. Das Leben wird zu einer großen Prüfung, die erfolgreich abgeschlossen werden muss. Dazwischen liegt jedoch so viel Unterhaltung, dass der Text diese auf Erfolg nach dem schulischen Modell ausgerichtete Botschaft konterkariert. Am Freitag bietet Ole Lukøie Hjalmar als Abendunterhaltung an, eine Hochzeit zu besuchen. Schon in 1023 Vgl. Sk 4, S. 11-87, 607. Zum Casino vgl. auch S. 10 1 dieser Arbeit. Andersens Eventyr og Historier weisen nicht nur in diesem Falle eine Bühnenaffinität auf, viele seiner Arbeiten wurden im Theater vorgetragen. Vgl. Anz 2005, S. 35 f. 1024 Vgl. Topsøe-Jensen 1966a, S. 157. 1025 Sk 4, S. 62. Vgl. ebd., S. 61-65; Topsøe-Jensen 1966a, S. 160-168. 1026 Vgl. EoH 1, S. 242 f., 251 f.; SM(TD) 1, S. 239 f.; 252. Der Bruder trägt den gleichen Namen wie Ole, schließt („lukke“) die Augen („øie“) seiner Zuhörer aber nur ein einziges Mal. 1027 EoH 1, S. 252; SM(TD) 1, S. 252. 3.2 Zeiten der Globalisierung 215 der Nacht zuvor hatten sie einer Hochzeit beigewohnt. Während am Freitag ein Puppenpaar heiraten soll, waren es am Donnerstag zwei Mäuse. Für de Mylius handelt es sich bei der Mausehochzeit um eine Satire der kleinlichen und selbstzufriedenen Alltagsbürgerlichkeit. Er bezieht sich dabei besonders auf das Ende von Torsdag (Donnerstag), wo es heißt: Alle Musene sagde, at det var et deiligt Bryllup, og at Conversationen havde været saa god. Og saa kjørte Hjalmar igjen hjem; han havde rigtignok været i fornemt Selskab, men han maatte ogsaa krybe ordentlig sammen, gjøre sig lille og komme i Tinsoldat- Uniform. (Alle Mäuse sagten, es sei eine wunderschöne Hochzeit gewesen, und sie hätten sich ausgezeichnet unterhalten. Und dann fuhr Hjalmar wieder nach Hause; er war wirklich auf einer vornehmen Gesellschaft gewesen, aber er hatte sich auch tüchtig krümmen und kleinmachen und die Zinnsoldatenuniform anziehen müssen.) 1028 Nach de Mylius wird hier dargestellt, wie inhaltslos die Kommunikation solcher Anlässe ist. Dass Hjalmar winzig klein werden musste, bedeute dessen Anpassung an das Niveau der Kleinbürger. Dass es sich bei Torsdag um eine satirische Darstellung des Kleinbürgertums handelt, kann jedoch bezweifelt werden. Der Text persifliert eher die Emotionen eines verklemmten reichen Bürgertums in der Begegnung mit einer als bedrohlich empfundenen Unterschicht. Das Mäusepaar küsst sich „skrækkeligt meget for Alles Øine, thi de vare jo forlovede og nu skulde de strax have Bryllup“ („erschrecklich viel vor aller Augen, denn sie waren ja verlobt, und jetzt sollten sie gleich Hochzeit halten“) 1029 und gibt so ein ungehemmtes - und durchaus glückliches - Bild ab, das mit der vollkommene Asexualität der optisch viel eindeutiger geschlechtlich codierten Puppen Bertha und Herman, die am folgenden Abend heiraten, scharf kontrastiert. Es gilt deshalb, de Mylius’ Interpretation, beide Hochzeitsszenen zeigten klaustrophobische Schreckenszenarien, zu differenzieren. Die bei der Mäusehochzeit dargestellte Beengung beruht auf beengten materiellen Verhältnissen, während die klaustrophobische Situation des Puppenpaares sich eher aus seiner Engstirnigkeit ergibt und durch seine Umgebung noch forciert wird. Der kom altid flere og flere Fremmede; den ene Muus var færdig at træde den anden ihjel [...]. Hele Stuen var ligesom Gangen smurt med Fleskesvær, det var hele Beværtningen, men til Desert blev der fremviist en Ært, som en lille Muus af Familien havde bidt Brudeparrets Navn ind i, det vil sige det første Bogstav; det var noget ganske overordentligt. (Es kamen immer mehr Gäste; die Mäuse traten sich beinahe gegenseitig tot [...]. Die ganze Stube war genauso wie der Gang mit Speckschwarte eingeschmiert, das war die ganze Bewirtung, aber als Nachtisch wurde eine Erbse herumgezeigt, in die ein Mäus- 1028 EoH 1, S. 248; SM(TD) 1, S. 247. 1029 EoH 1, S. 248; SM(TD) 1, S. 246. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 216 chen aus der Verwandtschaft die Namen des Brautpaares hineingebissen hatte, das heißt den ersten Buchtstaben; das war etwas ganz Außerordentliches.) 1030 Die zusammengedrängte Masse ist potentiell tödlich. Die Armut des Brautpaares und seiner Gäste kann kaum noch kleinbürgerlich genannt werden: Nicht einmal für den ganzen Namen reichen die Erbsen. Wer unter dem Boden der Speisekammer lebt, muss sich mit guten Gesprächen statt guter Bewirtung zufrieden geben. Das könnte auch auf die menschlichen Kellerwohnungen des 19. Jahrhunderts zutreffen. Die Puppenhochzeit dagegen folgt einer ganz anderen Logik. Ole Lukøie erklärt: „[...] Din Søsters store Dukke, den der seer ud som et Mandfolk og kaldes Herman, skal giftes med Dukken Bertha, det er desuden Dukkens Geburtsdag og derfor skal der komme saa mange Presenter! “ „Ja, det kjender jeg nok,“ sagde Hjalmar, „altid naar Dukkerne trænge til nye Klæder saa lader min Søster dem have Geburtsdag eller holde Bryllup! det er vist skeet hundred Gange! “ „Ja, men i Nat er Brylluppet hundred og eet og naar hundred og eet er ude, saa er Alt forbi! derfor bliver ogsaa dette saa mageløst. See en Gang! “ („[...] Die große Puppe deiner Schwester, die so aussieht wie ein Mannsbild und Hermann genannt wird, die heiratet die Puppe Bertha, außerdem hat die Puppe Geburtstag, und darum gibt es sehr viele Geschenke! “ „Ja, das kenne ich schon! “ sagte Hjalmar. „Immer wenn die Puppen neue Kleider brauchen, dann läßt meine Schwester sie Geburtstag haben oder Hochzeit feiern! Das ist bestimmt hundertmal vorgekommen! “ „Ja, aber heute nacht ist Hochzeit Nummer hundertundeins, und wenn Hundertundeins vorbei ist, dann ist alles vorbei! Darum wird diese auch so unvergleichlich. Schau mal! “) 1031 Und Hjalmar sieht ein Brautpaar, das auf dem Boden sitzt und gedankenvoll vor sich hin blickt. Von freudiger Erregung keine Spur. In diesem Universum ist die Zuordnung zu Geschlechterrollen auf den ersten Blick sehr viel eindeutiger als bei den Mäusen. Die Puppen sehen wie Männer und Frauen aus und tragen dementsprechende Namen. Auch auf der Metaebene ist die Rollenzuordnung klar: Die Puppen gehören Hjalmars Schwester. Dennoch (oder deswegen) ist von der großen Liebe, die das Brautpaar von sich behauptet, wenig zu merken. Herman sieht eben nur aus wie ein Mann, ist aber keiner: Genau wie Bertha ist er aus Handschuhleder gemacht. 1032 Er ist ein Produkt von Männlichkeitsvorstellungen, die er zugleich formt. Der Unterschied zwischen beiden Puppen existiert nur äußerlich, sie sind aus dem gleichen Material. 1030 Ebd. 1031 EoH 1, S. 249; SM(TD) 1, S. 247. 1032 Vgl. EoH 1, S. 249; SM(TD) 1, S. 248. Umgekehrt trägt Ole Lukøie, der die beiden traut, Großmutters schwarzen Rock, was die geschlechtliche Uneindeutigkeit der Szene verstärkt. 3.2 Zeiten der Globalisierung 217 Im Spiel mit ihnen ist es jedoch gerade die Äußerlichkeit, die zentral ist. Das Spiel selbst ist eine Variation des Immergleichen: Geburtstag 1033 und Hochzeit. Diese Anlässe sind jedoch nur ein Vorwand, um Bertha neu einzukleiden. Die andauernde Wiederholung dieser Feste führt das Prinzip der Knappheit, auf dem beide basieren, ad absurdum. Stattdessen folgen sie einer anderen Logik, der Logik der Mode. In dieser Eigenschaft verkörpern sie die Quintessenz der modernen Zeitlichkeit. Bereits Georg Simmel hat gezeigt, wie sich der Wechsel der Moden beschleunigt und geographisch ausbreitet, während soziale Distinktion und Identitätsstiftung durch Kleidung immer komplexer werden. 1034 Der von Christopher Bayly beschriebene Mechanismus einer Uniformisierung bei gleichzeitiger Komplexitätssteigerung greift auch hier. 1035 Während Rollen einerseits durch Kleidung stabilisiert und angeglichen werden, vervielfältigen sie sich andererseits. Zugleich pluralisieren sich mit dem Wechsel der Moden die Möglichkeiten des Konsums. Die Puppenhochzeit wird von den umstehenden Möbeln mit einem Lied gefeiert, das der Melodie des Zapfenstreichs folgt. Die Heirat wird so mit dem Ende der freien Bewegung im Raum assoziiert, die der militärische Zapfenstreich bedeutet. Diese Assoziation bereitet auf das kommende Gespräch vor. Direkt im Anschluss an das Lied der Möbel fragt der Bräutigam: „’Skal vi nu ligge paa Landet, eller reise udenlands? ’“ („’Wollen wir nun in die Sommerfrische fahren oder ins Ausland? ’“) 1036 Zu Rate gezogen werden eine Schwalbe, die vielfach im Ausland war, und ein Huhn, das fünfmal Küken ausgebrütet hat. Während die Schwalbe die warmen Länder empfiehlt, rät das Huhn zu einem Aufenthalt im Kohlgarten; im Ausland drohten Hitze, giftige Tiere, Räuber und das Ungemach der Reise selbst. Dass Reisen wunderschön sein kann, hat Hjalmar jedoch bei der wundersamen Segeltour erfahren, auf die Ole Lukøie ihn am Dienstag geschickt hatte. „’[...] Det er et Skarn, som ikke finder at vort Land er det kjønneste! [...]’“ („’[...] Der ist ein Lump, der unser Land nicht am schönsten findet! [...]’”) 1037 ruft das Huhn aus, obwohl klar ist, dass es selbst noch nie das Land verlassen hat. Aber Bertha lässt sich gerne von ihm überzeugen. Mit dem Huhn wird das Motiv der Hühner von Onsdag (Mittwoch) wieder aufgegriffen, die sich über einen Storch lustig machen, der von Afrika erzählt. Weil sie ihn nicht verstehen, sind sie sich einig darüber, dass er dumm sein muss, und treiben Spott mit ihm. 1038 Unwissenheit und Intoleranz werden in Onsdag direkt assoziiert mit der Unfähigkeit, sich auf das Erlebnis unbekannter Räume einzulassen. Walter Benjamin äußert zur Neuheit im Passagen-Werk: 1033 Dass das Wort auch im dänischen Original zur Hälfte deutsch ist, zeigt die noch unvollständige Absonderung von Dänisch und Deutsch an. Vgl. S. f., 9 f. 1034 Vgl. Simmel 1995b. 1035 Vgl. Bayly 2006, S. 29-37. 1036 EoH 1, S. 249; SM(TD) 1, S. 248. 1037 EoH 1, S. 250; SM(TD) 1, S. 249. 1038 Vgl. EoH 1, S. 246 f.; SM(TD) 1, S. 244 f. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 218 Das „Moderne“ die Zeit der Hölle. Die Höllenstrafen sind jeweils das Neueste, was es auf diesem Gebiete gibt. Es handelt sich nicht darum, daß „immer wieder dasselbe“ geschieht, geschweige daß hier von der ewigen Wiederkunft die Rede wäre. Es handelt sich vielmehr darum, daß das Gesicht der Welt gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, daß dies Neueste in allen Stücken immer das Nämliche bleibt. - Das konstituiert die Ewigkeit der Hölle. Die Totalität der Züge zu bestimmen, in denen das „Moderne“ sich ausprägt, hieße die Hölle darstellen. 1039 Die Ewigkeit der Hölle als das Neueste, das in allen Stücken das Nämliche bleibt - Berthas Existenz könnte nicht besser charakterisiert werden. Ihre immer neuen Kleider bringen kein anderes Leben. Dass das Eventyr demgegenüber das potentiell Andere und Neue in der migrantischen Existenz der Schwalbe und des Storches verortet, macht seine globale Dimension aus. Das Motiv rasant wechselnder Moden findet sich auch in Dryaden. Nachdem der Baumgeist seinen Baum verlassen hat, verwandelt sich seine Kleidung mit jeder neuen Stelle, die er erreicht, und gleicht sich dieser an. 1040 Mode wird hier zum Ausdruck eines ständigen Wandels und der Anpassung an Ortswechsel, der verbunden ist mit der modernen Beschleunigung, die das Märchen eindrucksvoll illustriert. 1041 Die Entwicklung der Dryade lässt sich auch als Folge der beschleunigten Warenzirkulation interpretieren. Als Ding-Mensch ist die Dryade Teil eines Baums, der ohne sie und ohne den sie nicht leben kann. Diese Ausgangsfigur, die auf dem Land und in einer nichtlinearen Zeitordnung angesiedelt ist, 1042 kann gelesen werden als Illustration eines Zustandes des Einwohnens und Verwachsenseins von Ding und Mensch. Dagegen gilt für die industrialisierte, arbeitsteilige Welt des Kapitalismus nach Simmel: „Dinge und Menschen sind auseinandergetreten“, weil der „innere[n] Aneignungs- und Einwurzelungsprozeß zwischen Subjekt und Objekt“ 1043 unterbrochen worden ist. Die Beschleunigung von Austauschprozessen durch immer rasanter zirkulierende Waren löst Ding-Mensch-Bindungen auf und ersetzt sie durch neue Zusammenhänge zwischen Dingen und Menschen, die sich unter anderem als Warenverhältnisse charakterisieren lassen. Dryaden liefert mit dem Auseinandertreten von Dryade und Kastanienbaum ein Bild der Auflösung traditioneller Strukturen und der daraus erwachsenden neuen Flüchtigkeit. Der Begriff der Wurzellosigkeit 1039 Benjamin 1991, S. 676. 1040 Vgl. EoH 3, S. 207. 1041 Der rasante Wechsel der Moden im 19. Jahrhundert ist von der Globalisierung der Textilproduktion nicht zu trennen. Mit neuen Maschinen erweiterte sich die Vielfalt der Produkte. Ein transnationaler Wissenstransfer verband sich mit den Maschinen. Zudem hatte sich eine globale Arbeitsteilung von Baumwollanbau und -verarbeitung etabliert. Der amerikanische Baumwollhandel, der aufgrund der Sklaverei auf den Plantagen eng mit Afrika verbunden ist, wuchs zwischen 1815 und 1830 mit über tausend Prozent. Vgl. Black/ Garland 1980, S. 175. 1042 Vgl. Depenbrock/ Detering 1991, S. 369 f., 376 f.; de Mylius 1976, S. 126-131. 1043 Simmel 1989, S. 520 f. Dem Ding-Mensch-Verhältnis in Dryaden gehe ich auch in einem bereits erschienen Aufsatz (Felcht 2010a) nach. Die Gewichtung der einzelnen Aspekte unterscheidet sich in dieser Interpretation von derjenigen der vorliegenden Arbeit, die zudem umfassender ist. 3.2 Zeiten der Globalisierung 219 und das mit ihm verbundene Wortfeld treten in diesem Zusammenhang immer wieder auf. 1044 Beim Verlassen des Baumes durch die Dryade handelt es sich nicht nur um ein Auseinandertreten von Ding und Mensch, sondern zugleich um ein Auseinandertreten von Mensch und Natur. Der Preis dieser Trennung wird durch den Tod der Vorgängerkastanie in der schlechten Stadtluft benannt. Die Umweltverschmutzung ist eine Folge des unaufhaltsamen ökonomischen Wachstums, das die Zahl zirkulierender Menschen und Dinge ins Unermessliche steigert. Dryaden ist aber zugleich kein Märchen, das einer romantischen Verklärung der Vergangenheit unterliegt. Die Einheit mit der Natur und der ihr einwohnenden traditionellen Kultur bedeutet auch Gefangenschaft. Die Distanz zu einer romantisch inspirierten Sehnsucht nach Vergangenheit und Natürlichkeit ist deutlich markiert: Die Sehnsucht der Dryade richtet sich auf die Stadt als Ort äußerster Entfremdung, aber eben auch größter Freiheit; für die später auftretende Figur einer alten Ratte zeichnet sich die wunderbare Zeit der Romantik insbesondere durch die große Zahl an Pesttoten aus. 1045 Beschleunigung und Verlust der natürlichen Zeit werden in Dryaden vielfach angesprochen. Bereits das Einstiegsbild der Ersetzung eines abgestorbenen Kastanienbaumes durch einen herbeigeschafften neuen stellt den Kontrast zum anschließend erzählten langsamen Wachstum der Kastanie in der nun verlorenen Zeit der Kindheit dieses Baums. 1046 Die Warenzirkulation hebt die natürliche Langsamkeit des Wachstums auf und bedeutet zugleich den Versuch, den Tod, verkörpert durch den toten Baum, zu verdrängen, indem man das Abgestorbene sogleich durch Neues ersetzt. 1047 Die Geschwindigkeitserhöhung verbindet sich auch im Text mit dem Aufkommen neuer Transporttechniken. Mit dem ersten Auftreten der Eisenbahn werden Beschleunigung und Rastlosigkeit sprachrhythmisch durch den eher parataktischen, rhythmisierten Satzbau nachvollzogen. Insgesamt spiegelt sich das Motiv der Beschleunigung auch in der Textstruktur wider: Die einzelnen Abschnitte werden zunehmend kürzer. Verbunden mit der Dynamisierung ist ein qualitativer Wandel. 1048 „’Lev vel! ’ blev ‚afsted! afsted! ’“ („Das ‚Lebwohl! ’ wurde zu einem ‚Davon! davon! ’“) 1049 , heißt es bei der Abreise der Dryade - hier kündigt sich an, dass mit dem Rhythmuswechsel ein anderes Leben verbunden ist: das „Wohlleben“ wird abgelöst von einer permanenten Jagd nach Neuem. Der Endpunkt der Reise ist die moderne Großstadt, die in Dryaden wie bei Georg Simmel durch ihre ständig wechselnden 1044 Vgl. Jørgensen 2007a, S. 203 f., 210. 1045 Vgl. EoH 3, S. 209 f.; SM(D), S. 156 f.; Fechner-Smarlsy 1996, S. 92 f. 1046 Vgl. EoH 3, S. 197; SM(D), S. 139 f.; de Mylius 1976, S. 130. 1047 Zur Verdrängung des Todes durch Beschleunigung der Waren vgl. Benjamin 1991, S. 111 (Fragment B 1, 4); Hörisch 1998, S. 174. 1048 Vgl. Depenbrock/ Detering 1991, S. 371-373; Fechner-Smarsly 1996, S. 87 f.; Jørgensen 2007a, S. 203 f., 210. 1049 EoH 3, S. 204; SM(D), S. 148. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 220 Sinneseindrücke charakterisiert wird. 1050 Der bacchantische Versuch, dem Horror vacui zu entkommen, impliziert aber eine umso fundamentalere Vergänglichkeit. Vergänglich ist einerseits die Warenwunderwelt der Weltausstellung, dargestellt durch die Metapher der Lotusblume, die vergeht, ohne Blatt oder Wurzel zu hinterlassen. 1051 Vergänglichkeit und Wurzellosigkeit werden hier eng verbunden. 1052 Implizit ist diese Vergänglichkeit auch in der realen Ausstellung selbst angelegt: Es handelte sich bei den Ausstellungshallen um ein temporäres Bauwerk, dem seine kurze Lebenszeit eingeschrieben war. 1053 Dieser Vergänglichkeit entspricht auch die Eigenschaft der Weltausstellung, ein mediales Ereignis zu sein, das sich durch eine begrenzte Dauer auszeichnen muss, um Aufmerksamkeit erregen zu können. Der Text nimmt Elemente journalistischen Schreibens auf, wie Jakob Stougaard-Nielsen am Beispiel von Weltausstellungsartikeln der Illustreret Tidende (Illustrierten Zeitung) vorführt. 1054 Dryaden markiert jedoch in einer längeren Passage auch Distanz zwischen der Erzählerposition und Beschreibungen der Ausstellung, die als mediale Berichterstattung gelesen werden können. Die Beschreibungen der Weltausstellung werden hier in Anführungszeichen gesetzt und durch die Formulierungen „sagde de“ („sagten sie“), „sagde Andre“ („sagten andere“) „lød det“ („hieß es“) als Wiedergabe unterschiedlicher Stimmen gekennzeichnet und zuletzt als Nachrichten charakterisiert, wenn es heißt: „Tilvisse saaledes var det, saaledes lød Efterretninger derom, hvo hørte det ikke? “ („Ja gewiß, so war es, so klangen die Nachrichten davon, wer hörte sie nicht? “) 1055 Alle Leserinnen und Leser des Eventyrs, so setzt der Erzähler voraus, haben aufgrund dieser Berichterstattung vom Ereignis gehört. Damit wird eine weitreichende Einbindung in transnationale Nachrichtennetzwerke vorausgesetzt, die im 19. Jahrhundert tatsächlich stattfand. Einerseits entwickelte sich eine immer umfassendere Leserschaft, andererseits globalisierten sich die Nachrichten. Die im Märchen selbst genannten Telegraphendrähte 1056 hatten daran wesentlich Teil, indem sie eine schnelle und weitreichende Nachrichtenübermittlung erlaubten. 1057 Mit den Zeitungen verbindet sich zugleich der beschleunigte Rhythmus der Neuigkeit. In H. C. Andersen og avisen (H. C. Andersen und die Zeitung) schreibt Mogens Brøndsted: „Digterne skriver for evigheden - eller forsøger vel på det; pressen skriver for døgnet.“ 1058 („Die Dichter schreiben für die Ewigkeit - oder versuchen es zumindest; die Presse schreibt für den Tag.“ [Übers. F. F.]) Die Zeitstruktur von Dryaden entspricht diesem Spannungsverhältnis. Der Text konfrontiert die Leser 1050 Vgl. Fechner-Smarlsy 1996, S. 86 f.; Simmel 1995a; Stougaard-Nielsen 2006, S. 133-145; Zerlang 2002a, S. 69-82. 1051 Vgl. EoH 3, S. 200; SM(D), S. 144. 1052 Jørgensen 2007a, S. 203 f. 1053 Dies sorgte im Vorfeld der Ausstellung auch für Diskussionen. Vgl. Walch 1967, S. 41-48. 1054 Vgl. Stougaard-Nielsen 2006, S. 145-151. 1055 EoH 3, S. 200 f.; SM(D), S. 144-146. 1056 Vgl. EoH 3, S. 209; SM(D), S. 156. 1057 Vgl. Osterhammel 2009, S. 71-76. 1058 Brøndsted 1972, S. 9. 3.2 Zeiten der Globalisierung 221 einerseits mit dem Tempo der Zeitungen und ihres Ortes, der Großstadt, die ein Zentrum des beschleunigten Informationsaustauschs ist. Andererseits blickt er aus einer Perspektive der Dauer auf dieses Geschehen, wenn er die potentielle Langfristigkeit der Dryadenexistenz und die geruhsame Lebenswelt ihrer Vergangenheit ihrer neuen Vergänglichkeit gegenüberstellt. Die Charakterisierung der Zeit als „Eventyrets Tid“ („Zeit des Märchens“) ist ambivalent, indem der Text den Untergang der alten Zeit des Märchens durch den Tod der Dryade und den Untergang ihrer alten Lebenswelt ebenso zeigt wie er die neuen Technologien und Produkte als Wunder der Gegenwart erscheinen lässt. 1059 Vergänglich sind in Dryaden nämlich nicht nur die Eindrücke der Weltausstellung, sondern auch die märchenhafte Hauptfigur selbst, die am Ende ebenfalls nur eine in den Kies getretene Blüte zurücklässt. 1060 Sie bezahlt ihre Sehnsucht nach Bewegung mit der Verkürzung der Lebenszeit auf eine Nacht. Das wahre Gesicht der neuen Zeit blitzt in der Kennzeichnung als „det vidunderlige Nye, og dog saa Kjendte“ („das wunderbare Neue und doch so Vertraute“) 1061 , das die Dryade sich erträumt, auf. Das Leben in Paris präsentiert sich ihr als „vexlende og dog altid det Samme“ („wechselnd und doch immer dasselbe“) 1062 . Auch diese Charakterisierungen lassen sich mit Benjamins Gedanken zu Neuestem und Nämlichen interpretieren. Die Moderne, so läuft als Subtext durch das Märchen, ist in mancher Hinsicht nur scheinbar „Eventyrets Tid“ („die Zeit des Märchens“) 1063 , wie der Text jubilierend behauptet. Denn am Ende des Textes steht der Tod der Dryade. Jens Tismars Interpretation des Märchens nimmt diese Ambivalenzen nicht zur Kenntnis und kann nur vor diesem Hintergrund Andersen ausschließlich Fortschrittsoptimismus unterstellen. 1064 Die neue Zeit ist in Dryaden voller Wunder, aber zugleich die Zeit der Hölle, wie Benjamin sie sieht. Die Neuigkeit beschleunigt sich in der Moderne, wie bereits anhand der Mode und des Nachrichtenwesens deutlich wurde. Ihr Gegenstück ist die Langeweile, die auch die Dryade in Paris schnell erfasst. 1065 Die Langeweile wird nicht zufällig aufgelöst durch die Bewegung der Dryade zu neuen Orten. Die Produktion des Neuen impliziert dadurch auch einen räumlichen Vernetzungsprozess, wie abschließend anhand von Om Aartusinder (In Jahrtausenden) (1860) skizziert wird. 1059 Vgl. Depenbrock/ Detering 1991, S. 367 f.; de Mylius 1976, S. 126-131. 1060 Vgl. EoH 3, S. 215. SM(D) (S. 165) übersetzt „Gruset“ (meist mit Kies/ Schotter/ Schutt übersetzt) mit „Dreck“. 1061 EoH 3, S. 202; SM(D), S. 148. 1062 EoH 3, S. 205; SM(D), S. 151. 1063 EoH 3, S. 197; SM(D), S. 139; vgl. EoH 3, S. 215; SM(D), S. 165. 1064 Der Fortschrittsgedanke wird zudem auf dingtheoretischer Ebene grundlegend durch die Funktionsweise der globalen Warenwelten destruiert, wie die Analyse in Kapitel 3.3.2 zeigen wird. 1065 Vgl. EoH 3, S. 205 f.; SM(D), S. 151; Fechner-Smarsly 1996, S. 88. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 222 Om Aartusinder denkt die transporttechnische Erschließung der Welt mit einem temporeichen Tourismus zusammen. 1066 „Amerikas unge Beboere gjæste det gamle Europa. De komme til Mindesmærkerne her og til de da synkende Stæder, saaledes som vi i vor Tid drage til Syd-Asiens hensmuldrende Herligheder.“ („Die jungen Bewohner Amerikas besuchen das alte Europa. Sie kommen zu den Denkmälern und den zu jener Zeit versinkenden Stätten, so wie wir Heutige zu den zerfallenden Herrlichkeiten Südasiens ziehen.“) Schon hier ist das alte Europa Wirklichkeit. Es steht einem jungen Amerika gegenüber, das sich „paa Dampens Vinger igjennem Luften hen over Verdenshavet“ („auf den Flügeln des Dampfes durch die Lüfte über das Weltmeer“) 1067 auf die Reise macht, um „’[...] Fædrenes Land, Mindernes og Phantasiens deilige Land, Europa! ’“ („’[...] [das, F. F.] Land der Väter, das herrliche Land der Erinnerungen und der Phantasie, [...] Europa! ’“) 1068 zu besuchen. Europa hat für die Amerikaner die Funktion Asiens für die europäische Imagination des 19. Jahrhunderts übernommen. Die Provinzialisierung Europas erfolgt in Om Aartusinder als Orientalisierung des Okzidents, der zum Ort imaginierter Ursprünge und Heimstätte der Phantasie wird. 1069 Allerdings deutet die Figur eines reichen Mehlhändlers, der über seine Kornfelder blickt und dabei auf einem Hügel sitzt, unter dem die früheren Machthaber begraben liegen, 1070 an, dass auch Europa integriert ist in das kapitalistische System und den mit der Beschleunigung einhergehenden Verlust einer durch alte Traditionen vermittelten Beziehung zur Vergangenheit mit Amerika teilt. Die vorgestellte Erschließung des Luftraums, die an zeitgenössische technologische Experimente anknüpft, 1071 erlaubt eine Form der Fortbewegung, in der es nur noch zu punktuellen Aufenthalten kommt. Reiseweg und Reiseziel emanzipieren sich voneinander. Die Reise steht ganz im Zeichen der Beschleunigung: „Luftskibet kommer; det er overfyldt med Reisende, thi Farten er hurtigere end tilsøes; den electromagnetiske Traad under Verdenshavet har allerede telegrapheret, hvor stor Luft-Karavanen er.“ („Das Luftschiff kommt; es ist von Reisenden überfüllt, denn die Fahrt geht schneller als zur See; der elektromagnetische Draht unter dem Weltmeer hat schon telegraphiert, wie groß die Luftkarawane ist.“) 1072 Über Irland schlafen die Gäste noch; erst in England möchten sie geweckt werden. Die Orte, die besucht werden, sind festgelegt. Am Schluss des Textes wird deutlich, dass diese 1066 Zur Entstehung dieser Form des Tourismus, die von Gegenbewegungen wie dem bewussten Erwandern einer Landschaft begleitet wurde, vgl. Löfgren 1999, S. 5-51; H. Andersen 2007. 1067 EoH 2, S. 72; SM(TD) 1, S. 570. 1068 EoH 2, S. 72; SM(TD) 1, S. 571. 1069 Der Begriff der Orientalisierung bezieht sich auf Said (2003); die Idee einer Provinzialisierung Europas auf Chakrabarty (2000). 1070 Vgl. EoH 2, S. 72; SM(TD) 1, S. 570 f. Den Hinweis auf diese Figur verdanke ich Johan de Mylius, der darin einen Verweis auf die Entstehung landwirtschaftlicher Großbetriebe in Dänemark erkennt. 1071 Vgl. Gibbs-Smith 1970, S. 21-35. Zu möglichen Inspirationsquellen vgl. auch Johnson 2004, S. 276-279. Zugleich greift der Text eine Episode aus der Fodreise auf. Vgl. Bl, S. 181 f.; FR, S. 29. Auch für diesen Hinweis danke ich Johan de Mylius. 1072 EoH 2, S. 72; SM(TD) 1, S. 571. 3.2 Zeiten der Globalisierung 223 Festlegung mit Hilfe eines Textes erfolgt ist, der die Funktion eines Reiseführers inne hat - ein Genre, das sich im 19. Jahrhundert zunehmend etablierte: „’I Europa er meget at see! ’ siger den unge Amerikaner; ‚og vi have seet det i otte Dage, og det lader sig gjøre, som den store Reisende’ - et Navn nævnes, der hører til deres Samtid - ’har viist i sit berømte Værk: ’Europa seet i otte Dage’.’“ („’In Europa gibt es vieles zu sehen! ’ sagt der junge Amerikaner; ’und wir haben es in acht Tagen gesehen; und es ist zu schaffen, wie der große Reisende’ - ein Name wird genannt, der zu ihren Zeitgenossen zählt - ‚es in seinem berühmten Werk gezeigt hat: ‚In acht Tagen durch Europa.’’“) 1073 Poul Houe beurteilt die Reisenden als „insipid“, sie befinden sich auf der Suche nach einem „target for their nostalgia.