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Dichter und Lenker

2014
978-3-7720-5527-0
A. Francke Verlag 
Saskia Wiedner
Patrick Ramponi

Poesie und Politik stehen seit alters her in einem engen Verwandtschaftsverhältnis. Bis weit in die Antike zurück reicht der Mythos vom Dichter als Souverän. Umgekehrt haben sich nicht wenige Herrscher und Politiker, spätestens seit der Renaissance, auch als Künstler verstanden und inszeniert. Zur ihrer Staatskunst gehörte auch die eigenständige Produktion von Literatur. Lange Zeit galten diese Dichtungen von Staatslenkern der Forschung als schlichte Manifestation von Staatsideologien oder als Ausdruck ihrer privaten Persönlichkeit jenseits öffentlicher Machtrepräsentation. Dieser Band will demgegenüber die kom plexere Fragestellung nach den kultur- und funktionsgeschichtlichen Aspekten der literarischen Produktion von Staatsmännern (und frauen) innehmen. Er untersucht herausragende Herrscherfiguren und deren Literatur produktion vor der Folie ihrer politischen Handlungen und psychohistorischen Dispositionen in und außerhalb Europas von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. An der Schnittstelle von Literaturwissenschaft, Geschichte und Kultursoziologie widmen sich die Fallstudien so unterschiedlichen verkappten Literaturproduzenten wie Papst Pius II, Kardinal Richelieu, Friedrich d. Große, Ludwig I. von Bayern, Elisabeth von Österreich, Theodore Roosevelt, Muammar al-Gaddafi, u.

Dichter und Lenker Die Literatur der Staatsmänner, Päpste und Despoten von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart Patrick Ramponi / Saskia Wiedner (Hrsg.) Dichter und Lenker Patrick Ramponi / Saskia Wiedner (Hrsg.) Dichter und Lenker Die Literatur der Staatsmänner, Päpste und Despoten von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart Umschlagabbildung: Diether Kunerth, ‚Diktator I‘, 2013 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8527-7 Dank Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer literatur- und kulturgeschichtlichen Tagung, die im Rahmen des Augsburger Brechtfestivals 2012 stattfand. „Brecht und die Politik“, so lautete das Thema des Brechtfestivals, das der vielfältigen Verbindung von Dichten und politischer Einflussnahme, von ästhetischer und politischer Lenkung nachging. Der Fokus der Tagung auf die Analyse literarischer Produktionen von Staatsmännern, Päpsten und Despoten von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart konnte das Festivalthema aufgreifen und um weitere Facetten ergänzen. Dass diese Tagung zum Erfolg 1 wurde und zu fruchtbaren Ergebnissen führen konnte, ist dem Engagement zahlreicher Helfer und Unterstützer zuzuschreiben. Gedankt sei deshalb den Organisatoren des Augsburger Brechtfestivals, namentlich Herrn Dr. Joachim Lang, dem künstlerischen Leiter, Frau Dr. Barbara Eschlberger, die sofort von unserem Thema begeistert war und besonders Frau Maria Fürstenberger, für ihre wichtige finanzielle, koordinative und organisatorische Unterstützung. Der Stadt Augsburg möchten wir an dieser Stelle dafür danken, dass die Tagung an einem ganz besonders geschichtsträchtigen und dem Thema in sinniger Weise entsprechenden Ort stattfinden durfte: im Augsburger Renaissance-Rathaus. Dass wir dessen architektonisches und kulturhistorisches Juwel, den „Goldenen Saal“, für den Keynote-Vortrag von Prof. Dr. Koschorke nutzen durften, war uns eine seltene Ehre und besondere Freude. Ein großer Dank geht an weitere finanzielle Träger unseres Projektes, namentlich die „Freunde der Universität Augsburg“ und die Augsburger „Kurt und Felicitas Viermetz Stiftung“. Sie haben mit ihrer großzügigen Unterstützung dazu beigetragen, dass eine große Runde ausgewiesener Experten und Nachwuchswissenschaftler zu diesem Projekt eingeladen werden konnte und nun wichtige Forschungsergebnisse in diesem Themenfeld einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert werden können. Unterstützung haben wir auch seitens der Universität Augsburg erhalten. Wir danken besonders dem Studiengang Ethik der Textkulturen des Elitenetzwerks Bayern (ENB) und dem Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte, die dieses Projekt mit getragen und gefördert haben. 1 Vgl. die Rezensionen von Günter Ott: Dichter und Lenker. Die Literatur (und) Kunst der Staatsmänner und Despoten von Kaiser Nero bis Muammar al-Gaddafi. In: Augsburger Allgemeine, 13.02.2012; Thomas Thiel: Verse aus der Einsamkeit der Macht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.02.2012; Burkhard Müller: Die Dichtung der Despoten. Was weiß die Wissenschaft über Phantasie und Gewalt? In: Süddeutsche Zeitung, 14.02.2012. Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 6 Unentbehrlich für eine solche Tagung ist die Hilfe von Professoren, Kollegen und Studierenden, die entweder tatkräftig bei der Bewirtung und Versorgung der Gäste oder geisteskräftig durch Eröffnungsreden, Diskussionsleitungen und - im Zuge der Herausgabe - durch Korrektur- und Formatierungshilfe den Herausgebern unter die Arme gegriffen haben. An sie alle geht unser herzlicher Dank. Besonders hervorzuheben sind Frau Anna Neudert, Herr Sebastian Hetheier und Herr Michael Köberle, die uns bei der Textformatierung tatkräftig unterstützt haben. Ohne die Drucklegung der Ergebnisse ist eine wissenschaftliche Tagung eine sehr vergängliche Angelegenheit, und so möchten wir uns schließlich für die kompetente und stets freundliche Zusammenarbeit mit dem Tübinger Verlag A. Francke bedanken. Finanzielle und ideelle Unterstützung von wissenschaftlichen Projekten wird immer mit Blick auf ein dort behandeltes Thema, eine dort behandelte Fragestellung geleistet. Wir möchten uns deshalb für das Vertrauen bedanken, das unsere Helfer und Förderer in uns gesetzt haben und wir hoffen, dass das Resultat, welches nun in Form dieses Sammelbandes vorliegt, zu Ihrer Zufriedenheit ausgefallen ist. Die Herausgeber im August 2014 Inhaltsverzeichnis Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. Eine kulturhistorische und methodologische Hinführung .................................9 Albrecht Koschorke (Konstanz) Taten aus Worten. Über den fiktiven Kern von Gewaltherrschaft ....................................................33 Oliver Kohns (Luxemburg) Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. Bismarck - Disraeli - Goebbels .............................................................................49 Wolfgang E.J. Weber (Augsburg) Was der Lenker lesen (und schreiben) soll. Die Vorstellungen und Ratschläge der Erziehungs- und Beratungsliteratur im neuzeitlichen Überblick. ..........................................73 Volker Reinhardt (Fribourg) Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. Pius II.: Leben und Werke......................................................................................85 Kristina Rzehak (Münster) Literatur und politischer Umbruch. Die Selbstzeugnisse Baburs und Maximilians I. als Reaktionen auf die Abhängigkeiten und Gefährdungen ihrer Herrschaft .....................................105 Florent Gabaude (Limoges) Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig zur Verhöfischung des Theaters und zur Sozialdisziplinierung ....................125 Roland Alexander Ißler (Bonn) Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand: Richelieus Europapolitik auf der Theaterbühne ...............................................145 Vanessa de Senarclens (Potsdam) „Au donjon du château“ - Im Turm des Schlosses: die Poesie Friedrichs des Großen ........................................................................165 Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 8 Karl Borromäus Murr (Augsburg) Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: Poetische Selbstherstellung und monarchische Gefühlspolitik ......................181 Clemens Götze (Potsdam) Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? Elisabeth von Österreichs lyrisches Geschick als epigonale Meisterinszenierung und Beitrag zu einem habsburgischen Mythos............213 Christopher Meid (Freiburg i. Br.) Kaiser Wilhelm II. als Reiseschriftsteller. Die Erinnerungen an Korfu als Medium imperialer Selbstdarstellung ..........237 Dominik Nagl, Mannheim „I am a part of everything that I have read“. Der „Cowboy-Präsident“ Theodore Roosevelt als Schriftsteller und Literaturkritiker.....................................................................................................253 Anke Gilleir (Leuven) Schwund der Imagination. Joseph Goebbels und die Literatur......................269 Julian Osthues (Luxemburg) Maskeraden der Macht/ Schrift. Strategien medialer Fremdbestimmung und literarischer Selbstinszenierung in Muammar al-Gaddafis Essayband Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten (1993) ..............................283 Christopher Schliephake (Augsburg) Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. Die Nabati-Dichtung Scheich Mohammed bin Rashid Al Maktoums zwischen Kulturpolitik und Herrscherrepräsentation.....................................301 Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. Eine kulturhistorische und methodologische Hinführung Was wäre gewesen, wenn ... Stalin Dichter geblieben wäre? „Stalin wrote