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Dämonische Allianzen

2013
978-3-7720-5498-3
A. Francke Verlag 
Astrid Lembke

Gegenstand der Studie sind hebräische und jiddische Erzählungen des 13. - 17. Jahrhunderts, in denen die männlichen Protagonisten erotische Beziehungen zu dämonischen Frauen aufnehmen. Untersucht wird, auf welche Weise in unterschiedlichen historischen Kontexten männliche Identität in sozialen Konflikten um Gehorsam und Neugier, Gottesfürchtigkeit und materielle Bedürfnisse, individuelles Begehren und kollektive Ansprüche ausgehandelt wird.

Astrid Lembke Dämonische Allianzen Jüdische Mahrtenehenerzählungen der europäischen Vormoderne Bibliotheca Germanica A. Francke Verlag Tübingen und Basel Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON BURKHARD HASEBRINK, SUSANNE KÖBELE UND URSULA PETERS 60 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN Astrid Lembke Dämonische Allianzen Jüdische Mahrtenehenerzählungen der europäischen Vormoderne Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT D 30 © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-8498-0 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Dämonen im Keller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der literaturwissenschaftlichen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Die narrative Kernformel einer schwierigen Liaison . . . . . . . . 20 1.2 Der defizitäre Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.3 Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.4 Gestörte Mahrtenehe und Dämonenhochzeit . . . . . . . . . . . . . 50 2. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert: Die ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › und die ‹ Geschichte eines armen Mannes › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1 Textüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2 Abgewiesene Bedrohungen: Die ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.3 Unvereinbare Forderungen: Die ‹ Geschichte eines armen Mannes › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.4 Lakonie und Erregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit: Fremdheit und Autonomie in der ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › und in der ‹ Geschichte eines Königssohns › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.1 Textüberlieferung und Textgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.2 Väter und Söhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3.3 Gespaltene Macht: Die ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.4 Produktive Ambivalenz: Die ‹ Geschichte eines Königssohns › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4. Riskante Allianz und gefährliches Begehren im 16. Jahrhundert: Die Rettung des Helden in der ‹ Geschichte aus Worms › . . . . . . . . 151 4.1 Textüberlieferung und Textgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.2 Begehrende Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.3 Figuren des Begehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4.4 Die Lust am Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5. Schwierige Deszendenz und gefährdetes Gesetz im 16. Jahrhundert: Die Verurteilung des Helden in der ‹ Geschichte eines Jerusalemers › und in der ‹ Geschichte Hoscheas › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.1 Textüberlieferung und Textgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5.2 Fremdes begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 5.3 Tödliches Aufbegehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 5.4 Der Exempelheld als Romanheld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 5.5 Sequenzialität und Aufschub ins Unendliche: Die ‹ Geschichte Hoscheas › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 . . . . 273 6.1 Disziplin und Gemeinschaft: Die ‹ Geschichte des Ari › . . . . . 274 6.2 Teufelspakt und Isolation: Die ‹ Geschichte der Königin von Saba › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 6.3 Gottvertrauen und Utopie: Die ‹ Geschichte eines Ostindienreisenden › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Sprechen mit und über Dämonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Anhang: Übersetzungen Die Geschichte eines Amulettschreibers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Die Geschichte eines armen Mannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Die Geschichte von der Dämonin und der Quelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Die Geschichte eines Königssohns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Die Geschichte aus Worms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Die Geschichte eines Jerusalemers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Die Geschichte Hoscheas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Inhalt 6 Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde 2011 vom Fachbereich Neuere Philologien der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Mein besonderer Dank gilt Andreas Kraß. Die inspirierenden Gespräche mit ihm, seine Anregungen, kritischen Hinweise und Ermutigungen haben am meisten dazu beigetragen, dass ich immer die Freude an meinem Projekt behalten habe. Bernhard Jussen und Rebekka Voß danke ich für die vorbehaltlose Unterstützung meines interdisziplinären Vorhabens und für ihren fachlichen Rat aus geschichtswissenschaftlicher und judaistischer Perspektive. Die Arbeit ist entstanden im Kontext des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Leibniz-Projekts ‹ Verwandtschaft in der Vormoderne. Institutionen und Denkformen intergenerationeller Übertragung › . Danken möchte ich auch den HerausgeberInnen der ‹ Bibliotheca Germanica › für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe sowie Bernd Villhauer vom Francke Verlag für die gute Betreuung. Der VG Wort danke ich für ihren großzügigen Druckkostenzuschuss, mit der sie die Publikation dieser Arbeit ermöglicht hat. Für ihre Hilfe beim Korrekturlesen danke ich Christina Ostermannn und Daniel Zimmer. Herzlich gedankt sei denen, mit denen ich an der Goethe-Universität eine großartige Zeit verbracht habe: den Kolleginnen und Kollegen vom Historischen Seminar, besonders Karin Gottschalk, Silke Schwandt und Barbara Segelken, sowie Nata š a Bedekovic´ , Christian Buhr, Michael Ott, Martin Schuhmann, Regina Toepfer und Ulrich Wyss vom Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik. Auch Elisabeth Schmid danke ich für ihr Interesse und die richtigen Worte im richtigen Moment. Schließlich danke ich meiner Familie und meinen Freunden außerhalb der Universität: Danke für alles. Dämonen im Keller In den Jahren 1681 - 1682 stand ein steinernes Haus in der großen Straße der heiligen Gemeinde von Posen. Der Keller, der sich in diesem Haus befand, war verschlossen. Niemand konnte ihn betreten. Eines Tages ging ein Knabe dort hinein. Eine viertel Stunde später fanden ihn die Bewohner des Hauses tot auf der Schwelle zum Keller. Niemand wusste, warum er gestorben war. 1 Kurze Zeit später zieht eine Schar von Dämonen in das besagte Haus ein und vertreibt dessen menschliche Bewohner. Vor einer Gerichtsversammlung befragt, woher sie das Recht nähmen, sich so zu verhalten, erklären die Dämonen, dass sie die Nachkommen eines jüdischen Goldschmieds seien, der vor vielen Jahren eine Liebesbeziehung mit einer Dämonin begonnen habe. Seine menschliche Ehefrau sei ihm irgendwann auf die Schliche gekommen und habe dafür gesorgt, dass die Beziehung beendet wurde. Auf dem Sterbebett aber habe er der Dämonin und ihren gemeinsamen Kindern den Keller seines Hauses vermacht. Da alle menschlichen Erben des Goldschmieds später während eines Krieges ums Leben gekommen seien, stünde - so die Auffassung der Dämonen - den halb-dämonischen Nachkommen nicht nur der Keller des Hauses, sondern das gesamte Gebäude zu. Großen Erfolg haben die Dämonen bei ihrem Prozess um die Immobilie allerdings nicht. Sie werden zwar angehört, schließlich aber mit dem Argument abgewiesen, dass der ihnen angemessene Wohnsitz die Wildnis sei und sie in einer menschlichen Siedlung nichts verloren hätten. Am Ende exorziert man die Dämonen und die Gemeinde von Posen kommt wieder zur Ruhe. Nachzulesen ist die Geschichte dieses Rechtsstreits zwischen Menschen und Dämonen im Sefer Kav ha-Jaschar ( ‹ Das rechte Maß › ), einem populären ethisch-mystischen Werk des Moralisten und Didaktikers Zwi Hirsch Kaidanover vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Das rechte Maß erschien im Jahr 1 כ י ב ש נ ת ת מ ' ' א ו ת מ ' ' ב ל א ל ף ה ש ש י ה י ה ב י ת א ' ש ל א ב נ י ם ע ו מ ד ב ר ח ו ב ה ג ד ו ל ב ק ' ' ק פ ו ז נ ן א ש ר ה מ ר ת ף ב ת ו ך ה ב י ת ה י ה ס ג ו ר ו מ ס ו ג ר ו ל א ה י ה י כ ו ל ל י ל ך ש ו ם א ד ם ל ת ו ך ה מ ר ת ף . ו י ה י ה י ו ם ה ל ך ל ש ם ב ח ו ר א ' ל ת ו ך ה מ ר ת ף ו כ מ ו ר ב י ע י ת ש ע ה מ צ א ו ה ו א נ ש י ה ב י ת ל ה ב ח ו ר ש ו כ ב ע ל מ פ ת ן ה מ ר ת ף מ ת ו ל א ה י ו י ו ד ע י ם ס י ב ת מ י ת ת ו . Der Text folgt der Ausgabe in: Sara Zfatman : The Marriage of a Mortal Man and a She-Demon. The Transformations of a Motif in the Folk Narrative of Ashkenazi Jewry in the Sixteenth - Nineteenth Centuries (Yiddish: Texts and Studies). Jerusalem 1987 [hebr.], S. 131 ff. 1705/ 06 erstmals in Frankfurt am Main auf Hebräisch, wurde kurze Zeit später ins Jiddische übersetzt und fand in der Folge in der gesamten aschkenasischen Diaspora weite Verbreitung. 2 Seinen Aufrufen zu Frömmigkeit und moralisch einwandfreiem Handeln verleiht der Autor durch narrative Passagen Nachdruck und Anschaulichkeit. Den Lehren der Lurianischen Kabbala folgend, wird in ihnen illustriert, welche Auswirkungen die Taten der Menschen nicht nur auf ihre unmittelbare Umgebung, sondern auf den gesamten Kosmos haben. Jeder Körperteil kann, so Kaidanover, ebenso als Instrument des Guten wie auch des Bösen eingesetzt werden, jede Geste und jede Handlung vermag sowohl heiligen Zwecken zu dienen als auch die Übertretung der Gebote zu begünstigen. Jede schlechte Tat verursacht dabei eine Vermehrung der Mächte des Bösen, die in Gestalt von Dämonen die Menschen plagen und Unruhe in die göttliche Ordnung bringen. 3 Die Moral, die der Geschichte über die Dämonen im Keller beigegeben wird, zielt allerdings weniger auf den allgemeinen Zustand des Universums als auf den des betroffenen Individuums und der Gesellschaft, in der es sich bewegt: Wer sich mit weiblichen Dämonen einlasse, so die erklärende Schlusssentenz, müsse mit üblen Folgen rechnen. Besser ergehe es demjenigen, der sich 2 Gedruckt wurde Kaidanovers Werk vor allem in Osteuropa, aber auch in Deutschland, Italien und Istanbul. Jean Baumgarten zufolge wurde das Buch ausnehmend häufig gedruckt: «The Kav hayosher was one of the most frequently printed Yiddish books in old Yiddish literature. I have counted roughly 95 editions from 1705 to 1799 in the main Hebrew printing centres of the Ashkenazi diaspora.» Jean Baumgarten : Between Translation and Commentary. The bilingual editions of the Kav hayosher by Tsvi Hirsh Koidanover, in: Journal of Modern Jewish Studies 3,3 (2004), S. 269 - 287, hier S. 282. Zum Autor vgl. Shlomo Eidelberg : Art. Koidonover (Kaidanover), Z. evi Hirsch, in: EJ 12, S. 268. Zum Kav ha-Jaschar vgl. Zfatman , Marriage, S. 82 ff.; Mekorot le-toldhot ha-Hinukh be-Yisrael. A Source- Book for the History of Jewish Education from the Beginning of the Middle Ages to the Period of the Haskalah. A new edition. Vol. 1. Edited and annotated by Shmuel Glick . New York, Jerusalem 2002 [hebr.], S. 154; Max Erik : Di Geshikhte fun der Yidisher literatur fun di elteste tsaytn biz der haskole-tkufe, 14 - 18. jorhundert. Warschau 2 1929, S. 309 ff.; Jean Baumgarten : Yiddish ethical texts and the diffusion of the Kabbalah in the 17th and 18th centuries, in: Bulletin du Centre de recherche français à Jérusalem 18 (2007), S. 73 - 91. Zu den Quellen und zum Adressatenkreis des Buchs vgl. Moshe Idel : On Rabbi Zvi Hirsh Koidanover ’ s Sefer Qav Ha-Yashar, in: Jüdische Kultur in Frankfurt am Main von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein internationales Symposium der Johann Wolfgang Goethe- Universität Frankfurt am Main und des Franz Rosenzweig Research Center for German-Jewish Literature and Cultural History Jerusalem. Hg. von Karl Erich Grözinger (Jüdische Kultur 1). Wiesbaden 1997, S. 123 - 133. 3 Baumgarten , Translation and Commentary, S. 272. Dämonen im Keller 10 einschränke, ausschließlich mit seiner Ehefrau schlafe und sich nicht an Fremde verschwende. Aus der Binnenerzählung allerdings, in der von der Beziehung des jüdischen Goldschmieds zu seiner dämonischen Geliebten berichtet wird, geht nicht eindeutig hervor, ob diese dem Menschen Glück oder Unheil gebracht hat. In der Geschichte vermischen sich Elemente von Lust und Zwang, von Zuneigung, Verführung und Bestechung. Es werden Konflikte zwischen legitimen und illegitimen Allianzen formuliert, aber auch zwischen sexuellem Begehren und Frömmigkeit sowie zwischen einem sich vereinzelnden Individuum und der Gemeinschaft, deren Vertreter eine solche Vereinzelung nicht dulden. Indem Zwi Hirsch Kaidanover diese Elemente in seiner kurzen, aber komplexen Erzählung miteinander verknüpft, greift er auf eine lange Tradition von jüdischen Dämonenerzählungen zurück, die auf dem gleichen narrativen Gerüst beruhen: Ein menschlicher Mann beginnt eine erotische Beziehung mit einer nichtmenschlichen Frau. Diese Beziehung wird erst gestört und schließlich beendet. Die ältesten jüdischen Erzählungen, in denen sich der Plot an diesen Handlungskonstituenten orientiert, sind aus dem westeuropäischen Hochmittelalter (13. Jahrhundert) überliefert. Von Männern, die Beziehungen zu nichtmenschlichen Frauen aufnehmen, wird aber in diesem geographischen Raum und zu dieser Zeit nicht nur in der jüdischen Literatur erzählt. Auch im christlichen Kontext zirkulieren Texte, deren Autoren und Kompilatoren, Sammler und Herausgeber mit einem vergleichbaren literarischen Narrativ arbeiten. Um 1200 etwa entstehen die Lais Lanval und Guigemar der Marie de France, die anonymen Erzählungen Guingamor und Graelent sowie die Iwein-Romane Chrétiens de Troyes und Hartmanns von Aue, die unter anderem von der Liebe eines Mannes zu einer verführerischen Fee handeln. In einem klerikalen Umfeld wiederum verfassen Walter Map und Gervasius von Tilbury lateinische Exempla über Männer, die sich in gefährliche Dämoninnen verlieben. Die Arbeit an diesem Narrativ beschränkt sich auch nicht auf das Hochmittelalter. Sie reicht, um nur wenige Beispiele zu nennen, von Konrads von Würzburg Partonopier-Roman, dem anonymen Ritter von Staufenberg, der Königin vom Brennenden See und Konrads von Stoffeln Gauriel von Muntabel über die französischen und deutschen Melusine-Romane sowie Texte von Paracelsus und Martin Luther bis zu Friedrich de la Motte Fouqués Undine, Richard Wagners Oper Lohengrin und Tim Burtons Stop-Motion-Film Corpse Bride. Sowohl in christlichen als auch in jüdischen Kontexten werden bis in die Moderne Erzählungen über erotische Beziehungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen verfasst. Worin aber besteht das Faszinationspotential solcher Geschichten? Worin unterscheiden sich jüdische Formen des Dämonen im Keller 11 Erzählens von christlichen? Worin ähneln sie sich? Und, bezogen vor allem auf die jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen: Welches sind die Konflikte, die hier inszeniert werden, welche Themen und Problemkonstellationen werden in diesen Texten verhandelt? Auf diese Fragen sollen im Folgenden einige Antworten gefunden werden. Forschungsstand Mit der Beschreibung eines größeren Korpus von Erzählungen über die Beziehung eines Menschen zu einem nichtmenschlichen Wesen aus der Perspektive einer gemeinsamen Grundstruktur hat sich die germanistische und romanistische Literaturwissenschaft in den letzten hundert Jahren intensiv befasst. Nachdem Friedrich Panzer zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf diesem Feld den Terminus der ‹ gestörten Mahrtenehe › eingeführt hatte, entstand eine Reihe von Arbeiten, die sich dem Zusammenhang zwischen einem von der Literaturwissenschaft veranschlagten Muster und dessen Entfaltung in konkreten Einzeltexten widmeten. 4 Wissenschaftler wie Ralf Simon , Laurence Harf-Lancner , Friedrich Wolfzettel und Armin Schulz fragten nach spezifischen Erzählstrategien, nach der Verschmelzung verschiedener Narrative, nach Schemabrüchen und Rekontextualisierungen. 5 Bei all diesen Arbeiten blieben allerdings die jüdischen Variationen menschlich-nichtmenschlicher Beziehungen ausgespart. 4 Friedrich Panzer : Einleitung, in: Merlin und Seifrid de Ardemont von Albrecht von Scharfenberg. In der Bearbeitung Ulrich Füetrers. Hg. von Friedrich Panzer (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 227). Tübingen 1902, S. lxxii-lxxx. 5 Ralf Simon : Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne (Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 66). Würzburg 1990; Laurence Harf-Lancner : Les Fées au Moyen Âge. Morgane et Mélusine. La naissance des fées (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 8). Genf 1984; Friedrich Wolfzettel : Der Körper der Fee. Melusine und der Trifunktionalismus, in: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Hg. von Klaus Ridder und Otto Langer (Körper, Zeichen, Kultur 11). Berlin 2002, S. 353 - 383; Friedrich Wolfzettel : Le Conte en palimpseste. Studien zur Funktion von Märchen und Mythos im französischen Mittelalter. Stuttgart 2005, S. 136 - 164; Armin Schulz : Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens - Partonopier und Meliur - Wilhelm von Österreich - Die schöne Magelone (Philologische Studien und Quellen 161). Berlin 2000; Armin Schulz : Spaltungsphantasmen. Erzählen von der ‹ gestörten Mahrtenehe › , in: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von Wolfgang Haubrichs , Eckart Conrad Lutz und Klaus Ridder (Wolfram-Studien XVIII). Berlin 2004, S. 233 - 262. Dämonen im Keller 12 Diejenigen Zweige der Judaistik oder der internationalen volkskundlichen Erzählforschung wiederum, die sich mit den jüdischen sogenannten ‹ Dämonenhochzeitserzählungen › auseinandersetzten, konzentrierten sich vor allem auf Aspekte der Motivgeschichte. Pionierarbeit leisteten auf diesem Gebiet in den letzten fünfzig Jahren vor allem Joseph Dan , Sara Zfatman und Tamar Alexander-Frizer . 6 Der Fokus dieser Untersuchungen lag meist auf der Herkunft und Weitervermittlung narrativer Einzelelemente. In den wenigen Studien, die sich auf mehrere Erzählungen bezogen, beschränkte sich das Textkorpus auf einige wenige Geschichten. Diese wurden zudem in nur geringem Maß kontextualisiert. Entscheidende Impulse für literaturwissenschaftliche Analysen mit hermeneutischem Anspruch, die den Texten als eigenständigen, mit einem vielfältigen Sinnpotential ausgestatteten Werken gerecht wurden, gingen kürzlich von Jeremy Dauber aus. 7 Dauber beschränkt allerdings, ebenso wie vor ihm Sara Zfatman , seine Untersuchung auf frühneuzeitliche jiddische Erzählungen. Was fehlt, ist eine sich über mehrere Jahrhunderte erstreckende Betrachtung jüdischer Dämonenhochzeitserzählungen, in der eine Analyse der Einzeltexte im Kontext ihrer Entstehung und Überlieferung unter Berücksichtigung der judaistischen, germanistischen und romanistischen Forschung Aufschluss gibt über spezifische literarische und kulturelle Konfigurationen. Erkenntnisinteresse Eine vergleichende Untersuchung der jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen zeigt, dass all diese Texte von Helden handeln, die sich von ihrer Herkunftsgemeinschaft mit ihren Regeln und Normen absondern, indem sie sich aus einem von ihr kontrollierten Bereich entfernen. Auf unterschiedliche Weise wird in den Erzählungen diskutiert, wie sich das Individuum in die 6 Joseph Dan : Demonological Stories in the Writings of R. Yehuda Hehasid, in: Tarbiz 30,2 (1960/ 61), S. 273 - 289 [hebr.]; Joseph Dan : The Version of the Story of the Jerusalemite in ‹ Tales of Sendebar › , in: Ha-Sifrut 4,2 (1973), S. 355 - 361 [hebr.]; Joseph Dan : Five Versions of the Story of the Jerusalemite, in: PAAJR 35 (1967), S. 99 - 111; Joseph Dan : ‹ Ma ’ aseh Yerushalmi › and Ms. Heb. 8 0 3182, in: Kiryat Sefer 51,3 (1976), S. 492 - 498 [hebr.]; Sara Zfatman, Marriage; Tamar Alexander- Frizer : Theme and Genre: Relationships between Man and She-Demon in Jewish Folklore, in: Jewish Folklore and Ethnology Review 14,1/ 2 (1992), S. 56 - 61; Tamar Alexander-Frizer : The Heart is a Mirror. The Sephardic Folktale (Raphael Patai Series in Jewish Folklore and Anthropology). Detroit, Michigan 2008, S. 312 - 332. 7 Jeremy Dauber : Thinking with Shedim: What Can We Learn From the ‹ Mayse fun Vorms? , in: JSQ 15,1 (2008), S. 19 - 46; Jeremy Dauber : In the Demon ’ s Bedroom. Yiddish Literature and the Early Modern. New Haven, London 2010, S. 140 - 171. Dämonen im Keller 13 Gesellschaft zu integrieren hat, wem es sich dabei unterwerfen und gegenüber wem es sich behaupten muss und mit welchen gefährlichen Verlockungen es im Verlauf dieses Prozesses konfrontiert wird. Es ist also danach zu fragen, warum ein Held seiner Heimatgesellschaft den Rücken kehrt, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, damit seine Reintegration erfolgen kann und warum diese in manchen Fällen gelingt, in anderen aber scheitert. Die jüdischen Erzählungen über dämonische Allianzen handeln stets gleichzeitig von sozialer Isolation und von Gemeinschaftsstiftung. In den Texten erscheinen die unberechenbaren Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Figuren als Indiz für die Wahrnehmung der Grenzen einer Gemeinschaft. Inwiefern diese Grenzen als beschützenswert oder als einschränkend gesehen werden können, wird im Folgenden anhand eines epochenübergreifenden Textkorpus erörtert. Folgt man solch einem vergleichenden Zugang, dann zeigt sich, dass im Reflexionsfeld der Literatur die in einer dämonischen Allianz imaginierte Transgression sozialer Normen eine Infragestellung dieser Normen erlaubt. Die Texte sind insofern nicht einfach als Medien zur Vermittlung eindimensionaler moraldidaktischer Setzungen zu betrachten. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um Instrumente der Selbstverständigung einer mobilen kulturellen Minderheit, die ihre Identität nicht nur über die Rückbindung an lokale Traditionen, sondern auch durch die transnationale und spezifisch jüdische Aneignung eines bestimmten Narrativs herstellt. Die komplexen literarischen Verhandlungen, die in den Geschichten über die Rolle von Frömmigkeit und Gelehrsamkeit, von Gehorsam gegenüber den Eltern oder gegenüber der Gemeinde ausgetragen werden, stellen soziale Verhaltensregeln oft ebenso sehr in Frage, wie sie sie - in überlieferter oder in veränderter Form - bestätigen. Welche Möglichkeiten werden einem Individuum zur Verfügung gestellt, sich aktiv innerhalb seiner Gemeinschaft zu positionieren? Unter welchen Umständen und weshalb wird Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder verweigert? Auf diese Fragen geben die jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen häufig ganz andere Antworten als die christlichen Mahrtenehengeschichten. Zuweilen eröffnen sich in den auf den ersten Blick einfach strukturierten Erzählungen komplexe Imaginationsräume, in denen mit ganz unterschiedlichen Normbrüchen und Grenzüberschreitungen gleichzeitig experimentiert wird. In dieser Studie wird untersucht, wie solche Experimente aussehen können, das heißt, welche Normen in den Texten zur Disposition stehen und welche Möglichkeiten eines kreativen Umgangs mit ihnen dem handelnden Subjekt zugestanden werden. Dabei werden die jüdischen Erzählungen von der Beziehung zwischen Mann und Dämonin auch in Bezug zu den nichtjüdischen Erzählungen betrachtet, denen ein ähnliches Muster zugrunde liegt. Die systematische Interpretation der jüdischen Texte wird Einblicke in ein lite- Dämonen im Keller 14 rarisches Feld geben, das bislang einer nicht hebräisch- oder jiddischsprachigen Fachöffentlichkeit nur teilweise zugänglich war und deshalb in die romanistische und germanistische Diskussion nicht eingespeist werden konnte. Eine vergleichende Untersuchung der Inhalte und Erzählstrategien jüdischer Erzählungen macht deutlich, dass man von gestörter Mahrtenehe auch ganz anders erzählen kann, als dies in französischen Lais, in deutschen Romanen oder in lateinischen Exempla geschieht. Diese Erkenntnis wiederum vermag den Blick für die spezifische Machart auch der christlichen Texte zu schärfen. Die Arbeit versteht sich weder als motivgeschichtliche Untersuchung noch als mit einem Fluchtpunkt in der Moderne versehene ‹ Kulturgeschichte der Dämonenhochzeit › . Ihr Ziel ist es vielmehr, anhand der gesamten Anzahl der überlieferten Texte bis 1700 schlaglichtartig ein Phänomen der literarischen Imagination zu erhellen, das im Kontext des vormodernen europäischen Judentums über viele Jahrhunderte hinweg immer wieder literarisch produktiv gemacht wurde. Wenn dabei zu bestimmten Zeiten die Bildung von Interessensschwerpunkten sichtbar wird, dann kann daraus keine Entwicklung abgeleitet werden, der Kohärenz oder gar Zielgerichtetheit zu unterstellen ist. Was die genaue Beobachtung der jeweils spezifischen Arbeit am Narrativ der gestörten Mahrtenehe in ihrem kulturellen Kontext jedoch leistet, ist dies: Aussagen darüber treffen zu können, welche Denkfiguren im Nexus Norm und Regelbruch, Gesetz und Begehren zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten möglich sind und zur Entstehung von immer neuen und ganz unterschiedlichen Entfaltungen einer einfachen, dabei aber sehr vielseitigen und literarisch äußerst ergiebigen erzählerischen Struktur beitragen. Vorgehensweise Im Folgenden untersuche ich die erhaltenen hebräischen und jiddischen Dämonenhochzeitserzählungen vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit in einem diachron angelegten Vergleich. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den vier besonders komplexen und daher auch besonders aufschlussreichen Texten, die an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit Eingang in die Schriftkultur fanden. Um ihre Besonderheit herauszuarbeiten, werden sie sowohl mit drei älteren als auch mit drei jüngeren Texten kontrastiert, die zweihundert bis zweihundertfünfzig Jahre vor bzw. nach ihnen entstanden. Als Untersuchungsinstrument entwickle ich zuerst einen Fragenkatalog, mit dessen Hilfe die Erzählungen erschlossen werden können. Daher gilt es zunächst, die bisherigen literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse zum Narrativ der gestörten Mahrtenehe mit Blick auf diejenigen vormodernen jüdischen Erzählungen auszuwerten, die vergleichbare Strukturen aufweisen wie die christlich-klerikalen oder die höfischen Texte. Auf dieser Basis werden Kategorien entwickelt, die nötig sind, um allgemeine Charakteristika wie auch Dämonen im Keller 15 die textspezifische Verwendung des Narrativs der Dämonenhochzeit in der jüdischen Literatur systematisch zu beschreiben und zu interpretieren. Aus einer solchen Perspektive lassen sich die Texte, in denen eine Anzahl von bekannten Handlungselementen verwendet wird, heuristisch als Variationen eines bekannten Narrativs begreifen - auch dann, wenn sich keine direkten Abstammungs- oder Abhängigkeitsverhältnisse konstatieren lassen. Das Aufgreifen eines Stoffs, Motivs oder Narrativs - eine nicht nur in der Vormoderne gängige Praxis - muss keineswegs durch den Bezug auf einen bestimmten Prätext erfolgen. 8 Mit dem Verfahren des Wiedererzählens geht immer auch eine Modifizierung, Aktualisierung und Neukonfigurierung bereits existierender und verbreiteter Muster einher. 9 Diese an mittelalterlichen Texten gemachte Beobachtung lässt sich auch auf frühneuzeitliche Werke übertragen, in denen die Abhängigkeit von einem bestimmten Prätext nicht explizit gemacht wird. Stellt man die überlieferten hebräischen und jiddischen Erzählungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit vergleichend nebeneinander, dann wird deutlich: Genau in dem, was an den jeweiligen Konfigurierungen neu oder anders ist, liegt das Potential zur Erkenntnis, welche Konflikte in einem konkreten Text mit Hilfe des bekannten Narrativs verhandelt werden. Die Interpretation geht zwar von den strukturalistisch geprägten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen der Beziehung zwischen Element und System, zwischen Einzeltext und Narrativ aus. Stärker als die Struktur interessiert hier jedoch der konkrete Inhalt der Texte. Ziel ist es, zu ermitteln, auf welche Weise eine populäre Struktur dazu eingesetzt wird, unterschiedliche Themen aufzugreifen und in Bezug auf verschiedene soziale Antagonismen Artikulationsmöglichkeiten, Kritik und Lösungen zu formulieren. Daher wird es nötig sein, oberflächliche, vom Narrativ nur scheinbar vorgegebene binäre Oppositionen wie ‹ Vergehen und Strafe › , ‹ gefährlich und harmlos › oder ‹ begehrt und verschmäht › zu dekonstruieren und die potentielle Vieldeutigkeit der Texte freizulegen. Mit Hilfe einer Analyse der häufig komplex und dynamisch angelegten Figurenkonstellationen werden die Handlungsspielräume sichtbar gemacht, die sich den Figuren in den jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen vor allem dann öffnen, wenn sie einer einfachen, der Erzählung explizit oder implizit beigefügten Moral widersprechen. Die Quellen werden dabei nach chronologischen Aspekten gruppiert, wobei 8 Zur Terminologie vgl. ausführlicher Kapitel 1. 9 Vgl. Christian Kiening : Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens (Philologie der Kultur 1). Würzburg 2009, S. 34. Dämonen im Keller 16 sich aus der Überlieferungssituation die Schwerpunkte Hochmittelalter, Spätmittelalter und Frühe Neuzeit ergeben. An das einleitende Kapitel, in dem die wichtigsten literaturwissenschaftlichen Forschungskonzepte zur gestörten Mahrtenehe diskutiert werden, schließt die Interpretation der Erzählungen aus der Zeit um 1200, um 1500 und um 1700 an. Da eine Einordnung der Texte in ihre historischen Kontexte in vielen Aspekten zu ihrem besseren Verständnis beiträgt, werden den Textinterpretationen jeweils knappe Ausführungen zur Überlieferungsgeschichte zur Seite gestellt. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehen zwei kurze hebräische Erzählungen aus dem 13. Jahrhundert, die Geschichte eines Amulettschreibers und die Geschichte eines armen Mannes. Beide Texte handeln von ehebrecherischen Fehltritten, aber auch von der Art und Weise, wie ein Mann Frömmigkeit beweisen soll. Die Bedeutung dieser beiden Texte für die Forschung liegt unter anderem darin, dass es mit ihrer Hilfe möglich ist, zwei Typen von Dämonenhochzeitserzählungen voneinander zu unterscheiden: solche, in denen der Held die Beziehung zu der Dämonin gut übersteht gegenüber solchen, in denen seine Befreiungsversuche katastrophale Folgen haben. Gegenstand des dritten Kapitels ist die Interpretation der spätmittelalterlichen Geschichte eines Königssohns im Vergleich mit ihrer hochmittelalterlichen Vorlage. Neben dieser stehen mit der Geschichte aus Worms, der ältesten jiddischen Dämonenhochzeitserzählung, sowie der hebräischen Geschichte eines Jerusalemers zwei frühneuzeitliche Erzählungen im Zentrum des Interesses. Bemerkenswert an diesen drei Texten aus dem 15. und 16. Jahrhundert sind die starken Vaterfiguren, die das Verhalten der noch jugendlichen Helden leitend zu beeinflussen suchen. Im Hinblick auf den Umgang mit erlaubten und verbotenen Allianzen kommt hier die Frage nach richtigem und falschem Verhalten in Bezug auf die Anforderungen der Deszendenz ins Spiel. Aus dieser Perspektive wird ermittelt, welche sozialen Beziehungen einander in den jeweiligen Texten bedingen oder ausschließen und welche Handlungs- und Verhaltensweisen den heranwachsenden Helden zugestanden werden. Das vierte Kapitel gibt einen Ausblick auf die Rekonfigurationsmöglichkeiten des Narrativs in der Zeit um 1700. Im Mittelpunkt stehen die hebräische Geschichte des Ari, die jiddische Geschichte der Königin von Saba und die ebenfalls jiddische Geschichte eines Ostindienreisenden. In Bezug auf die Interpretationen der älteren Erzählungen in den vorhergehenden Kapiteln ist zu fragen, in welcher Weise die Texte um 1700 in ihrer Komplexität reduziert werden, wie dabei die Figuren der nichtmenschlichen Frauen an Bedrohungs-, aber auch an Befreiungspotential verlieren und welche Rolle in diesen Erzählungen die Gemeinde als kollektiv handelnde Institution spielt. Die hebräischen und jiddischen Texte, auf deren Interpretation die vorliegende Untersuchung beruht, werden im Anhang in deutschen Überset- Dämonen im Keller 17 zungen zur Verfügung gestellt. Dies dient der Überprüfbarkeit der vorgestellten Überlegungen. Zukünftig können die Texte zudem auch im deutschsprachigen Raum stärker rezipiert werden. Dämonen im Keller 18 1. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der literaturwissenschaftlichen Forschung Zur Benennung «jeglicher erotischen und sexuellen Verbindung eines Menschen mit einem übernatürlich-jenseitigen Wesen« 1 verwendet man in der germanistischen Literaturwissenschaft für gewöhnlich den Begriff der ‹ gestörten Mahrtenehe › . Der Terminus wird von der Bezeichnung für einen nächtlichen Druckgeist abgeleitet, der auch als Mahrte oder Mahr bezeichnet wird. 2 Geprägt wurde der Begriff im Jahr 1902 von Friedrich Panzer , der auch bereits zwei entscheidende Charakteristika des beschriebenen Narrativs nennt: Um einen kurzen namen für den typus zu gewinnen, sei es mir erlaubt, ihn nach dem deutlich elbischen charakter der gattin des helden und dem charakteristischsten motiv - verletzung des von der gattin gegebenen verbotes - das märchen von der gestörten mahrtenehe zu nennen. 3 Viele Elemente des von Panzer im Folgenden detailliert geschilderten ‹ typus › lassen sich nicht nur in vormodernen und modernen christlichen, sondern auch in jüdischen Erzählungen über die Hochzeit eines Mannes mit einer Dämonin ausmachen. Die Interpretation der jüdischen Texte kann daher auf die Erkenntnisse der Forschung über die verschiedenen Verwendungsweisen des Narrativs in der christlichen Literatur aufbauen. Was die Erforschung des Narrativs der gestörten Mahrtenehe angeht, so sind die Erkenntnisse der Wissenschaftler vielgestaltig. Der im Zentrum der folgenden Kapitel stehende Forschungsüberblick fasst die Ergebnisse verschiedener ausgewählter Studien so zusammen, dass sich aus dem Überblick Möglichkeiten einer Typisierung, Kategorisierung und Beschreibung ergeben, 1 Lutz Röhrich: Art. Mahrtenehe: Die gestörte M., in: EM 9, Sp. 44 - 53, hier Sp. 45. 2 Vgl. auch Nachtmahr; engl. nightmare, franz. cauchemar. In der französischen Literaturwissenschaft spricht man statt vom narrativen Muster der gestörten Mahrtenehe häufig vom Erzähltypus des ‹ conte › bzw. ‹ récit mélusinien › , auch allgemeiner ‹ conte féerique › oder ‹ conte des fées › . Vgl. Wolfzettel , Körper, S. 353. 3 Panzer , Einleitung, S. lxxiii. die für die Interpretation jüdischer Dämonenhochzeitserzählungen verwendet werden können. 4 1.1 Die narrative Kernformel einer schwierigen Liaison Auf welche Art von narrativer Kategorie bezieht man sich überhaupt, wenn man von ‹ gestörter Mahrtenehe › spricht? Und welches sind die Handlungskonstituenten dieses Narrativs? Laut Friedrich Panzer enthalten alle Erzählungen, die von einer gestörten Mahrtenehe handeln, die gleichen Elemente: Ein jüngling erwirbt im elbenlande eine elbische gattin. Aus diesen oder jenen gründen trennt er sich nochmals von ihr, um für kurze zeit in die menschenwelt zurückzukehren. Die gattin verbietet ihm, ihrer dort je zu erwähnen, da sie sonst für immer geschieden sein müssten. Der held verletzt das gebot und verliert die gattin. Beharrlich suchend gelingt es ihm aber endlich durch vermittlung überirdischer kräfte und wesen wieder ins elbenland zurück und zu dauernder vereinigung mit der geliebten zu gelangen. 5 Panzer dient diese Formel und die darauf aufbauende detaillierte schematische Aufschlüsselung des Narrativs dazu, Gemeinsamkeiten im Aufbau und in der Motivik von zweiunddreißig europäischen Volksmärchen nachzuspüren. Den solchermaßen erstellten ‹ Typus › überprüft er sodann bezüglich seiner Anwendbarkeit auf den spätmittelalterlichen Roman Seifrid de Ardemont Albrechts von Scharfenberg in der Bearbeitung Ulrich Füetrers. 4 Elisabeth Frenzel sammelt unter dem Eintrag: Verführerin, Die dämonische, in: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte (Kröners Taschenausgabe 301). Stuttgart 3 1988, S. 774 - 788 eine große Anzahl von Texten verschiedener Epochen, von denen vielen das Narrativ der gestörten Mahrtenehe zugrunde liegt. Eine systematische Typisierung wird jedoch nicht vorgenommen. 5 Panzer , Einleitung, S. lxxiv. Bei Panzer wird von den fünf Grundelementen der Erzählung (1. Eingangsformel: Jugendgeschichte, 2. Erwerbung der elbischen Gattin, 3. Verletzung des Verbots, 4. Suche und 5. Wiedervereinigung) vor allem das zweite nochmals stark unterteilt und differenziert (Weg ins Elbenland, Aufenthaltsort der Elbin, Zustand der Elbin etc.). Vgl. Panzer , Einleitung, S. lxxivff. Vgl. auch Christoph Huber : Mythisches erzählen. Narration und Rationalisierung im Schema der ‹ gestörten Mahrtenehe › (besonders im ‹ Ritter von Staufenberg › und bei Walter Map), in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Udo Friedrich und Bruno Quast (Trends in Medieval Philology 2) . Berlin, New York 2004, S. 247 - 273, hier S. 251. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 20 Terminologien und detaillierte Schemata Während Panzer selbst und nach ihm etwa auch Anne Wawer von einem ‹ typus › bzw. ‹ Erzähltyp › sprechen, 6 hat man in der literaturwissenschaftlichen Forschung die gestörte Mahrtenehe zumeist als ‹ Gattung › , ‹ Motiv › oder ‹ (Erzähl)Schema › bezeichnet. Die Verwendung all dieser Begriffe ist insofern sinnvoll, als jeder von ihnen eine etwas andere Betrachtungsweise impliziert. Ob es angebracht ist, von einer Gattung oder einem Schema, von einem Motiv oder Erzähltypus zu sprechen, welche konkrete Form dem Modell zugewiesen wird und in welche Handlungsstadien, Einzelmotive oder sonstige Struktursegmente man es dabei unterteilt, hängt jeweils davon ab, in welchen heuristischen Zusammenhang man das Modell stellt. Es ist daher zu fragen, welche Terminologie und, daraus folgend, welche Vorannahme über ein narratives Grundgerüst sich für eine Untersuchung der jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen am besten eignet. Ralf Simon spricht in seiner Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans vom «Gattungsschema des Feenmärchens«. 7 Er erweitert Panzers Liste der einzubeziehenden Texte um acht mittelhochdeutsche Romane und konzentriert sich bei seiner Erarbeitung einer Poetik des Artusromans weniger auf Einzelmotive als auf die allen oder den meisten Erzählungen gemeinsamen prägnanten Narrationseinheiten. Indem er sein neunstufiges Modell mit den Grundstrukturen des Artusromans engführt, zeigt er, wie das Artusprogramm durch «Uminterpretation eines schon vorhandenen narrativen Syntagmas«, nämlich das des so genannten ‹ Feenmärchen-Syntagmas › , konstituiert wird. 8 6 Vgl. Anne Wawer : Tabuisierte Liebe. Mythische Erzählschemata in Konrads von Würzburg ‹ Partonopier und Meliur › und im ‹ Friedrich von Schwaben › . Köln 2000, S. 7. An ‹ Typen › orientieren sich auch Antti Aarne und Stith Thompson in ihrer Klassifizierung internationaler Erzählungen. Vgl. z. B. die Hinweise zu den Einträgen 411 (The King and the Lamia), 424 (The Youth Wed to a She-Devil) und 425A (The Monster [Animal] as Bridegroom [Cupid and Psyche] in Antti Aarne : The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography. Translated and Enlarged by Stith Thompson . Second Revision. Helsinki 1964. 7 Simon, Strukturalistische Poetik, S. i. 8 Simon , Strukturalistische Poetik, S. 35. Laut Simon entfaltet sich die Segmentierung des Feenmärchens in neun Schritten: <F1> Eintritt des Helden in das Feenreich, <F2>, Initiationsproben, <F3> Begegnung mit der Fee und Kommunikationskontrakt, <F4> Verstoß gegen den Kontrakt, <F5> Verstoßung des Helden aus dem Feenreich, <F6> Erleiden einer todesähnlichen Krise, <F7> Genesung des Helden, <F8> Versuch, die Gunst der Fee zurückzugewinnen und <F9> Versöhnung des Helden mit der Fee. Vgl. Simon , Stukturalistische Poetik, S. 37 ff. Die narrative Kernformel einer schwierigen Liaison 21 Während sich die Verwendung des Gattungsbegriffs in Simons Studie zur Definition einer bestimmten Gattung, nämlich der ‹ Textsorte Artusroman › , als zielführend erweist, bietet sie sich für die vorliegende Untersuchung nicht als bestmögliche Lösung an. Die Diskussionen zur Bildung von Textgattungen sind zwar beinahe unüberschaubar, wodurch der Terminus ein vielschichtiges Potential erhält und auf vielerlei Weise benutzt werden kann. 9 Häufig aber wird mit der Gattungsbezeichnung eine Gruppe von Texten zusammengefasst, die zwar nicht ausschließlich, aber doch vordergründig Gemeinsamkeiten auf der Ebene des discours aufweisen. 10 Doch nicht nur in der christlichen, auch in der jüdischen Literatur sind die vergleichbaren Strukturen der gestörten Mahrtenehe vor allem auf der Ebene der histoire angesiedelt und in diesem Sinne «durchaus unabhängig von ihrer je gattungsspezifischen Realisation«. 11 Das heißt: Von einer gestörten Mahrtenehe kann in einem christlichen Versroman wie dem Partonopier genauso erzählt werden wie in der in Prosa verfassten Melusine, in einem Exempel, das in einen längeren Traktat eingebaut ist wie die jüdische Geschichte eines Amulettschreibers ebenso wie in der Geschichte eines Königssohns, die Teil eines Erzählzyklus ist. Erzählungen von gestörter Mahrtenehe überschreiten also Gattungsgrenzen, zumindest wenn diese nach Kriterien des discours gezogen werden, zu leicht, um selbst zu einer Gattung zusammengefasst werden zu können. Stattdessen ist davon auszugehen, dass das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in ganz unterschiedlichen Textgattungen zur Entfaltung kommt. Konzentriert man sich beim Vergleich der Texte auf die inhaltliche Ebene, dann liegt es näher, von ‹ Motiv › oder ‹ Schema › zu sprechen. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird das Motiv definiert als «kleinste selbständige Inhalts-Einheit oder tradierbares intertextuelles Element eines literarischen Werks«, welches «nicht an einen konkreten historischen Kontext gebunden« ist. 12 Vom ‹ Thema › eines Textes hebt es sich durch seinen geringeren 9 Vgl. Klaus W. Hempfer : Art. Gattung, in: RL 1, S. 651 - 655, hier S. 651 ff. und die dort angeführte Literatur; Klaus W. Hempfer : Gattungstheorie. München 1973; Claudia Bickmann : Der Gattungsbegriff im Spannungsfeld zwischen historischer Betrachtung und Systementwurf (Marburger Germanistische Studien 2). Frankfurt a. M. 1984; Hans Robert Jau ßß : Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters, in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Hg. von Maurice Delbouille . Bd. 1. Heidelberg 1972, S. 107 - 138; Dieter Lamping und Dietrich Weber (Hgg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte (Wuppertaler Broschüren zur allgemeinen Literaturwissenschaft 4). Wuppertal 1990; Wolfgang Raible : Was sind Gattungen? , in: Poetica 12 (1980), S. 320 - 349 und viele andere. 10 Schulz, Poetik, S. 35. 11 Schulz , Poetik, S. 36 12 Rudolf Drux : Art. Motiv, in: RL 2, S. 638 - 641, hier S. 638. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 22 Abstraktionsgrad ab. Vom ‹ Stoff › unterscheidet sich das Motiv dadurch, dass es einzelne Teile eines Werks organisiert, nicht dessen Gesamtheit, und dass es nicht an bestimmte Protagonisten gebunden ist. 13 Die Anpassungsfähigkeit an verschiedene historische Kontexte und eine über thematische Implikationen hinausgehende relative Konkretheit sind im Fall der gestörten Mahrtenehe durchaus gegeben. Um aber ein solch komplexes und aus mehreren Elementen auf unterschiedliche Weise zusammensetzbares Modell präzise beschreiben zu können, ist der Motivbegriff zu eng gefasst. Ihn zu benutzen, bietet sich vor allem dann an, wenn die damit bezeichnete Formel nur einen relativ kleinen Teil des Textes strukturiert und mehr oder weniger gleichberechtigt neben einem oder mehreren weiteren Motiven auftritt. Dies ist beispielsweise in Konrads Partonopier der Fall: Der Roman endet nicht mit der erfolgreichen Wiedervereinigung des Helden mit seiner feenhaften Geliebten. Die eigentliche Liebesgeschichte wird von Erzählungen über treulose ständische Aufsteiger unterbrochen; ausgiebige Schilderungen des Kampfes gegen die Heiden schließen sich an. Auch die Melusine kommt mit dem endgültigen Verschwinden der Fee noch lange nicht an das Ende ihrer Handlung. Die gestörte Mahrtenehe wird zwar zum Ursprungsmoment genealogischen Erzählens; für die zahlreichen Geschichten vom Landerwerb der ersten fünf halbmenschlichen Söhne ist das Narrativ jedoch nicht handlungsbestimmend. Anders verhält es sich in den französischen Lais und in vielen jüdischen Erzählungen von der Hochzeit eines Mannes mit einer Dämonin: Nicht nur sind diese Texte in der Regel kürzer als die deutschen und französischen Romane. Die narrative Formel erhält auch eine ungleich größere Bedeutung, indem sie häufig den gesamten Text und nicht nur einen Teil desselben strukturiert. Zudem wird es dann, wenn man beim Eingehen einer Beziehung mit einer nichtmenschlichen Frau von einem Motiv als der ‹ kleinsten selbständigen Inhalts-Einheit › ausgeht, schwierig, zu erklären, warum die Geschichten sowohl mit einer glücklichen Versöhnung als auch mit dem Tod des Helden enden können. Hier ist es nicht mehr sinnvoll, von ein und demselben Motiv als Strukturierungsprinzip einer Erzählung zu sprechen. Als praktikabler erweist es sich, von einer ‹ typisch › erscheinenden Verkettung verschiedener, für das jeweilige Narrativ zur Verfügung stehender Motive auszugehen. Aus einer solchen Verknüpfung und dem daraus entstehenden «typische[n] Handlungs- oder Erzählablauf« 14 entsteht ein ‹ Handlungs › - oder ‹ Erzählschema › . 15 Dies ist der Terminus, der in der For- 13 Vgl. Armin Schulz : Art. Stoff, in: RL 3, S. 521 - 522. 14 Matías Martínez : Art. Erzählschema, in: RL 1, S. 506 - 509, hier S. 506. 15 Zur Unterscheidung von Handlungsschema und Erzählschema vgl. Matías Martínez und Michael Scheffel : Einführung in die Erzähltheorie (C. H. Beck Die narrative Kernformel einer schwierigen Liaison 23 schung in Bezug auf Geschichten über gefährliche Brautwerbungen, aber auch über gestörte Mahrtenehen, am häufigsten Verwendung findet. Nach der Definition Christian Schmid-Caldalberts stellt ein Schema Fixpunkte bereit, welche von der Handlung durchlaufen werden müssen. Unter einem Handlungsfixpunkt ist ein überindividuelles Handlungselement zu verstehen, das an bestimmte Orte der Raumstruktur sowie an bestimmte Handlungsrollen gebunden ist und im Handlungsablauf seinen festen Platz hat. [. . .] Die Nichterfüllung eines Handlungsfixpunktes muß als Schemabruch gewertet werden. 16 Von einem ‹ Schema › zu sprechen, hat gegenüber der Verwendung des Begriffs ‹ Gattung › den Vorteil, dass damit typische Handlungselemente unabhängig von der diskursiven Oberfläche der jeweiligen Texte zueinander in Beziehung gesetzt werden können; anders als beim ‹ Motiv › erlaubt dabei die wiederkehrende Anordnung zahlreicher Elemente einen hohen Komplexitätsgrad des Modells. Armin Schulz spricht in seiner Studie zur Poetik des Hybriden denn auch weder von der Gattung noch vom Motiv des Minne- und Abenteuerromans, sondern von einem an bestehende Konzepte des ‹ Erzählschemas › angelehnten ‹ Erzählprogramm › , das jegliche Gattungszuordnung auf der discours-Ebene transzendiert. Ähnlich wie Ralf Simon geht Schulz den Wirkweisen des Zusammenströmens verschiedener literarischer Traditionen und der daraus resultierenden Vielstimmigkeit und Komplexität der solcherart entstehenden Studium). München 7 1999, S. 135 ff. Die Autoren setzen sich dafür ein, zur Bezeichnung etwa des Schemas der gefährlichen Brautwerbung den Terminus ‹ Handlungsschema › zu verwenden. «Das Handlungsschema ist ein typischer, d. h. mehreren narrativen Texten [. . .] gemeinsamer Handlungsverlauf.« Unter ‹ Erzählschemata › verstehen Martínez und Scheffel umfassendere Strukturen des Erzählens, also «typische Muster von Erzählungen und Erzählvorgängen insgesamt, einschließlich der Darstellung und erzählpragmatischer Aspekte«. Im Gegensatz zum ‹ Erzählschema › findet dieser Begriff in der wissenschaftlichen Literatur zur gestörten Mahrtenehe keine Verwendung. Wei Tang benutzt in ihrer vergleichenden Arbeit zu westeuropäischen und chinesischen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe die Bezeichnung ‹ Motivkonstellation › . Allerdings präzisiert sie nicht weiter, was eine Motivkonstellation beispielsweise von einem Erzählschema unterscheidet. Vgl. Wei Tang : Mahrtenehen in der westeuropäischen und chinesischen Literatur: Melusine, Undine, Fuchsgeister und irdische Männer - Eine komparatistische Studie (Literatura 22). Würzburg 2009, S. 1 f. 16 Christian Schmid-Cadalbert : Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur (Bibliotheca Germanica 28). Bern 1985, S. 87. Schmid-Cadalberts Ausführungen zum Brautwerbunsschema lassen sich mühelos auf andere Narrative wie das der gestörten Mahrtenehe übertragen. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 24 Texte nach. Schulz untersucht, wie von einem Ausgleich zwischen Individuum und Kollektiv im Zeichen der heimlichen, illegitimen Minne erzählt wird und wie zu diesem Zweck die überlieferten Erzählprogramme von gestörter Mahrtenehe sowie von Minne- und Aventiureroman miteinander amalgamiert werden. 17 Beim Sammeln der rekurrenten Komponenten des ‹ Erzählprogramms › geht der Autor bezüglich der Detailfülle noch über die Modelle Panzers oder Simons hinaus - die Anzahl der von Schulz aufgeführten Erzählelemente beläuft sich von E1: Status des Helden über E12: Rückkehr bis zu E25: Legitime Herrschaftsehe auf stolze fünfundzwanzig. 18 Damit entscheidet sich Schulz für eine Methode, die der Ralf Simons in ihrer strukturalistischen Ausrichtung recht ähnlich ist. Allerdings geht es Schulz nicht darum, eine bestimmte Gattung zu definieren. Er will vielmehr die Frage beantworten, wie das Programm der gestörten Mahrtenehe in den späten höfischen Romanen dazu eingesetzt wird, von der Problematik illegitimer Liebe und dem schwierigen Verhältnis des Individuums zum Kollektiv zu erzählen. In den höfischen Texten sind diese beiden Konfliktfelder direkt miteinander verbunden. Man könnte auch sagen: Der Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft wird am Beispiel der illegitimen Beziehung veranschaulicht. Denn dadurch, dass der Protagonist eine Frau wählt oder von einer Frau gewählt wird, die nicht seiner eigenen Umgebung entstammt und die von seiner Herkunftsgemeinschaft vor dem Eingehen der Verbindung nicht als passend bewertet wurde, gerät er zugleich mit der Geliebten in den Verdacht, sich den Normen seiner gewohnten Umgebung zu entziehen. Die von Schulz entwickelte Fragestellung ist auch bei der Untersuchung der jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen ertragreich. Allerdings erscheint der von ihm zur Beschreibung der Erzählungen verwendete Begriff ‹ Erzählprogramm › als noch stärker intentional gerichtet als der des ‹ Erzählschemas › . Wenn man nicht davon ausgeht, dass in den Erzählungen gezielt ein bestimmtes Programm abgearbeitet wird, dann benötigt man zur Beschreibung einen Terminus, der sich leichter auch zur Untersuchung von nur lose an das Modell anknüpfenden Texten einsetzen lässt. Der sich anbietende Schemabegriff ist allerdings belastet: zum einen durch die häufig pejorative Benutzung in der neueren deutschen Literaturwissenschaft (oder anderen Philologien), wo in Untersuchungen zur neuzeitlichen Schema- und Trivialliteratur der Terminus meist negativ konnotiert ist. Zum anderen durch das rigide Schemaverständnis des klassischen Strukturalismus, dessen Vertreter hochkomplexe Strukturmodelle mit einer Vielzahl von 17 Vgl. Schulz , Poetik, S. 12. 18 Vgl. Schulz , Poetik, S. 50 - 62. Die narrative Kernformel einer schwierigen Liaison 25 Positionen ( ‹ Funktionen › ) entwickelten, von denen in den meisten Fällen ein großer Anteil nicht besetzt werden kann. Letztlich gibt es häufig keinen einzigen Text, in dem das Modell, das ihn beschreibt, vollständig realisiert wird. 19 Statt also von einer detailliert untergliederten Matrix verschiedener Erzählungen auszugehen, die ob ihres Detailreichtums und hohen Formalisierungsgrads in keinem dieser Texte tatsächlich abgebildet wird, bietet es sich an, sich Jan-Dirk Müllers Auffassung von der Produktivität ‹ narrativer Abbreviaturen › anzuschließen. 20 Aus der Kombination solcher narrativer Kondensate werden «Erzählkerne« erzeugt, die «Verlaufsmuster mit inhaltlichen Besetzungen [kombinieren]« 21 und solchermaßen auf historisch-spezifische Weise Konflikte und Lösungsmöglichkeiten diskursivieren. Müllers Begriff des ‹ Kerns › suggeriert allerdings eine Stabilität und Unveränderbarkeit, die in Bezug auf die Dämonenhochzeitserzählungen nicht gegeben ist. Daher wird im Folgenden von ‹ Narrativen › im Sinne locker gefügter Erzählmuster die Rede sein. Bei einem solchen Erzählmuster oder Narrativ können die einzelnen Elemente nach Bedarf reduziert, variiert oder neu angeordnet werden. Die Handlungsnarrative können einen Text entweder vollständig strukturieren 19 Vgl. Jan-Dirk Müller : Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 29 ff. Beispielhaft für das strukturalistische Vorgehen der Modellbildung ist die Märchenanalyse Vladimir Propps , der das Schema des russischen Zaubermärchens in einzelne Segmente aufteilt und so ein Inventar zur Verfügung stellt, nach dem der konkrete Einzeltext auf Übereinstimmungen und Abweichungen vom Schema abgesucht werden kann. Vgl. Vladimir Propp : Morphologie des Märchens (stw 131). Frankfurt a. M. 1975 (russische Erstausgabe 1928). 20 Müller , Höfische Kompromisse, S. 29 ff. Zwischen ‹ Schema › im klassischen Sinn und Müllers ‹ Erzählkern › und ‹ Erzählmuster › angesiedelt ist Anne Wawers ‹ Erzähltyp › : «Unter einem Erzähltyp verstehe ich im Folgenden die in einer Gruppe von Texten gleichförmige Sequenz von rekurrenten Motiven. Der Erzähltyp liefert somit gleichsam das Repräsentationsparadigma einer Narration, die sich sowohl durch inhaltliche Merkmale wie durch Eigenheiten ihrer Struktur mit Texten aus einem Vergleichscorpus in Beziehung setzen lässt.« Wawer, Tabuisierte Liebe, S. 7. Obgleich diese Definition das, was hier unter gestörter Mahrtenehe in christlicher und jüdischer Literatur verstanden wird, einschließt, erscheinen Jan-Dirk Müllers Überlegungen aufschlussreicher, da sie die Historizität der jeweiligen Muster stärker betonen. 21 Müller , Höfische Kompromisse, S. 31. Zu Müllers Modell und seinen Anwendungs- und Modifizierungsmöglichkeiten vgl. Stephan Müller : Das Ende der Werbung. Erzählkerne, Erzählschemata und deren kulturelle Logik in Brautwerbungsgeschichten zwischen Herrschaft und Heiligkeit, in: Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Hg. von Andreas Hammer und Stephanie Seidl (Beihefte zur Germanisch-Romanischen Monatsschrift 42). Heidelberg 2010, S. 181 - 196. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 26 oder sich mit anderen Narrativen zu komplexeren Handlungsgebilden verbinden. Sie sind in ihren Strukturen weniger stark fixiert als die klassischen Erzählschemata. Das Konzept des Schemas macht es zwar leichter, Schemabrüche zu entdecken und zu benennen. Doch auch die unterschiedlichen Transformationsmöglichkeiten eines weniger stark spezifizierten Narrativs sind bei näherem Hinsehen im synchronen und im diachronen Vergleich gut erkennbar, ohne dass - wie beim Abgleich des Textes mit einem Schema - das Modell gegenüber dem Text zu stark in den Vordergrund tritt. Inhaltliche Füllungen eines abstrakten Modells Auch für die Arbeit mit im Vergleich zu detaillierten Modellen relativ abstrakten Narrativen gibt es in der Literaturwissenschaft Vorbilder. Die Forscher, die sich für eine stärker generalisierende Vorgehensweise entschieden haben, sprechen dennoch meist nicht von Mustern, sondern von Schemata oder Motiven. Claude Lecouteux beispielsweise nennt in seinem Aufsatz zum Motiv der gestörten Mahrtenehe, in dem er sich auf den Partonopier, den Ritter von Staufenberg und verschiedene französische Lais bezieht, drei Momente, die dieses Motiv seines Erachtens ausmachen: «1. die Begegnung, 2. das Verbot, 3. dessen Übertretung«. 22 Christoph Huber hingegen gruppiert in seinem Artikel zur Präsenz des Mythos im Ritter von Staufenberg sowie in den lateinischen Mahrtenehenerzählungen Walter Maps die Elemente der narrativen Kernformel etwas anders und schließt dadurch zusätzlich die - freilich im Einzelfall stark variationsfähigen - Ausgänge der Erzählungen mit ein. Für ihn folgt auf das Knüpfen der Verbindung zu einer anderweltlichen Frau mit gleichzeitigem Aussprechen eines Tabus der Tabubruch und der damit zusammenhängende Verlust der Geliebten. Im dritten Schritt kann entweder der Held, wie von Panzer postuliert, für immer mit der Fee vereint werden; oder aber die Verbindung scheitert dauerhaft. 23 Hubers Muster umfasst somit erstens das 22 Claude Lecouteux : Das Motiv der gestörten Mahrtenehe als Widerspiegelung der menschlichen Psyche, in: Vom Menschenbild im Märchen. Hg. von Jürgen Janning , Heino Gehrts und Herbert Ossowski (Veröffentlichungen der Europäischen Märchengesellschaft 1). Kassel 1980, S. 59 - 71, hier S. 59. 23 Vgl. Huber , Mythisches Erzählen, S. 252. Anne Wawer veranschlagt für ihren ‹ Erzähltyp übernatürliche Partnerin › fünf Stationen 1. Verbindung mit einer nichtmenschlichen Frau, 2. Anhalten der Beziehung bei Beachtung des Tabus, 3. Verstoß gegen das Tabu und Trennung, 4. Mühevolle Suche und 5. Wiedererlangung der Partnerin. Wawer spricht selbst davon, dass in manchen Texten der letzte Handlungsbaustein nicht eingesetzt wird. Für die vorliegende Untersuchung bietet es sich Die narrative Kernformel einer schwierigen Liaison 27 Eingehen der Beziehung und das Tabu, zweitens den Tabubruch und die Trennung und drittens den Schluss. Mit geringen Modifikationen kann Hubers Modell zur Beschreibung sowohl der christlichen als auch der jüdischen Erzählungen verwendet werden. Zu dem Punkt ‹ Eingehen der Beziehung › gehört, dass der Held in einer mehr oder weniger ausführlichen Eingangsformel eingeführt, seine Lebensumstände geschildert und die Begegnung mit der nichtmenschlichen Frau motiviert oder zumindest eingeleitet wird. Zudem ist es sinnvoller, statt von einem Tabu von einer Bedingung zu sprechen, die die Beziehung ermöglicht. Die Bedingung wird im Gegensatz zum Tabu nicht immer als unerklärtes und unerklärliches factum brutum einfach gesetzt, sondern zuweilen durchaus nachvollziehbar in ihrer Funktion erklärt. 24 Für den variablen Schlussbaustein gilt, dass bei einem endgültigen Scheitern der Beziehung die unwiderrufliche Trennung sowohl als Glück als auch als Unglück bewertet werden kann. Aus diesen Überlegungen ergeben sich für ein abstraktes Modell von gestörter Mahrtenehe, das auch mit der Struktur der jüdischen Texte korrespondiert, folgende Bestandteile: Aufbau der Beziehung, Krise und Auflösung. Der Auflösungs- oder Schlussteil ist derjenige Baustein des Modells, der am stärksten an die Einbettung des Narrativs in den gesamten Text gebunden ist. Wie er gestaltet wird, hängt vom Zusammenspiel der verschiedenen Sinnangebote ab, die der Text enthält. Eines darf auch bei der Arbeit mit dem solchermaßen als variabel konfigurierbar definierten Narrativ nicht in Vergessenheit geraten: Im Vordergrund der Untersuchung sollte immer der Einzeltext in seinem jeweiligen historischen Kontext stehen. Die Perspektive der strukturalistischen Literaturwissenschaft, aber auch die der volkskundlichen Erzählforschung und der mentalitätsgeschichtlich arbeitenden Wissenschaftler wie Jacques Le Goff , Emmanuel Le Roy Ladurie oder Claude Lecouteux vernachlässigen zugunsten einer «Rekonstruktion der ‹ Ähnlichkeit › der Serie« und eines perfekten Schemas zuweilen die literarische Eigenart der Texte wie auch ihre ästhetische, historische und mediale Dimension. 25 Ulrich Wyss bringt das Problem auf den Punkt: Gilt ein Text daher an, diesen letzten Punkt allgemeiner zu fassen, so dass er verschiedene Formen des Endes einer Erzählung bezeichnen kann. Vgl. Wawer , Tabuisierte Liebe, S. 11. 24 Zum Begriff des Tabus in den höfischen Mahrtenehenerzählungen vgl. den Aufsatz von Ingrid Kasten : Tabu und Lust. Zur Verserzählung ‹ Der Ritter von Staufenberg › , in: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Hg. von Martin Baisch und Elke Koch (Rombach Wissenschaften/ Reihe Scenae 12). Freiburg 2010, S. 235 - 252. 25 Vgl. Beate Kellner : Aspekte der Genealogie in mittelalterlichen und neuzeitlichen Versionen der Melusinengeschichte, in: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 28 vor allem als ein Exemplar der Gattung ‹ Mahrtenehe-Erzählung › , so werden wir blind für die Besonderheiten des konkreten Werks. Wie eine Photographie unkenntlich wird, wenn wir ihr Negativ zu schnell belichten, schwindet der Sinn aus dem Romantext, wenn dieser zuerst eine ubiquitäre Erzähltradition belegen soll. 26 Nach Christian Schmid-Cadalbert besteht die Aufgabe des Interpreten darin deutlich zu machen, wie der Autor das «Schema selbst als ‹ Spielform › [benutzt]«. 27 Die Schwierigkeit, die Besonderheit eines Textes über seiner Einordnung in eine Serie nicht aus den Augen zu verlieren, wird nun nicht gerade dadurch verringert, dass einem mehr oder weniger weitläufigen Korpus an christlichen (theologischen und höfischen) Erzählungen noch eine Reihe von höchst heterogenen Texten jüdischer Provenienz hinzugefügt wird. Die Unterschiedlichkeit der zu untersuchenden Erzählungen erzwingt neue Definitions- und Kategorisierungsversuche. Aus der Gestaltung der Anleihen bei einem verbreiteten Narrativ lassen sich Erkenntnisse über die individuelle Machart eines bestimmten Textes ableiten, ohne im Verlauf dieses Prozesses ausschließlich ein im heuristischen Interesse formuliertes, ahistorisches Modell zu fokussieren. 28 1.2 Der defizitäre Held Alle menschlichen Protagonisten christlicher Mahrtenehenerzählungen haben etwas gemeinsam: Es mangelt ihnen an etwas Grundlegendem. Oft befinden sie sich zu Beginn der Handlung in einer konkreten Notsituation. Dies ist zunächst ein Gemeinplatz, da die Feststellung in gewissem Maß auf alle Früher Neuzeit. Hg. von Kilian Heck und Bernhard Jahn (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80). Tübingen 2000, S. 13 - 38, hier S. 14. 26 Ulrich Wyss : Partonopier und die ritterliche Mythologie, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 5 (1988/ 89), S. 361 - 372, hier S. 363. 27 Schmid-Cadalbert , Ortnit, S. 98. 28 Zur Problematik der literaturwissenschaftlichen Arbeit mit nachträglich konstruierten oder vermeintlich rekonstruierten, idealtypischen Schemata, deren Verwirklichungen im Text stets von Abweichungen und Brüchen gekennzeichnet sind vgl. Florian Kragl : Sind narrative Schemata ‹ sinnlose › Strukturen? Oder: Warum bei höfischen Romanen Langeweile das letzte Wort hat und wieso Seifrit das bei seinem ‹ Alexander › nicht wusste, in: Historische Narratologie - Mediävistische Perspektiven. Hg. von Harald Haferland , Matthias Meyer und Carmen Stange (Trends in Medieval Philology 19). Berlin, New York 2010, S. 307 - 337 sowie Armin Schulz : Morolfs Ende. Zur Dekonstruktion des feudalen Brautwerbungsschemas in der sogenannten ‹ Spielmannsepik › , in: PBB 124,2 (2002), S. 233 - 249, besonders den Abschnitt V. ‹ Eine Gattung und ein Schema, das es nicht gibt? › , S. 246 ff. Der defizitäre Held 29 Protagonisten aller narrativen Texte zutrifft. Gäbe es kein Problem, das zu lösen, gäbe es keinen Mangel, der zu beheben wäre, dann käme keine Handlung in Gang. Nach Claude Lecouteux gilt speziell für die ‹ Feenmärchen › : An ihrem Anfang steht ein dringender Wunsch. 29 Dieser wird hervorgerufen durch einen existentiellen Mangel, den, anders als etwa in den mittelalterlichen Brautwerbungsromanen, nur ein überirdisches Wesen beheben kann. Dadurch kommen in den Mahrtenehen- oder Dämonenhochzeitsgeschichten die nichtmenschlichen Verführerinnen ins Spiel. In vielen Fällen haben die Protagonisten finanzielle Probleme und leiden, damit verbunden, unter einem Mangel an Ansehen. Der Ritter Graelent in dem gleichnamigen anonymen Lai verarmt, nachdem er es sich mit der Königin verdorben hat. 30 Auch dem Titelhelden des Lais Lanval der Marie de France fehlt das nötige Kleingeld, um einen angemessenen höfischen Lebenswandel betreiben zu können. In einer ähnlichen Situation befindet sich Melusines Reymond, der einer mittellosen Familie entstammt. Dazu kommt, dass er den wohlhabenden Ziehvater, der ihm einen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen könnte, versehentlich tötet und sich dadurch in eine noch unangenehmere Lage bringt. Die Geliebte des anderweltlichen Mannes im Yonec wird von ihrem eifersüchtigen Ehemann unter unwürdigen Bedingungen gefangen gehalten, während Konrads von Würzburg Schwanritter einer Frau zu Hilfe kommt, die in einem Rechtsstreit zu unterliegen droht. 31 In all diesen Fällen trifft zu, was Armin Schulz über die Funktion der Fee als Erfüllerin von andernfalls unerfüllbaren Wünschen feststellt: Der andersweltliche ‹ Überschuß › der Feenliebe kompensiert einen Mangel, den der jugendliche Protagonist in der ‹ normalen › Adelsgesellschaft hat, und genau dies erklärt wohl die Faszination des Erzähltyps. Die Fee spendet etwas, das in der ‹ gewöhnlichen Welt › nicht zu haben ist - um den Preis, daß sich der Held ihrer Macht und ihren Bedingungen unterwirft. 32 Auch für Lecouteux übernimmt die Fee (oder, wie im Schwanritter und im Yonec, der Feenmann) in mehr oder weniger starkem Maß die Aufgabe, dem menschlichen Protagonisten in einer bedrohlichen Situation zu helfen, ihm das 29 Vgl. Lecouteux , Mahrtenehe, S. 65. 30 Graelent and Guingamor: Two Breton Lays. Edited and translated by Russel Weingartner (Garland Library of Medieval Literature A/ 37). New York, London 1985. 31 Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen. Bd. II. Der Schwanritter. Das Turnier von Nantes. Hg. von Edward Schröder . Mit einem Nachwort von Ludwig Wolff . Berlin 3 1959. 32 Schulz , Spaltungsphantasmen, S. 234. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 30 zu geben, was er aus eigener Kraft nicht erlangen kann und dadurch vergangenes Unrecht wiedergutzumachen. 33 Nicht immer aber erlebt der menschliche Held eine Situation offensichtlichen Mangels, der auf äußere Umstände zurückzuführen ist. Zuweilen liegt das Defizit, für andere mal mehr, mal weniger wahrnehmbar, nicht in der äußerlichen Situation des Protagonisten, sondern in seinem Charakter. Im Guigemar beispielsweise, einem weiteren Lai der Marie de France, wird ein ansonsten vorbildlicher Ritter für seine Unfähigkeit zur Liebe gerügt: Dabei hatte (die) Natur (aber) insofern einen Fehler gemacht, als ihm niemals der Sinn nach irgendwelcher Liebe stand. 34 Der materiell gut ausgestattete und scheinbar vollkommene Partonopier wiederum ist - ähnlich wie Seifrid de Ardemont - schlicht noch zu jung, um als untadeliger Ritter gelten zu können. Wie Ulrich Wyss feststellt, wird in der Begegnung mit der Fee deutlich, dass Partonopier als Ritter noch gleichsam unfertig ist: «Wenn die Prinzessin ihrem Geliebten Blindheit verordnet, drückt sich darin aus, daß er die Ordnung der höfischen Welt noch nicht recht verstanden hat.« Wyss spricht von einer «fundamentale[n] höfische[n] Ichschwäche [. . .], oder genauer Schwäche des höfischen Ichs«. 35 Erst in der Wiedereroberung Meliurs kann Partonopier beweisen, dass er den Anforderungen gewachsen ist, die die Gesellschaft an ihn als Ritter, Herrscher und Ehemann stellt. Auch der Held des Ritters von Staufenberg wird, bevor die eigentliche Handlung beginnt, als vollendeter und tugendhafter Ritter geschildert, der sowohl an charakterlichen Eigenschaften als auch an materieller Ausstattung alles besitzt, was er für eine ritterliche Existenz benötigt. Anders als Partonopier kann er, sobald er sich einmal mit einer Fee eingelassen hat, nicht wieder in die Gesellschaft integriert werden. Woran Peter von Staufenberg letztlich zugrunde geht, ist eine «Phantasie schrankenloser Wunscherfüllung, wie sie nur in der Vereinzelung des Verlangens möglich wird, das sich nicht auf ein reales Gegenüber einstellen muß«. 36 Die Tatsache, dass der Held am Gegensatz von asozialer, weltabgewandter Liebe und einer von der Gesellschaft geforderten und anerkannten Ehe scheitert, lässt vermuten, dass sein Defizit in seiner Untauglichkeit zu gesellschaftskonformen Bindungen liegt. 33 Lecouteux , Mahrtenehe, S. 65. 34 De tant i out mespris Nature / Ke unc de nule amur n ’ out cure (V. 57 f.). Der Text folgt der Ausgabe des Guigemar in: Marie de France. Die Lais. Übersetzt, mit einer Einleitung, einer Bibliographie sowie Anmerkungen versehen von Dietmar Rieger , unter Mitarbeit von Renate Kroll (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 19). München 1980, S. 74 - 129. 35 Wyss , Partonopier, S. 365. 36 Wyss , Partonopier, S. 361. Der defizitäre Held 31 Es lassen sich also in vielen Texten sowohl Aussagen über den äußerlich kompensatorischen Charakter der Feenliebe als auch über die Anlage der menschlichen Heldenfiguren als sozial unzulänglich machen. Die Protagonisten von Erzählungen über die Beziehung eines Menschen zu einem nichtmenschlichen Wesen werden stets als in irgendeiner Weise defizitär geschildert. Entweder werden ihre Defizite und Nöte bereits zu Beginn berichtet. Oder aber sie treten erst später im Handlungsverlauf, häufig im Kontext der Beziehung mit der Fee oder in Folge des Tabubruchs, zu Tage. Des Weiteren kann es sich dabei zum einen um äußerliche, materielle, physische und von anderen Personen herbeigeführte Einschränkungen, zum anderen aber auch um innerliche, vom Protagonisten selbst zu verantwortende Schwächen, um emotionale Insuffizienzen oder um ethisch-moralische Unzuverlässigkeiten handeln. In vielen Erzählungen über gestörte Mahrtenehen werden verschiedene Kombinationsmöglichkeiten von offensichtlichen und versteckten, extrinsischen und intrinsischen Mängeln genutzt. Dabei sind intrinsische Defizite nicht automatisch verborgen - auch eine problematische emotionale Disposition wie die des zur Liebe unfähigen Guigemar kann offensichtlich und bekannt sein. Guigemar wird von seiner Inkompetenz in Liebesdingen paradoxerweise als Folge einer lebensbedrohlichen äußerlichen Verwundung geheilt, ein intrinsischer also durch einen extrinsischen Mangel aufgehoben. Zuweilen werden auch verschiedene Arten von Defiziten auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft. So wird in einigen komplexen Erzählungen die Handlung durch ein offensichtliches Problem angestoßen und durch ein verborgenes, erst später sichtbar werdendes Problem gewendet, wie dies zum Beispiel in der Melusine der Fall ist: Hier rettet die Fee zunächst den Helden aus der konkreten Zwangslage nach der Tötung des Onkels und kompensiert zusätzlich seine Armut und Machtlosigkeit, indem sie ihm zu Landbesitz und Ansehen, zu männlichen Nachkommen und repräsentativen Bauwerken verhilft. Reymond leidet aber nicht nur unter offensichtlichen, materiellen und äußerlichen Bedrängnissen. Aus seinem doppelten Tabubruch wird ersichtlich, dass ihm außerdem ein Mangel an Affektkontrolle und damit ein intrinsisches Defizit zum Problem wird. 37 37 Vgl. Jan-Dirk Müller : Melusine (Kommentar), in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller . Frankfurt a. M. 1990, S. 1020 - 1087, hier S. 1035. Vgl. auch André Schnyder : Weltliteratur in Bern: Die ‹ Melusine › des Thüring von Ringoltingen, in: Berns große Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt. Hg. von Ellen J. Beer , Norberto Gramaccini , Charlotte Gutscher-Schmid und Rainer C. Schwinges . Bern 2003, S. 534 - 542, hier S. 538. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 32 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Es gibt vier Arten von Mängeln oder Problemen, die dem Protagonisten Schwierigkeiten bereiten können und die sich zu zwei Gegensatzpaaren gruppieren lassen. Entweder werden die Defizite des Helden von Beginn an konstatiert und sind dann nicht nur dem Rezipienten, sondern auch anderen Figuren bekannt. Oder der Held wird als Mensch vorgestellt, der ein von irgendwelchen Untugenden oder Nöten nicht belastetes Leben führt und dessen Unzulänglichkeiten sich erst im Verlauf der Handlung offenbaren. Eine zweite Unterscheidung ist für eine Bewertung der Defizite und damit auch für die Interpretation des jeweiligen Textes ungleich bedeutsamer: Mängel und Einschränkungen können extrinsisch oder intrinsisch motiviert sein, das heißt, sie können von außen auf den Helden einwirken oder aber der Verfasstheit der Figur selbst beigelegt werden. Auffällig ist, dass sich aus der Art der Defizite oder aus ihrer Kombination zwar der Verlauf der Geschichte erklären, nicht aber ihr Ende vorhersehen lässt. Ob der Held schließlich mit der Geliebten vereint oder von ihr getrennt wird, ob er am Leben bleibt oder gar sterben muss, kann durch die Natur seiner Defizite nicht erklärt werden. Dies gilt allerdings nur für die Erzählungen von gestörter Mahrtenehe aus dem christlichen Kulturkreis. Die Autoren der jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen stehen den Fehlern der Helden oft weniger entschuldigend oder vergebungswillig gegenüber. Hier erscheinen äußerliche Probleme meist als Symptom eines tiefer liegenden Problems. Dieses wiederum wird durch die Beziehung mit der nichtmenschlichen Frau nicht in erster Linie behoben, sondern überhaupt erst sichtbar gemacht. Die These Ralf Simons , aber auch Volker Mertens › in seinem Aufsatz zu den Figurentypen der Melusinen und Undinen, 38 dass es sich bei Erzählungen über gestörte Mahrtenehen um Geschichten über schwierige Liebesverhältnisse handele, in denen der Versuch unternommen werde, zwei ganz unterschiedliche Welten zu harmonisieren und zu integrieren, ist etwas abzuschwächen. 39 Durchaus nicht immer steht den sozialen Strukturen und religiösen Heilsordnungen der Menschenwelt deren Mangel oder Gegensatz in der 38 Volker Mertens : Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 1. Hg. von Johannes Janota . Tübingen 1992, S. 201 - 231. 39 Simon spricht vom «Problem der Vermittlung zweier verschiedener Welten, ihrer Semantik und ihrer Handlungsträger«. Simon , Strukturalistische Poetik, S. 43. Ähnlich betrachtet Volker Mertens die Erzählungen von der Mahrtenehe als «Thematisierung einer Differenz zweier Welten und als Integrations- und Harmonisierungsversuch, der scheitern oder auch gelingen kann. Die beiden Welten sind durch komplementäre Defizite und Überschüsse gekennzeichnet, die einander kompensieren können«. Mertens , Melusinen, Undinen, S. 202. Der defizitäre Held 33 Feenwelt gegenüber. 40 In diesem Sinn ist es auch wenig sinnvoll, im Helden einen Aktanten zwischen zwei Welten zu sehen, der den Anforderungen beider Welten nicht gerecht werden kann und an dem Versuch notwendigerweise mindestens einmal scheitern muss. Es sind vielmehr die widersprüchlichen Anforderungen der Welt des Protagonisten, mit denen dieser bei seiner Begegnung mit der Fee konfrontiert wird. Die Erzählungen von gestörter Mahrtenehe eignen sich in besonderem Maß dazu, die Konflikte des Individuums mit konkurrierenden gesellschaftlichen Ansprüchen und eigenen Wünschen darzustellen. 41 Dies gilt sowohl für die christlichen als auch für die jüdischen Texte. 1.3 Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen Bei den Feen in den höfischen Texten handelt es sich ebenso wie bei den Dämoninnen in den jüdischen Erzählungen um in irgendeiner Weise unpassende oder gar gefährliche Partnerinnen. Ihre Gefährlichkeit oder Nonkonformität aber wird von Text zu Text unterschiedlich präsentiert. Um Erzählungen von gestörter Mahrtenehe zu kategorisieren, ist es daher sinnvoll, sich an dem im Text behaupteten Wesen der nichtmenschlichen Geliebten und an dem Raum zu orientieren, der ihr zugeordnet wird. In der Literaturwissenschaft neigte man bis vor kurzem zu binären Kontrastierungen und teilte die höfischen Feen einem von zwei Typen zu, die jeweils nach für diese Typen repräsentativen Feengestalten benannt 40 Zu den Regeln der jüdischen Dämonenwelt vgl. Kapitel 1.4. 41 Da diese sozialen Normen sich je nach Ort und Zeit unterscheiden und verändern, ist eine historische Kontextualisierung der Texte und der in ihnen thematisierten Problemkonstellationen sinnvoll. Zu den Feenerzählungen als einem Experimentierfeld höfischer Kulturideologie, auf dem u. a. verschiedene Formen höfischer Liebe gegeneinander abgewogen werden können vgl. z. B. Julia Breulmann : Erzählstruktur und Hofkultur. Weibliches Agieren in den europäischen Iweinstoff-Bearbeitungen des 12. bis 14. Jahrhunderts (Studien und Texte zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit 13). Münster 2009. «Die Feenbilder der höfischen Dichtung sind, wenngleich verankert in der antiken und keltischen Tradition, in ihrer spezifischen Ausprägung ein Novum der höfischen Literatur, welches der Inszenierung vielfältiger Weiblichkeitskonzepte Raum verschafft (S. 16).« Und: «In dem Motiv der ‹ Feenliebe › zwischen Mensch und Fee ist die unkonventionelle Sexualität an die gleichzeitige Tabuisierung der Beziehung in der Gesellschaft gebunden. Über das Feenbild lassen sich damit insbesondere diejenigen Besonderheiten im Agieren literarischer Figuren integrieren und erklären, die nicht dem höfischen Erziehungsideal gehorchen und die aus einer anderen Welt oder Zeit zu stammen scheinen (S. 39).« Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 34 wurden. Besonders häufig aufgegriffen wurde die von Laurence Harf- Lancner vorgeschlagene Unterscheidung von melusinischen und morganischen Feen und so auch von contes mélusiniens und contes morganiens, die die Autorin in ihrer Studie zu den Feen im Mittelalter präsentiert. 42 Harf- Lancner stellt den melusinischen Typus der fruchtbaren und mütterlichen Gabenfee, der mitunter erlösungsbedürftigen «Mutter und Urbarmacherin«, 43 einem vor allem erotisch attraktiven, aber unfruchtbaren morganischen Feentypus gegenüber. 44 Das entscheidende Charakteristikum allerdings, anhand dessen Feen und Feenerzählungen kategorisiert werden können, sieht Harf- Lancner in der Bewegung von Fee und Held im Raum der erzählten Welt. Die Frage der Autorin lautet: Tritt die Feendame in die Welt der Sterblichen ein oder kommt der menschliche Held zu ihr ins Feenreich? 45 Etwas präziser kann man fragen: In welchem der beiden Bereiche halten sich Fee und Held überwiegend auf? Denn in den meisten Fällen überschreiten sowohl die Fee als auch der menschliche Protagonist die Grenze zwischen Feen- und Menschenwelt einmal oder mehrmals. Sehr häufig ist auch gar nicht von einer klar definierten ‹ Anderwelt › die Rede - dafür gewinnen Grenzzonen an Bedeutung, in denen sich Menschen und nichtmenschliche Wesen gleichzeitig und mit gleichem Recht aufhalten. Eine Typisierung, die nur zwei einander ausschließende Kategorien kennt, wird der komplexen Anlage vieler Feenfiguren indes nicht gerecht. Zum einen geraten die männlichen nichtmenschlichen Geliebten völlig aus dem Blick: 42 Vgl. Harf-Lancner, Fées. Volker Mertens lehnt sich an die von Harf-Lancner vorgenommene Zweiteilung an, wenn er Melusinen von Undinen unterscheidet. Für eine Beschreibung vormoderner Texte eignet sich Mertens ’ Kategorisierung nur eingeschränkt, da einer der beiden Typen, die Figur der Undine, erst im 19. Jahrhundert bei Friedrich de la Motte Fouqué erstmals erscheint. 43 Jacques LeGoff : Melusine - Mutter und Urbarmacherin, in: Jacques LeGoff : Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.-15. Jahrhunderts (Ullstein Materialien 35180). Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1984, S. 147 - 174 (französische Erstausgabe 1977). 44 Vgl. Wolfzettel, Conte, S. 137 ff. Zur Unterscheidung ‹ melusinisch › vs. ‹ morganisch › oder ‹ undinisch › vgl. auch Stephan Fuchs-Jolie : Von der Fee nur der Fuß. Körper als Allegorien des Erzählens im ‹ Peter von Staufenberg › , in: DVjS 83,1 (2009), S. 53 - 69, hier S. 54. Zu den deutschen ‹ contes morganiens › vgl. Danielle Buschinger : Fées amoureuses dans la littérature allemande du moyen âge, in: Die Welt der Feen im Mittelalter. Le Monde des Fées dans la Culture Médiévale. II. Tagung auf dem Mont Saint-Michel. IIème Congrès au Mont Saint- Michel (Mont Saint-Michel, 31. octobre - 1er novembre 1994). Hg. von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok (WODAN 47). Greifswald 1994, S. 13 - 22. 45 Vgl. Harf-Lancner , Fées, S. 77. Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen 35 Der feenhafte Geliebte im Yonec der Marie de France 46 oder der Titelheld des Schwanritters Konrads von Würzburg entziehen sich einer eindeutigen Kennzeichnung als melusinisch oder morganisch. Zum anderen lassen sich, wie Stephan Fuchs-Jolie in seiner Studie zum Ritter von Staufenberg demonstriert hat, auch bei einer gemeinhin als morganisch klassifizierten Fee wie der Geliebten Peters von Staufenberg mütterliche, beschützende und damit melusinische Charakteristika ausmachen. 47 Und schließlich lässt sich nicht einmal die Figur der Melusine selbst, Namensgeberin eines der beiden häufig genannten Typen, auf die Eigenschaften reduzieren, die für gewöhnlich mit dem Terminus ‹ melusinisch › in Verbindung gebracht werden: Belastet durch einen Vatermord, begabt mit seherischen Kräften und ausgestattet mit einem gewaltigen Schlangenschwanz, kumuliert in ihr eine Vielzahl von Interpretationsangeboten. Die feudale Phantasie einer glückverheißenden und fruchtbaren Gebärerin ritterlicher Nachkommenschaft ist hier nur eine von vielen Charakterisierungsmöglichkeiten. Auch ausweichende Beschreibungen, in denen den Feen sowohl morganische als auch melusinische Anteile in unterschiedlicher Gewichtung zugestanden werden, lösen nicht das Problem einer Schematisierung, die sich auf die wenigsten Texte treffend anwenden lässt. Eine Untersuchung der Raumsemantik der Texte und damit der Gegenüberstellung von als gegensätzlich beschriebenen Welten sowie der verschiedenen Möglichkeiten von topographischen und topologischen Grenzüberschreitungen lohnt zwar bei der Deutung der Erzählungen zweifellos. Statt aber darüber hinaus an der bislang in der Forschung über die gestörte Mahrtenehe gebräuchlichen binären Opposition ‹ melusinisch vs. morganisch › festzuhalten, kann als Analyseinstrument ein dynamisches dreigliedriges Modell verwendet werden, welches Andreas Kra ßß unter Bezugnahme auf das von Sigmund Freud beschriebene Motiv der Kästchenwahl entwickelt hat, um der Symbolik der Meerjungfrauen auf die Spur zu kommen. 48 Freud liest das literarische Motiv der Wahl eines Mannes zwischen drei Kästchen als Bild für die Wahl zwischen drei Frauen. Er demonstriert dies unter anderem am Beispiel einer psychoanalytischen Lektüre von Shakespeares Drama über den König Lear und seine drei Töchter, von denen ausgerechnet Cordelia, die jüngste, den Tod verkörpert und dennoch von dem alten König am Ende als die Beste erwählt wird. 46 Der Text des Yonec befindet sich in der Ausgabe von Maries Lais auf den Seiten 268 - 303. 47 Fuchs-Jolie , Fee, S. 60 ff. 48 Andreas Kra ßß : Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt a. M. 2010, S. 30 ff. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 36 Man könnte sagen, es seien die drei für den Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe, die hier dargestellt sind: Die Gebärerin, die Genossin und die Verderberin. Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild der Mutter im Laufe des Lebens wandelt: Die Mutter selbst, die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt. 49 Die Gebärerin repräsentiert nach Freud das Leben, die Gefährtin oder Verführerin die Liebe und die Verderberin den Tod. Vorstellungen von Leben, Liebe und Tod sind, so Freud , im Mythos als einem Ausdruck unbefriedigter Wünsche und einer Reaktion auf die Einsicht von der Endlichkeit menschlichen Lebens nie weit voneinander entfernt. Freuds Typologie der Frauenbilder entspricht heteronormativen Vorstellungen von Weiblichkeit. Der Mann weist der Frau drei Rollen zu, um seine Beziehung zu ihr zu definieren. Diese Rollen werden allerdings nicht statisch verwendet. Sie können gewechselt und situativ angepasst werden: «Wie Freud zeigt, handelt es sich bei diesen Bildern nicht um separate Rollen, sondern um Aspekte des Weiblichen, die simultan auftreten und sich ineinander übersetzen lassen.« 50 Freuds Gedankengang lässt sich übertragen auf all die Erzählungen von gestörter Mahrtenehe, in denen die Fee dem Helden grenzenlose, auch erotische Wunscherfüllung verheißt. Die Fee tritt immer als Verführerin auf. Zumindest zeitweise ist sie die Gefährtin des Mannes. Zugleich stehen alle Feengestalten aufgrund ihrer jenseitigen Herkunft unter dem Verdacht, den Protagonisten seiner gewohnten Umwelt zu entfremden und für seinen Übertritt in die Feenwelt oder geradewegs in den Tod verantwortlich zu sein. 51 Leben und Liebe sind vom Tod nicht zu trennen. In der Gestalt der Melusine bei Thüring von Ringoltingen beispielsweise lässt sich jede der drei bei Freud genannten Funktionen von Weiblichkeit ausmachen: Die fruchtbare Fee überzeugt den Mann zuerst von der Nützlichkeit einer Verbindung und ist ihrem Mann sodann eine liebende Gefährtin, droht aber auch mit dem Untergang des Geschlechts, falls Reymond sich nicht an die von ihr aufgestellte Regel hält. Zugleich besitzt sie mit Meliora und Palentina zwei Schwestern, die man mit Freuds Modell als (invertierte, da zugleich begehrte und unerreichbare) Genossinen oder als Verderberinnen bezeichnen kann, während Melusine selbst vor allem als Gebärerin auftritt. Die Rollen können also sowohl von einer einzigen Figur erfüllt als auch auf 49 Sigmund Freud : Das Motiv der Kästchenwahl, in: Sigmund Freud. Das Lesebuch. Schriften aus vier Jahrzehnten. Herausgegeben, eingeleitet und mit Begleittexten versehen von Cordelia Schmidt-Hellerau . Frankfurt a. M. 2006, S. 255 - 268 (Erstausgabe 1913), hier S. 268. 50 Kra ßß , Meerjungfrauen, S. 35. 51 Vgl. Lecouteux , Mahrtenehe, S. 66 f. Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen 37 verschiedene Frauen verteilt werden. 52 Bezüglich der jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen kann untersucht werden, welche Formen in ihnen die von Freud beschriebenen «drei für den Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe« 53 annehmen. In welcher Form treten die Dämoninnen auf, welche Rollen nehmen sie im Verlauf der Erzählung ein, welche Rollen werden als bedeutsam hervorgehoben und was lässt sich daraus über die jeweilige Perspektive auf die dämonische Allianz schlussfolgern? Zu fragen ist außerdem, inwiefern Freuds Modell ausreicht, um die jüdischen Erzählungen zu beschreiben. Für diese Texte ist es sinnvoll, zusätzlich die Position der Erlöserin einzuführen, die den Mann am Ende freigibt. Die Fee im mittelalterlich-klerikalen Diskurs Der Kleriker Walter Map berichtet in seinem Werk De Nugis Curialium ( ‹ Über die Possen der Höflinge › , entstanden zwischen 1181 und 1193) 54 von einem jungen Adligen namens Eadric Wild, der eine Frau fragwürdiger Herkunft heiratet, einen Sohn mit ihr zeugt und sie nach dem Bruch einer von ihr aufgestellten Regel verliert. Durch einen Nachsatz zu der Erzählung von Eadric und seinem Sohn, der trotz seiner zweifelhaften Abkunft mütterlicherseits ein weitgehend glückliches Leben führt, wird die Unbekannte implizit als Dämonin und succubus charakterisiert: Wir haben gehört, dass es Dämonen gibt, incubi und succubi, und von den Gefahren des Beischlafs mit ihnen; selten oder nie aber lesen wir in alten Geschichten davon, dass sie Erben oder Nachkommen gehabt hätten, die an ein glückliches Ende gekommen wären. 55 Dass eine nichtmenschliche Frau die Rolle der Gebärerin annehmen kann, wird nicht in Abrede gestellt. Lediglich eine glückliche Zukunft der Nachkommen schließt der Autor aus - wenn auch nicht kategorisch, da er schließlich eben selbst ein Gegenbeispiel präsentiert hat. 52 Freud nennt als Beispiele die drei Töchter in Shakespeares König Lear, Psyche und ihre Schwestern in Apuleius ’ Amor und Psyche wie auch die drei Göttinnen in der Erzählung von der Wahl des Paris. 53 Freud , Kästchenwahl, S. 268. 54 Vgl. Montague Rhodes James : Introduction, in: Walter Map: De Nugis Curialium. Courtiers › Trifles. Edited and translated by Montague Rhodes James . Revised by Christopher Nugent Lawrence Brooke and Roger Aubrey Baskerville Mynors (Oxford Medieval Texts), S. xiii-l, hier S. xxxixf. 55 Audiuimus demones incubos et succubos, et concubitus eorum periculosos; heredes autem eorum aut sobolem felici fine beatam in antiquis hystoriis aut raro aut nunquam legimus [. . .]. De Nugis Curialium, Dist. ii, c. 12, S. 158. Vgl. Auch Dist. iv, c. 10 (Übersetzung A. L.). Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 38 In Anlehnung an Augustinus und andere lateinische Kirchenväter werden in der scholastischen Theologie des Petrus Lombardus oder des Thomas von Aquin Dämonen als Wesen betrachtet, die als Gegner der Engel und Anhänger des Antichrists zu klassifizieren sind. 56 Die spezielle Gattung der incubi und succubi oder succubae zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Angehörigen erotische Kontakte zu schlafenden Menschen suchen, um mit ihrer Hilfe halbdämonische Nachkommen zu zeugen. 57 Nach Anita Guerreau-Jalabert wird in den lateinischen Exempla die Beziehung zu einer dämonischen Frau stets mit den Lastern concupiscentia und cupiditas assoziiert. Diese Laster aber stammen vom Teufel. 58 Dass Kontakte mit Geschöpfen, die mit dem Teufel im Bund sind, unbedingt vermieden oder zumindest möglichst frühzeitig beendet werden sollten, ist nach christlicher Lehre offensichtlich. Der Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach widmet in seiner Exempla-Sammlung Dialogus Miraculorum ( ‹ Dialog über die Wunder › , entstanden zwischen 1219 und 1223) 59 ein ganzes Kapitel der Spezies der daemones und ihrer Machenschaften. Die dämonische Gefolgschaft Luzifers, so Caesarius, sei diesem wesensgleich. 60 Unter den im Folgenden wiedergegebenen 56 Georges Tavard : Art. Dämonen, V. Kirchengeschichtlich, in: TRE 8, S. 286 - 300, hier S. 289 ff. 57 Zum Begehren der Dämonen, mit Menschen zu schlafen vgl. Caesarius von Heisterbach in den Kapiteln 11 und 12 seines Dialogus Miraculorum. Caesarius von Heisterbach: Dialogus Miraculorum. Dialog über die Wunder. Bd. 2. Eingeleitet von Horst Schneider . Übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider (Fontes Christiani 86,2). Turnhout 2009, S. 536 ff. Vgl. dazu Gervasius von Tilbury: Kaiserliche Mußestunden. Otia Imperialia. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Heinz Erich Stiene . Bd. 1 (Bibliothek der mittellateinischen Literatur 6). Stuttgart 2009, S. 60. Zu diesem Thema vgl. auch Kapitel 3 («Sexy Devils: How They Got Bodies«) in: Walter Stephens : Demon Lovers. Witchcraft, Sex, and the Crisis of Belief. Chicago und London 2003, S. 58 - 86. 58 «Tout appétit charnel, qu ’ il s ’ agisse de sexualité ou de richesses et de pouvoir, est indéfectiblement associé au démoniaque et ouvre la voie aux tromperies du diable.« Anita Guerreau-Jalabert : Des fées et des diables. Observations sur le sens des récits ‹ mélusiniens › au Moyen Âge, in: Mélusines continentales et insulaires. Actes du colloque international tenu les 27 et 28 mars 1997 à l ’ Université Paris XII et au Collège des Irlandais. Hg. von Jeanne-Marie Boivin und Proinsias MacCana (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 49). Paris 1999, S. 105 - 137, hier S. 121. 59 Vgl. Horst Schneider : Einleitung, in: Caesarius von Heisterbach: Dialogus Miraculorum. Dialog über die Wunder. Bd. 3. Eingeleitet von Horst Schneider . Übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider (Fontes Christiani 86,3). Turnhout 2009, S. 9 - 97, hier S. 66. 60 Quod de uno dicitur, de ceteris intelligendum est, quia saepe numerus singualaris pro plurali ponitur (Was [hier] von dem einen gesagt wird, gilt auch von den übrigen; Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen 39 Dämonenerzählungen handeln viele von der sexuellen Belästigung einer Frau durch einen Dämon oder durch den Teufel selbst. Von erotischen Angriffen auf Männer wird seltener berichtet. Im Zentrum der Geschichte des wagemutigen bayerischen Studenten, der in Toledo von einem Dämon in Frauengestalt entführt wird und erst nach einiger Zeit zurückkehren darf, steht weniger eine illegitime erotische Verbindung zwischen einer Dämonin und einem Menschen als vielmehr das Verhältnis des Lehrmeisters dieses Studenten zum Fürsten der Dämonen. 61 Dass Menschen und Dämonen in Gerichtsverhandlungen gegeneinander antreten, ist ein Motiv, das in den jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen eine ungleich prominentere Rolle spielt als in den christlichen Mahrtenehengeschichten. Das mag daran liegen, dass die christlichen succubi oder Feen im Gegensatz zu vielen jüdischen Dämoninnen meist vereinzelt auftreten, begleitet höchstens von ein oder zwei Gefährtinnen oder Schwestern. Sie handeln für gewöhnlich autonom, ohne von der Gesellschaft, der sie entstammen, unterstützt zu werden. Die nichtmenschlichen Frauen in den christlichen Texten gefährden den Helden, indem sie ihn zur Abwendung von seiner Gesellschaft verführen. Das tun die Dämoninnen in den jüdischen Erzählungen auch; allerdings erlangt der Protagonist durch sie auch häufig einen Blick auf eine Alternativgesellschaft im Dämonenreich, von der er ein Teil werden kann oder soll. Die geheimnisvollen Ehefrauen nichtsahnender Ritter bei Walter Map hingegen kommen allein in die Welt der Menschen und verlassen sie auch allein. Die Umstände ihres jeweiligen Abschieds werden allerdings durchaus unterschiedlich gestaltet. Während Eadric seine Frau verliert, weil er eine von ihr aufgestellte Ehebedingung missachtet, wird die Gattin des Henno cum dentibus, wie der Erzähler berichtet, regelrecht exorziert. In dieser kurzen Erzählung wird die unchristliche Natur einer solch sonderbaren Geliebten recht deutlich. Nicht nur spricht sie in einer so engelhaften Weise mit dem Ritter, dass sie ihrerseits «jeden Engel betrügen« könnte 62 und sich somit als Gegenspielerin der göttlichen Mächte qualifiziert - sie kann auch an der Eucharistie nicht teilnehmen und scheut die Berührung mit Weihwasser. Auch der Rechtsgelehrte und Kanoniker Gervasius von Tilbury erzählt in seinen Kaiser Otto IV. gewidmeten, an ein höfisches Publikum gerichteten denn oft wird der Singular anstelle des Plurals verwendet). Dialogus Miraculorum, Bd. 3, S. 950 f. 61 Joseph Dan bezieht diese Erzählung in seine vergleichende Studie zur Dämonenhochzeit in der jüdischen und christlichen Tradition mit ein, legt dabei aber das Hauptaugenmerk auf die erotische Verführung des Studenten. Dan , Five Versions, S. 107 f. 62 Illa tam innocenter et columbine respondit, ut credas angelam locutam que possit angelum quemuis ad uota fallere. De Nugis Curialium, Dist. Iv, c. 9, S. 346. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 40 Otia Imperialia ( ‹ Kaiserliche Mußestunden › , entstanden zwischen 1211 und 1215) 63 die Geschichte einer gestörten Mahrtenehe. Sie handelt von einem Ritter, der sich mit einer schönen Unbekannten vermählt und, nachdem er sie verbotenerweise nackt im Bad betrachtet hatte, mit ansehen muss, wie sie sich in eine Schlange verwandelt und verschwindet. Gervasius erzählt von dieser Begebenheit im Kontext einiger Ausführungen über den biblischen Sündenfall: Wir wollen auch nicht vergessen, was Beda über die Schlange sagt, die Eva verführt hat. Der Teufel wählte nämlich eine Schlangenart, die das Gesicht einer Frau hatte - denn gleich und gleich gesellt sich gern - , und brachte ihre Zunge zum Sprechen. Hinsichtlich der Schlangen überliefert der Volksglaube, das seien Frauen, die sich in Schlangen verwandeln. Man kann sie daran erkennen, daß sie eine weiße Binde bzw. ein weißes Band am Kopf haben. Daß Frauen sich in Schlangen verwandeln sollen, ist zwar erstaunlich, aber nicht von der Hand zu weisen. 64 Zwar wird die fremde Dame nicht wie bei Walter Map als Dämonin oder succubus explizit den Mächten des Bösen zugeordnet. Durch die direkte Nachbarschaft des Sündenfalldiskurses und der Geschichte von der Schlangenfrau aber wird ein Zusammenhang zwischen dem Teufel und der nichtmenschlichen Ehefrau des unglücklichen Ritters hergestellt. An anderer Stelle spricht Gervasius von lamie genannten demones, die dafür bekannt sind, Neugeborene zu töten. 65 An einen ausführlichen dämonologischen Exkurs schließt die Aussage an, dass man von Männern wisse, die sich mit solchen als fadae, d. h. als Feen bezeichneten larvae eingelassen hätten und die daraufhin nicht mehr mit anderen Partnerinnen schlafen konnten. Andere hätten die Verbindung gar mit dem Leben bezahlt. 66 63 Heinz Erich Stiene: Einleitung, in: Gervasius von Tilbury. Kaiserliche Mußestunden. Otia Imperialia. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Heinz Erich Stiene. Bd. 1 (Bibliothek der mittellateinischen Literatur 6). Stuttgart 2009, S. ix-liii, hier S. xxi. 64 Nec erit omittendum quod ait Beda, loquens de serpente qui Euam seduxit. Elegit enim diabolus quoddam genus serpentis femineum uultum habentis, quia similia similibus applaudunt, et mouit ad loquendam linguam eius. De serpentibus tradunt uulgares quod sunt femine que mutantur in serpentes, que ita dinoscuntur: habent enim ligaturam albam quasi uittam in capite. Sane quod in serpents mutari dicunt feminas mirandum quidem est, sed non detestandum. Gervase of Tilbury: Otia Imperialia. Recreation for an Emperor. Edited and translated by Shelagh Banks und James Binns . Oxford 2002, S. 86. Die deutsche Übersetzung stammt von Heinz Erich Stiene in: Gervasius von Tilbury, Otia Imperialia, I. 15, S. 54. 65 Gervasius von Tilbury, Otia Imperialia, III. 86, S. 723. 66 Vgl. Gervasius von Tilbury, Otia Imperialia, III. 87, S. 730. Erklärt wird die Existenz dieser Wesen damit, dass einige der Engel, die sich gegen Gott versündigten, nicht in den Abgrund der Hölle verstoßen wurden, sondern auf der Erde verweilen durften, um der sündigen Menschheit Schaden zuzufügen. Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen 41 Die Vorstellung von nichtmenschlichen Frauen explizit diabolischen Charakters, die danach streben, Beziehungen mit menschlichen Männern einzugehen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Literatur des Mittelalters bis in die Frühe Neuzeit. Im 16. Jahrhundert nimmt der Arzt, Alchemist und Laientheologe Paracelsus in seinem Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et caeteris spiritibus ( ‹ Das Buch von den Nymphen, Sylphen, Pygmaeen, Salamandern und den übrigen Geistern › , erstmals gedruckt 1590) eine Unterteilung der Elementargeister in Wasserwesen, Luftwesen, Erdwesen und Feuerwesen vor. 67 Die Fee Melusine, die den Menschen Reymond heiratet, ordnet er den Nymphen zu. Sie sei, so Paracelsus, die Ehe mit dem Ziel eingegangen, eine menschliche Seele zu erhalten, denn eine solche besitze sie als Elementargeist nicht. Um sie zu erlangen, habe sie sich mit dem Teufel verbündet und sich damit sogleich für das disqualifiziert, was sie so sehr begehrt habe - die Erlösung, auf die ein jeder Mensch hoffen darf. In der Geschichte der Melusine, wie sie bei Paracelsus aufgerufen wird, offenbart sich das christliche Verständnis der Geschlechterrollen: Da die Frau als Nachfolgerin Evas mit dem Teufel im Bunde ist, muss sie sich ganz in die Hand eines Mannes geben, um zum ewigen Leben zu gelangen. 68 Höfische Feen und ihre dämonischen Anteile Die explizite Verbindung, die Paracelsus zwischen Melusine und dem Teufel herstellt, aber auch die Ausführungen Walter Maps zu larvae, fadae und Schlangenfrauen oder Gervasius ’ von Tilbury Geschichten über menschengestaltige incubi und succubi schließen einerseits eng an die christliche Dämonenlehre an. Mit den lateinischen Exempla reagiert die klerikale Kultur andererseits auf die höfische Liebesideologie: En répondant au thème de l ’ amour courtois avec les fées par celui du mariage avec le diable, en inversant les récits et en en recombinant les éléments narratifs, le discours ecclésiastique procède à la négation de la construction courtoise, en ses différentes facettes et en ses différents plans homologiques; en particulier, le retournement opéré permet de réfuser la distinction affichée par l ’ idéologie courtoise entre 67 Theophrast von Hohenheim: Das Buch von den Nymphen, Sylphen, Pygmaeen, Salamandern und den übrigen Geistern. Faksimile der Ausgabe Basel 1590. Übertragen und mit einem Nachwort versehen von Gunhild Pörksen (Basilisken- Druck 10). Marburg an der Lahn 2 2003. 68 Vgl. Kra ßß , Meerjungfrauen, S. 124. Zur zunehmenden Dämonisierung der Melusine-Figur bei Martin Luther, Johann Fischart, Johannes Nikolaus Pfitzer und Johannes Praetorius vgl. Gerhild Scholz Williams und Alexander Schwarz : Existentielle Vergeblichkeit. Verträge in der ‹ Mélusine › , im ‹ Eulenspiegel › und im ‹ Dr. Faustus › (Philologische Studien und Quellen 179). Berlin 2003, S. 65 f. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 42 chevalerie spirituelle et seigneurie charnelle et de réaffirmer, par là même, la seule distinction sociale admise, entre clercs spirituels et laïcs charnels. 69 In der höfischen Literatur der Vormoderne, die ihrerseits theologisch-klerikale Positionen zwar aufgreift, sie sich dabei aber auch jeweils spezifisch anverwandelt, wird die Verbindung mit einer übernatürlichen Partnerin nach dem Modell des amour courtois gestaltet. Die Feen werden viel weniger deutlich als in den lateinischen Exempla als teuflische Dämoninnen gekennzeichnet, die ein gläubiger Christ um jeden Preis abwehren muss. Bei Jean d ’ Arras, bei Couldrette wie auch bei Thüring von Ringoltingen werden bezüglich der Melusine-Figur immer wieder gezielte Andeutungen platziert, die bei Figuren wie auch beim Rezipienten den Verdacht wecken können, dass Reymonds Frau mit unheiligen Mächten im Bund ist. 70 Anders als bei Paracelsus wird die dadurch geschaffene Ambivalenz nie vollständig aufgelöst, indem man Melusine explizit dem Lager des Teufels zuordnet. Die Sympathie des Erzählers gilt weniger dem männlichen Protagonisten als vielmehr der merfay. 71 Obgleich also den höfischen Feen stets besondere Kräfte und Fähigkeiten zugeschrieben werden, deren Herkunft häufig zweifelhaft bleibt, werden sie in der Mehrzahl positiv gezeichnet. Ambivalente Züge bleiben ihnen dabei stets 69 Guerreau-Jalabert , Fées, S. 123 f. 70 Der Graf Bertram fürchtet, ähnlich wie Reymond bei seiner ersten Begegnung mit Melusine, dass die Frau unbekannter Herkunft ein gespenste sein könne. Vgl. Thüring von Ringoltingen: Melusine. Hg. von André Schnyder in Verbindung mit Ursula Rautenberg . Bd. 1: Edition, Übersetzung und Faksimile der Bildseiten. Bd. 2: Kommentar und Aufsätze.Wiesbaden 2006, S. 31. Zugleich wird im Kontext der Vermählung immer wieder betont, dass Melusine eine gläubige Christin sei und die Hochzeit allen Anforderungen des christlichen Ritus entspreche. 71 Melusine, S. 203. Besonders zum ambivalenten Charakter der Melusine-Figur existieren zahlreiche Untersuchungen. Vgl. z. B. Catherine Drittenbass : ‹ unde fabulatur a quadam Melusina incuba › - ein Blick durch die dämonologische Brille auf Begegnung und Bund zwischen Reymond und Melusine, in: 550 Jahre deutsche Melusine - Coudrette und Thüring von Ringoltingen. Beiträge der wissenschaftlichen Tagung der Universitäten Bern und Lausanne vom August 2006. Hg. von André Schnyder und Jean-Claude Mühlenthaler (TAUSCH 16). Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 83 - 109; Anne Berthelot : Le Merveilleux dans le ‹ Roman de Mélusine › , in: Mélusine: Actes du colloque du Centre d › Études Médiévales de l ’ Université de Picardie Jules Verne, 13 et 14 janvier 1996. Hg. von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok (WODAN 65). Greifswald 1996, S. 1 - 16; Tania Colwell : Mélusine: Ideal Mother or Inimitable Monster? , in: Love, marriage and family ties in the later Middle Ages. Hg. von Isabel Davis , Miriam Müller und Sarah Rees Jones (International Medieval Research 11). Turnhout 2003, S. 181 - 204. Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen 43 erhalten. 72 Wie vor allem Armin Schulz plausibel gezeigt hat, besitzen die Feengestalten außerhalb der Exempla-Literatur bei all ihrer Höfischkeit immer auch dämonische Anteile, die in der Erzählung einmal mehr, einmal weniger herausgestellt oder auch ganz von der Fee abgetrennt und auf ihre Umgebung übertragen werden. 73 Schulz spricht von einer «Spaltung der zwar verlockenden, entgrenzte Liebe und genealogisches Heil garantierenden, aber immer auch bedrohlich ambivalenten, an archaischen Mächten teilhabenden Feenfigur«. 74 Zur Illustration solcher literarischen ‹ Spaltungsphantasmen › , die die Fee als höfische Dame erscheinen lassen, ohne die ihr eigenen feenhaften oder gar dämonischen Wesenszüge vollständig auszulöschen, sei neben der Melusine auf die Protagonistin von Konrads von Würzburg Adaptation des französischen Partonopier-Stoffs verwiesen: Als Partonopier in Meliurs Reich gelangt und sich nicht erklären kann, warum er dort niemanden sehen kann, glaubt er, es mit einem bösen Geist zu tun zu haben. 75 Seine Befürchtungen wie auch die Vermutung seiner Mutter, dass die unsichtbare Frau der leide vâlant (V. 7784), also der Teufel selbst sei, werden erst sehr viel später zerstreut. Nachdem der Held Meliur zum ersten Mal erblickt hat, kann sie glaubhaft versichern, kein alp oder tiuvel (8054 f.) zu sein. Ihre besonderen Fähigkeiten, die sie durch intensive Studien erworben hat, sind keinesfalls Ausdruck einer nichtmenschlichen, übernatürlichen Herkunft. Dem Aufwand aber, den der Erzähler betreibt, um Meliur von dem Verdacht reinzuwaschen, übernatürliche Wesenszüge zu besitzen oder mit übernatürlichen Mächten zu paktieren, steht ein gegenläufiges Verfahren gegenüber, wodurch genau dies impliziert wird: Zum einen gibt die Protagonistin selbst zu, nigrômancîen studiert zu haben und der swarzen buoche ein meisterîn zu sein (V. 8096 und V. 8135). Sie hat sich also 72 «Au total, les fées des lais et romans sont des personnages dont la nature n ’ est pas tout à fait claire, et ce sans doute à dessein, puisqu ’ elles sont présentées comme des figures surnaturelles chrétiennes, mais non orthodoxes et pourvues de pouvoirs ‹ magiques › , à connotation diabolique, tout en étant de parfaits aristocrats.» Guerreau-Jalabert , Fées, S. 114. 73 Vgl. Schulz , Spaltungsphantasmen. Das Narrativ fordert keineswegs die unbedingte Dämonisierung der Fee, wie dies von Almut Suerbaum postuliert wird, sondern lässt Raum für Ambivalenzen. Vgl. Almut Suerbaum : St. Melusine? Minne, Mahrtenehe und Mirakel im ‹ Ritter von Staufenberg › , in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von Elizabeth Andersen , Manfred Eikelmann und Anne Simon (Trends in Medieval Philology 7). Berlin, New York 2005, S. 331 - 345, hier S. 341. 74 Schulz , Spaltungsphantasmen, S. 235. 75 Konrad von Würzburg : Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer , herausgegeben von Karl Bartsch , mit einem Nachwort von Rainer Gruenter (Texte des Mittelalters). Berlin 1970, V. 888 - 895. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 44 nicht gerade der harmloseren Lehrbücher bedient. Zum anderen verliert sie ihre Zauberkräfte in dem Moment, in dem Partonopier sie zum ersten Mal sieht. 76 Warum dies so ist, wird nicht weiter erklärt; es deutet aber darauf hin, dass Meliur zumindest bis zu diesem Moment doch etwas mehr war als nur eine gewöhnliche, wenn auch gebildete höfische Dame - und dass ihre Besonderheit durchaus auch negativ konnotiert ist. Vergleichbare Verfahrensweisen der Rationalisierung, Desambiguierung, Depotenzierung, aber auch gleichzeitigen Remythisierung der höfischen Feengestalten finden sich ebenso im Ritter von Staufenberg und mehreren sogenannten nachklassischen Minne- und Aventiureromanen. Der christliche Dämonieverdacht, der den Protagonistinnen der lateinischen Exempla jegliche Möglichkeit abspricht, in Übereinkunft mit dem christlichen Wertekanon vom Helden geliebt zu werden, wird in den höfischen Erzählungen über gestörte Mahrtenehen zugleich abgewiesen und geschürt. Auf diese Weise kann das Faszinationspotential der Feenliebe genutzt werden, ohne den Verdacht zu wecken, möglicherweise dämonische Liebschaften über Gebühr zu idealisieren. Jüdische Götzen, Verführer und Schadensgeister In den jüdischen Erzählungen ähneln die nichtmenschlichen Geliebten auf den ersten Blick weniger den höfischen Feen als den Dämoninnen und succubi der klerikalen Exempla. Allerdings werden sie weniger eindimensional negativ charakterisiert als diese. Meist wird die nichtmenschliche Geliebte als scheda ( ש ד ה ) bezeichnet. 77 Übersetzt man diesen Terminus mit ‹ Dämonin › , dann kann es geschehen, dass die Figuren in den jüdischen Texten mit der ganzen Tradition christlicher dämonologischer Vorstellungen imprägniert werden, die sich in dem deutschen Wort heute verdichten. Dies ist durchaus legitim. Schließlich werden die hier zu untersuchenden Dämonenhochzeitsgeschichten zu einer Zeit erzählt und verschriftlicht, in der sich jüdische Vorstellungen von schedim als von häufig arglistigen Schwellengeschöpfen zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre mit christlichen Vorstellungen vom Wesen der Dämonen schon seit längerer Zeit miteinander vermischen. Zugleich werden durch die Benutzung der in Bibel und Talmud verwendeten hebräischen Vokabeln aber auch ältere Bedeutungsinhalte aufgerufen. Im Verlauf der Rezeptionsgeschichte der 76 Vgl. Partonopier V. 17464. 77 Eine seltene alternative weibliche Form zu sched ( ש ד ) lautet beispielsweise in der Geschichte eines Amulettschreibers schedit ( ש ד י ת ). Möglicherweise wurde die Form in Analogie zu dem Namen Lilith gebildet. Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen 45 religiösen Basistexte verändern und verschieben sich zwar die Bedeutungen, die den Begriffen beigelegt werden. Wenn man aber davon ausgeht, dass in den Vokabeln Anteile älterer semantischer Bedeutungsschichten gespeichert sind, dann bietet es sich an, einen Blick auf ältere Verwendungsweisen der Wörter zu werfen. Erst in den Schriften des rabbinischen Judentums beginnen der christliche Dämonenbegriff und die Termini sched ( ש ד ), fem. scheda ( ש ד ה ) oder Pl. schedim ( ש ד י ם ) sich aneinander anzunähern. 78 Zuvor bezeichnen die hebräischen Vokabeln fremde Götter. In der Bibel werden die Termini erstmals im Zusammenhang mit verbotenen Ritualopfern verwendet. In Dtn 32,16 f und in Ps 106,35ff werden die schedim mit heidnischen Göttern oder Götzen gleichgesetzt, denen die Israeliten ihre Kinder opfern. 79 In der Forschung nimmt man an, dass der Terminus sched mit dem Akkadischen sedu verwandt ist, was einen guten Geist bezeichnet. Wenn dies der Fall ist, dann hat im jüdischen Kontext wahrscheinlich eine Umkehrung der positiven Bewertung in ihr Gegenteil stattgefunden. Dies wiederum hängt mit dem antagonistischen Verhältnis zu einem als andersartig und fremd empfundenen religiösen System zusammen. 80 Die Dämonen, das sind in dieser Sichtweise die anderen, von denen es sich fernzuhalten gilt. 78 Vgl. Henrike Frey-Anthes : Unheilsmächte und Schutzgenien, Antiwesen und Grenzgänger. Vorstellungen von ‹ Dämonen › im alten Israel (Orbis Biblicus et Orientalis 227). Fribourg, Göttingen 2007, S. 1 und 144. Vgl. auch bSanh 61a zur Verwendung des Begriffs schedim für Dämonen und böse Geister. 79 Luther übersetzt schedim als böse Geister: Auch vertilgten sie die Völker nicht, / wie ihnen der HERR doch geboten hatte, / sondern sie ließen sich ein mit den Heiden / und lernten ihre Werke / und dienten ihren Götzen; / die wurden ihnen zum Fallstrick. / Und sie opferten ihre Söhne / und ihre Töchter den bösen Geistern / und vergossen unschuldig Blut; / das Blut ihrer Söhne und Töchter, die sie opferten den Götzen Kanaans[. . .] (Ps 106,34 ff). Die Vulgata übersetzt mit: et immolaverunt filios suos et filias suas daemonibus. Auch in der Einheitsübersetzung entscheidet man sich für Dämonen, Leopold Zunz wählt Geister. Vgl. Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem. Stuttgart 5 2007; Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart 1999; Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Psalmen und Neues Testament. Ökumenischer Text. Stuttgart 5 2004; Die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift. Nach dem masoretischen Text. Übersetzt von Leopold Zunz. Tel Aviv 2008 (Erstausgabe 1837). 80 Vgl. Dan Ben-Amos : On Demons, in: Creation and Re-Creation in Jewish Thought. Festschrift in Honor of Joseph Dan on the Occasion of his Seventieth Birthday. Hg. von Rachel Elior und Peter Schäfer . Tübingen 2005, S. 27 - 37, hier S. 29. Auf ähnliche Weise wie in der Hebräischen Bibel verweist auch in der Septuaginta der Terminus auf fremde Götter: «As the gods of the nations were Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 46 Insgesamt werden in den biblischen Texten nur selten dämonische Spezies oder auch individuelle Dämonen wie Lilith (Jes 34,14) oder Azazel (Lev 16,8) erwähnt. Die Vorstellung aber, dass nichtmenschliche Wesen zu Menschen erotische Beziehungen unterhalten, begegnet auch in der jüdischen Antike. 81 Im hellenistisch beeinflussten apokryphen Buch Tobit tötet der Dämon Aschmedai (Asmodaeus) aus Liebe mehrere Bräutigame einer jungen Frau, bis er mit Hilfe eines Engels vertrieben wird. Und im Babylonischen Talmud, der die schedim im Vergleich zur Bibel relativ häufig erwähnt, wird davon erzählt, wie König Salomo sich Aschmedai, den König der Dämonen ( מ ל כ א ד ש י ד י ), dienstbar macht, um mit seiner Hilfe den Tempel zu erbauen. 82 Aschmedai wiederum entledigt sich des Königs mit einer List und beschläft in dessen Abwesenheit sämtliche Königinnen einschließlich Salomos Mutter Batscheva. 83 Diese aggadische Erzählung enthält also noch deutlicher als das Buch Tobit die Vorstellung, dass Dämonen und Menschen erotische Beziehungen miteinander aufnehmen können. Aschmedai erscheint hier allerdings nicht allein als zerstörerischer Übeltäter. Seine Handlungen führen dazu, dass der König die Eitelkeit aller weltlichen Güter erkennt. Aus dieser Perspektive sind die Dämonen zwar einflussreich und gefährlich; unter bestimmten Umständen können die Menschen aber auch etwas von ihnen lernen. 84 Dämonen und Menschen müssen einander also nicht grundsätzlich als unversöhnliche Feinde begegnen. In mancher Hinsicht sind sie sich sogar ähnlich. Im Talmud wird berichtet, dass Dämoninnen und Dämonen ebenso wie Menschen essen, sterben und sexuelle Beziehungen unterhalten. 85 Folgt man Tamar Alexander-Frizer, dann sind sie allerdings den Gesetzen der demonized, so ‹ demon › in the dualistic sense is found in the Septuagint (LXX) as a designation of pagan deities and spirits.» Greg J. Riley : Art. Demon, in: DDD, S. 235 - 240, hier S. 238. 81 «As early as the book of Jubilees and the Testament of the Twelve Prophets, the demonic forces take the form of seducers; as early as 1 Enoch, deriving scriptural strength from Genesis 6, the role of the demon as sexual seducer and miscegenator comes forth.« Dauber , Bedroom, S. 144. 82 Vgl. die Parallelisierung von ש ד ה ו ש ד ו ת (Koh 2,8; bei Zunz: Sklavinnen in Menge; in der Einheitsübersetzung: einen großen Harem) mit Dämonen und Dämoninnen ( ש י ד ה ו ש י ד ת י ן ) in bGittin 68a. 83 Diese Geschichte wird den Geschichten Sendebars in MS Vat. ebr. 100 vorangestellt. Es gibt in der talmudischen Erzählung auch eine Art Tabu: Aschmedai kommt in Strümpfen zu den Frauen, da sie an seinen Füßen erkennen könnten, dass er kein Mensch ist. Zum Zusammenhang von Tabu und Füßen vgl. Kap. 4.3. 84 Manfred Hutter : Art. Asmodeus, in: DDD, S. 106 - 108, hier S. 107. Zu Aschmedai als ambivalenter Figur zwischen sexueller Zügellosigkeit und Menschenfreundlichkeit vgl. Frey-Anthes , Unheilsmächte, S. 283. 85 Vgl. bHagiga 16a. Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen 47 Menschenwelt nicht unterworfen. Menschen in ihrer ethischen Entscheidungsfreiheit seien ihren dämonischen Partnern oder Gegenspielern überlegen, «who have no part of the ethical world and do not face the choices that confront humans. Demons are amoral.» 86 Auf die Protagonistinnen der Dämonenhochzeitserzählungen und ihre Welt trifft diese Aussage nicht zu. Viele von ihnen sind fromm und gläubig. Und immer fordern sie, ganz wie die höfischen Feen, von den Menschen das Einhalten von Regeln, die auch nach menschlichen Maßstäben nachvollziehbar sind. 87 Häufig orientieren sich die Dämoninnen gar stärker an ethischen Maßstäben oder normativen Ansprüchen als ihre menschlichen Partner. In solchen Fällen kann man sie kaum als den Menschen moralisch unterlegen bezeichnen. König Salomo begegnet nicht nur Aschmedai, der mit Regeln und Zwängen ebenso zu spielen weiß, wie er ihnen unterworfen ist. Der weise Herrscher gerät der jüdischen Tradition zufolge noch mit einem weiteren bekannten dämonischen Wesen in Kontakt: mit der Königin von Saba, die ihrerseits in nachtalmudischen Erzählungen zuweilen mit Adams erster Frau Lilith identifiziert wird. Diese Dämonin, vor deren Gefährlichkeit bereits im Talmud gewarnt wird, 88 hat die Angewohnheit, schlafende Männer zu verführen. 89 Gemäß des frühmittelalterlichen Alphabeta de-Ben Sira verließ Lilith Adam 86 Alexander-Frizer , Heart, S. 314. 87 Alexander-Frizer kommt diesem Sachverhalt sehr viel näher, wenn sie die dämonischen und die menschlichen Regelsysteme als grundsätzlich verwandt anerkennt: «The Märchen can build demonic moral laws exactly parallel to human laws, and therefore it can use the she-demon as part of the human moralistic system.« Alexander-Frizer , Theme and Genre, S. 59. Diese Feststellung trifft nicht nur in Bezug auf Märchen zu, sondern gilt häufig ebenso für alle anderen Textsorten, in denen der Welt der Menschen eine nichtmenschliche ‹ Anderwelt › gegenübergestellt wird. 88 So z. B. im Babylonischen Talmud bShabbat 151b. Zur Königin von Saba vgl. auch Ronald H. Isaacs : Ascending Jacob ’ s Ladder. Jewish Views of Angels, Demons, and Evil Spirits. Northvale, NJ 1998, S. 101. Zu einer jüdischen Dämonenhochzeitserzählung der frühen Neuzeit, in der die nichtmenschliche Protagonistin Königin von Saba genannt wird vgl. Kap. 6.2. 89 Zur Figur der Lilith als Repräsentantin der gegenmenschlichen Welt vgl. die ausführlichen Angaben und Literaturhinweise in: Mimekor Yisrael. Classical Jewish Folktales. Abridged and Annotated Edition. Collected by Micha Joseph bin Gorion . Hg. von Emanuel bin Gorion , übers. von I. M. Lask , eingeleitet von Dan Ben-Amos . Bloomington, Indianapolis 1990, S. 39 f; Frey-Anthes , Unheilsmächte, S. 179 ff. Jeremy Dauber spricht von weiblichen dämonischen Mächten als Sinnbildern unkontrollierter weiblicher Sexualität. Sie seien «often, though not always, explicitly connected with otherness in the non-Jewish sense«. Dauber , Bedroom, S. 144. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 48 nach einer Machtprobe. 90 Die von ihr abgeleitete Gattung der lilin oder liliot ist im Mittelalter dafür bekannt, dass sie eine Gefahr für Kinder, vor allem für Neugeborene, darstellt. 91 Als notorisch gelten aber auch die erotischen Annäherungsversuche der lilin an menschliche Männer: As a result of the legend of Adam ’ s relations with Lilit, although this function was by no means exclusively theirs, the lilits were most frequently singled out as the demons who embrace sleeping men and cause them to have the nocturnal emissions which are the seed of a hybrid progeny. 92 Diese Vorstellung wird besonders in der Frühen Neuzeit für nicht geringe Panik sorgen. In Traktaten der jüdischen Moralliteratur wird wieder und wieder vor Selbstbefriedigung und nächtlicher Pollution gewarnt. Beides kann dazu führen, dass dämonische Wesen mit dem ‹ verlorenen › Samen halbdämonische Nachkommen zeugen, die den Mann dann ständig umgeben und ihn belästigen. Zum Schutz vor Schaden wird empfohlen, das Schma-Gebet zu sprechen, da auf diese Weise nicht nur die Dämonen auf Distanz gehalten, sondern auch bereits existierende dämonische Kinder getötet werden. 93 In den Lehren der Kabbalah wiederum erscheinen Wesen wie Lilith, ähnlich wie die succubae und incubi in der christlichen Doktrin, als bösartige Anhänger und Helfer des Bösen. 94 Im Verlauf des Mittelalters vermischen sich antike jüdische Vorstellungen mit populären christlichen Auffassungen. Die Verwendung französischer, deutscher und lateinischer Termini, die neben den Vokabeln sched oder masik ( מ ז י ק / › Schädling › ) zur Bezeichnung von übermenschlichen Wesen benutzt werden, deuten darauf hin, dass christliche Auffassungen von der Welt der 90 Nach einer anderen Tradition zeugt Adam selbst halbdämonische Nachkommen. In dem spätantiken Midrasch Tanchuma heißt es (nach der Übersetzung von John T. Townsend ): <The above is> to make known to you that during the whole 130 years in which Adam had withdrawn from Eve, the spirits were coming to him and being inflamed with passion from him so that he was begetting demons (mazziqin). Midrash Tanhuma. S. Buber Recension. Bd. 1. Genesis. Translated into English with Introduction, Indices, and Brief Notes by John T. Townsend . Hoboken, NJ 1989, S. 19. Vgl. auch die entsprechende Passage im Babylonischen Talmud (bEruvin 18b). 91 Zu einer Parallele im christlichen Diskurs vgl. Otia Imperialia, III. 86, S. 723. 92 Joshua Trachtenberg : Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion. New York 1974 (Erstausgabe 1939), S. 36. Vgl. auch Raphael Patais Ausführungen zu «Lilith the Succuba« in Raphael Patai : The Hebrew Goddess (Jewish Folklore and Anthropology). Detroit 3 1990, S. 233ff; Dauber , Bedroom, S. 145. 93 Ruth Berger : Sexualität, Ehe und Familienleben in der jüdischen Moralliteratur (900 - 1900) (Jüdische Kultur 10). Wiesbaden 2003, S. 69. Zum Schma-Gebet als Schutz vor dem Zugriff von Dämonen vgl. Kapitel 5.5. 94 Alexander-Frizer , Heart, S. 316. Dämonische Frauen in christlichen und jüdischen Diskursen 49 Dämonen im jüdischen Kontext adaptiert wurden. Der ‹ Nachtmahr › beispielsweise treibt sein Unwesen konfessionsübergreifend. 95 Bedenkt man zudem, dass die schedim in der jüdischen Tradition unter anderem mit dem schlechthin anderen, Fremden identifiziert werden, von dem man sich fernhalten sollte, das in all seiner Gefährlichkeit aber auch Gottes Geschöpf ist, und dass solche Kreaturen ferner häufig mit Menschen erotische Verbindungen eingehen - dann besteht kein Anlass zur Verwunderung über die Ähnlichkeit der europäischen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen mit den christlichen Mahrtenehengeschichten, ob sie nun aus einem klerikalen oder aus einem höfischen Kontext stammen. 1.4 Gestörte Mahrtenehe und Dämonenhochzeit Schon früh wurde auch in der germanistischen Literaturwissenschaft festgestellt, dass die christlichen und die jüdischen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe strukturelle Ähnlichkeiten teilen. Bereits Friedrich Panzer vermerkt unter Punkt 31 seiner Textkorpusliste zur gestörten Mahrtenehe zu einer Erzählung, die in Hermann Kletkes Sammlung Märchensaal erschien: Jüdisch; laut anmerkung aus einem alten rabbinistischen buche, genannt Mahasi Jerusalemi oder Geschichte eines Hebräers aus Jerusalem. 96 Die hebräische, im Jahr 1516 erstmals in Konstantinopel gedruckte Erzählung Maase Jeruschalmi ( ‹ Geschichte eines Jerusalemers › ) wurde dennoch von den europäischen Philologien im Kontext der Erforschung der gestörten Mahrtenehe nicht zur Kenntnis genommen. Auch andere Texte jüdischer Herkunft, in denen davon erzählt wird, wie ein menschlicher Held eine Beziehung zu einer nichtmenschlichen Frau eingeht und infolgedessen in Schwierigkeiten 95 Trachtenberg , Magic and Superstition, S. 39. Auch die Anzahl der Berichte von dämonischer Besessenheit nimmt sowohl im christlichen als auch im jüdischen Kontext zu Beginn der Frühen Neuzeit jäh zu. Es ergeben sich durchaus Parallelen zwischen Erzählungen, in denen eine Person von einem Dibuk (d. h. meist vom Geist eines oder einer Verstorbenen) besessen wird und solchen, in denen Figuren mit nichtmenschlichen Wesen erotische Beziehungen eingehen. Mit einer wie weit auch immer gefassten Vorstellung von ‹ gestörter Mahrtenehe › sind solche Besessenheits- und Exorzismustexte allerdings kaum zu beschreiben und werden daher in vorliegender Untersuchung nicht berücksichtigt. Zum Phänomen des Dibuk vgl. die Studie von Jeffrey Howard Chajes : Between Worlds. Dybbuks, Exorcists, and Early Modern Judaism (Jewish Culture and Contexts). Pennsylvania 2003. 96 Panzer , Einleitung, S. lxxiv. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 50 gerät, gelangten nie in das Blickfeld der germanistischen oder romanistischen literaturwissenschaftlichen Forschung. In der israelischen und amerikanischen volkskundlichen Erzählforschung andererseits ist zwar das Motiv der Ehe eines Mannes mit einer Dämonin als Strukturelement einiger vormoderner jüdischer Erzählungen durchaus bekannt und Gegenstand mehrerer Untersuchungen. 97 Dass es motivbedingte Parallelen zu nichtjüdischen Erzählungen der gleichen Zeit und im gleichen geographischen Raum gibt, wurde indessen zwar wahrgenommen, aber nicht weiter verfolgt. 98 Joseph Dan stellt in einer ersten vergleichenden und zusammenfassenden Studie über die von ihm als Varianten der Geschichte eines Jerusalemers bezeichneten Dämonenhochzeitserzählungen fest, dass er zu einer im Umkreis des jüdischen Mystikers Jehuda he-Chasid entstandenen Erzählung, die er auf das frühe 13. Jahrhundert datiert, keine deutliche Entsprechung in der zeitgenössischen lateinischen Literatur gefunden habe. 99 Als thematisch verwandt nennt er lediglich die bereits in Kapitel 1.3 erwähnte Geschichte, die sich in Caesarius › von Heisterbach Dialogus Miraculorum findet und in der von einem jungen Mönch berichtet wird, der von einer Gruppe von Dämonen entführt wird. 100 Einen Bezug zu den höfischen oder klerikalen Texten aber, die man für 97 Vgl. z. B. Dan , Five Versions; Zfatman , Marriage; Alexander-Frizer , Theme and Genre; Chanita Goodblatt: Women, Demons and the Rabbi ’ s Son: Narratology and ‹ A Story from Worms › , in: Exemplaria 12,1 (2000), S. 231 - 253. 