“ 1074 In Griechenland schlafen sie eine Nacht in einem Hotel auf dem Gipfel des Olymps - „saa har man været der“ („damit man dagewesen ist“) 1075 . Es geht um das Abhaken einer Liste von Sehenswürdigkeiten. Einige Stunden kann am Bosporus geruht werden, einen Tag bekommt Deutschland und einen der Norden. Die Reise ist ein Muster an effektiver Zeitnutzung, die bereits mit der Anreise beginnt. Die Eindrücke wechseln einander zügig ab, die Gewöhnung an einen Ort ist nicht vorgesehen. „[D]eilige sortøiede Qvinder bygge og boe endnu i de blomstrende Dale“ („[S]chöne schwarzäugige Frauen bauen und wohnen noch in den blühenden Tälern“ [Übers. F. F,]) 1076 , heißt es zu Spanien. Auf Bauen und Wohnen folgt nicht zufällig ein „endnu“, in bestimmter Hinsicht sind sie Überbleibsel einer vergangenen Existenzform. Rom ist dem Erdboden gleichgemacht worden, an der Donau finden die Touristen die Überreste mächtiger Städte, die zeitlich zwischen dem „vi i vor Tid“, das etwa in der Entstehungszeit des Textes zu verorten ist, und der Reise der Amerikaner existiert haben müssen. Auch Om Aartusinder erwartet das Ende des (Ein-)Wohnens im alten Sinne, das Walter Benjamin nach dem 19. Jahrhundert kommen sah. 1077 Dieser untergegangenen Dauerhaftigkeit steht ein neues Bauwerk gegenüber: „Canal-Tunnelen“ („[der] Kanaltunnel“) 1078 zwischen England und Frankreich, eine Passage. Eine solche stellt auch der Text selbst dar, der die Zeichen der Zeit - die Anfänge der Luftfahrt und der Überseetelegraphie sowie die Pläne zu einem Ärmelkanaltunnel 1079 ebenso wie die Entstehung eines modernen Tourismus - zu lesen weiß und dadurch auch eine Brücke in die Zukunft wird. Poul Houe zeigt auf, wie die Auflösung zeitlicher und räumlicher Strukturen, die der Text im Untergang der vorherigen Geschlechter und ihrer Gebäude nachzeichnet, auch das Narrativ selbst erfasst, in dem der Standpunkt des Erzählers sich chronologisch nicht eindeutig verorten lässt. Die Frage nach der Zukunft, die der Text 1073 EoH 2, S. 73; SM(TD) 1, S. 573. 1074 Houe 1999, S. 98. 1075 EoH 2, S. 73; SM(TD) 1, S. 572. 1076 EoH 2, S. 72. In SM(TD) 1 (S. 572) fehlen „bauen“ und „noch“. 1077 Vgl. Benjamin 1991, S. 291 f. 1078 EoH 2, S. 72; SM(TD) 1, S. 571. 1079 Vgl. Brøndsted 58 f.; EoH, S. 471; SM(TD) 1, S. 570 f. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 224 stellt, beantworte er mit der Vergänglichkeit, der alle Geschlechter unterliegen und in der die Dauerhaftigkeit des Laufes der Geschichte liege, 1080 and the ridiculous rush from one place to another for all eternity is no escape from the predictable outcome of time, which is already available in the form of century-old memories and fantasies and the same „deilige sortøiede Qvinder [som] bygge og boe endnu i de blomstrende Dale“ in Spain. Andersen is an avowed idealist. But he is reaching - and all but crossing - the boundaries of his ideals. Traveling the world in order to have new experiences is an effort in vain. As an outward pursuit of new places and new times, travel is doomed to foil the traveler, and to foil him all the more so, if his mode of traveling is advanced. Yet to arrive at this negative conclusion it is necessary to travel inwards: to embark upon a journey of the mind and to imagine the future as an endless renewal of déjà-vu’s. The narrative is able to confirm a state of permanence but only by subjecting it to accelerating transitions. 1081 Unsterblickeit ist nur um den Preis steter Veränderung möglich, so Houes Fazit, das an Deterings Phoenix Principle denken lässt. 1082 Houes Interpretation hat eine internalistische Tendenz, die es zu relativieren gilt. Om Aartusinder zeigt zwar die Unmöglichkeit, Erfahrungen (im Unterschied zu Erlebnissen) 1083 bei einem hektischen Sightseeingtourismus zu sammeln. Diese Demonstration erfolgt jedoch anhand der Beobachtung dieses Tourismus, nicht durch seine Kontrastierung mit einem In-sich-Gehen. Auch in anderen Texten Andersens, die positive Reisefiguren zeigen, geht es nicht um einen von der Außenwelt abgekoppelten „state of mind“. Die Figuren der Eventyr og Historier, die Erfahrungen machen, wie beispielsweise der Storch in Ole Lukøie, reisen keineswegs nur „inwards“. Vielmehr beschreiben die in Andersens Texten vielfach wiederkehrenden Figuren Storch oder Schwalbe migrantische Existenzen. Deren Rhythmus ist langsamer als derjenige der jungen Amerikaner und ihre Haltung zeichnet sich auch durch eine größere Offenheit aus, da sie nicht vorab auf kanonische Sehenswürdigkeiten festgelegt sind. Aber auch sie bewegen sich im Raum. Und umgekehrt beginnen die Erfahrungen, sich im Raum zu bewegen: als literarische Texte. Das gilt insbesondere für die Eventyr og Historier. Houes idealistischer Lesart kann die materielle Konkretheit dieser Bewegungen gegenübergestellt werden. Während Houe die Dauer an ein erkennendes Subjekt bindet und den Wandel an die „Welt“ (als materielle Erscheinungsform), konstruiert der Text Dauer eher als fortgesetzte und untrennbare Beziehung von Welt und Mensch, deren konkrete Gestalt sich laufend verändert. 1080 Vgl. EoH 2, S. 72; Houe 1999, S. 98 f. 1081 Houe 1999. S. 99. 1082 Vgl. Detering 1999 und S. 1 dieser Arbeit. 1083 S. o. S. 1 , Fußnote 19. 3.2 Zeiten der Globalisierung 225 3.2.2 „lavet, klistret, tegnet“: Geschichte(n) erzählen Auch in Om Aartusinder begegnet uns der bereits aus Det nye Aarhundredes Musa bekannte Versuch, ein kulturelles Gedächtnis der Zukunft zu entwerfen. In Om Aartusinder ist England das Land Shakespeares, der Politik und Maschinen; in Frankreich denken die Reisenden an Karl den Großen, Napoleon, Molière, die gebildeten unter ihnen auch an die klassische und romantische Schule; Spanien wird als Startpunkt von Columbus, Geburtsort von Calderón und Cortés erinnert. Deutschland war einmal das Land des dichtesten Eisenbahn- und Kanalnetzes und das Land, in dem Luther, Goethe und Mozart wirkten. Zum Norden gehörten Ørsted und Linné. Wie in Det nye Aarhundredes Musa sind auch in Om Aartusinder die Erinnerungsstrukturen eng verbunden mit technischen Netzwerken. Zugleich situieren sie Europa als untergegangene Kultur auf einem imaginären Zeitpfeil, an dessen Spitze nun Amerika steht. Diese Struktur ist Ausdruck einer Temporalisierung des Raums, die jedoch durch die Verschiebung Europas auf die Position des Anderen gebrochen wird. Durch den zusätzlich in einer linearen Zeitstruktur nicht eindeutig zu verortenden Standpunkt des Erzählers wird deutlich, dass Geschichte in den Eventyr og Historier anders erzählt wird, als Dipesh Chakrabarty dies für weite Teile der europäischen Historiographie beschreibt und kritisiert. Dem komplexen Verhältnis von Geschichte und Erzählen in den Eventyr og Historier geht auch die folgende Analyse nach. 1084 Gudfaders Billedbog (Des Paten Bilderbuch) (1868) erzählt die Geschichte Kopenhagens. Andersen hat in den Bemærkninger til Eventyr og Historier (1874) dem Text selbst eine Geschichte gegeben. Ein befreundeter Konferenzrat hatte in Paris ein Theaterstück über die Geschichte von Paris gesehen und war enttäuscht von der Umsetzung der Idee. Er schlug Andersen daraufhin vor, für das Casino ein Schauspiel über Kopenhagen zu schreiben und dabei „mere digterisk Beaandelse“ („mehr dichterischen Geist“ [Übers. F. F.]) 1085 zu beweisen. Andersen beschäftigte sich mit der Idee, gab das Drama jedoch auf und schuf stattdessen ein Bilderbuch aus ausgeschnittenen Bildern und Texten. Daraus wurde eine Geschichte, die in gekürzter Fassung in der Illustreret Tidende abgedruckt wurde. Anschließend fand die Geschichte Platz zwischen den Reiseskizzer of Pennetegninger (Reiseskizzen und Federzeichnungen) einer Werkausgabe. Die Kritik jedoch meinte, sie gehöre zu den Eventyr og Historier, in die sie letztlich aufgenommen wurde. 1086 Die Geschichte, die Andersen seiner Geschichte gibt, ist voll von Übersetzungsprozessen: Länder, Medien, Gattungen wechseln einander ab. Helge Topsøe-Jensen erklärt, dass es unwahrscheinlich ist, dass es tatsächlich ein Bilderbuch mit dem Titel „Kjøbenhavns Liv og Levnet seet ved Tran og Gas“ („Ko- 1084 Oldefa’er (Urgroßvater) (1870) ist in diesem Zusammenhang ebenfalls außerordentlich interessant. Vgl. Felcht 2009. 1085 EoH 3, S. 394. 1086 Vgl. ebd. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 226 penhagens Leben und Lebensart gesehen durch Tran und Gas“ [Übers. F. F.]) 1087 gegeben hat, wie Andersen in den Bemærkninger behauptet, aber dass Andersen Bilderbücher zitiert, die er in den 1850er und 1860er Jahren ausgewählten Kindern schenkte. 1088 Zudem weist Topsøe-Jensen nach, wie eng Gudfaders Billedbog sich an L. J. Flamands Kjøbenhavn, dens ældre og nyere Historie, samt Beskrivelse (Kopenhagen, seine ältere und neuere Geschichte, nebst Beschreibung) (1855) anlehnt. 1089 Bei den historischen Angaben berücksichtigte Andersen außerdem Anregungen eines befreundeten Historikers. 1090 Stellenweise verlagerte der Text aber Handlungen nach Kopenhagen, obwohl sie dort nicht stattgefunden hatten. Topsøe-Jensen begründet dies damit, dass Andersen diese Geschichten so spannend erschienen, dass er sie nicht auslassen wollte, 1091 also dem Unterhaltungsbedürfnis seiner Leserschaft entgegen kam. Die Geschichte des Textes Gudfaders Billedbog, die Andersen erzählt, beschreibt eine Abgrenzung von dem französischen Vorbild, das den Anstoß zur Entstehung des Textes gab: Andersen soll ein besseres Stück schreiben als das französische Original. Darin spiegelt sich ein Mechanismus wieder, der weite Teile der Literatur und der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts betrifft: Sie beginnen als Absetzbewegung und wären gerade deshalb ohne den Bezug auf ein Anderes nie entstanden. Die Bemærkninger thematisieren im Folgenden besonders den Wandel der ästhetischen Ausdrucksformen beziehungsweise ihrer Klassifizierung, denen der Text nach diesem Anstoß unterworfen war. Die Geschichte, die Topsøe-Jensen ergänzt, bindet Gudfaders Billedbog stärker an die Historiographie, mit der er das Projekt, Geschichte zu erzählen, teilt. Gudfaders Billedbog selbst reflektiert über die Möglichkeiten, Geschichte zu erzählen, indem der Text zu Beginn sehr unterschiedliche Sprecher zu Wort kommen lässt. Zunächst hören wir von einem Ich-Erzähler: Gudfader kunde fortælle Historier, saa mange og saa lange, han kunne klippe Billeder og tegne Billeder [...] Deiligst var det naar Gudfader selv viste Bogen frem, læste Versene og det andet Skrevne, og saa fortalte dertil Saameget; da blev Historien just en rigtig Historie. (Der Pate konnte Geschichten erzählen, ganz viele und ganz lange, er konnte Bilder ausschneiden und Bilder zeichnen [...] 1087 EoH 3, S. 394. 1088 Vgl. Topsøe-Jensen 1966b, S. 49-51. Die Bilderbücher sind teilweise erhalten und ungeheuer sehenswert. Astrid Stampes und Charlotte Melchiors Buch sind als Scan im Netz unter den folgenden Links zugänglich: http: / / www.museum.odense.dk/ andersen/ billedbog/ stampe.asp; http: / / www.museum.odense.dk/ andersen/ billedbog/ melchior.asp (letzter Besuch am 30. Juli 2012). 1089 Vgl. Topsøe-Jensen 1966b, S. 47-49. 1090 Vgl. ebd., S. 55-59. 1091 Vgl. ebd., S. 56, 66 f. 3.2 Zeiten der Globalisierung 227 Am schönsten war es, wenn der Pate selber das Buch zeigte, die Verse und das übrige Geschriebene vorlas und dazu so viel erzählte; dann wurde die Geschichte erst so richtig eine Geschichte.) 1092 - „en rigtig Historie“, das ist für den Ich-Erzähler eine Geschichte, die alle Sinne anspricht. Im Anschluss übernimmt der Pate die Erzählerrolle. Er lässt sich zu einer Stadtgeschichte anregen, als in Kopenhagen die Umstellung von Tranauf Gaslaternen stattfindet. Er stellt sich vor, wie die Tranleuchten ihre Verabschiedung zum Anlass nehmen, noch einmal die Geschichte Kopenhagens zu erzählen, der sie beigewohnt haben. Sie erhalten nun das Wort. Die Tranlaternen merken zu den neuen Lampen an: „[...] De skinne jo nok lidt stærkere, end vi Gamle, men det er da ingen Sag, naar man er støbt som Gas-Candelaber og har saadanne Forbindelser som de have, den Ene hælder i den Anden! De have Rør til alle Kanter og kunne hente Kræfter i Byen og udenfor Byen! “ („[...] Sie haben allerdings einen etwas stärkeren Schein als wir alten, aber das ist doch nicht zu verwundern, wenn man als Gaskandelaber gegossen wird und solche Beziehungen hat wie die, der eine lehnt sich an den anderen an! Sie haben Rohre nach allen Richtungen und können sich Kräfte in der Stadt und von außerhalb der Stadt holen! [...]“) 1093 Die neuen Technologien formen Netzwerke, stehen in Verbindung und leuchten intensiver, aber ihre Lebensdauer wird vermutlich unter jener der Tranlampen liegen: „’[...] Menneskene finde nok paa en stærkere Belysning end Gas. [...]’“ („’[...] Die Menschen erfinden bestimmt eine stärkere Beleuchtung als Gas. [...]’“) 1094 Die moderne Beschleunigung impliziert das rasche Veralten der Technologie, auch hier finden wir Beschleunigung und gesteigerte Vergänglichkeit. Es sind im Folgenden jedoch nicht die Tranlampen, die erzählen, sondern der Pate. Denn die Ursprünge Kopenhagens in Gudfaders Billedbog liegen vor der Existenz von Menschen und Dingen, sind allein begleitet von Wind und natürlichem Licht. Erst mit den Wikingern, im Anschluss an die Worte „’Nu vende vi Bladet! ’“ („’Jetzt blättern wir um! ’“) 1095 , erscheint die erste Tranlampe. Die Bilder des Mittelalters, die der Pate dann zeigt, sind bevölkert von Räubern und Piraten, die grausam bestraft werden. Durch Einschübe wie „’Nu springe vi Aaringer frem! ’“ („’Nun gehen wir viele Jahre weiter! ’“), „’Nu blade vi frem i vor Billedbog! ’“ („’Nun blättern wir weiter in unserem Bilderbuch! ’“), „’Nu kommer et Blad, Du skal rigtig see paa! ’“ („’Jetzt kommt eine Seite, die du dir genau anschauen mußt! ’“) 1096 wird die Erzählung als Konstruktion erkennbar. 1092 EoH 3, S. 166; SM(TD) 2, S. 478. 1093 EoH 3, S. 167; SM(TD) 2, S. 481. 1094 EoH 3, S. 168; SM(TD) 2, S. 482. 1095 EoH 3, S. 169; SM(TD) 2, S. 484. 1096 EoH 3, S. 173 f., 178; SM(TD) 2, S. 491 f., 499. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 228 Neben den im Text enthaltenen Verweisen auf die Bildlichkeit des Erzählten finden wir historiographische und literarische Intertexte. So wird beispielsweise mit Grundtvig eine für das Geschichtsverständnis Dänemarks zentrale Figur zitiert oder auf die Riimkrønike (Reimchronik) verwiesen. 1097 In Verbindung mit letzterer erinnert Gudfaders Billedbog auch an den ersten Buchdrucker Dänemarks, den Holländer Gotfred van Gehmen, und beschreibt die Ausbreitung von Büchern, die König und Bürgertum erreichen. Hierdurch gelangen Sprichwörter und Lieder zu ewigem Leben, auch in Gudfaders Billedbog singt „Folkesangens Fugl“ 1098 . So thematisiert Gudfaders Billedbog auch die Medialität des Geschichte-Erzählens, an der der Text selbst Teil hat. Mit der Erstveröffentlichung in der Illustreret Tidende wird der im Text beschriebene mit dem Buchdruck einsetzende Ausbreitungsprozess durch ihn selbst fortgeführt, aktualisiert und gesteigert. Die Metapher „Folkesangens Fugl“ etabliert zudem eine intertextuelle Verbindung mit dem gleichnamigen Märchen Andersens, das 1864 veröffentlicht worden war. Der Intertext stützt die positive Charakterisierung der folkeviser, die in Gudfaders Billedbog „forblommet og dog klart“, vor allem aber „frit“ („verblümt und dennoch deutlich“; „frei“) 1099 durch Bürgerstuben und Ritterburgen fliegen. Verweise auf andere Eventyr og Historier finden sich mehrfach. Das Kinderlied Rige Fugl kommer susende zeigt in Gudfaders Billedbog eine königliche und adlige Koalition an, die Bürger und Bauern unterdrückt; es wurde bereits in „Alt paa sin rette Plads! “ zitiert, um Arroganz und Rücksichtslosigkeit darzustellen. 1100 Der Figur des einsamen „Pebersvende“ 1101 , eines Gewürz- und Bierhändlers, der im Auftrag von Bremer Handelshäusern in Kopenhagen leben muss und dem das Heiraten verboten ist, hat Andersen mit Pebersvendens Nathue (Des Pfeffergesellen Nachtmütze) (1858) ein Märchen gewidmet. Damit funktioniert der Text als Netzwerk, reicht in seinen historischen und literarischen Intertexten über sich hinaus. Die Figuren in Gudfaders Billedbog zeichnen sich oft durch ein migrantisches Dasein aus: Piraten, Handlungsreisende, Christian II, Corfitz und Eleonore Ulfeldt, die aus Dänemark fliehen mussten, Tycho Brahe als Verkörperung des hochbegabten und zu wenig geschätzten Sohnes von Dänemark. Umgekehrt ist die Geschichte Kopenhagens geprägt von Angriffen von außen, von seiner Einbindung in Handelsnetzwerke und seiner Lage am Meer. Geschichte erweist sich in Gudfaders Billedbog als Ausschnitt eines größeren Netzwerkes, dessen Struktur man nicht begreifen kann, wenn man nur auf den Ausschnitt blickt und seine „Rør til alle Kanter“ („Rohre nach allen Richtungen“) 1102 vernachlässigt. 1097 Vgl. EoH 3, S. 170, 174, 185. Zu Grundtvig vgl. Lundgreen-Nielsen 1992a, S. 115-117, 130-136; 1992b. 1098 EoH 3, S. 174. Vgl. S. 15 dieser Arbeit. 1099 EoH 3, S. 174; SM(TD) 2, S. 492. 1100 Vgl. EoH 3, S. 177; SM(TD) 2, S. 497. Vgl. oben, S. 1 - . 1101 EoH 3, S. 170; vgl. SM(TD) 2, S. 486. 1102 EoH 3, S. 167; SM(TD) 2, S. 481. 3.2 Zeiten der Globalisierung 229 Insofern wäre es angemessener, wenn die Gasleuchten diese Geschichte erzählen würden anstelle der alten Tranlampen. „’[...] [H]ver af os Tranlygter lyser af hvad man selv har i sig og ikke ved Familieskab [...]’“ („’[...] [V]on uns Tranlaternen leuchtet eine jede von dem, was sie in sich hat, und nicht auf Grund von Familienbeziehungen [...]’“) 1103 , erklären die Tranlampen. Und vergessen dabei, dass der Tran nicht in ihnen erzeugt wurde. Im Gegenteil: Auch er hat in der Regel eine weite Reise hinter sich. Letztlich erzählen jedoch der Ich-Erzähler, der Pate und das Bilderbuch. Und zu dem Bilderbuch merkt der Pate an: „Du maa meget gerne vise En og Anden din Billedbog, Du maa ogsaa nok sige, at jeg har lavet, klistret, tegnet det hele Værk. Men det er en Livssag, at de strax vide, hvorfra jeg har faaet Ideen til den. [...] Ideen skyldes de gamle Tranlygter, der netop, sidste Aften de brændte, viste for Stadens Gascandelabre, som fata morgana, Alt hvad der var seet fra den første Lygte blev tændt ved Havnen til nu Kjøbenhavn i denne Aften belystes baade af Tran og af Gas.“ („Du darfst gern dem ein und anderen dein Bilderbuch zeigen, du darfst auch ruhig sagen, dass ich das ganze Werk gemacht, geklebt und gezeichnet habe. Aber es ist lebenswichtig, dass sie gleich wissen, woher ich die Idee dazu bekommen habe. [...] Die Idee verdankt sich den alten Tranleuchten, die, genau am letzten Abend als sie brannten, den Gaskandelabern der Stadt wie eine fata morgana alles zeigten, was sie gesehen haben, seit die erste Leuchte am Hafen angezündet wurde bis nun Kopenhagen an diesem Abend zugleich von Tran und Gas beleuchtet wurde.“ [Übers. F. F.]) 1104 Die Metaphorik des Beleuchtens, die den Text durchzieht, lässt einerseits an die Technik des Belichtens denken, die Andersen als einem der meistphotographierten Prominenten des 19. Jahrhunderts vertraut war. 1105 Für Johan de Mylius stellt Guldfaders Billedbog die Geschichte Kopenhagens als eine Reihe von Bildern dar, die den Weg vom Dunkel ins Licht weisen, dies auch ganz konkret durch den Austausch der mittelalterlichen Gaslampen gegen moderne Gasbeleuchtung. 1106 Diese Interpretation abstrahiert jedoch davon, dass diese Steigerung nicht kontinuierlich verläuft und die hellsten Momente des Textes wahrscheinlich die Augenblicke sind, in denen Kopenhagen weitgehend abbrennt. 1107 Im zitierten Abschnitt ist der Augenblick der Inspiration jener, in dem Tran und Gas zugleich leuchten. Es ist der Augenblick einer Superposition von alt und neu. Geschichte ist hier „lavet, klistret, tegnet“, sie ist eine Montage. Diese Gestalt erinnert an Walter Benjamins Versuch einer Geschichte des 19. Jahrhunderts, den wir nur als unvollendetes Passagen-Werk kennen. Eine solche Geschichte ist aufgrund ihrer Offenheit angreifbar. Deshalb schließt der Text auch mit dem Hinweis: „’[...] 1103 Ebd. 1104 EoH 3, S. 187. In der Übersetzung von Thyra Dohrenburg bleibt das Titelzitat dieses Kapitels leider nicht erhalten. Vgl. SM(TD) 2, S. 512. 1105 Vgl. Stougaard-Nielsen 2006, S. 129. Zu den neuen optischen Medien und ihrem Verhältnis zu anderen Texten Andersens vgl. auch Fechner-Smarlsly 1996; Horne Kjældgaard 2009. 1106 Vgl. de Mylius 2004, S. 302. 1107 Vgl. EoH 3, S. 183, 186; SM(TD) 2, S. 507 f., 510. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 230 Du maa vise Bogen til hvem Du vil, det vil sige, til Folk med milde Øine og venligt Sind, men kommer en Helhest - saa luk / Gudfaders Billedbog.’“ („’[...] Du darfst das Buch zeigen, wem du willst, das heißt, Leuten mit milden Augen und freundlichem Gemüt, aber wenn ein Höllenpferd kommt - dann klappe es zu, des Paten Bilderbuch.’“) 1108 Schon zu Beginn des Textes war Helhesten als Figur eingeführt worden, die in der Zeitung zu Hause ist und diese abends verlässt, um Dichter zu bedrohen, die dies nur überleben, wenn sie stark genug sind. Nach Topsøe-Jensen handelt sich um journalistische Kritiker, die der Pate fürchtet. 1109 Aber der eigentliche Erzähler des Textes ist nicht der Pate, sondern der Ich-Erzähler. Und der hat das Bilderbuch bereits zu Beginn zu „den deiligste af dem alle“ („das schönste von allen“) 1110 erklärt. 3.2.3 Dauer im Wandel: Reproduktion und Warenzirkulation Hørren - en Historie (Das Leinen oder Der Flachs - eine Geschichte) (1849) wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Die Geschichte ist eine Dingbiographie, in der ein heterodiegetischer Erzähler, eine Flachspflanze nebst den aus ihr hervorgehenden Produkten Leinwand, Unterwäsche und Papier sowie Zaunlatten und Kinder zu Wort kommen. 1111 Zu Beginn blicken wir mit dem heterodiegetischen Erzähler auf die Flachspflanze mit ihren schönen blauen Blüten. Sie wird von der Sonne beschienen und von Regenschauern bewässert, „og det var ligesaa godt for den som det er for Smaabørn at blive vaskede, og saa faae et Kys af Moder; de blive jo deraf meget deiligere.“ („und das tat ihm [dem Flachs, F. F.] ebenso gut, wie es kleinen Kindern guttut, gewaschen zu werden und dann von der Mutter einen Kuß zu bekommen; sie werden ja davon viel schöner.“) 1112 Durch diesen Vergleich wird das Leben der Pflanze einem kindlichen Zuhörer näher gebracht. Da Sonne und Regen, nicht aber die Erde erwähnt werden, ver isst Johann L. Tønnesson an dieser Stelle eine wesentliche pflanzliche Erfahrung. In seiner kunsttheoretischen Interpretation der Historie liest er die Sonne als Symbol für Segen von oben, das heißt von Gott, und betrachtet die Erde als Symbol für den Körper. „Andersens forkrøplede forhold til kroppen og hans angst for den fuktige jord - som vi kender fra hans biografi“ 1113 („Andersens verkümmertes Verhältnis zum Körper und seine Angst vor der feuchten Erde - die wir aus seiner Biographie kennen“ [Übers. F. F.]) führen nach Tønnesson zu einer kör- 1108 EoH 3, S. 187; SM(TD) 2, S. 512. 1109 Vgl. EoH 3, S. 166 f.; SM(TD) 2, S. 479 f.; Topsøe-Jensen 1966b, S. 51-53. 1110 EoH 3, S. 166; SM(TD) 2, S. 478. 1111 Vgl. Tønnesson 1999, S. 6 für eine Übersicht über die Erzähleinheiten. 1112 EoH 1, S. 454; SM(TD) 1, S. 490. De Mylius (2004, S. 346) hat den Beginn des Textes in seiner Interpretation offensichtlich überlesen, wenn er erklärt, die Blüte des Flachses erschienen nur indirekt, aus der Perspektive des Flachses, der das Wachsen derselben spürt. Auch in der von ihm verwendeten Ausgabe beginnt Hørren mit dem zitierten Bild. 1113 Tønnesson 1999, S. 15. 3.2 Zeiten der Globalisierung 231 perfeindlichen Kunstauffassung, die sich auch in seinen Eventyr og Historier erkennen lässt. Seine Interpretation argumentiert hochgradig anthropozentrisch. Sie rekonstruiert die Diskussion über „livet og dets eventuelle forgjengelighet“ 1114 („das Leben und seine mögliche Vergänglichkeit“ [Übers. F. F.]) in Hørren und abstrahiert dabei gänzlich von den dargestellten konkreten Produktionstechniken, denen die Pflanze und ihre Produkte unterworfen werden. Klaus Müller-Wille erklärt dagegen: „Es erscheint mir keineswegs zufällig, dass sich Andersen just Ende der 1840er mit den Besonderheiten einer massenhaften Papierproduktion und (indirekt) mit dem Buch als Massenware auseinandersetzt.“ 1115 Dies betrifft auch Hørren. Die Geschichte betrachtet die Folgen der Massenproduktion von Literatur für ihren Charakter als Medium. Die Transformationen der Dinge ziehen hier Veränderungen in Wertbildungsprozessen nach sich, die an ein Medium der Gegenwart erinnern: das Internet. In Verbindung mit dem bereits mehrfach angesprochenen Motiv der Wurzellosigkeit ist es naheliegend, die in der Eröffnungssequenz fehlende Erwähnung der Erde historisch konkreter zu lesen als Tønnesson. Wurzellosigkeit war in den bisher analysierten Texten eng verbunden mit modernen Beschleunigungsprozessen. Hørren beschreibt den andauernden Transformationsprozess einer Flachspflanze, der in die technische Reproduktion eines Textes mündet, der vorher auf den zu Papier gewordenen Flachs geschrieben worden war. Damit befinden wir uns auch hier in einer spezifisch modernen Konstellation industrieller Produktion, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes. Der Flachs zeigt sich bei diesen Transformationen trotz ihrer Schmerzhaftigkeit weitgehend optimistisch. 1116 Während die Zaunlatten, die Kinder und der Erzähler in Hørren wiederholt auf die Vergänglichkeit und Qualen des Lebens verweisen, hält der Flachs überwiegend an der Unvergänglichkeit im Wandel fest. Er spricht sich Mut zu mit Formeln wie „’man maa prøve noget, saa veed man noget! ’“ („’man muß Prüfungen durchmachen, dann weiß man etwas! ’“); „’Man maa være glad ved det Gode, man har havt! [...]’“ („’Man muß sich über das Gute freuen, das man genossen hat! [...]’“); vor allem aber begrüßt er seine jeweils neuen Daseinsformen. Zunächst freut er sich, nach Schlagen, Brechen, Schwingen und Hecheln ein Stück Leinwand geworden zu sein, das liebevoll umsorgt (das heißt: gewendet und gewässert) wird. „Al Hørren, hver eneste Urt, blev til det ene Stykke! “ („Der ganze Flachs, jede einzelne Pflanze, wurde zu diesem einen Stück! “) erklärt der Erzähler, und der Flachs ruft aus: „’Ja, men det er jo mageløst! Det havde jeg aldrig troet! Nei, hvor jeg har Lykken med mig! [...]’“ („’Ja, aber das ist ja unvergleichlich! das hätte ich nie gedacht! Nein, was für ein Glück ich habe! [...]’“). Aus der Einheit der Leinwand wird wieder eine Vielheit: „tolv Stykker Lintøi af det man ikke nævner, men som alle Mennesker maa have“ („zwölf Stücke[n] Wäsche, von der Art, über die man nicht spricht, die aber alle Menschen haben müs- 1114 Ebd., S. 5. 1115 Müller-Wille 2009b, S. 151. Zum Thema Papierherstellung vgl. auch Kapitel 3.3.3 dieser Arbeit. 1116 Vgl. de Mylius 2004, S. 346 f.; Tønnesson 1999, S. 5-7. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 232 sen“). Nach der schmerzhaften Verarbeitung freut sich die Leinwand darüber, der Welt nun Nutzen („Gavn“) zu bringen. „’[...] Vi ere blevne tolv Stykker, men vi ere alle dog eet og det samme, vi ere et Dusin! Hvor det er en mageløs Lykke! ’“ („’[...] Wir sind zwölf Stück geworden, aber wir sind dennoch alle ein und dasselbe, wir sind ein Dutzend! Welch ein unbeschreibliches Glück! “) Der Flachs bildet ein serielles Selbstverständnis aus. Als die Unterwäsche nicht mehr hält, wird sie in Lumpen gerissen, gehackt, zerstampft und gekocht und zu „deiligt fint hvidt Papir! “ („herrlich feinem, weißen Papier! “) Auch dies wird als „’[...] mageløs Lykke! ’“ („’[...] unbeschreibliches Glück! ’“) begrüßt. 