romantic poetry. Did you know this? “ - fragt suggestiv der russische TV-Sender Russia Today, um gleich in einer ganzseitigen Anzeige den sowjetischen Diktator in Militäruniform und Schreibfeder zu porträtieren. „Proud to be different“, lautet der in diesem Kontext durchaus zynische Werbeslogan, der auf der Homepage des staatsnahen Senders mit weiteren Details aufwartet: Ganz im Sinne kontrafaktischer Geschichtsschreibung wird hier die Frage gestellt, was geschehen wäre, wenn Stalin bloß der einfache, romantische Poet geblieben wäre, der er einst als junger Mann gewesen war 1 (vgl. Montefiore 2007: 99-103). Mehr noch: In einem eingespielten Dokumentarfeature wird zwischen Literaturproduktion und politischer Staatsaktion ein unmittelbarer historischer Nexus hergestellt. Stalin hatte 1907 das Kommando über den folgenreichen Überfall auf einen Geldtransporter der Bank von Tiflis inne, der bekanntlich der bolschewistischen Bewegung zu einer speziellen Art von ‚ursprünglicher Akkumulation‘ verhelfen sollte. Den entscheidenden Tipp - so die selbst erklärten Historiker von Russia Today - soll er wohl von einem Bankangestellten erhalten haben. Voller Bewunderung für die lyrischen Ergüsse des jungen Stalin, war dieser selbst zum Verrat am Arbeitgeber bereit. Stehen die schwärmerischen Gedichte des Diktators in spe also am Beginn eines Weltereignisses? Ist das dank der literarischen Reputation ihres Urhebers erbeutete Kapital gar Möglichkeitsbedingung der Oktoberrevolution gewesen? Und anders gefragt: Wie ist das Verhältnis zwischen literarischem und politischem Talent im Falle Stalins einzuschätzen? Ist es bloß eine tragische Ironie der Geschichte, dass ein schwärmerischer Jungpoet und georgischer Priesteranwärter das Medium der Literatur als Durchlauferhitzer auf dem Weg zum imperialen Herrscher des 20. Jahrhunderts nutzen konnte? „Could Stalin have been poet instead of tyrant? “, fragt der russische TV-Sender. Wenn, wie Albrecht 1 Vgl. http: / / rt.com/ news/ prime-time/ could-stalin-have-been-poet-instead-of-tyrant/ (Zugriff am 4.7.2014) Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 10 Koschorke 2 vermutet, in jeder dichterischen Sendung schon eine mehr oder weniger bedeutende Portion Größenwahn steckt und eine Diktatur im Kern auch „ein poetisches Unternehmen“ ist, dann ist die Frage bereits in ihrer ‚Entweder-Oder‘-Formulierung falsch gestellt. Dichtung und Herrschaft sind keineswegs immer Alternativen. Sie stehen im Gegenteil in einem strukturellen, aber historisch variablen Wechselverhältnis, das es jeweils en détail zu untersuchen und zu rekonstruieren gilt. Generell lässt sich das Verhältnis von Literatur und Politik dahingehend präzisieren, dass Literatur sehr oft mehr als bloße Literatur sein will, ebenso wie Politik sich umgekehrt anmaßt, mitunter mehr als Politik zu sein, nämlich soziale Kunst, oder anders gewendet: ästhetische Arbeit an der Form des Sozialen. Der ehemalige Anwärter auf die republikanische Präsidenten-Kandidatur von 2012, Newt Gingrich, verblüffte seine Anhänger mit der Ankündigung, spätestens 2020 (also in seiner fest eingeplanten, zweiten Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika) Amerikaner zur Besiedlung einer Mondkolonie ins Weltall zu schicken. Was in den US-Medien als utopischer Größenwahn eines exzentrischen Rebellen aus den Reihen der politischen Rechten verspottet wurde, zeigt sich bei näherer Betrachtung als die Konsequenz eines jahrelang ausgearbeiteten Programms, das seine diskursive Blaupause in der Literatur gefunden hat. Denn der ehemalige Kongressabgeordnete und Lobbyist Newt Gingrich ist in seinem außerpolitischen Leben der Verfasser mehrerer hoch spekulativer Romane aus dem populären Subgenre der Alternate History Novel. Bücher wie Gettysburg (Gingrich/ Forstchen 2003), Pearl Harbor (Gingrich/ Forstchen 1995), 1945 (Gingrich/ Forstchen 1995) und Days of Infamy (Gingrich/ Forstchen 2008) erweisen sich als groß angelegte Geschichtsfiktionen im Modus des ‚Was wäre wenn…‘ Was wäre geschehen, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, was, wenn die Sklavenhalter-Rebellion der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg siegreich gewesen wäre oder wenn Amerika nicht in den Zweiten Weltkrieg eingetreten wäre? Die Folgen: Militärische Präventivaktionen der Nazis gegen ein nuklear hochgerüstetes Amerika, Suche und Liquidierung von ‚Weapons of Mass Destruction‘. Dietmar Dath hat darauf hingewiesen, dass Gingrich unter Science-Fiction-Lesern durchaus hoch angesehen ist. Seine erfolgreichen Romane stellten nichts weniger dar als die amerikanische Variante jener „Zuspitzungsliteratur des Fortschritts“ (Dath 2012), die sich in Europa als politischer Utopismus seit dem 19. Jahrhundert fest im politischen Diskurs verankert hat. Dabei bemüht Gingrich inmitten seiner phantastischen Parallelwelten ein reaktionäres Männerbild individualistischer Frontier-Helden. „Sein Bürgerkrieg, sein Weltkrieg“, so schlussfolgert Dath, „sind nicht Erinnerungen, sondern Kostümdramen zur Einübung 2 Vgl. neben dem Band Koschorke/ Kaminskij 2011 auch den Beitrag von Albrecht Koschorke im vorliegenden Band. Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 11 harter sozialer Erziehungsprogramme. Wer ihn wählt, will sie.“ (Dath 2012) Literarische Phantastik erscheint hier einmal mehr als Experimentierraum für die politischen Maximalprojekte eines Provinz-Politikers, der seine Mission als zukünftiger Weltenlenker bereits im fiktionalen Medium historischer Kontrafaktik verewigt hat, auf geradezu dialektische Weise. In diesem Fall - das muss man fast hoffen - liegt die historische Ironie wohl darin, dass das Programm bloße Literatur bleibt, wenngleich von Bestsellerformat. Zum Forschungsstand Doch rechtfertigen die unbeholfenen Gedichte eines jungen georgischen Literatur-Epigonen und die messianische Populärbelletristik eines amerikanischen Politikers aus der zweiten Reihe zu einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit literarischen Ergüssen von Politikern, Despoten und Kirchenfürsten? Ohne Zweifel haben wir es - literaturkritisch betrachtet - in den meisten Fällen mit Literatur von zweifelhafter Qualität zu tun, die bestenfalls als literarischer Dilettantismus bezeichnet werden kann, kaum aber den Aufwand eingehender philologischer Interpretationsanstrengungen zu lohnen scheint. So hat sich die Germanistik zwar für die Staatsaktionen des ‚Geheimrats‘ Goethe interessiert und es wurden Dissertationen über das dichterische Universalgenie als Politiker und Staatsdiener verfasst. Gut erforscht ist auch das Verhältnis von Kunst und Politik, der Zusammenhang von politischer Ästhetik und ästhetischem Totalitarismus in den künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Die „Souveränität der Literatur“ (Hebekus/ Stöckmann 2008), so lässt sich die bisherige Forschung bilanzieren, wird aber vorrangig den großen Texten der europäischen Moderne abgelesen. Sehr gering nur war bisher das Interesse an den im eigentlichen Sinne literarischen Schriften etwa Napoleons I., Friedrichs des Großen, Ludwigs I. von Bayern, 3 an den Gedichten Stalins und der Lyrik Maos, an den literarischen Erzeugnissen Churchills oder Katharina der Großen, ganz zu schweigen von den ‚Literaten‘ unter den römischen Päpsten, von den musischen Renaissance-Päpsten wie Papst Pius II. 4 bis zu Johannes Paul II., der unter anderem ein beachtliches lyrisches Werk (Wojtyla 2005, 2003, 2000) hinterlassen hat. Und wenn die Dichtung von Politikern überhaupt in den Fokus literaturwissenschaftlicher Forschung geriet, dann meistens unter ideologiekritischen Gesichtspunkten: Literatursoziologisch interessierte der Gehalt, 3 Vom bayrischen Ludwig I. sind einige hundert Gedichte überliefert, die in den Beständen des Münchener Geheimen Staatsarchivs liegen. Vgl. dazu Schwarz 2005 sowie den Beitrag von Karl B. Murr in diesem Band. 4 Zu Pius II. Piccolomini vgl. den Beitrag von Volker Reinhardt in diesem Band. Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 12 die Weltanschauung, selten aber die Form und die Schreibweise dieser Texte. Auch die Geschichtswissenschaft hat den disziplinären Grenzbereich der konkreten literarischen Produktion von Welt- und Kirchenmächtigen bislang gemieden, ihn weder in der Breite noch systematisch untersucht. Trotz ihrer Ausrichtung auf große historische Persönlichkeiten und ihrer Staatszentriertheit war der historistischen Geschichtsschreibung die von Staatsmännern verfasste Literatur als Quellengattung zu profan und zu wenig aussagekräftig. Wenn man sie überhaupt berücksichtigte, dann lediglich als Zeugnis für die Genialität eines überragenden historischen Charakters: 1837 legitimierte einer der ersten Herausgeber der Werke Friedrichs des Großen 5 sein editorisches Anliegen mit dem Argument, dass es „keine lauterere Quelle, keinen klareren Spiegel für die Thaten eines Monarchen, der als Kriegsfürst, als Landesvater und als Mensch gleich groß und edel war, geben kann, als seine eigenen Geisteswerke“ (Preuß 1837: VIII). Unter der Optik geistesgeschichtlicher Hermeneutik gerät die Literaturproduktion von Staatslenkern gewissermaßen ins Tautologische: Sie spielt die schlichte Begleitmelodie umfassenderer und ‚eigentlicherer‘ Leistungen, die in der als weit bedeutender eingestuften Sphäre der Politik und im staatlichen Führungsbereich liegen. Auch die Sozialgeschichte der letzten Jahrzehnte ignorierte weitgehend die literarischen Quellen von Politikern. Hier dürfte der geringe Grad an Quantifizierbarkeit der Untersuchungsergebnisse sowie die mangelnde Repräsentativität literarischer Zeugnisse für die Totalkategorie ‚Gesellschaft‘ ausschlaggebend gewesen sein. Erst seit den späten 1970er Jahren beginnt die ‚neue‘ Kulturgeschichte sich intensiver mit dem Verhältnis von Geschichte und Literatur zu befassen, wobei vorrangig die Literarizität historiographischen Schreibens oder die ‚Geschichtswirksamkeit‘ großer literarischer Werke im Vordergrund stehen (vgl. van Laak 2011; Hürter/ Zarusky 2010). Aber auch die Literaturproduktion von Staatslenkern, insbesondere von dichtenden Autokraten, lässt sich unter jener Gattung rubrizieren, die Dirk van Laak als Literatur bezeichnet hat, „die Geschichte schrieb“ (van Laak 2011). Wie der von Albrecht Koschorke und Konstantin Kaminskij herausgegebene Band über ‚dichtende Despoten‘ eindrucksvoll belegen kann, steht der Akt einer totalitären Staatsgründung auffällig häufig in Zusammenhang mit einer „monozentrischen, quasi sakralen Buchautorschaft“ (Koschorke/ Kaminskij 2011: 20) mit nahezu mythologischer Funktion. Gerade die irreguläre Herrschaft eines diktatorischen Emporkömmlings, so zeigen die Autoren am Beispiel von Hitlers Mein Kampf, Maos ‚Rotem Buch‘ und Gad- 5 Dass die literarische Produktion Friedrichs des Großen weitaus komplexer angelegt ist als lediglich ‚Spiegel‘ seiner politischen und historischen ‚Taten‘ zu sein, zeigt der Beitrag von Vanessa de Senarclens in diesem Band. Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 13 dafis ‚Grünem Buch‘, greift auf die magische Funktion einer autokratischen Narration zurück, um retrospektiv den abwesenden Grund des Staates, die persönliche Nichtigkeit ihres Lenkers sowie die Zerbrechlichkeit des gemeinschaftlichen Zusammenhalts in postrevolutionären Zeiten künstlich zu kompensieren. Dies ist der Anteil des Fiktionalen an der Stablisierung von Herrschaft. Dass es sich bei der Handschrift des ‚Buches der Macht‘ durchaus auch um handfeste, materielle Phänomene handelt, zeigt der geradezu fetischistische Kult um das ‚Führer‘-Buch wie etwa die sogenannte Mao- Bibel. Ein besonders makabres Beispiel für ein regelrechtes Verkörperungsfantasma des Diktators im großen ‚Buch der Macht‘ stammt von Saddam Hussein: der einstige irakische Gewaltherrscher ließ sich im Laufe eines Jahres ganze sechsundzwanzig Liter Blut abzapfen, um damit ein Exemplar des Korans schreiben zu lassen. Burkhard Müller deutet diese schon fast rituell zu nennende Geste zwischen Gotteslästerung und Demut als „Ausdruck (...) dessen, was Saddam meinte: das unmittelbare, unzerreißbare Bündnis seines Eigensten mit dem Allgemeinen. Aus seinem Blut sollte die wahre, bindend gültige Schrift fließen, und zwar die ganze“ (Müller 2011: 295). Saddam Husseins megalomane Staatskunst, die das Schreiben mit Blut ganz wörtlich nimmt und nichts weniger als den Körper des Führers in den ‚Text‘ des Staates einzubringen beabsichtigte, ist sicherlich ein extremes Beispiel jener von Hannah Arendt treffend als „totalitäre Fiktion“ bezeichneten Tendenz moderner Diktaturen, das Gemeinwesen hermetisch abzudichten (vgl. Koschorke/ Kaminskij 2011: 23). Genereller ist hiermit aber ein erster Topos angesprochen, der für unsere Überlegungen relevant ist: Der Staatsmann als Künstler. Seine Geschichte lässt sich von Platon über die römische Kaiserzeit, von der Renaissance, über den Absolutismus bis hin zu den aufgeklärten Monarchen, schließlich ins Zeitalter der industrialisierten Massenkunst, Kunstavantgarden und politischen Religionen des 20. Jahrhunderts verfolgen. Dichterfürsten und Staatskünstler: Topoi und Künstlertypologien Auszugehen ist zunächst von einer historisch gewachsenen Strukturhomologie zwischen Dichtung und Herrschaft, die sich - unterschiedlich akzentuiert - sowohl produktionsals auch rezeptionsästhetisch manifestiert und bis in die Antike zurückverfolgen lässt. 6 Bereits etymologisch gestaltet sich eine intensive Nähe zwischen Dichtung und Diktat, bzw. zwischen Autorität und auctoritas bzw. Autorschaft. Im Konzept der poiesis als zweckgerichtetem Herstellen sind politisches und künstlerisches Formbegehren aufs Engste 6 Vgl. zum Zusammenhang von Souveränität und Dichtung sowie den Anteilen des ‚Fiktionalen‘ an der Macht den Beitrag von Oliver Kohns im vorliegenden Band. Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 14 miteinander verknüpft: „In ihrer beiderseitigen Verbundenheit“, so schreiben Koschorke und Kaminskij, „konnte man den poetischen Souverän, der eine Welt aus Worten, und den politischen Souverän, der eine Welt aus Taten erschafft, sogar als Gleichgestellte ansprechen“ (Koschorke/ Kaminskij 2011: 12). Die Gemeinsamkeit liegt nicht zuletzt darin, dass beide, Dichter und Herrscher, gleichsam ‚aus dem Nichts schaffen‘, so der folgenreiche Topos einer „künstlerischen Theologie“ der Renaissance, wie sie Ernst Kantorowicz in dem für unsere Überlegungen zentralen Aufsatz „Souveränität des Künstlers. Eine Anmerkung zu Rechtsgrundsätzen und Kunsttheorien der Renaissance“ von 1961 herausgearbeitet hat (vgl. Kantorowicz 1998: 329- 348). Die Urszene dieser Konstellation befindet sich bekanntlich in Platons Dialog über den Staat, der den Dichter aus allen politischen Geschäften seines idealen Philosophen-Staates verbannen wollte. Dichter, so wird argumentiert, neigten seit alters her zur Glorifizierung der Tyrannis (Polit. 568 b,c), womit - nebenbei bemerkt - die vielleicht einflussreichste vormoderne poetische Gattung eingeführt ist: die Panegyrik, das Herrscherlob. Vor allem aber, so Platon, seien Dichter, ganz im Gegensatz zu den Philosophen, notorische Nachahmer und hätten als solche mit der Wahrheit rein gar nichts zu tun (601a); stattdessen verblendeten sie das Volk, das sie als Gegenleistung dafür über Gebühr verehrte. Die Debatte im 10. Buch von Platons Politeia dreht sich um die Gründungsautorität von Dichtung. Sie stellt den Konkurrenzkampf zwischen Dichtern und Philosophen als Streit um das Monopol über die symbolische und affektive Aufladung der politischen Kommunikation dar. Im Gegensatz zu den Gesetzesgebern, die, so die Überlieferung, beflügelt von göttlicher Inspiration, den Völkern ihre Gesetze zumeist in Form von Versen übermittelten, seien die Dichter als Glaubensproduzenten keiner genuinen politischen Schöpfung fähig. 7 Platon stärkt dieses Argument an zentraler Stelle in den Gesetzen dadurch, dass er den Gesetzgeber der wahren Polis als den wahrsten Dichter preist, da dieser das politische Staatswesen als „allerschönste und wahrste Tragödie“ inszeniere, die unmittelbar ihre Kraft aus der Schöpfung Gottes beziehe (vgl. auch Vico 1965: 204). Bei Platon sind Dichter und politischer Souverän also direkte Konkurrenten: „So sind wir denn beide Dichter im gleichen Fach, und ihr [Dichter] habt uns als Nebenbuhler in der Kunst und als Mitbewerber um dem Preis des schönsten Dramas anzusehen“ (Nomoi, 817b; vgl. dazu auch Faden 2005: 103f.) Seit der Antike geistert durch die abendländische Geistes- und Kulturgeschichte ein Künstlerbild, das den Habitus des Intellektuellen und Literatur- 7 Dabei hatte sich in der realgeschichtlichen griechischen Polis längst die Funktion des Dichters als Erzieher und Führer des Volkes etabliert; von daher erklärt sich auch das Ressentiment Platons. Vgl. dazu die Ausführungen zur Literatur bei Hub 2009. Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 15 produzenten grundlegend geprägt hat. Die mythische Erzählung vom Dichter an der Macht und als Konkurrent um die Herrschaft über das Volk ist bloß der Beginn eines sich in der Moderne profilierenden Phantasmas vom Dichter als Souverän (vgl. Faber 1999 und Pornschlegel 1994). Das prominenteste Beispiel für diese Figuration ist die Dichterkrönung Petrarcas auf dem römischen Kapitol am 8. April 1341. Der Dichterkönig inszeniert sich hier, nach Empfang der Krone aus den Händen des Senators, als „Künder der Wahrheit“ und „Spender des Nachruhms“ und wird zum „poeta eruditus“ (Buck 1972: 12). Diesem Ritual lässt sich eine erste Engführung von Souveränität und sozialer Vorbildhaftigkeit im Typus des Dichterkönigs ablesen. In der Krönung, die nicht selten bis zur Vergöttlichung des Künstlers (etwa die Weihung Michelangelos zum „Divino“) reicht, manifestieren sich außerdem zwei grundlegende Paradigmen, auf die Kantorowicz hingewiesen hat: Dichter-Souveränität wird, erstens, zu einer Art Experimentierraum für die sich politisch noch herausbildende absolutistische Souveränität. Und zweitens: mit geradezu exterritorialer Autorität ausgestattet, sieht sich der Dichter jenseits des Rechts, erhebt den Anspruch, über die gesamte Humanität zu urteilen, um selbst aber, wie Petrarca betonte, allein vom fürstlichen ‚Freund‘ kritisiert werden zu können (vgl. Bredekamp 2006). Kein Geringerer als der 1442 von Kaiser Friedrich III. in Frankfurt am Main gekrönte Dichter Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., steht am Beginn einer langen Reihe von poetae laureati, die seit dem Barock auch von Universitäten gekrönt wurden. 