98 Yehuda L. Zlotnik bezeichnet in seiner Einleitung zur Ausgabe der Geschichte eines Jerusalemers das ‹ Hauptmotiv › ( ה מ ו ט י ב ה ר א ש י ) mit der Inhaltsangabe: ‹ menschlicher Mann nimmt Dämonin zur Frau › . Als Bestandteile des Motivs führt er das Tabu ( א ס ו ר ) an, das als die Heirat ermöglichende Bedingung aufgestellt wird, sowie die Bestrafung des Helden nach dem Bruch des Tabus. Vgl. Jehuda L. Zlotnik und Nehemia Allony , Einleitung, in: Ma ’ ase Yerushalmi (The Story of the Jerusalemite). Attributed to R. Abraham B. Maimon. The Hebrew Versions of the Constantinople Edition and of a Yemenite Manuscript with an Introduction and Notes by Jehuda L. Zlotnik . A Bibliography and an Arabic Version Based Upon a Baghdad Manuscript with an Introduction by Nehemia Allony . Preface and Additional Notes by Raphael Patai (Studies in Folklore and Ethnology 1). Jerusalem 1946 [hebr.], S. 26. Moses Gaster verweist in seinen Ausführungen zur Geschichte eines Jerusalemers auf Parallelen im «cycle of the story of the swanmaiden and of the Lusignan family», womit wohl vor allem die lateinischen und französischen Schwanenkinder- und die Schwanenritter-Erzählungen (wie beispielsweise im Dolopathos) sowie die Melusine-Romane gemeint sind. Moses Gaster : An Ancient Fairy-Tale translated from the Hebrew, in: Folk-Lore 42,2 (1931), S. 156 - 178, hier S. 159. 99 Zu dieser Erzählung vgl. Kap. 2.2. 100 Vgl. Dan , Five Versions, S. 107 f. Gestörte Mahrtenehe und Dämonenhochzeit 51 gewöhnlich mit gestörter Mahrtenehe in Verbindung bringt, stellt Dan nicht her. 101 Er unterscheidet zwei Typen bei der Ausgestaltung des Narrativs. Bei beiden Typen führt ein Vergehen des Helden zu allen nachfolgenden Ereignissen: «Both tell the tale of a man whose sins brought him into the power of the demons, and he had to marry a demon in order to save his life.» 102 Das Defizit des Helden ist also in den jüdischen Erzählungen ein intrinsischer, meist moralischer Mangel. Während aber laut Dan die Geschichte im östlichen, außereuropäischen Typus für den Protagonisten schlecht ausgehe, ende sie in der westlichen, europäischen und zudem vergleichsweise wenig judaisierten Variante positiv. Tatsächlich spielen die Vergehen oder Fehltritte, die der Aufnahme der dämonischen Allianz vorangehen, in den jüdischen Erzählungen eine bedeutendere Rolle als in den christlichen. Auch die Frage, ob die jeweilige Erzählung ein (aus der Perspektive des Protagonisten) beklagenswertes oder ein glückliches Ende hat, ist berechtigt. Allerdings existieren beide Möglichkeiten sowohl in Texten, die Dan als ‹ östlich › bezeichnet als auch in solchen, die er einem ‹ westlichen › Kontext zurechnet. Schon aus diesem Grund ist Dans Unterscheidung in «Eastern and Western versions of the same original« nur sehr begrenzt tragfähig. 103 Zum einen erscheint es nicht hilfreich, davon 101 Dies verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass sich Joseph Dan in seinen Studien zum Motiv der Dämonenhochzeit vor allem mit ‹ folk-tales › beschäftigt. Texte, die in der höfischen Schriftkultur dieser Zeit entstehen, interessieren ihn kaum. Dies könnte auch der Grund dafür sein, dass ihn keine Spur zu den einschlägigen Exempla bei Walter Map, Geoffroy von Auxerre, Gervasius von Tilbury oder Paracelsus führt, die in der Literaturwissenschaft im Zusammenhang mit höfischen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe, vor allem mit der Melusine, untersucht werden. Eli Yassif erwähnt eine Erzählung Walter Maps in seiner umfassenden Studie zur hebräischen Volkserzählung (im Kapitel über das Thema der Begegnung zwischen Sterblichen und Dämonen in der mittelalterlichen hebräischen Literatur), stellt aber keinen expliziten Vergleich an. Vgl. Eli Yassif : The Hebrew Folktale: History, Genre, Meaning. Übers. von Jacqueline S. Teitelbaum (Folklore Studies in Translation). Bloomington 1999 (hebräische Erstausgabe 1994), S. 351 - 370. 102 Dan , Five Versions, S. 106. 103 Dan , Five Versions, S. 107. Ganz ähnlich differenziert Julia Breulmann in Anlehnung an Claude Lecouteux zwei Typen von christlichen Mahrtenehenerzählungen, die sich danach unterscheiden, ob der Held stirbt oder nicht. Anders als Dan klassifiziert Breulmann die Feenerzählungen nicht nach den Aspekten ‹ östlich vs. westlich › , sondern ‹ älter vs. jünger › : «Während die ältere Form mit der Trennung und dem Tod des Mannes endet, wählen jüngere Feenerzählungen einen versöhnlicheren Ausgang [. . .].« Breulmann , Erzählstruktur, S. 57. Die von Breulmann angenommene Korrelation des für den Helden guten oder schlechten Endes mit dem Alter der jeweiligen Erzählung lässt sich ebenso wenig halten wie der von Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 52 auszugehen, dass es ein ‹ Original › der Erzählung gegeben habe, sei es nun europäischen oder außereuropäischen Ursprungs. Dan zufolge kommt die Geschichte eines Jerusalemers einem solchen Original am nächsten. Eine Rekonstruktion des Originals wäre allerdings kaum brauchbarer als die einer Originalversion beispielsweise des Nibelungenliedes. Die Methode, tatsächlich existierende Texte an einem künstlich hergestellten, als vermeintlich klassisch geltenden Referenztext zu messen, lenkt von der Konzeption der historisch fassbaren Erzählungen eher ab, statt den Zugang zu ihnen zu erleichtern. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass die Dämonenhochzeitserzählungen, wie noch zu zeigen sein wird, sehr stark sowohl in europäischen als auch in außereuropäischen jüdischen Kontexten zirkulierten. Bei diesem Jahrhunderte währenden Prozess der Überlieferung, Ausarbeitung, Reduktion und Anpassung nehmen sie so viele Anleihen bei thematisch verwandten jüdischen wie auch nichtjüdischen Texten, dass schon die ältesten überlieferten Erzählungen keinem eindeutig westlichen oder östlichen Ursprung mehr zuzuweisen sind. Tamar Alexander-Frizer unterscheidet bei Erzählungen über verheiratete Männer, die eine zusätzliche, dämonische Beziehung aufnehmen, zwei Modelle: «In one the two women live together in peace; the contrasting model is one of conflict in which the she-demon plots against the human woman or the reverse, the human wife, with the power of holiness (a rabbi) on her side, succeeds in getting rid of the she-demon.« 104 Die Tatsache, dass die Merkmale des ersten Modells in einer kurzen, lapidaren Bemerkung abgehandelt werden, während dem zweiten, antagonistischen Modell größere Aufmerksamkeit und eine detailliertere Beschreibung zuteil werden, gibt Anlass zum Zweifel an Alexander-Frizers Zweiteilung. Tatsächlich in Frieden leben die beiden Frauen, die menschliche und die dämonische, miteinander nie. Der grundlegende Konflikt wird lediglich auf unterschiedlichen Wegen ausgetragen, mal mehr und mal weniger offensichtlich. Vorhanden ist er allerdings immer. Die produktivste Beschreibung der vormodernen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen stammt von Sara Zfatman , die sich mit diesem narrativen Muster in einer aufschlussreichen Studie zur Transformation des Motivs im aschkenasischen Kulturkreis vom 16. bis zum 19. Jahrhundert beschäftigt. Leider werden die meisten älteren jüdischen Mahrtenehenerzählungen in die Betrachtungen der Autorin nicht einbezogen, was den Horizont Dan hergestellte Zusammenhang des Endes einer Geschichte mit deren ‹ östlicher › oder ‹ westlicher › Herkunft. Protagonisten überleben die Beziehung zu einem übermenschlichen Wesen, überspitzt formuliert, von Apuleius bis zu Goethes Neuer Melusine, und sie sterben daran im Ritter von Staufenberg ebenso wie in Jaroslav Kvapils Opernlibretto zu Rusalka. 104 Alexander-Frizer , Heart, S. 317. Gestörte Mahrtenehe und Dämonenhochzeit 53 der Studie etwas einschränkt. Zudem vergleicht die Autorin vor allem Einzelmotive, die den Texten gemeinsam sind. Sie verliert dabei zuweilen aus den Augen, dass die jeweiligen Erzählungen mehr sind als die Summe der in ihnen enthaltenen literarischen Motive. Einige der Deutungskategorien aber, die Zfatman bei ihrer vergleichenden Zusammenschau der verschiedenen Texte erstellt hat, eignen sich hervorragend zur Ergänzung des germanistischromanistischen Fragenkatalogs zur gestörten Mahrtenehe. Zfatman vergleicht die jeweilige Inszenierung des Raums, speziell der Dämonenwelt, des Stellenwertes von Tora-Gelehrsamkeit, der Gestalt der menschlichen Frau sowie der Moral, die die Erzählungen transportieren. 105 Die Frage nach der Raumsemantik und den Möglichkeiten eines Textes, durch die imaginäre Konstruktion zweier auf den ersten Blick ganz unterschiedlicher Welten etwas über die Regeln der als gewöhnlich und alltäglich imaginierten Welt auszusagen, ist aus der germanistischen literaturwissenschaftlichen Forschung bekannt. Die moralische Pointe der Erzählung (und damit auch alles, was ihr textintern entgegensteht) lässt sich wiederum durch eine Untersuchung der Gestalt des männlichen Protagonisten und seiner Defizite sowie des Ausgangs der Geschichte erfassen. Von besonderem Interesse sind daher zwei Aspekte, die Zfatman im Unterschied zu den europäischen Literaturwissenschaftlern besonders stark betont: die Rolle einer weiblichen Figur, die sich mit der Dämonin in einem Rivalitätsverhältnis befindet, und die Rolle der Frömmigkeit oder religiösen Gelehrsamkeit der Figuren. Eine weitere Erkenntnis Zfatmans besteht, abweichend von Joseph Dan , darin, dass sie die Geschichte eines Jerusalemers keineswegs als übergeordneten Referenztext für alle anderen Dämonenhochzeitserzählungen ansieht: On the basis of a comparison between ‹ Mayse fun Vorms › and the famous Hebrew story ‹ Ma ’ ase Yerushalmi › we came to the conclusion that the former cannot justifiably be seen as a version of the latter. It should rather be regarded as representing an alternative narrative model, even though both works center around the same motif of marriage between a man and a she-demon. 106 Bei der Geschichte aus Worms und bei der Geschichte eines Jerusalemers handelt es sich tatsächlich um zwei Ausprägungen des gleichen Narrativs. Allerdings sollte man den Komplexitätsgrad der Erzählungen nicht unterschätzen, indem man annimmt, dass die erste Geschichte rein erzählend - das heißt unterhaltend - wirke, während letztere eine moralische Tendenz aufweise. 107 Es gibt keine Texte, in denen nur erzählt wird, ohne dass eine oder mehrere Möglichkeiten angeboten werden, zu dem Erzählten Stellung zu beziehen. Und auch 105 Vgl. Zfatman , Marriage, S. 34 ff. 106 Zfatman , Marriage, S. viif. 107 Vgl. Zfatman , Marriage, S. 105. Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der Forschung 54 explizit moralisierende Texte, mit deren Hilfe auf eine bestimmte Norm hingewiesen werden soll, gestatten meist mehr als eine eindimensionale Lektüre, die ausschließlich auf die vordergründige Moral ausgerichtet ist. Wodurch sich die zwei Typen, denen die beiden Erzählungen jeweils angehören, tatsächlich voneinander unterscheiden, wird im nächsten Kapitel unter Zuhilfenahme der oben entwickelten Kategorien anhand zweier mittelalterlicher Erzählungen exemplifiziert und in den darauf folgenden Kapiteln am Beispiel einiger jüngerer Texte näher ausgeführt. Gestörte Mahrtenehe und Dämonenhochzeit 55 2. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert: Die ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › und die ‹ Geschichte eines armen Mannes › [Emily: ] . . . just get back to that other woman! [Victor: ] Don ’ t you understand? You ’ re the other woman. [Emily: ] No! You ’ re married to me! She ’ s the other woman! [Elder Gutknecht: ] She ’ s got a point. 1 Bei der Geschichte eines Amulettschreibers und der Geschichte eines armen Mannes handelt es sich um die beiden ältesten jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen, die aus dem europäischen Mittelalter überliefert sind. An ihnen wird ersichtlich, dass im jüdischen Kontext des 13. Jahrhunderts ebenso wie im christlichen ein narratives Grundgerüst zum Erzählen von Geschichten über die Verbindung eines Mannes mit einer nichtmenschlichen Frau zur Verfügung steht. Die Autoren greifen in ihren Erzählungen auf das sowohl im christlichen als auch im jüdischen Europa weit verbreitete Narrativ der gestörten Mahrtenehe zurück. Der augenfälligste Unterschied nicht zu den klerikalen, sehr wohl aber zu den höfischen Mahrtenehenerzählungen besteht darin, dass zu dieser Zeit im jüdischen Kontext offenbar ein größeres Interesse an kurzen, prägnanten Erzählungen als an umfangreichen und elaborierten Werken mit hohem literarischem Anspruch besteht. Schon in den hochmittelalterlichen Dämonenhochzeitserzählungen sind allerdings bereits all die Elemente enthalten, die in späteren jüdischen Konfigurationen des Narrativs zur Produktion detaillierter, romanhafter Erzählungen verwendet werden: das Aufnehmen einer Beziehung zu einem nichtmenschlichen Wesen, die Krise der Beziehung sowie ihre Beendigung, aber auch die Anwesenheit einer menschlichen Partnerin und das Moment der Unfreiwilligkeit bei der Anbahnung des Verhältnisses. 1 Tim Burton: Tim Burton ’ s Corpse Bride (2005). 2.1 Textüberlieferung Die hebräische Geschichte eines armen Mannes befindet sich in einer Handschrift, die im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts im Norden der Champagne hergestellt wurde. MS Oxford Bodl. Or. 135 enthält neben Traktaten zur hebräischen Grammatik und Semantik auch mehrere Midraschim 2 sowie einige der populärsten jüdischen Erzählungen und Erzählsammlungen des Mittelalters, darunter das Alphabeta de-Ben Sira und die Geschichten Sendebars. 3 Die Handschrift weist eine klar gegliederte Struktur auf: Der besonders umfangreiche Grammatikteil und der viel kleinere Teil mit den narrativen Texten folgen aufeinander. Im zweiten Teil sind einerseits die Texte mit eher weltlichem Inhalt von den stärker religiös motivierten Midraschim abgesetzt, was einer Vermischung von Heiligem und Profanem entgegenwirkt. Andererseits alternieren die größeren Erzählzyklen mit kleineren Einzelerzählungen. Dies sorgt für eine leichtere Unterscheidbarkeit der einzelnen Komponenten und gewährleistet Übersichtlichkeit. 4 2 Bei Midraschim (Sg.: Midrasch) handelt es sich um erzählende Texte, in denen Passagen aus der Bibel ausgelegt werden. Zu dieser Methode sowie zu intertextuellen Verknüpfungen eines bestimmten Midraschs mit einer Dämonenhochzeitserzählung der frühen Neuzeit vgl. Kap. 5.4. 3 Sara Zfatman datiert die Handschrift im Gegensatz zu Malachi Beit-Arié auf das Ende des 13. Jahrhunderts. Vgl. Malachi Beit-Arié : Ms. Oxford, Bodleian Library, Bodl. Or. 135, in: Tarbiz 54,4 (1985), S. 631 - 634 [hebr.] und Sara Zfatman : The Jewish Tale in the Middle Ages. Between Ashkenaz and Sepharad. Jerusalem 1993 [hebr.], S. 17. Eine Beschreibung der Handschrift findet sich bei Adolf Neubauer : Catalogue of the Hebrew Manuscripts in the Bodleian Library and in the College Libraries of Oxford. Oxford 1886, Nr. 1466, Sp. 519 ff. sowie Malachi Beit-Arié : Catalogue of the Hebrew Manuscripts in the Bodleian Library. Supplement of Addenda and Corrigenda to Vol. I (A. Neubauer ’ s Catalogue). Oxford 1994, Sp. 244 f. Einen Überblick über die Forschungsliteratur zur Handschrift gibt Lucia Raspe : Jüdische Hagiographie im mittelalterlichen Aschkenas (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 19). Tübingen 2006, S. 21; vgl. auch Eli Yassif : Sepher ha-Ma ’ asim. The Character, Origins and Influence of a Collection of Stories from the Time of the Tosaphists, in: Tarbiz 53,2 (1984), S. 409 - 429 [hebr.]; Eli Yassif : Theory and Practice in the Creation of the Hebrew Narratives in the Middle Ages, in: Kiryat Sefer 62 (1988/ 1989), S. 887 - 905 [hebr.]; Yassif präsentiert in diesem Aufsatz auch den Text der Geschichte eines armen Mannes. Israel Lévi : Un recueil des contes juifs inédits, in: REJ 33 (1896), S. 47 - 63, 233 - 254; 35 (1897), S. 65 - 83; 47 (1903), S. 205 - 213. Lévi gibt den Text sowie eine Übersetzung ins Französische in REJ 33 (1896), S. 50 - 54. 4 Die Geschichte eines armen Mannes folgt auf eine Geschichte über R. Akiva, der einem toten Mann begegnet und ihm Höllenqualen erspart, indem er dessen Sohn beibringt, in der Synagoge den notwendigen Segen zu sagen. Vgl. Nr. 134 in: Moses Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 58 Der Handschrift MS Opp. 540, die die Geschichte eines Amulettschreibers enthält, liegt ein anderes Programm zugrunde. 5 Sie enthält eine Reihe von mittelalterlichen Traktaten theologischen und esoterischen Inhalts aus dem Umkreis der Chaside Aschkenas (der Frommen von Aschkenas), einer Frömmigkeitsbewegung, die von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum aktiv war. Die mystischen und ethischen Lehren dieser Gruppe blieben, vermittelt durch ihre Rezeption in den Schriften der Tossafisten 6 und anderer rabbinischer Autoritäten, auch nach dem Verschwinden der Gruppe weiterhin einflussreich. Die ersten drei Abhandlungen im Manuskript werden Jehuda he-Chasid zugeschrieben, die restlichen seinem Schüler Elasar von Worms. 7 Der Inhalt der Traktate selbst ist, anders als viele philosophische Abhandlungen des jüdischen Mittelalters, kaum systematisch organisiert. Dies ist, wie Hanna Liss in der Einleitung zu ihrer Ausgabe der Hilkhot ha-Kavod Elasars von Worms feststellt, für die Werke dieses Autors wie auch für die seines Lehrers Jehuda he-Chasid typisch. Neben langen Passagen aus den Werken Saadia Gaons und R. Schabtai Donnolos findet sich «in scheinbar buntem Durcheinander eine Mischung aus Midrasch-Sentenzen Gaster (Hg.): The Exempla of the Rabbis. London 1924/ New York 1968 (Erstausgabe 1924). Diese Erzählung und die Geschichte eines armen Mannes erscheinen zwischen zwei längeren Texten: dem aus erzählenden Passagen und Sinnsprüchen bestehenden Alphabeta de-Ben Sira und der Fabelsammlung Mischle Schualim. 5 Eine Beschreibung der Handschrift findet sich bei Neubauer , Catalogue, Nr. 1566, Sp. 548 sowie Beit-Arié , Catalogue, Sp. 263 f; zur Sammlung Oppenheim, die die beiden Handschriften 1566 und 1567 beinhaltet vgl. Benjamin Richler : Guide to Hebrew Manuscript Collections. Jerusalem 1994, S. 137 f. Eine detaillierte Beschreibung vor allem von Handschrift Nr. 1566 im Katalog Neubauer findet sich bei Joseph Dan : Chibur bilti jadua be-Torat ha-Sod le-Rabbi Jehuda he-Chasid, in: Joseph Dan: Ijunim be-Sifrut Chasidut Aschkenas. Ramat Gan 1975, S. 134 - 147 [hebr.]. Zur Geschichte eines Amulettschreibers und anderen Erzählungen über nichtmenschliche Geschöpfe und übernatürliche Phänomene vgl. Joseph Dan , Demonological Stories sowie Joseph Dan : Five Versions, S. 101 - 107. 6 Als Tossafisten werden die französischen Rechtsgelehrten in der Nachfolge Raschis (R. Schlomo ben Itzchak) bezeichnet. 7 Zusammengestellt wurde der Großteil der verschiedenen Texte laut Joseph Dan von derselben Person. Lediglich die letzten beiden Traktate der Handschrift und ein anonymer Text mit dem Titel Sodot Kria scheinen später hinzugefügt worden zu sein. Vgl. Dan , Chibur, S. 136 f. Zu Jehuda he-Chasid vgl. Ivan G. Marcus : Judah the Pietist and Eleazar of Worms: From Charismatic to Conventional Leadership, in: Jewish Mystical Leaders and Leadership in the 13 th Century. Hg. von Moshe Idel und Mortimer Ostow . Northvale, NJ, Jerusalem 1998, S. 97 - 126, besonders S. 108 - 118. Textüberlieferung 59 und volkstümlichen Erzählungen, Hekhalot-Abschnitten und - dies vor allem - zum Teil seitenlangen Bibelzitationen«. 8 Die Geschichte eines Amulettschreibers ist also nicht etwa ausschließlich von weiteren in sich abgeschlossenen narrativen Texten umgeben wie die Geschichte eines armen Mannes. Sie wird vielmehr integriert in einen größeren Gesamttext aus theoretischen Ausführungen mystischen Inhalts und langen Zitaten aus autoritativen Texten. Wie der Rezipient die Geschichte eines Amulettschreibers interpretiert, wird nicht allein durch die unmittelbare Textumgebung beeinflusst, sondern durch den Inhalt des gesamten Traktats mit dem Titel Sefer ha-Kavod, dessen Bestandteil sie ist. Wie die anderen Abhandlungen in dieser Handschrift ist auch das Sefer ha-Kavod, Joseph Dan zufolge, ein relativ unstrukturierter Text: The Sefer ha-Kavod in the Oxford MS. extends over 270 pages in one unbroken sequence, almost without any external sign of transition from topic to topic or from one line of thought to the other. 9 Die Erzählungen in Jehuda he-Chasids esoterischem Traktat lassen sich kaum von ihrem größeren Textzusammenhang trennen. Die Geschichte eines Amulettschreibers ist Teil einer ununterbrochenen esoterisch-theologischen Gedankensequenz. Deren Inhalt wirkt auf die Rezeption der Erzählung zurück. Die Einzelerzählung wiederum kann als veranschaulichendes Beispiel der alle Bereiche des Lebens umfassenden Lehre der Chaside Aschkenas betrachtet werden. Auch hinsichtlich der Datierung unterscheidet sich die Überlieferung der Geschichte eines armen Mannes von der Geschichte eines Amulettschreibers. Die Niederschrift der Geschichte eines armen Mannes kann aufgrund des Handschriftenbefunds ins 13. Jahrhundert datiert werden. Im Kontrast hierzu ist die Überlieferungsgeschichte des Inhalts von MS Opp. 540 weniger leicht nachvollziehbar. Die beiden einzigen Handschriften, die die Geschichte eines Amulettschreibers als eine unter vielen narrativen Einheiten zur Illustration und eigenständigen Darstellung esoterischer Lehren enthalten, stammen aus 8 El ’ asar Ben Yehuda von Worms: Hilkhot ha-Kavod. Die Lehrsätze von der Herrlichkeit Gottes. Edition, Übersetzung, Kommentar. Hg. von Hanna Liss (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 12). Tübingen 1997, S. 6. Zum assoziativen Aufbau des Sefer ha-Kavod vgl. auch Dan , Chibur, S. 136. 9 Joseph Dan : The Book of Divine Glory by Rabbi Judah of Regensburg, in: Studies in Jewish Manuscripts. Hg. von Joseph Dan und Klaus Herrmann , in Zusammenarbeit mit Johanna Hoornweg und Manuela Petzoldt (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 14). Tübingen 1999, S. 1 - 18, hier S. 13. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 60 den Jahren 1639 bzw. 1720. 10 Bei der jüngeren Handschrift handelt es sich um eine Abschrift der älteren. Datiert werden die im Manuskript enthaltenen Texte allerdings auf den Beginn des 13. Jahrhunderts - Joseph Dan schreibt den Teil der Handschrift, der auch den Traktat mit der Geschichte eines Amulettschreibers enthält, explizit Jehuda he-Chasid zu. Selbst wenn man aber darauf verzichtet, den Traktat direkt in Verbindung mit dieser speziellen Autorpersönlichkeit zu bringen - dass er im Umfeld der Chaside Aschkenas entstand, gilt in der Forschung als gesichert. Was dieser Entstehungszusammenhang für eine Interpretation der Geschichte eines Amulettschreibers bedeutet, wird im Verlauf dieses Kapitels deutlich werden. Im Auge behalten sollte man bei einer chronologischen Untersuchung der Dämonenhochzeitserzählungen die späte Überlieferung der Geschichte eines Amulettschreibers ganz sicher. Da der Traktat Sefer ha-Kavod und mit ihm die Geschichte eines Amulettschreibers erst im 17. Jahrhundert greifbar sind, kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass die Erzählung sich in Form und Inhalt durchaus von dem Text unterscheidet, den ein Autor aus dem Umkreis der Chaside Aschkenas im 13. Jahrhundert niederschrieb. Die grundsätzliche ‹ Offenheit › , ‹ mouvance › und ‹ variance › mittelalterlicher Texte betrifft nicht nur die deutsch- oder französischsprachige Literatur, sondern auch die esoterischen, ethischen und didaktischen Schriften der Chaside Aschkenas. 11 Überliefert ist die Erzählung vergleichsweise spät und unikal. Mindestens bis zum 10 Bei der jüngeren Handschrift handelt es sich um MS Opp. 111 (Nr. 1566 im Katalog Neubauer). 11 Paul Zumthor : Essai de poétique médiévale (Collection Poétique). Paris 1972; Jürgen Kühnel : Der ‹ offene Text › . Beitrag zur Überlieferungsgeschichte volkssprachiger Texte des Mittelalters, in: Akten des 5. Internationalen Germanistenkongresses Cambridge 1975. Heft 2. Hg. von Leonard Forster und Hans-Gert Roloff . Bern und Frankfurt a. M. 1976, S. 311 - 321; Bernard Cerquiglini : Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie (Des Travaux 8). Paris 1989; Diana Müller : Der unselbstständige Text. Hartmanns ‹ Gregorius › in mittelalterlichen Sammelhandschriften. Frankfurt a. M. 2010 (Diss. Masch.).Wie Joseph Dan bezweifelt auch Eli Yassif nicht, dass die Erzählung aus dem Umkreis der Chaside Aschkenas stammt und somit als mittelalterlicher Text zu betrachten ist. Er nimmt allerdings an, dass es sich bei der Geschichte eines Amulettschreibers um eine jüngere Erzählung handelt als bei der Geschichte eines armen Mannes. Erstere Erzählung weise Merkmale auf, die darauf schließen ließen, dass sie aus einem mündlichen Kontext stamme und aus diesem heraus in verkürzter Form verschriftlicht worden sei. Die Geschichte eines armen Mannes hingegen sei komplizierter und daher als ursprünglicher zu betrachten. Vgl. Yassif , Theory and Practice, S. 890. Da allein vom Komplexitätsgrad eines Textes nicht direkt auf sein Alter (womit aus der Perspektive der volkskundlichen Erzählforschung meist seine Originalität gemeint ist) geschlossen werden kann, erscheint diese Argumentation wenig überzeugend. Textüberlieferung 61 Beginn der Buchdruckzeit kann sie durchaus Modifikationen unterworfen gewesen sein, wie sie im Rahmen handschriftlicher Überlieferung im Mittelalter üblich sind. Daher kann die Authentizität des Wortlauts lediglich abgeschätzt werden. Da jedoch keine Indizien dafür existieren, aufgrund derer man annehmen müsste, dass der Text nicht im Mittelalter entstand, ist bei aller Skepsis davon auszugehen, dass es sich bei vorliegender Erzählung tatsächlich um eine mittelalterliche handelt. Einen ersten Hinweis darauf, dass der Text der Handschrift relativ stabil weitergegeben wurde, gibt die lateinische Übersetzung, die Flavius Mithridates in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts für Pico della Mirandola anfertigte. Der jüdische Konvertit pflegte zwar häufig den ihm vorliegenden Texten Interpolationen hinzuzufügen und ihnen auf diese Weise eine christliche Perspektive einzuschreiben. 12 Ein genauer Vergleich des überlieferten lateinischen Texts mit der hebräischen Handschrift von 1639, den Joseph Dan gemeinsam mit Chaim Wirszubski unternahm, ergab aber, dass Original und Übersetzung einander ausgesprochen ähnlich sind und sogar in Auslassungen und Fehlern miteinander korrespondieren. 13 Leider ist nur der zweite Teil der hebräischen Handschrift in lateinischer Übersetzung überliefert. Obgleich also das Sefer ha-Kavod und damit auch die Geschichte eines Amulettschreibers nicht mit einer lateinischen Übersetzung verglichen werden können, ist aus dem Umgang des Übersetzers mit dem mittelalterlichen Text zu schließen, dass dieser zumindest zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert kaum mehr verändert wurde. Ein gewichtigeres Argument dafür, dass der moderne Leser mit der Geschichte eines Amulettschreibers mehr oder weniger die gleiche Erzählung vor sich hat wie die mittelalterlichen Rezipienten des Sefer ha-Kavod, bieten die überlieferten direkten und indirekten Zitate oder Verarbeitungen dieses Traktats in anderen zeitgenössischen Werken. Zunächst ist ein inhaltliches 12 Vgl. den Eintrag zu Vat. ebr. 189 in: Benjamin Richler (Hg.): Hebrew Manuscripts in the Vatican Library. Catalogue. Compiled by the Staff of the Institute of Microfilmed Hebrew Manuscripts, Jewish National and University Library, Jerusalem. Paleographical and Codicological Descriptions: Malachi Beit-Arié , in collaboration with Nurit Pasternak (Studi e Testi 438). Città del Vaticano 2008, S. 132 f. Zu dieser Handschrift und zum lateinischen im Vergleich zum hebräischen Text vgl. auch Flavius Mithridates: Sermo De Passione Domini. Edited with Introduction and Commentary by Chaim Wirszubski (Publications of the Israel Academy of Sciences and Humanities). Jerusalem 1963, S. 51 f. Zur Charakterisierung des Flavius Mithridates als ein im allgemeinen «competent but arbitrary translator» vgl. Chaim Wirszubski : Pico della Mirandola ’ s Encounter with Jewish Mysticism. Cambridge, Mass., London 1989, S. 69 ff. 13 Vgl. Dan , Divine Glory, S. 8 f. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 62 Abhängigkeitsverhältnis vor allem zu den Werken Elasars von Worms festzustellen, Jehudas wichtigstem Schüler und Nachfolger. Auch Elasar beschäftigt sich mit dem Thema des Kavod, der immanenten, sichtbaren Anwesenheit Gottes in der Schöpfung. Dabei greift er eindeutig auf eine Version von Jehudas Sefer ha-Kavod zurück, die der überlieferten sehr nahe steht. 14 In seinen Traktaten Hilkhot ha-Kavod und Hilkhot Malakhim, die die gleichen Titel tragen wie zwei Texte in der Oxforder Handschrift, zitiert Elasar seitenweise längere Passagen aus dem Werk seines Lehrers wörtlich oder paraphrasiert sie. 15 Weitere wörtliche Zitate finden sich in der polemischen Schrift Ktav Tamim des zeitgenössischen Tossafisten R. Mosche ben Chisdai Taku, der sich darin gegen die Chaside Aschkenas und deren Ansicht richtet, man könne Wissen über Gott erlangen, indem man seine Schöpfung studiert. 16 Dämonologie als Mittel der Gotteserfahrung Mit Mosche Takus Kritik an der im Sefer ha-Kavod entwickelten Theologie der Chaside Aschkenas ist ein inhaltliches Kriterium angesprochen, aufgrund dessen die Geschichte eines Amulettschreibers in das hohe Mittelalter datiert werden kann. Der Vergleich mit zeitgenössischen Werken legt die Vermutung nahe, dass das Sefer ha-Kavod zumindest zu großen Teilen vorlagengetreu überliefert wurde, und das bis ins 17. Jahrhundert hinein. Was die in ihm enthaltene Geschichte eines Amulettschreibers angeht, so kann man feststellen: In das Programm des Traktats fügt sie sich plausibel ein. Die Chaside Aschkenas lehren, dass Gott sich nach der Erschaffung der Welt verborgen habe, dass aber überall in der Schöpfung Zeichen und Hinweise zu finden seien, die auf seine Präsenz, den Kavod, schließen lassen. Der Gottesfürchtige erhält durch diese Hinweise die Möglichkeit, die göttliche Macht zu erkennen. Besonders zu 14 «Concerning the theological problems whose core is the theory of the kavod, we have two detailed treatments, one by Rabbi Judah in MS. Oxford, and one by Rabbi Eleazar in Sodey Razaya, the second being dependent on the first. There is no indication of any ‹ missing link, › either from the textual or from the theological point of view.» Dan , Divine Glory, S. 13. 15 Vgl. Dan , Divine Glory, S. 12. Und: «In Rabbi Eleazar ’ s Commentary on the Sefer Yezirah there is a long quotation explicitly citing Rabbi Judah the Pious. This quotation is found, word for word, in our text.» Dan , Divine Glory, S. 10. Auch im Sefer Chasidim finden sich Zitate aus dem Sefer ha-Kavod. Vgl. Joseph Dan : Rezension zu: Wout Jac van Bekkum . A Hebrew Alexander Romance according to MS London, Jew ’ s College 145. Louvain 1992, in: JQR 86,3/ 4 (1996), S. 435 - 438, hier S. 437. 16 Vgl. Dan , Book of Divine Glory, S. 7. Textüberlieferung 63 beachten sind Wunder und mirabilia, außergewöhnliche Begebenheiten, bizarre Geschöpfe und magische Handlungen. In other words, every deviation from the normal laws of nature is an intimation of the Lord ’ s presence. In conformity with this world outlook, the Pietists assiduously garnered anecdotes, legends and tales describing mysterious or obscure happenings. 17 Das Sefer ha-Kavod, in welches die kurze Geschichte eines Amulettschreibers eingebettet ist, enthält zum einen Bibelauslegungen, bei denen vor allem Situationen im Mittelpunkt stehen, in denen es um die Offenbarung Gottes oder der Engel geht. 18 Er schließt aber auch einige weitere, meist kürzere Geschichten ein, in denen von kuriosen Naturerscheinungen wie weinenden Pferden und bedrohlichen Tauben, von Todesvisionen, Möglichkeiten der Tötung übelwollender Hexen und eben auch von dämonischen Machenschaften erzählt wird. 19 Eine Geschichte über die Begegnung und Interaktion mit dämonischen Wesen enthüllt aus der Perspektive der Chaside Aschkenas einen verborgenen Aspekt der Gottheit und gibt, wenn auch häufig in esoterischer, nicht immer auf den ersten Blick verständlicher Weise, Auskunft über Gottes Willen. Auch dämonische Kräfte werden als positive Manifestationen der göttlichen Macht angesehen. 20 Die Haltung der Chaside Aschkenas gegenüber der Kommunikation mit und der Beschwörung von Dämonen mit Hilfe der geheimen Namen Gottes ist allerdings ambivalent. Die Frommen streben danach, mit Hilfe von Dämonologie und Magie ihr Verständnis vom Wirken und Wesen Gottes zu erweitern. Zugleich sind sie sich der Gefahren, die eine Beschäftigung mit der Sphäre des Übernatürlichen mit sich bringt, durchaus bewusst und üben daher, was die Verwendung der göttlichen Namen betrifft, größere Zurückhaltung als die zeitgenössischen Tosafisten. 21 Aus dem Umgang mit dämonischen Geschöpfen, so gefährlich er auch ist, und somit auch aus Erzählungen über solche Interaktionen kann ein frommer 17 Tamar Alexander-Frizer : The Pious Sinner. Ethics and Aesthetics in the Medieval Hasidic Narrative (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 5). Tübingen 1991, S. 19. 18 Vgl. Dan , Chibur, S. 136. 19 Vgl. Dan , Demonological Stories. 20 Vgl. Ephraim Kanarfogel : ‹ Peering through the Lattices. › Mystical, Magical, and Pietistic Dimensions in the Tosafist Period. Detroit 2000, S. 225. 21 Kanarfogel , Peering, S. 218 f. «The Pietists expressed a reticence in connection with the magical use of Shemot (despite their obvious familiarity with the magical techniques and their willingness to employ them under certain circumstances) that contemporary tosafists did not express. [. . .] Their intimate involvement with magic and demonology made the Pietists uniquely aware of the dangers inherent in these disciplines.» Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 64 Mensch etwas über Gott lernen, und zwar durchaus nicht nur ex negativo. Hierin bringen die Chaside Aschkenas den Dämonen größere Wertschätzung entgegen als die zeitgenössischen christlichen Kleriker. Inhaltliche und strukturelle Überschneidungen zwischen den jüdischen Geschichten der Chaside Aschkenas und den christlichen Feenerzählungen werden dadurch allerdings nicht ausgeschlossen. Jüdisch-christliche Literaturbeziehungen Dies gilt auch für die zweite mittelalterliche jüdische Dämonenhochzeitserzählung, die Geschichte eines armen Mannes. Sowohl diese als auch die Geschichte eines Amulettschreibers werden zu einer Zeit verschriftlicht, in der die Mahrtenehenerzählungen der Marie de France bereits eine oder zwei Generationen alt sind. Auch in die gelehrte klerikale Schriftkultur haben Geschichten über die Verbindung eines Mannes mit einer Dämonin durch Autoren wie Walter Map, Caesarius von Heisterbach und Gervasius von Tilbury bereits Eingang gefunden und wirken von dort aus zurück auf die höfische Literaturproduktion. Direkte intertextuelle Bezüge lassen sich, betrachtet man die beiden jüdischen Erzählungen genau, zu keinem der im christlichen Kulturkreis entstandenen und tradierten Texte ausmachen. Parallelen im Handlungsaufbau sind allerdings unübersehbar. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass der jüdische Erzähler auf ein Narrativ zurückgreift, das aus dem außereuropäischen Raum stammt und das sich unabhängig von seinem europäischen Gegenstück entwickelt hat. Nachweisen lässt sich ein solcher Prozess jedoch nicht. Da die Geschichte eines Amulettschreibers und die Geschichte eines armen Mannes die ältesten jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen sind, die wir kennen, und da sie im Westeuropa des 13. Jahrhunderts niedergeschrieben wurden, wo zu dieser Zeit das Narrativ der gestörten Mahrtenehe ein populäres Erzählmuster war, bietet es sich an, Parallelen und Ähnlichkeiten vor allem aus dieser unmittelbaren Nachbarschaft heraus zu erklären. Analoge Strukturen rühren vermutlich daher, dass besagtes Narrativ in der mündlichen Erzähltradition des zentral- und westeuropäischen Mittelalters so allgegenwärtig war, dass sowohl christliche als auch jüdische Autoren darauf zugreifen und diese Erzähltradition literarisch produktiv machen konnten. Auch die Themen, die in der christlichen und in der jüdischen Exempla- Literatur diskutiert werden, sind die gleichen. Dies ist der Hintergrund, vor dem Joseph Dan zwei Erzählungen Caesarius ’ von Heisterbach bzw. Jehuda he-Chasids, der beiden großen Sammler populärer Wundergeschichten, miteinander vergleicht. Die Vergleichbarkeit der Erzählungen überrasche nicht, so Dan , wenn man bedenke, dass beide Autoren zur gleichen Zeit und in der Textüberlieferung 65 gleichen Region auf die moralische Erziehung ihres Publikums hingewirkt hätten. 22 Es ist keinesfalls auszuschließen, dass die Verfasser der jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen auch mit schriftlich fixierten, aus höfischem oder klerikalem Umfeld stammenden Erzählungen von gestörter Mahrtenehe vertraut waren. Diese Annahme gründet sich auf die Tatsache, dass auch jüdische Literaturschaffende entweder direkten oder durch mündliche Überlieferung vermittelten Zugang zu Erzählstoffen und Narrativen hatten, die in der christlichen Literatur beliebt waren. An der christlichen Dichtkultur nahmen sie sowohl als Rezipienten als auch als Produzenten teil. 23 Israel Yuval hat am Beispiel der Konstantinischen Schenkung und der Gründungserzählungen von St. Silvester und Yavne gezeigt, wie sich Juden und Christen zuweilen der gleichen fiktionalen Modelle und Stoffe bedienen, um durch Abgrenzung von den jeweils Anderen eigene Ansprüche und Identitätskonzepte zu formulieren. 24 Das Aufnehmen, Adaptieren und Verbreiten nichtjüdischer Erzählstoffe auch jenseits der oralen Überlieferung war verbreitet genug, um von verschiedenen Autoren gerügt zu werden, beispielsweise ausgerechnet auch von Jehuda he-Chasid. 25 22 Dan , Five Versions, S. 102. 23 Vgl. Martin Przybilski : Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N. F. 61). Berlin, New York 2010, S. 271. In seiner Studie beobachtet und beschreibt Przybilski jüdische Einflüsse auf die christliche Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. 24 «The two sides to the Jewish-Christian confrontation were not engaged in a process of mutual denial or rejection of one another ’ s religious symbols; rather, each side adopted and reinterpreted part of the other ’ s repertoire. Exposure of this common language, with its manifold expressions, depth, and broad scope, demonstrates not only the central position of the Jew and Judaism in medieval Christianity, but also the centrality of Christianity in Jewish self-consciousness.» Israel J. Yuval : Jews and Christians in the Middle Ages. Shared Myths, Common Language, in: Demonizing the Other. Antisemitism, Racism, and Xenophobia. Hg. von Robert S. Wistrich (Studies in Antisemitism 4). Amsterdam 1999, S. 88 - 107, hier S. 104. 25 Dies tut der Gelehrte, obwohl er selbst sich häufig bei der Zusammenstellung seiner Exempel nichtjüdischer Erzählstoffe bedient. Vgl. Martin Przybilski : Ein antiarthurischer Artusroman. Invektiven gegen die höfische Literatur zwischen den Zeilen des מ ל ך א ר ט ו ש ( ‹ Melech Artus › ), in: ZfdA 131 (2002), S. 409 - 435, hier S. 424; Ivan G. Marcus : A Jewish-Christian Symbiosis: The Culture of Early Ashkenaz, in: Cultures of the Jews. A New History. Hg. von David Biale . New York 2002, S. 449 - 516, hier S. 486. Zur Kritik an der Verbreitung von Geschichten um Dietrich von Bern vgl. Wulf-Otto Dree ßß en : Hilde, Isolde, Helena. Zum literarischen Horizont deutscher Juden im 14./ 15. Jahrhundert, in: Jiddische Philologie. Festschrift für Erika Timm. Hg. von Walter Röll und Simon Neuberg . Tübingen Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 66 Höfische Erzählstoffe wurden nicht nur mündlich rezipiert, sondern auch literarisch verarbeitet. Dies zeigt die Existenz von Texten wie dem hebräischen Fragment eines Artusromans aus dem 13. Jahrhundert oder dem etwas jüngeren, in hebräischen Lettern geschriebenen Epos Dukus Horant, das auf den gleichen Stoffkreis rekurriert wie die mittelhochdeutsche Kudrun. 26 Wulf-Otto Dree ßß en spricht demgemäß von einer «enge[n] Verbindung jüdischer Literaturkreise mit der mittelhochdeutschen Unterhaltungsliteratur, deren intensive Nachwirkung aus flüchtiger oder sporadischer Bekanntschaft kaum zu erklären wäre«. 27 In welchem Ausmaß jüdische Autoren direkten Zugang auch zu lateinischen literarischen Texten hatten, ist ungewiss. Dass sie aber solche Erzählungen auf dem Umweg über die volkssprachliche Überlieferung kennen konnten, gilt wiederum als sehr wahrscheinlich. Zu Recht weist Tamar Alexander-Frizer auf die Anleihen hin, die die Chaside Aschkenas gerade im Bereich der Dämonenerzählungen bei nichtjüdischen 1999, S. 133 - 155, hier S. 152; zum Melekh Artus und zu dem altjiddischen Artusroman Widuwilt vgl. Robert G. Warnock : The Arthurian Tradition in Hebrew and Yiddish, in: King Arthur through the ages. Hg. von Valerie M. Lagorio und Mildred Leake Day . Bd. 1 (Garland Reference Library of the Humanities 1269). New York, London 1990, S. 189 - 208; Wulf-Otto Dree ßß en : Wigalois - Widuwilt. Wandlungen des Artusromans im Jiddischen, in: Westjiddisch: Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Hg. von Astrid Starck (Sprachlandschaft 11). Aarau, Frankfurt a. M., Salzburg 1994, S. 84 - 98; Achim Jaeger : Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen ‹ Widuwilt › ( ‹ Artushof › ) und zum ‹ Wigalois › des Wirnt von Gravenberc (Conditio Judaica 32). Tübingen 2000. Zum Einfluss der höfischen Liebesideologie auf die Schriften der Chaside Aschkenas vgl. Monford Harris : The Concept of Love in ‹ Sepher Hassidim › , in: JQR 50,1 (1959), S. 13 - 44. 26 Zur Problematik der sprachlichen und damit auch kulturellen Einordnung des Dukus Horant vgl. Jerold C. Frakes : The Politics of Interpretation. Alterity and Ideology in Old Yiddish Studies. Albany 1989; Fritz Peter Knapp : ‹ Dukus Horant › und die deutsche subliterarische Epik des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Aschkenas 14,1 (2004), S. 101 - 123; Gabriele L. Strauch : Dukus Horant: Wanderer zwischen zwei Welten (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 89). Amsterdam, Atlanta 1990; Karl Stackmann : ‹ Dukus Horant › - der Erstling jüdisch-deutscher Literatursymbiose, in: Juden in der deutschen Literatur: ein deutsch-israelisches Symposium. Hg. von Stéphane Moses und Albrecht Schöne (st 2063). Frankfurt a. M. 1986, S. 64 - 76; Edith Wenzel : Alt-Jiddisch oder Mittelhochdeutsch? , in: Aschkenas 14,1 (2004), S. 31 - 49, zum Dukus Horant besonders S. 43 ff.; Wulf-Otto Dree ßß en : Das was durch eine list getan. Zur Variante der ‹ gefährlichen Brautwerbung › im ‹ Dukus Horant › , in: ZfdPh 125 (2006), S. 47 - 60. 27 Dree ßß en , Hilde, S. 154. Textüberlieferung 67 Erzählstoffen machen. 28 Die Geschichte eines Amulettschreibers stellt möglicherweise für einen solchen Prozess ein Beispiel dar. Auch die stoffliche Nähe der Geschichte eines armen Mannes vor allem zu den lateinischen Exempla ist evident: Hier wie dort geht ein Mann, der als defizitär eingeführt wird, eine Beziehung mit einer Dämonin ein. Durch den Bruch einer von ihr aufgestellten Regel führt er eine Krise und, daraus folgend, die endgültige Trennung herbei. In der Geschichte eines Amulettschreibers tritt demgegenüber die Krise ein, ohne dass eine Regel gebrochen wird. In beiden Fällen wird, ähnlich wie in den klerikalen Exempla, deutlich gemacht, dass Beziehungen zu einer Dämonin gefährlich und keinesfalls erstrebenswert sind. Die Frage, wie genau sich die Erzähler der jüdischen Dämonengeschichten das auch in der umgebenden christlichen Mehrheitskultur zirkulierende Erzählmuster zueigen machen und welche Möglichkeiten sich daraus für spätere Verarbeitungen des Narrativs ergeben, ist Gegenstand des folgenden Kapitels. Zu diesem Zweck werden in chronologischer Reihenfolge zunächst die Geschichte eines Amulettschreibers und dann die Geschichte eines armen Mannes untersucht. 2.2 Abgewiesene Bedrohungen: Die ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › Die Geschichte eines Amulettschreibers beginnt damit, dass ein Mann, der regelmäßig Amulette herstellt, um damit Dämonen zu beschwören, im Wald beim Verrichten seiner Notdurft von einem solchen Dämon überrascht und entführt wird. Der Dämon willigt ein, dem Mann das Leben zu schenken, wenn dieser bereit ist, die Tochter des Dämons zur Frau zu nehmen. Der Protagonist tut dies und zeugt Kinder mit der Dämonin. Allerdings müssen diese halbdämonischen Kinder sterben, was damit begründet wird, dass die erste, menschliche Familie des Mannes sich um diesen sorgt. Daraufhin lässt der Dämon den Helden schwören, keine Amulette mehr zu schreiben und die Dämonenfrau mit in sein Haus in der Menschenwelt zu nehmen, wo ihr ein gesondertes Zimmer zugewiesen wird. Von nun an bleiben ihre halbdämonischen Kinder am Leben. 28 «[. . .] The demonology in the stories [der Chaside Aschkenas, A. L.] derives largely from the influence of the immediate German environment, rather than from any particular Judaic tradition. Entire stories were assimilated by the Pietists, as well as the superstitions of their Gentile neighbours. Moreover, the Pietistic tales included some that are traceable to the folk sources that nourished Catholic writers (e. g., Caesarius of Heisterbach).« Alexander-Frizer , Pious Sinner, S. 18 f. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 68 Lange Zeit später kündigt die Dämonin an, dass sie sterben müsse und bittet den Mann, nun ihre Schwester zu heiraten. Er lehnt ab, da dies so nicht abgesprochen gewesen sei. Die Dämonin belohnt die Verlässlichkeit des Helden beim Erfüllen des Handels sowie die Demut und Ehrerbietung, die seine menschliche Frau gezeigt hat, indem sie ihm einen Rat gibt: Nach ihrem Tod solle er zu einer bestimmten Insel gehen, wo die Kinder der Dämonin ihre Mutter beerdigen würden. Der Mann solle den Anschein erwecken, um die Frau zu trauern. Der Protagonist befolgt diesen Rat und die Söhne der Dämonin beschließen, ihn als Belohnung für seine Trauer reich zu machen und ihn und seine menschlichen Kinder vor anderen Dämonen zu schützen. Die Geschichte eines Amulettschreibers lässt sich hinsichtlich der räumlichen Bewegungen des Helden in drei Teile gliedern. Aus dieser Perspektive hält sich der Amulettschreiber ausschließlich in liminalen Bereichen auf: Aus der Grenzzone des Waldes, dessen Wildnis er betritt, indem er sich von dem von Menschenhand geschaffenen Weg entfernt, bringt er in Gestalt seiner zweiten Gattin ein dämonisches Wesen mit nach Hause. 29 Dieses hält sich fortan in einem abgetrennten Zimmer der Wohnung auf und transformiert damit diese selbst zu einem Zwischenraum menschlich-dämonischen Zusammenlebens. Der Abschied von der Dämonin vollzieht sich auf einer Insel, einem Grenzbereich von Wasser und Land. Den hiermit abgeschrittenen Räumen entsprechen die Handlungselemente des Narrativs der gestörten Mahrtenehe: Die Beziehung zu dem nichtmenschlichen Wesen wird im Wald aufgenommen, gelebt und beendet wird sie in dem zweigeteilten Haus der Menschen, der Abschied schließlich findet auf einer Insel statt. Sowohl der Aufbau der Beziehung als auch ihr Ende vollziehen sich somit in liminalen Räumen. Weder von der Herkunft des Protagonisten noch von seiner Rückkehr in eine nicht-liminale Menschenwelt wird ausdrücklich erzählt. Geht man allerdings davon aus, dass diese Menschenwelt als Hintergrundfolie, von der sich das Dämonenreich abhebt, stets implizit präsent ist, dann kann man die kurze Erzählung auch in zwei gleich umfangreiche Handlungsblöcke unterteilen: Im ersten Segment wird die Aufnahme und Gestaltung der Beziehung des menschlichen Helden mit der nichtmenschlichen Frau geschildert. Im zweiten Teil wird von den Umständen der Beendigung dieser Beziehung erzählt. In dieser kurzen Geschichte werden also die beiden letzten Konstituenten des Narrativs zusammengezogen. Krise und Auflösung fallen - 29 Vgl. dazu Trachtenbergs Feststellungen zum Wohnort der Dämonen: «Demons frequented uninhabited places, deserts and forests and fields, as well as unclean places.« Trachtenberg , Jewish Magic, S. 32. ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › 69 ähnlich wie im Ritter von Staufenberg - in eins, da nach der Todesankündigung eines der Partner keiner der Beteiligten eine Anstrengung unternimmt oder unternehmen kann, die Beziehung fortzusetzen. Es gibt Abmachungen und Regeln in der Geschichte eines Amulettschreibers, aber es gibt (anders als im Ritter von Staufenberg oder in den meisten anderen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe) kein Tabu, welches gebrochen wird; es findet keine Übertretung einer dämonischen Regel statt, die rückgängig gemacht oder auch nur gerächt werden könnte. Am Ende wird keine Krise in der Beziehung mit der nichtmenschlichen Frau behoben, sondern lediglich eine neue, sich ankündigende Krise in der Beziehung zu ihren Nachkommen verhindert. Einem zweigeteilten Aufbau der Geschichte entsprechen auch die räumlichen Bewegungen des Protagonisten, der sich in jedem der beiden Teile aus einer für Menschen bewohnbaren Umgebung heraus in einen Bereich begibt, in dem er der Macht der Dämonen besonders ausgesetzt ist, und daran anschließend wieder in seine Heimat zurückkehrt. Der Ausgangswie auch der Endpunkt der Handlung in der Menschenwelt werden nicht beschrieben. Dieser Raum ist einfach nur gesetzt als Ort, von dem aus der Held aufbricht und an den er am Ende zurückkehrt. Seiner Bewegung aus der Menschenwelt hinaus und seiner Rückkehr dorthin entsprechen seine Distanzierung von den Idealen der Gesellschaft und seine Reintegration. Die Situation am Ende ist nahezu die gleiche wie zu Beginn. In wenigen Sätzen beschreibt die Erzählung daher einen fast vollkommenen Kreis. Dem namenlosen Protagonisten ergeht es ähnlich wie Eadric Wild und Henno cum dentibus bei Walter Map bzw. bei Gervasius von Tilbury. Auch die Protagonisten der christlichen Exempla lassen sich mit einer nichtmenschlichen Frau ein und verlieren sie irgendwann wieder, ohne dass dies auf ihre weitere Zukunft nach Beendigung der Beziehung bedeutende Auswirkungen hätte. Ebenso wie die beiden Ritter kommt der jüdische Held mit dem Leben davon. Er gewinnt sogar noch Reichtum und den besonderen Schutz seiner halbdämonischen Kinder hinzu. Leichtsinnige Beschwörungen Ein Überleben und Gedeihen des Helden ist deshalb möglich, weil das Problem, das die Handlung in Gang bringt, als grundsätzlich lösbar geschildert wird. Der Protagonist selbst hat mit seinen Beschwörungen und dem Schreiben von Amuletten die Nähe der Dämonen und ihre Beherrschung gesucht. 30 Sein vordergründiges Defizit ist seine Unvorsichtigkeit. Durch seinen Leichtsinn 30 «Demonic magic normally involves a ritual process whereby demons are forced to obey the request of the operator after being summoned and bound, not strictly by the operator ’ s own powers, but by calling upon superior spiritual entities [. . .].» Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 70 gibt er den Dämonen die Gelegenheit, das Machtverhältnis umzukehren und den Grad der Nähe zwischen Menschen und Dämonen selbst zu bestimmen. Dennoch geht die Geschichte gut aus. Der Held macht einen Fehler, lernt aber offenbar daraus. Das zeigt sich daran, dass er im ersten Teil der Erzählung auf alle Forderungen der Dämonen bereitwillig eingeht und Gehorsam demonstriert. Im zweiten Teil werden von der Seite der Dämonen keine Befehle oder Forderungen mehr an ihn gerichtet. Lediglich eine Bitte wird nun noch ausgesprochen. Gegenüber dieser Bitte aber kann sich der Protagonist auf die Einzelheiten der zuvor getroffenen Abmachung berufen und die Erfüllung des Wunsches verweigern: Er sagte zu ihr: ‹ Wozu ich mich deinem Vater gegenüber verpflichtet habe, das habe ich erfüllt. Deine Schwester will ich nicht nehmen, denn ihr Vater hat das so nicht mit mir ausgemacht. › Sie sagte zu ihm: ‹ Weil du die Bedingung erfüllt hast, die mein Vater dir auferlegt hat, und weil deine Frau mir Ehre erwiesen und mir gegenüber Bescheidenheit gezeigt hat, wenn ich gekommen bin, warne ich dich [. . .]. › 31 Offenbar erwirbt der Held durch seine Demut und durch die Unterwürfigkeit seiner Frau das Recht, mit den Dämonen zunächst auf Augenhöhe zu verkehren und sie schließlich sogar zu überlisten. Die Unachtsamkeit und Arroganz, durch die er überhaupt erst in diese Situation gekommen ist, legt er ab. Inwiefern aber ist sein Verhalten, das gute wie das schlechte, als exemplarisch anzusehen? Verletzt der Protagonist zu Beginn eine gesellschaftliche Regel, deren Relevanz in dieser Erzählung bekräftigt werden soll? Dass es als heikel gilt, Amulette herzustellen, indem man sich der heiligen Namen Gottes bedient, um sich auf diese Weise dämonische Wesen dienstbar zu machen, ist aus einer knappen Bemerkung ersichtlich, die der Geschichte eines Amulettschreibers in der Handschrift unmittelbar vorausgeht. In wenigen Worten wird hier ein Szenario entworfen, in dem die dämonische Allianz nicht, wie in der Geschichte eines Amulettschreibers, von einem menschlichen Mann und einer Dämonin geschlossen wird, sondern von einer menschlichen Frau und einem Dämon: Einer pflegte Amulette zu schreiben, und der Dämon kam und schlief vor ihm mit seiner Frau. Der Mann sah es nicht, die Frau aber sah es. 32 Einleitung, in: Clare Fanger (Hg.): Conjuring Spirits. Texts and Traditions of Medieval Ritual Magic (Magic in History). Stroud 1998, S. vii-xviii, hier S. viii. 31 א מ ר ל ה מ ה ש ק ב ל ת י מ א ב י ך ק י י מ ת י ו א י נ י ר ו צ ה ל ק ח ת א ת א ח ו ת ך כ י א ב י ה ל א ע ש ה ע מ י ז ה ה ת נ א י א מ ר ה ל ו כ י ו ו ן ש ק י י מ ת ה ת נ א י ש ע ש ה א ב י ע מ ך ו א ש ת ך כ ב ד ה א ו ת י ו ע ש ת ה ל י צ נ י ע ו ת כ ש ה י י ת י ב א ה א נ ו כ י מ ז ה ר ו ת ב ך ] . . . [ . [S. 347]. 32 א ח ד ה י ה כ ו ת ב ק מ י ע ו ת ו ב א ה ש ד ו ש כ ב ע ם א ש ת ו ל פ נ י ו ו ה ו א ל א ר א ה א ל א ה א ש ה ה י ת ה ר ו א ה . Allg. zu einer ‹ Theorie des magischen Wortes › vgl. beispielsweise das Einleitungs- ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › 71 Mit wessen Frau der Dämon schläft, ob mit der Frau dieses Amulettschreibers oder mit seiner eigenen, ist grammatikalisch nicht eindeutig zu bestimmen. Anzunehmen ist aber, dass es um die menschliche Frau des genannten Mannes geht und dass dieser Mann dadurch betrogen wird, dass die Frau ohne sein Wissen mit einem anderen verkehrt, nämlich mit dem wahrscheinlich zuvor beschworenen Dämon. Wer Amulette schreibt, um Dämonen zu bezwingen, muss also damit rechnen, dass diese Dämonen sich rächen oder sich doch zumindest dem Beschwörer in ganz anderer Weise nähern, als er es vorgesehen hatte. Laut R. Itzchak Or Sarua ist Jehuda he-Chasid der Meinung, dass Dämonen an die Tora glauben und sogar die Entscheidungen der Weisen respektieren, dass sie aber unter Umständen den Menschen durchaus gefährlich werden können: When R. Judah was asked how, in light of this principle, shedim could engage in illicit sexual relations with certain women, he responded that shedim have an arrangement whereby their observance of the Torah is contingent on being treated properly by human beings. If someone harms (or bothers) them, however, they can, in turn, harm that person. 33 Der Beschwörer sollte sich also ganz genau überlegen, ob er sich wirklich mit den Dämonen einlassen will und wenn ja, auf welche Weise er dies tut. Grundsätzlich sind die Meinungen darüber, ob man sich solcher Praktiken überhaupt bedienen dürfe, geteilt. Einige Stellen im Sefer Chasidim, dem bedeutendsten ethischen Werk der Chaside Aschkenas, legen dem Rezipienten nahe, sich zu bestimmten Zwecken eher auf die Beschwörung von Engeln als auf die von Dämonen zu verlassen, und auch das nur, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, das angestrebte Ziel zu erreichen. Insgesamt wird dazu geraten, dass nur solche Personen sich mit Dämonenbeschwörungen abgeben sollen, die um die geeigneten Sicherheitsvorkehrungen wissen. Zudem solle die Beschwörung diskret gehandhabt werden. 34 Ein eindeutiges und von den Chaside Aschkenas allgemein anerkanntes Verbot, mit Hilfe des heiligen Gottesnamens Dämonen zu beschwören, existiert nicht. kapitel in Monika Schulz : Beschwörungen im Mittelalter. Einführung und Überblick (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). Heidelberg 2003. 33 Kanarfogel , Peering, S. 224 f. 34 An mancher Stelle des Sefer Chasidim finden sich allerdings auch deutlichere Worte der Ablehnung: «Evil spirits trouble only those who provoke them first, such as one who wrote, or whose forebears wrote amulets, or who dealt with invocations or spells, or who sought answers to his questions in dreams. Therefore one should not involve himself in such things, and he should not say, I will, for the sake of saving a life, traffic in oaths or amulets, for this is not wisdom, as [by doing so] he shortens his life and that of his seed.« Zitiert in: Yassif , Folktale, S. 356. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 72 In keiner der beiden Erzählungen jedenfalls, weder in der sehr kurzen noch in der längeren, werden die Taten des Helden oder ihre Konsequenzen vom Erzähler kommentiert und bewertet. 35 Sieht man sich allerdings genau an, wo und auf welche Weise in der Geschichte eines Amulettschreibers Spannungen ausgelöst und beigelegt werden, dann kann man Rückschlüsse darüber ziehen, worin die Konflikte bestehen, aus denen der Text seine Dynamik bezieht. Eine ungewollte, aber (fast) ungefährliche Allianz Eine wenn auch nicht öffentliche Kollision mit den Normen der umgebenden Gesellschaft bedeuten die Handlungen des Amulettschreibers zunächst insofern, als er dadurch in eine Situation gerät, die aus der Perspektive des Religionsgesetzes und des jüdischen Brauchtums im mittelalterlichen Aschkenas als äußerst problematisch erscheint. Mit zwei Frauen gleichzeitig zusammenzuleben ist nicht akzeptabel. Ob der Protagonist nun mit beiden zugleich förmlich verheiratet ist oder ob er neben seiner menschlichen Ehefrau noch eine dämonische Nebenfrau besitzt - dass dieser Zustand nicht bis zum Lebensende des Helden aufrecht erhalten wird, legt die Vermutung nahe, dass die Konstellation als zumindest instabil, wenn nicht sogar als komplett regelwidrig zu betrachten ist. 36 Die Geschichte eines Amulettschreibers enthält ein Merkmal jüdischer Dämonenhochzeitserzählungen, das auch für die meisten anderen konstitutiv ist und das sie zugleich grundlegend von vielen vormodernen christlichen Mahrtenehengeschichten unterscheidet: Der Held besitzt neben seiner rechtmäßigen Ehefrau in einem geschützten Raum abseits des alltäglichen Lebens eine zweite Frau, die von ihm, wie der Rezipient zu mutmaßen angehalten ist, 35 Die Beziehung einer menschlichen Frau mit einem Dämon wird in ein oder zwei knappen Sätzen abgehandelt. Die Beziehung eines menschlichen Mannes mit einer Dämonin hingegen bietet Stoff für eine kurze Geschichte. 36 Bei der Frage nach der Art der dämonischen Allianz kommt es darauf an, wie man den Vorschlag des Dämonenvaters versteht, wenn er sagt: Wenn du meine Tochter nimmst, werde ich dich nicht töten. Ist hier tatsächlich gemeint, dass der Amulettschreiber die Tochter zu seiner illegitimen Nebenfrau machen soll? Wahrscheinlich ist Joseph Dan Recht zu geben, wenn er vorschlägt, man müsse den Satz ergänzen zu: Wenn du meine Tochter zur Frau nimmst, werde ich dich nicht töten. Möglicherweise ist die in diesem Vorschlag enthaltene und an keiner anderen Stelle im Text aufgelöste Ambivalenz aber auch kein Zufall. Vgl. Dan , Five Versions, S. 103.Was die verschiedenen Möglichkeiten des Regelbruchs im Bereich der Institution Ehe angeht, vgl. ausführlicher Kap. 4 zu der jiddischen Geschichte aus Worms, wo diese Problematik eine bedeutendere Rolle spielt als in der Geschichte eines Amulettschreibers. ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › 73 vor allem die Erfüllung sexueller Wünsche erwartet und dabei nicht einmal das Bestehen einer zuvor geschlossenen, dem jüdischen Gesetz entsprechenden Ehe mit einer menschlichen Frau in Frage stellt. Dieses Phantasma, das mit traditionellen zeitgenössischen Vorstellungen von Ehe kaum vereinbar ist, wird einerseits dadurch entschärft, dass die Beziehung mit der Dämonin nicht nur als bedrohlich, sondern sogar als erzwungen und daher unerwünscht erscheint. Im Text wird sehr deutlich gemacht, dass der Held diese zweite Frau nur deshalb besitzt, weil er sich gegen die Verbindung nicht wehren kann. Andererseits zeichnet sich die Geschichte eines Amulettschreibers im Gegensatz zu anderen jüdischen Erzählungen über Dämonenhochzeiten dadurch aus, dass die möglicherweise reizvolle Vorstellung einer Zweitfrau zwar entschieden abgewiesen, gleichzeitig aber auch mit verschiedenen Mitteln legitimiert wird. Erstens nimmt die Dämonin die Rolle der Verderberin ausdrücklich nicht an. Wenn man die Worte der Sterbenden, dass der Mann sie nicht berühren solle, weniger als Wunsch nach Selbstschutz denn als Warnung deutet, durch die sie ihn ebenso vor Schaden behüten will wie durch ihren Rat, der ihn vor ihren gemeinsamen Kindern bewahrt, dann wird klar: Die Dämonin könnte den Helden durchaus verderben, wenn sie wollte. Sie will es aber nicht und tut stattdessen das Gegenteil. Am Ende entlässt sie ihn aus der dämonischen Allianz und verwandelt sich damit in seine Erlöserin. Die Neigung sämtlicher Figuren - dämonisch oder menschlich - , möglichen Schaden zu begrenzen und Konflikte entweder rasch beizulegen oder sie gar nicht erst entstehen zu lassen, ist charakteristisch für die gesamte Erzählung. Immer dann, wenn Spannungen aufkommen, finden die Beteiligten gemeinsam eine Möglichkeit, sie wieder abzubauen. Schon zu Beginn beispielsweise schließt der ungehaltene Dämon sogleich einen Handel mit dem Amulettschreiber ab, statt ihn zu töten. Das Abkommen zwischen den beiden wird sodann explizit solchermaßen modifiziert, dass sowohl die dämonische als auch die menschliche Frau mit den Folgen der Verbindung leben kann. Die Bitte, nach der Dämonin auch deren Schwester zur Frau zu nehmen, kann der Protagonist mühelos ausschlagen, ohne dadurch in Gefahr zu geraten. Schließlich bewegt er sich auch hier wie stets im Rahmen der Abmachung. Das Einverständnis zwischen Menschen und Dämonen bleibt gewahrt. Seinen eigenen dämonischen Kindern entkommt der Held zwar nur durch eine List. Auch für diese kurze Episode aber gilt: Das Mittel zur Rettung wird schon bereitgestellt, bevor die Bedrohung überhaupt aktuell wird. Auf diese Weise wird die Bedrohung nicht etwa verharmlost. Gerade dadurch, dass es immer wieder zu antagonistischen Situationen kommt, in denen der Mann zeigen muss, dass er weiß, wie er sich zu verhalten hat, wird die Instabilität seiner Lage im Bewusstsein des Adressaten der Erzählung präsent gehalten. Eine Pointe der Geschichte besteht Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 74 darin, dass Konflikte und Verderben überall lauern, dass aber der Protagonist mit ihnen umgehen und unbeschadet davonkommen kann. Zweitens wird die Beziehung zu der Dämonin dadurch von negativen Assoziationen bereinigt, dass der Held nicht von der Dämonin selbst in die Beziehung gezwungen wird, sondern von ihrem Vater. Die Figur der Dämonin wird dadurch vom Vorwurf der Verführung, ebenso aber auch von dem des Zwangs befreit. So wie die Funktion der potentiellen Verderber vom Vater, vor allem aber von den Söhnen der Dämonin erfüllt wird, so wird auch die Rolle des Verführers oder Überwältigers auf eine andere Figur, nämlich wiederum auf den Vater ausgelagert. Ein Moment der Verlockung scheint in der Bitte der Dämonin auf, ihre Schwester zur Frau zu nehmen. Anders als die erste dämonische Verbindung wäre diese Beziehung nicht erzwungen, sondern freiwillig - der Amulettschreiber wird mit der Möglichkeit einer Fortsetzung seiner polygamen Verhältnisse mit einer menschlichen Ehefrau und einer dämonischen Mätresse konfrontiert, nur um das Angebot auszuschlagen und die Verführung von sich zu weisen. Auch durch diese Einführung eines potentiell reizvollen Duplikats wird letztlich alles explizit oder implizit Negative von der Figur der Dämonin abgespalten und ferngehalten, die Figur dadurch in ihrer Gefährlichkeit depotenziert. 37 Dazu gehört auch drittens, dass die dämonische Allianz keineswegs auf Kosten der regulären Ehe des Helden erkauft wird. Die halbdämonischen Kinder können nur dann am Leben bleiben, wenn der menschlichen Familie des Mannes kein Schaden entsteht. Der Kompromiss, der darin besteht, dass beide Frauen mit ihren jeweiligen Kindern in gewissem Maß zu ihrem Recht kommen können, hat denn auch viele Tage lang ( י מ י ם ר ב י ם ) Bestand. 38 Die Übereinkunft wird, anders als beispielsweise in der Geschichte eines armen Mannes, in der Geschichte Hoscheas oder in der Geschichte eines Jerusalemers, nicht willentlich gebrochen. Die Beziehung zu der Dämonin wird nicht gewaltsam durch das Einwirken der Menschen beendet. Weder unternimmt der Protagonist von sich aus Bemühungen, sich von der Dämonin zu befreien, noch wird er von irgendwelchen Vertretern der menschlichen Gesellschaft dazu veranlasst - auch nicht von seiner ersten Ehefrau. 37 Zu diesem Phänomen im Kontext höfischer Erzählungen von gestörter Mahrtenehe vgl. Schulz , Spaltungsphantasmen. 38 [S. 347]. Ein ähnliches Konzept eines zeitlichen und räumlichen Nebeneinanders von menschlicher Ehe und dämonischer Affäre findet sich ein halbes Jahrtausend später in den Donauweibchen-Romanen, in denen mit Christian August Vulpius › Saal-Nixe. Eine Sage der Vorzeit (Leipzig 1795) die Tadition der romantischen Nymphendichtung begründet wird. Vgl. Kra ßß , Meerjungfrauen, Kap. IV. Donauweibchen: Nymphe und Verführerin I. ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › 75 Die Beziehung als Strafe und Prüfung Dass die dämonische Verbindung schließlich dennoch an ein Ende kommen muss, liegt daran, dass eine solche relativ harmonische Dreiecksbeziehung eine Utopie darstellt, die in der Welt nicht vollkommen zu realisieren und auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten ist. Eine gewisse Spannung zwischen den Protagonisten bleibt stets bestehen. Die Dämonin, die über einen mächtigen Vater verfügt, wird als bedrohlicher Eindringling präsentiert; gleichzeitig ist sie aber, da sie das ihr zugewiesene Zimmer offenbar nicht verlässt, während die menschliche Ehefrau es betreten darf, dieser in gewisser Weise unterlegen. Zudem wird das Unglück der menschlichen Ehefrau durch die Übersiedlung der Dämonin in das Haus der Menschenfamilie zwar gemindert, aber nicht beseitigt. Somit sind es ebenso das Unglück der Menschenfrau wie die Zwangslage - und vielleicht auch das erotische Glück - ihres Mannes, das die Entfernung der Dämonin früher oder später notwendig macht. Diese wird allerdings nicht vertrieben oder gar getötet, sondern stirbt irgendwann von selbst. Demgemäß ist sie offenbar kein feindlicher Fremdkörper, der mit Gewalt entfernt werden muss. Nicht die Dämonin sorgt dafür, dass der Held und seine Familie in eine instabile Situation geraten, sondern der Held selbst. Das unerwartete Eindringen der ungewöhnlichen Mitbewohnerin in das Leben des Mannes und ihr ebenso unvermitteltes Verschwinden stehen für die Zersetzung und Wiederherstellung einer Ordnung, die bereits vor der Begegnung mit der Dämonin gestört war. Die Dämonin ist das Symptom eines disharmonischen Verhältnisses zwischen Einzelperson und Welt. Sobald die Störung behoben ist, wird auch die Anwesenheit der Dämonin überflüssig. Die sexuelle Transgression mit der nichtmenschlichen Frau ist aus dieser Perspektive nicht etwa der Anlass für eine Bestrafung des Helden. Das Eingehen einer Beziehung, die er nicht kontrollieren kann, stellt selbst einen Teil der Bestrafung dar. Wenn aber nun in dieser Erzählung nicht in erster Linie die erotische Konstellation stigmatisiert wird, worin besteht dann die eigentliche Transgression? Eines der Ideale der Chaside Aschkenas besteht in äußerster Demut, die bis zu radikaler Selbsterniedrigung führen kann. 39 Der Amulettschreiber, der die heilige Sprache, vielleicht auch den heiligen Namen Gottes benutzt, um mit Hilfe von Amuletten Macht über die übernatürliche Welt zu erlangen, wird mit einer Situation konfrontiert, in der er genau das verliert, was zu erreichen er 39 «Stringency, self-denial, and even self-affliction were cultivated and valued by the German Pietists not as ends unto themselves, but as means of fulfilling the hidden Will of God, securing atonement, or achieving future rewards.« Kanarfogel , Peering, 34; vgl. auch Joseph Dan : Art. H. asidei Ashkenaz, in: EJ 8, S. 386 - 389, hier S. 388. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 76 angestrebt hatte: Kontrolle. Wenn Gott sich den Menschen durch übernatürliche Phänomene und Geschöpfe zeigt, dann deutet die Tatsache, dass die Dämonen genau den bezwingen, der eigentlich sie bezwingen wollte, darauf hin, dass dessen Wunsch nach Macht fehlgeleitet war. Der Held übersteht die gefährliche Situation, indem er Demut zeigt und sich denen unterwirft, durch die Gott seinen Willen offenbart. In der Geschichte eines Amulettschreibers nimmt der Erzähler eine kritische Perspektive auf die Praxis der Dämonenbeschwörung mit Hilfe von geschriebenen Amuletten ein. Obgleich Gott mit keinem Wort erwähnt wird, kann der Leser aus dem Verlauf der Erzählung und deren Zusammenhang mit ihrer weiteren textuellen Umgebung Schlüsse über das der Geschichte zugrunde liegende Gottesverständnis ziehen. Es entspricht nicht Gottes Willen, dass ein Mensch ihn benutzt, um die Schöpfung zu kontrollieren, statt im Gebet auf die Gnade des Herrn zu vertrauen und auf diese Weise ein demütiges und damit gottesfürchtiges Leben zu führen. Wie so häufig in den Erzählungen der Chaside Aschkenas wird der Held mit verschiedenen Grenzfällen verbotenen Begehrens und korrekten Verhaltens konfrontiert und muss sich gerade in einer solchen beinahe unauslotbaren Situation für das Richtige entscheiden. In diesem Fall bedeutet das, dass das Ideal der Demut schwerer wiegt als die erotischen Gefahren einer verbotenen Dreieckskonstellation. Diese erscheint als zu absolvierende Bußübung, was sie zum Teil von der ihr anhaftenden Anrüchigkeit befreit und dem Rezipienten verblüffende interpretatorische Freiräume eröffnet: Mit Dämoninnen zu schlafen und zusammenzuleben ist so lange kein Problem, wie es im richtigen Geist geschieht. Die Dämonin als zukunftssichernde Glücksfee Eine weitere Pointe der kurzen Erzählung besteht darin, dass sich die Geschichte nicht vollständig im Kreis bewegt. Das glückliche Ende drückt sich nämlich nicht dadurch aus, dass der Zustand vor der Aufnahme der dämonischen Allianz gänzlich wiederhergestellt ist. Das verderbliche Potential der Nachkommenschaft, die dieser Verbindung entstammt, wird nicht nur neutralisiert, sondern sogar ins Positive gewendet. Indem die Dämonin dafür sorgt, dass der Mann von ihren Kindern nicht nur verschont bleibt, sondern in Zukunft sogar auf ihre besondere Fürsorge zählen kann, revanchiert sie sich für sein Entgegenkommen, als er sie in sein Haus aufnahm. Er, der ihren Kindern das Leben ermöglicht hatte, wird mit der Gewissheit belohnt, dass nicht nur er selbst, sondern auch seine Kinder aus erster Ehe ihr Leben behalten dürfen. Zwar muss die Dämonin aus der Erzählung ausscheiden, während die Menschenfrau an der Seite ihres Mannes bleibt. Im Fall der Kinder aber gibt es kein Entweder-Oder. Sie alle dürfen am Leben bleiben. Aus einer ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › 77 solchen Sicht bleibt die prekäre Beziehung nicht folgenlos. Die Kinder, sowohl die halbdämonischen als auch die menschlichen, stehen für eine Zukunft, die über die Grenzen der Erzählung hinausreicht. Da das Glücksversprechen am Ende und nicht am Anfang der Beziehung steht und somit von deren Bestand entkoppelt ist, wird in dieser Hinsicht die Begegnung mit der Dämonin weitaus positiver perspektiviert als etwa Reymonds Hochzeit mit der Fee Melusine. In der Geschichte eines Amulettschreibers wird darauf verzichtet, von der Gründung einer Dynastie zu erzählen, an deren Wurzel oder Kopf eine nichtmenschliche Spitzenahnin steht wie etwa in der Melusine oder in Konrads Schwanritter. Dennoch: Die Verbindung mit der Dämonin, obwohl oberflächlich als Bestrafung, Zwang und Bedrohung geschildert, entfaltet über ihr Ende hinaus eine segensreiche Wirkung auf das Leben des Protagonisten wie auch seiner Nachkommen. Aus dieser Perspektive wirkt die Dämonin wie eine ‹ gute Fee › , mehr noch sogar als Melusine. In der Geschichte eines Amulettschreibers wird geschildert, dass alle Konflikte, die sich als Ursache, als Symptom oder als Folge einer dämonischen Allianz ergeben, grundsätzlich lösbar sind. Die Folgen einer solchen Allianz wirken sich auf lange Sicht sogar eher nützlich als schädlich aus. Die Erzählung gibt Aufschluss über das erwünschte Verhalten eines Menschen gegenüber Gott. Darin ähnelt sie den lateinischen Exempla. Allerdings wendet ihr Verfasser das Konzept der Mahrtenehe viel stärker ins Positive, als die christlichen Theologen das tun. Die Beziehung eines Mannes zu einer nichtmenschlichen Frau rückt dadurch in die Nähe der höfischen Erzählungen, die bei aller zuweilen direkt formulierten oder angedeuteten Skepsis neben dem ambivalenten Faszinationspotential auch das Erstrebenswerte der ungewöhnlichen Verbindungen betonen. In dieser kurzen Erzählung erscheinen viele Versatzstücke, die später, wenn jüdische Dämonenhochzeitserzählungen umfangreicher und detaillierter erzählt werden, wichtige Funktionen erhalten: Neben dem unvermeidlichen Ende der Beziehung zählt hierzu auch das Rivalitätsverhältnis der Dämonin zu einer zweiten Frau, die Rolle der Nachkommenschaft als zugleich beschützend und bedrohlich sowie die Rolle eines dämonischen Schwiegervaters als Partner und Feind. Was in diesem Text fehlt, was aber in einigen der jüngeren Geschichten hinzukommt, sind Elemente wie die Rolle der Eltern des Helden, seine Toragelehrsamkeit oder die Aktivitäten der menschlichen Ehefrau. Wenn die Geschichte eines Amulettschreibers eine Lösung für die Zwangslage des Mannes anbietet, dann ist es diese: Der Held ist selbst für seine Lage verantwortlich. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sein Verhalten für die Zukunft zu ändern. Wenn er sich demütig zeigt und auf diese Weise wahre Frömmigkeit beweist, dann stellt sich das rechte Verhältnis zwischen ihm, Gott und der Welt wieder her und sein symptomatisches Problem verschwindet. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 78 2.3 Unvereinbare Forderungen: Die ‹ Geschichte eines armen Mannes › In der Geschichte eines Amulettschreibers ergibt sich der grundlegende Konflikt aus dem Verhältnis eines Individuums zur Sphäre des Übernatürlichen, Transzendenten und damit letztlich Göttlichen. Das Problem des Protagonisten der Geschichte eines armen Mannes hingegen ist viel deutlicher nicht allein spiritueller Art. Er muss sich mit den durchaus sehr handfesten Anforderungen an einen mündigen, frommen Mann auseinandersetzen, die seine Angehörigen an ihn richten. In den ersten Sätzen wird der Leser mit dem fundamentalen Dilemma konfrontiert, in dem sich der Held befindet und das, als er sich daraus zu befreien versucht, die Handlung in Gang setzt: Es war einmal ein Mann, der sehr arm war. Er hatte viele Söhne und Töchter, und er besaß nichts auf der Welt, um sie zu ernähren. Er saß immerzu im Lehrhaus und lernte, und seinen Lebtag lang verließ er seine Stadt nie. 40 Auf das Drängen seiner Frau hin zieht der Mann irgendwann doch aus, um Unterstützung für seine hungernde Familie zu finden. Ein hässlicher Unbekannter führt ihn in eine fremde Stadt, deren offensichtlich fromme Einwohner ihn freundlich willkommen heißen. Als der Held beim gemeinsamen Gottesdienst in der Synagoge ein bestimmtes Gebet spricht und alle anderen anwesenden Personen für mehrere Stunden verschwinden, muss er erkennen, dass er in eine Gesellschaft von Dämonen gelangt ist. Diese zwingen ihn dazu, eine ihrer Frauen zu heiraten und Kinder mit ihr zu zeugen. Eines Tages bittet der Mann seine dämonische Ehefrau, seine menschliche Familie besuchen zu dürfen. Sie gestattet ihm dies unter der Bedingung, dass er nach einer einzigen Nacht zurückkehren solle, versorgt ihn mit Reichtümern und lässt ihn gehen. Zuhause angekommen, wird der Held von seiner ersten Ehefrau dazu erpresst, zu erzählen, was ihm widerfahren ist, woraufhin sie ihm rät, sich durch fortgesetztes Torastudium vor der Dämonin zu schützen. Ein besonders schöner dämonischer Gesandter, der den Protagonisten zur Rückkehr bewegen will, zieht unverrichteter Dinge wieder ab, worauf die Dämonin selbst in der Stadt der Menschen erscheint. Sie richtet eine Klage an das Oberhaupt der Talmudschule, da sie sich als rechtmäßige und um ihre Rechte betrogene Ehefrau des Protagonisten sieht. Der fromme Protagonist aber weist ihre Klage ab. Als er einwilligt, sie ein letztes Mal zu küssen, tötet ihn die Dämonin und geht davon. Die Erzählung endet mit den Worten: 40 מ ע ש ה ב א ד ם א ח ד ש ה י ה ע נ י מ א ד ו ה י ו ל ו ב נ י ם ו ב נ ו ת ה ר ב ה ו ל א ה י ה ל ו ש ו ם ד ב ר ב ע ו ל ם ל פ ר נ ס ם ו ה ו א ה י ה ת מ י ד י ו ש ב ו ל ו מ ד ב ב י ת ה מ ד ר ש ו מ י מ י ו ל א ה ל ך ח ו ץ ל ע י ר ו . [S. 349]. ‹ Geschichte eines armen Mannes › 79 Das Oberhaupt der Jeschiva trauerte sehr. Seine Frau und seine Kinder beweinten ihn, trösteten sich und besaßen großen Reichtum und Besitz. 41 Weder die menschliche Familie des Helden noch die Dämonin erleiden in dieser Erzählung Schaden - wenn man vom Tod des Protagonisten absieht. Dieser überlebt, anders als der Held der Geschichte eines Amulettschreibers, das Ende der Erzählung nicht. Orientiert man sich auch bei einer Gliederung der Geschichte eines armen Mannes an ihrer raumsemantischen Struktur, dann sind drei Handlungsblöcke zu erkennen. Anders als in der Geschichte eines Amulettschreibers bildet das Leben des Helden in der Menschenwelt nicht den Mittelteil der Erzählung. Die Geschichte eines armen Mannes beginnt in der Menschenwelt, und dort endet sie auch. Der mittlere Handlungsteil wird ganz in der Stadt der Dämonen verortet. Der Held wird im Verlauf der Erzählung einer Reihe von Konflikten ausgesetzt, die er nicht lösen kann. Man konfrontiert ihn mit Verführungen und Beeinflussungen, von denen er zwar immerhin denen widersteht, die ihn dazu veranlassen sollen, seine erste räumliche Bewegung zu verdoppeln und ins Dämonenreich zurückzukehren. Am Ende aber wird deutlich: Der Dämonin kann er nicht entkommen. Anders als der Amulettschreiber versucht der Protagonist der Geschichte eines armen Mannes dies zwar dennoch. Da aber die Dämonin stets am Ende aller Ketten von Begegnungen des Helden und damit am Endpunkt all seiner Handlungen und Bemühungen steht, ist es nur folgerichtig, dass sie schließlich auch seinem Leben ein Ende setzt. Im Gegensatz zur dämonischen Gefährtin des Amulettschreibers verwandelt sie sich am Schluss nicht in eine Erlöserin, die dem Helden einen Ausweg aus seiner schwierigen Lage weist, sondern in seine ultimative Verderberin. Aus welchem Konflikt aber ergibt sich das unausweichliche Schicksal des Protagonisten? Ein Held zwischen zwei Frauen Die kurze, in äußerst lakonischem Tonfall erzählte Geschichte enthält die gleichen Handlungsfixpunkte, die auch für christliche Erzählungen von gestörter Mahrtenehe typisch sind: der Aufbau einer Beziehung eines Mannes zu einer nichtmenschlichen Frau; das Missachten einer von ihr aufgestellten Regel; zuletzt die daraus resultierende Krise der Beziehung, die in diesem Fall, ähnlich wie im Ritter von Staufenberg und anders als in der Geschichte eines Amulettschreibers, nicht nur zu einer dauerhaften Trennung, sondern sogar zum Tod des Helden führt. 41 נ צ ט ע ר ר א ש י ש י ב ה מ א ד ו י ב כ ו א ו ת ו א ש ת ו ו ב נ י ו ו י נ ח מ ו מ מ נ ו ו ה י ה ל ה ם ע ו ש ר ג ד ו ל ו נ כ ס י ם . [S. 352]. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 80 Der Autor der Geschichte eines armen Mannes bedient sich des populären Erzählmusters, wie es in der christlichen Gesellschaft verbreitet ist. Er weicht dabei aber, ebenso wie der Verfasser der Geschichte eines Amulettschreibers, in bestimmten signifikanten Punkten vom höfischen und klerikalen Gebrauch des Motivs ab. Die Geschichte enthält auch sämtliche Elemente, die speziell in den jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit in irgendeiner Weise aufgenommen und variiert werden und die bereits in der Geschichte eines Amulettschreibers begegneten: die Unfreiwilligkeit der Beziehungsaufnahme, die bloße Andeutung erotischer Verführbarkeit des Helden sowie die anders als in den meisten christlichen Texten sehr aktive menschliche Nebenbuhlerin. Bereits aus der oben vorgeschlagenen Gliederung wird dieser letzte Unterschied zu vielen christlichen, aber auch jüdischen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe deutlich. Bei der gesellschaftlich anerkannten, menschlichen Ehefrau des Helden handelt es sich um eine Figur mit relativ großem Handlungsspielraum. Nicht nur ist ihre Verbindung mit dem Protagonisten die chronologisch ältere. Anders als die Menschenfrau in der Geschichte eines Amulettschreibers, und anders auch als die weiblichen Randfiguren der höfischen Mahrtenehengeschichten, die für gewöhnlich allein im Kontext der Krise auftreten, bestimmt die jüdische Menschenfrau zudem von Anfang an rege den Ereignisverlauf. Mit der Dämonin befindet sie sich in einem Rivalitätsverhältnis. Höfische und klerikale Erzählungen von gestörter Mahrtenehe handeln stets zu einem großen Teil von dem Antagonismus zwischen erlaubten, gesellschaftlich anerkannten Beziehungen einerseits und passionierten Verbindungen andererseits, die den sozialen Normen widersprechen oder sie zumindest in Frage stellen. Betrachtet man daher die jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen aus der Perspektive einer vergleichenden Literaturwissenschaft, dann liegt die Frage auf der Hand, ob dieses Thema auch im jüdischen Kontext eine Rolle spielt. Wer die Geschichte eines armen Mannes vor dem Hintergrund der Frage nach erlaubten und verbotenen Beziehungen und damit auch nach erlaubtem und verbotenem Begehren betrachtet, stellt allerdings rasch fest: Noch weniger als in der Geschichte eines Amulettschreibers wird erotisches Begehren hier als konstitutives Element der Handlung in den Vordergrund gestellt. Auch wenn man Begehren sehr allgemein als «erotisches Potential« versteht, «das nicht auf bestimmte sexuelle Manifestationsformen festgelegt ist« 42 und das daher in vielerlei Gestalt literarisch in Szene gesetzt werden kann, führt die Suche nach 42 Andreas Kra ßß : Der heteronormative Mythos. Homosexualität, Homophobie und homosoziales Begehren, in: Dimensionen der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit. Hg. von Mechthild Bereswill , Michael Meuser und Sylka ‹ Geschichte eines armen Mannes › 81 einem solchen erotischen Potential in der Geschichte eines armen Mannes zunächst ins Leere. Die handelnden Figuren selbst formulieren keine Wünsche und kein Verlangen. Sie erklären nicht, warum sie so handeln, wie sie es tun. Zudem gibt es keinen kommentierenden, wertenden oder urteilenden Erzählerkommentar, der dem Rezipienten in dieser Hinsicht weiterhilft. Angebote zu einer psychologisierenden Deutung der Figurenhandlungen werden im Text nicht gemacht. Nun ist die Analyse von Figuren- und Erzählerrede nicht die einzige Möglichkeit, der Haltung eines Textes gegenüber dem Gegensatz von normkonformem und von der Norm abweichendem Begehren auf die Spur zu kommen. Eine Analyse der Figurenkonstellation mag hier genauer Aufschluss geben. Tatsächlich enthält die Geschichte eines armen Mannes Elemente einer Begehrensstruktur, die ebenso auch in der Geschichte eines Amulettschreibers angelegt ist, die aber im jüdischen Kontext erst später, in den Erzählungen des 16. Jahrhunderts, zur vollen Entfaltung gelangt: die erotische Dreieckskonstellation eines Mannes zwischen zwei Frauen. Das Vorhandensein eines Begehrens, das seine Dynamik aus der Zirkulation zwischen diesen drei Personen bezieht, wird in der Geschichte eines armen Mannes nur angedeutet. Anders als der Amulettschreiber findet der Protagonist der Geschichte eines armen Mannes keine Möglichkeit, die Beziehungen zu den beiden Frauen miteinander in Einklang zu bringen. Ein Kompromiss ist ihm nicht möglich. Es wird nicht zwischen einer Ehefrau und einer - wenn auch vielleicht ungewollten - Geliebten unterschieden; die beiden Frauen handeln auf die gleiche Weise und fordern auch das Gleiche. In diesem Text wird keine Dichotomie von erlaubten, gesellschaftlich akzeptierten ehelichen Beziehungen sowie von passionierten, verbotenen und nicht-ehelichen Liebschaften aufgebaut. Der Held selbst bringt zwar genau dieses Argument der Unterschiedlichkeit der Frauen und damit auch der Beziehungen zu ihnen vor, als er sich von der Dämonin trennen will. Er hält ihr vor, dass ein Verhältnis mit ihr aufgrund ihrer Andersartigkeit nicht tolerierbar sei: ‹ Du bist nichts als eine Dämonin, der Herr schelte dich! Geh fort von mir, du hast kein Recht, bei uns zu sein. › 43 Allerdings hat die Dämonin, anders als die meisten Feen der volkssprachlichen Mahrtenehenerzählungen, die Möglichkeit, sich bei ihrer Forderung auf einen Rechtsakt zu berufen, der auf dem Gesetz Gottes basiert. Dieses wiederum gilt für alle Menschen als normativ verpflichtend. Der Rechtsakt stellt daher, Scholz (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 22). Münster 2007, S. 136 - 151, hier S. 140. 43 א י ן א ת כ י א ם ש י ד ה ו י ג ע ר י י ' ב ך ס ו ר י מ מ נ י כ י א י ן ל ך מ ש פ ט ל ה י ו ת ע מ נ ו . [S. 352]. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 82 obgleich er als Argument von einer Dämonin angeführt wird, eine Verbindlichkeit her, die die Menschen schwer ignorieren können. Auch die nichtmenschliche Frau ist mit dem Protagonisten verheiratet. In der Geschichte eines armen Mannes beansprucht die Dämonin bis zum Ende, das Gesetz auf ihrer Seite zu haben und fordert öffentlich, als rechtmäßige Ehefrau des Helden behandelt zu werden. In diesem Aspekt gleicht die Dämonin am ehesten der Protagonistin der deutschen und französischen Melusinenromane, die gleichfalls mit einem menschlichen Mann eine förmlich geschlossene Ehe eingeht - ohne dass allerdings dieser Mann bereits verheiratet ist. Andere Feen können einen Status als ordentlich angetraute Ehefrauen nicht für sich beanspruchen und werden als grundsätzlich unterschieden von den menschlichen Frauen betrachtet, die im Gegensatz zu ihnen einen solchen Status besitzen können. Im Partonopier Konrads von Würzburg beispielsweise gerät der Held in Konflikt mit seinen geistlichen und weltlichen Angehörigen, als man ihm die feenhafte Geliebte ausreden und ihn stattdessen mit einer adligen Verwandten verheiraten will. Auch im Ritter von Staufenberg werden Ehefrau und Geliebte deutlich in Opposition zueinander gesetzt, sowohl durch die Verwandten des Protagonisten, die in der Fee einen succubus vermuten, als auch durch die Fee selbst, die den Ritter warnt: ‹ nim wel du wilt, nur nit zer e. › (V. 389). 44 In der Geschichte eines armen Mannes hingegen ist der Held nicht zwischen einer Ehefrau und einer Geliebten, sondern zwischen zwei Ehefrauen hin- und hergerissen. Wenn aber auch nicht zwischen einer ehelichen und einer nichtehelichen Verbindung differenziert wird, so sind dennoch die Bindungen des Helden an die beiden Frauen von durchaus unterschiedlicher Qualität. Unterschieden wird nicht zwischen einer passionierten und einer normgerechten Beziehung, sondern zwischen einer, die auf einem affektiv geprägten und einer, die auf einem kontraktuell geregelten Fundament ruht. Diese beiden Unterscheidungen sind keineswegs austauschbar. Denn eine zumindest in Grundzügen affektive Bindung besteht nicht etwa zwischen dem Helden und seiner anderweltlichen Zweitfrau, sondern zwischen ihm und seiner ersten, menschlichen Ehefrau. Merkmale dafür sind Gesten der Intimität wie Umarmungen und Küsse, aber auch Zeichen der Trauer beim Abschied sowie nach dem Tod des Helden. Die Beziehung des Protagonisten zu der Dämonin hingegen erscheint vor allem als eine kontraktuell geregelte. Dies hat sie mit der in der Geschichte eines Amulettschreibers geschlossenen Allianz gemeinsam. Drei Mal spricht die nichtmenschliche Frau, und drei Mal handelt sie dabei entweder Abmachungen 44 Der Ritter von Staufenberg. Hg. von Eckhard Grunewald (ATB 88) . Tübingen 1979. ‹ Geschichte eines armen Mannes › 83 aus oder beruft sich auf sie. Bei der öffentlichen Artikulation ihrer Ansprüche verweist sie ganz explizit auf die Tora, aber auch auf die Schwüre des Mannes. Die Verbindung des Helden mit der Dämonin beruht auf bilateralen Absprachen und Vereinbarungen. Dies trifft zwar ebenso auf die christlichen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe zu. Auch diese werden schließlich dadurch konstituiert, dass die Fee ihrem Geliebten bestimmte Regeln und Beschränkungen auferlegt, denen dieser zunächst zustimmt. Dort allerdings macht der Vertrag nur einen - wenn auch wichtigen - Aspekt der Beziehung aus, wohingegen ihre affektive Dimension stärker betont wird. Auch die Erfüllung erotischer Wünsche spielt in den christlichen Texten eine ungleich wichtigere Rolle. 45 In dieser Hinsicht unterscheiden sich die höfischen Mahrtenehenerzählungen deutlich von den jüdischen Geschichten. Dass die sexuelle Beziehung mit der anderweltlichen Ehefrau beglückend sei, wird aus der Erzählung nicht ersichtlich. Die Krise, die in jeder Beziehung eines Menschen mit einem nichtmenschlichen Wesen früher oder später auftritt, resultiert für den Mann nicht daraus, dass er eine geliebte Frau verärgert. Stattdessen versucht er, einer grundsätzlich ungeliebten und auch sexuell nicht begehrten Frau zu entkommen. Die Geschichte eines armen Mannes, die die Hochzeit mit einer Dämonin als einen Akt darstellt, der in keiner Weise anzustreben ist, teilt in gewisser Weise die Perspektive der christlichen Kleriker. Sie setzt nur bei der Art der Dämonisierung der nichtmenschlichen Frau andere Akzente: Während die Helden bei Gervasius und Walter sich der erotischen Versuchung explizit freiwillig ausliefern, wird der Held der jüdischen Erzählung zu seiner zweiten Heirat gezwungen. In seiner Ablehnung einer solchen Beziehung verhält er sich also weitaus radikaler als die Helden der lateinischen Exempla, die erst nach der Vertreibung der Dämonin erkennen, mit welch teuflischer Macht sie sich da eingelassen haben. 45 Als beispielsweise der Ritter von Staufenberg gleich bei der ersten Begegnung mit der Fee im Gras vor der Burg mit ihr schlafen will, schickt sie ihn zunächst zur Messe, verspricht aber: ‹ Und gange denne alters ein / da heime in die kammer din: / werlich, da will ich by dir sin. / wenn du einest wu ̓ nschest nach mir, / so bin ich endelich by dir / und leiste, weß din herze gert › (V. 470 ff.). Im Lanval heißt es, dass die Fee der Aufforderung des jungen Ritters zum Liebesspiel sogleich nachgekommen sei: Quant la meschine oï parler / Celui ki tant la peot amer, / S ’ amur e sun cors li otreie (V. 131: Als das Mädchen ihn, der es so sehr zu lieben vermag, (so) sprechen hörte, gewährt es ihm seine Liebe und seinen Körper). Text und Übersetzung des Lanval finden sich in: Marie , Lais, S. 208 - 249. Ähnlich ergeht es Partonopier: [Er] wart mit ganzer krefte / ze naht erfüllet fröiden ie, / wan sîn frouwe danne gie / slâfen zuo dem süezen. / mit werken und mit grüezen, / mit rede und mit gebærde / wart von ir sîn beswærde / und al sîn trûren hin geleit. [. . .] si gab im alle wollust, / der lîp von lîbe wirt gewert (V. 2688 ff). Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 84 Dennoch birgt die Erzählung erotisches Potential. Zum Vorschein kommt dieses beispielsweise in dem Todeskuss, mit dem der Held ermordet wird. Daneben enthält die Erzählung drei erotisch konnotierte Szenen, von denen in zweien die Dämonin, in einer aber auch die Menschenfrau auftritt. Neben dem Kuss der Dämonin, mit dem sie den Mann tötet, wird von zwei Bettgesprächen berichtet, in denen jeweils entscheidende Impulse für den Fortgang der Handlung gegeben werden. Im ersten Fall ist es der Protagonist, der die Situation exklusiver Vertrautheit nutzt, um Urlaub von der Dämonin zu erbitten. Die dadurch gewonnene temporäre Autonomie verliert er jedoch sogleich wieder an seine menschliche Ehefrau, die ihn in dem zweiten Bettgespräch dazu bringt, ihr von seinen Erlebnissen zu erzählen und zu ihren Gunsten den Vertrag mit der Nebenbuhlerin zu brechen. Bedeutet die wiederholt demonstrierte Verführbarkeit des Helden, dass sein Sündenfall trotz aller Ablehnung der dämonischen Zweitfrau erotischer Natur ist? Ein Hinweis auf die Schlüssigkeit dieser Annahme besteht darin, dass er nach seiner Rückkehr in die Menschenstadt seine Erlebnisse bei den Dämonen hartnäckig verschweigt, obwohl ihm die Dämonin keineswegs ein Redeverbot auferlegt hat. Zudem geschieht schließlich das erneute Ablassen vom Studium ausgerechnet um eines Kusses willen. Anders als in den zeitgenössischen christlichen und den jüngeren jüdischen Erzählungen, die dem Narrativ der gestörten Mahrtenehe folgen, entwickeln sich dennoch Begehren und Konflikt nicht hauptsächlich aus der triangulären Konstellation der Figuren, aus ihrer Eifersucht und Konkurrenz um das Begehren des oder der anderen. Die beiden Frauen sind Rivalinnen, die mit dem gleichen Mann schlafen und ihn beide als Ehemann besitzen wollen. Um ihr Ziel zu erreichen, lässt sich die Dämonin auf einen Kompromiss ein, indem sie dem Mann erlaubt, seine Pflichten gegenüber seiner menschlichen Familie zu erfüllen. Die Menschenfrau wiederum zeigt sich zugänglich für einen anderen Mittelweg. Sie trägt dem Helden erneutes unausgesetztes Torastudium auf und ermöglicht es ihm dadurch, seinen religiösen Verpflichtungen nachzukommen. An den jeweiligen Verfahrensweisen der beiden Frauen erweisen sich die beiden unterschiedlichen Konflikte, die in der Geschichte eines armen Mannes für Spannungen sorgen. Erstens lässt er sich zum Objekt des Begehrens zweier rivalisierender Frauen machen und gerät dadurch in Gefahr, beide zu schädigen. Zweitens wird dadurch, dass er sich allzu leicht zum Objekt des Begehrens anderer machen lässt, sein eigener Subjektstatus als Begehrender wiederholt in Frage gestellt. Der Protagonist ordnet sein Begehren dem der Frauen unter. In seiner abwechselnden Unterwerfung unter die eine oder die andere diesseitige Autorität verliert er aus den Augen, wonach es ihn tatsächlich verlangt. Was den Helden interessiert, sind nicht der Genuss einer außerehelichen Liaison oder die Freuden einer Zweitehe. Und auch die Rückkehr zu seiner ersten Frau führt ‹ Geschichte eines armen Mannes › 85 ihn nur zeitweilig in den Schoß seiner Familie. Gleich darauf wendet er sich dem einen Gegenstand zu, den zu verlassen er zu Beginn überredet worden war: der Tora. Ein Held zwischen Ehe und Tora Das erotische Begehren, das sich aus der Position des Helden zwischen zwei Frauen entwickelt, bestimmt die Handlung der Geschichte eines armen Mannes nur oberflächlich. Das Thema, das in dieser Erzählung paradigmatisch wiederkehrend vorherrscht und das die Handlung ungleich stärker prägt als die Gefahren der Dämonenbeschwörung in der Geschichte eines Amulettschreibers, ist der Widerstreit zwischen den Freuden und Verpflichtungen des Ehelebens und denen des Torastudiums. Für beides bezieht ein Mann nach der Meinung der antiken Rabbinen seine Energie aus dem sogenannten ‹ bösen Trieb › . Erotisches Begehren und das Begehren religiöser Gelehrsamkeit speisen sich, wie Daniel Boyarin feststellt, aus derselben Quelle: «Sex and Torah, or marriage and the study house, are set up as equal but opposed alternatives in complementary distribution.« 46 Die konkurrierenden Zielpunkte des Begehrens können gegeneinander ausgespielt werden. Das Torastudium kann als Therapeutikum gegen diesseitige Lust eingesetzt und die Lust als Ablenkung von der eigentlich bedeutsamen vita contemplativa betrachtet werden. Genau dieser Konflikt um die Ausrichtung und den Einsatz des Triebes wird in der Geschichte eines armen Mannes thematisiert. Im ersten Teil der Erzählung, der vom Aufbau der Beziehung zu der Dämonin handelt, gibt der Held sein ausschließliches Torastudium zugunsten des Ehe- und Familienlebens auf. Bei diesem Prozess interagiert er hauptsächlich mit drei Personen: mit der Ehefrau, die ihm aufträgt, der ersten Person zu folgen, der er außerhalb der Stadt begegnet; daraufhin mit dieser Person; diese wiederum führt ihn geradewegs zu seiner dämonischen Ehefrau. Ähnlich verhält es sich im zweiten Teil der Erzählung, in dem sich der Held ebenfalls von seiner menschlichen Frau weg- und auf die Dämonin zubewegt. Hier wird schon deutlich: Es besteht eine direkte Verbindung zwischen der ersten und der zweiten Ehefrau. In einer Lesart, in der der fundamentale Konflikt weniger aus dem triangulären Begehren der drei Hauptfiguren als aus den widersprüchlichen Anforderungen von Ehe und Torastudium entsteht, erscheinen die menschliche und die dämonische Frau als zwei Manifestationen des Konzepts ‹ eheliche Verpflichtung › . Die Menschenfrau steht dabei für eine reale, mit alltäglichen Sorgen und Defiziten belastete Form der Ehe, die Dämonin für die 46 Daniel Boyarin : Carnal Israel. Reading Sex in Talmudic Culture (The New Historicism 25). Berkeley, Los Angeles, Oxford 1993, S. 149. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 86 Utopie einer ehelichen Verbindung, die keinen Mangel kennt, die aber eben nur in einer auch gefährlichen und für Menschen letztlich nicht belebbaren Anderwelt existieren kann. Am Ende verschmelzen die beiden Figuren, indem sich die Dämonin genau in das verwandelt, was zu Beginn die Ehefrau darstellte: eine Verführung, vom Torastudium abzulassen. Dass die Abkehr von der Tora negativ bewertet wird, lässt sich an der Begegnung mit dem Dämon im Wald ablesen, der als sehr schwarzer und furchtbar hässlicher Mensch ( ב ן א ד ם א ח ד ש ח ו ר מ א ד ו מ כ ו ע ר ב י ו ת ר ) beschrieben wird. 47 Die Frage, warum der Held ausgerechnet dem hässlichen Dämon folgt, dem schönen Dämon im zweiten Teil der Erzählung aber, der ihn abermals vom Torastudium weg und zu der Dämonin hinführen will, widersteht, birgt wenig Erkenntnispotential. Der Mann folgt dem hässlichen Dämon nicht deshalb, weil er hässlich ist. Vielmehr ist der hässliche Dämon deshalb hässlich, weil der Mann ihm folgt. Umgekehrt gilt dies auch für das Gegenstück des ersten Dämons, für den Dämon in Gestalt eines sehr schönen Menschen ( ש ד א ח ד ב ד מ ו ת א ד ם י פ ה מ א ד ), 48 der im zweiten Teil der Erzählung Einfluss auf den Helden zu nehmen versucht. Das schöne Äußere des Verführers ist ein Spiegelbild der Standhaftigkeit des Protagonisten, der auf das Angebot, die Tora aufzugeben, nicht eingeht. 49 Die Verführbarkeit des Mannes wird durch das Auftreten des hässlichen Dämons verurteilt. Sein späteres Beharren, die Tora nicht einmal für eine einzige Stunde zu vernachlässigen, wird mittels der schönen Gestalt des zweiten Dämons prämiert. Der Protagonist muss sich immer wieder zwischen Ehe und Tora entscheiden und entscheidet sich tatsächlich einmal gegen, einmal für das eine oder das andere. Erklärt man seinen Tod kausal als Folge seines vorherigen Handelns, dann ist das Ende als Strafe für seine Vernachlässigung der Tora anzusehen. Als Verführerin und Verderberin tritt nicht etwa die nichtmenschliche Frau allein, sondern ebenso die Ehefrau des armen Mannes auf. Was dem Helden zum Verhängnis wird, ist nicht eine einzelne verführerische Frau, sondern die Institution der Ehe. 47 [S. 349]. 48 [S. 351]. 49 Die Attraktivität der Dämonin, die ebenfalls in Gestalt einer schönen Frau ( ב ד מ ו ת א ש ה י פ ה ) in der Menschenwelt auftritt, folgt demgegenüber einem anderen Paradigma. In ihrem Fall ist die Schönheit kein symbolischer Verweis auf die Disposition des Helden, sondern konkreter Ausdruck ihres Verführungspotentials. Das jeweilige Aussehen der männlichen Dämonen verweist auf die Haltung des Protagonisten; die Schönheit der Dämonin verweist auf sich selbst. Die Tatsache, dass sie den anfänglichen Widerstand des Helden schließlich brechen und ihn zu einem letzten Kuss verleiten kann, zeigt, dass die Rückkehr zur Tora nur eine temporäre war und dass der Mann letztlich nicht in der Lage ist, seinen ‹ bösen Trieb › konsequent statt in den Dienst der betörenden Frau in den der religiösen Studien zu stellen. ‹ Geschichte eines armen Mannes › 87 Lässt sich aus der Geschichte eines armen Mannes also eine eindeutige Botschaft ablesen, etwa: Ein Mann soll seinen ‹ bösen Trieb › ausschließlich auf das Torastudium verwenden und sich nicht durch Frauen welcher Art auch immer ablenken lassen? So einfach ist die Angelegenheit in dieser Erzählung nicht. Es ist ja, um vorerst nur ein Beispiel für die Durchbrechung der simplen Opposition Ehe - Tora zu nennen, die menschliche Ehefrau, die den Mann nicht nur dazu bringt, von der Tora abzulassen, sondern die ihm auch den Rat gibt, zum Studium zurückzukehren. Ehe und Torastudium sind also in diesem Text unter bestimmten Umständen keine einander ausschließenden Kategorien. Es geht darum, beide auf sinnvolle Weise miteinander zu verbinden. Das anfängliche extrinsische Defizit des Helden, seine materielle Armut, resultiert daraus, dass er sich mit zwei Anforderungen konfrontiert sieht, deren Erfüllung das jüdische Gesetz beide als bindend betrachtet: Ein Mann soll sich zum einen mit der Tora, das heißt mit den religiösen Schriften im weiteren Sinn, beschäftigen und seine Gelehrsamkeit auf diesem Gebiet immer stärker vertiefen. Zum anderen aber ist es auch seine Pflicht, eine Ehe einzugehen, sich auf diese Weise vor sündigem Tun und Denken zu schützen und außerdem Nachkommen zu zeugen und zu ernähren. Die Befürchtung, dass diesem doppelten Anspruch an einen erwachsenen, männlichen Juden in manchen Fällen kaum nachzukommen ist, wird bereits im Talmud formuliert. R. Johanan jedenfalls erwidert auf die Aussage, ein Mann solle zuerst eine Frau nehmen und sich dann dem Studium der religiösen Schriften widmen, verblüfft genug: Mit einem Mühlstein am Hals könne man doch wohl kaum die Tora studieren. 50 Die Schwierigkeiten des Helden ergeben sich aus dem Anspruch an ein gottgefälliges Leben, sowohl geistliche als auch weltliche Güter zu schätzen, zu mehren und so einzusetzen, dass der Dienst an Gott in der Welt verwirklicht werden kann. Es gelingt dem frommen Protagonisten der Geschichte eines armen Mannes aber nicht, seine beiden Pflichten, nämlich das Torastudium sowie das eheliche Zeugen und Erhalten von Nachkommen, miteinander zu vereinen. Er befindet sich in einer systeminhärenten Zwickmühle, aus der er sich aus eigener Kraft nicht befreien kann. Nach christlicher Lehre kommt ein Mensch dem Ideal transzendenten Heils und größtmöglicher Nähe zu Gott dann am nächsten, wenn er sich von der Welt und ihren Anforderungen entfernt. Dies wird deutlich an den spätantiken und mittelalterlichen Heiligenerzählungen. Christliche Heilige zeichnen sich zumeist dadurch aus, dass sie sich aus verwandtschaftlichen und ehelichen Bindungen lösen, gemäß dem Christuswort im Lukasevangelium: 50 Vgl. bKidduschin 29b. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 88 Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein (Lk 14,26). 51 Die christliche klerikale Kultur des Mittelalters knüpft bei der Vorstellung, dass der Gläubige in seinem Handeln alles Irdische transzendieren müsse, an diese Haltung an. Die Forderung, Verwandte und Ehepartner zugunsten einer vollkommenen Christusnachfolge zu vernachlässigen, wird im Rahmen der klerikalen und monastischen Reformbestrebungen des 11. und 12. Jahrhunderts immer wieder zitiert. Sie werden zum Anhaltspunkt, sich von weltlichem Sippendenken zu emanzipieren, Verwandtschaft ‹ als Hindernis der Erneuerung › zu begreifen, Verwandtschaftspatronage als Krankheits- und Krisensymptom zu kennzeichnen. 52 Das Konzept der Fortpflanzungsfamilie wird als zugleich notwendig und defizitär betrachtet. Anders als innerhalb des klerikalen Diskurses geht man mit diesem Konflikt in der höfischen Literatur um: Hier werden die entstehenden Spannungen durch Techniken der Hybridisierung verschiedener Erzählmuster weniger überspielt als vielmehr entfaltet, werden eine duale und eine graduale Sicht miteinander verbunden. 53 Der Spruchdichter Freidank fasst die Ansicht, dass jeder Mensch den Anforderungen sowohl der Transzendenz als auch der Immanenz, Gottes und der Welt gerecht werden müsse, in die Worte: Swer got und die werlt kan / behalten, derst ein sælic man. 54 Eine vergleichbare Auffassung scheint sich zunächst auch in der Geschichte eines armen Mannes abzubilden. Das jüdische Ideal eines frommen Lebens 51 Zur Lösung der Protagonisten von Heiligenlegenden aus ihrem verwandtschaftlichen Umfeld vgl. beispielsweise Peter Strohschneider : Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‹ Alexius › , in: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Hg. von Gert Melville und Hans Vorländer . Köln 2002, S. 109 - 147; Astrid Lembke : Erzählte Heiligkeit. St. Georg in mittelalterlicher Dichtung (Reihe Hochschulschriften 23). Berlin 2008. 52 Kiening , Unheilige Familien, S. 19. Kiening zitiert Klaus Schreiner : Consanguinitas. ‹ Verwandtschaft › als Strukturprinzip religiöser Gemeinschafts- und Verfassungsbildung in Kirche und Mönchtum des Mittelalters, in: Beiträge zu Geschichte und Struktur der mittelalterlichen Germania sacra. Hg. von Irene Crusius (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 17). Göttingen 1989, S. 176 - 305, hier S. 203. 53 Vgl. Kiening , Unheilige Familien, S. 29. 54 Dieser Vers findet sich in Freidanks Bescheidenheit (von der werlde) 31,18 f. Siehe: Freidanks Bescheidenheit. Mittelhochdeutsch/ neuhochdeutsch. Hg. von Wolfgang Spiewok (WODAN 61). Greifswald 1996, S. 26. ‹ Geschichte eines armen Mannes › 89 sieht vor, dass es in ihm keine Unterscheidung einer geistlichen von einer weltlichen Sphäre gibt: Die Begriffe säkular und religiös sind auf das nachantike vormoderne Judentum nicht anwendbar. Ruth Berger zufolge ist das Alltagsleben nach jüdischer Lehre «von Religiosität derart durchdrungen, dass fast jede Handlung religiöse Dimensionen hat [. . .] oder sogar ganz in einen religiösen Kontext integriert erscheint«. 55 Wahre Frömmigkeit bedeutet im jüdischen Kontext des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, «die rein weltlichen Aspekte des Lebens so weit wie möglich zurückzudrängen bzw. sie in den religiösen Bereich zu überführen.« 56 Der Dienst an Gott wird in der Welt geleistet, Gehorsam gegenüber seinen Geboten zeigt sich in ihrer Anwendung im alltäglichen Leben. Wahre Frömmigkeit manifestiert sich nicht in der Abwendung von der Welt, sondern im gottgefälligen Umgang mit ihr. In einem Leben, das sich an den Gesetzen der Tora orientiert, wird grundsätzlich jede andernfalls profane Handlung geheiligt. Der Ort nun, an dem weltliche und geistliche Werte und Güter exemplarisch miteinander vermittelt werden können und müssen, ist die von Gott gebotene Ehe. Heirat und Prokreation haben, solange sie im Rahmen des Gesetzes vollzogen werden, an dessen Heiligkeit teil. 57 Um sich in diesen Bereichen betätigen zu können, bedarf es allerdings materieller Grundlagen. Dieser Umstand kann wiederum dafür verantwortlich gemacht werden, dass der Gläubige seine spirituellen Verpflichtungen vernachlässigt. Konflikte bleiben daher, wie oben erläutert, nicht aus. Das Thema beschäftigt bereits die antiken Rabbinen: Like the Stoics, the rabbis embraced the virtue of study as equal to and, in some cases, greater than procreation. The same ambiguous and dialectical passion was thought to drive both. The rabbis were not prepared to embrace celibacy as did certain pagans and Christians, but [. . .] neither could they easily resolve the tensions between these conflicting values. 58 Gerade die Befürchtung, dass die Sorge um den Haushalt den Gläubigen davon abhalten könnte, sich intensiv mit der Tora zu beschäftigen, bringt im aschkenasischen Mittelalter - zumindest theoretisch - Kompromisse hervor, die es erlauben sollen, beides zu leisten. 59 Möglicherweise dem Modell babylo- 55 Berger , Sexualität, S. 149. 56 Berger , Sexualität, S. 150. 57 «Aus der Sicht der Moralisten ist die Ehe selbstverständlich eine religiöse Institution.« Berger , Sexualität, S. 150. 58 David Biale : Eros and the Jews. From Biblical Israel to Contemporary America. Berkeley, Los Angeles, London 1997, S. 58 f. 59 Zur spezifischen Situation jüdischer Gelehrter, die sich daraus ergibt, dass im mittelalterlichen Aschkenas keine «spezialisierte[n], wohldotierte[n] und stabile[n] Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 90 nischer Gelehrsamkeit folgend, entsteht im Frankreich des 13. Jahrhunderts, also zu der Zeit, aus der auch die Geschichte eines armen Mannes stammt, ein Text mit dem Titel Chuke ha-Tora ( ‹ Gesetze der Tora › / ח ו ק י ה ת ו ר ה ). Darin wird empfohlen, Lernstätten einzurichten, an denen Gelehrte die Woche verbringen. Nur am Wochenende kehren sie nach Hause zu ihren Ehefrauen und anderen Angehörigen zurück, so dass sie die Möglichkeit erhalten, Worte der Tora in Reinheit zu sprechen ( ל ד ב ר ד ב ר י ת ו ר ה ב ט ה ר ה ). 60 Dieses Ideal einer zumindest semi-monastischen Lebensweise besitzt Parallelen zur christlich-klerikalen Vorstellungswelt, in der der Rückzug von der Welt zugunsten einer geistlichen Lebensform favorisiert wird. In den Gesetzen der Tora zeichnet sich ein Konzept von einer auch räumlichen Trennung der weltlichen von der geistlichen Sphäre ab, durch die zwar der weltliche Bereich nicht gänzlich profaniert wird, der geistliche jedoch einen stärkeren Schwerpunkt erhält und in seinen weltlichen Anteilen reduziert wird. Ein Modell der Lebensführung, wie es in den Gesetzen der Tora vorgeschlagen wird, steht dem Protagonisten der Geschichte eines armen Mannes nicht zur Verfügung. Wie auf jeden jüdischen Mann, der das Gebot der Eheschließung und Fortpflanzung erfüllt, wirken zwei Kräfte auf ihn ein, die Institutionen zur Absicherung des Geisteslebens« existieren, siehe die vergleichende Studie von Gadi Algazi : Habitus, familia und forma vitae. Die Lebensweisen mittelalterlicher Gelehrter in muslimischen, jüdischen und christlichen Gemeinden - vergleichend betrachtet, in: Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Hg. von Frank Rexroth (Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte: Vorträge und Forschungen 73). Ostfildern 2010, S. 185 - 217, besonders S. 208 ff. 60 ו י ע מ ד ו ש ם כ ל י מ ו ת ה ש ב ו ע , ו ב ע ר ב ש ב ת י ח ז ר ו ל ב י ת ם ו ש מ ח י ם ע ם נ ש ו ת י ה ם ו א נ ש י ב י ת ם , ו ב מ ו צ א י ש ב ת ח ו ז ר י ן ב ב ת י ה פ ר ו ש י ן . Mekorot le-toldhot ha-Hinukh be-Yisrael, S. 207. Vgl. Biale , Eros, S. 81; Für Paruschim ( פ ר ו ש י ם ), für besonders lernwillige Studenten, gilt: «He would [. . .] move to a special building set aside specifically for such ‹ dedicated students › , where he would be supported by his father or by the community, and would devote himself to his study with such ardor and dedication that he would very rarely step out of that building.» Irving A. Agus . The Heroic Age of Franco- German Jewry. The Jews of Germany and France of the Tenth and Eleventh Centuries, the Pioneers and Builders of Town-Life, Town-Government and Institutions. New York 1969, S. 321. Zu vergleichbaren Empfehlungen im zeitgenössischen Sefer Chasidim, Schüler von ihren Familien zu trennen, damit sie sich ganz auf das Torastudium konzentrieren können, vgl. Ephraim Kanarfogel : Jewish Education and Society in the High Middle Ages. Detroit 1992, S. 104 f. Kanarfogel weist auch auf die Nähe zu zeitgenössischen monastischen Praktiken hin: «It is possible that SHH [die Gesetze der Tora, A. L.] represents an attempt to recast the discipline and devotion of monastic education, which was certainly known to, and perhaps admired by, Jews, in a form compatible with Jewish practices and values.« Kanarfogel , Jewish Education, S. 105. ‹ Geschichte eines armen Mannes › 91 sich in seinem Lebensentwurf gegenseitig ausschließen: Neben den geistlichen müssen auch die weltlichen Fundamente des Lebens gesichert sein. Durch seine ausschließliche Ausrichtung auf einen von weltlichen Verpflichtungen freigehaltenen spirituellen Bereich gerät der Held in Konflikt mit seiner Ehefrau, die auf die Erfüllung weltlicher Obliegenheiten drängt. Um Torastudium und Broterwerb miteinander in Einklang bringen zu können, ist er gezwungen, in Aktion zu treten. Dazu wiederum ist ein Suspendieren sowohl des Torastudiums als auch des Familienlebens notwendig. Der Held, der sich aus der Stadt hinaus und in die Wildnis begibt, bewegt sich auf dem Weg zwischen den beiden Städten in einem liminalen Raum. 61 Losgelöst von allem, was von ihm gefordert wird und was er doch nicht erfüllen kann, tritt er die Reise in ein neues Leben an, in dem ihm auf beinahe märchenhafte Weise alles gewährt wird, was er sich nur wünschen kann. In der Dämonenstadt hört er von jeder Seite und an jeder Ecke, dass man die Tora studierte ( ו ש מ ע מ כ ל צ ד ו מ כ ל פ י נ ה ש ה י ו ל ו מ ד י ן ת ו ר ה ). 62 Von einem fortgesetzten Torastudium des Helden ist mit seinem Eintritt ins Dämonenreich zwar nicht mehr die Rede. Es wird jedoch diesbezüglich im Text auch kein Unbehagen artikuliert. Neben einer neuen, gottesfürchtigen Gemeinde erhält der Protagonist auch eine neue Frau und neue Kinder und wird mit Reichtümern überhäuft. Der grundlegende Mangel, den der Held in seinem früheren Leben erfahren hatte, ist nun vollständig beseitigt, der Konflikt zwischen Ehe und Torastudium ausgesetzt. Damit ist allerdings erst der Mittelpunkt der Handlung erreicht. Im Folgenden wird deutlich, dass das Idyll im Dämonenland für den Protagonisten nur eine vorübergehende Atempause darstellt. Dass es außerdem niemals vollständig genug war, um die Erzählung hier enden zu lassen, darauf deutet dreierlei hin: Erstens sind die Dämonen zwar fromm und gottesfürchtig, sie studieren die Tora und besitzen eine Synagoge mit einem Vorsänger, wo sie sich zum gemeinsamen Gottesdienst treffen. Allerdings besitzen sie eine Art liturgischer Schwachstelle: Ein bestimmtes Gebet, das Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich ( ו י ה י נ ו ע ם ), können sie weder aussprechen noch anhören. 63 Zweitens verfügt über all den Reichtum, den die Dämonen dem 61 Dem jüdischen Volksglauben zufolge halten sich Dämonen vorzugsweise an von Menschen unbewohnten Orten auf. Reisen, die durch solche Gegenden führen, gelten als besonders riskant: «Man was in constant peril. If he dared to promenade alone he took his life in his hands. But the risk was greater outside the bounds of a settled community, and the requirement to accompany a traveller part of the way on his journey was explained on this score.» Trachtenberg , Jewish Magic, S. 45. 62 [S. 350]. 63 Der Abschnitt wird am Ausgang des Schabbats in der Synagoge gesprochen. Der letzte Satz des Psalms 90 (Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich / und fördere das Werk unsrer Hände bei uns. / Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern! Ps Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 92 Mann versprechen, seine dämonische Ehefrau. Und seine Bitte schließlich, nach Hause gehen zu dürfen, schlagen die Dämonen dem Helden erbarmungslos ab und ignorieren seine Wünsche: ‹ Nein. Du wirst bei uns bleiben und wohnen. Du wirst dich mit einer Frau verloben, und du wirst hier bei uns Söhne und Töchter haben. [. . .]Er sagte zu ihnen: ‹ Lasst mich in Ruhe! Ich habe eine Frau und Kinder! › Sie sagten zu ihm: ‹ Na und? › Sie beharrten und gaben ihm eine Frau gegen seinen Willen. 64 Drittens bedeuten daher die zweite Familie und die Ehe mit der Dämonin für den Helden deshalb kein Glück, weil sie ihm aufgezwungen werden, ohne dass er sich dagegen wehren kann. Das harmonische Dasein im Reich der Dämonen hat deutliche Schattenseiten. Auch diese Utopie, wenn es denn eine ist, muss früher oder später enden. Ebenso wie in den meisten christlichen Mahrtenehenerzählungen wird auch in der Geschichte eines armen Mannes der Protagonist von einer dritten Partei dazu veranlasst, die von der übernatürlichen Partnerin aufgestellte Regel zu brechen und dadurch die dämonische Verbindung zu beenden. Geschildert wird hier, dass ein bedingungsloses, umfassendes Glück, wie es die nur in einer nichtmenschlichen Wirklichkeit mögliche Vereinigung von Torastudium, Ehe 90,17), vor allem aber der danach zu sprechende Psalm 91, in dem sich der Gläubige dem Schutz und der Fürsorge Gottes anbefiehlt, soll dazu dienen, den Segen des Schabbats zu erhalten. «Solchermaßen wird dieser Psalm zum ‹ Segenshymnus › , indem er den göttlichen Segen und Schutz in allen äußeren Gefahren und Nöten, die Leib und Leben bedrohen, verheißt.« Elie Munk : Die Welt der Gebete. Kommentar zu den Werktags-, Sabbat-, u. Festtagsgebeten nebst Übersetzung. Bd. 2. Frankfurt 3 1938, S. 69; Ismar Elbogen : Jewish Liturgy. A Comprehensive History. Philadelphia, Jerusalem 1993, S. 102. Dass die Dämonen den Psalm 91, der im Talmud ש י ר ש ל פ ג ע י ם genannt wird, nicht anhören können, erscheint logisch - das Gebet schützt den Protagonisten auch vor Dämonen. Vgl. Ismar Elbogen : Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung. Hildesheim, Zürich, New York 1995 (2. Nachdr. der 3., verb. Aufl., Frankfurt/ M. 1931), S. 121. Die Dämonen reihen sich außerdem in die Menge jener Wesen ein, die laut Trachtenberg durch die Beschäftigung mit den heiligen Schriften auf Distanz gehalten werden: «One of the chief features of the religious life is a scholarly regimen. Study therefore was another form of protection. [. . .] It was this belief in the security of the scholar which gave rise to the notion that the demons accept the challenge and are ever on the alert to distract his attention from his studies and thus pierce his guard.« Trachtenberg , Jewish Magic, S. 155. Zur Schutzfunktion des Schma vgl. Kapitel 5.5. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird deutlich, dass die Dämonen, obgleich sie als gläubig und gottesfürchtig vorgestellt werden, dennoch in einer gewissen Opposition zur Tora stehen. 64 ל א כ י ע מ נ ו ת ה י ה ו א ת נ ו ת ל י ן ו א ש ה ת א ר ס ו י ה י ו ל ך ב נ י ם ו ב נ ו ת ] . . . [ א מ ר ל ה ם ה נ י ח ו נ י כ י י ש ל י א ש ה ו ב נ י ם א מ ר ו ל ו ו מ ה ב כ ך ע מ ד ו ו נ ת נ ו ל ו א ש ה ב ע ל כ ר ח ו . [S. 350]. ‹ Geschichte eines armen Mannes › 93 und Besitz darstellt, nicht erlangt werden kann, ohne dass dafür ein hoher Preis bezahlt werden muss. Es stimmt, dass die Dämonin dem Helden gewährt, was ihm in seinem alltäglichen Leben in der Menschenwelt versagt bleibt. Insofern handelt sie genau wie die feenhaften Geliebten Graelents, Lanvals oder Reymonds. Das Problem besteht darin, dass sie ihm zu viel gibt - der Held bekommt die so dringend benötigten materiellen Güter nur zusammen mit einer zweiten Ehe und Familie und kann nun seinen verschiedenen Verpflichtungen noch weniger nachkommen als zuvor. Hier wird vorgeführt, dass der Protagonist von Anfang an keine Chance hat: Er tut alles, um der doppelten Anforderung, die Gesellschaft und Gesetz an ihn stellen, Genüge zu tun. Bei seinen Bemühungen handelt er sich jedoch immer weitere Verpflichtungen ein, deren gleichzeitige Erfüllung immer weniger zu leisten ist. Da sein endgültiges Scheitern trotz aller Anstrengungen nicht zu vermeiden ist, kann es als tragisch bezeichnet werden. 65 Indem der Mann sich um der Familie willen von seinen religiösen Studien entfernt, wird diese Familie verdoppelt. Um die Verdoppelung rückgängig zu machen, kehrt er zum Torastudium zurück. Genauso aber, wie die Ehe mit der Dämonin scheitern muss, weil diese in der menschlichen Frau eine störende Doppelgängerin besitzt, kann eine Rückkehr des Protagonisten in sein früheres Leben nicht mehr gelingen, weil nun die Dämonin wie eine Kopie der ersten Frau ihre ehelichen Ansprüche auf Nahrung, Kleidung und Beischlaf (Ex 21,10) geltend macht. Die Erzählung liest sich wie der Alptraum eines Mannes, der mit einer einzigen Ehefrau schon genug Probleme hat und bei dem Versuch, diese zu lösen, noch eine zweite Frau dazu erhält. Ausgerechnet bei dem Versuch, die Ehe zu dem Ort zu machen, an dem geistliche und weltliche Erfordernisse miteinander vermittelt werden können, potenziert die Ehe sich selbst durch ihre Verdoppelung in ihrem Anspruch solchermaßen, dass der Held diesem noch weniger gerecht werden kann als zuvor. War seine Situation zu Beginn schwierig, so ist sie am Ende vollends aporetisch. Es ist also nicht auszuschließen, dass in diesem Text eine subtile Kritik an der Notwendigkeit von Eheschließung und Fortpflanzung geübt wird, die zwar vom jüdischen Gesetz vorgeschrieben sind und allgemein gebilligt werden, die aber eben auch verhindern, dass sich ein frommer Mann ausschließlich mit der Tora beschäftigen kann - in der Geschichte eines armen Mannes ein unmöglich zu verwirklichendes Ideal. Die Forderungen vor allem der ersten, in gewissem Maß aber auch die der zweiten Ehefrau erscheinen zwar als durchaus legitim. Hat ein Mann Frau und Kinder, dann muss er, dem 65 Zu mittelalterlichen Konzepten von Tragik vgl. Regina Toepfer : Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 144). Berlin, Boston 2013. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 94 widerspricht die Erzählung keineswegs, auch dafür Sorge tragen, dass sie nicht verhungern. Explizit verdammt wird die Ehe ebenso wenig wie das Torastudium oder die Notwendigkeit des Broterwerbs. Allerdings wird die Vereinbarkeit der Verpflichtungen, bedingt auch durch eine gewisse Maßlosigkeit in der Beschäftigung mit der Tora, durchaus in Frage gestellt. Welche Schlüsse sind demnach aus dem Schicksal des Helden zu ziehen? Muss sich ein Mann entscheiden zwischen Ehe und Torastudium? Wird letzteres höher bewertet? Muss er in beiden Bereichen Leistung zeigen, und wenn ja, wie soll er das bewerkstelligen? Ist es überhaupt zu bewerkstelligen? Ist am Ende gar die menschliche Ehefrau an allem schuld? Sie ist es ja, die ihren Mann dazu bewegt, Almosen von Fremden statt von Angehörigen der eigenen Gemeinde anzunehmen, von denen keine tödlichen Gefahren ausgehen. Zudem hätte auch sie sich um den Broterwerb kümmern und damit ihrem Mann die Möglichkeit geben können, die Rolle des «Wahrers und Beförderers des religiös-geistlichen Heils der Familie« 66 zu erfüllen. Allerdings ist es nicht die menschliche Frau, die am Ende getötet wird. Sie und ihre Kinder erhalten letztlich sogar genau das, was sie zu Beginn begehrt hatte: großen Reichtum und Besitz. 67 Die Frage, welche Moral die Geschichte eines armen Mannes eigentlich vermitteln soll, ist nicht leicht zu beantworten. Das liegt zum einen daran, dass der Erzähler das Geschehen nicht kommentiert, dass auch in dieser Erzählung keine übergeordnete Instanz existiert, die den Rezipienten dabei anleitet, den Text aus einer bestimmten Perspektive zu deuten. Die Ursache liegt aber auch darin, dass die Hauptfigur nie Verantwortung für ihr Tun übernehmen muss. Stets wird der Mann von anderen beraten, genötigt oder manipuliert. Natürlich wird er zu allem, was er im Dämonenland tut, gezwungen und dadurch zumindest teilweise exkulpiert. Er gibt dem Zwang aber eben auch nach. Den 66 Berger , Sexualität, S. 153. Zu dieser beispielsweise im 16. Jahrhundert von Schlomo Ephraim von Lunschitz geäußerten Vorstellung, dass eine Ehefrau für das materielle Wohlergehen ihrer Familie verantwortlich ist, während der Mann sich vor allem als Gelehrter auszeichnen soll, vgl. Daniel Boyarin : Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man (Contraversions 8). Berkeley, Los Angeles, London 1997, S. 66 f. Allerdings geben Bergers Ausführungen zu der tatsächlichen Praxis der Arbeitsteilung in ganz Europa Anlass zu Zweifeln an der Umsetzung des von Ephraim wie auch von wenigen anderen aschkenasischen Autoren als vorbildlich betrachteten Modells der arbeitenden Ehefrau und des betenden Ehemanns. Explizit wird jedenfalls am Verhalten der menschlichen Ehefrau in der Geschichte eines armen Mannes keine Kritik geäußert. Ihre Forderung, dass der Mann für seine Familie etwas zu essen beschaffen solle, wird nicht hinterfragt. 67 ע ו ש ר ג ד ו ל ו נ כ ס י ם . [S. 352]. ‹ Geschichte eines armen Mannes › 95 erzürnten Dämonen beispielsweise, die er soeben unabsichtlich durch das Aussprechen eines in der Liturgie verankerten Gebets in große Ferne davongejagt hat, entgegnet er sogleich unterwürfig: ‹ Ärgert euch bitte nicht über diese Sache, denn ich habe nichts davon gewusst. Vergebt mir, was ich gesagt habe. › 68 Dadurch, dass der Held sich bei den Dämonen dafür entschuldigt, sich an den vorgegebenen Ablauf des Gottesdienstes gehalten zu haben, ordnet er die Liturgie seinem eigenen Wohlergehen auf prekäre Weise unter. Möglicherweise ist genau dies das grundlegende Problem, das in dieser Erzählung verhandelt wird: die Bereitwilligkeit des Protagonisten, sich anderen unterzuordnen, seine Unfähigkeit oder Unwilligkeit, Entscheidungen zu treffen und selbstbestimmt zu handeln. Damit wird sein Verhalten ganz anders bewertet als das des Amulettschreibers, dessen Demut ja gerade belohnt worden war. Vielleicht übt aber der arme Mann auch einfach die falsche Art von Demut. Er unterwirft sich nicht einem eindeutigen Frömmigkeitsideal oder einer bestimmten Autorität, in der sich das göttliche Gesetz verkörpert, sondern nacheinander allen möglichen Personen, die etwas von ihm verlangen. Durch solche wenig zielgerichteten Unterwerfungsgesten jedoch erlangt ein Individuum keinen Subjektstatus, sondern verliert sich. Der arme Mann führt aufgrund seiner Unfähigkeit, sinnvolle Entscheidungen zu treffen, am Anfang ein gespaltenes, halbes, später dann ein doppeltes Leben. Weder Tora noch Familie kommen auf diese Weise zu ihrem Recht. Dass die Unentschlossenheit und Wankelmütigkeit des Helden keine Option ist, zeigt der Ausgang der Geschichte. Die Personen, die übrig bleiben und sich schließlich über den Verlust des Protagonisten hinwegtrösten, sind das Oberhaupt der Jeschiva sowie Frau und Kinder. Jeschiva und Familie, also die beiden Institutionen, die jeweils auf ihre Weise für die Verwirklichung eines gottgefälligen Lebens stehen, existieren weiterhin. Der gutwillige, aber schlecht organisierte und unentschiedene Held hingegen wird aus beiden entfernt. 