1117 Uwe Steiner hat für die Schermesser-Kapitel des Simplicissimus von Grimmelshausen analysiert, wie darin Arbeit als „Stoffwechsel“ (mit einem Ausdruck von Marx 1118 ) mit der Natur auftritt. In Grimmelshausens Geschichte eines Hanfsamens, der zum Hemd und zu Papier wird, das zuletzt dazu dient, Landfahrern den Hintern zu wischen, erkennt Steiner „zwei ineinander verschränkte Metamorphosenkreisläufe, die das Ding durchläuft. Es ist Gebrauchsgegenstand und es ist Ware.“ 1119 Zwischen der barocken Biographie des Hanfes und der modernen Geschichte des Flachses gibt es auffällige Parallelen. 1120 Beide Texte beschreiben genau die Arbeitsabläufe der Stoff- und Papierherstellung und die damit für die Pflanzen bzw. Stoffe verbundenen Schmerzen, beide schenken ihren Protagonisten intime Nähe zu menschlichen Körpern und ihre letzte Daseinsform (im Unterschied zur anschließenden Formlosigkeit) ist jeweils das Papier. Auffällig ist jedoch, dass in Hørren der zweite Metamorphosenkreislauf, die Ware, zu fehlen scheint. Während im Simplicissimus jeder Gewinnanteil, den der Handel mit den Hanfprodukten abwirft, sorgfältig verzeichnet wird, bewegt sich der Flachs scheinbar unabhängig vom Tauschwert durch seine Transformationen. Dieser Unterschied erklärt sich durch die letzten Formen des Flachses. Während im Simplicissimus aus dem Papier ein Rechnungsbuch wird, in dem ein Faktor Bilanzen manipuliert, dient das Papier in Hørren anderen Zwecken: „Og der blev skrevet paa det, de allerdeiligste Historier, og Folk hørte, hvad der stod, og det var saa rigtigt og godt, det gjorde Menneskene meget klogere og bedre; det var en stor Velsignelese, der i Ord var givet de Papirer.“ („Und es wurden die allerschönsten Geschichten darauf geschrieben, und die Leute hörten, was da stand, und das war so richtig und gut, das machte die Menschen viel klüger und besser; es war ein großer Segen, der in Worten diesem Papier vergönnt wurde.“) Hier gewinnt das Papier durch die Geschichten einen Wert, der einer anderen Wertordnung angehört. Dies ist jedoch nicht das Ende der Metamorphosen. Hoffnungsfroh fabuliert das Papier: 1117 EoH 1, S. 454 f.; SM(TD) 1, S. 491 f. 1118 Vgl. Marx 1967, S. 192. 1119 Steiner 2008a, S. 219. Vgl. Grimmelshausen 1989, S. 610-622. 1120 Ich konnte jedoch keinen Hinweis darauf finden, dass Andersen den Simplicissimus gekannt hätte. 3.2 Zeiten der Globalisierung 233 „[...] [H]ver Gang jeg tænker: ‚Visen er ude! ’ saa gaaer den just over i noget meget Høiere og Bedre; nu skal jeg vist paa Reise, sendes hele Verden rundt, for at alle Mennesker kunne læse mig! Det er det Rimeligste! Før havde jeg blaa Blomster, nu har jeg for hver Blomst de deiligste Tanker! Jeg er den Allerlykkeligste! “ („[...] [J]edesmal, wenn ich denke: ‚Das Lied ist aus! ’ dann kommt noch etwas viel Höheres und Besseres; jetzt gehe ich sicher auf die Reise, werde um die ganze Welt geschickt, damit alle Menschen mich lesen können! Das ist ganz selbstverständlich! Früher hatte ich blaue Blüten, jetzt habe ich für jede Blüte die schönsten Gedanken! Ich bin der Allerglücklichste! “) 1121 Doch es irrt hinsichtlich seiner Zukunft: 1122 Men Papiret kom ikke paa Reise, det kom til Bogtrykkeren, og der blev Alt hvad der stod skrevet paa det sat i Trykken til en Bog, ja til mange hundrede Bøger, for saa kunde uendelig flere Folk faae Gavn og Glæde deraf, end om der eneste Papir, som det skrevne var paa. havde løbet Verden rundt, og var bleven slidt op paa Halvveien. (Aber das Papier kam nicht auf die Reise, es kam zum Buchdrucker, und dort wurde alles, was darauf geschrieben stand, gedruckt und zu einem Buch, ja zu vielen hundert Büchern, denn dadurch konnten unendlich viel mehr Leute Nutzen und Freude davon haben, als wenn das eine Stück Papier, auf dem das Geschriebene stand, um die Welt gewandert und auf halbem Wege zerlesen worden wäre.) 1123 Ab hier beginnt die Entwertung des Papiers. Es darf nicht mehr als Einpackpapier verwendet werden, „fordi det er skrevet på med blæk, der kan gå i forbindelse med det indpakkede“ 1124 („weil es mit Tinte beschrieben wurde, die sich mit dem Eingepackten verbinden kann“ [Übers. F. F.]), heißt es in den Anmerkungen. Schließlich wird es verbrannt. Während die Kinder bei der toten Asche das bereits zu Beginn von den Zaunlatten geächzte Lied 1125 „’Snip snap snurre / Basselurre! / Visen er ude! ’“ („’Schnipp, schnapp schnurre, / Basselurre! / Das Lied ist aus! ’“) singen, antworten darauf die „smaa usynlige Væsener“ („unsichtbaren kleinen Wesen“), die sich aus der Asche erheben und deren Zahl den Blüten des Flachses entsprechen: „’Visen er aldrig ude! Det er det deiligste ved det Hele! Jeg veed det og derfor er jeg den Allerlykkeligste! ’“ („’Das Lied ist niemals aus! Das ist das Schönste an dem Ganzen! Ich weiß es, und darum bin ich der Allerglücklichste! ’“) Dies kommentiert der Erzähler: „Men det kunde Børnene hverken høre eller forstaae og det skulde de ikke heller, for Børn maae ikke vide Alting.“ („Aber das konnten die Kinder weder hören noch verstehen, und das sollen sie auch nicht, denn Kinder dürfen nicht alles wissen.“) 1126 Johan de Mylius interpretiert dies als Überschreitung des realistischen Rahmens in Richtung einer christlichen Unsterblichkeitsidee, in der die Seele sich vom Körper 1121 EoH 1, S. 455 f.; SM(TD) 1, S. 492 f. 1122 Genauso wie Klaus Müller-Wille (2009b, S. 147), der davon ausgeht, das Papier werde bedruckt. 1123 EoH 1, S. 456; SM(TD) 1, S. 493. 1124 EoH 1, S. 536. 1125 Vgl. EoH 1, S. 454; SM(TD) 1, S. 490. 1126 EoH 1, S. 456 f.; SM(TD) 1, S. 494 f. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 234 löst und entschwebt in ein Jenseits. 1127 Auch Johan Tønnesson argumentiert im Sinne einer Entmaterialisierung, wenn er erklärt, die Kinder stünden dafür, dass die naive „snusfornunft“ („Nüchternheit“ oder auch „Altklugheit“) die Unsterblichkeit der Kunst, die sich in den Flammen verkörpere, nicht begreifen könne. 1128 Beide Interpretationen erliegen dem gleichen Irrtum wie das Papier, das auf die Reise zu gehen vermeint. In der Reproduktion liegt die Dauerhaftigkeit, die das Original überflüssig macht. Es handelt sich hierbei nicht um einen Entmaterialisierungsprozess, sondern um technische Reproduktionen eines Originals. Mit der technischen Reproduzierbarkeit verliert das Kunstwerk nach Benjamin sein „Hier und Jetzt“ 1129 . Es verliert dabei nicht nur seine Aura, sondern, konsequent gedacht, auch den auf Einmaligkeit beruhenden Tauschwert des Originals. Hørren reflektiert genau diesen Prozess und wendet die Ort- und Wurzellosigkeit des reproduzierten Kunstwerks, die Auflösung seines „Eingebettetsein[s] in den Zusammenhang seiner Tradition“ 1130 , positiv: als Dauerhaftigkeit in der Kopie, die kein Original mehr benötigt. Schon in den synekdochischen Ersetzungen von vielen Pflanzen zu einer Leinwand zu vielen Unterhosen und zurück zu einem Papier wurde deutlich, dass der Protagonist von Hørren keine „Einzigkeit“ 1131 mehr kennt, sondern einander gleichwertig gegenüberstehende Einheiten und Vielheiten. Die vierfach wiederholte blaue Blume, die Tønnesson, implizit an Novalis anknüpfend, als Symbol des sehnsuchtsvollen, Mysterien suchenden Künstlers deutet, 1132 gibt es ab der ersten Metamorphose nicht mehr. Aber die Funken des Feuers am Ende des Textes, die aus dem Schornstein nach oben und hinaus steigen, haben die gleiche Anzahl wie die Blüten. Hier herrscht keine exklusive, mysteriöse Kunstauffassung, sondern eine auf „massenweise[n] Verbreitung“ 1133 ausgerichtete Literatur. Nicht das Original, wohl aber seine Reproduktion geht „paa Reise, sendes hele Verden rundt“. Mit den Reproduktionstechniken wird auch die Literatur globalisiert. Mit Hørren selbst liegt ein solch massenhaft verbreiteter Text vor. Allerdings haben sich auch die Autorschaftsfunktion des 19. Jahrhunderts und eine Sehnsucht nach Authentizität erhalten, so dass Andersens Manuskripte bis heute nicht verbrannt werden. Die ökonomische Logik, die Hørren zugrunde liegt, basiert jedoch nicht auf Einzigkeit, also Knappheit. Auch die in das Material eingegangene Arbeit und die damit verbundenen Wertbildungsprozesse greifen hier nicht im herkömmlichen Sinne. Der Wert steigert sich mit der Ausbreitung und verhält sich umgekehrt proportional zum Preis. Eine Utopie einer durch die Warenwirtschaft ermöglichte 1127 De Mylius 2004, S. 347 f. 1128 Tønnesson 1999, S. 8. 1129 Benjamin 1974, S. 437, 475. 1130 Ebd., S. 441, 480. 1131 Ebd. 1132 Tønnesson 1999, S. 8. 1133 Benjamin 1974, S. 442, 481. 3.2 Zeiten der Globalisierung 235 jenseits derselben liegenden Ökonomie, die sich angesichts des Internets gar nicht mehr so utopisch ausnimmt. Auch in Lykken kan ligge i en Pind (Das Glück kann in einem Stück Holz liegen) findet ein massenhafter Reproduktionsprozess mit globaler Reichweite seinen Niederschlag. Der Text erschien zunächst in englischer Übersetzung im Riverside Magazine unter dem Titel Luck may lie in a Pin (1869) und wurde erst elf Monate später auf Dänisch veröffentlicht. 1134 In den Bemærkninger til Eventyr og Historier (1874) erklärt Andersen, die Geschichte sei während eines Sommeraufenthaltes in den Jurabergen geschrieben worden. Dort sei ihm von einem armen Dreher erzählt worden, der sich eine kleine Holzbirne gedreht habe, da der Knauf seines Regenschirms immer abfiel. Diese, umspannt von einer Litze, habe sich als praktischer und haltbarer erwiesen. Nachdem er für die Regenschirme der Nachbarn ebenfalls Birnen gedreht hatte, bekam er bald Aufträge aus dem ganzen Land und den Städten und wurde ein gemachter Mann. Diese Begebenheit gab den Anlass für Lykken kan ligge i en Pind, so Andersen. 1135 Andersens Tagebucheinträge und sein Briefwechsel mit seinem amerikanischen Verleger Scudder lassen wiederum vermuten, dass der Text in Dänemark entstanden ist und mit Hinblick auf eine Veröffentlichung in den USA geschrieben wurde. 1136 Dieser marktorientierten Entstehungsvariante steht die Version der Bemærkninger gegenüber, der ebenfalls eine Marketingstrategie unterstellt werden kann. In Lykken kan ligge i ein Pind heißt es: „Det er en virkelig oplevet Historie“ („Es ist eine wirklich erlebte Geschichte“). 1137 Diese Behauptung wird durch die Bemærkninger gestützt, deren Überprüfbarkeit durch die Abgeschiedenheit der Schweizer Berge erschwert wird. Der Text und sein Paratext suggerieren Authentizität und kommen so einem Bedürfnis entgegen, das „selbst nur ein Effekt der Warenökonomie“ 1138 ist, wie Klaus Müller-Wille erklärt. Lykken kan ligge i ein Pind entfaltet ein Geflecht globaler Marktbeziehungen, mit deren Effekten Andersen virtuos zu spielen versteht. Die einzig explizite Ortsangabe in Lykken kan ligge i en Pind selbst ist „Amerika“. Dorthin gelangen Warenproben eines Drehers, der den Holzbirnenknauf für Regenschirme entdeckt hat und schließlich „Pærer i Tusindviis! “ („Birnen zu Tausenden! “) 1139 verkaufen kann. Amerika ist in dieser Geschichte ein riesiger Absatzmarkt. 1134 Vgl. EoH 3, S. 444. Zum Riverside Magazine vgl. auch Hersholt 1948, S. 7-14; Mott 1938b, S. 176, 191, 457-480. 1135 Vgl. EoH 3, S. 397. 1136 Vgl. Hersholt 1948, S. 45; Da, Bd. 8, Eintrag vom 28. Dezember 1868. 1137 EoH 3, S. 251; SM(TD) 2, S. 582. 1138 Müller-Wille 2009b, S. 156. 1139 EoH 3, S. 252; SM(TD) 2, S. 583. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 236 Der Text spielt mit einem Mythos der amerikanischen Gesellschaft: dem Streben nach Glück. Nu skal jeg fortælle en Historie om Lykken. Vi kjende Allesammen Lykken: Nogle see den Aar ud, Aar ind, Andre kun i visse Aaringer, paa en enkelt Dag, ja der gives Mennesker, som kun een eneste Gang i deres Liv see den, men see den gjør vi Alle. Nu behøver jeg ikke at fortælle, for det veed Enhver, at Vor Herre sender det lille Barn og lægger det i en Moders Skjød, - det kan være i det rige Slot og i den velhavende Stue, men ogsaa paa aaben Mark, hvor den kolde Vind blæser; dog Enhver veed nok ikke, og vist er det alligevel, at Vor Herre, idet han bringer Barnet, ogsaa bringer en Lykkegave til det, men den lægges ikke aabenlyst lige ved Siden af; den lægges et Sted i Verden, hvor man mindst tænker paa at finde den, og dog findes den altid; det er det Glædelige. (Jetzt will ich eine Geschichte vom Glück erzählen. Wir kennen alle miteinander das Glück: Manche sehen es jahraus, jahrein, andere nur in gewissen Jahren, nur an einem Tag, ja, es gibt Menschen, die es nur ein einziges Mal in ihrem Leben sehen, aber sehen tun wir es alle. Nun brauche ich nicht zu erzählen, denn jeder weiß es, daß der Herrgott das kleine Kind schickt und es in einer Mutter Schoß legt - das kann in dem reichen Schlosse sein und in der wohlhabenden Stube, jedoch auch auf offenem Feld, wo der kalte Wind weht; aber sicher weiß nicht jeder, und trotzdem ist es ganz gewiß wahr, daß der Herrgott, wenn er das Kind bringt, auch ein Glücksgeschenk dafür mitbringt, aber das wird nicht offen danebengelegt; das wird irgendwo in der Welt hingelegt, wo man es am wenigsten zu finden erwartet, und trotzdem gibt es das immer; das ist das erfreuliche.) 1140 Es gilt stets, vorsichtig zu sein, wenn Erzähler suggerieren, etwas sei allgemein bekannt. Das trifft auf die Herkunft von Kindern zu, die nicht allein der liebe Gott den Müttern in den Schoß legt. Und auch unter Glück verstehen nicht „Allesammen“ das Gleiche. „Den kan være lagt i en Æble; det var den for en lærd Mand, som hed Newton: Æblet drattede, og saa fand han sin Lykke [...]; jeg har en anden Historie at fortælle, og det er en Historie om en Pære.“ („Es kann in einen Apfel gelegt worden sein; das war bei einem gelehrten Mann der Fall, der Newton hieß: der Apfel fiel zu Boden, und da fand er sein Glück [...]; ich habe eine andere Geschichte zu erzählen, und das ist eine Geschichte von einer Birne.“) 1141 Aus der „Historie om Lykken“, die der Text eingangs versprochen hat, wird eine „Historie om en Pære“, und das soll noch nicht das Ende der gleitenden Signifikation sein, die der Text hier vorführt. Wie der Apfel, der Newton zur Entdeckung der Schwerkraft dient, gleitet das Glück zunächst erdwärts. Ausgangspunkt der Geschichte ist nämlich nun die Armut, aus der der Dreher aufsteigen wird: 1140 EoH 3, S. 251; SM(TD) 2, S. 581. 1141 EoH 3, S. 251; SM(TD) 2, S. 581 f. 3.2 Zeiten der Globalisierung 237 Der var en stakkels Mand, som var født i Armod, groet op i Armod, og paa den havde han giftet sig. Han var forresten Dreier af Profession og dreiede især Paraplyskafter og Paraplyringe; men han havde det neppe fra Haanden i Munden. „Jeg finder aldrig Lykken! “ sagde han. (Es war ein armer Mann, der in Armut geboren war, in Armut aufwuchs, und in Armut hatte er geheiratet. Er war übrigens Drechsler von Beruf und drechselte vor allem Schirmgriffe und Schirmringe; aber es reichte kaum fürs Nötigste aus. „Ich finde das Glück niemals! “ sagte er.) 1142 Das Glück ist hier ein Synonym für Reichtum geworden, denn gerade das Fehlen des Letzteren zeigt die Abwesenheit des Glücks an. Umgekehrt liegt das Glück des Drehers darin, dass er zufällig eine Holzbirne, die er für seine Kinder gedreht hatte, als Schirmknauf verwendet und diese Idee mit einer Warenprobe in die Hauptstadt sendet, von wo aus sie den Siegeszug nach Amerika antritt. Damit entfernt das Glück sich von der eingangs behaupteten Gottesnähe, die zumindest in der christlichen Vorstellungswelt eher nicht mit Reichtum einher geht. Auch im Rahmen einer protestantischen Ethik, für die Arbeit und ein gottgefälliges Leben eng verbunden sind, ist das Glück des Drehers zu Beginn gottfern. Denn seine Entdeckung ist „Luck“, wie die englische Übersetzung treffend festhält, und damit zufällig, nicht verdient oder erarbeitet. Es erinnert an die in der dänischen Literatur einflussreiche Aladdin-Figur Oehlenschlägers, der das Glück ohne eigene Anstrengung zufällt. 1143 Was der Dreher jedoch aus diesem Zufall zu machen weiß, entspricht durchaus dem Geist des Kapitalismus: Er dreht und dreht, verdient Schillinge und Taler und bekommt schließlich eine große Werkstatt mit Gesellen und Lehrlingen. „Altid var han i godt Humeur og sagde: ’Lykken kan ligge i en Pind! ’“ („Immer war er guter Laune und sagte: ‚Das Glück kann in einem Stück Holz liegen! ’“) 1144 Wie der zu Boden fallende Apfel eine Einsicht ermöglicht, die bis zu den Sternen reicht, erlaubt auch hier eine zufällige Entdeckung die Errichtung eines erfolgreichen Systems. Das Andauern des Glücks liegt in der Reproduktion einer Idee, darin ist Lykken kan ligge i en Pind der Geschichte Hørren verwandt. In der andauernden Reproduktion nähert das Glück sich auch der Vorstellung eines auf Eigeninitiative gründenden pursuit of happiness an. Der Text wechselt aber sogleich das Register. Denn auf die zufriedene Feststellung des Drehers äußert sich wieder der Ich- Erzähler vom Beginn des Textes: Det siger ogsaa jeg, som fortæller Historien. Man har den Talemaade: „Tag en hvid Pind i Munden, saa er Du usynlig! “ men det maa da være den rigtige Pind, den, som gives os i Lykkegave af Vor Herre. Den fik jeg, og jeg kan ogsaa ligesom Manden hente klingende Guld, blinkende Guld, det allerbedste, det, der blinker fra Barneøine, det, der klinger fra Barnemund, og fra Fader og Moder med. De læse Historierne, og jeg staaer midt i Stuen hos dem, men usynlig, 1142 EoH 3, S. 251; SM(TD) 2, S. 582. 1143 Vgl. Andersen/ Emerek 1976, S. 71 ff.; Oxfeldt 2005, S. 21-53. 1144 EoH 3, S. 252; SM(TD) 2, S. 584. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 238 thi jeg har den hvide Pind i Munden; fornemmer jeg nu, at de ere glade ved hvad jeg fortæller, ja, saa siger jeg ogsaa: Lykken kan ligge i en Pind! (Das sage auch ich, der die Geschichte erzähle. Man hat eine Redensart: „Nimm ein weißes Holz in den Mund, dann bist du unsichtbar! “ aber das muß dann das richtige Stück Holz sein, das uns als Glücksgeschenk vom Herrgott mitgegeben wird. Das habe ich bekommen, und ich kann auch genau wie der Mann klingendes Gold holen, blitzendes Gold, das allerbeste, es blitzt aus Kinderaugen, klingt aus Kindermund und auch aus Vaters und Mutters. Sie lesen die Geschichten, und ich stehe mitten in der Stube bei ihnen, aber unsichtbar, denn ich habe das weiße Stück Holz im Mund; merke ich dann, daß sie sich über das, was ich erzähle, freuen, ja, dann sage ich auch: das [sic] Glück kann in einem Stück Holz liegen! ) 1145 Das Sprichwort ist an dieser Stelle ein Element, das sich nur widerstrebend übersetzen lässt. Das unbestimmte „Man“ ist unausgesprochen ein Bestimmtes, nämlich ein Dänisches. Das wird in der englischen Erstveröffentlichung klargestellt: „So also says he who tells the story; and you should know that it is true, and is a proverb in Denmark, that if you put a white pin in your mouth, you will be invisible [...].“ 1146 Der Text wechselt an dieser Stelle in eine andere Wertordnung, das klingende Gold sondern nun leuchtende Kinderaugen und lachende Kindermünder ab - und ihre Eltern. Auch an dieser Stelle hakt der Übersetzungsprozess ein wenig. Nachdem das Ich schon in der ersten Hälfte das Glück gegen eine Birne getauscht hat, um es schließlich zum Synonym für Reichtum zu machen, liegt auch das Glück des Ich- Erzählers in der zweiten Hälfte des Textes, das auf den Autor verweist, der klingenden Münze nicht so fern. Denn die Eltern sondern nicht nur ihr Vergnügen ab, sondern auch Geld. Davon zeugt insbesondere die Geschichte des Textes selbst, der zuerst in Übersetzung und anschließend auf Dänisch veröffentlicht wurde. Wie bereits angesprochen handelte es sich bei der Erstveröffentlichung in Übersetzung um eine Maßnahme, unbezahlte Übersetzungen in einem System zu verhindern, das noch keinen weltweiten Urheberrechtsschutz kannte. 1147 Diese Möglichkeit bringt den Text erst in der Form auf den amerikanischen Markt, die dem Autor seiner Rezeption unsichtbar beizuwohnen erlaubt. Andernfalls wüsste er in den meisten Fällen nicht von seinen Lesern. Dass die scheinbar unbezahlte Bewunderung sich in klingender Münze niederschlägt, etabliert die Verbindung. Globalen Austauschprozessen liegen immer ökonomische Infrastrukturen zugrunde. 1145 EoH 3, S. 252 f.; SM(TD) 2, S. 584. 1146 LP, S. 146. 1147 Vgl. S. 3 , 1 , 1 f. dieser Arbeit. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 239 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 3.3.1 Begrenzungen, Abgrenzungen I: Interieurs Die Auseinandersetzung mit dem Interieur greift dieses Unterkapitel noch einmal unter veränderten Vorzeichen auf. Während zu Beginn von Mit Livs Eventyr die mit niedlichen Dingen vollgestopfte Stube schon durch ihre Werkstattfunktion keine Trennung von der Arbeitswelt erlaubte, zeigen Pengegrisen (Das Geldschwein) (1854) 1148 und Hyrdinden og Skorsteensfeieren (Die Hirtin und der Schornsteinfeger) (1845) bürgerlichere oder sogar feudale Schauplätze. Ein eigenes Zimmer für die Kinder beziehungsweise eine abgesonderte Wohnstube war in städtischen Wohnungen des 19. Jahrhunderts Ausdruck großen Wohlstandes. 1149 Im Kinderzimmer aus Pengegrisen und im Wohnzimmer aus Hyrdinden og Skorsteensfeieren sind die meisten Dinge „von der Fron frei [...], nützlich zu sein“ 1150 . Dies ist nach Walter Benjamin ein Charakteristikum des Interieurs, das zudem „für den Privatmann das Universum dar[stellt, F. F.].“ 1151 Diese Eigenschaft hat auch das Kinderzimmer in Pengegrisen, das eine kleine Welt enthält. Das Kinderzimmer, könnte man aus biedermeierlichen Kindheitskonzepten schlussfolgern, sollte eigentlich eine Steigerung der Abgeschiedenheit des Interieurs von der Geschäftswelt darstellen. Es wurde in Abgrenzung zur Welt der Erwachsenen als Ort eines in jeder Hinsicht unschuldigen Spiels konzipiert. 1152 Kinder sind in Pengegrisen jedoch abwesend, und die in ihm versammelten Gegenstände verweisen, auch da es sich um industriell gefertigtes Spielzeug handelt, konsequent auf die Erwachsenenwelt. Lediglich in den kleinen Beschädigungen, die einige von ihnen aufweisen, lassen sich Spuren kindlichen Spiels erkennen. Knut Ebeling hat in seinem Aufsatz Spiel/ Zeug. Eine Archäologie des homo ludens mit Hilfe von Walter Benjamins Rezensionen Kinderspielzeug aus alter Zeit und Spielzeug und Spielen herausgearbeitet, dass der Projektionscharakter, die Verkörperung von Vorstellungen Erwachsener über das Wesen von Kindern, wesentlich für Spielzeug ist, das als solches hergestellt wird. Spielzeug sagt weniger über Kinder als über seine Schöpfer aus, es muss nach Ebeling entziffert werden. Weiterhin ist es eher ein Speicher von Aggressionen und Abreaktionen als Anlass eines harmlosen Vergnügens. 1153 Dieses aggressive Mensch-Spielzeug-Verhältnis spiegeln die beschädigten Dinge in Pengegrisen wider. In den genannten Rezensionen weist Benjamin darauf hin, dass Kinder „kein Robinson“ sind, sondern sozial und geographisch verortet werden können, ebenso wie 1148 Pengegrisen wurde erstmals abgedruckt im Folkekalender for Danmark 1855, der 1854 erschien. Vgl. EoH 2, S. 475. 1149 Vgl. Høgsbro 1964, S. 438-444. 1150 Benjamin 1991, S. 53. 1151 Ebd., S. 52. 1152 Vgl. Auring u. a. 1984, S. 148. 1153 Vgl. Ebeling 2006, S. 8-12; Benjamin 1972, S. 113-117, bes. S. 116 f.; 127-132. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 240 Spielzeug einer bestimmten technischen und ökonomischen Kultur angehört. 1154 Die Spielzeugwelt in Pengegrisen zeigt eine solche spezifische Kultur und verortet seinen unsichtbaren Besitzer durch dessen Dinge im Bürgertum. „Wer Lust hat, dem Warenkapital in die Fratze zu sehen“, empfiehlt Benjamin, brauche nur an die „höllische Ausgelassenheit“ zu denken, die bis vor Kurzem in Spielzeughandlungen herrschte und in kleineren Städten immer noch angetroffen werden könne. 1155 Heute empfiehlt es sich, zu diesem Zwecke Pengegrisen zu lesen. Hier thront in der Kinderzimmerwelt über allem das Geld. Der var saa meget Legetøi i Børnenes Stue, og øverst paa Skabet stod Sparebøssen; den var af Leertøi i Skikkelse af en Griis [...]. Pengegrisen var saa proppet, at han ikke længer kunde rasle, og det er det Høieste, en Pengegriis kan bringe det til. Der stod han nu øverst paa Hylden og saae ned paa Alt i Stuen, han vidste nok, at med hvad han havde i Maven, kunde han kjøbe det Hele, og det er at have en god Bevidsthed! Det tænkte de Andre ogsaa paa, om de ikke sagde det; der var Andet at tale om. (Es war so viel Spielzeug im Kinderzimmer; ganz weit oben auf dem Schrank stand die Sparbüchse, die war aus Ton, in Gestalt eines Schweins [...]. Herr Geldschwein 1156 war so vollgestopft, daß er nicht mal mehr klappern konnte, und das ist das Höchste, wozu es ein Geldschwein bringen kann. Da stand er nun, ganz weit oben auf dem Podest, und sah auf alles im Zimmer herab; er wußte gut, mit dem, was er im Bauch hatte, könnte er den ganzen Laden aufkaufen, und das ist doch ein stabiles Selbstbewußtsein 1157 . Daran dachten die anderen genauso, auch wenn sie es nicht sagten, es gab ja noch anderes zu bereden [...].) 1158 Das industriell gefertigte Spielzeug ist mit dem Geld auf unsichtbare Weise verbunden: Die Gedanken aller anderen Figuren kreisen um den Inhalt des Sparschweins. Mit seinem vollen Bauch hat es Macht über das gesamte Spielzeug, auf das es in jeder Hinsicht hinabblickt. Die Warenökonomie durchdringt die Kinderstube. Auch das Erzählen selbst ist von der Fixierung auf die Ökonomie durchdrungen, wenn es heißt: „Det var midt om Natten; Maanen skinnede ind af Vinduet og gav fri Belysning.“ („Es war mitten in der Nacht, der Mond schien zum Fenster herein und spendierte kostenlose Beleuchtung.“) Während der Mond sein Licht verschenkt und deshalb vom Spielzeug nicht weiter gewürdigt wird, behält das Sparschwein sein Geld und seine Gedanken für sich. Das Auseinandertreten von Gebrauchswert und Tauschwert und die fetischistische Fixierung auf letzteren im Geld, die Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie beschreibt, verkörpern sich in den Respektbezeugungen des Spielzeugs gegenüber dem Schwein und der Gleichgültigkeit, die es dem Mond entgegenbringt: 1154 Benjamin 1972, S. 117, 130. 1155 Ebd., S. 129. 1156 Im Original heißt es nicht „Herr Geldschwein“, sondern „das Geldschwein“. Das Geldschwein wird jedoch durch das Pronomen „han“ vertreten, das eigentlich Menschen vorbehalten bleibt. Deshalb hat Detering diese Übersetzungsvariante vorgeschlagen. Vgl. SM(D), S. 222. 1157 Allerdings kann „god Bevidsthed“ auch mit „gutes Gewissen“ übersetzt werden, ist also vieldeutig. 1158 EoH 2, S. 114; SM(D), S. 222. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 241 Pengegrisen var den Eneste, som fik Indbydelsen skriftligt; han stod for høit, til at han, troede de, kunde høre den mundtligt, og han gav heller ikke Svar, om han kom, for han kom ikke! Skulde han med, maatte han nyde det hjemme fra; det kunde de rette sig efter, og det gjorde de. (Geldschwein war der einzige, der die Einladung schriftlich kriegte, er stand zu hoch oben, als daß jemand geglaubt hätte, er könnte sie mündlich hören, und er gab auch keine Antwort, ob er käme, denn er kam nicht; wenn er dabeisein sollte, dann bitte von zu Hause aus, darauf konnten die sich einrichten, und das taten sie.) 1159 Mit dem Geldschwein wird nicht unmitelbar kommuniziert, sondern vermittels eines Schreibens. Trotz der physischen Distanz ist das Schwein virtuell sehr präsent: Das Spielzeug richtet sich nach den angenommenen Wünschen des Geldschweins. Da das Schwein sich nicht äußert, muss über seine Interessen spekuliert werden. Das schweigende Schwein verkörpert eine rätselhafte Geldwirtschaft, die aufs engste mit dem Motiv des Spiels verbunden ist. 1160 Es ist eine Einladung zu dem Spiel „lege Mennesker“ („Menschen spielen“), die das Geldschwein erhält. Bei diesem Spiel werden Menschen gespielt. Da im Kinderzimmer das Spielzeug Menschen spielt, handelt es sich um ein potenziertes Spiel. Es werden Menschen spielende Menschen gespielt: „Det lille Dukketheater blev straks stillet saaledes, at han [Pengegrisen, F. F.] kunde see lige ind i det. De vilde begynde med Comedie, og saa skulde der være Thee og Forstandsøvelse, og med den begyndte de strax.“ („Das kleine Puppentheater wurde sofort aufgestellt, und zwar so, daß er [Geldschwein, F. F.] genau hineinschauen konnte; sie wollten mit einer Komödie anfangen, und dann sollte es Tee geben und Verstandesübungen, und damit fingen sie sofort an [...].“) 1161 Das Kinderzimmer wird zum Theater, in dem die Spiele der Erwachsenenwelt gespielt werden. 1162 Die Loge im Welttheater, die der Salon nach Benjamin für den Privatmann ist, 1163 findet ihre Entsprechung im Blick des Sparschweins auf das Spielen spielender Menschen durch Dinge. Bevor es richtig losgeht mit der Komödie, wird noch einmal eine Welt versammelt, die ebenfalls aufs Engste mit dem Geld verbunden ist: 1159 EoH 2, S. 114; SM(TD), S. 223. 1160 Die Bedeutungsvielfalt des Wortes „spielen“, auf der die vorliegende Interpretation teilweise beruht, gilt es für das Dänische zu differenzieren. „Lege“ deckt sehr unterschiedliche Bedeutungen ab, wird im modernen Dänisch jedoch in der Regel nicht mehr für das Spiel um Geld verwendet. Im Ordbog over det danske Sprog wird „lege“ für das Beispiel von den von Grundtvig herausgegebenen altdänischen Kæmpeviser (Kämpeviser) (1847) noch in Verbindung mit „Kort“ („Karten“) genannt. Vgl. Det Danske Sprogog Litteratuselskab 1931, S. 556. Das für das Spiel um Geld im modernen Dänisch in der Regel verwendete „spille“ findet sich in Pengegrisen im Zusammenhang mit der aufgeführten Komödie (s. u.) ebenfalls. 1161 EoH 2, S. 114; SM(D), S. 222 f. 1162 Verstandesübungen waren ein Gesellschaftsspiel, das auch zur Unterrichtung kleiner Kinder eingesetzt wurde. Die Schüler sollten imitieren, was der Lehrer vorführte. Dabei wurden Dinge und Bilder, die den Kindern möglichst bekannt sein sollten, als Anschauungsmaterial verwendet. Vgl. EoH 3, S. 476. 1163 Benjamin 1991, S. 52. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 242 Gyngehesten talte om Training og Fuldblod, Barnevognen om Jernbaner og Dampkraft; det var jo Noget, de forstode sig paa, og de kunde tale om. Stueuhret talte Politik - tik - tik! det vidste, hvad Klokken var slaaet, men man sagde, at det gik ikke rigtigt. - Spanskrøret stod og var stolt af sin Dupskoe og sin Sølvknap; han var jo beslaaet foroven og forneden; i Sophaen laae to broderede Puder; de vare nydelige og dumme - - og saa kunde Comedien begynde. ([D]as Schaukelpferd redete von Training und Vollblut, der Kinderwagen von Eisenbahnen und Dampfkraft - das waren ja alles Dinge, die in ihr Ressort fielen und über die sie mitreden konnten. Die Wanduhr redete von Politik - tick - tick! die wußte, was die Stunde geschlagen hatte, aber es hieß allgemein, daß sie nicht richtig tickte. Der Spazierstock war stolz auf seine Stiefeletten und seinen Silberknauf, er war ja von oben und von unten beschlagen; auf dem Sofa lagen zwei bestickte Kissen, die waren reizend und dumm - und dann konnte die Komödie anfangen.) 1164 Das Reden über Training und Vollblut verbindet die beiden zentralen Motive des Textes, das Spiel und das Geld, indem es auf das Pferderennen verweist. Mit der Eisenbahn wird im Anschluss eines der wichtigsten Spekulationsobjekte des 19. Jahrhunderts genannt. 1165 Mit dem Spiel verbindet sich auch eine der Arbeit komplementäre Zeitform: Der Rausch, in den kurz darauf auch das Geldschwein gerät. Die Uhr dagegen steht für die geregelte, gleichmäßige Zeit der modernen Arbeitswelt. Politisch gesehen weiß sie, was die Stunde geschlagen hatte, aber es heißt, dass sie nicht richtig tickt. 1166 Die Zeit der Arbeit und die Zeit der bürgerlichen Gesellschaft haben sich im Spiel entkoppelt. Dies ist keine Befreiung, sondern der Beginn des Kasinokapitalismus. Den tatsächlichen Rhythmus des Textes bestimmt der expandierende Kreislauf des Geldes. Das Theatralische beschränkt sich nicht auf die Bühne des Puppentheaters: Stykket duede ikke, men det blev godt spillet, og alle de Spillende vendte naturligviis den malede Side udad; de vare kun til at see paa een Led, ikke paa Vrangen. Alle spillede udmærket, heelt forud af Theatret; Traaden var for lang i dem, men saa bleve de mere mærkbare! den klinkede Dukke blev løs i Klinken ved det og Pengegrisen blev saa betaget, at han besluttede at gjøre Noget for Een af dem, sætte ham i sit Testament, som den, der skulde ligge i aaben Begravelse med ham, naar Tid kom. (Das Stück taugte nichts, aber es war gut inszeniert; alle Mitspieler zeigten die bemalte Seite vor, sie waren alle nur von der einen Seite zu sehen, niemals von hinten; und alle spielten sie vorzüglich, komplett draußen vor der Bühne, der Draht in ihnen war zu lang, aber so fielen sie leichter auf. Die geklebte Puppe war so hingerissen, daß ihre Klebestelle sich löste, und Geldschwein war auf seine Weise so hingerissen, daß er beschloß, für einen von denen etwas zu tun, ihn in sein Testament einzusetzen, und zwar als denjenigen, der mit im Erbbegräbnis liegen sollte, wenn es soweit war.) 1167 1164 EoH 2, S. 114 f.; SM(D), S. 223. 1165 Cameron 1991, S. 295-299; 1992, S. 142, 157 f. 1166 Johan de Mylius (2004, S. 248) interpretiert diese Stelle als eine Absage an die Einbildungen des Kleinbürgertums, über Politik zu sprechen. 1167 EoH 2, S. 115; SM(D), S. 223 f. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 243 Das Theater reicht über sich hinaus, ergreift auch die umliegende Welt. Der Gesamtzusammenhang, das Stück, taugt nichts, aber das Spiel ist gut. Die Spieler zeigen stets nur eine Seite ihrer Existenz und das Publikum riskiert dabei, Schaden zu nehmen. Das Sparschwein wird von der Ausweitung der spielerischen Darstellung, die bei der Puppe eine Verletzung nach sich zieht, begeistert. Die Begeisterung schlägt sich aber nicht in eine pekuniäre Großzügigkeit nieder, sondern nur in den Wunsch, jemanden mit ins Grab zu nehmen. In diesem Spiel wird nichts geteilt außer idealisierten Selbstbildern. Det var en sand Nydelse, saa at man opgav Theevandet og blev ved Forstandsøvelsen. Det kaldte de at lege Mennesker, og der var ingen Ondskab deri, for de legede kun; og hver tænkte paa sig og paa hvad Pengegrisen tænkte, og Pengegrisen tænkte længst, han tænkte jo paa Testament og Begravelse - - og naar kom det istand -! Altid før man venter det. - Knak! der laae han fra Skabet, laae paa Gulvet, i Stumper og Stykker; men Skillingerne dandsede og sprang, [...] især den ene Sølvdaler; han vilde ordentlig ud i Verden, og det kom han og det kom de Allesammen; og Skaarene af Pengegrisen kom i Bøtten. - - Men paa Skabet selv stod igjen næste Dag en ny Pengegriis af Leertøi; der var endnu ikke en Skilling i ham, derfor kunde han heller ikke rasle, og deri lignede han den anden; det var altid en Begyndelse, - og med den il vi ende! (Das war ein wirklicher Genuß, so daß man den Tee sein ließ und bei den Verstandesübungen blieb, das nannte man „Menschen spielen“, und daran war gar nichts Boshaftes, denn sie spielten ja nur - und jeder dachte dabei an sich und was Geldschwein wohl dachte, und Geldschwein dachte am längsten, er dachte ja an Testament und Begräbnis - und wann es wohl soweit wäre - immer eher als man denkt. - Knack! da lag er vor dem Schrank - lag am Boden, kurz und klein zerschlagen, und die Schillinge tanzten und hüpften; [...] vor allem der eine Silbertaler, der wollte mal richtig in die Welt hinaus. Und das kam er auch, und das kamen sie allesamt; und Geldschweins Scherben landeten im Eimer, aber auf dem Schrank selbst stand am nächsten Tag ein neues Geldschwein aus Ton, es war noch kein einziger Schilling darin, darum konnte der Neue auch nicht klappern, und insofern glich er dem alten, das war immerhin ein Anfang - und mit dem wollen wir enden.) 1168 Menschen spielen ist ein Verstandesspiel, bei dem jeder an sich denkt und daran, was das Geldschwein denkt. Alles ist in diesem Kinderzimmer auf das Geld ausgerichtet: die Gedanken, die Spiele, die Figuren. Die Verbindung von Geld und Spiel endet in einer Katastrophe. Der bestehende Markt, die vorhandene imaginärmaterielle Gemeinschaft, zerschlägt sich und wird sofort ersetzt. Das neue Schwein gleicht dem Alten; das neue Spiel gehorcht den alten Regeln. Zurück bleiben defekte Spieler und einige Scherben, die im Müll landen. Räumlich gesehen kommt es jedoch zu einer Erweiterung. An diesem Punkt des Kreislaufs verlässt das Geld, der Silbertaler, den geschlossenen Raum und springt hinaus in die Welt, der Druck des im Sparschwein versammelten Kapitals löst sich in diesem Mechanismus. Der krisenhafte und expansive Kapitalismus, wie ihn die Karl 1168 EoH 2, S. 115; SM(D), S. 224. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 244 Marx und Friedrich Engels im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) gezeichnet hatten, bestimmt in Pengegrisen auch die Kinderzimmerwelt. 1169 Peter Sloterdijk erklärt in seiner aus dem Sphären-Projekt hervorgegangenen Globalisierungsstudie: „Der Weltinnenraum des Kapitals ist keine Agora und keine Verkaufsmesse unter offenem Himmel, sondern ein Treibhaus, das alles vormals Äußere nach innen gezogen hat.“ 1170 Am Ende von Pengegrisen finden wir diese Kombination von wuchernder Dingwelt in einem abgeschlossenen Raum und grenzüberschreitender Bewegung des Kapitals, die zur Herausbildung eines Weltzusammenhangs beiträgt. Dagegen scheinen Ausgangs- und Endpunkt von Hyrdinden og Skornsteensfeieren statisch, jede Bewegung ist aufgehoben und der versuchte Ausbruch aus der Wohnzimmerwelt am Ende gescheitert. 1171 Der Eindruck der klaren Trennung von Innen und Außen im Interieur täuscht jedoch auch hier. In der „Dagligstue“ („Wohnstube“) steht ein „gammelt Træskab, ganske sort af Alderdom og skaaret ud med Snirkler og Løvværk [...], det var arvet fra Oldemoder“ („alte[r] hölzerne[r] Schrank, ganz schwarz vom Alter und mit geschnitzten Schnörkeln und Blattwerk [...], es war ein Erbstück von der Urgroßmutter“). Darauf ist ein grinsender Mann mit Ziegenbeinen, kleinen Hörnern und einem langen Bart platziert, der von den Kindern „Gjedebukkebeens-Overogundergeneralkrigskommandeersergeanten“ („de[r] Ziegenbockbein-Oberunduntergeneralkriegskommandeursergeant[en]“) genannt wird. Dieser blickt auf eine „yndig lille Hyrdinde af Porcelain“ („entzückende kleine Hirtin aus Porzellan“) mit vergoldeten Schuhen, einer roten Rose am Kleid, goldenem Hut und Hirtenstab. Neben ihr steht ein kleiner Porzellanschornsteinfeger und nicht weit davon ein Porzellanchinese, der mit dem Kopf nicken kann und dreimal so groß ist wie Hirtin und Schornsteinfeger. 1172 Martin Lotz bezeichnet dieses Interieur als surrealistisch, ohne näher zu definieren, was er darunter versteht. 1173 Der Hinweis ist treffend, wenn man Surrealismus mit Lautréamont als spannungsreiche Begegnung von sehr unterschiedlichen Dingen begreift. 1174 Die moderne, eher urbane Figur des Schornsteinfegers 1175 stellt 1169 Johan de Mylius (2004, S. 249) betont in seiner Interpretation den Unterschied zwischen vollem und leerem Sparschwein deutlicher. Erkennt man in Pengegrisen jedoch ein Portrait bestimmter Spielarten des Kapitalismus, ist es naheliegender, den Kreislauf von Krise und Expansion als Kontinuität desselben Prinzips zu begreifen. Vgl. Marx/ Engels 1959, S. 463-468. 1170 Sloterdijk 2006, S. 26. 1171 Vgl. Brask 1971, S. 184 f., 198 f.; Baggesen 1993, S. 23. 1172 EoH 1, S. 357; SM(TD) 1, S. 396 f. 1173 Vgl. Lotz 1993, S. 391. 1174 Lautréamonts (Comte de Lautréamont ist das Pseudonym von Isidore Ducasse) ab 1869 erschienene Chants de Malodoror hatten großen Einfluss auf die Surrealisten. Im sechsten Gesang findet sich der oft zitierte Vergleich „Il [le jeune homme, F. F.] est beau [...] comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie! “ (Ducasse 1927, S. 306), auf den sich die obige Surrealismusdefinition bezieht. 1175 Zur Geschichte des Schornsteinfegens vgl. Cullingford 2000, bes. S. 1-19; Wagner 1993, S. 23 f., 77 ff. Cullingford behandelt den englischen Raum, Wagner den deutschen. Die besondere Not- 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 245 einen Gegensatz zur ländlich-idyllischen Hirtin dar; beide unterscheiden sich als niedliche, friedliche Gestalten vom dämonisch-kriegerischen Ziegenbeinsergeanten. Der Name der Satyrfigur vereint Nicht-Zusammengehöriges, zwei disparate militärische Ränge, 1176 und verstärkt so den harmoniesprengenden Charakter der Nippes. Die folgende Handlung entwickelt sich aus den Spannungen zwischen den Figuren. Der Chinese behauptet, der Großvater der Hirtin zu sein, men det kunde han nok ikke bevise, han paastod at han havde Magt over hende, og derfor havde han nikket til Gjedebukkebeens-Overogundergeneralkrigscommandeersergeanten, der friede til den lille Hyrdinde. „Der faaer Du en Mand,“ sagde den gamle Chineser, „en Mand, som jeg næsten troer er af Mahagonitræ, han kan gjøre Dig til Gjedebukkebeens-Overogundergeneralkrigscommandeersergeantinde, han har hele Skabet fuldt af Sølvtøi, foruden hvad han har i de hemmelige Gjemmer! “ „Jeg vil ikke ind i det mørke Skab! “ sagde den lille Hyrdinde, „jeg har hørt sige, at han har derinde elleve Porcelains Koner! “ „Saa kan Du være den tolvte! “ sagde Chineseren [...]. (aber das konnte er bestimmt nicht beweisen; er behauptete, er hätte Gewalt über sie, und deswegen hätte er dem Ziegenbockbein-Oberunduntergeneralkriegskommandeursergeanten zugenickt, der um die kleine Hirtin angehalten hatte. „Da kriegst du einen Mann“, sagte der alte Chinese, „einen Mann, von dem ich fast vermute, er ist aus Mahagoni, er kann dich zur Frau Ziegenbockbein-Oberunduntergeneralkriegskommandeursergeantin machen, der hat den ganzen Schrank voll Silber, abgesehen von dem, was er in den Geheimfächern hat! “ „Ich will nicht in den finsteren Schrank hinein! “ sagte die kleine Hirtin. „Ich habe gehört, daß er da drinnen elf Porzellanfrauen hat! “ „Dann kannst du die zwölfte sein! “ sagte der Chinese.) 1177 Es ist die beabsichtigte Verheiratung, die die Hirtin veranlasst, den Schornsteinfeger zur Flucht zu überreden. Als sie jedoch gemeinsam durch den Kamin ins Freie gekrochen sind, bekommt sie Angst: Himlen med alle sine Stjerner vare oven over, og alle Byens Tage neden under; de saae saa vidt omkring, saa langt ud i Verden; den stakkels Hyrdinde havde aldrig tænkt sig det saaledes, hun lagde stille sit lille Hoved op til sin Skorsteensfeier og saa græd hun, saa at Guldet sprang af hendes Livbaand. „Det er altfor meget! “ sagde hun. „Det kan jeg ikke holde ud! Verden er altfor stor! gid jeg var igjen paa det lille Bord under Speilet! jeg bliver aldrig glad før jeg er der igjen! nu har jeg fulgt Dig ud til den vide Verden, nu kan Du gjerne følge mig hjem igjen, dersom Du holder noget af mig! “ wendigkeit des Schornsteinfegens im städtischen Raum und die ab dem 16. Jahrhundert einsetzende Professionalisierung (die allerdings bis ins 19. Jahrhundert Kinderarbeit einschloss) gelten jedoch auch für andere Länder. In Håndværkets Kulturhistorie (Kulturgeschiche des Handwerks) (Dybdahl u. a. 1982 ff.) findet sich leider kein Eintrag zum Schornsteinfeger. 1176 Vgl. Hedegaard 1982. 1177 EoH 1, S. 357 f.; SM(TD) 1, S. 397. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 246 (Der Himmel mit all seinen Sternen war über ihnen, und alle Dächer der Stadt unter ihnen; sie sahen so weit, so weit in die Welt hinaus; die arme Hirtin hatte sie sich nie so vorgestellt, sie lehnte sich mit ihrem kleinen Kopf an ihren Schornsteinfeger, und dann weinte sie, daß das Gold von ihrem Miederband absprang. „Es ist viel zuviel! “ sagte sie. „Das kann ich nicht ertragen! Die Welt ist viel zu groß! Wäre ich doch wieder auf dem kleinen Tisch unter dem Spiegel! Ich werde nie mehr froh werden, ehe ich nicht wieder dort bin! Nun habe ich dich in die weite Welt hinausbegleitet, nun kannst du mich ruhig wieder nach Hause begleiten, wenn du mich nur ein bißchen liebhast! “) 1178 Die Hirtin verleugnet, selbst den Anstoß zur Flucht gegeben zu haben, und lässt sich auch durch Hinweise auf den Chinesen und die geplante Verheiratung nicht von ihrem Wunsch abbringen, so dass der Schornsteinfeger schließlich mit ihr den Heimweg antritt. Im Wohnzimmer liegt der Chinese zerbrochen auf dem Fußboden. Aber er kann repariert werden und so wird die Ausgangssituation wieder hergestellt. Durch die Niete in seinem gebrochenen Hals kann der Chinese jedoch nicht mehr nicken und damit auch nicht mehr sein Einverständnis für die Hochzeit mit dem Gjedebukkebeens-Overogundergeneralkrigscommandeersergeanten geben, so dass Hirtin und Schornsteinfeger wie zu Beginn nebeneinander stehen bleiben können. Nach Finn Hauberg Mortensen prägt die menschliche Gestalt der Dinge in Hyrdinden og Skorsteensfeieren ihre Rolle hinsichtlich des Klassen- oder Geschlechtscharakters. So leitet der Schornsteinfeger seine Dame durch den Kamin. Sie sind jedoch „dobbeltbestemt“ 1179 („doppelt bestimmt“ [Übers. F. F.]), haben neben dem Menschenauch Dingcharakter. Dies heißt nach Mortensen, dass sie von Menschen aus totem Material geschaffen und im Raum positioniert werden. Diese Platzierung prägt den Handlungsverlauf. Zusätzlich unterliegen die Dinge der menschlichen Interpretation. 1180 Damit deutet er an, dass sich in das menschlich-dingliche Verhältnis stets Machtkonstellationen einschreiben, verbleibt jedoch an dieser Stelle noch überwiegend in der Vorstellung einer passiven Dinglichkeit. Mortensens Interpretation in Ting og eventyr zufolge spaltet das Verdrängte - hier: die Sexualität - das bürgerliche Universum von innen: Men eventyret stiller spørgsmål både til det borgerlige ægteskab og den hjemmekultur, der har behov for at flirte med drifterne, transformeret til legetøj. Nipseri er udtryk for en dyrkelse af tingen, som indkapsler naturen. Men i sin kunstneriske gestaltning beretter eventyret om interiørets manglende evne til at bringe en ideal begrundet helhedstolkning i funktion i forhold til de kulturfragmenter, det sætter i spil. Denne kulturkritik anbringes via mikrouniverset og dobbeltbestemmelsen af tingene i munden på de oplæsende familiefædre. 1178 EoH 1, S. 359 f.; SM(TD) 1, S. 400. 1179 Mortensen 2006a, S. 62. 1180 Vgl. Mortensen 2006a, S. 62, 65; 2006b, S. 55, 61. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 247 Pointen i tingseventyrene er umiddelbart, at ting fungerer som aktører og dermed bærer menneskelige relationer. Det var i Andersens tid ikke en selvfølge, men en del af det moderne. 1181 (Aber das Märchen stellt Fragen sowohl an die bürgerliche Ehe als auch an die Kultur des Heims, die Bedarf danach hat, mit den Trieben, transformiert zu Spielzeug, zu flirten. Nippes sind Ausdruck einer Verehrung des Dings, das die Natur einkapselt. Aber in seiner künstlerischen Gestaltung berichtet das Märchen von der mangelnden Fähigkeit des Interieurs, eine ideal begründete Ganzheitsdeutung der Funktion im Verhältnis zu den Kulturfragmenten, die ins Spiel gebracht werden, zu liefern. Diese Kulturkritik wird durch ein Mikrouniversum und die Doppeltbestimmtheit der Dinge im Munde der vorlesenden Familienväter angebracht. Die Pointe der tingseventyr ist unmittelbar, dass Dinge als Akteure fungieren und damit menschliche Beziehungen tragen. Das war in Andersens Zeit keine Selbstverständlichkeit, sondern Teil des Modernen. [Übers. F. F.]) In der von dieser Version des Aufsatzes leicht abweichenden Fassung Ting og relation fehlt der letzte Absatz des Zitats, der Dingen Akteursqualitäten zugesteht. Zwar wird auch hier verdeutlicht, wie im Interieur die Dinge und ihre beabsichtigte Wirkung in Widerstreit geraten und die Domestizierung der Gefühle in Nippes prekär bleibt. Damit haben die Dinge eine spannungsgeladene Beziehung zu den Menschen. Ting og relation dichotomisiert jedoch deutlich zwischen Binnen- und Außenperspektive: Von außen betrachtet hätten die Dinge keine Psychologie und bis auf den Sturz des Porzellanchinesen, dessen Nacken geklebt werden muss, passiere in Hyrdinden og Skorsteensfeieren nichts, heißt es hier. In ihrer eigenen Welt dagegen seien die Dinge handlungsfähig und beweglich. 1182 Dadurch werden die Dinge in ihrem Verhältnis zu den Menschen hier nur als passive Objekte begriffen. Im vorliegenden Zitat dagegen erkennt Mortensen den Dingen agency zu, sie gehen mit den Menschen eine Beziehung ein. Mortensens Interpretation beschränkt sich weitgehend auf die Sexualitätsproblematik, die die Flucht auslöst, und klammert aus, was es mit der Furcht vor der Außenwelt auf sich hat. 1183 Es lohnt sich, die Dinge noch einmal genauer zu betrachten, um dieser Furcht und damit auch der Funktionsweise des Interieurs auf die Spur zu kommen. Das Interieur ist auch in Hyrdinden og Skornsteensfeieren ein phantasmagorischer Schutzraum vor einer ökonomisierten Außenwelt, dessen Grenzen sich als durchlässig erweisen. Schon in der Klage des Erzählers über das saubere Gesicht des Schornsteinfegers („det var egentligt en Feil, for lidt sort kunde han gjerne have været“ [„das war eigentlich ein Fehler, denn ein wenig schwarz hätte es ruhig sein können“]), 1184 wird der phantasmagorische Charakter des Interieurs, das alle Spuren der Arbeit zu tilgen versucht, dargestellt und gebrochen. Der Schornsteinfeger, der 1181 Mortensen 2006a, S. 66 f.; vgl. 2006b, S. 64. 1182 Mortensen 2006b, S. 62. 1183 Das gilt auch für Mortensen 1993, S. 123-126. 1184 EoH 1, S. 357; SM(TD) 1, S. 397. Mortensen (2006a, S. 66; 2006b, S. 63) erkennt in dieser Charakterisierung den Ausdruck fehlender männlicher Eigenschaften. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 248 als einzige Nippesfigur einen eher modernen Beruf hat, kennt vermittels seines Arbeitsgebietes eine Verbindung zur Außenwelt, den Kamin. Der Schornsteinfeger verkörpert den vergeblichen Versuch, das Innen vom Schmutz der Arbeit reinzuhalten und verbindet es mit dem Außen. Aber auch die anderen Figuren partizipieren an einem ungeheuren Netzwerk von Waren. Das Interieur von Hyrdinden og Skorsteensfeieren versammelt, wie es nach Benjamin charakteristisch für diesen Raumtyp ist, „die Ferne und die Vergangenheit“ 1185 , einen Chinesen und Antiquitäten. Die Materialität der Figuren wird mehrfach thematisiert; bei der Vorstellung der Nippes wird immer benannt, woraus sie bestehen. Einerseits hat ihr Material das Potential, die Figuren in Verwandtschafts- und Machtbeziehungen zu verbinden, andererseits verweist es auf ihre Zugehörigkeit zu der weiten Welt, vor der sich die Hirtin so fürchtet. Denn Porzellan hat eine dezidiert transnationale Geschichte. Als hybrides Produkt westlicher Phantasien vom Anderen und ursprünglich fernöstlicher Produktionstechniken verkörpert der Chinese diese transnationale Dimension besonders deutlich. 1186 Die Herstellung von Porzellan in Dänemark war zugleich ein Projekt, das das dänische Königshaus im 18. Jahrhundert vorantrieb, „til landets gavn og kongens ære“ („zum Nutzen des Landes und dem König zur Ehre“ [Übers. F. F.]), um auf diesem Gebiet wirtschaftlich unabhängig von anderen Ländern zu werden. 1187 Die Geschichte des Materials verkörpert so die Dialektik von nationaler Abgrenzung und Einbindung in das globale Warennetzwerk, die mit den Abgrenzungs- und Einschließungsprozessen des Interieurs verwandt ist. In einer königlichen Tradition steht auch die Figur der Hirtin, die weniger auf die Arbeit des Schafehütens als auf die idealisierte Vorstellung davon in der Zeit des Rokoko verweist. Die Hirtin distanziert im Interieur die die Wohnung umgebende Stadt, die ihr der Blick über die Dächer zeigt. Die Satyrfigur treibt die Hirtin aus dieser abgesonderten Position in die Welt hinaus. Der Militärangehörige ist möglicherweise aus Mahagoniholz und verweist damit ebenfalls auf ein weltweites Netzwerk von Waren. 1188 Was ihn so unheimlich macht, sind die elf Frauen, von denen es heißt, dass sie in seiner Schublade liegen. Damit verkörpert er einerseits eine gefährliche, möglicherweise tödliche Form der Sexualität oder zumindest - als wohlhabender Alter - das Hindernis auf dem Weg zur Liebesehe. „Det mørke, gruelige skab, det er ægte-skabet! “ („Der dunkle, unheimliche Schrank (skab), das ist die Ehe (ægte-skab)! “ [Übers. F. F.]), 1189 erklärt Johan de Mylius. 1185 Benjamin 1991, S. 52. 1186 Dehua (1993, S. 352) erkennt in dieser Figur die Aufforderung, keine arrangierte Ehen mehr zuzulassen und bezieht diese aus einer gegenwärtigen Perspektive auf China, wo es immer noch arrangierte Ehen gäbe, obgleich diese verboten seien. Zur transnationalen Geschichte der Porzellanherstellung vgl. Bencard 2000. 1187 Vgl. Bencard 2000, S. 34-48. 1188 Vgl. auch Brask 1971, S. 189 f. 1189 De Mylius 2004, S. 75. Vgl. auch Brask 1971, S. 187 f.; Doctor 1993, S. 412 f. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 249 In den elf Figuren droht der Hirtin noch eine andere Gefahr: Der Verlust der Einmaligkeit, den die industrielle Massenproduktion mit sich bringt. Die Nippesfiguren wurden im Dutzend gekauft. 1190 Diese Gefahr schwebt stets auch über dem bürgerlichen Interieur als Ganzes. Der Versuch, die eigene Wohnung persönlich und individuell einzurichten wird konterkariert durch den Strom industriell gefertigter Waren, mit dessen Hilfe er unternommen wird. Nach Søren Baggesen ist Angst das zentrale Thema des Textes. Während Kindern durch das vermeintlich glückliche Ende die Möglichkeit zur Verarbeitung von Ängsten gegeben werde, erzähle Hyrdinden og Skornsteensfeiern seinen erwachsenen Lesern von der Angst, die in der Sicherheit liegt und diese möglicherweise konstituiert; „eventyret er en meget nærgående og intens skildring af klaustrofobien i det borgerlige familierum.“ 1191 („das Märchen ist eine eingehende und intensive Schilderung der Klaustrophobie im bürgerlichen Familienraum.