8 Pius II. Piccolomini war einer der produktivsten Intellektuellen seiner Zeit und durchaus ein humanistisch geprägter Geist, dessen literarische Werke nicht selten in Widerspruch zu seiner späten theologischen Karriere standen, der aber in der Rhetorik ein passendes Werkzeug für seine genealogischen und nationalen Interessen gefunden hatte. Das Hofamt des poet laureate sollte aber vor allem in England zur festen Institution werden, und Ben Johnson zeigt als ein prominenter Inhaber, dass hier durchaus auch Literatur von hoher Qualität erzeugt wurde (Trapp 1982, vgl. grundlegend Raulff 2006). Es ließe sich darüber diskutieren, inwiefern die von Goethe initiierte und bis zum George-Kreis reichende Variante des ‚Dichterfürsten‘ noch in dieser Tradition steht. Kulturgeschichtlich interessanter erscheint allemal der gründerzeitliche Kult um den Weimarer Dichterfürsten, der in Deutschland den „ästhetischen Staat“ (im Sinne Friedrich Schillers) mit einem anderen Traditionsstrang zusammenbringt: Kein Dichterfürst kommt nämlich ohne sein Alter Ego aus, ohne den „Staatskünstler“ (Raulff 2006: 7-17); Goethe und Bismarck, der Dichterfürst und der Staatsschöpfer, - sie bilden im bildungsbeflissenen 19. Jahrhundert das neue Doppelgestirn. Und die Doppe- 8 Näheres dazu im Beitrag von Volker Reinhardt im vorliegenden Band. Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 16 lung von Dichterfürst und Staatskünstler reicht in der Folge bis zur avantgardistischen Verschmelzung von Kunst und Politik im 20. Jahrhundert. Seit Renaissance und humanistischer Dichterverehrung haben sich also diverse historische Konjunkturen entwickelt, die die Akzente zwischen Dichten und Herrschen jeweils unterschiedlich gesetzt haben: Die Verwandtschaft von Politiker und Künstler im Konzept des ästhetischen Staates hat aber noch eine weitere genealogische Linie als die idealistische Kunstpädagogik Schillerscher Prägung. Das Wort der „Staatskunst“ geht nämlich zurück auf Jakob Burkhardt, der in seinem berühmten Buch über die Kultur der Renaissance in Italien die Wendung des irregulären Staatengründers als (auch) ästhetischem Gewaltmenschen geprägt hat (Burkhardt 1989: 53ff.). Hier werden erstmals auch dichtungsferne Geschäfte ästhetisiert. Die Schöpfung einer politischen Gemeinschaft mittels List und Tücke, die menschlichen Wünsche und Triebe von genialischen Ausnahmepersönlichkeiten artistisch orchestriert, all dies beschreibt Burckhardt im ersten Kapitel seines Renaissance-Buches „Der Staat als Kunstwerk“ (dabei den historischen Machiavelli im Blicke) in einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung. Der alte deutsche Begriff der Staatskunst, der auf ein praktisches Vermögen des Regierens (eine techné) verweist, wird hier gleichsam poetisch geadelt und mit jener Portion Gewalt angereichert, die sich bei den Künstler-Diktatoren des 20. Jahrhunderts nochmals in aller Radikalität entfesseln sollte. Regierung und Dichtung: Fürstliche Erziehungsprogramme und frühneuzeitliche Poetiken Was ist aber nun mit dem sozialen und kulturellen Rollenmodell eines arrivierten Staatslenkers, der sich auch in schönen Künsten, insbesondere in Literatur übt, und diese Tätigkeit sozusagen mit und neben den Regierungsgeschäften in die Gesellschaft trägt? Für die Adelskultur des Mittelalters war die Einheit von Dichter, Krieger und Feudalherrn nicht ungewöhnlich. Nicht zufällig galt der alttestamentarische König David, der Verfasser von kunstvollen Psalmen, dem christlichen Mittelalter als Prototyp des Dichters und wurde u.a. als Patron der Meistersinger verehrt (Flusser 2007). Der Prototyp des dichtenden Staatsbeamten ist sicherlich Giacomo da Lentini, der am sizilianischen Hofe Friedrichs II. von Staufen sich selbst in seinen Gedichten als „il notario“ bezeichnete. Er gilt in der Literaturgeschichte als der Erfinder des Sonetts. Ein Relief an der Außenwand des Pallazzo dei Normanni in Palermo aus dem 19. Jahrhundert setzt Friedrich selbst als Dichter im Kreise seiner Höflinge in Szene. 9 Auch wenn die Autorschaft der dem 9 Inwiefern die Dichterfigur des Stauferkaisers ein Produkt seiner Mythisierung und Heroisierung im 19. Jahrhundert ist, der sizilianische Dichterhof eine Art Renaissance- Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 17 Kaiser zugeschriebenen poetischen Leistungen ungesichert ist, so lässt sich die rege intellektuelle Tätigkeit am sizilianischen Hof durchaus als Präfiguration eines ‚Künstlerstaates‘ sehen, wie die Mitglieder des George-Kreises im 20. Jahrhundert das Ineinandergreifen von weltlicher Lenkung und dichterischer Inspiration bezeichneten. Insofern stellt die von Dante so benannte scuola poetica siciliana (Sizilianische Dichterschule) mit dem selbst dichtenden Friedrich das Ideal des Verse schmiedenden Staatsmannes dar, ein Ideal, das über den Nimbus des Reichseinigers hinaus mit der Glorie des säkularen Heilsbringers ausgestattet war, da mit Friedrichs Herrschaft die arabische Besiedelung Siziliens endete und die Insel endgültig in den christlichabendländische Kulturraum eingegliedert wurde - bei gleichzeitigem Bewahren der ‚arabischen‘ Kulturüberlieferungen. Die romanistische Forschung hat in der Folge die Dichterschule um (den selbst dichtenden) Kaiser Friedrich als Gründungsmoment einer italienischen Nationalliteratur beschrieben. Seit der Renaissance scheint ein Bedarf entstanden zu sein, das komplexe Verhältnis zwischen Dichtung und Herrschaft neu zu arrangieren und zu regulieren. Darauf verweist eine intensive Kodifizierung des Anteils der Kunst, im Besonderen der Dichtung, an der Person des Potentaten und am sozialen Gefüge der Macht. 10 Ihre Spuren finden sich in so unterschiedlichen Genres wie den humanistischen Hofmannstraktaten, den Fürstenspiegeln, aber auch in jenen poetologischen Regelwerken, die Gattungen wie die panegyrische Kasuallyrik beschreiben. Heuristisch ließe sich die dichterische Tätigkeit von Staatsmännern, sofern sie publik gemacht wird, als Kehrseite oder als Spiegelbild der enkomiastischen Auftragskunst analysieren. Allein schon die Nähe, die Staatslenker immer wieder zu den Dichtern gesucht haben, die sie huldigen sollen, lässt ihr eigenes literarisches Schaffen in einem diffusen Licht zwischen Auftragskunst und literarischem Anti-Diskurs erscheinen. Maximilian I. (1459-1519), der erste große Dichter-Kaiser an der Schwelle zur Neuzeit, erhob ganz im Sinne des humanistischen Ideals seiner Zeit den Anspruch auf universale Kenntnisse in allen Wissenschaften und Künsten, was nicht zuletzt die dilettierende Aneignung und praktische Ausübung dieser Kenntnisse einschloss. Den Nachweis einer Eignung zur Herrschaft musste ein Fürst nicht nur als princeps doctus, sondern auch als princeps artifex erbringen, so lehren es die zahlreichen Erziehungstraktate in Italien, aber auch in Deutschland, Frankreich und England, durchaus in Analogie zu den Poetiken der Frühen Neuzeit, in denen der (an den Texten der Antike geschulte) Dichter als poeta doctus bezeichnet wird. In einer 1514 entstandenen Musenhof avant la lettre darstellt und Friedrichs Autorschaft selbst nicht unproblematisch ist, diskutiert Rader 2010: 258-285, bes. 274f., 283. 10 Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang E. J. Weber in diesem Band. Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 18 Biographie des Kaisers wird berichtet, dieser habe in seiner Jugend bereits neben den obligatorischen septem artes auch Sprachen und freie Künste intensiv studiert, nicht zuletzt sich in der Malerei, in der Architektur und im Handwerk geübt. 11 Der Weißkunig erwies sich dabei als ein veritables Erziehungsprogramm, das im Hause Habsburg auch für die kommenden Generationen maßgeblich blieb. Weitestgehend waren aber die plastischen Künste, vor allem das Zeichnen und die Malerei sowie die Baumeisterkunst als stilbildend für das politische Handwerk frühneuzeitlicher Herrscher, wie etwa noch in Gottfried Wilhelm Leibniz’ Lettre sur l’éducation d’un prince von 1685/ 86, deren Bedeutung für die Erziehungsmaßnahmen am preußischen Hof keineswegs zu überschätzen sind. Das 17. Jahrhundert 12 ist in Frankreich die Hochzeit des Absolutismus und zugleich die Hochzeit der Reflexion über die Ethik des Zusammenlebens bei Hofe. So findet sich besonders für den Zeitraum von 1600 bis 1660 eine große Anzahl von Hofmannstraktaten, die - wie auch häufig das Theater und der Roman in dieser Zeit - Anleitungen zur Bildung von Verhaltensidealen darstellen. Der zentrale Begriff ist dabei die honnêteté, wie sich am Beispiel von Nicolas Farets 1630 erstmals publiziertem Werk L’Honneste Homme ou l’Art de plaire à la cour, das eines unter vielen ist, zeigen lässt. Der Prinz ist dabei als Teil des Hofes zu betrachten, der ebenfalls die qualités der gentils-hommes zu erwerben hat. Neben dem Umgang mit Waffen und der Kunst der Konversation (besonders mit Frauen) ist der Hofmann angehalten, sich durch die Schriften zu bilden. Die Lektüre der antiken Philosophen, Mathematiker und Ökonomen steht dabei ebenso auf dem Plan wie die Beschäftigung mit Politik, Moral und Geschichte. Darüber hinaus sollte sich der Hofmann schriftlich gewandt auszudrücken, „de bien écrire en prose“ (Faret 1970: 30). Die Beschäftigung mit schöner Poesie hingegen wird als ein „excercice plus agréable que nécessaire“ (ebd.: 31) angesehen. In Louis XIV zeremoniellen „Theater der Emotionen“ sind vornehmlich die Blicke, die Spielformen des Spektakels und diverse Körperpraktiken ausschlaggebend. Geschriebene Dichtung war dort als Kulturtechnik eher randständig (vgl. Kolesch 2006). Faret diagnostiziert für sein Zeitalter einen Missbrauch der hohen Dichtkunst, der durch allzu zahlreiche stümperhafte Verseschmiede verursacht wurde, und durch welche die Poesie all ihren Wert und ihre gloire (! ) eingebüßt habe. Damit ist sogleich das Diktum über den dichtenden Herrscher gefällt. Gehört er wirklich zu jenen Eingeweihten, denn „le 11 Vgl. Der Weiß Kunig. Eine Erzehlung von den Thaten Kaiser Maximilian des Ersten. Von Marx Treitzaurwein auf dessen Angeben zusammengetragen, nebst von Hannsen Burgmair dazu verfertigten Holzschnitten. Herausgegeben aus dem Manuscripte der Kaiserl. Königl. Hofbibliothek, Wien 1775; Kaiser Maxilimilans I. Weisskunig, hg. v. Heinrich Theodor Musper, 2 Bde., Stuttgart 1956. - Vgl. dazu den Beitrag von Kristina Rzehak in diesem Band. 12 Vgl. am Beispiel Richelieus den Aufsatz von Roland Alexander Ißler in diesem Band. Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 19 nombre est si petit de ceux qui peuvent dignement toucher à des mystères si relevez, que les meilleurs siècles ont eu peine d’en produire deux ou trois excellents en ce divin mestier, qui ne souffre rien de médiocre.“ (ebd.) Kultursoziologische Annäherungen: Literatur von Staatsmännern zwischen Heteronomie und Autonomie Der Souverän des 16. und 17. Jahrhunderts wendet sich neben den Staatsgeschäften primär der Waffenkunst, der Philosophie, dem Studium der Naturwissenschaften sowie den antiken Geschichtsschreibern zu. Den Weg zur hohen Literatur, gar die Herstellung eigener Dichtung ist - bis auf die wenigen Ausnahmen einiger humanistisch gebildeter Monarchen wie Maximilian I. - kaum begangen worden. 13 Erst um 1700, so die diesem Band zugrundeliegende Hypothese, gerieten zunehmend die Dichtung und Philosophie zum Ideal fürstlicher Bildung und Betätigung. Es ist die Zeit, in der sich auch ein neuer Typus des Dichter-Monarchen herausbildet, der nun unmittelbar in Konkurrenz zum bürgerlichen Intellektuellen des Aufklärungszeitalters steht, der seine kulturellen Energien und sein soziales Prestige (und damit seine Autorität als Dichter! ) aus einer zunehmend autonomen Sphäre der Kunst bezieht. Nicht zuletzt tritt mit dem Berufsschriftsteller eine neue Sozialfigur auf den Plan, und mit der Herausbildung des Literaturbetriebs entwickeln sich neue Logiken der Autorisierung und Konsekration von Kunst und Literatur. 14 Der vorliegende Band interessiert sich ausdrücklich nicht für die zahlreichen Beispiele an zuerst philosophischen oder literarischen Intellektuellen, die anschließend eine politische Karriere machten (etwa die zahlreichen hommes de lettre als prominente Köpfe der französischen und amerikanischen Revolutionen, die in den neuen Staatsgründungen zu professionellen Politikern avancierten). Vielmehr sollen jene ‚Berufs‘-Politiker im Mittelpunkt stehen, die qua Mandat, dynastischem Erbe oder Usurpation der Macht ihrer politischen Souveränität zusätzliche symbolische Kapitalsorten im Sinne Pierre Bourdieus hinzufügten. Dabei wird zu ermitteln sein, inwiefern die politische Macht einer Akkumulation an kulturellem Kapital dienlich, sogar Bedingung ihrer Möglichkeit oder vielleicht doch eher hinderlich ist. Gerade an der Genese eines autonomen literarischen Feldes, wie es sich mit 13 Eine Sonderstellung nimmt vor allem für die frühneuhochdeutsche Literaturgeschichte der Herzog Julius von Braunschweig ein. Vgl. dazu den Beitrag von Florent Gabaude in diesem Band. 14 Am Beispiel Friedrichs des Großen lässt sich dieses widersprüchliche Selbstverständnis eines dichtenden Monarchen, der regen Umgang mit den zentralen Literaturintellektuellen und Philosophen seiner Zeit pflegt, besonders gut verdeutlichen. Vgl. dazu den Beitrag von Vanessa de Senarclens in diesem Band. Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 20 seinen eigenen Spielformen, Gesetzlichkeiten, Distinktions- und Positionierungsoptionen im Laufe der europäischen Moderne herausgebildet hat, lässt sich exemplarisch zeigen, was alles ‚auf dem Spiel‘ steht, wenn das politische Amt mit den Mechanismen der Kunstautonomie in Konflikt gerät (Bourdieu 1999: 355). In der dilettantischen Beschäftigung von Potentaten mit Literatur äußern sich nicht selten historisch zu spezifizierende Distinktionsversuche, die das fürstliche, später auch diktatorische Selbstverständnis eines freien Dilettanten als Standesprivileg gegenüber der bürgerlichen Entourage an Akademikern, Kunstliebhabern oder künstlerischen Handwerkern behaupteten. Ein treffendes Beispiel dafür ist das Dankesschreiben des preußischen König Friedrich II., das dieser 1776 an die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften schickte, als diese ihn zum Mitglied ernannt hatte. Friedrich beteuert, er sei lediglich „ce que les Italiens appellent un dilettante, et, par conséquent peu propre à me trouver dans la compagnie de quelques-uns des plus savants hommes de l’Europe“ 15 . Verbunden wisse er sich mit der Akademie indes aus dem alleinigen Grund, dass sie durch die aufgeklärten Wissenschaften ihrem Land, dem russischen Imperium und ihrer Herrscherin (Katharina der Großen) Glanz verleihe. Der zu dieser Zeit heftig umkämpften Semantik des Dilettanten fügt Friedrich eine literatursoziologisch durchaus interessante Konnotationsebene dazu: Das scheinbare Bekenntnis zum Dilettantismus ist möglicherweise auch Ausdruck eines fürstlichen Intellektuellenbildes, das bewusste Distinktionsgewinne gegenüber dem bürgerlichen Gelehrten, Berufsschriftsteller oder kunstliebenden Amateur sucht. Und sicherlich auch Ausdruck einer captatio benevolentia, die der Preußenkönig hier anwendet, um Anerkennung von einschlägig Berufenen, wie zum Beispiel seinem großen Vorbild und Mentor Voltaire zu erheischen. Wie genau Friedrichs Lyrik sich auch literatur- und gattungsgeschichtlich positionierte, zeigt ein jüngst wiederentdecktes (und in den deutschen Feuilletons kontrovers diskutiertes) erotisches Gedicht mit dem Titel „La Jouissance“ von 1740. Vanessa de Senarclens hat nachgewiesen, dass Friedrich sich hier nicht nur subtil in die sensualistische antike Tradition der Liebesdichtung (Horaz), der epikureischen Lehrdichtung und der Liebesphilosophie (Ovid) einschreibt, sondern seine Dichtung zugleich eine feines Gespür für die poésie fugitive seiner Zeit aufweist, mithin für die einschlägigen Codes der Ästhetik des Rokoko in den Briefen, Salons und literarischen Werken seiner Zeitgenossen (vgl. Senarclens 2013). 15 Friedrich II. von Preußen an Sergei Gerasimowitsch Domaschnew, 17. November 1776. „[…] das, was die Italiener einen Dilettanten nennen, und deshalb wenig geeignet in einem Atemzug mit den weisesten Männern Europas genannt zu werden.“ (Übersetzung SW) Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 21 Nebenbei gewährt die Unverbindlichkeit des Dilettierens die Option, in unterschiedlichen Kontexten jeweils als Regent, daneben aber auch als Architekt, Philosoph, Musiker oder Dichter adressiert zu werden (vgl. Rosenbaum 2007: 233). Da die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Dilettanten sich kulturgeschichtlich an jener Schwelle ereignet, an der die Kunst für sich Autonomie reklamiert (Vaget 1970: 131), konnte der Dilettantismusbegriff von der Warte autonomer Künstlergenies der aufkommenden Goethezeit dazu eingesetzt werden, um den wahren ‚Künstler‘ vom profanen Kunstliebhaber und -kenner zu trennen. Er verweist auf defizitäre oder „gescheiterte Künstlerschaft“ (Leistner 2001: 64). Dagegen überlebt das aristokratische Ideal fürstlichen Dilettierens das große Auseinanderbrechen von Wort- und Tatenwelten um 1800. Indem es die Unterteilung von Schöngeistigem und politischem Tagesgeschäft, von Kunstsphäre und politischem System in der Moderne unterläuft, bereitet es das Feld vor, in dem sich im zwanzigsten Jahrhundert politische und künstlerische Souveränität zusammenschließen können: im extremen Programm der Kunstavantgarde, die Kunst in Politik (und Leben) überführen will; und in den totalitären Bewegungen, in denen Führer den Körper ihres Staates und den Leib ihres Volkes wie ein Kunstwerk schöpferisch zu formen begehren. Der fürstliche Dilettant steht in dieser Weise jedenfalls jenseits der „gesetzgebenden Gewalt in kulturellen Dingen“ (Bourdieu 1991: 77), die Pierre Bourdieu als durch die Autonomisierung des kulturellen (und literarischen) Feldes sanktioniert sah. Seine Literaturproduktion unterliegt den eigenen Gesetzen. Dabei gilt es den Fokus der Untersuchung darauf zu richten, wie das jeweilige literarische Schaffen des Herrschers zu seinen Regierungstaten proportioniert ist. Und wie es sich in die Strategiekämpfe und Auseinandersetzungen des zeitgenössischen literarischen Feldes einfügt bzw. raushalten kann. Was kann schließlich die literarische Produktionsweise von Staatsmächtigen über den Funktionswandel der Literatur selbst aussagen? Die Literaturgeschichte von Staatsmännern als Teil einer