2.4 Lakonie und Erregung Als Exempelerzählung mit einer eindeutigen moralischen Botschaft ist die Geschichte eines armen Mannes im Grunde nicht zu gebrauchen. Dafür bleibt sie zu uneindeutig. Schließlich werden weder der Held noch seine Frauen an irgendeiner Stelle für ihr Verhalten getadelt. Allerdings unternimmt der Erzähler auch keine größeren Anstrengungen, die Sympathie des Lesers 68 א ל נ א י ח ר ב ע י נ י כ ם כ י ל א ה י י ת י י ו ד ע ע נ י י נ כ ם ו מ ח ל ו ל י מ ה ש א מ ר ת י . [S. 350]. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 96 auf eine oder mehrere der Figuren zu lenken und sie dadurch zum Identifikationsobjekt zu machen. Nicht einmal die Anteilnahme für einen Helden, der gefährliche, erotische und möglicherweise moralisch fragwürdige Abenteuer erlebt, wird dem Leser leicht gemacht. Die Handlung wiederum ist zwar größtenteils kausal motiviert - bis auf die Entscheidung des Mannes, die Dämonin ein letztes Mal zu küssen, folgt nicht nur jedes Ereignis auf das vorhergehende, sondern auch aus dem vorhergehenden. Die Geschichte ist daher auf den ersten Blick nicht schwer zu verstehen. Dennoch lässt sie den Rezipienten etwas ratlos zurück. Was soll er nun, da er die Erzählung bis zum Ende gelesen oder gehört hat, mit ihr anfangen? Was könnte den Reiz einer solchen Geschichte, wenn sie denn einen besitzt, ausmachen? Diese Frage kann der Leser sowohl in Bezug auf die Geschichte eines armen Mannes als auch in Bezug auf die Geschichte eines Amulettschreibers stellen. Das Begehren der Figuren bleibt in beiden Texten, wie oben beschrieben, seltsam unscharf und unbestimmt. Alle Ingredienzien für eine Geschichte über eine erotische Dreieckskonstellation sind vorhanden. Während sich aber die höfische Kultur des 13. Jahrhunderts ausgiebig mit Erzählungen über passionierte Liebe, Eifersucht und Sexualität beschäftigt, werden solche Sujets in den zeitgenössischen jüdischen Erzählungen nur angedeutet, nicht mit Inhalt gefüllt. Die Frage wiederum, wie denn Ehe oder Familie und religiöse Devotion zueinander zu gewichten seien, wird insgesamt sowohl in der christlichen als auch in der jüdischen Literatur des Mittelalters gestellt. Im Kontext einer Mahrtenehenerzählung ist sie jedoch allein der Geschichte eines armen Mannes eigentümlich. Diese stellt das Thema ins Zentrum der Handlung, und sie legt auch eine bestimmte Haltung, nämlich die Favorisierung des Torastudiums, nahe. Eindeutig beantwortet wird die Frage danach, wie das männliche Individuum mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Anforderungen umgehen soll, mit denen es sich konfrontiert sieht, allerdings nicht. Noch nicht einmal die spezifische Ausgestaltung der Schlussformel des Narrativs, die in diesem Fall den Tod des Helden vorsieht, lässt unzweifelhafte Rückschlüsse darüber zu, wie er sich hätte verhalten müssen, um zu überleben. Zurück bleibt vor allem der Eindruck eines unlösbaren Dilemmas. Der Leser dieser exempelhaften Erzählung erhält genau das nicht, was er von einem Exempel zumindest theoretisch erwarten kann: eine Anleitung zur korrekten Lebensführung. Eine solche wird ihm auch in der Geschichte eines Amulettschreibers nicht angeboten. Aus dieser Erzählung kann er zwar schließen, dass es allgemein gefährlich ist, sich mit Dämonen einzulassen, und dass man den Gefahren, die sich aus einer solchen Interaktion ergeben, am besten durch Unterwerfung begegnet. Wichtiger als die Erkenntnis dieser etwas mageren Moral ist für den Lakonie und Erregung 97 modernen Rezipienten jedoch die Tatsache, dass er eine Ahnung davon bekommt, wie eine jüdische Erzählung über eine gestörte Mahrtenehe im Mittelalter aussehen kann. Ein noch aussagekräftigeres Beispiel hierfür wird ihm mit der Geschichte eines armen Mannes präsentiert. Sie teilt noch mehr narrative Bausteine als die Geschichte eines Amulettschreibers mit jenen höfischen Erzählungen, anhand derer das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in der literaturwissenschaftlichen Forschung definiert wurde. Die Aufnahme einer schwierigen Beziehung zu einer nichtmenschlichen Frau, die Aufstellung und der Bruch eines Gebots, das die Beziehung bedingt, deren Krise und Beendigung sowie die Gegenwart menschlicher Gegner der Dämonin - all diese Aspekte von gestörter Mahrtenehe kommen in der Geschichte eines armen Mannes vor und werden logisch miteinander verknüpft. Die Erzählung ist ohne irritierende Brüche, ohne Leerstellen oder Fehler in der kompositorischen Motivierung. Gerade dies aber scheint es zu sein, was Interpretationsversuche von ihr abperlen lässt. Die Geschichte ist reine Komposition, reines Gerüst, eine perfekte Struktur mit nur vager inhaltlicher Füllung. Die Charaktere bleiben flach. Die Leistung des Verfassers der Geschichte eines armen Mannes liegt darin, dass er auf vollkommene Weise die Grundstrukturen einer jüdischen Erzählung von gestörter Mahrtenehe aus dem ihm bekannten jüdischen oder christlichen Material herausdestilliert - und es dabei belässt. Wenn es daher so schwer fällt, dem Begehren der Figuren auf die Spur zu kommen, dann liegt das daran, dass das Begehren, das der Text beim Rezipienten erzeugt, ein sehr spezielles ist. Im Text wird auf der Grundlage eines bekannten Musters eine Geschichte präsentiert, die trotz aller logischen Kohärenz opak bleibt. Die beiden mittelalterlichen Erzählungen funktionieren so, wie sie sind, einwandfrei. Aufgrund der Knappheit in der erzählerischen Ausgestaltung provozieren sie den Rezipienten dazu, sich an verschiedenen Interpretationen zu versuchen und Erklärungen für das Handeln der Figuren und für das Ende der Geschichte zu finden. Der Leser mag sich aber auch versucht fühlen, die Geschichte neu zu erzählen, sie besser, also etwa inhaltlich detaillierter, ausführlicher und komplexer zu erzählen, die Handlung auszubauen, Nebenfiguren hinzuzuerfinden, die Protagonisten auf vielschichtigere Weise miteinander interagieren zu lassen und den Charakteren größere Tiefe zu verleihen, moralische Schlussfolgerungen anzubieten und zugleich zu unterlaufen. Gerade die Geschichte eines armen Mannes schürt das ob ihrer Dichte und Lakonie unerfüllbare Begehren des idealen, das heißt in diesem Fall interpretationswilligen, Rezipienten, ihr einen eindeutigen Sinn zu entnehmen. Sie weckt Lust daran, sich das Schema selbst zunutze zu machen und eine eigene Geschichte über die Hochzeit eines Mannes mit einer Dämonin zu erzählen. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 98 Und auch wenn man darauf verzichtet, direkte Vorlagen- und Abhängigkeitsverhältnisse zu konstruieren, so kann man doch feststellen, dass der Verfasser der Geschichte eines armen Mannes kreative Nachfolger gefunden hat. Die beiden knappen mittelalterlichen Erzählungen vermitteln eine Vorstellung davon, welche Elemente des Narativs der gestörten Mahrtenehe die jüdischen mit den christlichen Texten teilen, aber auch, in welchen Punkten sie voneinander abweichen und was dementsprechend die Eigenart jüdischer Mahrtenehenerzählungen ausmacht: Die Beziehung eines Mannes zu einer nichtmenschlichen Frau wird, ähnlich wie in den christlich-klerikalen Dämonengeschichten, nicht nur als gefährlich, sondern insgesamt als nicht erstrebenswert dargestellt - zumindest an der Textoberfläche. Die Dämoninnen sind keine satanischen Figuren, aber sie verkörpern stets eine potentiell tödliche Bedrohung. Dies spiegelt sich auf der Seite der männlichen Protagonisten darin, dass sie ihre Beziehungen nicht freiwillig eingehen, sondern dazu gezwungen oder genötigt werden. Zudem erscheinen die nichtmenschlichen Frauen anders als in den christlichen Exempla in ihrer Funktion als erotische Verführerinnen zumindest reduziert. Dadurch eröffnen sich, ähnlich wie in vergleichbaren höfischen Texten, Spielräume für Diskurse über verschiedene Regelübertretungen im Bereich sozialer Netzwerke, die erotische Fehltritte einschließen, ohne auf diesen einen Aspekt festgelegt zu sein. Noch ein weiterer wichtiger Unterschied ist zwischen den jüdischen und den höfischen Erzählungen zu konstatieren. Hier mag die Beobachtung überraschen, dass die literaturwissenschaftliche Untersuchung eines Erzählmusters, die den Blick von der konkreten Erzählung auf das dieser zugrunde liegende Narrativ und von dort wieder zurück auf den Einzeltext lenkt, in einem bestimmten Aspekt hinsichtlich der jüdischen Texte aufschlussreichere Erkenntnisse verspricht als hinsichtlich der höfisch-christlichen. Durch eine schematisierende Beschreibung der christlichen Feenerzählungen, wie sie in der literaturwissenschaftlichen Forschung häufig unternommen wurde, wurde bisher nicht erklärt, warum in manchen Texten die Krise überstanden und das Paar wiedervereint wird, warum in anderen die Trennung dauerhaft ist und warum einer der beiden Partner in wieder anderen Erzählungen den Konflikt zwischen den Liebenden oder den zwischen den Liebenden und einer dritten Partei nicht überlebt. Bringt man das gleiche Narrativ für die jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen in Anschlag, dann lässt sich bereits nach einer Untersuchung der beiden ältesten Texte folgende Beobachtung formulieren: Es existieren zwei Typen von jüdischen Mahrtenehenerzählungen. Sie unterscheiden sich voneinander durch das jeweilige Ende der Geschichte. Anders als in den christ- Lakonie und Erregung 99 lichen Texten wird die Verbindung eines Mannes mit einer Dämonin in den meisten Fällen negativ bewertet. Dies zeigt sich darin, dass der Mann der Dämonin zu entkommen versucht oder Erleichterung zeigt, wenn die Beziehung beendet ist. Daher stellt sich die Frage nach einer möglichen glücklichen Wiedervereinigung mit der nichtmenschlichen Frau im jüdischen Kontext nicht. Stattdessen können die Texte vor allem danach eingeteilt werden, ob der Mann in seine Heimatgesellschaft, von der er während der Zeit der dämonischen Allianz ganz oder teilweise abgetrennt war, reintegriert wird oder nicht. Der jeweilige Ausgang der Geschichte wiederum hängt mit den Umständen zusammen, unter denen die Krise der Beziehung herbeigeführt wird. Die Chancen auf eine Wiedereingliederung des Helden in die Gemeinschaft, auf die Wiederherstellung oder sogar Verbesserung eines früheren Zustandes sind dann gut, wenn der Held nicht einfach die Beziehung beendet, sondern sein Verhalten oder die Umstände ändert, die zum Eingehen der Beziehung geführt haben. Dieser Befund deutet darauf hin, dass die negative Bewertung der dämonischen Allianzen möglicherweise ein Oberflächenphänomen ist. Wenn Protagonisten, die sich der Macht der nichtmenschlichen Frau widerstandslos ergeben, um einiges besser davonkommen als ihre sich der Beziehung widersetzenden Kollegen, dann ist anzunehmen, dass die jüdischen Erzählungen den höfischen doch näher stehen, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. All diese Erzählungen teilen eine gewisse identifikationsstiftende Sympathie mit den Handlungen der auf anderweltlichen Abwegen wandelnden Helden, im Fall der jüdischen Texte eben vor allem mit jenen, die die dämonische Allianz akzeptieren. Die Faszination, die von der Vorstellung einer Beziehung zu einer nichtmenschlichen Frau ausgeht, äußert sich im jüdischen Kontext vor allem in dem Schrecken, den diese Vorstellung hervorruft. Inwiefern dieser Schrecken wiederum sein ganz eigenes Potential der Erzeugung einer Lust am Text birgt, wird in den folgenden Kapiteln über die elaborierten Dämonenhochzeitserzählungen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu beobachten sein. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert 100 3. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit: Fremdheit und Autonomie in der ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › und in der ‹ Geschichte eines Königssohns › The white woman bent down over him, [. . .] and he saw that she was very beautiful, - though her eyes made him afraid. [. . .] She whispered: ‹ I intended to treat you like the other man. But I cannot help feeling some pity for you, - because you are so young. . . You are a pretty boy, Minokichi; and I will not hurt you now. › 1 Neben der Geschichte eines Amulettschreibers und der Geschichte eines armen Mannes ist aus dem 13. Jahrhundert noch eine weitere hebräische Erzählung über die Partnerschaft eines menschlichen Mannes mit einer Dämonin überliefert. Es handelt sich dabei um die kurze, in der Forschung mit dem Titel Striga et Fons ( ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › ) versehene Geschichte aus dem Erzählzyklus der Mischle Sendebar ( ‹ Geschichten Sendebars › ). Im Zentrum dieser Mahrtenehenerzählung steht nicht etwa ein erwachsener Held. Stattdessen agiert hier ein junger Mann, der vor allem durch seine Bindung an die durch einen Vater verkörperte Elterngeneration charakterisiert wird. Im Unterschied zu dem Amulettschreiber und dem armen Mann wird der Held in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle explizit als Sohn geschildert, der in der Beziehung zu seinem Vater zugleich beschützt und eingeschränkt wird. Verstärkt wird der Eindruck, dass die Geschichte von der Dämonin und der Quelle nicht nur von gefährlichen Allianzen, sondern auch von schwierigen Deszendenzverhältnissen handelt, durch die Platzierung der Geschichte innerhalb der Rahmenerzählung der Geschichten Sendebars. Auch in der Rahmenhandlung geht es sowohl um das fundmental bedrohte Verhältnis eines Sohnes zu seinem Vater als auch um die Beziehung zu einer verführerischen Frau. 1 Lafcadio Hearn: Kwaidan. Stories and Studies of Strange Things. With an Introduction by Oscar Lewis . New York 1968 (Erstausgabe 1904), S. 50. In den mittelalterlichen Versionen der Geschichten Sendebars werden (ähnlich wie in der Geschichte eines Amulettschreibers und in der Geschichte eines armen Mannes) stets relativ kurze und einfach strukturierte narrative Einheiten aneinander gereiht. Wie die beiden anderen mittelalterlichen Dämonenhochzeitserzählungen ist auch die Geschichte von der Dämonin und der Quelle in ihren verschiedenen, meist nur gering voneinander abweichenden Varianten ein in sich stimmiger Text. Die Erzählung ist für sich genommen verständlich und interpretierbar und fügt sich zugleich gemeinsam mit den anderen Binnenerzählungen in die Logik des gesamten Zyklus ein. Doch auch diese Geschichte lässt aufgrund ihrer Sparsamkeit im Einsatz der erzählerischen Mittel Raum für spätere Ausgestaltungen. Genutzt wird dieser Raum in einer besonders ausführlichen Version der Geschichten Sendebars, die im 15. Jahrhundert verfasst oder zumindest verschriftlicht wird. Die hier enthaltene Dämonenhochzeitserzählung beruht in Handlungsführung und Figurenpersonal auf dem Grundgerüst, das die hochmittelalterliche Version zur Verfügung stellt. Sie unterscheidet sich von dieser aber dadurch, dass in ihr darüber hinaus die in den älteren Texten angelegte komplexe Überkreuzung von Allianz und Deszendenz ausgeschmückt und detailliert sowie sprachlich elaboriert in Szene gesetzt wird. Im Hinblick auf die noch etwas jüngere Geschichte aus Worms und die mit dieser etwa zeitgenössischen Geschichte eines Jerusalemers zeichnet sich hier eine Tendenz ab, die für das spätmittelalterliche jüdische Erzählen von gestörter Mahrtenehe typisch ist. Im Zentrum des folgenden Kapitels werden daher sowohl die hochmittelalterliche als auch die spätmittelalterliche Version der Dämonenhochzeitserzählung aus den Geschichten Sendebars stehen, das heißt also die ältere Geschichte von der Dämonin und der Quelle und ihre jüngere Variante, die Geschichte eines Königssohns. In den Kapiteln 4 und 5 werden die zwei Erzählungen des 16. Jahrhunderts Gegenstand der Untersuchung sein. Dabei wird sich zeigen, dass darin noch stärker die Verflechtung der Ansprüche von Allianz und Deszendenz fokussiert wird. Noch deutlicher als in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle oder in der Geschichte eines Königssohns werden in der Geschichte aus Worms und in der Geschichte eines Jerusalemers die Wünsche der Eltern an ihre Kinder deren eigenem Begehren nach verbotenen Beziehungen und exogamer Bewährung übergeordnet. 3.1 Textüberlieferung und Textgestalt Bei den Geschichten Sendebars handelt es sich um die hebräische Version eines Erzählzyklus, der in verschiedenen Fassungen und Sprachen im Mittelalter Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 102 und in der Frühen Neuzeit sowohl innerhalb wie auch außerhalb Europas außerordentlich populär ist. Dieser Erzählzyklus besteht, ähnlich wie die arabische Version von ‹ Tausendundeine Nacht › (Alf Laila wa-Laila), das indische Panchatantra, Boccaccios italienisches Decamerone oder Geoffrey Chaucers englische Canterbury Tales, aus einer Anzahl von exempelhaften Binnenerzählungen. Diese werden von einer in allen Versionen ähnlich aufgebauten Rahmenerzählung umklammert. In der Rahmenerzählung wird geschildert, wie ein Königssohn nach längerer Abwesenheit vom Hof seines Vaters dazu verpflichtet wird, sieben Tage lang kein Wort zu sprechen. Genau wie Potiphars Frau in der biblischen Josefsgeschichte beschuldigt eine der Frauen des Königs oder auch die Stiefmutter des Prinzen diesen eines Vergewaltigungsversuchs, nachdem es ihr nicht gelungen ist, ihn zu verführen und zum Königsmord zu bewegen. 2 Das daraufhin ausgesprochene väterliche Todesurteil wird dadurch immer weiter aufgeschoben, dass, je nach Version, sieben Lehrer des Sohnes, sieben Rechtsgelehrte oder sieben Ratgeber des Königs eine oder zwei Geschichten erzählen, die den König von der Heimtücke der Frauen im Allgemeinen und von der Unschuld seines Sohnes im Besonderen überzeugen sollen. In manchen Versionen der Erzählsammlung, so z. B. in den hebräischen Geschichten Sendebars, verteidigt sich die verräterische Ehefrau mit eigenen Exempelerzählungen, die die Unzuverlässigkeit von Ratgebern und Söhnen zum Inhalt haben. Sobald der Prinz wieder sprechen darf, muss die Frau sich jedoch selbst der Verurteilung stellen. Während man sie in den meisten inner- und außereuropäischen Versionen entweder öffentlich beschämt oder gar hinrichtet, wird sie in den Geschichten Sendebars begnadigt. Die hebräischen Geschichten Sendebars weisen in ihrem Aufbau wie auch in ihrem Inhalt große Ähnlichkeit mit syrischen, arabischen, griechischen und persischen Bearbeitungen des Stoffs auf. Daher betrachtet man sie ebenso wie diese als eine von verschiedenen Ausformungen des sogenannten ‹ östlichen Zweigs › der Tradition (Sindbad-Buch), im Gegensatz zu einem sich in wesentlichen Merkmalen unterscheidenden ‹ westlichen Zweig › (Die sieben weisen Meister). 3 2 Vgl. Gen 39. 3 Zur Problematik einer solchen vereinfachenden Aufteilung einer komplexen literarischen Tradition in ‹ Ost › und ‹ West › mit allen Implikationen, die diese begrifflichen Verortungen mit sich bringen, vgl. Bea Lundt, Ulrich Marzolph und Jürgen Wehnert : Art. Sindba¯ d-na¯ me/ Die Sieben Weisen, in: Kindlers Literatur Lexikon. Bd. 15. Stuttgart 3 2009, S. 194 - 201, hier S. 194: «Diese Aufteilung ist in den letzten Jahren infrage gestellt worden, weil immer deutlicher wurde, dass es keine linear unterscheidbaren Traditionswege im Morgen- und im Abendland gab und auch die Definition von Leittexten nicht unproblematisch ist. Vielmehr über- Textüberlieferung und Textgestalt 103 Möglicherweise waren es die hebräischen Geschichten Sendebars, durch die um die Mitte des 12. Jahrhunderts der Sindbad-Stoff an die westeuropäische Schriftkultur vermittelt wurde, wo sich mit dem mittellateinischen Dolopathos des Johannes de Alta Silva und dem altfranzösischen Roman des sept sages zügig der lateineuropäische Zweig der Überlieferung etablierte. 4 Die Historia septem schneiden sich beide Überlieferungswege vielfältig und durchmischen sich zudem mit anderen Erzähltraditionen, die Beispiele von sieben Weisen thematisieren.« Die älteste überlieferte Version des Sindbad-Buchs ist der syrische Sindban aus dem 10. Jahrhundert, gefolgt von dem griechischen Syntipas des Michael Andreopoulos aus dem 11. Jahrhundert und drei persischen sowie der hebräischen Bearbeitung aus dem 12. bis 14. Jahrhundert. Zur Datierung der Texte vgl. Stephen Belcher : The Diffusion of the Book of Sindbad, in: Fabula 28,1/ 2 (1987), S. 34 - 58 und Morris Epstein : Tales of Sendebar. An Edition and Translation of the Hebrew Version of the Seven Sages. Based on Unpublished Manuscripts (Judaica: Texts and Traditions 1,2). Philadelphia 1967, S. 329. Aus dem hohen bis späten Mittelalter stammen auch das aus dem Arabischen ins Altspanische übersetzte Libro de los engaños e los asayamientos de las mujeres aus dem Jahr 1253 und die arabische Erzählung von den Sieben Wesiren aus Tausendundeine Nacht, die auf das 14. Jahrhundert datiert wird. Während die ältere Forschung aufgrund mancher Parallelen zum indischen Panchatantra (in der arabischen Übersetzung Kalila wa-Dimna) davon ausging, dass Inhalt und Struktur des Sindbad-Buchs ursprünglich aus Indien stammen, nimmt man heute an, dass die älteste Version ein persischer Text war, «der im letzten Viertel des 8. oder im ersten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts entstanden sein könnte.« Ralf- Henning Steinmetz : Exempel und Auslegung. Studien zu den ‹ Sieben weisen Meistern › (Scrinium Friburgense 14). Freiburg/ Schweiz 2000, S. 8. Vgl. zudem Ben Edwin Perry : The Origin of the Book of Sindbad, in: Fabula 3 (1959/ 60), S. 1 - 94; Stephen Belcher revidiert einige von Perrys Schlussfolgerungen, stimmt aber bezüglich der persischen Ursprünge der Erzählsammlung mit ihm überein. Anders argumentiert Epstein , der sich für die hebräische als die älteste Version ausspricht. Vgl. Epstein , Tales of Sendebar, S. 19 ff. sowie Morris Epstein : ‹ Mishle Sendebar › : New Light on the Transmission of Folklore from East to West, in: PAAJR 27 (1958), S. 1 - 17, hier, S. 11. 4 Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurden die hebräischen Geschichten Sendebars ins Lateinische übertragen. Vgl. Historia septem sapientum. I. Eine bisher unbekannte lateinische Übersetzung einer orientalischen Fassung der Sieben weisen Meister (Mischle Sendabar). Hg. und erklärt von Alfons Hilka (Sammlung mittellateinischer Texte 4). Heidelberg 1912. Die Übertragung hat allerdings Detlev Fehling zufolge «bei der Übermittlung des Stoffs an ‹ Die sieben Meister › keine Rolle gespielt«. Detlev Fehling : Die Eingesperrte ( ‹ Inclusa › ) und der verkleidete Jüngling ( ‹ Iuvenis femina › ). Neues zur Traditionsgeschichte zweier antiker Komödienmotive nebst einem Beitrag zur Geschichte des ‹ Sindbad › -Zyklus, in: Mittellateinisches Jahrbuch 21 (1986), S. 186 - 207, hier S. 192. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass die hebräischen Versionen in Lateineuropa schon vor dem 12. Jahrhundert bekannt waren. Zu den Geschichten Sendebars als Vehikel der Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 104 sapientum ( ‹ Geschichte von den sieben weisen Meistern › ) entwickelte sich zu einer der am weitesten verbreiteten novellistischen Sammlungen der Weltliteratur. Sie wurde in alle europäischen Volkssprachen übersetzt, überschritt die Schwelle zum Zeitalter des Buchdrucks mühelos und wurde bis ins 18. Jahrhundert rezipiert. 5 Auch die hebräischen Geschichten Sendebars wurden kontinuierlich das gesamte hohe Mittelalter und die Frühe Neuzeit hindurch tradiert. 6 Erstmals in einem externen Dokument erwähnt wird die Sammlung im Jahr 1295 in einem Brief des Dichters Abraham ben Itzchak von Bedierres (Béziers) an seinen Kollegen David Kaslari. In diesem Text setzt sich Abraham von Bedierres deutlich von der als fremd empfundenen Tradition ab, die die Geschichten Sendebars und Tausendundeine Nacht hervorgebracht haben: Wir sehnen uns nach unseren eigenen Erzählungen, nicht nach den Geschichten Sendebars. Die Tausend Nächte begehren wir nicht. 7 Die von dem Dichter geäußerte Ablehnung steht im Gegensatz zur tatsächlichen Verbreitung der Geschichten Sendebars. Deren älteste Fassung findet sich in der gleichen französischen Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, die Überlieferung von Osten nach Westen vgl. Epstein , Transmission; Norbert H. Ott : Art. Sieben weise Meister, I. Ursprung und allgemeine literarische Rezeption, in: LMA 7, Sp. 1836 - 1839, hier Sp. 1836. Steinmetz weist auf das Problem der späten Datierung der Geschichten Sendebars hin, stellt aber dennoch fest: «Die hebräische Fassung muß weiterhin als der wahrscheinlichste Vermittlungstext betrachtet werden [. . .].« Steinmetz , Exempel, S. 11. 5 Vgl. dazu Steinmetz , Exempel, S. 1ff; Udo Gerdes : Art. Sieben weise Meister, in: VL 8, Sp. 1174 - 1189. 6 Nicht zu verwechseln sind die hebräischen Geschichten Sendebars des östlichen Überlieferungszweigs mit den späteren Übertragungen westlicher Fassungen ins Hebräische (und Jiddische). Vgl. dazu den entsprechenden Hinweis in der informativen Bibliographie von Hans R. Runte , J. Keith Wikeley und Anthony J. Farrell (Hgg.): The Seven Sages of Rome and the Book of Sindbad. An Analytical Bibliography (Garland Reference Library of the Humanities 387). New York, London 1984, S. 16. Die Bibliographie wird durch einen regelmäßig erstellten Newletter ständig ergänzt und erweitert. Vgl. dazu die Homepage der Society of the Seven Sages, URL: http: / / myweb.dal.ca/ hrunte/ seven_sages.html, letzter Zugriff am 10. 05. 2013. 7 Nakdimon Shabbethay Doniach : Abraham Bédersi ’ s Purim Letter to David Kaslari, in: JQR 23,1 (1932), S. 63 - 69, hier S. 65; vgl. auch Epstein , Tales of Sendebar, S. 13. Textüberlieferung und Textgestalt 105 auch die Geschichte eines armen Mannes enhält (MS Oxford Bodl. Or. 135). 8 Bei dieser wie auch einer weiteren in der Oxforder Bodleian Library aufbewahrten, aus dem Rheinland stammenden und im Jahr 1325 fertiggestellten Handschrift handelt es sich um die beiden ältesten bekannten Manuskripte. 9 Ein Schwerpunkt der Überlieferung liegt mit sieben erhaltenen Handschriften im 15. und 16. Jahrhundert. Wenn es auch schwierig ist, Korrelationen zwischen der Anzahl der erhaltenen Textzeugen und der Popularität des Textes herzustellen, so ist es doch berechtigt, eine Parallele zur hohen Auflagenstärke und wachsenden Beliebtheit der Sieben weisen Meister seit dem Beginn des Buchdruckzeitalters zu ziehen. 10 Insgesamt ist allerdings die Anzahl der hebräischen Textzeugen wesentlich geringer als die der Sieben weisen Meister. Und genau wie diesen gelang zwar den Geschichten Sendebars durchaus der Übertritt in den Buchdruck; bei lediglich drei Auflagen zwischen 1516 und 1605 kann man allerdings kaum von einem frühneuzeitlichen Bestseller sprechen. Immerhin wurden aber noch bis ins späte 18. oder gar frühe 19. Jahrhundert Handschriften von diesem Text angefertigt. Zu der im Londoner Jew ’ s College befindlichen Handschrift MS. Halberstamm-Montefiore No. 113 bemerkt Morris Epstein folgerichtig: This MS is totally unimportant [d. h. für Epsteins Edition, A. L.], since examination shows it to be a literal copy of the printed text [. . .]. The most remarkable thing about H. M. 113 is that anyone should wish to copy Mishle Sendebar by hand so late; this bespeaks both the popularity of Mishle Sendebar and the scarcity of printed copies. 11 Aus der Überlieferungssituation ergibt sich hinsichtlich der hier zunächst zu untersuchenden hochmittelalterlichen Geschichte von der Dämonin und der Quelle ein Befund, der diese Mahrtenehenerzählung von anderen vormodernen jüdischen Dämonenhochzeitsgeschichten unterscheidet: Ähnlich wie die Geschichten Sendebars insgesamt stellt auch die Geschichte von der Dämonin und der Quelle auf mehr als eine Weise ein Verbindungsglied dar, eine literarische und literaturgeschichtliche Schnittstelle. Zum einen ist es die einzige jüdische Dämonenhochzeitserzählung, die kontinuierlich vom Mittelalter bis in die Moderne überliefert wird. 12 Zum 8 Zu Datierung, Inhalt etc. vgl. Kapitel 2.1. 9 Auf ihrer Grundlage erstellte Epstein seine bis heute maßgebliche Edition der Geschichten Sendebars. Vgl. Epsteins Liste der bekannten Handschriften auf S. 344 - 357. 10 Steinmetz , Exempel, S. 1 ff. 11 Epstein , Tales of Sendebar, S. 347. 12 Ähnliches gilt sonst nur noch für die Geschichte eines Jerusalemers, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts erstmals gedruckt wird. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 106 anderen kann man sie auch als Bindeglied zwischen europäischen und außereuropäischen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe betrachten, und dies gerade, obwohl sie sich sowohl von der einen als auch von der anderen Tradition des Sindbadbzw. Sieben weise Meister-Stoffs abhebt. Selbst wenn man sich gegen eine strikte überlieferungsgeschichtliche Trennung der ‹ östlichen › von den ‹ westlichen › Versionen des Zyklus wendet und annimmt, dass es sich bei den Geschichten Sendebars um ein Verbindungsglied zwischen zwei keineswegs voneinander isolierten geographischen, sprachlichen und kulturellen Bereichen handelt - die Unterschiede der hebräischen zu den lateinischen, französischen, englischen, deutschen und später auch jiddischen Fassungen der Sieben weisen Meister liegen nicht nur an der Oberfläche. In den westlichen Versionen der Erzählsammlung kommt beispielsweise die Geschichte von der Dämonin und der Quelle schlicht nicht vor. 13 Ein Vergleich zwischen einer jüdischen und einer christlichen Version der gleichen Geschichte ist daher nicht möglich. Allerdings, und dies spricht für die überlieferungsgeschichtliche Sonderstellung der hebräischen Geschichten Sendebars: Diese unterscheiden sich bezüglich der Geschichte von der Dämonin und der Quelle nicht nur von den westlichen, sondern auch deutlich von den anderen östlichen Versionen. Denn dort erscheinen Striga und Fons - also die Geschichte von der Dämonin und die Geschichte von der Quelle - ausnahmslos als zwei Einzelerzählungen, die meist durch zwei weitere Geschichten, Mel und Zuchara, voneinander getrennt sind. Allein in den Geschichten Sendebars sind die beiden Geschichten Striga und Fons zu einer einzigen Erzählung mit zwei Episoden zusammengezogen, in denen jeweils der gleiche Protagonist handelt. 14 13 Die Erzählungen Canis oder Avis beispielsweise sind demgegenüber Bestandteil sowohl der jüdischen als auch der christlichen Tradition.Die lateinischen Titel der verschiedenen Binnenerzählungen stammen von Karl Goedeke : Liber de septem sapientibus, in: Orient und Occident 3 (1864 - 66), S. 385 - 423. Der Dolopathos des Johannes de Alta Silva enthält zwar mit Cygni eine Mahrtenehengeschichte; diese hat allerdings außer dem der Handlung zugrunde liegenden Narrativ mit Striga et Fons nicht viel gemein. In der ebenfalls im Dolopathos enthaltenen Erzählung Striges wiederum, eine Teilerzählung der Geschichte Latronis filii, erscheinen zwar wie in der hebräischen Teilerzählung Striga bedrohliche, übernatürliche Frauen. Die Handlung ist allerdings eine völlig andere. Vgl. Historia septem sapientum. II. Johannis de Alta Silva Dolopathos sive de rege et septem sapientibus. Nach den festländischen Handschriften kritisch herausgegeben von Alfons Hilka (Sammlung mittellateinischer Texte 5). Heidelberg 1913. Siehe die Ausführungen von Bea Lundt zu den Erzählungen Latronis filii und Cygni in: Bea Lundt : Weiser und Weib. Weisheit und Geschlecht am Beispiel der Erzähltradition von den ‹ Sieben Weisen Meistern › (12.-15. Jahrhundert). München 2002, S. 184 - 202. 14 Vgl. die Tabelle der Binnenerzählungen in der «orientalischen Gruppe der Sieben weisen Meister« bei Hilka , Historia I, S. xxivf. Textüberlieferung und Textgestalt 107 Die Verbindung von Schauder und Faszination begegnete bereits in der Geschichte eines Amulettschreibers und in der Geschichte eines armen Mannes, wobei dort die Betonung jeweils auf dem einen oder auf dem anderen Aspekt lag und die Helden entweder mit einer gefährlichen Gefährtin oder mit einer verlockenden Verderberin konfrontiert wurden. In der Geschichte von der Dämonin und der Quelle geschieht beides. Sie wirkt wie eine Synthese der beiden an den anderen mittelalterlichen Erzählungen entwickelten Typen von jüdischen Mahrtenehenerzählungen. Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass in den Geschichten Sendebars die östliche Sindbad-Tradition aufgenommen und weitergeführt wurde. Möglich ist zugleich auch, dass diese durch das in Lateineuropa verbreitete, von höfischer und klerikaler Kultur geprägte und in einen jüdischen Kontext adaptierte narrative Muster der Mahrtenehenerzählung ergänzt wurde. Wie sich eine solche mögliche Verbindung in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle manifestiert, wird im Folgenden zu zeigen sein. Als Gegenstand eines kontrastierenden Vergleichs besonders gut geeignet ist, wie oben bereits angedeutet, eine Variante der Geschichte, die wie die Mehrzahl der Fassungen im 15. Jahrhundert niedergeschrieben wurde, dabei aber aufgrund ihrer besonderen Elaboriertheit hervorsticht: die Geschichte eines Königssohns. Sie ist Teil einer Fassung der Geschichten Sendebars, die sich in einer im späten 15. Jahrhundert in byzantinischer Schrift produzierten Handschrift befindet. Sie stammt von der Insel Kreta. Das Manuskript, das die Geschichten Sendebars enthält, ist Teil einer Buchbindersynthese. Es bildet den zweiten Teil der Handschrift Vat. ebr. 100. Während der erste Teil aus einer Übersetzung der vier Evangelien ins Hebräische besteht, 15 enthält das zweite Segment lediglich eine kurze Erzählung über den König Salomo und den Dämonenkönig Aschmedai sowie die hier zu betrachtende ausgeschmückte Fassung der Geschichten Sendebars. 16 Auf welche Weise die Geschichte Aschmedais, die 15 Dieser Teil der Handschrift stammt wahrscheinlich (Kolophon und Titelblatt fehlen) aus dem Italien des 15. Jahrhunderts. Pinchas Lapide zufolge entscheidet sich der Übersetzer der Evangelien häufig für Formulierungen, die den Text auf einen jüdischen Leser lächerlich oder unverständlich wirken lassen müssen. Es ist daher möglich, dass die Übersetzung unter Zwang angefertigt wurde. Vgl. Pinchas E. Lapide : Hebrew in the Church. The Foundations of Jewish-Christian Dialogue. Übers. von Erroll F. Rhodes . Grand Rapids, Michigan 1984 (deutsche Erstausgabe 1976), S. 48 ff. 16 Welchem Ordnungsprinzip die gemeinsame Überlieferung der beiden Teile der Handschrift Vat. ebr. 100 folgt, lässt sich nicht ermitteln. Zur Datierung und näheren Beschreibung der Handschrift vgl. Richler , Hebrew Manuscripts, S. 67; außerdem: Umberto Cassuto : Codices Vaticani Hebraici. Codices 1 - 115. Città del Vaticano 1956, S. 144 - 146; Stefano Evodio Assemani und Giuseppe Simone Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 108 auf einer kurzen aggadischen Passage im Talmud beruht, den Blick des Rezipienten auf die Geschichten Sendebars beeinflusst, ist noch zu untersuchen. 17 Der zweite Teil des Manuskripts wurde mit großer Wahrscheinlichkeit in der jüdischen Gemeinde der kretischen Hafenstadt Candia (heute: Iraklio) angefertigt. Darauf deutet die Verwendung von Wörtern und Ausdrücken hin, die sich sonst nur in eindeutig dieser Gemeinde zuzuordnenden Handschriften finden. 18 Die Gemeinde von Candia unterhielt Handelsbeziehungen mit den europäischen Seestädten wie auch mit Ägypten und Konstantinopel. Zudem beherbergte sie vor allem ab dem 15. Jahrhundert zahlreiche Einwanderer aus Nordafrika und dem Nahen Osten sowie aus Italien, Spanien, Deutschland und Frankreich. 19 Wenn sich also in der Geschichte eines Königssohns Anklänge an die aschkenasischen Dämonenhochzeitserzählungen feststellen lassen, dann Assemani : Bibliothecae Apostolicae Vaticanae codicum manuscriptorum catalogus in tres partes distributus in quarum prima orientales in altera graeci, in tertia latini italici aliorumque europaeorum idiomatum codices. Bd. 1. Paris 1926, S. 70 f. Zur Geschichte des Manuskripts vgl. Morris Epstein : Vatican Hebrew Codex 100 and the Historia Septem Sapientum, in: Fourth World Congress of Jewish Studies. Papers. Bd. 2. Jerusalem 1968, S. 17 - 20; Epstein , Tales of Sendebar, S. 352 f. Sowohl zur Handschrift als auch zu der Geschichte eines Königssohns vgl. Dan , Version. 17 Der dem Zyklus vorangestellte Text mag beispielsweise für die Gefahren von Hochmut und Kontrollverlust sensibilisieren, aber auch für die Risiken, die sich für die herrscherliche Nachfolge daraus ergeben, dass an Stelle des Königs ein anderer mit dessen Frauen schläft. Zum Bild des Dämons Aschmedai vgl. auch Kap. 1.3 und Kap. 5. 18 Vgl. Natalie Wienstein : Chajim u-Mavet be-Jad ‹ ha-Ischa › . Nusach ‹ Mischle Sendebar › be-Ktav ha-Jad ‹ Vatican 100 › . Mahadura ve-Ijun. Tel Aviv 2008 [unveröffentlichte Master Thesis; hebr.], S. 26 und 33. 19 «It should come as no surprise to us then, that as circumstances worsened for Jews in Spain, Italy, Germany, and France, Crete remained an attractive destination for immigrants.« Andrew Jason Schoenfeld : Immigration and Assimilation in the Jewish Community of Late Venetian Crete (15 th to 17 th Centuries), in: Journal of Modern Greek Studies 25,1 (2007), S. 1 - 15, hier S. 4. Joshua Starr erklärt die ab dem 14. Jahrhundert einsetzende Einwanderung von Juden aus Frankreich, Deutschland, Italien und von der iberischen Halbinsel mit der Politik der venezianischen Herrscher: «Suffice it to recall that these were the years of migration to Eastern Europe and the Ottoman empire and that the Venetian policy toward the Jews was probably known in the countries of emigration as relatively favorable.« Joshua Starr : Jewish Life in Crete under the Rule of Venice, in: PAAJR 12 (1942), S. 59 - 114, hier S. 103. Starr erwähnt auch die im Jahr 1400 erbaute sogenannte Allemaniko-Synagoge, gestiftet von einem reichen Gemeindemitglied aschkenasischen Ursprungs. Vgl. Starr , Jewish Life, S. 98. Textüberlieferung und Textgestalt 109 ist zu vermuten, dass in diesen auf Kreta verfassten Text Elemente des Narrativs der gestörten Mahrtenehe eingeschrieben wurden, die aus Aschkenas nach Südosteuropa mitgebracht worden waren. 20 Inhalt und Struktur Unter Verwendung der hochmittelalterlichen Geschichte von der Dämonin und der Quelle bzw. der spätmittelalterlichen Geschichte eines Königssohns demonstriert die Frau des Königs aus der Rahmenerzählung der Geschichten Sendebars, wie wenig sich ein König auf seine Berater und möglicherweise auch auf seinen Sohn verlassen darf. Die Geschichte selbst in all ihren Versionen handelt von einem König namens Botzra, der seinen einzigen Sohn so sehr liebt, dass er ihn vor jeglichem Schaden bewahren will. Eines Tages bringt der Königssohn mit der Unterstützung eines der Ratgeber seines Vaters diesen dazu, ihm die Erlaubnis zu einem Jagdausflug zu erteilen. Auf der Jagd nach einem Hirsch aber lässt der Ratgeber zu, dass der Prinz in die Irre reitet. Dieser wird von der übrigen Gesellschaft getrennt und verirrt sich. Der Berater kehrt heim und erzählt dem König, dass ein wildes Tier seinen Sohn zerrissen habe. Die Trauer des Herrschers ist groß. Unterdessen begegnet der Prinz in der Wildnis einer jungen Frau, die ihm erzählt, dass auch sie von ihrer Gesellschaft getrennt worden sei und dass sie einen Handel mit ihm schließen wolle: Wenn er sie auf seinem Pferd mitreiten lasse, dann werde sie ihn zu seinem Vater zurückführen und dadurch selbst gerettet werden. Der Königssohn willigt ein. Als er dem Mädchen jedoch während einer Rast in der Nähe einer Ruine nachspioniert, muss er zu seinem Schrecken feststellen, dass sie eine Dämonin ist. Diese schmiedet mit ihren Gefährtinnen und Gefährten furchteinflößende Pläne über ihr weiteres Verfahren mit dem Prinzen. Als die Dämonin dessen Angst bemerkt, hat sie Mitleid mit ihm und rät dem Jungen, sich in seiner Verzweiflung an Gott um Hilfe zu wenden. Dies tut er, und die Dämonin stürzt vom Pferd und stirbt. Im zweiten Teil der Erzählung gelangt der Königssohn zu einer Quelle mit einer besonderen Eigenschaft, um die er allerdings nicht weiß: Wer aus ihr trinkt, wechselt sein Geschlecht. Nach kurzem Zögern und nachdem er eine Gruppe von fröhlichen jungen Frauen in der Nähe entdeckt hat, trinkt der Prinz von dem Wasser, verwandelt sich in eine Frau und schließt sich der Gesellschaft der anderen Mädchen an. Eine der Frauen, bei denen es sich 20 Dass es sich bei der Geschichte eines Königssohns wohl um einen Text handelt, der in Candia nicht nur abgeschrieben, sondern bei der Niederschrift auch maßgeblich gestaltet wurde, wird später noch zu zeigen sein. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 110 ebenfalls um Dämoninnnen handelt, bietet ihm, nachdem er seine Geschichte erzählt hat, wiederum einen Handel an: Sie verspricht, ihm bei der Rückverwandlung in einen Mann zu helfen, wenn er sich bereit erkläre, sie danach zu seinem Vater heimzuführen und zur Frau zu nehmen. Auch hierin willigt der junge Mann ein und wird verwandelt. Von dieser Stelle an beginnen die hochmittelalterliche Version der Geschichte und ihre Fassung in MS Vat. ebr. 100 voneinander abzuweichen. In der Geschichte von der Dämonin und der Quelle wird nur noch knapp erzählt, wie der Prinz die Dämonin mit an den Hof seines Vaters nimmt und diesem von den Geschehnissen berichtet, woraufhin König Botzra den zu Beginn erwähnten Ratgeber hinrichten lässt. In der Geschichte eines Königssohns hingegen kehrt der Protagonist nicht nach Hause zurück, sondern geht mit der Dämonin in deren Heimatstadt und heiratet sie dort. Er hat es nicht eilig, die Dämonenwelt zu verlassen. Seine Frau erinnert ihn nach einer Weile an sein Versprechen und drängt ihn dazu, gemeinsam mit ihr zu seinem Vater zurückzukehren. Hier bricht der Text ab mit den Worten: Von hier an fehlt etwas. Ich habe danach gesucht, es aber nicht gefunden. 21 Dies ist das einzige Mal, dass in dieser Version der Geschichten Sendebars eine Erzählung aufgrund einer tatsächlichen oder vermeintlichen Unzuverlässigkeit der Vorlage nicht zu Ende geführt wird. Die spätmittelalterliche Version der Erzählung stellt also zunächst kein geschlossenes Konstrukt dar. Dies wird besonders deutlich, wenn man die räumlichen Stationen betrachtet, die die Handlung durchläuft. Vom Hof seines Vaters zieht der Königssohn hinaus in die Wildnis. Von dort kehrt er aber, anders als in allen übrigen überlieferten Fassungen der Geschichte von der Dämonin und der Quelle, nicht auf direktem Weg an den heimatlichen Königshof zurück, sondern wird in das Reich der Dämonen mitgenommen. Sein Aufenthalt dort soll zwar, wie immer wieder betont wird, zeitlich begrenzt sein. Von der tatsächlichen Rückkehr des Prinzen nach Hause aber erzählt der Autor oder Schreiber der Geschichte eines Königssohns nicht mehr. Stattdessen wird die Geschichte von einem späteren Bearbeiter der Handschrift zu Ende gebracht. Den Zwischenraum zur nächsten Geschichte sowie den seitlichen und unteren Rand der Handschrift nutzend, wird der Schluss nachgetragen, so wie er in den anderen Versionen der Erzählung überliefert ist: 21 מ כ א ן ח ס ר מ ע ט ו ב ק ש ת י ה ו ו ל א מ צ א ת י ה ו . [S. 364]. Textüberlieferung und Textgestalt 111 Die Dämonin nahm ihn mit sich. Sie brachten zusammen Götzen herbei und schlossen einen Bund. Er nahm das Mädchen mit sich und brachte es zu seinem Vater. Er erzählte seinem Vater alles, was geschehen war. Da befahl der König, den Ratgeber zu töten. 22 Den Anschluss an die Rahmenhandlung stellen die abschließenden Worte der Frau des Königs her, die die Binnenerzählung präsentiert: ‹ Auf die gleiche Weise wird der Herr mich an dir rächen, wie er es auch für den Sohn dieses Königs getan hat. › Der König befahl, seinen Sohn zu töten. 23 Dass es sich bei diesen beiden kurzen Zitaten um eine nachträgliche Hinzufügung handelt, wird nicht nur durch den Kommentar des ersten Schreibers, sondern auch stilistisch durch die lakonische Kürze der Schlussbemerkungen sowie im Schriftbild markiert (siehe S. 113). In der Geschichte eines Königssohns wird die Rückkehr des Prinzen an den Hof seines Vaters durch die Einkehr bei den Dämonen ersetzt. Der größte Teil der Handlung spielt sich folglich im liminalen Raum der Wildnis sowie im gleichfalls als fremd und gefährlich konnotierten Dämonenreich ab. Bis zu seiner Ankunft in der fremden Stadt legt der Held einen doppelten Weg zurück, dessen Hauptstationen ‹ Ruine › und ‹ Brunnen › zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Die Handlung endet in der Geschichte eines Königssohns, anders als in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle, nicht am Ausgangspunkt, sondern bricht im Dämonenland einfach ab. Dadurch, dass der Erzähler den Protagonisten nicht nach Hause zurückkehren, sondern ihn sich stattdessen in die Gesellschaft der Dämonen integrieren lässt, entfernt er sich sehr weit von dem Muster, nach dem die Handlung in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle entwickelt wird. Eine bestimmte Logik der Allianzbildung, nach der der Mann in den Lebensraum der Frau übersiedelt, statt sie mit sich in seinen eigenen Herkunftsbereich zu nehmen, wird gegen die Anforderungen der Deszendenz, für die die Wiedervereinigung mit dem Vater steht, ausgespielt. Die Frage, wie sich diese Differenz auf mögliche Interpretationen der hochmittelalterlichen bzw. der spätmittelalterlichen Erzählung auswirkt, ist Gegenstand der folgenden Kapitel. 22 ו ת ק ח ה ו ה ש י ד ה ו י ב י א ו ג י ל ו ל י ם ש נ י ה ם ו י כ ר ת ו ש נ י ה ם ב ר י ת ו י ק ח ה נ ע ר ה ע מ ו ו י ב י א ה א ל א ב י ו ו י ס פ ר א ל א ב י ו א ת כ ל א ש ר . ק ר ה ו ו י צ ו ה מ ל ך ל ה ר ו ג א ת ה י ו ע ץ ה ה ו א . [S. 364]. 23 כ ן י ר א נ י ה ש ' נ ק מ ה ב ך כ א ש ר ה ר א ה ל ב ן ה מ ל ך ה ה ו א ו י צ ו ה מ ל ך ל ה ר ו ג א ת ב נ ו . [S. 365]. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 112 Fol. 175r der Handschrift Vat. ebr. 100, Kreta, 15. Jahrhundert. Aufbewahrungsort: Biblioteca Apostolica Vaticana (reproduced by permission of Biblioteca Apostolica Vaticana, with all rights reserved). Textüberlieferung und Textgestalt 113 3.2 Väter und Söhne Das Motiv, dass der Held einen Vater besitzt, dessen Ansprüchen er gerecht werden muss, ist im Rahmen der jüdischen Mahrtenehenerzählungen ein Novum. Die männlichen Helden in der Geschichte eines Amulettschreibers und in der Geschichte eines armen Mannes besitzen gar keine Väter, die sie einschränken, lieben oder Forderungen an sie stellen könnten. Bei diesen beiden mittelalterlichen Protagonisten handelt es sich um erwachsene Männer, die zwar durch den Kontakt mit dem Dämonenreich Gefahr laufen, ihre eigenen, von ihnen selbst gegründeten Familien zu vernachlässigen. Von Schwierigkeiten, die eine menschliche Elterngeneration bereiten könnte, werden sie jedoch verschont. Die aus dem Mittelalter überlieferte Geschichte von der Dämonin und der Quelle handelt demgegenüber von einem Sohn, der zum Zweck der Jagd einen liebenden und beschützenden Vater verlässt. Nach allen überstandenen Abenteuern hat er nichts Besseres zu tun, als schnellstmöglich zu eben diesem Vater zurückzukehren. Damit handelt es sich bei der Geschichte von der Dämonin und der Quelle um die älteste überlieferte Erzählung von der Hochzeit eines menschlichen Mannes mit einer Dämonin, in der dieser Mann sich nicht nur mit möglichen oder tatsächlichen Allianzpartnerinnen auseinandersetzen muss. Von ihm wird zusätzlich verlangt, die Wünsche seines Vaters zu berücksichtigen, die mit seinen eigenen nur bedingt übereinstimmen. In der Geschichte eines Königssohns wird dieser Antagonismus später noch verstärkt. Was die Einführung von Elternfiguren angeht, so befindet sich also im Hochmittelalter allein der Prinz aus der Geschichte von der Dämonin und der Quelle in einer ähnlichen Situation wie die Helden der höfischen Mahrtenehenerzählungen. Auch diesen wird ein bestimmtes Abstammungsverhältnis zugeschrieben, durch das sie in einem größeren verwandtschaftlichen Zusammenhang verortet werden. Aus diesem Bezug leitet sich die adlige Identität der Helden ab. Die als höfische Ritter gekennzeichneten Protagonisten suchen und finden die Balance zwischen individuellem Begehren und den gesellschaftlichen Ansprüchen, die mit ihrer Herkunft verbunden sind, immer im Zusammenspiel mit Vertretern der adligen Gesellschaft. Dabei offenbart sich allerdings ein grundlegender Unterschied zwischen den vormodernen jüdischen und den christlichen Mahrtenehenerzählungen. In der Geschichte von der Dämonin und der Quelle oder in der Geschichte eines Königssohns besteht die grundlegende Erwartung an den Helden darin, zu seinem Vater zurückzukehren. Die Helden der christlich-höfischen Erzählungen hingegen scheinen Eltern nur zu dem Zweck zu besitzen, dass sie sich dauerhaft von ihnen emanzipieren können. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 114 In der Eingangsformel zu dem Lai Guigemar der Marie de France wird der Rezipient darüber informiert, dass der Protagonist der Sohn eines Barons namens Oridal, des Herrn von Léon ist. Sodann heißt es von Guigemar: Seine Mutter liebte ihn außerordentlich, und er stand sich sehr gut mit seinem Vater. Als der ihn von sich lösen konnte, schickte er ihn fort, dem König zu dienen. 24 Das Verhalten von Eltern und Sohn erscheint als für die höfische Epik des Mittelalters paradigmatisch: Wenn ein Held überhaupt Eltern hat, dann geht er von ihnen fort. Wenn es nötig ist, wird die Ablösung sogar von ihnen selbst aktiv betrieben, damit der Sohn sich eigenständig bewähren kann. Dadurch wird er in die Lage versetzt, entweder in der Fremde eine Existenz zu gründen oder aufgrund der Bewährung fernab der Heimat später die Herrschaft von seinem Vater zu übernehmen. 25 Enge Eltern-Sohn- oder Vater-Sohn-Beziehungen spielen in der höfischen Literatur, dem Habitat der Feen und ihrer Geliebten, nur eine marginale Rolle. 26 Das heißt auch, dass die Eltern als Erziehungs- und Leitungsinstanzen ausfallen. Wie sich der Held zu verhalten habe, das erfährt er in den höfischen Mahrtenehengeschichten nicht etwa von seinen Erzeugern, sondern von anderen Vertretern der Gesellschaft, in die er nach seiner ritterlichen Bewährung als vollgültiges Mitglied integriert werden soll, also von Angehörigen der Artusgesellschaft, von einer unbestimmten Gruppe von fru ̓ nden und bru ͤ dern wie etwa im Ritter von Staufenberg, von Lehnsherren, von Repräsentanten des Klerus oder eben von der Fee, die er liebt. 27 24 A merveille l ’ amot sa mere / E mult esteit bien de sun pere. / Quant il le pout partir de sei, / Si l ’ enveat servir le rei (V. 39 ff). 25 Ähnlich ergeht es Lanval in dem gleichnamigen Lai, der gerade deswegen darunter leidet, von König Artus nicht mit Besitz ausgestattet zu werden, weil er zwar von königlicher Herkunft ist, davon aber nicht viel hat: Er war der Sohn eines Königs, von hoher Abkunft, aber er war fern von seinen Erbgütern! (Fiz a rei fu, de haut parage, / Mes luin ert de sun heritage! V. 27). 26 Vgl. dazu Michael Mecklenburg : Väter und Söhne im Mittelalter: Perspektiven eines Problemfeldes, in: Das Abenteuer der Genealogie: Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter. Hg. von Johannes Keller , Michael Mecklenburg und Matthias Meyer (Aventiuren 2). Göttingen 2006, S. 9 - 38, hier S. 16. 27 Im Iwein Hartmanns von Aue sind es nicht die Eltern, die den Protagonisten zu ritterlicher Betätigung und Bestätigung ermutigen, sondern seine Kollegen am Artushof. Die gesellschaftlichen Ansprüche, die im Roman an den Helden gestellt werden und die ihn in Konflikt mit seiner feenhaften Ehefrau bringen, formuliert Iweins Freund Gawain als Vertreter der Artusgesellschaft. Die Stellung von Iweins königlichem Vater verhilft dem Sohn lediglich zur Legitimation seines Anspruchs auf eine ebenso vornehme Frau. Vgl. Laudines Reaktion auf die Offenbarung von Iweins ‹ Herkommen › in: Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe Väter und Söhne 115 In Konrads von Würzburg Partonopier wird die Bedeutung, die die Abkehr von den Eltern für das Erwachsenwerden des höfischen Helden hat, besonders deutlich herausgestellt. Partonopier verirrt sich ebenso wie Guigemar und der Held der Geschichte eines Königssohns während der Jagd. Als der junge Mann nach seiner Rückkehr von seiner unsichtbaren Geliebten erzählt, muss er sich mit seiner Mutter auseinandersetzen. Diese nämlich beginnt sich zu sorgen, dass Partonopier die falsche Partnerin erwählt haben könnte: ‹ ein tiufel zuo zim drinne kam, zuo dem er sich vil nâhen smouc. in wîbes forme er in betrouc. › (V. 6828 - 6830) Zuerst will die Mutter ihren Sohn mit Hilfe eines Zaubertranks dazu bringen, sich in eine andere Frau zu verlieben und diese zu heiraten. Als die List nicht wirkt, verursacht die Mutter bei Partonopier selbst Zweifel an der Geliebten und veranlasst ihn dazu, Meliurs Sichtverbot zu brechen, was zur zeitweiligen Trennung von der Fee führt. Partonopier sagt sich daraufhin von seiner Mutter los: ‹ ir hânt leider mir benomen stæte fröude ân underbint. gêt, suochet iu ein ander kint, wande ich weder sol noch mac iuwer sun für disen tac niemer mêr geheizen. › (V. 9448 - 9453) In diesem Roman kommt es zu einem fundamentalen Interessenskonflikt des männlichen Protagonisten mit einem Elternteil, da die Mutter großes Interesse daran zeigt, das Leben ihres Sohnes in eine ihr angenehme Richtung zu lenken. Bezeichnenderweise wird dieser Konflikt aber ebenso schnell wie vollständig gelöst, indem der Held nicht etwa Mutter und Geliebte miteinander versöhnt, sondern sich kurzerhand zugunsten der Geliebten gegen die Mutter entscheidet. Auf irgendeine Weise bestraft oder auch nur getadelt wird Partonopier dafür nicht. Es wird nicht erst mühevoll nach einer Balance zwischen von Georg Friedrich Benecke , Karl Lachmann und Ludwig Wolff . Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer . Berlin, New York 4 2001, V. 2109 - 2114.Im Ritter von Staufenberg ist von den Eltern des Helden gar keine Rede. Selbst wenn man den wysen alten, der die in der amorphen Verwandtengruppe aus fru ̓ nden und bru ͤ dern (V. 626 ff) kursierenden Befürchtungen ausspricht, als den Vertreter nicht vorhandener Eltern betrachtet, so tritt doch auch er alsbald in den Hintergrund und räumt den Platz für einen fordernden und mahnenden Vertreter der Kirche. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 116 den Ansprüchen und Wünschen der Elterngeneration und denen des Kindes gesucht. Die Mutter wird als unrecht handelnd geschildert, erhält eine Absage und verschwindet ohne weiteres aus der Handlung. Partonopier ist für eine sichtbare Beziehung oder gar Ehe noch zu jung. Dass er sich erst als Ritter zu bewähren hat, darin liegt die wahre Aufgabe, die er bewältigen muss. Der junge Mann lernt dies nicht von Mutter oder Vater, sondern von seiner Geliebten und von deren kluger Schwester. Mit anderen Worten: Die Welt des Romans gehört den jugendlichen Protagonisten. Die höfischen Helden der Erzählungen von gestörter Mahrtenehe bleiben allerdings nicht immer mehr oder weniger elternlos. Zu einer Einführung handlungsfähiger Vaterfiguren kommt es in der Melusine in ihren französischen Fassungen wie auch in der deutschen Bearbeitung. Nicht nur die Fee hat hier mit einer konfliktbeladenen Elternkonstellation zu kämpfen. Auch der menschliche Protagonist Reymond wird mit gleich zwei Vätern, einem armen leiblichen Vater und einem reichen Ziehvater sowie mit zehn Söhnen ausgestattet, die ihrerseits zu Helden eigener Handlungsstränge werden. Einerseits gilt auch für die Melusine-Romane: Sämtliche Söhne gleich welcher Generation zeichnen sich dadurch aus, dass das Verhältnis zu ihren Vätern entweder zeitlebens lose bleibt oder aber frühzeitig ganz beendet wird - sei es durch das Weggeben oder die Ermordung des Kindes, durch die Tötung des Ziehvaters, durch den Rückzug des Vaters in ein Einsiedlerdasein oder durch den Auszug der Söhne in fremde Königreiche. Andererseits ist die Melusine einer der Romane des europäischen Mittelalters, in dem das Narrativ der gestörten Mahrtenehe eine entscheidende Rolle spielt und in dem zugleich eine Tendenz aufgegriffen wird, die vor allem im Spätmittelalter in zahlreichen fiktionalen Texten wie dem Fortunatus oder der Historia von D. Johann Fausten zutage tritt: die Tendenz zur Verwendung von Formen ‹ genealogischen Erzählens › . Genealogisches Erzählen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das erzählte Geschehen sich mehr oder weniger stark an einer Logik der Abstammung orientiert. Erzählungen von Spitzenahnen, Dynastiegründungen und Abstammungslinien gibt es auch schon im hohen Mittelalter. Ein Beispiel dafür ist Konrads von Würzburg Mahrtenehenerzählung vom Schwanritter, in dem vom Ursprung der Häuser von Geldern, Kleve und Rieneck erzählt wird. In den verschiedenen deutschen und französischen Gralsromanen wiederum wird auf häufig originelle Weise verhandelt, wie Herrschaft (Gralskönigtum) und Erbe (der Gral) über Generationen hinweg tradiert werden können, ohne dass dabei allzuviel Geschlechtsverkehr ins Spiel kommt. 28 In den höfischen Romanen des 28 Zu genealogischem Denken im Mittelalter vgl. u. a. ausführlich Beate Kellner : Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. Väter und Söhne 117 Hochmittelalters, in deren Resonanzraum sich das Narrativ der gestörten Mahrtenehe entwickelt, liegt insgesamt dennoch der Fokus häufiger auf den komplexen Strukturen von kognatisch organisierter Verwandtschaft als auf der Vertikale der lignage. 29 Dies ändert sich im Spätmittelalter. Nicht nur schwie- München 2004 sowie Ursula Peters : Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters (Hermaea N. F. 85). Tübingen 1999. Eine Stellungnahme zu diesen beiden Studien sowie zu Albrecht Koschorkes Untersuchung Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch (ftb 14765). Frankfurt 3 2001 findet sich bei Manuel Braun : Stifterfamilien, Josephs-Ehen, Spitzenahnen. Entwürfe von Familie und Verwandtschaft im Spiegel kulturwissenschaftlicher Forschung, in: PBB 126,3 (2004), S. 446 - 466. Vgl. auch den Sammelband von Kilian Heck und Bernhard Jahn (Hgg.): Genealogie als Denkform in Mittelalter und früher Neuzeit. Tübingen 2000.Zur Gestaltung des Schwanritterstoffs als Ursprungsmythos vgl. u. a. Peter Strohschneider : Ur- Sprünge. Körper, Gewalt und Schrift im ‹ Schwanritter › Konrads von Würzburg, in: Gespräche - Boten - Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. von Horst Wenzel (Philologische Studien und Quellen 143). Berlin 1997, S. 127 - 153; Horst Brunner : Genealogische Phantasien. Zu Konrads von Würzburg ‹ Schwanritter › und ‹ Engelhard › , in ZfdA 110,4 (1981), S. 274 - 299; Klaus Graf : Genealogisches Herkommen bei Konrad von Würzburg und im ‹ Friedrich von Schwaben › , in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 5 (1988/ 89), S. 285 - 295. Zu genealogischen Systemen in den Gralsromanen vgl. besonders Elisabeth Schmid : Familiengeschichten und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in den französischen und deutschen Gralromanen des 12. und 13. Jahrhunderts (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 211). Tübingen 1986. 29 Zu der bis heute in der Geschichtswie auch in der Literaturwissenschaft häufig wiederholten Annahme, dass bereits am Übergang vom Frühzum Hochmittelalter, also ungefähr um die Jahrtausendwende, ein Wechsel von der Sippe zum Adelsgeschlecht, d. h. von einem kognatisch zu einem agnatisch strukturierten Verwandtschaftssystem stattgefunden habe vgl. den Überblick über die verschiedenen nationalen Forschungsstände bei Bernhard Jussen : Perspektiven der Verwandtschaftsforschung fünfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys ‹ Entwicklung von Ehe und Familie in Europa › , in: Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters. Hg. von Karl-Heinz Spie ßß (Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte: Vorträge und Forschungen 71). Ostfildern 2009, S. 275 - 324. David W. Sabean und Simon Teuscher zeigen, dass sich eine grundlegende Umstrukturierung des lateineuropäischen Verwandtschaftssystems erst am Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit ereignet, also im 15.-16. Jahrhundert. Vgl. David Warren Sabean , Simon Teuscher und Jon Mathieu (Hgg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300 - 1900). Oxford, New York 2007. Jussen weist darauf hin, dass auf der diskursiven Ebene, was die Repräsentation einer Verwandtengruppe angeht, Verwandtschaft auch im Hochmittelalter durchaus agnatisch erscheinen kann. Vgl. Jussen , Perspektiven, S. 283 f. Zu den Möglich- Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 118 rige Vater-Sohn-Beziehungen treten in der deutschen Heldenepik und im Artusroman seit dem 13. und 14. Jahrhundert vermehrt auf. 30 Immer öfter sind nun Figuren in erzählenden Texten durch drei oder mehr Generationen umfassende Abstammungslinien miteinander verbunden. Genealogie «als Ordnungs- und Denkform« des Erzählens ist vor allem «im 15. und 16. Jahrhundert ausgesprochen aktuell, denn einige der erfolgreichsten Prosaromane ordnen ihr Geschehen anhand mehrerer Generationen und diskutieren erzählend genealogische Fragen und Probleme«. 31 In den christlichen Romanen, gleich, ob sie in einem höfischen oder in einem städtischen Kontext entstehen, formulieren die solchermaßen als bedeutsam und aktiv eingeführten Elternfiguren denn auch soziale Standards, wachen über ihre Einhaltung und rächen ihre Verletzung im Dienst genealogischer Beständigkeit. Dabei versuchen sie allerdings selten, den Helden davon abzuhalten, von zuhause fortzugehen, Abenteuer zu erleben und sich fern der Heimat zu bewähren. Elternfiguren, die ein Interesse am künftigen Werdegang ihrer Nachkommen haben, treten auch in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen auf. Sie gehen jedoch anders vor. Wenn in der Geschichte eines Königssohns noch plakativer als in ihrem hochmittelalterlichen Vorläufer, der Geschichte von der Dämonin und der Quelle, von einem jugendlichen Protagonisten erzählt wird, dessen Vater Wert darauf legt, dass sein Sohn in der Nähe bleibt und ihm auf dem Thron nachfolgt, und wenn in der Erzählung problematisiert wird, dass der Sohn die Erfüllung keiten, die Vorstellung von der hoch- und spätmittelalterlichen Verwandtschaft als Agnatenverband mit der Vorstellung von der durchgängig kollateralen lateineuropäischen Verwandtschaft zu harmonisieren vgl. z. B. Joseph Morsel : Geschlecht und Repräsentation. Beobachtungen zur Verwandtschaftskonstruktion im fränkischen Adel des späten Mittelalters, in: Die Repräsentation der Gruppen: Texte - Bilder - Objekte. Hg. von Otto Gerhard Oexle und Andrea von Hülsen-Esch (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 141). Göttingen 1998, S. 259 - 325. Wenn in mittelalterlichen Texten und Abbildungen die lignage im Mittelpunkt steht, dann kann es sich dabei durchaus in viel höherem Maß um ein Legitimationsmedium des Herrschaftszugangs als um eine Verwandtschaftskategorie handeln. 30 So beispielsweise in der Dietrichsowie in der Ortnit-Wolfdietrich-Epik, aber auch im Lanzelet, im Wigalois oder im Wigamur. Vgl. Mecklenburg , Väter und Söhne, S. 17. 31 Michael Ott : Dynastische Kontinuitätsphantasien und individuelles Begehren. Genealogisches Erzählen in Prosaromanen, in: Familie - Generation - Institution. Generationenkonzepte in der Vormoderne. Hg. von Hartwin Brandt , Maximilian Schuh und Ulrike Siewert (Bamberger Historische Studien 2). Bamberg 2008, S. 213 - 248, hier S. 214 f.Zu narrativen Genealogieprinzipien in der Melusine vgl. z. B. Kellner , Genealogie. Väter und Söhne 119 dieser Forderung gefährdet - ist dies dann ein Anzeichen dafür, dass die Logiken von Genealogie und Dynastie ebenfalls in die jüdische Erzählpraxis Einzug halten? Wie die Melusine, Maximilians I. Weißkunig, der Fortunatus oder das Faustbuch handelt ja auch die Geschichte eines Königssohns von dem, was Eltern, besonders Väter, ihren Söhnen an Gaben und Aufgaben mitgeben oder vorenthalten und wie diese mit der Situation umgehen. Trotz mancher Ähnlichkeiten liegen jedoch den jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen andere Problemkonstellationen zugrunde als den genealogisch strukturierten zeitgenössischen Prosaromanen. Auch jüdische Autoren führen zuweilen starke Elternfiguren ein und orientieren sich dabei an Logiken der Abstammung und des Fortlebens einer Linie. Und auch sie verfolgen genealogische Konzepte. Aber sie tun es auf andere Weise, als dies im christlichen Kontext geschieht. Es geht in den jüdischen Texten nicht darum, von der Gründung oder Fortsetzung eines Geschlechts zu erzählen, an dessen Spitze eine nichtmenschliche Frau steht. Im Gegenteil: Zwar gibt es Ursprungsgeschichten und Gründungserzählungen in der jüdischen Literatur ebenso wie in der christlichen. 32 Als Spitzenahnin jedoch, auf die sich ein Nachkomme mit Stolz berufen könnte, eignen sich die Dämoninnen in den jüdischen Erzählungen nicht. Das Potential der mythischen Ahnfrau wird nur zu dem Zweck heraufbeschworen, um mehr oder weniger radikal zurückgewiesen zu werden. 33 Halbdämonischen Nachkommen wird in der Menschenwelt selten ein Platz zugestanden. 34 Gerade im Vergleich mit christlichen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe wird also deutlich, dass das höfische Modell der exogamen Heirat und der räumlichen Expansion, das die mittelalterlichen christlichen Romane dominiert, in den zeitgenössischen und jüngeren jüdischen Erzählungen 32 Vgl. beispielsweise die Megillat Achimaatz, eine Familienchronik aus dem 11. Jahrhundert, oder die Erzählung von den vier Gefangenen in Abraham ibn Dauds Sefer ha-Kabbala (12. Jahrhundert). 33 Eine Ausnahme bildet die Geschichte eines Jerusalemers. Vgl. dazu Kapitel 5.3. 34 Somit ähneln die jüdischen Texte weniger der Melusine als den Mahrtenehenerzählungen der deutschen Romantik: «Ging es im mittelalterlichen Roman um das Phantasma der phallischen Frau und der Genealogie, so steht im romantischen Roman das Problem der Vereinbarkeit von Liebe und Ehe im Mittelpunkt.« Kra ßß , Meerjungfrauen, S. 184. So lange Liebe und Ehe nicht miteinander vereinbart werden können, so lange haben auch hybride Kinder keinen Platz in der Menschenwelt mit ihren rigiden Strukturen. Die Möglichkeit, die in der Verbindung imaginierten transgressiven Möglichkeiten auszuschöpfen und den darin entdeckten neuen Beziehungskonzepten Dauerhaftigkeit zu verleihen, wird im jüdischen Kontext gestörter Mahrtenehe ebenso verneint wie in Christian August Vulpius › romantischer Saal-Nixe. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 120 zwar aufgenommen, letztlich aber abgelehnt wird. In den hebräischen und jiddischen Texten des 15. und 16. Jahrhunderts geht es nicht darum, dass ein Sohn ausziehen und eine eigene Existenz in der Ferne aufbauen soll, wie es in der Melusine, aber auch schon früher im Guigemar oder im Partonopier geschieht. Vielmehr wird im jüdischen Kontext ab dem 15. Jahrhundert davon erzählt, dass die Helden am besten gleich den Platz ihrer Väter einnehmen sollen, ohne zuvor irgendwelche Abenteuer in der Fremde zu bestehen. Das Ideal einer funktionierenden Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen impliziert hier, Kinder nur mit passenden Frauen zu zeugen. Da aber eine Frau als umso unpassender gilt, je dämonischer, das heißt je andersartiger sie ist, konstituiert sich das jüdische Modell gerade aus der Umkehrung des christlichen. Auf die Stabilität bereits bestehender Allianzen wird mehr Wert gelegt als auf die Erschließung neuer Räume oder die Übernahme neuen Wissens und die Knüpfung neuer Verbindungen. Von den Protagonisten der jüdischen Texte wird gefordert, ihr Zuhause entweder nie zu verlassen oder doch zumindest am Ende als erwachsene und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft wieder genau dort zu stehen, von wo sie aufgebrochen sind. Man kann die Tendenz, im Weggehen der Söhne von zuhause ein grundlegendes Risiko nicht nur für die jungen Männer selbst, sondern auch für ihre Herkunftsgemeinschaft zu sehen, mit der Diasporasituation der jüdischen Minderheit im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen christlichen Europa erklären. Angehörige einer solchen Minderheit müssen sich immer wieder die Frage stellen, wie eng sie ihre Beziehungen zu den Vertretern der Mehrheitsgesellschaft knüpfen sollen und können und ob intensiver Kontakt dazu führt, dass die kleinere Gruppe sich in der größeren auflöst. An den jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen wird ersichtlich, wie eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: Eine Gemeinschaft kann sich keine abenteuerlichen Ausflüge in die von einer als andersartig empfundenen Mehrheitsgesellschaft geprägte Fremde leisten, wenn sie ihre Identität, wie auch immer sich diese konstitutiert, bewahren will. Anders als in der christlichen Kultur werden dämonische Allianzen daher nicht als Chance für den Fortbestand einer Linie oder als Bereicherung der eigenen, eng definierten und nach außen abgegrenzten Gruppe angesehen. Allerdings: Stoff zum Geschichtenerzählen gibt es nur, wenn die Helden etwas erleben. Dies geschieht vor allem dann, wenn sie von zuhause fortziehen und mit exotischen Personen und Bereichen in Kontakt kommen. Dies ist das höfische Erbe der jüdischen Mahrtenehenerzählungen. Die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen verbinden beides: höfische Abenteuerlust und die Forderung, der Herkunftsgesellschaft verbunden zu bleiben. Dabei wird das gleichermaßen als bedrohlich wie auch als verlockend empfundene ‹ Außen › mit der Dämonin Väter und Söhne 121 identifiziert, während der Vater des Helden die statische und stabile Verortung im Inneren der Gemeinschaft mit ihren jeweiligen Regeln und Werten verkörpert. Der Gegensatz zwischen Außen und Innen, zwischen fremd und zugehörig wird an der Art und Weise demonstriert, in der der junge, männliche Protagonist sich gegenüber den unterschiedlichen Anforderungen von Allianz und Deszendenz, das heißt von ehelichen oder eheähnlichen Beziehungen und dem Verhältnis zu seinen Vorfahren positioniert. Dass dabei die aufregenden Exkursionen in die Fremde und der Kontakt mit gefährlichen, für die Heirat ungeeigneten Frauen einen Reiz entfalten, der dem Verbleiben am topographischen wie auch kulturellen Herkunftsort zuwiderläuft, davon wird unter anderem in den zeitgenössischen jüdischen Geschichten von gestörter Mahrtenehe erzählt. Die hochmittelalterliche Geschichte von der Dämonin und der Quelle ist hierfür ein Beispiel. An der spätmittelalterlichen Variante dieser Erzählung wiederum lässt sich beobachten, wie ein Erzähler des 15. Jahrhunderts die in der älteren Fassung der Erzählung bereits angelegten Überkreuzungen der Ansprüche von Allianz und Deszendenz aufgreift, die Gewichtungen verschiebt und durch geringe Veränderungen neue Problemfelder schafft, die in der hochmittelalterlichen Version nicht enthalten sind. 3.3 Gespaltene Macht: Die ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › In der hochmittelalterlichen Version der Erzählung, der Geschichte von der Dämonin und der Quelle, wird die Spannung, die sich aus dem Nebeneinander von exogamem Erlebnishunger und der Forderung nach Herkunftsgebundenheit ergibt, am Ende aufgelöst. Die Integration von Eheschließung in der Fremde und Rückkehr in die Heimat und zum Vater gelingt zumindest an der Oberfläche vollständig. Dem Prinzen in den mittelalterlichen Texten fallen sowohl der Auszug vom Königshof als auch die Heimkehr dorthin relativ leicht. Die Fons-Episode ist daher schnell erzählt. Sie besteht hauptsächlich daraus, dass der Prinz eine Abmachung mit der Frau an der Quelle trifft und diese die Vereinbarung erfüllt: Eines der Mädchen antwortete ihr [dem in eine Frau verwandelten Prinzen, A. L.]: ‹ Schwöre mir, dass du mich zur Frau nimmst, wenn ich dich rette. Dann werde ich dich zu deinem Vater zurückbringen. › Sie schwor ihr. Da sprach sie zur ihr: ‹ Trink aus der Quelle. › Er trank und wurde wieder zu einem Mann wie zuvor. Das Mädchen nahm ihn mit sich und brachte ihn zum Haus seines Vaters. 35 35 ו ת ע ן א ח ת מ ה נ ע ר ו ת ו ת א מ ר ל ה ה ש ב ע ל י ש ת י ק ח נ י ל א ש ה א ם א צ י ל ך ו א ש י ב ך ל א ב י ך ו ת ש ב ע ל ה ו ת א מ ר ל ה ש ת ה מ ן ה מ ע י י ן ו י ש ת ו י ה י ז כ ר כ ב ר א ש ו נ ה ו ת ק ח ה ו ו ה נ ע ר ה ע מ ה ו ת ב י א ה ו ב י ת א ב י ו . [S. 355]. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 122 Nirgends wird gesagt, dass es für Irritationen sorgen könnte, wenn der Thronfolger sich eine dämonische Braut aus der Wildnis mit nach Hause bringt. Die Eheschließung mit dem Quellenwesen wird also keinesfalls ausgeschlossen. Dazu trägt auch bei, dass es in diesem Fall keine menschliche Rivalin gibt, die ihr Vorrecht auf den Mann geltend machen und die dämonische Allianz stören kann. Anders als in der Geschichte eines Amulettschreibers und in der Geschichte eines armen Mannes wird in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle das Fortdauern der Beziehung des menschlichen Mannes mit der nichtmenschlichen Frau über das Ende der Erzählung hinaus zumindest angedeutet. Die Legitimierung einer dämonischen Ehefrau in der ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › Die Vorstellung einer dauerhaften Verbindung mit der nichtmenschlichen Frau erscheint deshalb als akzeptabel, weil die Figur der Dämonin desambiguiert und von bedrohlichem Potential befreit wird. Erreicht wird dies durch den Einsatz einer narrativen Strategie, die auch in christlichen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe verwendet wird und die Armin Schulz unter dem Stichwort ‹ Spaltungsphantasmen › untersucht hat. Von einem Spaltungsphantasma kann man dann sprechen, wenn, beispielsweise zum Zweck theologischer Rechtfertigung des Liebesverhältnisses, die gefährlichen Anteile der Fee von der Figur selbst abgespalten und auf den gefahrvollen Weg zu ihr oder auf andere Figuren ausgelagert werden. Offenbar um den Verdacht abzuwehren, die feenhafte Dame sei in Wahrheit ein Dämon, erscheint sie oftmals aufgespalten in einen überwiegend harmlosen Part, nämlich die vollendet höfische und sanftmütige Geliebte (deren ursprünglich magisches Tabu vorderhand z. B. nurmehr minnekasuistisch motiviert erscheint), und einen bedrohlichen, archaischen, gewalttätigen, dessen Stelle von unterschiedlichen Figuren und Wesen eingenommen werden kann. 36 Indem der Held die bedrohlichen Mächte überwindet, die sich ihm bei der Annäherung an die Fee entgegenstellen, überwindet er auch das bedrohliche Potential der Fee selbst. So wird er zwar mit der gesamten Bandbreite an Gefahren konfrontiert, die von der nichtmenschlichen Gestalt ausgehen. Am Ende des Weges aber trifft er auf eine Frau, deren feenhafte Anteile beinahe unsichtbar sind und der er mithin ebenbürtig oder sogar überlegen ist. Dieser Da in dieser Studie prinzipiell die ältesten Textzeugen jeder Erzählung zugrunde gelegt werden, erfolgt die Interpretation anhand der ältesten Fassung der Geschichte von der Dämonin und der Quelle in MS Oxford Bodl. Or. 135. 36 Schulz , Spaltungsphantasmen, S. 235. ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › 123 Mechanismus lässt sich in der Melusine beispielsweise an den Episoden beobachten, in denen von den scheiternden Annäherungsversuchen an Melusines Schwestern Meliora und Palentina erzählt wird. In der Königin vom Brennenden See wiederum muss der König Hans einen behaarten Einsiedler, einen Greifen, einen Riesen und einen in Flammen stehenden See passieren, bevor er seine feenhafte Geliebte zurückgewinnen und bis zu seinem Lebensende glücklich mit ihr leben kann. 37 In den jüdischen Geschichten Sendebars wird die Charakterisierung der Brunnenfee als harmlos und heiratsfähig dadurch erreicht, dass die Geschichte von der Dämonin und der Quelle aus zwei parallelisierbaren Episoden besteht. Der Protagonist begegnet nicht einer, sondern zwei Dämoninnen, von denen die erste heimtückisch und grausam, die zweite aber hilfsbereit und freundlich ist. Dadurch unterscheidet sich die hebräische Variante des Sindbad-Buchs beispielsweise vom syrischen Sindban oder vom altspanischen Libro de los engaños e los asayamientos de las mujeres, wo Striga und Fons zwei voneinander getrennte Geschichten mit zwei verschiedenen Protagonisten sind, von denen keiner auf die Idee kommt, eine Dämonin mit nach Hause zu nehmen und sie zu heiraten. 38 In der jüdischen Geschichte von der Dämonin und der Quelle hingegen, in der die beiden Erzählungen zu einer einzigen zusammengezogen sind, wird der Gedanke an eine dauerhafte Verbindung des Prinzen mit der zweiten Dämonin dadurch ermöglicht, dass in der Figur der ersten Dämonin alles Gefährliche, Bedrohliche und Abstoßende gesammelt, gebunden und überwunden wird. Darauf wird viel Mühe verwandt: Die Striga-Episode ist in den mittelalterlichen Versionen der Geschichten Sendebars mehr als doppelt so ausführlich wie die Erzählung von der Quelle und ihrer Hüterin. Dadurch aber, dass 37 Die Königin vom Brennenden See. Hg. von Paul Sappler , in: Wolfram-Studien IV. Hg. von Werner Schröder . Berlin 1977, S. 173 - 270. Vgl. dazu Schulz , Spaltungsphantasmen, S. 254 f. 38 Stattdessen trifft der Prinz in Fons nach seiner Verwandlung auf einen männlichen Dämon (span. diablo), der sich verwirrenderweise ebenfalls verwandelt, und zwar in eine schwangere Frau. Warum er das tut, wird aus dem kurzen Text nicht ersichtlich. Nachdem der Prinz seine Rückverwandlung von den übrigen Dämonen erwirkt hat, kehrt er jedenfalls allein zu seinem Vater zurück. Vgl. die Erzählung Enxenplo de commo vino la muger e dixo que matase el rrey a su fijo, e diole enxenplo de un fijo de un rrey e de su privado commo lo engaño in: El Libro de Los Engaños. Edited by John Esten Keller (University of Carolina Studies in the Romance Languages and Literatures 20). Chapel Hill 1953, S. 14 ff. bzw. die syrische Version der Geschichte: The History of Sindban and the Seven Wise Masters. Translated for the first time from the Syriac into English. Hg. von Hermann Gollancz , in: Folklore 8,2 (1897), S. 99 - 130. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 124 der Figur der ersten Dämonin so viel erzählerischer Raum zugestanden wird, erhält sie einen ganz anderen Status als den, den die allein auf die zu erwerbende Fee bezogenen bedrohlichen Nebenfiguren (Riesen, wilde Tiere etc.) in den christlichen Erzählungen besitzen. Die negativen Komponenten einer Figur werden nicht, wie in vielen höfischen Romanen, auf mehrere andere Figuren oder Situationen ausgelagert, sondern auf eine einzige andere Figur. Die eine Dämonin erscheint dadurch als Doppelgängerin der anderen. Im Kontrast zu den wilden Tieren in der Melusine oder zu dem Riesen in der Königin vom Brennenden See stellt die erste Dämonin nicht nur ein lästiges Hindernis auf dem Weg zur zweiten, sondern in sich selbst ein veritables Angebot an den Helden dar. Dies hat Konsequenzen für die Wahrnehmung der zweiten Dämonin und ihre Verbindung mit dem Prinzen: Die nichtmenschliche Figur wird durch die Delegation negativer Anteile an eine auf der Handlungsebene gleich bedeutende Figur besonders wirksam ‹ entschärft › . Die Handlungen der zweiten Dämonin können im direkten Vergleich und vor dem Hintergrund der erschreckenden Begegnung mit der ersten Dämonin positiv beurteilt und das Heiratsversprechen gutgeheißen werden. Durch den zweifachen Anlauf des Helden können alle krisenhaften Momente des Narrativs der gestörten Mahrtenehe von der Begegnung mit der Quellendämonin abgezogen werden: Erst die Existenz einer dämonischen Verderberin im Sinne Sigmund Freuds ermöglicht in dieser Erzählung die Wahrnehmung einer zweiten Dämonin als wahrhaftige Erlöserin. Dadurch verändert sich auch der Blick auf die zweite dämonische Allianz: Sieht man genau hin, dann wird in der Fons-Episode das Narrativ überhaupt nicht mehr realisiert. Die dafür konstitutiven Handlungsbausteine ‹ Eingehen der Beziehung, Krise und Auflösung › , wie sie sich in anderen christlichen und jüdischen Mahrtenehenerzählungen finden, kommen lediglich im Striga-Teil der Geschichte zur Anwendung. Das Eingehen der Beziehung ist, wie üblich, mit einem Handel verbunden. Die erste Dämonin verspricht dem Jüngling, ihn zu seinem Vater zurückzubringen - wenn er sie mitnimmt. Sie schlägt vor: ‹ Ich kenne den Weg. Lass mich auf deinem Pferd reiten, dann werden wir den Weg gemeinsam finden. › 39 An diese Abmachung hält sich der Prinz. Zur Krise kommt es aus einem anderen Grund: Er spioniert dem Mädchen unerlaubt nach. Zwar äußert die Frau kein ausdrückliches Sicht- oder Annäherungsverbot, als sie sich entfernt, um sich, wie sie behauptet, zu erleichtern. Dadurch aber, dass sie durch ihre 39 א נ י י ו ד ע ת ה ד ר ך ה ר כ י ב נ י ע ל ס ו ס ך ו נ ב א י ח ד א ל ה ד ר ך . [S. 354]. ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › 125 Ausdrucksweise das Bild von der Hilflosigkeit König Sauls in der Höhle bei En Gedi evoziert (1 Sam 24,4), drückt sie implizit den Wunsch aus, für kurze Zeit nicht gestört zu werden. Der ungeduldig werdende Prinz aber kann seine Neugier nicht zügeln: Sie betrat die Ruine und kam lange Zeit nicht mehr heraus. Als der Jüngling sah, dass sie so lange nicht zurückkam, da stieg er von seinem Pferd und sah durch ein Loch. Da sah er, dass sie eine Dämonin war, die mit ihren Freundinnen spielte. 40 Die Beziehung zwischen den beiden gerät in dem Moment in die Krise, in dem der Mann sieht, wer seine Partnerin wirklich ist. 41 Der Prinz verhält sich ähnlich wie Reymond in der Melusine, der wissen möchte, was seine Frau in der Abgeschiedenheit ihrer Badestube eigentlich treibt: Er ʒ och ſ in ſ wert vß vn ̄ ſ u ͦ chte wo er mo ͤ chte ein loch vinden do durch er ſ ines gemahels gewerbe ſ ehe Vnd befinden mo ͤ chte dor durch er der worheit ʒ u ͦ vnd vß ʒ wiffel kommen mo ͤ cht vnd machte mit ſ inem ſ wert ein loch durch die tu ͮ re. 42 Während Reymond beim Anblick des Wurmschwanzes der Fee zur Besinnung kommt und hofft, dass die Missachtung der Ehebedingung ohne Folgen bleiben möge, setzt der Protagonist der Geschichte von der Dämonin und der Quelle von nun an alles daran, die Dämonin wieder loszuwerden und hat schließlich mit Gottes Hilfe Erfolg. Die in Kapitel 2.4 getroffene Unterscheidung jüdischer Mahrtenehengeschichten in zwei Typen, von denen sich der eine dadurch auszeichnet, dass der Held die Beziehung absichtlich beendet und damit meist kein Glück hat, wirft diesbezüglich die Frage auf, warum der Prinz, anders als der Held in der Geschichte eines armen Mannes, für die absichtliche Beendigung der Beziehung nicht mit dem Tod bestraft wird. Wenn man mit Armin Schulz davon ausgeht, dass in diesem Text ein Spaltungsphantasma zum Einsatz kommt, dann muss der Prinz deshalb nicht sterben, weil er in einem strukturellen Sinn nur die eine Hälfte der dämonischen Wesenheit abgelehnt hat. Die doppelte Weg-Ziel-Struktur, die dieser Dämonenhochzeitserzählung zugrunde liegt, erlaubt es ihm, die erste Dämonin in ihrer Rolle als Verführerin und 40 ו ת ל ך ב ת ו ך ה ח ו ר ב ה ו ת א ח ר ל צ א ת מ ש ם . ו כ ר א ו ת ה נ ע ר ש ת א ח ר ה ל צ א ת ו י ר ד מ ע ל ה ס ו ס ו י ש ק ף ב ח ו ר א ח ד . ו י ר א א ו ת ה ש ה י א ש י ד ה ו מ ש ח ק ת ע ם ח ב ר ו ת י ה . [S. 354]. Epstein zufolge enthält nur MS Oxford Bodl. Or. 135 bereits an dieser Stelle die Information, dass es sich bei dem Mädchen um eine Dämonin handelt. Alle anderen Quellen erwähnen dies erst bei ihrer Rückkehr aus der Ruine. 41 Woran genau der Junge erkennt, dass er es mit einer Dämonin zu tun hat, erfährt der Leser nicht. Offenbar hat sie eine andere, auf irgendeine Weise dämonische Gestalt angenommen, da es später heißt, sie käme verwandelt in ein schönes Mädchen wie zuvor ( ו ת ב א ה ש י ד ה ה פ ו כ ה נ ע ר ה י פ ה כ מ ק ד ם ) aus der Ruine zurück. [S. 354]. 42 Melusine, S. 106. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 126 Verderberin zu überwinden. Dadurch ist es dem Prinzen möglich, in einem zweiten Anlauf eine Beziehung zu einer Dämonin einzugehen, die lediglich in der Rolle der Gefährtin und Erlöserin auftritt. Ihm wird nun kein Tabu mehr auferlegt, das er später brechen könnte. Auch zu einer Krise und Beendigung der Beziehung kommt es daher in Fons nicht. Die Verteilung der verschiedenen Rollen und Potentiale auf zwei Figuren sorgt dafür, dass das Narrativ der gestörten Mahrtenehe gleichzeitig für die Handlung nutzbar gemacht und bezüglich der Folgen, die die Begegnung mit einer Dämonin in den jüdischen Erzählungen für den Helden sonst hat, außer Kraft gesetzt wird. Während in den beiden anderen mittelalterlichen Erzählungen der Protagonist seinem Verhältnis mit der Dämonin entweder wissentlich ein Ende setzt oder aber nichts zu diesem Zweck unternimmt und schließlich dementsprechend bestraft bzw. belohnt wird, werden die beiden Typen von jüdischen Mahrtenehenerzählungen in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle miteinander verbunden und nacheinander durchgespielt. Die Aufspaltung der Figur der Dämonin und ihrer Rollen, die sie gegenüber dem menschlichen Mann einnimmt, bewirkt, dass beide Erzähltypen miteinander versöhnt werden können: Sowohl Schrecken als auch Verheißung werden geschildert; die Verbindung mit einer nichtmenschlichen Frau wird sowohl abgelehnt als auch bejaht. Gerade die radikale Zurückweisung der ersten ist die Bedingung dafür, dass die Verbindung mit der zweiten erfolgreich ist und eine neuerliche Krise sich erübrigt. Dies ist die Strategie, mit der es dieser mittelalterlichen Geschichte als einziger von allen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen gelingt, auf der Grundlage des Narrativs der gestörten Mahrtenehe ein glückliches Ende herbeizuführen, bei dem der Held und seine dämonische Geliebte nicht getrennt werden. Auf welcher Grundlage aber ist ein solches glückliches Ende überhaupt vorstellbar? Die hochmittelalterliche Geschichte von der Dämonin und der Quelle folgt einem exogamen Modell der Allianzbildung, wie es auch vielen höfischen Texten zugrunde liegt: Der Held zieht hinaus in die Fremde, findet dort, bevor oder nachdem er verschiedene Gefahren übersteht, eine passende Frau und heiratet sie. Die Verbindung zweier Narrative, nämlich das der gestörten Mahrtenehe mit dem der gefährlichen Brautwerbung, verdankt die Geschichte von der Dämonin und der Quelle möglicherweise, aber nicht zwingend den Einflüssen der lateineuropäischen höfischen Kultur. Ähnliche Muster finden sich auch in den persischen und arabischen Bearbeitungen des Stoffs, mit denen die hebräische Version eng verwandt ist. Die Vorstellung, dass ein jugendlicher Held Abenteuer bestehen und eine fremde Frau unbekannter Herkunft heiraten kann und darf, existiert auch in vorderorientalischen literarischen Kontexten. Woher aber auch immer die positive Bewertung des auswärtigen Brautgewinns kommt - davon zu erzählen oder eine bereits ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › 127 existierende Geschichte dieses Themas zu tradieren ist ganz offensichtlich auch im aschkenasischen Hochmittelalter möglich und reizvoll. Dass es auch für ein jüdisches Publikum attraktiv sein kann, sich mit Geschichten über die Taten von Rittern und Königen zu beschäftigen, davon zeugen der hebräische König Artus aus dem 13. Jahrhundert, das in hebräischen Lettern geschriebene Dukus Horant-Fragment aus dem 14. Jahrhundert, der jiddische Ritter Widuwilt aus dem 15. Jahrhundert oder die ebenfalls jiddischen Romane Paris und Wiene und Bovo d ’ Antona aus dem 16. Jahrhundert. Die Protagonisten dieser Texte treiben exogame Brautwerbungsunternehmungen voran und riskieren dabei blutige Kriege, zeugen Kinder in inzestuösen Beziehungen, begehen Ehebruch oder brennen unerlaubt mit der zukünftigen Braut durch - all dies sind Verhaltensweisen, die sich, streng genommen, mit einem jüdischen Moralkodex ebenso schwer vereinbaren lassen wie mit einem christlichen. Der Königssohn in der Striga et Fons-Episode der Geschichten Sendebars darf ebenso wie die Protagonisten der erwähnten Texte einem höfischen Modell der Lebensführung folgen, weil er in einem höfischen Kontext, sei er latein- oder außereuropäisch, verortet wird. Die Regeln, an die sich die als mehr oder weniger eindeutig jüdisch gezeichneten Helden der übrigen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen zu halten haben, gelten für einen solchen Protagonisten nicht zwingend. Abenteuer auf der Jagd und Beziehungen zu zweifelhaften Frauen werden zwar im jüdischen Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gewöhnlichen Juden von ihren eigenen Autoritäten nicht ohne weiteres zugestanden. Die erzählte Welt in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle aber ist eine dezidiert exotische und fremdartige Welt, ausgestattet mit magischen Brunnen und bevölkert nicht nur von Dämonen, sondern eben auch von Königen, Prinzen und ihrem Hofstaat. Der Protagonist kann als andersartig und auf seine Weise als beinahe ebenso fremd wie die Dämonin verstanden werden. Daher ist es möglich, eine solche Geschichte über eine glückliche exogame Beziehung zu erzählen, ohne befürchten zu müssen, dass sie als Anleitung zu leichtsinnigem oder gar unmoralischem Handeln missverstanden werden könnte. Damit stellt die Geschichte von der Dämonin und der Quelle in der Tradition der jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit eine Ausnahme dar. Denn für gewöhnlich haben die Beziehungen mit einer Dämonin in den jüdischen Erzählungen eben keinen Bestand, ganz gleich, ob der Held die Situation aussitzt oder ihr zu entkommen versucht. Anders als in Konrads Partonopier oder im Gauriel von Muntabel werden die Störungen der Mahrtenehen in der jüdischen Literatur nicht endgültig behoben. Hier wird die dämonische Allianz als Verhältnis geschildert, das zu den übrigen, legitimen Beziehungen des Helden in Konkurrenz Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 128 tritt. Die Verbindung mit der Dämonin ist daher normalerweise ein Fremdkörper im Gefüge der menschlichen Gesellschaft, der früher oder später entfernt werden muss, indem entweder der Mann eliminiert wird oder die Dämonin. Die Geschichte von der Dämonin und der Quelle bildet insofern eine Ausnahme, als am Ende davon erzählt wird, dass die Beziehung zu der unbekannten Frau dem Normengeflecht menschlicher Sozialität keineswegs widerspricht. Der unbewältigte dämonische Rest in der ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › Allerdings wird ausgerechnet durch die Einführung des Spaltungsphantasmas die Erkenntnis provoziert, dass diese Option auch in der Binnenerzählung der Geschichten Sendebars keine Selbstverständlichkeit ist. Ganz glatt geht die Desambiguisierung der Dämonin in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle nicht auf. Der Figur der zweiten Frau bleibt stets ein unbewältigter dämonischer Rest erhalten, den auch der Abspaltungsmechanismus weniger beseitigt als vielmehr erkennbar macht. Als zweite Konsequenz der Einführung einer zweiten starken dämonischen Figur fällt nämlich gerade die Vergleichbarkeit der beiden Frauen auch auf die ‹ gute Fee › zurück. Wie Schulz feststellt, ist der Verdacht, die nichtmenschliche Frau stehe mit den sie umgebenden Gefahren in Verbindung, nicht vollständig auszulöschen: Zwar ist das Bedrohliche nicht mehr Teil der Partnerin, womit der theologische Dämonieverdacht ebenso dementiert wird wie ihre mythische Übermacht, jedoch ist dabei - räumlich oder zeitlich gesehen - die Nähe zwischen der Bedrohung und der Geliebten mehr als auffällig, und damit bleibt die Angelegenheit immer noch prekär. 43 Nur die erste der beiden Frauen, auf die der Prinz trifft, wird explizit ‹ Dämonin › genannt. Die Parallelisierung der Handlungsabläufe in den zwei Episoden aber, die die Frau an der Quelle im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin als harmlos und liebenswürdig erscheinen lässt, bewirkt, dass der Rezipient beim Vergleich der Figuren nicht nur Unterschiede, sondern auch paradigmatische Ähnlichkeiten entdeckt. Beide Frauen werden als junge Frau oder Mädchen ( נ ע ר ה ) bezeichnet, beide treten nicht allein auf, sondern gehören einer Gruppe von gleichartigen Personen an, und beide halten sich in der unbewohnten Wildnis auf. Beide Frauen schlagen zudem dem Protagonisten vor, ihn sicher nach Hause zu seinem Vater zu bringen, wenn er im Gegenzug etwas für sie tut. 43 Schulz , Spaltungsphantasmen, S. 235. ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › 129 Zwar wird auch in der Striga-Episode nicht recht deutlich, was die Dämonin und ihre Freunde eigentlich mit dem Prinzen vorhaben. Dem Mädchen wird von ihren Gefährten lediglich aufgetragen: ‹ Wenn du ihn zu diesem und jenem Ort bringen kannst, dann werden wir dort tun, was uns beliebt, und unser Spiel mit ihm treiben. › 44 Der Prinz erkennt jedenfalls, dass er den Dämonen wehrlos ausgeliefert ist und gerät in Panik. Als er kurze Zeit später erneut in einer noch aussichtsloseren Notsituation auf eine weitere junge Frau trifft, die ihm ihre Hilfe anbietet, löst die Wiederholung beim Rezipienten einen Effekt des Wiedererkennens aus. Wer seine Erwartungen an dem Modell der Mahrtenehe ausrichtet, das soeben präsentiert wurde, muss davon ausgehen, dass es sich, erstens, auch bei der zweiten Frau um eine Dämonin handelt und dass sie, zweitens, mit dem Protagonisten ebenfalls nichts Gutes im Sinn hat. Beide Annahmen werden insofern enttäuscht, als schließlich doch nicht davon erzählt wird, dass die Frau eine Dämonin ist oder dass sie dem Mann etwas antut - allerdings wird auch die versprochene Hochzeit nicht mehr geschildert. Ob also auch von dieser Frau eine Bedrohung ausgeht, lässt die Erzählung ganz einfach offen. Außerdem unterstützt sie zwar den Prinzen dabei, sich von einer Frau wieder in einen Mann zurückzuverwandeln und hilft ihm so in seiner Notsituation. Da aber eben auch sie es ist, die ein dem Prinzen unzugängliches Wissen um die spezielle Eigenschaft des Brunnens besitzt, überträgt sich ein Teil des bedrohlichen Potentials des Brunnens auch auf die Frau, die die Situation, im Gegensatz zu dem männlichen Protagonisten, kontrollieren kann. Schon in Striga war die Vorstellung angeklungen, dass der jugendliche Held, der sich dem Schutz seines Vaters entzieht, schon bald der Kontrolle durch andere, feindliche Mächte unterworfen sein könnte, die im Zuge unpassender Allianzschließungen Einfluss auf seine Zukunft nehmen. Die zweite Frau hält zwar im Gegensatz zur ersten ihr Versprechen und bringt den Mann zurück in seine Heimat. Dennoch: Auch ihr ist er auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Zum Kontrollverlust kommt in Fons noch eine weitere Gefahr - die des Identitätsverlustes. Denn es ist ja nicht nur die Tatsache, dass der Prinz noch immer orientierungslos in der Wildnis umherirrt und nicht weiß, wie er den Weg nach Hause finden soll, die ihn in Bedrängnis bringt. Zusätzlich hat er durch den Trunk aus der magischen Quelle eine grundlegende Veränderung erfahren, die er allein nicht rückgängig machen kann. In was oder wen aber hat er sich da eigentlich verwandelt? Die Schilderung der Transformation des Prinzen fällt in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle denkbar knapp aus: 44 א ם ת ו כ ל י ל ה ב י א ל מ ק ו ם פ ל ו נ י ש ם נ ע ש ה ח פ צ י נ ו ו נ ש ח ק ב ו . [S. 354]. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 130 Als er aufsah, erblickte er eine Quelle. Wenn ein Mann aus ihr trank, dann wurde er zur Frau, eine Frau aber wurde zum Mann. Er wusste davon nichts, trank aus der Quelle und wurde in eine Frau verwandelt. Da sah er auf und erblickte tanzende und spielende Mädchen. Sie erhob sich, um mit ihnen zu spielen und sagte: ‹ Auch ich bin zu einer Dämonin geworden. › 45 Hat der Prinz recht? Ist er zu einer Dämonin geworden, obwohl die Eigenschaft der Quelle ausdrücklich darin besteht, dass sie Frauen in Männer und Männer in Frauen verwandelt? Sind Frauen und Dämoninnen das Gleiche? Diese Fragen kann der Leser nicht eindeutig beantworten. Das Motiv des Zauberbrunnens ist zwar in der Literatur weit verbreitet, auch halten sich die Feen der mittelalterlichen christlichen Mahrtenehenerzählungen, Laudine und Melusine beispielsweise, zuweilen in der Nähe von Brunnen auf. 46 Insofern weist die zweite fremde Frau große Ähnlichkeit mit christlichen Quellnymphen auf, wie sie Paracelsus in seinem Werk über die Elementargeister schildert. Diese wiederum sind wesensverwandt mit den jüdischen Dämoninnen und Dämonen der antik-rabbinischen Literatur, von denen es heißt, dass sie sich bevorzugt in oder in der Nähe von Wasserlöchern, Quellen oder Teichen aufhalten, als deren ‹ Besitzerinnen › sie häufig angesehen werden. 47 Das spezifische literarische Motiv einer Quelle, die auf die geschlechtliche Identität eines Menschen einwirkt, ist im christlichen Europa durch die Rezeption von Ovids Metamorphosen bekannt. 48 Die Salmacis-Episode des Ovide moralisé, in der im 14. Jahrhundert von der Verwandlung des badenden 45 ו י ש א ע י נ ו ו י ר א מ ע י י ן א ח ד ה ש ו ת ה מ מ נ ו ז כ ר ת ס ו ב ב ל נ ק ב ה ו נ ק ב ה ת ס ו ב ב ל ז כ ר . ו ה ו א ל א י ד ע ו י ש ת מ ן ה מ ע י י ן ו י ה פ ך ל נ ק ב ה ו י ר א ו ה נ ה נ ע ר ו ת מ ח ו ל ל ו ת ו מ ש ח ק ו ת ו ת ק ם ה י א ל ש ח ק ע מ ה ם ו ת א מ ר ג ם א נ י נ ע ש י ת י ש י ד ה . [S. 355]. 46 Zu verschiedenen magischen Brunnen vgl. z. B. Nikolaus Patrzek : Das Brunnenmotiv in der deutschen Literatur des Mittelalters. Würzburg 1956. 47 Vgl. Ben-Amos , Demons, S. 34 f. Ben-Amos stellt auch fest, dass Menschen solchen Dämonen, den antiken Texten zufolge, besonders in instabilen ‹ Schwellenzeiten › ausgeliefert sind: «They are more likely to attack people at night, and particularly in transitional periods when time shifts categories from light to night or vice versa [. . .].« Ben-Amos , Demons, S. 35. In der jüngeren Geschichte eines Königssohns gelangt der Prinz kurz nach Einbruch der Dunkelheit zu der Quelle. Daher hat er den dämonischen Wesen besonders wenig entgegenzusetzen. 48 Zur Ovid-Rezeption vgl. Karl Stackmann : Ovid im deutschen Mittelalter, in: Arcadia 1 (1966), S. 231 - 254. Ein Beispiel für die unterschiedliche Rezeption eines speziellen ovidianischen Mythos präsentiert Lena Behmenburg : Philomela. Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 15). Berlin 2009. ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › 131 Hermaphroditus in ein zweigeschlechtliches Wesen erzählt wird, beginnt mit den Worten: [. . .] Nun hörst du die Geschichte der gefährlichen Quelle, die so wild und wunderbar ist, dass keine sterblichen Männer ihr entsteigen (wenn sie erst einmal hineingestiegen sind), die nicht zur Hälfte weiblich geworden sind. Falls eine Frau hineinsteigt, um darin zu baden, wird sie sofort zur Hälfte männlich. (V. 2001 - 2008) 49 Der bei der Überwältigung durch die hartnäckig verliebte Quellennymphe Salmacis verwandelte Hermaphroditus ist allerdings eben beides, jeweils zur Hälfte Mann und Frau, während die Umwandlung in Fons offenbar eine vollständige ist. Trotz dieser Unterschiede ist es durchaus möglich, von einem intertextuellen Zusammenhang auszugehen. Europäische jüdische Autoren können mit dem Salmacis-Stoff zum Beispiel durch die Vermittlung der christlichen volkssprachlichen Ovid-Rezeption in Berührung gekommen sein. Jedenfalls liegt beiden Texten, der antiken und mittelalterlichen Salmacis- Erzählung wie auch der mittelalterlichen, in einem jüdischen Kontext tradierten Geschichte von der Dämonin und der Quelle das gleiche Phantasma zugrunde: Die Vorstellung von einem jungen Mann, der dem Willen einer starken, nichtmenschlichen Frau wehrlos ausgeliefert ist und aus eigener Kraft die Integrität seines Körpers nicht bewahren oder zurückerhalten kann. Bezeichnenderweise wird in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle genau wie in den Metamorphosen der Körper des männlichen Opfers nicht verletzt, sondern verändert. Der Schrecken und die Faszination dieses Bildes bestehen in der jüdischen Erzählung darin, dass der Held nicht allein einen unabwendbaren Angriff auf seinen Körper, sondern auch auf seine Identität erlebt. Zum Vergleich: Der Hermaphroditus der Metamorphosen muss nach der Verschmelzung mit Salmacis feststellen, dass sein Leib nun auch weibliche Merkmale trägt. Sein Name aber bleibt ihm, und damit auch eine Komponente seiner ursprünglichen Identität, die nicht an den Körper gekoppelt ist. 50 In der 49 [. . .] Or orrois la fable / De la fontaine perilleuse, / Qui tant est fiere et merveilleuse, / Que nulz homs morteulz n ’ i descent, / S ’ il en i descendoient cent, / Qui demi-feme ne devaigne, / Et se feme i vait qui s ’ i baigne, / Tantost demi-malle devient. Ovide Moralisé. Poème du commencement du quatorzième siècle. Publié d ’ après tous les manuscrits connus par Cornelis de Boer . Tome 2, Livres IV-VI. Amsterdam 1920. 50 Bezüglich dieser Episode in Jörg Wickrams frühneuzeitlicher Metamorphosen- Bearbeitung stellt Andrea Sieber fest, was auch für den mittelalterlichen Ovide moralisé gilt: «Während Hermaphroditus identiätslogisch weiterexistiert, bleibt von Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 132 Geschichte von der Dämonin und der Quelle hingegen verliert der Prinz neben der Kontrolle über seinen Körper wenigstens teilweise auch die über seine Identität. Vom Erzähler und von den weiblichen Figuren wird er als Frau angesprochen. Und obgleich er Auskunft über seine bisherigen Erlebnisse geben kann, ist die Verwandlung wirkmächtig genug, um den Protagonisten annehmen zu lassen, dass er selbst nun eine Dämonin ist und dass er, was sein daraus abzuleitendes Verhalten betrifft, gut daran tut, sich den anderen jungen Frauen in der Nähe der Quelle bei ihren Aktivitäten anzuschließen. Anders als bei der Begegnung mit der ersten Dämonin wird nicht erzählt, dass der Junge sich fürchtet oder gar versucht, die Ereignisse zu beeinflussen. Mit seinem Schicksal, eine Frau und Dämonin zu sein, findet er sich schnell ab, die Rückverwandlung geschieht nicht auf seine Initiative hin, sondern auf Betreiben seiner zukünftigen Ehefrau. So kann der Leser einerseits ganz sicher sein: Vom Verdacht, böse Absichten zu hegen, ist die Quellenfrau ganz frei. Andererseits kann die Geschichte als Warnung davor gelesen werden, was mit einem jungen Mann geschieht, wenn er sich von zuhause und aus dem Schutz seines Vaters entfernt, um abenteuerliche Jagden zu erleben, die die Chance einschließen, mit gefährlichen Frauen in Kontakt zu kommen: Der Held muss nicht nur, wie Partonopier, Reymond oder Guigemar, um sein Leben, seine körperliche Unversehrtheit oder seine weitere Karriere fürchten. Seine Bindung an die dämonischen Frauen ist so stark, dass er sich ihnen sogar körperlich angleicht. Zur Disposition stehen daher bei solchen Ausflügen ins Fremde, Unbekannte immer auch grundlegende Komponenten der Selbstverortung. Die Fragen ‹ Wann bin ich ein Mensch? › und ‹ Wann bin ich ein Mann? › kann sich jeder Leser stellen, der den Weg des Helden in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle nachvollzieht. Und nicht nur, aber vielleicht in besonderem Maß folgen daraus für den mittelalterlichen jüdischen, in der Diaspora lebenden Adressaten noch weitere Fragen, nämlich: ‹ Wann bin ich einer der unseren und wann einer der anderen? Wie weit darf ich mich von meinem Herkunftsort entfernen und mit wem darf ich mich einlassen, von wem muss ich mich fernhalten, um nicht die Kontrolle darüber zu verlieren, zu welcher von beiden Gruppen ich gehöre? › Salmacis nur die aitiologische Referenz auf ihre Quelle übrig, ihre weibliche Identität hat sich ‹ buchstäblich › im Medium des Wassers aufgelöst [. . .].« Der männliche Protagonist bleibt derjenige, der er zuvor gewesen war. Nur sein Körper hat sich verändert. Andrea Sieber : Transgressionen des Begehrens in Wickrams ‹ Metamorphosen › -Bearbeitung, in: Vergessene Texte - Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hg. von Maria E. Müller und Michael Mecklenburg . Unter Mitarbeit von Andrea Sieber . Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 2007, S. 147 - 168, hier S. 158. ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › 133 Die Perspektivierung der Binnenerzählung durch die Rahmenhandlung in der ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › Der unbewältigte bedrohliche Rest in der Figur der zweiten Frau und die damit einhergehende Infragestellung der dämonischen Allianz, die trotz der Rückverwandlung des Helden und der Wiederherstellung seiner ursprünglichen Gestalt und Identität als Mensch, Mann und Königssohn bestehen bleibt, wird noch verstärkt durch die Platzierung der Erzählung in der Rahmenhandlung der Geschichten Sendebars. Erzählt wird die Geschichte des Prinzen nicht etwa von einem der sieben Ratgeber, die den Königssohn gegen die falschen Anschuldigungen einer der Frauen des Königs verteidigen, sondern von ebendieser Frau. Sie will damit demonstrieren, dass königlichen Ratgebern nicht zu trauen ist. Dementsprechend endet die Geschichte für den zu Beginn erwähnten Ratgeber böse. In der ältesten überlieferten Handschrift schließt die Geschichte von der Dämonin und der Quelle mit den Worten: Der König war glücklich um seines Sohnes Willen und befahl, den Ratgeber zu töten, der seinen Sohn mit zur Jagd außerhalb der Stadt genommen hatte. 51 Die Erzählerin fügt auch gleich noch eine passende Interpretation an, indem sie ihren Ehemann warnt: ‹ Wenn du auf deine Ratgeber hörst, dann werden sie dich in die Falle locken. › 52 Der Ratgeber lädt insofern Schuld auf sich, als er zum einen absichtlich den Prinzen in die Irre reiten lässt und zum anderen den König wissentlich über das Schicksal seines Sohnes belügt. Der Königssohn selbst erzählt der ersten Dämonin, dass er sich ‹ von einem Feind › oder ‹ von einem, der ihn hasse › bedroht fühle ( ש ו נ א י ש ל י ו י ר א א נ י מ מ נ ו פ ן י פ ג ש י נ י ב ד ר ך ). 53 Damit könnte neben der Dämonin selbst auch der Ratgeber gemeint sein. Zudem wird der Berater des Königs auch durch intertextuelle Verweise auf die biblische Josefsgeschichte implizit als böswillig Handelnder markiert. 54 Insgesamt aber ist seine Funktion innerhalb der Figurenkonstellation marginal, sein Anteil an der Handlung der Binnenerzählung denkbar gering. Was also ist mit der Behauptung der Geschichtenerzählerin anzufangen, dass dies eine Geschichte über die Bösartigkeit von königlichen Ratgebern sei? 51 ו י ש מ ח ה מ ל ך ע ל ב נ ו ו י צ ו ל ה ר ו ג א ת ה י ו ע ץ ש ה ו ל י ך א ת ב נ ו ל צ ו ד ח ו ץ ל ע י ר . [S. 355]. Epstein , Tales of Sendebar, S. 160 f. 52 ו א ם ת ש מ ע ל י ו ע צ י ך ת ל כ ד ע מ ו . [S. 355]. Epstein , Tales of Sendebar, S. 162. 53 [S. 354]. 54 Vgl. Epstein , Tales of Sendebar, S. 146. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 134 Zum einen besteht die Option, sich bezüglich der Binnenhandlung trotz aller Einschränkungen der Haltung der Erzählerin anzuschließen. Dies hieße, aus Exposition und Schluss zu folgern, dass die schwerwiegendste Störung durch den Ratgeber hervorgerufen wird. Weiterhin erscheinen die Allianz mit einer fremden Frau und eine Rückkehr zur etablierten väterlichen Ordnung als durchaus miteinander vereinbar. Sobald andererseits der Kontext des gesamten Zyklus in die Deutung der Geschichte von der Dämonin und der Quelle einbezogen wird, ist es beinahe unmöglich, der von der Erzählerin angebotenen Interpretation ebenso arglos zu folgen, wie es der textimmanente Rezipient, der König, tut. Denn die Frau des Königs ist als Erzählerin keineswegs vertrauenswürdig. Sie hat schließlich ihre eigene Agenda. Sie gibt Geschichten zum Besten, die davon handeln, dass man sehr wohl Frauen, nicht aber Söhnen und Ratgebern trauen könne. Anders als der leicht zu beeinflussende König weiß der Leser jedoch von Anfang an, dass die Frau zuvor versucht hatte, den Prinzen zum Königs- und Vatermord zu bewegen. Ihrem Mann will sie durch die Geschichte von der Dämonin und der Quelle zu verstehen geben, dass er nicht von Seiten einer Frau Böses zu befürchten hat, sondern sich nur vor den Machenschaften königlicher Ratgeber in acht nehmen soll. Der ideale, den Verlauf der Rahmenerzählung überschauende Leser ist dazu angehalten, dieser Botschaft zu misstrauen. Der Zweifel an der vordergründigen Moral der Binnenerzählung aber führt dazu, dass beim paradigmatischen Abgleich von Binnen- und Rahmenhandlung eine gemeinsame Denkfigur offenbar wird: die Furcht, dass sich eine Frau mit einem Mann gegen dessen Vater verbünden könnte oder allgemeiner: die Furcht, dass eine Allianz zwischen Mann und Frau das Deszendenzverhältnis zwischen Vater und Sohn stört. Sobald die Binnenerzählung nicht isoliert betrachtet wird, kann das vom übergeordneten Erzähler geforderte Misstrauen gegenüber der Protagonistin der Rahmenerzählung nicht nur auf die erste, sondern auch auf die zweite dämonische Frau übertragen werden. In diesem Fall liegt es nahe, die gefährdete Solidarität zwischen Vater und Sohn höher zu bewerten als alle anderen intersubjektiven Beziehungen, die in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle eine Rolle spielen. Im Zentrum der hochmittelalterlichen Geschichte von der Dämonin und der Quelle steht genau wie in der Rahmenhandlung der Geschichten Sendebars unter anderem die Frage, ob oder inwiefern ein Heranwachsender von der Fremde infiziert und dadurch seiner Herkunft entfremdet wird, wenn er von zuhause fortgeht. Das gleiche Thema steht auch im Mittelpunkt der auf die Geschichte von der Dämonin und der Quelle aufbauenden Geschichte eines Königssohns aus dem 15. Jahrhundert. Allerdings nimmt hier die Figurenkonstellation etwas andere Formen an. ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › 135 3.4 Produktive Ambivalenz: Die ‹ Geschichte eines Königssohns › Besonders zu beachten ist bei einem Vergleich der Varianten zunächst der Ausbau von bereits im Mittelalter zur Geschichte gehörenden Handlungsbestandteilen. Die Erweiterung beeinflusst die Art und Weise, in der die Figuren im Text zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dies wirkt sich wiederum auf den Zusammenhang zwischen der Erzählung und dem Kontext des Zyklus sowie auf die Haltung des Textes gegenüber dem Thema der Dämonenhochzeit aus. In der spätmittelalterlichen Geschichte eines Königssohns wird die Brunnenepisode gegenüber der hochmittelalterlichen Version signifikant verlängert. Die beiden einander in ihren Absichten entgegengesetzten dämonischen Figuren erhalten nun den gleichen Raum. Dadurch werden paradigmatische Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen den beiden Dämoninnen noch deutlicher sichtbar. Der Ausbau der Fons-Episode in der ‹ Geschichte eines Königssohns › Anders als in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle halten sich in der Geschichte eines Königssohns beide Dämoninnen in Wassernähe auf: Die Ruine befindet sich hier ausdrücklich in der Nähe des Meeres, der Brunnen ist als solcher schon ein Wasserort und liegt zudem an einem Bach. Dabei ist die Quelle im Gegensatz zu der Ruine und trotz ihrer verstörenden magischen Eigenschaft positiv konnotiert. Sie verwandelt zwar den Trinkenden, rettet ihn aber zugleich auch vor dem Verdursten. Die Ruine hingegen zeugt von Vergänglichkeit, Verfall und der Abwesenheit menschlichen Lebens. Bringt man die Orte, an denen sich die Dämoninnen aufhalten, mit ihren Absichten in Verbindung, dann wird deutlich: Von der ersten Frau hat der Protagonist im Gegensatz zur zweiten nicht viel Gutes zu erwarten. Gleichzeitig erscheinen beide Frauenfiguren ambivalenter als in der hochmittelalterlichen Version der Geschichte. Ebenso, wie die erste Frau in der Geschichte eines Königssohns bei all ihrer Gefährlichkeit ausdrücklich auch als barmherzig charakterisiert wird, wird die Barmherzigkeit der zweiten mit einer latenten Drohung verbunden. Die Quellenfrau nennt als Alternative zur Rettung schließlich nicht ein Weiterleben des Königssohns als Frau, sondern ausdrücklich seinen Tod: ‹ Nur eine Sache erbitte ich von dir und auch du sollst nach meinem Wunsch und Willen handeln. Wenn du es nicht tust, wirst du nicht vor dem Tod gerettet werden. › 55 Was ihre Mitleidensfähigkeit wie auch ihre Bedrohlichkeit angeht, unterscheiden sich die beiden Dämoninnen also gar nicht so sehr voneinander. 55 ר ק ד ב ר א ח ד א ש א ל מ מ ך ו ת ע ש ה ג ם א ת ה ח פ צ י ו ר צ ו נ י ז ה כ י ב ל ת י ז ה ל א ת מ ל ט מ ן ה מ ו ת . [S. 362]. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 136 Bei einem Vergleich der Episoden fällt auf, dass hier noch ausführlicher als in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle verschiedene Möglichkeiten des Kontakts zwischen Menschen und Dämoninnen durchgespielt werden. Im ersten Teil begegnet der Protagonist zunächst einer einzelnen Frau. Aus ihrer Behauptung, dass sie ebenso wie der Held ein Königskind sei und sich nach der Trennung von ihrer Gesellschaft in der Wildnis verirrt habe, ergibt sich eine trügerische Gemeinsamkeit zwischen den beiden, die erst durch die Wahrnehmung der grundlegenden Differenz zwischen den Spezies in der Ruine aufgehoben wird. Jetzt erst stellt der Prinz fest, dass sie Teil einer ganzen Gruppe von potentiell übel gesinnten Dämoninnen und Dämonen ist. Die durch diese Erkenntnis ausgelöste Furcht veranlasst den Prinzen dazu, sich schnellstmöglich von dem Mädchen entfernen zu wollen, was ihm mit Gottes Hilfe auch gelingt. Eine Annäherung des Menschen an die Dämonen wird in diesem Fall also frühzeitig beendet. Bei der Brunnenepisode ist dies anders. Nun trifft er nicht etwa zuerst auf eine vereinzelte Frau, sondern gleich auf eine Schar von Mädchen, die den gleichen Beschäftigungen nachgehen wie die zuvor erwähnten Dämoninnen in der Ruine: singen, tanzen und spielen. Während der Prinz sich gegen die Annäherung der ersten Dämoninnen verteidigt, sobald er sie erst einmal als solche erkannt hat, sucht er die Nähe der zweiten Gruppe von jungen Frauen sogar. Zumindest verwandelt er sich - wenn auch unabsichtlich - erst in eine Frau, nachdem er die Mädchen beim Tanz beobachtet hat. Nach der Verwandlung findet er sich rasch mit seinem Schicksal ab und mischt sich ohne Vorbehalte unter die Frauen. Er fürchtete sich, aus dem Brunnen zu trinken, denn bei seiner Ankunft dort war es Nacht und sehr finster. Er ging von dort zu einem anderen Ort, der in der Nähe des gleichen Baches lag. Als er sich umsah, erblickte er eine Gruppe von tanzenden, singenden und spielenden Mädchen. Der Jüngling kehrte zu dem Brunnen zurück und trank, um seinen Durst zu stillen. So blieb der Knabe, der Sohn des Königs, als Frau zurück. Er ging zu der Gruppe von Mädchen, mischte sich unter sie und spielte und sang mit ihnen, denn er sagte sich: ‹ Komme ich um, so komme ich um. Erst wurde ich in eine Frau verwandelt, nun bin auch ich eine Dämonin. › 56 In diesem Fall flieht der Prinz nicht vor der Gruppe von Frauen, die er offenbar rasch als Dämoninnen identifiziert, sondern wird zu einer von ihnen. Aus 56 ו י י ר א ל ש ת ו ת מ מ נ ו מ פ נ י ש ה י ה ב ה ג י ע ו ש מ ה ה י ה ל י ל ה ח ש י כ ה ג ד ו ל ה ו י ל ך מ ש ם ב מ ק ו ם א ח ר ק ר ו ב ל א ו ת ו נ ח ל ו י ש א ע י נ י ו ו י ר א ו ה נ ה כ ת נ ע ר ו ת מ ח ו ל ל ו ת ו מ ז מ ר ו ת ו מ ש ח ק ו ת ו י ש ב ה נ ע ר א ל ה ב א ר ו י ש ת מ צ מ א ו ו י ש א ר ה נ ע ר ב ן ה מ ל ך ל א ש ה ו י ל ך ו י ב א ב א ו ת ה כ ת ה נ ע ר ו ת ו נ ת ע ר ב ע מ ה ם ו ה ו א ש ו ח ק ו מ ז מ ר ע מ ה ם כ י א מ ר כ א ש ר א ב ד ת י א ב ד ת י א ח ר י כ י נ ה פ כ ת י ל א ש ה ו כ ב ר נ ע ש ת י ג ם א נ כ י ש י ד ה . [S. 362]. Produktive Ambivalenz: Die ‹ Geschichte eines Königssohns › 137 dieser Gruppe löst sich erst nach einiger Zeit eine junge Frau heraus, die dem Jungen ein neues Angebot unterbreitet. Und anders als die erste Dämonin betrügt die zweite den Königssohn nicht, sondern will ihn tatsächlich retten. Das heißt: Ein Handel mit einer Dämonin ist - darin unterscheidet sich die Geschichte eines Königssohns nicht von der Geschichte von der Dämonin und der Quelle - nur dann durchführbar und für den Menschen akzeptabel, wenn die Dämonin von Anfang an als solche erkennbar und ihrer eigenen Gemeinschaft eindeutig zuzuordnen ist. Besonders beängstigend ist nicht etwa eine Partnerin, die als ‹ anders › kategorisiert wird, sondern eine, die gerade nicht unterschieden werden kann. Hier wird eine Furcht vor Entdifferenzierung deutlich, die ihr Ventil darin findet, dass die dem Helden scheinbar ähnliche und doch so andersartige Person radikal entfernt wird. Insofern kann die Striga-Episode der Geschichte eines Königssohns im Sinne René Girards als ‹ Verfolgertext › gelten, in dem eine als fremdartig wahrgenommene Person als Gefahr identifiziert und vertrieben oder getötet wird, um die durch ihre gleichzeitge Andersartigkeit und Ähnlichkeit bedrohte gesellschaftliche Ordnung wiederherzustellen. 57 In der Fons-Episode wird das Verhältnis des Menschen zur Dämonin umgekehrt: Hier ist es der menschliche Protagonist, der oberflächlich den Anschein erweckt, der Gruppe der anderen anzugehören. Und nun ist auch er es, der zunächst vertrieben, das heißt, in einen menschlichen Mann zurückverwandelt wird. Erst nachdem er wieder eindeutig als Mensch identifizierbar ist, darf er eine dauerhafte Verbindung mit der Welt der Dämonen eingehen. Diese Art der Allianz ist möglich, weil dabei die Grenzen der Zugehörigkeit nicht verwischt werden, sondern gewahrt bleiben. Die äußerliche Anpassung an die Gruppe der anderen führt, davon wird in dieser Dämonenhochzeitsgeschichte erzählt, auf Dauer nicht zu einer Stabilisierung der Lebensverhältnisse fern der Heimat. Die einzige funktionierende, in diesem Text vorgeschlagene Möglichkeit der Kontaktaufnahme zwischen Menschen und Dämonen besteht darin, eine Allianz zu schließen, in der erstens die Partner eindeutig identifizierbar sind und die zweitens auf einem öffentlich beschworenen und rituell abgesicherten Kontrakt beruht. Auf die bloße Versicherung der ersten Dämonin, ihm helfen zu wollen, kann sich der Prinz nicht verlassen. Die zweite Dämonin hingegen gesteht ihm, nachdem er sich 57 Vgl. René Girard : Der Sündenbock. Zürich, Düsseldorf 1998 (französische Erstausgabe 1982), S. 23 ff. Girard zufolge wird dem anderen nicht seine Differenz vorgeworfen, sondern, im Gegenteil, seine mangelnde Fähigkeit, Unterscheidungen wahrzunehmen und die damit einhergehende eigene Ununterscheidbarkeit. «Im Gegensatz zu dem, was wir stets hören, sind die Verfolger nie von der Differenz besessen, sondern immer vom unaussprechlichen Gegenteil, der Entdifferenzierung.« Girard , Sündenbock, S. 37. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 138 durch seinen Eid völlig in ihre Hand gegeben hat, ihrerseits Sicherheiten zu, indem sie beim Gott des Himmels und der Erde schwört, dass sie ihr Wort halten werde. Von nun an wird der Königssohn nicht mehr mit dem Tod bedroht und kann darauf hoffen, heil und gesund zu seinem Vater zurückzukehren. Insgesamt können dadurch, dass in der Geschichte eines Königssohns die beiden dämonischen Figuren stärker parallelisiert werden als in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle, auf der paradigmatischen Ebene der Binnenerzählung verschiedene soziale Interaktionsformen erprobt werden. Obwohl die Rückkehr nach Hause als eine der positiven Folgen für den Mann im Text nicht mehr umgesetzt wird, wird die vertraglich geschützte Allianz zwischen unmissverständlich ihrer Herkunftsgemeinschaft zuzuordnenden Partnern auch in der Geschichte eines Königssohns als brauchbarste Alternative prämiert. Die Perspektivierung der Binnenerzählung durch die Rahmenhandlung in der ‹ Geschichte eines Königssohns › Darüber hinaus ergibt sich durch die Gleichgewichtung der Striga- und der Fons-Episode in der spätmittelalterlichen Erzählung eine Figurenkonstellation, die in viel stärkerem Maße als in der hochmittelalterlichen Version der Geschichte eine Spiegelung der Personenbeziehungen in der Rahmenhandlung der Geschichten Sendebars darstellt. Sowohl in der Rahmenals auch in der Binnenerzählung treten jeweils nur zwei handelnde Figuren auf, da Vater und Sohn sich vor allem passiv verhalten. 58 In der Geschichte eines Königssohns sind es das heimtückische und das rechtschaffene Mädchen, die - anders als in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle - beide im gleichen Ausmaß die Handlung vorantreiben. Beide versuchen, sich Zugriff auf den hilflosen Prinzen zu verschaffen. Hinsichtlich der Rahmenerzählung entsprechen diese beiden Figuren auf der einen Seite der Frau des Königs, die auf die Hinrichtung des Prinzen hinarbeitet. Auf der anderen Seite stehen die Weisen, die ihn mit ihren Erzählungen verteidigen. Dazu passt, dass in dieser jüngeren und ausführlicheren Version der Binnenerzählung deutlich ausgeführt wird, welche Absichten die erste Dämonin zu Beginn hegt. Als der Königssohn einen Bestechungsversuch unternimmt, um sein Leben zu retten, erklärt sie, dass sie 58 Die Väter verfolgen jeweils untätig das Geschehen, im einen Fall als leicht zu manipulierender Zuhörer, im zweiten als ebenso leicht zu beeinflussender, ohnmächtig Leidender. Der eine Sohn wiederum ist zum Schweigen und Zuhören verurteilt, während der andere seinem Pferd in der Wildnis die Zügel schießen lässt. Produktive Ambivalenz: Die ‹ Geschichte eines Königssohns › 139 Mitleid mit seiner Schönheit und Jugend habe und dass es ihr nicht richtig erscheine, einen Menschen von seinem Wert zu verderben. Von ‹ verderben › war in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle noch nicht die Rede. Die Umgangsformen sind rauher geworden. Von ihrem ursprünglichen unheilvollen Vorhaben lässt die Dämonin zwar aus Erbarmen ab. Dass sie jedoch mit Gottes Hilfe nicht nur vertrieben wird, sondern sich beim Fall vom Pferd das Genick bricht, lässt den Rezipienten ahnen, dass es notwendig ist, diese Figur und damit auch ihren Gegenpart in der Rahmenerzählung auf sehr entschiedene Weise unschädlich zu machen. Gegen die zweite Frau hingegen, die in dieser Fassung explizit als Dämonin bezeichnet wird, ist göttlicher Beistand nicht nötig. Ebenso wie Paracelsus ’ christlichen Elementargeistern ist ihr daran gelegen, eine Seele zu erhalten. 59 Vielleicht meint sie auch, dass sie eine solche bereits besitzt, wenn sie davon spricht, dass sie sie durch ihr korrektes Verhalten retten werde: Was du und ich geschworen haben - erinnere dich daran, es zu erfüllen [. . .]. Falls nicht - dann wisse, dass ich meine Seele gerettet habe. Denn alles Schlechte, was dir widerfahren wird, ist von dir verursacht und nicht von mir. Außerdem wird Gott an deinem Körper und an deiner Seele rächen, dass du gegenüber mir und ihm widerspenstig warst. › 60 Die Dämonin ist von ihrem zukünftigen Ehemann viel weniger abhängig als Melusine von Reymond. Für die Rettung ihrer Seele ist sie allein verantwortlich, während Melusines Seelenheil von ihrem Mann leichtsinnig verspielt wird, wie die Fee nach der Trennung feststellt: Dan ob du mir gehalten vnd din gelu ͮ bde gelei ſ t het/ e ſ t vffrecht vnd frommeklich ſ o wer ich natu ͮ rlichen by dir gewe/ ſ en vnd bliben Vnd als ein ander natu ͮ rlich wip ge ſ torben vnd der erden beuolhen word ē vnd wer myn ſ ele von myn ē libe gewißlich ʒ u ͦ der ewigen froyde k ō m ē Nu ͦ mu ͦ ß myn lib vnd ſ ele di ſ er ſ tu ͦ nde hin in liden arbeit vnd in pin ſ in vnd bliben bit ʒ vff den Jung ſ t ē tag. 61 In dem Moment, in dem Melusine ihr Geschick mit dem Reymonds verknüpft, hat sie schon verloren, was sie begehrt. Die Dämonin hingegen behält ihre Autonomie. Aus ihren Worten, aus der Gegenüberstellung von Körper und Seele des Helden bzw. aus der Parallelisierung von Dämonin und Gott wird deutlich, dass die nichtmenschliche Frau sich als Verbündete Gottes betrach- 59 Zu diesem Topos in Paracelsus › Liber de nymphis vgl. z. B. Claudia Steinkämper : Melusine - vom Schlangenweib zur ‹ Beauté mit dem Fischschwanz › . Geschichte einer literarischen Aneignung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 233). Göttingen 2007, S. 208 ff. 60 ו א ת א ש ר נ ש ב ע נ ו א נ י ו א ת ה ז כ ו ר ל ע ש ו ת ] . . . [ ו א ם א י י ן ו א נ י א ת נ פ ש י ה צ ל ת י כ י כ ל ר ע ה א ש ר י ג י ע ך ר ק ת ד ע כ י א ת ה ת ג ר ו ם ו ל א א נ י ו מ ל ב ד ז ה ה ש ' י פ ר ע מ מ ך ו מ ב ש ר ך ו מ נ פ ש ך א ת א ש ר מ ר ד ת ב י ו ב ו . [S. 364]. 61 Melusine, S. 128. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 140 tet. 62 Die im Kontrakt festgelegten Bedingungen gelten für beide Seiten. Für das Versagen des Mannes aber muss die Frau nicht haften. Der Garant ihres Heils ist allein Gott. Durch die enge Verbindung mit ihm werden ihre Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit noch stärker akzentuiert als die Melusines. Das Hilfsangebot der Dämonin ist ebenso wie das der sieben weisen Ratgeber ehrlich gemeint, ihr Ratschlag so nützlich, wie der Prinz es sich nur wünschen kann. 63 Betrachtet man die Brunnenfee als Figur, in der die Funktion der Ratgeber gedoppelt wird, dann wird noch deutlicher, warum es für den Königssohn möglich ist, nach der Liquidierung der schlechten Ratgeberin, die ihn beinahe ins Verderben geführt hätte, mit der guten Ratgeberin ein dauerhaftes Bündnis einzugehen. Die verräterische Nebenfrau in der Rahmenerzählung legt den Fokus ihrer Geschichte allein auf den einen randständigen Ratgeber, den es zu entfernen gilt. Sie will den König mit ihrer Geschichte davon überzeugen, dass Ratgebern allgemein nicht zu trauen ist. Ihr Ehemann, der nichts über die wahren Absichten der unzuverlässigen Erzählerin weiß, folgt ihrer Darstellung zunächst. Für den informierten Leser aber erschließt sich durch die wechselseitige Perspektivierung von Rahmen- und Binnenhandlung eine weitere Bedeutungsebene. Stellt man die Mehrdimensionalität in Rechnung, die die Erzählung durch ihr Eingebundensein in den Zyklus erhält, dann ergibt sich für die Rahmenwie auch für die Binnenerzählung ein gemeinsames Thema: Es geht darum, unter einer Anzahl von Ratgebern die Guten von den Schlechten zu unterscheiden, die Schlechten loszuwerden und sich mit den Guten zu verbünden. Ratgeber werden zwar von ihren Herrschern selten geheiratet. Indem aber der Autor der Geschichte eines Königssohns die zweite nichtmenschliche 62 Die Dämonin behauptet sogar, von Gott dazu bestimmt worden zu sein, den Helden zu seinem Vater zurückzubringen. Auch sonst verweist sie bei all ihren Handlungen und Forderungen immer wieder auf Gott. Hierin gleicht sie neben der feenhaften Figur im Ritter von Staufenberg auch der Protagonistin der Melusine- Romane. Bei Thüring von Ringoltingen hat die Tatsache, dass sich die unbekannte Frau am Brunnen nachdrücklich auf Gott bezieht, auf den männlichen Helden einen beruhigenden Effekt: Do nu ͦ n reym ō t horte das ſ ie von gotte ſ eite do gewan er ein ſ underen tro ſ t vn ̄ ge/ dochte in ſ inem hert ʒ en nu ͦ n mag ich doch ettwas tro ſ tes haben / d ʒ die iungfrouwe kein ge ſ pen ſ te / noch keins vngloubens ſ u ͦ der v ō cri ſ tem blu ͦ t kummen vnd nit vnglo ͤ big ſ ige . Melusine, S. 22. Eine ähnliche Funktion hat die vielfache Berufung auf Gott und seine Gebote in der Geschichte eines Königssohns. 