“ [Übers. F. F.]) Für Baggesen geht die Angst von der Frauenfigur aus und sie bindet mit ihrer Angst auch den Schornsteinfeger. Die misogyne Tendenz, die er in Hyrdinden og Skorsteensfeieren erkennt, ist jedoch keineswegs so eindeutig wie seine Interpretation. Denn Auslöser der Angst sind auch die Macht des Chinesen, über das Leben der Hirtin zu bestimmen, der diabolische Satyr, die massenhaften Nippesbräute in der Schublade und die weite Welt. Die Angst vor der Weite korrespondiert mit den Versuchen, sich räumlich abzugrenzen, die im Interieur erfolgen. Der Text schildert vielleicht weniger die Klaustrophobie als die Agoraphobie des bürgerlichen Universums, die Angst vor dem Ausbruch und der Außenwelt. Letztere ist aber durch die Medien der Distanzierung, die Nippes, immer schon anwesend. 3.3.2 Verbindungen I: Globale Warenwelten Spuren globalen Warenverkehrs finden sich in zahlreichen Eventyr og Historier: Mahagonikreisel und Saffianball in Kjærestefolkene, indische Blumentöpfe in Den gamle Gadeløgte, 1192 Seidenstrümpfe, Panama-Hut und englischer Pflug in Tolv med Posten (Zwölfe mit der Post) (1861), 1193 chinesischer Tee, Zuckerschale und Blumenzwiebel in Theepotten 1194 . Die Formen des länderübergreifenden Austauschs von Menschen und Dingen blicken auf unterschiedlich lange Geschichten mit wechselnden Intensitäten zurück. Während der deutsche Kräuter- und Bierhandel in Dänemark aus Pebersvendens Nathue 1195 im 19. Jahrhundert bereits ein Auslaufmodell war, hatte der in Ijsjomfruen 1190 Vgl. Brask 1971, S. 191. 1191 Baggesen 1993, S. 24. 1192 Vgl. EoH 1, S. 281; 391; SM(TD) 1, S. 286; 422. 1193 Vgl. EoH 2, S. 342 f.; SM(TD) 2, S. 213-216. 1194 Vgl. EoH 3, S. 48 f.; SM(TD) 2, S. 401 f. 1195 Vgl. EoH 2, S. 169-179; SM(TD) 1, S. 707-723. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 250 (Die Eisjungfrau) (1861) 1196 sich ankündigende Alpentourismus im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Beide Texte zeugen von der erstaunlichen Sensibilität der Eventyr og Historier für Transformationen des Warenverkehrs. In Hvad man kan hitte paa (Was man sich ausdenken kann) (1869) 1197 werden aus interkontinentalen Austauschprozessen Geschichten. Andersen kommentiert in den Bemærkninger til Eventyr og Historier (1874) lapidar: „’Hvad man kan hitte paa’, [sic] hører til de oplevede Eventyr.“ 1198 („’Was man sich vorstellen kann’ gehört zu den erlebten Märchen.“ [Übers. F. F.]). Aber was wird in Hvad man kan hitte paa erlebt? Meine Interpretation schlägt vor, den Text als Programm für eine Dingpoesie zu begreifen, die erkundet, wie das Nächste mit dem Fernsten verbunden ist. Ein junger Mann studiert in diesem Märchen, Dichter zu werden. Bis Ostern möchte er soweit sein, dass er heiraten und vom Dichten leben kann, „og det er, vidste han, bare at hitte paa, men han kunde ikke hitte paa. Han var født forsilde, Alt var taget op før han kom til Verden, Alt var der digtet og skrevet om.“ („und das heißt, das wußte er, man mußte sich bloß etwas ausdenken können, aber er konnte sich nichts ausdenken. Er war zu spät auf die Welt gekommen, alles war vorweggenommen worden, bevor er geboren wurde, über alles war schon gedichtet und geschrieben worden.“) Vor tausend, selbst vor hundert Jahren gab es noch, so der junge Mann, „’[...] Noget at digte om; nu er Verden digtet ud, hvad skal jeg kunde digte ind! ’“ („’[...] etwas [...] zum Dichten; nun ist die Welt leergedichtet, was sollte ich hineindichten können! ’“) 1199 Angesichts der im 19. Jahrhundert stattfindenden explosiven Zunahme von Dingen und Menschen in Europa 1200 kann dieser Eindruck überraschen. Der junge Mann ist jedoch einem Konzept von Poesie verbunden, das sich nicht mit der Prosa des Alltags vereinbaren lässt. Den Beruf des Dichters als Studium zu begreifen deutet an, dass der junge Mann der akademischen Regelpoesie folgt: „Han studerede paa det, saa at han blev syg og daarlig, det elendige Menneske; ingen Doctor kunde hjelpe ham, men maaskee den kloge Kone.“ („Er studierte, bis er krank und elend wurde, der bejammernswerte Kerl! Kein Doktor konnte ihm helfen, aber vielleicht die weise Frau.“) Dem Bücherwissen des Studenten und der Ärzte, das nicht hält, was es verspricht, aber Geld bringen soll, wird die Figur der klugen Frau gegenübergestellt. Huset, hun boede i, var lille og net, men kjedeligt at see paa; der var ikke et Træ, ikke en Blomst; der stod en Bistade ud for Døren, meget nyttig! der var en lille Kartof- 1196 Erschien erstmals 1861 in den Nye Eventyr og Historier. Anden Række. Anden Samling mit der Jahreszahl 1862 auf dem Titelblatt. Vgl. EoH 2, S. 512. Für die einschlägigen Stellen in Ijsjomfruen vgl. ebd., S. 391 f., 407 f., 433; SM(TD) 2, S. 259 f., 282 f., 320. 1197 Auch dieser Text erschien zuerst im amerikanischen Riverside Magazine. Vgl. EoH 3, S. 443. 1198 Vgl. EoH 3, S. 396. 1199 EoH 3. S. 245; SM(TD) 2, S. 576. 1200 Vgl. Böhme 2006, S.17 f.; Ruppert 1993, S.23 f.; Simmel 1989, S.617-654 zur Vermehrung der Dinge sowie Osterhammel 2009, S. 185 zum Bevölkerungswachstum. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 251 felmark, meget nyttig! og en Grøft med Slaaentjørne, der havde afblomstret og sat Bær, som rempe Munden sammen, naar man smager dem før de have faaet Frost. „Det er livagtig vor poesiløse Tid, jeg her seer! “ tænkte den unge Mand, og det var altid en Tanke, et Guldkorn, han fandt ved den kloge Kones Dør. „Skriv det op! “ sagde hun; „Smuler ere ogsaa Brød! [...]“ „Alt er skrevet op! “ sagde han. „Vor Tid er ikke gammel Tid! “) (Das Haus, darin sie wohnte, war klein und sauber, aber öde anzuschauen; da gab es nicht einen Baum, nicht eine Blume; vor dem Haus stand ein Bienenkorb, sehr nützlich! Einen kleinen Kartoffelacker gab es dort, sehr nützlich! und einen Graben mit Schlehensträuchern, die waren verblüht und trugen Beeren, die einem den Mund zusammenziehen, wenn man von ihnen kostet, bevor sie Frost bekommen haben. „Was ich hier sehe, ist unsere poesielose Zeit, wie sie leibt und lebt! “ dachte der junge Mann, und das war immerhin ein Gedanke, ein goldenes Korn, das er vor der Tür der weisen Frau fand. „Schreib es auf! “ sagte sie, „Krumen sind auch Brot! [...]“ „Alles ist niedergeschrieben! “ sagte er. „Unsere Zeit ist nicht die alte Zeit! “) 1201 In der Stimme des Erzählers bricht sich der Blick des jungen Mannes ironisch, die Abwertung der Dinge als nützlich und langweilig kontrastiert mit der Sinnlichkeit der Darstellung, die sich in der Schilderung der Beeren schließlich durchsetzt. Die Klage des jungen Mannes über eine poesielose Zeit erinnert an die Diagnose von Hegels Ästhetik, die nicht mehr eigentlich poetische Zeit der Prosa sei angebrochen. Diese Diagnose verknüpft Hegel, wie Uwe Steiner darstellt, mit dem „Problem der Repräsentation moderner, bürgerlicher Wirklichkeit“, die durch „abstrakte und verschlungene Vermittlungsketten einerseits und konkrete Gegenständlichkeit andererseits“ 1202 bestimmt wird. Dieser Zusammenhang bestimmt auch die in Hvad man kan hitte paa entfaltete Diskussion. Die kluge Frau pflichtet der Sehnsucht des jungen Mannes nach der alten Zeit nicht bei: „i gammel Tid bleve de kloge Koner brændte, og Poeterne gik om med slunken Tarm og Hul paa Albuen. Tiden er just god, den er den allerbedste! [...] Her er fuldt op i alle Maader til at digte og fortælle om, naar man kan fortælle. Du kan løse det ud af Jordens Væxter og Grøde, øse det op af det rindende og af det stillestaaende Vand, men Du maa forstaae det, forstaae at fange en Solstraale.“ („in alter Zeit wurden die weisen Frauen verbrannt, und die Poeten liefen mit schlotternden Gedärmen und Löchern am Ellbogen herum. Die Zeit ist gerade gut, es ist die allerbeste! [...] Hier gibt es in jeder Hinsicht die Hülle und Fülle zu dichten und davon zu erzählen, wenn man erzählen kann. Du kannst es aus den Gewächsen und der Frucht der Erde holen, aus dem fließenden und aus dem stehenden Wasser schöpfen, aber du mußt es verstehen, du mußt verstehen, einen Sonnenstrahl einzufangen.“) 1203 Das positive Verhältnis der klugen Frau zur Gegenwart beruht auf den Errungenschaften der Aufklärung, während ihr poetologisches Programm im Gegensatz zum 1201 EoH 3, S. 245; SM(TD) 2, S. 576 f. 1202 Steiner 2009b, S. 20. Vgl. Hegel 1970, Bd. 13, S. 192-202, 316-360. 1203 EoH 3, S. 245 f.; SM(TD) 2, S. 577. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 252 jungen Mann die Fülle des Daseins als unerschöpfliches Sujet begreift. Sie fordert ihren Besucher zudem dazu auf, nicht an sich selbst zu denken, was der Erzähler als die schwerste Aufgabe charakterisiert. Das Absehen vom Ich soll die Augen für die Dinge, die es umgeben, öffnen. Dieses Dasein scheint zunächst geschichtslos zu sein: pflanzliches Wachstum, Wasser, Sonne. Der Natur wird aber im Folgenden eine historische Dimension verliehen. Die kluge Frau leiht dem jungen Mann ihre Brille und ihr Hörrohr und gibt ihm eine große Kartoffel in die Hand. Diese erzählt ihm die Geschichte der Kartoffeln, „en Hverdagshistorie“ („eine Alltagsgeschichte“ [Übers. F. F]) 1204 von der Ankunft der Kartoffel in Europa, der fehlenden Anerkennung bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass sie „en større Velsignelse end en Guldklump“ („ein Segen [...], größer als ein Goldklumpen“ 1205 ) sei, von der Unfähigkeit, die Kartoffel anzupflanzen und zu nutzen, bis das dazu nötige Wissen durch Versuch und Irrtum erworben war. 1206 Der Begriff „Hverdagshisorie“ kann als Anspielung auf Thomasine Gyllembourg, die mit ihren realistischen Prosaerzählungen bekannt wurde, 1207 gelesen werden. Hvad man kan hitte paa setzt sich an dieser Stelle in Beziehung zu literarischen Formen, die sich im 19. Jahrhundert durchsetzen, und stellt dabei ein Ding, eine Kartoffel, ins Zentrum seiner Poetologie. Gegenüber dem Goldkorn, das die Idee der poesielosen Zeit darstellte, ist die Kartoffel ein Goldklumpen. Die Prosa der Dinge ist die neue Poesie. Der Text entwirft ein poetologisches Programm, das in weiten Teilen dem in Teil 1 vorgestellten von Uwe Steiner skizzierten Genre oder Subgenre der Dingprosa entspricht. Dieses Programm umfasst kleine literarische Texte, „in deren Zentrum Dinge figurieren“ 1208 . Dingprosa „beschreibt, exploriert und deutet [...] die Assoziation von Dingen und Menschen“ 1209 . Dinge können darin als Autoren von Geschichten auftreten oder agieren. Indem das Ding in Hvad man kan hitte paa seine Geschichte erzählt, wird es vom natürlichen Gebrauchsobjekt, das geschichtslos und passiv erscheint, zu einem Quasi-Objekt: Auslöser historisch wandelbarer hybrider Aktivitäten. In der Geschichte der Kartoffel spiegeln sich die globalen Austauschprozesse wider, die die terrestrische Globalisierung angestoßen hat. 1210 Auch die nächste Geschichte entfaltet ein interkontinentales Netzwerk von Beziehungen. Der Schlehdorn hat Verwandte in der Nähe des Kartoffel-Heimatlandes. 1204 EoH 3, S. 246. Dohrenburg übersetzt ausschließlich im Sinne einer Literatur des Alltäglichen mit „eine alltägliche Geschichte“ (SM(TD) 2, S. 578). 1205 EoH 3, S. 246; SM(TD) 2, S. 578. 1206 Andersen hat zwei Entwürfe zu einem Märchen mit dem Titel Kartoflerne (Die Kartoffeln) geschrieben. Die entsprechende Passage in Hvad man kan hitte paa ist ein Konzentrat dieser Entwürfe, die postum von Helge Topsøe-Jensen (1954) in der Anderseniana veröffentlicht wurden. 1207 Zu Gyllemboug vgl. z. B. Müller-Wille 2006, S. 170 f. 1208 Steiner 2009b, S. 23. 1209 Ebd., S. 24. 1210 Zum Begriff der terrestrischen Globalisierung vgl. Sloterdijk 1999, S. 801-1005; 2006 sowie S. 2 dieser Arbeit. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 253 Norweger hatten seine Früchte, zu reifen Trauben gefroren, auf ihren Fahrten in ein unbekanntes Land entdeckt, das den Namen „’Viinland : Grønland : Slaaenland’“ 1211 „Weinland, das ist Grönland [grøn bedeutet grün, F. F.], das ist Schlehenland“ erhielt. Der junge Mann charakterisiert diese Geschichte als „’[...] en heel romantisk Fortælling! ’“ („’[...] eine ganz romantische Erzählung! ’“) 1212 Die Geschichte, auf die die kluge Frau seinen Blick nun lenkt, revidiert den harmonischen Eindruck der vorherigen: Der Bienenstock erscheint als arbeitsteilige „store Fabrik“ („große[n] Fabrik“) 1213 , in der der Bienenkönigin die Flügel abgebissen werden, als sie zur Unzeit zu fliegen versucht. Das neue Erzählen besteht nicht nur aus biedermeierlicher Harmonie. Nun soll der junge Mann die Menschen auf der Landstraße betrachten und ihre Geschichten einfangen. Zuvor muss er jedoch Hörrohr und Brille zurückgeben, und ohne diese ist er nicht mehr in der Lage, etwas zu sehen oder zu hören. Deshalb kann er nicht Dichter werden, wie ihm die kluge Frau erklärt. Um durch die Poesie sein Geld zu verdienen, solle er die Poeten aus der Tonne schlagen: 1214 „’[...] slaa deres Skrifter, det er at slaae dem selv. Lad Dig bare ikke forbløffe; slaa raskvæk [...]! ’“ („’[...] Schlag ihre Schriften, das ist genauso, als schlügest du sie selber. Laß dich nur nicht verblüffen, schlag nur drauflos [...]! ’“) „’Hvad man kan hitte paa! ’“ gibt der junge Mann zur Antwort und schlägt jeden zweiten Poeten aus der Tonne, da er selbst keiner werden kann. „Vi have det fra den kloge Kone, hun veed hvad man kan hitte paa.“ („Wir haben es von der weisen Frau, sie weiß, wie man sich etwas ausdenken kann.“) 1215 Steht das Verb „hitte“ alleine, wird es in der Regel mit „finden“ übersetzt; etymologisch ist es wahrscheinlich mit dem englischen „hit“ verwandt. 1216 Die Verbindung „hitte paa“ kann „erinnern/ raten“ oder „eine Idee/ einen Gedanken/ einen Plan bekommen und/ oder machen/ ausführen“, auch im Sinne von „mit etwas Neuem kommen (Ausweg/ Lösung/ Überraschendes)“ bedeuten. 1217 Hvad man kan hitte paa 1211 EoH 3, S. 246; SM(TD) 2, S. 579. 1212 Ebd. 1213 EoH 3, S. 247; SM(TD) 2, S. 579. 1214 Dabei handelt es sich laut Dohrenburg um eine Anspielung auf einen alten Fastnachtsbrauch, bei dem auf eine Tonne geschlagen wird, in der eine lebende Katze gefangen ist. Wer ein Loch hineinschlägt, durch das die Katze entwischen kann, wird der Katzenkönig. Dieser Hinweis fehlt in den Anmerkungen des dänischen Originals (EoH 3, S. 444), wo stattdessen für diese Wendung nur „blive kritiker“ („Kritiker werden“ [Übers. F. F.]) angegeben wird. Interessanterweise wird „Lad dig bare ikke forbløffe“ kommentiert, es handele sich um die deutsche Redensart „man soll sich nicht verblüffen lassen“, die an dieser Stelle bedeute „geniere dich nicht“/ „halte dich nicht zurück“. Diese Redensart ist dem Internet jedoch unbekannt, eine Suche bei Google am 8. Juli 2010 ergab zwei Treffer. Davon war einer dänisch. Inzwischen scheint die angeblich deutsche Redensart auch ins Finnische gewandert zu sein: Am 20. Januar 2011 gab es vier Treffer bei Google, davon einer in einem dänischen und einer in einem finnischen Text. 1215 EoH 3, S. 247, SM(TD) 2, S. 580. 1216 Vgl. Bergstrøm-Nielsen/ Lange/ Larsen 1996, S. 363; Nielsen 1969, S. 155. 1217 Übers. F. F. Vgl. Det Danske Sprogog Litteraturselskab 1926, Bd. 8, S. 174. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 254 beschreibt eine Poetik des Zustoßens. Dem jungen Mann stoßen - dank Hörrohr und Brille - die Dinge zu, deren Wahrnehmung er durch das Studium nicht erlernt hat. Diese Unfähigkeit erlaubt es ihm nur, Kritiker, nicht aber Dichter zu werden. Poesie dagegen erfordert die Bereitschaft, sich etwas zustoßen zu lassen, und darauf zu lauschen, was die Dinge zu sagen haben. So erkennt man ihre Geschichtlichkeit und gewinnt einen Blick für die globalen Zusammenhänge unseres Daseins. Diese Zusammenhänge liegen Dryaden zugrunde. Ausgangspunkt und Zentrum des Textes ist die Weltausstellung. Hier wird die Dingdarstellung, wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, deutlich mit der Warenwerdung von Dingen und Menschen und der damit verbundenen Beschleunigungsbewegung assoziiert. Dabei zeichnet auch Dryaden ein globales Netzwerk von Mensch-Ding-Beziehungen auf. Die Globalität desselben ist im Unterschied zur Globalität des heimatlichen Vorgartens in Hvad man kan hitte paa nicht überraschend. Auf Weltausstellungen wird Welt dargestellt, indem Dinge und Menschen aus möglichst allen Ländern versammelt werden. Dryaden legt die Widersprüche zwischen den rationalistischen Absichten der Ausstellungsausrichter und der fetischistischen Wirkung des umgesetzten Konzepts offen. Der Eurozentrismus der imaginative geography 1218 , die Ausgangspunkt der Ausstellungsplanung war, wird so dekonstruiert. Die Ausstellung 1867 war als eine Enzyklopädie angelegt, in der menschliche Leistungen durch die Exponate demonstriert werden sollten. 1219 Neben die von früheren Ausstellungen bekannte Ordnung der Objekte nach Nationen trat ein Klassifikationssystem, das sie verschiedenen Produktionsfeldern zuordnete. Dieses Konzept zielte nach Volker Barth darauf ab, den Menschen durch zielgerichtetes und produktives Handeln zu charakterisieren. 1220 Arbeit und Fortschritt waren die Leitideen der Ausstellung. Die Welt sollte als Ganze zur Darstellung kommen und die Produkte in einer Rangordnung zeigen, an der sich der Fortschritt der Nationen ablesen ließ. Klassifikation und Systematisierung waren ideologisch aufgeladen, das Konzept auf eine Demonstration der französischen Hegemonialansprüche zugeschnitten. Die Vergleichsparameter der Produktionsverhältnisse waren so ausgerichtet, dass Frankreich und die westlichen Nationen die höchsten Positionen einnahmen. Die weitere Hierarchisierung der Welt erfolgte über das Muster primitiv/ fortschrittlich. Diese Ordnung sollte der in den Exponaten angeblich demonstrierte Stand der Zivilisation herstellen. Dabei waren die Ordnungs- und Zulassungskriterien maßgeblich an den französischen Interessen ausgerichtet und Frankreich dominierte die Ausstellungshalle auch räumlich durch die weitaus größte Ausstellungsfläche. 1221 1218 Der Begriff der imaginative geography bezieht sich auf Said 2003. 1219 Vgl. Barth 2007, S. 104; Friebe 1983, S. 46; Kretschmer 1999, S. 85. In Felcht 2010a sind auch Abbildungen zu finden. 1220 Vgl. Barth 2007 S. 97. 1221 Vgl. ebd., S. 16, 71, 100 f. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 255 Im Märchen spiegelt sich das Konzept einer geordneten Welt in der Blütenmetaphorik wider, die in Dryaden stets mit Vergänglichkeit assoziiert ist. 1222 „En Konstens og Industriens Pragtblomst“, sagde de, „er skudt frem paa Marsmarkens planteløse Sand; en kæmpestor Solsikke, af hvis Blade man kan lære Geographi, Statistik, faae Oldermands Kundskab, løftes op i Konst og Poesi, kjende Landenes Størrelse og Storhed.“ („Eine Prachtblume der Kunst und Industrie“, sagten sie, „ist entsprungen aus dem pflanzenlosen Sand des Marsfelds; eine riesenhafte Sonnenblume, aus deren Blättern man Geographie und Statistik lernen kann, Meisterwissen erwerben, erhoben werden kann in Kunst und Poesie, Grenzen und Größe der Länder erfahren.“) 1223 In der Ordnung der Blütenblätter spiegelt sich die geplante Ordnung der Ausstellung wider: geographische und statistische Positionierungen, objektive Darstellungen geistiger und künstlerischer Leistungen, Abgrenzungen und Wettstreit der Nationen. Das plötzliche Emporschießen aus pflanzenlosem Sand ist das Gegenteil von langsamem Wachstum und Verwurzelung. In der zeitlichen Begrenztheit der Weltausstellung ist ihre Vergänglichkeit bereits angelegt. Die geplante Ordnung löst sich aber schon vor dem offiziellen Ende auf; die Dryade findet keine wohlgeordnete Ausstellung vor, sondern eine chaotische Ansammlung von Menschen und Dingen: Her stod Ægyptens Kongeslot, her Ørkenlandets Karavanserai; Beduinen paa sin Kameel, kommende fra sit Solland, jog forbi; her bredte sig russiske Stalde med ildfulde, prægtige Heste fra Stepperne; det lille straatækkede danske Bondehus stod med sit Danebrogs Flag nær Gustav Vasas prægtigt i Træ skaarne Huus fra Dalarne; amerikanske Hytter, engelske Cottager, franske Pavilloner, Kiosker, Kirker og Theatre laae forunderligt strøede omkring [...]. (Hier stand Ägyptens Königsschloß, hier die Karawanserei des Wüstenlands; der Beduine auf seinem Kamel, auf dem Weg aus seinem Sonnenland, jagte vorbei; hier machten sich russische Ställe breit mit den feurigen, prächtigen Pferden der Steppen; das kleine strohgedeckte dänische Bauernhaus stand mit seiner Danebrogsflagge unweit Gustav Wasas prächtig aus Holz geschnitztem Haus aus Dalarna; amerikanische Hütten, englische Cottages, französische Pavillons, Kioske, Kirchen und Theater lagen wunderlich ringsum verstreut [...].) 1224 Dem Bedürfnis nach Darstellbarkeit der neuen Kräfte, die im Zuge von Globalisierungs- und Industrialisierungsprozessen wirksam werden, wird durch chaotische Dingensembles entsprochen, ähnlich denen, die die Ethnologie in angeblich fetischistischen Kulturen entdeckt haben wollte. 1225 Die Zufälligkeit der Ansammlung lässt sich in Beziehung setzen zur Weltausstellungsarchitektur. Denn der Text beschreibt nicht das Ausstellungsgebäude selbst, 1222 S. o. S. 2 1. 1223 EoH 3, S.200; SM(D), S.144. Das Subjekt der Aussage, „de“ („sie“), wird nicht näher bestimmt. 1224 EoH 3, S. 200 f.; SM(D), S. 145. 1225 Vgl. Böhme 2006, S. 208. Eine Spur des ethnologischen Fetisch-Konzepts findet sich im Drama Mulatten (1840), in dem ein Fetisch-Priester erwähnt wird. Vgl. Sk 2, S. 287 f. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 256 sondern den Park mit den Nationalpavillons, der erstmals auf einer Weltausstellung eingerichtet worden war. Während das Ausstellungsgebäude die Ausstellungslogik direkt umsetzte, gehorchten die Nationalpavillons nicht dem erzieherischen Konzept der Ausstellungsplaner. Das Ausstellungsgebäude bestand aus einem Oval, das in mehrere Ringe für die einzelnen Produktklassen unterteilt war und in dem jede zugelassene Nation ein tortenstückartiges Segment bekam. Die Besucher sollten beim Durchschreiten des Ausstellungsgebäudes den jeweiligen Entwicklungsstand der Nationen unmittelbar vergleichen können sollten. Die Nationalpavillons dagegen richteten sich hauptsächlich nach den Interessen der Aussteller, die sich weitgehend mit den Konsumwünschen der Besucher deckten. Weil die französische Dominanz dazu geführt hatte, dass die anderen Nationen unverhältnismäßig wenig Raum zugestanden bekommen hatten, nahm der Park mit den Nationalpavillons eine sehr viel bedeutendere Rolle ein als vorgesehen. 1226 Dieser Park und die Vergnügungsangebote der Weltausstellung rücken auch in Dryaden in den Vordergrund. Die Belehrung wird vom Berauschen verdrängt. Im Märchen setzt die Auflösung der Ordnung durch die ungeheure Verdichtung von Menschen und Dingen auf engstem Raum bereits mit der Anreise ein: [V]ed Aften og Midnat, ved Morgen og hele den lyse Dag kom Togene, og fra hver og ind i hver stimlede det fra alle Verdens Lande med Mennesker; et nyt Verdens-Under havde kaldt dem til Paris. [...] [H]en over dette store rigtdækkede Festbord [Marsmarken, F. F.] bevæger sig som travle Myresværme den hele Menneskevrimmel [...]. Dampskib ved Dampskib, overfyldt af Mennesker, glider ned ad Seinen, [...] Sporvogne og Omnibusser ere proppede, stoppede og garnerede med Mennesker [...]. ([A]m Abend und um Mitternacht, am Morgen und den ganzen hellen Tag lang kamen die Züge, und aus jedem und in jedem wimmelte es von Menschen aus allen Ländern der Welt; ein neues Welt-Wunder hatte sie gerufen, nach Paris. [...] [Ü]ber diese große reichgedeckte Festtafel [das Marsfeld, F. F.] hin bewegt sich wie rastlose Ameisenschwärme das ganze Menschengewimmel [....]. Dampfschiff an Dampfschiff, überfüllt von Menschen, gleitet die Seine herab; [...] die Straßenbahnen und Omnibusse sind gestopft und gepfropft und mit Menschen garniert [...].) 1227 Die Menschen erscheinen beim Besuch der Inszenierung menschlicher Größe wie Ameisen in den vollgestopften Omnibussen und Eisenbahnen, während die Dinge sie bewegen. Das Welt-Wunder, das die Menschen nach Paris ruft, ist die Ausstellung selbst, ein Konglomerat aus Gebäuden und Exponaten. Die westliche Welt steht entgegen ihrer Selbstwahrnehmung unter dem Einfluss dinglicher Macht. Der Text unterläuft die gängige intellektuelle Abwehr gegenüber der Macht der Dinge, die sie als Fetischismus von der westlichen Rationalität aus- 1226 Vgl. Barth 2007, S. 47 ff., 170 f.; Kretschmer 1999, S. 80-82. 1227 EoH 3, S. 200 f.; SM(D), S. 143-146. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 257 schließt und abzuschaffen sucht, indem er diese Macht im Herzen Europas und seiner rationalistisch geprägten Selbstdarstellung verortet. Ein zentrales Element hierbei ist die Infragestellung des autonomen Subjekts durch die Aufhebung der Trennung zwischen Menschen und Dingen. Durch die Austauschprozesse zwischen den massenhaft versammelten Dingen und den massenhaft sich versammelnden Menschen werden die Grenzen zwischen ihnen zersetzt. Der Raum wird mit Dingen angefüllt, bis alles wie ein riesenhaftes Interieur erscheint: Tische mit Erfrischungen wie Champagner, Chartreuse, Kaffee und Bier lassen die Trottoirs zu Gesellschaftssälen werden. 1228 Nicht zufällig handelt es sich bei allen Getränken um Rauschmittel, die bei den bacchantischen Festlichkeiten zur Auflösung der Subjekte beitragen. Aber schon bevor sie sich im Brennpunkt der Konzentration von Menschen und Dingen befinden, sind Menschen und Dinge verschmolzen: „Sporvogne og Omnibusser er proppede, stoppede og garnerede med Mennesker“. Nicht nur die Arbeiter müssen sich dem Rhythmus der Maschinen angleichen, 1229 auch die Besucher der Ausstellung reisen Tag und Nacht an - der menschliche Lebensrhythmus ist aufgehoben. Diese wechselseitige Angleichung erlaubt erst die Konstruktion des Hybridwesens Weltausstellung, und sie verschmilzt zugleich ihre Elemente miteinander. Die Produktivität moderner Hybride ist ohne diese Verschmelzung unmöglich. Das Bild der Weltausstellung in Dryaden konterkariert die Idee, die Ordnung der Welt durch menschlich produzierte Gegenstände als Fortschrittsgeschichte im Sinne einer steten Rationalisierung zu erklären. Denn die Dinge sind am Handeln nicht nur beteiligt, sondern sie unterwerfen den Menschen einer irrationalen Logik des Rausches und der endlosen Bewegung, deren Produkt - die Weltausstellung - jenseits der rationalen Ordnung steht, die sie eigentlich abbilden sollte. Der Globalperspektive, der durch die Dimensionen der Weltausstellung entsprochen werden soll, gesellt sich eine andere, aus den vorherigen Analysen bereits vertraute, Dingdimension zur Seite: die Nippes. Die Inszenierung nationaler Größe wird zu „Nippes der Größe“ und damit wenig eindrucksvoll: Det overvældende store, brogede Skue maa gjøres smaat, trænges sammen til et Legetøi, for at kunne gjengives, opfattes og sees i Heelhed. Marsmarken bar som et stort Julebord et Industriens og Konstens Aladdins Slot, og rundt om dette var stillet Nips fra alle Lande: Storheds Nips; hver Nation fik en Erindring om sit Hjem. (Die überwältigend große, bunte Schau muß klein gemacht werden, zusammengedrängt zu einem Spielzeug, damit sie sich wiedergeben, als Ganzes begreifen und sehen läßt. 1228 Vgl. EoH 3, S. 207; SM(D), S. 153. 1229 S. o. S. . 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 258 Das Marsfeld trug wie ein Weihnachtsgabentisch ein Aladinsschloß von Industrie und Kunst, und ringsherum war Nippes aufgestellt aus allen Ländern: Nippes der Größe; jede Nation bekam eine Erinnerung an ihre Heimat.) 