Kulturgeschichte des Politischen Die Literaturgeschichte dichtender Staatsmänner, Gedichte und Dramen verfassender Kirchenmächtigen sowie schriftstellender Frauen an der Macht ist noch zu schreiben. Dieser Band versteht sich als Unterfangen, erste Bohrungen in diesem weiten und bezüglich der Textsorten sehr heterogenen Feld zu wagen und dabei den Bogen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, von Alteuropa bis in die Vereinigten Staaten von Amerika und in die arabische Kulturtradition zu spannen. Dabei lässt sich das bisher Skizzierte in einer Reihe auch systematisch zu verfolgender Fragestellungen bündeln: etwa nach begriffssemantischen Kontinuitäten und Brüchen, nach Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 22 der kulturhistorischen Tradierung sowie der Umakzentuierung von Topoi („Künstlerstaat“, der „Künstler-Souverän“), nach einer Typologie von Sozial- und Künstlerfiguren (etwa der „fürstliche Dilettant“ oder der Herrscher als „uomo universale“, als Universalgelehrter), die nicht zuletzt auch durch Epochenbilder kodiert sind; nach dem funktionalen Stellenwert der Literatur in der Inszenierung von Herrschaft und an der Affektmodulation (vgl. Meyer-Sickendiek 2005); schließlich nach der Geltung von fürstlichen Erziehungsprogrammen und poetologischen Regelungen sowie nach dem literatursoziologischen Verhältnis der Pole Autonomie und Heteronomie in den literarischen Produktionsweisen. Neben diesen großen Linien sind immer auch die kulturellen und kontextuellen Eigenheiten der jeweiligen Untersuchungsgegenstände zu berücksichtigen. Die Herausgeber sind sich darüber im Klaren, dass eine Literaturgeschichte dichtender Lenker wohl kaum anders denn als Fallgeschichte geschrieben werden kann. Gleichwohl wird es darum gehen, in Bezug auf die Genealogie von Literaturproduktion am Pol der Macht auch historische Hypothesen zu wagen und jeweils zu überprüfen. Dabei gilt es grundlegend zu klären, was genau wir eigentlich unter ‚Literatur‘ verstehen müssen? Dazu einige transatlantische Fallbeispiele: Unter den US-amerikanischen Präsidenten gibt es von Beginn an eine ehrwürdige Tradition an staatsmännischer Poesie. Abraham Lincoln gilt als der Verfasser von mindestens zwei umfangreicheren epischen Gedichten („The Bear Hunt“, 1847), einer Reihe an kurzen Versen sowie einer rätselhaften Selbstmord-Notiz, die den Titel „The Suicide’s Soloquy“ trägt, publiziert am 25. August 1838 im Sangamo Journal (Springfield). Berühmter noch ist sicherlich die „Jefferson-Bibel“, die der Mitverfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Universalgelehrte Zeit seines Lebens verfasste. Erst posthum publiziert, handelt es sich um eine narrativ anspruchsvolle Umerzählung des Neuen Testaments, die religiöse Finessen und Deutungen mit einem literarisch ambitionierten Stilwillen verbindet. 16 Dass auch eine solch schillernde Präsidentenpersönlichkeit wie der Lebemann Theodore Roosevelt 17 neben seinen unzähligen Aktivitäten in Sport, Reiten, Großwildjagd noch Zeit für das Schreiben populärer Geschichtsbücher fand und sich mit der adäquaten Erzählweise von Tiergeschichten auseinandersetzte, ist ebenso bemerkenswert wie die Lyrik Jimmy Carters, 18 den Harold Bloom einmal als „literally the worst poet in the United States“ (zit. nach Perlin 2010) bezeichnete. Im Gegenzug dazu äußerte sich der Yale-Literaturwissenschaftler übrigens durchaus angetan von zwei jüngst entdeckten Gedichten, die Präsident Obama als Undergraduate geschrieben haben will (vgl. Mead 2007). 16 Lipscomb/ Bergh 1903-04; The Jefferson Bible: The Life and Morals of Jesus of Nazareth (mehrere Auflagen, u. a. 2006). 17 Vgl. dazu den Aufsatz von Dominik Nagl in diesem Band. 18 Carter 1995; Carter ist auch der erste Präsident der USA, der einen Roman verfasst hat: The Hornet’s Nest, 2003. Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 23 Lässt sich das alles, lassen sich Bibel-Nacherzählungen, literarische Inszenierungen eines Selbstmordes, poetologische Miniaturen, Populärgeschichte und Präsidentenlyrik sinnvollerweise unter dem gleichen Begriff ‚Literatur’ fassen? Der vorliegende Band verfolgt einen ebenso weit gefassten wie pragmatischen Literaturbegriff, der mit Stephen Greenblatt davon ausgeht, dass es in der Literaturgeschichte immer um die „Geschichte der Möglichkeit von Literatur“ geht, „immer um die Beziehung zwischen den Bedingungen, die das literarische Werk für diejenigen, die es schufen, möglich machten, und den Bedingungen, die es für uns selbst möglich machen“ (Greenblatt 2000: 29). Lange Zeit galten Dichtungen von Politikern als Ausdruck ihrer Seele, als Signum ihrer ‚eigentlichen‘ Persönlichkeit. Gesucht wurde nach dem Privaten, jenseits aller Verstellungen, den subtilen Codes und Verhaltensetiketten, die das Teilsystem ‚Politik‘ vom Berufspolitiker erfordert. Noch heute spekulieren die Publikationsanstalten von Tagebüchern oder Memoiren prominenter Vertreter des Politikbetriebs mit einer Lesererwartung, die etwas über den ‚wirklichen‘ Menschen hinter der politischen Fassade in Erfahrung bringen will. Gerade bei der Literaturproduktion von Staatsmännern besteht aber nicht selten begründeter Zweifel, ob sie selbst als wahre Urheber ihrer Dichtung fungierten, zu wenig Zeit der Muße für Schreib- und Denkarbeit scheint doch das politische Geschäft zu erlauben und zu gängig ist, vor allem im Fall der politischen Memoiren, die Praxis des Ghostwriting. Um dieses Problem methodisch in den Griff zu bekommen, gilt es mindestens zweierlei zu beachten: Zum einen ist bei der Analyse von Herrscher- Literatur auf die paratextuellen, narratologischen oder rhetorischen Signale zu achten, die möglicherweise Auskunft über einen Literaturanspruch geben, sozusagen ‚Literatur-Literatur‘, also als Roman, Epos oder als Gedicht ausgelegt zu sein; neben dieses produktionsästhetische Argument tritt - zweitens - ein rezeptionsästhetisches: Was Bücher von Staatslenkern zum literarischen Ereignis macht, ist viel weniger ihre reale Autorschaft als ihre Namensgebung, weniger ihre Urheberschaft als ihre Zuschreibung. Letztere unterliegt freilich dem Verfügungshorizont einer Rezipientengemeinschaft von potentiellen Adressaten als Teil einer politischen Gemeinschaft (vgl. dazu klassisch: Jauß 1970: 168ff.). Unter Umständen können dann Geschichtsbücher oder Biographien, wie etwa Stalins Biographie über seinen Vorgänger Lenin, Literatur in jenem emphatischen Sinne sein, dass sie als Bestandteil eines „heiligen Textes der Macht“ wahrgenommen werden, „für den der Führer zugleich Interpretationsexperte und Urheber ist“, 19 bzw. als solche mit seiner Person und seinem Namen zeichnet. Darauf hat Evgenij Dobrenko in einer detaillierten Studie zu Stalins „Stil“ hingewiesen (vgl. 19 Valerij Podoroga: ‚Golos Vlasti i pis’mo vlasti‘, in: A. Kara-Murza (Hg.): Totalitarizm kak istoriceskij fenomen, Moskau 1989, S. 109. Zit. nach: Dobrenko 2011: 102. Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 24 Dobrenko 2011). Es ist also allgemein - analog zur Funktionsweise der Dichtung als Waffe gegen die Macht - auch beim Dialog zwischen dem Werk des Potentaten und seinem Publikum von Residuen wortmagischen Geschehens auszugehen. Vor diesem Hintergrund ist es doch einigermaßen überraschend, dass die komplexere Frage nach den funktionsgeschichtlichen Aspekten der im engeren Sinne literarischen Produktion von Politikern und Staatsmännern bisher kaum gestellt wurde. Denn ihre literarische Produktivität war in den seltensten Fällen reine Privatsache, einsame Meditation, beschränkt auf wenige Stunden der Muße und Auszeit - Begriffe, die freilich selbst wiederum zu problematisieren und historisieren wären. 20 Vielmehr war diese Literatur immer auch, sofern für die Öffentlichkeit bestimmt, mitkonstituierend für das Herrschaftsgepräge, mithin für die mediale Vermittlung von Regierungsgeschäften, für die Inszenierung von Macht und die charismatische Konturierung persönlicher Herrschaft. 21 Für diese Integration der Literaturgeschichte von dichtenden Staatsmännern in eine Kulturgeschichte des Politischen soll hier exemplarisch auf Friedrich II. von Preußen eingegangen werden. Zwar hatte Friedrich der Große einen Großteil seiner künstlerischen Energien in die Konzeption der gigantischen Bauvorhaben von Sanssouci investiert (Rosenbaum 2007: 233-256); neben der Beschäftigung mit Herrschaftsarchitektur war es aber vor allem das lyrische Werk, mit dem er als König Furore machte. Ursprünglich schrieb Friedrich Gedichte, die er im privaten Kreis vor engen Vertrauten vortrug, die also eigentlich nicht für die Veröffentlichung bestimmt waren. Die ältere Forschung hat diesen klandestinen Umgang mit der Lyrik des preußischen Königs therapeutisch gedeutet, sah in seinen poetischen Ergüssen eine Form unpolitischer „Alltagsbewältigung“ und ein Ringen um „seelische[n] Balance“ (Ziechmann 1985: 252; auch Fink 1997: 108-128, 270-275). Ein medien- und kommunikationswissenschaftlicher Blick auf Friedrichs Oden offenbart indessen - jenseits vulgärpsychologischer Annahmen über den Gemütszustand eines aufgeklärten Monarchen - eine komplexe Mitteilungsstruktur, die von Stilübungen in höfischer Kommunikation, ethischer Reflexion von Tugenden, Lastern und Idealen bis hin zur Festigung von Vertraulichkeit und Gruppenidentität im Umfeld eines roi philosophe zeugen, der auf den Hofstaat im klassischen Sinne zunehmend verzichtete (vgl. Pečar 2008). Dass gerade im Verzicht auf eine Veröffentlichung der Gedichte eine politische Botschaft gleichsam medial versteckt ist, in dem Sinne nämlich, dass die Adressaten der Gedichte 20 Vgl. am Beispiel der Kaiserin Elisabeth von Österreich diese Problematik von Privatem und Öffentlichem im Beitrag von Clemens Götze im vorliegenden Band. 21 Kaiser Wilhelm II. als Schriftsteller nach seiner Regierungszeit behandelt Volker Meid im vorliegenden Band. Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 25 sich dadurch besonders hervorgehoben sehen, macht die Lyrik Friedrichs zu einem wichtigen Bestandteil der Selbstinszenierung des preußischen Monarchen. Kein Geringerer als Voltaire soll bei seiner Abreise aus Potsdam einige Gedichte des Königs mit sich geführt haben, was dazu führte, dass man ihn in Frankfurt kurzzeitig verhaften ließ, bis er alle Gedichte wieder abgegeben hatte. Wie komplex Rhetorik und Politik hier ineinander spielen, zeigt sich auch an den Raubdrucken der Lyrik Friedrichs: So erschien in Lyon inmitten des Siebenjährigen Krieges eine unautorisierte Fassung der Gedichte unter dem Titel Œuvre du Philosophe de Sans-Souci. Da Friedrich sich mehr oder weniger offen über Charakter und Art seiner Bündnispartner äußerte, versuchten seine Gegner damit propagandistisch in die Strategieplanungen und Bündnispolitik der Großmächte einzugreifen. Die Tatsache, dass Friedrich im Anschluss eine gereinigte Ausgabe der Gedichte unter dem Titel Poésies Diverses (1767) - wenn auch anonym - veröffentlichte, weist auf die Brisanz der Publikation hin, was ihn anschließend aber nicht vor satirischen und parodistischen Gegenschriften bewahren sollte (vgl. Droysen 1911: 227f.). Die besondere Leistung der Publikationspolitik Friedrichs dürfte aber darin liegen, dass er mit einem literarischen Werk den (nach Niklas Luhmann) ureigenen Kommunikationsmodus von Politik erfüllte, nämlich die „Bindungswirkung auf Kollektive“ (Mergel 2002: 587). Jürgen Overhoff und Vanessa de Senarclens schreiben in ihrer Anthologie des literarischen Werkes Friedrichs des Großen zur Rezeptionsgeschichte der Poésies Diverses: In zahlreichen Broschüren wurden die Verse des Königs mit patriotischem Stolz besprochen. Unter dem Eindruck des Siebenjährigen Kriegs wurden zunächst jene Oden und Episteln übersetzt, die sich mit kriegerischen Themen befassten […]. Friedrich prägte damit den preußisch-patriotischen Stil der Zeit; viele Dichter ahmten die Gedichte des Philosophen von Sanssouci nach, besonders jene Verse, in denen er die Tugenden der Preußen gerühmt werden (Overhoff/ Senarclens 2011: 299). Die bisherigen Beobachtungen lassen sich in einem Fragenkatalog wie folgt perspektivieren: Die Hinwendung des Herrschers zur Literatur kann nicht nur zum temporären Aufschub des Staats- und Regierungsgeschäftes führen, sondern bietet nicht selten auch einen Rückzug aus dem öffentlichen Raum in die Privatheit und die Reflexion. Wie wird dieser Rückzug genutzt? Schult und entfaltet sich in der gestalterischen Auseinandersetzung mit dem (Propaganda-)Instrument Sprache etwa gar ein kritisches Herrscherbewusstsein oder dient der literarische Ausdruck lediglich der Legitimierung und Sakralisierung des eigenen Herrschaftsanspruchs, bzw. der Herausbildung hypertropher und hochnarzisstischer Persönlichkeitsstrukturen? (vgl. Wick 2008) Antizipiert oder transzendiert das literarisch-künstlerische Werk das Regierungsprogramm? Wie verhält sich staatsnahe Dichtung mit der idealis- Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 26 tischen Vorstellung einer künstlerischen Organisation der Menschheit jenseits des Staates unter Führung von Künstlern oder Literaten? Dichtende Despoten - Ein Sonderfall oder die Probe aufs Exempel? Es war Thomas Mann, der bekanntlich an „Bruder Hitler“ beobachtete, dass nicht nur in jedem Künstler ein Despot stecke, sondern nicht minder eine ausgeprägte Neigung des Gewaltherrschers zum Ästhetischen auszumachen sei (vgl. Mann 1974). „Tief im Inneren“, so schreibt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, „weiß jeder Herrscher, daß ihm der Künstler überlegen ist, weil dieser nicht ersetzt werden kann. Aus dieser Schieflage speist sich eine latente und immer wieder durchbrechende wechselseitige Abneigung“ (Bredekamp 2006: 33f.). 22 Dass besonders totalitäre Herrschaftsformen eine Affinität zum Ästhetischen, bzw. zur Ästhetisierung ihrer Politik aufweisen, lässt sich im 20. Jahrhundert vielfach nachweisen (grundlegend: Koschorke/ Kaminskij 2011). Auf der einen Seite stehen jene Dichter, die zumindest temporäre intellektuelle Bündnisse mit den Totalitarismen ihrer Zeit eingegangen sind (vgl. Koenen 1992). Die Lobgesänge linker Schriftsteller auf Stalin, die Verführbarkeit der literarischen Moderne durch die europäischen und lateinamerikanischen Faschismen, all dies ist hinlänglich bekannt und gut erforscht. Auf der anderen Seite aber lässt sich eine Tendenz unter Gewaltherrschern und Despoten ausmachen, die man in Anlehnung an die bereits erwähnten Ausführungen Jakob Burckhardts als ‚ästhetische Staatsführung‘ bezeichnen könnte. Dabei ist bemerkenswert, dass sich, wie schon Burkhardt an den Tyrannen der italienischen Renaissance-Stadtstaaten zeigen konnte, ein inniges Verhältnis von Ästhetik und Gewalt in der Gründung von staatlicher Herrschaft ausmachen lässt. Bis weit in die Neuzeit hat als sowohl faszinierend-dunkles wie abschreckendes Beispiel der römischer Kaiser Nero gegolten, gewissermaßen der Prototyp eines Künstler-Despoten auf dem Thron (Elbern 2010: 111f.; Flaig 2006; Grant 1978): Von einer grausamen, in gewissem Sinne ‚künstlerischen‘ Megalomanie des Kaisers zeugt nicht nur das von Tacitus überlieferte Gerücht, dass Nero Rom selbst in Brand gesteckt habe, um sich als Neuschöpfer und Neugründer der Stadt unsterblich zu machen (Annalen XV, 40.2); darüber hinaus trat er öffentlich als Sänger eigener Lieder auf und als Schauspieler. Von Sueton wissen wir, dass Nero wohl auch große dichterische Ambitionen hatte, auch wenn nur wenige Verse überliefert sind. Nichts weniger als ein Epos über den Trojanischen Krieg hatte der Kaiser geschrie- 22 Dieser Konflikt lässt sich auf besondere Weise aus den Tagebüchern von Joseph Goebbels herauslesen. Vgl. dazu den Aufsatz von Anke Gilleir in vorliegendem Band. Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 27 ben, in dem der Antiheld Paris der Hauptheld war. Was Nero aber zum politischen Verhängnis wurde, so vermuten antike Quellen, war die Tatsache, dass er von dem von ihm persönlich angezettelten Brand Roms dahingehend profitierte, dass er, so Egon Flaig, „den Untergang Trojas und Roms besingen konnte. Der Gesang war der Zweck der Brandstiftung“ (Flaig 2006: 27). An Nero, dem Brandstifter, Mutter- und Christenmörder, konnte die Nachwelt immer wieder exemplifizieren, wie eng die Verwandtschaft zwischen Willkür, Alleinherrschaft und künstlerischem Größenwahn ist, ja wie nah - so formulierte es Burkhard Müller 2003 in der Süddeutschen Zeitung - „das Gedicht neben Mord und Folter steht, wie die Hand, die den Gummiknüppel schwingt, auch eine Feder führen kann“ (vgl. Müller 2003). Die Inszenierung des Despoten als Literaten ist aber keineswegs ein rein europäisches Phänomen. Zu erforschen wäre insbesondere die Funktion, welche der Literaturproduktion von Machthabern in den arabischen 23 und afrikanischen Kulturräumen zukommt. Eine zu überprüfende These wäre die von Burkhard Müller (2003) geäußerte Vermutung, dass sich gerade in schwachen, sich im Aufbau befindlichen, oft postkolonialen Staatengebilden, die autoritär regiert werden, der einsame Machthaber nicht zuletzt auch über die eigene literarische Handhabung der Volkssprache eine Art ästhetische Totalinklusion seiner Staatsgemeinschaft versucht. Dass letztere Hand in Hand mit Gewalt geht, scheint ein Strukturmerkmal diverser Diktaturen zu sein. Muammar al-Gaddafi, 24 der kurz nach dem von ihm geleiteten Militärputsch eine hagiographische Biographie in Auftrag gab, die den Titel Gaddafi, der Prophet aus der Wüste trug, schrieb in den 1970er Jahren das berüchtigte „Grüne Buch“, das den Untertitel „Die Dritte Universaltheorie“ trägt und mit dem sein Autor nichts weniger als einen megalomanen Systementwurf neben Kapitalismus und Sozialismus intendierte. Daneben ist das selbsternannte Genie Gaddafi aber auch der Verfasser einer kleinen Sammlung von Erzählungen, mit dem seltsamen Titel „Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten“ (1993) (vgl. dazu Orth 201; Zerki 2003). Die höchst verstörenden Traumepisoden, unter anderem ein fantasierter Gang in die Hölle auf Dantes Spuren (vgl. Gaddafi 1999), lesen sich wie das Psychogramm eines schizophren-paranoiden Herrschers, dessen multiple Identitäten in der Angst vor dem eigenen Volk münden. Die literarisch mehr oder weniger beholfenen Selbstgespräche Gaddafis haben ihr Pendant in Saddam Husseins Roman Zabibah und der König. Eine Liebesgeschichte (dt. Berlin 2004). Auch hier handelt es sich um eine historisierende, allegorische Märchenerzählung, hinter der sich unschwer die Ängste, Leiden und Selbst- 23 Exemplarisch behandelt der Beitrag von Christopher Schliephake im vorliegenden Band die Literaturproduktion und Staatsästhetik des Scheichs von Dubai, Muhammad bin Raschid al Maktum. 