63 Dass sie beinahe die gleichen Worte benutzt, um zu begründen, dass der Junge nicht sterben solle, verweist darauf, dass die Figuren der beiden Dämoninnen parallel zueinander angelegt sind, was, wie so viele Ähnlichkeiten, die zweite Frau zugleich ent- und belastet. Produktive Ambivalenz: Die ‹ Geschichte eines Königssohns › 141 Frau strukturell zu den wohlmeinenden Ratgebern der Rahmenhandlung in Beziehung setzt, wird ein weiteres, die Verbindung mit dieser Frau legitimierendes Argument eingeführt. Die Einführung eines neuen Handlungsstranges und ein offenes Ende Die Verbindung von Schauder und Faszination, das Oszillieren zwischen Bejahung und Ablehnung der Verbindung eines jungen Mannes mit einer Dämonin, das schon die mittelalterliche Geschichte von der Dämonin und der Quelle bestimmt, wird auch von ihrem Bearbeiter in der Geschichte eines Königssohns aufgenommen. Mag es auch möglich sein, einem Königssohn, anders als den nichtadligen Protagonisten der übrigen jüdischen Mahrtenehenerzählungen, exotische Abenteuer und exogames Heiratsverhalten zuzugestehen - völlig vernachlässigen lassen sich die Probleme, die sich in einem jüdischen Kontext daraus ergeben, offenbar nicht. Im selben Maß, wie im Spätmittelalter die Legitimierungsstrategien verstärkt werden, gewinnen auch gegenläufige Bewegungen an Deutlichkeit. Das aussagekräftigste Beispiel hierfür sind die Einführung eines neuen Handlungsstrangs und die Schwierigkeiten, die Geschichte zu Ende zu erzählen, die sich aus der Erweiterung des Ausgangsmaterials ergeben. In der Geschichte von der Dämonin und der Quelle war der Prinz immerhin trotz aller dämonischen Restbestände in der Figur der zweiten Frau ohne weitere Umstände mit dieser nach Hause zu seinem Vater zurückgekehrt. In der Geschichte eines Königssohns hingegen wird an die Rückverwandlung eine mehrfach retardierende Schlusssequenz angefügt, in der der Prinz zunächst in das Land der Dämonen zieht. Nachdem er aber einmal bei den Dämonen heimisch geworden ist, fällt ihm der Abschied von dort außerordentlich schwer. Tatsächlich findet der Aufbruch innerhalb des Erzählhorizonts der Geschichte nie statt. Der Schreiber behauptet zwar, dass ihn von dem Punkt an, wo endgültig der Aufbruch der Protagonisten eingeleitet wird, seine Vorlage im Stich gelassen habe. Wahrscheinlicher ist aber, dass er (oder der Bearbeiter seiner unvollständigen Vorlage) sich bereits ein ganzes Stück zuvor von der mittelalterlichen Tradition gelöst und der Geschichte eine recht eigenwillige Wendung gegeben hat. Hier mag ein Versuch vorliegen, in den letzten Teil der Geschichte eines Königssohns ein neues, bislang unbekanntes Ende oder eine andere bestehende Stofftradition zu integrieren. Die Zusammenfügung disparater Teile gelingt jedenfalls nicht reibungslos. Ein Hinweis auf die jäh angeeignete erzählerische Freiheit ist die Tatsache, dass sich ausgerechnet ab der erfolgten Rückverwandlung des Protagonisten der erzählerische Duktus auffällig verändert. Zuvor werden die Ereignisse bis auf wenige Ausnahmen wohlgeordnet und leicht verständlich geschildert. Stets Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 142 weiß der Leser bei allen Monologen der verschiedenen Figuren, vor allem aber auch bei den Dialogen des Königssohns mit den Dämoninnen, welche Figur gerade das Wort hat. Eine weitere mögliche Quelle der Verwirrung wird in der Geschichte eines Königssohns zudem dadurch ausgeschlossen, dass die ursprüngliche Identität des Helden nach seiner Verwandlung in eine Frau weiterhin durch männliche Pronomen und Verbformen präsent gehalten wird. 64 Letzeres ist, wie oben erwähnt, nicht selbstverständlich - in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle wird der Prinz bis zu seiner Rückverwandlung sowohl als ‹ sie › als auch als ‹ er › bezeichnet und benutzt selbst weibliche Verbformen, wodurch sich seine geschlechtliche Identität stärker einer eindeutigen Bestimmung entzieht als in der jüngeren Bearbeitung der Geschichte. 65 Die Wiederherstellung und Wahrung einer Differenz zwischen Menschen und Dämonen, die in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle durch die Entlarvung der ersten Dämonin und die Rückverwandlung des Prinzen nachdrücklich markiert worden war, wird in der zusätzlichen Schlussepisode der Geschichte eines Königssohns subtil unterlaufen. Hier wird sprachlich und stilistisch ein Durchlässigwerden der Grenzen zwischen menschlicher und dämonischer Identität ausgedrückt. Nachdem die Dämonin ihren zukünftigen Ehemann mit nach Hause genommen hat, wird es für den Rezipienten der Geschichte eines Königssohns bedeutend schwieriger nachzuvollziehen, wann ein Satz oder ein Satzteil direkte oder indirekte Rede ausdrückt, welche Person gerade spricht oder ob es sich bei einer Aussage um einen Erzählerkommentar handelt. Anders als zuvor wird zu Beginn dieses letzten Abschnitts erstmals keine Inquit-Formel verwendet, um eine direkte Rede der Dämonin einzuleiten. Die Verwirrung der Geschlechter, die ja zumindest auf körperlicher Ebene behoben sein sollte, setzt sich nun auf grammatikalischer Ebene fort. 66 Es hieße den Bearbeiter oder Verfasser - und als solchen kann man den Bearbeiter der Erzählung bei den Freiheiten, die er sich mit dem Stoff nimmt, 64 Vgl. Epstein , Tales of Sendebar, S. 160 f. 65 Vgl. Epstein , Tales of Sendebar, S. 158ff, z. B. ו ת ש א ל נ ה ה נ ע ר ו ת ו ת א מ ר נ ה ל ה מ י א ת ו מ א י ן ת ב א ו ת ס פ ר ל ה ן כ ל ה מ ע ש ה ש א י ר ע ל ו . (Die Mädchen fragten sie: ‹ Wer bist du und von woher kommst du? › Sie erzählte ihnen alles, was ihm geschehen war). Epstein , Tales of Sendebar., S. 160. [S. 355]. Im Hebräischen ist an der Form des Verbs sichtbar, ob ein Mann oder eine Frau spricht - oder eben auch nicht sichtbar, wie im Fall der Geschichte vom geschlechtsumwandelnden Brunnen. Epstein vermerkt zu dieser Episode: «The gender in the foregoing lines is in utter confusion. It is possible that this is a conscious stroke on the part of the copyist to convey the confusion of the sexes.» Epstein , Tales of Sendebar, S. 161. 66 [Vgl. S. 363, in der Handschrift: ה ג י ד ל ה ם ש ה ו א א ד ם מ ד ם ה מ ל ו כ ה ו ג ם ט ו ב ת ו א ר מ א ד ו כ י א ו ת ו א ה ב ו ח ו ש ק ת ל ה ו ג ם ה י א א ו ה ב ' א ו ת ו ו ר ו צ ה ל ה ז ד ו ו ג ע מ ו ו ע ת ה א ם י ש כ ם ע ו ש י ם ח ס ד ו א מ ת . . . ]. Produktive Ambivalenz: Die ‹ Geschichte eines Königssohns › 143 sicherlich bezeichnen - unterschätzen, führte man die in der letzten Episode der Geschichte zutage tretenden Inkohärenzen ausschließlich auf fehlendes erzählerisches Geschick zurück. Die mangelnde stilistische und inhaltliche Systematik entfaltet durchaus ihre eigene Logik. Man kann dem Autor zwar unterstellen, sich in seinen eigenen kreativen Erweiterungen so verhaspelt zu haben, dass er die Geschichte nicht zu einem sinnvollen, mit der Stofftradition vereinbaren Schluss bringen kann und sich als letzten Ausweg auf einen Defekt der Vorlage zurückziehen muss. Tut man dies, dann kann man zwar mit Hilfe des von einem wohlmeinenden Redaktor nachgetragenen Schlusses einen vollständigen Text rekonstruieren. Dabei gerät allerdings leicht aus dem Blick, dass die Geschichte eines Königssohns gerade in ihrer fragmenthaften Gestalt eine ganz eigene Folgerichtigkeit entwickelt. In der Auflösung der stilistischen und inhaltlichen Stringenz der Erzählung äußert sich die drohende Entfremdung des Helden von der Welt, aus der er kommt und in die er eigentlich gehört. Denn an der immer wieder aufgeschobenen Reise des frischverheirateten Paares an den Hof des menschlichen Königs, die innerhalb dieses Teils der Erzählung letztlich nie stattfindet, wird eines deutlich: Der junge Mann hat es nicht eilig, zu seinem Vater zurückzukehren. Nach der Hochzeitsnacht stellt er zufrieden fest, dass er nun lange Zeit bei der Dämonin zu bleiben und erst später zu seinem Vater zurückzukehren gedenke. Daraufhin muss ihn die Dämonin erst wortreich daran erinnern, dass er geschworen habe, möglichst bald den Heimweg anzutreten, um seinen untröstlichen Vater aus dem Zustand tiefer Trauer zu befreien. Sodann schlägt sie vor, das Versprechen schnell in die Tat umzusetzen, nachdem er sich von ihrer Familie verabschiedet habe. Erneut aber wird sie sowohl mit Zustimmung als auch mit dem Wunsch nach Aufschub konfrontiert. Der Königssohn kommt aus dem Land der Dämonen einfach nicht mehr weg. Nachdem es ihm zu Beginn der Erzählung unter großem Aufwand gelungen ist, den Hof seines Vaters überhaupt zum ersten Mal zu verlassen, zieht es ihn am Ende offenbar keineswegs mit Macht dorthin zurück. In diesem verstümmelten Schluss bildet sich ab, worin das Problem besteht, das die Handlung in Gang bringt und das die Geschichte eines Königssohns bis zum Ende thematisch bestimmt: der Wunsch des Sohnes, sich von seinem Vater zu entfernen, eigene Wege zu gehen und auf eigenes Risiko seine Umgebung mit ihren Gefahren und Möglichkeiten zu erkunden und darauf zu reagieren. Der Prinz muss erst von seiner neu gewonnenen Affinalverwandtschaft daran erinnert werden, dass er zu seinem Vater zurückkehren sollte. Seine Pflicht als Nachkomme des Königs besteht nicht nur darin, auf die individuelle Gemütslage des Vaters Rücksicht zu nehmen, obgleich diese Begründung stets im Vordergrund steht. Zu Beginn der Erzählung wird die Beziehung zwischen Vater und Sohn folgendermaßen in Worte gefasst: Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 144 Ihre Seelen waren miteinander verbunden, denn der Knabe war zart und für seinen Vater einzigartig. Er hatte keinen Sohn außer ihm, der nach ihm seinen Thron einnehmen konnte. 67 Der Königssohn muss einer besonderen emotionalen Verbundenheit Rechnung tragen, sich darüber hinaus aber auch einer überindividuellen Verantwortung stellen, die aus seiner Position innerhalb einer Abstammungslinie resultiert. Diese erscheint von Anfang an als gefährdet, da der Sohn ein Einzelkind ist und als zart, d. h. als möglicherweise empfindlich und zerbrechlich gekennzeichnet wird. Was der vermeintliche Tod des Sohnes für die Dynastie bedeutet, formuliert der Vater in seiner Totenklage: ‹ Ich will mit Leiden zu meinem Sohn in die Unterwelt hinabsteigen. Mein Name und der Name meiner Väter werden im Königreich ausgelöscht. Denn wer wird nach mir auf meinem Thron sitzen? › 68 Wenn wiederum die Dämonin ihren Mann ermahnt, die Trauer seines Vaters zu beenden, dann begründet sie dies unter anderem mit der segenshaften Wirkung, die dies auf die Erzeugung eigener Nachkommenschaft haben wird. Mit der Einführung der nicht enden wollenden Schlussepisode wird die Bedrohung geschildert, die eine Allianz für die Erfüllung der Anforderungen der Deszendenz trotz aller Versöhnungsanstrengungen, Differenzierungsbemühungen und Integrationsstrategien bedeuten kann. Damit wird auch der Antagonismus zwischen Vater und Sohn herausgestellt, der eines der Hauptthemen der Rahmenhandlung ist, und der nun auch in der Binnenerzählung stärker akzentuiert wird, als dies in der hochmittelalterlichen Version der Geschichte der Fall war. Die freundliche Dämonin erweist sich trotz ihres Pflichtbewusstseins als Verführerin, derentwegen der Prinz seine Pflichten als Sohn vernachlässigt. Diese Tendenz einer Negativierung der Figur greift der zweite, korrigierende Schreiber auf, als er die fragmentarische Geschichte später vervollständigt. Er relativiert dabei die zuvor ausführlich geschilderte Gottesfürchtigkeit der zweiten Dämonin, indem er die etwas rätselhafte Bemerkung einfügt, sie und der Prinz hätten ihren Bund im Beisein von Götzen ( ג י ל ו ל י ם ) geschlossen. 69 67 ו נ פ ש א ב י ו ק ש ו ר ה ב נ פ ש ו כ י ה ו א ר ך ו י ח י ד ל א ב י ו ו א י ן ל ו ב ן ז ו ל ת ו ל ש ב ת ע ל כ ס א ו . [S. 357]. 68 כ י א ר ד א ל ב נ י א ב ל ש א ו ל ה ו י כ ר ת ש מ י ו ש ם א ב ו ת י מ מ ל כ ו ת כ י מ י י ש ב ע ל כ ס א י א ח ר י . [S. 358 f.]. 69 Da die Dämonin zuvor stets als gottesfürchtige Frau erscheint, ist die hinzugefügte Erwähnung der dubiosen Götzen umso auffälliger. Sie erfolgt in direktem Anschluss an die Worte der Frau, dass sie nun zum Haus Gottes gehen und dort opfern und zu Gott beten wolle. Wie Melusine kann man auch die Dämonin in der Geschichte eines Königssohns aus einer dämonologischen Perspektive betrachten, in der die Frauen nicht nur als Geschöpfe Gottes, sondern auch als seine Gegner erscheinen. Produktive Ambivalenz: Die ‹ Geschichte eines Königssohns › 145 Die Frage, ob es zu begrüßen oder zu befürchten ist, dass ein junger Held in die Welt hinauszieht, sich dort im wahrsten Sinn des Wortes verliert und am Ende nicht die Tochter des heimatlichen Gemeindevorstehers, sondern eine zuvor unbekannte, gar nichtmenschliche Frau heiratet, wird in der Geschichte eines Königssohns noch weniger beantwortet als zuvor in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle. Dort war der Prinz gemeinsam mit seiner möglicherweise dämonischen Frau immerhin am Ende wieder an seinem Ausgangsort angekommen. In der Geschichte eines Königssohns hingegen wird die Braut mit noch größerem Aufwand sowohl entals auch redämonisiert. Sie behauptet, den Helden zu seinem Vater zurückbringen zu wollen und führt ihn doch nur weiter von ihm fort. Sie erscheint als zugleich fürsorglich und verführerisch, als gottesfürchtig und ketzerisch, die Verbindung mit ihr zugleich als Glücksfall und als Falle. Dieser Zwiespalt ist in der hochmittelalterlichen Geschichte von der Dämonin und der Quelle schon angelegt. Dort allerdings wird er an der Oberfläche dadurch aufgelöst, dass zumindest am Ende alles entschieden ist: Der Prinz hat sein Abenteuer gut überstanden, die auswärtige Frau wird offiziell dem Vater vorgestellt und kann als passende Ehefrau anerkannt und in das Gefüge der Menschenwelt integriert werden. Es entstehen keine Konkurrenzsituationen, die den Kosmos der erzählten Welt destabilisieren könnten. Nicht die Dämonin oder der Prinz, sondern der Ratgeber des Königs dient als Sündenbock, der alle aufgrund der vorangegangenen Unregelmäßigkeiten drohenden Aggressionen auf sich zieht. Die Geschichte von Josef, dessen Vater Jakob in Trauer verfällt, nachdem der jüngste Sohn angeblich von wilden Tieren zerrissen wurde, wird nur zu Beginn kurz anzitiert, damit sich die nachfolgende Handlung vom biblischen Bezugstext absetzen kann. Anders als Josef, den es bis nach Ägypten verschlägt, wo er bis zu seinem Ende bleibt, kehrt der Sohn König Botzras unversehrt zu seinem Vater zurück. 70 In der Geschichte eines Königssohns ist dies anders. Nicht nur in den ausführlichen Zitaten aus dem Teil der biblischen Geschichte, in dem von dem vermeintlichen Angriff des Raubtiers und von der Trauer des Vaters die Rede ist, wird Josef als Modell für die Figur des Prinzen präsentiert. Genau wie Josef gelangt der Königssohn in ein fremdes Land, wo er beinahe von einer verführerischen Frau ins Verderben gerissen wird, der Gefahr aber entkommen kann. 71 Und wie Josef, aber anders als der Held der hochmittelalterlichen Geschichte von der Dämonin und der Quelle, kehrt der Prinz aus diesem Land 70 Vgl. Epstein , Tales of Sendebar, S. 146 f. 71 Der Streit zwischen Josef und Potiphars Frau wiederum dient als Modell-Plot für die Rahmenerzählung der Geschichten Sendebars. Wie Josef gerät auch der Prinz durch einen Vergewaltigungsvorwurf in Gefahr, kann sich aber rehabilitieren. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 146 nicht mehr nach Hause zurück. Als Katastrophe erscheint dies weder in der Bibel noch in der Geschichte eines Königssohns. Bedenkt man aber, welchen Ausblick die Josefgeschichte mit dem Schluss des ersten Buchs Mose bietet, dann erscheint auch die ausbleibende Rückkehr des Königssohns in einem anderen Licht: Mit der Übersiedelung Jakobs und seiner restlichen Söhne aus Kanaan in das Land, in dem Josef eine hohe Position bekleidet, wird der Grundstein für die ägyptische Knechtschaft gelegt. Durch den intertextuellen Verweis wird mithin suggeriert, dass der Weggang des Helden aus seiner Heimat und aus der Obhut seines Vaters Folgen nicht nur für ihn selbst, sondern auch für all seine Angehörigen haben kann. Wer sich, wenn auch unabsichtlich, aus seiner Heimat entfernt und in der Fremde einrichtet, der mag im schlimmsten Fall dafür sorgen, dass sein ganzes Volk mit ihm ins Exil gerät. Die in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle eingesetzten Integrations- und Harmonisierungsmechanismen, durch die eine solche Vorstellung am Ende abgewendet wird, werden in der Geschichte eines Königssohns nicht eingesetzt. Der gute Wille des Brautpaares wird mehrfach geäußert, aber nicht umgesetzt, Vater und Braut finden nicht zusammen und der Bräutigam nicht zurück. Erstmals wird eine dämonische Allianz gegen die Ansprüche der Abstammung in Stellung gebracht. Und dieses eine Mal, in der kretischen Bearbeitung der Geschichten Sendebars aus dem 15. Jahrhundert, wird ihr, wenn nicht der Sieg, so doch ein Remis zugesprochen. Die Beziehung eines Mannes zu einer Dämonin wird nicht ohne Einschränkungen gutgeheißen. Dazu werden über den gesamten Text hinweg zu viele Zeichen verteilt, die auf die Gefährlichkeit der Frau und auf den offen und virulent gehaltenen Konflikt zwischen dem Anschluss des Helden an die Ego- Gruppe der Menschen oder an die Alter-Gruppe der Dämonen hinweisen. Und dennoch: Auch wenn am Ende die Stabilität der dämonischen Allianz gerade dadurch in Frage gestellt wird, dass sie immerzu beschworen werden muss und das Paar sich zugleich permanent im Aufbruch befindet - im Text wird gezeigt, dass die Verbindung eines Mannes mit einer ungleichartigen Frau zwar zweifelhaft, aber denkbar ist. Angedeutet wird, dass sie, wenn dies in der Absicht der Dämonin läge, vielleicht sogar gegen die Vater-Sohn-Beziehung ausgespielt werden könnte. In jedem Fall werden die Protagonisten der Erzählung für ihr Verhalten nicht bestraft, auch nicht in dem Nachtrag, durch den das fehlende Ende der Erzählung korrigierend ergänzt wird. Daraus kann der Rezipient folgern, dass eine solche Verbindung für bestimmte Personen (nämlich für adlige Helden, von denen höfisches Verhalten gefordert wird) und unter bestimmten Umständen (wenn die väterlichen Ansprüche als wesentlich anerkannt werden) grundsätzlich möglich ist, selbst wenn die Rückkehr des Helden an seinen Herkunftsort in den Hintergrund gerät. In der Geschichte eines Königssohns wird eine Faszination an der Begegnung mit dem Fremden Produktive Ambivalenz: Die ‹ Geschichte eines Königssohns › 147 artikuliert und erzählerisch entfaltet, die auch den anderen jüdischen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe zugrunde liegt. Anders als in den anderen Beispielen wird diese Faszination hier aber nicht dadurch domestiziert und kontrolliert, dass man sie als falsch und verdammenswert zurückweist. Für eine in einem jüdischen Kontext überlieferte Dämonenhochzeitserzählung ist dies ungewöhnlich. Im Rahmen der Geschichten Sendebars wird diese interpretierende Erweiterung der Erzählung nicht weiter tradiert. Schon dem zeitgenössischen Bearbeiter der Handschrift muss das offene Ende unbefriedigend erschienen sein. In seinem Nachtrag biegt er die Geschichte auf das Ende zurück, mit dem sie für gewöhnlich überliefert wird: [. . .] Er nahm das Mädchen mit sich und brachte es zu seinem Vater. Er erzählte seinem Vater alles, was geschehen war. Da befahl der König, den Ratgeber zu töten. 72 Die ausführliche kretische Version der Geschichten Sendebars und damit auch die eigenwillige Variante von Striga et Fons bzw. die Geschichte eines Königssohns bleiben in der Überlieferungsgeschichte des Zyklus eine einmalige Variante. Alle späteren Textzeugen der Geschichten Sendebars, auch die Fassung des Konstantinopler Erstdrucks von 1516, ähneln in ihrer Knappheit und in der Gestaltung des Schlusses den hochmittelalterlichen Versionen - immer kehrt der irrende Prinz ohne Verzug mit seiner frisch erworbenen Braut nach Hause zurück. Trotzdem handelt es sich bei der Version der Erzählung in MS Vat. ebr. 100 höchstens auf den ersten Blick um einen kreativen Fehltritt, der in einer literaturgeschichtlichen Sackgasse endet. In die weitere Tradition der Geschichten Sendebars findet die Bearbeitung zwar keinen Eingang. Einige der in ihr imaginierten Problemkonstellationen werden jedoch an anderer Stelle, nämlich in den Dämonenhochzeitserzählungen des 16. Jahrhunderts, aufgenommen und weitergeführt. Auch dort begegnet der Gedanke, dass an der Beziehung eines jungen Mannes zu einer Dämonin Konflikte des Individuums mit seiner Herkunftsgesellschaft, besonders bezüglich der Ansprüche der Elterngeneration, deutlich werden. Der Autor oder Bearbeiter der Geschichte eines Königssohns kann sowohl auf die Überlieferung der Geschichten Sendebars als auch auf das Narrativ der gestörten Mahrtenehe, in welcher konkreten Form auch immer er ihm begegnet ist, zugreifen. Er verbindet beides miteinander, indem er der bereits existierenden Binnenerzählung Striga et Fons durch die Inserierung des Narrativs eine neue Wendung gibt. Das Thema, das die Geschichte eines Königssohns ebenso wie die beiden anderen umfangreichen jüdischen Mahr- 72 ו י ק ח ה נ ע ר ה ע מ ו ו י ב י א ה א ל א ב י ו ו י ס פ ר ל א ב י ו א ת כ ל א ש ר ק ר ה ו ו י צ ו ה מ ל ך ל ה ר ו ג א ת ה י ו ע ץ ה ה ו א . [S. 364]. Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 148 tenehenerzählungen am Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit bestimmt, ist nicht mehr in erster Linie das Verhältnis des erwachsenen Mannes zu Gott und zur Religion, obwohl auch dies weiterhin und stärker als im höfischen Kontext eine wichtige Rolle spielt. Durch das Eingreifen des Verfassers der Geschichte eines Königssohns wird die in den früheren Fassungen lediglich prognostizierte Dämonenhochzeit tatsächlich herbeigeführt und gleichzeitig der Konflikt zwischen den Wünschen des Protagonisten und denen seines Vaters intensiviert. Wo gefährdete Adoleszenz und gefährliche Allianz aufeinandertreffen, da tritt der Antagonismus zwischen den Generationen deutlich hervor. Mag es auch im Spätmittelalter andere jüdische Mahrtenehenerzählungen gegeben haben, denen dieser Gedanke zugrunde liegt und die verloren gegangen sind - die Geschichte eines Königssohns ist ein Beispiel dafür, wie ein vielseitig einsetzbares Narrativ Themen, die in einem bestimmten kulturellen Kontext als aktuell empfunden werden, in sich aufnehmen und literarisch produktiv machen kann. Dabei sind die Deutungs- und Lösungsangebote schon innerhalb ein und desselben Textes oft vielfältiger als die Problemkonstellationen, von denen die Handlung ausgeht. In der Geschichte eines Königssohns werden aber nicht nur verschiedene literarische Themen, Narrative und Motive miteinander synthetisiert. Auch in anderer Hinsicht stellt sie ein Verbindungsglied dar: Als Teil der Tradition der Geschichten Sendebars, deren Wurzeln im außereuropäischen Raum liegen, die aber von der jüdischen Bevölkerung auch im mittelalterlichen Lateineuropa rezipiert wird, konvergieren in ihr östliche und westliche, europäische und orientalische literarische Kulturen. Als Text, der auf Kreta im 15. Jahrhundert produziert wird, steht die Erzählung an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Und als Produkt des Literaturbetriebs der Stadt Candia, die zu dieser Zeit von jüdischen Einwohnern, Einwanderern und Flüchtlingen aus großen Teilen der bekannten Welt bevölkert wird, stellt sie ein Vehikel zur weiteren Verbreitung des Narrativs der Dämonenhochzeit dar, sowohl in östlicher als auch in westlicher und nordwestlicher Richtung. Welche Rolle das Narrativ wenig später in Verbindung mit den Themen Erwachsenwerden, Emanzipation junger Männer von ihren Eltern und gefährliche Beziehungen zu dämonischen Frauen in zwei Texten aus Oberitalien bzw. Konstantinopel spielt, wird Gegenstand der beiden folgenden Kapitel sein. Produktive Ambivalenz: Die ‹ Geschichte eines Königssohns › 149 4. Riskante Allianz und gefährliches Begehren im 16. Jahrhundert: Die Rettung des Helden in der ‹ Geschichte aus Worms › His friendship with Anshel, their intimate talk, their confidences, had been turned into a sham and a delusion. The thought even occurred to him that Anshel might be a demon. 1 Die Art und Weise, wie die Geschichte von der Dämonin und der Quelle im 15. Jahrhundert erweitert und ausgeschmückt wird, zeigt: Zu Beginn der Frühen Neuzeit besteht Interesse daran, elaborierte Geschichten zu erzählen und dabei das spätestens seit dem Hohen Mittelalter zur Verfügung stehende narrative Grundgerüst mit Details zu füllen. Wenig später entstehen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die beiden Texte, deren differenzierter Umgang mit dem Narrativ der Dämonenhochzeit in der modernen Forschung das größte Interesse geweckt hat: die Geschichte aus Worms und die Geschichte eines Jerusalemers. Im Hochmittelalter war es in der Geschichte eines Amulettschreibers und in der Geschichte eines armen Mannes um die Frage gegangen, wie ein Mann ein gottgefälliges Leben führen soll, das von Gehorsam gegenüber Gott gekennzeichnet ist bzw. von dem Vermögen, die widerstreitenden Anforderungen von Ehe und Torastudium miteinander zu vereinen. Das Thema des gottesfürchtigen Lebens kehrt in den jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen stets wieder. In der Geschichte von der Dämonin und der Quelle und in der Geschichte eines Königssohns tritt dieses Element, verglichen mit den anderen Texten, ein wenig in den Hintergrund. Das mag damit zusammenhängen, dass es sich bei dem Protagonisten dieser Geschichten ausnahmsweise nicht um einen jüdischen Gelehrten, sondern um einen adligen Thronanwärter handelt. Aber auch dieser weiß zu beten und mit Gottes Hilfe «seine Seele zu retten«. 2 In der Binnenerzählung der Geschichten Sendebars tritt erstmals die Figur eines über den Sohn wachenden Vaters auf, der mit dem emotional belastenden, 1 Isaac Bashevis Singer : Yentl the Yeshiva Boy. Translated from the Yiddish by Marion Magid and Elizabeth Pollet . New York, Toronto 1983 (jiddische Erstausgabe 1962), S. 47. 2 ו ה נ ע ר ב ז ר י ז ו ת ו מ י ל ט נ פ ש ו . [S. 362]. vermeintlichen Tod seines Sohnes sowie mit der Störung der herrschaftlichen Nachfolge konfrontiert wird. Die Erzählung handelt also unter anderem von der Furcht, dass die Entfernung eines jungen Mannes von seiner Herkunftsgesellschaft sowohl seinen dauerhaften Verlust als auch die Destabilisierung eines bestehenden verwandtschaftlichen und sozialen Systems zur Folge hat. Der Protagonist der Geschichte aus Worms ist zwar kein Prinz, sondern der Sohn eines berühmten Rabbiners. Doch ähnlich wie in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle und in der Geschichte eines Königssohns treten auch in der Geschichte aus Worms Elternfiguren auf, die auf das Leben des jugendlichen Helden Einfluss nehmen und eine Bewahrung der vertikalen Abstammungslinie gewährleisten wollen. In dieser Erzählung stellt die Beziehung zu der Dämonin insofern einen Prüfstein für das Funktionieren des elterlichen und sozialen Normsystems dar, als in ihr verschiedene Formen verbotenen Begehrens kumulieren, denen nachzugeben das der Erzählung zugrunde gelegte gesellschaftliche System nicht vorsieht. Erotisches Begehren spielt in den älteren jüdischen Mahrtenehenerzählungen lediglich eine marginale Rolle. An der Geschichte aus Worms wird erstmals in einem jüdischen Kontext sichtbar, welche Möglichkeiten das Narrativ bietet, gefährliches, erotisch deviantes Begehren zu artikulieren und dadurch eine Lust an der Transgression zu stimulieren, die ihre Energie aus der negativen Bewertung dieser Transgression im Text bezieht. Schon die antiken rabbinischen Debatten über erlaubte und verbotene Praktiken in Bezug auf bestimmte sexuelle Akte können selbst als erotisch aufgeladene Handlungen bezeichnet werden, wie beispielsweise die Diskussionen über sodomitische Vergehen deutlich machen. 3 Wer kann garantieren, dass der Gläubige sich nicht in seiner Phantasie das so ausführlich geschilderte Verbotene zueigen macht und ausgerechnet durch die Warnung erst das als reizvoll für sich entdeckt, von dem er ferngehalten werden soll? 4 3 Vgl. die Diskussionen über die Implikationen passiven und aktiven Beischlafs unter Männern, das doppelte Vergehen des Beischlafs mit einem männlichen Verwandten und die Frage der Strafwürdigkeit von Minderjährigen in bSanhedrin 54a und b. Die Rabbinen führen aus, dass auch das bloße ‹ Anschmiegen › der Geschlechtsorgane zweier Männer ohne Vollzug des Koitus nicht gestattet sei und gelangen darüber schließlich zu der etwas kuriosen Problematik der Eigenpenetration (bSanhedrin 55a). Alles in allem wird männliche Sexualität, die nicht innerhalb der Ehe, d. h. mit einem erlaubten weiblichen Objekt, vollzogen wird, als prekär oder gleich als verboten betrachtet. 4 Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (es 1737). Frankfurt a. M. 1997 (amerikanische Erstausgabe 1993), ‹ Geschichte aus Worms › 152 Gerade durch das Verbot wird das Untersagte vergegenwärtigt. 5 Michel Foucault und Judith Butler gehen davon aus, dass es so etwas wie ein jeder Ordnung vorgängiges, ursprüngliches und natürliches Begehren nicht gibt, sondern dass jedes Begehren erst im gleichzeitigen Prozess der Formulierung und Formung für den Begehrenden verfügbar wird. Die Rede über das, was erlaubt und verboten, gefährlich oder heilsam ist, sei es in einem juristischen Diskurs oder mit den Mitteln fiktionaler Texte, macht das Umschriebene erst zugänglich und entzieht es zugleich der Kontrolle dessen, der redet. Das dialektische Verhältnis von Kontrolle und Kontrollverlust wird nirgends deutlicher als in der gleichzeitigen Tabuisierung und Diskursivierung sexuellen Begehrens. Das einschränkende Gesetz erzeugt aber nicht nur Begehren, es wird auch, sobald es einmal in Worte gefasst wird, anfällig für Veränderungen. «E in verbietendes Gesetz [erzeugt], indem es eine gegebene Praktik im Diskurs hervorhebt, die Gelegenheit für eine öffentliche Anfechtung, die möglicherweise unbeabsichtigt das gleiche soziale Phänomen ermöglicht, neu figuriert und unkontrolliert vermehrt, das dieses Gesetz einschränken will.« 6 Wenn sich Konventionen darauf gründen, dass man sie zu ihrer eigenen Legitimation immer wieder aufruft; wenn jede Auseinandersetzung mit dem Gesetz auf ein Zitieren des Gesetzes, auf eine performative Wiederholung der Normen hinausläuft, dann ist gerade deshalb auch immer die Möglichkeit einer Umgestaltung oder Verschiebung des Diskurses gegeben. Das Gesetz muss wiederholt werden, um seine Autorität zu behalten. Gerade dadurch «instituiert das Gesetz andauernd wieder die Möglichkeit seines eigenen Fehlschlagens«. 7 Ein Text wie die Geschichte aus Worms, der bestimmte Formen der Sexualität oder des Begehrens legitimiert und andere verwirft, ist abhängig von den Normen und dem Gesetz, dessen Gültigkeit er beschwört. Wenn man aber davon ausgeht, dass das Zitat stets auch sein eigenes Scheitern impliziert, dann ist es möglich, mit Hilfe eines solchen Textes neue Räume im Denken über Sexualität und Begehren zu öffnen und die Grenzen der Bedingungen S. 141; vgl. auch Judith Butler : Haß spricht. Zur Politik des Performativen (es 2414). Frankfurt a. M. 2006 (amerikanische Erstausgabe 1997), S. 185. 5 In der psychoanalytischen Lesart Jacques Lacans «wird das sexuelle Begehren durch die Kraft des Verbots initiiert. Tatsächlich ist das Begehren von der jouissance [Lusterleben] genau durch die Markierung des Gesetzes abgegrenzt. Das Begehren geht auf metonymischen Wegen durch eine Logik der Verschiebung, angetrieben und durchkreuzt von der unmöglichen Phantasie, eine vollkommene Lust aus der Zeit vor dem Aufkommen des Gesetzes wiederzuerlangen.« Butler , Körper, S. 143. 6 Butler , Körper, S. 158. 7 Butler , Körper, S. 156. ‹ Geschichte aus Worms › 153 menschlichen Lebens neu zu ziehen. 8 Das literarische Ausloten und Überschreiten von Grenzen lässt die Grenzen nicht verschwinden. Es vermag sie aber unter Umständen zu erweitern. Im Folgenden wird es darum gehen zu zeigen, wie das vielfältige und häufig prekäre Begehren der Protagonisten der Geschichte aus Worms sich zu Ehe und Sexualität, zu elterlicher Einflussnahme und Normverletzung verhält. 4.1 Textüberlieferung und Textgestalt Die Geschichte aus Worms ist unikal in einer Handschrift mit der Signatur F.12.45 überliefert, die heute im Trinity College in Cambridge liegt. 9 Die Handschrift wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Norditalien hergestellt. 10 In ihr befinden sich neben zwei polemischen Gedichten Elijahu ben Ascher Aschkenasi ha-Levis (d. h. Elijahu Bachurs oder Elia Levitas), die auf das Jahr 1514 datiert werden, drei jiddische Erzählungen: die Geschichte aus Danzig ( מ ע ש ה מ ד א נ צ ק ), die Geschichte aus Mainz ( מ ע ש ה מ מ ע נ ץ ) und die Geschichte aus Worms ( מ ע ש ה מ ו ו י ר מ ש ). Die (oder der) Verfasser aller drei Erzählungen 8 Vgl. Judith Butler : Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (es 1744). Frankfurt a. M. 2001 (amerikanische Erstausgabe 1997), S. 32. 9 Zu einer Beschreibung und Datierung der Handschrift vgl. Herbert Loewe : Catalogue of the Manuscripts in the Hebrew Character collected and bequeathed to Trinity College Library by the late William Aldis Wright, vice-master of Trinity College. Cambridge 1926, Nr. 136, S. 130. Siehe auch Sara Zfatmans Bibliographie der vormodernen jiddischen Literatur: Sara Zfatman : Yiddish Narrative Prose from Its Beginnings to ‹ Shivhei ha-Besht › (1504 - 1814). An Annotated Bibliography (Research Projects of the Institute of Jewish Studies Monograph Series 6). Jerusalem 1985 [hebr.], S. 12 f. Zfatman gibt der Erzählung in ihrer Bibliographie den Titel מ ע ש ה מ ו ו ר מ ס . Damit folgt sie bis auf die Schreibweise der Stadt dem Erzähltext selbst, dessen letzter Satz lautet: ס ל י ק ז ה ה מ ע ש ה ב ו ן ו ו י ר מ ש . (Hier endet die Geschichte aus Worms). Siehe auch die Einleitung Zfatmans zu ihrer detaillierten und kenntnisreichen Arbeit über die Geschichte aus Worms und andere jiddische Dämonenhochzeitserzählungen in: Zfatman , Marriage, S. 119 - 127. 10 Zu Provenienz und Datierung: «The Italian origin of the manuscript is attested by the fact that Italian words are found not only in Elia Levita ’ s pasquils but also in the first of the three mayses. Written around 1530.» Chava Turniansky und Erika Timm (Hgg.): Yiddish in Italia. Yiddish Manuscripts and Printed Books from the 15th to the 17th Century. Mailand 2003, S. 108. Laut Sara Zfatman stammt die Handschrift aus den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Shoou-Huey Chang zufolge weisen die Wasserzeichen eher darauf hin, dass das Manuskript gegen Ende der ersten Jahrhunderthälfte angefertigt wurde. Vgl. Shoou-Huey Chang : Der Rückgang des synthetischen Präteritums im Jiddischen kontrastiv zum Deutschen (Jidische Schtudies 9). Hamburg 2001, S. 28. ‹ Geschichte aus Worms › 154 greifen auf verschiedene im gesamten europäischen Raum verbreitete Motive und Narrative zurück und kombinieren diese geschickt zu vielschichtigen literarischen Texten. 11 Der Autor der Geschichte aus Mainz beispielsweise arbeitet mit mehreren ineinander verflochtenen Handlungssträngen. Dadurch bildet sich eine komplexere Erzählstruktur heraus als in der jüngeren Version der Geschichte im Maisse Bukh (erstmals gedruckt in Basel im Jahr 1602) oder nochmals zweihundert Jahre später in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (1812/ 1815). 12 Bei der Geschichte aus Worms handelt es sich um die älteste überlieferte Mahrtenehenerzählung in jiddischer Sprache. Wie aber kommt es, dass im 16. Jahrhundert in Italien eine Handschrift angefertigt wird, die jiddische Lyrik und Prosa enthält? Nicht nur die Sprache, auch die Titel (oder besser: die abschließenden Worte) der drei erzählenden Texte weisen ja nach Aschkenas, genauer, in den deutschsprachigen Raum. Ein jiddisches Manuskript in Oberitalien stellt zu Beginn der Frühen Neuzeit keine Besonderheit dar. Diese Region wird aufgrund tiefgreifender sozialer Umwälzungen, durch die die Juden im deutschen Reich seit den Pestpogromen des 14. Jahrhunderts zunehmend zum Auswandern nach Osteuropa oder über die Alpen nach Italien veranlasst wurden, zu einem Zentrum des jiddischen Literaturbetriebs. Einundvierzig datierte und undatierte jiddische Handschriften sind aus dem italienischen Raum überliefert. 13 Unter den erhaltenen oder sekundär zu erschließenden Texten befinden sich zahlreiche Maisses, d. h. kurze Erzählungen, die dem lateinischen exemplum und der italienischen novella nahestehen, aber auch längere epische Texte, Minhag- Bücher, in denen aschkenasische religiöse Bräuche konserviert werden, medizinische Schriften, Gebete, liturgische und säkulare Gedichte, Glossare und Bibelübersetzungen. Manche dieser Texte zeichnen sich vor allem dadurch aus, 11 Die drei erzählenden Texte sind anonym überliefert. Ob sie aus der Hand desselben Autors stammen, kann nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden. Ihre stilistische Ähnlichkeit lässt aber vermuten, dass dies der Fall ist. 12 Vgl. Un beau livre d ’ histoires. Eyn shön Mayse bukh. Fac-similé de l ’ editio princeps de Bâle (1602). Traduction du yiddish, introduction et notes par Astrid Starck . Vol. 2 (SUB 6). Basel 2004, Nr. 223, S. 692 - 707 (D ’ un rabbin qui avait une belle fille bien instruite et de sa femme qui avait un neveu qui étudiait bien, et comment ils voulurent les marier) sowie: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. In drei Bänden. Mit Illustrationen von Otto Ubbelohde und einem Vorwort von Ingeborg Weber-Kellermann . Bd. 2 (it 829). Frankfurt a. M. 1984, S. 216 - 228 (Die beiden Wanderer). 13 Vgl. Chava Turniansky : Special Traits of Yiddish Literature in Italy, in: Yiddish in Italia. Yiddish Manuscripts and Printed Books from the 15th to the 17th Century. Hg. von Chava Turniansky und Erika Timm . Mailand 2003, S. 191 - 196. Textüberlieferung und Textgestalt 155 dass sie spezifisch aschkenasische Traditionen in einem als andersartig empfundenen italienischen Umfeld bewahren. Lucia Raspe zufolge hängt das Verlangen, Überliefertes zu bewahren, häufig mit der Erfahrung von Verlust und Exil zusammen: Hier drängt sich die einigermaßen paradoxe Beobachtung auf, daß der Erfahrung des Exils für die Fixierung gerade lokal definierter Erinnerung zentrale Bedeutung zuzukommen scheint; man schrieb solche Überlieferungen offenbar in genau dem Moment auf, an dem ihre Einbettung vor Ort bereits der Vergangenheit angehörte und vor dem Vergessen bewahrt werden mußte, wie dies mit der Vertreibung der Juden aus den deutschen Städten im Laufe des 15. Jahrhunderts fast überall der Fall war. 14 Bisweilen geht es auch nicht in erster Linie darum, lokale aschkenasische Traditionen zu archivieren, sondern neue Formen und Stoffe zu erproben und zu adaptieren. Dies geschieht beispielsweise in den Minne- und Abenteuerromanen Bovo d ’ Antona oder Paris und Wiene. Hier vermischen sich aschkenasische mit italienischen Traditionen und überlagern sich nichtjüdische Quellen und jüdische Bearbeitungen. Durch die Nennung der Städte Worms, Mainz und Danzig in den drei in der Cambridger Sammelhandschrift enthaltenen Erzählungen wird signalisiert, dass es sich um Geschichten handelt, die aus dem transalpinen Raum stammen und von dort nach Italien mitgebracht wurden. Der Geschichte aus Mainz liegt das Narrativ der rivalisierenden Brüder zugrunde, von denen der eine den anderen im Verlauf einer Reise blendet, um die von beiden begehrte Braut zu erhalten. Der verdienstvollere der beiden Brüder erlangt mit Gottes Hilfe sein Sehvermögen wieder, kommt zu Reichtum und Ehre und heiratet, nach Hause zurückgekehrt, die Tochter eines örtlichen Gemeindevorstehers. 15 Die Geschichte aus Danzig wiederum handelt von einer Frau, die, als Mann verkleidet, in ein fremdes Land zieht, um ihren Ehemann zu befreien, der dort gezwungenermaßen dem König als Ratgeber dient. Die beiden Erzählungen verbindet ein gemeinsames Thema, das sie für Leser in der doppelten Diasporasituation als aschkenasische Juden im christlichen Italien möglicherweise besonders attraktiv macht: das Thema des Ausgeliefertseins in der Fremde, der wunderbaren Errettung und der Rückkehr nach Hause. 16 Geht man von diesem kleinsten gemeinsamen inhaltlichen Nenner aus, dann passt die Geschichte aus Worms auf den ersten Blick nicht zu den beiden anderen 14 Raspe , Hagiographie, S. 329 f. 15 Kurze Zusammenfassungen der Erzählungen geben Chang , Rückgang, sowie Erik , Geshikhte, S. 343 f. 16 Ob sich eine solche Tendenz auch in anderen erzählenden Texten aus dem gleichen Raum und der gleichen Zeit feststellen lässt, wäre noch zu prüfen. ‹ Geschichte aus Worms › 156 Texten. Ihr Protagonist geht nicht von zuhause fort, um sich getrennt von allem, was ihm vertraut ist, allein durchzuschlagen. Von den Gefahren der Fremde und des Exils kann jedoch auf unterschiedliche Weise erzählt werden, das zeigt die Textgemeinschaft in der Cambridger Handschrift. Auf ihre Weise handelt auch die Geschichte aus Worms davon. Das, was als andersartig und bedrohlich empfunden wird, was überwunden werden muss, damit der Protagonist zu einem erwachsenen, vollständig integrierten Teil seiner Herkunftsgemeinschaft werden kann, liegt in dieser Erzählung nicht auf der anderen Seite des Meeres. Es befindet sich in der unmittelbaren Nachbarschaft, in der gleichen Stadt und irgendwann sogar, nachdem der Kontakt einmal hergestellt ist, im gleichen Haus. In der Geschichte aus Worms wird nicht von einer ersehnten Rückkehr aus dem Exil erzählt. Betrachtet man die Geschichte im Zusammenhang mit ihrer Überlieferungssituation, dann kann man behaupten: Am Ende der Handschrift platziert, wirkt sie zugleich wie ein Resümee und wie ein Ausblick. Zwar verweist der erste Satz ausdrücklich darauf, dass sich die wiedergegebenen Geschehnisse vor langer Zeit in der alten aschkenasischen Gemeinde von Worms ereignet haben. Gerade diese Distanzierungsstrategie aber und der konservatorische Gestus ermöglichen es dem Autor, auf dem ideologisch sicheren Gebiet altehrwürdiger Geschichten aus der Heimat auch aktuelle Probleme zu thematisieren. Die Geschichte aus Worms, so die Hypothese, dient zum einen dem Bewahren einer bestimmten literarischen Tradition, die in ihrer überlieferten Form fixiert und so vor dem Vergessen geschützt werden soll. Sie handelt aber auch von den Möglichkeiten und Strategien, im Exil zu leben, indem sie davon erzählt, wie das verlockende Fremde keineswegs übermächtig eine hilflose Minderheit bedroht, sondern stattdessen selbst marginalisiert und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, in anderer und sozusagen ‹ entschärfter › Form aber auch gefahrlos in sie integriert werden kann. Inhalt und Struktur Die Geschichte aus Worms beginnt mit den Worten: Wir sprechen davon, dass es vor vielen Jahren einen wunderbaren Rav gab in einer Stadt, die bis zum heutigen Tag Worms heißt. Das ist eine alte Gemeinde, die seit der Zeit Jesses besteht. 17 Die genannte religiöse Autorität namens Salman steht einer großen und bedeutenden Jeschiva, einer Talmudschule, vor. Der Leser erfährt auch, dass der Rav einen in religiösen Angelegenheiten gut informierten Sohn besitzt. 17 מ י ר ז א ג ן ו ו י א ד א ו ו א ר ג י ו ו ע ז ן ב ו ר י א ר ן א י י ן ק ו ש ט ל י כ ר ר ב א י ן א י י נ ר ש ט א ט ד י א ה י י ש ט נ א ך ה ו י י ט ד ע ן ט א ג ו ו י ר מ ש א ו נ ' א י ש ט א י י ן א ל ט י ק ה י ל ה ז י ד ר ת ו ל ד ו ת י ש י . [S. 367]. Textüberlieferung und Textgestalt 157 Eines Tages spielt dieser Sohn mit Freunden Verstecken. Einen einzigen Jungen, Anschel, muss er noch finden. Da sieht er, wie sich aus einem hohlen Baum eine Hand streckt. Er beschließt, einen Scherz zu machen, steckt einen goldenen Ring an den Zeigefinger dieser Hand und verlobt sich mit der Person im Baum. Als der Protagonist allerdings zu seinen Mitschülern zurückkehrt, teilt ihm Anschel mit, dass er zum fraglichen Zeitpunkt an einem anderen Ort gewesen sei. Niemand weiß, wo der Ring hingekommen ist. Die Eltern des jungen Mannes schenken ihm einen noch schöneren Ring und der Verlust gerät schon bald in Vergessenheit. Jahre später heiratet der junge Mann eine Frau aus guter Familie, schläft aber in der Hochzeitsnacht sofort ein. Da erscheint der wachenden Braut eine schöne und sehr aufgebrachte Dämonin, die behauptet, der Mann gehöre ihr. Die Dämonin tötet die Braut. Danach fällt es den Eltern des jungen Mannes schwer, eine neue Hochzeit zu arrangieren. Nach einiger Zeit gelingt es ihnen zwar; die Ereignisse wiederholen sich allerdings: Wieder wird die Braut in der Hochzeitsnacht getötet. Nun will dem Mann niemand mehr seine Tochter in die Ehe geben. Zuletzt wenden sich seine Eltern an eine junge Frau und ihre Mutter, die beide im Armenhaus leben, aber für ihre Frömmigkeit bekannt sind. Die junge Frau argumentiert gegenüber ihrer Mutter, dass ein armer Mensch schließlich das Gleiche sei wie ein toter Mensch. Sie entschließt sich dazu, den gefährlichen Bräutigam zu heiraten und abzuwarten, ob ihre Frömmigkeit ihr das Leben rettet. Und tatsächlich - in der Hochzeitsnacht gelingt es der jungen Frau, mit der Dämonin ein Abkommen zu schließen. Sie zeigt äußerste Demut und willigt darin ein, dass ihr Mann jeden Tag für eine Stunde aus ihrem Blickfeld verschwinden dürfe, um Zeit mit der Dämonin zu verbringen. Lange Zeit schweigen alle Beteiligten über die Ereignisse. Eines Tages aber wird die Frau neugierig und möchte wissen, wohin ihr Mann täglich geht. Sie findet unter seinem Bett ein Loch und steigt hinab. Auf dem Boden des Loches befindet sich eine fremde Landschaft mit einem Haus, in dem der Ehemann und die Dämonin schlafend miteinander im Bett liegen. Als die Menschenfrau sieht, dass die Haare der Dämonin bis auf die Erde herabhängen, legt sie sie auf einen Stuhl und geht nach Hause. Die Berührung aber ist für die Dämonin tödlich. Sie kündigt an, dass sie nun sterben müsse, gibt dem Mann den Ring zurück, den er ihr zur Verlobung angesteckt hatte, und gibt den Menschen frei. Wieder zuhause angekommen, wartet der Mann drei Tage ab und erzählt dann allen, was geschehen ist, woraufhin man ein großes Fest feiert. Der Erzähler stellt fest, dass jeder Mensch so handeln solle wie das arme Mädchen, und schließt mit den Worten: Hier endet die Geschichte aus Worms ( ס ל י ק ז ה ה מ ע ש ה ב ו ן ו ו י ר מ ש ). 18 18 [S. 372]. ‹ Geschichte aus Worms › 158 Sara Zfatman erstellt in ihrer umfangreichen Studie zum Narrativ der Dämonenhochzeit ein zweiteiliges Modell der Erzählung: Demnach handelt der erste Teil davon, dass ein junger Mann sich unwissentlich mit einer Dämonin verlobt und dadurch an der Hochzeit mit menschlichen Frauen gehindert wird, bis es einer Braut gelingt, die Ehe zu vollziehen. Laut Zfatman beginnt an dieser Stelle gewissermaßen eine neue Geschichte. In dieser geht es darum, dass eine Frau, neugierig gemacht durch das tägliche Verschwinden ihres Ehemannes, von seiner Beziehung zu einer Dämonin erfährt und ihn daraus befreit. 19 Aber auch der erste Handlungsteil besteht aus zwei Erzählungen, die - mit geringen Modifikationen - ebenso für sich allein stehen könnten: aus der Geschichte eines Mannes, der aufgrund der Verlobung mit einer Dämonin keine Menschenfrau heiraten kann; und aus der Geschichte einer Menschenfrau, die einen vermeintlich mordlustigen Ehemann heiratet und die Hochzeitsnacht überlebt. In der Geschichte aus Worms werden demnach verschiedene Möglichkeiten durchgespielt, disparate Handlungselemente miteinander zu einer größeren Erzählung zu verbinden - sie werden entweder hintereinander angeordnet oder miteinander verflochten. Die Geschichte aus Worms folgt somit im Handlungsaufbau einer komplexeren Struktur als die hochmittelalterlichen Dämonenhochzeitserzählungen oder auch die spätmittelalterliche kretische Version der Geschichte von der Dämonin und der Quelle. Zfatman konzentriert sich in ihrer Analyse der Geschichte aus Worms vor allem auf motivgeschichtliche Zusammenhänge und die Quellen der von ihr isolierten Handlungsteile. Das Element der unabsichtlichen Hochzeit des Protagonisten mit einem nichtmenschlichen Wesen beispielsweise findet sich in mittelalterlichen christlichen Erzählungen antiken Ursprungs, die von der Verlobung eines Mannes mit einer Venusstatue handeln. Solche Geschichten werden im Mittelalter von William von Malmesbury, von Vincent von Beauvais oder in der Kaiserchronik erzählt. 20 Der zweite große Handlungsabschnitt, in dem es um die Erlösung eines von einer Fee bezauberten Mannes durch seine rechtmäßige Ehefrau geht, greift laut Zfatman Motive aus mittelalterlichen christlichen Volkserzählungen auf. 21 19 Vgl. Zfatman , Marriage, S. 27. 20 Zur Verwendung dieses literarischen Motivs vor allem in mittelalterlichen Texten vgl. Paull Franklin Baum : The Young Man Betrothed to a Statue, in: Modern Language Association of America 34,4 (1919), S. 523 - 579. 21 Vgl. Zfatman , Marriage, S. 51 - 54. Ungenügend belegt wird Zfatmans Behauptung allerdings durch problematische Vergleiche mit Erzählungen, die erst in späterer Zeit verschriftlicht wurden, z. B. ein Auszug aus den Memoiren des Maréchal de Bassompierre (1579 - 1646). Johann Wolfgang Goethe greift diese Erzählung in seinen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten auf. Vgl. Johann Textüberlieferung und Textgestalt 159 Das Motiv des ‹ mörderischen Ehepartners › schließlich könnte aus dem jüdischen Midrasch Tanchuma oder aus dem apokryphen Buch Tobit stammen. 22 In beiden Texten wird allerdings von Frauen erzählt, deren Ehemänner sterben. Im Buch Tobit reagiert Tobias auf die Pläne des Engels, eine Verheiratung mit Raguels berüchtigter Tochter herbeizuführen, skeptisch: Ich habe gehört, dass sie bereits sieben Männern angetraut war; die sind alle tot, und man sagt, ein böser Geist habe sie getötet. Darum fürchte ich, dass mir ’ s auch so gehen könnte. (Tob 6,15 f.) In der Geschichte aus Worms heißt es entsprechend über den glücklosen Bräutigam: Es gab allerdings viele Leute, die sagten, dass der Bräutigam sie getötet habe. Drei Jahre lang verhielt es sich so, dass der Sohn des Ravs trotz seines Reichtums und trotz seiner großen Gelehrsamkeit keine Frau bekommen konnte, denn keiner wollte seine Tochter aufs Spiel setzen. 23 Mit der viel gepriesenen Gelehrsamkeit des Wormser Protagonisten kann es so weit nicht her sein, da er nicht auf den Gedanken kommt, dass er sich in einer ganz ähnlichen Situation befinden könnte wie die Braut des Tobias. Die Vorstellung, dass mit einer mehrfach verwitweten Frau etwas nicht stimmen kann, ist auch in der antiken rabbinischen Literatur verbreitet. Solch eine Frau wird als ‹ Mordende › oder ‹ mörderische Ehefrau › (katlanit/ ק ט ל נ י ת ) bezeichnet. Die antiken und mittelalterlichen jüdischen Gelehrten sprechen sich zwar im Gegensatz zu den christlichen Autoritäten stets dafür aus, dass sich Witwer und Witwen wiederverheiraten. Viele von ihnen machen aber eine Ausnahme: Wenn einer Frau schon zwei Ehemänner gestorben sind, dann sind ihr weitere Eheschließungen nicht erlaubt. 24 Umgekehrt existiert ein Konzept Wolfgang Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 4.1. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter , in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert , Norbert Miller und Gerhard Sauder . München 1988, S. 436 - 518, hier S. 475. Der Anschluss an die Rahmenhandlung wird bei Goethe durch die Bemerkung einer Zuhörerin hergestellt, die die Geschichte vom Ahnherren des Marschalls, seiner Geliebten und seiner Ehefrau mit dem Stoff der Melusine in Verbindung bringt. 22 Zur Rezeption des Tobitbuchs im jüdischen Kontext ausführlicher in Kap. 4.3. 23 נ ו ן ו ו א ר ד ן ל ו י י ט ד י א ז א ג י ט ן ד ע ר ח ת ן ה ע ט ז י א ג י ט ו י ט א ו נ ' א ז ו ש ט ו נ ד ע ש א ן ו ו א ל ד ר י י א י א ר ד ש ד א ז ר ב ז ו ן ק ו נ ט ק י י ן ו ו י י ב א ק ר י ג א ן ב י י א ז י י נ ם ג ר ו ש ן ע ו ש ר א ו נ ' ב י י א ז י י נ ם ו ו א ל ל ע ר נ ן ו ו ע ן ק י י נ ר ו ו א ל ט ז י י ן ט א כ ט ר ו ו א ג ן . [S. 369]. 24 Zur Situation im hochmittelalterlichen Aschkenas vgl. Avraham Grossman : Pious and Rebellious. Jewish Women in Medieval Europe. Übers. aus dem Hebräischen von Jonathan Chipman (Brandeis Series on Jewish Women). Waltham, Mass. 2004 (hebräische Erstausgabe 2001), S. 268 ff. ‹ Geschichte aus Worms › 160 des ‹ mörderischen Ehemannes › nicht. Daher ist es umso auffälliger, dass es in der Geschichte aus Worms ein Mann ist, der sich des zweifelhaften Ruhms erfreut, als solcher zu gelten. Insgesamt ist festzustellen: Sowohl die Einteilung der Erzählung als auch die motivgeschichtlichen Untersuchungen, die Sara Zfatman in ihrer Arbeit vornimmt, sind dem Verständnis des Textes äußerst zuträglich. Einen Mangel weist die Methode allerdings auf: Sie setzt der Interpretation dort einen Punkt, wo die Nachverfolgung der Quellen und der Vergleich mit den Referenztexten als abgeschlossen gelten kann. Die Annahme aber, dass die Erzählung aus unterschiedlichen Elementen unterschiedlicher Provenienz von ihrem Verfasser mehr oder weniger geschickt zusammengesetzt wurde und dass Brüche oder Unklarheiten im Erzählfluss auf das Unvermögen des Autors zurückzuführen seien, wird dem Text nicht gerecht. Auf isolierbaren Handlungssträngen allzu sehr zu beharren, verstellt den Blick für die Gesamtkonstruktion. Statt ausschließlich nach der Herkunft der Textbausteine zu fragen, sollte auch ihre konkrete Aufgabe im Text sowie die spezifische Wirkweise ihrer Verknüpfung untersucht werden. Eine Alternative zu Zfatmans Strukturierungsvorschlag besteht darin, die Erzählung anhand der Handlungsbausteine des Narrativs der gestörten Mahrtenehe zu gliedern. Schließlich schreitet die Handlung vom Eingehen der dämonischen Allianz fort zu deren Krise und der Auflösung der triangulären Figurenkonstellation von Mann, Frau und Dämonin. Um dem komplexen Zusammenspiel dieser drei Figuren auf die Spur zu kommen, eignet sich eine dreiteilige Gliederung der Erzählung, die auf einem textinternen Hinweis des Protagonisten beruht und die in diesem Fall das Narrativ strukturiert. Im Verlauf des Freudenfestes nach der Erlösung von der Dämonin, das einer abermaligen Hochzeitsfeierlichkeit gleicht, fasst der Held die Geschehnisse für seine Zuhörer zusammen: ‹ Lieber Vater, hier ist der Ring, den ich in einem Baum verloren hatte. Da habe ich mich mit einer Dämonin verlobt, denn ich dachte, es handele sich um den Jungen, den ich suchte. Die Dämonin hat mir meine ersten Bräute umgebracht. Meine liebe Frau hat mich von ihr erlöst. › 25 Der Protagonist spricht also selbst von drei Stufen der Handlung: Verlobung, Ermordung der ersten Bräute und Erlösung. Das Symbol der Verpflichtung des Protagonisten, welches als Klammer für die gesamte Erzählung dient, ist der goldene Ring. Ihn hatte der junge Mann zu Beginn verloren. Am Ende erhält er ihn zurück. 25 ל י ב ר ו א ט ר ד א א י ז ד ש ו י נ ג ר ל ן ד ש א י ך ה א ב ו ר ל ו ר ן ג י ה א ט א י ן א י י נ ם ב ו י י מ א . ד א ה א ב א י ך א י י ן ש י ד ה מ ק ד ש ג י ו ו ע ז ן , ו ו ע ן א י ך ה א ב ג י מ י י נ ט ע ש ו ו ע ר ד ע ר ב ח ו ר ד ע ן א י ך ז ו י כ ט . א ו נ ' ד י א ש י ד ה ה ו ט מ י ר מ י י ן א י ר ש ט י כ ל ו ת א ו ם ג י ב ר ו כ ט . א ו נ ' ד א ז ל י ב ו ו י י ב א ה ו ט מ י ך ד ר ל ו י ז ט ב ו ן א י ר . [S. 372]. Textüberlieferung und Textgestalt 161 Diese Mahrtenehe ist von Anfang an gestört. Ihre Krise reicht, unterbrochen von einer spannungsvoll retardierenden Phase, vom Eingehen der Beziehung bis zum Ende. Im ersten Teil der Erzählung wird der fundamentale Konflikt ausgelöst, im dritten Teil wird er beseitigt. Im Mittelteil offenbart sich, worin der Konflikt überhaupt besteht. 4.2 Begehrende Figuren Seine Spannung bezieht der Text daraus, dass in ihm eine im Vergleich zu den jüngeren Dämonenhochzeitserzählungen relativ große Anzahl von Figuren auftritt, die jeweils ihre eigenen Ziele verfolgen und einander bei deren Verwirklichung gegenseitig behindern und einschränken. Wie in der Geschichte eines Amulettschreibers und der Geschichte eines armen Mannes muss der Held mit den widerstreitenden Ansprüchen zweier Frauen fertigwerden, und wie in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle und in der Geschichte eines Königssohns sieht er sich den Forderungen seiner Vorfahren ausgesetzt. Auch in der Geschichte aus Worms wird auf mehr als eine Quelle, auf mehr als ein Symptom gesellschaftlichen Fehlverhaltens hingewiesen. Und auch in dieser Erzählung stellt die erotische Transgression im Zusammenhang mit einer überzähligen Frau nicht die einzige und bei weitem nicht die aufsehenerregenste Grenzüberschreitung des Protagonisten dar. Worin die verbotenen Verlockungen bestehen, die sich im Text verbergen wie die Dämonin im Garten, kann ermittelt werden, indem das Begehren der verschiedenen Figuren unter die Lupe genommen wird. Da sich der Held, wenn auch auf denkbar weniger spektakuläre Weise als der Prinz in der Geschichte eines Königssohns, zu Beginn vor allem den Wünschen seiner Eltern widersetzt, liegt es daher nahe, zuerst sein Verhältnis zu ihnen und dem durch sie verkörperten Normgefüge zu untersuchen. Der Held und seine Eltern Im mittleren Abschnitt der Erzählung steht der erwachsen werdende Held unter großem Druck. Das jüdische Gesetz verlangt von ihm, dass er heiratet und Kinder zeugt. Diese Verpflichtung wird in der Geschichte aus Worms nicht einfach als selbstverständlich vorausgesetzt. Es sind die Eltern des Helden, die darauf drängen, dass er ihr nachkommt. Nachdem er an dem Versuch zweimal gescheitert ist, fürchten sie, dass er niemals in der Lage sein wird, das zu tun, was man von ihm erwartet. Da jeder Mann dazu angehalten ist, Kinder zu bekommen und dafür zu sorgen, dass auch diese sich fortpflanzen, fällt die ‹ Geschichte aus Worms › 162 Kinderlosigkeit des Protagonisten auch auf seine Eltern zurück. Daher klagt der Vater: ‹ Wir haben einen einzigen Sohn und großen Reichtum. Wenn ihm sein Lebtag lang keine Frau erhalten bleibt, dann wird unser Gedächtnis aus der Welt getilgt werden, und unser Reichtum wird in fremde Hände verstreut werden. › 26 Genau wie in der Geschichte eines Königssohns wird hier das sozial-religiöse Argument formuliert, dass das Abbrechen der Abstammungslinie auch rückwirkend verheerende Folgen hat. Stirbt ein Nachkomme, ohne zuvor selbst Kinder gezeugt zu haben, dann stirbt mit ihm auch das Andenken der Eltern. 27 Während in der Geschichte eines Königssohns der königliche Vater um die Stabilität der herrscherlichen Nachfolge fürchtet, wird in der Geschichte aus Worms die spirituelle Dimension der Memoria mit einem sozial-ökonomischen Argument verknüpft: Es sei schade um das viele Geld, wenn es in die Hände von Menschen gerate, die keine direkten Nachkommen sind. Dies ist, wie Jeremy Dauber in einer scharfsichtigen Studie über die Geschichte aus Worms festgestellt hat, die größte Sorge der Eltern des jungen Mannes: «Their main motivating source is the comfortable and undisturbed transition of wealth from one generation to the next.« 28 Dazu passt, dass bei Charakterisierungen des Ravs oder seines Sohnes immer zuerst von ihrem großen Reichtum die Rede ist, erst danach wird auch ihre große Gelehrsamkeit erwähnt. 29 Dauber erkennt zwar die Bedeutung des Themas der sexuellen Grenzüberschreitung für die Erzählung an, konzentriert sich aber bei seiner Interpretation auf ein anderes Problem: «It seems that the story is far less a horror story about sex than it is about class.« 30 Der Autor liest den Text vor allem als eine komplexe Auseinandersetzung mit den Konflikten zwischen verschiedenen Schichten der jüdischen Gesellschaft. Diese werden von der armen dritten Ehefrau und ihrer Mutter auf der einen Seite und von dem reichen Bräutigam und seiner 26 מ י ר ה א ב ן א י י ן ב ן י ח י ד , א ו נ ' ג ר ו ש ן ע ו ש ר . א ו נ ' ז א ל א י ם ז י י ן ט א ג ק י י ן ו ו י י ב א ב ל י י ב ן , ד א ו ו ע ר ט א ו נ ז ר ג י ד ע כ ט נ י ש ו ו ע ר ד ן א ב א ג י מ ע ק ט ב ו ן ד ע ר ו ו ע ל ט . א ו נ ' א ו נ ז ר ע ו ש ר ו ו ע ר ט ו ר ש פ ר י י ט ו ו ע ר ד ן א י ן ו ר ע מ ד י ה ע נ ד א . [S. 369 f.]. 27 Jeremy Dauber spricht treffend von «a bankruptcy of the flesh«. Dem ist die spirituelle Dimension des Nachlebens der Eltern in ihren Nachkommen hinzuzufügen. Dauber , Bedroom, S. 153. 28 Dauber , Bedroom, S. 153. Vgl. Auch Dauber , Thinking, S. 31. Als Sinnbild für die Gefährdung einer solchen ununterbrochenen intergenerationellen Übertragung von Besitz kann der Ring angesehen werden, den der Held von seinen Eltern erhalten hat und den er bei seiner scherzhaften, fehlgeleiteten Verlobung verliert. 29 Vgl. beispielsweise die Einführung des Ravs oder den Hinweis darauf, dass seinem Sohn trotz Reichtum und Gelehrsamkeit keine Frauen mehr angeboten werden. 30 Dauber , Bedroom, S. 151 f. Begehrende Figuren 163 Familie auf der anderen Seite repräsentiert, während die Figur der Dämonin für «the spirit [. . .] of ownership itself« steht: The poor woman, who can assuage the demon by refusing to contest her claim of ownership, can survive - through her submission to the regnant socioeconomic hierarchy, to an essentialist definition that rich and poor exist, and she knows her proper place among them. The horror played out in this text, then, is the specter of the poor remaining poor forever. 31 Nur weil die dritte Braut anerkennt, dass sie keinen Anspruch auf Besitz hat, erlangt sie diesen am Ende. Wenn sie zu ihrer Mutter sagt, dass sie auf das Angebot der Rabbinersfrau eingehen werde, da ein armer Mensch das Gleiche sei wie ein toter Mensch, dann unterwirft sie sich den sozioökonomischen Normen der reichen Oberschicht. 32 Auch der Dämonin gegenüber verhält sie sich stets demütig. Bezeichnenderweise ist es schließlich gerade das dienstfertige Hochlegen der Haare der Dämonin, das die Frau den Sieg über die Rivalin davontragen lässt. Interpretiert man die Erzählung als eine Geschichte über die ungleiche Machtverteilung zwischen sozialen Schichten, wobei Menschen wie die reichen Eltern des Helden die Normen festlegen, die in der Gesellschaft über Handlungsmöglichkeit und Ohnmacht entscheiden, dann werden zwei Aspekte sichtbar: Zum einen wird das verantwortungslose Handeln der Reichen problematisiert. Diese gehen mit ihrem Besitz leichtfertig um, weil er in ihren Augen eine solche Selbstverständlichkeit darstellt, dass sie seinen Wert nicht zu schätzen wissen. Ebenso wie der verlorene Ring einfach durch einen noch schöneren ersetzt wird, soll auch jede verstorbene Ehefrau durch eine neue Kandidatin ersetzt werden, damit die ordnungsgemäße Weitergabe des Reichtums innerhalb einer spezifischen Gruppe gesichert ist. In den Augen der Reichen wie auch der Armen ist Besitz das einzige Gut, das zählt. Armut ist dem Tod gleichzusetzen. Daher kann die reiche Rebbitzin der Frau im Armenhaus eine ‹ Win-win-Situation › in Aussicht stellen. Die junge Frau willigt nicht nur in den Handel ein, sondern schließt sich durch ihr Einverständnis auch dem Kalkül der reichen Rebbitzin an: Die zukünftige Braut pflichtet ihr darin bei, dass sie mit ihrem Leben als arme Frau nicht viel zu verlieren habe und handelt sogar noch ein weiteres Menschenleben heraus - der Rav muss sich zum lebenslangen Unterhalt der armen Mutter vertraglich verpflichten. 31 Dauber , Thinking, S. 34 f. 32 Vgl. Daubers Lektüre der Erzählung vor dem Hintergrund eines Midraschs über Jakob und Esau. Der Zusammenhang zu dem Midrasch wird über die Aussage des Mädchens hergestellt, dass Armut und Tod gleichbedeutend seien. Dauber , Bedroom, S. 155 ff. Vgl. auch Dauber , Thinking, S. 36. ‹ Geschichte aus Worms › 164 Das Handeln der Reichen erscheint also zumindest in einem zweifelhaften Licht. Andererseits, und dies ist ein zweiter wichtiger Aspekt, wird Wohlhabenheit nicht grundsätzlich verdammt. Die Belohnung der dritten Braut für ihr Verhalten besteht ja gerade darin, dass sie es zu Reichtum und Ansehen bringt: So war also das arme Mädchen wegen seiner großen Frömmigkeit und Keuschheit zu Reichtum und Ehre gekommen. Es wird gar eine allgemein verbindliche Moral daraus abgeleitet: Darum soll jeder Mensch genau so handeln. 33 Die Institutionen, die auf dem Rücken der Armen Reichtum akkumulieren und weitergeben, werden einer kritischen Betrachtung unterzogen. Gleichzeitig kann Besitz als Belohnung für tugendhaftes Verhalten angesehen werden. Die soziale Ordnung, die die Eltern des Helden repräsentieren, wird also in der und durch die Erzählung gleichzeitig kritisiert und bestätigt. Dauber kommt zu dem Schluss: It is the fact that only those aberrant visions of social structures are problematized that means that this tale ’ s sympathies and cris de coeur are hardly a call to revolutionary arms: indeed, this tale can be read as a nuanced means of reification of social norms while simultaneously insisting on the possibility of progress. 34 Dieses Fazit leuchtet ein. Dauber besteht allerdings fast kompromisslos darauf, dass die Figuren den Status Quo widerstandslos akzeptieren. Lediglich in einer Fußnote gesteht er der Heldin und den anderen weiblichen Figuren «still something powerful and playful« 35 zu. Eine offene Revolution in ökonomischer oder in sexueller Hinsicht findet im Text tatsächlich nicht statt. Folgenlos bleibt das Spiel mit den sozialen Normen allerdings auch nicht. Wie Dauber haben die meisten Autoren, die sich bislang mit der Geschichte aus Worms beschäftigt haben, auf bestimmte Aspekte prekärer Sexualität und erotischer Transgression lediglich hingewiesen, ohne auf Details weiter einzugehen. Die Eltern des Helden aber machen ihren Einfluss nicht nur auf die arme und daher ökonomisch wie sozial unterlegene dritte Braut geltend, sondern auch auf ihren eigenen Sohn, der ihnen eine Art von ewiger Präsenz im Diesseits sichern soll. Erreicht werden kann dies nur durch eine legitime und von den Eltern anerkannte Ehe. Genau mit dieser Institution aber hat der Held ein gravierendes Problem: Erst kann er keine Ehe eingehen, wie seine Eltern es von ihm wünschen. Später werden die Verbindung mit einer halbwegs passenden Frau und indirekt auch die Existenz 33 א ו נ ' א ז ו ו ו א ר ד י א א ר י מ א מ י י ד א א י ן ע ו ש ר א ו נ ' א י ן כ ב ו ד ג י ק ו מ ן ב ו ן ו ו ע ג ן א י ר י ג ר ו ש י ו ר ו מ ק י י ט א ו נ ' צ נ י ע ו ת ו ו ג ן . ד א ר ו ם ז ו ל ע ש א י י ן א י ט ל י ך מ ע נ ש א ו ך א ז ו ט ו ן . [S. 372]. 34 Dauber , Thinking, S. 44. 35 Dauber , Thinking, S. 43. Begehrende Figuren 165 seiner gesamten Familie permanent durch sein Doppelleben mit einer zweiten, entschieden bedrohlichen Frau in Frage gestellt. In der Geschichte aus Worms wird von einem jungen Mann erzählt, dessen gesellschaftliche Position in dem Moment gefährdet ist, in dem er es mit mehr als einer Frau gleichzeitig zu tun bekommt. Die scherzhaft gemeinte Verlobung im Wormser Stadtpark bleibt lange Zeit ohne sichtbare Folgen. Erst als der Mann heiratet, offenbart sich, dass er zu viele widerstreitende Verpflichtungen eingegangen ist und dass es dadurch zu Rivalitätsverhältnissen mit dramatischen Folgen kommt. In der Figur der Dämonin verdichten sich verschiedene Möglichkeiten des Regelbruchs im Bereich der Ehe, die von den mittelalterlichen rabbinischen Autoritäten häufig diskutiert werden: Ehebruch, Polygamie, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Eheschließung ohne Zustimmung der Eltern und Beziehungen zu Nichtjuden. Ein in den Korrespondenzen und Gesetzestexten der aschkenasischen Gelehrten häufig diskutiertes Vergehen gegen die Gesetze der Ehe ist der Ehebruch. In den Schriften der Chaside Aschkenas spielt dieses Thema eine große Rolle. «The record of responsa from the time of the Ashkenazic pietists leaves no doubt that adultery, real or alleged, was a repeated issue for the German Jews.« 36 Die Überlegung, ob man von Ehebruch auch dann sprechen kann, wenn ein Mann dazu gezwungen wird, erübrigt sich zumindest vordergründig bei der im Umfeld der Chaside Aschkenas entstandenen Geschichte eines Amulettschreibers wie auch bezüglich der jüngeren Erzählungen. Nach dem jüdischen Gesetz kann nämlich von Ehebruch nur dann die Rede sein, wenn eine verheiratete Frau mit einem anderen Mann schläft. Hat hingegen ein verheirateter Mann Sex mit einer unverheirateten Frau, dann macht er sich, zumindest, was den Wortlaut des Gesetzes angeht, des Ehebruchs nicht schuldig. 37 Dennoch kann man fragen: Wem ist der Held überwiegend und zuallererst verpflichtet - der Dämonin oder der menschlichen Frau? Mit anderen Worten: Hat die Dämonin einen berechtigten Anspruch auf diesen Mann, nachdem er sich mit ihr verlobt hat? Grundsätzlich stellt nach jüdischem Gesetz eine Verlobung tatsächlich ein bindendes Heiratsversprechen dar, das formell annulliert werden muss, wenn das Verlöbnis gelöst werden soll. 38 Tatsächlich verheiratet sind der Mann und die Dämonin allerdings nicht. Und auf die Frage, ob der Verkehr mit einer Dämonin als Akt der Unzucht angesehen werden müsse, gibt schon der antike Midrasch Tanchuma (5. Jahrhundert) eine eindeutige Antwort: 36 Biale , Eros, S. 73. 37 Vgl. Jeffrey Howard Tigay , Haim Hermann Cohen und Moshe Drori : Art. Adultery, in: EJ 1, S. 424 - 427. 38 Grossman , Pious, S. 51 ff. ‹ Geschichte aus Worms › 166 There is a story about a certain saint whom a female demon (sheda) came across in the likeness of a woman. When she had enticed him, she had intercourse with him; and it was the Day of Atonement. Now afterwards that saint was exceedingly remorseful until Elija, of blessed memory, met him. He said to him: On what account are you depressed? He told him the whole story as it had happened to him. He said to him: You are acquitted. She was a demon. Now, if he had been guilty, Elija, of blessed memory, [would not have] appeared to him, spoken with him, and acquitted him. [Rather] you may infer from this <appearance> that there was no fornication, and that he was acquitted. 39 Auch R. Itzchak Or Sarua (13. Jahrhundert) und der Maharam von Lublin (16. Jahrhundert) wollen vom sündhaften Charakter einer solchen Handlung nichts wissen: «The answer is that from the Halachic point of view such behaviour is not considered sinful: A man who is seduced by a she-demon is not guilty.« 40 Wie weit verbreitet diese Ansicht unter den weniger gelehrten aschkenasischen Juden war und ob durch das halakhische Diktum tatsächlich jeder mutmaßliche verheiratete Partner einer Dämonin vom Verdacht eines willentlichen und verurteilenswerten Seitensprungs tatsächlich reingewaschen wurde, kann kaum festgestellt werden. In der Geschichte aus Worms jedenfalls wird das Verhalten des Helden weder gerügt noch entschuldigt. Seine vollkommene Untätigkeit unterbricht er nach dem Versteckspiel und dem Verlust des Rings nur ganz am Ende ein einziges Mal, als er das Freudenfest ausrichtet und den Anwesenden seine Erlebnisse gesteht. Kann ein solch passiver Sünder überhaupt als Sünder bezeichnet werden? Ebenso wenig lässt sich eindeutig bestimmen, ob man bei der Wormser Dreieckskonstellation, ähnlich wie im Fall des Amulettschreibers und des armen Mannes, von polygamen oder polygynen Verhältnissen sprechen kann. Das aschkenasische Judentum nimmt zur Polygynie schon früh eine entschieden ablehnende Haltung ein. In den Erzählungen der hebräischen Bibel ist die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen keine Seltenheit, und auch in der antiken rabbinischen Literatur wird Monogamie zwar empfohlen, die Mehrehe aber keineswegs verboten. In Ländern unter muslimischer Herrschaft wird sie im Mittelalter auch von Juden mitunter praktiziert, wenngleich die Verheiratung mit mehreren Frauen eher eine Ausnahmeerscheinung darstellt. Im deutsch- und jiddischsprachigen Raum setzt sich ab dem 12. Jahrhundert das Verbot der Polygynie unter Androhung des Banns durch. 41 Dennoch ist es 39 Midrasch Tanchuma, S. 20. 40 Alexander-Frizer , Theme and Genre, S. 61. 41 Schon bald wurde das Edikt, zusammen mit verschiedenen anderen Vorschriften beispielsweise zu den Themen Scheidung und Briefgeheimnis, dem berühmten Mainzer Gelehrten Rabbenu Gerschom, genannt Leuchte des Exils ( מ א ו ר ה ג ו ל ה ) zugeschrieben, der um das Jahr 1000 lebte. Vgl. Grossman , Pious, S. 70 ff. Vgl. Auch Begehrende Figuren 167 natürlich möglich und sogar wahrscheinlich, dass die Vorstellung einer Beziehung zu mehreren Frauen ihre Faszination dadurch nicht verlor und ihren Niederschlag unter anderem in literarischen Texten fand. Tamar Alexander-Frizer nennt die Erzählungen über Beziehungen zu Dämoninnen männliche Phantasien «of living with two women and having, in addition to his [a man ’ s] wife, a beautiful, sexually active and indulgent woman who will stop at nothing, including killing her human rival, in order to have him«. 42 Während Eltern auf sexuell deviantes Verhalten ihrer Kinder oft erst dann reagieren können, wenn es offenbar geworden ist und somit bereits stattgefunden hat, bleibt ihnen im Idealfall wenigstens die Möglichkeit, eine Verheiratung nach ihrem Geschmack herbeizuführen, und genau dies ist es, was die Eltern des Helden in der Geschichte aus Worms zu tun versuchen. Um Kontrolle über die Wahl der Ehepartner und das Sexualleben der Jugendlichen ausüben zu können, streben jüdische Eltern im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Aschkenas danach, ihre Kinder jung zu verheiraten. Man hält sich an die Hinweise der antiken rabbinischen Autoritäten, dass eine frühe Heirat die beste Maßnahme zur Vermeidung von Sünde sei. Die Gelegenheit zu unerlaubtem, nicht institutionalisiertem Geschlechtsverkehr soll sich gar nicht erst ergeben. Der aus der Sicht des christlichen Klerus unbedingt erforderliche Konsens beider Ehepartner ist in der jüdischen Gesellschaft zwar erwünscht. Ob man Kinder auch gegen ihren Willen verheiraten könne, darüber vertreten die Gelehrten allerdings unterschiedliche Ansichten. 43 Die zahlreichen überlieferten Diskussionen über die Frage nach der Vorrangigkeit des Willens der Eltern oder des der Kinder legen den Schluss nahe, dass es sich bei der Wahl des Ehepartners und der Modalitäten der Verheiratung durch die Eltern um ein Avraham Grossman : The Historical Background to the Ordinances on Family Affairs Attributed to Rabbenu Gershom Me ’ or ha-Golah ( ‹ The Light of the Exile › ), in: Jewish History. Essays in Honour of Chimen Abramsky . Hg. von Ada Rapoport-Albert und Steven J. Zipperstein . London 1988, S. 3 - 23, sowie Avraham Grossman : The Status of Jewish Women in Germany (10th-12th Centuries), in: Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland. Hg. von Julius Carlebach . Berlin 1993, S. 17 - 35. 42 Alexander-Frizer , Theme and Genre, S. 60. 43 In den mittelalterlichen Schriften der religiösen Bewegung der Chaside Aschkenas beispielsweise wird häufig die Meinung geäußert, dass man auf die Wünsche der Kinder Rücksicht nehmen müsse, damit die Wahrscheinlichkeit sexueller Promiskuität oder einer späteren Scheidung möglichst gering sei. Vgl. Susanne Borchers : Jüdisches Frauenleben im Mittelalter. Die Texte des Sefer Chasidim (Judentum und Umwelt 68). Frankfurt a. M., Berlin, Bern 1998, S. 33 und 41. ‹ Geschichte aus Worms › 168 Kontrollinstrument handelt, welches durchaus auch angezweifelt und angegriffen wird. Das Anliegen der jüdischen Eltern besteht letztlich ebenso wie das der christlichen darin, ihre Kinder möglichst günstig zu verheiraten. Zu Verheiratungspraktiken in der mittelalterlichen jüdischen Gesellschaft, durch die eine bestimmte Elite erhalten und gefördert wird, stellt David Biale folglich fest: Medieval Jewish society was rigidly stratified along class lines. The specific criteria that governed marriages were lineage, wealth, and learning, three factors that guaranteed an alliance between the wealthy and the scholarly class within the Jewish community and that created a singular Jewish aristocracy. Although this marital system tended to preserve the Jewish elite class, the possibility of upward mobility existed for a poor but intellectually gifted boy, through marriage with a wealthy girl. 44 Ähnliche elitäre Konzepte von Statusübertragung und Statuserhalt scheinen auch für die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft zu gelten. Das Bestreben, Heiratspartner innerhalb der ‹ jüdischen Aristokratie › zu finden, zeichnet auch die Vermittlungsbestrebungen in der Geschichte aus Worms aus. Über Rav Salman, den Vater des Protagonisten, heißt es: Er war ein sehr reicher Mann. Er stand einer großen Jeschiva vor, in der sich stets hundert hervorragende Studenten befanden und dort Tag und Nacht lernten. Der Rav hatte einen einzigen Sohn, der ein ausgezeichneter Student war. 45 Der jugendliche Held stammt also aus einer sowohl reichen als auch berühmten Familie. Wie sein Vater ist auch er selbst als bedeutender Toragelehrter ausgezeichnet. Kein Wunder, dass seine Eltern bald ein gutes Angebot aus Speyer erhalten: Es gab einen Parnas, der in Speyer wohnte. Dieser fragte bei dem Wormser Rav an, ob er seinen Sohn seiner Tochter geben wolle. Er habe gehört, dass sein Sohn gar fleißig studiere, deshalb begehre er ihn und wolle ihm eine große Summe als Mitgift geben. 46 Die Hochzeit wird in die Wege geleitet und durchgeführt, doch als man am Morgen nach der Hochzeitsnacht die Braut tot im Ehebett vorfindet, ohne eine Erklärung dafür zu erhalten, wird es für den Helden und seine Eltern schwierig, eine weitere Kandidatin zu finden. Als sich schließlich doch noch ein Vater 44 Biale , Eros, S. 63. 45 א ו נ ' ו ו א ר ג א ר א י י ן ג ר ו ש י ר ע ש י ר , א ו נ ' ה י ל ט ג ר ו ש י י ש י ב ה , ש ט ע ץ א ו י ף ז י י נ ר י ש י ב ה ה ו נ ד ר ט ח ש ו ב י ם ב ח ו ר י ם . א ו נ ' ז י א ל ע ר נ ט ן ט א ג א ו נ ' נ א כ ט . א ו נ ' ד ע ר ז ע ל ב י ג ר ב ה א ט א י י ן ב ן י ח י ד א י י ן ב ח ו ר ח ש ו ב . [S. 367]. 46 ד א ו ו א ר א י י ן פ ר נ ס ד ע ר ד א ו ו א ו נ ט צ ו ש פ י י א ר , ד ע ר ש י ק ט צ ו ד ע ם ר ב ב ו ן ו ו י ר מ ש א ו ב ע ר ו ו א ל ט ג ע ב ן ז י י ן ז ו ן ז י י נ ר ט א כ ט ר . ע ר ה ע ט ג י ה ו י ר ט ו ו י א ז י י ן ז ו ן ג א ר ו ו א ל ל ע ר נ ט , ד ר ו ם ב י ג ע ר ט ע ר א י ן , ע ר ו ו א ל ט א י ם ג ע ב ן א י י ן ג ר ו ש ן ס ך צ ו ד ע ר נ ד ו נ י א . [S. 368]. Begehrende Figuren 169 bereit erklärt, das Leben seiner Tochter zu riskieren, erklärt er, dass er es tue, weil verwandtschaftliche Bande zur Familie des Protagonisten bestünden: ‹ Ich will meine Tochter riskieren, weil wir Blut und Fleisch sind › ( א י ך ו ו י ל מ י י ן ט א כ ט ר ו ו א ג ן , ו ו י י ל מ י ר ב ל ו ט א ו נ ' ו ל י י ש ז י י נ ן ). 47 Die Verwandtschaft zwischen den beiden Familien wirkt in diesem Fall als zusätzlicher Bonus, vielleicht auch als Verpflichtung zur Solidarität. Bekanntlich währt auch bei der zweiten Hochzeit die Freude über die gute Partie nicht lange. Als die Eltern erkennen, dass eine Heirat innerhalb der gleichen sozialen Schicht nun nicht mehr möglich sein wird, leiten sie eine Ehe in die Wege, bei der einer der Ehepartner ‹ nach oben › heiratet. Interessanterweise ist es kein armer junger Mann, der sich durch seine intellektuellen Kapazitäten so sehr empfiehlt, dass die Gegenseite seine Mittellosigkeit in Kauf nimmt - in der Geschichte aus Worms wird vielmehr vom sozialen Aufstieg einer Frau erzählt. Auch sie stammt aus guter Familie und zeichnet sich darüber hinaus durch Schönheit und Frömmigkeit aus. Aufgrund verschiedener Eigenschaften, von denen allerdings die am Ende der Erzählung gelobte Frömmigkeit und Keuschheit mehr behauptet als plausibel gemacht werden, bringt sie es zu Reichtum und Ehre. Der Weg der mittellosen Frau an die Spitze der Gesellschaft wird als Erfolgsgeschichte inszeniert. Darin ähnelt die Geschichte zeitgenössischen Romanen nichtjüdischer Autoren, in denen arme, nichtadlige Menschen aufgrund ihrer Tüchtigkeit und moralischen Tugend in hohe gesellschaftliche Positionen gelangen. Eingeschränkt wird der Eindruck einer Auflösung der sozialen Barrieren allerdings dadurch, dass der Aufstieg nur unter extrem ungewöhnlichen Umständen, als Folge mysteriöser Morde und des Einwirkens dämonischer Mächte, überhaupt in Betracht gezogen wird. Dass es zu solch einer außergewöhnlichen Hochzeit kommt, liegt daran, dass der Protagonist in seiner Jugend den Fehler einer leichtsinnigen Verlobung begangen hat, auch wenn diese nur im Scherz vollzogen wurde. Wie für die christliche Kirche stellte auch für die jüdischen Gelehrten das Phänomen der klandestinen Ehen eine ernsthafte Gefährdung der die gewünschte Ordnung kontrollierenden und stabilisierenden Verheiratungspraxis der Eltern und religiösen Autoritäten dar. 48 Chanita Goodblatt berichtet zur Illustration 47 [S. 369]. 48 «The problem was exacerbated by a legal issue rooted in both the Bible and the Talmud. According to Jewish law, individuals can contract marriage without the prior consent of either parents or religious authorities.» Biale , Eros, S. 62. Zur Haltung der Kirche gegenüber klandestinen Ehen und dem Einfluss der Verwandtschaft auf die Partnerwahl um die Mitte des 16. Jahrhunderts vgl. z. B. Jutta Sperling : Marriage at the Time of the Council of Trent (1560 - 70): Clandestine Marriages, Kinship Prohibitions, and Dowry Exchange in European Comparison, in: Journal of Early Modern History 8 (2004), S. 67 - 108. ‹ Geschichte aus Worms › 170 dieses Sachverhaltes von einem Fall aus dem Jahr 1414: Ein junger rheinländischer Gelehrter richtete damals im Scherz die Verlobungsformel an eine Bedienstete und geriet daraufhin in außerordentliche rechtliche Schwierigkeiten. 49 David Biale verweist in einem ähnlichen Zusammenhang explizit auf die Geschichte aus Worms, in der seiner Auffassung nach die mit klandestinen Heiraten verbundenen Rechtsproblematiken thematisiert werden: This tale and its parallels reflect the same deep anxiety about frivolous marriages that one finds in the legal literature. The story not only recounts the legal difficulty of extricating oneself from such a marriage but also voices the fear that improper behavior between the sexes might evoke malevolent erotic forces. 50 Klandestine Ehen stehen im Widerspruch zu den Wünschen von Eltern, denen daran gelegen ist, Kontrolle über die Partnerwahl ihrer Kinder auszuüben. In dem Moment, in dem der Protagonist der Geschichte aus Worms eigenmächtig eine Verlobung eingeht und sich mit einer verbotenen oder zumindest nicht sanktionierten Frau verbindet, entzieht er sich ein Stück weit den Regeln der Gesellschaft. Er profaniert im Spiel eine kultische Handlung aus der Sphäre des Heiligen. Das Defizit des jungen Mannes, durch das die Geschichte in Gang gesetzt wird, liegt, ähnlich wie in der Geschichte eines Amulettschreibers und in der Geschichte eines armen Mannes, in einem fahrlässigen Umgang mit den Geboten der Frömmigkeit. In diesem Fall ist es reine Verantwortungslosigkeit, die zum Eingehen der Mahrtenehe führt. Als Folge dieser Verfehlung geht der Held, wenn auch unabsichtlich, eine von Eltern und Gemeinde nicht abgesegnete Beziehung ein. Seine regelmäßigen Ausflüge oder Entrückungen ins Reich der Dämonin entsprechen seinem Abwenden von dem Raum, in dem das jüdische Religionsgesetz und die aschkenasische Tradition ihre Geltung beanspruchen. In der Geschichte aus Worms wird aber auch, deutlicher noch als in den älteren jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen, von der Versuchung durch das schlechthin Fremde erzählt, dem sich der Held ausliefert. Aus der Perspektive der jüdischen Minderheit wird dieses ‹ Andere › häufig mit den nichtjüdischen, christlichen Nachbarn in Verbindung gebracht. Nicht nur die christlichen Obrigkeiten, kirchliche wie auch weltliche, bemühen sich darum, Geschlechtsverkehr und Heiraten zwischen Juden und Christen zu verhindern. Auch die aschkenasischen Gelehrten legen Wert darauf, solche sexuellen Handlungen zu unterbinden und Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden abzuwehren. In der Geschichte aus Worms werden mithin auch die Gefahren exogamer Verbindungen thematisiert. Diese werden von der in 49 Vgl. Goodblatt , Women, S. 232 f. 50 Biale , Eros, S. 67 Begehrende Figuren 171 einer häufig als bedrohlich empfundenen Diasporasituation lebenden jüdischen Minorität als eine Bedrohung der religiösen, ethnischen und kulturellen Identität empfunden. Angestrebt wird die Verwirklichung eines Konzepts strenger Gemeinde-Endogamie. Wenn ein Mann nach außen - also eine nichtjüdische Frau - heiratet, dann besteht die Gefahr, dass er sich der Gemeinschaft seiner Frau anschließt. Zudem sind Kinder, die mit einer nichtjüdischen Frau gezeugt werden, nach dem jüdischen Gesetz für die jüdische Gemeinschaft verloren. Exogame Praktiken gefährden das Fortbestehen der Gruppe. Dass die Gestalt der Dämonin in der Geschichte aus Worms unter anderem auch als Repräsentantin der riskanten Versuchung durch intime Kontakte mit christlichen Frauen betrachtet werden kann, ist daher sehr wahrscheinlich. 51 Der Held jedenfalls lässt sich ohne das Wissen seiner Eltern mit einer fremden Frau ein, deren Existenz vor den Augen der Gesellschaft verborgen werden muss. In diesem Sinne handelt es sich bei der Geschichte aus Worms um eine Emanzipationsgeschichte. Der Protagonist löst sich zuerst aus dem Bereich der elterlichen Verfügungsgewalt und dann aus gesellschaftlichen Zusammenhängen insgesamt. Verdeutlicht wird dies durch die Art und Weise, wie im Text auf seine Person Bezug genommen wird. Im ersten Teil der Erzählung ist von ihm 51 «The underlying distress may partly derive from anxiety about Jews who leave the fold to marry Christians.» Joachim Neugroschel (Hg.): The Dybbuk and the Yiddish Imagination. A Haunted Reader (Judaic Traditions in Literature, Music, and Art). Syracuse, NY 2000, S. 115. «A first analysis might follow later writers › adoption of the genre focus on the story ’ s sexual aspects, reading the she-demon as the fulfillment of either adulterous sexual desires or the locus of the seductions and dangers of intermarriage.« Dauber , Bedroom, S. 148. Die Verbindung mit der Dämonin kann zusätzlich auch für die Verlockungen des Glaubens der christlichen Nachbarn stehen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die christliche Erzählung Du varlet qui se maria d ’ ymage nostre dame, die Gautier von Coincy in seiner Sammlung von Marienwundern wiedergibt. In diesem Text verlobt sich ein junger Mann mit einer Marienstatue und gelobt der Gottesmutter ewige und exklusive Liebe. Er vergisst sein Versprechen und heiratet eine menschliche Frau, schläft allerdings in der Hochzeitsnacht sofort ein und wird von Maria für seine Treulosigkeit heftig gescholten. Der Mann bereut daraufhin und geht in ein Kloster. Vgl. Baum , Young Man, S. 548 f. sowie Michael Camille : The Gothic Idol. Ideology and Image-making in Medieval Art (Cambridge Studies in New Art History and Criticism). Cambridge, New York 1989, S. 237 ff. Möglicherweise stellt die jiddische Erzählung einen Reflex auf eine christliche (ihrerseits pagane Elemente variierende) Erzähltradition dar. Aus dieser Perspektive kann der jüdische Text auch als Warnung vor den Verführungskünsten einer als ‹ dämonisch › anzusehenden christlichen Gottesmutter gelesen werden. ‹ Geschichte aus Worms › 172 ausschließlich als von dem Sohn des Ravs ( ד ש ר ב ז ו ן ) die Rede. Er wird in dieser Umschreibung über die Beziehung zu seinem Vater definiert, und dies noch eindeutiger, als es durch die Verwendung eines Patronyms geschehen könnte. 52 Im zweiten Teil der Erzählung wird er zwar immer noch mehrmals Sohn des Ravs oder Junge genannt. 53 Fast doppelt so häufig indes bezeichnet ihn der Erzähler von nun an als Bräutigam ( ח ת ן ) und identifiziert ihn somit über seinen Übertritt in den Ehestand und die Beziehung zu einer Frau. Die Lösung aus dem elterlichen Familienzusammenhang wird mit der erfolgreichen, wenn auch problematisch verdoppelten Paarbildung vorangetrieben. Durch das Abschließen des Handels zwischen der dritten Ehefrau und der Dämonin wird der Protagonist zum Mann ( מ א ן ). Als solcher wird er im dritten Teil des Textes fast ausschließlich bezeichnet, sowohl von der Dämonin als auch von der legitimen menschlichen Ehefrau. ‹ Mann › ist der Held immer im Sinne von ‹ mein Mann › oder ‹ dein Mann › . Die Vokabel kennzeichnet die Person also als Ehemann. Mit der Mannwerdung ist das Annehmen einer neuen sozialen Rolle verbunden. Was auch immer das ‹ Mann-Sein › sonst noch impliziert - der Protagonist ist nun ‹ Mann › im Gegensatz zu ‹ Sohn › . Das bedeutet, dass er nun in erster Linie auf seine Frau und nicht mehr auf seine Eltern bezogen ist. Von seiner Ehefrau hingegen wird die Dämonin zwei Mal als liebe Mutter ( ל י ב י מ ו ט ר ) adressiert. 54 Dies ist die passende respektvolle Anrede für eine hierarchisch über dem Mädchen stehende Frau. Die Anrede beschreibt aber nicht nur das offensichtlich bestehende Machtgefälle zwischen Menschenfrau und Dämonin. Indem die Menschenfrau die Dämonin als ‹ Mutter › tituliert, versetzt sie sich performativ in eine Rolle, in der sie der Entscheidungsgewalt der Dämonin ebenso unterworfen ist wie ein Kind der seiner Eltern. Dementsprechend wird sie von der Dämonin auch als liebes Kind ( ל י ב ש ק י נ ד ) angesprochen. 55 Während sich also der Protagonist im zweiten und dritten Teil der Erzählung von seinen Eltern entfernt, gewinnt die Frau vorübergehend 52 Vgl. Daubers Interpretation der Unbenanntheit des Helden als Zeichen seiner Unselbständigkeit, zu der eine starke Psychologisierung der Elternfiguren, wie Dauber sie vornimmt, allerdings nicht nötig ist: «It may be a significant sign of the parents › selfishness, reflecting outward into the norms of the text in general, that the son himself is never named: he is merely an outgrowth of the parents, an extension of their ego.« Dauber , Bedroom, S. 314. 53 Die Bezeichnung als Junge erfolgt anschließend an die Feststellung, dass der Gemeinte mittlerweile dreißig Jahre alt ist. Ausscheiden aus einem Dasein als Junge kann man offenbar erst mit erfolgter und erfolgreicher Verheiratung. 54 [S. 371]. 55 [S. 371]. Begehrende Figuren 173 eine weitere Mutter hinzu - wird diese aber schließlich, und hierin unterscheidet sie sich nochmals von ihrem Ehemann - auch dauerhaft wieder los. Der Emanzipationsprozess, der an dem Protagonisten vorgeführt wird, ist mit dem Erreichen des nominellen Status eines Ehemannes noch nicht abgeschlossen. Auch ist der Übergangszustand, in den er mit dem Versteckspiel im Garten eintrat, noch nicht beendet, als die Bindung zu der überzähligen Partnerin gelöst ist und er durch den Tunnel wieder in seine eigene Welt zurückkehrt. Den Kulturanthropologen Arnold van Gennep und Victor Turner zufolge durchläuft jedes Subjekt, das den Übertritt von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter vollzieht, zunächst eine rituell vorgegebene, instabile Schwellenphase. Auf die damit verbundene Suspension aller Bindungen und Beziehungen folgt die Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Damit kann der nunmehr Erwachsene die mit seinem neuen Status verbundenen Rechte und Pflichten annehmen. 56 Die vollständige Ablösung des Helden der Geschichte aus Worms vom Bezugssystem seiner Gesellschaft kulminiert in der auf die Trennung von der Dämonin folgenden dreitägigen Phase des Schweigens, in der vom Erzähler jegliche Statuszuweisung vermieden wird. Der Protagonist ist weder mit Weib noch Vater oder Mutter verbunden ( ו ו י י ב א נ ו ך ו א ט ר א ו נ ' מ ו ט ר ) und somit weder ‹ Sohn › noch ‹ Bräutigam › noch ‹ Mann › . 57 Alles, was von ihm übrigbleibt, ist ein Personalpronomen: Er blieb nun weiter zu Hause. Er sagte seiner Frau nichts, und die Frau ihm auch nicht. Als er sah, dass er drei Tage lang zuhause geblieben war, da richtete er für die ganze Gemeinde ein großes Gelage aus. Weder sein Weib noch Vater oder Mutter wussten, warum er das Gelage ausrichtete. 58 56 Vgl. Arnold van Gennep : Übergangsriten. Übers. von Klaus Schomburg und Sylvia Schomburg-Scherff . Frankfurt a. M. 2005 (französische Erstausgabe 1909). Vgl. auch Victor Turner : Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Übers. von Sylvia M. Schomburg-Scherff (Theorie und Gesellschaft 10). Frankfurt a. M., New York 1989 (amerikanische Erstausgabe 1969), S. 94. Wenn man die Geschichte des Protagonisten von seiner Verlobung im Garten bis zum finalen Freudenfest im Licht des Modells der Übergangsriten betrachtet, findet sich damit auch eine Erklärung für die Passivität des Helden, der sich wie vorgesehen die ganze Zeit über in Demut und Unterwerfung übt und erst mit der Aggregation wieder die Rolle eines handelnden und Entscheidungen treffenden Individuums annehmen kann. 57 [S. 372]. 58 א ו נ ' ע ר ב ל י ב נ ו ן ו ו י י ט ר ד א ה י י מ א . א ו נ ' ע ר ז א ג י ט ד ע ם ו ו י י ב א נ י ש ט , א ו נ ' ד ש ו ו י י ב א א י ם א ו ך נ י ש ט . א ו נ ' ד א ע ר נ ו ן ז א ך ] ד ש [ ע ר ד א ה י י מ ן ו ו א ר ג י ב ל י ב ן ד ר י י א ט א ג , ד א מ א כ י ט ע ר א י י ן ג ר ו ש י ס ע ו ד ה א ו י ף כ ל ה ק ה י ל ה . א ו נ ' ז י י ן ו ו י י ב א נ ו ך ו א ט ר א ו נ ' מ ו ט ר ו ו א ו ש ט ן נ י ט ו ו א ר ו ם ע ר ד י א ס ע ו ד ה מ א כ י ט . [S. 372]. ‹ Geschichte aus Worms › 174 Die Heranbildung des Helden zu einem erwachsenen Mitglied seiner Gemeinschaft ist erst in dem Moment vollständig abgeschlossen, in dem er aus seinem liminalen Zustand ins aktive gesellschaftliche Leben zurückkehrt. Jetzt erhält er auch wieder eine Bezeichnung, die seinen gesellschaftlichen Status markiert. Doch was ist aus der Emanzipation des Helden von seinen Eltern geworden? Durch das letzte Epitheton, mit dem er bedacht wird, ordnet der Erzähler den Protagonisten wieder in den Zusammenhang ein, aus dem er aufgebrochen war: Nachdem die ganze Gemeinde gegessen und getrunken hatte und man die Segenssprüche sagen sollte, da sprach der Sohn des Ravs: ‹ Ihr lieben Herren [. . .]. Lieber Vater [. . .]. › 59 Aus dem Bräutigam und Mann ist wieder der Sohn des Ravs geworden, der bei seinem Vater einen Bericht über die vergangenen Ereignisse abliefert. Insofern ist die Geschichte aus Worms die Erzählung eines gescheiterten Ausbruchs aus der Sphäre elterlicher Einflussnahme. Mit seinem an die Gemeinde und insbesondere an den Vater gerichteten Geständnis signalisiert der erneut zum Sohn Gewordene seine Rückkehr unter das väterliche Gesetz. Zum handelnden Subjekt wird man, so wird in der Geschichte aus Worms erzählt, indem man sich unterwirft, und zwar erstens freiwillig und zweitens den richtigen Autoritäten. Und das sind im Zweifelsfall die Eltern. Verbotene Beziehungen Das Ende der Beziehung zu der nichtmenschlichen Frau bezeichnet der Protagonist folglich als Erlösung, nicht als Unglück. Auch in diesem Text rückt die ungewöhnliche Beziehung eines Mannes zu einer andersartigen Frau in ein anderes Licht als in den aus einem christlichen Kontext stammenden höfischen Mahrtenehenerzählungen. Was die Dämonin von ihrem menschlichen Geliebten fordert, ist, so wird impliziert, in erster Linie sexuelle Befriedigung. Dies wird zwar nirgends ausdrücklich festgestellt, die Vermutung liegt aber nahe. Schließlich wird der Protagonist mit der Dämonin im Bett liegend vorgefunden. Das liest sich zunächst, wenn man Tamar Alexander-Frizer folgt, wie eine männliche Wunschvorstellung: Der Protagonist besitzt eine ordentliche Ehefrau, mit der er den sozialen und religiösen Standards gerecht wird. Daneben hat er eine Geliebte in einem nicht-öffentlichen Raum, für die er nicht sorgen muss und die von ihm nichts verlangt außer regelmäßigen Sex. Als Sohn des Ravs Salman, 59 א ו נ ' ד א נ ו ן כ ל ה ק ה ל ה א ט ג ע ש ן א ו נ ' ג י ט ר ו נ ק ן , א ו נ ' ד א ז מ ן ב ע נ ש ן ז ו ל ט , ד א ה ו ב ד ש ר ב ז ו ן ] א ן [ : ל י ב ן ר ב ו ת י י ] . . . [ . ל י ב ר ו א ט ר ] . . . [ . [S. 372]. Begehrende Figuren 175 eines wichtigen Würdenträgers in einer Stadt, die ihre Wurzeln bis in die Zeit Jesses zurückverfolgt, ist er zumindest dem Namen nach ein Nachkomme des Hauses David und fügt sich somit gut in die biblische Tradition der in dieser Dynastie praktizierten sexuellen Grenzüberschreitungen ein. 60 Und doch - etwas an dem, was man in anderen Kontexten als ‹ Männerfantasie › bezeichnen würde, ist eigenartig. Man könnte ja davon ausgehen, dass das Sprechen über eine verbotene und daher begehrenswerte sexuelle Vereinigung (mit einer nicht-legitimen Ehefrau, einer außerehelichen Geliebten oder einer nicht der eigenen Gemeinschaft zugehörigen Frau) gerade in einem fiktionalen Text einen Ort findet, an dem es sich in allen denkbaren Facetten entfalten kann. 61 Von einer Lust am Verbotenen allerdings lässt zumindest der männliche Protagonist der Geschichte aus Worms nicht viel sehen. Er zeichnet sich vielmehr besonders dadurch aus, dass er, wenn er überhaupt handelt, dies fast immer unabsichtlich tut oder gar dazu gezwungen wird. Hierin verhält er sich ganz ähnlich wie die Helden anderer jüdischer Dämonenhochzeitserzählungen. Die Passivität des Protagonisten, die sich über beinahe den gesamten Text erstreckt, zeigt sich laut Jeremy Dauber besonders an den Hochzeitsnacht-Episoden, «which play out while he is so deeply asleep as to seem ill, drugged, or enchanted«. 62 Als man ihn nach der ersten Hochzeitsnacht fragt, was mit seiner Braut geschehen sei, lautet die entsprechend hilflose Antwort: ‹ Ich habe es leider verschlafen, ich weiß es selbst nicht › ( א י ך ה א ב ע ש ל י י ד ר ו ר ש ל ו פ ן , א י ך ו ו י י ש ע ש ז ע ל ב ר ט נ י ט ). 63 Das Modell der sexuellen Beziehung mit einer verbotenen Frau wird dadurch als äußerst instabil und wenig erstrebenswert dargestellt, dass der Verfasser die Erzählung explizit mit der ‹ Erlösung › des Mannes enden lässt. 64 Die Vorstellung einer langfristigen gleichzeitigen Beziehung eines Mannes zu 60 Vgl. Biale , Eros, S. 13 ff. Eine viel gepriesene Vorfahrin König Davids ist die Moabiterin Ruth. Die Hochschätzung dieser Ahnin ist bemerkenswert, da es in Dtn 23,4 heißt, dass der Stamm der Moabiter nicht zum Bund mit Gott zugelassen sei. Ruth selbst stammt aus einer inzestuösen Verbindung Lots mit einer seiner Töchter. Ruths Ehemann Boas ist das Produkt des verbotenen Beischlafs Tamars mit ihrem Schwiegervater Judah. Davids Ehebruch mit Batscheva schließlich hat eine ganze Reihe von sexuellen Überschreitungen und Gewalttaten zur Folge; bezeichnenderweise ist es aber gerade diese unrechtmäßig erworbene Frau, mit der David Salomo, Israels größten König und Erbauer des ersten Tempels, zeugt. 61 Schließlich ist nach Michel Foucault und Judith Butler «das Gesetz, das die sexuelle Vereinigung verbietet, [. . .] genau dasselbe, das zugleich zu ihr einlädt«. Judith Butler : Das Unbehagen der Geschlechter (es 2433). Frankfurt a. M. 1991 (amerikanische Erstausgabe 1990), S. 119 f. 62 Dauber , Thinking, S. 28. 63 [S. 369]. 64 Vgl. die an Gemeinde und Vater gerichtete abschließende Rede des Helden [S. 372]. ‹ Geschichte aus Worms › 176 zwei Frauen wird also, ähnlich wie in der mittelalterlichen Geschichte eines Amulettschreibers, schon allein dadurch zurückgewiesen, dass eine der beiden Frauen schließlich aus dem Weg geräumt wird. Zudem spricht der Erzähler kein einziges Mal davon, dass der Mann die Beziehung zu der Dämonin freiwillig führe und ein Interesse daran habe, damit fortzufahren. Darin tut es der Held den Protagonisten der Geschichte eines Amulettschreibers und der Geschichte eines armen Mannes gleich, die ebenfalls dazu gezwungen werden, eine Beziehung zu einer Dämonin einzugehen. Um Missverständnissen vorzubeugen - der Text liefert überhaupt keine Aussage des tatenlosen Protagonisten zu der Situation, in der er sich befindet. Was er über seine außereheliche Geliebte denkt, erfährt der Leser nicht. Er wird als ohnmächtiges Opfer einer beherrschenden und sexuelle Befriedigung fordernden, übermenschlichen Frau geschildert, der er sich nicht verweigern kann. Stets ist er das Objekt der Handlungen anderer, also der Dämonin, seiner Eltern und seiner dritten Ehefrau. Zugleich sind es nicht die Verwandten, die Vorgesetzten oder Vertreter des religiösen Establishments, die alles daran setzen, den Helden von seiner Geliebten zu trennen. Am Ende bewirkt zwar die Ehefrau den Tod der schönen Dämonin, aber sie tut es nicht absichtlich, sondern zufällig. Die Ablehnung der außerehelichen Verbindung wird in den passiv widerstrebenden Ehemann hineinverlagert. 65 Zum Vergleich: Auch in höfisch-christlichen Texten, in denen von der Beziehung eines Mannes zu einer nichtmenschlichen Frau erzählt wird, wird diese Beziehung als problematisch, nämlich als instabil und gefährdet, dargestellt. Wenn sie aber scheitert, dann nehmen das die menschlichen Helden als Unglück wahr. Im Lanval und im Guigamor, im Graelent, im Partonopier und in der Königin vom Brennenden See sind die Protagonisten untröstlich, wenn die Beziehung zu der Fee in die Krise gerät. Entweder versuchen sie, die 65 Für seine Passivität wird er auch nicht getadelt. Der passive Gelehrte entspricht durchaus einem jüdischen Ideal, das sich mit (anderen) abendländischen Konzepten von Männlichkeit als Quelle von Tatkräftigkeit und Kampfesfreude nur bedingt überschneidet. Daniel Boyarins These lautet: «The passive, pale, gentle, and physically weak Yeshiva-Bokhur was an object of erotic desire.« Boyarin , Unheroic Conduct, S. 68. Es widerspricht auch nicht dem aschkenasischen Verständnis von weiblichem Rollenverhalten, dass eine Frau aktiv das Schicksal der Familie steuert. Die sexuelle Aggressivität der Dämonin wird zwar auf Dauer nicht akzeptiert. Die Menschenfrau mit all ihrer zur Schau gestellten Frömmigkeit, Arglosigkeit und Naivität aber kann zur Protagonistin der Erzählung avancieren. Die Vorstellung, dass Handlungsspielräume und Machtpositionen auch von Frauen ausgefüllt werden können, wird in diesem Text also durchaus unterschiedlich beleuchtet. Begehrende Figuren 177 verlorene Frau zurückzugewinnen, oder sie wenden sich, wie Reymond in der Melusine, betrübt ganz von der Welt ab. In der Geschichte aus Worms ist das anders. Bei ihrem männlichen Protagonisten handelt es sich um eine widersprüchliche Figur, an der die Grenzüberschreitung zugleich vorgeführt und negiert wird. Um ihn herum sterben Menschen, aber er bemerkt nichts davon; er hat eine Geliebte, aber er will sie nicht; er hat die Geschehnisse nicht aktiv vorangetrieben, am Ende aber gesteht er sie dennoch. Es scheint, als würde an diesem Helden die Verflechtung von Diskursivierung und Tabuisierung exemplarisch vorgeführt: Man spricht über eine sexuelle Transgression, während sie zugleich mit aller Macht vom Anschein einer solchen befreit wird. Wie aber gerät der Protagonist überhaupt in die Lage, von einer besitzergreifenden Dämonin bedroht zu werden? Oder anders gefragt: Wann findet die ungleich bedeutendere Grenzüberschreitung statt und worin besteht sie? Bereits ganz zu Beginn der Handlung wagt sich der Protagonist in topographisches und semiotisches Grenzgebiet vor. Der Garten als eine von Menschen angelegte, artifizielle Kulturlandschaft ist einerseits eine zivilisationsnahe Stätte menschlichen Freizeitvergnügens. Anders als das Gemüsebeet aber zählt er auch schon halb zur Natur. In seiner Mittelstellung zwischen Kultur und Natur ist der Garten ein Ort der Unbestimmtheit und Liminalität, an dem ein Zusammentreffen von Lebewesen aus verschiedenen Welten wahrscheinlicher ist als anderswo. Die Interaktion des männlichen Protagonisten mit seinem Spielgefährten wird als Such- und Versteckspiel geschildert. 66 Sie ist, zumindest in dieser Lesart, verbunden mit dem Begehren des Protagonisten nach Erkenntnis. Ein Baum ist das Mittel der Verlockung. Diese Szene erinnert in ihrem Setting an die paradigmatische biblische Sündenfallepisode im Garten Eden, wobei sämtliche mögliche Rollen in einer Figur zusammenfallen. Der Protagonist agiert 66 Das Motiv der Suche, der Queste oder der Jagd ist weit verbreitet in der mittelalterlichen Literatur, ob im christlichen, jüdischen oder muslimischen Kontext. Irgendetwas findet der Held immer. Oft sieht das Gefundene anders aus als das Gesuchte, aber stets stehen beide in irgendeiner Beziehung zueinander. Wenn sich ein Ritter auf die Jagd nach einem bestimmten Wild macht, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er früher oder später selbst von einer nichtmenschlichen Geliebten erbeutet wird. So verhält es sich mit Guigemar, mit Partonopier und mit Reymond - für sie alle endet die Jagd mit einer Feenliebe, und anders ergeht es auch dem Prinzen in den jüdischen Geschichten Sendebars und dem Protagonisten der Geschichte aus Worms nicht. Zum Motiv der Hirschjagd vgl. den Überblick über eine Vielzahl westeuropäischer, antiker und außereuropäischer Beispieltexte bei Marbury Bladen Ogle : The Stag-Messenger Episode, in: The American Journal of Philology 37,4 (1916), S. 387 - 416. ‹ Geschichte aus Worms › 178 zunächst wie Gott, der Vertreter des Gesetzes, der den sündigen Menschen anruft. Als der Angerufene nicht reagiert, übernimmt er die Rolle des Versuchers, der dem anderen den Gesetzesbruch anträgt. Als der Partner überraschend annimmt, schlägt die Situation um - nun ist es der Protagonist, dessen Position sich durch das Spiel grundlegend verändert hat. Der junge Jeschiva- Student ist also nacheinander der Prüfende und der Geprüfte, der Suchende und der Versuchte. Worin aber genau besteht die Versuchung? Der männliche Protagonist gibt selbst eine Erklärung für seine Verlobung mit der Dämonin, wenn er sagt: ‹ Lieber Vater, hier ist der Ring, den ich in einem Baum verloren hatte. Da habe ich mich mit einer Dämonin verlobt, denn ich dachte, es handele sich um den Jungen, den ich suchte. › 67 Dauber weist in diesem Zusammenhang lediglich knapp darauf hin, dass hier ein homoerotisches Element eingeführt werde. Ebenso merkt Chanita Goodblat an, der Leser könne dem Helden möglicherweise homosexuelle Motive unterstellen. 68 Von diesen kurzen Feststellungen abgesehen, wurde das Motiv der Verlobung mit dem Freund bislang nicht weiter untersucht - vielleicht, weil die Figur des Mitschülers schon sehr früh aus der Geschichte aus Worms ausscheidet, und weil der Protagonist schließlich Schwierigkeiten mit einer Frau bekommt, nicht mit einem Mann. Wenn man allerdings annimmt, dass in der Geschichte aus Worms verschiedene Formen des Begehrens verhandelt werden, dann kann man mit Judith Butler fragen: To what extent [. . .] do narratives driven by desire presume heterosexuality and its patterns of rivalry and displacement? Is there, presupposed by such narratives, a complicating homoeroticism that calls into question the explicit direction of the narrative itself? 69 Neben dem Vater des Protagonisten ist der Student, zu dem der Held die rituellen Verlobungsworte spricht, die einzige Figur in der gesamten Erzählung, die einen Namen trägt. Er heißt Anschel. Obwohl Anschel nach seiner Aussage, dass er nicht in jenem Baum verborgen gewesen sei, nicht mehr erwähnt wird, lenkt die Tatsache, dass sein Name genannt wird, Aufmerksamkeit auf die Figur. 67 ל י ב ר ו א ט ר , ד א א י ז ד ש ו י נ ג ר ל ן ד ש א י ך ה א ב ו ר ל ו ר ן ג י ה א ט א י ן א י י נ ם ב ו י י מ א . ד א ה א ב א י ך א י י ן ש י ד ה מ ק ד ש ג י ו ו ע ז ן , ו ו ע ן א י ך ה א ב ג י מ י י נ ט ע ש ו ו ע ר ד ע ר ב ח ו ר ד ע ן א י ך ז ו י כ ט . [S. 372]. 68 Vgl. Dauber , Thinking, S. 27 f. Dauber fährt fort: «The she-demon may have symbolized, to the contemporary Jewish community, a kind of aberrant sexuality preventing the schoolboy ’ s absorption into traditional heterosexual communal norms.« Dauber , Thinking, S. 28. Siehe auch Goodblatt , Women, S. 241. 69 Judith Butler : Desire, in: Critical Terms for Literary Study. Hg. von Frank Lentricchia und Thomas McLaughlin . Chicago, London 1995, S. 369 - 386, hier S. 370. Begehrende Figuren 179 Der Protagonist nimmt die Verlobung mit Anschel in einer doppelten Spielsituation vor, durch die auf der Handlungsebene vorgeführt wird, was der Text selbst tut. Das Versteck- und Rollenspiel ist Ausdruck der Lust am Spiel mit dem verbotenen Begehren. Den Anlass der Suche nach dem Mitschüler Anschel bildet zunächst das Versteckspiel, dessen Regeln der Erzähler erläutert. Als der Held den Gesuchten gefunden zu haben glaubt, schon bald aber einen Bruch der Regeln des Versteckspiels annehmen muss, da der Gefundene sein Versteck nicht verlässt, befindet sich der Protagonist in einer Patt- Situation. Er hat den anderen zugleich gefunden und nicht gefunden. Auf die Aufforderung, aus dem Baum herauszukommen, reagiert der andere nicht. Ebenso wenig aber verschwindet die Hand wieder im Baum, wie der Protagonist es zu erwarten scheint. 70 Was der Held sieht, bleibt fragmentarisch. Er erblickt in der ausgestreckten Hand etwas, das zuvor verborgen war, doch da es sich nur um einen Teil der entdeckten Person handelt, kann er das Zeichen nicht korrekt lesen. Insofern handelt es sich bei der Hand um ein ähnlich übercodiertes, mehrdeutiges und letztlich unlesbares Zeichen wie der durch die Decke stoßende nackte Fuß der Fee im Ritter von Staufenberg. 71 Aufgrund des für ihn nicht nachvollziehbaren Verhaltens seines Gegenübers kann der Sohn des Ravs das Spiel nicht beenden. Dadurch, dass der andere auf die Anrufung ‹ Anschel, komm heraus, ich habe dich gefunden! › ( א נ ש י ל , ג י א ה י ר ו י ש , א י ך ה א ב ד י ך ג י ב ו נ ד ן ) nicht reagiert, gerät der Anrufende in eine Situation, in der er weder den anderen noch sich selbst sowie ihre Beziehung zueinander einschätzen kann. Um seine Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, ersetzt er das bisherige Spiel durch ein neues: Er ‹ spielt Verlobung › , das heißt, er verwandelt spielerisch die Freundschaft oder Studiengemeinschaft in eine andere Art von formalisierter Lebensgemeinschaft. Wenn man davon ausgeht, dass der suchende Protagonist für einen Moment die Position Gottes im Garten Eden einnimmt, der den versteckten Schuldigen sucht und anruft, dann kann man feststellen: Diese Art der Anrufung (Interpellation) durch den Repräsentanten des Gesetzes beschreibt eine Identität nicht, sie setzt sie vielmehr ein, bringt das angerufene Subjekt überhaupt erst hervor. Dies vermag die Anrufung auch dann zu leisten, wenn das Subjekt sich ihr verweigert. In diesem Sinn wird der im Garten Verborgene mit der Identität Anschels gleichsam imprägniert. 72 70 [Vgl. S. 368]. 71 Vgl. Jolie , Fee. 72 Zum Gedanken der Interpellation bei Louis Althusser und Judith Butler vgl. Butler , Haß, S. 59. ‹ Geschichte aus Worms › 180 Doch offenbar ruft nicht nur die Anrede das Subjekt ins Leben. Für den Subjektstatus des Rufenden ist es umgekehrt unabdingbar, dass der Angerufene auf den Ruf reagiert. Dies erklärt, warum der Protagonist, nachdem er auf die Anrufung keine Antwort erhalten hat, einen zweiten, ungleich stärkeren Sprechakt ins Spiel bringt, durch den er den anderen auf eine bestimmte Position festlegen und die eigene Handlungsfähigkeit zurückgewinnen will. Der andere aber, dem der Held seine Spielregeln aufdrängt, um ihn zu unterwerfen, unterwirft sich nicht nur tatsächlich, indem er mitspielt. Im nächsten Schritt macht er selbst seinen dadurch gewonnenen Sujektstatus geltend, indem er seinerseits das Spiel auf eine Art verändert, die den Protagonisten erneut verständnislos, ohnmächtig und handlungsunfähig zurücklässt. Der Protagonist versucht, den anderen und damit auch sich selbst durch die Neudefinition ihres Verhältnisses wieder ‹ lesbar › zu machen. Sein Gegenüber reagiert, indem es das Spiel mitspielt. Gleichzeitig aber ist das Akzeptieren der neuen Form der Beziehung verbunden mit dem neuerlichen Unsichtbarwerden sowohl des Partners als auch des Symbols des Begehrens: Die Hand verschwindet wieder, indem sie den Ring, das Pfand der Verlobung, entgegennimmt. Abermals befindet sich der Protagonist in einer Situation, die er nicht deuten und daher auch nicht beeinflussen kann. Der Versuch des Helden, den anderen entzifferbar zu machen, indem er homosoziales Begehren in heterosoziale Termini fasst, bringt ein mehrdeutiges Ergebnis hervor. Einerseits wird das Angebot angenommen. Andererseits kann das Objekt des Begehrens anscheinend nur unter der Bedingung sichtbar gemacht werden, dass sein homosozialer Anteil unsichtbar wird: Als der Verlobungspartner wieder auf der Bildfläche erscheint und seine Rechte einfordert, tut er dies in Gestalt einer Frau. Ebenso wie das Versteckspiel durch ein Verlobungsspiel ersetzt wird, wird Anschel, der beabsichtigte Adressat der Verlobungsformel, durch eine andere Figur ersetzt - es ist die faktische Adressatin der Verlobungsformel, die Dämonin, die ihre Ansprüche auf den Helden geltend macht und seine ersten beiden Ehen verhindert. Die Artikulation des verbotenen Begehrens ist mit einem Verlust an Handlungsfähigkeit verbunden. In der Geschichte aus Worms wird erzählt, was geschieht, wenn ein Mann einem den Regeln widersprechenden homosozialen Begehren nachgibt oder es durch eine performative Handlung ins Leben ruft. Er verliert seinen Subjektstatus an die Person, mit der er sich verlobt, in gewisser Weise aber auch an das Begehren, das sich im Akt der Verlobung manifestiert. Der Protagonist wird zum ohnmächtigen Objekt nicht allein seiner Mitmenschen, sondern auch und vor allem seines eigenen verbotenen Begehrens. Begehrende Figuren 181 Verbotenes Begehren Zwar ist es richtig, dass die an den Mann gerichtete Verlobungsformel nur im Scherz ausgesprochen wurde. Die Handelnden sind noch sehr jung. Für den Helden wird die Beziehung zu einer Frau zum Problem, nicht die Beziehung zu einem Mann. Und schließlich geht all das Begehren, Verstecken und Morden ja nicht von dem Protagonisten der Erzählung aus, sondern von einer fantastischen fremden Person, deren Anspruch zudem am Ende von der legitimen Ehefrau zurückgewiesen wird. Damit tritt der gleiche Effekt ein, der sich auch im Zusammenhang mit der Diskussion über die Beziehung zu einer ‹ verbotenen Frau › ergeben hatte: In der Geschichte aus Worms wird zwar die Phantasie gleichgeschlechtlichen Begehrens erzählerisch umgesetzt. 73 Zugleich aber wird diese Vorstellung unter großem Aufwand abgebogen, verharmlost und verneint. Die Dämonin ist eine Traum- und Albtraumfigur, in der sich verschiedene Wünsche und Sehnsüchte nach dem Brechen oder Umgehen von Regeln und die damit verbundenen Ängste verdichten und Gestalt annehmen. Und so vorsichtig der Erzähler auch ist, so sehr er es vermeidet, einen Triumph der Grenzüberschreitung in aller Deutlichkeit zu feiern - obgleich die nichtmenschliche Frau am Ende der Erzählung tot ist und das Leben des menschlichen Ehepaares von gesellschaftlich nicht sanktionierten Formen des Begehrens gereinigt scheint, bleibt unter der Oberfläche nicht nur die Figur der Dämonin, sondern auch die des Freundes Anschel über den Erzählhorizont hinaus präsent. Die fortdauernde Anwesenheit dieser Figuren wie auch die Erprobung verschiedener Möglichkeiten und Modelle der Lebensführung wird durch das Erzählverfahren der Ersetzung ermöglicht. Anschel, mit dem sich der Protagonist verlobt hat, wird nach dieser Episode nicht mehr erwähnt. An seiner Stelle artikuliert die plötzlich erscheinende Dämonin Ansprüche auf den Protagonisten und setzt sie durch. Auf diese Weise wird in der Geschichte aus Worms ein Kurswechsel vorgenommen. Der Erzähler beginnt mit der Geschichte einer Beziehung zwischen zwei Männern, fährt aber fort mit der Geschichte einer Beziehung eines Mannes zu einer verbotenen Frau. Die Figur Anschels wird durch die Figur der Dämonin ersetzt. Wenn aber eine Figur in einem fiktionalen Text durch eine andere ersetzt wird, dann heißt das, dass das Ersetzte lediglich überschrieben, nicht aber ausgelöscht wird. Es verschwindet nicht vollständig. Anschel ist in diesem Sinne immer noch da: aufgehoben in der Figur der Dämonin. Diese verkörpert 73 Vgl. Dauber , Bedroom, S. 312. ‹ Geschichte aus Worms › 182 daher nicht nur das auf eine verbotene Frau gerichtete Begehren. Sie steht auch für das Begehren homosozialer Intimität. 74 All die verbotenen Formen des Begehrens, die die Dämonin repräsentieren kann, werden nur in ihren Konsequenzen sichtbar. In den Hochzeitsnächten werden die Bräute wider Erwarten nicht mit ihrem Bräutigam und dessen legitimem Begehren konfrontiert. Während dieser durch einen tiefen Schlaf außer Gefecht gesetzt ist, treffen die Frauen auf die eifersüchtige Dämonin, die sich zu ihrer Rivalin erklärt, die Vorrangstellung ihrer Ansprüche behauptet und auf den Widerstand der ersten beiden Bräute mit Gewaltanwendung reagiert. In den Hochzeitsnächten ersetzt die Dämonin also sogar den männlichen Protagonisten. Wie im Fall Anschels verkörpert sich somit in der Dämonin nicht nur der Mann selbst, dessen Stelle im Brautgemach sie einnimmt, sondern auch das Begehren dieser Figur. Wenn aber die Dämonin das Begehren des Mannes repräsentiert und wenn jegliches Aufbegehren und jeder Kampf gegen dieses Begehren mit dem Tod der sich wehrenden Frauen endet, dann muss es sich um ein wahrhaft zerstörerisches Begehren handeln. Erst die dritte Frau findet eine Möglichkeit, damit so umzugehen, dass sie selbst nicht zu Schaden kommt und eine rechtmäßige eheliche Beziehung ermöglicht wird: Sie weist das fremde Begehren nicht zurück und bekämpft es auch nicht, sondern erkennt seine Übermacht an und räumt ihm einen Ort ein, an dem es bestehen darf. Ähnlich wie in der Melusine werden der nichtmenschlichen Frau ein Raum und eine Zeit zugewiesen, die ganz ihr gehören. Die Dämonin ist dabei insofern ein spiegelverkehrtes Abbild Melusines, als die Frist nicht dazu dient, sie selbst vor der Annäherung des Mannes zu schützen, sondern diese vielmehr zu garantieren. Die Menschenfrau willigt in die Bedingung der Dämonin ein. Dass diese durch die Zustimmung bereits besiegt worden ist, stellt sich heraus, als die Ehefrau die Unterwerfungsgeste in gesteigerter Weise noch einmal wiederholt und die Dämonin daraufhin abermals mitteilt, dass ihre Zerstörungswut durch die Frömmigkeit der Frau gebannt worden sei. Die dritte Braut handelt ganz ähnlich wie der Held und seine Frau in der Geschichte eines Amulettschreibers, die die 74 Vgl. zu einem ähnlichen Mechanismus Dietrichs von der Glesse Novelle Der Gürtel. Auch in dieser höfischen Erzählung des 13. Jahrhunderts wird die Geschichte einer Beziehung zwischen zwei Männern in die Geschichte einer Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau (oder zwischen einem Mann und zwei Frauen) überführt - die Frau aber bleibt dauerhaft mit der Identität kontaminiert, die sie innehatte, als sie noch ein Mann war. Vgl. dazu Andreas Kra ßß : Das erotische Dreieck. Homosoziales Begehren in einer mittelalterlichen Novelle, in: Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Hg. von Andreas Kra ßß (es 2248). Frankfurt a. M. 2003, S. 277 - 297, besonders S. 297. Begehrende Figuren 183 Begegnung mit den Dämonen gut überstehen, weil sie sich ihren Wünschen und Ansprüchen fügen. Und wie in der hochmittelalterlichen Erzählung hat auch das unterwürfige Verhalten der Protagonisten in der Geschichte aus Worms zwei Konsequenzen: Beide erhalten dadurch nacheinander die Möglichkeit, Subjektstatus zu erlangen. Die Frömmigkeit der dritten Braut besteht vor allem in ihrer Fähigkeit, sich zu unterwerfen und gerade dadurch zum Subjekt zu werden. 75 Judith Butler beschreibt diesen Prozess der Subjektivation in Anlehnung an Michel Foucault folgendermaßen: Der Ausdruck ‹ Subjektivation › [. . .] bezeichnet sowohl das Werden des Subjekts wie den Prozeß der Unterwerfung - die Figur der Autonomie bewohnt man nur, indem man einer Macht unterworfen wird, eine Subjektivation, die eine radikale Abhängigkeit impliziert. [. . .] Subjektivation ist buchstäblich die Erschaffung eines Subjekts, das Reglementierungsprinzip, nach dem ein Subjekt ausformuliert oder hervorgebracht wird. 76 Die dritte Ehefrau darf am Leben bleiben, weil sie die Macht der Dämonin anerkennt und sich ihr unterwirft. Zudem lässt sie auch die Subjektwerdung ihres Gefährten zu oder ermöglicht sie gar erst. Indem die Frau die Mechanismen der Subjektivation respektiert, gibt sie der von außen auf sie einwirkenden Macht die Möglichkeit, sie in ihrem Sein zu formen und sie in ihren Handlungen nicht nur einzuschränken, sondern auch innerhalb der solchermaßen hergestellten Abhängigkeit handlungsfähig werden und bleiben zu lassen. Wenn die Dämonin den Mann am Ende freigibt und mitsamt ihrem Reich und dem Weg dorthin verschwindet, dann liegt daher die Vermutung nahe, dass dies im Grunde nicht erst durch den Bruch des Berührungsverbots bewirkt wurde. Vielmehr wird das destruktive Potential des geheimnisvollen männlichen Begehrens bereits in der dritten Hochzeitsnacht gebannt, und zwar ausgerechnet dadurch, dass es in ein normgerechtes Leben integriert wird. Ihm wird ein Raum zugewiesen, in dem es existieren darf. Allein diese Handlung genügt, um ihm seine Macht zu nehmen. Die Dämonin verwandelt sich von einer Verführerin und Verderberin in eine Gefährtin im Sinne Sigmund Freuds und schließlich sogar in eine Erlöserin. Sie verliert ihre dämonischen Eigenschaften in dem Moment, in dem die Dämonisierung endet. 77 75 ‹ Frömmigkeit › muss nicht zwingend religiös konnotiert sein. Der Terminus kann auch Gehorsam implizieren. 76 Butler , Macht, S. 81. 77 Bemerkenswert ist, dass sie in diesem Moment auch zum ersten Mal als ‹ Dämonin › bezeichnet wird, während sie zuvor ‹ schönes Wesen › oder ‹ schönes Bild › genannt wird. Durch die eindeutige Benennung und Klassifizierung wirkt die geheim- ‹ Geschichte aus Worms › 184 Anhand der Figur der Dämonin als Prozess- und Erzählbeschleunigerin werden in der Geschichte aus Worms verschiedene Formen von Beziehungen und Modelle des Auslebens von Sexualität durchgespielt. Am Ende aller Ersetzungen bleibt die Ehefrau übrig. Vordergründig wird auf diese Weise in der Erzählung allein das Modell der legitimen Ehe mit einer von den Eltern des Helden ausgesuchten Frau prämiert und als überlebensfähig dargestellt. Das verbotene Begehren aber kann zwar aus der Handlung, nicht jedoch aus dem Gedächtnis der Erzählung getilgt werden. Vor allem dann nicht, wenn es in seiner Unbenennbarkeit ein phantasmatisches Potential entfaltet, das den diskursiven Rahmen der Erzählung sprengt und sich dadurch jeglicher Kontrolle entzieht. Die Lust des Erzählers am Wechselspiel von Kontrolle und Kontrollverlust wird auch in Bezug auf die Figur der dritten Ehefrau sichtbar. Zwar tritt diese Figur erst im zweiten Teil der Erzählung in die Handlung ein, während der Erzähler nicht nur chronologisch dem Lebensweg ihres Mannes über viele Jahre hinweg folgt, sondern ihn auch in allen Lebensabschnitten von der Kindheit bis zur endgültigen gesellschaftlichen Konsolidierung begleitet. Dennoch kann man mit einigem Recht behaupten, dass die dritte Frau in viel stärkerem Maß die Rolle einer Hauptfigur übernimmt als ihr Ehemann. Dies wird deutlich, wenn man die raumsemantische Struktur der Geschichte aus Worms betrachtet. Als notwendige Elemente der Handlung eines fiktionalen Textes nennt der Literaturwissenschaftler und Semiotiker Jurij M. Lotman 1. ein bestimmtes semantisches Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen gegliedert ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Teilen, die unter normalen Umständen unüberschreitbar ist, sich jedoch im vorliegenden Fall [. . .] für den Helden als Handlungsträger doch als überwindbar erweist; 3. der Held als Handlungsträger. 78 In der Geschichte aus Worms existieren mit der Menschenwelt und der Welt der Dämonin zwei Teilräume, die sich auf topologischer Ebene durch den Gegensatz ‹ oben - unten › und auf topographischer Ebene mit der Unterscheidung ‹ innen - außen › oder ‹ Zivilisation - Natur › beschreiben lassen: Die dritte Braut steigt über eine Leiter in das Dämonenreich hinab. Zudem gelangt sie aus einer Kammer ihres Hauses auf ein Feld, von dem aus sie das Haus der Dämonin betritt. Auch der Ort, an dem der Sohn des Ravs zum ersten Mal mit der nisvolle Frau nicht etwa schrecklicher als zuvor, sondern weniger furchteinflößend. Sie kann jetzt zugeordnet und als Teil eines Systems akzeptiert werden, in dem Menschen und Dämonen Seite an Seite leben und problemlos voneinander unterschieden werden können. Zur Notwendigkeit einer möglichen Differenzierung zwischen den Spezies vgl. Kapitel 3.4. 78 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Rolf-Dietrich Keil (UTB 103). München 3 1989 (russische Erstausgabe 1970), S. 341. Begehrende Figuren 185 Dämonin Kontakt aufnimmt, befindet sich im Freien. Die mit den topologischen Gegensätzen verbundenen semantischen Gegensatzpaare lauten dementsprechend ‹ vertraut - fremd › oder auch ‹ normkonform - normverletzend im Sinne von Gesetz und Brauch › . Es gibt in der Erzählung drei ‹ bewegliche Figuren › 79 die in der Lage sind, die Grenze zwischen diesen Bereichen zu überqueren und die daher mit Lotman als Protagonisten bezeichnet werden können: der Mann, die Dämonin und die dritte Braut. Alle drei bewegen sich sowohl in der Menschenals auch in der Dämonenwelt. Man kann allerdings Lotmans Modell insofern modifizieren, als ein Protagonist nicht nur Grenzen überqueren können soll, die für andere Figuren impermeabel sind, sondern dass auch die Art und der Vorgang der Grenzüberschreitung für den Rezipienten nachverfolgbar sein muss. In diesem Fall würde sich nur die Ehefrau als Protagonistin qualifizieren. Sowohl die Dämonin als auch der Mann befinden sich einmal im einen, dann wieder im anderen Bereich, ohne dass eine Bewegung sichtbar wäre. Nur im Fall der Menschenfrau wird geschildert, wie eine Figur in mehreren Stationen von einem Bereich in den anderen hinübertritt. Aus dieser Perspektive ist letztlich sie die Hauptfigur der Erzählung. Dadurch wird dem Leser ein zusätzliches Identifikationsangebot gemacht, wenn auch die Frau als mindestens ebenso ambivalente Figur gezeichnet wird wie ihr passiver Ehemann. Denn ihre Aktivität wird zwar am Ende belohnt. Doch völlig unkritisch steht der Erzähler der Figur nicht gegenüber. Bevor die Frau sich zur Befreiung ihres Ehemannes aufmacht, stellt der Erzähler fest: Nun wollen die Frauen stets mehr wissen, als für sie nützlich ist ( נ ו ן ו ו א ל ן ד י א ו ו י י ב ר א ל י צ י י ט מ ע ר ו ו י ש ן א ז א י ן נ ו י ץ ז י י א ). 80 Wozu dieser Tadel? Das, was die Frau im Folgenden tut, ist schließlich gut für sie, es nützt ihr durchaus, und nicht nur ihr allein. Der sentenzhafte Erzählerkommentar relativiert das Lob der Frau am Ende der Erzählung und lässt ihr Verhalten zweifelhaft erscheinen. Problematisiert werden nicht die Folgen ihres Tuns, das ja schließlich ausdrücklich in der Erlösung des Protagonisten resultiert. Der Erzähler missbilligt vielmehr den Anlass für ihr Handeln, ihre Neugierde. Was die Frau begehrt, ist Wissen: ‹ Ich will meinen Hals riskieren und wissen, wo er hingeht. Ich werde ihm nachgehen, selbst wenn es mich den Hals kosten sollte. › 81 79 Vgl. Lotman , Struktur, S. 338. 