1230 Hier spiegeln sich zwei Möglichkeiten der Wahrnehmung wider, die die Weltausstellungsbesucher hatten. Sie konnten Teil der Menge werden, sich den Vergnügungsangeboten hingeben und von den Ausstellungsobjekten überwältigt werden, oder vom Dach der Galerien über die ganze Anlage blicken, zu dem man mit den ersten ausgestellten Aufzügen hinauffahren konnte. 1231 Im Text wird die Perspektive der Übersicht aber nicht von den Besuchern der Ausstellung eingenommen, sondern nur von den Berichten über die Ausstellung. Der Erzähler distanziert sich wiederum vom Enthusiasmus der Berichte, die am Anfang die Weltausstellung einführen, indem er diese als solche markiert. 1232 Damit nimmt er eine doppelt distanzierte Position ein, die ihm eine Übersicht erlaubt, die weitreichender ist als die der Besuchermassen und der „Skribenten“, die später parodiert werden. 1233 Es ist eine Distanzierung von den eurozentrischen Prämissen der Ausstellung. Aus dieser Distanz wird die Nippeshaftigkeit der auf den Weltausstellungen präsentierten Bauten und Dingensembles erkannt, die ihrer Funktion entspricht. Wie das Fremde als Figürchen in das bürgerliche Interieur integriert und verfügbar gemacht werden soll, versuchten die Weltausstellungen, sich das Fremde durch Miniaturen in einem begrenzten Raum einzuverleiben. Dies implizierte ein Verfügbarkeits- und Überlegenheitsdenken, von dem die Weltausstellung in Paris gekennzeichnet war: Außereuropäische Länder wurden entgegen ihren eigenen Intentionen allein als Ressource dargestellt, die es auszubeuten gilt, beispielsweise indem ihre Industrieprodukte nicht zur Ausstellung zugelassen wurden. 1234 Auf der Weltausstellung findet wie in Nippes eine Reduktion auf die Aspekte statt, die sich der kolonialen Logik ohne Widerstand fügen. Indem Dryaden auf die Überwältigung durch die Schau hinweist, stellt der Text die Idee der Verfügbarkeit der Welt jedoch infrage. Die Überblicksperspektive wird mit dem Blick auf eine Spielzeugwelt verglichen, sodass die gesuchte Verfügbarkeit der Welt der Perspektive eines Kindes entspricht. Primitivismus und Kindheit wurden im wissenschaftlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts oft als phylogenetischontogenetisches Entsprechungsverhältnis gedacht. Dieses Entsprechungsverhältnis wendet sich in Dryaden gegen die europäischen Überlegenheitsphantasien. Dem angestrebten Überblick wird die Kindlichkeit zugeordnet. Die Perspektive der Weltausstellungsorganisatoren, die sich auch in entsprechenden architektonischen Plänen materialisierte, war eine solche Überblicksperspektive, die zugleich rationalistisch, nationalistisch und eurozentrisch war. Der Wunsch nach einer zusammenfassenden Darstellung der Welt erzeugt jedoch in Dryaden eine Miniaturwelt, die 1230 EoH 3, S. 200; SM(D), S. 144 f. 1231 Vgl. Stougaard-Nielsen 2006, S. 139 ff. 1232 Vgl. EoH 3, S. 200 f.; SM(D), S. 144-146. S. o. S. , Fußnote 951, S. 2 . 1233 Vgl. EoH 3, S. 213; SM(D), S. 162. 1234 Vgl. Barth. 2007, S. 88 f., 253 f. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 259 wie eine Weihnachtsgabe empfangen wird. Die Vorstellung zivilisatorischer Überlegenheit wird als kindliche Machtphantasie entlarvt. Indem Dryaden sich der Sprache des kolonialen Diskurses bedient, diesen jedoch auf Europa anwendet, wird diese Überlegenheitsvorstellung persifliert: Die westliche Zivilisation ist das staunende Kind, das Welt als ein zauberhaftes Ensemble von Dingen begreift. Mit den Nippes verbindet sich außerdem das Scheitern des Versuchs, die Größe der menschlichen Zivilisationsleistung auf kleinem Raum zu demonstrieren, da die Pavillonnippes die Größe der Nationen konterkariert. Während im Hauptgebäude der Weltausstellung aus den einzelnen Produkten auf die Größe der Nation, die sie hergestellt hatte, geschlossen werden sollte, kontrastieren die idyllisierten Nationalpavillons die sich aus den vorgestellten Produkten ergebende Macht. In den verstreuten Cottages, Pavillons und Kiosks, die den Weihnachtsgabentisch der Wunder von Industrie und Kunst umgeben, schlägt sich die Schizophrenie nieder, einen Wettstreit der Nationen über ihre Produkte austragen zu wollen, ohne dabei politische Konflikte zu berühren, die sich aus der Herstellung dieser Objekte unmittelbar ergeben. 1235 Die Demonstration der Größe der Nationen auf der Ausstellung ist von ihrem kriegerischen Potential jedoch nicht zu trennen, was auch mit dem Gewaltpotential der Ausstellungsgegenstände zusammenhängt. Als die Dryade nach ihrer Irrfahrt durch Paris die Weltausstellung endlich erreicht, erlebt sie diese nur noch als modernes Babylon. Die Sprache löst sich im bacchantischen Finale ebenso auf wie die Dryade selbst. Ihr Tanzpartner umarmt nur heiße Luft. 1236 Mit dem Besuch der Aquarien, der dem Betreten der Unterwelt gleicht, 1237 wird Kulturkontakt im Sinne eines Gesprächs endgültig verneint. Das Aquarium steht für Abgeschlossenheit bei vermeintlicher Transparenz. Die Szene invertiert Ausstellungsobjekt und -subjekt: „Alle Verdens Lande havde sendt og udstillet deres Mennesker, for at de gamle Suder og Brasener, de vevre Aborrer og mosgroede Karper skulle see disse Skabninger og give deres Menings-Betænkning over det Slags.“ („Alle Länder der Welt hatten ihre Menschen geschickt und ausgestellt, damit die alten Schleien und Brassen, die quicken Barsche und bemoosten Karpfen diese Geschöpfe sehen und ihre Meinungen und Bedenken über diese Sorte kundtun sollten.“) 1238 Die menschliche Unterlegenheit aus der Fischperspektive reflektiert das Problem der Begegnung mit dem Anderen. Indem Fische die Protagonisten der Begegnung stellen, wird dieses Problem weder national noch ethnisch codiert. Im Ausstellungsmodus, so wird hier nur klar, ist kein ernstzunehmender Kulturkontakt möglich. Hinter der Scheibe und ohne angemessene Übersetzung bleibt jede Gruppe für sich und bewertet die anderen nur über seine eigenen Interpretationsmuster. Dieser Befund entspricht auch der weitgehenden Abwesenheit 1235 Politische Konflikte wurden auf der Weltausstellung möglichst nicht thematisiert. Vgl. Barth 2007, S. 200; Walch 1967, S. 131 f. 1236 Vgl. EoH 3, S. 211. Fechner-Smarsly (1996, S. 93) interpretiert diese Szene als Medialisierung der Dryade. 1237 Vgl. EoH 3, S. 211-213; SM(D), S. 159 f. Vgl. S. 2 dieser Arbeit. 1238 EoH 3, S. 212; SM(D), S. 160. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 260 von zwischenmenschlichen Kontakten insgesamt im dargestellten Paris: Zwar wird die rauschhafte Ekstase gemeinsam zelebriert, dabei wird jedoch nur wenig miteinander gesprochen. Selbst die Umarmung, die unabhängig von kultureller Differenz scheinen könnte, scheitert. Der Ort, der die Welt zusammenbringen sollte, ist Schauplatz einer auseinanderbrechenden Kommunikation, „’[...] et babelsk Rige [...]’“ („’[...] ein Babylon-Reich [...]’“) 1239 . Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich die Warenwelt in „Krigens Arena“ 1240 („der Kriegsarena“) präsentiert. 3.3.3 Begrenzungen, Abgrenzungen II: Die Konstruktion der Nation In den Eventyr og Historier finden sich neben vielen migrantischen Existenzen oft auch Widersacher derselben. In Ole Lukøie lachen Hühner einen Storch aus, der von Afrika erzählt, weil sie ihn nicht verstehen. 1241 Beim Wettstreit in Hurtigløberne (Die Schnellläufer) (1858) erklärt ein Heckpfahl, die Schwalbe habe keinen Preis gewonnen, weil sie stets das Land verlasse, wenn es zu frieren beginnt: „’[...] De har ingen Fædrelands-Kjærlighed! De kan ikke komme i Betragtning! ’“ („’[...] Sie haben keine Vaterlandsliebe! Sie können nicht in Betracht kommen! ’“) 1242 - Wenn sie dagegen mit einem Attest nachweisen könne, mindestens die Hälfte der Zeit im Vaterland verschlafen zu haben, käme sie in Betracht. In Skarnbassen (Der Mistkäfer) (1861) meint die eingebildete Hauptfigur auf ihrer Reise, ihre Heimat sei besser als alle anderen Orte und kann deshalb die Vorzüge des Neuen nie erkennen. Auch hier wird, diesmal von Fröschen, der Vorwurf mangelnder Vaterlandsliebe gegenüber einer Schwalbe erhoben, weil sie im Winter das Land verlässt. 1243 Umgekehrt wird in Sølvskillingen (Der Silberschilling) (1861) 1244 der Wert desselben nicht anerkannt, sobald er im Ausland ist: Dort gilt er stets als falsch und ist deshalb unbeliebt. In den Eventyr og Historier sind bei solchen Konflikten nahezu immer die migrantischen Existenzen die Sympathieträger, während die Vorwürfe an sie haltlos und dumm erscheinen. Literatur gilt neben der Geschichtsschreibung als ein zentrales Medium nationaler Bewusstseinsbildung. Die Eventyr og Historier verhalten sich zu diesem Prozess jedoch meist kritisch, indem sie die Forderung nach Vaterlandsliebe ablehnen, sofern sie Offenheit gegenüber anderen Lebenswelten ausschließt. Laserne. Et Eventyr (Die Lumpen. Ein Märchen) legt die vielseitigen Mechanismen offen, die an der Konstruktion nationaler Identitäten beteiligt sind, und distanziert 1239 EoH 3, S. 201; vgl. SM(D), S. 146. 1240 EoH 3, S. 200; SM(D), S. 144. 1241 Vgl. EoH 1, S. 246 f.; SM(TD) 1, S. 244 f. 1242 EoH 2, S. 234; SM(TD) 2, S. 56. 1243 Vgl. EoH 2, S. 346; SM(TD) 2, S. 221. 1244 Der Text wurde erstmals im Folkekalender for Danmark 1862 veröffentlicht, der 1861 erschien. Vgl. EoH 3, S. 416. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 261 sich humoristisch von diesen. Damit bildet es einen Gegenpol zu Nationalisierungsprozessen, deren Problematik für den multiethnischen und vom deutschen Nationalismus bedrohten dänischen Staat offensichtlich war. Laserne wurde erstmals im Folkekalender for Danmark 1869 veröffentlicht, der 1868 erschien. 1245 Es handelt sich um ein „Zeit-Märchen“, wie Heiner Anz ausführt, das „seine humoristische Pointe aus zwei Zeitphänomenen: den nationalen Stereotypen ‚Dänisch’ und ‚Norwegisch’ und dem modernen Recycling von Lumpen zu Papier“ 1246 gewinnt. Indem der Text diese beiden Zeitphänomene aufgreift, knüpft er an ein Bündel von Entwicklungen im Bereich grenzüberschreitenden Warenverkehrs und der Formation von Identitäten an und reicht damit weit über die etwa eineinhalb Druckseiten hinaus, die er umfasst. In den Bemærkninger til Eventyr og Historier (1874) erklärt Andersen, der Text sei bei einem Besuch des Papierfabrikanten Michael Drewsen entstanden. 1247 Die Anmerkung „Skrevet for flere Aar siden i Silkeborg.“ („Geschrieben vor mehreren Jahren in Silkeborg.“ [Übers. F. F.]) 1248 , die als Fußnote auf den Titel folgt, verbindet Laserne zudem mit einem ebenfalls im Folkekalender for Danmark erschienen Text, der Reiseskizze Silkeborg (1854). In dieser Reiseskizze wird die Stadt Silkeborg geschildert, deren Geschichte durch Drewsens 1844 gegründete Papierfabrik wesentlich geprägt wurde. 1249 Silkeborgs Papierproduktion befand sich auf dem neuesten Stand der Technik und gewann einen Preis bei der Weltausstellung von 1851, wie die Reiseskizze festhält: „[Papiret, F. F.] er traadt i Række med, hvad England og Frankrig frembød ved Londoner Udstillingen og har vundet Hæderspriis.“ („[Das Papier, F. F.] ist in eine Reihe getreten mit dem, was England und Frankreich auf der Londoner Ausstellung boten und gewann einen Ehrenpreis.“ [Übers. F. F.]) 1250 Schon durch den Intertext kündigt sich im Verweis auf die Weltausstellung der nationale Wettstreit an, der in Laserne stattfindet. Das Märchen setzt bei den Lumpen ein, die im 19. Jahrhundert der Rohstoff der Papierproduktion waren: „Udenfor Fabrikken stode i Stakke høit opstablede Kludebunker, samlede vidt og bredt fra; hver Las havde sin Historie, hver førte sin Tale, men man kan ikke høre dem Allesammen. Nogle Laser vare indenlandske, andre vare fra fremmede Lande.“ („Draußen vor der Fabrik lagen in hohen Stapeln Lumpenbündel aufgehäuft, aufgesammelt aus nah und fern; jeder Lumpen hatte seine eigene Geschichte, jeder führte seine eigene Rede, aber man kann sie nicht alle auf einmal hören. Ein Paar Lumpen waren inländisch, andere waren aus fremden 1245 Vgl. EoH 3, S. 440. 1246 Anz 2005, S. 49. Vgl. auch Waschnitius 1922, S. 7, 38. 1247 Vgl. EoH 3, S. 395. Für umfassende Informationen zur Entstehungsgeschichte und ihrem literaturgeschichtlichen Kontext vgl. Waschnitius 1922. 1248 EoH 3, S. 224. Diese Anmerkung fehlt in SM(D) und SM(TD). 1249 Vgl. Re 2, S. 139-143. Zur Geschichte von Silkeborg vgl. Bjørn 2003, S. 321; Dalsgaard Larsen 1995, S. 9-26. Auf Andersens Reiseskizze verweist auch Müller-Wille (2009b, S. 151) im Zusammenhang mit Flipperne, Hørren und Laserne. 1250 Re 2, S. 140; vgl. ebd., S. 541. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 262 Ländern.“) 1251 Die Geschichte der Papierproduktion ist hochgradig transnational. Das Wissen über Herstellungsmethoden wanderte von Land zu Land, über den asiatischen und arabischen Raum bis nach Europa, wo mit der Langsiebpapiermaschine im frühen 19. Jahrhundert ein wichtiger Schritt Richtung industrieller Produktion gelang. 1252 In Laserne zeichnet sich das Gegenstück dieses Wissenstransfers ab: der Rohstoffaustausch. Im 18. Jahrhundert war der Lumpenmarkt bereits ein länderübergreifendes Geschäft geworden. Der Papierverbrauch hatte sich zugleich soweit gesteigert, dass beispielsweise Preußen sich 1747 genötigt sah, die Lumpenausfuhr zu verbieten, um seinen Lumpenmangel zu bekämpfen. Es kam dadurch zu Lumpenschmuggel. 1253 Auch in Dänemark herrschte zunächst Lumpenmangel. 1254 Im 19. Jahrhundert liberalisierten und transnationalisierten sich die Lumpenmärkte und es kam zu der Situation, in der Laserne einsetzt: „Nogle Laser vare indenlandske, andre var fra fremmede Lande.“ Obgleich der Hinweis auf Silkeborg in der Anmerkung nahelegt, dass es sich um die dortige Fabrik handelt, bleibt eine explizite Verortung des Märchens aus. Dagegen lassen sich die Lumpen umso klarer einem Land zuordnen: „Her laa nu en dansk Las op til en norsk Las; pæredansk var den ene, og ravnorsk var den anden, og det var det Morsomme ved de to, vil hver fornuftig Norsk og Dansk sige.“ („Hier lag nun ein dänischer Lumpen neben einem norwegischen Lumpen; kern-dänisch war der eine, und erz-norwegisch war der andere, und das war eben das Lustige an den beiden, würde jeder vernünftige Norweger und Däne sagen.“) 1255 Das durch und durch Nationale („pæredansk“/ „ravnorsk“) wird hier dem Spott preisgegeben. Dabei bedient das Märchen sich auch der Doppeldeutigkeit von „Laserne“, das wie die deutschen Lumpen textilen Abfall und schlechte Charaktere gleichermaßen bezeichnet. 1256 „De kjendte nu hinanden paa Sproget, uagtet hvert af disse, sagde den Norske, var saa forskjelligt, som Fransk og Hebraisk. ’Vi gaae til Aas for at faae det raat og oprindeligt og Dansken laver sig sin suttesøde fade Brage-Snak.’“ („Sie erkannten einander nun an der Sprache, wenn die auch, sagte der Norweger, bei beiden so verschieden war wie Französisch und Hebräisch. ‚Wir gehen zum Quell, um das Rohe und Ursprüngliche zu finden, und der Däne macht sich sein nuckelsüßes fades Angebergeschwätz.’“) 1257 Im Anmerkungsapparat der dänischen Ausgabe findet sich der Hinweis, dass Aas auch als Wortspiel gelesen werden könnte, das auf den norwegischen Sprachforscher und -politiker Ivar Aasen (1813-1896) verweist. Aasen setzte sich für eine Ablösung der dänischen Amtssprache durch eine Norwegische, das 1251 EoH 3, S. 224; SM(D), S. 190. 1252 Vgl. Gröger 1990, S. 184, 192-194; Schlieder 1985, S. 10-26. Die Papiermaschinen in Silkeborg wurden aus England importiert. Vgl. Dalsgaard Larsen 1995, S. 12. 1253 Vgl. Gröger 1990, S. 192; Schlieder 1985, S. 20 f. 1254 Vgl. Dalsgaard Larsen 1995, S. 11. 1255 EoH 3, S. 224; SM(D), S. 190. 1256 Vgl. Anz 2005, S. 49. 1257 EoH 3, S. 224; SM(D), S. 190. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 263 landsmål ein. 1258 Landsmål ist die Sprache, die Aasen durch Sammlungen von Sprachproben und nachträgliche Normierungen derselben als Nationalsprache gleichermaßen entdeckte wie konstruierte. Es gelang zwar nicht, landsmål vollständig zu etablieren. Stattdessen wurde das dem Dänischen sehr nahe stehende bokmål die von den meisten Norwegern gesprochene Sprache. Langfristig wurde aber auch das später so genannte nynorsk offiziell anerkannt, das sich unter anderem auf Aasens Arbeiten stützt. Bei den Abgrenzungsbestrebungen gegenüber Dänemark, die Norwegens Geschichte im 19. Jahrhundert politisch und kulturell prägten, nahm die Distanzierung von der dänischen Schriftsprache eine wichtige Rolle ein. 1259 1814 fiel Norwegen an Schweden, konnte aber politische Teilerfolge in Richtung größerer Autonomie wie die Einrichtung einer Verfassung erzielen. Kulturell blieb trotz der politischen Veränderungen Dänemarks Dominanz lange erhalten. So blieben dänische Verlagshäuser wichtige Partner norwegischer Autoren. In Laserne erkennen sich die Lumpen an der Sprache. Deren von norwegischer Seite behauptete Differenz wird jedoch im Text - der sprachlich gesehen die dänische Seite vertritt - beharrlich ignoriert. Beide Lumpen sprechen im Text dänisch. Dadurch wird der Unterschied zwischen den Lumpen negiert, die norwegische Nationalität erscheint als Konstruktion. Folgt man Viktor Waschnitius’ Interpretation, könnte die gegenseitige Erkenntnis an der Sprache neben ihrer grundsätzlichen Nähe auch auf die bestehende Differenz zwischen den Sprachen hinweisen. 1260 Diese würde jedoch außerhalb des schriftsprachlichen Bereichs liegen. An der Konstruktion der norwegischen Nationalität waren auch die Sammlung von Märchen und Sagen nach dem Vorbild der Brüder Grimm durch Peter Christen Asbjørnsen (1812-1885) und Jørgen Moe (1813-1882) maßgeblich beteiligt. 1261 Insofern spiegelt die ironische Behandlung nationaler Abgrenzungsbemühungen in Märchenform das Paradox des literarischen nation building in den Spuren der europäischen Romantik wider, die immer auch ein transnationales Projekt war. „Råhet“, das Rohe, das der norwegische Lumpen für seine Sprache reklamiert, war zudem ein zentraler Begriff in der Auseinandersetzung um die norwegische Sprache, die sich zwischen den Dichtern Henrik Arnold Wergeland und Johan Sebastian Welhaven und ihren Anhängern in den 1830ern abspielte. Diese Debatte ist der dritte bedeutende Strang in der nationalen Literaturgeschichtsschreibung Norwegens für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1262 Darin warf der als „danoman“ diskriminierte Welhaven seinen patriotischen Gegnern eben diese Rohheit vor. 1263 1258 Vgl. EoH 3, S. 440. Zu Aasen vgl. P. Andersen 2001, S. 195-197; Beyer/ Hauge/ Bø 1995, S. 385- 395; Dahl 1981, S. 157 f. 1259 Vgl. P. Andersen 2001, S. 195 f. 1260 Vgl. Waschnitius 1922, S. 49. 1261 Vgl. P. Andersen 2001, S. 190-195; Beyer/ Hauge/ Bø 1995, S. 273 f., 327-345, 431-445; Dahl 1981, S. 99-121. 1262 Vgl. P. Andersen 2001, S. 172-190; Beyer/ Hauge/ Bø 1995, S. 125-128, 249-258; Dahl 1981, S. 51-98. 1263 Vgl. P. Andersen 2001, S. 173 f.; Dahl 1981, S. 74-77. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 264 Wergeland ging aus dieser Auseinandersetzung auf lange Sicht als Sieger hervor, 1264 und auch für den Lumpen ist Rohheit der Sprache ein Qualitätsmerkmal geworden. Dieser anspielungsreiche Einstieg in die Konstruktion nationaler Identitäten wird vom Erzähler lakonisch kommentiert: „Laserne talte og Las er Las i ethvert Land, de gjælde kun Noget i Kludebunken.“ („Die Lumpen redeten, und ein Lumpen ist ein Lumpen in jedem Land, immer gelten sie nur etwas, wenn sie stapelweise auftreten.“) Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich durchsetzende, meist aggressive Massennationalismus ist etwas für Lumpen, die nur durch die Masse Wert entwickeln. Die nationale Überhebung wird im Folgenden konsequent konterkariert. 1265 Wenn der norwegische Lump(en) erklärt, „’[...] jeg er fast i Trevlerne, som Urfjeldene i gamle Norge, Landet der har en Constitution, som det fri Amerika! det kildrer mig i Trevlerne at tænke hvad jeg er og lade Tanken malmklinge i Granit- Ord! ’“ („’[...] ich bin so stark und fest in der Faser wie die Urgebirge im alten Norwegen, dem Land mit einer Verfassung wie das freie Amerika! es kribbelt mir ordentlich in jeder Faser, wenn ich denke, was ich bin, und die Gedanken erzdröhnen lasse in granitener Rede! ’“) 1266 , nimmt er Bezug auf die Konstruktion von Nationallandschaften, die auch in Norwegen Teil des nation building waren. Der Glaube an eine „norske fjellnatur“ („norwegische Fjellnatur“) verband Poesie und bildende Kunst. 1267 Die Gegenüberstellung einer weichen Flachland- und einer kraftvollen Bergsprache, die der norwegische Lump(en) in Laserne unternimmt, geht nach Waschnitius auf Henrik Wergeland zurück. 1268 Die Situation des Lumpen jedoch spricht dagegen, ihn mit den uralten Bergen zu vergleichen: Er ist bereits ein Produkt des Verschleißes und wird in Kürze gemahlen und gehäckselt werden, um in einem Brei aufzugehen. Er ist weder hart noch alt. Der dänische Lump(en) spricht für das Wir der dänischen Lumpen, da diese alle wie er selbst seien: „[...] [V]i ere saa godmodige, saa beskedne, vi troe for lidt om os selv, og det vinder man rigtignok ikke Noget ved, men jeg kan saa godt lide det, jeg finder det saa yndigt! Forresten, det kan jeg forsikkre Dem, kjender jeg tilfulde min egen gode Bonitet, men jeg taler ikke om den, saadan Feil skal ingen kunne beskylde mig for. Jeg er blød og bøielig, taaler Alt, misunder Ingen, taler godt om Alle, uagtet der er ikke meget Godt at sige om de fleste Andre, men lad dem om det! jeg gjør nu altid Grin af det, for jeg er saa begavet! “ („[...] [W]ir sind so gutmütig, so bescheiden, wir denken viel zu gering von uns selbst, und damit kann man nun einmal nicht viel gewinnen, aber mir gefällt es doch ausge- 1264 Das zeigt sich besonders schön bei Beyer/ Hauge/ Bø (1995), die in ihrer Literaturgeschichte Wergeland über 150 Seiten widmen, während Welhaven nicht einmal 30 eingeräumt werden. Während Wergeland zu Lebzeiten nicht unumstritten war, gewannen seine Ideen ab den 1850er Jahren wachsenden Einfluss auf Sprachforscher, Schriftsteller und Publizisten. Vgl. ebd., S. 234. 1265 Vgl. auch Detering 2001, S. 178 f. 1266 EoH 3, S. 224; SM(D), S. 190. 1267 Vgl. P. Andersen 2001, S. 159; Beyer/ Hauge/ Bø 1995, S. 266 f.; Müller-Wille 2006, S. 178 f. 1268 Vgl. Waschnitius 1922, S. 50. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 265 sprochen, ich finde es einfach so reizend! Im übrigen, kann ich ihnen versichern, kenne ich durchaus meine eigene Bonität, aber ich rede eben nicht darüber, diesen Fehler soll mir keiner vorwerfen. Ich bin so weich und nachgiebig, erdulde alles, mißgönne keinem etwas, rede nur gut von allen, obwohl, unter uns gesagt, über die meisten anderen wenig Gutes zu sagen ist, aber sollen sie nur! ich mache nun mal immer meine Späßchen darüber, denn ich bin so begabt! “) 1269 Der performative Selbstwiderspruch lässt keinen Zweifel über den tatsächlichen Mangel an Bescheidenheit und Wohlwollen zu. Der damit verbundene ungeschickte Umgang mit Sprache lässt auch die Antwort des dänischen Lumpen auf die norwegischen Gesteinsphantasien in anderem Licht erscheinen. Sein Einwurf „’Men vi har en Literatur! [...] Forstaaer De hvad det er? ’“ (Aber wir haben eine Literatur! [...] Verstehen Sie, was das ist? “) 1270 ist nicht nur überheblich, er suggeriert auch ein überlegenes Gespür für Sprache. Dies wird jedoch durch alle weiteren Aussagen verneint. Der norwegische Lump(en) betrachtet die dänische Literatur dagegen nur als „Ballast“ 1271 , der im Gefolge der schmackhaften Waren Butter und Käse Norwegen erreichte und dort wie abgestandenes Bier gegenüber der frischen Quelle wirkt. Demgegenüber sei der norwegische Brunnen noch gar nicht gebohrt und auch nicht durch Zeitungen, Kameradschaft und Verfasserreisen zu europäischer Bekanntheit geplappert worden. Nationalliteratur wird hier nach einer internalistischen Logik als aus sich selbst heraus sprudelnder Quell definiert, der sich von einer im europäischen Wettbewerb bestehenden Literaturauffassung abgrenzt. Diesem Selbstbild steht einerseits die europäische Orientierung von Autoren wie Bjørnstjerne Bjørnson, Camilla Collett und Henrik Ibsen gegenüber, die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zentrale Figuren der nationalen Literaturgeschichtsschreibung sind. 1272 Aber auch textimmanent wird dieses Selbstverständnis konterkariert durch das Schicksal des dänischen Lumpens, aus dem ein „Manuskript for en dansk Ode til Priis for Norges Kraft og Herlighed“ („Manuskript für eine dänische Ode zum Ruhme von Norwegens Kraft und Herrlichkeit“) 1273 wird. Dieses Produkt wiederum verweist auf die zeitgenössische Skandinavismus- Bewegung, die auch der norwegische Lump(en) selbst nennt: „’[...] Frit taler jeg fra Lungen og Dansken maa vænne sig til den fri Lyd, og det vil han i sin skandinaviske Klamren til vort stolte Klippeland, Verdens Urknold! ’“ („’[...] Frei rede ich von der Leber weg, und der Däne wird sich an den freien Klang gewöhnen müssen, und das tut er wohl auch, wie er sich skandinavisch festklammert an unser stolzes Felsenland, an die Urwurzel der Welt.’“) 1274 Die nationale Identitätskonstruktion des norwegi- 1269 EoH 3, S. 225; SM(D), S. 191. 1270 EoH 3, S. 224; SM(D), S. 190. 1271 EoH 3, S. 224. 1272 Vgl. P. Andersen 2001, S. 214-220, 226-246; Beyer 1975, S. 93-383; Beyer/ Hauge/ Bø 1995, S. 365-383. 1273 EoH 3, S. 225; SM(D), S. 192. 1274 EoH 3, S. 225; SM(D), S. 191. Vgl. Anz 2005, S. 49. Zum Skandinavismus vgl. Bjørn 1990, S. 253- 257; Rerup 1992, S. 362-368. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 266 schen Lumpen ist auf der metaphorischen Ebene widersprüchlich. Dem frischen Quell eines noch verschlossenen Brunnens steht Norwegen als „Verdens Urknold“ gegenüber, aus der alles Existierende hervorgegangen ist. „Papir bleve de begge to“ („Papier wurden sie alle beide“) 1275 - Laserne lässt „den Ausgleich durch das moderne technische Verfahren des Recycling stattfinden“ 1276 , das auch der Anlass für die Begegnung der beiden Lumpen war. Der grenzüberschreitende Warenverkehr ist einerseits Auslöser des Wettbewerbs, der in der Literatur, die mit der Papierproduktion unmittelbar zusammenhängt, eng mit der Konstruktion nationaler Identitäten verbunden ist. Andererseits verbindet er Länder und Menschen, wie der Liebesbrief, der auf dem ehemaligen norwegischen Lumpen von einem Norweger an ein dänisches Mädchen geschrieben wird, oder die dänische Ode zum Preis von Norwegens Kraft und Herrlichkeit zeigen. Der kan ogsaa komme noget Godt ud af Laserne, naar de først ere af Kludebunken og Forvandlingen er skeet til Sandhed og Skjønhed, de lyse i god Forstaaelse og i den er Velsignelse. Det er Historien, den er ganske fornøielig og fornærmer aldeles Ingen uden - Laserne. (Auch aus Lumpen kann etwas Gutes werden, wenn sie erst aus dem Stapel heraus sind und die Verwandlung zu Wahrheit und Schönheit geschehen ist, dann strahlen sie vor gutem Einverständnis, und darin ist Segen. Das ist die Geschichte, sie ist ganz vergnüglich und ärgert überhaupt niemanden außer - Lumpen.) 1277 Das Märchen, das sich aus der Doppeldeutigkeit des Wortes Laserne gewinnt, führt die Widersprüche nationaler Identitätskonstruktionen in ihrem Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Austauschbewegungen vor Augen. 3.3.4 Verbindungen II: Infrastrukturen Den Infrastrukturen, die der Bewegung von Menschen und Dingen zugrunde liegen, begegnen viele Eventyr og Historier mit großer Aufmerksamkeit. So werden in Ijsjomfruen auf Reisen Dampfschiff, Postkutsche und Omnibus genutzt, und der Erschließung der Alpen durch die Eisenbahn wird ein ganzes Kapitel gewidmet. 1278 Wie neue Transport- und Kommunikationstechniken die Vorstellungen von der Welt verändern können, wurde bereits in Om Aartusinder deutlich. Darin beschleunigt die transatlantische Luftschifffahrt das Reisen so, dass es nur noch zu punktuel- 1275 EoH 3, S. 225; SM(D), S. 191. 1276 Anz 2005, S. 49. 1277 EoH 3, S. 225; SM(D), S. 192. 1278 Vgl. EoH 2, S. 409, 413, 419 f.; SM(TD) 2, S. 284, 291, 298-300. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 267 len Besuchen von Sehenswürdigkeiten kommt. 1279 In Et Stykke Perlesnor (Ein Stück Perlenschnur) (1856) 1280 ist es die Eisenbahn, die diesen Effekt erzeugt. 1281 Während Om Aartusinder ein Verkehrsnetz der Luftschifffahrt für eine zeitlich nicht präzise bestimmte Zukunft erwartet, ist Et Stykke Perlsnor nach Andersens Angaben in den Bemærkninger (Bemerkungen) zu den Samlede Skrifter (Gesammelten Schriften) (1868) in einer „Overgangs-Tid, jeg [Andersen, F. F.] selv har gennemlevet“ („Übergangszeit, die ich [Andersen, F. F.] selbst erlebt habe [Übers. F. F.]“) 1282 , angesiedelt. Es ist der Zeitraum zwischen 1815 bis etwa 1856, den der Text umfasst. Die im ersten Teil des Textes vorgestellte Eisenbahnstrecke zwischen Korsør und Kopenhagen war 1856 eingeweiht worden; im zweiten Teil erzählt Großmutter von ihrer ersten Reise nach Kopenhagen, die 1815 stattfand. Et Stykke Perlesnor setzt mit der Beschreibung der neuen Eisenbahnstrecke im Verhältnis zu persönlichen Geographien ein: Jernbanen i Danmark strækker sig endnu kun fra Kjøbenhavn til Korsør, den er et Stykke Perlesnor, dem Europa har en Rigdom af; de kosteligste Perler der nævnes: Paris, London, Wien, Neapel -; dog mangen Een udpeger ikke disse store Stæder som sin skjønneste Perle, men derimod viser hen til en lille umærkelig Stad, der er Hjemmets Hjem, der boe de Kjære; ja tidt er det kun en enkelt Gaard, et lille Huus, skjult mellem grønne Hækker, et Punkt, der flyver hen idet Banetoget jager forbi. (Die Eisenbahn in Dänemark geht bis jetzt nur von Kopenhagen bis Korsör, sie ist ein Stück von der Perlenschnur, von der Europa einen Reichtum besitzt; dort sind die kostbarsten Perlen Paris, London, Wien, Neapel; manch einer hebt jedoch nicht diese großen Städte als seine schönste Perle hervor, sondern weist statt dessen auf einen kleinen, unbeachteten Ort hin, die Heimat des Vaterhauses; dort wohnen die Lieben; ja, oftmals ist es nur ein vereinzelter Hof, ein kleines Haus, zwischen grünen Hecken versteckt, ein Punkt, der vorüberfliegt, während der Zug vorbeisaust.) 1283 Der Erzähler stellt die nur etwa einhundert Kilometer dänischen Schienennetzes in einen gesamteuropäischen Kontext, den Perlen Europas zur Seite. Die infrastrukturelle Vernetzung der genannten Großstädte reicht über den Eisenbahnanschluss weit hinaus, dies gilt für die im Kommenden genannten dänischen Beispiele weit weniger. Im Zitat wird aber auch auf die außerhalb dieses Netzwerkes liegenden Punkte verwiesen. An den heimatlichen Orten, „Hjemmets Hjem“, fliegt die Eisenbahn oftmals nur vorbei. 1284 Der Raum in Et Stykke Perlesnor ist somit auf drei Ebenen angesiedelt: der transnationalen, der nationalen und der häuslichen. Der Text zeigt, wie sich mit der 1279 S. o. S. 2 -2 4. 1280 Et Stykke Perlesnor wurde erstmals abgedruckt im Folkekalender for Danmark 1857, der 1856 erschien. In der hier verwendeten längeren Fassung erschien der Text erst 1859 in Nye Eventyr og Historier. Tredie Samling. Vgl. EoH 2, S. 495. 1281 Vgl. Behschnitt 2006, S. 79. Zu diesem Effekt der Eisenbahn allgemein vgl. Schivelbusch 2004, S. 35-45. 1282 EoH 3, S. 384. 1283 EoH 2, S. 280; SM(TD) 2, S. 122. 1284 Vgl. Behschnitt 2006, S. 430 f.; Depenbrock/ Detering 1988, S. 9. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 268 wachsenden Vernetzung eine komplexe Geographie entwickelt, in der diese Ebenen interferieren. Die folgende Beschreibung von sechs Stationen entlang der Strecke widmet sich Sehenswürdigkeiten; Orten, die nach Wolfgang Behschnitt „auf ihre abstrakte national-pädagogische Bedeutung [...] reduziert sind.“ 1285 Heike Depenbrock und Heinrich Detering erkennen im auktorialen Erzähler des ersten Teiles einen „sachkundigen Reiseführer[s]“ 1286 . Auch hier lässt sich ein beschleunigtes Reisen erkennen, wie dies für Om Aartusinder bereits vorgestellt wurde. Die Eindrücke „flyver hen“, „jager forbi“, „flyve[r] forbi“ („fliegen dahin“, „jagen vorüber“, „fliegen vorbei“ [Übers. F. F.]“) 1287 . Depenbrock und Detering zeigen auf, wie das Tempo durch die rasche Aufeinanderfolge von Orten, die teilweise unverbunden hintereinander stehen oder durch abgebrochene Überleitungen wie „Til Slagelse By -! “ („Nach Slagelse Stadt - ! “ [Übers. F. F.]) 1288 als Sprünge erscheinen, auch narrativ erzeugt wird. Die unaufhebbare Distanz zum flüchtigen Wahrnehmungstempo wiederholt sich dabei in der vor allem durch die Interpunktion markierten Kurzatmigkeit der Emphase: Ausrufezeichen wiederholen sich in rascher Folge, oft mitten im Satz; einfache und doppelte Gedankenstriche unterbrechen die Darstellung; Kombinationen beider Satzzeichen signalisieren den Widerstreit von versuchter Konzentration auf ein Objekt und rasendem Fortgang der Fahrt. 1289 Durch zahlreiche „Bildungsallusionen“ werde die „Mitteilungsdichte“ 1290 gesteigert. Diese Dichte zeigt, dass die Orte nicht allein auf transporttechnischer Ebene vernetzt sind, sondern auch in ein Netzwerk von Verweisen und Zitaten eingebunden. Während Depenbrock und Detering im ersten Teil des Textes in seinem Kontrast zum zweiten Teil die Entfremdung, den Verlust einer subjektiven Heimatlichkeit und der unmittelbaren Erfahrung der Sehenswürdigkeiten Dänemarks betonen, lässt sich festhalten, dass die Reduktion der Orte ebenso wie die Beschleunigung der Reise weniger deutlich ist als in Om Aartusinder. Der Eindruck einer hektischen Reiseaktivität, der sich aus der Interpretation von Depenbrock und Detering ergibt, lässt sich relativieren. Zwar erhöht sich das Fortbewegungstempo wesentlich, und diese Beschleunigung findet auch, wie bei Depenbrock und Detering beschrieben, ihre Entsprechung in der Textstruktur. Der Aufenthalt an den Orten ist jedoch nicht durch Eile, sondern durch ruhige Momente charakterisiert. Die liebevolle Erinnerung an Knud und Kamma Rahbek beim Besuch ihres Hauses konterkariert durch die neue Funktion ihrer ehemaligen Wohnstätte die An- 1285 Behschnitt 2006, S. 430. 1286 Depenbrock/ Detering 1988, S. 11. 1287 EoH 2, S. 280 f. Dohrenburgs Übersetzungen lassen sich an dieser Stelle nicht in den Satz integrieren. 1288 EoH 2, S. 281. In SM(TD) (S. 124) entfallen der Gedankenstrich und die Klassifizierung Stadt. 1289 Depenbrock/ Detering 1988, S. 11 f. 1290 Ebd., S. 12. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 269 nahme, hier würden nur bedeutsame Sehenswürdigkeiten abgehakt. Das Haus ist inzwischen vom Treffpunkt bedeutender Denker zu einem „Aandens Hjem“ („Haus des Geistes“) ganz anderer Art geworden: „Idiotens Hjem“ („die Heimstatt der Schwachsinnigen“), ein Sanatorium für psychisch Kranke. Eine Sehenswürdigkeit wird die Heilanstalt nur durch den Blick des Erzählers, der „et helligt Sted“ („eine geheiligte Stätte“) 1291 in ihr erkennt und die beiden Geschichten des Hauses zu einer einzigen macht. In Roskilde besucht der Erzähler ausdrücklich nicht das Grab der mächtigen Unionskönigin Margarethe, sondern das bescheidenere des Komponisten Weyse. In der stillen Klosterstadt Sorø, die durch ihre Akademie ins ganze Land ausstrahlt, wird an B. S. Ingemann erinnert, im Abschnitt zu Korsør Jens Baggesen zitiert. Dort endet die Reise damit, dass zu Ehren Baggesens ein Kranz geflochten und in die See geworfen wird. All dies sind Szenen, die vom Gedenken an die Vergangenheit beim Besuch national bedeutsamer Orte durchzogen ist. Die mit diesen Orten verbundene Musik, Literatur und Wissenschaft strahlen aus ins ganze Land. Es handelt sich also weniger um einen Entwurzelungs- und Entfremdungsals um einen Glokalisierungsprozess, 1292 den der Text abbildet. Gerade die beschleunigten Austauschmöglichkeiten durch die Eisenbahn, die das Denken zunehmend vor dem Hintergrund eines vorgestellten Weltganzen stattfinden lässt, geben den Anstoß für Akte der Besinnung und Erinnerung im Zeichen nationaler Bedeutsamkeit. Die time-space compression in Et Stykke Perlesnor verursacht kein Verschwinden des Ortes. Vielmehr bildet das neue Transportmittel gerade die Voraussetzung zu seiner Entdeckung. Die literarische Verortung der Eisenbahnstationen erfolgt in dem Bewusstsein, in ein transnationales Netzwerk eingebunden zu sein. Es kommt zu einer Komplexitätssteigerung der geographischen Imagination. Betrachtet man nun den zweiten Teil, der überwiegend von der Großmutter erzählt wird, die sich an ihre erste Kopenhagenreise erinnert, stellt man fest, dass die von Depenbrock und Detering für ihr Reiseerlebnis noch erkannte „unmittelbare Erfahrung der vaterländischen Schönheiten“ 1293 in mancher Hinsicht nicht weniger mittelbar ist. Auch hier werden Sehenswürdigkeiten wie Baggesens Geburtsstätte, Absalons Grab und Holbergs Sarkophag bewundert. Die Bedeutung dieser Stätten beruht auf den gleichen Voraussetzungen wie der Besuch der Sehenswürdigkeiten im ersten Teil von Et Stykke Perlesnor: Sie ist medial vermittelt. Die Reise ist jedoch um eine persönliche Dimension ergänzt. Die Großmutter verliebt sich auf dieser in ihren zukünftigen Mann. Deshalb ist die Langsamkeit, welche die Fortbewegung kennzeichnet, auch nicht ausschließlich negativ besetzt. Behschnitt erklärt, die beiden Erzählungen in Et Stykke Perlesnor [sind, F. F.] nicht als Gegensätze, sondern als Komplemente zu verstehen. Beide bekräftigen die imaginäre Qualität des 1291 EoH 2, S. 280; SM(TD) 2, S. 123. 1292 Zum Begriff der Glokalisierung vgl. Robertson 1998. 1293 Depenbrock/ Detering 1991, S. 14. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 270 Heims, das nicht real erfahrbar, sondern nur in der subjektiven Vorstellung und erinnernden Erzählung vergegenwärtigbar ist. Während das Heim im ersten Teil nicht mehr real existiere, aber emphatisch beschworen werden, vermittele im zweiten Teil die „erinnernde Erzählung [...] die familiäre Gemeinschaft über die Generationen und über die geographischen Entfernungen hinweg“ 1294 . Nach Depenbrock und Detering ist die Schilderung der Reiseeindrücke für beide Teile als mittelbare gekennzeichnet. Im ersten Teil seien die Erfahrungen durch zuvor erworbenes Wissen vermittelt, im zweiten Teil durch die Binnenerzählerin (der sie selbst jedoch eine unmittelbare Erfahrung zuschreiben). Indem der zweite Teil mit „’Det er rigtignok et Stykke Perlesnor fra København til Korsør,’ sagde Bedstemoder, der havde hørt læse, hvad vi nu nys læste.“ („’Es ist wirklich ein Stück Perlenschnur von Kopenhagen bis Korsör’, sagte Großmutter, die mit angehört hatte, was wir eben gerade lasen.“) 1295 eröffnet, wird eine Erzählinstanz („vi“) eingeführt, die Leser des ersten und Zuhörer im zweiten Teil ist. Damit werde die vermeintliche Überlegenheit des Rahmenerzählers aus dem ersten Teil relativiert, der sich im Nachhinein als Binnenerzähler erweise, sodass eine Gleichwertigkeit beider Teile entstehe, die den Leser zu einer vergleichenden Synthese derselben auffordere. In einer Welt, deren Wahrnehmung dominiert erscheint durch den Rhythmus der Dampfmaschine und die Abteilfenster-Perspektive, ist die unmittelbare Erfahrung des Verlustes so unmöglich wie die Vergegenwärtigung des Verlorenen. Sie lässt sich aber einholen durch die erinnernde und vergleichende Reflexion. Erst durch den Vergleich mit der zweiten Binnenerzählung, heißt das, wird die uneingestandene Problematik der ersten deutlich sichtbar. 1296 Beide Interpretationen gehen davon aus, dass in Et Stykke Perlesnor die Erfahrbarkeit von Heimat verloren gehe. Der Text beschreibt jedoch weniger eine Verlusterfahrung als die Entstehung einer anderen Reiseform, die sich mit der Herausbildung eines nationalen Bewusstseins verbindet, das zudem die Vorstellung der eigenen Stellung zur Welt einschließt. Dieser Prozess führt erst zur Entstehung des Verständnisses von Heimat, das Et Stykke Perlesnor vorstellt. Erst mit den Möglichkeiten beziehungsweise Notwendigkeiten sie zu verlassen intensiviert sich das Verhältnis zur Heimat. In Nielsens etymologischen Wörterbuch werden für das altnordische heimr die Bedeutungen Heimat und Welt („‚hjem, verden’“ 1297 ) angegeben. Hier werden die Räume noch nicht unterschieden. Heimat und Welt sind als Erfahrungsraum so lange deckungsgleich, bis das Bewusstsein einer unbekannten Fremde entsteht. Dieses wird durch Austausch, sei es durch Reisen oder durch Waren- und Ideenverkehr, gewonnen. Gerade die im Text erkennbare Intensivierung dieses Austausches lässt das Heim bedroht erscheinen und leitet so sein emphatisches Beschwören ein. 1294 Behschnitt 2006, S. 431. 1295 EoH 2, S. 282; SM(TD) 2, S. 125. 1296 Depenbrock/ Detering 1988, S. 15. 1297 Nielsen 1969, S. 156. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 271 Der Text endet jedoch weder mit dem Heim, an dem in der Eisenbahn vorbeigeflogen wird, noch mit einer als unerreichbare Vergangenheit markierten Heimatlichkeit, die in den Erfahrungen der Großmutter repräsentiert wäre. Die Großmutter erklärt zuletzt, dass sie nie wieder nach Kopenhagen gereist ist. „’[...] Nu er Odense jo ikke stort længere fra Kjøbenhavn [sic, nicht kursiv], end den i min Ungdom var fra Nyborg! I kunne nu flyve til Italien ligesaa hurtigt som vi vare om at reise til Kjøbenhavn! ja det er Noget! - alligevel bliver jeg siddende, jeg lader de Andre reise! lader dem komme til mig! [...]’“ („’[...] Heute ist Odense ja nicht mehr viel weiter von Kopenhagen entfernt als in meiner Jugend von Nyborg! Ihr könnt jetzt in eben der Zeit nach Italien brausen, die wir brauchten, um nach Kopenhagen zu fahren! Ja, das ist was! - Dennoch bleibe ich sitzen, ich lasse die anderen reisen; lasse sie zu mir kommen [...]! ’“) 1298 Depenbrock und Detering verweisen darauf, dass hier wieder das Tempo des Anfangsteils aufgenommen wird, und erkennen darin einen Widerspruch zur vorgeblichen Ruhe der Großmutter, die abschließend von der ihr bevorstehenden letzten großen Reise zu ihrem verstorbenen Mann erzählt - „eine überraschende religiöse Schlußwendung, [...] [die] den Widerspruch von behauptetem Fortschrittsoptimismus und implizit vermittelter Entfremdungserfahrung nur suspendiert, nicht [ge]löst.“ 1299 Die Wiederaufnahme des Anfangstempos lässt sich jedoch auch als Revision der dort beschriebenen Exklusion des Heims vom Netzwerk deuten. Indem die Großmutter, die das Heim nach Behschnitt repräsentiert, mit Hilfe der Eisenbahn besucht wird, beschreibt der Text Heimatlichkeit gerade nicht als subjektive Vorstellung, sondern als Element in dinglichen Netzwerken. Das gilt auch für die Erzählung von Heimatlichkeit, die nicht allein mündlich und familiär, sondern in Et Stykke Perlesnor selbst literarisch geworden ist. Heimat ist ein Netzwerk aus Erzählungen, Dingen und Menschen. Mit der Ausweitung dieses Netzwerks kann das Gefühl, zu Hause zu sein, an unterschiedlichen Orten auftreten. Auf die Bedeutung der Eisenbahn und der damit verbundenen Beschleunigung in Dryaden wurde bereits hingewiesen. 1300 Auch hierfür haben Depenbrock und Detering gezeigt, dass im Text zugleich eine narrative Beschleunigung durch die Erzählstrukturen stattfindet. Mit der Unrast der Moderne verbinden sich die Bedrohung der Entwurzelung und die Preisgabe eines stabilen Ichs. 1301 In Dryaden treten die Kehrseiten technischer Vernetzung deutlicher hervor als in Et Stykke Perlesnor. Ihr wird jedoch keine idealisierte Natur gegenübergestellt. Im Verlauf des Textes wird die Anbindung der ländlichen Gegend, aus der die Dryade stammt, an die Großstadt, die als Ort der Sehnsucht und des Verderbens doppelt codiert ist, enger. Diese Anbindung erfolgt vor allem durch die Eisenbahn. Dabei tritt Technik als zweite Natur auf. So entsteigen die bereits in der Jugendzeit 1298 EoH 2, S. 285; SM(TD) 2, S. 128 f. 1299 Depenbrock/ Detering 1988, S. 14; vgl. ebd., S. 13 f. 1300 S. o. S. 2 f. 1301 Vgl. Depenbrock/ Detering 1991, S. 372 f. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 272 der Dryade auftretenden Wolken später Lokomotiven. 1302 Damit lassen sie sich nicht mehr Natur oder Kultur zuordnen, sondern sind beides zugleich. Als eine Eiche, unter der der Priester des Dorfes seinen Unterricht abhält, vom Blitz getroffen wird und dies die Auflösung der alten Lebenswelt einläutet, entstammen die Gewitterwolken der Stadt. Johan de Mylius sieht von dieser städtischen Herkunft ab und geht davon aus, die Zerstörung der Eiche sei Teil eines fortgesetzten Wachstumskreislaufs und eine Art Erhöhung des Daseins auf höherer Ebene, da der gespaltene Baum stürzt, „som bredte det sig ud for at omfavne Lysets Sendebud“ („als breitete er sich aus, um den Sendboten des Lichts zu umarmen“) 1303 , und der dabei entstehende Lärm mit den Kanonenschüssen anlässlich einer königlichen Geburt verglichen werden. Gegen diese positive Interpretation mit einer Gegenüberstellung von natürlichem und künstlichem Tod spricht neben der uneindeutigen Herkunft der Wolken, dass die Eiche nach ihrem Tod aus dem Text getilgt ist. Es erscheint deshalb sinnvoll, die Parallelen zwischen dem Schicksal der Eiche und dem der Kastanie, die auch de Mylius erkennt, stärker zu betonen. Auch de Mylius’ spätere Interpretation von Dryaden in Forvandlingens pris (Der Preis der Verwandlung) (2004) grenzt Natur und Unnatur schärfer ab, als der Text erlaubt. 1304 Das Märchen unterläuft vielmehr die diesem Denken zugrunde liegende Dichotomie, verbindet ökologische und technologische Effekte. Die Zerstörungskraft der Wolken bei der Zerstörung der Eiche wird im Bild der erstickten Kastanie wieder aufgenommen. Zugleich erinnern die schlechte Stadtluft und das mangelnde Licht 1305 an zeitgenössische Hygienedebatten, die der Pariser Präfekt Haussmann als Argumente für die Umgestaltung von Paris nutzte. Haussmann schlug mit geradlinigen Boulevards Schneisen in die von teils noch mittelalterlichen Bauten überwucherte Hauptstadt Frankreichs. Dies sollte unter anderem Luftzirkulation und Lichteinfall verbessern. Zu den Umbaumaßnahmen gehörte auch die Anlage eines modernen Kanalisationssystems. 1306 Haussmanns Maßnahmen fügten sich in einen länderübergreifenden städtebaulichen Trend, der nicht allein Europa umfasste. 1307 Auf die Umgestaltung von Paris hebt der touristische Besuch der Kloaken durch eine Reisegruppe an, dem die Dryade sich anschließt, da sie hinter dem angekündigten „’Nutids Underværk’“ („’Wunderwerk der Gegenwart’“) 1308 die Weltausstellung erhofft. Der Abschnitt wird eingeleitet durch den Kommentar eines Touristen über einen Springbrunnen: „’Alle Vandstrømmene mægte dog ikke at afskylle det uskyldige Blod, som her er udgydt.’“ („’Alle Wasserströme vermögen doch nicht das un- 1302 Vgl. EoH 3, S. 198, 204; SM(D), S. 141-143. 1303 EoH 3, S. 199; SM(D), S. 143. Vgl. de Mylius 1976, S. 129. 1304 Vgl. de Mylius 2004, S. 257. Vgl. auch Depenbrock/ Detering 1991, S. 370 f. 1305 Vgl. EoH 3, S. 204 f.; SM(D), S. 149 f. 1306 Vgl. Jordan 1996, S. 205-230, 285-313 und passim. 1307 Vgl. Osterhammel 2009, S. 361, 425 f., 458-462; Zerlang 2002a, S. 11. 1308 EoH 3, S. 209; SM(D), S. 155. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 273 schuldige Blut abzuwaschen, das hier vergossen worden ist.’“) 1309 Das gereinigte Paris versucht, die Grausamkeiten der vergangenen politischen Auseinandersetzungen vergessen zu machen. Die Maßnahmen zur Verbesserung der Hygiene, die sich mit Haussmanns Namen verbinden, dienten zugleich der Kontrolle und Disziplinierung der Bewohner. 1310 Diese saubere Form der Machtausübung wird durch die neuen Infrastrukturen ermöglicht, ein Zusammenhang, den das Zitat widerspiegelt. Wie eine alte Ratte beklagt, die die Dryade in der Kanalisation trifft, verschwanden mit dem Umbau der Katakomben die Schmuggler, Räuber und interessanten Persönlichkeiten, die in ihnen Zuflucht gesucht hatten. Nun können sie nur noch in Melodramen gesehen werden. 1311 Die Touristen dagegen sind begeistert: „’Hernede fra,’ blev der sagt, ‚groer nu Sundhed og Leveaar op til Tusinder og Tusinder deroppe! vor Tid er Fremskridtets Tid med al dens Velsignelse.’“ („’Von hier unten aus’, wurde da gesagt, ‚wachsen nun Gesundheit und Lebenserwartung empor zu Tausenden und Abertausenden da oben! unsere Zeit ist die Zeit des Fortschritts mit all seinem Segen.’“) 1312 Fortschritt ist auch hier mit der Verdrängung des Todes assoziiert. 1313 Die Verdrängung wird an dieser Stelle nicht durch Beschleunigung, sondern Hygiene geleistet. Die Ratte dagegen bedauert die Entwicklungen: „’[...] Her er blevet saa fiint og saa lyst, at man sidder og skammer sig over sig selv og veed ikke hvorfor man skammer sig. [...]’“ („’[...] Hier ist es so fein geworden und so hell, daß man dasitzt und sich selber schämt und nicht weiß wieso man sich schämt. [...]’“) 1314 Die dinglich-technische Umgebung, die die feine Beleuchtung erzeugt, erinnert die Ratte an ihre Vergänglichkeit. Ihr war die gute alte Pestzeit lieber, in der die Menschen starben, während die Ratten überlebten. Nun überleben die Dinge, die die Bewegungen der Menschen und Tiere effektiv kontrollieren. 1315 Dass die „romantisk Tid“ („romantische Zeit“ [Übers. F. F.]) 1316 in Dryaden sich vor allem durch Pesttote auszeichnet, verdeutlicht zugleich, dass hier keine idealisierte Vorstellung einer vortechnischen, natürlichen Daseinsweise den modernen Neuerungen gegenübergestellt wird. Teil des Netzwerkes in den Kloaken sind auch Telegraphendrähte. Auch Oldefa’er befasst sich mit dieser Technik eingehender. 1317 In Den store Søslange (Die große Seeschlange) (1871) ist das Transatlantikkabel, das die Globalisierung der Kommunikation im 19. Jahrhundert wesentlich vorantrieb, die Titelfigur. 1309 EoH 3, S. 208; SM(D), S. 155. Vgl. auch die Anmerkung in EoH 3, S. 439, die diesen Satz auf die Französische Revolution bezieht. 1310 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Benjamin 1991, S. 57; Jordan 1996, 189 f., 208-210, 285. 1311 Vgl. EoH 3, S. 210; SM(D), S. 157. 1312 EoH 3, S. 209; SM(D), S. 156. 1313 S. o. S. 2 . 1314 EoH 3, S. 210; SM(D), S. 157. 1315 Dieses Gefühl erinnert an die von Günther Anders (1994, S. 21-95) beschriebene „Prometheische Scham“. 1316 EoH 3, S. 210. Detering übersetzt mit „Zeit der Romantik“. 1317 Vgl. Felcht 2009, S. 90 f. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 274 Die Verlegung des Kabels ist das Ereignis, das in Den store Søslange weitgehend aus der Perspektive von Fischen beschrieben wird. Zunächst wird das paradiesische Leben eines Schwarms von 1800 Fischlein gezeigt, die sorglos ihrer „Lyst“ („Lust [Übers. F. F.]“) 1318 folgen. „[H]ver vilde faae sin egen Historie, ja det tænkte heller Ingen af dem paa.“ („[J]eder [sic] würde seine eigene Geschichte haben, ja, darüber dachte auch keines von ihnen nach.“) 1319 Hierein senkt sich „med forfærdelig Lyd [...] en lang, tung Ting, der slet ikke vilde holde op; længere og længere strakte den sig, og hver af Smaafiskene, som den ramte, blev qvaset eller fik et Knæk, som de ikke kunde forvinde.“ („mit entsetzlichem Geräusch […] ein langes, schweres Ding herab, das gar nicht aufhören wollte; länger und länger wurde es, und jeder von den kleinen Fischen, der davon getroffen wurde, wurde zerquetscht oder bekam einen Knacks, von dem er sich nicht erholen konnte.“) 1320 Die Harmonie des Habitats wird empfindlich gestört. Die Frage „Hvad var det dog for en Ting? “ („Was war es nur für ein Ding? “) durchzieht den Text im Folgenden, obwohl sie für die Leser sogleich beantwortet wird: „Ja det vide vi! det var det store, milelange Telegraph-Toug, Menneskene sænkede mellem Europa og Amerika.“ („Ja das wissen wir! es war der große, meilenlange Telegraphendraht, den die Menschen zwischen Europa und Amerika versenkten.“) Dennoch bleibt sie berechtigt. In der Welt der Fische löst der Eindringling große Irritationen aus: „Der blev en Forskrækkelse, der blev et Røre mellem Havets retmæssige Beboere, hvor Touget sænkedes.“ („Es entstand ein Schrecken, wo der Draht versenkt wurde, es entstand ein Aufruhr unter den rechtmäßigen Bewohnern des Meeres.“) Wild die Flucht ergreifende Fische „skræmmede baade Kabliau og Flynder, som gik fredeligt i Havets Dyb og aad deres Medskabninger.“ („scheuchten Kabeljau und Flundern auf, die friedlich in der Meerestiefe umherwandelten und ihre Mitgeschöpfe auffraßen.“) 1321 Wie in Dryaden wird in der Unterwasserwelt eine Begegnung mit dem Anderen inszeniert. Dabei greift Den store Søslange mit dem Bild einer Bevölkerung ohne Geschichte, Organisation und feste Strukturen auf koloniale Vorstellungen vom Anderen zurück, ohne jedoch die damit verbundene Erzählung eines freien Landes zu übernehmen, das es lediglich zu besetzen gilt: Die Fische sind die rechtmäßigen Bewohner des Meeres. Und sie sind lernfähig. Nach dem anfänglichen Chaos begeben sich einige dieser ‚Ureinwohner’ auf eine systematische Suche nach Antworten auf die Frage, was das ihnen unbekannte Ding ist. Die Hauptfigur dieser Recherche, ein kleiner Fisch, geht dabei zunächst der Herkunft des Kabels nach, holt von anderen Meeresbewohnern Auskünfte ein, um sie zu vergleichen, und schwimmt für eine Untersuchung des 1318 EoH 3, S. 288. Dohrenburg übersetzt etwas abgeschwächt mit „Vergnügen“. Vgl. SM(TD) 2, S. 267. 1319 Vgl. EoH 3, S. 288; SM(TD) 2, S. 627. 1320 EoH 3, S. 288; SM(TD) 2, S. 627 f. 1321 EoH 3, S. 288 f.; SM(TD) 2, S. 628. 3.3 Zwischen Verbindung und Unterwerfung: Vernetzungen 275 Kabels zum Meeresgrund. Damit arbeitet er mit wissenschaftlich anerkannten Methoden. Andere Meeresbewohner reagieren mit Abwehr und Widerstand auf den Eindringling. Das Kabel antwortet auch unter Androhung von Gewalt nicht auf ihre Fragen: „Touget rørte sig ikke, det havde sin aparte Tanke, og en saadan kan Den have, der er fyldt med Tanker.“ („Das Tau rührte sich nicht, es hatte seinen sonderbaren Gedanken, und einen solchen kann der haben, der mit Gedanken angefüllt ist.“ [Übers. F. F.]) 1322 Das Ding lässt sich weder durch die wissenschaftliche, noch durch die gewaltsame Herangehensweise ergründen, es bleibt „apart“ und stumm für die Fragen der anderen, trotzdem es ständig Gedanken überträgt. Nicht nur in seiner Eigenschaft als Übertragungsmedium ist das Transatlantikkabel angefüllt mit Gedanken. Auch das Wissen um die Möglichkeiten elektrischer Signalübertragung, der Codierung von Informationen und nicht zuletzt um die Techniken der Kabelverlegung auf See ist in ihm verkörpert. Es verweigert sich nicht allein den Fischen, sondern verursacht gleichermaßen den Menschen „Besvær“ („Mühe“) 1323 , als sie es verlegen wollen. Obgleich diese Aussage von einem nicht in jeder Hinsicht korrekt informierten Seehund stammt, kann sie aus menschlicher Perspektive bestätigt werden: Die Verlegung des Transatlantikkabels hatte mehrere Anläufe erfordert. 