80 [S. 371]. 81 א י ך ו ו י ל מ י י ן ה א ל ז ו ו א ג ן , א ו נ ' ו ו י ל ו ו י ש ן ו ו א ו ע ר ה י ן ק ו מ ט . א ו נ ' ו ו י ל א י ם נ א ך ג י ן , א ו נ ' ז ו ל ט א י ך מ י י ן ה א ל ז ו ו א ג ן . [S. 371] Der Umgang der Frau mit Wissen ist insgesamt wenig orthodox. Sie eignet sich Wissen nicht nur mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln an, wenn es sie danach verlangt. Sie verleugnet es auch, wenn ihr das nützt. Beispielsweise gibt sie der Dämonin gegenüber vor, nichts von den beiden bereits verstorbenen Bräuten ‹ Geschichte aus Worms › 186 Um Wissen über den Verbleib ihres Mannes zu erlangen, nimmt sie den Zimmerschlüssel an sich und dringt durch das Loch unter dem Bett in die Welt der Dämonin ein. Womöglich äußert sich im Tadel des Erzählers eine Ablehnung der phallischen, auch voyeuristischen Geste, mit der die Frau die Befriedigung ihrer Neugierde sucht. Vielleicht kommt hier auch ein Bedauern zum Ausdruck über das Einbrechen der Außenwelt in einen geheimen und geschützten Raum, in dem ein Begehren ausgelebt wird, das offensichtlich nur in einem Heterotopos fern der Gesellschaft existieren kann. Denn in dem Moment, in dem außer dem Protagonisten eine weitere Person die Grenze zum verbotenen Bereich überschreitet, kollabiert die Macht der Herrscherin über diesen Bereich. Menschenfrau und Dämonin, Erlaubtes und Verbotenes können in der Geschichte aus Worms nur in getrennten Räumen nebeneinander bestehen. Die dämonische Allianz wird viel stärker vom Alltag der menschlichen Gesellschaft ferngehalten, als dies beispielsweise in der älteren Geschichte eines Amulettschreibers der Fall war. Auch dort hält sich die Dämonin in einem separaten Raum auf: Er brachte sie rasch zu seinem Haus und richtete ein schönes Zimmer ein, und seine Frau bedeckte für sie das Bett mit einer schönen Decke. Wenn ihr Ehemann das Zimmer betrat, dann nahm sie ihre Kinder mit in ein anderes Zimmer, um Bescheidenheit zu zeigen gegenüber ihrem Mann und der Dämonin. Sie fürchtete sich nämlich. 82 Dass die menschliche Frau sich entfernt, mag mit der Vorstellung zusammenhängen, dass Dämonen keinen Sex haben, wenn eine dritte Person anwesend ist. 83 Ein problematisches Wissensgefälle ergibt sich durch das Verhalten der Menschenfrau in der Geschichte eines Amulettschreibers allerdings nicht. Die Ehefrau wird gerade dadurch charakterisiert, dass sie nicht handelt und in ihrem passiven Gehorsam den für sie furchterregenden Status Quo nie in Frage stellt. Daher bleibt sie eine blasse Nebenfigur. In der mittelalterlichen Erzählung beschränkt der dargestellte Subjektivationsmechanismus sich darauf, dass die Figuren, die sich den durch die Dämonen repräsentierten äußeren Kräften unterwerfen, überleben, das heißt, ihren Subjektstatus behalten dürfen. In der vielschichtigeren Geschichte aus Worms hingegen korrespondiert die doppelte Unterwerfung der Ehefrau mit einem dynamischen Subjektivationsprozess, der in zwei Stufen abläuft: Auch die Frau überlebt zunächst einfach nur zu wissen. Aus der Szene im Armenhaus wird aber deutlich, dass sie zumindest ansatzweise informiert ist. 82 ו ה ב י א ו מ ה ר ה ל ב י ת ו ו ת י ק ו ן ח ד ר י פ ה ו א ש ת ו ה י י ת ה מ צ ע י ת ל ה מ צ ע י ת י פ ה ו כ ש ה י ה ב ע ל ה נ כ נ ס ל ח ד ר ה י ת ה ל ו ק ח ת ב נ י ה ב ח ד ר א ח ר ת ל ע ש ו ת צ נ י ע ו ת ל ב ע ל ה ו ל ש י ד י ת כ י ה י ת ה מ ת פ ח ד ו ת . [S. 346 f.]. 83 Vgl. Trachtenberg , Jewish Magic, S. 31. Begehrende Figuren 187 die Begegnung mit der Dämonin. Statt aber lediglich die schwierige Situation zu erdulden und auszusitzen, tritt sie selbst in Aktion und schaltet im Zuge der zweiten Unterwerfung die zuvor überlegene Nebenbuhlerin vollständig aus. Auf diese Weise erhält der Text eine zusätzliche starke Protagonistin, die nicht nur, wie die Ehefrau in der Geschichte eines armen Mannes, Einfluss auf ihren Mann nimmt, sondern selbst Grenzen überschreitet. Auf diese Weise wird das Thema der guten und der falschen Allianzen im Kontext der gestörten Mahrtenehe um die Dimension einer weiblichen Perspektive erweitert. 4.3 Figuren des Begehrens Aufgrund der Grenzüberschreitung aus Wissensdurst gelangt die Ehefrau in eine Position, in der ihr die beiden Personen, deren Beziehung auf Geheimhaltung angewiesen ist, hilflos, nämlich schlafend, ausgeliefert sind. Bei diesem erneuten Zusammentreffen der beiden Frauen hat sich die Situation im Vergleich zur dritten Hochzeitsnacht grundlegend geändert. Nun ist es die Dämonin, die sich der Annäherung der Menschenfrau nicht erwehren kann. Durch Unterwerfung wird die dritte Ehefrau zum handlungsfähigen Subjekt, durch Wissensdurst findet sie Zugang zum dämonischen Element im Leben ihres Mannes. Sie eliminiert es allerdings nicht durch rationale Erforschung oder gezielte Manipulation, sondern ausgerechnet durch den Verzicht darauf. Die Kontrolle über die dämonische Macht wird, so scheint es zunächst, nicht durch gezielte Analyse, durch Kampf oder Zwang erreicht, sondern ausgerechnet durch völligen Kontrollverzicht. Auf welche Weise genau kommt dann aber die Menschenfrau der Dämonin eigentlich zu nahe? Beim Eindringen in das Dämonenreich entdeckt die Ehefrau nichts, was die Dämonin nicht zuvor bereits angekündigt hat. Die Frau sieht keinen erschreckenden Schlangenschwanz, wie ihn Melusine besitzt, und sie erblickt auch keinen zuvor unsichtbaren Frauenkörper, wie es im Partonopier geschieht. Sie erfährt nichts von einer geheimen Identität und Herkunft wie im Schwanritter. Dass sie die Dämonin durch eine Berührung töten wird, weiß sie nicht. Der seltsame Widerspruch bezüglich des Tabubruchs mit Todesfolge hat in der Forschung für vielfältige Diskussionen gesorgt. Der Erzähler teilt mit, dass die Menschenfrau die Haare der Dämonin berührt habe. Die Dämonin selbst aber sagt: ‹ Lieber Mann, hier bin ich und muss sterben, weil deine liebe Frau hier gewesen ist und mich angerührt hat an meinen Füßen. 84 84 ל י ב ר מ א ן , א י ך ב י ן ד א א ו נ ' מ ו ש ש ט ע ר ב ן , ו ו ע ן ד י י ן ל י ב ו ו י י ב א א י ז ד א ג י ו ו ע ז ן , א ו נ ' ה ו ט מ י ך א ן ג י ר ו י ר ט א ן מ י י ן ב ו י ש ן . [S. 372]. ‹ Geschichte aus Worms › 188 Betraf die Berührung nun die Haare oder die Füße der nichtmenschlichen Frau, und ist hier überhaupt von ‹ Füßen › die Rede? Über die Übersetzung von מ י י ן ב ו י י ש ן besteht in der Forschung keine Einigkeit. Chanita Goodblatt übersetzt mit «my shame« und bezieht den Ausdruck auf das Haar der Dämonin. Jeremy Dauber schließt sich ihr hierin an. 85 Joachim Neugroschel übersetzt mit «my feet«. Anshel Levis altjiddischem Glossar zufolge ist diese Lesart sicherlich am sinnvollsten. 86 Dennoch gilt - gleich, ob man sich bei der Übersetzung für ‹ Scham › , für ‹ Haar › oder für ‹ Füße › entscheidet - dass das Wort und sein Sinn im Kontext der Erzählung rätselhaft bleiben. Bislang hat man sich entweder für ‹ Haare › oder für ‹ Füße › entschieden und die Lesart des jiddischen Textes danach ausgerichtet. Dazu lässt sich zweierlei anmerken: Der Widerspruch zwischen einer Berührung der Haare und der Füße ist weniger groß, als man auf den ersten Blick annehmen mag, obgleich sich Füße und Haupthaar an entgegengesetzten Enden des Körpers befinden und auch sonst meist nicht allzuviel miteinander zu tun haben. Das verbindende Element ist im vorliegenden Fall der Kontakt zum Erdboden, der offenbar nicht unterbrochen werden darf. Während er für gewöhnlich über die Füße der Dämonin hergestellt wird, sind es im Schlaf ihre Haare, die die Verbindung zum Boden bilden. Das Lösen der Verbindung stellt sich für die Dämonin als fatal heraus. Die dritte Ehefrau entzieht sozusagen das Begehren seiner Grundlage. Das Berühren der Füße bzw. des Haares besitzt zudem eine erotische Dimension, wodurch die ‹ Scham › ins Spiel kommt. Erotisches oder sexuelles Begehren kann auch als verschoben erscheinen - Haar und Fuß dienen dann nur als Ersatz für das tatsächliche Objekt des Begehrens, wie Sigmund Freud feststellt. 87 Die Geste der Unterwerfung, mit der die dritte Ehefrau ehrerbietig das Haar der Dämonin an einen angemessenen Ort legt, lässt auf eine enge und tiefgreifende Verbindung zwischen den beiden Figuren schließen. Dass diese Verbindung zwischen der verehrten und der verehrenden Frau ein erotisches Element beinhaltet, darauf deutet das Berühren ausgerechnet des Haares hin. 85 Vgl. Goodblatt , Women, S. 239. Dauber , Thinking, S. 29 sowie Dauber , Bedroom, S. 313. 86 Neugroschel , Dybbuk. Neugroschels Übersetzung befindet sich auf den S. 118 - 123. Seiner Lesart schließe ich mich nach einem freundlichen Hinweis von Erika Timm an. Vgl. auch Anshel Levi : An Old Yiddish Midrash to the ‹ Chapters of the Fathers › . Edited from the Manuscript with an Introduction and Annotations by Yaacov J. Maitlis . Jerusalem 1978 [hebr.], S. 195. 87 Sigmund Freud : Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), in: Studienausgabe Bd. V (FTB 7305). Frankfurt a. M. 1982 (Erstausgabe1905), S. 63 ff. Figuren des Begehrens 189 Nicht erst seit der Entwicklung der psychoanalytischen Deutungsverfahren des 19. und 20. Jahrhunderts wird es als sexuelle Handlung betrachtet. 88 Gut sichtbar wird die Bedeutung der erotischen Beziehung zwischen Menschenfrau und Dämonin, wenn man darauf verzichtet, sich auf eine vereindeutigende Lesart des Wortes ב ו י י ש ן festzulegen. Die Stelle ist für den modernen, möglicherweise auch für den frühneuzeitlichen Rezipienten ein ebenso schwer entzifferbares und deutbares Signal, wie es die Hand ist, die sich dem Protagonisten der Erzählung zu Beginn aus dem hohlen Baum entgegenstreckt. Gerade die Doppeldeutigkeit ist es, durch die der trügerische Bruch, die scheinbare Widersprüchlichkeit im Text zu einem Angelpunkt der Interpretation werden kann, von dem aus weitere Schichten der Erzählung freizulegen sind. Was geschieht, wenn man ב ו י י ש ן so liest, wie es Goodblatt und Dauber tun? Was, wenn die Ehefrau nicht nur Füße oder Haar, sondern auf irgendeine Weise tatsächlich auch die Scham der Dämonin berührt hätte? Dies wäre nach dem Anstecken des Rings im ersten Handlungsteil der zweite symbolische Liebesakt, von dem in der Geschichte aus Worms erzählt wird. Der Vollzug dieses speziellen Akts zwischen den beiden Frauen verursacht den Tod der einen. Die Dreieckskonstellation kollabiert. Am Ende bleiben die beiden menschlichen Figuren allein aufeinander bezogen zurück. Um die Zirkulation dieses Begehrens zwischen drei Figuren, seine Entstehung wie auch sein Zusammenbrechen sichtbar zu machen, können die Überlegungen Jacques Lacans , René Girards und Eve Kosofsky Sedgwicks nutzbar gemacht werden. Nach Lacan kann sich das Begehren (désir) im Gegensatz zum Bedürfnis nur in der Interaktion mit anderen Personen und deren Begehren konstituieren. Eine Person kann nur etwas begehren, das sie weder besitzt noch jemals vollständig besitzen kann. Anders als das Bedürfnis, das sich am Objekt stillt und zu sich selbst zurückkehrt, umkreist das Begehren das Objekt, lädt es mit Bedeutung auf, speist das Verbotene mit Verheißungen und läßt den Mangel dort neu entstehen, wo er eben überwunden schien. 89 In seinem Begehren ist das Subjekt abhängig von dem anderen, von dem es sich Erfüllung durch eine Erwiderung des Begehrens erhofft. Dadurch, dass das 88 Zum Motiv des Haars in Volkserzählungen vgl. Ulrich Kuder : Art. Haar, in: EM 6, Sp. 337 - 343, hier Sp. 337 ff. Ergiebiger zur sexuellen Symbolik des Fußes, aber auch zu Fußwaschung, Fußkuss und Barfüßigkeit als Zeichen der Demut und der Unterwerfung vgl. Christoph Daxelmüller : Art. Fuß, in: EM 5, Sp. 600 - 610, hier Sp. 600 ff. 89 Gerda Pagel : Jacques Lacan zur Einführung (Zur Einführung 264). Hamburg 4 2002, S. 67. ‹ Geschichte aus Worms › 190 Subjekt im Grunde das Begehren des anderen begehrt, begehrt es auch aus der Perspektive des anderen. Das Objekt des Begehrens ist stets eines, das von einem anderen begehrt wird. Damit formuliert Lacan das Zusammenspiel von Ego, Objekt und ‹ dem anderen › , welches René Girard trianguläres Begehren (désir triangulaire) nennt. Dieses zeichnet sich, wie Girard in seiner Untersuchung zu den Figuren des Begehrens feststellt, 90 dadurch aus, dass ein Subjekt sein Verlangen nach einem Objekt nicht aus sich selbst, aus seinen eigenen Wünschen und Vorlieben schöpft, sondern das (reale oder imaginierte) Begehren eines anderen kopiert. Etwas zu begehren heißt demnach, sich mit einer verehrten Person zu identifizieren, deren Begehren man begehrt. Folglich sind am Prozess der Identifikation drei Instanzen beteiligt: das Subjekt des Begehrens, das Objekt des Begehrens und der Mittler des Begehrens. 91 Das Verhältnis des Subjekts zum Objekt überkreuzt sich dabei häufig auf komplexe Weise mit einem sich auf den Mittler richtenden Begehren, da «die Hinwendung zum Objekt im Grunde genommen Hinwendung zum Mittler« 92 ist. Eve Kosofsky Sedgwick wiederum konzentriert sich in ihrer Studie Between Men 93 auf eine besondere Form des von Girard beschriebenen triangulären Begehrens, nämlich auf das homosoziale Begehren zweier männlicher Rivalen, das auf dem Schauplatz einer dritten, weiblichen Figur ausgetragen wird. Indem das Begehren, wie Albrecht Koschorke es ausdrückt, den Blick auf ein ‹ externes › , im Modellfall heterosexuelles Objekt richtet, das mehr oder minder auf die Rolle eines bloßen Vehikels reduziert wird, stellt es sicher, daß der Mechanismus der Identifizierung unter Gleichen virulent bleibt und unendlich fortdauern kann. - Um den Preis der dritten Person, die stillschweigend einwilligt, 90 René Girard : Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh (Beiträge zur mimetischen Theorie 8). Thaur 1999 (französische Erstausgabe 1961). 91 Kra ßß , Mythos, S. 146. 92 Girard , Figuren, S. 19. 93 Eve Kosofsky Sedgwick : Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire (Gender and Culture). New York 1985. Zu René Girard und Eve Sedgwick vgl. auch Andreas Kra ßß : Der Rivale, in: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hg. von Eva E ßß linger , Tobias Schlechtriemen , Doris Schweitzer und Alexander Zons (stw 1971). Berlin 2010, S. 225 - 237; Andreas Kra ßß : Queer lesen. Literaturgeschichte und Queer Theory, in: Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik. Hg. von Caroline Rosental , Therese Frey Steffen und Anke Väth . Würzburg 2004, S. 233 - 248; vgl. auch Butler , Desire, S. 382 ff. Figuren des Begehrens 191 durch ihren Einschluß/ Ausschluß den homosozialen Verbund mit der nötigen libidinösen Energie auszustatten. 94 Wenn man davon ausgeht, dass sich in der Figur der Dämonin in der Geschichte aus Worms unter anderem der verschwundene Studienfreund Anschel und das sich auf diesen Mann richtende Begehren manifestieren, dann mag man annehmen, dass der Erzählung ein erotic triangle im Sinne Sedgwicks zugrunde liegt. Allerdings sind die Positionen der begehrenden und begehrten Figuren nicht vom Anfang bis zum Ende der Handlung fest verteilt. Im Folgenden wird daher zu untersuchen sein, auf welche Weise trianguläres Begehren in der Geschichte aus Worms konstruiert wird und welche Lesarten der Text zulässt, wenn der Rezipient durch das Drehen des Figurendreiecks die Perspektive wechselt und die verschiedenen im Text vorgenommenen Positionswechsel nachvollzieht. Der unsichtbare Dritte Zunächst ist es der Sohn des Ravs selbst, auf den alle anderen Figuren bezogen sind. Auf den ersten Blick scheint die Geschichte aus Worms davon zu handeln, dass ein Mann eine oder mehrere menschliche Frauen begehrt, und dass eine eifersüchtige Dämonin ihn daran hindert, sie zu heiraten. Auf wen sich sein Begehren aber zuallererst richtet, wird deutlich, wenn man noch einmal die Darstellung der Ereignisse durch den Protagonisten betrachtet. Er sagt selbst, dass er sich mit der Dämonin verlobt habe, weil er sie für Anschel hielt. Die Dämonin habe daraufhin seine ersten beiden Bräute getötet, die dritte aber habe ihn schließlich von der nichtmenschlichen Frau erlöst. Der Held begehrt ursprünglich den Spielgefährten im Baum, und er artikuliert dieses Begehren auch in Geste und Wort. Dies bleibt allerdings so lange ohne Folgen, bis eine dritte Figur auf den Plan tritt, welche die Beziehung zugleich gefährdet und ermöglicht. Das bedeutet: Das Begehren des Protagonisten richtet sich zwar unvermittelt auf das Objekt. Es kann aber erst sichtbar werden, als dieses Objekt durch ein anderes ersetzt werden soll. Das homosoziale Begehren wird durch den heterosozialen Kontrakt der Eltern der Brautleute angegriffen. Der ursprüngliche, in der Gartenszene geschlechtlich nicht bestimmte tatsächliche Verlobungspartner materialisiert sich als Reaktion auf das Begehren des Helden in weiblicher, bräutlicher Gestalt in seinem Schlafzimmer, sobald 94 Albrecht Koschorke : Die Figur des Dritten bei Freud und Girard, in: Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe. Hg. von Andreas Kra ßß und Alexandra Tischel (Geschlechterdifferenz und Literatur 14). Berlin 2002, S. 23 - 34, hier S. 33. ‹ Geschichte aus Worms › 192 sich darin die erste menschliche Braut aufhält. Diese stirbt bei dem Versuch, ihren Subjektstatus zu verteidigen; doch auch die dämonische Braut kann den Platz an der Seite des Bräutigams nicht einnehmen. Noch ein weiteres Mal weigert sich eine betroffene menschliche Braut, lediglich Schauplatz des Begehrens anderer zu sein und es mit stillschweigendem Einverständnis zu fördern. Ihre Unduldsamkeit wird von der Dämonin in gleichem Maß erwidert, wodurch abermals das Dreieck im selben Moment zusammenbricht, in dem es entsteht. Das Begehren wird erneut ausgesetzt - bis zur nächsten Hochzeit, bei der sich der Vorgang wiederholt. Daran wird zweierlei ersichtlich: Erstens kann das Begehren des Protagonisten ausschließlich in einer Dreieckskonstellation sichtbar werden, die eine vollständige Erfüllung des Begehrens verhindert und dadurch das Begehren selbst am Leben erhält. Das Dreieck des Begehrens muss dabei von allen Beteiligten aufrechterhalten werden. Zweitens verschiebt sich in dem Moment, in dem sich das Dreieck aus Subjekt, Objekt und Mittler bildet, die Position merklich: Der Mann ist nurmehr das Objekt des Begehrens, um das die beiden Frauen rivalisieren. Die ersten beiden menschlichen Bräute verstehen sich zwar offenbar als handelnde Subjekte ihres Begehrens. Da sie der Dämonin das gleiche Recht nicht zugestehen wollen, wird ihre Anwesenheit jedoch nicht lange geduldet. Übrig bleibt die Dämonin, die in der Zwischenzeit weder als Subjekt noch als Objekt des Begehrens in Erscheinung tritt. Erst mit dem Erscheinen der dritten Frau vervollständigt sich das erotische Dreieck längerfristig. Das Sichtbarwerden des Begehrens des männlichen Protagonisten hat zur Folge, dass von nun an das Objekt des Begehrens selbst Subjektstatus beansprucht, sich in menschlicher Gestalt manifestiert und zu handeln beginnt. Das Begehren der Rivalin Im zweiten Teil der Erzählung wird damit die Aufmerksamkeit des Lesers vom Handeln und Begehren des männlichen Protagonisten auf das der Dämonin gelenkt. Da diese erst in Erscheinung tritt, als es eine Rivalin zu bekämpfen gilt, erscheint ihr Begehren als wahrhaft mimetisch. Sie begehrt in weiblicher Gestalt, sie begehrt das, was die menschlichen Bräute besitzen und sie begehrt es auf die gleiche Weise wie sie. Das unterirdische Haus der Dämonin ist eine Kopie des Menschenhauses. Die beiden Betten, das menschliche und das dämonische, stehen übereinander. Die Dämonin macht geltend, das Objekt bereits begehrt zu haben, bevor der Rivale und Mittler auftrat, und ganz im Sinne Girards besteht Anlass, diese Behauptung in Zweifel zu ziehen und stattdessen anzunehmen, dass das Begehren erst durch die Konkurrenzsituation ins Leben gerufen wurde. Figuren des Begehrens 193 Es ist für das mimetische Begehren konstitutiv, dass seine Erfüllung nicht nur vermittelt, sondern auch zugleich erhofft und aufgeschoben wird. Aus diesem Grund führt der Mord an den ersten Bräuten nicht dazu, dass es zu einer Beziehung zwischen der Dämonin und dem Mann kommt: Das Wegfallen der vermittelnden Instanz lässt das erotische Dreieck zusammenbrechen. Es entsteht jedes Mal neu, sobald eine Menschenbraut ins Spiel kommt. In der dritten Hochzeitsnacht kommt die Dämonin der Erfüllung ihres Begehrens wieder, wenn auch auf andere Weise, sehr nahe. Als die menschliche Frau sich mit dem Tod bedroht sieht, beharrt sie nicht auf ihrer Position, sondern schlägt ihrer Rivalin die eigene Ersetzung vor. Sie sagt: ‹ Liebe Mutter - wenn es Euer Bräutigam ist, dann werde ich aufstehen und zulassen, dass Ihr Euch zu ihm legt › ( ד ר ו ם ל י ב י מ ו ט ר , א י ז ע ש א ו י י ע ר ח ת ן ד א ו ו י ל א י ך א ו י ף ש ט י ן , א ו נ ' ו ו י ל א ו י ך צ ו א י ם ל י ג ן ל ו ש י ן ). 95 Wenn die Dämonin dieser Ersetzung zustimmen würde, dann würde sie dadurch abermals mit ihrer Rivalin den für ihr eigenes Begehren unabdingbaren Mittler verschwinden lassen und auf diese Weise auch die Dynamik des Begehrens zum Erliegen bringen. Daher geht sie auf die Offerte der Frau nicht ein. Stattdessen erklärt sie sich dazu bereit, ihren exklusiven Anspruch einzuschränken und den Mann mit der anderen Frau zu teilen. Dadurch bleiben alle Positionen des Dreiecks besetzt. Die Dämonin kann nun mit dem Mann schlafen - zumindest wird im Text zuvor an keiner Stelle erwähnt, dass sich der Mann auch während seines Junggesellenlebens schon regelmäßig mit der Dämonin im Bett aufgehalten habe. Wenn man diesen Befund ernst nimmt, dann ist davon auszugehen, dass der Sex erst nach dem Abkommen mit der dritten Ehefrau möglich ist. 96 Insofern stellt der Handel zwischen den zwei Frauen tatsächlich ein Geschäft dar, bei dem beide etwas gewinnen. Andererseits besitzt die Dämonin den Mann nicht uneingeschränkt. Sie sieht ihn täglich nur für eine Stunde. Während dieser Zeit hält sie sich mit ihm im Bett auf, andere Bereiche des Zusammenlebens von Mann und Frau werden offenbar ausgespart. Dem Paar entsteht zum Beispiel, anders als den Helden in der Geschichte eines Amulettschreibers, der Geschichte eines armen Mannes und der Geschichte eines Königssohns keine halbdämonische Nachkommenschaft. Zudem werden die Dämonin und der Mann lediglich dabei beobachtet, wie sie das Bett teilen, nicht aber den Tisch: Dort war ein Tisch mit schönem Geschirr hergerichtet, aber niemand saß an dem Tisch. Nun gab es noch eine Tür, die aus dieser Kammer in eine andere Kammer 95 [S. 371]. 96 Das bedeutet auch, dass die Dämonin anscheinend erst dann mit dem Mann schlafen kann, nachdem dies die menschliche Frau getan hat. Hier wird bereits deutlich, dass die beiden Frauenfiguren einander zum Teil überlagern. ‹ Geschichte aus Worms › 194 führte, dort ging sie hindurch und fand ihren Mann mit der schönen Dämonin in einem seidenen Bett liegen. 97 Das Begehren der Dämonin speist sich gerade aus der Tatsache, dass es nicht in allen Bereichen, sondern nur unvollständig erfüllt wird. Aufgrund der Intensität der internen Vermittlung richtet es sich nicht ausschließlich auf den Mann. Die Dämonin kann ihre begrenzte Verfügungsgewalt über den Mann nur zum Preis einer gleichzeitigen Beziehung zu der Rivalin erlangen. Die Interaktion zwischen den beiden Frauen beschränkt sich freilich auf zwei Begegnungen: den Handel in der Hochzeitsnacht und die Berührung durch die Menschenfrau im Haus der Dämonin. Wenn man aber mit Girard annimmt, dass sich bei triangulärem Begehren die Gefühle des begehrenden Subjekts mitunter in stärkerem Maß auf den Mittler der Beziehung als auf das Objekt selbst richten, und wenn man bedenkt, dass die beiden Frauen mit demselben Mann schlafen, dann kann man hier durchaus auch von einem sich auf die Menschenfrau richtenden dämonischen Begehren sprechen. Zudem gilt: «Das Begehren gemäß dem Anderen ist immer das Begehren, ein Anderer zu sein.« 98 Was die Dämonin mit dem Mann tut, bedeutet keineswegs die Erfüllung unmäßiger, exotischer, die menschliche Vorstellungskraft übersteigender Lüste. Nichts an dem, was die Menschenfrau im Dämonenreich entdeckt, erweckt einen sonderlich dämonischen Eindruck, nichts wirkt gänzlich andersartig und nicht-menschlich. Das tägliche Stelldichein ist vielmehr in gewisser Weise ein defizitäres, da zeitlich und räumlich begrenztes und von außen bedrohtes Abbild menschlichen Ehelebens. Anders als die christlichen Nymphen äußert die Wormser Dämonin zwar nie das Verlangen, durch ihre Verbindung mit einem menschlichen Mann eine Seele zu erlangen und dadurch selbst menschlich zu werden. Auch sie aber setzt all ihre Bestrebungen daran, etwas zu bekommen, was einem Stück ehelicher Routine innerhalb der menschlichen Gesellschaft erstaunlich ähnelt. Die Dämonin kopiert das Begehren ihrer Konkurrentin nicht nur; sie wird zunächst selbst zu deren untergründigem Spiegelbild und geht dann noch darüber hinaus. Am Ende befindet sie sich in genau der Situation, in der sie die dritte Ehefrau in der Hochzeitsnacht angetroffen hatte: Hilflos neben dem schlafenden Mann im Bett liegend, der tödlichen Berührung der Konkurrentin ausgeliefert. Auf der paradigmatischen Textebene ist in diesem Moment aus der Dämonin eine Menschenfrau geworden - und aus der Menschenfrau eine Dämonin. 97 ד א ו ו א ר א י נ ן צ ו ט י ש ג י ר י י ט מ י ט ש ו י נ ן כ ל י ם , א ו נ ' נ י מ נ ט ז א ש א ן ד ע ן ט י ש . נ ו ן ו ו א ר נ ו ך א י י ן ט ו י ר א ו י ש ד ע ר ק א מ ר א י ן א י י ן א נ ד ר י ק א מ ר , ד א ג י נ ג ז י א א י י ן , א ו נ ' ו א נ ד א י ר ן מ א ן ל י ג ן א י ן א י י נ ם ז י י ד ן ב ע ט מ י ט ד ע ר ש ו י נ ן ש ד ה . [S. 372]. 98 Girard , Figuren, 91. Figuren des Begehrens 195 Vermitteltes Begehren und unmittelbare Handlungsfähigkeit Was begehrt die dritte Ehefrau, die sich im letzten Teil der Geschichte aus Worms zum Subjekt der Handlung macht? Augenscheinlich vor allem ihren Mann. Ihn verfolgt sie ins Reich der Dämonin, und ihn gewinnt sie am Ende ganz für sich, indem sie die Rivalin, mit der sie den Mann teilt, eliminiert. Insofern könnte man mutmaßen, dass sie von Eifersucht getrieben handelt, dass sie ihren Mann deshalb umso entschiedener für sich haben will, da eine andere Frau Anspruch auf ihn erhebt, und dass folglich die Dämonin den Anlass des Begehrens der Menschenfrau darstellt. Allerdings: In der Hochzeitsnacht ist es ausgerechnet die dritte Ehefrau, die im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen nicht um den Bräutigam kämpft, sondern ihn sogleich der Dämonin zu überlassen bereit ist. Im Reich der Dämonin wiederum arbeitet sie nicht zielgerichtet auf die Beseitigung der nichtmenschlichen Frau hin. Sie unterbricht das Verhältnis ihres Mannes zu der anderen Frau keineswegs absichtlich. Bedeutet das, dass auch die dritte Frau ein Interesse daran hat, die Dreieckskonstellation aufrechtzuerhalten? Möglicherweise benötigt sie diese nicht nur in Bezug auf die Beziehung zu ihrem Mann, sondern auch, weil sie selbst ein wie auch immer geartetes Begehren auf die Dämonin richtet. Der Mann ist Schauplatz des Begehrens zweier Frauen. Ein Anzeichen für die Plausibilität einer solchen Lesart ist die Tatsache, dass zwar die Dämonin und die Menschenfrau in einen Dialog miteinander eintreten, der Mann als Gesprächspartner aber fast nie eine Rolle spielt. 99 Als die Ehefrau ihren Mann und die Dämonin gemeinsam im Bett vorfindet, schenkt sie ihrem Gefährten keinerlei Beachtung. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die schlafende Dämonin. Diese ist, wie bereits erwähnt, ein Signifikant mit vielen Signifikaten. Im sozusagen wörtlichen Schriftsinn handelt es sich bei der Dämonin tatsächlich um eine nichtmenschliche Frau, die nach einer unbedachten Handlung des Hauptakteurs das Leben der Menschen beeinflusst. Im übertragenen Sinn ist sie zudem eine Verkörperung anderer Figuren, beispielsweise des verschwundenen Freundes Anschel oder des in den Hochzeitsnächten einschlafenden männlichen Protagonisten. Und nicht zuletzt kann die Dämonin auch für das Begehren der an der Handlung beteiligten Personen stehen. Aktantenlogisch mit Algirdas Julien Greimas ausgedrückt, kann die komplexe Figur der Dämonin ebenso wie die meisten nichtmenschlichen Protagonistinnen von 99 Der einzige Dialog, an dem der Sohn des Ravs überhaupt beteiligt ist, erfolgt zwischen ihm und Anschel, als dieser bestreitet, den Ring bei sich zu haben. Von einer wechselseitigen Unterredung mit einer der beiden Frauen hingegen wird nicht erzählt. ‹ Geschichte aus Worms › 196 Mahrtenehenerzählungen «unterschiedliche ‹ thematische › Rollen in sich vereinen und entsprechend als Bündelung verschiedener Aktanten verstanden werden«. 100 Das heißt: Mit dem Anrühren der Dämonin tötet die menschliche Frau zum einen die das Eheleben beeinträchtigende Nebenbuhlerin. Zum anderen schafft sie nicht nur eine konkrete Person, sondern auch das fehlgerichtete Begehren ihres Ehemannes aus der Welt. Wie das vor sich geht, erklärt sich durch das Begehren, das die menschliche Frau selbst mit der Dämonin verbindet. Zwar folgt sie ausdrücklich ihrem Mann ins Dämonenreich; dort angekommen, geht sie aber eben nicht auf ihn, sondern auf die andere Frau zu. Indem die menschliche Frau unautorisiert in den Bereich der Dämonin eindringt, sich der ihr ausgelieferten Dämonin nähert und sie in einer Geste von nicht nur größter Unterwürfigkeit, sondern auch von größter Intimität berührt, ignoriert sie den vermittelnden Ehemann. Sie wendet sich direkt an das eigentliche Objekt ihres Begehrens, und das ist augenscheinlich die Dämonin. Zwar verzichtet die Ehefrau nach ihrem Eindringen in das Schlafgemach der Dämonin auf Gewaltanwendung oder auf die Androhung von Gewalt. Der Erzähler stellt jedoch im gesamten Text immer wieder klar: Wenn die dritte Frau handelt, dann tut sie es auf der Grundlage ihrer eigenen Entscheidungen. 101 Auch wenn man darauf verzichtet, das Berühren des Haars als sexuellen Übergriff zu interpretieren, ist in dieser Szene doch unmissverständlich, dass die Ehefrau nach eigenem Gutdünken an der Dämonin handelt. Die Berührung ist, Freud zufolge, «der Beginn jeder Bemächtigung, jedes Versuchs, sich eine Person oder Sache dienstbar zu machen«. 102 Was die dritte Braut und spätere Ehefrau für sich beansprucht, ist nicht nur Reichtum, sondern auch Wissen, 100 Schulz , Spaltungsphantasmen, S. 239. 101 Vergleichsweise oft werden die Reflexionen der Frau über ihr Tun wiedergegeben: Zum ersten Mal, als es darum geht, ob sie den Protagonisten heiraten soll; später dann zweimal in kurzem Abstand, als sie sich dazu entschließt, ihrem Mann zu folgen. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, dass die Ehefrau auch anders handeln könnte. Die Entscheidung liegt in ihrer Hand. Vgl. dazu beispielsweise die sich aus Gedankenzitat und Gedankenbericht zusammensetzende Textpassage, die dem Abstieg der Ehefrau in die Welt der Dämonin vorausgeht: Sie dachte: ‹ Lieber Gott, soll ich hinabsteigen? Mein Mann ist gewiss dort hinabgestiegen. › Und sie bedachte sich gar lange, wie sie handeln solle. Dann aber ging sie hinab ( ל י ב ר ג ו ט , ז ו ל א י ך ה י נ א ב ג י ן ? מ י י ן מ א ן א י ז ג י ו ו י ש ד א ה י נ א ב ג נ ג ן . א ו נ ' ז י א ב י ד א כ ט ז י ך ג א ר ל א נ ג ו ו י א ז י א א י ם ז ו ל ט ט ו ן . א ו נ ' ד א ך ג י נ ג ז י א ה י נ א ב ). [S. 371]. 102 Sigmund Freud : Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Einleitung von Mario Erdheim (FTB 10451). Frankfurt a. M. 10 2007 (Erstausgabe 1913), S. 82. Figuren des Begehrens 197 Handlungsfähigkeit und Kontrolle, kurz: die Möglichkeit, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Beide Protagonistinnen der Geschichte aus Worms nehmen einen Gegenstand an sich, die Dämonin den Ring, die Menschenfrau den Schlüssel. Der Protagonist tritt unabsichtlich oder unwissentlich beide jeweils für eine Weile an eine andere Person ab. Der Unterschied zwischen dem Handeln der Dämonin und dem der Ehefrau besteht darin, dass die Dämonin den Verlobungsring des Protagonisten lediglich entgegennimmt, während sich die Ehefrau den Schlüssel zum Schlafzimmer ihres Mannes aktiv aneignet. Im Gegensatz zu der Dämonin handelt sie autonom. Anders als die nichtmenschliche Frau ist sie, um an das Objekt ihres Begehrens heranzukommen, nicht auf das Begehren eines anderen angewiesen. Sie begehrt Reichtum, Wissen und Handlungsfähigkeit nicht etwa mimetisch, weil die Dämonin dies tut. Diese ist weder Ziel noch Hindernis ihrer Bemühungen, sondern lediglich die Folie, vor der das Begehren der Ehefrau überhaupt erst sichtbar wird. Der einzige Mittler ihres Verlangens nach Reichtum und Ehre ( ע ו ש ר א ו נ ' כ ב ו ד ), 103 nach der Möglichkeit, Einfluss auf den Verlauf des eigenen Lebens zu nehmen, ist die umgebende Gesellschaft selbst, in der ein armer Mensch als toter Mensch betrachtet wird. In der Geschichte aus Worms wird vorgeführt, wie eine Ohnmächtige einem übermächtigen Partner gegenüber Handlungsfähigkeit entwickelt und einsetzt. Der dritten Ehefrau gelingt dies, indem sie eigenständig die vorgefundenen Rollen erst annimmt und dann verkehrt. In dem Moment, in dem die Frau die vormals von der Dämonin besetzte Rolle übernimmt, wird die Dämonin selbst überflüssig. Das, wofür sie steht, wird von der Ehefrau so vollständig angeeignet, dass die Figur der Dämonin selbst aus der Handlung verabschiedet werden kann. Das, was sie repräsentiert, ist auf die menschliche Ehefrau übergegangen. Damit führt die Frau etwas zu Ende, das sich seit den Vorbereitungen zur dritten Hochzeit angekündigt hatte: Zwar schlägt die Menschenfrau der Dämonin die eigene Ersetzung vor; tatsächlich setzt sie sich aber im Verlauf der Erzählung selbst an die Stelle der anderen Frau. Für den Rezipienten ist es schwierig, zu entscheiden, wer hier wen kopiert und wessen Begehren zuerst in der Welt war. Sowohl die Dämonin als auch ihre menschliche Gegenspielerin werden bei ihrer jeweiligen ersten Erwähnung als schönes Wesen ( מ ע נ ש ) bezeichnet. 104 Bei ihrer Hochzeit trägt das arme Mädchen ebenso kostbare Kleidung wie die Dämonin und erstrahlt in ebenso großer Schönheit wie diese. Ist das dämonische Wohnhaus ein Imitat des menschlichen oder umgekehrt? 103 [S. 372]. 104 [S. 370]. ‹ Geschichte aus Worms › 198 Die Figur der menschlichen und die der nichtmenschlichen Frau überlagern sich von Beginn an. Da erscheint es nur folgerichtig, dass die Ehefrau die Dämonin in dem Moment, in dem sie sie besiegt, schließlich in sich aufnimmt. 105 Nun wird auch verständlich, warum schließlich sogar der Ehemann aus seinem an einen beständigen Schlaf gekoppelten Verhältnis mit einer Dämonin zu neuer Handlungsfähigkeit erwachen kann: Sein erratisches, normverletzendes Begehren scheint stillgestellt. Zumindest wird es vollends unsichtbar, sobald die Dämonin mit der Ehefrau und das passionierte Begehren mit der gesellschaftskonformen Lebensgemeinschaft in eins fallen. Wovon also wird in der Geschichte aus Worms erzählt? Im Zentrum des Textes steht ein junger Mann, der den schwierigen Prozess des Erwachsenwerdens durchläuft. Er soll dabei den Ansprüchen an korrektes Verhalten gerecht werden, die das Leben in seiner Gesellschaft, verkörpert durch Mutter und Vater, mit sich bringt, und die da lauten: Ein Mensch soll fromm und gelehrt sein, einen passenden Partner heiraten und mit diesem Nachkommen in die Welt setzen, an die er die von den Eltern erhaltenen oder auf andere Weise erworbenen Besitztümer weitergeben kann. Das Leben des Jungen ist viel stärker als das seiner dritten Ehefrau bestimmt durch das, was andere, vor allem seine Eltern, von ihm verlangen. Der Protagonist und seine Eltern verkörpern die Vorstellung einer dynastisch strukturierten Aristokratie, deren Stabilität schon in Folge eines kaum bemerkten Fehltritts gefährdet wird und deren Angehörige sich der Dämonen verbotener Lüste, sobald sie einmal gerufen sind, nicht mehr alleine zu entledigen wissen. 105 Nun vereint die Protagonistin die zuvor getrennten ‹ thematischen Rollen › der Dämonin und des in der Figur der Dämonin gebundenen Freundes Anschel in sich. Folgt man dieser Lesart, dann kann von einer eindeutig männlich oder weiblich konnotierten geschlechtlichen Identität der Menschenfrau am Ende der Geschichte nicht mehr die Rede sein. Anders argumentiert Dauber , der sich bei der Interpretation des genders der Protagonistin auf den misogynen Erzählerkommentar über die Neugierde der Frauen und auf die Bereitschaft der Frau, den mündlichen Vertrag mit der Dämonin zu brechen, stützt. Dauber sieht im Bruch der Abmachung die Ablehnung einer zuvor angeeigneten Männlichkeit und damit «not just an embrace of the feminine, a transformation from a character who seems to have escaped the bonds of gender to one imprisoned by them«. Dauber , Bedroom, S. 159. Diese Deutung ergibt nur dann Sinn, wenn man sich der Wertung des Erzählers anschließt und davon ausgeht, dass die Neigung zum Brechen von Verträgen aufgrund von Neugierde eine grundsätzlich weibliche Eigenschaft ist. Dass man diese Eigenschaft in zeitgenössischen Texten auch Männern zuschreibt, deren ‹ Männlichkeit › bei aller moralischen Unzuverlässigkeit nicht in Frage gestellt wird, erweist sich beispielsweise an der Geschichte eines Jerusalemers. Vgl. Kapitel 5. Figuren des Begehrens 199 Das Verhältnis dieser Menschen zu Gott und zur Gelehrsamkeit spielt dabei, anders als in den mittelalterlichen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen, nur oberflächlich eine bedeutende Rolle. Die Protagonisten der Geschichte eines Amulettschreibers und der Geschichte eines armen Mannes sind erwachsene Männer, die unter schwierigen Bedingungen den Versuch unternehmen müssen, ihr Leben vor allem in religiöser Hinsicht neu zu ordnen. Elterliches Wunschdenken, das auf soziale Konformität zielt, wird hier nicht artikuliert. In der zweihundert Jahre später niedergeschriebenen Geschichte eines Königssohns hingegen wird diese Thematik erstmals akzentuiert: Nachdrücklicher als in der hochmittelalterlichen Geschichte von der Dämonin und der Quelle wird in diesem Text die Frage formuliert, was geschieht, wenn ein junger Mann von zuhause fortgeht und sich in der Ferne mit fremden Frauen einlässt. Die Geschichte wird dominiert von der Vorstellung, dass der Junge Gefahr laufen könnte, den Verlockungen der Fremde zu erliegen, seine Herkunftsgesellschaft im Stich zu lassen und nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Auch in der nochmals jüngeren Geschichte aus Worms wird von der Begegnung eines jungen Mannes mit fremden Personen, fremden Genüssen und fremdem Begehren erzählt, wobei die Verlockung sexueller Transgressionen stärker in den Fokus rückt als in der Geschichte eines Königssohns. In letzterer Erzählung besteht die Pointe zudem darin, dass das Fremde eben dort die größte Anziehungskraft besitzt, wo es hingehört, nämlich weit weg von allem Vertrauten und Bekannten. In der Geschichte aus Worms hingegen wird vermittelt, dass ein unerfahrener, unvorsichtiger Held nicht erst in die Wildnis hinausziehen muss, um dem Fremden zu begegnen. Es wohnt gleich nebenan. Wenn man sich damit einlässt, indem man einem wie auch immer als fremdartig charakterisierten Begehren nachgibt, dann kann es sein, dass es schon bald im eigenen Keller einzieht und später nicht mehr so einfach zu beseitigen ist. Allerdings zeichnet sich die Geschichte aus Worms gegenüber den anderen jüdischen Erzählungen über gestörte Mahrtenehen auch dadurch aus, dass hier nicht nur vom Erwachsenwerden eines jungen Mannes, sondern auch von der Selbstermächtigung einer jungen Frau erzählt wird. Die Figur dieser Frau, die aufgrund von Tugend und mehr noch aufgrund ihres Einfallsreichtums an die Spitze der Gesellschaft gelangt, weist große Ähnlichkeit mit den zeitgenössischen Aufsteigerfiguren der Romane Jörg Wickrams auf. 106 Wenn die junge 106 Zu den Bedingungen sozialen Aufstiegs bei Wickram vgl. beispielsweise Manuel Braun : Karriere statt Erbfolge. Zur Umbesetzung der Enfance in Georg Wickrams ‹ Goldtfaden › und ‹ Knaben Spiegel › , in: Zeitschrift für Germanistik 16,2 (2006), 296 - 313 sowie Stephan Pastenaci : Tragischer Liebestod versus sozialer Aufstieg in Georg Wickrams Prosaromanen ‹ Gabriotto und Reinhard › und ‹ Der Goldfaden › . ‹ Geschichte aus Worms › 200 Frau die gefährliche Dämonin ersetzt und im gleichen Zug inkorporiert, dann kann von einem vollständigen Exorzismus des dämonischen Fremdkörpers nicht die Rede sein. Er bleibt über das Ende der Geschichte hinaus anwesend, als unsichtbarer Anteil dessen, was als legitim und normgerecht gilt. So wird also nicht nur, wie in der Geschichte eines Königssohns, der Protagonist von der Fremde infiziert - die Infektion breitet sich in der jiddischen Erzählung auch auf die Frau aus. In der Geschichte aus Worms ist dies allerdings kein Schreckensbild. Auch diese Erzählung folgt, wie die Geschichte eines Amulettschreibers und teilweise auch die Geschichte eines Königssohns, dem einen der beiden Dämonenhochzeitsmodelle, das weder ein gewaltsames Ende der Beziehung noch den Tod des Helden vorsieht. Das Andersartige wird nur an der Oberfläche bekämpft und vertrieben. Auf einer anderen Ebene wird es akzeptiert und schließlich in angeeigneter Form eingemeindet. Solch ein glückliches Ende einer dämonischen Allianz, verbunden mit der positiven Botschaft, dass dem Rezipienten die Figur der menschlichen Frau als Vorbild dienen möge, ist offenbar dann möglich, wenn das Fremde in einen Teil der eigenen Gemeinschaft verwandelt wird. Für den im Exil lebenden Leser ist die Botschaft beruhigend: Der Kontakt mit dem, was als andersartig und fremd empfunden wird, muss nicht in einer Katastrophe enden, sondern kann sogar zuvor ungeahnte Handlungsspielräume eröffnen. Diese Handlungsspielräume aber stehen am Ende nicht nur den Protagonisten der Erzählung zur Verfügung, sondern auch den aufmerksamen Adressaten. 4.4 Die Lust am Text Die Geschichte aus Worms endet nicht mit der Befreiung des Mannes aus der Macht der Dämonin, sondern mit einer enigmatischen mise en abyme, die das bisherige Geschehen in einem anderen Licht erscheinen lässt. Nach dem Verschwinden der nichtmenschlichen Frau werden die verschiedenen Handlungsfäden zusammengeführt. Dies geschieht, indem die Eheleute einander von ihren jeweiligen Erlebnissen in Kenntnis setzen, und zwar öffentlich. Dabei werden allerdings nur die ersten zusammenfassenden Worte des Mannes in direkter Rede wiedergegeben. Der Bericht wird zuerst an alle versammelten Zuhörer adressiert, richtet sich dann aber ausschließlich an den Vater des Helden: Zwei Verlaufsvarianten einer Novelle von Boccaccio (dek. IV,I), in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 19,2 (1995), S. 49 - 58. Die Lust am Text 201 Nachdem die ganze Gemeinde gegessen und getrunken hatte und man die Segenssprüche sagen sollte, da sprach der Sohn des Ravs: ‹ Ihr lieben Herren, ich will keine Segenssprüche sagen lassen, bis ich nicht mitgeteilt habe, warum ich dieses Gelage ausrichten ließ. Lieber Vater, hier ist der Ring, den ich in einem Baum verloren hatte. Da habe ich mich mit einer Dämonin verlobt, denn ich dachte, es handele sich um den Jungen, den ich suchte. Die Dämonin hat mir meine ersten Bräute umgebracht. Meine liebe Frau hat mich von ihr erlöst. › Er erzählte die ganze Geschichte. Danach fing auch sie an zu sprechen, da sie seine Worte gehört hatte, und erzählte ebenfalls, wie es ihr ergangen war, von der ersten Hochzeitsnacht bis zur gegenwärtigen Zeit, als sie ihn erlöst hatte. So war also das arme Mädchen wegen seiner großen Frömmigkeit und Keuschheit zu Reichtum und Ehre gekommen. Darum soll jeder Mensch genau so handeln. Hier endet die Geschichte aus Worms. 107 Der Held der Geschichte aus Worms erzählt, was passiert ist, obwohl ihn niemand danach gefragt hat. Der unmittelbar anschließende Erzählerkommentar trägt nur scheinbar zum Verständnis der Festmahl-Szene bei: Die Moral der Geschichte, dass nämlich Frömmigkeit und Keuschheit mit Reichtum und Ehre belohnt würden und dass folglich das Beispiel des armen Mädchens als Vorbild dienen solle, bezieht sich lediglich auf das Verhalten der Frau. Warum aber erzählt der männliche Protagonist die ganze Geschichte? Die Passage sticht hervor, weil hier zum ersten Mal seit Beginn der Handlung der Held aktiv wird und zu sprechen beginnt. 108 An dieser Stelle wird eine Handlungsklammer geschlossen: Der Ring des Helden war nicht nur verloren, sondern auch vergessen worden und hatte somit eine zweifache Lücke hinterlassen. 109 Damit, dass der Protagonist den Ring zurückerhält, ist es nun offensichtlich nicht getan. Mit dem doppelten Verlust korrespondiert ein doppelter Wiedergewinn. Das, was das Abhandenkommen des Schmuckstücks impliziert, nämlich neben der mangelnden Handlungsfähigkeit auch die 107 א ו נ ' ד א נ ו ן כ ל ה ק ה ל ה א ט ג ע ש ן א ו נ ' ג י ט ר ו נ ק ן , א ו נ ' ד א ז מ ן ב ע נ ש ן ז ו ל ט , ד א ה ו ב ד ש ר ב ז ו ן ] א ן [ : ל י ב ן ר ב ו ת י י , א י ך ו ו י ל נ י ט ל ו ש ן ב ע נ ש ן ב י ז א י ך ה א ב ב ו ר ג י ] ז א [ ג ט ו ו א ר ו ם א י ך ד י א ] ס ע ו ד ה [ ה א ב ג י מ א כ ט . ל י ב ר ו א ט ר , ד א א י ז ד ש ו י נ ג ר ל ן ד ש א י ך ה א ב ו ר ל ו ר ן ג י ה א ט א י ן א י י נ ם ב ו י י מ א . ד א ה א ב א י ך א י י ן ש י ד ה מ ק ד ש ג י ו ו ע ז ן , ו ו ע ן א י ך ה א ב ג י מ י י נ ט ע ש ו ו ע ר ד ע ר ב ח ו ר ד ע ן א י ך ז ו י כ ט . א ו נ ' ד י א ש י ד ה ה ו ט מ י ר מ י י ן א י ר ש ט י כ ל ו ת א ו ם ג י ב ר ו כ ט , א ו נ ' ד א ז ל י ב ו ו י י ב א ה ו ט מ י ך ד ר ל ו י ז ט ב ו ן א י ר . א ו נ ' ד א ר צ י ל ט ד י א ש מ ו ע ה ג א ר . א ו נ ' ד ע ר נ ו ך ה ו ב ז י א א ו ך א ן , ו ו י י ל ז י א ב ו ן א י ם ה ו ר ט , א ו נ ' ד ע ר צ י ל ט א ו ך ו ו י א ע ש א י ר ו ו ע ר ג י ג א נ ג ן , ב ו ן ד ע ר א י ר ש ט נ א כ ט ב ו ן ד ע ר ב ר ו י י ל פ ט ב י ז א ו י ף ד י א צ י י ט , א ו נ ' ז י א ה ע ט א י ן ד ע ר ל ו י ז ט . א ו נ ' א ז ו ו ו א ר ד י א א ר י מ א מ י י ד א א י ן ע ו ש ר א ו נ ' א י ן כ ב ו ד ג י ק ו מ ן ב ו ן ו ו ע ג ן א י ר י ג ר ו ש י ו ר ו מ ק י י ט א ו נ ' צ נ י ע ו ת ו ו ע ג ן . ד א ר ו ם ז ו ל ע ש א י י ן א י ט ל י ך מ ע נ ש א ו ך א ז ו ט ו ן . ס ל י ק ז ה ה מ ע ש ה ב ו ן ו ו י ר מ ש . [S. 372]. 108 Dies hatten bisher vor allem die Dämonin und die dritte Ehefrau getan. Es scheint, als würde ganz zum Schluss der Mann in seine Rolle als Protagonist der Erzählung wieder eingesetzt. 109 [S. 368]. ‹ Geschichte aus Worms › 202 Unmöglichkeit der vollständigen Integration in die Gesellschaft, muss durch einen expliziten Akt der Verbalisierung entfernt werden. Wenn man davon ausgeht, dass der Held der Gewalt eines dämonischen, verbotenen Begehrens unterworfen war, welches absolutes Schweigen beanspruchte, dann sollte durch die Artikulation der Tatsache, dass und wie er davon erlöst wurde, dieses Begehren endgültig stillgestellt worden sein. Die Macht der Dämonin ist gebannt, mit der Rückgabe des Rings hat sie ihre Ansprüche zurückgezogen. Es ist, als habe sie mit ihrem Verschwinden die beiden Menschen in einem Kommunikationsvakuum zurückgelassen, in dem sie schweigend und isoliert drei Tage lang abwartend verharren, jeweils nur im Besitz eines fragmentarischen Wissens über die vergangenen Ereignisse. Um einen stabilen Bezugsrahmen für ein sozialkonformes Leben zu schaffen, genügt es anschließend offensichtlich nicht, lediglich innerhalb der ehelichen Dyade die fehlenden Wissenselemente auszutauschen. Ohnehin wird aus dem Text nicht deutlich, ob dem Helden überhaupt irgendwelche Informationen fehlen - jedenfalls begnügt er sich nicht damit, allein seine Ehefrau über Vorgeschichte und Ablauf seines dämonischen Seitensprungs in Kenntnis zu setzen. Das Gesamtbild wird stattdessen vor dem Vater und der versammelten Gemeinde zusammengesetzt. Dadurch, dass eine am Geschehen nicht unmittelbar beteiligte Zuhörerschaft installiert wird, nimmt der Bericht - vor allem die direkte Rede des Mannes - den Charakter eines Beichtgeständnisses an. Diese Form der ‹ Produktion von Wahrheit › ist weder eine Erfindung des Christentums noch ein Instrument, dessen Einsatz exklusiv dem kirchlichen Disziplinarapparat vorbehalten war. Auch in der jüdischen Geschichte aus Worms unterwirft sich der geständige Protagonist seinen Zuhörern und dem herrschenden Gesetz, und man darf vermuten, dass er dies paradoxerweise tut, um ganz frei zu werden von dem, was ihn zuvor zum Schweigen gezwungen hat. Dies entspricht der Logik der Verpflichtung zum Geständnis, von der Foucault sagt, dass sie so stark verinnerlicht wird, daß sie uns gar nicht mehr als Wirkung einer Macht erscheint, die Zwang auf uns ausübt; im Gegenteil scheint es uns, als ob die Wahrheit im Geheimsten unserer selbst keinen anderen ‹ Anspruch › hegte als den, an den Tag zu treten; daß es, wenn ihr das nicht gelingt, nur daran liegen kann, daß ein Zwang sie fesselt oder die Gewalt einer Macht auf ihr lastet, woraus folgt, daß sie sich letzten Endes nur um den Preis einer Art Befreiung wird äußern können. Das Geständnis befreit [. . .]. 110 Der Protagonist, gerade erst befreit von der Macht der Dämonin, begibt sich jetzt freiwillig in eine Beziehung, in der er sich seinem Vater, dem Partner seines Geständnisses, unterwirft und sich dadurch selbst zum Gegenstand des 110 Michel Foucault : Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. I (stw 716). Frankfurt a. M. 1983, S. 63. Die Lust am Text 203 Richtens und Urteilens eines anderen macht. Welche Wirkung der Akt des Bekennens auf den Helden der Geschichte aus Worms hat, erfährt der Leser nicht, und auch von der Reaktion des Vaters und des restlichen Publikums wird nicht mehr erzählt. Geständnisse von Tabubrüchen, die den künftigen Verzicht implizieren, dienen dazu, das Tabu als solches neu zu errichten. 111 Wenn aber in der Erzählung weder der Vater noch die Gemeinde in ihrer Funktion als Hermeneuten die Aufgabe übernehmen, das Gehörte zu interpretieren und die Verletzung des Tabus zur Wiedereinsetzung und Stärkung desselben nutzbar zu machen, dann fällt diese Aufgabe an den Rezipienten der Erzählung zurück. Der Leser - und das heißt wie immer: der implizite Leser, der über alle Rezeptionsstrategien verfügt, die in der Erzählung angeboten werden - hat die Wahl. Er kann sich auf die weibliche Protagonistin konzentrieren und sich mit dem moralisierenden Rat des Erzählers am Ende der Geschichte aus Worms begnügen. Diese Moral ist, ähnlich wie all die vordergründigen oder unterschwellig vorgebrachten moralischen Anleitungen in der Geschichte eines Königssohns, eine falsche Fährte, das Angebot einer vereinfachenden Lesart der Erzählung, das der Erzähler für den Leser bereitstellt. Wenn dieser auf das Angebot eingeht und der vorgeschlagenen Verengung des Blickfeldes auf die abschließende Moral folgt, dann wird die Geschichte auf den wenig komplexen kausalen Zusammenhang zwischen Tugend und Belohnung reduziert. Der Leser kann aber auch darauf verzichten, sich von der griffigen Schlusspointe der Erzählung verführen zu lassen. Was geschieht, wenn er sich der Geständnisse der Protagonisten annimmt, indem er «die Enthüllung des Geständnisses [. . .] durch die Entzifferung seines Gehaltes [verdoppelt]«? 112 In seiner Interpretation der Zusammenfassung durch den Protagonisten vervielfacht der Rezipient nochmals, was er in der scheinbar redundanten Duplikation des Erzählten bereits mehrfach erfahren hat. Doch was hat er überhaupt erfahren? Der Leser kann die Handlung bis zu dem Punkt nachvollziehen und deuten, an dem ihm mit der Zusammenfassung des Helden ein erstes Instrument zur Interpretation des Gelesenen bereitgestellt wird. Danach aber stößt er auf eine Leerstelle: Was der Protagonist seinem Vater und der Gemeinde anschließend tatsächlich erzählt, erfährt der Leser nämlich nicht. Und auch die Version der Geschehnisse, welche die Ehefrau verkündet, bleibt dem Rezipienten unzugänglich. Er muss davon ausgehen, dass es zusätzlich zu seiner eigenen Interpretation der Geschichte aus Worms noch mindestens zwei weitere mögliche Versionen gibt, die des Mannes und die der Frau, und dass seine einzige Chance, diesen womöglich abweichenden Lesarten auf die Spur 111 Das Tabu wird im Akt eines öffentlichen Formulierens von Verzicht und Reue wiedereingesetzt. Das Begehren bleibt dabei intakt. Vgl. Butler , Haß, S. 184. 112 Foucault , Wille, S. 70. ‹ Geschichte aus Worms › 204 zu kommen, darin besteht, die Geschichte von vorn zu lesen - einmal aus der Perspektive des Mannes und dann noch einmal aus der Perspektive der Frau. Hier endet die Geschichte aus Worms bedeutet dann in Wirklichkeit: ‹ Hier beginnt die Geschichte aus Worms. › Das Geständnis des Protagonisten und damit die ‹ Wahrheit des Textes › werden dem Leser in Aussicht gestellt, dann aber vorenthalten. Die Interpretationsarbeit erweist sich als endlose Aufgabe, die den Leser immer wieder von Neuem vor die Herausforderung stellt, die Wirkweisen des Textbegehrens zu ergründen. Das dämonische Begehren, welches im Text selbst erfolgreich stillgestellt wurde, infiziert in der «Lust an der Wahrheit der Lust, der Lust, sie zu wissen, sie auszukleiden, sie zu enthüllen, sich von ihrem Anblick faszinieren zu lassen« auch das, was außerhalb des Textes liegt. Die «Lust an der Analyse« 113 überträgt sich auf den Leser. Wenn dieser sich auf das Spiel mit ihr interpretierend, analysierend und nicht zuletzt lustvoll genießend einlässt, dann tritt der Dämon des Begehrens gewissermaßen aus dem Text heraus und in die Welt des idealen Rezipienten ein. 113 Foucault , Wille, S. 74. Die Lust am Text 205 5. Schwierige Deszendenz und gefährdetes Gesetz im 16. Jahrhundert: Die Verurteilung des Helden in der ‹ Geschichte eines Jerusalemers › und in der ‹ Geschichte Hoscheas › My Father, who was very ancient, had given me a competent Share of Learning [. . .], and design ’ d me for the Law; but I would be satisfied with nothing but going to Sea, and my Inclination to this led me so strongly against the Will, nay the Commands of my Father [. . .], that there seem ’ d to be something fatal in that Propension of Nature tending directly to the Life of Misery which was to befal me. 1 Ebenso wie in der Geschichte aus Worms wird auch in der Geschichte eines Jerusalemers, der heute bekanntesten und populärsten jüdischen Dämonenhochzeitserzählung, davon erzählt, mit welchen gesellschaftlichen Ansprüchen sich der männliche Protagonist konfrontiert sieht und wie er sich in einem komplexen Geflecht von unterschiedlichen Zugehörigkeiten, Abhängigkeiten und Verpflichtungen positioniert. Die Geschichte aus Worms handelt vor allem von verschiedenen Formen eines gefährlichen, kaum kontrollierbaren Begehrens, welches in den homo- und heterosozialen Allianzen der Protagonisten zutage tritt. Auch generationenübergreifende Beziehungen spielen dabei eine wichtige Rolle. So werden beispielsweise die Sorge einer Mutter um die Zukunft ihrer mittellosen Tochter sowie die Emanzipationsbemühungen eines Sohnes gegenüber seinem Vater thematisiert. Dieser letzte Aspekt nun erhält in der Geschichte eines Jerusalemers noch ungleich größeren Raum als in der Geschichte aus Worms. Auch bei der Geschichte eines Jerusalemers handelt es sich, in noch stärkerem Maß als bei der Geschichte aus Worms, um eine Emanzipationsgeschichte. Welche Folgen die Verweigerungshaltung des Helden gegenüber der väterlichen und göttlichen Autorität hat und auf welche Weise dadurch im Verlauf der Erzählung ein komplexer Diskurs über die Möglichkeiten von Gehorsam und Ungehorsam entsteht, wird im Folgenden gezeigt. Ziel der Untersuchung ist es darzulegen, wie in der Geschichte eines Jerusalemers die 1 Daniel Defoe: Robinson Crusoe. New York 2008 (Erstausgabe 1719), S. 5. Diskussion um erlaubtes und verbotenes erotisches Begehren zugunsten einer Auseinandersetzung um den Umgang mit den Geboten und Gesetzen väterlicher Instanzen zurücktritt. 5.1 Textüberlieferung und Textgestalt Der älteste überlieferte Textzeuge der Geschichte eines Jerusalemrs ist der Konstantinopler Erstdruck von 1516. Dieser Druck enthält neben der Geschichte eines Jerusalemers noch mehrere weitere erzählende Texte, darunter Midraschim über Moses und Aaron, einen frühmittelalterlichen Reisebericht, mehrere aggadische Erzählungen über den König Salomo, eine frühneuzeitliche Version des Tobitbuchs, einige Fabeln, eine Version der Geschichten Sendebars sowie eine satirische spanische Makama Don Vidal Benvenists aus dem Spätmittelalter. 2 2 In der Erzählung des Reisenden Eldad ha-Dani aus dem 9. Jahrhundert wird berichtet, wie der Protagonist Schiffbruch erleidet und knapp der Gefahr entgeht, in einem exotischen Land von Kannibalen aufgegessen zu werden. Eine Verbindung zur Geschichte eines Jerusalemers ergibt sich durch das Thema des drohenden Inkorporiert-Werdens in eine fremde Gemeinschaft. Was hingegen Don Vidal Benvenists Makama mit der Geschichte eines Jerusalemers gemein hat, ist eine Lehre, die dem Leser in beiden Texten ans Herz gelegt wird: Wer sich nicht demütig und gewissenhaft verhält, dem wird es früher oder später schlecht ergehen. «In a lengthy epilogue, Benveniste explains that his work is meant to be an enjoyable allegorical morality tale in which the arrogance and spiritual decadence of the protagonist lead him to ruin.« David A. Wacks : Toward a History of Hispano- Hebrew Literature in its Romance Context, in: eHumanista 14 (2010), S. 178 - 209, hier S. 197. Zur Perspektivierung der Geschichte eines Jerusalemers durch die Textgemeinschaft mit dem Tobitbuch vgl. ausführlich Kapitel 5.2.Allg. zu den in diesem Druck enthaltenen Texten vgl. den Eintrag in: The Bibliography of the Hebrew Book 1470 - 1960, URL http: / / www.hebrew-bibliography.com/ #info, letzter Zugriff am 10. 05. 2013. Vgl. auch Moritz Steinschneider : Catalogus Librorum Hebraeorum in Bibliotheca Bodleiana. Berlin 1852 - 1860, Nr. 3442, S. 528 f. Steinschneider gibt als Jahr des Erstdrucks einmal 1516, ein anderes Mal 1517 ( Steinschneider , Catalogus, S. 700) an. Die im Kolophon mitgeteilte Jahreszahl lautet 5277 seit der Erschaffung der Welt. Vgl. Epstein , Tales of Sendebar, S. 342 f.; Epstein , Vatican Hebrew Codex 100, S. 17. Dies entspricht nach christlicher Zeitrechung dem Jahr 1516. Zu den Geschichten Sendebars: Die Konstantinopler Druckfassung unterscheidet sich in vielen Details von den handschriftlichen Fassungen der Geschichten Sendebars aus dem 13 Jahrhundert, steht diesen aber insgesamt sehr viel näher als der kretischen Handschrift aus dem 15. Jahrhundert. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 208 Anders als die meisten anderen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen wird die Geschichte eines Jerusalemers seit ihrem Erstdruck sowohl in Lateineuropa als auch in Ländern unter muslimischer Herrschaft stark rezipiert. Die Erzählung wird bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts noch drei Mal in Italien neu aufgelegt: 1544 und 1605 in Venedig und 1647 in Verona. Vom 16. bis ins 20. Jahrhundert hinein wird der Text auch in Handschriften tradiert, wobei sich seine Gestalt stets mehr oder weniger an den Druckfassungen orientiert. Produziert werden diese Handschriften vor allem im Osmanischen Reich (zum Beispiel im heutigen Jemen) und in Italien. Ab dem 17. Jahrhundert wird die Erzählung zudem aus dem Hebräischen ins Lateinische, Jiddische und Deutsche übertragen. 3 Auch eine arabische Variante der Erzählung geht nach Nehemya Allony direkt auf den Erstdruck zurück. 4 Der Titel Maase schel Jeruschalmi, wie er in den Drucken verwendet wird, oder Maase Jeruschalmi, wie die Version des Titels in einer von R. Yehuda Leib Zlotnik edierten jemenitischen Handschrift lautet und wie er heute am geläufigsten ist, erscheint auf den ersten Blick rätselhaft: Nirgends im Verlauf der Erzählung wird erwähnt, dass der Protagonist aus der Stadt Jerusalem stammt, und auch sonst kommt dieser Ort in der Erzählung selbst nicht vor. Mit Michael Krupp kann man den Titel Geschichte eines Jerusalemers ganz allgemein im Sinne von Geschichte eines Juden verstehen. 5 Die Erwähnung Jerusalems stellt aus dieser Perspektive einfach eine ‹ jüdische Markierung › dar, eine wenn auch oberflächliche Formulierung des Anspruchs auf Unterscheidung von nichtjüdischen Erzählungen. Gerade die Tatsache allerdings, dass eine solche Markierung für nötig gehalten wird, lässt darauf schließen, dass die Erzählung als mit nichtjüdischen Texten durchaus vergleichbar oder sogar verwechselbar betrachtet wurde. Im Jahr 1931 veröffentlichte Moses Gaster erstmals eine englische Übersetzung der Erzählung. In seinen einleitenden Worten unternimmt er große Bemühungen, um die Vermutung zu entkräften, die Geschichte könne ursprünglich aus einem muslimischen Kontext stammen. «Mutual influences of course exist«, doch die Erzählung sei «so thoroughly Jewish in character and the incidents so peculiar that its Jewish origin cannot be doubted». 6 Seine 3 Zu genaueren Angaben zu den Übersetzungen vgl. auch Dan , Five Versions, S. 99 sowie Steinschneider , Catalogus, Nr. 4266, S. 700. 4 Vgl. Zlotnik/ Allony , Einleitung, S. 114. 5 Vgl. Michael Krupp : Vorwort, in: Der Jude und die Tochter des Dämonenfürsten. Eine jüdische Geschichte aus dem Mittelalter. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Michael Krupp . Jerusalem 2005, S. vii-xi, hier S. vii. Der von Krupp übersetzte Text stammt aus einer Handschrift wahrscheinlich persischer Provenienz aus dem 18. Jahrhundert. 6 Gaster, Fairy-Tale, hier S. 160. Textüberlieferung und Textgestalt 209 Annahme, dass die Geschichte eines Jerusalemers bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Ägypten und Spanien erzählt wurde und sich von dort aus rasch weit verbreitete, stützt Gaster auf die im Untertitel nicht nur des Erstdrucks vorgenommene Zuschreibung an Abraham ben Maimon. 7 Die inhaltliche und stilistische Ähnlichkeit mit nichtjüdischen orientalischen wie auch lateineuropäischen Texten nimmt Gaster zwar zur Kenntnis. Ihm ist es allerdings wichtig, nicht nur auf den ‹ jüdischen Charakter › des Textes hinzuweisen, sondern darüber hinaus die ursprüngliche Komposition in einem jüdischen Umfeld wahrscheinlich zu machen. 8 Problematisch an Gasters Vorgehensweise ist, dass sich aus der spezifischen Aneignung eines Stoffs oder Narrativs nicht umstandslos Rückschlüsse über seine Herkunft ableiten lassen. Daher sind auch Michael Krupps Ausführungen zur kulturellen Verortung und Datierung der Geschichte eines Jerusalemers wenig hilfreich, wenn er sich lediglich auf den «jüdischen Geist« und eine spezifisch «jüdische Atmosphäre der Erzählung« beruft. 9 Anders als Gaster bezweifeln Yehuda Leib Zlotnik und Joseph Dan die Zuschreibung der Erzählung an Abraham ben Maimon, den Sohn des Philosophen Maimonides, die im Erstdruck vorgenommen wird. Beide aber bekräftigen die bereits von Gaster geäußerte Annahme, dass der Text ursprünglich auf Hebräisch und nicht etwa auf Arabisch oder Persisch verfasst wurde. Während Dan den Text ohne weitere Begründungen ebenso wie Gaster ins 13. Jahrhundert datiert, nimmt Zlotnik an, dass seine Ursprünge im Babylonien der gaonäischen Periode, also im 7. bis 10. Jahrhundert liegen. 10 Während also Gaster und Zlotnik zugunsten eines außereuropäischen Ursprungs argumentieren, ist Joseph Dan vor allem daran interessiert, die 7 «Such a story would circulate among the Jews, especially in Spain, with whom the Jews of Egypt and the descendants of the famous Maimonides kept in close touch, and it would not be difficult for the story to be carried across the mountains and the incidents disseminated far and wide by the same intermediary of Jewish literature and Jewish tellers of stories, as has happened with so many oriental books [. . .].» Gaster , Fairy-Tale, S. 160 f. Gaster präsentiert hier auch eine Übersetzung des Textes ins Englische. Eine weitere Übersetzung befindet sich in: Mimekor Yisrael, S. 373 - 384. 8 «Throughout it is so thoroughly Jewish that only a Jew could have compiled it.« Gaster , Fairy-Tale, S. 159. 9 Vgl. Krupp , Vorwort, S. viiff. Krupp datiert die Erzählung auf das ‹ frühe Mittelalter › . Zur möglichen Entstehung der Erzählung in Babylonien oder Nordafrika sowie zu ihrer späteren weiten Verbreitung vgl. David Stern : Introduction [zur Geschichte eines Jerusalemers], in: Rabbinic Fantasies. Imaginative Narratives from Classical Hebrew Literature. Hg. von David Stern und Mark Jay Mirsky (Yale Judaica Series 29). New Haven, London 1998, S. 121 f., hier S. 121. 10 Vgl. Dan , Five versions, S. 100; Zlotnik , Ma ’ aseh, S. 25. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 210 (west-)europäischen Wurzeln und Quellen der Erzählung nachzuweisen: «We shall try to prove that in looking for the early history of this story we have to look West, not East.« 11 Führt man die Ergebnisse von Gaster , Zlotnik und Dan zusammen, dann muss man annehmen, dass sich in den überlieferten Textzeugen ursprünglich ‹ westliche › und ursprünglich ‹ orientalische › Quellen und Motive vermischen. Nun ist es allerdings nicht leicht zu bestimmen, welchem Kulturkreis ein Motiv zuzuordnen ist. Beim Motiv des verbotenen Zimmers aus der Geschichte eines Jerusalemers beispielsweise handelt es sich um einen Topos, der offenbar zu universell verwendet wird, als dass es sinnvoll ist, lange nach seinen Ursprüngen zu suchen. Er wird in der muslimischen ebenso wie in der christlichen Literatur verwendet 12 und begegnet sowohl in höfischen als auch in jüdischen Mahrtenehenerzählungen. Davon zeugen Melusines Badestube und der verschlossene Zugang zum Dämonenreich in der Geschichte aus Worms. Gottesfürchtige und gläubige nicht- oder halbmenschliche Wesen wiederum existieren in der jüdischen, christlichen und muslimischen Literatur. 13 Und selbst was literarische Versatzstücke angeht, deren Weg aus dem außereuropäischen in den europäischen Raum mehr oder weniger zweifelsfrei nachgewiesen werden kann: Wie sinnvoll ist es, von einem ‹ orientalischen Motiv › zu sprechen, sobald es einmal Eingang in die abendländische Literatur gefunden hat? Wunderbare Riesenvögel beispielsweise, die die Helden bedrohen, ihnen aber auch als Transportmittel dienen, begegnen im Mittelalter nicht nur in arabischen Dichtungen wie Tausendundeine Nacht, sondern auch in der Kudrun und im Herzog Ernst. Von dem Moment an, in dem man außerhalb des Orients damit beginnt, von Orientreisen zu erzählen, werden aus orientalischen Motiven orientalisierende. Sie geben somit mehr Aufschluss über die 11 Dan , Five versions, S. 100. 12 Vgl. E. Sidney Hartland : The Forbidden Chamber, in: The Folk-Lore Journal 3,3 (1885), S. 193 - 242. 13 Auch in diesem Fall sind die aussagekräftigsten Beispiele die christliche Melusine, die eifrig in der Synagoge betenden Dämonen in der Geschichte eines armen Mannes sowie diverse Dschinns, von denen es heißt, dass auch sie Adressaten der Botschaft des Islams seien: «Ihnen werden die gleichen Strafen angedroht und die gleichen Belohnungen versprochen wie den Menschen.« Peter Heine : Art. Djinn, in: Islam- Lexikon. Geschichte - Ideen - Gestalten. Hg. von Adel Theodor Khoury , Ludwig Hagemann und Peter Heine . Bd. 1. Freiburg, Basel, Wien 1991, S. 182 f., hier S. 183. Dschinns können sowohl gute Muslime als auch ungläubig sein. Von Mohammed wird im Koran berichtet, dass er einer Anzahl von Dschinns erfolgreich gepredigt habe. Vgl. dazu Paul Arno Eichler : Die Dschinn, Teufel und Engel im Koran. Lucka i. Thür. 1928, S. 32 ff. Textüberlieferung und Textgestalt 211 literarische Kultur, in der sie benutzt werden als über die, die sie angeblich beschreiben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass verschiedene Elemente der Erzählung, beispielsweise die Fähigkeit der Dämonen, große Entfernungen schnell zurücklegen zu können, aus literarischen Kulturen jenseits Europas Eingang in den Text fanden. Ebenso hinterließen auch ältere jüdische Traditionen in Form von Bibelzitaten und anderen intertextuellen Anspielungen deutliche Spuren. Und nicht nur das: Spielarten des Narrativs der gestörten Mahrtenehe sind, wenig überraschend, in der muslimischen Literatur ebenso bekannt wie in der christlichen (und darüber hinaus), wenn sie auch je nach Kontext auf unterschiedliche Weise dazu verwendet werden, bestimmte Problemkonstellationen zu thematisieren. 14 Der Teil der Geschichte eines Jerusalemers, der durch das Narrativ der gestörten Mahrtenehe strukturiert wird, kann daher ebenso von muslimischen wie von christlichen Vorgängertexten inspiriert sein. Eine Unterscheidung in ‹ westliche › und ‹ orientalische › Textanteile trägt letztlich, ähnlich wie im Fall der Geschichten Sendebars, weniger zum Verständnis der Erzählung bei als die Frage, warum sie in ausgerechnet dieser Gestalt zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird. Eine Hypothese über die Stoffgeschichte und die kulturelle Verortung des Textes lässt sich immerhin mit einiger Sicherheit aufrecht erhalten: Die inhaltliche Ähnlichkeit der Geschichte eines Jerusalemers vor allem mit der hochmittelalterlichen Geschichte eines armen Mannes spricht dafür, dass der Verfasser der jüngeren Erzählung mit einer oder mehreren europäischen Spielarten des Narrativs der gestörten Mahrtenehe vertraut war. 15 Attraktiv war die Erzählung jedenfalls, wie an der internationalen Handschriftenproduktion und den zahlreichen Übertragungen deutlich wird, sowohl für ein innerals auch für ein außereuropäisches Publikum. Es ver- 14 Auch im Islam geht man davon aus, dass es nichtmenschliche Wesen gibt, bei denen es sich weder um Engel noch um Teufel handelt und die sowohl untereinander als auch «mit ausgesuchten einzelnen Menschen geschlechtlich verkehren. Das im 14. Jh. n. Chr. abgefaßte, zentrale syst. Werk, nämlich ‹ A¯ ka¯ m al-marg ˘ a¯ n f ī ah. ka¯ m alg ˘ a¯ nn › von a š - Š ibl ī ging von der Frage nach ehelicher Verbindung mit ihnen aus«. Birgit Krawietz : Art. Dämonen/ Geister. VIII. Islam, in: RGG 2, Sp. 543 f., hier Sp. 543. Insgesamt wird von solchen Verbindungen jedoch abgeraten. Vgl. Pierre Lory : Sexual Intercourse between Humans and Demons in the Islamic Tradition, in: Hidden Intercourse. Eros and Sexuality in the History of Western Esotericism. Hg. von Wouter J. Hanegraaff und Jeffrey J. Kripal (Aries Book Series 7). Leiden 2008, S. 49 - 64. 15 Dies entspricht der Annahme Dans über die westeuropäischen Wurzeln der Erzählung, obgleich Dan die Geschichte eines armen Mannes nicht erwähnt. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 212 wundert daher nicht, dass der Erstdruck ausgerechnet in Konstantinopel erschien. 16 Diese Stadt besitzt im 16. Jahrhundert nicht nur die größte jüdische Gemeinde weltweit. Neben Venedig und Basel ist sie auch eines der bedeutendsten Zentren des Buchdrucks mit hebräischen Lettern. 17 Aus der berühmten Druckerei der Brüder David und Samuel Nachmias, die aus Spanien nach Konstantinopel gekommen waren, stammt die mit den Divre ha-Jamim schel Mosche Rabbenu beginnende Sammlung erzählender Texte, die die Geschichte eines Jerusalemers enthält. Die Übersiedelung der Nachmias-Brüder nach Konstantinopel steht exemplarisch für die jüdischen Migrationsbewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts, deren Ziel die Hauptstadt des Osmanischen Reichs zu dieser Zeit häufig bildet. Dort leben zur Zeit des Erstdrucks der Geschichte eines Jerusalemers Juden unterschiedlichster Herkunft. Außer den schon Jahrhunderte vor der osmanischen Eroberung in der Stadt ansässigen sogenannten Bne Romania oder Romaniot-Juden siedeln in Konstantinopel vor allem seit dem 15. Jahrhundert aschkenasische und italienische Juden. Nach 1492 und 1497 kommen politisch und kulturell einflussreiche Gruppen von Flüchtlingen aus Spanien und Portugal hinzu. 18 Im Osmanischen Reich mit den Zentren Konstantinopel, Saloniki und Edirne treffen die vertriebenen oder ausgewanderten europäischen Juden mit ihren jeweils eigenen spezifischen Formen des Gemeindelebens und ihren eigenen kulturellen Traditionen aufeinander. 19 Sie 16 Die Stadt Konstantinopel, die im Jahr 1453 von den Osmanischen Türken erobert und in Istanbul umbenannt wurde, wird in jüdischen Quellen der frühen Neuzeit meist weiterhin als Konstantinopel ( ק ו ש ט א ) bezeichnet. Vgl. Matt Goldish : Jewish Questions. Responsa on Sephardic Life in the Early Modern Period. Princeton, Oxford 2008, S. xxviii. In der Forschungsliteratur über das jüdische Leben in dieser Stadt ist daher meist von Konstantinopel die Rede und nicht von Istanbul. 17 Vgl. Abraham Yaari : Hebrew Printing at Constantinople. Its History and Bibliography (Supplement to Kiryat Sefer 42). Jerusalem 1967 [hebr.]. 18 Vgl. Avigdor Levy : Introduction, in: The Jews of the Ottoman Empire. Hg. und eingeleitet von Avigdor Levy . Princeton 1994, S. 1 - 150, hier S. 3 ff. Vgl. auch Mark Alan Epstein : The Ottoman Jewish Communities and their Role in the Fifteenth and Sixteenth Centuries (Islamkundliche Untersuchungen 56). Freiburg 1980, S. 20 ff. Elli Kohen : History of the Turkish Jews and Sephardim. Memories of a Past Golden Age. New York u. a. 2007, S. 20. 19 «In the fifteenth and sixteenth centuries, Jews fleeing from Spain and other European countries found in the Ottoman Empire a secure and friendly haven, which became home to the largest numbers of Jewish refugees from those countries. The European Jews brought with them their community life, institutions, culture, and scholarship. The resulting contacts and cross-fertilization between Jewish groups coming from different cultures and traditions [. . .] led to the emergence of a uniquely vibrant society, rich in culture and scholarship.» Avigdor Levy : Intro- Textüberlieferung und Textgestalt 213 unterhalten zudem weiterhin enge Handelsbeziehungen zu jüdischen Gemeinden in Mittel- und Südeuropa, 20 aber auch zu nichtjüdischen Partnern im Mittelmeerraum, in Russland, in Persien und sogar in Südostasien. Der interkulturelle Austausch zwischen verschiedenen jüdischen Gemeinden, aber auch zwischen Juden und Nichtjuden, der durch solche geschäftlichen Kontakte ermöglicht wird, schlägt sich unter anderem in der Erschaffung und Rezeption von Erzählungen mit sehr heterogenem Motivmaterial nieder. 21 Dass jüdische Erzählungen oder von einem jüdischen Publikum rezipierte Erzählungen aufgrund von Vertreibungen und der Mobilität jüdischer Händler - wie sie in der Geschichte eines Jerusalemers dargestellt wird - auch an geographisch weit entfernte Orte gelangen können, wurde bereits aus der duction, in: Jews, Turks, Ottomans. A Shared History, Fifteenth Through the Twentieth Century (Modern Jewish History). Hg. von Avigdor Levy . Syracuse, New York 2002, S. xvii-xxx, hier S. xviiif. 20 Vgl. Hayyim J. Cohen , Leah Bornstein-Makovetsky , Abraham Haim und Yaacov Geller : Art. Istanbul, in: EJ 10, S. 773 - 786, hier S. 775 f. «The constant travels of Ottoman Jews and their extensive family networks greatly aided their cultural and religious hegemony. These factors helped bridge geographical separations, keeping the Jews of these central communities in close contact with coreligionists around the Mediterranean rim.« Goldish , Jewish Questions, S. xxix. 21 Zum Zusammenhang zwischen Ausbau und Aufrechterhaltung eines ausgedehnten Handelsnetzwerks und Kontaktaufnahme auch jenseits der ökonomischen Sphäre vgl. Daniel Goffman : «Through their [der Juden, A. L.] ventures - often in concert with Ottoman Arab Muslims, Armenian Christians, Orthodox Greeks, and Turkish Muslims - commercial relations became cultural ties.» Daniel Goffman : Ottoman Empire and Early Modern Europe (New Approaches to European History 24). Cambridge 2002, S. 17. Dagegen bemerkt Leah Bornstein-Makovetsky kaum überzeugend in Bezug auf das Schaffen dichterischer, mystischer und philosophischer Literatur: «[. . .] there is no reciprocity or interplay between Jewish and non- Jewish spiritual life in the Ottoman empire. In the writings of the Sephardi sages one cannot detect any influence of the neighbouring Moslem or Christian cultures. The Jewish literary creations produced by the sages can be termed immanent, directly influenced by earlier literary tradition.« Leah Bornstein-Makovetsky : Structure, Organisation and Spiritual Life of the Sephardi Communities in the Ottoman Empire from the Sixteenth to Eighteenth Centuries, in: The Sephardi Heritage. Essays on the history and cultural contribution of the Jews of Spain and Portugal. Hg. von Richard D. Barnett und Walter M. Schwab . Bd. II. Grendon, Northants 1989, S. 314 - 348, hier S. 331. Sicherlich variiert der Einfluss der nichtjüdischen Umwelt auf die jüdische Literatur von Werk zu Werk. Die allgemeine und radikale Behauptung aber, die jüdischen Literaturschaffenden oder -tradierenden hätten ausschließlich auf jüdische Traditionen zurückgegriffen, ohne nichtjüdische Einflüsse zuzulassen, lässt sich auch dann nicht halten, wenn man zum Kreis der Autoren und Tradenten ausschließlich die sephardischen Gelehrten zählt. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 214 Tatsache ersichtlich, dass die jiddische Geschichte aus Worms, die von Ereignissen in einer rheinländischen Stadt handelt, im Norditalien des 16. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde. Ähnlich wie der oberitalienische Raum ist auch die Hauptstadt des Osmanischen Reichs, der erste Veröffentlichungsort der Geschichte eines Jerusalemers, in der Frühen Neuzeit ein Ort kultureller Konvergenzen. Die erste Drucklegung findet statt an einer Schnittstelle von Ost und West, an einem Ort des interkulturellen Austauschs zwischen Juden sephardischer, aschkenasischer und kleinasiatischer Herkunft. In der Geschichte eines Jerusalemers wird ein in Lateineuropa verbreitetes Narrativ in einen kulturellen Kontext adaptiert, in dem sich europäische und außereuropäische, jüdische, christliche und muslimische Traditionen berühren und wechselseitig beeinflussen. In noch höherem Maß als im Fall der Geschichte eines Königssohns geschieht dies in einer Epoche erhöhter Mobilität. Deren Herausforderungen hinterlassen auch in den in einem solchen Kontext von Bewegung, Berührung und Verschmelzung produzierten fiktionalen Texten Spuren. Diese Mobilität geht über die jüdischen Migrations- und Handelsströme zwischen Europa und der muslimischen Welt noch hinaus. Sicher nicht zufällig gelangt die Geschichte eines Jerusalemers zu einer Zeit an die Öffentlichkeit, in der das von jeher bestehende Interesse am Reiz und an den Gefahren exotischer Reiche und Wesen zusätzlich verstärkt wird durch die Entdeckung einer neuen Welt jenseits des Atlantischen Ozeans. Diese Neugier wird weiter stimuliert mittels der durch den Buchdruck erleichterten Produktion und Verbreitung von Schriftstücken, in denen Landschaften, Staaten, Gesellschaften und Geschöpfe jenseits des Meeres zum Thema werden. Die Geschichte eines Königssohns, die in einem vergleichbaren Umfeld wenige Jahrzehnte zuvor entstand, war in ihrer spezifischen Gestalt ein literaturgeschichtlicher Irrläufer geblieben. In der Geschichte eines Jerusalemers nun spricht das Narrativ der gestörten Mahrtenehe in Verbindung mit der innerhalb seiner paradigmatischen Fixpunkte entfalteten Thematik des coming of age eines jungen Mannes sowohl ein europäisches als auch ein außereuropäisches jüdisches Publikum an. Der Text stammt aus der gleichen Zeit wie die Handschrift, die die Geschichte aus Worms enthält, unterscheidet sich aber von dieser in überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht in einem wichtigen Aspekt: Die Geschichte aus Worms wurde mit großer Wahrscheinlichkeit sehr selten, vielleicht sogar nur ein einziges Mal handschriftlich aufgezeichnet und war somit nur einem vergleichsweise kleinen Rezipientenkreis zugänglich. Die Niederlegung des jiddischen Textes im Oberitalien des 16. Jahrhunderts lässt auf eine unter anderem konservatorische Absicht der Schreiber oder Auftraggeber schließen. Demgegenüber erreichte die hebräische Geschichte eines Jerusalemers durch die Verbreitung nicht nur in Handschriften, sondern Textüberlieferung und Textgestalt 215 auch in mehreren Druckfassungen ein weitaus größeres Publikum. Der Übertritt in das Druckzeitalter garantierte der Erzählung eine anhaltende Rezeption und den vermutlich höchsten Bekanntheitsgrad aller jüdischen Erzählungen über die Hochzeit eines menschlichen Mannes mit einer Dämonin. Zu den italienischen Nachdrucken und Manuskripten, die die Erzählung enthalten, treten zahlreiche im Osmanischen Reich produzierte Handschriften sowie eine interessante Variante der Geschichte, die ebenfalls in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Aschkenas handschriftlich festgehalten wird. 22 Es ist diese aus der Überlieferungssituation hervorgehende transnationale Anschlussfähigkeit, die die Geschichte eines Jerusalemers zu einem jüdischen Klassiker der Neuzeit werden lässt. Die Erzählung erscheint somit nicht nur erstmals an einer Schnittstelle zwischen Okzident und Orient. Sie bildet auch selbst eine literarische Brücke, die die beiden Bereiche miteinander verbindet. In ihr werden zudem die mittelalterlichen mit den frühneuzeitlichen Problemkonstellationen verknüpft, die im jüdischen Kontext unter Verwendung des Narrativs der gestörten Mahrtenehe eine zentrale Stellung einnehmen. Wie die Geschichte eines Amulettschreibers und die Geschichte eines armen Mannes handelt die Geschichte eines Jerusalemers von den Verpflichtungen erwachsener Männer gegenüber Gott und seinem Willen. Und wie in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle, in der davon abgeleiteten Geschichte eines Königssohns und in der Geschichte aus Worms wird von den Dilemmata junger Helden an der Schwelle zum Erwachsenwerden erzählt, von ihren verbotenen Lüsten und von der Brüchigkeit und gleichzeitig unhintergehbaren Verbindlichkeit personaler Beziehungen zwischen Allianz und Deszendenz. Inhalt und Struktur Bei der Geschichte eines Jerusalemers handelt es sich um eine drei Generationen umfassende Familiengeschichte, in der die Handlungen und Erlebnisse des Vertreters der mittleren Generation den größten Raum einnehmen. Ein Kaufmann, der mit Seereisen großen Reichtum erworben hat, lässt seinen einzigen Sohn, den Protagonisten der Erzählung, kurz vor seinem Tod auf die Tora schwören, sich niemals durch Handelsreisen auf dem Meer in 22 Zu dieser Variante, der Geschichte Hoscheas, vgl. Kapitel 5.5. Zu den verschiedenen jüngeren Handschriften, die die Geschichte eines Jerusalemers enthalten vgl. die Einträge im Online-Katalog der Handschriftenabteilung der Israelischen Nationalbibliothek (The National Library of Israel): http: / / aleph.nli.org.il/ F/ A3VKTQ A88KEKAFQ1I3G9HKJVFA834CA9CJPYDK2T37P6LTHSJB-31623? func=fin d-b-0&con_lng=heb, letzter Zugriff am 10. 05. 2013. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 216 Gefahr zu bringen. Der Sohn, von dem der Leser am Ende der Erzählung erfährt, dass sein Name Dihon bar Salmon lautet, hält das väterliche Gebot, bis er eines Tages von ehemaligen Geschäftspartnern seines verstorbenen Vaters aufgesucht wird. Diese überzeugen ihn davon, dass der Vater nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen sein könne, als er seinem Sohn den Schwur abnahm. Daraufhin bricht der Protagonist mit ihnen zu einer Seefahrt auf, um sich die von seinem Vater auf der anderen Seite des Meeres hinterlassenen Güter anzueignen und Handel zu treiben. Aus Zorn über den Eidbruch lässt Gott das Schiff in einem Sturm untergehen. Allein der Protagonist kann sich an ein fremdes Ufer retten. Dort entkommt er der Bedrohung durch einen Löwen, indem er auf einen Baum steigt. Im Wipfel trifft er auf einen gewaltigen Vogel, vor dem er sich nur schützen kann, indem er sich auf seinen Rücken setzt. Der Vogel trägt ihn über das Meer in die Ferne. Vor den Toren einer Synagoge fällt Dihon schließlich zu Boden. Von einem gnädigen Rav erfährt er, dass er sich in einer Stadt befindet, die von Dämonen bewohnt wird. Diese klagen ihn, nachdem sie seine Geschichte gehört haben, der Gebotsübertretung und des Eidbruchs an. Dem Todesurteil entgeht der Held mit der Unterstützung des Dämonenkönigs und obersten Richters Aschmedai, der sich die Toragelehrsamkeit des Helden zunutze machen möchte und ihm Ratschläge gibt, durch die er den Prozess für sich entscheiden kann. Der Dämonenkönig überträgt dem Menschen wichtige Funktionen in seinem Haushalt. Als Aschmedai eines Tages in den Krieg zieht, verbietet er dem Protagonisten, eine bestimmte Kammer zu betreten. Dihon tut es in Abwesenheit des Königs dennoch und findet darin die Tochter Aschmedais vor. Diese hilft ihm, der Strafe des Dämonenfürsten für diese abermalige Verbotsübertretung zu entgehen. Der Held leistet der Frau einen Treueschwur, heiratet sie und zeugt einen Sohn namens Schlomo mit ihr. Eines Tages bittet der Protagonist die Dämonin darum, vorübergehend zu seiner ersten Ehefrau und zu seinen menschlichen Kindern zurückkehren zu dürfen. Die Bitte wird ihm gewährt, und unter weiteren Eidbezeugungen reist er mit Hilfe eines blinden und buckligen Dämons zurück in seine Heimatstadt. Dort angekommen, bricht er neuerlich ein Versprechen, indem er sich weigert, nach Ablauf der vereinbarten Jahresfrist zu seiner dämonischen Ehefrau zurückzukommen. Nach mehreren Versuchen, den Helden umzustimmen, strengt die Dämonin vor einem menschlichen Gericht einen Prozess an. Der Mann wird vor die Entscheidung gestellt, entweder zu ihr zurückzukehren oder aber ihr den Scheidebrief auszustellen und ihr die im Ehevertrag festgelegte Summe auszuzahlen. Als Dihon die zweite Möglichkeit wählt, bedingt sich die Dämonin einen letzten Kuss aus und tötet ihn. Den gemeinsamen Sohn Textüberlieferung und Textgestalt 217 Schlomo setzt sie als Herrscher über die menschliche Gemeinde ein und kehrt in ihre Heimat zurück. Wie die Geschichte aus Worms endet auch die Geschichte eines Jerusalemers mit einer moralisierenden Sentenz: Hieraus folgt, dass kein Mensch dem Schwur des Herrn und dem Gebot des Vaters zuwiderhandeln soll. Ende. 23 Wie im Fall der älteren Dämonenhochzeitserzählungen und der Geschichte aus Worms erweist sich auch zur Gliederung der Geschichte eines Jerusalemers eine raumsemantische Perspektive als hilfreich. Unterschieden wird in diesem Text zwischen Menschen- und Dämonenreich. Der Protagonist beginnt seine Irrfahrt in der Menschenwelt, seiner Heimat. Er gelangt in die Fremde und damit über einige Zwischenstationen ins Land der Dämonen, wo er verschiedene Abenteuer erlebt und übersteht. Schließlich kehrt er in seine menschliche Heimat zurück. Dort endet die Erzählung mit dem Tod des Helden. Um von dem einen in den anderen Bereich zu gelangen, müssen jeweils gefährliche, langwierige oder auf andere Weise schwierige Reisen unternommen werden. Auffällig ist dabei, wie stark die menschliche und die dämonische Sphäre in der Geschichte eines Jerusalemers handlungslogisch miteinander verknüpft sind. Die Ereignisse im Dämonenland sind eine direkte Folge der Taten des Protagonisten in seiner Heimat. Was ihm wiederum nach der Rückkehr zu seiner ersten Ehefrau geschieht, lässt sich auf sein Verhalten sowohl in der Menschenals auch in der Dämonenwelt zurückführen. Die dämonische Sphäre wird von Beginn an als kaum von der menschlichen unterschieden charakterisiert. Zudem wird die Grenze zwischen den Bereichen zunehmend durchlässig. Zu Beginn begibt sich der Protagonist noch in mehreren Schritten immer weiter in fremdes Gebiet: Er geht auf dem Meer verloren, gelangt in ein unbekanntes Land, steigt auf einen riesenhaften Baum, gelangt schließlich auf einem großen Vogel abermals übers Meer und noch weiter fort. Schließlich fällt er im Land der Dämonen buchstäblich vom Himmel. Als Dihon später in seine Vaterstadt zurückkehren möchte, erscheint die Überbrückung der Entfernung zwischen den Regionen nur noch in 23 מ כ א ן ש א י ן ל א ד ם ל ע ב ו ר ע ל ש ב ו ע ת ה ש ם ו ל א ע ל מ צ ו ת א ב י ו . ת ם ו נ ש ל ם . [S. 393]. Der Text folgt der Ausgabe von 1946: Ma ’ ase Yerushalmi (The Story of the Jerusalemite). Attributed to R. Abraham B. Maimon. The Hebrew Versions of the Constantinople Edition and of a Yemenite Manuscript with an Introduction and Notes by Jehuda L. Zlotnik . A Bibliography and an Arabic Version Based Upon a Baghdad Manuscript with an Introduction by Nehemia Allony . Preface and Additional Notes by Raphael Patai (Studies in Folklore and Ethnology 1). Jerusalem 1946 [hebr.]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 218 zeitlicher Hinsicht als Problem - es dauert eine Weile, bis ein Dämon gefunden ist, der den Helden innerhalb eines einzigen Tages befördern kann. Als später schließlich auch die dämonische Ehefrau und ihr Gefolge die Schwelle zwischen menschlicher und dämonischer Sphäre überschreiten, spielen offenbar sowohl Zeit als auch Raum keine Rolle mehr. Über die Grenzüberschreitung selbst wird kein Wort mehr verloren. Die dämonische und die menschliche Welt scheinen nun so dicht nebeneinander zu liegen, dass die bloße Entscheidung, von einem Gebiet ins andere zu wechseln, mit der Realisierung des Wunsches schon beinahe zusammenfällt. In der Geschichte eines Jerusalemers ergeben sich, ähnlich wie in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle und in der Geschichte eines Königssohns, aufgrund von Wiederholungen paradigmatische Bezüge, die als Anhaltspunkte für mögliche Gliederungen der Erzählung dienen können. Anhand einer solchen Gliederung wird deutlich, dass der Autor der Erzählung mit den in der Tradition der Dämonenhochzeitserzählungen vertrauten raumsemantischen Grenzziehungen vor allem spielt, um sie letztlich als gegenstandslos zu entlarven. Die durch topographische Signale markierte Unterscheidung von Menschen- und Dämonenwelt wird erst evoziert und dann transzendiert. Bei dem, was der Held tut, ist es letztlich gleichgültig, ob es hier oder dort geschieht. Den ersten der drei wichtigsten Handlungsblöcke der Erzählung bildet die Geschichte eines Mannes, der das Gebot seines Vaters missachtet und von Gott dafür bestraft wird, indem er ihn in einem fernen Land in die Hände von Dämonen fallen lässt. Sein Leben kann er nur aufgrund der Unterstützung des Dämonenkönigs retten. Im zweiten Handlungsblock wird davon erzählt, wie der Held sich dem Dämonenkönig verpflichtet, seinen Anweisungen zuwiderhandelt und abermals nur knapp mit dem Leben davonkommt, dieses Mal mit Hilfe der Tochter des Dämonenkönigs. Im dritten Teil der Erzählung verletzt der Held die Gebote, die seine nichtmenschliche Frau ihm auferlegt hat. Dieses Mal wird er nicht gerettet, sondern bezahlt seine neuerliche Pflichtvergessenheit mit dem Tod. Gliedert man also die Erzählung weniger nach Räumen als vielmehr hinsichtlich der wiederkehrenden Fehltritte des Protagonisten, dann zeigt sich, dass es weniger die Grenzüberschreitungen zwischen Menschen- und Dämonenwelt sind, die den Rhythmus der Handlung vorgeben. Im Zentrum der Erzählung stehen vielmehr die Handlungsweise des Protagonisten sowie die Reaktionen der Personen, mit denen er es zu tun bekommt, sei es diesseits oder jenseits des Meeres. Was in dieser Welt versäumt wird, wird in der anderen gerächt und umgekehrt. Die Missetaten des Helden sind es, die die beiden Welten so nahe zusammenrücken lassen, dass die eine von der anderen schließlich nur noch einen Katzensprung entfernt zu sein scheint. Textüberlieferung und Textgestalt 219 Das Narrativ der gestörten Mahrtenehe strukturiert nicht etwa den gesamten Text, so wie dies bei den älteren oder den meisten zeitgenössischen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen der Fall ist, sondern nur den dritten und letzten Teil der Geschichte. Hier werden die Handlungsfixpunkte (Aufbau der Beziehung; Krise, die auf die Missachtung einer Bedingung folgt; Auflösung der Krise) nacheinander abgearbeitet. Eine der Pointen der Geschichte eines Jerusalemers besteht nun darin, dass der Teilplot, der sich gegen Ende der Erzählung auf der Grundlage des Narrativs entwickelt, in anderer Gestalt schon zuvor mehrmals durchgespielt wird. Die Verbindung mit der nichtmenschlichen Frau stellt in diesem Text also nur eine von verschiedenen Möglichkeiten dar, Verpflichtungen gegenüber anderen Personen einzugehen und sich ihnen später wieder zu entziehen. In jedem Teil der Erzählung leistet der Protagonist ein Versprechen, bricht dieses Versprechen und gerät daraufhin in Schwierigkeiten. Zwei Mal folgt auf die daraus resultierende Bedrohung eine Rettung, beim dritten Mal der Tod. Zu einem Ganzen verbunden werden die drei Handlungsteile durch das gemeinsame Thema von Regel und Regelbruch, Gebot und Gebotsverletzung. Zwei normative Anforderungen werden dabei besonders hervorgehoben: Die Verpflichtung gegenüber Gott, die ein Schwur im Namen des Herrn erzeugt, und die Bindung an das Versprechen, dem Gebot des Vaters Folge zu leisten - dies sind die beiden Verbindlichkeiten, mit denen der Protagonist der Geschichte eines Jerusalemers in unterschiedlichen Variationen wieder und wieder konfrontiert wird. Ein ums andere Mal zollt er dem von Vater, Schwiegervater und Ehefrau angeführten Gesetz zuerst Anerkennung, nur um diese später wieder zurückzunehmen. Die Dämonin fordert dementsprechend den Prozess in der Menschenstadt mit den Worten: ‹ Dieser Mann ist bei uns niedergefallen wegen seiner Sünden. Mein Vater hat ihm Gnade erwiesen, als er ihn aus der Hand der Dämonen rettete, die ihn töten wollten. Ich wiederum habe ihn aus der Hand meines Vaters gerettet, der ihn dafür töten wollte, dass er sein Gebot übertreten hat. [. . .] Er schrieb mir eine Ketuba mit einer hohen Summe und schwor mir, dass er mich niemals verlassen würde, sein ganzes Leben lang nicht. [. . .] Nun will er mir Gutes mit Bösem vergelten und nicht mit mir zurückkehren. › 24 Angeklagt wird Dihon des Ungehorsams gegenüber seinem Vater, gegenüber Aschmedai und gegenüber der Dämonin selbst. Nach der Tötung Dihons schließlich begründet die Dämonin ihr Handeln knapper. Die Treulosigkeit des Helden gegenüber dem Dämonenkönig wird nun nicht mehr erwähnt. Es 24 ז ה ה א י ש נ פ ל ב י נ י נ ו ב ש ב י ל ח ט א י ו , ו א ב י ג מ ל ע מ ו ח ס ד , ש ה צ י ל ו מ י ד ה ש ד י ם ש ר צ ו ל ה מ י ת ו . ג ם א נ כ י ה צ ל ת י ו מ י ד א ב י , ש ר צ ה ל ה ר ג ו ע ל ש ע ב ר מ צ ו ת ו . ] . . . [ ו כ ת ב ל י כ ת ו ב ה מ ס ך ג ד ו ל , ו נ ש ב ע ל י ש ל א י נ י ח נ י ל ע ו ל ם כ ל י מ י ח י י ו . ] . . . [ ו ע ת ה ר ו צ ה ל ש ל ם ל י ר ע ה ת ח ת ט ו ב ה , ו א י נ ו ר ו צ ה ל ש ו ב ע מ י . [S. 391]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 220 werden nur noch die Missetaten des Helden angeführt, die er in der Menschenwelt begangen hat: ‹ Dies ist dein Lohn dafür, dass du falsch geschworen hast im Namen des Herrn und dass du gelogen hast in Bezug auf das Gebot deines Vaters, und dafür, dass du mich verspottet hast und mich verlassen wolltest [. . .]. › 25 Durch diese Argumentation bindet die Sprecherin den dritten Teil, das Ende der Erzählung, an ihren Anfang zurück. Die Folgen seines anfänglichen negativen Verhaltens in der Welt der Menschen treffen den Protagonisten erst, nachdem er in diesen Bereich zurückgekehrt ist. In der Dämonenreich- Handlung wird aufgeschoben, was sich dann im abschließenden Teil der Menschenwelt-Handlung vollzieht. Daraus ergibt sich eine dreigliedrige Struktur der Erzählung, in der im Rückblick die Abenteuer Dihons in fernen Ländern als Umwege auf dem Weg des Helden in seinen Untergang wirken: Auf eine Verpflichtung und ihre Missachtung folgen erst eine weitere Chance und schließlich die Bestrafung. Durch diesen Dreischritt wird das ursprüngliche, sowohl väterliche als auch göttliche Gebot, dessen Verletzung trotz wiederholter Anläufe zu gebotskonformem Handeln immer neue Übertretungen nach sich zieht, am Ende durch die Dämonin als gültig bestätigt. Gleichzeitig entsteht dadurch, dass der Held für sein Vergehen nicht sofort bestraft wird, sondern im Verlauf seiner Reise weitere Schuld auf sich laden kann, Raum für eine komplexe Erzählung über Verbrechen und Strafe, Gehorsam und Abenteuerlust sowie über den Kampf um die Möglichkeit, eigene und damit möglicherweise auch falsche Entscheidungen treffen zu können. 5.2 Fremdes begehren Konzentriert man sich zunächst auf den Teil der Erzählung, der durch das Narrativ der gestörten Mahrtenehe strukturiert wird, dann stellt man mit Blick auf die älteren jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen schnell fest: Dihon bar Salmon befindet sich gegen Ende seines Lebens in einer ganz ähnlichen Situation wie der Protagonist der mittelalterlichen Geschichte eines armen Mannes. Er ist mit zwei Frauen zugleich verheiratet und hat mit beiden Frauen Kinder. Ein alltägliches Eheleben mit der ersten Frau ist nicht möglich. Als er seine dämonische zugunsten der menschlichen Ehefrau verlässt, tötet ihn die Dämonin. 25 ז ה ה ו א ש כ ר ך , ע ל ש ש ק ר ת ב ש ב ו ע ת ה ש ם ו ב מ צ ו ת א ב י ך , ו ע ל ש ה ת ל ת ב י ו ר צ י ת ל ה נ י ח נ י . [S. 392]. Fremdes begehren 221 Die Geschichte eines armen Mannes wird von einem zweifachen Begehren durchzogen. Der mittellose Gelehrte ist das Objekt des Begehrens zweier Frauen, die um ihn kämpfen und ihn dabei letztlich zugrunde richten. Zusätzlich steht der Protagonist zwischen ehelichen und religiösen Verpflichtungen, denen er unmöglich in gleichem Maß gerecht werden kann. Eine ähnliche Doppelung der Konfliktlinien weist auch die Geschichte eines Jerusalemers auf. Auch hier ist es nicht allein die Auseinandersetzung um eine überzählige Ehefrau, die den Helden ins Grab bringt. Aus der Perspektive des gesamten Textes bilden die Ansprüche der Dämonin vielmehr eine Wiederaufnahme und Fortsetzung der väterlichen Forderung nach Gehorsam. Bevor daher die grundsätzliche Auseinandersetzung des Helden mit den Ansprüchen seines Vaters im Mittelpunkt der Untersuchung steht, soll zunächst der damit zusammenhängende Konflikt beleuchtet werden, der aus der Verbindung mit einer unpassenden Frau erwächst. Hätte Dihon die Anweisungen seines Vaters befolgt, dann wäre er nicht in die Verlegenheit gekommen, seiner zweiten Frau erklären zu müssen, dass sie als Dämonin keine gute Partie und als Ehefrau für ihn nicht akzeptabel ist. Dies ist das Argument, mit dem Dihon seinen Sohn davon zu überzeugen versucht, dass er die Ehe mit der nichtmenschlichen Frau für beendet erklären müsse: ‹ Ich gehe nicht mit ihr! Sie wird niemals meine Frau sein und ich nicht ihr Mann, denn ich bin ein Mensch und sie ist eine Dämonin. Diese beiden Arten können nicht recht beieinander sein, denn das eine passt nicht zum anderen. › 26 Deutlicher als in der Geschichte eines armen Mannes wird hier zwischen einer angemessenen und einer aufgrund ihrer Andersartigkeit inakzeptablen Ehefrau unterschieden. Wie in der Geschichte aus Worms steht der Held zwischen einer gesellschaftlich anerkannten und einer ‹ unpassenden › Partnerin. Der Gegensatz kommt am Ende der Erzählung darin zum Ausdruck, dass die Dämonin den Protagonisten zunächst als Verführerin, dann als Gefährtin und Gebärerin, zuletzt aber als todbringende Verderberin heimsucht, während ihm die Menschenfrau nie etwas anderes als eine Gefährtin ist. 27 Als erlaubt oder verboten erscheinen die beiden Frauen jeweils erstens aufgrund ihrer menschlichen und vertrauten bzw. ihrer nichtmenschlichen und somit fremden Art. Zweitens unterscheiden sie sich dadurch, wie sie vom Protagonisten erworben werden. Dihons menschliche Ehefrau ist zum einen eine passende Gattin, weil sie ein Mensch ist, genau wie ihr Mann. Dieser betont 26 א י נ י ה ו ל ך ע מ ה , ו ל א ת ה י ה א ש ת י ל ע ו ל ם , ו ל א א נ י ב ע ל ה , ש א נ י ב ן א ד ם ו ה י א ש י ד ה , ו א י ן ה ד ב ר י ם מ ת א ח ד י ם ע ל נ כ ו ן ז ה ע ם ז ה , כ י ל א ר א ו י ז ה ע ם ז ה . [S. 390]. 27 Das verführerische Potential der Dämonin offenbart sich unter anderem darin, dass sie den Mann, der an der Schwelle zu der verbotenen Kammer steht, ausdrücklich zum Eintritt auffordert. [S. 384]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 222 während der Gerichtsverhandlung nochmals die Bedeutung der Gleichartigkeit der Ehepartner. Dabei stützt er sich durch die Verwendung wörtlicher Zitate auf die Autorität der schriftlichen und der mündlichen Tora, also der Bibel und des Talmuds: ‹ Vielmehr will ich zurückkehren zu meiner Frau, die ein Mensch ist wie ich, und ich will fruchtbar sein und mich vermehren [Gen 1,28], so wie es in unserer Tora geschrieben steht: Ich will ihm eine Hilfe machen, die zu ihm passt [Gen 2,18]. Diese da passt nicht zu mir, und daher begehre ich nicht, mit ihr zurückzukehren. Soll sie doch gehen und sich einen von den Dämonen nehmen, der so ist wie sie, dann wird Art bei Art sein [bChullin 97b]. Ich aber werde bei meiner ersten Frau bleiben, die die Frau meiner Jugend ist [Jes 54,6 f.]. › 28 Zum anderen wird die menschliche Frau, die ihrem Ehemann so vollkommen entspricht, von diesem nicht aktiv erworben. Sein Vater verschafft sie ihm, wie gleich zu Beginn der Erzählung mitgeteilt wird: Auch eine Frau gab er [der Vater] ihm. Der Sohn zeugte noch zu Lebzeiten seines Vaters Kinder. 29 Wie in der Geschichte aus Worms wird auch in der Geschichte eines Jerusalemers vorgeführt, dass eine akzeptable Ehefrau nicht vom Bräutigam, sondern von seinen Eltern ausgesucht werden sollte. Mit der Wahl des Vaters gibt Dihon bar Salmon sich allerdings nicht lange zufrieden. Der Zweck seines Auszugs von zuhause besteht zwar nicht darin, eine neue Frau zu finden und für sich zu gewinnen. Genau dies ist es aber, was er nach der Ankunft der fremden Seeleute tut. Seine Reise übers Meer gleicht den Brautwerbungsfahrten, wie sie aus der christlichen europäischen Literatur bekannt sind. Der größte Unterschied besteht darin, dass für Dihon, anders als für die höfischen Helden, eine gefährliche Brautwerbung gar nicht vorgesehen ist. Die Unternehmung löst sich folglich schon bald vom Modell populärer höfischer Erzählmuster. Dieses wird in sein Gegenteil verkehrt und erfährt dadurch eine deutliche Absage. Keine Empfehlung: Das höfische Modell der gefährlichen Brautwerbung Das Narrativ der ‹ gefährlichen Brautwerbung › umfasst in der höfischen Epik meist folgende Bestandteile: Der Protagonist tritt in den Herrschaftsbereich eines fremden Herrschers ein, um eine diesem Herrscher zugehörige Frau zu 28 א ל א א נ י ר ו צ ה ל ש ו ב ע ם א ש ת י ש ה י א מ ב נ י א ד ם כ מ ו נ י ו ל ה ת ע ס ק ב פ ר י ה ו ר ב י ה כ מ ו ש כ ת ו ב ב ת ו ר ת נ ו : ' א ע ש ה ל ו ע ז ר כ נ ג ד ו ' , ו ז א ת א י נ ה כ נ ג ד י , ו מ פ נ י כ ך א י נ י ח פ ץ ל ש ו ב ע מ ה , ו ת ל ך ה י א ו ת ק ח א ח ד מ ן ה ש ד י ם כ מ ו ת ה , ו י ה י ה מ י ן ב מ י נ ו , ו א נ י א ע מ ו ד ע ם א ש ת י ה ר א ש ו נ ה א ש ר ה י א א ש ת נ ע ו ר י ם . [S. 391 f.]. 29 ו נ ת ן ל ו א ש ה , ו ה ו ל י ד ב נ י ם ב ח י י ו . [S. 374]. Fremdes begehren 223 erwerben. Er gewinnt das Vertrauen des Herrschers und kann sich der begehrten Frau nähern. Durch eine List gelingt es ihm, sie mit sich heimzuführen. Falls der fremde Herrscher die Frau ebenfalls entführt und wieder mit zu sich nach Hause nimmt, dann muss sie ein zweites Mal geraubt oder erkämpft werden. Am Ende wird der Protagonist endgültig mit der Frau vereint. Verwendet wird dieses Narrativ im europäischen Mittelalter in den sogenannten ‹ Spielmannsepen › , etwa dem König Rother, dem Herzog Ernst, dem Orendel, Salman und Morolf sowie dem Münchner und dem Wiener Oswald. Es findet sich aber auch im Nibelungenlied, in der Kudrun, in Gottfrieds Tristan, in Reinbots von Durne Heiligem Georg und in vielen anderen hochmittelalterlichen höfischen Dichtungen. In vielen Romanen ist das Narrativ nicht die einzige Struktur, die den Text organisiert. Es kann sich durchaus auch mit anderen Narrativen überlagern und verbinden. Dies geschieht beispielsweise in manchen spätmittelalterlichen Minne- und Aventiure-Romanen, in denen zuweilen ebenfalls gleichzeitig von gefährlichen Brautwerbungen und gestörten Mahrtenehen erzählt wird. 30 Die gefährliche Brautfahrt des Protagonisten erfüllt in den meisten Fällen zwei Funktionen. In erster Linie dient sie dazu, dem Protagonisten eine passende Ehefrau zu beschaffen. Da der Brauterwerb mit bestimmten Schwierigkeiten und Gefahren verbunden ist, wird so zugleich eine Situation geschaffen, in der der Protagonist sich als Held bewähren kann und muss. Die Gewichtung der beiden Funktionen variiert von Text zu Text. Während beispielsweise im König Rother vor allem der Aspekt des Brautgewinns von Bedeutung ist, rückt dieses Motiv im Herzog Ernst in den Hintergrund. Hier ist der (scheiternde) Versuch, eine Prinzessin zu retten, nur einer von vielen Bestandteilen einer abenteuerlichen Orientreise, auf der vor allem die ritterlichen Fähigkeiten des Protagonisten auf die Probe gestellt werden. Untersucht man nun die Geschichte eines Jerusalemers im Hinblick auf das aus christlichen Texten bekannte Brautwerbungsnarrativ, so stellt man fest, dass hier beide Ziele, also exogame Heirat und Bewährung, dem Helden gleichermaßen versagt werden. Konsequenterweise wird das Narrativ in fast vollständig invertierter Form verwendet. Zunächst läuft die gefährliche Brautwerbung nach bekanntem Muster ab. Dihons Weg ins Land der Dä- 30 Zum Schema bzw. Schemabruch vgl. Schmid-Cadalbert , Ortnit, S. 80 - 100; Volker Mertens : Art. Brautwerberepos, Brautwerbungsmotiv; I. Allgemein, in: LMA 2, Sp. 592 f.; Martínez/ Scheffel, Erzähltheorie, S. 136 f. Zu Parallelisierung und Interferenz zweier narrativer Programme beispielsweise in Konrads Partonopier vgl. Schulz , Poetik, S. 90 ff. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 224 monen gleicht der Orientreise Herzog Ernsts: Auch Dihon gerät in Seenot und verliert die Kontrolle darüber, wohin ihn das aufgewühlte Meer trägt. Sowohl der christliche Ritter als auch der jüdische Kaufmann gelangen an einen verlassenen Ort, an dem sie vom Hungertod bedroht werden und den sie nur mit Hilfe großer Vögel verlassen können. Während Dihon auf dem Kifufa, einer Art riesenhafter Eule, ins Dämonenland reitet, lassen sich Herzog Ernst und seine Leute in Meerrinderhäute einnähen und von Greifen fortbringen. 31 Ganz wie der Herzog muss auch Dihon Mühsal erdulden und vielfältige Gefahren überstehen, und wie der Ritter trifft auch er auf exotische, fremdartige Völker, durch die er Bedrohung, aber auch Hilfe erfährt. Am Ende gelangen beide wieder zurück in ihre Heimat. Auch zur Handlung des König Rother oder des Münchner Oswald ergeben sich auffällige Parallelen. Wie diese beiden Könige zieht auch Dihon von zuhause fort in ein fremdes Land, und so wie diesen gelingt es auch ihm, sich die Tochter des ansässigen Herrschers gewogen zu machen und sie schließlich zu heiraten. Schon vor diesem Punkt allerdings beginnt das Brautwerbungsnarrativ in der Geschichte eines Jerusalemers in sein Gegenteil zu kippen. Der Protagonist setzt die Hochzeit nicht etwa nach seinen eigenen Wünschen und gegen den Willen des fremden Vaters oder Ehemanns durch - dem jüdischen Helden bleibt vielmehr gar nichts anderes übrig, als die von der Dämonin vorgeschlagene Heirat zu vollziehen. Hierin ergeht es ihm wie den Protagonisten in der Geschichte eines Amulettschreibers und in der Geschichte eines armen Mannes, die ebenso wie Dihon bedroht und zur Hochzeit gezwungen werden. Im Gespräch mit Aschmedais Tochter stellt sich schnell heraus, dass dem Brautvater eine Brautwerbung nach bewährtem Muster nur vorgespielt wird. Die Dämonin schlägt dem verängstigten Helden vor: Wenn mein Vater kommt und zu dir sagt «warum nur hast du mein Gebot übertreten und bist zu meiner Tochter eingetreten? « und wenn er dich dann töten will, sag zu ihm: «Mein Herr, ich wäre nicht eingetreten, wenn ich nicht deine Tochter sehr lieben würde, und ich bitte dich darum, sie mir zur Frau zu geben.« Ich weiß, dass er mit deinem Vorschlag einverstanden sein wird. Er wird mich dir geben. Denn seit du bei 31 Vgl. Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski (RUB 8352). Stuttgart 1998, V. 4165 - 4334. Auch in der Kudrun, einem weiteren Text, in dem verschiedene Brautwerbungen eine wichtige Rolle spielen, wird Hagen, der erste Protagonist, von einem Greifen in ein fernes Land entführt, wo er seine zukünftige Frau trifft. Zur Identifizierung des Kifufa als Eule oder Uhu vgl. Ernst Friedrich Karl Rosenmüller : Biblische Naturgeschichte. Bd. 4, Teil 2: Das biblische Thierreich. Leipzig 1831, S. 312. Fremdes begehren 225 uns bist, hat er sich vorgenommen, mich dir zu geben, da du ein Sohn der Tora bist. Es ist aber nicht Brauch, dass die Frau den Mann fordert. Eine Schande wäre es für einen König wie ihn, dich darum zu bitten, dass du seine Tochter nimmst. › 32 In dieser Geschichte wird ein Brautwerbungsmodell als bekannt und anerkannt vorausgesetzt, das allein den Mann zum Handeln bestimmt. Die Dämonin passt das Modell ihren Zwecken an und vertauscht die Geschlechterrollen, vertuscht aber zugleich ihre Manipulationsbemühungen. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass sie es ist, die in der Beziehung zu Dihon das erste und das letzte Wort hat - und zwar buchstäblich. Beispiele für die Verknüpfung des Brautwerbungsmit dem Mahrtenehennarrativ gibt es auch in der christlichen Literatur, und auch hier übernimmt zuweilen die Fee den aktiven Part. Partonopiers feenhafte Geliebte Meliur etwa setzt eine veritable Brautwerbung selbst in Gang und führt sie erfolgreich durch. Hier dient der Einsatz des Brautwerbungsmodells dazu, aus der Mahrtenehenerzählung einen ‹ Staatsroman › zum Zweck der Herrschaftslegitimation zu machen. 33 Die Geschichte eines Jerusalemers sieht die Möglichkeit einer solchen Konsolidierung und Anerkennung einer dämonischen Allianz nicht vor. Das Narrativ der gefährlichen Brautwerbung wird im Zusammenhang mit der Anbahnung der Mahrtenehe nur deshalb zum Einsatz gebracht, um mit dem Scheitern der Beziehung deren Aussichtslosigkeit und die grundsätzliche Fehlgeleitetheit von Dihons Handeln zu demonstrieren. Dadurch, dass die Brautwerbung als bloße Inszenierung entlarvt wird, erscheint das Ziel einer nutzbringenden Heirat, das ihr in der höfischen Literatur zugeschrieben wird, als gleichzeitig unerreichbar und ungewollt. Hier wird keine Frieden stiftende, sondern eine Unheil bringende Allianz geschaffen. Protagonist und Gesellschaft werden durch die Brautwerbung nach höfischem Muster nicht gestärkt, sondern gefährdet. Auf diese Weise dekonstruiert der Erzähler das höfische Brautwerbungsnarrativ ebenso wie die Vorstellung, eine Mahrtenehe könne in eine dauerhafte und glückbringende Beziehung überführt werden. Beiden Narrativen, deren Kern eine exogame Allianz bildet, erteilt er eine deutliche Absage. 34 32 ו כ ש י ב א א ב י ו י א מ ר ל ך , ע ל מ ה ע ב ר ת ע ל מ צ ו ת י ו נ כ נ ס ת א צ ל ב ת י , ו י ר צ ה ל ה ר ו ג א ו ת ך , א מ ו ר ל ו : א ד ו נ י , ל א נ כ נ ס ת י א ל א מ פ נ י ש א נ י א ו ה ב א ת ב ת ך מ א ד , ו א נ י ש ו א ל מ מ ך ש ת ת נ נ ה ל י ל א ש ה . ו י ו ד ע ת א נ כ י , ש י י ט ב ו ד ב ר י ך ל פ נ י ו , ו י ת ן א ו ת י א ל י ך , כ י מ ן ה י ו ם ש א ת ה ע מ נ ו , נ ת ן ע י נ י ו ב ך ל ת ת י א ל י ך , מ פ נ י ש א ת ה ב ן ת ו ר ה , א ל א ש א י ן ד ר ך א ר ץ , ש ה א ש ה ת ו ב ע ת ה א י ש , ו ג נ א י י ה י ה ל מ ל ך כ מ ו ה ו ל ש א ו ל ש ת ק ח ב ת ו . [S. 384]. 33 Vgl. Schulz , Poetik, S. 98. 34 Zur Signifikanz des Elements der Exogamie in der mittelalterlichen Brautwerbungsepik vgl. Thomas Kerth : King Rother and His Bride. Quest and Counter-Quests (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). Rochester 2010, S. 13 f. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 226 Aus diesem Grund endet die ‹ Brautfahrt › Dihons nicht wie in den meisten höfischen Romanen mit einer glücklichen, endgültigen Vereinigung des Paares, sondern mit dem Tod des Helden. Hier wird vorgeführt, dass eine Brautwerbungsfahrt nach höfischem Muster für einen jüdischen Helden nicht in Frage kommt. Dihon darf sich, anders als Orendel oder Herzog Ernst, nicht aus seiner Herkunftsgemeinschaft entfernen. Das bedeutet auch, dass er keine Möglichkeit zur heldenhaften Bewährung erhält. Dies wird ihm vom Vater ausdrücklich verboten, wenn dieser von ihm fordert, sich auf keinen Fall auf die gleiche Weise in Gefahr zu bringen, durch die er selbst zum Erfolg gelangt war: Auf dem Meer habe ich viel erlebt und vieles erfahren. Ich bitte dich, dich nicht in Gefahr zu bringen, um Besitztümer auf dem Meer zu erwerben, denn ich hinterlasse dir sehr viel Besitz. 35 Würde sich Dihon an die Anweisungen seines Vaters halten, dann käme er nie in Gefahr, eine exogame Verbindung einzugehen. Er besitzt ja schon eine passende Ehefrau. Wenn auch in der Erzählung das polygyne Verhalten des Helden nicht explizit problematisiert wird, so besteht doch die im Fall des Protagonisten der Geschichte aus Worms gegebene unbedingte Notwendigkeit, eine Ehefrau zu finden, um Nachwuchs zu zeugen, für Dihon nicht mehr. Zwar wird die Dämonin als observante Jüdin beschrieben, wodurch die Problematik einer Verheiratung außerhalb der Religionsgemeinschaft ausdrücklich verneint wird. Wenn Dihon jedoch am Ende der Erzählung die menschliche und die nichtmenschliche Frau miteinander vergleicht, dann wird aus seinen Worten deutlich, dass letztere für ihn dennoch nicht geeignet, da von gänzlich anderer Art ist. Deutlicher kann man eine Heirat außerhalb der eigenen Gemeinschaft, auch wenn diese in jenem Augenblick nicht religiös definiert ist, kaum verurteilen. Dihon nimmt die Dämonin zur Frau, obgleich sie ihm nicht entspricht. Er gerät damit in eine ähnliche Situation wie der Held der mit der Geschichte aus Worms gemeinsam überlieferten Geschichte aus Mainz. 36 Dieser rettet fern der Heimat eine Prinzessin. Im weiteren Verlauf der Handlung muss nun mit großer Dringlichkeit ein geeigneter Prinz beschafft werden, der die gerettete Prinzessin heiratet, damit der jüdische Held nach Hause zurückkehren und die dort für ihn wartende Frau heiraten kann. Während es dem stets korrekt und gottesfürchtig handelnden Protagonisten der Geschichte aus Mainz gelingt, die exogame zugunsten einer endogamen Verbindung abzuwenden, resultiert aus 35 ו כ מ ה מ א ו ר ע ו ת ו כ מ ה נ ס י ו נ ו ת ע ב ר ו ע ל י ב י ם , ב ב ק ש ה מ מ ך ש ל א ת ס כ ן ב ע צ מ ך כ ד י ל ה ר ו י ח נ כ ס י ם ב י ם , כ י א נ י מ נ י ח ל ך נ כ ס י ם ל ר ו ב . [S. 375]. 36 Zu Handschrift und Erzählung vgl. Kapitel 3.2.1. Fremdes begehren 227 Dihon bar Salmons verkehrter Brautwerbungsfahrt eine erzwungene exogame Heirat, aus der ihn nur der Tod befreien kann. Eine gefährliche Brautwerbung aus jüdischer Perspektive: Die Versöhnung von Bewährung und endogamer Heirat im Buch Tobit Doch wie sinnvoll ist es überhaupt, Dihons Reise mit den Reisen der höfischen Brautwerber zu vergleichen, wenn der Held der jüdischen Erzählung gar nicht vorhat, in fernen Ländern eine begehrenswerte Frau zu erobern? Das Argument, mit dem der Protagonist davon überzeugt wird, die Reise anzutreten, lautet, dass sein Vater in der Fremde gewisse Besitztümer hinterlegt hat, die es zurückzuholen gilt. Dass man bei solch einer Aktion ganz unvermutet auch zu einer Frau kommen kann, und dass solche gefährlichen Brautwerbungen auch für jüdische Helden durchaus möglich sind, das weiß der Rezipient, wenn er den Blick zum Vergleich auf jene Texte der jüdischen Tradition richtet, die angemessene und praktikable Modelle gefährlicher Brautwerbung zur Verfügung stellen. Eine literarische Assoziation wird dem Leser der Geschichte eines Jerusalemers dabei besonders leicht gemacht: die zu dem apokryphen Buch Tobit. Bei diesem antiken Text aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert handelt es sich um den ältesten, in dem der Dämon Aschmedai namentlich erwähnt wird. 37 Dass die Nennung seines Namens von den frühneuzeitlichen Rezipienten der Geschichte eines Jerusalemers als Intertextualitätssignal aufgefasst wurde, ist wahrscheinlich. Immerhin wurden beide Texte im Jahr 1516 im selben Druck veröffentlicht. Dies mag zunächst überraschen. Das Buch Tobit wurde zwar von christlichen Kommentatoren zu allen Zeiten rezipiert. 37 Auch auf die in Kapitel 1.3 erwähnte talmudische Erzählung über König Salomo und den Dämonenkönig Aschmedai wird in der Geschichte eines Jerusalemers verwiesen, wenn die Dämonen über ihren Herrn sagen, dass er jeden Tag sowohl in der himmlischen als auch in der irdischen Jeschiva studiere und daher in himmlischen und in irdischen Urteilssprüchen bewandert sei: ‹ Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn vor den König Aschmedai zu bringen. Denn dieser lernt immer in der himmlischen Jeschiva, und danach steigt er herab und lernt in der irdischen Jeschiva. Daher ist er bewandert in himmlischen und irdischen Urteilssprüchen. › [S. 383]. Damit ist bGittin 68a anzitiert, wo über Aschmedai gesagt wird: Jeden Tag steigt er auf den Himmel hinauf und besucht das himmlische Kollegium, sodann steigt er zur Erde herab und besucht das irdische Kollegium. Wäre Dihon bar Salmon tatsächlich ein so großer Gelehrter, wie er es von sich selbst behauptet, und kennte er seinen Talmud genau, dann müsste er wissen, dass mit dem Dämonenkönig, der selbst König Salomo zeitweise von seinem Thron vertrieb, nicht zu scherzen ist. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 228 Die Rabbinen hingegen zählten es ebenso wenig wie das Judithbuch zu den kanonischen jüdischen Schriften und verzichteten dementsprechend weitgehend darauf, sich exegetisch mit dem Text auseinanderzusetzen. Während das Christentum der Vormoderne sich das Buch Tobit vollständig aneignete, wurde es in der jüdischen Tradition bis zum 19. Jahrhundert kaum wahrgenommen. 38 Vollständig ignoriert wurde der Text aber auch im jüdischen Kontext keineswegs. Davon zeugt unter anderem die Aufnahme einer Version der Tobitgeschichte in Josef ben Meir ibn Zabaras Sefer Schaaschuim ( ‹ Buch der Vergnügungen › ) aus dem 12. Jahrhundert. Josef ibn Zabaras mittelalterliche Version des Stoffs weicht stark von den antiken Texten ab. 39 Der Konstantinopler Erstdruck hingegen, der auf mittelalterlichen Quellen beruht, unterscheidet sich von der antiken Version der Geschichte hauptsächlich in Details - wobei ein Vergleich gerade dieser kleinen Differenzen äußerst lohnenswert ist. Ähnlich verhält es sich mit einer weiteren Druckfassung des Tobit-Buchs, die schon wenige Jahre nach dem hebräischen Erstdruck, im Jahr 1519, in Konstantinopel erscheint. 40 Was die Geschichte eines Jerusalemers angeht, so wird für den modernen Rezipienten durch einen Vergleich der verschiedenen Konzepte von Hei- 38 Vgl. Shalom Goldman : Tobit and the Jewish Literary Tradition, in: Studies in the Book of Tobit. A Multidisciplinary Approach. Hg. von Mark Bredin (Library of Second Temple Studies 55). London 2006, S. 90 - 98. 39 In Josef ibn Zabaras Version ist die Geschichte von Saras Verheiratung mit Tobits Sohn nicht mit Tobias › Auszug von zuhause verknüpft. Sie wird einfach in äußerst knapper Form nachgereicht, nachdem der Erzähler von Tobits Heilung berichtet hat. Vgl. Joseph ben Meir Zabara: The Book of Delight. Translated by Moses Hadas. With an introduction by Merriam Sherwood . New York 1960, S. 94 f. 40 Dieser Konstantinopler Druck von 1519 bildet die Grundlage für die im Jahr 1542 von dem Reformator Paul Fagius veröffentlichte Version des Tobit-Buchs. Vgl. Loren T. Stuckenbruck : The ‹ Fagius › Hebrew Version of Tobit: An English Translation Based on the Constantinople Text of 1519, in: The Book of Tobit. Text, Tradition, Theology. Papers of the First International Conference on the Deuterocanonical Books, Pápa, Hungary, 20 - 21 May, 2004. Hg. von Géza G. Xeravits und József Zsengellér (Supplements to the Journal for the Study of Judaism 98). Leiden, Boston 2005, S. 189 - 219, hier S. 189 - 193. Zu den Drucken von 1516 und 1519 vgl. die Einleitung in: The Book of Tobit. Texts from the Principal Ancient and Medieval Traditions. With Synopsis, Concordances, and Annotated Texts in Aramaic, Hebrew, Greek, Latin, and Syriac. Hg. von Stuart Weeks , Simon Gathercole und Loren Stuckenbruck (Fontes et Subsidia ad Bibliam Pertinentes 3). Berlin, New York 2004, S. 32 - 37. Zu den mittelalterlichen hebräischen und aramäischen Fassungen des Tobitbuchs allg. vgl. auch Abraham Kahana : Ha- Sfarim ha-Chitzonim. Bd. 2. Tel Aviv 1956, S. 295 f. [hebr.]; zur Ausgabe von 1516 vgl. Kahana , Sfarim, S. 296 f.; vgl. auch Joseph A. Fitzmyer : Tobit (Commentaries on Early Jewish Literature). Berlin 2003, S. 11 ff. Fremdes begehren 229 ratsallianzen, die in der Version des Tobitbuchs von 1516 beziehungsweise in der mit dieser gemeinsam veröffentlichten Dämonenhochzeitserzählung präsentiert werden, ersichtlich, um welche Konflikte letzterer Text kreist. Die antike Erzählung handelt von dem frommen jüdischen Kaufmann Tobit, der mit seiner Frau und seinem Sohn Tobias im assyrischen Exil lebt. Nachdem er in Folge des heimlichen Begräbnisses eines ermordeten Juden sein Sehvermögen verloren hat, schickt Tobit seinen Sohn Tobias mit dem Auftrag auf Reisen, einen bestimmten Geldbetrag abzuholen, den er in früherer Zeit bei einem vertrauenswürdigen Mann hinterlegt hat. Mit Hilfe des ihn unerkannt begleitenden Engels Raphael gelingt es Tobias, nicht nur in Besitz des Geldes, sondern auch in Begleitung einer passenden Ehefrau nach Hause zurückzukehren. Es handelt sich dabei um Sara, eine Verwandte Tobits und Tobias › . Ähnlich wie der Protagonist der Geschichte aus Worms ist sie bereits mit mehreren Männern verheiratet gewesen. Diese waren stets in der Hochzeitsnacht von dem eifersüchtigen Dämon Aschmedai getötet worden. Tobias, beraten von Raphael, vertreibt Aschmedai, heiratet Sara und heilt nach seiner Rückkehr die Blindheit seines Vaters Tobit. Ebenso wie Dihons Vater Salmon belehrt auch Tobit seinen Sohn darüber, wie er sich in Zukunft zu verhalten habe. Bei den Instruktionen, die er Tobias mit auf den Weg gibt, handelt es sich zunächst um Auskünfte über die Verpflichtungen eines Kindes gegenüber seinen Eltern und über die Grundlagen eines gottesfürchtigen Lebens. Auf einige allgemeine Instruktionen folgt sodann eine explizite Aufforderung zur Endogamie. Tobit ermahnt seinen Sohn: ‹ Nimm eine Frau aus deiner Familie und nicht von irgendeinem Fremden, der nicht vom Samen deiner Väter ist. › (Tob 4,12) 41 41 ו ק ח ל ך א ש ה מ מ ש פ ח ת ך ו ל א מ כ ל ב ן נ כ ר א ש ר ל א מ ז ר ע א ב ו ת י ך ה ו א . Der frühneuzeitliche hebräische Text folgt der synoptischen Edition von Weeks , Gathercole und Stuckenbruck . Zu beachten ist, dass diese wie auch alle anderen Aufforderungen zur strikten ‹ lineage endogamy › sich ebenso in den frühneuzeitlichen hebräischen wie auch in den antiken griechischen Rezensionen des Tobitbuchs, nicht aber in der Fassung der Vulgata finden. Vgl. Thomas Hieke : Endogamy in the Book of Tobit, Genesis, and Ezra-Nehemia, in: The Book of Tobit. Text, Tradition, Theology. Papers of the First International Conference on the Deuterocanonical Books, Pápa, Hungary, 20 - 21 May, 2004. Hg. von Géza G. Xeravits und József Zsengellér (Supplements to the Journal for the Study of Judaism 98). Leiden, Boston 2005, S. 103 - 120, hier S. 109. Eine vergleichende Untersuchung der frühneuzeitlichen Transformationen des antiken Tobit-Stoffs im Hinblick auf die Frage nach Exogamie und Endogamie ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 230 Bereits Tobit selbst hatte eine Verwandte geheiratet. Die Verpflichtung, das Gleiche zu tun, kann Tobias schon bald einlösen. Der Engel Raphael unterstützt ihn dabei, indem er ihm rät: ‹ Bruder, wir werden im Haus Rauels übernachten. Er ist ein alter Mann und hat eine einzige schöne Tochter. Ihr Name ist Sara. Ich werde mit ihm sprechen, so dass er sie dir zur Frau gibt. Sie ist klug und wird von ihrem Vater geliebt. Und nun höre: sprich mit ihm darüber, und wenn wir aus Rages zurückkehren, richten wir die Hochzeit aus. Ich weiß, dass er sich dir nicht widersetzen wird. Er wird sie keinem Fremden geben, weil es so der Tora Mosis entspricht. Und wir werden sie zu deinem Vater bringen. › (Tob 6,10 ff.) 42 In Bezug auf Raphaels Anweisungen unterscheidet sich die frühneuzeitliche Version des Tobitbuchs von der antiken. In dieser lautet eine der Begründungen für die Hochzeit der zwei jungen Leute, dass eine solche endogame Allianz eine Möglichkeit darstelle, Besitz zusammenzuhalten. Von Raguel wird ausdrücklich gesagt, dass er ein Verwandter Tobias ’ sei und dass dieser einen Anspruch nicht nur auf die Frau, sondern auch auf deren zukünftigen Besitz habe. Denn, wie Raphael Tobias beispielsweise in der Version der Alcalà-Bibel (9./ 10. Jh.) informiert: Und du bist mit ihr näher verwandt als alle aus ihrem Stamm und es ist deine Pflicht, ihr ganzes Erbe und das gesamte Vermögen ihres Vaters in Besitz zu nehmen. Ich bin mir aber sicher, dass Raguel sie dir nicht verweigern wird. Er weiß nämlich, dass er, nach dem Urteil des Buches Mosis, sterben wird, wenn er sie einem fremden Mann gibt, und es ist ihm nicht unbekannt, dass dir viel mehr als jedem anderen das Erbe seines Hauses durch die Heirat mit seiner Tochter bestimmt ist. 43 Vermögen soll nicht zerstreut werden, so gebietet es Moses den nach den Gesetzen der Tora nicht erbberechtigten Töchtern eines Mannes, der ohne Sohn verstorben war: in der jüdischen wie auch in der christlichen Literatur (z. B. bei Jörg Wickram) steht noch aus. 42 א ח י ב י ת ר ע ו א ל נ ל י ן כ י ה ו א א י ש ז ק ן ו ב ת י ח י ד ה י ש ל ו י פ ת מ ר א ה ו ש מ ה ש ר ה ו א ד ב ר א ל י ו ש י ת נ נ ה ל ך ל א ש ה ו ה י א ט ו ב ת ש כ ל ו א ב י ה א ה ב ה ו ע ת ה ש מ ע נ י ו ד ב ר ב ע ב ו ר ה ו כ א ש ר נ ש ו ' ) ב ( מ ן ר ג א י ש נ ע ש ה ה ח ו פ ה ו א נ י י ד ע ת י כ י ל א י מ ר ה ה א י ש א ת פ י ך ו ל א י ת ן א ו ת ה ל א י ש ז ר כ ת ו ר ת מ ש ה ו נ ו ל י ך א ו ת ה א ל א ב י ך 43 Et tu propincus illi es pre omnes generis sui et tibi debitum est ut possideas omnem hereditatem illius et uniuersam substantiam patris eius. [. . .] certus sum autem quoniam Raguel non denegabit illam tibi. scit enim quia si dederit eam uiro alieno morte periet secundum iudicium libri Moysi nec ignorat tibi potius quam ulli alteri destinatam esse hereditatem domus sue in acceptione filie illius (Tob 6,12 f.). Ähnlich lautet der Text in der Version des Codex Regius 3564 (= Paris: Bibliothèque Nationale fond lat. 93) aus dem 9. Jahrhundert. Luthers Version hingegen ähnelt der hebräischen von 1516. Fremdes begehren 231 Lass sie heiraten, wie es ihnen gefällt; nur sollen sie heiraten in ein Geschlecht aus dem Stamm ihres Vaters, damit nicht die Erbteile der Israeliten von einem Stamm an den anderen fallen; denn ein jeder unter den Israeliten soll festhalten an dem Erbe des Stammes seiner Väter (Num 36,6 f.). Die Erbfolge innerhalb der Familie Tobits - beziehungsweise innerhalb seines Stammes Naftali - wird dadurch gesichert, dass die durch Blutsverwandtschaft bestehende Bindung des Erben an den Erblasser zusätzlich durch das Eingehen einer Allianzbeziehung gesichert wird. Will Soll zufolge dient dies der Wahrung des Besitzstandes: «In a situation where the daughter inherits, the marriage arrangement idealized in Tobit means that the wealth of ‹ good › Jewish families is not diluted; rather, their resources are pooled.« 44 Die Beispiele von Erbtochterehen aus dem vierten Buch Mose wie auch aus dem Buch Tobit illustrieren, dass den exogamen Tendenzen innerhalb des Judentums, wie sie sich in der mosaischen Gesetzgebung äußern, starke Faktoren gegenüberstehen, die endogames Verhalten begünstigen. 45 Das Argument des Erbes wird in der Version des Buchs Tobit von 1516 nur ganz am Rande erwähnt. 46 In dem frühneuzeitlichen Text wird vor allem eine zweite, implizite Begründung für Tobias › Allianz mit seiner Verwandten gegeben: Die eheliche Verbindung von Personen, die einander keine Fremden sind, dient der Bewahrung einer nach außen fest abgegrenzten Gemeinschaft von Menschen, deren Zusammengehörigkeit sich über die Zugehörigkeit zum väterlichen Stamm definiert. Diese Abgrenzung ist kein Selbstzweck. Beate Ego weist darauf hin, dass im Tobitbuch die Heirat unter Verwandten insofern religiös motiviert wird, als «für die Gegenwart des Exils [. . .] die Einhaltung des 44 Will Soll : The Family as Scriptural and Social Construct in Tobit, in: The Function of Scripture in Early Jewish and Christian Tradition. Hg. von Craig A. Evans und James A. Sanders (Journal for the Study of the New Testament, Supplement Series 154; Studies in Scripture in Early Judaism and Christianity 6). Sheffield 1998, S. 166 - 175, hier S. 173 f. 45 Vgl. Michael Mitterauer : Christentum und Endogamie, in: Historisch-anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen. Hg. von Michael Mitterauer (Kulturstudien 15). Wien, Köln 1990, S. 41 - 85, hier S. 60. 46 In Tob 8,21 weist Raguel Tobias an, nach dem Ende des Hochzeitsfestes die Hälfte seines Besitzes in Empfang zu nehmen. Den Rest werde er erhalten, sobald er selbst und seine Frau tot seien. Dass Tobias und Sara miteinander verwandt sind, erschließt sich nicht nur aus dem Gebot Tobits, sondern auch aus den Worten, mit denen Raphael Tobias in Tob 6,16 an dieses Gebot erinnert: ‹ Gedenke des Gebotes deines Vaters, der dir geboten hat, eine Frau aus der Familie deines Vaters zu nehmen. [. . .] Ich weiß, das du sie diese Nacht zur Frau nehmen wirst › ( ו ז כ ו ' ) ר ( מ צ ו ת א ב י ך א ש ר צ ו ך ש ת ק ח א ש ה מ מ ש פ ח ת א ב י ך ) . . . ( י ו ד ע א נ י ש ת ק ח א ו ת ה ה ל י ל ה ה ז ה ל א ש ה ). ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 232 Endogamiegebotes als die Realisierung der Tora schlechthin [erscheint]«. 47 Ein Leben nach den Gesetzen der Tora ist in der Diaspora nur dann möglich, wenn Ehen mit Nicht-Toragläubigen vermieden werden. 48 Nimmt man mit Will Soll an, dass dem Erzähler des antiken Tobitbuchs daran liegt, ‹ guten › jüdischen Familien langfristige Zukunftsperspektiven zu verschaffen, dann ist auch das Zusammenhalten des Erbes innerhalb solcher Familien eine Strategie, zusammen mit materiellem Reichtum auch tradierte Werte und Traditionen zu bewahren. Bei den Diskussionen um Erbe und Mitgift geht es aus diesem Blickwinkel auch immer um Fragen der jüdischen Identität. 49 Dieser Aspekt rückt mehr noch als jegliches finanzielle Argument in den 47 Beate Ego : ‹ Denn er liebt sie › (Tob 6,15 Ms. 319). Zur Rolle des Dämons Asmodäus in der Tobit-Erzählung, in: Die Dämonen. Die Dämonologie der israelitischjüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt. Demons (The Demonology of Israelite-Jewish and Early Christian Literature in Context of their Environment). Hg. von Armin Lange , Hermann Lichtenberger und K. F. Diethard Römheld . Tübingen 2003, S. 309 - 317, hier S. 312. Vgl. auch Pekka Pitkänen : Family Life and Ethnicity in Early Israel and in Tobit, in: Studies in the Book of Tobit. A Multidisciplinary Approach. Hg. von Mark Bredin (Library of Second Temple Studies 55). London 2006, S. 104 - 117. 48 «This sort of endogamy is a necessity to keep up the identity of the Jewish people in the diaspora.« Hieke , Endogamy, S. 112. Vgl. auch Soll , Family, S. 174 f. 49 Zum Zusammenhang von Diskursen über exogame Ehen oder Gruppengrenzen überschreitende sexuelle Beziehungen mit der Konstruktion von Gruppenidentitäten vgl. David Nirenberg : Communities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages. Princeton 1996, Kapitel 5: Sex and Violence between Majority and Minority, S. 127 - 165. Wenn eine Gemeinschaft als durch sexuelle Kontakte mit Fremden bedroht angesehen wird, dann drückt sich dies häufig in der Verwendung von Körpermetaphern aus: « › The group is likened to the human body; the orifices are to be carefully guarded to prevent unlawful intrusions. › The fears of pollution that arise when the boundaries of such groups come under pressure are expressed through metaphors of the body: the female body becomes the site of fears of penetration and corruption, the male of diffusion and enfeeblement.« Nirenberg , Communities, S. 152. Nirenberg zitiert hier Mary Douglas : Natural Symbols: Explorations in Cosmology. New York 1982, S. viii. Vgl. auch Mary Douglas : Purity and Danger: An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. Boston 1966, S. 122 - 128. Aus diesem Blickwinkel bildet der Körper Saras den Schauplatz eines Kampfes um die Reinheit oder Unreinheit der Gemeinschaft, von der die Frau ein Teil ist und die sie zugleich repräsentiert. Dihon bar Salmon hingegen wird durch seinen Kontakt mit der Dämonin nicht korrumpiert - das ist er bereits zuvor. Dass aber seiner exogamen Verirrungen wegen die Angehörigen seiner Heimatgemeinde durch die von der Dämonin erzwungene Einsetzung eines hybriden Nachkommens ihrer Entscheidungsfähigkeit beraubt und damit in ihrer Autonomie empfindlich geschwächt werden, liegt auf der Hand. Fremdes begehren 233 Mittelpunkt des frühneuzeitlichen Tobitbuchs, wenn Raguels einzige Veranlassung für die Verheiratung seiner geliebten Tochter mit Tobias darin besteht, dass er sie nach dem Gesetz Mosis keinem Fremden geben dürfe. Man mag fremd zunächst vor allem als ‹ nichtjüdisch › lesen. Im Mittelmeerraum des frühen 16. Jahrhunderts allerdings, in dem in vielen Metropolen unter christlicher und muslimischer Herrschaft jüdische Vertriebene, Emigranten und Reisende aus allen Teilen der bekannten Welt aufeinandertreffen, können als fremd durchaus auch andere Juden angesehen werden - vor allem dann, wenn sich die Frage stellt, ob man diese heiraten kann und soll, oder ob man sich seine Allianzpartner besser innerhalb einer enger definierten Gemeinschaft sucht. Die Diskussion um Exogamie und Endogamie im Buch Tobit lässt sich mühelos an die Geschichte eines Jerusalemers anschließen. Aus einem Vergleich der beiden Texte wird ersichtlich, welche Arten von Heiratsallianzen und des damit verbundenen Erwachsenwerdens eines jugendlichen Helden der Autor der frühneuzeitlichen Erzählung explizit ausschließt. Im Tobitbuch werden eine zulässige und eine unzulässige Verbindung einander gegenübergestellt. Die Verbindung Saras mit dem Dämon Aschmedai, der sie liebt und deshalb ihre Ehemänner tötet, wird mit einer scheidungsähnlichen Zeremonie beendet. Dies deutet darauf hin, dass Aschmedai zuvor Ansprüche auf die Frau erhob, als sei er ihr Ehemann. Noch vor dem Vollzug des Löse- oder Scheidungsrituals erhält der tatsächlich für Sara bestimmte Ehemann Tobias vom Vater der Braut einen Ehevertrag, mit dem die Rechtmäßigkeit der Ehe besiegelt wird. 50 Mit Aschmedai wird die Bedrohung durch das nicht mit der eigenen Herkunftsgemeinschaft identifizierte Fremde eliminiert. Da der dämonische Liebhaber als Ehemann auf keinen Fall in Frage kommt, muss und kann er mit göttlicher Hilfe entfernt werden. 51 Endgültig wiederhergestellt wird die durch den Dämon gestörte Ordnung dadurch, dass ein angemessener Bräutigam aus der Gemeinschaft der Braut den Platz des zerstörerischen Fremden einnimmt. In der Geschichte eines Jerusalemers hingegen wird die Entscheidung für den menschlichen Partner und die Ablehnung des nichtmenschlichen Kandidaten weniger eindeutig als die einzig mögliche und verständliche Handlungsweise dargestellt. Das nichtmenschliche Wesen, in diesem Fall eine Frau, kann durchaus berechtigte Ansprüche formulieren, die auch von den menschlichen Gelehrten anerkannt werden. Da die Verbindung von Aschmedais 50 Laut Beate Ego handelt es sich hier um die früheste Erwähnung einer Ketuba überhaupt. Vgl. Ego , Asmodäus, S. 314 sowie Frey-Anthes , Unheilsmächte, S. 292. 51 Aschmedai steht «dem Volk in der Diaspora gegenüber, weil er das Gesetz der Endogamie gefährdet«. Frey-Anthes , Unheilsmächte, S. 286. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 234 Tochter zur Menschenwelt nicht aus einseitiger Gewaltanwendung, sondern aus einem wechselseitigen, menschlich-dämonischen Vertragsverhältnis besteht, kann die Dämonin nicht einfach exorziert werden. Nicht sie stört die göttliche Ordnung, der menschliche Protagonist tut es. Der Schrecken, den die Geschichte eines Jerusalemers auslöst, besteht in der Vorstellung, dass der Mensch selbst für den Zugriff dämonischer Mächte auf seine Welt verantwortlich ist und dass in einem solchen Fall, anders als im Buch Tobit, auf göttliche Unterstützung nicht gezählt werden kann. Doch nicht nur die jeweiligen dämonischen Ehepartner, auch die Strategien des Erwerbs einer passenden Braut unterscheiden sich in den beiden Texten, obwohl die Ausgangslage die gleiche ist: Beide Helden sind jung und leicht beeinflussbar. 52 Ihren Vätern ist daran gelegen, die Wahl der Ehefrauen ihrer Söhne zu beeinflussen. Zudem haben beide Väter Ansprüche auf materiellen Besitz, der fern der Heimat treuhänderisch verwahrt wird. Einen bedeutenden Unterschied aber gibt es zwischen Dihons Vater Salmon und Tobias ’ Vater Tobit: Tobit verbietet seinem Sohn die Reise nicht, sondern schickt ihn explizit in die Fremde, um das hinterlegte Geld zurückzuholen. Dass dieser auf der Reise eine verwandte Erbtochter als perfekte Heiratskandidatin findet, ist also beinahe ein Nebenprodukt seines Auszugs von zuhause. Die Geschichte geht in jeder Hinsicht gut aus. Der Sohn wird zum Retter und Erwerber einer passenden Ehefrau, von deren Eltern er einst erben wird, er bringt das von seinem Vater hinterlegte Geld zurück, heilt diesen, zeugt Kinder und überlebt dank seines rechten Handelns gar den von dem Propheten Jona vorhergesagten Fall Ninives. Dieses glückliche Ende ist möglich, weil im Tobitbuch die Spannungen zwischen exogamen und endogamen Bestrebungen harmonisch aufgelöst werden. Die konkurrierenden Anforderungen des Knüpfens sozialer Netzwerke und der Bewahrung der Gruppenidentität durch Heiraten innerhalb der Familie, der Bewährung des Helden und der Verstetigung der verwandtschaftlichen Bindungen werden miteinander in Einklang gebracht. Exogame und endogame Ansprüche an das Subjekt miteinander zu harmonisieren ist dann möglich, so wird in der antiken Erzählung demonstriert, wenn das Subjekt sich den Geboten des Vaters fügt: Hierin verhält sich Tobias exemplarisch: «His excellence consists of his never failing readiness to do exactly as he is told.« 53 Sara ist zugleich nah und fern genug, um eine passende Ehefrau 52 Auch Dihon wird, obwohl er bereits verheiratet ist und Kinder hat, durch die Bezeichnung als ב ח ו ר als noch junger Mann charakterisiert. [S. 378]. 53 Hans J. Lundager Jensen : Family, Fertility and Foul Smell: Tobit and Judith, in: Studies in the Book of Tobit. A Multidisciplinary Approach. Hg. von Mark Bredin (Library of Second Temple Studies 55). London 2006, S. 129 - 139, hier S. 131. Fremdes begehren 235 abgeben zu können: Tobias wird das von ihrem Vater zu erwartende Erbe als einem sowohl Blutsals auch Affinalverwandten mit doppelter Zwangsläufigkeit zufallen, weil Sara zum selben Stamm gehört wie er und somit gänzlich von seiner Art ist. Andererseits wohnt sie in einer fremden Stadt und befindet sich in einer Notsituation, aus der Tobias sie erst retten muss. Er erhält somit nicht nur die Möglichkeit, Kontakte zu seinen entfernt lebenden Verwandten zu intensivieren oder neu zu knüpfen, sondern auch dazu, sich auf einer vollendeten gefährlichen Brautwerbungsfahrt zu bewähren und seine Fähigkeit und Rechtschaffenheit unter Beweis zu stellen. Die Notwendigkeit zur Bewährung des Helden und die Anforderungen endogamer Heiraten schließen einander im Buch Tobit also nicht aus. Im Text wird dargestellt, wie das Paradox der divergierenden Notwendigkeiten fruchtbar gemacht werden kann: Das Zusammenhalten einer durch die Stammeszugehörigkeit eng definierten Gruppe von Verwandten, eine Ausweitung des Netzwerks persönlicher Beziehungen und die Erprobung des Helden werden durch die gleiche Maßnahme gefördert. Die Interessen der Gruppe werden also gewahrt; zugleich wird dem Individuum zugestanden, den ihm bestimmten Platz innerhalb der Gemeinschaft aus eigener Kraft zu erkämpfen. Fremde Herrschaft Im Gegensatz zu Tobias wird der Held der Geschichte eines Jerusalemers von seinem Vater nicht in die Ferne geschickt, um das dort hinterlegte Geld zu holen und sich dabei möglicherweise auch gleich noch eine Braut einzuhandeln, die Dihon ja gar nicht mehr braucht. Im Gegenteil: Ihm wird genau das verboten, wozu Tobit seinen Sohn anweist und ermuntert. Dihon erwirbt keine passende Gattin, zu der ihn das Gebot seines Vaters führt. Indem er dessen Gebot ausdrücklich übertritt, erwirbt er ungewollt eine unpassende, gefährliche und noch dazu überzählige Ehefrau, derer er sich nicht mehr entledigen kann. Im Hinblick auf Dihons zweite, dämonische Ehefrau erscheint die erste Verbindung strukturell so endogam, wie die Hochzeit im Dämonenland ein exogamer Akt ist. Verstärkt wird dieser Eindruck durch intertextuelle Verweise auf zwei bekannte, unglücklich endende exogame Allianzen in der hebräischen Bibel, die in jene Passagen der Geschichte eines Jerusalemers eingeflochten sind, in denen vom Beginn der gestörten Mahrtenehe erzählt wird: Aufgerufen werden sowohl die scheiternde Allianz der Jakobssöhne mit den Sichemiten als auch Samsons ebenso unglückliche Begegnung mit einer Philisterin und deren Verwandten. 54 54 Vgl. Genesis 34 und Richter 14 sowie [S. 384]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 236 Betrachtet man Dihons Hochzeiten vor dem Hintergrund von Saras Kontakt mit der Sphäre der Dämonen im Buch Tobit, dann ergibt sich daraus, dass Dihon durch seine Heirat mit der auswärtigen, andersartigen Frau gegen die identitätsbewahrenden jüdischen Endogamiegebote verstößt. Die Dämonin ist das personifizierte Fremde, mit dem Kontaktaufnahme und gar Fortpflanzung unter allen Umständen vermieden werden sollen. Der menschliche Held selbst ist in seiner Unzuverlässigkeit dem Vater gegenüber dafür verantwortlich, dass eine fremde, dämonische Frau überhaupt erst die Macht erhält, der angemessenen menschlichen Ehefrau Konkurrenz zu machen. Hierdurch geraten zudem nicht nur der Protagonist selbst und sein engster Familienverband in Bedrängnis. Die Erkenntnis, dass Menschen und Dämonen nicht heiraten und Kinder miteinander zeugen sollten, kommt dem leichtsinnigen Kaufmannssohn zu spät. Denn anders als die gottesfürchtige Sara hat er tatsächlich schon ein Kind namens Schlomo mit der Dämonin gezeugt. Dessen Eintritt in die Welt ist nicht mehr rückgängig zu machen. Mit dem halbdämonischen Kind hat es in der Geschichte eines Jerusalemers eine besondere Bewandtnis. Es trägt einen Namen, kann sich ebenso wie seine Eltern zwischen der Menschen- und der Dämonenwelt bewegen und es bleibt schließlich, nach dem Abschied seiner dämonischen Mutter, in der Menschenwelt zurück. Das ist ungewöhnlich. In der Geschichte eines armen Mannes werden hybride Kinder nur kurz erwähnt. Sie leben im Dämonenreich und nehmen auf den Handlungsfortgang keinen Einfluss. Und auch der Protagonist der Geschichte eines Amulettschreibers hat mit seiner Dämonin Nachkommen gezeugt und kann durch eine List deren Wohlwollen erwirken. Sie sind und bleiben aber Bewohner der Dämonenwelt, die in das soziale System der Menschenwelt nicht integriert werden. In der Geschichte eines Jerusalemers hingegen spielt das hybride Kind eine aktive Rolle als Vermittler zwischen Dämonin und Mann. Dies tut es in der Menschenwelt, und dort bleibt es schließlich auch. Auf diese Weise hinterlässt die dämonische Allianz bleibende Spuren in der Gemeinschaft der Menschen. Hierin ähnelt der Text den anderen zeitgenössischen Dämonenhochzeitserzählungen. Im Kern der Geschichte eines Königssohns hatte die Befürchtung gestanden, dass ein junger Mann, der in der Fremde eine Beziehung mit einer fremden Frau aufnimmt, aufgrund dieser Beziehung möglicherweise nicht nach Hause zurückkehrt. In der Geschichte aus Worms wiederum wird davon erzählt, dass das Fremde sich auch in der unmittelbaren Nachbarschaft aufhalten kann, und dass, wer dem Begehren des Fremden nachgibt, dieses zu sich nach Hause einlädt und es dadurch für immer zu einem Teil der eigenen Gemeinschaft macht. Eine solche, auf ihre Weise harmonische Integration des Fremden sieht die Geschichte eines Jerusalemers nicht vor. Wie sehr Dihon durch sein Handeln Fremdes begehren 237 das bestehende Gefüge seiner Herkunftsgemeinschaft gefährdet, wird daraus ersichtlich, dass die Dämonin zwar zu ihrem Vater heimkehrt, die Menschenwelt aber keineswegs zu ihrem vorherigen Zustand zurückfinden lässt. Bevor sie verschwindet, setzt sie kurzerhand ihren Sohn als Herrscher ein. Danach sagte sie zu der Gemeinde: ‹ Wenn ihr nicht wollt, dass ich euch töte, dann nehmt diesen meinen Sohn Schlomo und gebt ihm die Tochter des bedeutendsten Mannes unter euch zur Frau. Macht ihn zu einem Fürsten unter euch, zum Oberhaupt und Obersten. Denn er ist einer von euch und wird bei euch bleiben. [. . .] Ich werde ihm großen Reichtum vermachen, so dass ihm nichts fehlt. Und ihr sollt dafür sorgen, dass er vom Erbe des Besitzes seines Vaters mehr erhält als seine Brüder. › 55 Aliza Shenhar sieht in der Einsetzung Schlomos ein Zeichen dafür, dass die Anderen, die Dämonen, nun endgültig die Oberhand über die menschliche Gesellschaft gewonnen haben: Each time the hero of our story violates his oath, this brings about an ever more aggressive domination by the demonic world, the ultimate purpose of which is not the destruction of the individual but the domination of the human environment - after the hero has been killed, the demoness demands that her son be placed in command. 56 Dihon ermöglicht durch sein polygynes, exogames Heiratsverhalten den Dämonen einen immer stärkeren Zugriff auf die Menschenwelt. Welche Auswirkungen die Selbsteinsetzung der Dämonin als Spitzenahnin auf die nachfolgenden menschlichen Generationen hat, darüber gibt der Text keine Auskunft. Als ausschließlich segensreich kann die Handlung der nichtmenschlichen Frau aber nur mit Mühe interpretiert werden. Zum Vergleich: Auch auf einige von Melusines Söhnen richtet sich der Verdacht, nicht allein körperliche Merkmale des feenhaften, tierischen, gar dämonischen Erbes ihrer Mutter mit sich herumzutragen. 57 Dass sie aber - bis auf den besonders ominösen Horrible oder Horribel - in der Menschenwelt Karriere machen, verdanken sie keineswegs einem Machtwort Melusines, dem von menschlicher Seite nichts entgegenzusetzen ist. Die besonderen Fähigkeiten der Kinder, die sie zur Herrschaft qualifizieren, werden auch vom Vater und von allen anderen 55 א ח ר י כ ן א מ ר ה ל ק ה ל א ם ל א ת ר צ ו , ש א מ י ת א ת כ ם , ק ח ו ב נ י ש ל מ ה ז ה , ו ת נ ו ל ו ב ת ה ג ד ו ל ש ב כ ם ל א ש ה , ו ה ק י מ ו ה ו ע ל י כ ם ל נ ש י א ו ל ר א ש ו ל ק צ י ן כ י מ כ ם ה ו א , ו י ש ב ע מ כ ם ] . . . [ , ו א נ כ י א ו ר י ש נ ו ב מ מ ו ן ג ד ו ל ע ד מ א ד , כ ד י ש ל א י ח ס ר ל ו כ ל ו ם , ו א ת ם ת צ ו ו ל ת ת ל ו מ י ר ו ש ת נ כ ס י א ב י ו י ו ת ר ע ל ש א ר א ח י ו . [S. 393]. 56 Aliza Shenhar : Concerning the Nature of the Motif ‹ Death by a Kiss › (Mot. A 185.6.1.1), in: Fabula 19,1/ 2 (1978), S. 62 - 73, hier S. 72. 57 Vgl. Ulrich Wyss : Was bedeuten Körperzeichen? Über Melusines Kinder, in: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Hg. von Klaus Ridder und Otto Langer (Körper, Zeichen, Kultur 11). Berlin 2002, S. 385 - 395. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 238 Figuren akzeptiert. In der Geschichte eines Jerusalemers fehlt demgegenüber die Selbstverständlichkeit, mit der der halbdämonische Sohn seinen Platz an der Spitze der Gemeinschaft einnimmt. Seine Ermächtigung ist mit einer explizit formulierten Drohung verbunden, und diese Drohung bleibt über das Ende der Geschichte hinaus bestehen. Was alles geschehen kann, wenn ein zur Hälfte dämonisches und zur anderen Hälfte menschliches Wesen zum Oberhaupt einer jüdischen Gemeinde gemacht wird, ist, zumindest in der Geschichte eines Jerusalemers, nicht absehbar. 5.3 Tödliches Aufbegehren Wie in den meisten jüdischen und in manchen christlichen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe ist auch der Held der Geschichte eines Jerusalemers Teil einer triangulären Figurenkonstellation, in der der Mann das Objekt des Begehrens zweier Frauen ist. Diese beiden Frauen konkurrieren auf unterschiedliche Weise um den Protagonisten. Die eine, nichtmenschliche, tut es durch Taten: Sie bittet, droht und strengt einen Prozess an. Am Ende wirkt sie sogar unmittelbar physisch auf ihren unwilligen Ehemann ein, indem sie ihn durch einen Kuss ermordet. Die andere, menschliche Frau hingegen handelt gar nicht. Das muss sie auch nicht. Sie fordert die Dämonin und deren Begehren durch ihre bloße Existenz als bereits zuvor dagewesene, passende und vom Helden zurückgeforderte Ehefrau heraus. Was die Geschichte eines Jerusalemers von den anderen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen unterscheidet und was das trianguläre Begehren aus der Perspektive des Protagonisten in diesem Text zu etwas Besonderem macht, ist die Tatsache, dass hier erstmals kein passiver, sondern ein äußerst handlungsfreudiger Held im Zentrum des Geschehens steht. Ebenso wie der arme Mann und der Königssohn lässt auch Dihon sich dazu überreden, gefährliche Dummheiten zu begehen. Den wohlmeinenden Zudringlichkeiten der fremden Seeleute beispielsweise hat er wenig entgegenzusetzen, sie bringen ihn buchstäblich um den Verstand, bis er schließlich gegen seine eigene Überzeugung verstößt. Dihon bar Salmon handelt ohne Sinn und Verstand, seine Entscheidungen trifft er hier, wie häufig auch später, nicht eigenständig, sondern infolge der Überzeugungsbemühungen anderer. Andererseits versteht er es aber auch, Situationen, in die er ohne eigenes Zutun geraten ist, so zu verändern, dass es ihm nutzt. Ein Beispiel dafür ist die Kifufa-Episode. Auf dem Meer war der schiffbrüchige Kaufmann noch das hilflose und ohnmächtige Objekt der von göttlicher Hand gesteuerten Naturgewalten gewesen. Schon bald aber tritt er in Aktion, indem er sich auf den Weg macht, um Kleidung, Essen und andere Menschen zu finden. Zunächst rettet er Tödliches Aufbegehren 239 sich dabei durch beherzte Flucht vor einem gefährlichen Löwen auf einen Baum. Als er dort dem großen Vogel Kifufa begegnet, entscheidet sich Dihon - aufgrund einer göttlichen Eingebung - gegen ein Zurückweichen: Er stieg auf den Vogel und ritt auf ihm, und weil er auf ihm ritt, ergriff seine Furcht auch den Kifufa. Die ganze Nacht lang bewegte er sich nicht vom Fleck. Der Knabe hatte große Angst vor dem Vogel. Er hielt sich mit beiden Händen an seinem Gefieder fest und konnte nicht von ihm herabsteigen. Auch der Kifufa hatte Angst, weil er nicht wusste, wer es war, der da auf ihm ritt. Als der Morgen anbrach, sah der Kifufa sich um und erblickte den Mann, und er ängstigte sich weiterhin vor ihm. Er flog voller Zorn und Furcht den ganzen Tag lang bis zum Abend. 58 Dihon beherrscht die Lage nicht, dem hungrigen Vogel ist er keineswegs überlegen. Durch die Konfrontation schafft er allerdings die Möglichkeit, zuerst der unmittelbaren Todesgefahr zu entgehen und dann auch noch den erzwungenen Stillstand im Baumwipfel in neuerliche Bewegung zu verwandeln. Seine Fähigkeit, aus scheinbar ausweglosen Situationen zu entkommen, stellt Dihon auch später unter Beweis, wenn er von der Gemeinde der Dämonen oder von deren König Aschmedai bedroht wird. Immer wenn es scheint, dieser Protagonist sei am Ende seines Weges angelangt, eröffnet sich ihm doch noch eine Gelegenheit zu weiterer Handlung, Bewegung und Flucht. Was Dihon in erster Linie begehrt, ist weder die eine noch die andere Frau, weder die fremde noch die vertraute Gattin, es ist nicht der Reichtum auf der anderen Seite des Meeres und auch nicht die Macht, die der Dämonenkönig verleiht. Vergleicht man ihn mit den Protagonisten der Geschichte aus Worms, dann ähnelt er weit mehr der menschlichen Ehefrau in der jiddischen Erzählung als deren lethargischem Mann. Ganz wie sie begehrt Dihon bar Salmon vor allem eins: Handlungsfähigkeit. Die Freiheit, die er sich gegenüber den Regeln derer nimmt, die ihn einschränken wollen, führt Dihon in die Fremde zu der Dämonin, weit weg von dem Ort, den sein Vater für ihn vorgesehen hatte. Auch der Versuch Aschmedais und seiner Tochter, den Helden für immer an sich und an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Position zu binden, schlägt fehl. Dieser Verpflichtungen entledigt sich Dihon, indem er seine Fluchtbewegung vom Anfang einfach umkehrt und den Rückweg in seine Heimat und zu seiner ersten Frau einschlägt. Die beiden Frauen stehen somit nacheinander für all das, was dem Helden von einer dritten Instanz vorenthalten wird. Diese dritte Instanz manifestiert sich zuerst in Dihons Vater, dann in seinem zukünftigen Schwiegervater und zuletztin seiner dämonischen Ehefrau. Dadurch, 58 ו ע ל ה ו ר כ ב ע ל ה ע ו ף ה ה ו א , ו כ י ו ן ש ר כ ב ע ל י ו , נ פ ל פ ח ד ו ע ל א ו ת ו ה ק י פ ו פ א , ו ל א נ ע מ מ ק ו מ ו כ ל ה ל י ל ה ו ה ב ח ו ר ה ז ה ה י ה י ר א מ א ד מ מ נ ו , ו ה י ה א ו ח ז ב ש ת י י ד י ו ב נ ו צ ת ו , ו ל א ה י ה י כ ו ל ל ר ד ת מ ע ל י ו , ו ג ם ה ק י פ ו פ א ה י ה י ר א , י ע ן ש ל א ה י ה י ו ד ע מ י ה י ה ה ר ו כ ב ע ל י ו . ו כ ש ע ל ה ע מ ו ד ה ש ח ר , ה ב י ט ה ק י פ ו פ א ו ר א ה ה א י ש , ו ה ו ס י ף ל י ר א מ פ נ י ו , ו י ע ו ף ב ח י מ ה ו פ ח ד כ ל ה י ו ם ע ד ל ע ת ע ר ב . [S. 378]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 240 dass die unhintergehbare Autorität des Vaters zusammen mit der eigenen und der des Dämonenkönigs von der Dämonin ausdrücklich als solche durchgesetzt und bestätigt wird, erscheinen die Dämonen als Vertreter und Vollstrecker des schon zu Beginn verstorbenen Vaters. Das Nein-des-Vaters Die Vaterfigur und ihre Repräsentanten treten vor allem dadurch in Erscheinung, dass sie Regeln und Verbote aussprechen, die das Leben Dihons einschränken. In der Geschichte eines Jerusalemers wird die Handlungsfreiheit des Protagonisten durch ganz konkrete Verbote begrenzt: Er soll keine Seereisen unternehmen, darf ein bestimmtes Zimmer nicht betreten und seine Frau nicht für immer verlassen. Aus einer übergeordneten, abstrakteren Perspektive stellen diese Einschränkungen Manifestationen dessen dar, was Jacques Lacan das jegliches menschliche Zusammenleben regelnde Gesetz (Loi) nennt. Dieses bezieht sich nicht auf einen spezifischen Teil der Gesetzgebung, sondern auf die fundamentalen Prinzipien, die allen sozialen Beziehungen zugrunde liegen. Das Gesetz ist die Summe der universalen Prinzipien, die die sozialen Beziehungen ermöglichen, die Strukturen, die alle Formen des sozialen Austauschs regeln, unabhängig davon, ob es sich dabei um den Austausch von Geschenken, um Verwandtschaftsbeziehungen oder den Abschluß eines Vertrags handelt. 59 Ausgesprochen wird das Gesetz Lacan zufolge vom ‹ Vater › als dem Vertreter der sozialen Ordnung. Nun ist das Bild des Gesetz sprechenden und das Gesetz bewahrenden Vaters aus einer heteronormativitätskritischen Perspektive problematisch. Seine Wirkmächtigkeit bezieht es aus einer Vorstellung von sozialer Organisation, in der die Position des Gesetzgebers ausschließlich männlich konnotiert ist. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Lacan die Instanz des Gesetzes keinesfalls mit der personellen Identität eines realen oder imaginären Vaters identifiziert. Der symbolische Vater ist keine Person, sondern die symbolische Ordnung, die einer menschlichen Gesellschaft ihre spezifische Struktur verleiht. Dennoch werden die drei Termini stets zusammen gedacht, wenn auch in Abgrenzung voneinander. Die Verwendung des Vater-Begriffs zur Bezeichnung der symbolischen Ordnung des Gesetzes erzwingt daher unausweichlich die Assoziation mit realen und imaginären Vaterfiguren. Von ihnen setzt sich der symbolische Vater nur vordergründig durch die Behauptung der Gestalt- und Geschlechtslosigkeit des Gesetzes ab. Der Gedanke, dass die Vorstellung 59 Dylan Evans : Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Übers. von Gabriella Burkhart . Wien 2002 (englische Erstausgabe 1996), S. 123. Tödliches Aufbegehren 241 von einem allem übergeordneten, explizit väterlichen Gesetz eine anthropologische Grundkonstante darstellt, mit der das Funktionieren jeglicher menschlichen Gesellschaft erklärt werden kann, wird der Heterogenität kultureller Konstellationen nicht gerecht. Lacans Konzept der symbolischen Ordnung ist ein Denkmodell, das zum einen in einem bestimmten kulturellen Kontext entstanden ist und zum anderen auf Traditionen Bezug nimmt, die zur Entstehung dieses Kontextes beigetragen haben. Es ist geprägt von der Vorstellung eines einzigen, väterlichen Gottes, der Gesetze erlässt und über ihre Einhaltung wacht. Insofern ist die Beziehung zwischen Lacans psychoanalytischem Modell und dem Kosmos jüdischer und christlicher Texte, der diesem Modell unter anderem zugrunde liegt, eine wechselseitige. Ist man bereit, nicht nur die Lektüre eines bestimmten fiktionalen Textes vor dem Raster des abstraktem Konzept zu vollziehen, sondern auch das Konzept im Hinblick auf den jeweiligen Text zu hinterfragen und zu modifizieren, dann erhellen Modell und Text einander gegenseitig. So kann man sich beispielsweise fragen, ob die heteronormative Sichtweise, die in Lacans Rede vom ‹ symbolischen Vater › aufscheint, durch die interpretatorische Verwendung des Begriffs erst in eine frühneuzeitliche jüdische Erzählung wie die Geschichte eines Jerusalemers hineingetragen wird. Oder ist es so, dass eine solche Perspektive den Text ohnehin bestimmt und erst in der Lacanschen Lesart besonders deutlich zutage tritt? Bejaht man diese zweite Frage, dann ist anschließend auch zu klären, wie weit die von Lacan behauptete Allmacht der symbolischen Ordnung im Text tatsächlich reicht. Dass in der Erzählung häufig Väter oder väterliche Figuren (und eben auch eine Frau) auftreten, die Regeln nicht nur erlassen, sondern auch deren Übertretung ahnden, heißt noch lange nicht, dass die Grenzen des Gesetzes bei ihrer jeweiligen Neubestimmung nicht auch in Frage gestellt und verschoben werden können. Das, was die väterliche Position, Funktion oder Instanz innerhalb der symbolischen Ordnung ausmacht und was die Freiheit des Helden in der Geschichte eines Jerusalemers im Verlauf der Handlung auf für ihn so unangenehme Weise einschränkt, bringt Lacan auf die Formel vom Namen-des- Vaters. 60 Im engeren Sinn verbietet er nach Lacan in Anlehnung an Sigmund Freuds Modell des Ödipus-Komplexes das Begehren der Mutter. 61 Es handelt 60 Vgl. Jacques Lacan : Das Seminar III. Die Psychosen (1955 - 56). Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übers. von Michael Turnheim. Weinheim, Berlin 1997, z. B. S. 116; vgl. auch Jacques Lacan : Namen des Vaters. Hg. von Jacques-Alain Miller , übers. von Hans-Dieter Gondek . Wien 2006. 61 Susanne Lüdemann : Ödipus oder ménage à trois. Die Figur des Dritten in der Psychoanalyse, in: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hg. von Eva E ßß linger , Tobias Schlechtriemen , Doris Schweitzer und Alexander Zons (stw 1971). Berlin 2010, S. 80 - 93, hier S. 84 ff. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 242 sich bei ihm um jenen Dritten, der die Symbiose von Mutter und Kind im Namen des Gesetzes mit einem ‹ Nein › unterbricht. Insofern wirkt der Namedes-Vaters (nom-du-père) als Nein-des-Vaters (non-du-père). Der Name-des- Vaters reguliert das Begehren des Subjekts. Er errichtet dem grenzenlosen Begehren eine Schranke, indem er ihm befiehlt, ‹ so wenig wie möglich zu genießen › . Wenn aber, wovon im vorigen Kapitel bereits die Rede war, jedes Verbot die Möglichkeit und den Anreiz zu seiner eigenen Überschreitung enthält, dann wird das Subjekt unausgesetzt versuchen, das Verbot des Vaters zu umgehen oder zu durchbrechen und sich dem schmerzhaften und traumatischen, weil exzessiven Genießen (jouissance) ganz hinzugeben. Durch das väterliche Verbot entsteht das Begehren (désir). Der Bruch des väterlichen Gesetzes greift dieses an und bestätigt es zugleich: Was ich begehre, ist durch den großen Anderen vorherbestimmt, durch den symbolischen Raum, den ich bewohne. Selbst wenn mein Begehren transgressiv ist, wenn es soziale Normen verletzt, dann stützt sich diese Überschreitung auf das, was sie überschreitet. 62 Dieser große Andere, das Ideal, dem das Subjekt sich anzunähern und das zu verwirklichen es sucht, der Herr der symbolischen Ordnung oder die Ordnung selbst, kann eine Seite Gottes bezeichnen, die für das Subjekt undurchdringlich und rätselhaft bleibt. Das gebietende und verbietende Wort dessen, der die Gesetz-Sprache-Struktur der symbolischen Ordnung repräsentiert und in dessen Namen Begehren und Gesetz miteinander verbunden werden, macht menschliches Zusammenleben erst möglich. Der zugleich abwesende und Gehorsam fordernde, der verbindende und Distanz aufrecht erhaltende symbolische Vater schafft einen Raum, in dem der Unterworfene Subjektstatus gewinnen kann. Entscheidend dabei ist, dass der symbolische Vater stets abwesend ist. Lacan bezieht sich bei dieser Erkenntnis auf Sigmund Freuds Rede vom Mord am Urvater als Anfangspunkt der Kultur. Freud nimmt an, dass die rebellierenden Söhne «den Vater nicht nur haßten und fürchteten, sondern auch ihn als Vorbild verehrten, und daß jeder sich in Wirklichkeit an seine Stelle setzen wollte«. 63 Nach dem Mord bleiben der Vater und sein Verbot im Schuldbewusstsein der Söhne präsent. Der Vater wird nun «stärker, als der 62 Slavoj Ž i ž ek : Lacan. Eine Einführung. Frankfurt a. M. 2 2008 (englische Erstausgabe 2006), S. 61. 63 Sigmund Freud : Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften über die Religion (FTB 7305). Frankfurt a. M. 14 2006 (Erstausgabe 1939), S. 89. Tödliches Aufbegehren 243 Lebende gewesen war«. 64 Was bleibt, ist eine Leerstelle, um die die handelnden Subjekte unaufhörlich kreisen. Genauso verhält es sich mit Dihon und seinem Vater Salmon in der Geschichte eines Jerusalemers. Statt als tatsächlich anwesender Vater die Leerstelle der symbolischen Ordnung auszufüllen und die Einhaltung ihrer Regeln im Alltag einzufordern, wird Salmon mit seinem Tod selbst zu einer Leerstelle, um die die Existenz seines Sohnes kreist. Eine einfache Instruktion verwandelt sich durch die endgültige Abwesenheit Salmons in ein übermächtiges und für immer gültiges Verbot. Dieses macht es für den Sohn unmöglich und zugleich unendlich begehrenswert, die frei gewordene Stelle des Vaters nicht nur passiv, sondern auch aktiv auszufüllen. Auf dem Totenbett teilt der sterbende Kaufmann seinem Sohn zwar nicht mit, was er in Zukunft zu tun, wohl aber, was er zu unterlassen habe und weshalb: ‹ Mein Sohn, du weißt, dass ich mein ganzes Vermögen, alles, was ich besitze, mit Seereisen verdient habe. Auf dem Meer habe ich viel erlebt und vieles erfahren. Ich bitte dich, dich nicht in Gefahr zu bringen, um Besitztümer auf dem Meer zu erwerben, denn ich hinterlasse dir sehr viel Besitz. Selbst wenn du niemals mehr etwas erwerben wolltest, würde es ausreichen für dich und deine Kinder, solange ihr auf Erden verweilt. 65 Salmon befiehlt seinem Sohn ausdrücklich, sein Verhalten nicht nachzuahmen. Begründen müsste er dies nicht. Wie in den meisten jüdischen Erzählungen, in denen Eltern ihren Kindern bestimmte Gebote auferlegen, wird auch in der Geschichte eines Jerusalemers davon erzählt, wie wichtig es ist, elterlichen Verhaltensmaßregeln unter allen Umständen Folge zu leisten. 66 Dihons Vater nennt eine eindeutige Begründung für sein Verbot: Es soll dem Schutz des Sohnes dienen. Im Gegensatz zum Sohn handelt der Vater also uneigennützig. Zu diesem Zweck spricht er allerdings keine positiv formulierte Anweisung, keinen zu einer bestimmten Handlung stimulierenden Ratschlag aus, der den Sohn zu allen Zeiten oder im Bedarfsfall dazu anleiten könnte, richtig zu agieren. Dihon wird es vielmehr verboten zu handeln. Da ein Verbot allerdings, anders als ein Gebot, eine Beschreibung dessen enthält, was zu vermeiden ist (d. h. in diesem Fall: über das Meer fahren, sich in Gefahr bringen, Besitztümer 64 Freud, Totem und Tabu, S. 197. 65 ב נ י ה ו י י ו ד ע , כ י כ ל נ כ ס י ו מ ה ש י ש ל י ה ר ו ח ו ת י ב מ ה ל כ י ם ש ע ש י ת י ב י ם , ו כ מ ה מ א ו ר ע ו ת ו כ מ ה נ ס י ו נ ו ת ע ב ר ו ע ל י ב י ם , ב ב ק ש ה מ מ ך ש ל א ת ס כ ן ב ע צ מ ך כ ד י ל ה ר ו י ח נ כ ס י ם ב י ם . כ י א נ י מ נ י ח ל ך נ כ ס י ם ל ר ו ב , ש א ם א פ י ל ו ל ע ו ל ם ל א ת ר צ ה ל ה ר ו י ח , י ס פ י ק ו ל ך ו ל ב נ י ך , כ ל י מ י ה י ו ת כ ם ע ל ה א ד מ ה . [S. 375]. 66 Vgl. Eli Yassif : From Jewish Oicotype to Israeli Oicotype. The tale of ‹ The Man who never Swore an Oath › , in: Fabula 27,3/ 4 (1986), S. 216 - 236, hier S. 229. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 244 in fernen Ländern erwerben), liefert es eine Vorstellung von diesem gegenteiligen Handeln und somit zugleich eine Anweisung zu dem, was es eigentlich unmöglich machen soll. Dazu, dass es dem Sohn leicht gemacht wird, das vom Vater errichtete Tabu zu brechen, trägt zudem die Tatsache bei, dass es sich dabei nicht etwa um ein allgemein anerkanntes und womöglich durch die Tora legitimiertes Verbot handelt. Was der Vater dem Sohn untersagt und dadurch dessen Begehren entfacht, ist vielmehr einfach das, was ihm selbst vergönnt war. Folgt man René Girards im Kapitel über die Geschichte aus Worms dargestellten Thesen von der Entstehung mimetischen Begehrens, dann kann Dihon gar nicht anders, als das zu begehren, was er mit seinem Vater verbindet. Dabei handelt es sich nicht nur um materielle Güter auf der anderen Seite des Meeres, sondern überhaupt um die Möglichkeit, das zu erleben, was der Vater erlebt hatte. Da der Vater zu Beginn der Handlung bereits im Sterben liegt, kann er im weiteren Verlauf der Erzählung nicht als handelnde Figur und damit als direkter Konkurrent seines Sohnes auftreten. In Form des einmal ausgesprochenen und unvermindert seine Gültigkeit behaltenden ‹ Nein › jedoch bleibt er weiterhin präsent. Was er, übermächtig in seiner Autorität und als Konkurrent unerreichbar durch sein frühes Eintreten in die Transzendenz, dem Sohn vorenthält, ist Handlungsfähigkeit: die Möglichkeit zu nehmen statt zu empfangen. Womit die Geschichte eines Jerusalemers beginnt, und womit sie in gewissem Sinn auch endet, ist eine problematische Vater-Sohn-Beziehung. An jedem Punkt im Verlauf der Handlung scheint es so, als ließen sich alle folgenden Ereignisse auf genau dieses Verhältnis zurückbeziehen. Wird also aus der Figurenkonstellation und aus dem Handlungsverlauf möglicherweise ex negativo ersichtlich, wie Vater und Sohn sich zueinander verhalten sollten, so dass dem Sohn der Übertritt in den Status eines erwachsenen, gottesfürchtigen und familienbewussten Mitglieds seiner Gemeinschaft ermöglicht wird? In der Exposition des Textes wird ein auf den ersten Blick idyllischer Zustand vorgeführt. Die Vater-Sohn-Beziehung erscheint als Idealfall intergenerationeller Übertragung. Es ist von einem Vater die Rede, der den vom Religionsgesetz vorgeschriebenen väterlichen Pflichten nachkommt: 67 67 Vgl. bKidduschin 29a (Der Vater ist seinem Sohne gegenüber verpflichtet: ihn zu beschneiden, auszulösen, die Tora zu lehren, zu verheiraten und ein Handwerk zu lehren.) und 30a (Wie weit ist man seinen Sohn die Tora zu lehren verpflichtet? R. Jehuda erwiderte im Namen Š emuéls: Wie beispielsweise Zebulun, den Sohn Dans, den sein Vatersvater die Schrift, Mi š na, Talmud, Halakha und Agada lehrte). Tödliches Aufbegehren 245 Es war einmal ein Kaufmann, der nur einen einzigen Sohn hatte. Er lehrte ihn Tora, Mischna und Talmud, alle sechs Abteilungen. Auch eine Frau gab er ihm. Der Sohn zeugte noch zu Lebzeiten seines Vaters Kinder. 68 Der Vater überträgt alles, was er besitzt, religiöse Gelehrsamkeit, Reichtum und Lebenserfahrung, auf seinen einzigen Sohn. Auch eine Ehefrau muss der Sohn nicht selbst finden, sie wird ihm vom Vater gegeben. Diese Art der Übertragung wird als völlig einseitig gedacht. Der Sohn soll überhaupt nicht handeln. Alles tut der Vater für ihn. Dihon ist nur ein Gefäß für das, was der Vater an ihn weiterzugeben hat. Er soll eine ‹ vaterförmige Aussparung › in der Welt ausfüllen, er soll seinen Vater ersetzen, ohne einen einzigen selbstbestimmten Schritt zu tun. 69 Dihon folgt zunächst dem Gebot des Vaters und nimmt übergangslos dessen Platz ein. Als die fremden Seeleute sich nach seinem Vater erkundigen, wird ihnen folglich mitgeteilt: ‹ Er ist bereits gestorben. Sein Sohn ist an seiner Stelle zurückgeblieben › ( כ ב ר מ ת , ו נ ש א ר ב נ ו ב מ ק ו מ ו ). 70 Das väterliche Gebot, das bis zu diesem Moment noch Dihons Leben strukturiert, lautet also nicht: Werde ich! sondern: Sei ich! Dihon handelt wie Erec, Iwein oder Parzival, wie Partonopier und Guigemar, aber auch wie der Protagonist der Geschichte eines Königssohns: Er geht von zuhause fort, erlebt Abenteuer und bewährt sich. Und er tut, was nach Freud und Lacan jeder Sohn früher oder später tun muss: Er rebelliert gegen seinen Vater, ignoriert dessen ‹ Nein › und verweigert sich damit nicht nur der Autorität eines Menschen, dem er Achtung zollen sollte, sondern den Ansprüchen der symbolischen Ordnung insgesamt. Sein Verhalten führt, im Gegensatz zu den ersten eigenständigen Handlungen höfischer Romanhelden oder auch der Helden der Geschichte eines Königssohns und der Geschichte aus Worms nicht zu einem Prozess der Reintegration in die Gesellschaft. An dessen Ende könnte der Sohn die sozialen Anforderungen des Systems anerkennen und eine Perspektive auf die Zukunft gewinnen, in der er irgendwann tatsächlich den Platz seines Vaters einnehmen und selbst zu einem Vertreter der symbolischen Ordnung werden kann. Es nützt Dihon aber nichts, dass er am Ende zu seiner menschlichen, vom Vater ausgewählten Ehefrau und damit zu einer als angemessen angesehenen Lebensweise zurückkehrt. Denn schließlich 68 מ ע ש ה ה י ה ב א ד ם א ח ד ס ו ח ר , ש ל א ה י ה ל ו א ל א ב ן א ח ד ו ל י מ ד ו ת ו ר ה ו מ ש נ ה ו ת ל מ ו ד ש י ת א ס ד ר י , ו נ ת ן ל ו א ש ה , ו ה ו ל י ד ב נ י ם ב ח י י ו . [S. 374]. 69 Zu den Schwierigkeiten, die nach lacanianischer Lesart dem Individuum daraus erwachsen, ein Spiegelbild des Vaters sein zu sollen, vgl. Markus Verweyst : Das Begehren der Anerkennung. Subjekttheoretische Positionen bei Heidegger, Sartre, Freud und Lacan (Campus Forschung 821). Frankfurt a. M., New York 2000, S. 346 f. 70 [S. 375]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 246 ändert er damit nur das konkrete Ziel seiner Handlungen. Sein grundlegendes Begehren, das sich auf Handlungsfähigkeit und die Freiheit von den Forderungen anderer richtet und dessen Erfüllung ihm erst von seinem Vater und dann von verschiedenen Bewohnern der Dämonenwelt verwehrt wird, bleibt das Gleiche. Weil Dihon bar Salmon sich bis zum Schluss dem Nein-des-Vaters widersetzt, verwandelt sich die Dämonin, die ihm zunächst bei seinem dritten Anlauf zu einem gesetzeskonformem Leben als Verführerin und Gefährtin gegenübergetreten war, schließlich nicht in eine Erlöserin, sondern in seine Verderberin. Sie ist die letzte in einer Reihe von Figuren, denen der Protagonist auf seiner Reise begegnet und die ihm allesamt in irgendeiner Art Gnade erweisen: der Rav, der ihn vor den anderen Dämonen schützt, deren König Aschmedai, der ihn erst zum Lehrer seines Sohnes und dann zum Schwiegersohn macht sowie der halbblinde und bucklige Dämon, der ihn zurück in seine Heimat bringt. Diese Dämonen, auf die Dihon während seiner Zeit im Dämonenland trifft und deren Wohlwollen er trotz aller Bedrohungen aufs Spiel setzt, werden im Verlauf der Handlung als zunehmend gefährlich charakterisiert. Der Rav zeigt noch sofortiges und uneingeschränktes Mitleid mit dem reumütigen Dihon und tritt von dieser Haltung auch nicht zurück. Aschmedai vergibt dem Helden zwar das unerlaubte Betreten der verbotenen Kammer; sein unerbittliches Verhalten gegenüber einem Volk, das sich gegen ihn aufgelehnt hatte, könnte seinem aufsässigen Untertan aber eine Warnung sein. 71 Der halbblinde und bucklige Dämon schließlich reagiert auf einen Fehltritt des Helden unnachgiebig. Als Dihon ihn um Verzeihung für eine zuvor zugefügte Beleidigung bittet, antwortet er: ‹ Ich werde dir niemals verzeihen, dass du mich beleidigt hast › ( ל ע ו ל ם ל א א מ ח ו ל ע ל ע ל ב ו נ י ). 72 Der Dämon wird dem Protagonisten zwar auch nie ein Leid zufügen. Seine Strenge macht jedoch deutlich, dass Dihon nach und nach an einen Punkt gelangt, an dem seine Verstöße gegen die symbolische Ordnung, die sich nicht nur im Verbot des Vaters, sondern auch in den Hierarchien, Verträgen und den Höflichkeitsgeboten der Dämonenwelt manifestiert, immer weniger toleriert werden. 73 71 Zu Beginn dieses Handlungsabschnittes heißt es: Einst rebellierte ein Land gegen Aschmedai. Dieser versammelte sein Heer, um gegen das Land zu marschieren ( ל י מ י ם מ ר ד ה מ ד י נ ה א ח ת ב א ש מ ד א י , ו ק י ב ץ ח י י ל ו ת י ו ל ל כ ת ע ל א ו ת ה מ ד י נ ה . ) [S. 383]. Nach der Unterbrechung des Feldzugs und Dihons Versöhnung mit Aschmedai wird vom weiteren Verfahren des Königs berichtet: Aschmedai kehrte sogleich zurück, eroberte das Land und verwüstete es ( מ י ד ח ז ר א ש מ ד א י ו ל כ ד א ו ת ה מ ד י נ ה , ו ה ח ר י ב א ו ת ה . ) [S. 385]. 72 [S. 387]. 73 In seiner körperlichen Deformation ähnelt der bucklige Dämon dem hässlichen dämonischen Gesandten in der Geschichte eines armen Mannes. In beiden Texten kann die physische Unzulänglichkeit der Dämonen so gedeutet werden, dass sich an Tödliches Aufbegehren 247 Wenn der Rav und der bucklige Dämon in ihrer Funktion als Helfer, mehr noch aber Aschmedai und seine Tochter in ihren Rollen als Helfer, Verbündete und Rächer von Vertrauensbrüchen nacheinander an die Stelle von Dihons totem Vater Salmon treten, dann verwundert es nicht, dass auch in dieser Erzählung die dämonische Natur der nichtmenschlichen Figuren relativ schwach akzentuiert wird. Nur bei Dihons erstem Zusammentreffen mit ihnen werden sie als von den Menschen unterschieden gekennzeichnet. Sie erscheinen dem Helden wie flammende Fackeln ( כ ל פ י ד י א ש ), 74 verursachen erschreckenden Lärm und identifizieren den Menschen in ihrer Mitte mit Hilfe ihres offenbar gut entwickelten Geruchssinns. Allerdings ist dies, abgesehen von der Andeutung besonderer Fähigkeiten des buckligen Dämons bei der Überschreitung der Grenze zur Menschenwelt, die einzige Textpassage, in der die Untertanen Aschmedais als ‹ dämonisch › im Sinne von ‹ nichtmenschlich › dargestellt werden. Der Verdacht, dass sich die Dämonen körperlich von den Menschen unterscheiden könnten, wird zu Beginn von Dihons Hochzeitsnacht geweckt, nur um sogleich beschwichtigt zu werden. Die Dämonin beruhigt ihn vorsorglich: ‹ Denke nicht insgeheim daran, dass ich eine Dämonin bin, während du ein Mensch bist. Alles wirst du an mir gestaltet finden wie bei einer Frau, es fehlt mir nichts. › 75 Das klingt, als wolle sie von vorneherein eine Vermutung entkräften, wie sie ein Leser höfischer Feenerzählungen empfinden könnte - zu Recht, wenn er an Melusines Schlangenschwanz denkt oder zu Unrecht, was Partonopiers überaus schöne Geliebte Meliur angeht. Ebenso wie die Menschen in Dihons Heimat treffen sich die Dämonen darüber hinaus zum Beten in der Synagoge, in der ein Vorsänger den Gottesdienst leitet. Sie zelebrieren den Gottesdienst nach der bekannten Liturgie und werden dabei auch nicht von irgendwelchen Gebeten in die Flucht geschlagen wie die Dämonen in der Geschichte eines armen Mannes. Sie vollziehen Hochzeiten nach jüdischem Ritus, setzen ein Gericht ein zur Fällung von Urteilen und handeln auch hierbei im Einklang mit den Gesetzen der Tora, kurz - die Dämonen sind mindestens ebenso gesetzestreue und gottesfürchtige Juden wie die jüdischen Menschen in der Geschichte eines Jerusalemers. 76 Die ihren Körpern das Fehlverhalten des Protagonisten niederschlägt. An ihrem Äußeren spiegelt sich seine innere, moralische und daher besonders schwerwiegende Insuffizienz. 74 [S. 380]. 75 א ל ת ח ש ו ב ב ל ב ך , ש א נ כ י ש י ד ה ו ש א ת ה ב ן א ד ם , ש כ ל ד ב ר ת מ צ א ב י ב ד מ ו ת א ש ה , א י נ י ח ס ר ה כ ל ו ם . [S. 385]. 76 Vgl. Yassif , Folktale, S. 370. Jeremy Dauber diskutiert die Ähnlichkeit dämonischen und menschlichen Verhaltens im Zusammenhang mit Inversion und Mimesis: «They [die Dämonen, A. L.] study Torah, they pray, they have synago- ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 248 Tatsache, dass die Dämonen im Gegensatz zu Dihon die göttlichen Gebote ehren und sich stets an ihre einmal eingegangenen Verpflichtungen halten, führt dazu, dass die Pflichtvergessenheiten des Protagonisten als in besonderem Maß verurteilungswürdig erscheinen. Aus dieser Perspektive ist es schwierig, in der Dämonin oder in ihren Angehörigen den «personifizierte[n] Tod Israels« 77 zu sehen, als den Beate Ego den Dämon Aschmedai im Buch Tobit bezeichnet. In der Welt der Dämonen können Abenteuer bestanden werden, die die Menschenwelt nicht bereithält. Dazu gehören die Bedrohung durch wilde Tiere, das Erlangen unermesslicher Reichtümer, die Begegnung mit Königen und die Hochzeit mit Königstöchtern. Der Eindruck ungewohnter Exotik ist jedoch oberflächlich. In der Dämonenwelt herrschen die gleichen Regeln wie im Reich der Menschen, die symbolische Ordnung und das Nein-des-Vaters reichen über den Ozean hinweg und lassen die Abgrenzung der Bereiche voneinander als zunehmend durchlässig und überflüssig erscheinen. So ist es möglich, dass Dihons ursprüngliches Vergehen gegen den Willen seines Vaters schließlich von denen gerächt wird, in deren Gewalt er durch seinen Fehltritt geraten ist. Das grundlegende Problem des Helden besteht darin, dass mit seiner Beziehung zum übergreifenden väterlichen Gesetz auch die zu seiner gesamten sozialen Umgebung gestört ist. Dihons Tod kann somit als Befreiung ebenso wie als Strafe gedeutet werden. 78 Im Leben ist eine Suspendierung der vielfältigen Anforderungen, die die symbolische Ordnung an das Subjekt stellt, nicht möglich, das wird in der Erzählung deutlich. Die menschlichen Richter befehlen Dihon: ‹ Tu ihren Willen und küsse sie, dann befreit sie dich von all deinen Verpflichtungen. › Er ging hin und küsste sie. Da erwürgte sie ihn und er starb. 79 gues, they judge according to Jewish law. The primary difference, it seems, is that they are much more easily driven to homicide towards those who break laws and oaths: unfortunately for our protagonist, this includes the oath he has made to his demon mate.« Dauber , Bedroom, S. 146. 77 Ego , Asmodäus, S. 315. 78 Dazu passt, dass das Motiv des Todeskusses in der jüdischen Literatur sowohl mit einem sanften, schmerzlosen Sterben als auch mit einem unnatürlichen, gewaltsamen Tod verbunden wird: «The kiss is not only a manifestation of pure, holy, divine power, a kind of reward given to the saint, but it also has the negative aspect of death; the kiss is a manifestation of a negative-demonic power which punishes the man and causes him suffering.« Shenhar , Death by a Kiss, S. 62 - 73, hier S. 68. Der Todeskuss kann Gnade, Strafe oder gar beides bedeuten. Die Unerbittlichkeit des Ordnungssystems wird auch dadurch nicht gemildert, dass es alles Störende auf behutsame Weise ausscheidet. 79 ע ש ה ר צ ו נ ה ו נ ש ו ק א ו ת ה , ו ה י א פ ו ט ר ת א ו ת ך מ כ ל מ ה ש ח י י ב נ ו ך . ה ל ך ו נ ש ק ה , ו ח נ ק ה א ו ת ו ו מ ת . [S. 392]. Tödliches Aufbegehren 249 Auf gewisse Weise wird Dihon tatsächlich befreit. Er bezahlt diese Freiheit allerdings mit dem Leben. Um lebensfähig zu sein, muss das Subjekt, zumindest in dieser Erzählung, sich unterordnen, und hierin hat der Protagonist versagt. Es ist aber auch möglich, den mit einer tödlichen Erwürgung endenden Kuss auf eine andere Art zu interpretieren. Sieht man in der Dämonin nicht nur die Vollstreckerin der symbolischen Ordnung, die physische Manifestation des Nein-des-Vaters, sondern auch das verbotene Ziel von Dihons Ausbruch aus dem von seinem Vater verordneten Leben, dann stellt dieser letzte Kuss auch ein letztes Aufbäumen gegen das väterliche Prinzip dar. In diesem Sinne ist es nicht der in der Dämonin verkörperte symbolische Vater, der den Helden tötet. Durch den Kuss, die einzige erotisch konnotierte Geste in der gesamten Erzählung, erlebt der Held die exzessive, überwältigende und traumatische jouissance, die alles Begehren erfüllt, stillstellt und jegliche Fortsetzung menschlichen Lebens über diesen Punkt hinaus unnötig und unmöglich macht. Der Geschichte eines Jerusalemers liegt ein Dreieck des Begehrens zugrunde, in dem das Subjekt nicht in erster Linie eine andere Person, sondern vielmehr seine eigene Autonomie und die Freiheit von bindenden Kontrakten begehrt, die ihm von dem mächtigsten vorstellbaren Mittler, dem symbolischen Vater und seinen immanenten Repräsentanten, vorenthalten werden. Da Dihon sich den Gesetzen der symbolischen Ordnung bis zum Schluss nicht fügt, wird sein Leben an dem Ort zu einem abrupten Ende gebracht, an dem er es begonnen hatte: in seiner Heimat, an der Stelle, an der das Totenbett seines Vaters gestanden hatte und wo er seine erste Verpflichtung eingegangen war. Hier wird das anarchische Begehren des Protagonisten durch dessen Tod aus der erzählten Welt geschafft. Allerdings ist die Erzählung mit Dihons Tod noch nicht ganz zu Ende. An dem Punkt, an dem missratene Abstammung und gefährliche Allianz aufeinandertreffen - wo nämlich aus der Allianz ein Nachkomme hervorgeht - scheint es, als würde die Erzählung doch in eine Zukunft hineinreichen, die außerhalb des Textes liegt. Sowohl die verbotene Allianz des Protagonisten als auch sein verbotenes Begehren hinterlassen eine bleibende Spur in der Welt der Menschen. Das halbdämonische Kind Schlomo symbolisiert zwar unter anderem, wie oben erwähnt, ein durch Dihons Fehltritte verursachtes bedrohliches Einsickern des Dämonischen in die Gemeinschaft der Menschen und damit einhergehend eine Verdammung exogamer Allianzen. Schlomo stört aber die bestehende Ordnung nicht nur, er trägt gleichzeitig auch dazu bei, sie in anderer Form wiederherzustellen. In ihm wird die Abstammungslinie des reichen Kaufmanns, mit dessen Erwähnung die Erzählung beginnt, fortgesetzt. Es ist, als hätte diese Linie einfach um die aufsässige mittlere Generation einen Bogen gemacht: Dihon wird ausgeschnitten, auf Salmon folgt Schlomo. Der ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 250 Enkel nimmt aber nicht etwa die Stelle des Großvaters ein, wie dies von Dihon erwartet worden war. Er erhält einen weit höheren Status, als sein Großvater ihn je besessen hatte. Dem Kind Schlomo wird eine Gelegenheit zum Transzendieren der väterlichen Position gegeben, die Dihon nicht besessen hatte. Die exogame Heiratsallianz selbst funktioniert auf Dauer nicht. Ihrem Produkt aber wird in der Erzählung ein besonders hoher Stellenwert zugemessen. Ob Schlomo ein guter Herrscher ist und der Gemeinde Gutes tut, erfährt der Leser nicht mehr. Die Ambivalenz des Ergebnisses der riskanten Verbindung wird nicht aufgelöst, die Zukunft der menschlichen Gemeinde ist ungewiss, über das Schicksal und zukünftige Handeln des neuen Herrschers wird keine Vorhersage getroffen. Die Dämonenhochzeit kann auf lange Sicht eine große Anzahl möglicher Konsequenzen hervorbringen. Sie bildet den Angelpunkt, von dem aus sich die Zukunft der beschriebenen Gesellschaft unter Rückbezug auf eine mythische Vergangenheit ins Unbestimmte öffnet. Denn der Sohn Schlomo, der aus der Ehe der Dämonin mit Dihon bar Salmon hervorgeht, ist genauso wie sein Großvater väterlicherseits nach dem biblischen König Schlomo (König Salomo) benannt, der mit Hilfe des Dämons Aschmedai den Jerusalemer Tempel erbaut hatte. 80 Während aber der Großvater ein Derivat des biblischen Namens trägt, erhält der Enkel diesen in der ursprünglichen, biblischen Form. In Schlomo manifestieren sich die Möglichkeiten der Fortsetzung und des Neubeginn einer Deszendenzlinie. Sein Eintritt in die Menschenwelt suggeriert zudem einen an anderer Stelle einzulösenden Ansatz zu Folgeerzählungen über sein weiteres Schicksal und Wirken. Insofern verkörpern sich in diesem Kind all die Möglichkeiten, die das Narrativ der gestörten Mahrtenehe frühneuzeitlichen Erzählern potentiell eröffnet. 5.4 Der Exempelheld als Romanheld Dass Allianzen mit fremden Frauen und Verstöße gegen die symbolische Ordnung aufgrund allzu eigenständiger Entscheidungen verderbliche Folgen für einen jugendlichen Protagonisten haben können, der den Status eines Erwachsenen noch nicht vollständig erlangt hat, liegt in der Geschichte eines Jerusalemers auf der Hand. Die Konsequenzen, die aus seinem Verhalten für die Gemeinschaft der Menschen entstehen, sind nicht absehbar. Die, die ihn selbst betreffen, sind fatal. 80 Er beschnitt ihn nach acht Tagen, so wie die Tora es verlangt, und gab ihm den Namen Schlomo nach dem König Schlomo ( ו מ ל א ו ת ו ל ש מ ו נ ה י מ י ם כ ד י ן ת ו ר ה , ו ק ר א א ת ש מ ו ש ל מ ה ע ל ש ם ה מ ל ך ש ל מ ה ) [S. 385]. Der Exempelheld als Romanheld 251 Dihon bar Salmon kann der Bestrafung für seine Fehltritte nicht entgehen. Auf lange Sicht wird sein Verhalten nicht akzeptiert. Auffällig ist in dieser Erzählung allerdings, dass er für seine Gebots-, Schwur- und Vertragsbrüche immer wieder Gründe anführt, durch die sein Verhalten zumindest teilweise plausibel und nachvollziehbar erscheint. Der Held wird als Mensch charakterisiert, der durchaus auch anders handeln könnte - und dennoch nie das tut, was von ihm erwartet wird, sondern nur das, was er selbst für angemessen hält. Hierin unterscheidet er sich nicht nur von dem gehorsamen Tobias aus dem Tobitbuch, sondern auch von dem Protagonisten einer weiteren, im jüdischen Kontext überlieferten und sehr populären Erzählung, die interessante Parallelen zur Geschichte eines Jerusalemers aufweist. Gemeint ist die Geschichte eines Frommen, der in seinem Leben niemals schwor. Ein Vergleich der beiden Texte zeigt, auf welch komplexe Weise in der Geschichte eines Jerusalemers der Umgang mit elterlichen Geboten und dem göttlichen Gesetz diskutiert wird und wie vielschichtig ihre Hauptfigur tatsächlich angelegt ist. Die Erzählung, deren Held sich zum Nein-des-Vaters so ganz anders verhält als Dihon bar Salmon, ist Teil einer Sammlung von Geschichten mit dem Titel Midrasch Aseret ha-Dibrot ( ‹ Midrasch über die Zehn Gebote › ). Inwiefern aber ist die Geschichte eines Frommen als Midrasch zu bezeichnen? Die Rabbinen der Spätantike gehen davon aus, dass der biblische Text grundsätzlich mehrdeutig ist und der Auslegung bedarf. 81 Aus dieser Haltung resultiert die prinzipielle Polyphonie in der rabbinischen Literatur, das Nebeneinander unterschiedlicher Meinungen. Günter Stemberger zufolge gibt es schlicht «keinen Anspruch einer bestimmten Auslegung auf ausschließliche Geltung.« 82 Der Gedanke, dass die sogenannte ‹ schriftliche Tora › um die ebenfalls von Gott gegebene ‹ mündliche Tora › ergänzt werden muss, um ein vollständiges Bild vom Wirken und Wollen Gottes zu erhalten, bezieht sich neben den halakhischen, also religionsgesetzlichen Teilen der nachbiblischen Lehre auch auf die erzählende Überlieferung. Der geschlossene Kanon der Bibel bedarf «einer ständigen Aktualisierung, in der der Ausleger die Gegenwartsbedeutung des Textes bzw. der biblischen Geschichte stets von neuem zu erheben hat.« 83 Midraschim (von dem hebräischen Verb ד ר ש , d. h. ‹ suchen › oder ‹ fragen › ) sind Schriften, in denen biblische Erzählungen Satz für Satz neu erzählt und ausgelegt werden. Man stellt bei diesem Verfahren heraus, worauf die unterschiedlichen Satzteile anspielen, zieht zur Deutung weitere Bibel- 81 bSanhedrin 34a: Ein Schriftvers hat verschiedene Deutungen. 82 Günter Stemberger : Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel. Einführung - Texte - Erläuterungen. München 1989, S. 23. 83 Stemberger , Midrasch, S. 25 f. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 252 stellen heran, zitiert die Meinung verschiedener rabbinischer Autoritäten und fügt erklärende Nacherzählungen oder ganz eigenständige Erzählungen hinzu. Der Midrasch über die Zehn Gebote, der wahrscheinlich im 11. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Irak vollendet wurde, 84 enthält strenggenommen keine midraschischen Erzählungen im rabbinischen Sinn. Die Geschichten, in denen davon erzählt wird, wie wichtig es ist, den Dekalog zu beachten, haben mit der biblischen Schrift oft nur wenig zu tun. 85 Den Anspruch aber, erläuternd zum Verständnis eines zentralen Bestandteils der schriftlichen Tora beizutragen, hat auch der Midrasch über die Zehn Gebote. Im Zusammenhang mit der Geschichte eines Jerusalemers ist vor allem die Erzählung von Interesse, die sich auf das nach jüdischer Zählung dritte Gebot bezieht. Dieses lautet: Du sollst den Namen des Herrn , deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht (Ex 20,7 und Dtn 5,11). In der Erzählsammlung wird das Gebot, den Namen Gottes nicht zu missbrauchen, in einem engeren Sinn so ausgelegt, dass es verboten ist, falsch zu schwören. Am besten ist es ohnedies, überhaupt nie im Namen Gottes zu schwören, selbst wenn der Schwur einen wahren Sachverhalt betrifft. 86 84 Vgl. Joel Rosenbergs Vorwort zum Midrasch über die Zehn Gebote in: Rabbinic Fantasies. Imaginative Narratives from Classical Hebrew Literature. Hg. von David Stern und Mark Jay Mirsky (Yale Judaica Series 29). New Haven, London 1998, S. 91 - 93, hier S. 91. Eli Yassif setzt als spätest mögliche Datierung das 9. Jahrhundert an. Zu weiteren Datierungsvorschlägen vgl. Yassif , Oicotype, S. 221. Ebenso wie die Geschichte eines Jerusalemers war auch die Erzählsammlung über die Zehn Gebote bis weit in die Neuzeit hinein äußerst populär und weit verbreitet. Davon zeugt die Existenz zahlreicher Handschriften, Drucke und Übersetzungen. 85 Joseph Dan bezeichnet die midraschischen Elemente im Midrasch über die Zehn Gebote als lediglich ornamentales Beiwerk. Vgl. Joseph Dan : Art. Fiction, Hebrew, in: EJ 7, S. 10 - 16, hier S. 12. In der Oxforder Handschrift Bodl. Or. 135, in der sich auch die Geschichte eines armen Mannes und die älteste überlieferte Version der Geschichten Sendebars befinden, steht der Midrasch über die Zehn Gebote in der Midrasch-Sektion des Manuskripts (zwischen dem Midrasch Divre ha-Jamim schel Mosche Rabbenu, der wiederum auch in dem Konstantinopler Druck von 1516 überliefert ist, und dem Midrasch va-Joscha). 86 Vgl. Midrash Aseret Ha-Dibrot. A Midrash on the Ten Commandments. Text, Sources and Interpretation. Edited and compiled with a literary critical commentary by Anat Shapira . Jerusalem 2005 [hebr.], S. 50 ff. Shapiras Edition basiert auf der HS Paris 716 (14.-15. Jahrhundert.). Zur Datierung vgl. Binyamin Elizur : On the Process of Copying Midra š 'Aseret Haddibberot, in: Lesonenu 48/ 49, 2/ 3 (1983/ 1984), S. 207 - 209 [hebr.]. Vgl. auch die Übersetzung einer anderen Version der Geschichte eines Frommen in: Aus Israels Lehrhallen. Bd. IV. Kleine Midraschim zur jüdischen Ethik, Buchstaben- und Zahlensymbolik. Herausgegeben und übersetzt von August Wünsche . Hildesheim 1967 (Erstausgabe aller fünf Bände Der Exempelheld als Romanheld 253 Zur Illustration dieser Regel werden zunächst einige kürzere Erzählungen präsentiert, deren Akteure für ihre Schwüre bestraft werden. Anschließend folgt die Geschichte eines Frommen. Genau wie in der Geschichte eines Jerusalemers wird in dieser exempelhaften Erzählung vorgeführt, dass der Mensch sich göttlichen Geboten und menschlichen Verpflichtungen unterordnen muss, um auf seinem Lebensweg erfolgreich ans Ziel zu gelangen. 87 In der Geschichte eines Frommen spricht ein sterbender Kaufmann gegenüber seinem Sohn das Gebot aus, unter keinen Umständen jemals einen Schwur zu leisten. Seinen ganzen Reichtum habe er selbst nur dadurch erwerben können, dass er nie geschworen habe. Der Sohn verspricht, sich an das Gebot zu halten und tut dies auch, als er von betrügerischen Menschen erst um seinen gesamten Besitz gebracht und schließlich sogar vor die Wahl gestellt wird, zu schwören oder ins Gefängnis zu gehen. Seine Frau wird, kurz nachdem sie ihren Mann hat freikaufen können, von einem sich zufällig in der Gegend aufhaltenden Schiffseigner entführt. Der mittellose Protagonist ist gezwungen, mit seinen Kindern bettelnd in die Fremde zu ziehen. Beim Übergang über einen Fluss wird er von ihnen getrennt. Auch die Kinder werden auf einem Schiff entführt. Der Held gelangt in eine fremde Stadt, bei deren Einwohnern er sich als Viehhirte verdingt. Als er eines Tages vor Verzweiflung über sein bitteres Schicksal kurz davor ist, sich im Fluss zu ertränken, sich dann aber doch gegen den Selbstmord entscheidet, erscheint ihm ein Engel und übergibt ihm zum Lohn für sein Festhalten am väterlichen Gebot eine große Menge Geldes. Der Protagonist erbaut damit eine Stadt und wird zum König. Schließlich trifft er sowohl seine Frau als auch seine Kinder wieder und führt mit ihnen ein glückliches Leben in Reichtum und Ehre. Auch in dieser Erzählung gerät ein Sohn in eine Situation, in der er entscheiden muss, ob er das väterliche Gebot brechen oder halten will. Wie Dihon überquert der Held nach einer Begegnung mit Geschäftspartnern seines Vaters gefährliche Gewässer, wird in unbekannte Gegenden verschlagen und muss Hunger, Besitzlosigkeit und das Ausgeliefertsein an Fremde erdulden. Dem Vorbild des biblischen Hiob folgend, bleibt der Held der Geschichte eines Frommen bei allen Schicksalsschlägen standhaft, hält sich an das väter- 1907 - 1910), S. 68 - 121. Vgl. zudem Joel Rosenbergs Übersetzung der von Galit Hasan-Rokem herausgegebenen Version des Textes in: Rabbinic Fantasies, S. 98 - 103, sowie Eli Yassifs Übersetzung der Version aus der Oxforder Handschrift MS Bodl. Or. 135, 305a-306b, in Yassif , Oicotype, S. 233 - 235. 87 Zur Verwandtschaft der Erzählung mit der christlichen Placidas-Eustachius-Legende vgl. Yassif , Oicotype, S. 219 f. Zur Placidas-Eustachius-Legende im Vergleich mit dem Paradigma des antiken Familienromans (Historia Apollonii regis Tyri, die Version der Placidas-Legende in der Legenda Aurea, die Crescentiageschichte in der Kaiserchronik u. a.) vgl. Kiening , Unheilige Familien, S. 46 ff. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 254 liche Gebot und wird am Ende dafür belohnt. Die Erzählung handelt vor allem davon, wie wichtig es ist, elterlichen Verhaltensmaßregeln unter allen Umständen Folge zu leisten. Deren Gültigkeit wird auch dadurch nicht vermindert, dass sie jeglicher Logik zu widersprechen scheinen - im Gegenteil: Erfolg oder Misserfolg des Sohns hängen davon ab, ob er einem Gebot folgt, das ihm vordergründig nicht nützt oder ihm sogar zu schaden scheint. 88 Das väterliche Gebot erhält dadurch zusätzliche Autorität, dass es mit einem göttlichen zusammenfällt. Nicht nur heißt es im Dekalog (Dtn 5,16): Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der Herr , dein Gott, geboten hat, auf dass du lange lebst und dir ’ s wohlergehe in dem Lande, das dir der Herr , dein Gott, geben wird. Dies schließt ein Beachten der elterlichen Gebote mit ein. 89 Zusätzlich ist die Weisung des Vaters zumindest dem Wortlaut nach identisch mit der von Gott am Sinai geoffenbarten Vorschrift, den göttlichen Namen nicht unnütz zu verwenden. 90 Göttliches und väterliches Gebot fallen auch insofern in eins, als bereits in der Tora nicht zwischen rechtlichen und moralischen oder zwischen göttlichen und menschlichen Normen unterschieden wird: The basis of adherence to the system as a whole is the fact that it constitutes divine command. [. . .] The premise of the pentateuchal code is that no propounded norm of human behavior is either optional or lacking in enforcement. Indeed the sanction system is one in which human punishment and divine retribution function as equal components of a single scheme. 91 Wenn also dem Sohn in der Geschichte eines Frommen aufgetragen wird, keine Eide zu leisten, dann wird dieser Befehl sozusagen mit einem Echo ausgesprochen - hinter der Stimme des Vaters erklingt die Stimme Gottes und umgekehrt. Wer sich dem irdischen Regelsystem unterordnet, der bewegt sich im Rahmen des göttlichen Gesetzes und damit auch innerhalb der Grenzen der symbolischen Ordnung. Das zugleich väterliche und göttliche Gebot wird zwar im Verlauf der Geschichte eines Frommen von außen angegriffen, nämlich durch Menschen, die von dem Protagonisten bestimmte Eide fordern. Der Held erwägt aber nicht einmal, vom Gesetz abzuweichen - auch der zunächst verlockende 88 Vgl. Yassif , Oicotype, S. 229. 89 Vgl. Gerald Blidstein : Honor Thy Father and Mother. Filial Responsibility in Jewish Law and Ethics (Library of Jewish Law and Ethics 1). Jersey City, NJ 2005. 90 Die Geschichte eines Frommen wird im Zusammenhang mit dem dritten Gebot erzählt, würde aber auch zum fünften Gebot passen. 91 Saul Berman und Menachem Elon : Art. Law and Morality, in: EJ 12, S. 535 - 541, hier S. 535. Der Exempelheld als Romanheld 255 Ausweg in den Freitod stellt für ihn letztlich keine Alternative zum Leiden unter göttlichem Gesetz dar. Dadurch, dass er seine Freiheit ganz in den Dienst der Unterwerfung stellt, beschreitet er einen Weg, der zwar beschwerlich ist, dessen Ziel aber von Beginn an feststeht. Diesem Protagonisten ist ein tatsächlicher Fortschritt möglich. Dies gilt für seine Bewegungen im Raum ebenso wie für seinen materiellen Besitz und seinen sozialen Status. Die gefährlichen Umstände, in denen er sich wiederholt befindet, sind nicht etwa Symptom einer moralischen Verantwortungslosigkeit, sondern im Gegenteil eine wünschenswerte Gelegenheit, Beständigkeit zu beweisen. Der Protagonist bewährt sich. Er tut es eben nicht aktiv, sondern passiv. Indem er sich durch keine Versuchung beeinflussen lässt und dafür mit einem glücklichen Ausgang seiner Abenteuer belohnt wird, bestätigt er die unbedingte Gültigkeit eines festgefügten Regelsystems, das dem Individuum einen einfach zu beschreitenden Weg durch die Belastungen des menschlichen Lebens weist. Von Dihon bar Salmon hingegen kann man nicht behaupten, dass er eine auch nur vergleichbare Neigung zu Gehorsam und Leidensfähigkeit besäße. Stattdessen lässt er keine Gelegenheit aus, sich gegen das, was sein Vater, Gott oder die Dämonen von ihm erwarten, aufzulehnen. Mit dieser Strategie ist er so erstaunlich erfolgreich, dass sich immer wieder Gelegenheiten ergeben, in denen der Rezipient sich fragen kann, ob der Held wohl auch dieses Mal ungeschoren davonkommt und wie die Geschichte sich weiter entwickeln wird. Anders als in der Geschichte eines Frommen wird der Gehorsamsdiskurs nicht stark komprimiert und relativ eindimensional in eine Geschichte über richtiges Handeln unter schwierigen Umständen umgesetzt. Ihr hohes Maß an Komplexität erreicht die Geschichte eines Jerusalemers dadurch, dass in ihr die Notwendigkeit, eine einmal eingegangene Verpflichtung unbedingt einzuhalten, als viel weniger selbstverständlich dargestellt wird als in der Geschichte eines Frommen. Die Charakterisierung des der erzählten Welt zugrunde liegenden Regelsystems als durchaus flexibel beginnt schon beim Inhalt des väterlichen Gebotes ganz zu Beginn der Erzählung. Die vom Vater ausgesprochene Verfügung wird zwar, genau wie in der Geschichte eines Frommen, durch das Religionsgesetz gestützt. Die Autorität Salmons lässt sich aus dem fünften Gebot ableiten; die Notwendigkeit, einen einmal geleisteten Eid zu halten, um ihn nicht nachträglich in einen Meineid zu verwandeln, ist auf das dritte Gebot zurückzuführen. Die Begründung für das väterliche Gebot aber, die der Vater selbst nennt, lautet, dass der Sohn sich nicht in Gefahr bringen solle. Bei dieser Anordnung handelt es sich um eine allein vom Vater gesetzte Anweisung, die keine allgemeine, von der Tora gestützte Gültigkeit beanspruchen kann. Zudem ist die Situation, in die der Held mit der Ankunft der Geschäftspartner seines Vaters gerät, viel weniger explizit bedrohlich als im Midrasch. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 256 Diese bezeichnen sich nicht nur selbst als vertrauenswürdige und gottesfürchtige Männer. Sie machen auch deutlich, dass sie nicht beabsichtigen, sich widerrechtlich den Besitz des Helden anzueignen. Im Gegenteil, sie wollen sogar dazu beitragen, Dihon Zugriff auf die ihm zustehenden restlichen Güter seines Vaters zu verschaffen. Der Protagonist wird keineswegs dazu gezwungen, das Gebot seines Vaters zu brechen, sondern mit plausiblen Argumenten überzeugt. Die Seeleute schlagen vor, eine Entbindung von dem Eid zu erwirken, denn: ‹ Wir wussten immer, dass dein Vater ein weiser und verständiger Mann war. Es scheint uns aber so, als sei er nicht bei Sinnen gewesen, als er starb und dich schwören ließ, nie übers Meer zu fahren. Wirklich, du sollst wissen, dass dieser Schwur nichts gilt. 92 Die Befreiung von dem verpflichtenden Gebot wird also rational motiviert. Anders als der Held der Geschichte eines Frommen handelt Dihon zwar eigennützig, da er seine eigenen Interessen über das ihm auferlegte Gebot stellt. Allerdings tut er dies mit guten Begründungen. Seine Argumentation wird in der Erzählung nicht anerkannt; sie eröffnet aber zumindest einen Ausblick auf alternative Handlungsmöglichkeiten, die dem Gesetz nicht in vollständiger Negierung gegenüber stehen. Als Dihon im Land der Dämonen für den Verstoß gegen das väterliche Gebot der Prozess gemacht wird, kommt es nicht zur Verurteilung, obwohl seine Schuld feststeht. Die Vorstellung, dass auf ein bestimmtes Fehlverhalten nicht zwangsläufig die dafür vorgesehene Bestrafung folgen muss, wird aus der Tora hergeleitet. So bringen die anklagenden Dämonen selbst die biblische Aussage Verflucht sei, wer seinen Vater oder seine Mutter verunehrt 93 mit Sauls Verfluchung seines Sohnes Jonathan in Verbindung. In der anzitierten biblischen Erzählung bricht Jonathan - unwissentlich - das Gebot seines Vaters und soll dafür mit dem Tod bestraft werden. Da aber das Volk für ihn spricht, wird er begnadigt. Der Verweis auf diesen Prätext verdeutlicht, ein wie großer Wert in der Geschichte eines Jerusalemers darauf gelegt wird zu zeigen, dass die Beurteilung einer Tat durchaus von verschiedenen Parametern abhängig sein kann und dass Gnade unter gewissen Umständen möglich ist. 92 י ו ד ע י ם ה י י נ ו ש א ב י ך ה י ה א י ש ח כ ם ו נ ב ו ן , א מ נ ם נ ר א ה ל נ ו ש ל א ה י ה ב ד ע ת ו כ ש מ ת , כ א ש ר ה ש ב י ע ך ש ל א ל פ ר ו ש ב י ם . ו ב א מ ת ת ד ע , ש א י ן מ מ ש ל א ו ת ה ש ב ו ע ה . [S. 376]. 93 In der Geschichte eines Jerusalemers steht verkürzt: מ ק ל ה א ב י ו ו א מ ו , d. h. wer Vater und Mutter schmäht (wörtlich: leicht macht im Gegensatz zu ehrt, wörtlich: schwer oder wichtig macht). Aus Dtn 27,16 lässt sich erschließen, dass eine Person, die diesem Gebot zuwider handelt, verflucht sein soll. [Vgl. S. 381]. Der Exempelheld als Romanheld 257 Im zweiten Handlungsabschnitt lässt Dihon es dem König Aschmedai gegenüber an Gehorsam mangeln. Er entgeht der Rache Aschmedais für das Betreten der verbotenen Kammer, indem er ein überzeugendes Argument für sein Handeln anführt. Die Behauptung, er habe aus Liebe zur Königstochter gehandelt, ist zwar schlicht gelogen - dennoch rettet sie ihm zumindest vorläufig das Leben. Daran wird sichtbar, dass die Auflehnung gegen den Befehl eines Herrschers leichter vergeben werden kann als die gegen den Willen des Vaters oder gegen den wechselseitigen Vertrag mit einer Ehefrau. 94 Im dritten Teil der Erzählung, in Folge der Heirat und der Trennung von seiner dämonischen Ehefrau, kommt es zu einem wahren Exzess sowohl an Verpflichtungen als auch an Begründungen für deren Nichtbeachtung. Dihon stellt seiner Frau einen Ehevertrag aus, er schwört, sie zu lieben und niemals zu verlassen und verspricht schließlich, nach Jahresfrist zu ihr zurückzukehren. Seinem Sohn gegenüber entschuldigt er den anschließenden Treuebruch mit der bereits erwähnten Begründung, dass die Dämonin und er nicht von gleicher Art seien und dass es nicht den Bräuchen des Landes entspreche, dass ein Mensch eine Dämonin heirate und Dämonen zeuge. Dihon zufolge seien seine Schwüre aber ohnehin ungültig, denn: ‹ All die Schwüre, die ich ihr geschworen habe, tat ich voller Grauen und in der Furcht, von ihnen getötet zu werden. Die Schwüre wurden unter Zwang geschworen und sind daher ohne Bedeutung. › 95 Mit dieser Argumentation folgt er unter anderem dem Vorbild Aschmedais. Dieser hatte schon beim ersten Prozess den Helden mit einer ähnlichen Begründung vor dem Todesurteil bewahrt und zu diesem Zweck erst aus dem Talmud und dann aus der Bibel zitiert. Dihon kann sich bezüglich seines Arguments der erzwungenen Eide auf antike rabbinische Autoritäten stützen, die sich, zum Teil gegen die Bibel, dafür aussprechen, dass Gelübde und Eide unter bestimmten Umständen gelöst werden können. Die Rabbinen treten dafür ein, die Gültigkeit von Schwüren abhängig von der konkreten Situation zu beurteilen. Das göttliche Gesetz wird von ihnen nicht starr und formalistisch angewandt. Es wird als Gegenstand der Interpretation betrachtet. Ein Beispiel für die rabbinische Einstellung gegen- 94 Den einzigen Eid, den Dihon Aschmedai schwört, hält er vermutlich auch. Aschmedai rettet den Menschen unter der Bedingung, dass er schwört, dem Sohn des Königs alles beizubringen, was er weiß. Wenig später heißt es, dass er dem Sohn Aschmedais alles beigebracht habe, was er wusste. Zumindest wird an keiner Stelle zum Ausdruck gebracht, dass die Ausbildung des Dämonenprinzen mangelhaft gewesen sei. 95 כ ל ה ש ב ו ע ו ת ש ע ש י ת י ל ה ה י ו מ פ נ י א י מ ה ו י ר א ה ש ל א י ה ר ג ו נ י , ו ל כ ן ה י ו ה ש ב ו ע ו ת ב א ו נ ס ו א י ן ב ה ם מ מ ש . [S. 390]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 258 über dem Gesetz ist die berühmte talmudische Geschichte von Achnais Ofen in bBaba Metzia 59b. Dort wird erzählt, wie sich R. Elieser mit den anderen Rabbinen über eine bestimmte Rechtssatzung streitet. Obgleich sich verschiedene Naturzeichen und Wunder ereignen, um Eliesers Ansicht zu bekräftigen, lassen sich seine Kollegen nicht überzeugen. Als eine Stimme vom Himmel zu wissen verlangt, was denn die Rabbinen gegen R. Elieser und seine offenbar richtige Meinung hätten, antwortet R. Jehoschua, dass die Tora sich nicht mehr im Himmel befinde, seit sie den Menschen am Berg Sinai verliehen worden sei. R. Jirmeja fügt hinzu, dass in der Tora geschrieben stehe, dass man grundsätzlich nach der Mehrheit zu entscheiden habe. Gott reagiert auf diese Auslegung keineswegs empört: R. Nathan traf Elijahu und fragte ihn, was der Heilige, gepriesen sei er, in dieser Stunde tat. Dieser erwiderte: Er schmunzelte und sprach: meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt. Die Rabbinen werden demnach als mündige Partner Gottes betrachtet, die ihren eigenen Zugang zum Gesetz finden können und sollen. Was zählt, sind nicht himmlische Stimmen, sondern Mehrheitsmeinungen. Der Vorzug eines Urteils von Rechtsgelehrten vor dem Absolutheitsanspruch eines biblischen Gebots zeigt sich unter anderem an der Einstellung gegenüber dem Schwören. Sie entwickelt sich in rabbinischer Zeit dahin, dass ein einmal ausgesprochener Schwur zwar nicht einfach ignoriert werden darf, dass er aber auch keine universale und in allen Fällen zutreffende Gültigkeit mehr besitzt. 96 Denn, wie Ze ’ ev W. Falk es ausdrückt: «Once the Tora had been revealed to Israel, God had, so to speak, abdicated the right of interpretation and any decisions reached by the sages was binding upon Him as well.« 97 Ein rabbinischer Gerichtshof kann sehr wohl Urteile fällen, die den Gesetzen der Tora scheinbar nicht entsprechen. Hinzu kommt, dass Gott selbst nach rabbinischer Anschauung nicht immer seinen eigenen Gesetzen folgt. Beim Richten kennt er zwei Handlungsweisen: Er richtet sowohl nach strengem Recht als auch mit Erbarmen. In der rabbinischen Literatur erscheint Gott häufig als zwischen Recht und Erbarmen hin- und hergerissen, wobei er in den meisten Fällen zum Erbarmen tendiert. 96 Vgl. Ze ’ ev W. Falk : Binding and Loosing, in: Journal of Jewish Studies. Special Issue: Studies in Jewish Legal History in Honour of David Daube. Hg. von Bernard S. Jackson . London 1974, S. 92 - 100. Unter Zwang ausgesprochene Schwüre gehören in diese Kategorie. Auch der Verdacht, dass der, der einen Schwur verlangt hat, irre gesprochen haben könne, ist in dieser Hinsicht ein ernstzunehmendes Argument. 97 Falk , Binding and Loosing, S. 100. Der Exempelheld als Romanheld 259 Dieser von den Rabbinen gezeichnete Gott kommt als ein Richter und benimmt sich wie ein Betrüger: Er beugt das Recht, um seine Geliebten vor dem gerechten Urteil zu bewahren. [. . .]. 98 Die Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit werden zwar nicht suspendiert. Gott aber wird in den spätantiken Texten als so gnädig und barmherzig dargestellt, dass er sein eigenes Gesetz umgeht, um die von ihm geliebten Menschen vor dem Verderben zu retten. Solch ein Gottesbild wird von den mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophen nicht mehr akzeptiert. Doch schon in den antiken rabbinischen Schriften selbst ist von einer ganzen Reihe von Fällen die Rede, in denen das Gesetz unerbittlich zur Anwendung gebracht wird - und zwar durch Gott, nicht durch die Menschen. Auch die rabbinischen Tannaiten und Amoräer drohen mit dem göttlichen Strafgericht, wenn ein Individuum seiner Bestrafung durch Menschenhand aufgrund rechtlicher Schlupflöcher entkommt, die jedem System von Recht und Gesetz notwendigerweise inhärent sind: [They] attempted to use the threat of divine retribution as a means of inducing the wrongdoer to remedy the injury of his own free choice, rejecting the exemption which the system allows him. 99 Auf Dihons Fall trifft zu, dass er nach dem menschlichen Gesetz frei ist, nach dem göttlichen Gesetz aber belangt und bestraft wird. Von den Rabbinen unterscheidet er sich dadurch, dass er weder ihre Autorität beanspruchen kann noch ihre Zielsetzung teilt. Denn während den antiken Gelehrten daran gelegen ist, das Gesetz so zu interpretieren, dass es allgemein anwendbar bleibt und auf diese Weise seine Gültigkeit behält, geht es Dihon lediglich um seinen eigenen Vorteil. Er kann sich durchaus bei mehr als einer Gelegenheit kenntnisreich auf die schriftliche und mündliche Tora berufen. Dabei sind die Argumente, mit denen er sich verteidigt, nachvollziehbar und scheinen sich eher auf eine kreative Anwendung des Gesetzes zu stützen als dieses zu umgehen. Insofern wird er mit Recht von verschiedenen Figuren im Verlauf der Erzählung als Sohn der Tora oder Sohn des Gesetzes ( ב ן ת ו ר ה ) bezeichnet. Dieses Epitheton erhält allerdings angesichts der Tatsache, dass Dihon sich wiederholt mit der religiösen Gerichtsbarkeit auseinandersetzen muss, eine gewisse Brisanz. Dass er ein Toragelehrter ist, lässt seine Vergehen noch schwerer wiegen. So argumentieren auch die Dämonen in Dihons erstem Prozess, wenn sie sich gegen eine Begnadigung aussprechen: ‹ Trotzdem verdient er den Tod, denn er ist ein Sohn der Tora und hielt dennoch nicht 98 Karl Erich Grözinger : Jüdisches Denken. Theologie - Philosophie - Mystik. Bd. 1. Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles. Frankfurt a. M. 2004, S. 241. 99 Berman , Law and Morality, S. 536. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 260 das Gebot seines Vaters › ( כ ל ש כ ן ש ה ו א ב ן מ ו ת , ש ה ו א ב ן ת ו ר ה ו ל א ש מ ר מ צ ו ת א ב י ו ). 100 Am Ende hilft dem Protagonisten all seine Gelehrsamkeit nicht mehr weiter. Die eifersüchtige Dämonin macht, nachdem der Protagonist abermals eine für ihn akzeptable Lösung erzielt hat, kurzen Prozess mit ihm. Über die Rechtmäßigkeit oder Entschuldbarkeit von Dihons Handlungen lässt sich zwar offenbar trefflich diskutieren - eine eigennützige Interpretation des Gesetzes aber ist, davon erzählt dieser Text, nicht hinnehmbar. Konsequenterweise wird daher dem Protagonisten schließlich kein Pardon gewährt. In Dihons tragischem Ende drückt sich somit unter anderem ein Unbehagen des Textes daran aus, dass irdische Rechtsprechung und die symbolische Ordnung divergieren können. Wenn, bedingt durch die Vielstimmigkeit und Multiperspektivität des rabbinischen Gesetzesdiskurses, das göttliche Gesetz in Menschenhand soweit gedehnt wird, dass es beginnt, seine Geltung zu verlieren, dann gerät das gesamte Gesellschaftsgefüge ins Wanken, das seine Legitimation aus der Rückbindung bestimmter konkreter Regeln an eine als göttlich aufgefasste symbolische Ordnung bezieht. Natürlich könnte man schlussfolgern: Was den Helden am Ende umbringt, ist kein das verletzte Gesetz vertretender Vater, kein rächender Gott. Es ist eine aus Eifersucht gekränkte Frau. Doch auch eine andere Interpretation ist möglich. Der Mord an Dihon, der soeben erneut den vollen Konsequenzen seines Handelns ausweichen konnte, stellt einen Versuch dar, den Gesetzesdiskurs selbst, der sich in all den Verhandlungen und Prozessen rabbinischer Maßgabe verselbständigt hat, unter Kontrolle zu bringen. In der Gestalt der in letzter Konsequenz mordenden Frau manifestiert sich eine enigmatische, gewaltsam über die Menschen hereinbrechende, von Diskussionen, Abwägungen und Winkelzügen nicht manipulierbare Seite des Gesetzes, von dem imaginiert wird, dass es sich selbst zur Erfüllung bringt. In der Geschichte eines Jerusalemers kommt das Phantasma einer unentrinnbaren symbolischen Ordnung zum Ausdruck. Obgleich das Gesetz in Menschenhand zu einem ungenügenden Regelinstrument wird, kann ihm auf struktureller Ebene, so wird hier imaginiert, keiner entkommen. Wenngleich die Geschichte keine Kritik an der Verbindlichkeit der Halakha selbst darstellt, so ist sie es wohl in Bezug auf eine Handhabung der Halakha, die einen Missetäter vor seiner Strafe bewahrt. Wer sich in dieser Erzählung bewähren muss, ist also nicht nur der menschliche Protagonist, sondern auch und vielleicht in noch stärkerem Maß der menschliche Umgang mit dem göttlichen Gesetz selbst. Die Geschichte eines Jerusalemers zeichnet sich gegenüber der Erzählung aus dem Midrasch über die Zehn Gebote dadurch aus, dass in ihr der Diskurs über Gesetz, Gesetzesbruch und die Möglichkeit eigenständiger Entscheidun- 100 [S. 381]. Der Exempelheld als Romanheld 261 gen erst ausdifferenziert, schließlich aber radikal wieder zusammengestutzt wird. Vor allem am Beispiel der beiden Gerichtsverhandlungen wird in dieser komplexen Erzählung die Vorstellung artikuliert, dass es bezüglich der Auslegung des Gesetzes stets mehr als eine Möglichkeit gibt und dass Gesetzesbrüche durchaus ohne Konsequenzen bleiben können. Am Ende wird die Vielzahl verlockender Alternativlösungen recht unvermittelt auf das gleiche Schema von Gehorsam oder Ungehorsam reduziert, eingedenk dessen der Held der Geschichte eines Frommen zu Glück und Wohlstand gelangt. Die Transgression jedoch, einmal vorgeführt, verliert ihre Verlockung nicht dadurch, dass sie am Ende bestraft wird. Aus der Geschichte eines Jerusalemers kann einerseits eine Anleitung zum Gehorsam entwickelt werden. All seine Begründungen, Lügen und Rechtfertigungen helfen dem Protagonisten am Ende nicht. Sie erzeugen auch keine Sympathie für ihn, nicht die von Figuren im Text und, dadurch bedingt, auch nicht die des Rezipienten. Andererseits: Durch den wiederholten Aufschub, der dem Helden mit ihrer Hilfe gewährt wird, eröffnen sich Perspektiven, die die des fügsamen Helden in der Geschichte eines Frommen weit übertreffen. Der Rezipient kann, selbst wenn er das Handeln Dihon bar Salmons verurteilt, die Freiheit genießen, die sich im anarchischen Ungehorsam des Helden offenbart. Die Erzählung präsentiert keinen Exempelhelden, der nie einen Fehler macht, sondern einen Romanhelden, dem es schwer fällt, auf der Grundlage komplexer Gegebenheiten die richtigen Entscheidungen zu fällen. Dadurch wird streckenweise eine Rezeptionshaltung provoziert, die dazu beiträgt, sich mit einem Helden zu identifizieren, der eben nicht vollendet tugendhaft ist, sondern allen Versuchungen erliegt. Die Geschichte eines Jerusalemers bietet, wie alle Dämonenhochzeitserzählungen, mehr als eine Möglichkeit, zu den Handlungen des Protagonisten und ihren Folgen Stellung zu beziehen. 5.5 Sequenzialität und Aufschub ins Unendliche: Die ‹ Geschichte Hoscheas › Für einen Bearbeiter oder Autor, der seinerseits die Geschichte neu erzählt, gibt es offenbar Anreize, die aufregenden und beunruhigenden Ambivalenzen in der Figur des Protagonisten zu beseitigen. Davon zeugt unter anderem eine jüngere Version der Geschichte eines Jerusalemers. Fixiert wurde sie in einer jemenitischen Handschrift des 19. Jahrhunderts. 101 Die Abweichungen vom Text der editio princeps, von der die jemenitische Version wahrscheinlich 101 Der Text dieser Handschrift wurde von Yehuda L. Zlotnik und Raphael Patai zusammen mit dem Text des Erstdrucks herausgegeben. Für den Hinweis auf die ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 262 abhängig ist, sind gering. Im letzten Abschnitt der Handlung allerdings nimmt der Autor oder Redaktor eine kleine, aber entscheidende Änderung vor. Im Druck von 1516 kann die Ermordung des Helden aus der Perspektive des gesamten Textes als endgültige Wiedereinsetzung der symbolischen Ordnung interpretiert werden. Sieht man aber in der Dämonin weniger eine Vollstreckerin des Namens-des-Vaters als vielmehr eine eifersüchtige Frau, die mit ihrem widerborstigen Ehemann über ein Scheidungsverfahren verhandelt, dann erscheint Dihons Ermordung trotz seiner vorherigen Vergehen nicht als unausweichlicher, sondern als relativ willkürlicher Strafakt. Schließlich erklärt Dihon sich mit allen Bedingungen der Scheidung einverstanden, obwohl die im Ehevertrag festgesetzte Summe äußerst hoch ist: Die Richter sagten zu dem Mann: ‹ Entweder, du zahlst ihr diese Ketuba aus, oder du kehrst mit ihr zurück. › Er antwortete ihnen: ‹ Seht, all der Reichtum ist in ihren Händen. Ich verzichte für sie auf alles. Ich gebe ihr ihren Scheidebrief, denn ich werde niemals mit ihr zurückkehren. › 102 In der jemenitischen Fassung der Geschichte hingegen beantwortet Dihon die Forderung der Dämonin und der menschlichen Richter mit einer Einschränkung, die im Erstdruck nicht vorkommt: Die Richter sagten zu ihm: ‹ Entweder befreist du sie mit einem Get und zahlst ihr die gesamte Ketuba aus, oder du gibst ihr die Erlaubnis, mit dir nach ihrem Willen zu verfahren. › Er sagte zu ihnen: ‹ Ich zahle nicht mehr, als es unser Brauch ist. › Sie sagten zu ihm: ‹ Du hast dich aber bereits zu allem verpflichtet, was in ihrer Ketuba steht. › 103 Dihon weigert sich hier, die im Ehevertrag fixierten Konditionen zu erfüllen. Das Element der Willkür im Handeln der Dämonin wird zurückgenommen, die harte Bestrafung des pflichtvergessenen Helden erscheint als gerechtfertigt. Die nächstliegende Schlussfolgerung lautet: Dieser Protagonist mag zwar Freude an seinem selbstbestimmten Lebenswandel haben. Sein letzter Vertragsbruch aber entsteht nicht aus Freiheitsliebe, sondern aus Habgier. Damit schließt sich der Kreis. Auch Dihons Aufbruch aus seiner Heimat und sogar das Betreten der verbotenen Kammer können nun auf dieses niedere Motiv zurückgeführt werden. Am Ende der Erzählung steht Dihon daher in dieser Version der Geschichte eines Jerusalemers als durchweg unsympathische Figur da. Das erschwert die Identifikation mit ihm ungemein. Datierung der Handschrift ins 19. Jahrhundert danke ich Abraham David von der Handschriftenabteilung der Hebräischen Universität von Jerusalem. 102 א מ ר ו ל ו ה ד י י נ י ם : א ו ת פ ר ע ל ה ז א ת ה כ ת ו ב ה א ו ת ש ו ב ע מ ה . ע נ ה ל ה ם : ה נ ה כ ל ה מ מ ו ן ב י ד ם , ה נ נ י מ ו ח ל ל ה ם ה כ ל , ו א ת ן ל ה ג י ט ה , ש ע מ ה ל א א ש ו ב ל ע ו ל ם . [S. 392]. 103 א מ ר ו ל ו ה ד י י נ י ם א ו פ ט ו ר א ו ת ה ב ג ט ו פ ר ע ל ה כ ת ו ב ת ה מ ו ש ל ם א ו נ ת ן ל ה ר ש ו ת ל ע ש ו ת כ ר צ ו נ ה . א מ ר ל ה ם א י נ י מ ש ל ם א ל א כ מ נ ה ג ש ל נ ו . א מ ר ו ל ו כ ב ר ח י י ב ת ע צ מ ך ב כ ל מ ה ש כ ת ו ב ב ש ט ר כ ת ו ב ת ה . (Ma ’ seh Yerushalmi, S. 67). ‹ Geschichte Hoscheas › 263 Ein Autor kann aber auch den umgekehrten Weg gehen und versuchen, aus dem Romanhelden wieder einen positiven Exempelhelden zu machen, indem er die guten Eigenschaften und Handlungen des Protagonisten betont, die schlechten abmildert und dem reuigen Helden ein glückliches Ende in Aussicht stellt. Dies geschieht beispielsweise in einer Erzählung, die ungefähr zur gleichen Zeit verschriftlicht wird wie die Geschichte eines Jerusalemers und die mit dieser, was die einzelnen Handlungselemente und deren Abfolge angeht, große Ähnlichkeit aufweist: die hebräische Geschichte Hoscheas. Die Erzählung befindet sich in einer aschkenasischen Handschrift aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 104 Sie enthält eine heterogene Vielzahl von Texten verschiedener Genres in hebräischer und jiddischer Sprache, darunter Midraschim, halakhische und lyrische Texte, Glossare und Erklärungen zur Grammatik sowie eine Sammlung von erzählenden Texten, deren Helden mittelalterliche Gelehrte wie etwa Jehuda he-Chasid sind. Die Geschichte Hoscheas ist deutlich weniger kunstvoll komponiert als die Geschichte eines Jerusalemers, obgleich die beiden Texte handlungslogisch offensichtlich eng miteinander verwandt sind. Der Schreiber oder Autor der Geschichte Hoscheas gibt am Ende der Erzählung an, dass er auf eine Vorlage zurückgegriffen habe, dass die Geschichte allerdings schon in der Vorlage unvollständig gewesen sei. Damit erklärt er das fehlende Ende in der vorliegenden Handschrift. Was den Zusammenhang der Geschichte Hoscheas und der Geschichte eines Jerusalemers angeht, so bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder beruhen beide Texte auf der gleichen oder einer ähnlichen Vorlage. Oder die Geschichte eines Jerusalemers diente als Vorlage für die Geschichte Hoscheas. In beiden Fällen muss erklärt werden, warum die Geschichte Hoscheas so ganz anders endet - soweit sie denn überhaupt endet - als die Geschichte eines Jerusalemers. 104 «Er [der Quartkodex] enthält grössere und kleinere Collectaneen, die eines Gesammttitels entbehren und auch nicht sicher erkennen lassen, von welcher Hand ihre Fassung und Zusammentragung herrührt. Dass der Sammler, resp. Schreiber ein Deutscher war, beweisen Schrift und Inhalt. Er hiess vielleicht Mose b. Gerson.« Nehemias Brüll : Beiträge zur jüdischen Sagen- und Spruchkunde im Mittelalter, in: Jahrbücher für Jüdische Geschichte und Literatur 9 (1889), S. 1 - 71, hier S. 1. Brüll gibt Umschreibungen von einigen der Erzählungen, die von den Taten hochmittelalterlicher Helden handeln. Zu einer Beschreibung der Handschrift Ms Heb. 8 0 3182, die heute in der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem liegt, vgl. Simha Asaf : On various Hebrew Manuscripts, in: Kiryat Sefer 11,4 (1935), S. 492 - 498 [hebr.], hier S. 498; vgl. auch Dan , Ms. Heb. 8 0 3182. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 264 Erzählt wird von einem frommen Mann namens Hoschea, der infolge finanzieller Schwierigkeiten nacheinander Handelsgeschäfte mit vier verschiedenen Geschäftspartnern in fernen Ländern aufnimmt. Nachdem er zu Reichtum gekommen ist, kehrt er zurück zu seiner Frau. Diese hat in der Zwischenzeit seinen Sohn Hoschea geboren. Auf dem Sterbebett gebietet Hoschea seinem Sohn, niemals über das Meer zu fahren, um sein Torastudium nicht zu vernachlässigen. Der Sohn namens Hoschea verspricht, sich an das Gebot zu halten, vergisst es aber nach einiger Zeit. Daher fährt er nacheinander mit drei der Geschäftspartner seines Vaters, die von dessen Tod erfahren haben und nun mit Hoschea Handel treiben wollen, auf das Meer hinaus. Jedes Mal erleiden sie Schiffbruch. Zwei Mal gelangt Hoschea wieder zurück nach Hause, beim dritten Mal verschlägt es ihn ins Land der Dämonen, deren König ihn zum Lehrer seines Sohnes und anderer Kinder bestellt. Hoschea spekuliert über die möglicherweise dämonische Natur der Kinder, doch erst, als er feststellt, dass die Dämonen einen bestimmten Teil der Liturgie nicht ertragen können, erkennt Hoschea voller Schrecken ihre wahre Natur. Der König kann ihn beschwichtigen, muss ihm jedoch einen zeitlich begrenzten Besuch bei seiner Familie zugestehen. Von dort kehrt Hoschea pünktlich zu den Dämonen zurück, verliebt sich in die Tochter des Dämonenkönigs, die dieser ihm anvertraut hat, und heiratet sie. Nach einiger Zeit bereut er, seine menschlichen Angehörigen verlassen zu haben. Der König gewährt ihm abermals Urlaub. Dieses Mal kehrt Hoschea nicht nach der vereinbarten Frist zu den Dämonen zurück. Als alle Erinnerungen an seine Verpflichtung nichts bewirken, tötet die Dämonin Hoscheas menschliche Frau mit einem Kuss. Hoschea selbst kann sich vor weiteren Zugriffsversuchen der Dämonin schützen, indem er das Schma Israel rezitiert. Die letzten Worte der Erzählung lauten: Bis hierher. Ich habe dies in einem Druck gefunden. Die Geschichte ist nicht ganz vollständig ( ע ' ' כ מ צ א ת י ב ת ו פ ס ו ה י ה ק צ ת ח ס ר מ ז ה ה מ ע ש ה ). 105 Zunächst fällt auf, dass auch in der Geschichte Hoscheas, ähnlich wie in den anderen spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Dämonenhochzeitserzählungen, die auf einem relativ schlichten Gerüst beruhende Handlung ausgeweitet wird. Dies geschieht allerdings nicht, indem der Autor die einzelnen Handlungskomponenten mit Details versieht, sondern indem er sie wiederholt. Die vorherrschenden Stilprinzipien der Geschichte Hoscheas sind Sequenzialität und Redundanz. Der Vater des Helden beispielsweise macht nicht mit einem Partner Geschäfte, sondern mit vieren, und immer auf 105 Was ת ו פ ס bedeuten soll, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich ist hier ד פ ו ס (Druck) gemeint. Das würde darauf hindeuten, dass der Redaktor eine gedruckte Vorlage besaß. [S. 400]. ‹ Geschichte Hoscheas › 265 die gleiche Art, obgleich der letzte Teilhaber ihm nicht so anständig erscheint. 106 Dass er unter Dämonen lebt, erfährt Hoschea nicht einmal, sondern - obgleich dies nicht sehr logisch erscheint - zweimal, und zweimal nimmt er auch von den Dämonen Abschied, um seine Heimat zu besuchen. Mit einer Reihe gleichartiger Begebenheiten endet die Geschichte schließlich, oder endet vielmehr nicht: Sie nahm ein großes und starkes Heer mit sich und umzingelte damit die Stadt, in der Hoschea wohnte. Am ersten Morgen sagte sie: ‹ Geht in die Stadt und bringt ihn mir. › Und man traf ihn dabei an, wie er das Schma rezitierte. Sie kehrten zurück und sagten zu ihr: ‹ Wir konnten nichts ausrichten, da er das Schma rezitierte. › Gegen Abend befahl sie, ihn herbeizubringen, aber man fand ihn betend vor. Drei Tage lang machte sie so weiter. In der vierten Nacht schickten sie Leute hin, um ihn in seinem Bett zu ergreifen, aber man traf ihn dabei an, wie das Schma rezitierte. Sie sagten zu ihr: ‹ Wir kamen nicht an ihn heran. › 107 Als seine dämonische Frau versucht, Hoschea mit Gewalt zu sich bringen zu lassen, läuft die Handlung in einer repetitiven Kette erfolgloser Zugriffsversuche auf den Betenden einfach aus. Hoschea gibt nicht nach, die Dämonin gibt nicht auf. Natürlich kann man diesen Schluss ohne Schlusspunkt damit erklären, dass dem Schreiber eine defekte Vorlage zur Verfügung stand und dass er es nicht wagte, die Geschichte auf eigene Verantwortung zu Ende zu bringen. Wie im Fall der Geschichte eines Königssohns ist es aber ebenso gut möglich, dass auch hier ein Schreiber oder Redaktor zum Autor wurde. Dieser unternahm, ob mit oder ohne Vorlage, eine eigene Neuerzählung der Geschichte eines Jerusalemers oder einer verwandten Erzählung, verstrickte sich in seinen widersprüchlichen Erzählstrategien und ließ das Ende daher aus gutem Grund offen. Wie aber liest sich die Geschichte Hoscheas, wenn man davon ausgeht, dass ihr Ende einen konstitutiven Teil der gesamten Erzählung und damit einen Schlüssel zu ihrer Interpretation bildet? 106 Vgl. [S. 395]. Interessanterweise wird Hoschea nicht von dem letzten Partner dazu verleitet, das Gebot seines Vaters zu brechen. Dieses Unglück bringt er ausgerechnet mit der Unterstützung der drei als fromm geltenden Partner über sich. Während sein Vater nach seinen Geschäften mit dem vierten Partner nach Hause zurückkehrt, weiß Hoschea die Zeichen, die ihm durch Sturm und Schiffbruch gemacht werden, nicht zu deuten. Er unterscheidet sich also von seinem Vater dadurch, dass er nicht erkennt, wann es Zeit ist, ein Vorhaben aufzugeben. 107 ו נ ט ל ה ע מ ה ח י ל ג ד ו ל ו ר ב ו ס ב ב ה ה ע י ר א ש ר ה ו ש י ע ד ר ב ה ב ו ק ר ר א ש ו ן א מ ר ה ב ו א ו ל ע י ר ו ה ב י א ו ה ו ל י ו מ צ א ה א ו ת ו ש ק ר א ק ' ' ש ש ב ו ו א מ ר ו ל ה ל א י כ ו ל נ ו כ י ק ' ' ש ק ר א ל ע ר ב א מ ר ה ל ה ב י א ו ו מ צ א ם מ ת פ ל ל י ם , ו כ ן ע ש ת ה ג ' י מ י ם ל י ל ר ב י ע י ת ש ל ח ו ל ת ו פ ש ו ע ל מ י ט ת ו מ צ א ו ה ו ש ק ר א ק ' ' ש א מ ר ו ל ה ל א י כ ו ל נ ו ל ו . [S. 400]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 266 Der Held als Objekt des Begehrens von König und Königstochter Auch diesem Text liegt ein Dreieck des Begehrens zugrunde. Ungleich stärker als in der Geschichte eines Jerusalemers wird es von einer eminent erotischen Spannung aufrecht erhalten, die zwischen dem Protagonisten, seiner Frau und den Dämonen zirkuliert. Die Dämonen, das heißt: der in dieser Erzählung unbenannte Dämonenkönig und seine Tochter. Zu beiden pflegt Hoschea ein sowohl kontraktuell geregeltes als auch affektiv besetztes Verhältnis, das in Konkurrenz zu seiner Ehe mit der menschlichen Frau steht. Die Hochzeit mit der Tochter bindet den Helden nicht nur an sie, sondern auch an ihren Vater. Seinen Schwur, in das Reich der Dämonen zurückzukehren, leistet Hoschea denn auch nach der Heirat dem König, nicht seiner eigenen Frau. Der Treuebruch gegenüber der Dämonin ist daher gleichbedeutend mit einem Treuebruch gegenüber dem Dämonenkönig. Dämon und Dämonin sind in ihrer Zugewandtheit wie auch in ihrem Anspruchsdenken beinahe austauschbar. Allerdings nur beinahe: Mit dem König verbindet Hoschea eine über ein reines Angestellten- oder Untertanenverhältnis hinausgehende freundschaftliche und väterliche Beziehung. Für Liebespassion und sexuelle Vereinigung wiederum ist die Dämonenfrau zuständig. Homosoziales und heterosexuelles Begehren stellen in diesem Text zwei Facetten einer Annäherung an das dämonische Andere dar. Beide zusammen sind Ausdruck des Begehrens einer alle Lebensbereiche betreffenden, gefährlichen Allianz mit dem Fremden. Diese Allianz wird dadurch gefährdet, dass derHeld bereits in der Menschenwelt Verpflichtungen eingegangen ist und Bündnisse geschlossen hat, die ihn von den Dämonen fortziehen. Für die Dämonen stellt Hoscheas menschliche Frau eine Rivalin dar. Bedenkt man die Verteilung der Rollen in der Beziehung der Dämonen zu dem männlichen Protagonisten, dann ist es nur folgerichtig, dass der König mit der menschlichen Ehefrau vor allem um Hoscheas Zeit konkurriert. Er ist es, nicht seine Tochter, der jeweils die Fristen der Rückkehr bestimmt. Die Dämonin wiederum wetteifert mit der unwissenden Menschenfrau um das Recht, mit Hoschea zu schlafen. Dass die dämonische Frau besondere, von menschlicher Seite nicht oder nur schwer erfüllbare Ansprüche an den Liebesakt stellt, geht aus der etwas undurchsichtigen Bemerkung hervor, mit der Hoscheas Sehnsucht nach seiner früheren Frau begründet wird: Irgendwann, zu der Zeit, als sie [die Dämonin] bei ihm lag, da seufzte er immer öfter. Denn das Beilager der Dämonen ist hart. 108 Die menschliche Frau hingegen stellt Sex zwischen Menschen in Aussicht, der noch dazu nach den Regeln der Religion vollzogen wird. Dass dies so ist, kann 108 ו י ה י מ י מ י ם ב ע ת ש כ ב ה ע מ ו ר ב ו א נ ח ו ת י ו כ י ש כ י ב ת ש ד י ם ק ש ה . [S. 399]. ‹ Geschichte Hoscheas › 267 der Leser aus der Situation schließen, in der die Dämonin ihre Nebenbuhlerin antrifft und ermordet: Es kam der Tag, an dem Hoscheas Frau sich von ihrer Unreinheit reinwusch. Die Dämonin kam in der Gestalt einer armen Frau zu ihr und bat sie darum, sich mit ihr waschen zu dürfen. Die Frau sagte zu ihr: ‹ Einverstanden. › Die Dämonin wusch sich mit ihr und küsste sie. Da starb die Frau. 109 Die Menschenfrau wird in dem Moment von der Dämonin aus dem Weg geschafft, in dem sie sich nach der Menstruation für die neuerliche Aufnahme sexueller Beziehungen zu ihrem Ehemann vorbereitet. Der Sex mit ihr verspricht also nicht nur die Erfüllung körperlicher Lust, sondern auch die Sanktionierung dieser Lust in einem gebotskonformen Rahmen. Als überlegene Konkurrentin der Dämonin und als Mittlerin eines Begehrens, das sich auf den Mann richtet, wird die Frau ihrerseits zum Objekt des Begehrens ebenso wie des Hasses. Das erotische Dreieck, das sich zwischen der Dämonin, der menschlichen Frau und dem Protagonisten aufspannt, tritt hier viel deutlicher in Erscheinung als in der Geschichte eines Jerusalemers. Dort wird die Menschenfrau nicht aktiv in die Handlung einbezogen und erscheint mehr als Metapher für eine bestimmte Lebensweise denn als konkrete Rivalin um die Gunst des Mannes. Hoscheas Frau hingegen spielt eine aktive, für sie selbst fatale Rolle im Kampf um den menschlichen Ehemann. Da sie das Begehren der Dämonin sowohl stimuliert als auch seine Erfüllung verhindert, lenkt sie deren Aufmerksamkeit von Hoschea ab und zieht sie, ähnlich wie die ersten beiden Bräute in der Geschichte aus Worms, auf sich selbst. In der Geschichte Hoscheas richtet sich auf die menschliche Rivalin noch deutlicher als in der jiddischen Erzählung nicht nur die Aggression, sondern auch die Lust der Dämonin. Daher wird die Frau durch eine Geste der Intimität getötet: durch den Kuss, der in der Geschichte eines armen Mannes und in der Geschichte eines Jerusalemers dem männlichen Protagonisten gilt. Die Frau kann für ihren Mann sterben, weil in diesem triangulären Begehren, dessen Subjekt die Dämonin ist, Objekt und Mittler sich so stark überlagern, dass sie austauschbar werden. Das heißt nicht, dass einer von ihnen überflüssig wird. In dem Moment, in dem die menschliche Frau stirbt, bricht auch die erotische Dreieckskonstellation zusammen. Im selben Augenblick aber baut sich ein neues, ungleich stabileres Dreieck auf. Nun nimmt die Position des Mittlers nicht mehr eine Person ein, die die Dämonin gleichermaßen begehren oder hassen könnte, sondern das, von dem der Protagonist sich gegen den Willen seines Vaters abgewendet hatte und in dessen Schutz er nun zurückkehrt: die Tora. 109 ו י ה י ה י ו ם ו ה נ ה א ש ת י ו ש י ע ר ח צ ה מ ט ו מ א ת ה ב א ת ה ש י ד ה כ ד מ ו ת ע נ י י ה ו ב ק ש ה מ מ נ ה ל ר ח ו ץ ע מ ה א מ ר ה ל ה ל ח י י ם ר ח צ ה ע מ ה ו נ ש ק ה ל ה ו מ ת ה . [S. 400]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 268 Anders als der hochmittelalterliche arme Mann kehrt Hoschea sich von der Beschäftigung mit der Religion nicht mehr ab. Mit seiner Rückkehr löst er sich aus allen erotischen und freundschaftlichen Verbindungen zu den Dämonen. Da er mit der Rückkehr zu einer von seinem Vater empfohlenen Lebensweise die symbolische Ordnung bestätigt, die im Gebot des Vaters Gestalt annimmt, kann er von den gefährlichen Anderen nicht mehr belangt werden. Das glückliche Ende bleibt aus - das dämonische Element bleibt Mit der Rückkehr des Helden unter das väterliche und göttliche Gesetz leitet der Autor zum glücklichen Ende der Geschichte über. Ein solches glückliches Ende ist überhaupt nur deshalb denkbar, weil Hoschea ben Hoschea im Vergleich zu Dihon bar Salmon im Handlungsverlauf mehrmals zumindest teilweise exkulpiert wird. Anders als Dihon bricht Hoschea beispielsweise das Gebot seines Vaters, keine Seereisen zu unternehmen, nicht wissentlich. Er vergisst es einfach. 110 Auch gegen seinen Herrscher vergeht er sich in dieser Erzählung nicht. Er betritt keine verbotene Kammer und rettet sich nicht mit einer Notlüge, sondern verliebt sich tatsächlich in die Tochter des Königs und hält auf die richtige Weise um ihre Hand an. 111 Der Held hat also im Gegensatz zu Dihon trotz seiner Nachlässigkeit durchaus das Potential zu einem anständigen, ehrenwerten und anerkannten Mitglied seiner Gemeinschaft. Sieht man sich allerdings das Ende der Erzählung etwas genauer an, dann stellt man schnell fest, dass Hoschea und Dihon einander bei allen Unterschieden auch ähneln. In der Geschichte eines Jerusalemers wird die Funktion der Dämonen als Vertreter des realen Vaters und der symbolischen Ordnung deutlich akzentuiert. Am Ende kehrt Dihon zwar zu dem Leben zurück, das für ihn vorgesehen war. Er ändert sein Verhalten aber nur oberflächlich. Bei seinem letzten Vertragsbruch verstößt er abermals gegen irdisches und göttliches Gesetz und muss dafür mit dem Leben bezahlen. Radikaler als er scheint Hoschea demgegenüber sein vorhergehendes Fehlverhalten tatsächlich wiedergutmachen zu wollen, indem er mit der Rückkehr zu seiner früheren Familie auch explizit zur Tora zurückkehrt. Doch selbst diese Umkehr weist einen entscheidenden Makel auf. Werden die Dämonen auch weniger demons- 110 Von dem ersten frommen Geschäftspartner des Vaters heißt es: Der fromme Mann wusste nämlich nichts von dem Gebot des Vaters, der Hoschea geboten hatte, das Meer nicht zu überqueren. Auch Hoschea hatte das Gebot vergessen, denn es war lange her, dass sein Vater gestorben war. › ( ו ה ח ס י ד ל א י ד ע ב צ ו ו א ת א ב י ו ש צ ו ה ל ו ש ל א י ע ב ו ר ה י ם ג ם ה ו ש ע ש כ ח ה צ ו ו א ה כ י ה י ה ז מ ן מ ר ו ב ה ש מ ת א ב י ו ) [S. 396]. Unwissenheit schützt zwar nicht vor Strafe. Sie lässt aber spätere Reue und Begnadigung plausibler erscheinen als ein absichtlich begangenes Vergehen. 111 Vgl. [S. 399]. ‹ Geschichte Hoscheas › 269 trativ als Figurationen des Vaters geschildert - mit der Art und Weise, wie Hoschea seine zweite Ehefrau abfertigt, verstößt auch er gegen jede gesellschaftliche Norm. Er handelt sogar noch dreister als Dihon, da er keine Gründe für die Trennung angibt oder in eine Scheidung einwilligt. Auf den Hinweis der Dämonin, er habe ihr einen Schwur geleistet, lügt er schlicht, indem er behauptet: ‹ Ich habe nicht geschworen › ( ל א נ ש ב ע ת י ). 112 Hoschea verwandelt seinen Eid nachträglich in einen Meineid und verstößt damit im gleichen Augenblick gegen das Gesetz Gottes und die symbolische Ordnung, indem er sie bestätigt. Wie Dihon eignet auch er sich nicht als exemplarischer Held, an dem die segensreichen Wirkungen von Reue und Umkehr vorgeführt werden können. Aus diesem Grund kann das glückliche Ende der Erzählung zwar angesteuert, aber letztlich nicht vollständig umgesetzt werden. In der Geschichte Hoscheas wird davon erzählt, dass ein Mensch, sobald er sich einmal mit dämonischen, fremden Mächten einlässt, diese Mächte aus gutem Grund nicht wieder los wird - selbst dann nicht, wenn er versucht, einen Aspekt seines Lebens zum Guten zu wenden. Der düstere Ausblick, den die Geschichte eines Jerusalemers auf die Folgen exogamer Allianzbildungen gewährt, wird hier etwas abgemildert. In der Geschichte Hoscheas ist Umkehr möglich, die symbolische Ordnung, die Dihon bar Salmon das Genick bricht, gewährt dem Protagonisten dieser Variante Gnade und eine Möglichkeit, sein Leben zu retten. Die Rettung bleibt aber unabgeschlossen, die Ordnung kann, ist sie erst einmal aufgrund der Fehltritte eines Einzelnen gestört, nicht gänzlich wiederhergestellt werden. Dies wird daran ersichtlich, dass die Dämonen trotz Hoscheas Besinnung auf sein früheres Leben mit der Ermordung seiner unschuldigen Frau den Tod in seine Welt tragen. Zu ihrer Versöhnung genügt dieses Opfer aber offenbar nicht. Da das Ende offen bleibt, kann der Rezipient nicht umhin, sich zu fragen: Wird Hoschea bei seiner Tora bleiben? Oder handelt er wie der Held der Geschichte eines armen Mannes und wendet sich irgendwann doch wieder, und sei es zum Abschied, der Dämonin zu? Und was geschieht in diesem Fall? Obwohl Hoschea die Beziehung zu der Dämonin absichtlich beendet, wird für ihn ein guter Ausgang der Geschichte vorbereitet. Die Gnade der symbolischen Ordnung und die Folgenlosigkeit dämonischer Beziehungen für den Einzelnen wie auch für seine Gemeinschaft aber werden letztlich doch verneint, der Reiz verbotener Allianzen zugleich bestätigt und verurteilt. Anders als in der Geschichte eines armen Mannes bleibt das dämonische Fremde in der Nähe der Menschen. Es entfaltet seine Ambivalenz auch nicht ausschließlich außerhalb der Menschenwelt wie in der Geschichte eines Königssohns. Es tritt weder in seinen positiven Wirkungen in Erscheinung wie in der 112 [S. 400]. ‹ Geschichte eines Jerusalemers › 270 Geschichte eines Amulettschreibers, noch wird es neutralisiert wie in der Geschichte aus Worms. Es setzt nicht einmal unverhohlen seine Herrschaftsansprüche in der Menschenwelt durch, was ja immerhin die Möglichkeit der Auflehnung beinhalten würde. In der Geschichte Hoscheas bleibt das Dämonische ganz einfach abwartend in der Welt, jederzeit bereit zuzuschlagen, eine Drohung, die, einmal heraufbeschworen, nie wieder abgewendet werden kann. In der Frühen Neuzeit wird mit der Geschichte Hoscheas zum letzten Mal ausführlich und in einem für sich stehenden Text von der Beziehung eines menschlichen Mannes zu einer Dämonin erzählt. Der Versuch ist allerdings im Vergleich zur Version der Erzählung in der Geschichte eines Jerusalemers nicht erfolgreich. Das Scheitern der Geschichte Hoscheas als romanhafte Verarbeitung des populären Narrativs ist symptomatisch für einen sich abermals verändernden Umgang mit diesem Narrativ, wie er in der Folgezeit zu beobachten ist. Von nun an erscheinen gestörte Mahrtenehen in der jüdischen Literatur wieder in reduzierter Form. Häufig wird das Narrativ in größere erzählerische Zusammenhänge eingebunden, sei es in andere ausführliche Texte oder in Erzählzyklen. Wie es dabei transformiert und an die veränderten Ansprüche der entsprechenden Genres und ihrer Leserschaft angepasst wird, davon ist im letzten Kapitel die Rede. ‹ Geschichte Hoscheas › 271 6. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 ‹ O behüte Gott › , sprach sie zur wilden Frau, ‹ deine schönen Haare! was tut ihr da miteinander? › 1 Im 16. Jahrhundert werden mit der jiddischen Geschichte aus Worms und der hebräischen Geschichte eines Jerusalemers die heute bekanntesten, ausführlichsten und komplexesten jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen verfasst. In der darauf folgenden Zeit tradiert man bereits existierende Texte wie eben die Geschichte eines Jerusalemers oder die hochmittelalterliche Geschichte von der Dämonin und der Quelle gemeinsam mit den Geschichten Sendebars zwar weiterhin; zur schriftlichen Produktion neuer Erzählungen, die auf dem Narrativ der gestörten Mahrtenehe beruhen, kommt es jedoch erst sehr viel später wieder. Die folgenden Kapitel geben einen Einblick in drei jüdische Mahrtenehenerzählungen, die in der Zeit um 1700 oder kurz davor entstehen. Sie alle sind ähnlich knapp erzählt wie die ein halbes Jahrtausend älteren hochmittelalterlichen Texte. Gemeinsam ist den jüngeren Erzählungen außerdem die Einbettung in einen größeren narrativen Zusammenhang: Die Geschichte des Ari ist Teil eines hagiographischen Zyklus, der die Gestalt eines berühmten Kabbalisten verherrlicht; die Geschichte der Königin von Saba befindet sich in einer Sammlung von Erzählungen aus der und über die Gemeinschaft der Juden von Worms; die Geschichte eines Ostindienreisenden schließlich wird in einer Autobiographie inmitten der Erinnerungen an die Eltern der Autorin platziert. Untersucht wird, auf welche Weise sich in den Erzählungen das Narrativ der gestörten Mahrtenehe entfaltet. Zu fragen ist außerdem, ob in jüdischen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe ab der Hälfte des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts die gleichen Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft thematisiert werden wie in den älteren Erzählungen oder ob es 1 Deutsche Sagen. Herausgegeben von den Brüdern Grimm. Ausgabe auf der Grundlage der ersten Auflage. Ediert und kommentiert von Heinz Rölleke (Bibliothek deutscher Klassiker 116). Frankfurt a. M. 1994, Nr. 50 (Die wilden Frauen im Unterberge), S. 82 f., hier S. 83. diesbezüglich zu thematischen Neukonfigurationen und Schwerpunktverschiebungen kommt. 2 6.1 Disziplin und Gemeinschaft: Die ‹ Geschichte des Ari › Ungefähr hundertfünfzig Jahre nach dem Konstantinopler Erstdruck der Geschichte eines Jerusalemers erscheint zunächst in handschriftlicher Fixierung eine Geschichte über die Verbindung eines menschlichen Mannes mit einer Dämonin, in deren Mittelpunkt weder der Mann oder die Dämonin noch eine menschliche Frau steht, sondern ein gelehrter Wundertäter: R. Itzchak ben Schlomo Aschkenasi Luria, der Begründer der Lurianischen Kabbala. Itzchak Luria, auch genannt der Ari ( ‹ der Löwe › ), 3 wurde 1534 geboren und siedelte 1570 von Ägypten nach Safed (Zfat) in Galiläa über, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1572 lebte. Er gilt als die zentrale Figur des «mystical revival« des 16. Jahrhunderts, 4 das einige Generationen nach der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 begann und in dessen Verlauf die Kabbala nachgerade revolutioniert wurde. Schriftlich festgehalten wurden die exo- und esoterischen Lehren Itzchak Lurias zum größten Teil nicht von ihm selbst, sondern von seinen Schülern. Diese berichteten auch von den charismatischen Eigenschaften des ‹ heiligen Mannes › . Schon früh zirkulierten legendenhafte Anekdoten über wundersame Taten des Ari, in denen beispielsweise davon erzählt wird, dass er die Sünden einer Person von ihrer Stirn ablesen könne und in der Lage sei, die Sprache der Tiere zu verstehen. Vor allem galt der Ari als 2 Eine in vielerlei Hinsicht interessante Ausnahme ist die «Westindische Geschichte» aus dem Prag des 17. Jahrhunderts. Vgl. No Star Too Beautiful. Yiddish Stories from 1382 to the Present. Edited and Translated by Joachim Neugroschel . New York, London 2002, S. 56 - 63. Zu dieser Erzählung wird demnächst eine gesonderte Publikation erscheinen. 3 Das Akronym Ari ( א ר ' ' י ) setzt sich zusammen aus den Anfangsbuchstaben der Worte ה א ל ו ה י ר ב י י צ ח ק (ha-Elohi Rabbi Itzhak, der göttliche/ himmlische Rabbi Itzhak). Vgl. Gerold Necker : Einführung in die Lurianische Kabbala. Frankfurt a. M. 2008, S. 32. 4 Morris M. Faierstein : Charisma and Anti-Charisma in Safed: Isaac Luria and Hayyim Vital, in: The Journal for the Study of Sephardic and Mizrahi Jewry 2 (2007), S. 1 - 20, hier S. 2. «This upheaval of one of the main branches of the Jewish people was a catastrophe which affected every sphere of Jewish life, and the revival of Kabbalistic thought was in fact a response to the experience of exile. Moreover, the new movement differed from the older Kabbalism in a significant way, in that it introduced the concept of messianism into Jewish mysticism.» Gershom Scholem : Isaac Luria: A Central Figure in Jewish Mysticism, in: Bulletin of the American Academy of Arts and Sciences 29,8 (1976), S. 8 - 13, hier S. 8. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 274 hervorragender Exorzist, der besessene Menschen von ihnen einwohnenden Dibukim, den Seelen Verstorbener, befreien konnte. 5 Besonders zwei Erzählsammlungen erlangten früh einen hohen Bekanntheitsgrad: Bei der einen handelt es sich um eine Sammlung von Briefen, die zwischen 1602 und 1609 von Schlomel Dresnitz in Safed geschrieben und 1629 erstmals gedruckt wurden. 6 Dieser Zyklus, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Titel Schivche ha-Ari ( ‹ Lobpreisungen des Ari › ) verbreitet wurde, bildete das Modell für ein sich in den folgenden Jahrhunderten vor allem in Osteuropa herausbildendes Genre jüdischer hagiographischer Erzählungen. 7 In einer zweiten Sammlung, den Toldot ha-Ari ( ‹ Leben des Ari › ), gewinnt Lawrence Fine zufolge das Element der Wundertaten an Gewicht: While this collection of stories about Luria draws upon Shivhei ha-Ari and has much in common with it, it goes far beyond it by portraying him in ways that lack all precedent in the earlier descriptions of his behavior. Here a truly legendary version of Luria is on display. In addition to recounting Luria ’ s wondrous knowledge of heavenly mysteries, a predominant motif in Shlomiel ’ s Shivhei ha-Ari, Toldot ha- Ari regales the reader with numerous anecdotes about his feats of miraculous wonder-working [. . .]. 8 Erstmals gedruckt wird diese Sammlung von Wundergeschichten 1720 in Istanbul. Sie erscheint allerdings schon vorher in zahlreichen Handschriften aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, unter anderem in der sephardischen Handschrift Paris H 130 A, die auch den Sefer Divre Josef einschließt, 5 Vgl. Faierstein , Charisma, S. 5. Einen Überblick über den Forschungsstand zum Thema jüdische Hagiographie gibt Raspe , Hagiographie, S. 26 ff. Die Figur des Ari in den entsprechenden Erzählsammlungen als Heiligen zu betrachten ist insofern gerechtfertigt, als er dort stets in irgendeiner Weise als Mediator zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Gott und den Menschen erscheint. 6 Vgl. Gershom Scholem und Moshe Idel : Art. Luria, Isaac ben Solomon, in: EJ 13, S. 262 - 267, hier S. 263. 7 Als bekanntester Vertreter dieser Textsorte können sicherlich die Schivche ha- Bescht gelten, eine Sammlung von Erzählungen über den Wundertäter R. Israel Baal Schem Tov (gest. 1760), die Gründergestalt des osteuropäischen Chassidismus. «Die Schivche habescht wiederum bilden den Ausgangspunkt für die Blüte der jüdischen Hagiographie in Osteuropa. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts und bis zum Vorabend der Vernichtung erscheinen [. . .] zahlreiche Sammlungen, die nun einerseits chassidische zaddiqim nach vorgegebenen Mustern stilisieren und sie andererseits durch den Rückgriff auf die Helden des jüdischen Mittelalters in ein historisches Kontinuum zu stellen suchen.« Raspe , Hagiographie, S. 4. 8 Lawrence Fine : Physician of the Soul, Healer of the Cosmos. Isaac Luria and His Kabbalistic Fellowship (Stanford Studies in Jewish History and Culture). Stanford 2003, S. 86. ‹ Geschichte des Ari › 275 eine Chronik Josef ibn Itzchak Sambaris, die von der Erschaffung der Welt bis ins Jahr 1673 reicht. 9 Das Leben des Ari, das sich in dieser Handschrift aus den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts befindet, enthält auch eine Mahrtenehenerzählung. In dieser Geschichte, im Folgenden wie bei Sara Zfatman als Geschichte des Ari bezeichnet, geht ein junger Mann eines Tages mit einigen Freunden in der Nähe von Safed auf dem Feld spazieren und entdeckt dort einen Finger, der sich aus der Erde streckt. Im Scherz steckt der Junge ihm einen Verlobungsring an, woraufhin der Finger in der Erde verschwindet. Einige Zeit später will der junge Mann heiraten. Er wird allerdings von einer Dämonin daran gehindert, mit der er sich bei jener früheren Gelegenheit unwissentlich verlobt hat und die nun ihre Rechte auf ihn geltend machen will. Als man dem Ari, der in dieser Geschichte nur als ‹ der Rav › bezeichnet wird, von diesen Ereignissen erzählt, schickt er einen Synagogendiener los, der den Bräutigam und die Dämonin zu ihm bringen soll. Da der Angestellte die beiden nicht finden kann, erklärt ihm der Rav, wo sie sich verbergen und wie er sie dazu bringen kann, sich zu zeigen und mit ihm zu kommen. Nachdem dieses Unterfangen geglückt ist und die Dämonin, ihre Magd und der Mann aus ihrem Versteck gekommen sind, versichert sich der Rav, dass der junge Mann die Dämonin nicht zur Frau will und beginnt ihr zuzureden - sie und der menschliche Mann seien nicht füreinander bestimmt, sie solle ihn daher freigeben. Die Dämonin aber bleibt allen Argumenten gegenüber unzugänglich. Unter Androhung des Banns gegen sie und ihre Angehörigen bringt der Rav sie schließlich dazu, in eine Scheidung einzuwilligen und sich dem Jungen nie wieder zu nähern. Die Dämonin geht, der junge Mann heiratet die menschliche Frau. Wie Sara Zfatman herausgearbeitet hat, werden in der Geschichte des Ari zwei aus anderen Dämonenhochzeitserzählungen bekannte Elemente miteinander verknüpft. Ähnlich wie in der Geschichte aus Worms handelt auch die Geschichte des Ari davon, dass ein junger Mann ( ב ח ו ר ) sich unabsichtlich mit einer Dämonin verlobt und von dieser später daran gehindert wird, eine menschliche Frau zu heiraten. Anders als in der älteren jiddischen Erzählung geschieht hier jedoch nichts im Verborgenen. Die Dämonin klagt den Helden 9 Zur Überlieferung der Toldot ha-Ari und zu MS Paris - Alliance Israélite Universelle H 130 A, Sec. 182, fols. 108b-109b vgl. Zfatman , Marriage, S. 103. Meir Benayahus Datierung der Toldot ha-Ari in die Zeit vor der Entstehung der Schivche ha-Ari hat sich in der Forschung nicht durchgesetzt. Zum Zusammenhang zwischen den beiden Zyklen vgl. Joseph Dan : Art. Toledot Ha-Ari, in: EJ 20, S. 28: «It may [. . .] be inferred that Shivhei ha-Ari is a compilation of intimate accounts told by Luria ’ s pupils, whereas Toldedot ha-Ari is a collection of fantastical and imaginary hagiographies which were associated with Luria by later admirers, after his fame had spread all over the Jewish world.« Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 276 vor seiner Gemeinde öffentlich an, so dass deren Mitglieder dem Ari davon berichten können. Dieser wiederum verlangt mit den Worten ‹ sag mir die Wahrheit und lüge mich nicht an › ( ה ג ד ל י ה א מ ת א ל ת כ ח ש מ מ נ י ) 10 ein regelrechtes Geständnis von dem Jungen. Auch die formelle Scheidung wird am Ende öffentlich vollzogen, wie der Rav ausdrücklich feststellt: ‹ Obwohl es nicht beim Gericht liegt, dir einen Scheidebrief zu geben, werde ich ihm [dem jungen Mann] dennoch vor den Augen der Anwesenden gebieten, dir einen Scheidebrief auszustellen. › 11 Dadurch, dass Anklage und Beilegung des Rechtsstreits im Beisein von Zeugen erfolgen, ergeben sich inhaltliche Parallelen zu der Geschichte eines Jerusalemers. Auch dort strengt die nichtmenschliche Frau vor Zeugen einen Prozess gegen ihren menschlichen Ehemann an, als dessen Ergebnis ein Scheidebrief ausgestellt wird. Zfatman stellt demgemäß fest, dass in der Geschichte des Ari zwei aus anderen Dämonenhochzeitserzählungen bekannte Motive miteinander verknüpft werden: das der versehentlichen Verlobung und das des Prozesses, wie sie in der Geschichte aus Worms bzw. in der Geschichte eines Jerusalemers verwendet werden. 