1324 Und so bleibt die abschließende Charakterisierung des Dinges, die Antwort auf die den Text durchziehende Frage, was es ist, vieldeutig: Den [den store Søslange, F. F.] er født og baaren, sprungen ud fra Menneskets Snille og lagt paa Havets Bund, strækkende sig fra Østens Lande til Vestens Lande, bærende Budskab hurtig som Lysets Straale fra Solen til vor Jord. Den voxer, voxer i Magt og Udstrækning, voxer Aar for Aar, gjennem alle Have, Jorden rundt [...]. Dybest nede strækker sig Slangen, en Velsignelsens Midgaardsorm, der bider i sin Hale idet den omslutter Jorden; Fisk og Krybdyr løbe med Panden imod, de forstaae dog ikke den Ting ovenfra: Menneskehedens tankefyldte, i alle Sprog forkyndende og dog lydløse Kundskabsslange paa Godt og Ondt, den vidunderligste af Havets Vidundere, vor Tids den store Søslange. (Sie [die große Seeschlange, F. F.] ist durch menschliche Genialität zur Welt gekommen und großgezogen worden, ist ihr entsprungen und auf den Meeresgrund gelegt worden, erstreckt sich von den Ländern im Osten zu den Ländern im Westen und bringt Botschaft so schnell wie der Strahl des Lichts von der Sonne bis zu unserer Erde. Sie wächst und wächst an Macht und Verbreitung, wächst Jahr um Jahr, durch alle Meere, rund um die Erde [...]. Ganz unten streckt sich die Schlange aus, eine Midgardschlange voller Segen, die sich in den Schwanz beißt, indem sie die Erde umfängt. Fische und Kriechtiere laufen mit der Stirn dagegen, sie verstehen das Ding von dort oben ja doch nicht: die mit Gedanken angefüllte, in allen Sprachen kündende und dennoch lautlose Schlange des Wis- 1322 EoH 3, S. 293. Dohrenburgs Übersetzung ist an dieser Stelle etwas ungenau. Vgl. SM(TD) 2, S. 635 f. 1323 EoH 3, S. 290; SM(TD) 2, S. 630. 1324 Vgl. EoH 3, S. 453. 3 Die Eventyr og Historier aus globaler Perspektive 276 sens auf Gedeih und Verderb, das wundersamste von allen Wundern des Meeres, die große Seeschlange unserer Zeit.) 1325 Helge Kragh erklärt im Anschluss an das Zitat des Endes von Den store Søslange: „Temaet med den elektromagnetiske telegraf optræder hyppigt i Andersens forfatterskab og breve, altid fremstillet positivt [...].“ („Das Thema des elektromagnetischen Telegraphen tritt häufig in Andersens Werk und seinen Briefen auf, immer positiv dargestellt [...].“) 1326 Tatsächlich oszilliert der Telegraph im Zitat jedoch zwischen „Godt og Ondt“. Der menschlichen Klugheit buchstäblich entsprungen, ihrer Kontrolle teilweise entzogen, wächst er an Macht und Reichweite. Die Metapher des „Velsignelsens Midgaardsorm“ vereint unvereinbare Gegensätze: den Midgaardsorm, eine der gefährlichsten Gestalten der Edda, 1327 und die Segnungen der modernen Telekommunikation. Die „Kundskabsslange“ verweist auf den Sündenfall. Die neue Technik transformiert in Den store Søslange tiefgreifend die Lebenswelt, in die sie eindringt. Ihre Bewertung durch die unterschiedlichen Sprecher ist verschieden: Während eine alte Seekuh das Kabel für tot und machtlos hält, steckt für den kleinen Fisch mehr dahinter. Andere Fische gehen zum (erfolglosen) Angriff über. Ob Segen oder Sünde überwiegen, bleibt unentschieden. Klar ist jedoch, dass die weltweite Vernetzung und die mit ihr verbundene Macht wachsen, „Aar for Aar, gjennem alle Have, Jorden rundt“. 1325 EoH 3, S. 295; SM(TD) 2, S. 638. 1326 Kragh 2005, S. 16. 1327 Vgl. Krause 1997, S. 72-77; Sturluson 1971, S. 68-74. 4 Fazit Der Wurstspeiler führte die Maus zu den Mechanismen der Macht; aus dem dazugehörigen Sprichwort entstand eine ganze Geschichte. In ihrer Hinwendung zum Unscheinbaren und Verdrängten, zugleich aber auch Näherrückenden erschließen die Eventyr og Historier, besser als viele Versuche eines Überblicks, neue Zusammenhänge. Das Kleine erlaubt den Blick aufs Große. Das gilt auch für diese Arbeit. Dieser aus dem Kleinen gewonnene Blick aufs Große zwingt zur Vorsicht bei der Formulierung von Aussagen hinsichtlich ihres Gültigkeitsbereiches. Von einer solchen Vorsicht kann die Betrachtung globaler Strukturen, die sich nie im Ganzen beobachten lassen, nur profitieren. Mit der Akzeptanz der Begrenztheit und Situiertheit der eigenen Erkenntnisse eröffnet sich zugleich die Einsicht in die unendliche Vielfalt möglicher Weltbilder. Dadurch wiederum bietet sich Raum für die Pluralisierung der Perspektiven auf die Welt, von denen einige in Andersens Texten versammelt werden. Diese Versammlung fordert dazu auf, auch denen Gehör zu schenken, deren Stimme sonst nicht zählt: Frauen, Kindern, Tieren, Dingen. Obgleich Themen wie Fortschritt, technische Neuerungen oder Geschichte häufig in Andersens Texten behandelt werden, geraten die hier behandelten Beispiele nie zu ‚großen Erzählungen’. Längere Prosatexte wie die Autobiographien oder die Reisebücher verweilen beim Detail, bei einem alltäglichen Ding oder einer unscheinbaren Begegnung, sodass sie einen teilweise fragmentarischen Charakter gewinnen. Insbesondere jedoch gilt das Primat des Kleinen für die Eventyr og Historier. Es handelt sich bei ihnen um kurze, aber komplexe Texte, die in den Spuren oft unscheinbarer Aktanten ihren kritischen Beitrag zu den oben genannten Themen leisten. Die Eventyr og Historier verhandeln auch poetologische Fragen, die aus globalisierungstheoretisch fundierter Perspektive von großer Bedeutung sind. Det nye Aarhundredes Musa entwirft ein poetologisches Programm, in dem weite Teile der europäischen Tradition einem globalen Neuen weichen müssen. Hvad man kan hitte paa schlägt vor, den Dingen des Alltags ihre Geschiche abzulauschen und gelangt so auf die Spur interkontinentaler Austauschprozesse. Andersens Texte revolutionierten die dänische Prosa durch ihr freies Verhältnis zu geltenden Normen, eroberten ein globales Publikum und nutzten hierbei vielfach eine Form, die Uwe Steiner als Dingprosa definiert hat. 1328 Insofern können sie als Umsetzung der poetologischen Programme von Det nye Aarhundredes Musa und Hvad man kan hitte paa gelesen werden. Dass durch Andersens kleine Texte der Blick auf das Globale gelingt, ist auch in den Dingwelten der Moderne begründet, die Ausgangspunkt vieler Eventyr og Histo- 1328 Vgl. Steiner 2009b. 4 Fazit 278 rier sind und denen sich Kapitel 1.3 eingehend gewidmet hat. Der Zusammenhang des Kleinen mit dem Großen zeigt sich in den Dingen. Gerade das Nächste, die uns im Interieur umgebenden, beim Teetrinken gar einverleibten Gegenstände, verbinden uns mit dem Fernsten. Warenketten sind einer der wichtigsten Globalisierungsfaktoren des 19. Jahrhunderts. Kapitel 3.3 und die Skizze der Dingwelt Afrikas im Reisebuch I Spanien haben verdeutlicht, wie sehr Andersens Texte von hybriden Produkten durchzogen sind, die diese globalen Verknüpfungen nachzeichnen. Die Warenform bewirkt eine rasant anwachsende Produktion von Dingen sowie die starke Beschleunigung und Expansion ihrer Zirkulation, die ein Charakteristikum von Globalisierungsprozessen ist. Kapitalismus und Industrialisierung verbinden Dinge und Menschen. Bevölkerungswachstum und explosive Vermehrung der Dinge, Migration und Warenzirkulation können nicht getrennt voneinander gedacht werden. Dies zeigt sich auch daran, dass die Abwehrreaktion auf die modernen Herausforderungen sich in einem Begriff kristallisiert: Fetischismus, im wissenschaftlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts begriffen als eine Beziehung, die es zu bekämpfen gilt, dient der Distanzierung der Anderen, die sowohl Dinge als auch Menschen aus fernen Regionen sein können. Demgegenüber verraten die Eventyr og Historier oder das Afrika-Kapitel von I Spanien, dass fetischistische Beziehungen weniger außerhalb Europas als in seinen Zentren gefunden werden, und dass ihre radikale Bekämpfung irrationaler ist als eine umsichtige Akzeptanz, die Vor- und Nachteile abwägt. In Kapitel 3.1 wurde deutlich, wie sensibel die Eventyr og Historier die Verschiebungen in der Welt der Dinge registrieren, die die kapitalistische Warenproduktion mit sich bringt. Die Grundlagen der Erzeugung ökonomischen Erfolgs werden offen gelegt, dabei scheint ihre Gnadenlosigkeit auf. De røde Skoe, Hjertesorg und Dryaden zeigen, wie die Warenökonomie neue Formen des Begehrens generiert, die dem Ideal eines rational-autonomen Subjekts zuwiderlaufen, und wie der Widerstreit zwischen der Stimulation von Konsum und eingefordertem Verzicht vor allem sozial Schwache zerreibt. Dabei wird auch das Ideal rational-autonomer Subjektivität, als dessen Verkörperung der erwachsene weiße Mann galt, einer kritischen Betrachtung unterzogen. Zur Verbindung des Menschen mit den Dingen gibt es keine Alternative, obgleich sie gefahrvoll ist. Literatur erweist sich als Möglichkeit, diese Verbindung einzugehen und zugleich kritisch zu reflektieren. Dies geschieht in den Eventyr og Historier vielfach. Hervorgehoben sei Tante Tandpine als Betrachtung des Verhältnisses von Markt und Literatur, Publikum und Produktion. In einer optimistischen Lesart lässt sich in der Selbstreflexivität der Ware Literatur ein Ausweg aus dem Vergessen erkennen, das die Herrschaft der Warenform nach Marx so bedrohlich macht. Zugleich verschweigt Tante Tandpine die Qualen der Poesie, des Schaffens, nicht. Das Verhältnis von Ökonomie und Literatur wird in verschiedenen Eventyr og Historier thematisiert. Die Behauptung, literarischer Wert sei unabhängig von ökonomischem, wird dabei wiederholt unterlaufen und ironisch gebrochen. Im Exkurs sowie der Untersuchung der agency von Texten in Mit Livs Eventyr wurde dargestellt, wie das Ideal autonomer Subjektivität das Verständnis von Autor- 279 schaft beeinflusst. Kierkegaards Vorwurf, Andersen fehle es an einer Lebensanschauung, in sich ruhender und von der Empirie freigekämpfter Sicherheit, ist eine Kritik aus dem Geiste dieses Ideals. Andersens Autobiographien lassen demgegenüber erkennen, wie wenig die Vorstellung von einem abgegrenzten Subjekt den komplexen Austauschprozessen gerecht wird, aus denen wir nach Michel Serres bestehen. Beispielhaft hierfür wurden die Text-Mensch-Relationen nachgezeichnet, welche die Autobiographien schildern und von denen sie selbst ein Teil sind: Briefe, Empfehlungsschreiben und Bücher vermitteln hier Beziehungen, die eben nicht allein zwischenmenschlich, sondern immer menschlich-dinglich sind. Andersen reicht durch seine Texte und Portraits über seine physische Gegenwart hinaus, wird bis in die USA als Bekannter empfunden, über dessen Befinden man sich beim durchreisenden Violinvirtuosen Ole Bull erkundigt. Eine Text-Mensch-Grenze lässt sich ebenso wenig ziehen wie eine Mensch-Ding-Grenze: Ich ist ein Netzwerk. Wie dieses Netzwerk sich transnationalisierte, wird am Beispiel der Integration von Andersens Texten in den world literary space deutlich, der sich der zweite Teil von Kapitel 2.3 widmet. Ein länderübergreifender literarischer Raum existiert nicht erst seit dem 19. Jahrhundert. Die Anzahl der Aktanten stieg jedoch im behandelten Zeitraum explosiv und die Beziehungen veränderten sich. Sie gewannen zunehmend einen kapitalistischen Charakter, an dem sich der Anspruch schöner Literatur reibt, frei von ökonomischen Zwängen zu sein. Als Bestseller sind Andersens Texte Bestandteil eines sich herausbildenden literarischen Massenmarktes, zugleich reflektieren sie dessen Chancen und Risiken für den Dichter und die Qualität der Texte, wie die Analysen von Tante Tandpine und Lykken kan ligge i en Pind gezeigt haben. Im Unterschied zu einem über wenige gemeinsame Sprachen wie Latein oder Französisch vermittelten Austausch vervielfältigten sich die Literaturen im world literary space und mit ihnen die Übersetzungsprozesse, die zunehmend auch problematisiert wurden. In Mit Livs Eventyr werden die Schwierigkeiten des Übersetzens zum Ausgangspunkt, die Vorzüge der eigenen Sprache zu entdecken. Zugleich wird deutlich, wie stark Andersen in einer immer mehr durch Übersetzungen (und damit einem breiteren Publikum zugänglichen) vermittelten Tradition europäischer Literatur steht, in der Deutschland, England und Frankreich herausgehobene Positionen einnehmen. Mit den literarischen Übersetzungen entwickelte sich ein transnationaler Starkult, der Andersens Reisen zunehmend prägte. Gerade in Übersetzungen, das hat auch diese Arbeit gezeigt, eröffnen sich Erkenntnisräume. Nicht allein, dass die Reichweite eines Textes mit seiner Übersetzung wächst. Eine Übersetzung zwingt dazu, den Text mindestens von zwei Seiten zu betrachten, und gerade dort, wo das Übersetzen Schwierigkeiten hervorruft, entwickelt sich eine neue Einsicht. Jedes Stolpern zwingt zum Innehalten. Die theoretische Setzung der Mensch-Ding-Grenze lässt sich als Teil einer Bewegung begreifen, die auf verschiedenen Ebenen nachgezeichnet wurde. Die Einbindung in Mensch-Ding-Netzwerke und wechselseitige Abhängigkeiten intensivieren sich. Diesen kommunikations- und transporttechnisch ermöglichten Öffnungen 4 Fazit 4 Fazit 280 stehen Abgrenzungsversuche gegenüber, welche die Scheidung von Innen und Außen aufrecht zu erhalten suchen. Die Dialektik von Öffnung und Grenzziehung wurde anhand mehrerer Raumtypen verfolgt, die für das 19. Jahrhundert charakteristisch sind. Das Interieur ist ein Ort phantasmagorischer Privatheit, in der die Welt als Nippes verfügbar gemacht werden soll. Die Nippes zugrunde liegenden Austauschprozesse bleiben in Texten wie Hyrdinden og Skorsteensfeieren jedoch erkennbar, und die Nippes entwickeln unkontrollierbare Eigendynamiken, welche die Harmonie, die sie stiften sollen, aufsprengen. Die Angst vor der weiten Welt kann durch Nippes nicht abgewendet werden. In Pengegrisen strukturiert der Kapitalismus das Geschehen sogar im Kinderzimmer. Der Drang des Geldes, um die Welt zu gehen, ist auch in dieser Miniaturwelt enthalten. Während in diesen Eventyr og Historier die Unmöglichkeit aufscheint, die mit industriell gefertigten Dingen angefüllten Räume jenseits ihrer ökonomischen Verstrickungen zu platzieren, lässt Mit Livs Eventyr erkennen, wie die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit für Andersen selbst der Öffnung weicht, der sich das Interieur verweigert. Dazu gehören die Reisen und die Abwesenheit einer festen Wohnstätte, die sich mit der gesuchten und in den eigenen Texten reflektierten Vermarktung des Selbst verbinden. Warenwerdung und -zirkulation werden hier selbstbewusst. Urbanisierung und Migration prägten die Stadtentwicklung des 19. Jahrhunderts. In der Großstadt, der sich Teil 2 mehrfach zuwendet, trafen Dinge und Menschen aus aller Welt zunächst nahezu unkontrolliert aufeinander. Moderne stadtplanerische Eingriffe etablierten schließlich neue Formen sozialer Kontrolle. Als riskanter sozialer Möglichkeitsraum war die Großstadt ein Experimentierfeld neuer Verhaltensformen. Auch hier gab es Versuche, Begegnungen von Menschen und Dingen in abgegrenzten Räumen relativ frei von den herrschenden ökonomischen und politischen Zwängen zu ermöglichen. Martin Zerlangs „by i byen“-Modell lässt sich zur Beschreibung dieser Räume heranziehen: Die mit dem Fall der Stadtmauern einhergehende Öffnung der Stadt zog die Herausbildung abgegrenzter, konzentrierter und geordneter urbaner Räume nach sich, die wie das Interieur Ökonomie und Politik außen vor zu lassen schienen. Zu den neuen Formen der Kontrolle konnten auch kalkulierte Exzesse gehören. In der Analyse der Kopenhagendarstellung von Mit Livs Eventyr stand die urbane Unterhaltungskultur im Vordergrund, die ein Schlüssel für das Verständnis von Transnationalisierungs- und Nationalisierungsprozessen ist. Textausschnitte zu Theater und Tivoli wurden mit Hilfe des „by i byen“-Modells und den Überlegungen zum Interieur interpretiert. Die Unterhaltungskultur erlaubt Einblicke in länderübergreifende Austauschprozesse sowie die Kommerzialisierung von Kunst, die das Aufkommen transnationaler Medienstars nach sich zog. Als Knotenpunkte in einem Netzwerk von Menschen, Dingen und Texten waren Theater und Tivoli entschieden transnationale Räume. Bei der Analyse des Lißt-Kapitels wurde deutlich, wie sich beim Genuss eines starbesetzten Kunstereignisses unterschiedliche Zeit- und Raumordnungen kreuzen können. Andererseits wurden vor allem im Kongelige Tea- 281 ter nationale Normen gesetzt. Die Nationalisierung realisierte sich unter steter Bezugnahme auf andere Nationen, mit denen in einen Wettbewerb getreten wurde. Casino und Hippodrom wurden zu Ausgangspunkten der Massenbewegung von 1848, die Dänemarks Nationalisierung und Demokratisierung anstießen. Die anhand der Entwicklung der Unterhaltungskultur erkennbare Expansion des Öffentlichen war zwar an globale Austauschprozesse gebunden, blieb jedoch in seinem politischen Mobilisierungspotential weitgehend auf den nationalen Rahmen beschränkt. Durch die Gemeinsamkeit der Medien, die sie verbreiten, entwickeln Nationalisierung und Globalisierung sich oft parallel. Mit der Eisenbahn wurden nationale Sehenswürdigkeiten entdeckt, Landesgrenzen überschritten und die Einbindung in ein europaweites Netzwerk erkannt, wie in Et Stykke Perlesnor deutlich wird. Laserne reflektiert die wechselseitige Bezogenheit dänischen und norwegischen Nationalismus und bricht ironisch nationale Stereotype. Diese ironische Brechung erfolgt nicht zufällig auch auf der Ebene der Materialität. Mit dem Rohstofftransfer wird die Herkunft eines Produkts multilokal. Die Frage der Zugehörigkeit lässt sich nicht beantworten. Nationalismus kann vor dem Hintergrund der Dialektik von Öffnung und Grenzziehung auch als Reaktion auf das Näherrücken der Anderen durch Globalisierung gelesen werden. Wie das Interieur und die „by i byen“ wendet sich die Nation gegen die Unüberschaubarkeit, die sich aus einer räumlichen Öffnung ergibt. Der zu Beginn des 19. Jahrhunderts vielerorts noch phantasmagorische Charakter der Nation gewann mit der technisch vorangetriebenen herrschaftlichen Durchdringung der Territorien und den Ängsten, die im Nationalismus ihren Ausdruck fanden, bald tödliche Realität. Andersens Texte stehen im Zeichen dieses Spannungsfelds von Nationalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen, ohne stets identische Positionen zu beziehen. Es überwiegen Öffnung, Neugier und Akzeptanz der Anderen. Der Erzähler von Mit Livs Eventyr lässt sich zwar bei der Schilderung des ersten Schleswig- Holsteinischen Krieges vom Nationalismus begeistern, distanziert sich jedoch über weite Teile kritisch von seinem Heimatland. In Teil 2 wurde gezeigt, wie die Autobiographien die Möglichkeiten zur Akkumulation literarischen Kapitals über ausländische Literaturen, allen voran England und Deutschland, nutzen. Dabei kommt eine wechselseitige Wertschätzung von Autor und Kritik zum Ausdruck, während die Kritik aus Dänemark beklagt wird. Dies kann als strategische Inszenierung von Andersen als internationalem Autor in Casanovas Sinne gewertet werden. Das Publikum wird in Mit Livs Eventyr im Unterschied zur Literaturkritik überwiegend als globale, nicht-nationale Größe aufgefasst. Inwiefern die Bedeutung nationaler Konkurrenz für die Bewertung eines Textes sich nach dem Grad der Professionalisierung des Lesers richtete, ist eine interessante rezeptionsgeschichtliche Frage, die hier nicht beantwortet werden kann. Die Eventyr og Historier kontrastieren immer wieder die Engstirnigkeit derjenigen, die niemals ihren Geburtsort verlassen, mit der Offenheit und dem Wissen migrantischer Existenzen. Dadurch geht die Bedeutung von Heimat nicht verloren. Dass 4 Fazit 4 Fazit 282 es gerade das Verlassen der Heimat ist, die diese zu einem affektbesetzten Ort werden lässt, verdeutlicht ebenfalls Et Stykke Perlesnor. Mit dem Reisen kommen vergleichende Erzählungen auf, die Orte oft erst beschreibbar werden lassen, wie auch die Stadtdarstellungen in Mit Livs Eventyr gezeigt haben. Städte werden hier zu Knotenpunkten einer transnationalen Geographie der Beziehungen. Die Reisebücher entfalten eine Topographie der Netzwerke: An die Stelle geographischer Festlegungen tritt die Schilderung von Nähe und Ferne als relationale Beziehung. In Om Aartusinder wird diese Relationalität mit einem historischen Index versehen. Das alte Europa gegenüber dem jungen Amerika ist nun das Land der Phantasie und besetzt damit die Position, die in En Digters Bazar der Orient inne hat. Die Reise führt auch zum letzten Themenkomplex, der Frage nach dem Verhältnis der Texte zum Wandel von Zeitwahrnehmungen und -konzeptionen unter dem Eindruck von Globalisierungsprozessen. Dass das Reisen sich im 19. Jahrhundert rasant beschleunigte, wird in Andersens Texten immer wieder thematisiert. Die Zukunftsvision der amerikanischen Europatouristen in Om Aartusinder, die innerhalb von acht Tagen alle Sehenswürdigkeiten besucht haben, nimmt die Verbreitung des organisierten Tourismus auf und denkt seine Entwicklung konsequent weiter. Kapitel 3.2 arbeitet heraus, inwiefern die Zeitdarstellungen der Eventyr og Historier auch in anderen Zusammenhängen auf spezifisch moderne Erfahrungen reagieren. Beschleunigte Konsumrhythmen haben vielerorts Eingang in die Texte gefunden. Sogar Puppen brauchen immer neue Kleider, wie Ole Lukøie illustriert; auch in Dryaden erfolgt der Kleiderwechsel permanent. Großstädte sind in diesem Weltausstellungsmärchen Knotenpunkte globaler Nachrichtennetzwerke, die wiederum auf dem Prinzip der Neuigkeit basieren. Die Kehrseite einer auf Erlebnissen statt Erfahrungen basierenden Kultur ist die schnellere Entstehung von Langeweile. Aufgelöst wird diese in Dryaden und in Om Aartusinder durch die Bewegung zu neuen Orten. Beschleunigte Rhythmen verbinden sich so mit einer räumlichen Expansion. Dieses Muster lässt sich auch für die Warenzirkulation erkennen. Ermöglicht wird die Beschleunigung durch eine Normalisierung von Zeit. Zeit wird mit Hilfe von Präzisionsinstrumenten eingeteilt, von Maschinen vorgegeben und durch Standardisierung unter Prämissen vergleichbar gemacht, die Machtungleichgewichte stützen. Arbeiter werden der abstrakten Zeit ebenso unterworfen wie ganze Weltregionen. Die Unterwerfung der Arbeiter unter die Rhythmen der Produktionsabläufe wird in Dryaden als verborgene Grundlage der modernen Warenwunderwelt dargestellt. Die militärische Disziplin, die beim Besuch der Times in Et Besøg hos Charles Dickens i Sommeren 1857 vernommen wird, deutet an, wie der beschleunigte Nachrichtenaustausch mit einer solchen Normalisierung von Zeit verzahnt ist. Indem technische Reproduktion und erweiterte Zirkulation eine weitere Verbreitung von Ideen ermöglichen, bietet sich in der Entwertung der dinglichen Existenz von Texten durch ihre beschleunigte Produktion jedoch auch die Chance, ihre Bedeutung in einem globalen Rahmen auszuloten und auf diesem Wege Dauer zu erlangen. Diese Chance wird in Det nye Aarhundredes Musa und Hørren begrüßt. 283 Mit der Normalisierung verbindet sich der Verlust alternativer Zeiten, natürliche und religiöse Zeitformen treten in den Hintergrund. Dieser Verlust wird in Dryaden beklagt, ohne dass eine romantisch inspirierte Vergangenheitssehnsucht sich Bahn bräche. Stattdessen gelingt es dem Text, das Fortbestehen unterschiedlicher Zeitformen auch in der Moderne aufzuzeigen, in der Entzauberung und Wiederverzauberung der Welt stets nah beieinander liegen. Damit verbindet sich auch eine Verschiebung der Position Europas gegenüber seinem in der Weltausstellungsarchitektur zum Ausdruck gebrachten Überlegenheitsdenken. In Kapitel 1.1 wurde gezeigt, wie eng die technisch bestimmte, ökonomisch genutzte Zeit und das historiographische Zeitverständnis zusammenhängen. Damit verband sich die Entstehung nationalistischer und eurozentrischer historiographischer Narrative, denen ein lineares Zeitmodell zugrunde lag, das auf jede beliebige Weltregion unterschiedslos angewendet wurde. Europas Führungsanspruch beruhte auf der Behauptung seiner intellektuellen Überlegenheit, die durch dinglich-technische Errungenschaften bewiesen werden sollte. Demgegenüber zeigt Dryaden, wie sich auf der Weltausstellung Rationalität im Rausch der Dinge auflöst. Religiöse und natürliche Zeit finden sich in der Wunderrhetorik und der scheiternden Verdrängung des Todes wieder, Moderne wird durch die Mischung unterschiedlicher Zeiten charakterisiert. In Gudfaders Billedbog wird die Form des Erzählens von Geschichte zum Thema, es verweist auf das Gemachtsein historischer Narrative und ihre Darstellungstechniken. Die angedeutete Pluralisierung der Erzählerstimmen lässt ansatzweise (die wichtigsten Sprecher bleiben europäisch und männlich) erkennbar werden, wie wichtig die Frage ist, wer Geschichte erzählt. Andersens Texte wissen viel zu erzählen über das Verhältnis von Menschen und Dingen und die Veränderung von Raum und Zeit unter dem Eindruck von Globalisierungsprozessen. Es wäre spannend, dieses Wissen mit Texten anderer Autorinnen und Autoren zu vergleichen. Das Wissen der Literatur über die Dinge und das Verhältnis von Literatur und Globalisierung werden derzeit intensiv erforscht. Auf die Ergebnisse dieser Arbeiten freue ich mich schon jetzt. „Det var det Hele! “ sagde den lille Muus og neiede. „Det Hele! ja lad os saa høre hvad den Næste har at sige! “ sagde Musekongen. Hans Christian Andersen, Suppe paa en Pølsepind („Das war alles! “ sagte das Mäuschen und knickste. „Alles! ja, dann wollen wir mal hören, was die nächste zu erzählen hat! “ sagte der Mäusekönig. Hans Christian Andersen, Suppe von einem Wurstspeiler) 1329 1329 EoH 2, S. 153; SM(TD) 1, S. 697. 4 Fazit 5 Literatur Entsprechend der Reihenfolge des dänischen Alphabets folgen die Buchstaben æ, ø, å hinter z, die Schreibweise „aa“ (die phonetisch „å“ entspricht) wird jedoch zu Beginn des Alphabets einsortiert. Wurden mehrere Texte eines Autors verwendet, werden diese in chronologischer Reihenfolge aufgeführt (mit Ausnahme der Siglen). Bei den Namenszusätzen „de“, „van“ und „von“ ist der erste Buchstabe des folgenden Namens für die alphabetische Sortierung maßgeblich. Siglen Bl = H.C. Andersens Samlede Værker, Bd. 9: Blandinger 1822-1875, hg. v. Det Danske Sprogog Litteraturselskab unter der Redaktion v. Klaus P. Mortensen, Kopenhagen (Gyldendal) 2005. Br H I = H. C. Andersens Brevveksling med Henriette Hanck, hg. v. Svend Larsen, Bd. 1, Anderseniana 1941. BrW II = H. C. Andersen og Henriette Wulff. En Brevveksling, hg. v. Helge Topsøe-Jensen, Bd. 2, Odense (Flenstedts Forlag) 1959. 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Globalisierungs- und dingtheoretische Ansätze werden zur Analyse dieser Prozesse mit Überlegungen der Kritischen Theorie verbunden. So wird eine bislang weitgehend unbemerkt gebliebene, aktuelle Dimension von Andersens Märchen und Geschichten, Autobiographien und Reisebüchern sichtbar. Frederike Felcht, geb. 1982. LMU Research Fellow am Institut für Nordische Philologie der Ludwig-Maximilians- Universität München.