12 Zfatmans strikte Unterscheidung von ‹ moralischen › und ‹ hagiographischen › Erzählungen muss man dabei nicht teilen. Einerseits erlauben Erzählungen, in denen eine eindeutig zu identifizierende moralische Botschaft formuliert wird, meist auch alternative Möglichkeiten der Interpretation. 13 Andererseits dienen hagiographische Erzählungen nicht ausschließlich dazu, herausragende Wundertäter zu glorifizieren, indem sie davon berichten, wie diese starke, übernatürliche Feinde besiegen. 14 Dadurch, dass der Heilige eine 10 Der Text folgt der Abschrift Sara Zfatmans aus MS Paris - Alliance Israélite Universelle H 130 A, Fol. 108b-109b in Zfatman , Marriage, S. 138 f. 11 ה ג ם ש א י נ ו מ ן ה ד י ן ל י ת ן ל י ך ג ט , ע ם כ ל ז ה מ פ נ י ה ר ו א י ם א צ ו ה ש י ת ן ל י ך ג ט . ( Zfatman , Marriage, S. 139). 12 Vgl. Zfatman , Marriage, S. 105. Der gute Ausgang der Geschichte, d. h. das Überleben des Helden, wird aus der Unabsichtlichkeit der Beziehung motiviert, die Vertreibung der Dämonin aus dem von einem einzelnen Richter geleiteten Prozess, der die Autorität dieses Richters bestätigt. 13 Zwischen dem Ende einer Erzählung und ihrer Zuordnung zu einem bestimmten Genre (Exempla- oder Preisliteratur) besteht, anders als Zfatman dies postuliert, keine einfache Korrelation. Dass hagiographische Erzählungen stets ein gutes Ende nehmen, ist zwar deshalb sinnvoll, weil in ihnen das segensreiche Wirken ihres Protagonisten betont wird. Entgegen Zfatmans Darstellung gibt es aber, wie die Geschichte eines frommen Mannes zeigt, auch ‹ moralische Erzählungen › mit gutem Ausgang, nämlich dann, wenn der Held sich stets richtig verhält. 14 Vgl. Zfatman , Marriage, S. 106. ‹ Geschichte des Ari › 277 bestimmte Ordnung herstellt oder wiederherstellt, werden in den Texten durchaus auch moralische Normen überprüft, bestätigt oder revidiert. In einem anderen Aspekt allerdings ist Zfatman Recht zu geben: In der Geschichte des Ari werden verschiedene Erzählbausteine, die aus anderen jüdischen Mahrtenehenerzählungen bekannt sind, solchermaßen neu zusammengesetzt, dass dadurch Raum für die Einführung einer zusätzlichen Figur entsteht. Im Zentrum der hagiographischen Erzählung steht der Rabbi, der, sobald er einmal in die Handlung integriert ist, das Geschehen steuert. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Erzählung Teil eines ganzen Zyklus ist, in dem jede Geschichte von dieser Figur handelt. Durch diese Form der Kontextualisierung wird die Geschichte des Ari, einer der Texte, aus denen sich das Leben des Ari zusammensetzt, zu einer Geschichte eben über diesen, d. h. zu einer Geschichte über den Ari und dessen Begegnung mit einer eifersüchtigen Dämonin und einem hilfbedürftigen Jüngling. 15 Konsequenterweise wird in diesem Text die Mahrtenehe nicht von einer der Personen gestört, die unmittelbar davon betroffen sind, sondern von dem außenstehenden Heiligen. Auf diese Weise wird weniger eine Aussage über eine besondere Art von Allianz als vielmehr über die besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten dieses Mannes getroffen: Der Weise erscheint als hellsichtig, da er weiß, wo sich die Dämonin, deren Magd und der Mann verbergen und wie man sie dazu bringen kann, ihr Versteck zu verlassen. Er zeigt Empathie, da er sich für die Situation des jungen Mannes interessiert und sogar Auskunft über dessen Haltung einholt, bevor er zur Vertreibung der Dämonin schreitet. Er ist gerecht, denn er lässt sich auf eine Diskussion mit der Dämonin ein, obwohl er jederzeit die Möglichkeit hat, sie mit einem Bann zu belegen, und er ist barmherzig, da er ihr einen Scheidebrief ausstellen lässt, obwohl er dazu nicht verpflichtet ist. Schließlich stellt er auch seine Durchsetzungsfähigkeit unter Beweis, indem er der Dämonin droht und dadurch demonstriert, dass er ihr überlegen ist. Die Verantwortung für das Geschehen liegt vollständig bei dem eigentlichen Protagonisten der Erzählung, dem Ari. Er ist es, der durch den Synagogendiener das schützende Sichttabu brechen lässt, nicht der unfreiwillig Verlobte. In dieser Geschichte kann die Beziehung zielgerichtet beendet werden, ohne dass den menschlichen Partner irgendwelche schlimmen Folgen treffen. Das tödliche Potential der Dämonin, die immerhin droht, sowohl den Mann als auch seine Braut umzubringen, wird von der Figur des Wundertäters aufgefangen und neutralisiert. Gerade daran, dass er in der Lage ist, die drohende Gefahr abzuwenden, wird seine Souveränität ersichtlich. 15 Vgl. Alexander-Frizer , Heart, S. 322 f. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 278 Obwohl es also in der Geschichte des Ari der Rav ist, der im Mittelpunkt des Geschehens steht, lohnt es sich, einen Blick auf die Beziehungskonstellation zu werfen, die als Anlass dient, von den besonderen Fähigkeiten des Heiligen zu erzählen. Vordergründig will der junge Mann mit der Dämonin nichts zu tun haben. Auf die Frage des Ari, ob er sie denn begehre, antwortet er mit einer Gegenfrage: ‹ Welcher Narr begehrt eine dämonische Frau? › ( מ י פ ת י י ח פ ו ץ ב א ש ה ש י ד ה ) Mit dieser Antwort wird die Möglichkeit, eine Dämonin zu begehren, allerdings nicht ausgeschlossen. Im Sinne von Paul de Man besteht die Antwort nämlich aus einer rhetorischen Frage, die zwei einander entgegengesetzte Interpretationen zulässt: «Ein vollkommen klares syntaktisches Paradigma (die Frage) erzeugt einen Satz, der mindestens zwei Bedeutungen hat, von denen die eine ihren illokutiven Modus bejaht und die andere ihn verneint.« 16 Die Aussage des Jungen kann also auch so verstanden werden, dass er sich selbst für einen Narren hält, der tatsächlich eine Dämonin begehrt. Zwar wird dieser Verdacht sogleich abgewehrt, indem der Bräutigam von sich sagt, er hätte sich lieber an jenem Tag ein Bein gebrochen, als aus dem Haus zu gehen. 17 Wahrscheinlich ist damit der Tag gemeint, an dem er auf dem Feld die Verlobung mit der Dämonin einging. Allerdings hat der junge Mann danach noch einmal ein Haus verlassen, statt sich ein Bein zu brechen. Und in diesem Fall wird die Frage, was er darin überhaupt verloren hatte, bis zuletzt nicht geklärt. Als nämlich der Synagogendiener den Bräutigam und seine dämonische Verlobte nicht finden kann, offenbart ihm der Rav, dass sie beide auf einem Dachboden verborgen seien und dass man sie unter Androhung der Exkommunikation dazu bewegen solle, herabzukommen. Wenn nun die Dämonin den Mann zwingt, sich mit ihr auf dem Dachboden zu verstecken, warum verbirgt sich dann nicht nur sie, sondern auch er voller Furcht vor dem Synagogendiener, der sie sucht, um sie vor den Rav zu bringen? Offenbar befürchtet auch der Mann, entdeckt zu werden. Dies lässt vermuten, dass die unpassende Beziehung zwischen Mensch und Dämonin auch für ihn einen Reiz besitzt, dem nachzugeben und dessen Existenz einzugestehen verboten oder unmöglich ist. Auf den ersten Blick gibt es in dieser Geschichte nur eine Person, an der gehandelt werden muss und kann: die Dämonin. Diese Figur ist der Fremdkörper, den es zu entfernen gilt, damit der junge Mann und mit ihm die gesamte aufgestörte Gemeinde zur Ruhe kommen kann. Das Verdienst des Ari besteht darin, dass er dies gewährleistet und die zu Beginn gestörte Ordnung wiederherstellt. Aus kabbalistischer Perspektive leistet er auf alltäglicher Ebene einen 16 Paul de Man : Allegorien des Lesens. Teilübersetzung von: Allegories of Reading (amerikanische Erstausgabe 1979) (es N. F. 357). Frankfurt a. M. 1988, S. 39. 17 ה ל ו א י ש ב א ו ת ו ה י ו ם נ ש ב ר ה ר ג ל י ו ל א י צ א ת י . ‹ Geschichte des Ari › 279 mystischen Akt des Tikun, d. h. der Instandsetzung, Wiederherstellung oder Vervollkommnung der in Unordnung geratenen Schöpfung. Auch die Geschichte des Ari ist insofern eine Exilsgeschichte, als Itzchak Luria zufolge, auf dessen Verherrlichung die Erzählung abzielt, das Exil des Volkes Israel ein Sinnbild für den unvollkommenen Zustand der Welt ist. Jeder Mensch und vor allem jeder Jude kann und soll durch korrektes Verhalten an der Heilung der Welt mitarbeiten: The heritage of Luria to the Jewish world of his time was the idea that exile was not only a punishment for sins and a test of faith but also a mystical mission. Luria ’ s conclusion was that the Jewish people, by suffering exile for over 1500 years, had nearly accomplished the process of Tikkun, and that the harmony of the inner world should find expression in the outer world since the latter is but a symbol of the inner reality. 18 Die Harmonie des Mikro- und des Makrokosmos bedingen einander wechselseitig. Daher tragen Taten, die die Wiederherstellung der verloren gegangenen Ordnung begünstigen, dazu bei, die Welt Stück für Stück von der Konfusion zu heilen, in der sie sich aufgrund des notwendigen Eintritts eines fundamentalen Makels befindet. Die Vorstellung, dass man den Kosmos heilen könne, indem man das göttliche Licht aus seiner Gefangenschaft in der mangelbehafteten Materie befreit, mag praktizierende Mystiker im 16. und 17. Jahrhundert stärker angesprochen haben als solche Rezipienten der Biographie Itzchak Lurias, die mit den tieferen Geheimnissen der Lurianischen Kabbala wenig oder gar nicht vertraut waren. Das allgemeinere Konzept einer Ordnung aber, die mit Hilfe des Wissenden aufrecht erhalten oder wiederhergestellt werden muss, scheint auch in der Geschichte des Ari auf. Hier manifestiert es sich im Bild einer wohlgeordneten und im Sinne ihres religiösen Führers disziplinierten Gemeinschaft, aus der das Subjekt sich nicht zurückziehen und vor den Blicken seiner Nachbarn verbergen darf, um beispielsweise ein Bündnis mit einem ungleichartigen Partner einzugehen. 19 Nach dem kurzen Zwischenspiel auf dem Dachboden, wo sich der widersetzliche Held gemeinsam mit der 18 Scholem , Isaac Luria, S. 13. 19 Die Auswirkungen, die eine gesellschaftlich nicht akzeptable erotische Beziehung auf den Zustand des Kosmos und das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen hat, sind nach Meinung der Lurianischen Kabbala erschreckend: «Sexual misconduct arouses the dark cosmic forces, upsets the equilibrium necessary for the proper functioning of divine life, and cuts off individuals from the source of their nourishment and blessing. Thus, whereas proper sexual behavior serves to reestablish harmonious relationships among the various elements of divinity, as well as between God and humanity, illicit sexual conduct violates the laws of the cosmos, interfering with the natural order of things.» Fine , Physician, S. 174. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 280 Dämonin und deren Dienerin vor dem Gesandten des Ravs versteckt und sich somit dem Zugriff der spirituellen Autorität entzieht, werden die beiden zu ihren jeweiligen Angehörigen zurückgeschickt. In der Geschichte des Ari werden aber möglicherweise nicht nur Beziehungen zwischen menschlichen und dämonischen Geschöpfen problematisiert. Bereits im Spiel der Jungen auf dem Feld deutet sich das Bestreben des Helden an, sich der Überwachung durch die erwachsenen Angehörigen seiner Gemeinschaft zu entziehen. Die Unterbindung dieses Verhaltens kann auch aus der Perspektive der Diskussionen um die gesellschaftsgefährdende Praxis der Masturbation gelesen werden, wie sie wenig später mit großer Intensität im christlichen Europa geführt werden. Während andere Formen der Sexualität - selbst wenn sie verboten sind - ein soziales Moment beinhalten, handelt es sich bei der Selbstbefriedigung um eine zutiefst private Angelegenheit. Die unkontrollierte und unkontrollierbare Lust dessen, der zu ihrer Erzeugung keines Partners - nicht einmal eines verbotenen Partners - bedarf, wird als eine Bedrohung für die Gemeinschaft angesehen, die kaum zu bannen ist und die daher umso intensivere Phantasien von Gefährdung und Vergnügen hervorruft. Die leidenschaftliche Debatte um die Folgen der Masturbation setzt Thomas W. Laqueur zufolge im christlichen Europa nach 1700 ein, im Zuge der Aufklärung und der sich entwickelnden freien Marktwirtschaft. 20 Doch auch im jüdischen Kontext der Vormoderne wird das Thema der männlichen Selbstbefriedigung diskutiert. Das Phänomen wird seit biblischen Zeiten vor allem insofern als problematisch angesehen, als es mit der Verschwendung oder Zerstörung von Samen verbunden ist. Im Sohar ( ‹ Buch des Glanzes › ), einem zentralen Werk der Kabbala aus dem 13. Jahrhundert, wird Masturbation strikt verurteilt: «The Zohar carries the talmudic strictures against male masturbation to an [. . .] extreme - as equivalent to sex with a forbidden woman, both being forms of ‹ destruction of seed › .« 21 In den Augen der frühneuzeitlichen Kabbalisten von Safed sind folglich neben unfreiwilligen nächtlichen Samenergüssen auch solche Praktiken verdammenswert, die 20 Vgl. Thomas W. Laqueur : Solitary Sex. A Cultural History of Masturbation. New York 2003. Masturbation «was a secret in a world in which transparency was of a premium; it was prone to excess as no other kind of venery was, the crack cocaine of sexuality; and it had no bounds in reality, because it was a creature of the imagination». Laqueur , Solitary Sex, S. 21. 21 Biale , Eros, S. 110. Zur frühneuzeitlichen Obsession der jüdischen Mystik mit nächtlichen Samenergüssen vgl. Gershon David Hundert : Jews in Poland- Lithuania in the Eighteenth Century. A Genealogy of Modernity (S. Mark Taper Foundation Imprint in Jewish Studies). Berkeley 2004, S. 131 ff. ‹ Geschichte des Ari › 281 absichtlich nicht-prokreative Samenergüsse provozieren. 22 Innnerhalb eines Diskurses, in dem unkontrollierte nächtliche Ejakulationen als gefährlich angesehen werden, da der Samen von weiblichen Dämonen gestohlen und zur Erzeugung halbdämonischer Kinder verwendet werden kann, sollte ein Mann kaum mit Zustimmung dafür rechnen, dass er seinen Samen vorsätzlich einer Dämonin überlässt - sei es, indem er absichtlich allein seinen Samen vergießt oder indem er mit einer Dämonin schläft. Das heißt nicht, dass die Beziehung zu einer nichtmenschlichen Frau in der Geschichte des Ari als Sinnbild für etwaige masturbatorische Gewohnheiten des Helden interpretiert werden sollte. Versteht man hingegen die Praxis der Masturbation als Sinnbild für eine Vereinzelung des Individuums, welches sich unbeobachtet erotische Genüsse verschafft, ohne dafür öffentlich Verantwortung übernehmen zu müssen, dann wird deutlich, dass dem Phantasma der Mahrtenehe und dem der Selbstbefriedigung ähnliche Denkfiguren zugrunde liegen. 23 Beide implizieren bereits vor dem 18. Jahrhundert unbegrenzte Lustbefriedigung, die Asozialität des genießenden Subjekts wie auch die Furcht vor einer Passion, die mit dem Einzelnen auch den Gesellschaftskörper schädigt, dessen Bestandteil er ist. Die Vorstellung von einer Gesellschaft, in der es dem Einzelnen nicht gestattet wird, allein, im Geheimen und jeglicher Kontrolle entzogen seinen eigenen verbotenen sexuellen Interessen nachzugehen, scheint aus dieser Perspektive auch in der frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte des Ari auf. Ganz gleich aber, ob dieser Text vorrangig um die verbotene Beziehung zu einem unpassenden Partner oder um ein verbotenes, da asoziales Begehren kreist - das, was den jungen Helden zur Beunruhigung der restlichen Gemeinschaft daran hindert, ein normgerechtes Leben zu führen, wird letztlich mit Hilfe des Ari beseitigt. Tikun Olam, die Heilung der Welt, bedeutet in diesem Text: die Heilung der erzählten Welt. Sie wird dadurch gewährleistet, dass das, was nicht zueinander gehört, an einer Allianz gehindert wird. Dies geschieht in der Geschichte des Ari radikaler als in jeder der älteren jüdischen Mahrtenehenerzählungen zuvor. Gestört und beendet wird die Verbindung zwischen Mensch und Dämonin wie in vielen hochmittelalterlichen christlichen Mahrtenehenerzählungen durch eine religiöse Autorität. Walter Map beispielsweise berichtet in seiner 22 Chajim Vital beispielsweise, ein Schüler Itzchak Lurias, stellt eine Liste von Bußübungen für verschiedene Masturbationstechniken zusammen. Vgl. Biale , Eros, S. 116. 23 Es überrascht daher nicht, wenn Ulrich Wyss im Zusammenhang mit dem französischen Lai Lanval Karl Bertaus Rede von einem «Onanie-Märchen» aufgreift. Vgl. Karl Bertau . Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. 1. München 1972, S. 533; Wyss , Partonopier, S. 361. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 282 Erzählung über Henno cum dentibus, dass dessen nichtmenschliche Frau von einem Priester mit Weihwasser vertrieben wird. 24 Im Ritter von Staufenberg wiederum sind es am Ende weder die Verwandten des Protagonisten noch der König, die den Helden dazu bewegen, von der Fee abzulassen, sondern die versammelten Bischöfe sowie ein alter cappelan, der ihn ermahnt: ‹ der tu ̓ fel sich geschaffen hett zu ͦ einem wibe; die sel in uwerm libe mu ͦ ß eweclich sin verlorn, wan ir hand reyne wip versworn: der tu ̓ fel in der helle ist u ̓ wer schlaf geselle. › (V. 972 ff). In diesem Fall führt die Trennung nicht zu einer Vertreibung der nichtmenschlichen Frau, sondern zum Tod ihres menschlichen Geliebten. Wieder anders entwickelt sich die Mahrtenehe in Konrads Partonopier, wo es ebenfalls ein Geistlicher ist, der auf Geheiß der Mutter den Helden davon überzeugt, gegen den Willen der Fee zu verstoßen. 25 Im Kontrast zu Henno cum dentibus oder dem Ritter von Staufenberg, die sich widerstandslos in ihr Schicksal fügen, bereut Partonopier später, dem Ratschlag des Klerikers gefolgt zu sein. Vor allem in den klerikalen mittelalterlichen Geschichten über dämonische Hochzeiten oder Liebesverhältnisse sind die Figuren Geistlicher nicht Widersacher des menschlichen Helden, sondern seine Helfer und Retter. Sie erhalten jedoch nie einen Status, der dem des Ravs in der Geschichte des Ari vergleichbar wäre. Dem Rav werden, anders als den christlichen Klerikern, besondere Fähigkeiten zugeschrieben, durch die nur er allein sich auszeichnet. 26 Der Ruhm, eine Dämonin vertrieben zu haben, fällt in den christlichen 24 Vgl. De Nugis Curialium, Dist. iv, cc. 9, S. 344 ff. 25 Vgl. Partonopier, V. 7480 ff. 26 Der Rav erscheint dabei, um mit Hans Ulrich Gumbrecht zu sprechen, weniger als ‹ ethischer Virtuose › und moralisches Vorbild denn als ‹ magischer Helfer › , der über die Wahrheit seiner Lehren nicht mit Hilfe von Worten, sondern von Taten Aufschluss gibt. «Als ‹ ethischer Virtuose › ist er zur Nachfolge einladendes Vorbild für Lebensbewältigung durch gerechtes Handeln; als ‹ magischer Helfer › ist er der Garant für Lebensbewältigung durch Rekurs auf übernatürliche Mächte.« Hans Ulrich Gumbrecht : Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hg. von Christoph Cormeau . Stuttgart 1979, S. 37 - 84, hier S. 54. Vgl. auch Astrid Lembke : Glanz und Schrecken. Wirkweisen des Wunders in mittelalterlichen Legenden, in: Begegnung mit dem Wunder in Märchen, Sagen und Legenden/ Märchen als Brücke für Menschen und ‹ Geschichte des Ari › 283 Texten auf die Institution der Kirche zurück, in der Geschichte des Ari hingegen auf die Person des charismatischen Wundertäters. Letztlich tun aber die christlichen Geistlichen und der jüdische Rabbi das Gleiche: Sie stören oder verhindern eine in ihren Augen unpassende Allianz. Die Aufsehen erregende Tat des Ravs in der Geschichte des Ari besteht darin, dass er, ähnlich den Bischöfen und Pfaffen der lateinischen Exempla, aber mit größerer persönlicher Überzeugungskraft, ein nichtmenschliches Wesen aus dem Lebensbereich der Menschen entfernt und damit die Ordnung dieser als ausschließlich menschlich definierten Gemeinschaft wiederherstellt. Das prekäre Begehren des Einzelnen tritt neben dem Handeln des weisen Helfers in den Hintergrund. Vorhanden ist es jedoch noch immer. Hier wird keine Läuterungsgeschichte erzählt, in deren Verlauf ein junger Mann, der einen oder mehrere Fehler begangen hat, auf den rechten Weg zurückgebracht wird. Die Erzählung enthält aber Überreste einer Faszination nicht nur an der Figur des dämonischen Wesens, sondern auch an einer möglichen erotischen Beziehung zu diesem Wesen, an dem Begehren, das den jungen Helden dazu bringt, eine solche Beziehung zu unterhalten oder, fokussiert man seinen Rückzug aus der Gesellschaft, sich normkonformen Bindungen zu verweigern. Die Entfernung des dämonischen Fremdkörpers erfolgt auf ungleich radikalere Weise als jemals zuvor in der Geschichte jüdischer Dämonenhochzeitserzählungen. Während in den Erzählungen des 15. und 16. Jahrhunderts die Dämonin entweder gar nicht verschwindet oder aber etwas in der Menschenwelt zurücklässt, was diese nachhaltig verändert, vertreibt der Ari mit der Dämonin auch jegliches verbotene Begehren. Erstmals befinden sich der Held und die erzählte Welt in einer jüdischen Erzählung nach dem Ende der dämonischen Allianz im gleichen Zustand wie zuvor. 6.2 Teufelspakt und Isolation: Die ‹ Geschichte der Königin von Saba › Ähnlich verhält es sich mit einer weiteren Dämonenhochzeitserzählung, die zu einem etwas späteren Zeitpunkt im 17. Jahrhundert niedergeschrieben wurde, wenn auch in einer anderen Sprache und dreitausend Kilometer entfernt vom galiläischen Safed, dem Epizentrum der Lurianischen Kabbala: die jiddische Geschichte der Königin von Saba. Kulturen. Hg. von Harlinda Lox , Wilhelm Solms und Heinz-Albert Heindrichs (Veröffentlichungen der Europäischen Märchengesellschaft 36). Krummwisch 2011, S. 41 - 65. Außergewöhnliche Handlungen und außergewöhnliche Autorität bedingen einander auch im Fall des Ari wechselseitig. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 284 Dieser Text ist eine von fünfundzwanzig kurzen Erzählungen aus dem jüdischen Worms, die im Jahr 1696 in Amsterdam unter dem Titel Sefer Maisse Nissim ( ‹ Wundergeschichten › ) gedruckt wurden. Verfasst und kompiliert wurden die Erzählungen von einem Synagogen- und Gemeindediener der Wormser Gemeinde namens Jiftach Josef Juspa ben Naftali Hirtz aus der Familie Manzpach, genannt Juspa Schammes (1604 - 1678). Die Sammlung von Wundergeschichten über die Vergangenheit und Gegenwart der jüdischen Gemeinde von Worms fertigte er wahrscheinlich auf Hebräisch an. Nach dem Tod Juspas und der Zerstörung der Stadt und ihrer jüdischen Gemeinde im Verlauf des Pfälzischen Erbfolgekriegs wurde das Korpus von ursprünglich dreiundzwanzig Erzählungen von Juspas Sohn Elieser Liebermann ins Jiddische übersetzt, um zwei weitere Geschichten ergänzt und zum Druck gebracht. 27 Unabhängig davon, ob sie im 17. Jahrhundert oder im aschkenasischen Mittelalter angesiedelt sind, handeln die meisten der Wundergeschichten von krisenhaften oder gar in Katastrophen endenden Begegnungen zwischen Juden und Christen. Ihnen eignet oft eine unverkennbar apologetische Tendenz. In der Regel werden die bedrohten Juden in letzter Sekunde gerettet oder können selbst durch Klugheit und Geschicklichkeit ihre eigentliche Überlegenheit beweisen und sich vor weiterem Unheil bewahren. Zwei Geschichten erzählen davon, dass christliche Männer jüdische Frauen gegen deren Willen zu ihren Geliebten machen wollen. Der einen Frau gelingt es, ihren Angreifer mit einem Messer zu töten. Da auch die christlichen Nachbarn zu ihren Gunsten aussagen, geht die Geschichte für die Frau gut aus. In der anderen Erzählung, die zur Geschichte der Königin von Saba einige interessante Parallelen aufweist, wird eine Frau mit Hilfe einer magischen Wurzel erfolgreich verführt und erst später rehabilitiert. Von diesem letzteren Mädchen wird berichtet, dass sie in der Wormser Judengasse im ‹ Haus zur Sonne › gelebt habe. Dieses Haus aber, so erfährt der Leser aus der Geschichte der Königin von Saba, habe früher einen anderen Namen getragen: Es habe ‹ Haus zum Teufelskopf › geheißen. Die Geschichte der Königin von Saba handelt von einem bedeutenden, aber sehr armen Mann. Seine Armut erfüllt ihn nicht nur mit Sorge, sondern auch mit Scham, so dass er niemanden davon wissen lassen will. Als er eines Tages weinend im Keller umhergeht, begegnet er dort der schönen Königin von Saba, 27 Vgl. Lucia Raspe : The Black Death in Jewish Sources: A Second Look at ‹ Mayse Nissim › , in: JQR 94,3 (2004), S. 471 - 489, hier S. 472; Fritz Reuter und Ulrike Schäfer : Wundergeschichten aus ‹ Warmaisa › . Juspa Schammes, seine Ma ’ asseh nissim und das jüdische Worms im 17. Jahrhundert. Worms 2005, S. 76ff; Sara Zfatman , Marriage, S. 69 f. Zfatman , Yiddish Narrative Prose, S. 68. ‹ Geschichte der Königin von Saba › 285 die ihm einen Handel vorschlägt: Wenn er jeden Tag um zwölf Uhr mit ihr schlafe, dann werde sie ihn zu einem reichen Mann machen. So geschieht es, der Mann begibt sich jeden Tag zu der Königin in den Keller und kommt in der Folgezeit zu einem großen Vermögen. Sprechen darf er über dieses Arrangement nicht, weshalb er auch die Neugierde seiner menschlichen Ehefrau nicht befriedigen kann, die wissen möchte, woher der Reichtum stammt. Schließlich lässt sich die Menschenfrau nicht mehr mit der Erklärung abspeisen, dass der Mann sein tägliches Mittagsschläfchen im Keller halten müsse, lässt ein Duplikat des Schlüssels zur Kellertür anfertigen und schleicht ihrem Mann nach. Sie entdeckt ihn in den Armen der Königin von Saba. Obgleich sie sich leise wieder davonstiehlt, erkennt die Königin, dass das Geheimnis entdeckt wurde. Sie verzichtet darauf, ihren Liebhaber zu töten, bringt stattdessen die beiden gemeinsamen Kinder um und verschwindet. Nach kurzer Zeit ist der Held wieder so arm wie zuvor. Als scheda, d. h. als Dämonin, wird die Königin von Saba in diesem Text nie ausdrücklich bezeichnet. Allerdings weist die biblische Figur der Königin von Saba in der jüdischen Tradition häufig dämonische Züge auf. Es ist daher wahrscheinlich, dass die verführerische Frau in dieser jüdischen Mahrtenehenerzählung von zeitgenössischen Rezipienten als Dämonin identifiziert wurde. 28 Wie so viele nichtmenschliche Frauen in sowohl christlichen als auch jüdischen Erzählungen, die auf dem Narrativ der gestörten Mahrtenehe beruhen, tritt die Dämonin dem menschlichen Helden nacheinander als Verführerin und als Gebärerin, zuletzt aber gleichzeitig als Verderberin und Erlöserin gegenüber. Und wie immer, wenn eine menschliche Konkurrentin auftritt, provoziert die Geschichte Fragen nach Ehebruch und Polygynie. Sie enthält aber auch ein neues Motiv, das in den älteren Dämonenhochzeitserzählungen nur selten eine Rolle spielt: das des Paktes zwischen einem Menschen und einem nichtmenschlichen Geschöpf. In der Geschichte der Königin von Saba wird der Held nicht zur Aufnahme der Beziehung gezwungen, sondern davon überzeugt, einen Handel einzugehen. Hier kann, ähnlich wie in der Geschichte von der Dämonin und der Quelle und in der Geschichte eines Königssohns, insofern von einem beiderseitig bindenden und nutzbringenden Vertrag statt von einem einseitig ausgesprochenen Gebot oder Verbot gesprochen werden, als beide Parteien etwas von dem Handel haben. Sex wird gegen Geld getauscht. 29 Dass einer menschlich-nichtmenschlichen 28 Zur jüdischen Dämonologie vgl. Kapitel 1.2. Zur Identifikation der Königin von Saba mit der Männer verführenden und Kinder mordenden Lilith vgl. auch Isaacs , Jacob ’ s Ladder, S. 101. 29 «In gleichzeitig paralleler und verschränkter Weise tauschen die typischerweise zwei Vertragspartner sowohl Versprechen wie auch Aufforderungen aus, wobei Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 286 Beziehung eine Abmachung zugrunde liegt, ist zunächst nicht ungewöhnlich. Sowohl in den christlichen als auch in den jüdischen Marhrtenehenerzählungen wird die Aufnahme der Beziehung schließlich immer mit einer Bedingung verbunden. Im Vergleich zu den französischen oder deutschen Melusine- Romanen fällt indes auf, dass in Juspas Wundergeschichte noch ungleich stärker Assoziationen zu einem faustischen Teufelspakt geweckt werden. 30 Dafür sorgt vor allem der erste Satz der Erzählung, der den ätiologischen Anlass des Erzählens präsentiert: Das Haus, das heutzutage ‹ zur Sonne › heißt - ein großes, steinernes Haus neben der Synagoge - das hat man vormals ‹ zum Teufelskopf › genannt. 31 Über dem Haus liegt der Schatten des Teufels. Die Erzählung dient nicht nur dazu, einen ungewöhnlichen Hausnamen zu erklären - die Nennung des Namens gibt auch Hinweise auf eine mögliche Interpretation der Geschichte als Geschichte eines Teufelspaktes. Der Protagonist erscheint als mit einem moralischen Defizit ausgestattet, welches ihn so verführbar macht, dass er sich auf ein unmoralisches Angebot von Seiten eines potentiell ‹ teuflischen › Wesens einlässt und sich dabei sogar prostituiert, um zu bekommen, was er will. Das ist in seinem Fall nicht Wissen und Erkenntnis, sondern materieller Besitz. Im Gegensatz zu den christlichen Teufelsbündlern Faust und Wagner muss aber der Wormser Hausbesitzer nach Ablauf des Vertrags nicht sterben. Dass seine Strafe vergleichsweise milde ausfällt, liegt in dem anders gearteten Charakter seines Vergehens begründet. Ihm ist keine Häresie vorzuwerfen, kein Abfall von Gott oder von seinem Glauben. Das, was am Ende dazu führt, dass er beinahe ums Leben kommt, ist ein mit dem zweifelhaften Pakt verbundener doppelter Verstoß weniger gegen religiöse als vielmehr gegen soziale Regeln. Der Mann geht in zweifacher Hinsicht fremd, sowohl in erotischer als auch in ökonomischer Hinsicht. Um in der Begegnung mit der Dämonin einen jeweils das Versprechen des einen der Aufforderung des anderen entspricht. Damit begeben sich die Vertragspartner, wie es diese Bezeichnung auch zum Ausdruck bringt, grundsätzlich auf eine gemeinsame horizontale, nichthierarchische Ebene. Der Aufforderung des einen tritt nicht der Gehorsam des anderen gegenüber, sondern dessen eigene Aufforderung.« Oft stellen sich solche Vertragsbeziehungen in fiktionalen Texten als keineswegs nichthierarchisch heraus, was die Partnerschaft der Beteiligten grundsätzlich in Frage stellt. Zusätzliche Spannung wird durch die stets präsente Möglichkeit des Vertragsbruchs erzeugt. Scholz Williams/ Schwarz, Existentielle Vergeblichkeit, S. 13. 30 Vgl. Zfatman , Marriage, S. 73, die davon spricht, dass die erste, offensichtliche Transgression des Helden darin bestehe, dass er der Dämonin seine Seele verkaufe. 31 ד א ש ה ו י ז ד ז א י צ ו נ ט ה י י ש ט צ ו ד ע ר ז ו נ י ן - א י י ן ג ר ו ש ש ט י י נ ן ה ו י ז נ ע ב ן ד ע ר ש ו ל - ד א ז ה א ט מ ן פ א ר צ י י ט ן ג ה י י ש ן צ ו ד ע ם ט י י ב ל ש ק א פ ף . ( Zfatman , Marriage, S. 128). ‹ Geschichte der Königin von Saba › 287 erotischen Seitensprung mit einem nicht der eigenen Gemeinschaft zugehörigen Sexualpartner zu sehen, genügt es, jene beiden Geschichten miteinander zu vergleichen, zwischen denen aufgrund der jeweiligen Erwähnung des ‹ Hauses zur Sonne › der Autor selbst bereits eine Beziehung hergestellt hat. Auch die Geschichte über das Mädchen, das von einem übelmeinenden Christen mit magischen Mitteln überwältigt, sexuell ausgenutzt und zum Diebstahl an den eigenen Eltern gezwungen wird, handelt vom nicht sanktionierten sexuellen Kontakt mit einer Person, die nicht der Gemeinschaft angehört. Die verzauberte Frau kann sich nicht gegen den Übergriff wehren. Sie schläft immer wieder mit dem Mann, der die magische Wurzel in ihre Kleidung hat einnähen lassen und die Frau auf diese Weise vollkommen hörig gemacht hat. Später gesteht sie, dass sie ihn vor lauter Liebe auch ein Stück aus ihrem Leib hätte beißen lassen. In diesem Bild offenbart sich die Vorstellung, von seinem Partner aufgefressen und zu einem Teil von ihm gemacht zu werden. Später betont die Frau zwar, dass sie keine Schuld trage an den bösen Taten, die sie begangen habe. Folgenlos bleiben die Geschehnisse für sie dennoch nicht. Der Erzähler berichtet, dass sie bereut habe, zu ihrer früheren Frömmigkeit zurückgekehrt sei und sogar geheiratet habe, dass sie selbst aber genau wie ihre Eltern für den Rest ihres Lebens unter dem gelitten habe, was geschehen sei. Darin unterscheidet sich die Protagonistin dieser Erzählung vom Helden der Geschichte der Königin von Saba. Dieser wird weder gesellschaftlich für seine dämonische Liaison geächtet noch scheint er selbst von Reue zerfressen, obwohl er keineswegs verzaubert wurde, sondern die Beziehung wissentlich und mit voller Absicht eingegangen ist. Kann man daraus schließen, dass Sex mit einer Dämonin in Juspas Augen oder in denen der Wormser jüdischen Gesellschaft um 1700 weniger verwerflich ist als mit einem Nichtjuden? Vielleicht ist auch die Ursache für den Ausgang der jeweiligen Geschichten weniger in der Wahl des Partners zu suchen als in der Art und Weise, wie die Beziehung geführt wird. Inakzeptabel ist eine Verbindung, in der eine Frau die Kontrolle über ihren Willen, ihre Affekte und ihr körperliches Begehren verliert. Das Mädchen kann erst dann zumindest teilweise vor der und von der Öffentlichkeit rehabilitiert werden, nachdem sie diese Kontrolle aus eigener Kraft wiedererlangt, die Beziehung beendet und Reue zeigt. Rückgängig gemacht werden kann ihr Ausbruch aus den gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensnormen jedoch nicht. Die Frau bleibt stigmatisiert. Dem Protagonisten der Geschichte der Königin von Saba hingegen wird ein sexueller Seitensprung in gewissem Maß durchaus zugestanden. Zwar verliert er nach Beendigung des Verhältnisses den neu gewonnenen Reichtum so schnell, wie er ihn gewonnen hat. Aber das ist auch schon alles. Er selbst darf sein Leben behalten, die Tötung der halbdämonischen Kinder erscheint nicht Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 288 als Bestrafung, sondern als Tilgung dämonischer Restbestände. Und wenn auch der Held am Ende noch ärmer ist als zu Beginn, so hat er doch zumindest eine Zeitlang jeden Mittag mit der traumhaft schönen Königin von Saba im Bett verbracht. Zwar hat auch er die Situation nicht unter Kontrolle - schließlich kann er nicht verhindern, dass seine neugierige Ehefrau ihm nachspioniert und dadurch die Geliebte verjagt. Offenbar aber ist die Art von Vertrag, den der Mann mit der Dämonin eingeht, insgesamt annehmbarer als das keineswegs vertraglich geregelte, sondern völlig unkontrollierte Verhalten der später im gleichen Haus wohnenden jungen Frau, die vor Liebe den Verstand verliert, sich einem Fremden an den Hals wirft und mit ihm schläft, ohne dass sie oder sonst irgendjemand dies verhindern kann. In der Geschichte der Königin von Saba ist es nicht in erster Linie der dämonische Sex, der verurteilt wird. Einen Hinweis auf die wahrhaft negativen Folgen des Paktes gibt die moralische Schlussfolgerung der Erzählung: Daraus folgt, dass niemand sich um Geldes Willen verführen lassen soll. Der Herr gibt jedem, was ihm zusteht. Amen. 32 Jeremy Dauber schließt aus dieser kurzen Zusammenfassung, dass in der Erzählung vor allem ökonomische Ängste zum Ausdruck kommen. Die aus dem Nichts erscheinende und wieder verschwindende Figur der Königin von Saba stehe für flüchtigen Reichtum, der nur um den Preis moralischer - in diesem Fall ehebrecherischer - Korruption erworben werden könne. 33 Diese These ist zu ergänzen um die Feststellung, dass der Held nicht nur an seiner betrogenen Ehefrau unrecht handelt, sondern zudem noch Gottes Willen missachtet. Schließlich findet er sich nicht mit dem Maß an Besitz und Lebensqualität ab, das Gott für ihn vorgesehen hat. In diesem Aspekt rückt der Protagonist tatsächlich ein Stück weit in die Nähe christlicher Teufelsbündler und Ketzer, deren Gier nach Befriedigung ihrer Wünsche sie Gott entfremdet und in die Arme des Teufels oder seiner Abgesandten treibt. Doch nicht nur Gott wird um die Loyalität des Helden betrogen. Zfatman zufolge besteht dessen schwerwiegendes verborgenes Vergehen darin, dass er sich in einer schwierigen Situation einem zweifelhaften Geschäftspartner anvertraut, statt das soziale Netz seiner Gemeinschaft in Anspruch zu 32 ד ר ו ם ל א ז ז י ך ק י י נ ר פ ו ן ג ע ל ט ש ו ו ע ג ן פ א ר פ י ר ן . ה ש ' ' י ט ו ט א י י ן א י ט ל כ ם ב ש ע ר ן ו ו א ש א י ם ט ו ט ג ב י ר ן . א מ ן . ( Zfatman , Marriage, S. 130). 33 Vgl. Dauber , Bedroom, S. 170. Die Frage der menschlichen Ehefrau, woher denn das Geld komme, obwohl der Mann doch keinen sichtbaren Handel treibe, zielt auf die potentielle Unrechtmäßigkeit des Erwerbs ab: א י ך פ א ר ו ו א ו נ ד ר מ י ך א י ב ר ד י ר ו ו א ו ד י ר ד א ז ) ע ש י ר ו ת ( ה ע ר ק ו מ ט , א י ך ז י ך ד י ך ד א ך נ י ק ש ה א נ ד ל ן . ( ‹ Ich frage mich, woher dein Reichtum kommt, da ich doch nicht sehen kann, dass du Handel treibst › ; Zfatman , Marriage, S. 129). ‹ Geschichte der Königin von Saba › 289 nehmen. 34 Indem er seine Armut vor den Augen seiner Mitmenschen verbirgt und in den Keller geht, um dort ungesehen sein Schicksal zu beklagen, verweigert er sich dem Gebot der Tzedaka: Da er selbst keine Wohltätigkeit in Anspruch nimmt, versagt er damit gleichzeitig anderen die Möglichkeit, Wohltätigkeit zu üben. Dadurch gefährdet der Mann ein System, das es der jüdischen Gemeinde im Idealfall gestattet, unabhängig von äußerer Hilfe und Einflussnahme ihre eigene soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Problematisiert wird, ähnlich wie in der Geschichte aus Worms und in der Geschichte des Ari, die Vereinzelung des Helden, der sich fern der Gesellschaft ungeahnten Genüssen hingibt. Der Held der Geschichte der Königin von Saba verweigert sich einer vollständigen gesellschaftlichen Integration. Von Anfang an bewegt er sich nicht innerhalb der Grenzen der Gemeinschaft, sondern überschreitet sie, um das, was er begehrt, außerhalb zu erlangen. Seine Sünde ist, im Gegensatz zu dem Fehltritt der verzauberten Frau, weniger erotischer als ökonomischer Natur. Anders als die glücklose Frau macht er zudem seine Erlebnisse auch nach dem Ende der Beziehung nicht öffentlich und entgeht auf diese Weise sowohl der sozialen Stigmatisierung als auch der Rehabilitierung und Unterstützung, die die Gemeinschaft der geständigen Frau zuteil werden lässt. Daraus folgt einerseits, dass er sich nicht für sein Verhältnis mit der Dämonin verantworten muss. Andererseits ist ihm aber auch kein Fortschritt möglich. Gemeinsam mit seiner menschlichen Komplizin fällt er wieder in den Zustand zurück, aus dem er sich zu Beginn zu befreien versuchte. Man kann die Geschichte der Königin von Saba im Zusammenhang der Wormser Wundergeschichten und dabei vor allem im Vergleich mit der Geschichte über die Zauberwurzel als Versuchsanordnung betrachten. Mit ihrer Hilfe werden Gefahren und Lösungsmöglichkeiten für ein Leben durchdacht, das vom engen Kontakt der Gemeindemitglieder mit einer als verführerisch und verlockend imaginierten Mehrheit geprägt ist. In der Geschichte der Königin von Saba wird vorgeführt, wie ein Individuum versucht, mit fremder Hilfe sein Leben zu steuern, ohne auf den Ratschluss Gottes und den Beistand der Gemeinde zu bauen. Dies gelingt nicht, da der Held sich weder der Kontrolle durch seine Mitmenschen entziehen noch deren Verhalten selbst kontrollieren kann. Die Vorstellung, dass ein Mensch in der Lage sein könne, sein Schicksal eigenmächtig zu bestimmen, indem er sich einem gesellschaftlichen System mit Hilfe von Faktoren entzieht, die außerhalb dieses Systems liegen, stellt sich in dieser Erzählung als Trugschluss heraus. Zwar ist auch das Leben der verzauberten Frau nach der Affäre mit dem fremden Bösewicht weniger angenehm als zuvor. Ihre Zukunft wird von den Ereignissen der Vergangenheit getrübt. Immerhin aber hat sie eine Zukunft. Dem mensch- 34 Vgl. Zfatman , Marriage, S. 73. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 290 lichen Mann in der Geschichte der Königin von Saba hingegen wird jegliches Fortkommen, jegliche Aussicht auf Veränderung oder auch auf Nachkommenschaft versagt. Es ist nur logisch, dass von menschlichen Kindern des Mannes nicht die Rede ist und dass seine halbdämonischen Abkömmlinge getötet werden. Wer sich von seiner Gemeinschaft dauerhaft isoliert, dem bleibt nur Stillstand. Der Herr gibt jedem, was ihm zusteht - auch in dieser Erzählung misslingt der Versuch einer Emanzipation von der Kontrolle und dem Willen Gottes und der Mitmenschen. Der Held wird am Ende weder erlöst noch verdorben, die dämonische Allianz erweist sich weder als segensreich noch als physisch tödlich, sondern schlicht und einfach als Sackgasse. 6.3 Gottvertrauen und Utopie: Die ‹ Geschichte eines Ostindienreisenden › Während sowohl der Geliebte der Dämonin in der Geschichte des Ari als auch die männlichen Protagonisten in den Dämonenhochzeitserzählungen des 15. und 16. Jahrhunderts Heranwachsende sind, die ihren Platz in der Gesellschaft erst noch finden und einnehmen müssen, handelt es sich beim Helden der Geschichte der Königin von Saba um einen erwachsenen Mann. Ebenfalls erwachsen und unabhängig von den Ratschlägen und Verheiratungsversuchen seiner Eltern ist auch der Protagonist einer weiteren um 1700 entstandenen Erzählung, die die Altonaer Kaufmannswitwe und Handelsfrau Glückel von Hameln in ihre auf jiddisch verfasste Autobiographie einbaute. Glückel von Hameln (1646/ 47 - 1724), die sich selbst Glikl bas Juda Leib nannte, begann mit der Aufzeichnung ihrer Memoiren kurze Zeit nach dem Tod ihres Mannes Hajim ben Josef im Jahr 1689. 35 Ihre Autobiographie unterteilte sie in sieben Bücher. Die ersten fünf, und mit ihnen die Geschichte eines Ostindienreisenden, um die es im Folgenden gehen wird, stellte sie um 1700 in einem ersten Entwurf fertig. Überarbeitet und revidiert wurde der gesamte Textbestand bis zum Abschluss der Arbeit im Jahr 1719. 36 In ihre 35 Vgl. Natalie Zemon Davis : Art. Glueckel of Hameln, in: EJ 7, S. 645 f. Zu den verschiedenen Formen des Namens der Autorin vgl. Chava Turniansky und Erika Timm : Einleitung, in: Glikl. Memoires 1691 - 1719. Edited and Translated from the Yiddish by Chava Turniansky . Jerusalem 2006, S. ix-xci [hebr.], hier S. ix. 36 Vgl. Turniansky , Einleitung, S. xiv. Ein Manuskript der Memoiren wurde in der Familie tradiert und im Jahr 1896 erstmals in Frankfurt gedruckt. Bertha Pappenheim übersetzte die Autobiographie 1910 ins Deutsche (Die Memoiren der Glückel von Hameln. Aus dem Jüdisch-Deutschen von Bertha Pappenheim . Mit einem Vorwort von Viola Roggenkamp . Weinheim 1994). Vgl. Natalie ‹ Geschichte eines Ostindienreisenden › 291 persönlichen Erinnerungen und die Geschichte ihrer Familie integriert Glückel Alltagserfahrungen und gelehrtes Buchwissen. Sie arbeitet biblische Referenzen ein, aber auch Gebete für Frauen, zeitgenössische Predigten und erzählende Texte aus mündlichen und schriftlichen Quellen. Im zweiten Buch von Glückels Autobiographie erscheint inmitten einiger Erzählungen über ihren Vater auch eine Bemerkung über das Gottvertrauen ihrer Mutter, an dem diese sogar in schwierigen Situationen festgehalten habe. Darauf folgt eine schöne Geschichte und Trost für alle betrübten, besorgten Herzen. Nie soll man verzweifeln an der Hilfe, die von Gott kommt, so wie es auch diesem frommen Mann geschehen ist. 37 Besagter frommer Mann, so wird erzählt, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Da er sich ausschließlich mit der Tora beschäftigt und zudem nicht besonders geschäftstüchtig ist, gerät er in finanzielle Bedrängnis und wird schließlich ins Gefängnis geworfen. Seine Frau, die die Familie als Wäscherin ernährt, wird eines Tages von einem vorbeikommenden Schiffseigner entführt. Ihr Mann kommt frei und sticht mit seinen Söhnen gen Ostindien in See. Als das Schiff bei einem Sturm untergeht, wird der Protagonist von seinen Kindern getrennt, gelangt in ein fremdes Land und wird dort von wilden Menschenfressern gezwungen, die Tochter ihres Königs zur Frau zu nehmen. Er zeugt ein Kind mit ihr und lebt eine Zeitlang auf die gleiche Weise wie seine neuen Angehörigen. Nach einiger Zeit möchte er aus Sehnsucht nach seinem früheren Leben Selbstmord begehen, wird aber von einer Stimme daran gehindert, die ihm verrät, wo ein Schatz zu finden ist und wie er mit dessen Hilfe König werden kann. Der Held findet den Schatz und flüchtet damit auf ein vorüberziehendes Schiff. Seine wilde Frau, die mit ihm kommen möchte, verspottet er. Sie wird zornig, zerreißt das gemeinsame Kind in zwei Hälften, wirft ihm die eine Hälfte hinterer und frisst die andere auf. Der Mann aber gelangt mit dem Schiff zu einer Insel, kauft diese und wird König. Nacheinander trifft er erst seine erste Ehefrau, dann seine beiden Kinder wieder, wobei sich die Familienmitglieder an Rätseln erkennen, deren Lösung nur sie wissen können. Am Ende ist die Familie wieder vereint, die anwesenden Schiffsleute lassen sich bekehren und gründen auf der Insel eine jüdische Gemeinde. Zemon Davis : Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l ’ Incarnation, Maria Sibylla Merian. Übers. von Wolfgang Kaiser . Berlin 1996 (amerikanische Erstausgabe 1995), S. 265. 37 א י י ן ש י ן מ ע ש ה א ו נ ' א י י ן ט ר ו ש ט פ א ר א ל י ב י ט ר י פ ט י ב י ז ו ר ג ט י ה ע ר ט צ י ר ד א ז מ א ן ז י ך נ י א מ א ל י ש ז א ל י מ י י א ש ז י י ן פ ו ן ד ע ר ה י ל ף מ ן ה מ ק ו ם ב ' ' ה , ג ל י י ך ד י ז י ן ח ס י ד א ך ג י ש ע ה י ן א י ז ט . (Der Text folgt der Ausgabe von Turniansky , S. 80 - 106, hier S. 80). Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 292 In diesem Zusammenhang interessiert besonders der Teil der Geschichte, in dem von der Beziehung des Protagonisten mit der Kannibalin erzählt wird. Um eine Mahrtenehe handelt es sich bei dieser Verbindung streng genommen nicht. Weder ist die Eingeborene eine Dämonin noch bricht der Mann bei Beendigung der Beziehung eine Bedingung, die bei ihrer Aufnahme explizit gestellt wurde. Der Eindruck, dass dieser Teil der Geschichte eines Ostindienreisenden sich bei der Tradition der jüdischen Mahrtenehenerzählungen bedient, entsteht daraus, dass in ihm narrative Elemente verarbeitet werden, die aus der Geschichte eines Jerusalemers bekannt sind: der Schiffbruch des Protagonisten; seine Bedrohung durch die Einwohner eines fremden Landes; seine Rettung durch die Tochter des Herrschers; seine Heirat mit ihr und die Zeugung eines Kindes; und schließlich die Tatsache, dass er diese seine zweite Frau zugunsten seiner ersten Frau verlässt. All diese Übereinstimmungen machen es Natalie Zemon Davis zufolge sehr wahrscheinlich, dass Glückel oder der Autor ihrer Vorlage die Geschichte eines Jerusalemers gekannt und teilweise für ihre Erzählung adaptiert haben. 38 Inhaltliche Abweichungen lassen sich damit erklären, dass sie noch eine zweite Quelle benutzte. Dabei könnte es sich um den 1616 auf Französisch erschienenen Reisebericht Voyages en Afrique, Asie, Indes Orientales & Occidentales faits par Jean Mocquet, divisés en six livres & enrichis des figures dédiés au roy handeln. Jean Mocquets Buch wurde 1688 in Lüneburg in einer bebilderten deutschen Übersetzung mit dem Titel Wunderbare jedoch gründlich- und warhaffte geschichte und reise begebnisse in Africa, Asia, Ost- und Westindien gedruckt. 39 Es enthält einen Bericht über einen englischen Steuermann, der vor der amerikanischen Küste Schiffbruch erlitten hatte, von einer 38 Vgl. Natalie Zemon Davis : Cannibalism and knowledge, in: Historein 2 (2000), S. 13 - 30, hier S. 25. 39 Vgl. Zemon Davis , Frauenleben, S. 55 und 288; Zemon Davis , Cannibalism, S. 22 f. Als Datum des Erstdrucks wird aber auch das Jahr 1617 angegeben. Vgl. z. B. Grégoire Holtz : Les Histoires tragiques dans la Relation de Jean Mocquet aux Indes Orientales, in: Bulletin de l ’ Association d › étude sur l ’ humanisme, la réforme et la renaissance 53 (2001), S. 33 - 55, hier S. 33; Daniel O ’ Quinn : Mercantile Deformities: George Colman ’ s ‹ Inkle and Yariko › and the Racialization of Class Relations, in: Theatre Journal 54,3 (2002), S. 389 - 409, hier S. 390. Natalie Zemon Davis weist darauf hin, dass Glückel sich möglicherweise auch von dem mittelalterlichen Reisebericht des Eldad ha-Dani inspirieren ließ, in dem der Erzähler ebenfalls Schiffbruch erleidet und, im Gegensatz zu seinem Reisegefährten, knapp der Bedrohung durch Kannibalen entkommt. Vgl. Davis , Cannibalism, S. 24; Azriel Shochat : Art. Eldad Ha-Dani, in: EJ 6, S. 293 f. Eine Verbindung wiederum zwischen den Erlebnissen des Eldad ha-Dani und der Geschichte eines Jerusalemers wurde bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts hergestellt, als die beiden Texte gemeinsam in Konstantinopel gedruckt wurden. ‹ Geschichte eines Ostindienreisenden › 293 Indianerin gerettet wurde und zwei oder drei Jahre lang mit ihr umherzog, bis er auf ein englisches Schiff stieß. Als er sich weigerte, seine indianische Frau mit an Bord zu nehmen, riss diese das gemeinsame Kind in zwei Stücke, warf ihm die eine Hälfte zu und ging klagend mit der anderen davon. 40 Während Jean Mocquet den Engländer in seiner Undankbarkeit, Untreue und Grausamkeit für barbarischer hält als die Indianer und seinen späteren gewaltsamen Tod mit Befriedigung konstatiert, wird das Verhalten des Helden in der Geschichte eines Ostindienreisenden nicht explizit bewertet. Diese bildet nur eine von mehreren Episoden, in denen der Mann sich als klug, geschickt und überlebensfähig genug erweist, um schließlich an die Spitze der Gesellschaft zu gelangen und vereint mit Frau und Kindern ein glückliches Leben zu führen. Insgesamt lässt sich die Geschichte in zwei etwa gleich umfangreiche Handlungsblöcke unterteilen, die der sukzessive erfolgenden Trennung und Wiedervereinigung der Familienangehörigen entsprechen. Damit folgt die Erzählung dem Modell des antiken Familienromans, wie es beispielsweise von der Historia Apollonii Regis Tyri repräsentiert wird. Spätere Arbeiten am Narrativ sind auf jüdischer Seite die Geschichte eines Frommen aus dem Midrasch über die Zehn Gebote, im christlichen Kontext beispielsweise die Placidas-Eustachiuslegende. 41 Christian Kiening hat dargelegt, wie die christlichen Adaptionen das antike Narrativ in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang stellen. Im Modus legendarischen Erzählens bietet die abenteuerliche Familiengeschichte einen Anlass, über die Suche nach religiösen Wahrheiten zu sprechen. Und mehr noch - die Wiedervereinigung der Familie, die im antiken Roman Zielpunkt aller Bemühungen war, fällt im christlichen Mittelalter mit ihrer 40 Chava Turniansky hält es allerdings für unwahrscheinlich, dass sich Glückel der Version aus Mocquets Reisebericht bediente. Vgl. hierzu zustimmend auch Iris Idelson-Shein : ‹ What have I to do with Wild Animals? › Glikl Bas Leib and the Other Woman, in: Eighteenth-Century Studies 44,1 (2010), S. 57 - 77, hier S. 59. 41 Zur jüdischen bzw. christlichen ‹ Arbeit am Narrativ › vgl. Yassif , Oicotype sowie Kiening , Unheilige Familien (Kap. 1: Familienroman und Heilsgeschichte), S. 37 ff. Heinrichs von Neustadt Versroman Apollonius von Tyrland (um 1300) enthält eine Episode, die ganz ähnlich aufgebaut ist wie die Mahrtenehenepisode in der Geschichte eines Jerusalemers oder die Kannibalenepisode in der Geschichte eines Ostindienreisenden. Heinrich erzählt, wie der Held die Mohrenfürstin Palmina erst rettet und dann von ihr dazu genötigt wird, mit ihr zu schlafen und bei ihr zu bleiben. Zu Mord und Totschlag kommt es hier keineswegs. Als Apollonius zum Aufbruch drängt, ist Palmina zwar traurig, lässt ihn aber mit guten Wünschen ziehen. Vgl. Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland. Nach der Gothaer Handschrift. ‹ Gottes Zukunft › und ‹ Visio Philiberti › nach der Heidelberger Handschrift. Hg. von Samuel Singer (Deutsche Texte des Mittelalters 7). Berlin 1906, V. 13708 - 14621. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 294 Aufhebung zusammen. Die Mitglieder der Familie werden nicht wie Hiob in ihr altes Leben wieder eingesetzt, sondern transzendieren dieses im gemeinsamen Martyrium. Diese Tendenz zur Überhöhung irdischer Zusammengehörigkeiten, die in dem Streben nach jenseitiger Vereinigung mündet, deutet sich schon in der ältesten Version der lateinischen Placidaslegende an. Dort wird der später heilige Protagonist als Mensch geschildert, der sich zunächst allem Weltlichen allzu sehr hingibt, sich aber im Verlauf der Erzählung davon abwendet. «Das ihm von Gott auferlegte Schicksal«, so Kiening , «stellt so zugleich eine Buße, Reinigung und Neuorientierung dar.« 42 Das ist bei Glückel ganz anders. Wenn man in der Geschichte eines Ostindienreisenden signifikante Ähnlichkeiten mit den mittelalterlichen christlichen Apollonius- oder Placidas-Bearbeitungen sucht, dann wird man sie eher in den höfisierten Varianten als in der rein hagiographischen Literatur finden. Wie in den höfischen Versromanen überstehen auch in der jiddischen Geschichte der Held und seine Angehörigen alle widrigen Situationen und führen ein weltzugewandtes, zufriedenes Leben. Im Vergleich zur mittelalterlichen christlichen Legende zeichnet sich in der Geschichte eines Ostindienreisenden sogar eine der Weltabkehr gegenläufige Bewegung ab. Zu Beginn wird der Held als frommer Gelehrter charakterisiert, den ein ähnliches Problem plagt wie den Protagonisten der Geschichte eines armen Mannes: Es war einmal ein frommer Mann, der zwei kleine Söhne und eine fromme Ehefrau hatte. Er besaß auch ein wenig Geld, von dem er zehrte, doch er wusste keinen Handel zu treiben, nur zu lernen. Der fromme Mann wollte sich mit Gewalt ernähren, um seine Frau und Kinder ohne Almosen von anderen Leuten unterhalten zu können. Das Glück meinte es aber nicht gut mit ihm. 43 Torastudium und der Unterhalt einer Familie sind nur schwer in Einklang zu bringen, wenn man über eingeschränkte finanzielle Mittel verfügt. Was dem Helden im Folgenden zuteil wird, ist nicht etwa die Möglichkeit, sich gemeinsam mit seiner Familie von weltlichen Bedürfnissen zu befreien. Im Gegenteil, der Mann wird nicht nur äußerst wohlhabend, sondern erlangt auch Ansehen und Macht. Der Gewinn und Verlust von Reichtum und Ansehen sind Themen, die auch in denjenigen Passagen von Glückels Memoiren häufig im Vordergrund stehen, in denen die Erzählerin den Anspruch erhebt, nicht-fiktional zu erzählen. Besonders großen Wert legt sie in den Geschichten über das Leben 42 Kiening , Unheilige Familien, S. 46. 43 ע ש ו ו א ר א י י ן מ א ל ט א י י ן ח ס י ד א ו נ ' ד ע ר ז ע ל ב י ה א ט צ ו ו י י א ק ל י י נ י ז י ן א ו נ ' א י י ן פ ר ו מ י ש ו ו י י ב . ע ר ה א ט א ך ע ט ו ו א ז ג ע ל ט ד א ר פ ו ן ע ר צ ע ר י ט א ב י ר ע ר ו ו א ו ז ט ק י י ן מ ו ' ' מ צ ו ט ר י י ב י ן , נ י ק ש א נ ד י ר ש ט א ל י ש צ ו ל ע ר נ י ן . א ו נ ' ד ע ר ח ס י ד ו ו א ל ט ז י ך ד א ך א ל י ז מ י ט ג י ו ו א ל ט ג ע ר י ן א ר נ ע ר י ן כ ד י ד א ז ע ר ז י י ן ו ו י י ב א ו נ ' ק י נ ד י ר ז ו נ ד י ר ד ע ר ל י י ט י ן ג י פ ט א ו נ ' ג א ב א ר נ ע ר י ן ק י נ ט . א ב י ר ד א ז ג ל י ק ו ו א ל ט י א י ם נ י ט ו ו א ו ל . (Glikl, S. 80 f.). ‹ Geschichte eines Ostindienreisenden › 295 ihrer Vorfahren stets auf die Feststellung, dass diese auch in schwierigen Zeiten alles getan hätten, um in finanzieller Hinsicht ihre Kinder und sonstigen Angehörigen gut auszustatten. Hart arbeiten und eisern sparen müssen die meisten, vor allem dann, wenn es darum geht, die eigenen Kinder zu verheiraten. Die häufig berechtigte Sorge um den Erhalt materiellen Wohlstands und die Furcht vor bitterer Armut dominieren die Ausführungen Glückels in weiten Teilen. Vor diesem Hintergrund wird die Dringlichkeit der zu Beginn der Geschichte eines Ostindienreisenden geschilderten ökonomischen Notsituation sehr deutlich. In der Erzählung werden zwei Möglichkeiten geschildert, wie man Geld erwerben kann: durch harte Arbeit oder durch ein himmlisches Wunder, das heißt: durch Gottes Hilfe. Im Vergleich zu den Schilderungen des Hamburger Alltagslebens eröffnet sich in der Geschichte eines Ostindienreisenden eine Utopie, in der es möglich ist, dass ein mittelloser Jude zum reichen und anerkannten Herrscher über eine jüdische Gemeinde wird. Dies erscheint als vollkommen gerechtfertigt. Innerhalb der Geschichte erscheinen der Held und seine Frau vor allem im Vergleich mit anderen Menschen, denen sie begegnen, in einem günstigen Licht. Zum einen sind die beiden so klug und gelehrt, wie der fremde Schiffseigner und dessen Ehefrau ungebildet und dumm sind. 44 Zum anderen setzt sich der Toragelehrte positiv von den wilden Leuten 45 ab, zu denen es ihn verschlägt und die er selbst als unverständige, wilde Tiere 46 bezeichnet. Allerdings: Von einer wahrhaftigen «Tugendfamilie« wie im Apollonius von Tyrus, von einem «Stabilitätskern«, wie er in den christlichen Konfigurationen des Narrativs geschildert wird, kann man im Fall von Glückels Ostindienreisendem und seinen Angehörigen wohl kaum sprechen. 47 Das liegt in erster Linie an der Charakterisierung der Figur des Toragelehrten selbst. Im Kontrast zu dem frommen Mann, der im Midrasch über die Zehn Gebote keine Eide schwört, ist er nicht nur selbstverschuldet aufgrund seiner eigenen Misswirtschaft ins Gefängnis gekommen. Es zeugt auch von zweifelhaftem Stolz, dass er - und hier ergibt sich eine Parallele zur Geschichte der Königin von Saba - sich 44 Der Schiffseigner handelt im Affekt, als er die jüdische Frau entführt, und kann ihr Rätsel nicht lösen. Über seine eigene Frau sagt er, dass sie nur zur Hausarbeit tauge, während seine Gefangene ihm die Bücher führe. Vgl. Glikl, Memoires, S. 94. 45 Das Land, in das der Held nach dem Schiffbruch gelangt, ist ein Ort, an dem sich die wilden Leute aufhalten ( א י ן א י י ן א ו ר ט ו ו א ו ר ז י ך ד א ר ט י ן ד י א ו ו י ל ד י ל י י ט א ו י ף ה א ל ט י ן ). Glikl, S. 88. 46 Nachdem der Mann eine Weile bei den Kannibalen gelebt hat, bedauert er, dass er seine restlichen Jahre unter unverständigen, wilden Tieren verbringen solle ( ד א ז ע ר ז י י ן א י ב י ג י י א ר ן ז א ל פ א ר ש ל י י ס י ן א ו נ ט ר א ו ן פ א ר ש ט ע נ ד י ג י ו ו י ל ד י ט י ר ן ). Glikl, Memoires, S. 90. 47 Vgl. Kiening , Unheilige Familien, S. 39. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 296 weigert, von seiner Gemeinschaft Almosen anzunehmen, obwohl er allein seine Familie nicht ernähren kann und sich seine Lage stetig verschlimmert. Zudem kann man nicht nur das jüdische Paar und seine Mitmenschen, sondern auch die beiden Ehepartner miteinander vergleichen. Bei einem solchen Vergleich kommen die guten Eigenschaften des Mannes viel weniger stark zur Geltung. Im Gefängnis muss ihn seine Frau darauf hinweisen, dass die Familie von Klagen nicht satt werde: Da fing der Fromme an, bitterlich zu weinen und seine fromme Frau mit ihm, so dass es wohl Gott im Himmel erbarmen mochte. Doch die kluge Frau ermannte sich als erste wieder und sagte: ‹ Mein lieber Mann, das Geheul und Geschrei wird uns und unseren Kindern kein Brot einbringen. Ich werde gehen und sehen, welche Arbeit mir Gott beschert, damit ich etwas verdiene und dich und die Kinder ernähren kann. › 48 Bezieht man die narrative Rahmung der Geschichte eines Ostindienreisenden mit in die Interpretation der Erzählung ein, dann kann man mit einigem Recht behaupten, dass hier nicht nur die Geschichte eines frommen Mannes, sondern vor allem auch die Geschichte seiner starken Frau erzählt wird. Die Erzählung endet zwar mit den Worten: Um wieder zu unserem [eigentlichen] Zweck zu kommen: Um von meinem Vater zu schreiben, gesegnet sei sein Andenken, wären mir zwanzig Bögen [nicht] zu viel ( ו ו י ד ר צ ו א ו נ ז ר י ן צ ו ו ע ק צ ו ק ו מ ן א ו נ ' ו ו י י ט י ר פ ו ן א ב י ז צ ' ' ל צ ו ש ר י י ב ן ו ו ע ר י ן מ י ר ך ' ' ב ע ג י ן ) נ י ט ( צ ו פ י ל . ). 49 Eingeleitet aber wird die Geschichte mit einer doppelten Bezugnahme nicht nur auf den Vater, sondern auch auf die Mutter. Diese habe auf Gott vertraut, der ihr ähnlich geholfen habe wie dem Protagonisten der nun folgenden Erzählung. Eigentlich ist also die Geschichte eines Ostindienreisenden dem Andenken der Mutter der Erzählerin und ihrer Glaubensfestigkeit gewidmet. Dadurch wird der Fokus des Rezipienten eher auf die positiv gezeichnete Frau des gelehrten Helden in der Geschichte gelenkt als auf diesen selbst, obgleich dem Mann in der Erzählung mehr Raum und Handlungsfähigkeit zugestanden werden. Die Frau ist es schließlich auch, der es durch ihre Klugheit gelingt, standhaft zu bleiben und nicht mit ihrem Entführer zu schlafen. Ihr Ehemann hingegen geht eine Beziehung mit der Kannibalin ein und wird trotz seiner Gelehrsamkeit zu einem der wilden Subjekte, die er doch so sehr verachtet. 48 ד א ה ו י ב ד ע ר ח ס י ד ע ר ש ט א ן ב י ט י ר ל י ך צ ו ו ו י י נ י ן א ו נ ' ז י י ן פ ר ו י ם ו ו י י ב מ י ט א י ם , ד א ז ע ש ו ו א ו ל ג א ט א י ן ה י מ י ל מ ו כ ט א ר ב א ר מ ן . א ב י ר ד י א ק ל ו י ג י פ ר ו מ י פ ר א א ר מ א נ ט י ז י ך א ם ע ר ש ט י ן ו ו י ד ר א ו נ ' ש פ ר א ך : ' מ י י ן ל י ב ר מ א ן , ד א ז ש ר י י א י ן א ו נ ' ה י י ל י ן ו ו י ל א ו נ ז א ו נ ' א ו נ ז י ר ק י נ ד י ר ק י י ן ב ר ו י ט ב ר ע נ ג י ן . א י ך ו ו י ל ג י ה ן א ו נ ' ז ע ה ן ו ו א ז מ י ר ג א ט ו ו ע ר ט ב י ש ע ר י ן צ ו ע ר ב י ט ן ד א ז א י ך ו ו א ז פ א ר ד י נ ן א ו נ ' ד י ך מ י ט ד ע ן ק י נ ד ר ק ן מ ח י י ה ז י י ן ' . (Glikl, S. 82 f.). 49 Glikl, S. 106. ‹ Geschichte eines Ostindienreisenden › 297 Er musste mit ihnen das Fleisch der wilden Maulesel und anderer Tiere essen, und er lag mit seiner wilden Frau in Gebirgslöchern. Er und die Frau waren ganz mit Haaren bewachsen. Er sah genauso aus wie ein wilder Mann. 50 So wie der Held der Geschichte eines Königssohns selbst kurzzeitig zur Frau und Dämonin wird, ermannt sich die Frau des Ostindienreisenden. Diese Verwandlung erscheint allerdings nicht als Symptom für ein Aufgehen in der Gruppe der Anderen, da sie dem Erhalt der Eigenständigkeit dient. Der fromme Ostindienreisende hingegen gleicht dem Prinzen aus den Geschichten Sendebars. Auch er gibt seine Identität zeitweise auf, wenn er sich bei seinem Auszug in die Fremde selbst in einen wilden Mann verwandelt. Der Bedrohung, von den dort lebenden fremden Geschöpfen aufgefressen zu werden, entgeht er, indem er der Königstochter seinen Körper auf andere Weise zur Verfügung stellt: Statt zur Nahrung wird er zum Sexualobjekt. Der Kannibalismus, dessen Opfer der Mann weiterhin zu werden fürchtet, kann als Sinnbild einer vollständigen, irreversiblen Integration in ein Anderes angesehen werden, das dem Toragelehrten als ultimativ fremd erscheint. 51 Ihn, der seine erste Familie nicht ernähren konnte, bedroht nun die Gefahr der buchstäblichen Einverleibung durch seine zweite. Essen und Sex erscheinen hier als austauschbare Strategien der Vereinnahmung. Auch in diesem Text wird, ähnlich wie in den Berichten der frühneuzeitlichen Entdecker und Eroberer, deutlich, worin die eigentliche Gefährdung besteht, nämlich in einer Einverleibung, die nicht nur den materiellen Körper, sondern auch die soziale Existenz betrifft. Anthropophagie und Erotik sind durch ein Band verbunden, das Angst und Lust, Angst des grausamen Selbstverlusts und Lust der ungezwungenen Triebbefriedigung, aneinander kettet. 52 Der Protagonist imaginiert diesen Selbstverlust und vollzieht ihn auch ein Stück weit. Bei der ersten Gelegenheit aber ergreift er die Flucht. Gerade in 50 ע ר מ ו ז ט מ י ט ז י א ע ס י ן ד א ז פ ל י י ש פ ו ן ד ע ן ו ו י ל ד י ן מ ו י ל א י ז ל י ן א ו נ ' ט י ר י ן . א ו נ ' ע ר ל א ג א י ן ד י א ל י כ ר א י ן ד ע ן ג י ב ע ר ג י ן מ י ט ז י י ן ו ו י ל ד י ש ו ו י י ב . ע ר א ו נ ' ד א ז ו ו י י ב ו ו א ר י ן ג נ ץ מ י ט ה א ר י ן ב י ו ו א ק ס י ן א ו נ ' ע ר ז י כ ט א י י ן ו ו י ל ד י ן מ א ן ג ל י י ך . (Glikl, S. 90). 51 Beim frühneuzeitlichen Kannibalismus-Diskurs geht es «um Entdifferenzierungen in anthropologischer, sozialer und geschlechtsspezifischer Hinsicht. [. . .] Die Perhorreszierung dieser [kannibalischen, A. L.] Praktiken beruht nicht zuletzt auf dem Umschlag von Metaphern in Realitäten. Metaphern des Eindringens, des Zerreißens, des Verschlingens benutzen die Europäer in ihren Texten, um die Formen der Aneignung der Neuen Welt faßbar zu machen.« Christian Kiening : Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt (Historische Semantik 9). Göttingen 2006, S. 116. Vgl. die Kannibalismusfantasie der ehemals verzauberten Frau in der Wormser Wundergeschichte über die Zauberwurzel, Kapitel 6.2. 52 Kiening , Subjekt, S. 127. Zur Phantasie der Vergewaltigung eines Mannes durch eine Frau vgl. Idelson-Shein , Other Woman, S. 63 ff. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 298 dieser Situation wird deutlich, wie weit er von den Grundsätzen seiner Tora entfernt ist. Er ist in der Radikalität, mit der er die Trennung herbeiführt, ebenso grausam wie die Kannibalin, wobei seine einzige Überlegenheit darin besteht, dass er sich in Worten und nicht in Handlungen ausdrückt: Sie läuft schnell zu ihm und sieht ihn in dem Schiff. Sie ruft ihm zu, er solle sie doch auch mitnehmen. Er aber verspottet sie und sagt: ‹ Was habe ich mit den wilden Tieren zu schaffen? Ich habe bereits eine bessere Frau, als du es bist. › Und er sagt noch viel mehr zu ihr als dies. 53 Ebenso wie Dihon bar Salmon in der Geschichte eines Jerusalemers vergilt der Held der Geschichte eines Ostindienreisenden Gnade und Zuneigung mit Verachtung. Getadelt oder gar bestraft wird er dafür im Text nicht. Dennoch lässt das Ende der Episode zumindest die Frage zu, wer von den beiden Figuren am Strand sich barbarischer benimmt: die Menschenfresserin, die die Zerstörung der von ihr als bindend angesehenen Allianz mit dem Zerreißen des gemeinsamen Kindes nachvollzieht und sichtbar macht; oder der Mann, dem diese Allianz nur als Mittel zum Zweck dient, um seine Interessen zu wahren, und der für sein Handeln keine Verantwortung zu übernehmen bereit ist. 54 Der Fortgang der Geschichte gibt ihm jedenfalls Recht. Mit schlimmen Folgen seines Verhaltens muss dieser Protagonist nicht rechnen, obwohl er die Beziehung wissentlich und absichtlich beendet. In dieser Erzählung wird die Furcht, dass ein frommer Jude sich fern der Heimat an die Fremde verlieren könne, heraufbeschworen, jedoch sogleich wieder abgewiesen. Die Anpassung an die anderen ist eine nur äußerliche und kann ohne Schwierigkeiten wieder rückgängig gemacht werden. Am Ende stellt auch die christliche Mehrheitsgesellschaft kein Gegenüber mehr dar - in dieser Utopie müssen sich die jüdischen Protagonistinnen und Protagonisten mit der vormals übermächtigen Mehrheitsgesellschaft nicht mehr arrangieren. Sie ist es, die durch eine Massenkonversion ganz einfach eingemeindet und dadurch zum Verschwinden gebracht wird. Die Mesalliance des Helden bildet in dieser Geschichte nur eine Episode unter anderen. Die Botschaft der gesamten Erzählung ist die gleiche wie in der 53 ז י ל ו פ ט ג א ר ש נ ע ל צ ו א י ם א ו נ ' ז י א א ר ז א ך א י ם א י ן ד א ז ש י ף א ו נ ' ז י א ר ו פ ט א ו י ף א י ם ע ר ז ו ל ט י ז י א ד א ך א ך מ י ט נ ע מ י ן . א ב י ר ע ר ש פ א ט י ט א ו י ז א י ר א ו נ ' ז א ג י ט : ' ו ו א ז ה א ב י א י ך מ י ט ד י א ו ו י ל ד י ט י ר צ ו ש י ק ן ? א י ך ה א ב י ש ו י ן א י י ן ב ע ש י ר ו ו י י ב א ל ז ד ו א ב י ש ט . ' א ו נ ' ע ר ר י ד י ט נ א ך פ י ל מ ע ר צ ו א י ר א ל י ש ד י א ד א ז י ג י ן ו ו א ר ט י ן . (Glikl, S. 92). 54 Was der Mann mit der Hälfte seines toten Kindes anstellt, ist nicht bekannt. Dass er sie sich ebenso einverleibt, wie die wilde Frau es tut, ist unwahrscheinlich. Das heißt: Die Frau inkorporiert und ‹ verdaut › , was geschehen ist, und macht es sich auf diese Weise zueigen. Dem Helden hingegen bleiben die Ereignisse äußerlich. Daher kann er sie gemeinsam mit der halben Kinderleiche bestatten oder wegwerfen und sich danach unberührt neuen Abenteuern zuwenden. ‹ Geschichte eines Ostindienreisenden › 299 Geschichte der Königin von Saba: Was Gott einem Menschen zugedacht hat, das erhält er auch. Da es dem Ostindienreisenden trotz seiner Defizite bestimmt ist, erfolgreich zu sein und reich und mächtig zu werden, erscheint die fremde Frau nicht als Sinnbild des Widerstands gegen Gottes Ratschluss, sondern als Instrument zur Ausführung von Gottes Plan. Das verlockende und bedrohliche dämonische Element ist hier nur noch eine ferne intertextuelle Erinnerung. Die Utopie einer Gesellschaft, in der der Held keinerlei Mangel mehr leidet, verwirklicht sich nicht in der Welt der nichtmenschlichen Frau. Sie bildet nur eine Station auf dem Weg dorthin. Und so ist es auch nicht die fremde Frau, die dem Helden und seiner Familie Ansehen und Reichtum verschafft, sondern Gott. Mit Reichtum wird die nichtmenschliche Liebhaberin nicht mehr assoziiert, sie erscheint nicht als «spirit of gold as commodity, of wealth, and indeed of ownership itself«. 55 Stattdessen gehört sie einer Welt an, in der Zahlungsmittel zwar vorhanden sind. Das Gold und die Edelsteine aber sind nicht den wilden Einwohnern, sondern nur dem nicht-wilden, sie in bester kolonialistischer Tradition in Besitz nehmenden Entdecker zugänglich. Im Verlauf dieser gestörten Mahrtenehe - wenn man sie denn trotz der Abwesenheit einer Dämonin als solche bezeichnen möchte - wird der defizitäre Held nicht etwa von einer Fee beschenkt. Er nimmt sich unter Anweisung Gottes, was er braucht, und lässt die Frau dann ungestraft sitzen. Die dämonischen Anteile, die sonst sowohl in der Frauenfigur als auch im Begehren des Helden auszumachen sind, lösen sich ins Faszinierend-Exotische, gleichzeitig aber auch Verachtenswerte auf. Eine wahrhaftige Dämonin wird hier nicht mehr gebraucht, weder, um Sex mit ihr zu haben noch, um mit ihrer Hilfe Geld zu erwerben. Als Projektionsfläche, als Mythos oder als Phantasma, das eine ganze Erzählung trägt, erhält sie in Glückels Geschichte eines Ostindienreisenden keinen Raum. 55 Dauber , Bedroom, S. 153. Ohnmacht und Autorität der öffentlichen Ordnung um 1700 300 Sprechen mit und über Dämonen Die Untersuchung verschiedener jüdischer Erzählungen über die Beziehung eines Mannes zu einer Dämonin zeigt, auf welch unterschiedliche Weise dieses Narrativ zum Einsatz gebracht werden kann. Die Geschichten über die Dämonenvertreibung von Safed, den mittellosen Wormser Juden und Glückels erwählten Gelehrten machen deutlich, dass das Narrativ um 1700 eine Verschiebung in seiner Ausdeutung erfährt, die den Diskurs über Dämonenhochzeiten seit dem 17. Jahrhundert zunehmend bestimmt: Von einer bedrohlichen Macht, mit der sich der Held der Erzählung und seine Frau allein auseinandersetzen müssen, verwandelt sich die Dämonin in ein öffentliches Ärgernis. In der Geschichte aus Posen, mit der diese Untersuchung begann, äußert sich die Veränderung im Umgang mit dämonischen Wesen in der Verknüpfung von zwei gesonderten Erzählsträngen. Der Binnenerzählung über den bis zu seinem Tod in eine Dämonin verliebten Goldschmied wird eine Rahmenhandlung gegenübergestellt, die mit einem mysteriösen Mord beginnt und mit der Verurteilung und Vertreibung der Dämonen endet. Einst, so impliziert das zweifache Ende der dämonischen Allianz, erhielt die Gemeinde keinen Zugriff auf das ausschweifende Liebesleben eines ihrer männlichen Mitglieder. In der Gegenwart indes handelt die Gemeinde öffentlich und vereint. Gegen das hier konstruierte Ideal einer gemeinsam handelnden Gruppe, die ihr Territorium, ihren Besitz und die Unversehrtheit ihrer Mitglieder verteidigt, haben die Dämonen, die von Außen ( ה ח י צ ו נ י ם ), keine Chance. 1 Im Verlauf der Frühen Neuzeit verschiebt sich nicht nur der Fokus der Aufmerksamkeit vom Individuum auf seine Gemeinde. Auch die Machtverhältnisse zwischen Menschen und Dämonen verlagern sich. Waren es in den älteren Texten noch die Dämoninnen gewesen, die ihren menschlichen Geliebten vor Gericht zitierten, so wird ab dem 17. Jahrhundert zunehmend häufig ihnen selbst der Prozess gemacht. In der Geschichte aus Posen wie in vielen zeitgenössischen und jüngeren Erzählungen werden die Dämonen erst vor Gericht gestellt und dann aus der Menschenwelt entfernt. 1 Joachim Neugroschel übersetzt Chitzonim ( ה ח י צ ו נ י ם ) mit «Dissenters«. Vgl. Neugroschel , Dybbuk, S. 115. ‹ Die Äußeren › oder ‹ die von Außen › ist eine wörtlichere Übersetzung des Wortes. Vgl. Dauber , Bedroom, S. 168. Was von ihnen bleibt, sind hebräische und jiddische Geschichten über gestörte Mahrtenehen, die immer weiter im europäischen und außereuropäischen Raum zirkulieren und dabei den jeweiligen Gegebenheiten und den Erwartungen des Publikums angepasst werden. Im Jahr 2003 erschien auf dem deutschen Buchmarkt ein historischer Kriminalroman, dessen Autorin, die Frankfurter Judaistin Ruth Berger, in einer Episode verschiedene jüdische Dämonenhochzeitserzählungen zu einer komplexen Binnenerzählung verknüpft. Am Ende der kurzen Passage antwortet der Erzähler auf die Frage, ob man denn wirklich die Dämonen während des abschließenden Prozesses habe hören, nicht aber sehen können: ‹ Aber der Konstantiner will sie auch gesehen haben, so erzählte er mir später. Deshalb überkamen ihn keine Zweifel, als die ersten Worte der Dämonen auf sich warten ließen. Er sah sie auf dem Deckenleuchter aufgereiht sitzen und wusste, da sie nun schon einmal gekommen waren, würden sie schließlich auch mit ihm sprechen. › 2 Die Dämonen mögen in der Moderne zwar unsichtbar geworden sein. Zum Sprechen gebracht werden können sie noch immer. Wirkweisen eines Narrativs Aus der diachronen Untersuchung der wenigen erhaltenen Texte in der zeitlichen Abfolge ihrer Überlieferung, aber auch aus ihrer synchronen Untersuchung im Kontext der aus der Überlieferungslage abgeleiteten Zeitschnitte 1200, 1500 und 1700 ergibt sich noch keine Kulturgeschichte der jüdischen Dämonenhochzeit. Der Verzicht auf einen Rekonstruktionsversuch mehr oder weniger geradliniger Entwicklungen öffnet jedoch den Blick für das thematische Potential des Narrativs. 3 In ihm werden facettenweise historische Diskurse über bestimmte Konflikte und Problemkonstellationen sichtbar. Richtet man die Aufmerksamkeit weniger auf das Phänomen der Serie als auf die Besonderheit der Einzeltexte, dann kann, so Jan-Dirk Müller , «an den konkreten Besetzungen [. . .] die kulturelle Relevanz und Lösungskapazität einer Erzählung abgelesen werden«. 4 Die untersuchten Texte veranschaulichen die verschiedenen Konflikte und Lösungsmöglichkeiten, die in der jüdischen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit unter Verwendung des Narrativs der gestörten Mahrtenehe diskutiert werden. Ein Thema, um das alle jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen kreisen, ist das der schwierigen Subjektwerdung des männlichen Individuums in einer Gesellschaft, die zuweilen kaum erfüllbare Anforderungen an den Einzelnen 2 Ruth Berger: Die Druckerin. Historischer Roman. Reinbek 2003, S. 132. 3 Vgl. Kiening , Unheilige Familien, S. 34. 4 Müller , Höfische Kompromisse, S. 34. Sprechen mit und über Dämonen 302 stellt. Um den verschiedenen Formen des Zugriffs auf dieses Thema auf die Spur zu kommen, wurden vor allem die jüdischen Texte untereinander, aber auch die jüdischen mit den christlichen Mahrtenehenerzählungen verglichen und aus dieser Perspektive auf ihre je eigenen Schwerpunktsetzungen abgetastet. Der Vergleich zeigt, dass die verschiedenen Konfigurationsformen des Narrativs nicht einfach auseinander ableitbar sind. Häufig werden verschiedene Möglichkeiten zeitgleich konkretisiert. Dabei werden variable Motive wie etwa verbotene Affekte, mangelnder Besitz oder fehlgeleitete Gelehrsamkeit eingeschaltet oder ausgespart, ohne dass ihr Gebrauch oder der Verzicht darauf auf eine bestimmte Epoche beschränkt wären. Sie werden auf je eigene Weise in den Dienst einer Diskussion um die Position des Individuums in seiner Gemeinschaft gestellt. Verwendet man als Grundlage des Vergleichs nicht die unüberschaubare Summe aller Einzelmotive, sondern die abstraktere und daher umfassendere Kernformel der gestörten Mahrtenehe, dann lässt sich jedoch beobachten: Zu bestimmten Zeiten werden im Rahmen des Narrativs bestimmte Konflikte mit größerer Nachdrücklichkeit thematisiert als andere. Gottesfurcht und Ehestreit im 13. Jahrhundert Im 13. Jahrhundert wird sowohl in der Geschichte eines Amulettschreibers als auch in der Geschichte eines armen Mannes ein Teil der Handlungsdynamik aus dem Aufbau einer erotischen Dreieckskonstellation erzeugt, in der ein Mann zwischen zwei Frauen steht. Die Faszination eines verbotenen, gesellschaftlich nicht sanktionierten Begehrens kommt allerdings in diesen Texten nur am Rande zum Ausdruck. Der erotische Fehltritt resultiert in beiden Fällen aus einem Fehlverhalten des Helden, das sich gegen die Einhaltung einer religiös fundierten Ordnung richtet. Die Erzählungen handeln von der Notwendigkeit, das richtige Verhältnis zu Gott und zu seinen Geboten zu finden, indem Demut eingeübt oder die gleichmäßige Erfüllung konkurrierender Vorschriften geleistet wird. Ob der Held die dämonische Allianz gut übersteht oder daran zugrunde geht, hängt davon ab, ob es ihm gelingt, sich in einem komplexen Gefüge von Frömmigkeitsidealen richtig zu positionieren. Reiz und Gefahren von Fremdheit und Autonomie im 15. und 16. Jahrhundert Bereits in der ebenfalls in einer Handschrift des 13. Jahrhunderts erstmals belegten Geschichte von der Dämonin und der Quelle, einer Binnenerzählung aus dem Erzählzyklus der Geschichten Sendebars tritt neben das Thema der Hinwendung des Einzelnen zu Gott das der Beziehung zwischen Eltern und Kind. Ein Vergleich der hochmittelalterlichen Fassung der Erzählung mit einer ausführlicheren Variante aus dem 15. Jahrhundert, der Geschichte eines Königssohns, zeigt, wie sich der Fokus auf die Konkurrenz zwischen den Sprechen mit und über Dämonen 303 Anforderungen der Deszendenz und den Verlockungen exogamer Heiratsallianzen verschiebt. In dieser spätmittelalterlichen Erzählung kommen die Widersprüche und Spannungen zum Ausdruck, die aus den widerstreitenden Ansprüchen von Eltern und Kindern, von Heirat und Abstammung, vom Wunsch nach Bewährung in der Fremde und dem Bedürfnis nach der Bewahrung der Herkunftsgemeinschaft entstehen. Auch in der ältesten jiddischen Dämonenhochzeitserzählung, der Geschichte aus Worms vom Beginn des 16. Jahrhunderts, werden Konflikte inszeniert, die sich zwischen dem jugendlichen männlichen Helden, seinen Eltern und dem Rest der Gesellschaft entfalten. Dieser Text ist von allen vormodernen jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen derjenige, in dem am auffälligsten das Thema der sexuellen Grenzüberschreitung im Vordergrund steht. An der Oberfläche handelt die Geschichte vor allem von der unpassenden, die Eltern und menschlichen Ehefrauen eines Mannes schädigenden Verbindung mit einer überzähligen und gesellschaftlich nicht anerkannten Partnerin. Gleichzeitig wird aber auch davon erzählt, wie der Protagonist einen Bund mit einem Mann schließt und dadurch einem fremden, unaussprechlichen Begehren den Zugang zur Menschenwelt öffnet. Wenn sich schließlich in einem Dreieck dynamisch zirkulierender erotischer Anziehungskräfte, Ersetzungsstrategien und Ermächtigungswünsche eine Menschenfrau an die Stelle der Dämonin setzt, dann wird klar, dass die dämonischen Mächte zugleich integriert und neutralisiert werden können. Dies geschieht um den Preis der scheiternden Emanzipation des jungen Helden von der Autorität seiner Eltern, der Opferung seines verbotenen Begehrens und der Unterwerfung unter das richtende Urteil seiner Gemeinde. Zugleich geht aus der Geschichte hervor, dass Handlungsspielräume auch oder gerade dann erwirkt werden können, wenn eine Regel oder Norm nach ihrer Verletzung wieder bestätigt und neu als gültig eingesetzt wird. Eine Wiedereingliederung in die Gemeinschaft ist dem Helden der ebenfalls zu Beginn des 16. Jahrhunderts erstmals belegten Geschichte eines Jerusalemers nicht möglich. Er wird von der dämonischen Frau, die er auf einer Art invertierter Brautwerbungsfahrt gewonnen hat, umgebracht. Wieder ist letztlich die Beziehung zu der dämonischen, das heißt ultimativ fremden und bedrohlichen Frau nicht das einzige Skandalon, von dem die Geschichte handelt. Herbeigeführt wird die Mahrtenehe auch hier in Folge eines weiteren Verstoßes gegen die Regeln der Gemeinschaft: Anders als die Helden der Geschichte von der Dämonin und der Quelle, der Geschichte eines Königssohns oder der Geschichte aus Worms handelt der Protagonist der Geschichte eines Jerusalemers nicht nur implizit, sondern ganz ausdrücklich dem Willen sowohl Sprechen mit und über Dämonen 304 Gottes als auch seines Vaters zuwider. Der Held verstößt gegen die symbolische Ordnung, für die das göttliche Gebot und das Verbot seines Vaters stehen. Er gefährdet dadurch nicht nur sich selbst, sondern beschert auch seiner gesamten Gemeinschaft eine ungewisse Zukunft. Indem er am Ende für sein Verhalten mit dem Tod bestraft wird, wird die Gültigkeit des göttlichen und väterlichen Regelsystems zwar bestätigt. Die Tatsache aber, dass es dem Protagonisten tatsächlich so lange gelingt, das Gesetz zu seinen Gunsten zu verwenden, weist auf eine differenzierte Haltung des Textes gegenüber einer autonomen menschlichen Handhabung des Gesetzes und damit auch gegenüber dem rebellischen Helden hin. Während in der Geschichte eines Jerusalemers der Held für die Emanzipation von den Normen, über die die Instanz des symbolischen Vaters und seine realen Repräsentanten wachen, bitter büßen muss, ergeht es dem Protagonisten der etwa zeitgleich niedergeschriebenen Geschichte Hoscheas besser. Auch er beginnt zwar eine verbotene Beziehung zu einer Dämonenprinzessin (und zu ihrem Vater), wird aber vom Verdacht eines eindeutigen, mutwilligen Aufbegehrens gegen seinen eigenen Vater und seine Herkunftsgemeinschaft zumindest teilweise befreit. In diesem Text wird vorgeführt, dass Umkehr möglich ist, wenn ein reuiger Held den guten Willen zeigt, wieder zu einem gehorsamen Mitglied seiner Gemeinschaft zu werden. Allerdings tritt das glückliche Ende niemals ein. Somit ist auch dieser Held letztlich einer von denen, die weniger an der dämonischen Allianz scheitern als an dem, was ihre eigene Gesellschaft von ihnen verlangt und was zu leisten sie nicht bereit oder im Stande sind. Autorität und Ohnmacht der öffentlichen Ordnung um 1700 Während in den Erzählungen vom Beginn der Frühen Neuzeit die dämonischen Mächte die Welt der Menschen dauerhaft verändern, verschwinden in den dreiin dieser Arbeit untersuchten Texten aus der Zeit um 1700 die nichtmenschlichen Frauen und ihre Angehörigen aus der Menschenwelt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Auf diese Weise wird in ihnen vom Triumph der öffentlichen Ordnung über die Transgressionssehnsüchte der Protagonisten erzählt. Die Geschichte des Ari artikuliert, pointierter als die älteren Erzählungen, ein Missfallen daran, dass ein Mitglied der Gemeinschaft sich von dieser absondern und Interessen nachgehen könnte, die der Kontrolle und dem Zugriff der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Indem der Mystiker und Gelehrte - der eigentliche Protagonist der Erzählung - die gesellschaftliche Ordnung wiederherstellt, trägt er zur Heilung der göttlichen Ordnung bei. Um die prekäre Isolation des Individuums von der Gesellschaft geht es auch in der Geschichte der Königin von Saba: Der Held betrügt nicht nur seine Sprechen mit und über Dämonen 305 menschliche Ehefrau, sondern auch die Gemeinschaft, in der er lebt. Der Pakt des Helden mit der Dämonin impliziert neben einem erotischen Fehltritt auch ein Vergehen in ökonomischer Hinsicht. Mit diesem richtet sich der Held gegen den Willen Gottes, aber auch gegen den Zusammenhalt der Gesellschaft, die einen Missetäter sowohl richten und stigmatisieren als auch rehabilitieren und unterstützen kann. Was hier als Wunschphantasie aufgebaut und abgewiesen wird, ist die Vorstellung, ein Mensch könne eigenmächtig und gegen den Willen Gottes und das Wissen seiner Gemeinschaft sein Schicksal in die eigene Hand nehmen und sich dabei von Fremden unterstützen lassen, die dieser Gemeinschaft nicht angehören. Demgegenüber ist die Geschichte eines Ostindienreisenden vor allem die Geschichte eines Auswegs aus weltlicher Not in ein weltliches Glück, für das der Held nichts tun muss, als sich der Fürsorge Gottes anzuvertrauen. In diesem Text wird eine utopische Lösung angeboten, um das schwierige Verhältnis des Einzelnen zu seiner Gemeinschaft zu klären. Von dem Protagonisten wird gar nicht verlangt, sein Verhalten zu ändern, um einen Platz in seiner Heimatgesellschaft zu finden - mit Hilfe Gottes gründet er einfach eine neue, in der alle Defizite beseitigt sind. Begehren und Disziplinierung Im Vergleich der jüdischen Erzählungen von gestörter Mahrtenehe von 1200 bis 1700 wird deutlich, dass die untersuchten Texte von einem gemeinsamen Phänomen geprägt sind: Die Erzählungen verbinden stets ein thematisches Sujet im Bereich möglicher sozialer Antagonismen mit wechselnden Perspektiven auf weitere Konfliktquellen. Stets präsent ist das Ereignis der erotischen Transgression, die die Beziehung mit einer für gesellschaftsfähige Allianzen untauglichen Frau bedeutet. In germanistischen Studien zu den Wirkweisen des Narrativs der gestörten Mahrtenehe wird diese Form der Sexualität mit und des Hingezogenseins zu einer nichtmenschlichen Frau meist unter dem Gesichtspunkt einer potentiell gesellschaftsgefährdenden Liebespassion betrachtet. Jan-Dirk Müller zufolge kann «die Verbindung mit einer Fee [. . .] die Liebespassion von Schuld entlasten, ohne daß ihr ordnungsstörender Charakter in Frage gestellt würde.« 5 Selbst wenn dem Protagonisten nicht ganz wohl ist bei der Begegnung mit der geheimnisvollen Frau - meist überwiegt der Eindruck, dass die Partnerin neben Wohlstand und Ehre auch erotische Erfüllung beschert, und dass die Beziehung vor der Krise, ganz gleich, ob sie im nachhinein gutgeheißen wird oder 5 Müller , Höfische Kompromisse, S. 427. Sprechen mit und über Dämonen 306 nicht, für den Mann «eine Zeit außergewöhnlichen Glücks« bedeutet. 6 Für das hohe Mittelalter sieht Müller im Erzählen über Feenliebe «ein Alibi, Liebespassion unbekümmert um soziale Ordnungen und moralische Normen auszuphantasieren, wenn sie auch jene Ordnungen und Normen bedroht«. 7 Auch in den jüdischen Erzählungen balancieren die Helden zwischen den Regeln ihrer Gemeinschaft und Formen des Begehrens, die diesen Regeln widersprechen. Von ‹ Liebespassion › ist dabei allerdings selten die Rede, die Momente der Freiwilligkeit und des Genusses werden meist demonstrativ abgelehnt. Liebe erhält in diesen Erzählungen keinen Raum. Dieser Befund fügt sich zu der Annahme, dass radikal exogame Allianzen im jüdischen Kontext der vormodernen europäischen Diaspora als problematischer angesehen werden als in der höfischen Kultur, in der das Kriterium der adligen art schwerer wiegt als die Zugehörigkeit zu einer Religion oder gar zu einer Spezies. Während daher die Protagonisten höfischer Erzählungen von gestörter Mahrtenehe zuweilen für immer mit ihrer Fee vereint werden, setzen sich die jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen von vergleichbaren höfischen Modellen der Feenliebe dadurch ab, dass in ihnen die Beziehungen ausnahmslos scheitern. Gleichzeitig wird in den Geschichten über erotische Allianzen mit verbotenen Frauen immer wieder deutlich, dass in diesen Verbindungen trotz aller Nötigung und aller Gefahr auch eine Freiheit von den Zwängen einer Gesellschaft aufscheint, deren Angehörige versuchen, das Ehe- und Sexualleben ihrer Mitglieder zu kontrollieren. Sowohl in den christlichen als auch in den jüdischen Texten wird nicht nur von schwierigen Liebesverhältnissen erzählt, durch die der Held in Konflikt mit Gott oder mit seinen menschlichen Angehörigen gerät. Noch deutlicher als in den christlichen Texten werden in den jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen vor dem Hintergrund prekärer und verbotener Allianzen immer auch andere Transgressionspotentiale sichtbar und diskutierbar. Das Defizit des Helden, sei es intrinsischer oder extrinsischer Natur, öffentlich oder verborgen, dient nicht nur wie in den höfischen Erzählungen dazu, das Aufnehmen der Beziehung zu motivieren. In den jüdischen Geschichten stellt vielmehr dieses Defizit das eigentliche Skandalon dar, aus dem die Handlung sich entfaltet. Als Problem, das der Lösung bedarf, ist somit nicht die Beziehung zu der Dämonin zu betrachten, sondern diejenigen Handlungen des Helden, die zum Eingehen der Beziehung geführt haben. Die Gaben der nichtmenschlichen Frau besitzen zwar auch hier oft kompensatorischen Charakter; die Vorstellung einer phantastischen Wunscherfüllung existiert 6 Röhrich , Mahrtenehe, Sp. 50. 7 Müller , Höfische Kompromisse, S. 428. Sprechen mit und über Dämonen 307 auch in den jüdischen Mahrtenehenerzählungen. Zugleich erscheint die erzwungene und ungewollte dämonische Allianz als äußerliches Signum weiterer Konflikte, als Anzeichen eines disharmonischen Verhältnisses des Einzelnen zur Welt, und das heißt in den jüdischen Erzählungen: zu dem System von Regeln, Geboten und Ansprüchen, in das das Individuum eingebettet sein sollte und dem es sich entweder zeitweise oder für immer entzieht. Diese beiden Entscheidungsmöglichkeiten korrespondieren mit zwei Typen von Erzählungen: Der eine Typus konstituiert sich dadurch, dass der Held in die Gesellschaft, von der er während der Aufrechterhaltung der dämonischen Allianz und auch zuvor schon zumindest teilweise abgetrennt war, reintegriert wird. Dies gelingt, wenn er sein Verhalten korrigiert und auf diese Weise die zuvor in Frage gestellten sozialen Normen als gültig bestätigt. Der andere Typus ist dadurch gekennzeichnet, dass die Reintegration des Helden scheitert oder nur unvollständig gelingt. Dies ist dann der Fall, wenn der Protagonist sein Verhalten nicht ändert und sich nicht von sich aus oder mit Hilfe anderer darum bemüht, den ihm angemessenen Platz im gesellschaftlichen Gefüge anzunehmen. Die Verbundenheit des Einzelnen mit und die Distanz von den Idealen der Gesellschaft ist der Fluchtpunkt jeder Handlung. Während sich in den christlichen Mahrtenehenerzählungen der größte Konflikt aus der Trennung des Helden von der Fee ergibt, besteht er in den jüdischen Dämonenhochzeitserzählungen in der Trennung des Protagonisten von der Gesellschaft, deren Normen er verletzt hat. Für diesen misslichen Zustand ist die Beziehung zu der nichtmenschlichen Frau lediglich ein Symptom, das, wie sich in den Texten zeigt, nicht ohne Weiteres entfernt werden kann. Bekämpft werden muss nicht die Manifestation des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern seine Ursache, also: nicht die dämonische Allianz, sondern Machthunger und Geldgier, die Abwendung von spirituellen Lebensformen, das Ausleben nicht sanktionierten Begehrens, die Auflehnung gegenüber elterlichen Autoritäten oder der Rückzug aus dem Kontrollbereich kollektiver Disziplinierung. Aus dieser Perspektive wird verständlich, warum die Beziehungen keinen Bestand haben. Entweder sie enden, weil der Held den Weg in eine ihm angemessene Lebensform findet. Oder aber das Leben des Helden endet. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Erzählt wird in den hebräischen und jiddischen Geschichten auf die eine oder andere Weise von der Wiederherstellung der sozialen Ordnung. Gleichzeitig aber erzählen sie davon, wie die Wiedereinsetzung einer Regel oder Norm nie vollzogen werden kann, ohne dass in ihrem vorherigen Bruch auch Freiräume erfahrbar werden. Diese Formen des Changierens zwischen der Verurteilung der Transgression und ihrem Auskosten verschaffen in jedem einzelnen der Texte eine Ahnung davon, welche gesellschaftlichen Konflikte im Sprechen mit und über Dämonen 308 mittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Europa als relevant angesehen werden und wie durch ihre Diskursivierung im Rahmen des Narrativs der gestörten Mahrtenehe Lösungen konzipiert und gleichzeitig die Lust am Ungehorsam aufrecht erhalten werden. Sprechen mit und über Dämonen 309 Abkürzungsverzeichnis EJ Encyclopaedia Judaica. Hg. von Michael Berenbaum und Fred Skolnik . Detroit 2 2007. EM Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. von Kurt Ranke und Rolf Wilhelm Brednich . Berlin 1975 ff. DDD Dictionary of Deities and Demons in the Bible. Hg. von Karel van der Toorn , Bob Becking und Pieter W. van der Horst . Leiden, Boston, Köln 2 1999. DVjS Deutsche Vierteljahrsschrift. 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Literaturverzeichnis 334 Register Antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche Verfasser und Werke Abraham ben Itzchak von Bedierres 105 Abraham ben Maimon 210 Apuleius 38, 53 Boccaccio 103 ‹ Buch Tobit › 47, 160, 208, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 249, 252 Caesarius von Heisterbach, ‹ Dialogus Miraculorum › 39, 40, 51, 65, 68 Chrétien de Troyes 11 ‹ Chuke ha-Tora › 91 Couldrette, ‹ Mélusine › 11, 43 David Kaslari 105 ‹ Decamerone › 103 Dietrich von der Glesse, ‹ Der Gürtel › 183 ‹ Divre ha-Jamim schel Mosche Rabbenu › 213, 253 Don Vidal Benvenist 208 ‚ Divre ha-Jamim schel Mosche Rabbenu ‘ 348, 373 ‹ Dukus Horant › 67, 128 Elasar von Worms, ‹ Hilkhot ha-Kavod › ; ‹ Hilkhot Malakhim › 59, 63, 345 Eldad ha-Dani 208, 293 Elieser Liebermann 285 Elijahu ben Ascher ha-Levi (Elijahu Bachur, Elia Levita), ‹ Bovo d ’ Antona › 154, 366 Flavius Mithridates, ‹ Sermo de Passione Domini › 62 Freidank, ‹ Bescheidenheit › 89 Geoffrey Chaucer, ‹ Canterbury Tales › 103 Geoffroy von Auxerre 52 Gervasius von Tilbury, ‹ Otia Imperialia › 11, 39, 40, 41, 42, 49, 52, 65, 70, 84 ‹ Geschichte aus Posen › 9, 301 Glückel von Hameln, ‹ Memoiren › 291, 292, 293, 294, 295, 296, 300, 301, 314 Gottfried von Straßburg, ‹ Tristan › 224 ‹ Graelent › 11, 30, 94, 177 ‹ Guingamor › 11 Hartmann von Aue, ‹ Iwein › 11, 115, 246 Heinrich von Neustadt, ‹ Apollonius von Tyrland › 294 ‹ Herzog Ernst › 211, 224, 225, 227 ‹ Historia Apollonii regis Tyri › 254, 294 ‹ Historia septem sapientum › 104, 105, 107 ‹ Historia von D. Johann Fausten › 117, 120, 287 Israel Baal Schem Tov 275 Itzchak ben Schlomo Aschkenasi Luria 10, 274, 275, 276, 280, 282, 284 Itzchak Or Sarua 72, 167 Jacobus von Voragine, ‹ Legenda Aurea › 254 Jean d'Arras, ‹ Mélusine › 11, 43 Jean Mocquet, ‹ Voyages en Afrique, Asie, Indes Orientales 293, 294 Jehuda he-Chasid, ‹ Sefer ha-Kavod › 51, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 72, 264, 345 Jiftach Josef Juspa ben Naftali Hirtz (Juspa Schammes), ‹ Sefer Maisse Nissim › 285, 287, 288 Johann Fischart 42 Johann Wolfgang von Goethe, ‹ Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten › ; ‹ Die neue Melusine › 53, 159 Johannes de Alta Silva, ‹ Dolopathos › 51, 104, 107, 160 Johannes Nikolaus Pfitzer 42 Johannes Praetorius 42 Jörg Wickram 132, 200, 231 Josef ibn Itzchak Sambari, ‹ Sefer Divre Josef › 275, 276 Josef ben Meir Zabara, ‹ Sefer Schaaschuim › 229 ‹ Kaiserchronik › 159, 254 ‹ Kalila wa-Dimna › 104 ‹ König Rother › 224, 225 ‹ Königin vom brennenden See › 11, 124, 125, 177 Konrad von Stoffeln, ‹ Gauriel von Muntabel › 11, 128 Konrad von Würzburg, ‹ Partonopier und Meliur › ; ‹ Schwanritter › 11, 12, 21, 22, 23, 27, 30, 31, 36, 44, 45, 78, 83, 84, 116, 117, 121, 128, 133, 177, 178, 188, 224, 226, 246, 248, 283 ‹ Kudrun › 67, 211, 224, 225 ‹ Libro de los engaños e los asayamientos de las mujeres › 104, 124 ‹ Maisse Bukh › 155 Marie de France, ‹ Guigemar › ; ‹ Lanval › ; ‹ Yonec › 11, 30, 31, 32, 36, 65, 84, 94, 115, 116, 121, 133, 177, 178, 246, 282 Martin Luther 11, 42, 46, 231 Maximilian I. 120 ‹ Megillat Achimaatz › 120 Meir ben Gedalia (Maharam von Lublin) 167 Michael Andreopoulos 104 ‹ Midrasch Aseret ha-Dibrot › 252, 253, 261, 294, 296, 348 ‹ Midrasch Tanchuma › 49, 160, 166, 167 ‹ Midrasch va-Joscha › 253, 348 ‹ Mischle Sendebar › 47, 58, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 124, 128, 129, 134, 135, 139, 146, 147, 148, 149, 151, 178, 208, 212, 253, 273, 298, 303, 348, 356, 373 Mosche ben Chisdai Taku, ‹ Ktav Tamim › 63 ‹ Münchner Oswald › 224, 225 ‹ Nibelungenlied › 53, 224 ‹ Orendel › 224, 227 ‹ Ovide moralisé › 131, 132, 133 Panchatantra 103, 104 ‹ Paris und Wiene › 128, 156 Petrus Lombardus 39 Reinbot von Durne, ‹ Der heilige Georg › 224 ‹ Ritter von Staufenberg › 11, 27, 28, 31, 36, 44, 45, 53, 70, 80, 83, 84, 115, 116, 141, 180, 283 ‹ Roman des sept sages › 104 ‹ Rusalka › 53 Saadia Gaon 59 ‹ Schivche ha-Ari › 275, 276 ‹ Sohar › 281 Talmud 45, 47, 48, 49, 88, 93, 109, 223, 228, 245, 246, 258, 259, 311 ‹ Tausendundeine Nacht › 103, 104, 105, 211 Theophrast von Hohenheim (Paracelsus), ‹ Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et caeteris spiritibus › 11, 42, 43, 52, 131, 140 Thomas von Aquin 39 Thüring von Ringoltingen, ‹ Melusine › 37, 43, 141, 315 ‹ Toldot ha-Ari › 275, 276 Vincent von Beauvais 159 Walter Map, ‹ De Nugis Curialium › 11, 20, 27, 38, 40, 41, 42, 52, 65, 70, 84, 282, 283 Register 336 ‹ Widuwilt › 67, 128 ‹ Wiener Oswald › 224 William von Malmesbury 159 Wirnt von Grafenberg, ‹ Wigalois › 67, 119 Wolfram von Eschenbach, ‹ Parzival › 246 Zwi Hirsch Kaidanover, ‹ Sefer Kav ha-Jaschar › 9, 10, 11 Neuzeitliche Verfasser Aarne, Antti 21, 316 Agus, A. Irving 91, 316 Alexander-Frizer, Tamar 13, 47, 48, 49, 51, 53, 64, 67, 68, 167, 168, 175, 278, 316 Algazi, Gadi 91, 316 Allony, Nehemia 51, 209, 218, 314, 316, 334, 373 Asaf, Simha 264, 316, 394 Assemani, Stefano Evodio 108, 316, 356 Baum, Paull Franklin 159, 172, 179, 316 Baumgarten, Jean 10, 316 Behmenburg, Lena 131, 316 Beit-Arié, Malachi 58, 59, 62, 317, 329, 346, 349 Belcher, Stephen 104, 317 Ben-Amos, Dan 46, 48, 131, 314, 317 Berger, Ruth 49, 90, 95, 302, 312, 317 Berman, Saul 255, 260, 317 Bertau, Karl 282, 317 Berthelot, Anne 43, 317 Biale, David 66, 90, 91, 166, 169, 170, 171, 176, 281, 317, 327 Bickmann, Claudia 22, 317 Blidstein, Gerald 255, 317 Borchers, Susanne 168, 317 Bornstein-Makovetsky, Leah 214, 317, 318 Boyarin, Daniel 86, 95, 177, 317 Braun, Manuel 118, 200, 317 Bredin, Mark 229, 233, 235, 317, 322, 324, 328 Breulmann, Julia 34, 52, 318 Brüll, Nehemias 264, 318, 394 Brunner, Horst 118, 318 Buschinger, Danielle 35, 43, 317, 318 Butler, Judith 152, 153, 154, 176, 179, 180, 184, 191, 204, 318 Camille, Michael 172, 318 Cassuto, Umberto 108, 318, 356 Cerquiglini, Bernard 61, 318 Chajes, Jeffrey Howard 50, 318 Chang, Shoo-Huey 154, 156, 318 Cohen, Haim Hermann 166, 332 Cohen, Hayyim 214, 318 Colwell, Tania 43, 318 Dan, Joseph 13, 40, 51, 52, 54, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 73, 76, 109, 209, 210, 211, 212, 253, 264, 275, 318, 319, 345, 346, 374, 394 Dauber, Jeremy 13, 47, 48, 49, 163, 164, 165, 172, 173, 176, 179, 182, 189, 190, 199, 248, 289, 300, 301, 319 Davis, Natalie Zemon 43, 291, 293, 318, 319 Daxelmüller, Christoph 190, 319 Doniach, Nakdimon Shabbethay 105, 319 Douglas, Mary 233, 319 Dreeßen, Wulf-Otto 66, 67, 319 Drittenbass, Catherine 43, 319 Drori, Moshe 166, 332 Drux, Rudolf 22, 319 Ego, Beate 232, 233, 234, 249, 320 Eichler, Paul Arno 211, 320 Eidelberg, Shlomo 10, 320 Elbogen, Ismar 93, 320 Elizur, Binyamin 253, 320 Elon, Menachem 255, 317 Epstein, Mark Alan 213, 320 Neuzeitliche Verfasser 337 Epstein, Morris 104, 105, 106, 109, 126, 134, 143, 146, 208, 315, 320, 353, 356, 357, 374 Erik, Max 10, 320 Evans, Dylan 241, 320 Faierstein, Morris M. 274, 320 Falk, Ze ’ ev W. 259, 320 Fanger, Clare 71, 320 Farrell, Anthony J. 105, 329 Fehling, Detlev 104, 320 Fine, Lawrence 275, 280, 321 Fitzmyer, Joseph A. 229, 321 Foucault, Michel 153, 176, 184, 203, 204, 205, 321 Frakes, Jerold C. 67, 321 Frenzel, Elisabeth 20, 321 Freud, Sigmund 36, 37, 38, 125, 184, 189, 192, 197, 242, 243, 244, 246, 321 Frey-Anthes, Henrike 46, 47, 48, 234, 321 Fuchs-Jolie, Stephan 35, 36, 321 Gaster, Moses 51, 59, 209, 210, 211, 321, 348, 373 Gathercole, Simon 229, 230, 312, 332 Geller, Yaacov 214, 318 Gennep, Arnold van 174, 321 Gerdes, Udo 105, 321 Girard, René 138, 190, 191, 192, 193, 195, 245, 321 Goedeke, Karl 107, 321 Goffman, Daniel 214, 321 Goldish, Matt 213, 214, 321 Goldman, Shalom 229, 322 Gollancz, Hermann 124, 314, 322 Goodblatt, Chanita 51, 170, 171, 179, 189, 190, 322, 366, 367 Graf, Klaus 118, 322 Grossman, Avraham 160, 166, 167, 322 Grözinger, Karl Erich 10, 260, 322, 323 Guerreau-Jalabert, Anita 39, 43, 44, 322 Gumbrecht, Hans Ulrich 283, 322 Haim, Abraham 166, 214, 318 Harf-Lancner, Laurence 12, 35, 322 Harris, Monford 67, 322 Hartland, E. Sidney 211, 322 Heine, Peter 211, 323 Hempfer, Klaus 22, 323 Hieke, Thomas 230, 233, 323 Holtz, Grégoire 293, 323 Huber, Christoph 20, 27, 28, 323 Hundert, Gershon David 281, 323 Hutter, Manfred 47, 323 Idel, Moshe 10, 59, 275, 323, 326, 330 Idelson-Shein, Iris 293, 298, 323 Isaacs, Ronald H. 48, 286, 323 Jacobs, Louis 323 Jaeger, Achim 67, 323 James, Montague Rhodes 38, 315, 323 Jaroslav Kvapil 53 Jauß, Hans Robert 22, 323 Jensen, Hans J. Lundager 235, 324 Jussen, Bernhard 118, 324 Kahana, Abraham 229, 324 Kanarfogel, Ephraim 64, 72, 76, 91, 324 Kasten, Ingrid 28, 324 Kellner, Beate 28, 117, 119, 324 Kerth, Thomas 226, 324 Kiening, Christian 16, 89, 254, 294, 296, 298, 302, 324 Knapp, Fritz Peter 67, 324 Kohen, Elli 213, 324 Koschorke, Albrecht 118, 191, 192, 324 Kragl, Florian 29, 324 Kraß, Andreas 36 Krawietz, Birgit 212, 325 Krupp, Michael 209, 210, 312, 325, 374, 380, 392 Kuder, Ulrich 190, 325 Kühnel, Ulrich 61, 325 Lacan, Jacques 153, 190, 191, 241, 242, 243, 246, 325 Lapide, Pinchas E. 108, 325, 357 Laqueur, Thomas W. 281, 325 Lecouteux, Claude 27, 28, 30, 31, 37, 52, 325 LeGoff, Jacques 35, 326 Lembke, Astrid 89, 283, 326 Levi, Anshel 154, 189, 326 Register 338 , Lévi, Israel 58, 326, 348, 349, 350, 398 Levy, Avigdor 213, 326 Loewe, Herbert 154, 326, 366 Lory, Pierre 212, 326 Lotman, Jurij M. 185, 186, 326 Lüdemann, Susanne 242, 326 Lundt, Bea 103, 107, 326 Man, Paul de 278, 279, 326 Marcus, Ivan G. 59, 66, 326, 327 Martínez, Matías 23, 24, 224, 327 Mathieu, Jon 118, 329 Mecklenburg, Michael 115, 119, 133, 327, 330 Mertens, Volker 33, 35, 224, 327 Mitterauer, Michael 232, 327 Morsel, Joseph 119, 327 Müller, Diana 61, 327 Müller, Jan-Dirk 26, 32, 302, 306, 307, 327 Müller, Stephan 327 Munk, Elie 93, 327 Necker, Gerold 274, 327 Neubauer, Adolf 58, 59, 317, 327, 345, 348 Neugroschel, Joachim 172, 189, 301, 315, 328, 366, 367 Nirenberg, David 233, 328 Ogle, Marbury Bladen 178, 328 O ’ Quinn, Daniel 293, 328 Ott, Michael 119, 328 Ott, Norbert H. 105, 328 Pagel, Gerda 190, 328 Panzer, Friedrich 12, 19, 20, 21, 25, 27, 50, 328 Pastenaci, Stephan 200, 328 Patai, Raphael 13, 49, 51, 218, 262, 314, 316, 328, 334 Patrzek, Nikolaus 131, 328 Perry, Ben Edwin 104, 328 Peters, Ursula 118, 328 Pitkänen, Pekka 233, 328 Propp, Vladimir 26, 328 Przybilski, Martin 66, 328 Raible, Wolfgang 22, 328 Raspe, Lucia 58, 156, 274, 275, 285, 328, 329 Reuter, Fritz 285, 329 Richler, Benjamin 59, 62, 108, 329, 346, 357 Riley, Greg J. 47, 329 Röhrich, Lutz 19, 307, 329 Rosenberg, Joel 253, 254, 329 Rosenmüller, Ernst Friedrich Karl 225, 329 Runte, Hans R. 105, 329 Sabean, David Warren 118, 329 Sappler, Paul 124, 314, 329 Schäfer, Ulrike 285, 329 Scheffel, Michael 23, 224, 327 Schmid, Elisabeth 118, 329 Schmid-Cadalbert, Christian 24, 29, 224, 329 Schneider, Horst 39, 312, 329 Schnyder, André 32, 43, 315, 319, 329 Schoenfeld, Andrew Jason 109, 329 Scholem, Gershom 274, 275, 330 Scholz Williams, Gerhild 42, 286, 330 Schreiner, Klaus 89, 330 Schulz, Armin 12, 22, 23, 24, 25, 29, 30, 44, 75, 123, 124, 126, 129, 197, 224, 226, 330 Schulz, Monika 72, 330 Schwarz, Alexander 42, 286, 330 Sedgwick, Eve 191, 330 Shenhar, Aliza 238, 249, 330 Shochat, Azriel 293, 330 Sieber, Andrea 132, 330 Simon, Ralf 12, 21, 24, 33, 330 Soll, Will 232, 233, 330 Sperling, Jutta 170, 330 Spieß, Karl-Heinz 118, 324, 331 Stackmann, Karl 67, 131, 331 Starr, Joshua 109, 331 Steinkämper, Claudia 140, 331 Steinmetz, Ralf-Henning 104, 105, 106, 331 Steinschneider, Moritz 208, 209, 331, 373 Stemberger, Günther 252, 331 Neuzeitliche Verfasser 339 Stephens, Walter 39, 331 Stern, David 210, 253, 315, 329, 331 Stiene, Heinz Erich 39, 41, 313, 331 Strauch, Gabriele L. 67, 331 Strohschneider, Peter 89, 118, 331 Stuckenbruck, Loren T. 229, 230, 312, 331, 332 Suerbaum, Almut 44, 332 Tang, Wei 24, 332 Tavard, Georges 39, 332 Teuscher, Simon 118, 329 Thompson, Stith 21, 316 Tigay, Jeffrey Howard 166, 332 Timm, Erika 66, 154, 155, 189, 291, 319, 332 Toepfer, Regina 94, 332 Trachtenberg, Joshua 49, 50, 69, 92, 93, 187, 332 Turner, Victor 174, 332 Turniansky, Chava 154, 155, 291, 292, 293, 313, 332 Verweyst, Markus 246, 332 Wacks, David A. 208, 332 Warnock, Robert G. 67, 332 Wawer, Anne 21, 26, 27, 332 Weeks, Stuart 229, 230, 312, 332 Wenzel, Edith 67, 333 Wenzel, Horst 118, 331, 333 Wienstein, Natalie 109, 333, 357 Wikeley, J. Keith 105, 329 Wirszubski, Chaim 62, 313, 333 Wolfzettel, Friedrich 12, 19, 35, 333 Wyss, Ulrich 28, 29, 31, 238, 282, 333 Yaari, Abraham 213, 333 Yassif, Eli 52, 58, 61, 72, 244, 248, 253, 254, 255, 294, 333, 349 Ydit, Meir 333 Yuval, Israel 66, 333 Zfatman, Sara 9, 10, 13, 51, 53, 54, 58, 154, 159, 161, 275, 276, 277, 285, 287, 289, 333, 334, 366, 367 Ž i ž ek, Slavoj 243, 334 Zlotnik, Jehuda L. 51, 209, 210, 211, 218, 262, 314, 316, 334 Zumthor, Paul 61, 334 Namen, Orte und Sachen Amulet 68, 70, 71, 72, 76, 77, 346 Amsterdam 284 Anschel 158, 179, 180, 181, 182, 183, 192, 196, 199, 367, 368 Artus 115, 128 Aschkenas 58, 59, 61, 63, 64, 72, 73, 90, 110, 155, 160, 166, 168, 216, 345, 348, 366, 394 Aschmedai 47, 48, 108, 109, 217, 220, 225, 228, 230, 233, 234, 240, 247, 248, 249, 251, 258, 356, 381, 382, 383, 384, 385, 387, 388, 390, 392 Babylonien 210 Beschwörung 64, 70, 72, 346 Brautwerbung 24, 67, 127, 223, 224, 225, 226, 228 Candia (Iraklio) 109, 110, 149, 356 Chaside Aschkenas 59, 60, 61, 63, 64, 65, 67, 68, 72, 76, 77, 166, 168, 345 David (biblisch) 176, 357, 360, 364, 367, 381, 392, 393 Diaspora 10, 133, 233, 234, 307 Diaspora [Exil] 147, 156, 157, 201, 230, 279 Dibuk 50, 275 Dschinn 211 Edirne 213 Ehebruch 128, 166, 176, 286 Elementargeist 42, 131 Endogamie 172, 230, 232, 234 Engel 39, 40, 41, 47, 64, 160, 211, 212, 230, 231, 254 Register 340 Eustachius [Placidas] 254, 294, 295 Exemplum 11, 15, 39, 42, 43, 44, 45, 52, 65, 68, 70, 78, 84, 99, 277, 284 Exogamie 226, 230, 234 Frankfurt am Main 10, 345 Frankreich 91, 109 Fuß, Füße 35, 47, 180, 188, 189, 190, 347, 354, 359, 372, 377, 379, 384 Gebet 49, 77, 79, 92, 96, 155, 248, 291, 361, 379, 380, 381, 392, 398, 399 Geld 163, 235, 236, 286, 289, 295, 300 Geld [Reichtum] 70, 80, 92, 95, 156, 163, 165, 170, 197, 198, 202, 216, 233, 238, 240, 246, 254, 263, 265, 285, 288, 289, 295, 299 Genealogie 28, 119, 120 Götze 45, 46, 112, 145, 364 Gral 117 Haar 158, 164, 188, 189, 190, 273, 297, 371, 372 Halakha 245, 261, 392 Hermaphroditus 132 Hiob (biblisch) 254, 294, 363, 377, 380 Insel 69, 292, 347 Islam, muslimisch 91, 167, 178, 209, 211, 212, 215, 234 Israel Baal Schem Tov 275 Italien 10, 108, 109, 155, 156, 209, 366 Jagd, Jagen 110, 114, 116, 128, 133, 134, 178, 353, 355, 358, 359 Jakob (biblisch) 146, 147, 164, 351, 358, 379, 384, 389 Jemen 209 Jeschiva 80, 96, 157, 169, 179, 228, 351, 352, 367, 383 Johanan 88 Josef (biblisch) 146, 258, 279 Kabbala 274, 281 Kannibalismus 298 Keller 9, 10, 200, 285, 289 Ketuba 220, 234, 263, 374, 385, 391, 392 Königin von Saba 17, 48, 273, 284, 285, 286, 288, 289, 290, 291, 296, 299, 305 Konstantinopel [Istanbul] 10, 50, 109, 149, 213, 229, 214, 275, 293, 373, 374 Kreta, kretisch 108, 110, 147, 148, 149, 159, 208, 356 Kuss 83, 85, 87, 217, 239, 250, 265, 268, 351, 352, 364, 379, 384, 387, 388, 390, 392, 400 Lag ba-Omer 367 Lilith 45, 47, 48, 49, 286 Liminalität 178 Liturgie 96, 248, 265 Lurianische Kabbala 10, 274, 280, 284 Maria 172 Masturbation 281, 282 Meer 136, 157, 215, 216, 217, 218, 219, 223, 225, 227, 239, 240, 244, 245, 257, 265, 269, 359, 375, 376, 377, 378, 379, 381, 383, 386, 395, 396, 397 Meer [See] 177, 292 Melusine 11, 22, 23, 30, 32, 33, 35, 36, 37, 42, 43, 44, 51, 52, 78, 83, 117, 119, 120, 121, 124, 125, 126, 131, 140, 141, 145, 160, 178, 183, 188, 211, 238, 248, 287 Midrasch 49, 58, 59, 164, 252, 253, 256, 261, 294, 296, 314 Minhag 155 Nachmias, David und Samuel 213, 373 Osmanisches Reich 209, 213, 215, 216 Ovid 131, 132 Pakt 286, 287, 289, 306 Paruschim 91 Polygynie 167, 286 Portugal 213 Posen 9, 301 Psalm 46, 92, 312, 380, 398 Raphael (biblisch) 51, 230, 231, 232 Raumsemantik 36, 54 Ring 158, 161, 163, 164, 167, 179, 181, 190, 196, 198, 202, 203, 368, 372 Ruine 110, 112, 126, 136, 137, 350, 354, 359, 360, 361 Russland 214 Namen, Orte und Sachen 341 Safed 274 Safed, Zfat 274, 276, 281, 284, 301 Salmacis 131, 132, 133 Salomo (biblisch) 47, 48, 108, 176, 208, 228, 251, 356, 394 Saloniki 213 Samen 49, 230, 281 Sara (biblisch) 58, 230, 231, 232, 234, 235, 237 Saul (biblisch) 126, 257, 381, 382 Schlange 41, 359 Schma Israel 265, 398, 400 Schwur 84, 217, 218, 220, 252, 253, 254, 257, 258, 259, 267, 270, 352, 364, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 385, 386, 387, 389, 390, 391, 393, 400 Seele 42, 140, 145, 151, 195, 223, 239, 246, 257, 274, 287, 352, 357, 359, 361, 362, 363, 364, 378, 389, Spanien 109, 210, 213, 274 Speyer 169 Sündenfall 41, 85 Synagoge 58, 79, 92, 109, 211, 217, 248, 284, 287, 350, 379, 380, 381, 391, 397 Tabu 27, 28, 47, 51, 70, 123, 127, 204, 245 Teufel 39, 40, 41, 42, 43, 44, 211, 212, 287, 289 Tikun 279, 282 Tobias (biblisch) 160, 229, 230, 231, 232, 234, 235, 236, 252 Tobit (biblisch) 47, 160, 229, 230, 231, 232, 233, 235, 236, 312, 373 Tossafisten 59, 63 Tzedaka 289 Undine 11, 24, 35 Venedig 209, 213, 373 Verona 209 Verwandtschaft 89, 118, 170, 254 Wald 68, 69, 87, 346 Witwer, Witwe 160, 370, 386, 392, 393 Register 342 Anhang Übersetzungen Die Geschichte eines Amulettschreibers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Die Geschichte eines armen Mannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Die Geschichte von der Dämonin und der Quelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Die Geschichte eines Königssohns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Die Geschichte aus Worms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Die Geschichte eines Jerusalemers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Die Geschichte Hoscheas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Die Geschichte eines Amulettschreibers Erzählung enthalten in: MS Opp. 540 (vormals Opp. 1045; Nr. 1567 im Katalog Neubauer; IMHM Nr. F 16935) Aufbewahrungsort: Bibliotheca Bodleiana, Oxford Beschreibstoff: Papier Format und Schriftart: Quarto, 311 Blätter, Aschkenasische Semi-Kursive Entstehungsort und Entstehungszeit: Frankfurt 1639 (Kolophon auf Fol. 306v) Schreibsprache: Hebräisch Inhalt: Mystisch-theologische Traktate und kurze Erzählungen aus dem Umkreis der Chaside Aschkenas; zugeschrieben Jehuda he-Chasid und Elasar von Worms; enthält u. a. Sefer Malakhim, Sefer ha-Kavod und Sefer ha- Neelam Besonderheiten: MS Opp. 111 (vormals Opp. 893; Nr. 1566 im Katalog Neubauer; IMHM Nr. F 16934) ist identischen Inhalts. Die Handschrift wurde 1720 in aschkenasischer Kursivschrift in Prag geschrieben. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine Kopie der Handschrift MS Opp. 540. Literatur: Adolf Neubauer : Catalogue of the Hebrew Manuscripts in the Bodleian Library and in the College Libraries of Oxford. Oxford 1886, Sp. 548. Joseph Dan : Demonological Stories in the Writings of R. Yehuda Hehasid, in: Tarbiz 30,2 (1960/ 61), S. 273 - 289 [hebr.]. Joseph Dan : Five Versions of the Story of the Jerusalemite, in: PAAJR 35 (1967), S. 99 - 111. Joseph Dan: Chibur bilti jadua be-Torat ha-Sod le-R. Jehuda he-Chasid, in: Joseph Dan: Ijunim be-Sifrut Chasidut Aschkenas. Ramat Gan 1975, S. 134 - 147 [hebr.]. Benjamin Richler : Guide to Hebrew Manuscript Collections, Jerusalem 1994, S. 137 f. Malachi Beit-Arié : Catalogue of the Hebrew Manuscripts in the Bodleian Library. Supplement of Addenda and Corrigenda to Vol. I (A. Neubauer ’ s Catalogue). Oxford 1994, Sp. 263 f. Joseph Dan : The Book of Divine Glory by Rabbi Judah of Regensburg, in: Studies in Jewish Manuscripts. Hg. von Joseph Dan und Klaus Herrmann , in Zusammenarbeit mit Johanna Hoornweg und Manuela Petzoldt (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 14). Tübingen 1999, S. 1 - 18. Eine Transkription der Erzählung befindet sich in Dan , Demonological Stories, S. 284. Eine Übersetzung der Erzählung ins Englische befindet sich in: Dan , Five Versions, S. 102 - 104. Übersetzung der ‹ Geschichte eines Amulettschreibers › (Fol. 135v-136r): Es war einmal ein Mann, der Amulette zu schreiben pflegte. Er zog seines Weges und ging in den Wald, um sein Bedürfnis zu verrichten. Da kam der Dämon und brachte ihn weit weg. Er sagte zu ihm: ‹ Du pflegtest mich von weit her zu bemühen. Nun vergelte ich dir, was du mir an Mühe bereitet hast. › Der Jude bat ihn, ihm nichts Böses anzutun. Der Dämon sagte zu ihm: ‹ Wenn du meine Tochter nimmst, werde ich dich nicht töten. › Er erwiderte: ‹ Ich werde sie nehmen. › Der Dämon brachte ihn zu dem Ort, wo seine Tochter war, und gab sie ihm. Sie gebar drei Kinder von dem Juden. Sie starben aber. 1 Die Tochter des Dämons weinte. Ihr Vater sagte zu ihr: ‹ Deshalb sind sie gestorben: Ich war nämlich in jenem Haus in jener Stadt. Dort habe ich gesehen, dass seine Frau und ihre Kinder weinen und sich Sorgen machen, da sie nicht wissen, wo er ist. › Sie sagte zu ihrem Vater: ‹ Ich werde tun, was du gebietest. › Es sollten nur ihre Kinder am Leben bleiben, die sie von nun an gebären würde. Der Dämon sagte zu dem Juden: ‹ Wenn ich dich zu deinem Haus bringe, möchtest du dann tun, was ich dir sage? › ‹ Worum handelt es sich? › Der Dämon sagte zu ihm: ‹ Schwöre mir, dass du nicht länger Amulette schreiben wirst, und dass du nicht länger Beschwörungen aussprechen wirst, und dass, wenn ich dich zu deinem Haus bringe, es für dich und für meine Tochter ein gesondertes Zimmer geben wird. Wenn du in diesem Zimmer eine Stimme hörst, dann geh sofort zu ihr und erfülle ihre Wünsche. › Der Mann nahm es auf sich. Er brachte sie rasch zu seinem Haus und richtete ein schönes Zimmer ein, und seine Frau bedeckte für sie das Bett mit einer schönen Decke. Wenn ihr Ehemann das Zimmer betrat, 1 Wörtlich: sie starb. Anhang 346 dann nahm sie ihre Kinder mit in ein anderes Zimmer, um Bescheidenheit zu zeigen gegenüber ihrem Mann und der Dämonin. Sie fürchtete sich nämlich. Nach vielen Tagen kam die Dämonin, bekleidet mit schwarzen Gewändern, und sagte zu ihm: ‹ Berühre mich nicht. › Denn die Zeit ihres Todes sei gekommen. ‹ Ich bitte dich, meine Schwester zu nehmen. › Er sagte zu ihr: ‹ Wozu ich mich deinem Vater gegenüber verpflichtet habe, das habe ich erfüllt. Deine Schwester will ich nicht nehmen, denn ihr Vater hat das so nicht mit mir ausgemacht. › Sie sagte zu ihm: ‹ Weil du die Bedingung erfüllt hast, die mein Vater dir auferlegt hat, und weil deine Frau mir Ehre erwiesen und mir gegenüber Bescheidenheit gezeigt hat, wenn ich gekommen bin, warne ich dich: Geh morgen zu dieser und jener Stunde des Tages zu diesem und jenem Ort. Es ist eine kleine Insel, die von Wasser umgeben ist. › Er solle schwarz tragen und barfuß sein. Er werde drei Kinder sehen, die sie von ihm geboren hatte seit der Zeit, als ihr Vater ihn zurück zu seinem Haus gebracht hatte, und die am Leben geblieben waren. Sie würden ihren Leichnam tragen und sie beerdigen. Sie sagte: ‹ Ich weiß, dass du glücklich bist über meinen Tod. › Er solle so tun, als ob er weinen und die Totenklage für sie anstimmen würde, so dass sie nicht den (menschlichen) Kindern schaden würden. Denn vielleicht hatten sie in seinem Haus getrunken. Und so tat er es. Er ging zu jenem Ort, und als er sah, wie sie ihre Mutter trugen, tat er so, als würde er weinen, um sie klagen und trauern. Er hörte, wie seine dämonischen Söhne sagten, dass dieser Mann um ihrer Mutter Willen leide. Sie würden seinen Kindern Gutes tun und ihm Reichtum bringen, und sie würden nicht zulassen, dass andere Dämonen ihm oder seinen Kindern Schaden zufügen würden. Und so taten sie es auch. Die Geschichte eines Amulettschreibers 347 Die Geschichte eines armen Mannes Erzählung enthalten in: MS Oxford Bodl. Or. 135 (Nr. 1466 im Katalog Neubauer; IMHM Nr. F 16385) Aufbewahrungsort: Bibliotheca Bodleiana, Oxford Beschreibstoff: Pergament Format und Schriftart: Quarto, 23x15 cm, 363 Blätter, aschkenasische Quadratschrift und Semikursive Entstehungsort und Entstehungszeit: Nord-Champagne, Frankreich, Mitte des 13. Jahrhunderts Schreibsprache: Hebräisch Inhalt: Die Handschrift enthält im ersten, ausführlichsten Teil Texte zur hebräischen Sprache und Grammatik. Darauf folgen erzählende Texte, u. a. Alphabeta de-Ben Sira, Mischle Schualim, Mischle Sendebar, Midrasch Aseret ha-Dibrot sowie verschiedene Midrascherzählungen, beispielsweise Divre ha- Jamim schel Mosche Rabbenu, Midrasch va-Joscha; zuletzt ein Reisebericht des Menachem ben Peretz ha-Chevroni. Besonderheiten: Der Name des Schreibers lautet wahrscheinlich Schmuel (vgl. die Hinweise auf den Blättern 33a, 62b und 99b). Literatur: Adolf Neubauer : Catalogue of the Hebrew Manuscripts in the Bodleian Library and in the College Libraries of Oxford. Oxford 1886, Sp. 519 ff. Israel Lévi : Un recueil des contes juifs inédits, in: REJ 33 (1896), S. 47 - 63, 233 - 254; 35 (1897), S. 65 - 83; 47 (1903), S. 205 - 213. Moses Gaster (Hg.): The Exempla of the Rabbis. London 1924/ New York 1968, S. 113 - 122. Eli Yassif : Sepher ha-Ma ’ asim. The Character, Origins and Influence of a Collection of Stories from the Time of the Tosaphists, in: Tarbiz 53,2 (1984), S. 409 - 429 [hebr.]. Malachi Beit-Arié : Ms. Oxford, Bodleian Library, Bodl. Or. 135, in: Tarbiz 54,4 (1985), S. 631 - 634 [hebr.]. Eli Yassif : Theory and Practice in the Creation of the Hebrew Narratives in the Middle Ages, in: Kiryat Sefer 62 (1988/ 1989), S. 887 - 905 [hebr.]. Malachi Beit-Arié : Catalogue of the Hebrew Manuscripts in the Bodleian Library. Supplement of Addenda and Corrigenda to Vol. 1 (A. Neubauer ’ s Catalogue). Oxford 1994, Sp. 244 f. Midrasch Wajoscha. Edition - Tradition - Interpretation. Hg. von Elisabeth Wies- Campagner (Studia Judaica 49). Berlin 2009, S. 5. Transkriptionen der Erzählung befinden sich in Lévi , Recueil, (1896), S. 50 - 54 sowie Yassif , Theory and Practice, S. 903 f. Eine Übersetzung der Erzählung ins Französische befindet sich in: Lévi , Recueil (1896), S. 50 - 54. Übersetzung der ‹ Geschichte eines armen Mannes › (Fol. 255v-256v): Es war einmal ein Mann, der sehr arm war. Er hatte viele Söhne und Töchter, und er besaß nichts auf der Welt, um sie zu ernähren. Er saß immerzu im Bet ha- Midrasch 1 und lernte, und seinen Lebtag lang verließ er seine Stadt nie. Eines Tages kam seine Frau zu ihm und sagte: ‹ Mein Herr, wie lange müssen wir uns noch so abmühen? 2 Denn du willst nicht hierhin und dorthin gehen und irgendeinen Freund, nah oder fern, bitten, uns zu helfen, so dass wir und unsere Söhne und Töchter nicht verhungern müssen. › Er sagte zu ihr: ‹ Was soll ich denn tun? Noch nie habe ich mich außerhalb der Tore dieser Stadt bewegt. Ich kenne den Weg nicht und auch keine andere Stadt. Lieber sterbe ich hier als draußen in den Feldern. › Sie sagte zu ihm: ‹ Wenn du dich außerhalb dieses Tores befindest, dann fragst du die Menschen, die dir entgegenkommen. Sie werden dir den Weg in diese und jene Stadt weisen. › So redete sie Tag für Tag auf ihn ein. Da nahm er seinen Stock in die Hand und empfahl sich seiner Frau und seinen Söhnen und Töchtern. Er segnete sie und weinte sehr, und auch sie weinten heftig und bitterlich um ihren Vater, denn er war nicht erprobt in diesen Dingen. Er ging aus dem Stadttor hinaus und zog seines Weges. Da traf er einen sehr schwarzen und furchtbar hässlichen Menschen. Er sagte zu ihm: ‹ Seid gegrüßt, mein Herr. › Der andere fragte: ‹ Wohin bist du unterwegs, mein Herr? › Der Fromme sagte zu ihm: ‹ Zu dieser und jener Stadt. › Er antwortete ihm: ‹ Komm 1 Bet ha-Midrasch: Lehrhaus. 2 Vgl. Ex 10,7. Die Geschichte eines armen Mannes 349 mit mir, ich werde dir den Weg zeigen. › Er ging mit ihm, und der andere brachte ihn zu einer Ruine. Sie gingen an der Ruine vorüber und betraten eine große Stadt. Von jeder Seite und an jeder Ecke hörte der Mann, dass man die Tora studierte. Als der Fromme das hörte, freute er sich sehr. Er betrat ein Haus, und man grüßte ihn und brachte ihm das allerbeste Essen und die wohlschmeckendsten Getränke. Man ehrte ihn sehr und hielt ihn dort auf bis zum Ausgang des Sabbats. Als sie zur Synagoge kamen, stand der Vorsänger zum Beten auf, und sie beteten alle zusammen. Als der Zeitpunkt gekommen war, Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich 3 zu sagen, da stand der Mann auf und sagte: ‹ Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich › . Da flohen sie alle. Er blickte sich um und sah nirgends einen Menschen. Da staunte der Mann sehr über das, was er da sah, denn im einen Moment waren sie alle dort gewesen und nur einen Augenblick später waren sie nicht mehr da, und er wusste nicht, wo sie hingegangen waren. Also saß er dort ganz bitter und zornig, und ihm wurde klar, dass sie alle Dämonen waren. Drei Stunden später kamen sie alle zu ihm in die Synagoge und sagten zu ihm: ‹ Was hast du uns da angetan? Warum hast du uns Gutes mit Schlechtem vergolten und uns mehr als 400.000 Parasangen 4 weit weggejagt? › Er antwortete ihnen: ‹ Ärgert euch bitte nicht über diese Sache, denn ich habe nichts davon gewusst. Vergebt mir, was ich gesagt habe. › Sie sagten zu ihm: ‹ Es wird dir vergeben werden unter der Bedingung, dass du es nicht noch einmal tust. › Er sagte zu ihnen: ‹ Ich bitte euch, lasst mich gehen und bringt mich dahin zurück, woher ich gekommen bin, dann werde ich meine Kinder wiedersehen und meine Frau. Es tut mir nämlich nicht gut, bei euch zu sein. › Sie sagten zu ihm: ‹ Nein. Du wirst bei uns bleiben und wohnen. Du wirst dich mit einer Frau verloben, und du wirst hier bei uns Söhne und Töchter haben. Wir geben dir viel Reichtum und Besitztümer in großer Menge, und jeder Wunsch deines Herzens wird dir hier erfüllt werden. › Er sagte zu ihnen: ‹ Lasst mich in Ruhe! Ich habe eine Frau und Kinder! › Sie sagten zu ihm: ‹ Na und? › Sie beharrten und gaben ihm eine Frau gegen seinen Willen. Er heiratete sie und schlief mit ihr und zeugte mit ihr Söhne und Töchter. 5 Einst, als sie gerade beieinander lagen, sagte er zu seiner Frau, der Dämonin: ‹ Ich bitte dich, lass mich gehen, so dass ich meine andere Frau und meine Kinder sehen kann. › Sie sagte zu ihm: ‹ Wenn du mir schwören willst, dass du sofort hierher zurückkommen wirst und dass du dich dort nicht länger aufhalten wirst 3 Ps 90,17: Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich / und fördere das Werk unsrer Hände bei uns. / Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern! Vgl. Lévi, Recueil, S. 51. 4 Parasangen: Längenmaß. 5 Wörtl.: Söhne und Söhne ( ב נ י ם ו ב נ י ם ). Anhang 350 als eine einzige Nacht, dann werde ich dir viele Schätze mitgeben. Diese kannst du deiner Frau und deinen Kindern bringen, um sie durch diesen Gewinn zu versorgen. Außerdem gebe ich dir ein Pferd, das dich innerhalb eines halben Tages zu ihnen bringen wird. Betrüge mich nicht. › Er sagte zu ihr: ‹ In Ordnung, es wird so geschehen, wie du es gesagt hast. 6 Ich werde alles tun, was du willst, wenn du mich nur dorthin bringst. › Er schwor ihr einen Eid, und sie brachte ihm ein Pferd. Er ritt darauf und es trug ihn bis zur Tür seines Hauses, ganz beladen mit Silber, Gold, edlen Steinen und Perlen. Als seine Frau und seine Kinder ihn sahen, da weinten sie und fielen ihm um den Hals. Sie umarmten und küssten ihn und sagten zu ihm: ‹ Sei gegrüßt, unser Vater. Woher kommst du und wo bist du gewesen? › Aber er wollte ihnen nichts davon erzählen, was geschehen war. Stattdessen gab er ihnen, was er mitgebracht hatte, auch das Geld. Er blieb die Nacht über bei ihnen, und er lag die ganze Nacht lang bei seiner Frau. Diese ganze Nacht lang weinte er und sorgte sich und konnte nicht schlafen. Seine Frau fragte ihn: ‹ Mein Herr, was hast du, dass du so weinst? Warum leidest du so sehr? Welcher Mann bleibt so wie du lange Zeit weg, so dass er weder seine Frau noch seine Kinder sieht, und bekümmert sich dann so sehr, wie du es tust? › Aber er antwortete ihr nicht, bis sie schließlich sagte: ‹ Ich bringe mich um, wenn du mir nicht sagst, was mit dir lost ist. › Was tat sie? Sie nahm ihren Gürtel, band ihn sich um den Hals und wollte sich erwürgen. Er aber wollte sie retten und sagte zu ihr: ‹ Komm, leg dich hin, dann werde ich dir erzählen, was mir passiert ist. › Sie legte sich wieder hin. Da erzählte er ihr alles. Sie sagte zu ihm: ‹ Ich werde dir einen guten Rat geben, Gott sei mit dir! Geh zu deinem Lehrhaus und studiere dort die Tora ohne Unterlass. Beschäftige dich Tag und Nacht mit der Schrift. Sie wird dich vor allem Bösen beschützen und kein Unglück wird dir geschehen. › Er sagte zu ihr: ‹ Du hast wohl gesprochen. › Am nächsten Tag ging er zum Lehrhaus und studierte dort die Tora ohne Unterlass, Tag und Nacht. Als die Dämonin sah, dass er nicht kam, sandte sie einen Dämon in Gestalt eines sehr schönen Menschen nach ihm. Der Dämon sagte zu dem Mann: ‹ Komm mit mir. Ich möchte mit dir über eine geheime Angelegenheit sprechen. › Er erwiderte: ‹ Ich werde meine Tora nicht aufgeben, um mit dir zu sprechen. Sag mir lieber, was du willst. › Als der Dämon sah, dass der Mann nicht aufstehen und seine Studien nicht einmal für eine einzige Stunde aufgeben wollte, da ging er davon und sagte nichts zu ihm. Er erzählte alles der Dämonin. Da ging sie selbst und kam zum Oberhaupt der Jeschiva 7 in Gestalt einer schönen Frau. Sie sagte zu ihm: ‹ Mein Herr, hör mir zu. Dieser Mann, der da vor 6 Auf Jakobs Vorschlag antwortet der überlistete Laban in Gen 30,34: Wohlan, es sei, wie du gesagt hast. 7 Jeschiva: Talmudschule. Die Geschichte eines armen Mannes 351 deinen Augen liest, soll mit mir vor Gericht gehen. › Der Mann sagte zu ihr: ‹ Du hast überhaupt keine Forderung an mich zu stellen. › Sie sagte zu ihm: ‹ Ich bin doch deine Frau! Du hast mich geheiratet und unter die Chupa 8 geführt. Ich habe Söhne und Töchter von dir geboren. Als du hierhergekommen bist, da hast du mir geschworen, von einem Tag zum anderen zu mir zurückzukehren. Ich habe dir Silber und Gold in großen Mengen gegeben. Du aber hast deinen Schwur gebrochen. Ich verlange von dir Nahrung, Kleidung und Beischlaf, 9 so wie es dem Gesetz Israels entspricht. › Er sagte zu ihr: ‹ Du bist nichts als eine Dämonin, der Herr schelte dich! 10 Geh fort von mir, du hast kein Recht, bei uns zu sein. › Als sie hörte, dass sie nicht an ihn herankam, weder mit Hilfe des Gesetzes noch durch Worte, da sagte sie zu ihm: ‹ Es bleibt mir noch eine Sache von dir zu erbitten. Wenn du mir dies gewährst, wirst du von mir befreit sein und ich werde nie wieder irgendetwas von dir erbitten. › Er sagte zu ihr: ‹ Bitte darum, und ich werde es dir gewähren. › Sie sagte zu ihm: ‹ Küss mich, und du wirst für immer von mir befreit sein. › Er ging hin und küsste sie. Da nahm sie seine Seele und er starb. Dann ging sie davon. Das Oberhaupt der Jeschiva trauerte sehr. Seine Frau und seine Kinder beweinten ihn, trösteten sich und besaßen großen Reichtum und Besitz. 8 Chupa: Traubaldachin. 9 Ex 21,10: Nimmt er sich aber noch eine andere, so soll er der ersten an Nahrung, Kleidung und ehelichem Recht nichts abbrechen. 10 Sach 3,2: Und der Engel des Herrn sprach zu dem Satan: Der Herr schelte dich, du Satan! Ja, der Herr, der Jerusalem erwählt hat, schelte dich! Anhang 352 Die Geschichte von der Dämonin und der Quelle Die Geschichte von der Dämonin und der Quelle befindet sich in der gleichen Handschrift wie die Geschichte eines armen Mannes (MS Oxford Bodl. Or. 135; IMHM Nr. F 16385) auf Fol. 295v-296r. Eine Ausgabe und eine Übersetzung der Erzählung ins Englische befinden sich in: Epstein , Tales of Sendebar, S. 142 - 163 [Epsteins Ausgabe und Übersetzung beruhen auf einer jüngeren, aus dem 14. Jahrhundert stammenden Handschrift. Er bezieht die Abweichungen in MS Bodl. Or. 135 jedoch in seine Anmerkungen ein]. Übersetzung der ‹ Geschichte von der Dämonin und der Quelle › : Der König sagte zu ihr: «Erzähle mir nun die Geschichte.« «Dies ist die Geschichte eines Königssohns, der mit einer Dämonin ging, aus einer Quelle trank und in eine Frau verwandelt wurde. 1 [Der König von Botzra hatte einen einzigen Sohn.] 2 Er ließ ihn nie aus der Stadt gehen, da er fürchtete, dass ihm ein Unglück geschehen könne. Der Jüngling flehte den Ratgeber des Königs an, ihn mit zum Jagen auf dem Feld zu nehmen. Der Ratgeber tat dies. Der König sagte zu ihm: ‹ Geh, gib nur acht, dass ihm kein Unglück geschieht. › Der Sohn des Königs ging mit seinen Ratgebern hinaus. Sie sahen einen Hirsch auf dem Feld und jagten ihm auf dem Feld hinterher. Der Ratgeber sprach zu den Eilenden: ‹ Lasst den Sohn des Königs ihn allein verfolgen, so dass er das Jagen lernt. › Er [der Prinz] 1 Diese Zusammenfassung der Geschichte ist am Rand der Handschrift nachgetragen. 2 Dieser einleitende Satz der Binnenerzählung befindet sich in den anderen Textzeugen, beispielsweise im Konstantinopler Erstdruck. Er ist für das Verständnis des Anfangs der Geschichte notwendig. In MS Bodl. Or. 135 beginnt die Binnenerzählung mit den unklaren Worten: Der Sohn des Königs ging aus Botzra. Er hatte nur einen Einzigen. . . ( ב ן ה מ ל ך ה ל ך מ ב ו צ ר ה ו י ח י ד ה י ה ל ו . . . ). Zu der Stadt Botzra vgl. Gen 36,33 und Chr 1,44. entfernte sich von ihnen und vermochte nicht zu ihnen zurückzukehren. Sie aber wussten nicht, wo er war. Er irrte auf dem Feld umher. 3 Der Ratgeber kehrte zum König zurück. Er sagte: ‹ Ein Löwe kam hervor. Er tötete und fraß deinen Sohn. › Da zerriss der König seine Kleider und trauerte viele Tage lang um seinen Sohn. 4 Als nun der Jüngling auf dem Feld umherirrte, da sah er ein wunderschönes Mädchen. Sie rief ihn an, und der Jüngling fragte: ‹ Wer bist du? › Sie erwiderte: ‹ Ich bin die Tochter eines Königs. Während ich, auf einem Elefanten reitend, meines Weges zog, schlief ich ein und fiel herab. Die Fürsten zogen weiter, ohne etwas von meiner Situation zu wissen. Heute ist es eine Woche her, dass ich zum letzten Mal etwas anderes als Feldkräuter gegessen habe. › Der Knabe sagte: ‹ Auch ich bin der Sohn eines Königs. Dieses und jenes ist mir geschehen. › Sie sprach: ‹ Ich kenne den Weg. Lass mich auf deinem Pferd reiten, dann werden wir den Weg gemeinsam finden. › Er setzte sie hinter sich und die beiden ritten weiter, bis sie zu einer Ruine gelangten. Das Mädchen sagte zu dem Jüngling: ‹ Ich werde zu dieser Ruine hinabsteigen, um mich zu erleichtern. › 5 Er antwortete ihr: ‹ Geh. › Sie betrat die Ruine und kam lange Zeit nicht mehr heraus. Als der Jüngling sah, dass sie so lange nicht zurückkam, da stieg er von seinem Pferd und sah durch ein Loch. Da sah er, dass sie eine Dämonin war, die mit ihren Freundinnen spielte. Sie sagte zu ihnen: ‹ Seht, ich habe euch den Sohn eines Königs gebracht. Macht mit ihm, was ihr wollt. › Sie erwiderten: ‹ Wenn du ihn zu diesem und jenem Ort bringen kannst, dann werden wir dort tun, was uns beliebt, und unser Spiel mit ihm treiben. › Da wusste der Jüngling, an wen er geraten war, und fürchtete sich sehr vor ihnen. Er kehrte zu dem Pferd zurück und setzte sich darauf. Die Dämonin kam und hatte sich wieder in ein schönes Mädchen verwandelt wie zuvor. Sie blickte ihn an und sah, dass sein Gesichtsausdruck ein anderer war als zuvor. Sie sagte zu ihm: ‹ Setze mich hinter dich, dann können wir weiterreiten. › Er setzte sie hinter sich. Da erkannte das Mädchen an seinem Gesichtsausdruck, dass dieser vor lauter Angst so verändert war. Sie sagte zu ihm: ‹ Was ist mit dir, dass du dich so fürchtest? › Er antwortete: ‹ Ich habe einen Feind und fürchte mich davor, ihn auf dem Weg zu treffen. Deshalb bin ich so erschrocken. › Das Mädchen antwortete: ‹ Du bist der Sohn des Königs. Warum solltest du dich vor ihm fürchten? › Er erwiderte: ‹ Was kann ich ihm entgegensetzen? Der König kann mir in diesem Moment nicht helfen. › Sie sagte: ‹ Nimm ihn mit Geld für dich ein. › Er sagte: ‹ Er begehrt kein Geld. › Sie sagte zu ihm: ‹ Rufe Gott an. Er kann dich aus seiner Hand retten. › Der Jüngling erhob seine Augen zum Himmel und sprach: ‹ O du großer, 3 Vgl. Gen 37,15: Da fand ihn ein Mann, wie er umherirrte auf dem Felde. 4 Vgl. Gen 37,34. 5 Eigentlich: [. . .] um meine Füße zu bedecken. Vgl. Ri 3,24 und 1 Sam 24,4. Anhang 354 mächtiger und schrecklicher Gott. 6 Rette mich vor dieser Dämonin. › Da fürchtete sie sich, denn der Jüngling wusste, dass sie eine Dämonin war. Sie stürzte sich vom Pferd, ihr Herz brach und sie starb. Er floh auf das Feld. Dort dürstete ihn sehr nach Wasser. Als er aufsah, erblickte er eine Quelle. Wenn ein Mann aus ihr trank, dann wurde er zur Frau, eine Frau aber wurde zum Mann. Er wusste davon nichts, trank aus der Quelle und wurde in eine Frau verwandelt. Da sah er auf und erblickte tanzende und spielende Mädchen. Sie erhob sich, um mit ihnen zu spielen und sagte: ‹ Auch ich bin zu einer Dämonin geworden. › Die Mädchen fragten sie: ‹ Wer bist du und woher kommst du? › Sie erzählte ihnen alles, was ihr geschehen war. 7 Eines der Mädchen antwortete ihr: ‹ Schwöre mir, dass du mich zur Frau nimmst, wenn ich dich rette. Dann werde ich dich zu deinem Vater zurückbringen. › Sie schwor ihr. Da sprach sie zur ihr: 8 ‹ Trink aus der Quelle. › Er trank und wurde wieder zu einem Mann wie zuvor. Das Mädchen nahm ihn mit sich und brachte ihn zum Haus seines Vaters. Er erzählte seinem Vater alles, was ihm geschehen war. Der König war glücklich um seines Sohnes Willen und befahl, den Ratgeber zu töten, der seinen Sohn mit zur Jagd außerhalb der Stadt genommen hatte. Wenn du auf deine Ratgeber hörst, dann werden sie dich in die Falle locken.« Da befahl der König, seinen Sohn zu töten. 6 Vgl. Dt. 10,17. 7 Eigentlich: was ihm geschehen war. 8 Randnotiz. Die Geschichte von der Dämonin und der Quelle 355 Die Geschichte eines Königssohns Erzählung enthalten in: MS Vat. ebr. 100 (IMHM Nr. F 11625) Aufbewahrungsort: Bibliotheca Apostolica Vaticana Beschreibstoff: Papier Format, Umfang und Schriftart: 21x14,5 cm, 189 Blätter, byzantinische Semikursive Entstehungsort und Entstehungszeit: Candia auf Kreta, spätes 15. Jahrhundert Schreibsprache: Hebräisch Inhalt: Im ersten Teil des Kodex befinden sich die vier synoptischen Evangelien in hebräischer Übersetzung. Darauf folgen ein kurzer Midrasch zu Eccl. 9,11 sowie eine kurze aggadische Erzählung über König Salomo und den Dämon Aschmedai. Den letzten Teil der Handschrift bildet eine besonders ausführliche Version der Geschichten Sendebars. Besonderheiten: Die Handschrift besteht aus zwei erst später zu einem Kodex verbundenen Teilen, von denen der eine die Evangelien und der andere die jüdischen Erzähltexte enthält. Literatur: Stefano Evodio Assemani und Giuseppe Simone Assemani : Bibliothecae Apostolicae Vaticanae codicum manuscriptorum catalogus in tres partes distributus in quarum prima orientales in altera graeci, in tertia latini italici aliorumque europaeorum idiomatum codices. Bd. 1. Paris 1926, S. 70 f. Umberto Cassuto : Codices Vaticani Hebraici. Codices 1 - 115. Città del Vaticano 1956, S. 144 ff. Tales of Sendebar. An Edition and Translation of the Hebrew Version of the Seven Sages. Based on Unpublished Manuscripts. Hg. von Morris Epstein . Philadelphia 1967, S. 352 ff. Morris Epstein : Vatican Hebrew Codex 100 and the Historia Septem Sapientum, in: Fourth World Congress of Jewish Studies. Papers. Bd. 2. Jerusalem 1968, S. 17 - 20. Joseph Dan : The Version of the Story of the Jerusalemite in ‹ Tales of Sendebar › , in: Ha- Sifrut 4,2 (1973), S. 355 - 361 [hebr.]. Pinchas E. Lapide : Hebrew in the Church. The Foundations of Jewish-Christian Dialogue. Übers. von Erroll F. Rhodes . Grand Rapids, Michigan 1984 (deutsche Erstausgabe 1976), S. 48 ff. Benjamin Richler (Hg.): Hebrew Manuscripts in the Vatican Library. Catalogue. Compiled by the Staff of the Institute of Microfilmed Hebrew Manuscripts, Jewish National and University Library, Jerusalem. Paleographical and Codicological Descriptions: Malachi Beit-Arié , in collaboration with Nurit Pasternak (Studi e testi 438). Città del Vaticano 2008, S. 67. Natalie Wienstein : Chajim u-Mavet be-Jad ‹ ha-Ischa › . Nusach ‹ Mischle Sendebar › be-Ktav ha-Jad ‹ Vatican 100 › . Mahadura ve-Ijun. Tel Aviv 2008 [unveröffentlichte Master Thesis; hebr.]. Eine Transkription der Erzählung befindet sich in Dan , Version, S. 357 - 361; kritisch ediert wurde sie zusammen mit dem restlichen Zyklus von Wienstein , Chajim u-Mawet, S. 28 - 34. Die Erzählung wurde bislang nicht übersetzt. Übersetzung der ‹ Geschichte eines Königssohns › (Fol. 171v-175r): Es war einmal ein König namens Botzra. Er hatte einen sehr schönen, wohlgestalteten Sohn. Ihre Seelen waren miteinander verbunden, denn der Knabe war zart und für seinen Vater einzigartig. Er hatte keinen Sohn außer ihm, der nach ihm seinen Thron einnehmen konnte. Aus Zuneigung 1 zu ihm verwehrte sein Vater ihm etwas. 2 Er ließ ihn aufgrund seiner großen Liebe und wegen seiner Furcht, dass ihm ein Unglück geschehen könne, niemals aus dem Stadttor hinausgehen. Eines Tages wünschte es sich der Jüngling sehr, in einer Pferdekutsche auszufahren, die Stadt zu verlassen und fröhlich zu sein. Er ging zu einem Ratgeber, auf dessen Rat der König hörte, und flehte ihn an: ‹ Höre mich an, mein Herr! Bitte du den König, meinen Vater. Vielleicht lässt er mich dann auf einem Pferd mit deiner Gesellschaft ausreiten, denn er hört auf dich. Er wird alles tun, was du ihm sagst. Gewähre mir daher diese Gunst - mein Seelenheil hängt davon ab. › 1 Wörtlich: Mitleid. 2 Über Davids aufrührerischen Sohn Adonija heißt es in 1 Kön 1,6: Und sein Vater hatte ihm nie etwas verwehrt sein Leben lang, dass er gesagt hätte: Warum tust du das? Die Geschichte eines Königssohns 357 Der Ratgeber erhörte den Jüngling und sprach mit dem König über die Angelegenheit. Der König wurde so beschwichtigt, dass er ihn mit der Gesellschaft des Ratgebers ausreiten ließ. Ein Gebot erlegte er diesem auf. Er sagte: ‹ Bleib nur immer in seiner Nähe, lass ihn auf keinen Fall aus den Augen. Gib immerzu acht auf ihn und bewahre ihn, so dass er nicht vom Weg abkommt. › Der Ratgeber antwortete: ‹ Ich werde so handeln, wie du es mir geboten hast. › Er und der Sohn des Königs ritten aus, um mit der Gruppe der Jäger fröhlich zu sein und um Jagdbeute zu erlegen. 3 Und es kam so, dass sie weit ritten, um in ein Tal in der Wüste zu gelangen. Da sahen sie einen Hirsch auf dem Feld, und beide jagten ihm nach. Der Sohn des Königs und all seine Diener eilten ihm hinterher. Da kam der Sohn des Königs vom Weg ab. 4 Er irrte auf dem Feld umher und wusste seinen Weg nicht mehr. Da hatte er sich also im Land verlaufen und irrte in der Wüste umher. Der Ratgeber suchte den Sohn des Königs, konnte ihn aber nirgends finden und war ganz niedergeschmettert. Er sagte bei sich: ‹ Und ich, wie nur soll ich vor den König treten? 5 Er wird mich um seines einzigen Sohnes Willen töten. › Der Ratgeber kehrte zum König zurück und sagte zu ihm: ‹ Wisse, mein Herr und König, wir gingen unseres Weges in der Wüste und sahen einen Hirsch. Wir eilten ihm nach, um ihn zu jagen. Dein Sohn war flink auf seinem Pferd unterwegs. Er eilte vor allen anderen dahin, um den Hirsch einzuholen. Ein böses Tier kam hervor und verfolgte deinen Sohn, und es holte ihn wohl ein und zerriss und fraß ihn. Wir wissen nur dies, denn wir flohen aus Furcht vor dem bösen Tier, das wir bei ihm sahen. So haben wir es uns nachher gedacht, denn er kehrte nicht zu uns zurück und wir sahen ihn nicht wieder. Wir sagten: Ein böses Tier hat ihn gefressen, ein Raubtier hat deinen Sohn zerrissen. › 6 Der König hörte die Worte des Ratgebers, und er zerriss seine Kleidung, raufte seinen Bart und weinte sehr. Er klagte laut und bitterlich und trauerte viele Tage lang um seinen Sohn. Er bekleidete seine Lenden mit einem Sack und stimmte die Totenklage für ihn an mit all seinen Lieben und mit seinen Freunden und Dienern und Sklavinnen und Frauen und allem Volk von weit und breit. 7 All seine Minister und Knechte und Familienmitglieder und Lieben kamen zu seinem Trost. Doch er wollte sich nicht trösten lassen und sagte: ‹ Ich will mit Leiden zu meinem Sohn in die Unterwelt hinabsteigen. 8 Mein Name 3 Gen 27,5: Und Esau ging hin aufs Feld, dass er ein Wildbret jagte und heimbrächte. 4 Wörtlich: zum Weg ab. 5 Vgl. Gen 37,30. 6 Gen 37,33: Ein böses Tier hat ihn gefressen, ein reißendes Tier hat Josef zerrissen! 7 Vgl. Gen 19,4. 8 Gen 37,35: Jakob will sich nach Josefs vermeintlichem Tod nicht trösten lassen und sagt: Ich werde mit Leid hinunterfahren zu den Toten, zu meinem Sohn. Anhang 358 und der Name meiner Väter werden im Königreich ausgelöscht. Denn wer wird nach mir auf meinem Thron sitzen? › Im ganzen Land war die Trauer groß. Jedermann sagte: ‹ Dies ist ein großer Kummer für das Land um des Königssohns Willen, der verloren gegangen ist; dies ist ein Verlust, der so schnell nicht vergessen werden wird. › Danach gab der König ihn auf. Er saß auf seinem Thron, um die Untertanen seines Landes zu richten. Der Jüngling, der Sohn des Königs, der vom Weg abgekommen war, irrte in der Wüste umher. Dies war ein Ort der Schlange und des Skorpions, des Durstes und großer Ödnis. Es war ein unbebautes Land. 9 Nach einer Weile sah er auf und erblickte ein sehr schönes Mädchen, das ihm auf dem Weg entgegentrat. Das Mädchen rief ihn an und sagte zu ihm: ‹ Wer bist du und wohin gehst du? › Er antwortete: ‹ Ich bin [. . .]. 10 Dies und das ist mir passiert: Ich bin mit einem beratenden Minister meines Vaters hinausgeritten, um zu jagen und um mit meinen Dienern Jagdbeute zum Palast des Königs zu bringen. 11 Ich eilte vor ihnen dahin. Der Weg verschloss sich vor mir und ich wusste nicht mehr, wo ich war. › Sodann fragte der Sohn des Königs das Mädchen: ‹ Und du, meine Dame, wer bist du und wohin bist du unterwegs? › Sie sagte zu ihm: ‹ Auch ich bin die Tochter eines Königs. Ich schlief auf dem Elefanten und wurde von der Karawane getrennt. Ich fiel von dem Elefanten herab und blieb allein hier zurück. Und nun, Königssohn, um des Gottes deines Vaters Willen und um deiner Seele und der Seele deiner Väter Willen - lass mich hinten auf deinem Pferd reiten. Hilf mir und rette mich vor dem Tod, und ich werde dir Gnade erweisen und dich zum Land deiner Väter 12 bringen. Du wirst vor dem Tod gerettet werden und ich mit dir, denn ich kenne den Weg, der dich direkt zu deinem Vater, dem König, führt. So wie du mich rettest, so rette ich auch dich. › Der Sohn des Königs hörte sie an und sagte zu ihr: ‹ Ich werde so handeln, wie du es vorgeschlagen hast. › Er setzte sie hinter sich im Sattel auf den Pferderücken und ritt los. Nun zogen sie ihres Weges, hin und her. Der Sohn des Königs glaubte, dass sie ihn auf direktem Weg zurück in sein Land und zum Haus seines Vaters bringen werde. Sie ritten, bis sie zu einer Ruine gelangten, die am Weg lag. Das Mädchen sagte zu ihm: ‹ Bitte hebe mich vom Pferd. Ich werde zum Meeresstrand hinabsteigen, der sich hier befindet, und dort meine Füße waschen. Danach werde ich zurückkehren. › Der Sohn des Königs hörte sie an und hob sie 9 Jer 2,2: Ich gedenke der Treue deiner Jugend und der Liebe deiner Brautzeit, wie du mir folgtest in der Wüste, im Lande, da man nicht sät. 10 Lücke i. d. HS; wahrscheinlich: Ich bin dieser und jener, oder: Ich bin ein Königssohn. 11 Vgl. Gen 27,5. 12 Vgl. z. B. Gen 31,3. Die Geschichte eines Königssohns 359 vom Pferd, und das Mädchen stieg hinab und ging allein in die Ruine hinunter. Dort hielt sie sich lange auf. Der Jüngling ärgerte sich, da sie sich verspätete. Er wurde zornig und stieg vom Pferd, und auch er blickte hinter die Mauer. Da sah er, dass das Mädchen eine Dämonin war. Sie spielte und tanzte mit einer großen Gruppe von anderen Dämonen und Dämoninnen, die sich dort in der Ruine versammelt hatten. Er war still, um zu hören und zu erfahren, was ihm von diesen Dämonen widerfahren würde, denn er schreckte zurück und bekam große Angst aufgrund dieser Angelegenheit. Er lauschte und hörte so die Worte des Mädchens, das den Dämoninnen Folgendes verkündete: ‹ Ihr sollt wissen, dass ich euch einen Knaben mit schönen Augen und gutem Aussehen 13 mitgebracht habe; er ist der Sohn eines Königs. › Die Dämoninnen antworteten ihr: ‹ Bring ihn zu diesem und jenem Ort, damit wir von ihm alles bekommen, was wir begehren. › Als der Jüngling, der Königssohn, all diese Worte sowie die Antwort der Dämoninnen an ihre Freundin hörte, da fürchtete er sich ganz außerordentlich. Er kauerte furchtsam auf seinem Pferd. Die Dämonin verwandelte sich wieder in eine junge Frau, so wie sie es zu Beginn gewesen war. Sie erhob sich, verließ die Ruine und kam zu dem Knaben. Er hatte große Angst und sorgte sich sehr darum, was ihm von dieser Dämonin geschehen würde. Von seiner Furcht und Angst war er ganz schwach. Er wurde grünlich und gelb im Gesicht. Die Dämonin sah ihn an und sagte zu ihm: ‹ Schöner Königssohn, warum siehst du so kümmerlich aus, und weshalb ist dein Gesicht so zornig und grün verfärbt? Warum bist du so erschrocken und ängstlich? › Der Jüngling antwortete: ‹ Es ist tatsächlich so, meine Dame, ich bin furchtsam und erschrocken und ängstlich, und ich sorge mich sehr wegen meiner Freundin 14 und wegen eines meiner Freunde. Deshalb hat sich mein Gesicht grün verfärbt und deshalb bin ich erschrocken und fürchte mich so über alle Maßen. › Das Mädchen antwortete dem Knaben: ‹ Hast du mir nicht gesagt, dass dein Vater ein König ist? Wenn das der Wahrheit entspricht, wird dich dein Vater mit seiner königlichen Macht und Herrschaft vor dem Freund und vor der Freundin 15 retten, die du fürchtest. Sei also nicht kränklich und furchtsam. › Der Knabe in seiner Weisheit antwortete: ‹ Meine Dame, ich habe dir die Wahrheit gesagt. Aber in diesem Moment können weder mein Vater noch sein gesamter Hof diesem Freund gebieten, um mir zu Hilfe zu kommen. › So begann der Jüngling, die Dämonin zu beschwichtigen und freundlich mit 13 In 1 Sam 16,12 heißt es über David: Und er war bräunlich, mit schönen Augen und von guter Gestalt. 14 Oder: wegen meiner Gesellschaft. 15 Oder: und vor der Gesellschaft [. . .]. Anhang 360 ihr zu reden 16 mit Bitten um Erbarmen, mit Zärtlichkeiten und Worten der Eroberung. Er sagte, er werde ihr viel Silber und Gold zum Geschenk machen. Das Dämonenmädchen antwortet ihm darauf: ‹ Es ist nicht meine Art, mich durch solche Dinge verführen zu lassen. Ich habe aber Mitleid mit dir und mit deiner Schönheit und Jugend, denn du bist noch ein Jüngling. Es erscheint mir nicht richtig, einen Menschen von deinem Wert zu verderben. Denn ich habe Erbarmen mit dir wegen der guten Worte, die du zu mir gesprochen hast. Aber ich rate dir, Gott, den Mächtigen anzurufen, der ein Herrscher und Herr ist über alles, was er geschaffen hat im Himmel und auf der Erde. Denn alles gehört ihm, und er herrscht über das, was oben und unten ist. Flehe ihn an und bete zu ihm mit gebrochenem und zerschlagenem Herzen. 17 Weine vor seinem Angesicht! Er ist voller Gnade, er öffnet seine Hand und erhört die, die ihn bitten. Er wird dein Gebet erhören und dich vor mir und anderen retten. › Als der Jüngling die Worte des Dämonenmädchens hörte, erhob er mit bitterem Herzen seine Augen zum Himmel. Er bat Gott und flehte ihn an mit Zittern und Beben und Schaudern. Er sagte: ‹ Bitte, Herr, Gott des Himmels und der Erde, der du mich geschaffen und auf diese Welt gebracht hast, in dessen Hand alles liegt und von dem alles kommt. Du bist ein Herr und Herrscher über alles. In deiner Hand liegt es, die Seele eines jeden Lebenden aus der Hand eines jeden zu retten, zu erlösen und zu befreien, der sich gegen ihn erhebt. Du bist eine Stütze der Stolpernden, ein Arzt für die Kranken, ein Befreier von Gefangenen, 18 der du deine große Gnade jeder Generation erweist. Höre meinen Schrei, wende dich mir zu, tröste mich, vermehre deine Gnade und rette mich aus dieser Ruine und vor dieser Dämonin, 19 so dass sie mich nicht verletzt und nicht meinen alten Vater verdirbt, der sich darauf verlässt, dass du mich am Leben lässt, damit ich ihm nach seinem Tod auf seinem Thron nachfolgen kann. Du, der du Könige krönst, Könige klug machst und unterstützt - erhebe mich und lass mich leben. Erhöre jetzt mein Gebet. Es gibt keinen Erlöser außer dir. Erlöse mich, denn du allein erlösest und rettest und befreist und hilfst jedem Lebenden. › Gott hörte die Stimme des Jünglings dort, wo er war, 20 und der Herr erhörte ihn. Er fand bei ihm Hilfe und Nutzen, Erlösung und Rettung. In diesem Moment stürzte der Herr in seiner großen Gnade und mit erhobenem Arm 21 ein Beben und ein großes Grauen über die Dämonin. Die Dämonin erschrak 16 Vgl. Ri 19,3. 17 Vgl. Ps 51,19. 18 Vgl. Ps 146,7. 19 Wörtlich: vor diesem Dämon. 20 Vgl. Gen 21,17; mit ‹ er › können sowohl Gott als auch der junge Mann gemeint sein. 21 Dtn 26,8: [. . .] und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgestrecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder. Die Geschichte eines Königssohns 361 und ängstigte sich, und sie fiel furchtsam vom Pferd und brach sich das Genick. Sie hatte nicht mehr genug Kraft, um dem Jüngling Schaden zuzufügen und um wieder auf das Pferd zu steigen. Der Knabe in seiner Geschicklichkeit rettete seine Seele. Er ritt auf seinem Pferd weiter. Er eilte und ließ die Dämonin an jenem Ort zurück, und er floh vor dem, was er gesehen hatte. Unterwegs dürstete den Jüngling nach Wasser, so sehr, dass er vor lauter Durst sterben wollte. Als er sich umsah, erblickte er auf dem Feld einen Brunnen. Dieser Brunnen war mit folgender Eigenschaft ausgestattet: Wer aus ihm trank und ein Mann war, der verwandelte sich in eine Frau, und wenn es eine Frau war, dann verwandelte sie sich in einen Mann. Der Jüngling weinte sehr vor Durst. Er fürchtete sich, aus dem Brunnen zu trinken, denn bei seiner Ankunft dort war es Nacht und sehr finster. Er ging von dort zu einem anderen Ort, der in der Nähe des gleichen Baches lag. Als er sich umsah, erblickte er eine Gruppe von tanzenden, singenden und spielenden Mädchen. Der Jüngling kehrte zu dem Brunnen zurück und trank, um seinen Durst zu stillen. So blieb der Knabe, der Sohn des Königs, als Frau zurück. Er ging zu der Gruppe von Mädchen, mischte sich unter sie und spielte und sang mit ihnen, denn er sagte sich: ‹ Komme ich um, so komme ich um. 22 Erst wurde ich in eine Frau verwandelt, nun bin auch ich eine Dämonin. › Als die Mädchen ihn bei sich sahen, fragten sie ihn: ‹ Woher bist du gekommen? Wohin bist du unterwegs und aus welchem Volk stammst du? › Der Knabe antwortete ihnen: ‹ Ich bin der Sohn eines Königs, und dieses und jenes ist mir passiert. › Er erzählte ihnen alles, was ihm geschehen war seit dem Zeitpunkt, da er das Haus seines Vaters verlassen hatte bis zu dem Moment, da er zu ihnen gekommen war. Und eines der Mädchen, das Mitleid mit ihm hatte, sagte zu ihm: ‹ Knabe, sieh, ich habe Erbarmen mit dir und mit deiner Schönheit und deshalb, weil du ein Königssohn und ein hübscher Knabe bist. Es wäre nicht recht, wenn du verdorben würdest und umkämst. Stattdessen werde ich dir eine große Gnade erweisen und dich vor dem Tod retten. Ich werde dich heil und rasch zum Haus deines Vaters, des Königs, bringen. Nur eine Sache erbitte ich von dir und auch du sollst nach meinem Wunsch und Willen handeln. Wenn du es nicht tust, wirst du nicht vor dem Tod gerettet werden. › Der Knabe sagte zu ihr: ‹ Meine Herrin, handle so, wie du es gesagt hast. Errette und schütze mich vor dem Tod und vor diesem Übel, hilf mir in meiner Notlage und bring mich in Frieden zum Haus meines Vaters. Es gelte jede Bedingung, die du mir auferlegst - ich werde nicht widerspenstig sein oder deine Worte missachten. Und wenn ich irgendetwas missachte, was du mir auferlegt hast - dann töte mich sofort. Mit Gottes Hilfe wird es dir verziehen 22 Est 4,16: Wenn ich umkomme, dann komme ich eben um (Einheitsübersetzung). Anhang 362 werden, wenn ich mich nicht an deine Worte halte und meine Treue breche. 23 Ich schwöre dir einen Eid auf alles, was du über mich verhängst. Ich schließe einen Bund mit dir. › Das Mädchen antwortete ihm: ‹ Folgendes verlange ich: Mein Wille ist, dass, wenn ich dir diesen Gefallen tue, du mir zunächst schwörst, mich zur Frau zu nehmen. Und ich schwöre dir beim Gott des Himmels und der Erde, dass ich mit dir genauso verfahren werde, wie ich es gesagt habe. › Der Knabe stimmte zu und beide beschworen, was sie ausgemacht hatten und schlossen einen Bund. 24 Das Mädchen sagte zu ihm: ‹ Kehre nun zu dem Brunnen zurück. Trinke nochmals aus dem Quell, aus dem du trankst und daraufhin in eine Frau verwandelt wurdest. Wenn du noch einmal daraus trinkst, wirst du dich in einen Mann verwandeln. Denn dies ist die Eigenschaft dieses Brunnens, dass der Mann zur Frau wird und die Frau zum Mann. › Der Knabe hörte auf sie und handelte entsprechend. Er ging zu dem Brunnen und trank abermals daraus. Da wurde er wieder männlich, so wie er es zuvor gewesen war. Das Mädchen nahm ihn mit sich und der Knabe folgte ihr. Sie brachte ihn zu einer Stadt, deren Einwohner alle Dämonen waren. Sie führte ihn in einen Palast, in dem ihr Vater, ihre Mutter und ihre Brüder waren, und sie erzählte ihnen alles, was sie mit diesem Knaben getan hatte. Sie sahen ihn an und er gefiel ihnen sehr gut. Er sagte ihnen nämlich, dass er ein Mensch von königlichem Blut sei und von angenehmem Aussehen, und dass er sie liebe und begehre. 25 Und auch sie liebe ihn und wolle sich mit ihm zu einem Paar verbinden. ‹ Und nun, wenn ihr mir Gnade und Wahrheit gewährt, dann versöhnt und einigt euch mit ihm, damit er mich nach ihrem Brauch heirate. Danach bringe ich ihn zum Haus seines Vaters, denn wir haben einen Bund geschlossen und versprochen, nicht widerspenstig zu sein, den anderen zu verleugnen oder einander die Treue zu brechen. › Alle Dämonen einigten sich mit ihm und versammelten sich und sangen vor ihm mit angenehmer Stimme. Sie freuten sich, und der Knabe heiratete die Dämonin und schlief mit ihr und genoss es sehr. Er empfand Vergnügen und begehrte sie mit seiner ganzen Seele. Er sagte zu ihr: ‹ Nun werde ich lange Zeit bei dir bleiben, und später werden wir zum Haus meines Vaters gehen. › Das Mädchen antwortete in ihrer Treue: ‹ Nein. Denn Frevel und große Sünde wäre dies angesichts der Sorge deines alten Vaters. Ich weiß nämlich, dass er um dich trauert und jeden Tag weint. Er wird sterben wollen, 26 23 Vgl. Ps 89,34. Eigentlich: Ich werde meine Treue brechen und dir einen Eid schwören auf alles [. . .]. 24 Vgl. Gen 21,27, 1 Sam 23,18, Gen 6,18, Gen 17,7. 25 Besser: Sie sagte ihnen, dass er ein Mensch sei [. . .]. 26 Vgl. Hiob 7,15. Die Geschichte eines Königssohns 363 wenn du nicht zu ihm gehst. An dem Tag, an dem ihr einander nach all der Verzweiflung wiederseht, wird er wiederbelebt und verjüngt werden. Dies ist etwas Gutes, ein wichtiges Gebot und eine große Gnade von Gott. Ich erinnere mich daran, dass mir von Gott als Gegengabe bestimmt ist, dich zu deinem Vater zu bringen. Und das werde ich heute auch tun. Was du und ich geschworen haben - erinnere dich daran, es zu erfüllen, so dass du lebst und fruchtbar bist und Nachkommen zeugst. Falls nicht - dann wisse, dass ich meine Seele gerettet habe. Denn alles Schlechte, was dir widerfahren wird, ist von dir verursacht und nicht von mir. Außerdem wird Gott an deinem Körper und an deiner Seele rächen, dass du gegenüber mir und ihm widerspenstig warst. › An diesem Tag setzte sich das Dämonenmädchen freudig mit ihm nieder, und sie aßen und tranken gute Dinge, und sie gab ihm Süßigkeiten. Sie küsste und umarmte ihn und entließ ihn in Frieden und Liebe. Sie sagte zu ihm. ‹ Komm nun zum Haus meines Vaters, meiner Mutter, Brüder, Schwestern und Verwandten und jeder Person, die zu ihnen gehört. Nimm Abschied von ihnen und von diesem ganzen Volk. Sie werden sich von dir verabschieden. Ich aber werde dich heute in Liebe und Freude zum Haus deines Vaters bringen. Der Tag ist noch lang. › Der Knabe sagte: ‹ Gewähre mir die Gnade, mich morgen zu meinem Vater zu bringen, damit ich nicht länger gegen ihn sündige. Den Schwur des Herrn, der uns verbindet, und den Bund, den wir geschlossen haben, werde ich dir halten. Von deiner Gnade und von meinem Bund mit dir werde ich nicht abweichen und ich werde die Treue nicht brechen. So wahr der Herr lebt und so wahr du selbst lebst: 27 Ich werde dich nicht verlassen. › Die Dämonin antwortete: ‹ Aber auch ich erbitte von dir eine kleine und gute Sache, dass du dich nämlich heute nicht von uns trennst, bis wir zum Haus Gottes gehen. Wir werden dort Gott ein Opfer darbringen, und wir werden ihn anflehen und zu ihm beten, dass er uns rette und dass unseren Wegen Erfolg beschieden sei. › Von hier an fehlt etwas. Ich habe danach gesucht, es aber nicht gefunden. Dies ist eine andere Geschichte. [nachgetragene Vervollständigung durch einen anderen Schreiber]: Die Dämonin nahm ihn mit sich. Sie brachten zusammen Götzen herbei und schlossen einen Bund. Er nahm das Mädchen mit sich und brachte es zu seinem Vater. Er erzählte seinem Vater alles, was geschehen war. Da befahl der König, den Ratgeber zu töten. 27 In 1 Sam 20,3 sagt David zu Jonathan: Wahrlich, so wahr der Herr lebt und so wahr du lebst: es ist nur ein Schritt zwischen mir und dem Tode! Anhang 364 [Anschluss an die Rahmenerzählung: ] «Auf die gleiche Weise wird der Herr mich an dir rächen, wie er es auch für den Sohn dieses Königs getan hat.« Der König befahl, seinen Sohn zu töten. Die Geschichte eines Königssohns 365 Die Geschichte aus Worms Erzählung enthalten in: Cambridge, Trinity College F. 12 45 (Camb. Trin. 136 im Katalog Loewe; IMHM Nr. F 12230) Aufbewahrungsort: Trinity College, Cambridge Beschreibstoff: Papier Format, Umfang und Schriftart: Quarto, 21,4x15,4 cm, 31 Blätter, Aschkenasische Kursive Entstehungsort und Entstehungszeit: Norditalien, 2. Viertel des 16. Jahrhunderts Schreibsprache: Jiddisch Inhalt: Die Handschrift enthält zwei jiddische Gedichte des Elijahu ben Ascher Halevi Aschkenasi sowie drei längere erzählende Texte: Die Geschichte aus Danzig, die Geschichte aus Mainz sowie die Geschichte aus Worms. Literatur: Herbert Loewe : Catalogue of the Manuscripts in the Hebrew character collected and bequeathed to Trinity College Library by the late William Aldis Wright, vicemaster of Trinity College. Cambridge 1926, Nr. 136, S. 130. Sara Zfatman : The Marriage of a Mortal Man and a She-Demon. The Transformations of a Motif in the Folk Narrative of Ashkenazi Jewry in the Sixteenth-Nineteenth Centuries (Yiddish: Texts and Studies). Jerusalem 1987 [hebr.], S. 19 ff. Chanita Goodblatt: Women, Demons and the Rabbi ’ s Son: Narratology and ‹ A Story from Worms › , in: Exemplaria 12,1 (2000), S. 231 - 253. Joachim Neugroschel (Hg.): The Dybbuk and the Yiddish Imagination. A Haunted Reader. Edited and Translated from the Yiddish by Joachim Neugroschel (Judaic Traditions in Literature, Music, and Art). Syracuse, NY 2000. Shoou-Huey Chang : Der Rückgang des synthetischen Präteritums im Jiddischen kontrastiv zum Deutschen (Jidische Schtudies 9). Hamburg 2001, S. 28 ff. Chava Turniansky und Erika Timm (Hgg.): Yiddish in Italia. Yiddish Manuscripts and Printed Books from the 15th to the 17th Century. Mailand 2003, S. 108. Eine Transkription der Erzählung befindet sich in Zfatman , Marriage, S. 119 - 127. Zwei Übersetzungen der Erzählung ins Englische befinden sich in: Goodblatt , Women, S. 247 - 253 bzw. Neugroschel , Dybbuk, S. 118 - 123. Übersetzung der ‹ Geschichte aus Worms › (Fol. 24r-31v): Wir sprechen davon, dass es vor vielen Jahren einen wunderbaren Rav gab in einer Stadt, die bis zum heutigen Tag Worms heißt. Das ist eine alte Gemeinde, die seit der Zeit Jesses besteht. 1 Dieser Rav nun hieß Rav Salman. Er war ein sehr reicher Mann. Er stand einer großen Jeschiva 2 vor, in der sich stets hundert hervorragende Studenten befanden und dort Tag und Nacht lernten. Der Rav hatte einen einzigen Sohn, der ein ausgezeichneter Student war. Vater und Mutter liebten ihn sehr wegen seiner guten Taten. Es kam einmal ein Tag, den man Lag ba-Omer nennt und an dem die Studenten gern fröhlich sind. 3 Nun gibt es in der Stadt Worms einen Garten mit dem Namen Havel-Garten. 4 Menschen, die einmal dort gewesen sind, werden wohl wissen, wo dieser Ort ist. Die Studenten gingen an Lag ba-Omer dort hin, um zu spielen. Den Sohn des Ravs nahmen sie auch mit. Sie spielten ein Spiel, das man auf Jiddisch 5 ‹ Guckebergeles › nennt. 6 Das spielt man folgendermaßen: Einer muss sich vorbeugen, die anderen verbergen sich. Derjenige, der sich gebückt hat, muss sie suchen, bis er alle gefunden hat, die sich verborgen haben. Die Studenten spielten das Spiel so lange, bis der Sohn des Ravs an der Reihe war und sich vorbeugen musste. Die Studenten verbargen sich. Er aber fing an zu suchen und fand die Studenten alle, bis auf einen, der Anschel hieß. Den 1 Jesse oder Isai, der Vater König Davids. Vgl. 1 Sam 16 ff. 2 Jeschiva: Talmudschule. 3 Bei Lag ba-Omer handelt es sich um einen jüdischen Halbfeiertag, der zwischen Pessach und Schawuot begangen wird. Rabbinischen Quellen zufolge wurden die Schüler des berühmten Gelehrten R. Akiva in der Zeit zwischen Pessach und Schawuot von einer verheerenden Seuche heimgesucht: «The plague ceased on the day of Lag ba-Omer which, consequently, became a holiday, especially for rabbinical students in the Middle Ages (the ‹ Scholar ’ s festival › ). It was customary to rejoice on that day through various kinds of merrymaking.« Meir Ydit : Art. Lag Ba-Omer, in: EJ 12, S. 436 f., hier S. 437. Vgl. auch Goodblatt , Women, S. 247. 4 Neugroschel übersetzt Havel-Garten ( ג ן ה י ב ל ) mit «Jubilee Gardens«. Neugroschel, Dybbuk, S. 118. 5 א י ן ט ו י ט ש ן ist besser mit ‹ auf Jiddisch › als mit ‹ auf Deutsch › zu übersetzen. 6 Guckebergeles: Verstecken spielen. Vgl. den Art. Guckenbergen, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm . Bd. 4, I. Abteilung, 6. Teil. Bearbeitet von Arthur Hübner und Hans Neumann . Leipzig 1935, Sp. 1037. Die Geschichte aus Worms 367 konnte er nicht finden, obwohl er ihn lange suchte. Nun gab es im Garten viele Bäume. Der Sohn des Ravs suchte den Studenten hinter allen Bäumen, bis er zu einem hohlen Baum kam. Da sah er, wie sich eine Hand herausstreckte. Der Sohn des Ravs dachte, es sei der Student, den er suchte, und dass er sich in dem Baum verborgen habe. Er fing an zu rufen: ‹ Anschel, komm heraus, ich habe dich gefunden! › Der Sohn des Ravs sah, dass die Hand sich nicht zurückziehen wollte. Da nahm er einen goldenen Ring von seiner Hand und steckte ihn an die Hand, die sich aus dem Baum herausstreckte. Er sagte: ‹ Da du nicht aus dem Baum herauskommen willst, werde ich mich mit dir verloben. › Er trieb seinen Scherz, da er dachte, es handele sich um seinen Freund Anschel, den er suchte. Sobald er sich mit der Hand verlobt hatte, verschwand sie mit dem Ring. Als der Sohn des Ravs sah, dass die Hand verschwunden war, da erschrak er sehr, denn der Ring war sehr wertvoll. Er fürchtete sich davor, zu Vater und Mutter nach Hause zu gehen. So kam er zu seinen Freunden, den Studenten, und fand den Studenten Anschel bei ihnen. Er sprach: ‹ Lieber Anschel, gib mir meinen Ring. › Der Student sagte: ‹ Ich habe deinen Ring nicht gesehen und weiß nichts davon. › Der Sohn des Ravs antwortete ihm: ‹ Lieber Anschel, gib mir doch meinen Ring. Ich habe ihn dir an die Hand gesteckt in jenem Baum, in dem du verborgen warst. › Der Student antwortete ihm: ‹ Ich will dir alle unsere Freunde zu Zeugen dafür aufrufen, dass ich nicht in jenem Baum verborgen war, sondern an einem anderen Ort. › Damit war der Ring verloren. Die Studenten gingen nach Hause und erzählten dem Rav, was sie gehört hatten. Nachdem der Rav es vernommen hatte, sprach er: ‹ Geht und ruft mir meinen Sohn nach Hause, und sagt ihm, dass er sich nicht bekümmern soll. Ich werde ihm etwas Schöneres geben. › Da riefen sie ihn, und er kam heim. Und der Ring wurde vergessen. Im Verlauf der Zeit wurde der Sohn des Ravs groß und zu einem wunderbaren Menschen. 7 Sogar an fernen Orten sprach man von seiner Gelehrsamkeit. Es gab einen Parnas, 8 der in Speyer wohnte. Dieser fragte bei dem Wormser Rav an, ob er seinen Sohn seiner Tochter geben wolle. Er habe gehört, dass sein Sohn gar fleißig studiere, deshalb begehre er ihn und wolle ihm eine große Summe als Mitgift geben. Und so wurde die Hochzeit ausgerichtet, und sie freuten sich sehr. Als nun die Zeit kam, da man Hochzeit halten sollte, da kamen viele Leute herbei, wie es Brauch ist bei reichen Hochzeiten. Sie waren gar fröhlich, und man hielt Hochzeit. Nachdem man gegessen hatte, führte man Bräutigam und Braut mit großer Freude zu Bett. Danach schloss man die Kammer zu, wie es Sitte ist. Sobald der Bräutigam sich ins Bett legte, schlief er ein. Die Braut aber lag und wachte. Und wie sie so lag und wachte, da sah sie ein schönes Wesen an 7 Wörtl.: Geschöpf ( ב ר י ה ). 8 Parnas: Gemeindevorsteher. Anhang 368 das Bett kommen, in schönen Kleidern, in Gold und in Seide. Es sprach zu der Braut: ‹ Du Arrogante! Warum hast du dich zu meinem Bräutigam [gelegt], der sich in einem Baum mit mir verlobt hat? › Die Braut sprach: ‹ Das ist nicht wahr. Er ist mein Bräutigam. Erst heute habe ich Hochzeit mit ihm gehalten, darum - zieh deines Weges! › Als das die Schöne hörte, da packte sie die Braut und erwürgte sie. Tot ließ sie sie neben dem Bräutigam liegen. Nach Mitternacht wachte der Bräutigam auf und wollte mit seiner Braut reden, wie es Brauch ist. Da sah er seine Braut tot neben sich liegen. Mit großem Schrecken stand er auf und weckte die Leute. Sie kamen in die Kammer und fanden die Braut tot vor. Sie fragten den Bräutigam, was mit ihr geschehen sei. Er sprach: ‹ Ich habe es leider verschlafen, ich weiß es selbst nicht. › Da begrub man die Braut. Jedermanns Freude verwandelte sich in Trauer. Alle zogen nach Hause. Es gab allerdings viele Leute, die sagten, dass der Bräutigam sie getötet habe. Drei Jahre lang verhielt es sich so, dass der Sohn des Ravs trotz seines Reichtums und trotz seiner großen Gelehrsamkeit keine Frau bekommen konnte, denn keiner wollte seine Tochter aufs Spiel setzen. Das währte so lange, bis ein reicher Parnas kam, der ein Verwandter des Jungen war. Der sprach zu dem Wormser Rav: ‹ Ich will meine Tochter riskieren, weil wir ein Blut und ein Fleisch sind. Und da schon einmal ein unerhörtes Ereignis eingetreten ist, hoffe ich eben, dass es nicht wieder geschieht. › So wurde abermals eine Hochzeit anberaumt, und man hielt die Hochzeitszeremonie ab. Nachdem man den Bräutigam zu seiner Braut gelegt hatte, schloss man wieder die Kammer zu und jedermann ging hinaus. Der Bräutigam schlief wieder ein, und die Braut lag und wachte in großer Furcht. Wie sie so da lag, kam wieder die Schöne 9 in goldenen Kleidern und sprach zu der Braut: ‹ Du Arrogante! Ich habe schon einmal eine Frau dafür getötet, dass sie sich zu meinem Bräutigam gelegt hat. Und trotzdem bist du nicht zu Verstand gekommen. › Sie tötete auch diese Braut. Als der Bräutigam aufwachte, da fand er abermals seine Braut tot vor. Er fing an zu schreien, so dass jedermann herbeilief. Er sagte: ‹ Leider ist wieder meine Braut gestorben. › Da begrub man sie, und jedermann zog unter großem Trauern weg von der Hochzeit. Nun saß der Bräutigam zehn Jahre da, ohne dass er eine Frau bekommen konnte. Er war nun wohl dreißig Jahre alt. Einst begab es sich am Sabbat der Buße, 10 dass der Vater des Jungen und seine Mutter beieinander saßen. Da sprach der Rav zu seiner Frau: ‹ Liebe Frau, was sollen wir tun? Wir haben einen einzigen Sohn und großen Reichtum. Wenn ihm sein Lebtag lang keine Frau erhalten bleibt, dann wird unser Gedächtnis aus der Welt getilgt werden, und unser Reichtum wird in fremde Hände verstreut werden. Wer will ihm schon 9 Eigentlich: das schöne Bild ( ד ש ש ו י ן ב י ל ד ). 10 Schabbat zwischen Neujahr und Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Die Geschichte aus Worms 369 jetzt noch seine Tochter geben? › Sie sprachen zueinander unter Tränen und Klagen von ihrer Not. Da sprach die Rebbitzin: ‹ Lieber Mann, ich irre mich nicht, kein Parnas wird ihm jemals seine Tochter geben. Ich kenne eine arme Rebbitzin, eine Witwe, die kommt aus sehr guter Familie. Sie hat eine einzige Tochter, ein schönes Geschöpf, und wohnt im Armenhaus. Wer weiß, lieber Mann? Wenn ich zu ihr gehe, gibt sie vielleicht unserem Sohn ihre Tochter. Vielleicht hat sie den Nutzen von ihrer Frömmigkeit, und ihre Armut wird Gott gefallen. Dann wird sie am Leben bleiben. › Da sprach der Rav zu seiner Frau: ‹ Was du sagst ist richtig. Geh bald und rede mit der armen Rebbitzin. Frage sie, ob sie es tun und ihre Tochter meinem Sohn geben will. › Sogleich ging die reiche Rebbitzin, die Mutter des Jungen, und klopfte beim Armenhaus an. Als die arme Rebbitzin sah, dass die reiche Rebbitzin klopfte, lief sie flugs zu ihrer Tochter und sprach: ‹ Liebe Tochter, warum mag wohl die reiche Rebbitzin hier anklopfen? › Da antwortete ihr die Tochter: ‹ Liebe Mutter, vielleicht will sie uns etwas zu Essen schenken. › Da öffneten sie ihr und empfingen sie auf ehrliche Weise. Sie baten sie, sich zu setzen, und sprachen: ‹ Liebe Frau Rebbitzin, was mag das sein, dass ihr hereinkommt? › Sie antwortete: ‹ Deswegen bin ich hergekommen: Sicher habt Ihr gehört, was meinem Sohn der vielen Sünden wegen zweimal geschehen ist. Da wollte ich gern darum bitten, wenn es möglich wäre, dass Eure Tochter meinen Sohn zum Mann nehmen möge. Wer weiß, ob sie nicht den Nutzen von ihrer Frömmigkeit haben kann und am Leben bleiben wird? Dadurch würdet Ihr und Eure Tochter für Eure Armut entschädigt. › Da wandte sich die arme Rebbitzin an ihre Tochter und sprach: ‹ Liebe Tochter, du hörst ja, was die reiche Rebbitzin sagt: Wenn du es tun willst - ich will dich nicht zwingen. Aber ich kann dir keine Mitgift geben. Du müsstest sitzen bleiben. › Die Tochter antwortete ihr: ‹ Liebe Mutter, wir sind ja arme Leute, und ein armer Mensch ist das Gleiche wie ein toter Mensch. So will ich verfahren: Wenn der Rav sich vertraglich dazu verpflichtet, dass er, falls ich umkomme, dich dein Lebtag lang in seinem Haus unterhält und dich unterstützt, so lange du lebst - dann will ich seinen Sohn zum Mann nehmen und mein Leben riskieren. › So wurde abermals eine Hochzeit ausgerichtet. Sogleich machte die reiche Rebbitzin dem armen Mädchen hübsche Kleider. Sobald das Mädchen die Kleider anzog, erkannte niemand sie wieder wegen ihrer großen Schönheit, denn sie war zuvor in zerrissenen Kleidern einhergegangen und niemals vor die Tür getreten. Doch nun, da man sie ein wenig geschmückt hatte und sie ohnehin sehr schön war, da war ihre Schönheit in aller Munde. Man bereitete die Hochzeit mit wenigen Leuten vor und zeigte nicht viel Freude darüber, weil man dachte: ‹ Fröhlich sein können wir hinterher immer noch, falls sie am Leben bleibt. › Man feierte die Hochzeit. Nach dem Essen führte man Bräutigam und Braut zu Bett, wie es Brauch ist, und jedermann ging hinaus. Man Anhang 370 schloss die Kammer zu. Der Bräutigam schlief ein, die Braut aber lag da und wachte in großer Furcht. Als es Mitternacht wurde, da sah sie wieder ein schönes Wesen in perlenbestickten Kleidern und mit goldenen Haaren zum Bett kommen. Es sprach zu der Braut: ‹ Du Arrogante! Ich habe vorher schon zwei Frauen dafür getötet, dass sie sich zu meinem Bräutigam gelegt haben. Du hast davon gehört und wagst es trotzdem! Dafür werde ich auch dich töten. › Als die Braut das hörte, da erschrak sie sehr und sprach: ‹ Liebe Mutter, ich habe mein ganzes Leben im Armenhaus verbracht. Ich habe nichts davon gehört, dass ihm seine zwei Bräute gestorben sind. Daher, liebe Mutter - wenn es Euer Bräutigam ist, dann werde ich aufstehen und zulassen, dass Ihr Euch zu ihm legt. › Als die schöne Dämonin das hörte, da sprach sie: ‹ Liebes Kind, du musst den Nutzen von deiner Frömmigkeit haben, da du auf so fromme Weise mit mir redest. Aber Folgendes musst du tun, wenn er dein Mann sein soll: Jeden Tag wird er für eine Stunde vor deinen Augen verschwinden und zu mir kommen. Darum, wenn du Gott liebst, sollst du bei deinem Hals nicht darüber reden. › Da antwortete ihr die Braut: ‹ Wenn Gott will, soll es niemand gewahr werden. › Da verschwand die Dämonin vor ihren Augen. Kaum eine halbe Stunde später wachte der Bräutigam mit großem Schrecken auf und griff flugs nach seiner Braut. Als er sie am Leben fand, da freute er sich sehr. Als es nun schier tagte, kamen die Leute in die Kammer und fanden Bräutigam und Braut noch beieinander liegen. Und der Schwiegervater, die Schwiegermutter und die Mutter der Braut freuten sich sehr. Nun erst trieb man große Freude auf der Hochzeit. Das arme Mädchen wurde gar reich, und ebenso alles, was zu ihr gehörte. Sie liebte den Mann, und der Mann liebte sie ebenfalls, denn sie war sehr keusch. Sie hatte drei Söhne mit ihm. Nun wollen die Frauen stets mehr wissen, als für sie nützlich ist. An jedem Tag verlor sie ihren Mann für eine Stunde und wusste nicht, wohin er ging. Sie sah, dass er in seine Kammer ging, und in seiner Kammer verschwand er. Die gute Frau sah ihrem Mann nach und dachte: ‹ Ich will meinen Hals riskieren und wissen, wo er hingeht. Ich werde ihm nachgehen, selbst wenn es mich den Hals kosten sollte. › Sie achtete also darauf, wo ihr Mann die Schlüssel aufbewahrte. Sie nahm ihren Schüssel und öffnete ihre Kammer. Sie fand aber ihren Mann nicht darin. Daher suchte sie ihren Mann in der Kammer überall, [auch] unter dem Bett. Sie fand dort einen großen Stein. Als sie ihn sah, da rückte sie ihn von seinem Ort. Da sah sie ein großes Loch, und in dem Loch stand eine Leiter, die man hinabsteigen konnte. Sie dachte: ‹ Lieber Gott, soll ich hinabsteigen? Mein Mann ist gewiss dort hinabgestiegen. › Und sie bedachte sich gar lange, wie sie handeln solle. Dann aber ging sie hinab und gelangte auf ein großes Feld. Auf dem Feld fand sie ein schönes Haus. Das betrat sie. Eine Kammer fand sie offen. Dort war ein Tisch mit schönem Geschirr hergerichtet, aber niemand saß an dem Tisch. Nun gab es noch eine Tür, die aus dieser Kammer in eine andere Die Geschichte aus Worms 371 Kammer führte, dort ging sie hindurch und fand ihren Mann mit der schönen Dämonin in einem seidenen Bett liegen. Sie schliefen eng umschlungen. Die Dämonin lag zuvorderst und hatte goldenes Haar. Ihre Haare hingen vom Bett bis auf die Erde. Als seine Frau das sah, da fand sie, dass es schade sei, dass die hübschen Haare zur Erde herabhängen sollten. Sie nahm einen Stuhl, stellte ihn vor das Bett und legte die Haare darauf. Danach ging sie wieder auf dem Weg zurück, auf dem sie gekommen war. Sie wälzte den Stein wieder auf das Loch, schloss ihre Kammer zu und legte die Schlüssel wieder an den Ort, von dem sie sie genommen hatte. Niemandem im ganzen Haus sagte sie etwas. Als die Dämonin aufwachte, da fing sie laut und bitterlich an zu schreien und sprach: ‹ Lieber Mann, hier bin ich und muss sterben, weil deine liebe Frau hier gewesen ist und mich angerührt hat an meinen Füßen. 11 Wenn man mich berührt, dann muss ich sterben. Darum, lieber Mann, da sie es aus Frömmigkeit getan hat, und weil es ihr leid getan hat, dass mein schönes Haar zur Erde herabhängen sollte, davon sollst du den Nutzen haben. Nun, lieber Mann, hier habe ich einen goldenen Ring an der Hand, mit dem du dich mit mir verlobt hast. Nimm ihn wieder zurück. Geh nach Hause durch das Loch. Danach wird das Loch verschwinden und wir werden auf ewig voneinander geschieden sein. › So tat er es und kam nach Hause. Das Loch verschwand. Er blieb nun weiter zu Hause. Er sagte seiner Frau nichts, und die Frau ihm auch nicht. Als er sah, dass er drei Tage lang zuhause geblieben war, da richtete er für die ganze Gemeinde ein großes Gelage aus. Weder sein Weib noch Vater oder Mutter wussten, warum er das Gelage ausrichtete. Nachdem die ganze Gemeinde gegessen und getrunken hatte und man die Segenssprüche sagen sollte, da sprach der Sohn des Ravs: ‹ Ihr lieben Herren, ich will keine Segenssprüche sagen lassen, bis ich nicht mitgeteilt habe, warum ich dieses Gelage ausrichten ließ. Lieber Vater, hier ist der Ring, den ich in einem Baum verloren hatte. Da habe ich mich mit einer Dämonin verlobt, denn ich dachte, es handele sich um den Jungen, den ich suchte. Die Dämonin hat mir meine ersten Bräute umgebracht. Meine liebe Frau hat mich von ihr erlöst. › Er erzählte die ganze Geschichte. Danach fing auch sie an zu sprechen, da sie seine Worte gehört hatte, und erzählte ebenfalls, wie es ihr ergangen war, von der ersten Hochzeitsnacht bis zur gegenwärtigen Zeit, als sie ihn erlöst hatte. So war also das arme Mädchen wegen seiner großen Frömmigkeit und Keuschheit zu Reichtum und Ehre gekommen. Darum soll jeder Mensch genau so handeln. Hier endet die Geschichte aus Worms. 11 Zur Übersetzung von ב ו י ש ן als ‹ Füße › vgl. Kapitel 4.3. Anhang 372 Die Geschichte eines Jerusalemers Erzählung enthalten in: Ältester Druck: Divre ha-Jamim schel Mosche Rabbenu, Konstantinopel 1516 (gedruckt von Schmuel ibn Nachmias. Weitere Ausgaben: Venedig 1544 und Venedig 1605); zu weiteren Drucken, Handschriften und Übersetzungen vgl. Allony , Bibliografia, S. 92 ff. Aufbewahrungsorte: Das einzige vollständige Exemplar des Drucks befindet sich in der Bibliotheca Bodleiana, Oxford (Opp. add. 4 0 IV. 566; Cowley Catalogue, Opp. 1066; Nr. 3442 im Katalog Steinschneider) [unvollständige Exemplare befinden sich im Jewish Theological Seminary of America, New York (die ersten neun Blätter fehlen), im British Museum, London (der letzte Text fehlt) sowie im Asiatischen Museum Sankt Petersburg (der letzte Text fehlt)]. Format und Schriftart: Quarto, 19x13 cm, 48 Blätter, Raschi-Schrift Schreibsprache: Hebräisch Inhalt: Das Buch enthält folgende erzählende Werke: Die Chroniken Mosis, den Tod Aarons, den Tod Mosis, eine Version des Tobit-Buchs, Eldad ha-Dani, die Geschichten Sendebars, die Geschichte eines Jerusalemers, das Buch Enoch, Äsopische Fabeln, Sprüche Salomos und Vidal Benvenists Efer und Dina. Besonderheiten: Das Kolophon auf Fol. 40v gibt Aufschluss über den Druckort, das Jahr des Drucks, die Druckerei und den Inhalt des Buchs. Literatur: Moritz Steinschneider : Catalogus Librorum Hebraeorum in Bibliotheca Bodleiana. Berlin 1852 - 1860, Nr. 3442, S. 528 f. sowie Nr. 4266, S. 700. Moses Gaster : An Ancient Fairy-Tale translated from the Hebrew, in: Folk-Lore 42,2 (1931), S. 156 - 178. Nehemia Allony : Bibliografia schel Maase Jeruschalmi, in: Ma ’ ase Yerushalmi (The Story of the Jerusalemite). Attributed to R. Abraham B. Maimon. The Hebrew Versions of the Constantinople Edition and of a Yemenite Manuscript with an Introduction and Notes by Jehuda L. Zlotnik . A Bibliography and an Arabic Version Based Upon a Baghdad Manuscript with an Introduction by Nehemia Allony . Preface and Additional Notes by Raphael Patai (Studies in Folklore and Ethnology 1). Jerusalem 1946, S. 92 - 100 [hebr.]. Morris Epstein : Tales of Sendebar. An Edition and Translation of the Hebrew Version of the Seven Sages. Based on Unpublished Manuscripts. Philadelphia 1967, S. 342 ff. Joseph Dan : Five Versions of the Story of the Jerusalemite, in: PAAJR 35 (1967), S. 99 - 111. Michael Krupp : Vorwort, in: Der Jude und die Tochter des Dämonenfürsten. Eine jüdische Geschichte aus dem Mittelalter. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Michael Krupp . Jerusalem 2005, S. vii-xi. Eine Ausgabe der Erzählung befindet sich in: Ma ’ ase Yerushalmi, S. 44 - 68. Übersetzungen: l Die älteste Übersetzung ins Englische stammt von Moses Gaster und befindet sich in: Gaster, Ancient Fairy-Tale, S. 161 - 178. l Eine Übersetzung der Erzählung ins Englische, die auf dem Text einer jemenitischen Handschrift aus dem 19. Jahrhundert beruht, wurde von David Stern und Avi Weinstein angefertigt und befindet sich in: Rabbinic Fantasies. Imaginative Narratives from Classical Hebrew Literature. Hg. von David Stern und Mark Jay Mirsky (Yale Judaica Series 29). New Haven, London 1998, S. 123 - 142. l Eine Übersetzung der Erzählung ins Deutsche, die auf dem Text einer persischen Handschrift aus dem 18. Jahrhundert beruht, stammt von Michael Krupp und befindet sich in: Der Jude und die Tochter des Dämonenfürsten. Eine jüdische Geschichte aus dem Mittelalter. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Michael Krupp . Jerusalem 2005, S. 1 - 71. Übersetzung der ‹ Geschichte eines Jerusalemers › , Konstantinopel 1516 (Fol. 28r-33r): Es war einmal ein Kaufmann, der nur einen einzigen Sohn hatte. Er lehrte ihn Tora, Mischna und Talmud, alle sechs Abteilungen. Auch eine Frau gab er ihm. Der Sohn zeugte noch zu Lebzeiten seines Vaters Kinder. Am Tag seines Todes versammelte er [der Kaufmann] die Ältesten seiner Stadt und sagte zu ihnen: ‹ Ihr sollt wissen, dass ich ein großes Vermögen besitze. Meine Frau erhält ihrer Ketuba 1 zufolge hundert Sela 2 von mir, so wie es in ihrem Ehevertrag festgesetzt ist. Den Rest wird mein Sohn bekommen, 1 Ketuba: Ehevertrag, Eheverschreibung. 2 Sela: Währungseinheit in talmudischer Zeit. Anhang 374 wenn er mein Gebot hält, welches ich ihm in eurem Beisein auferlege. Falls er aber mein Gebot bricht, dann weihe ich nun all meine Besitztümer dem Himmel, und mein Sohn wird nichts davon erhalten. › Sogleich rief er seinen Sohn zu sich und gebot ihm in Anwesenheit der Stadtältesten, dass er in seinem ganzen Leben nie zur See fahren solle. Er sagte: ‹ Mein Sohn, du weißt, dass ich mein ganzes Vermögen, alles, was ich besitze, mit Seereisen verdient habe. Auf dem Meer habe ich viel erlebt und vieles erfahren. Ich bitte dich, dich nicht in Gefahr zu bringen, um Besitztümer auf dem Meer zu erwerben, denn ich hinterlasse dir sehr viel Besitz. Selbst wenn du niemals mehr etwas erwerben wolltest, würde es ausreichen für dich und deine Kinder, solange ihr auf Erden verweilt. Ich möchte, dass du mir auf die Tora schwörst, meinen Willen und mein Gebot diesbezüglich nie zu missachten. Denn viele Besitztümer hinterlasse ich dir, so dass du davon an deinem Ort leben kannst. Wenn du aber dieses mein Gebot übertrittst - dann weihe ich in Anwesenheit dieser würdigen Männer alle meine Besitztümer dem Himmel. Dann wirst du nichts davon haben. › Der Sohn schwor ihm in Anwesenheit der Gemeinde und der Stadtältesten, niemals eine Seereise zu unternehmen. Einige Tage später starb der alte Kaufmann und ging in sein ewiges Haus. 3 Sein Sohn blieb in seinem Haus und hielt das Gebot seines Vaters. Nach ein oder zwei Jahren kam ein Schiff in den Hafen der Stadt. Das Schiff war beladen mit Silber, Gold und Perlen. Als die Besatzung des Schiffs an Land kam, fragten die Männer nach dem Kaufmann. Sie wollten wissen, ob er noch am Leben sei. Die Einwohner der Stadt sagten: ‹ Er ist bereits gestorben. Sein Sohn ist an seiner Stelle zurückgeblieben. Er ist ein bedeutender reicher Mann und ein Talmid Chakham. 4 › Die Seefahrer sagten: ‹ Bitte bringt ihn her oder zeigt uns, wo er wohnt. › Man zeigte ihnen sein Haus, und sie fragten ihn nach seinem Wohlergehen und sagten zu ihm: ‹ Bist du der Sohn von jenem bedeutenden Kaufmann, der zur See zu fahren pflegte und der einen ausgedehnten Handel betrieb bis ans Ende der Welt? › Er sagte zu ihnen: ‹ Ich bin sein Sohn. › Sie sagten zu ihm: ‹ Wenn das so ist, dann sag uns: Was hat dein Vater in Bezug auf die Besitztümer und Pfänder 5 auf der anderen Seite des Meeres geboten, als er verschied? › Er sagte zu ihnen: ‹ Er hat in seinem Testament nichts davon geschrieben, dass ihm irgendetwas auf der anderen Seite des Meeres gehören würde. Mein Vater hat mich nur schwören lassen und mir geboten, niemals zur See zu fahren. › Sie sagten zu ihm: ‹ Wenn es stimmt, dass dein Vater 3 Koh 12,5: Denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse. 4 Talmid Chakham: Toragelehrter. 5 Oder: Verfügungen. Die Geschichte eines Jerusalemers 375 dir nichts darüber gesagt hat, was er verfügt oder hinterlassen hat auf der anderen Seite des Meeres, dann ist er nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gestorben. Wisse, dass das ganze Schiff, mit dem wir gekommen sind, voller Silber, Gold und Perlen ist. Das alles gehört deinem Vater. Er hat es uns anvertraut. Da dein Vater nun tot ist, werden wir dies nicht verleugnen, sondern es dir übergeben, obwohl er diesbezüglich nichts geboten hat. Wir sind nämlich vertrauenswürdige und gottesfürchtige Männer. 6 Wir begehren deinen Besitz nicht, denn wir haben alles, Gott sei Dank. Und nun komm mit deinen Knechten und nimm alles, was sich auf dem Schiff befindet, denn es gehört alles dir. › Als der Sohn des Kaufmanns das hörte, da erfasste große Freude sein Herz, und er ging mit ihnen und brachte all den Besitz in sein Haus. Er lud die Seeleute in sein Haus ein, und sie blieben einige Tage bei ihm und feierten Gelage und waren fröhlich. Am nächsten Tag sagten die Seeleute zu ihm: ‹ Wir wussten immer, dass dein Vater ein weiser und verständiger Mann war. Es scheint uns aber so, als sei er nicht bei Sinnen gewesen, als er starb und dich schwören ließ, nie übers Meer zu fahren. Wirklich, du sollst wissen, dass dieser Schwur nichts gilt. Denn dein Vater hatte viele Besitztümer auf der anderen Seite des Meeres, zehnmal so viel, wie wir dir gebracht haben. Wie konnte er dich nur so schwören lassen, dass du alle diese Besitztümer verlieren würdest? Er muss verrückt gewesen sein. Wenn du uns nur glaubst, hol dir eine Erlaubnis vom König und von den Weisen und komm mit uns. Wir werden die Waren einkaufen, die in unserem Land begehrt sind. Davon wirst du einen großen Gewinn einstreichen. Und du wirst den ganzen Reichtum mit zurückbringen, den dein Vater in unserem Land hinterlassen hat. › Er antwortete ihnen: ‹ Ich habe meinem Vater geschworen, dass ich niemals aufs Meer fahren würde, und ich werde meinen Schwur und sein Gebot nicht brechen. Denn als mein Vater mich schwören ließ, war er bei Sinnen. Was die Tatsache angeht, dass er mich nichts von den Pfändern und von dem ganzen Reichtum wissen ließ, den er dort hinterlassen hat - das hat er absichtlich getan, so dass ich mich nicht in Gefahr bringen würde. Deshalb hat er mich nicht über diese Angelegenheit unterrichtet. Und weil das so ist, werde ich sein Gebot und den Schwur, den ich ihm geschworen habe, halten. › Sie sagten zu ihm: ‹ Hat er dich denn mehr geliebt als sich selbst, da er sich doch des Öfteren in Gefahr gebracht hat? Es verhält sich nicht so, wie du es sagst. Er war von Sinnen, daher gilt sein Gebot nichts. Denn er hat nicht mit Vernunft gesprochen, und ohne Vernunft hat er dich schwören lassen. Deshalb wäre es gut für dich, in dieser Streitsache eine Befreiung von deinem Schwur einzuholen. › Am Ende lasteten ihre Worte schwer auf ihm, bis sie ihn um seinen 6 Vgl. Jon 1,9. Anhang 376 Verstand gebracht hatten. Er wurde genötigt, mit ihnen zu gehen, um den Reichtum herbeizubringen. Was tat er? Er kaufte Waren und nahm sie mit sich auf das Schiff, und gemeinsam brachen sie auf. Sobald sie auf dem großen Meer waren, wurde Gott zornig, weil er seinen Schwur gebrochen und das Gebot seines Vaters übertreten hatte. Er schickte einen Sturmwind 7 über das Meer, und das Schiff zerbrach. Alle Menschen, die auf ihm gewesen waren, ertranken, weil sie ihm den Rat gegeben hatten, seinen Schwur zu brechen und das Gebot seines Vaters zu übertreten. Und Gott, gesegnet sei er, gab dem Herrn des Meeres ein Zeichen, und dieser beförderte den Mann nackt und barfüßig 8 ans Festland am Ende der Welt. Es war ein Ort, an dem keine Menschen wohnten, und er sollte dort lebendig seine gerechte Strafe für seine Sünde erleiden. Als er ans Festland gespült worden war und sich selbst nackt und barfüßig sah, da erkannte der Mann, dass der Herr ihm zürnte, und dass der Tag seines Verderbens gekommen war. 9 Er erhob den Blick zum Himmel und unterwarf sich dem Urteil. Er begann, am Strand entlang zu gehen: Vielleicht würde er eine bewohnte Stadt finden 10 oder etwas zu essen oder etwas, um sich damit zu bedecken. Denn er war so nackt wie damals, als er aus dem Mutterleib hervorgekommen war. 11 Nachdem er einen Tag lang gegangen war, fand er einen Baum, dessen Zweige sich über die Küste erstreckten. Er dachte bei sich: ‹ Diesen Baum können unmöglich Menschen gepflanzt haben. › 12 Er ging los, um seine Wurzeln zu finden. Es wurde dunkel um ihn, so dass er sie nicht finden konnte, denn die Entfernung betrug 40 Parasangen. 13 Als er erkannte, dass er nichts zu essen finden würde und auch nichts, um sich zu bedecken, da bedeckte er sich mit den dünnen Zweigen des Baums und mit Blättern. Diese 7 Ez 1,4: Und ich sah, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Norden her, eine mächtige Wolke und loderndes Feuer [. . .]. 8 In Jes 20,3 f. spricht Gott: Gleichwie mein Knecht Jesaja nackt und barfuß geht drei Jahre lang als Zeichen und Weissagung über Ägypten und Kusch, so wird der König von Assyrien wegtreiben die Gefangenen Ägyptens und die Verbannten von Kusch [. . .]. 9 In Jer 46,21 soll Ägypten und dem Pharao durch den Propheten verkündet werden: Denn der Tag ihres Unheils wird über sie kommen, die Zeit ihrer Heimsuchung. 10 In Ps 107,3 f. heißt es über die, die Gott befreit hat: [. . .] die er aus den Ländern zusammengebracht hat / von Osten und Westen, von Norden und Süden. / Die irregingen in der Wüste, auf ungebahntem Wege, / und fanden keine Stadt, in der sie wohnen konnten. 11 Hiob 1,21: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. 12 Vielleicht besser: Vielleicht haben Menschen diesen Baum gepflanzt. 13 Parasangen: Längenmaß. Die Geschichte eines Jerusalemers 377 sollten ihn vor der Kälte der Nacht schützen. Um Mitternacht hörte er einen Löwen brüllen, 14 und er erkannte, dass jener gekommen war, um ihn zu fressen. Als er ihn sah, fürchtete er sehr um sein Leben. 15 Er wollte nicht, dass der Löwe ihn fräße, weil er das Gebot seines Vaters nicht gehalten und seinen Schwur gebrochen hatte. Er weinte laut und betete zu Gott, dass er ihn retten und seinen Zorn und Groll gegen ihn aussetzen möge, 16 und dass er ihn nicht bestrafen möge, indem er ihn einen schrecklichen Tod sterben ließ. Was tat er? Er ergriff die Äste des Baumes und stieg darin empor. 17 Und als der Löwe kam, fand er ihn nicht und ging wieder weg. Der Mann dankte Gott, gesegnet sei er, dafür, dass er ihn vor den Klauen dieses Löwen gerettet hatte. Und der Jüngling dachte bei sich, dass er noch höher in den Baum steigen könne. Vielleicht würde er etwas zu essen finden, denn er war sehr hungrig. Während er im Baum herumstieg, traf er auf einen gewaltigen Vogel namens Kifufa. 18 Als dieser ihn sah, öffnete er seinen Schnabel, um ihn zu fressen. Der Knabe wollte fliehen, doch der Herr gab seinem Herzen Weisheit ein. Er stieg auf den Vogel und ritt auf ihm, und weil er auf ihm ritt, ergriff seine Furcht auch den Kifufa. Die ganze Nacht lang bewegte er sich nicht vom Fleck. Der Knabe hatte große Angst vor dem Vogel. Er hielt sich mit beiden Händen an seinem Gefieder fest und konnte nicht von ihm herabsteigen. Auch der Kifufa hatte Angst, weil er nicht wusste, wer es war, der da auf ihm ritt. Als der Morgen anbrach, sah der Kifufa sich um und erblickte den Mann, und er ängstigte sich weiterhin vor ihm. Er flog voller Zorn und Furcht den ganzen Tag lang bis zum Abend. Er transportierte den Mann dabei über das Meer und brachte ihn so an einen Ort am Ende der Welt. Als der Mann das Meer unter sich sah, ängstigte er sich sehr. Er betete zu Gott, dass er ihn retten möge. Als der Abend kam, flog der Kifufa über ein Land, wobei er sich dem Erdboden näherte. Der Mann hörte die Stimmen von Knaben, die folgenden Abschnitt lasen: Und dies sind die Rechtsvorschriften: Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst. 19 Als er das hörte, sagte er zu sich: ‹ Bestimmt gibt es in diesem Land Juden. Ich werde mich dort hinunterstürzen. Es kann sein, dass sie keine Gnade mit mir haben, falls ich 14 Spr 28,15: Ein Gottloser, der über ein armes Volk regiert, ist wie ein brüllender Löwe und ein gieriger Bär. 15 Wörtlich: für seine Seele. 16 Ps 78,38: Er aber war barmherzig und vergab die Schuld / und vertilgte sie nicht und wandte oft seinen Zorn ab / und ließ nicht seinen ganzen Grimm an ihnen aus. 17 Hld 7,9: Ich sprach: Ich will auf den Palmenbaum steigen und seine Zweige ergreifen. 18 Vgl. Ernst Friedrich Karl Rosenmüller : Biblische Naturgeschichte. Bd. 4, Teil 2: Das biblische Thierreich. Leipzig, 1831, S. 312. Der Kifufa ist eine große Eule oder ein Uhu. 19 Vgl. Ex 21,1 Anhang 378 gerettet werde. Dann werde ich mich ihnen selbst als hebräischen Sklaven verkaufen. › Was tat er? Er stürzte sich hinab und fiel vor das Tor der Synagoge dieser Stadt, und der Kifufa zog seines Weges. Nachdem der Mann heruntergefallen war, konnte er zwei Stunden lang nicht aufstehen, denn er wäre von der Macht des Sturzes beinahe zerschmettert worden. Außerdem war er schwach, da er zwei Tage lang nichts gegessen hatte. Nach einer Weile stand er auf und ging zum Tor der Synagoge. Er fand es geschlossen. Da rief er: ‹ Öffnet mir die Tore der Gerechtigkeit! › 20 Ein Jüngling kam zu ihm heraus und fragte ihn: ‹ Wer bist du? › Er antwortete ihm: ‹ Ich bin ein Hebräer und fürchte den Herrn. › 21 Der Jüngling ging zu seinem Rav. Dieser befahl ihm, dem Mann die Tür zu öffnen. Als sie sahen, dass er nackt war, da erzählte er ihnen vom Anfang bis zum Ende alles, was ihm geschehen war. Er sagte ihnen, dass ihm große Leiden zuteil geworden waren. Der Rav antwortete ihm: ‹ Was dir widerfahren ist, ist gar nichts im Vergleich zu dem, was du in Zukunft erleiden wirst, weil du hierhergekommen bist. › Der Knabe sagte zu ihm: ‹ Seid ihr denn keine Juden? Ich weiß, dass die Söhne Israels barmherzig sind und die Söhne von barmherzigen Menschen, besonders gegenüber einem armen Menschen wir mir, der nichts Gutes besitzt und der nackt und barfüßig ist. › Der Rav sagte zu ihm: ‹ Rede nicht so viel. Du kannst nicht vor dem Tod gerettet werden. › Der Knabe antwortete ihm: ‹ Aber warum, mein Herr, warum sagst du diese Dinge zu mir? › 22 Der Rav sagte zu ihm: ‹ Das tue ich, weil diese Stadt keine Menschenstadt ist, sondern eine Stadt der Dämonen und Dämoninnen. 23 Diese Jünglinge, denen ich vorlese, sind Söhne von Dämonen. Jeden Moment nun werden sie sich zum Gebet versammeln, und wenn sie dich sehen, werden sie dich töten. › Als der Knabe das hörte, da erschrak er und fiel zu Boden, um die Füße des Ravs zu küssen. Er weinte und flehte ihn an, 24 ihm zu raten und ihm zu helfen, so dass er nicht sterben müsse. Denn er sei ein gelehrter und gottesfürchtiger Mann, er habe nur auf den Rat dieser Menschen hin gesündigt, die ihn dazu verleitet hätten, das Gebot seines Vaters zu übertreten und seinen Schwur zu brechen. Als der Rav das hörte, da konnte er sich vor Rührung über ihn nicht halten. 25 Er antwortete ihm: ‹ Weil du ein Sohn der Tora bist und ein Gelehrter, und weil du bereust, was du getan hast, bist du es wert, geschont zu werden. Und da du meine Füße geküsst hast und vor mir 20 Ps 118,19: Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit, dass ich durch sie einziehe und dem Herrn danke. 21 Jon 1,9: Ich bin ein Hebräer und fürchte den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat. 22 Gen 44,7: Warum redet mein Herr solche Worte? 23 Hier: ש י ד י ם ו ש י ד ת י ן . Vgl. bGittin 68a. 24 Über Jakobs Beziehung zu Gott heißt es in Hos 12,5: Er weinte und bat ihn. 25 Gen 43,30: Und Josef eilte hinaus; denn sein Herz entbrannte gegen seinen Bruder. Die Geschichte eines Jerusalemers 379 niedergefallen bist, werde ich mich bezüglich deiner Übertretung bemühen. Vielleicht kann ich dich retten. › Was tat der Rav? Er brachte ihn zu seinem Haus und gab ihm zu essen und zu trinken. Der Mann schlief im Haus des Ravs in dieser Nacht, und die Dämonen spürten die ganze Zeit über nichts von seiner Anwesenheit. Morgens beim Aufstehen sagte der Rav zu ihm: ‹ Komm mit mir zur Synagoge. Verstecke dich unter meinem Mantelsaum 26 und sag kein Wort, bis ich mich zu deiner Angelegenheit geäußert habe. › Er brachte ihn zur Synagoge. Der Mann stand unter dem Mantel des Ravs. Als der Tag anbrach, kamen die Dämonen zur Synagoge. Sie waren wie flammende Fackeln, und der Mann hörte das Getöse der Blitze, die die Welt erschütterten, und schrecklichen Lärm. Der Mann stand bebend, und vor lauter Angst und Furcht stockte ihm der Atem. Er hörte, wie sie begannen, die Psuke de Simra 27 zu sagen, als ob sie Söhne Israels wären. Ein Dämon stand in der Nähe des Ravs. Er sagte zu seinem Freund: ‹ Ich rieche Menschengeruch › . Als die anderen das hörten, sagten sie: ‹ Hier ist er, er steht an der Seite des Ravs. › Sie alle zeigten sich ehrerbietig gegenüber dem Rav und näherten sich dem Mann nicht, da er unter dem Mantel des Ravs saß. Als der Rav sah, dass die Dämonen wussten, dass der Mann sich dort befand, da sagte er sogleich, nachdem sie die Psuke de-Simra beendet hatten, zu dem Vorsänger: ‹ Bete nicht weiter, bis ich gesprochen habe. › Sogleich sagten die Dämonen zu ihm: ‹ Rabbenu, 28 sprich zu deinen Knechten, wir werden dich anhören. › Er sagte zu ihnen: ‹ Ich bitte euch, diesem Mann nicht zu schaden, denn er hat in meinem Haus Zuflucht gefunden. › 29 Sie sagten zu ihm: ‹ Was bedeutet uns dieser von einer Frau geborene Mann? 30 Und wer hat ihn hergebracht? › Der Rav erzählte ihnen vom Anfang bis zum Ende alles, was dem Mann geschehen war. Sie sagten zu ihm: ‹ Warum soll ein böser Mensch leben, der das Gebot seines Vater übertreten und den Schwur des 26 Krupp übersetzt כ נ פ ו ת mit «Fittiche«. Krupp , Tochter, S. 20. 27 Psuke de-Simra: Psalmverse, die zu Beginn des jüdischen Morgengebets rezitiert werden. «Die einleitenden Stücke des jüdischen Gottesdienst[es], danach beginnt der Vorbeter mit dem eigentlichen Hauptgebet.« Krupp , Tochter, S. 22. 28 Respektvolle Anrede: Unser Meister, unser Rav. 29 In Gen 19,8 versucht Lot, seine beiden Gäste vor der Menge zu schützen, indem er seine eigenen Töchter anbietet und bittet: Aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Dachs gekommen. 30 Der Ausdruck wird mehrmals im Buch Hiob verwendet, z. B. in Hiob 14,1: Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe. Vgl. auch Hiob 15,14 und 25,4. Vgl. außerdem bSchabbat 88b, wo es heißt, dass die Dienstengel über Moses sagen: Was soll ein Weibgeborener unter uns! ? Anhang 380 Herrn gebrochen hat? Er verdient den Tod. › 31 Der Rav sagte zu ihnen: ‹ Er hat seine Strafe schon auf sich genommen in Gestalt der vielen schlimmen Leiden, die über ihn gekommen sind. Außerdem ist er ein Sohn der Tora, und er verdient, dass seine Tora ihn schützt. Denn wenn ihm der Tod gebühren würde, dann hätte ihn der Herr nicht aus dem Meer gerettet und ebenso vor dem Löwen, dem Kifufa und anderen Leiden. › Die Dämonen antworteten ihm: ‹ Trotzdem verdient er den Tod, denn er ist ein Sohn der Tora und hielt dennoch nicht das Gebot seines Vaters. Zudem hat er seinen Schwur gebrochen. Seine unabsichtlichen Übertretungen werden ihm als Bösartigkeit angelastet. Der Herr hat ihn nur deshalb vor all dem gerettet, was ihm widerfahren ist, damit er von unserer Hand einen schrecklichen Tod stirbt. › Der Rav sagte zu ihnen: ‹ Es ist nicht würdig, dass ihr ihn tötet, ohne dass es nach den Gesetzen der Tora geschieht, da es sich bei ihm um einen Sohn der Tora handelt. Hört daher auf mich: Der Vorsänger soll einen Bann aussprechen, so dass kein Dämon ihm irgendeinen Schaden zufügen kann, bis das Gebet beendet ist. Dann werden wir ihn vor unseren König Aschmedai bringen, und er wird über ihn richten und entscheiden, ob er sterben oder leben soll. 32 Da antworteten alle: ‹ Was du gesagt hast, ist gut. › 33 Sogleich gebot er dem Vorsänger der Synagoge, den Bann auszusprechen, so dass kein Dämon dem Mann Schaden zufügen konnte, bis Aschmedai, der König der Dämonen, über ihn zu Gericht gesessen hatte. Nachdem sie gebetet hatten, brachten sie ihn zu Aschmedai und sagten zu ihm: ‹ Herr und König, dieser Mann ist bei uns, weil er gesündigt hat wider Gott, gesegnet sei er. Er hat nämlich seinen Schwur gebrochen und das Gebot seines Vaters nicht gehalten. Dieses und jenes ist ihm widerfahren. Wir wollten ihn nicht töten, bis du dein Urteil über ihn gesprochen hast, da er ein Sohn der Tora ist. › Als der König das gehört hatte, berief er sein Gericht ein und sagte zu den Richtern: ‹ Dies ist der Mann, der dieses und jenes getan hat, und dieses und jenes ist ihm widerfahren. Haltet am Morgen Gericht 34 und sucht einen Urteilsspruch für ihn, denn er ist ein Sohn der Tora. Deshalb sollt ihr ihn nach dem Gesetz der Tora Mosis richten. › Die Richter gingen und suchten nach einem Urteil. Sie verurteilten ihn zum Tod. ‹ Denn in der Tora steht geschrieben: Verflucht, wer Vater oder Mutter schmäht, 35 das heißt, wer die Ehre seines Vaters und sein Gebot leicht nimmt. Und deshalb ist er verflucht. Er ist verflucht, und es ist ihm bestimmt zu sterben. Dies ist abzuleiten aus dem Fall 31 In 1 Sam 20,31 sagt Saul über David: Denn er ist ein Kind des Todes. In 2 Sam 12,5 sagt David, ohne es zu wissen, über sich selbst: So wahr der Herr lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat. 32 Vgl. 2 Sam 15,21. 33 Vgl. Dt 1,14. 34 Vgl. Jer 21,12. 35 Vgl. Dt 27,16. Die Geschichte eines Jerusalemers 381 des Saul ben Kisch, der seinen Sohn Jonathan töten wollte, weil dieser den Fluch auf sich gezogen hatte. 36 Zudem hat der Mann seinen Schwur gebrochen, und es steht geschrieben: Ich werde nicht ungestraft lassen etc. › 37 Sie gingen zu König Aschmedai und berichteten ihm, wie sie dazu gekommen waren, den Mann aufgrund der genannten Gründe zum Tod zu verurteilen. Aschmedai sagte zu ihnen: ‹ Wartet noch ab mit dem Urteil und schlaft noch einmal darüber, denn es steht geschrieben: Die Gemeinde soll richten und die Gemeinde soll retten. 38 Und die Weisen sagten: Seid maßvoll beim Urteilen. 39 So hat Mosche Rabbenu beim Verurteilen des Holzsammlers gezögert, denn es war noch nicht entschieden. › 40 Sie sagten zu ihm: ‹ Wir werden nach deinen Worten handeln, denn du bist unser Herr und auf dich richten wir unsere Augen. › Der König sagte zu ihnen: ‹ Der Mann soll für diese Nacht mit mir kommen, so dass ihr ihn nicht tötet, bis ein eindeutiges Urteil ergangen ist. › So geschah es. Zur selben Stunde fragte ihn Aschmedai, ob er die Schrift gelesen und studiert habe, und er befahl, die Bücher der Tora, der Propheten und der Schriften zu ihm zu bringen wie auch die Ordnungen der Mischna und des Talmud. Er prüfte ihn und erkannte, dass der Mann in jeder Hinsicht weise war. Als Aschmedai das sah, sagte er zu ihm: ‹ Nun weiß ich, dass du ein weiser Mann bist. Außerdem habe ich Gefallen an dir gefunden. 41 Schwöre mir, dass du meinen Sohn alles lehren wirst, was du weißt. Dann werde ich dich aus der Hand der Dämonen retten. Ich weiß nämlich, dass sie sich darauf einigen werden, dich zu töten. › Er schwor ihm das. Der König sagte zu ihm: ‹ Komm, ich werde dir beibringen, welche Gründe du morgen vorbringen kannst, denn sie haben gesagt, dass du ein toter Mann bist. Und du sollst ihnen antworten, dass du selbst ein großer und weiser Richter bist, und dass du das Urteil sehen und die Argumente untersuchen möchtest. Dann werden sie zu mir kommen und ich werde dich vor ihnen retten. › Am nächsten Tag kamen die Angehörigen des Gerichts zu König Aschmedai, und sie sagten zu ihm: ‹ Wir haben nichts gefunden, was für ihn spricht. › Der Knabe antwortete und sagte zu ihnen: ‹ Ich bin ein größerer Richter als ihr. Ich möchte mir meinen Urteilsspruch genau ansehen. › Sie sagten zu ihm: Es soll 36 Vgl. 1 Sam 14. 37 Vgl. Num 14,18, Ex 20,7. 38 Vgl. Num 35,24 f. und mSanhedrin 1,1. 39 Vgl. mAvot 1,1. 40 In Num 15,34 wird ein Mann, der am Sabbat Holz gesammelt hat, nicht sofort gesteinigt: Und sie legten ihn gefangen, denn es war nicht klar bestimmt, was man mit ihm tun sollte. 41 In Ex 33,17 spricht Gott zu Moses: Denn du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen. Vgl. auch Est 5,8. Anhang 382 nach deinen Worten gehandelt werden. › Sie berieten sich untereinander und sagten: ‹ Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn vor den König Aschmedai zu bringen. Denn dieser lernt immer in der himmlischen Jeschiva, und danach steigt er herab und lernt in der irdischen Jeschiva. Daher ist er bewandert in himmlischen und irdischen Urteilssprüchen. › 42 Sie gingen und fragten Aschmedai, wie sein Urteil laute. Er sagte zu ihnen: ‹ Dieser Mann soll nicht zum Tode verurteilt werden, denn alles, was er getan hat, hat er nicht etwa aus Auflehnung, Untreue 43 oder Bosheit getan. Stattdessen haben ihn diese Menschen verführt und getäuscht mit ihren Worten. Denn in einem Zwangsfall befreit der Erbarmende. 44 Woher dies? Dem Mädchen sollst du nichts tun. 45 Ihr könnt erkennen, dass es sich mit ihm so verhält, denn der Herr hat diese Menschen im Meer getötet, diesen hier aber hat er gerettet. › Als die Angehörigen des Gerichts das hörten, da sprachen sie ihn frei. Danach nahm ihn Aschmedai, brachte ihn zu seinem Haus und setzte seinen Sohn vor ihn hin. Er sollte ihm die Tora beibringen und alles, was er wusste. Er erwies ihm eine große Ehre. Nach drei Jahren wusste der Sohn Aschmedais alles, was ihm der Mann beigebracht hatte von dem, was er wusste. Einst rebellierte ein Land gegen Aschmedai. Dieser versammelte sein Heer, um gegen das Land zu marschieren. Er ernannte den Mann zum Aufseher über sein Haus und über alles, was ihm gehörte, und er übergab ihm die Schlüssel zu all seinen Schatzkammern. Er gebot allen Angehörigen seines Haushalts, nichts zu unternehmen, was ihnen nicht der Mann aufgetragen hätte. Aschmedai zeigte dem Mann all seine Schatzkammern. 46 Er zeigte ihm auch eine Kammer, zu der es keinen Schlüssel gab. Aschmedai sagte zu dem Mann: ‹ All meine Schatzkammern darfst du betreten, nur diese Kammer nicht. Aschmedai ging, um jene Stadt zu belagern. Eines Tages ging der Mann an der Tür vorüber, von der Aschmedai ihm verboten hatte, sie zu durchschreiten. Er sagte bei sich: ‹ Was mag wohl in dieser Kammer sein, das es in den anderen Kammern nicht gibt, da mir der König verboten hat, sie zu betreten? › Er ging zu der Tür und sah aufmerksam hinein. Da sah er Aschmedais Tochter, die auf einem goldenen Thron saß. Bei ihr waren viele Jungfrauen, die vor ihr tanzten 42 bGittin 68a. 43 Vgl. Jos 22,22. 44 bNedarim 27a. 45 Dt 22.25ff: Wenn aber jemand ein verlobtes Mädchen auf freiem Felde trifft und ergreift sie und wohnt ihr bei, so soll der Mann allein sterben, der ihr beigewohnt hat, aber dem Mädchen sollst du nichts tun, denn sie hat keine Sünde getan, die des Todes wert ist; sondern dies ist so, wie wenn jemand sich gegen seinen Nächsten erhöbe und ihn totschlüge. Denn er fand sie auf freiem Felde und das verlobte Mädchen schrie und niemand war da, der ihr half. 46 Wörtlich: sein ganzes Schatzhaus. Die Geschichte eines Jerusalemers 383 und Freude verbreiteten. Sie war schön von Gestalt und hatte ein schönes Gesicht. 47 Als sie ihn sah, sagte sie: ‹ Komm und tritt ein. › Er ging zu ihr hinein und stellte sich vor sie. Sie sagte zu ihm: ‹ Du dummer Mann! Wie hast du das Gebot meines Vaters Aschmedai übertreten! Was willst du bei den Frauen? Du solltest dir wirklich klarmachen, dass du heute sterben wirst. Denn mein Vater weiß schon darüber Bescheid, dass du diese Kammer betreten hast. Und nun kommt er mit dem gezückten Schwert in der Hand. 48 Er wird dich töten. › Als der Mann das hörte, warf er sich ihr zu Füßen und küsste diese. Er fiel vor ihr nieder und weinte und flehte sie an, ihn zu retten aus der Hand ihres Vaters, so dass er von ihm nicht getötet werde. Denn er war dort nicht aus Unzüchtigkeit eingetreten, und er hatte nicht beabsichtigt, den Mädchen etwas anzutun. Als die Tochter Aschmedais das sah, sagte sie zu ihm: ‹ Da du ein Sohn der Tora bist, wird dich deine Demut heute retten. Verlasse jetzt diese Kammer. Wenn mein Vater kommt und zu dir sagt «warum nur hast du mein Gebot übertreten und bist zu meiner Tochter eingetreten? « und wenn er dich dann töten will, sag zu ihm: «Mein Herr, ich wäre nicht eingetreten, wenn ich nicht deine Tochter sehr lieben würde, und ich bitte dich darum, sie mir zur Frau zu geben.« Ich weiß, dass er mit deinem Vorschlag einverstanden sein wird. 49 Er wird mich dir geben. Denn seit du bei uns bist, hat er sich vorgenommen, mich dir zu geben, da du ein Sohn der Tora bist. Es ist aber nicht Brauch, dass die Frau den Mann fordert. Eine Schande wäre es für einen König wie ihn, dich darum zu bitten, dass du seine Tochter nimmst. › Als der Mann ihre Worte hörte, da freute er sich in seinem Herzen. Er dachte noch darüber nach, als er die Kammer verließ. Da kam Aschmedai mit seinem blanken Schwert in der Hand. Er sagte zu dem Mann: ‹ Warum hast du mein Gebot übertreten? Nun ist dein Tag gekommen, 50 an dem ich dir alles vergelten werde, was du getan hast. › Der Mann antwortete: ‹ Mein Herr, ich wäre nicht eingetreten, wenn ich nicht deine Tochter so sehr begehren würde. Ich bitte 47 Vgl. Gen 29,17. Die Dämonin wird auf die gleiche Weise beschrieben wie Rachel. 48 Vgl. die Geschichte von Bileams Eselin in Num 22,21, die in gewisser Weise klüger ist als ihr ungehorsamer Herr. In Num 22,23 heißt es: Und die Eselin sah den Engel des Herrn auf dem Wege stehen mit einem bloßen Schwert in seiner Hand. Und die Eselin wich vom Weg ab und ging auf dem Felde. Auch in Jos 5,13 ist es ein Abgesandter Gottes, der mit gezücktem Schwert einem Menschen erscheint. 49 In Gen 34 wird davon erzählt, dass der unbeschnittene Sichem Jakobs Tochter Dina vergewaltigt und als Bedingung dafür, dass er die gewünschte Hochzeit vollziehen darf, versprechen muss, sich mit seinem ganzen Volk beschneiden zu lassen. Gen 34,18: Die Rede gefiel Hamor und seinem Sohn gut. Die geplante Allianzbildung der beiden Völker scheitert aber daran, dass zwei von Dinas Brüdern die Fremden ermorden. 50 Jer 50,31: Denn dein Tag ist gekommen, die Zeit deiner Heimsuchung. Anhang 384 dich, gib sie mir zur Frau, denn sie gefällt mir. 51 Als Aschmedai das hörte, da freute er sich sehr und sagte zu ihm: ‹ Ich gebe sie dir gern. Warte nur auf mich, bis ich aus dem Krieg zurückkomme. Von nun an gebe ich dir die Erlaubnis, die Kammer zu betreten, in der sich meine Tochter aufhält, mit ihr zu spielen und sie zu umwerben, wie es dir beliebt. › Aschmedai kehrte sogleich zurück, eroberte das Land und verwüstete es. Danach sagte er zu seinen Soldaten: ‹ Kommt mit mir zur Hochzeit meiner Tochter, die ich einem weisen und bedeutenden Mann gebe, einem Sohn der Tora. › Was taten sie? Sie sammelten alle Vögel und Tiere, die sie in der Wüste fanden, bis sie nicht mehr gezählt werden konnten, und brachten sie mit zum Gelage. Der König Aschmedai gab dem Mann großen Reichtum, der nicht ermessen oder gezählt werden konnte, und sie schrieben die Ketuba. Der Bräutigam und alle Würdenträger des Königs unterschrieben sie, und der König bereitete ihnen ein großes und gewaltiges Gelage, wie es einem König gebührte. Am Abend übergab Aschmedai seine Tochter dem Mann nach der Sitte des Landes, und die beiden gingen gemeinsam in ein Zimmer. Die Tochter des Königs sagte zu dem Mann: ‹ Denke nicht insgeheim daran, dass ich eine Dämonin bin, während du ein Mensch bist. Alles wirst du an mir gestaltet finden wie bei einer Frau, es fehlt mir nichts. Hüte dich aber, zu mir zu kommen, wenn du mich nicht begehrst. › Er antwortete: ‹ Ich liebe dich wie meinen Augapfel. Niemals werde ich dich verlassen. › Sie sagte: ‹ Beschwöre mir dies. › Er schwor es ihr, schrieb den Schwur nieder und unterschrieb das Dokument. Danach kam er zu ihr und zeugte mit ihr einen Sohn. Er beschnitt ihn nach acht Tagen, so wie die Tora es verlangt, und gab ihm den Namen Schlomo nach dem König Schlomo. Der Mann blieb zwei Jahre lang. Eines Tages trieb er Scherze mit seinem Sohn Schlomo. Auch seine Frau, die Tochter Aschmedais, war dort. Der Mann seufzte auf. Seine Frau fragte ihn: ‹ Warum hast du geseufzt? › Er sagte zu ihr: ‹ Ich habe wegen meines Sohnes und wegen meiner Frau geseufzt, die ich in meinem Land zurückgelassen habe. › Sie sagte zu ihm: ‹ Was fehlt dir? Findest du mich nicht schön? Oder fehlt dir Reichtum oder Ehre? Sag es mir, dann werde ich deinen Willen erfüllen. › Er sagte zu ihr: ‹ Mir fehlt nichts. Nur wenn ich meinen Sohn Schlomo sehe, erinnere ich mich an die anderen Kinder. › Sie sagte zu ihm: ‹ Habe ich dir denn nicht gesagt, dass, wenn meine Liebe nicht in deinem Herzen eingegraben ist, du mich nicht zur Frau nehmen sollst? Und nun seufzt du um deine erste Frau und erinnerst dich an sie. Tu das nicht noch einmal. › Er sagte zu ihr: ‹ Ich werde mich davor hüten. › 51 Eigentlich: Sie ist sehr aufrichtig in meinen Augen. Als Simson eine Frau aus einem feindlichen Volk, eine Philisterin, zur Frau nehmen will, sagt er in Ri 14,3: Nimm mir diese, denn sie gefällt meinen Augen. Die Geschichte eines Jerusalemers 385 Einige Tage später seufzte der Mann abermals. Sie sagte zu ihm: ‹ Wie lange noch wirst du nicht davon ablassen, um deine erste Frau und um ihre Kinder zu seufzen? Da dies aber nun einmal so ist, werde ich dich zu deiner Frau und zu deinen ersten Kindern bringen. Sag mir aber eine Frist: Wann wirst du gehen und wann wirst du zurückkehren? › Er sagte zu ihr: ‹ Gib du mir eine Zeit vor. › Sie sagte zu ihm: ‹ Ich gebe dir ein Jahr. Danach sollst du zu mir zurückkehren. › Er antwortete: ‹ Ich werde es so machen, wie du es gesagt hast. › 52 Er leistete ihr einen Schwur darauf. Außerdem schrieb er den Schwur auf, unterschrieb das Dokument und gab es in ihre Hand. Und sie bewahrte alle Schwurdokumente auf, die er für sie angefertigt hatte, damit sie ein Zeugnis habe. Was tat sie? Sie lud all ihre Knechte ein und richtete ein großes Gelage aus. Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, sagte sie zu ihnen: ‹ Mein Herr, dieser mein Ehemann, sehnt sich danach, seine erste Frau und ihre Kinder wiederzusehen, die er an diesem und jenem Ort hat. Nun, wer ist in der Lage, ihn dorthin zu bringen? › Einer von ihnen antwortete: ‹ Ich werde ihn in zwanzig Jahren hinbringen. › Ein anderer antwortete: ‹ Ich in zehn. › Wieder ein anderer antwortete: ‹ Ich brauche nur ein Jahr. › Da antwortete einer, der am Ende der Tafel saß und auf einem Auge blind und außerdem bucklig war: ‹ Ich werde ihn in einem einzigen Tag dorthin bringen. › Sie sagte zu ihm: ‹ Dich will ich. Gib aber acht, dass du ihm keinen Schaden zufügst. Tu ihm nichts zuleide 53 und befördere ihn gemächlich. Denn er ist dein Herr und ein Sohn der Tora, und er besitzt nicht genug Kraft, etwas Böses zu erleiden. › Er sagte zu ihr: ‹ Ich werde nach deinen Worten handeln. › Heimlich sagte sie zu ihrem Ehemann: ‹ Mein Herr, sieh zu, dass du diesen da nicht erzürnst, denn er ist jähzornig. Aufgrund seiner Wütereien ist er blind. › Er sagte zu ihr: ‹ Ich werde ihn durch nichts erzürnen. › Sie sagte: ‹ Geh in Frieden. 54 Achte nur auf deinen Schwur. › Was tat der Blinde und Bucklige? Er ließ den Mann auf seinen Schultern reiten und brachte ihn zu seiner Stadt. Er ließ ihn wohlbehalten außerhalb der Stadt am Brückenkopf nieder. Als der Morgen anbrach, nahm der Dämon die Gestalt eines Menschen an. Gemeinsam betraten sie die Stadt. Sie trafen einen Nichtjuden. Dieser erkannte den Mann und sagte: ‹ Bist du dieser und jener Mensch, der über das Meer gefahren und dessen Schiff untergegangen ist? › Er antwortete ihm: ‹ Der bin ich. › Der Nichtjude sagte zu ihm: ‹ Ich werde eilen, um dies deiner Frau zu verkünden, die schon seit einiger Zeit als Witwe lebt, und deinen Verwandten werde ich es auch sagen. › Er ging und verkündete es ihnen, und sie freuten sich sehr. 52 Vgl. Gen 47,30. 53 In Gen 22,12 erhält Abraham von einem Engel den Befehl, seinen Sohn doch nicht zu opfern, mit den Worten: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts. 54 Vgl. Ex 4,18. Anhang 386 Voller Freude kamen seine Verwandten und Bekannten heraus und fragten ihn nach den schlimmen Dingen, die ihm widerfahren waren. Er erzählte ihnen vom Anfang bis zum selbigen Tag alles, was ihm geschehen war, und dass Gott ihn gerettet habe. 55 Er betrat sein Haus, und der bucklige Dämon kam in Gestalt eines Menschen mit ihm. Der Mann küsste seine Frau und seine Kinder vor seinen Augen. Er richtete ein Gelage aus für all seine Lieben, Verwandten und Bekannten. Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, fragte der Mann den buckligen Dämon, der ihn nach dem Gebot Aschmedais dorthin gebracht hatte: ‹ Warum bist du auf einem deiner Augen blind? › Der andere antwortete ihm: ‹ Ein Vers sagt ausdrücklich: Wer seinen Mund und seine Zunge behütet, der behütet sein Leben vor Drangsal. 56 Warum beschämst du mich vor so vielen Leuten? Haben denn die Weisen nicht gesagt: Wer aber seinen Nächsten öffentlich beschämt, hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt. › 57 Der Mann aber fuhr fort, ihn zu ärgern und sprach: ‹ Und warum bist du bucklig? › Der andere antwortete ihm: ‹ Wie ein Hund zurückkehrt zu dem, was er erbrochen hat, so ist ein Tor, der seine Dummheit wiederholt. 58 Trotzdem werde ich dir die Wahrheit erzählen. Da du gefragt hast, warum ich blind bin - das ist deshalb so, weil ich jähzornig bin. Einst stritt ich mit meinem Freund. Da verletzte mich mein Freund mit einem Messer und blendete mein Auge. Und da du gefragt hast, warum ich bucklig bin - geh und frage den Künstler, der mich gemacht hat. › 59 Der Mann sagte zu ihm: ‹ Ich habe dich beleidigt. Verzeih mir. › Der andere antwortete ihm: ‹ Ich werde dir niemals verzeihen, dass du mich beleidigt hast. › Der Mann sagte zu seinen Angehörigen: ‹ Gebt ihm zu trinken! › Der Dämon sagte: ‹ Ich werde niemals etwas essen oder trinken, was dir gehört. Gebiete nun aber, den Speisesegen zu sprechen, so dass ich gehen und in meine Heimat zurückkehren kann. › Nachdem sie den Speisesegen gesprochen hatten, sagte er zu dem Mann: ‹ Was möchtest du meiner Herrin, deiner Frau, ausrichten lassen? › Er sagte zu ihm: ‹ Geh und sage ihr, dass ich niemals zu ihr zurückkehren werde, da sie nicht meine Frau ist und ich nicht ihr Mann. 60 Er sagte zu ihm: ‹ Sag das nicht, und brich deinen Schwur nicht! › Er erwiderte: ‹ Ich fürchte keinen Schwur, den ich ihr geschworen habe. › Er brachte seine erste 55 Vgl. Ex 18,8. 56 Spr 21,23: Wer Mund und Zunge bewahrt, der bewahrt sein Leben vor vor Not. 57 bBaba Metzia 59a. 58 Spr 26,11: Wie ein Hund wieder frisst, was er gespien hat, so ist der Tor, der seine Torheit immer wieder treibt. 59 Vgl. bTaanit 20a/ b. 60 In Hos 2,4 wird das treulose Israel mit einer Prostituierten verglichen: Fordert von eurer Mutter - sie ist ja nicht meine Frau und ich bin nicht ihr Mann! dass sie die Zeichen ihrer Hurerei von ihrem Angesichte wegtue und die Zeichen ihrer Ehebrecherei zwischen ihren Brüsten [. . .]. Die Geschichte eines Jerusalemers 387 Frau vor ihn, küsste und umarmte sie vor seinen Augen und sagte zu ihm: ‹ Dies ist meine Frau, denn sie ist eine Frau und ich bin ein Mann. Deine Herrin aber ist eine Dämonin. Sag ihr daher, dass ich niemals zu ihr zurückkehren werde. › Als der Dämon das sah, ging er hinaus und kehrte voller Zorn zu seiner Herrin zurück. Als sie ihn sah, fragte sie ihn: ‹ Was hat mein Herr und Ehemann dir gesagt? › Er antwortete ihr: ‹ Du fragst nach einem Mann, der dich nicht liebt, sondern verschmäht. Er hat gesagt, dass er niemals zu dir zurückkehren werde, da du nicht seine Frau seist und er nicht dein Mann sei. › Und er erzählte ihr, was ihm mit ihrem Ehemann geschehen war. Sie sagte zu ihm: ‹ Ich glaube dir nicht. Ich glaube nicht an deine Worte. Alles, was er gesagt hat, hat er nur gesagt, um dich zu ärgern und in Wut zu versetzen. Ich weiß von ihm, dass er ein Sohn der Tora ist. Er wird seinen Schwur niemals brechen. Ich werde warten, bis die Zeit, die er mir gegeben hat, um ist. Dann werden wir weitersehen. › Sie wartete, bis die Frist eines Jahres, die er mit ihr ausgemacht hatte, vergangen war. Danach rief sie nach jenem Knecht und sagte zu ihm: ‹ Geh und bring mir meinen Herrn und Ehemann. › Er sagte zu ihr: ‹ Habe ich dir nicht von ihm bestellt, dass er niemals zu dir zurückkehren will? › Sie sagte zu ihm: ‹ Als er dies zu dir gesagt hat, war die Zeit seines Schwures noch nicht gekommen. Jetzt aber geh und sage ihm, dass die Zeit seines Schwures gekommen ist, und dass er zu mir zurückkommen soll. › Auf ihr Gebot hin ging er zu dem Mann. Er sagte zu ihm: ‹ Meine Herrin erkundigt sich nach deinem Wohlergehen und ermahnt dich, zu ihr zurückzukehren, denn die Zeit deines Schwures ist gekommen. › Der Mann antwortete: ‹ Geh und sag ihr, dass ich nach Fragen über den Gesundheitszustand kein Verlangen habe. Ich werde niemals zu ihr zurückkehren. › Als er das hörte, kehrte der Dämon zu seiner Herrin zurück und richtete ihr aus, was ihr Ehemann gesagt hatte. Da ging sie und erzählte alles ihrem Vater Aschmedai. Sie bat ihn um Rat, wie in dieser Sache zu verfahren sei. Ihr Vater antwortete ihr: Vielleicht ist es, weil er sich mit deinem blinden Knecht gestritten hat, dass er nicht mit ihm kommen will. Zudem wäre es keine Ehre für ihn, von einem blinden und buckligen Mann begleitet zu werden. Tu aber Folgendes: Schicke ehrenwerte Boten. Sie sollen ihn wegen seines Schwures verwarnen. › So tat sie es. Die Boten gingen und verwarnten den Mann. Er sagte zu ihnen: ‹ Ich werde niemals zu ihr zurückkehren. › Sie sagten zu ihm: ‹ Bist du denn kein Sohn der Tora? Warum brichst du deinen Schwur? Die Zeit ist schon um, die du ihr gegeben hast. Du übertrittst das Gebot: Ihr sollt nicht falsch bei meinem Namen schwören. 61 Außerdem übertrittst du das Gebot, das da heißt: Er soll sie 61 Vgl. Lev 19,12. Anhang 388 an Nahrung, Kleidung und Beischlaf nicht Mangel leiden lassen. › 62 Er antwortet ihnen das Gleiche wie beim ersten Mal. Die Boten gingen und richteten ihr aus, was er gesagt hatte. Noch einmal machte sie es so, dass sie viele und sehr ehrwürdige Boten schickte. Denn sie dachte und sprach bei sich: ‹ Vielleicht waren diese Boten in seinen Augen nicht anständig genug. › Sie gingen zu ihm und verwarnten ihn, so wie es auch die ersten getan hatten. Er antwortete ihnen: Sprecht nicht weiter. 63 Ich werde niemals zu ihr zurückkehren. › Sie kehrten zurück und sagten ihr, dass sie nicht länger Boten schicken solle. Er begehre sie nicht, sondern verachte sie. Als sie dies hörte, ging sie und erzählte alles ihrem Vater. Sie fragte ihn um Rat, was sie jetzt tun solle. Ihr Vater sagte zu ihr: ‹ Ich werde meine Soldaten sammeln und zu ihm gehen. Wenn er mitkommen will, ist es gut, und wenn nicht, dann töte ich ihn und alle Einwohner seiner Stadt dazu. › Sie sagte zu ihm: ‹ Gott möge verhindern, mein Herr, dass du zu ihm gehst! Schicke lieber von deinen Dienern mit, wer dir gut erscheint, und ich werde zu ihm gehen. Vielleicht nimmt er mich freundlich auf 64 und kehrt mit mir zurück. › Das tat der König. Er gab ihr Soldaten mit und sie gingen mit ihr zur Heimat des Mannes. Auch ihren Sohn Schlomo nahm sie mit sich. Als sie dort ankamen, war es Nacht. Ihre Soldaten wollten die Stadt betreten, um ihn und alle übrigen Einwohner zu töten. Sie ließ sie aber die Stadt nicht betreten, um das zu tun. Sie sagte zu ihnen: ‹ Jetzt ist es Nacht und jedermann schläft. Ihr wisst, dass sie vor dem Schlafengehen ihre Seelen dem Heiligen empfehlen, gesegnet sei er. Wir können ihnen nichts Böses tun, solange sie in der Hand des Herrn sind. Nur so werden wir mit ihnen verfahren und nicht sündigen: Wir werden bis zum Morgen auf sie warten, und am Morgen betreten wir die Stadt. Wenn wir dort von ihnen solche vorfinden, die tun, was wir von ihnen wollen, dann ist es gut. Und wenn nicht, dann werden wir wissen, was wir mit ihnen zu tun haben. › Sie antworteten ihr: ‹ Unsere Herrin, tu, was dir gut erscheint. › Dann sagte sie zu ihrem Sohn: ‹ Mein Sohn Schlomo, geh hinein zu deinem Vater und sag ihm, dass ich seinetwegen hier bin, und dass er seinen Schwur nicht brechen, sondern mit mir zurückkehren soll. › Der Jüngling ging und fand seinen Vater schlafend in seinem Bett vor. Er weckte ihn auf. Der Mann fuhr zitternd auf und sagte zu ihm: ‹ Wer bist du, dass du mich geweckt hast? › Er sagte zu ihm: ‹ Ich bin dein Sohn Schlomo, der Sohn der Tochter des Königs 62 Ex 21,10: Nimmt er sich aber noch eine andere, so soll er der ersten an Nahrung, Kleidung und ehelichem Recht nichts abbrechen. 63 Vgl. 1 Sam 2,3. 64 Gen 32,21: Jakob hofft, dass Esau sich mit ihm versöhnt: Vielleicht wird er mich annehmen. Die Geschichte eines Jerusalemers 389 Aschmedai. › Als er das hörte, stand er erschrocken auf, umarmte und küsste ihn und sagte zu ihm: ‹ Warum bist du hierhergekommen? › Er erwiderte: ‹ Meine Mutter, deine Frau, ist deinetwegen hierhergekommen, damit du mit ihr gehst. Sie hat mich geschickt, um dir zu sagen, dass sie hier ist. › Er antwortete ihm: ‹ Ich gehe nicht mit ihr! Sie wird niemals meine Frau sein und ich nicht ihr Mann, denn ich bin ein Mensch und sie ist eine Dämonin. Diese beiden Arten können nicht recht beieinander sein, denn das eine passt nicht zum anderen. › Sein Sohn antwortete ihm: ‹ Du sprichst nicht angemessen! Bei allem Respekt - die ganze Zeit über, als du bei uns warst, hat dir niemand etwas getan. Nichts ist dir widerfahren, was nicht recht gewesen wäre, und all die Dämonen haben dir nichts als große und gewaltige Ehre erwiesen. Auch meine Mutter hat dich sehr geehrt. Und ihr Vater Aschmedai hat dich zu einem großen Fürsten ernannt, der über allen Dämonen steht, und er hat ihnen befohlen, nach deinem Willen zu handeln. Und da dies so ist - warum ärgerst du dich über sie und verschmähst sie? Erinnerst du dich nicht der Gnade, die man dir erwiesen hat, 65 als mein Großvater Aschmedai dich aus der Hand der Dämonen rettete, als sie dich töten wollten? Denn so lautete das Urteil aus ihrem Mund. Und auch meine Mutter hat dich gerettet aus der Hand ihres Vaters, der dich töten wollte, weil du sein Gebot übertreten hattest. Mehr noch, warum brichst du deinen Schwur, den du geschworen hast, dass du sie nämlich niemals verlassen würdest? Du hast auch gesagt, dass du dich nicht länger als ein Jahr lang aufhalten würdest, und dass du danach zu ihr zurückkehren würdest. Und nun, mein Vater, höre auf mich. Dann wird es dir gut ergehen. 66 Kehre mit meiner Mutter zurück und fürchte dich nicht vor irgendeiner schlimmen Sache, die man dir antun könnte. › Sein Vater antwortete ihm: ‹ Mein Sohn Schlomo, hör auf damit, noch weiter mit mir über diese Sache zu sprechen und rede nicht länger darüber, denn ich werde in dieser Sache niemals auf dich hören und nie mit ihr zurückkehren. All die Schwüre, die ich ihr geschworen habe, tat ich voller Grauen und in der Furcht, von ihnen getötet zu werden. Die Schwüre wurden unter Zwang geschworen und sind daher ohne Bedeutung. › Sein Sohn Schlomo antwortete ihm: ‹ Ich werde nicht weiter in dieser Sache zu dir sprechen, weil du es mir so befiehlst. Du sollst aber wissen, dass du dich mit deinem Verhalten ins Verderben stürzt. › Der Knabe ging und kehrte zu seiner Mutter zurück, und er erzählte ihr alles. Als sie die Worte ihres Sohnes hörte, da entbrannte sie vor Zorn und sagte: ‹ Noch immer will ich ihn nicht töten. Ich werde es nicht tun, bis ich mit ihm in Anwesenheit der Gemeinde gesprochen habe, und bis ich die Argumentation 65 Vgl. Ps 106,7. 66 In Jer 38,20 rät der Prophet dem König: Gehorche doch der Stimme des Herrn, die ich dir verkünde, so wird dir ’ s wohlgehen und du wirst am Leben bleiben. Anhang 390 aus seinem Mund vernommen habe und sehen kann, wie die Gemeinde sich in dieser Sache verhält und wie man in dieser Angelegenheit urteilen wird. › Sie wartete bis zum Morgen. Als sie wusste, dass die Gemeinde in der Synagoge war, ging sie mit all ihren Fürsten und Würdenträgern dorthin und sagte zu ihnen: ‹ Wartet alle vor der Synagoge auf mich. Ich werde eintreten und hören, was er mir antwortet und was er zu tun gedenkt. › Sie trat ein, und als sie die Psuke de-Simra beendet hatten, sagte sie zum Vorsänger: ‹ Warte und bete nicht weiter, bis ich gesagt habe, was es zu sagen gibt. › Er antwortete: ‹ Sprich! › Sie sagte zur Gemeinde: ‹ Hört, all ihr Völker. 67 Richtet für mich über den Mann, dem ich zürne. Sein Name ist Dihon bar Salmon (denn so lautete sein Name). Dieser Mann ist bei uns niedergefallen wegen seiner Sünden. Mein Vater hat ihm Gnade erwiesen, als er ihn aus der Hand der Dämonen rettete, die ihn töten wollten. Ich wiederum habe ihn aus der Hand meines Vaters gerettet, der ihn dafür töten wollte, dass er sein Gebot übertreten hat. Er gab mich ihm zur Frau und ernannte ihn zu einem bedeutenden Fürsten über all seine Soldaten. Er nahm mich zur Frau nach dem Glauben Mosis und Israels. Er schrieb mir eine Ketuba mit einer hohen Summe und schwor mir, dass er mich niemals verlassen würde, sein ganzes Leben lang nicht. Außerdem hat er mir geschworen, als er von mir die Erlaubnis einholen wollte, hierher zu seiner ersten Frau zurückzukehren. Er schwor, dass er nicht länger bleiben werde als ein Jahr, und dass er dann zu mir zurückkehren werde. Hier sind die Eide, festgehalten in diesen Dokumenten, die er unterschrieben hat. Nun will er mir Gutes mit Bösem vergelten 68 und nicht mit mir zurückkehren. Ich aber fordere jetzt, dass ihr ihn fragt, warum er so handelt. Fällt an diesem Morgen ein Urteil über diese Eiddokumente. › Die Richter der Gemeinde sagten zu ihm: ‹ Warum kehrst du nicht mit ihr zurück, die dir so viel Gutes getan hat? Mehr noch: Wie kannst du die beiden Schwüre brechen, die du mit eigener Hand unterzeichnet hast? › Er antwortete ihnen: ‹ Alles was ich getan und geschworen habe, geschah unter Zwang und aus Angst. Denn ich wusste, wenn ich nicht nach ihrem Willen handeln würde, würden sie mich töten. Deshalb habe ich mich nach den Schwüren erkundigt und man hat sie mir erlassen. Ich will nicht mit ihr zurückkehren. Denn es entspricht nicht den üblichen Bräuchen, dass ein Mensch eine Dämonin heiratet und Dämonen zeugt. Vielmehr will ich zurückkehren zu meiner Frau, die ein Mensch ist wie ich, und ich will fruchtbar sein und mich 67 Mich 1,2: Höret, alle Völker! Merk auf, Land und alles, was darinnen ist! Denn Gott der Herr hat mit euch zu reden, ja, der Herr aus seinem heiligen Tempel. 68 Ps 38,21: Die mir Gutes mit Bösem vergelten, feinden mich an, weil ich mich an das Gute halte. Die Geschichte eines Jerusalemers 391 vermehren, 69 so wie es in unserer Tora geschrieben steht: Ich will ihm eine Hilfe machen, die zu ihm passt. 70 Diese da passt nicht zu mir, und daher begehre ich nicht, mit ihr zurückzukehren. Soll sie doch gehen und sich einen von den Dämonen nehmen, der so ist wie sie, dann wird Art bei Art sein. 71 Ich aber werde bei meiner ersten Frau bleiben, die die Frau meiner Jugend ist. › 72 Die Tochter Aschmedais sagte zu den Richtern: ‹ Erkennt ihr nicht an, dass einer, der sich von seiner Frau scheiden lassen will, ihr einen Scheidebrief schreiben und in ihre Hand geben muss, und dass er ihr ihre Ketuba auszahlen muss? › Die Richter antworteten: ‹ Wahrhaftig, so ist es richtig und recht, 73 denn so lautet das Gesetz. › Sie sagte zu ihnen: ‹ Wenn es so ist, dann soll er mir meinen Scheidebrief schreiben und mir meine Ketuba auszahlen. › Sie holte die Ketuba hervor, und man sah, dass die darin festgehaltene Summe maßlos groß war. Die Richter sagten zu dem Mann: ‹ Entweder, du zahlst ihr diese Ketuba aus, oder du kehrst mit ihr zurück. › Er antwortete ihnen: ‹ Seht, all der Reichtum ist in ihren Händen. Ich verzichte für sie auf alles. Ich gebe ihr ihren Scheidebrief, denn ich werde niemals mit ihr zurückkehren. › Die Richter sagten zu ihm: ‹ Siehe, so sieht dein Urteilsspruch aus, entweder du gehst mit ihr oder du gibst sie frei und zahlst ihr ihre Ketuba aus. Wenn du das nicht tust, erhält sie die Erlaubnis, alles mit dir zu tun, was ihr Herz begehrt. › Die Dämonin sagte zu ihnen: ‹ Da ich sehe, dass ihr das Recht anerkennt und weil ihr ihn nach der Halakha 74 verpflichtet, begehre ich nun nicht länger, dass er unter Zwang mit mir geht. Schließlich hat er mich verspottet. Ich bitte euch aber: Sagt ihm, dass er mich küssen soll. Dann werde ich in meine Heimat zurückkehren. › Sie sagten zu ihm: ‹ Tu ihren Willen und küsse sie, dann befreit sie dich von all deinen Verpflichtungen. › Er ging hin und küsste sie. Da erwürgte sie ihn und er starb. Sie sagte zu ihm: ‹ Dies ist dein Lohn dafür, dass du falsch geschworen hast im Namen des Herrn und dass du gelogen hast in Bezug auf das Gebot deines Vaters, und dafür, dass du mich verspottet hast und mich verlassen wolltest, so dass ich als Witwe eines Lebenden zurückbliebe. 75 Nun wird deine Frau eine 69 Gen 1,28. 70 Gen 2,18. 71 Vgl. bChullin 97b. 72 Jes 54,6 f.: Denn der Herr hat dich zu sich gerufen wie eine verlassene und von Herzen betrübte Frau; und die Frau der Jugendzeit, wie könnte sie verstoßen bleiben! , spricht dein Gott. Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 73 Zitat aus dem Morgengebet. Vgl. Krupp , Tochter, S. 66. 74 Halakha: Religionsgesetz. 75 Die Witwe eines Mannes, der noch lebt, entspricht einer von ihrem Mann verlassenen Frau. Über die zehn Nebenfrauen Davids wird in 2 Sam 20,3 erzählt, dass Anhang 392 Witwe und einsam sein. Das Beispiel lehrt: Wenn mir jemand meinen Mann und Gemahl wegnehmen will, dann wird er sterben. 76 Er wird nichts Gutes und nichts Freudiges tun, weder für mich noch für jemand anderen. › Danach sagte sie zu der Gemeinde: ‹ Wenn ihr nicht wollt, dass ich euch töte, dann nehmt diesen meinen Sohn Schlomo und gebt ihm die Tochter des bedeutendsten Mannes unter euch zur Frau. Macht ihn zu einem Fürsten unter euch, zum Oberhaupt und Obersten. Denn er ist einer von euch und wird bei euch bleiben. Nachdem ich seinen Vater getötet habe, möchte ich ihn nicht länger bei mir haben als Quelle der Erinnerung und der bitteren Enttäuschung. Ich werde ihm großen Reichtum vermachen, so dass ihm nichts fehlt. Und ihr sollt dafür sorgen, dass er vom Erbe des Besitzes seines Vaters mehr erhält als seine Brüder. › So tat es die Gemeinde. Sie machten ihn zum Fürsten, zum Oberhaupt und Obersten und zum König über sich. Und die Dämonin kehrte in ihre Heimat zu ihrem Vater zurück. Hieraus folgt, dass kein Mensch dem Schwur des Herrn und dem Gebot des Vaters zuwiderhandeln soll. Ende. der König sie bis zu ihrem Tod in Gewahrsam nehmen ließ: Als aber der König David heimkam nach Jerusalem, nahm er die zehn Nebenfrauen, die er zurückgelassen hatte, um das Haus zu bewahren, und tat sie in ein besonderes Haus und versorgte sie; aber er ging nicht ein zu ihnen. Und so waren sie eingeschlossen bis an ihren Tod und lebten wie Witwen. 76 Eigentlich bezieht sich die Drohung auf den, der der Frau den Mann nimmt. In diesem Zusammenhang ergibt der Bezug auf den verführten Ehemann mehr Sinn. Die Geschichte eines Jerusalemers 393 Die Geschichte Hoscheas Erzählung enthalten in: MS heb. 28 0 3182 (IMHM Nr. B 499 (28 0 3182)) Aufbewahrungsort: The National Library of Israel, Jerusalem Beschreibstoff: Papier Format und Schriftart: Quarto, 15x19 cm, 178 Blätter, Aschkenasische Kursive Entstehungsort und Entstehungszeit: Aschkenas, erste Hälfte des 16. Jahrhunderts Schreibsprache: Hebräisch und jiddisch Inhalt: Die inhaltliche Zusammenstellung der Handschrift ist disparat. Es finden sich lyrische Texte wie das Gedicht ‹ Der Streit des Weins mit dem Wasser › , ein aggadischer Text über den König Salomo und die Königin von Saba, Bemerkungen zum Beschneidungsritual, grammatikalische und lexikalische Texte, eine Anzahl von anekdotischen Erzählungen über verschiedene Gelehrte, eine hebräische Übersetzung der aramäischen Teile des Danielbuches etc. Literatur: Nehemias Brüll : Beiträge zur jüdischen Sagen- und Spruchkunde im Mittelalter, in: Jahrbücher für Jüdische Geschichte und Literatur 9 (1889), S. 1 - 71. Simha Asaf : On various Hebrew Manuscripts, in: Kiryat Sefer 11,4 (1935), S. 492 - 498 [hebr.]. Joseph Dan : ‹ Ma ’ aseh Yerushalmi › and Ms. Heb. 8 0 3182, in: Kiryat Sefer 51,3 (1976), S. 492 - 498 [hebr.]. Eine Transkription der Erzählung befindet sich in Dan , Ma ’ aseh, S. 496 - 498. Die Erzählung wurde bislang nicht übersetzt. Übersetzung der ‹ Geschichte Hoscheas › (Fol. 125r-126v): Es war einmal ein frommer Mann namens Hoschea. 1 Der junge Mann war von angenehmem Aussehen und handelte stets richtig. Er nahm sich eine schöne und gottesfürchtige Frau von guter Abstammung, und sie lebten zusammen, bis sie schwanger wurde. Doch ihre Besitztümer schwanden dahin. Als der Mann das sah, sagte er zu seinen Eltern: ‹ Was sollen wir nur tun? Wir haben fast nichts mehr zu essen. Am besten wird es sein, wenn ich mich dem Handel widme, dann benötigen wir keine Hilfe. › Sie sagte zu ihm: ‹ Tu, was deiner Ansicht nach gut ist. › Sogleich sammelte er all seine Besitztümer. Nur einen kleinen Teil nahm er davon aus und überließ den Rest seiner Frau. Er ging zu einem am Meer gelegenen Land. Dort sah er einen frommen Mann. Er erkannte ihn an seinem Erfolg und an seinen guten Taten. Hoschea beteiligte sich an seinem Geschäft und machte großen Gewinn, bis sich ihr Kapital vervielfacht hatte. Als Hoschea das sah, sagte er zu dem frommen Mann: ‹ Ich weiß von dir, dass du fromm und vertrauenswürdig bist. Ich will zu diesem und jenem Ort gehen, und ich überlasse dir meinen gesamten Anteil in unserem gemeinsamen Geschäft. Ausgenommen davon ist ein kleiner Teil, den ich mit mir nehmen werde. Kein Mensch weiß, was ihm zustoßen und wann er sterben wird. Deshalb werde ich dir etwas geben, woran du sehen kannst, dass ich tot bin. Wenn ich einen Sohn oder eine Tochter habe, sollen sie das hinterlegte Geld erhalten, denn ich habe meine Frau schwanger zurückgelassen. › Er antwortete ihm: ‹ Einverstanden. Aber was für ein Zeichen werde ich von dir erhalten? › Sogleich pflanzte er einen Baum im Garten des Frommen und sagte zu ihm: ‹ Wenn du siehst, dass dieser Baum verdorrt ist, dann wisse, dass ich tot bin. › Er nahm einen kleinen Teil seines Besitzes mit sich und ging an einen anderen Ort. Auch dort fand er einen Mann, an dessen Geschäft er sich beteiligte. Sie wurden sehr reich, und auch dort hinterlegte Hoschea viel Geld und pflanzte einen Baum auf seinen Namen, so wie er es auch für den ersten Mann getan hatte. Und wieder nahm er einen kleinen Teil seines Besitzes mit sich und ging zu einem dritten Ort. Auch dort handelte er so wie am ersten. Danach ging er zu einem vierten Ort und beteiligte sich am Geschäft eines weiteren Mannes. Er sah aber, dass dieser nicht so anständig war. Sie erwarben großen Reichtum. Hoschea nahm seinen Anteil und ging zurück nach Hause. Dort fand er einen Sohn vor, der ihm geboren worden war, und er gab ihm den 1 Der Vater wird zu Beginn meist Joschia ( י ו ש י ע ) genannt, im Gegensatz zu seinem Sohn Hoschea ( ה ו ש ע ). Da es allerdings später heißt, der Protagonist habe seinen eigenen Sohn nach dessen Großvater Hoschea genannt, ist davon auszugehen, dass in dieser Erzählung alle drei Männer den gleichen Namen tragen. Die Form des Namens, die am häufigsten verwendet wird, lautet Hoschea. Die Geschichte Hoscheas 395 Namen Hoschea. Er wurde zu einem bedeutenden und reichen Mann und blieb es sein Leben lang. Als er im Sterben lag, rief er seinen Sohn Hoschea zu sich und übergab ihm all seine Besitztümer. Er trug ihm auf, sich der Tora und den Geboten zu widmen, und er gebot ihm, sein Leben lang niemals übers Meer zu fahren, um nicht seine Tora zu vernachlässigen. Dann starb Hoschea ehrenvoll in hohem Alter. 2 Man begrub ihn sehr ehrerbietig. Sein Sohn Hoschea widmete sich der Tora, frommen Taten und den Geboten, wie es auch der Brauch seines Vaters gewesen war. Er heiratete eine vornehme Frau aus einer der bedeutenden Familien des Landes, und er zeugte einen Sohn und nannte ihn nach seinem Vater Hoschea. Nie aber ging Hoschea ins Ausland. Eines Tages sah der fromme Mann, dass der Baum in seinem Garten verdorrt war. Da erkannte er, dass Hoschea gestorben war. Sogleich nahm er sein und Hoscheas gesamtes Geld und dazu alles, was er erworben hatte, seit sie sich getrennt hatten. Er füllte große Schiffe mit Gold, Silber, Edelsteinen und edlen Düften. Danach stach er in See und gelangte in das Land, in dem Hoschea gelebt hatte. Er erkundigte sich nach ihm, und man sagte: ‹ Er ist tot. › Er erkundigte sich nach Hoscheas Frau, und man zeigte ihm ihr Haus. Als er ihr Haus betrat, sah der fromme Mann Hoscheas Sohn, der ganz die Gestalt und das Aussehen seines Vaters besaß, und er sagte bei sich: ‹ Dies ist sein Sohn. › Zu ihnen sagte er: ‹ Ich war ein Freund Hoscheas. › Da aßen und tranken sie mit ihm. Danach nahm der Kaufmann ihn mit sich und brachte ihn zum Meer. Er zeigte ihm zwei Schiffe und sagte: ‹ Von diesen Schiffen gehört eines mir und eines dir. Wenn du willst, dann treibe gemeinsam mit mir Handel, so wie es auch dein Vater getan hat. Lerne die Sitten der Welt. Ich gehe mit dir. › Der fromme Mann wusste nämlich nichts von dem Gebot des Vaters, der Hoschea geboten hatte, das Meer nicht zu überqueren. Auch Hoschea hatte das Gebot vergessen, denn es war lange her, dass sein Vater gestorben war. Er sagte zu dem frommen Mann: ‹ Ich werde mit dir gehen. › Sie verkauften den gesamten Besitz, um die Dinge zu erwerben, die man jenseits des Meeres braucht. Dann brachen sie auf. Als sie auf dem Meer unterwegs waren, kam über ihnen ein starker Wind auf. Das Schiff zerbrach. Alles, was sich auf ihm befunden hatte, versank, und niemand blieb auf dem Schiff übrig, außer dem Frommen, den die Wogen des Meeres ans Festland beförderten. Hoschea wurde nach der anderen Richtung ans Festland befördert. Keiner von beiden wusste, was mit dem anderen geschehen war. Da machte sich Hoschea auf den Weg und ging, bis er wieder zuhause war. Nun kam der zweite fromme Mann und tat alles, was auch der Erste getan hatte. Wieder zerbrachen die Schiffe, wie es auch beim ersten Mal geschehen 2 Vgl. Gen 15,15. Anhang 396 war, und der eine blieb an einem Ort und der andere an einem anderen Ort zurück. Trotz alledem erinnerte sich Hoschea nicht an das Gebot seines Vaters. Da kam der Dritte, und wieder ging Hoschea mit ihm. All diese Männer wussten aufgrund der Bäume, dass Hoschea gestorben war. Hoschea und der dritte fromme Mann fuhren weit auf die See hinaus. Da kam ein Sturmwind auf und beförderte das Schiff über das Meer. Alles versank in den Wogen des Meeres. Die Wellen brachten Hoschea ans Festland, doch er wusste nicht, wo er sich befand. Er sorgte sich, bis er auf einen alten Mann traf, der ein jüdischer Dämon war. Er sagte zu ihm: ‹ Wer bist du? › Der andere antwortete: ‹ Ich bin ein Jude. › Hoschea sagte: ‹ Auch ich bin ein Jude. › Der Dämon fragte: ‹ Wohin bist du unterwegs? › Er antwortete: ‹ Wohin auch immer. › 3 Der Dämon fragte ihn: ‹ Verstehst du dich darauf, kleine Kinder zu unterrichten? › Hoschea antwortete: ‹ Ja. › Der Dämon sagte: ‹ Komm mit mir. › Er ging mit ihm und der Dämon fragte ihn: ‹ Wie heißt du? › Er erwiderte: ‹ Ich bin Hoschea, Sohn des Hoschea aus dem Land Kusch. › 4 Da erkannte der Dämon sogleich, dass Hoschea aus einer bedeutenden Familie stammte. Er brachte ihn zu einer Stadt, die von einer Mauer umgeben war. Alle, die darin lebten, waren jüdische Dämonen. Sie besaßen eine Synagoge, einen Toraschrein und einen Turm. Als der Alte Hoschea dorthin gebracht hatte, führte er ihn sogleich zum Haus ihres Königs und sagte: ‹ Mein Herr und König, ich habe dir diesen Knaben gebracht. Er stammt aus einer bedeutenden Familie und will kleine Kinder unterrichten. › Sogleich segnete der König den Alten und sagte zu ihm: ‹ Du hast gut daran getan, ihn zu mir zu bringen. › Zu Hoschea sagte der König: ‹ Setz dich zu mir. Unterrichte meinen Sohn, dann werde ich alles tun, um dich zufrieden zu stellen. › Er sagte: ‹ Einverstanden. › Und er begann, den Sohn des Königs und andere Kinder zu unterrichten. Einmal vergingen sich die kleinen Kinder gegen ihn. Hoschea begann, sie zu züchtigen. Sogleich flogen sie zu den Dachbalken hinauf und durch die Fenster davon. Da erkannte Hoschea sofort, dass es sich bei ihnen um Dämonen handelte. Er sagte zu sich: ‹ Vielleicht sind sie zum Teil Dämonen und zum Teil Menschen, da sie zum Teil geflogen und zum Teil geflohen sind. › Alle erwiesen ihm große Ehre. Er hielt sich dort lange Zeit auf, bis ihnen klar wurde, dass er ein großer Toragelehrter war. Man machte ihn zum Vorsänger der Synagoge, und sie entlohnten ihn reichlich für seine Tätigkeit. Lange Zeit war er Vorsänger und Lehrer. 3 Vgl. Ri 17,9. 4 Kusch: Land, das in der Bibel in Afrika oder im Nahen Osten verortet wird. Benannt nach Kusch, einem Enkel Noahs. Vgl. Gen 10,6. Die Geschichte Hoscheas 397 Nun war es ihr Brauch, alle Gebete zu beten, die auch wir beten, und das Schma 5 zu rezitieren. Nur beim Ausgang des Sabbats, da sagen sie nicht Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich, 6 sondern beginnen gleich mit Du aber bist heilig. 7 Einst stand Hoschea vor der Gemeinde am Ausgang des Sabbats und sagte: Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich, ohne darüber nachzudenken. Sogleich flohen sie alle durch die Fenster hinaus, da sie es nicht ertragen können, wenn man sagt: Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite / und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. 8 Als Hoschea sah, dass er allein zurückgeblieben war, fiel er vor dem Toraschrein zu Boden und wurde für einen Moment ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, sagte er zu sich: ‹ Das sind alles Dämonen. › Da wurde er von Furcht ergriffen und wollte dort nicht länger bleiben. Der König aber saß in seinem Haus und erwartete Hoschea, doch der kam nicht. Da sagte der König: ‹ Ich werde selbst zu ihm gehen. › Er ging und fand ihn hingeworfen zwischen Leben und Tod. Er sagte zu ihm: ‹ Hoschea, steh auf. Benimm dich wie ein Mann und reiß dich zusammen. Dies hier wird dir nicht gegen deine Furcht vor uns helfen. › Er nahm sich zusammen und stand auf, kehrte zurück mit dem König und unterrichtete dessen Kinder wie zuvor. Doch er befand sich immerzu in einem Zustand der Trauer, weil er nach Haus zurückkehren wollte, bis es schließlich der König gewahr wurde und ihn fragte: ‹ Worum sorgst du dich? Ich weiß, dass du in deine Heimat zurückkehren willst. Ich werde dich zurückbringen. Schwöre mir nur, nach dieser und jener Zeit wieder zurückzukehren. › Hoschea antwortete: ‹ Mein Herr und König, ich werde alles tun, was du von mir verlangst. › Der König sandte nach seinen Weisen und Ratgebern und sagte zu ihnen: ‹ Hoschea hat mir geschworen, zu dieser und jener Zeit zurückzukehren. Gebt mir nun einen Rat, was sein Lohn sein soll. › [. . .] 9 5 Schma Israel: Zentrales jüdisches Gebet, in dem zweimal täglich die Einheit Gottes gepriesen wird. Es besteht aus drei biblischen Passagen (Dt 6,4-9, Dt 11,13-21 und Num 15,37-41) und den zum Schma gehörigen Segenssprüchen. Vgl. Louis Jacobs: Art. Shema, Reading of, in: EJ 18, S. 453 - 456, hier S. 453 f. 6 Ps 90,17: Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich / und fördere das Werk unsrer Hände bei uns. / Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern! Vgl. Lévi, Recueil, S. 51. 7 Ps 22,4. 8 Ps 91,7 (diesen Psalm können die Dämonen nicht rezitieren oder anhören). 9 ע נ ה ז ק ן א ח ד ו א מ ר ה ד י ן ע מ ו ש א ש ת ו ת נ ש א ל ת ו ך ג ' י מ י ם ו ה א ח ב ו ע ר ל פ נ י ה ם א מ ר ה מ ל ך ל ה ו ש ע ה ש ל ך כ ו ב ע ך ל ת ו ך ה א ש ו כ ן ע ש ה ו ח י ל ה ו ע ל ט ל י ת ו ו ע ל מ ל ב ו ש ו ו ה ש ל ך ש ל ש ת ן ת ו ך ה א ש ו ה י ו ה ל פ י ד י ם מ ע ו פ פ י ם ב מ ק ו ם ש ה ש ל י ך א מ ר ה מ ל ך ב י נ י ת י מ ת ו ך ה ע נ י י נ י ם ו ה נ ה א מ ת ש א ש ת ך ת נ ש א ל א ח ר ג ' י מ י ם ו ע כ ש י ו נ י י ע צ ו א י ך נ ע כ ב ה ד ב ר . Obwohl die Handschrift an dieser Stelle nicht verderbt ist, geht aus dem Zusammen- Anhang 398 Ein alter Dämon sagte: ‹ Wenn ich sieben Tage Zeit bekomme, bringe ich ihn hin. › Da sagte ein anderer alter Dämon: ‹ Ich bringe ihn in drei Tagen hin. › Ein Dritter sagte: ‹ Ich bringe ihn in einem Tag hin. › Die ganze Zeit über bat Hoschea den König, ihn gehen zu lassen. Er bedrängte ihn bis zum Morgen des dritten Tages. Er sagte zum König: ‹ Schicke mich fort. › Der König antwortete ihm: ‹ Warte, bis wir gebetet haben. › Nachdem er gebetet hatte, sagte er zum König: ‹ Schicke mich fort. › Dieser erwiderte ihm: ‹ Warte, bis wir gegessen haben. › Nachdem er gegessen hatte, rief der König den flinken Dämon und gebot ihm, Hoschea zu befördern. Er gab ihm viele Geschenke mit, und er nahm alles mit sich. Der Dämon beförderte ihn zusammen mit allem, was er bei sich hatte. Gegen Abend brachte er ihn zu seinem Haus und fand dort lange Tische und essende Gäste vor. Als sie ihn sahen, ging ein Teil und ein Teil blieb bei ihm. Sie fragten ihn: ‹ Wo bist du bis jetzt gewesen? › Da erzählte er ihnen alles, was geschehen war. Und er verweilte bei seiner Frau, mit der er Kinder hatte. Als es noch sieben Tage waren bis zu dem Zeitpunkt, zu dem zurückzukehren er geschworen hatte, kam jemand vom König zu ihm und sagte ihm, dass er zurückkehren solle. Hoschea sagte zu ihnen: ‹ Ich habe noch sieben Tage Zeit. › Sie sagten zu ihm: ‹ Einverstanden. › Nachdem die festgesetzte Zeit vergangen war, schickte der König nach ihm. Er kehrte mit ihnen zurück und hielt sich lange Zeit bei ihm auf. Später einmal wollte der König mit einer Karawane fortziehen. Er hatte eine entzückende Tochter, die er keinem Menschen außer Hoschea anvertrauen wollte. Er sorgte für ihren Unterhalt und alles Nötige. Schließlich verliebten sich die beiden ineinander. Die Tochter des Königs sagte zu Hoschea: ‹ Wenn der König zurückkehrt, dann begrüße ihn zuerst. Er wird wissen, dass du möchtest, dass er dich mir zum Mann gibt. › Und so tat er es. Irgendwann, zu der Zeit, als sie bei ihm lag, da seufzte er immer öfter. Denn das Beilager der Dämonen ist hart. Zudem wurde ihm klar: ‹ Wie konnte ich nur meine Frau zurücklassen, meine Familie und alle, die mir nahe sind? › Die Dämonin fragte ihn: ‹ Warum seufzt du so sehr? Sag es mir. › Aber er wollte es ihr nicht sagen. Einige Nächte lang machte er so weiter, bis sie es ihrem Vater sagte. hang der Erzählung nicht hervor, wie der Text in den folgenden Zeilen zu übersetzen ist. Die Stelle bleibt auch insofern einigermaßen rätselhaft, als sie für den Fortgang der Handlung nicht unmittelbar notwendig ist. Ein Übersetzungsvorschlag lautet: Ein alter Mann antwortete ihm: ‹ Er hat recht. Denn seine Frau wird innerhalb von drei Tagen heiraten und der Bruder brennt vor ihnen. › Der König sagte zu Hoschea: ‹ Wirf deine Kopfbedeckung ins Feuer. › Das tat er. ‹ Bitte ihn um seinen Gebetsmantel und um sein Kleid und wirf die drei Dinge ins Feuer. › Die Flammen loderten an dem Ort auf, wohin er die Dinge geworfen hatte. Der König sagte: ‹ Ich habe die Angelegenheiten gut überprüft, und siehe, es ist die Wahrheit, dass deine Frau in drei Tagen heiraten wird. › Und nun überlegten sie, wie sie die Sache verzögern könnten. Die Geschichte Hoscheas 399 Dieser fragte ihn: ‹ Weswegen seufzt du und grämst dich so? Ich weiß, dass du dich wegen deiner Frau und denen, die dir nahe sind, mehr und mehr sorgst. Lege mir nun eine Zeit fest und schwöre mir, dass du zurückkehren wirst, dann werde ich dich gehen lassen. › Er antwortete ihm: ‹ Mein Herr und König, ich schwöre wie beim ersten Mal, dass ich zu der Zeit zurückkehren werde, die du für mich festlegst. › Der König legte eine Zeit für ihn fest und Hoschea kehrte nach Hause zurück. Als es noch sieben Tage vor der Zeit waren, kam die Dämonin zu ihm und bat ihn, 10 zurückzukehren. Er sagte: ‹ Noch habe ich sieben Tage. › Da wartete sie sieben Tage lang, bis die Frist vergangen war. Sie sagte zu ihm: ‹ Kehre mit mir zurück und erinnere dich an deinen Schwur. › Er sagte zu ihr: ‹ Ich habe nicht geschworen. › Und er wollte nicht zurückkehren. Es kam der Tag, an dem Hoscheas Frau sich von ihrer Unreinheit reinwusch. Die Dämonin kam in der Gestalt einer armen Frau zu ihr und bat sie darum, sich mit ihr waschen zu dürfen. Die Frau sagte zu ihr: ‹ Einverstanden. › Die Dämonin wusch sich mit ihr und küsste sie. Da starb die Frau. Die Dämonin sagte zu Hoschea: ‹ Geh und sieh deine Frau. › Und er ging und sah, dass sie tot war. Dennoch wollte er nicht mit der Dämonin zurückkehren. Diese ging zurück zu ihrem Vater. Sie nahm eine großes und starkes Heer mit sich und umzingelte damit die Stadt, in der Hoschea wohnte. Am ersten Morgen sagte sie: ‹ Geht in die Stadt und bringt ihn mir. › Und man traf ihn dabei an, wie er das Schma rezitierte. Sie kehrten zurück und sagten zu ihr: ‹ Wir konnten nichts ausrichten, da er das Schma rezitierte. › Gegen Abend befahl sie, ihn herbeizubringen, aber man fand ihn betend vor. Drei Tage lang machte sie so weiter. In der vierten Nacht schickten sie Leute hin, um ihn in seinem Bett zu ergreifen, aber man traf ihn dabei an, wie das Schma rezitierte. Sie sagten zu ihr: ‹ Wir kamen nicht an ihn heran. › Bis hierher. Ich habe dies in einem Druck gefunden. Die Geschichte ist nicht ganz vollständig. 10 Wörtlich: er bat sie. Anhang 400 Gegenstand der Studie sind hebräische und jiddische Erzählungen des 13.−17. Jahrhunderts, in denen die männlichen Protagonisten erotische Beziehungen zu dämonischen Frauen aufnehmen. Untersucht wird, auf welche Weise in unterschiedlichen historischen Kontexten männliche Identität in sozialen Konflikten um Gehorsam und Neugier, Gottesfürchtigkeit und materielle Bedürfnisse, individuelles Begehren und kollektive Ansprüche ausgehandelt wird.