24 Vgl. dazu den Beitrag von Julian Osthues in diesem Band. Patrick Ramponi (Hagen), Saskia Wiedner (Augsburg) 28 zweifel eines Despoten verbergen, was die CIA unter anderen dazu veranlasste, das Buch als „Fenster“ zum Kopf des irakischen Diktators zu nutzen. 25 Auch Kim Jong Il, der Machthaber und „geliebte Führer“ Nordkoreas, scheint in geradezu „mystischer Vermählung“ (vgl. Mangold 2003) - so formuliert der Literaturkritiker Ijoma Mangold - die koreanische Kultur seinem kreativen Geist einzuverleiben wollen: Hatte er 1969 die von seinem Vater höchst selbst verfasste Oper Der Blutsee verfilmt, so ist er immer wieder mit literarisch-musikalischen Mammutprojekten auf dem Buchmarkt tätig geworden, einiges ist sogar in englischer Sprache lieferbar (vgl. Kracht 2006). Für Jacob Burckhardts schillernden Begriff des „Pathos der Herrschaft“ ließe sich kein besseres Beispiel finden. 25 Vgl. das Vorwort zur deutschen, von Doris Kilias übersetzten Ausgabe, Bad-Wiesee- Holz 2004, S. 5. Dichter und Lenker, Literatur und Herrschaft. 29 Literaturverzeichnis: Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999. : Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a. M. 1991. Bredekamp, Horst: Antipoden der Souveränität: Künstler und Herrscher. In: Ulrich Raulff (Hg.): Vom Künstlerstaat. 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Niemals könne er in Frieden leben, er sei allezeit von Feinden umringt und wäre sogar im Exil vor einem Meuchelmörder nicht sicher. Simonides lässt Hieron sein Klagelied singen, um dessen Rede dann gegen ihn selbst zu wenden: Er führt dem larmoyanten Tyrannen eindringlich vor Augen, wie ungerecht seine Handlungen sind und dass er durch eine mildere Form der Herrschaft sowohl sein Volk als auch sich selbst glücklicher machen würde. Während es erst so aussieht, als würde Hieron seinen erstaunten Gesprächspartner belehren, erteilt am Ende der Dichter dem Tyrannen eine Lehre - mehr noch, er schwört ihn auf ein umfassendes Reformprogramm ein (Strauss 1963). II. Bei allem Respekt vor Xenophons Weisheit und vor der Deutungskunst von Leo Strauss: Ich muss ihnen widersprechen. Ich denke nämlich, dass Hierons Klage berechtigt ist. Es ist tatsächlich ein undankbares und einsames Geschäft, Tyrann zu sein. Insoweit sollte man es den Tyrannen nachsehen, dass sie gern in Selbstmitleid schwelgen. Sie können selbst ihren engsten Freunden nicht trauen und auch bei den Frauen, wie Millionäre, nie sicher sein, ob sie nur um ihrer Macht und ihres Reichtums willen oder als Men- 1 Eine Kurzfassung dieses Textes erschien am 07.01.2013 auf der Seite ‚Die Gegenwart‘ der FAZ. Albrecht Koschorke (Konstanz) 34 schen mit Herz und Blut geliebt werden. Wer sich ihnen freundschaftlich nähert, mag nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht sein und die Nähe zum Machthaber missbrauchen wollen. Und wer ihre Freundschaft nicht sucht, kann leicht zu der großen Zahl ihrer heimlichen Feinde gehören, die dem Herrscher nach dem Leben trachten - sei es aus Hass oder weil sie selbst seinen Platz einnehmen wollen. Das war in der antiken Tyrannis nicht anders als in der römischen Kaiserzeit oder in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Herrscher, die oft selbst durch eine Palastintrige oder einen Staatsstreich zur Macht gelangten, werden regelmäßig mit denselben Mitteln gestürzt, und diese Möglichkeit steht ihnen Tag und Nacht vor Augen. Überall lauern ihnen Gefahren; sie finden keinen ruhigen Schlaf, müssen oft mitten in der Nacht ihren Ort wechseln, um nicht angreifbar zu sein; sie lassen sich in der Öffentlichkeit durch Doubles vertreten; die Unsicherheit zwingt sie, sich durch einen militärischen-polizeilichen Apparat vor der Außenwelt abzuschirmen. Trotz aller Vorkehrungen aber endet ihr Leben regelmäßig auf die unschönste Weise: in Bunkern, Erdlöchern oder Kanalrohren, aus denen man sie schmutzig und mit verfilzten Haaren hervorzieht, um sie zu exekutieren. Nicht einmal diejenigen unter ihnen, die auf der Höhe ihrer Macht eines natürlichen Todes sterben, finden ihre letzte Ruhe. Ihre Leichen werden einbalsamiert, in gläsernen Sarkophagen ausgestellt und zum Objekt eines geschäftigen Staatskultes gemacht, was ja unterstreicht, dass sie sich nicht selbst gehören. Auch wenn es natürlich gute Gründe gibt, Diktatoren für ihre Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen, ist ein Gewaltregime - anders als Xenophon nahelegt und anders als auch heutige Berichterstatter es zumeist darstellen - nicht allein auf individuelles Fehlverhalten an der Spitze der Machtpyramide zurückzuführen. Insofern geht die moralische Belehrung, durch die Xenophons Simonides und nach ihm viele andere den Autokraten von seiner Selbstsucht zu heilen versuchen, am eigentlichen Problem der Gewaltherrschaft vorbei. Die Liste der Propheten, Philosophen, Dichter und Intellektuellen, die sich dem Herrscher als Ratgeber andienen und der Hoffnung hingeben, ihn durch bessere Einsicht lenken zu können, ist lang. Prominente Misserfolge im klassischen Altertum verknüpfen sich mit den Namen Platon und Seneca. Sie stehen exemplarisch für eine Paarung von Macht und Geist ein, die beiden Seiten etwas verspricht: dem Machthaber Unterhaltung, symbolische Aufwertung, erhöhte Legitimität; dem Weisen oder Künstler die Faszination der Machtnähe mitsamt den handfesten Vorteilen, die sich daraus ergeben. Doch ist dieser Pakt brüchig und jederzeit von Spannungen unterminiert, die zu seiner jähen Aufkündigung führen können. Dies allerdings nicht, wie ich im Folgenden zeigen will, weil Macht und Geist oder Macht und Kunst einander ausschließenden Sphären angehören, weil die Macht geist- oder kunstlos wäre und andererseits Geist und Kunst nur machtfern gedeihen. Im Gegenteil, es ist ihre innere Verwandtschaft, die sie Taten aus Worten 35 potentiell zu Rivalen macht und in einer ambivalenten Beziehung, einer Art Hassliebe, miteinander verstrickt. Was die geringe Erfolgsquote all jener Versuche angeht, Autokraten durch Austeilung guter Ratschläge zu bessern, so ist das Problem schon rein praktischer Natur. Die meisten Gewaltherrschaften sind so beschaffen, dass die ‚Bekehrung‘ des Mannes an ihrer Spitze auf seinen sicheren Untergang hinauslaufen würde. Er hat den Weg an die Spitze ja nur geschafft, weil er skrupellos war. Überdies folgen despotische Regimes häufig auf die Entsetzung eines schwachen Regenten und haben als warnendes Beispiel dessen hilflos-unglückliches Ende vor Augen. Es ergibt wenig Sinn, die Brutalität eines Regimes aus der Tatsache abzuleiten, dass dessen mächtigster Repräsentant ein Psychopath ist - auch wenn solche verkürzten Erklärungen sich zu allen Zeiten großer Beliebtheit erfreuen. Im Gegenteil, bestimmte psychopathologische Züge sind notwendig und insofern funktional, um sich unter den Bedingungen, unter denen ein despotisches Regime sich überhaupt bildet, durchsetzen zu können. Wer fähig und willens ist, verlässliche menschliche Beziehungen einzugehen, wird nicht die nötige Rücksichtslosigkeit haben, um sich in einer Gewaltherrschaft zu behaupten; und wer keine argwöhnische oder, im Grenzfall, paranoide Veranlagung hat, fällt allzu schnell einer tatsächlichen Intrige zum Opfer. Zumal für moderne Diktatoren ist es charakteristisch, dass sie aus dem Nichts kommen und einen langen Weg aus der Unbedeutendheit einer randständigen Herkunft ins Zentrum der Macht zurücklegen müssen. Wenig hat einen Wiener Stadtstreicher 2 , einen georgischen Klosterzögling und Banditen 3 , den Sohn von Beduinen in der libyschen Wüste, eine ärmliche Halbwaise aus der irakischen Provinz oder den in einem Kinderheim auf- 2 Vgl. Kershaw 1998: 21f: „Wie erklären wir, daß ein Mensch mit so geringen geistigen Gaben und sozialen Fähigkeiten, der außerhalb seines politischen Lebens wenig mehr als ein herrenlos auf den Wellen treibendes Boot war, unnahbar und undurchdringlich selbst für seine unmittelbare Umgebung, der offenbar zu echter Freundschaft nicht fähig war und ohne den Hintergrund aufwuchs, der einen zu hohen Ämtern befähigt, und sogar ohne jede Regierungserfahrung das Amt des Reichskanzlers antrat, wie konnte ein solcher Mann eine so gewaltige historische Wirkung entfalten, daß die ganze Welt den Atem anhielt? [...] Im 20. Jahrhundert haben sich die Möglichkeiten erweitert, als Mitglied einer Gruppe, die nicht zur sozialen und politischen Elite gehört, an die Spitze der staatlichen Macht vorzudringen. Dessen ungeachtet sind solche Aufstiege immer noch selten, sie kommen eher in Zeiten politischer Unruhe bei Führern revolutionärer Bewegungen (wie bei Stalin, Mao oder Castro) vor als in stabilen Demokratien.“ 3 Vgl. Montefiori 2007, der über Stalin auf der Grundlage von neuem Archivmaterial schreibt: „Seine vorrevolutionären Leistungen und Verbrechen waren viel umfangreicher, als man geahnt hat. Zum ersten Mal lässt sich seine Rolle bei Banküberfällen, Schutzgelderpressungen und anderen Nötigungen, bei den Brandstiftungen, Piraterien und Morden - also dem politischen Banditentum - dokumentieren [...].“ (Montefiori 2007: 17f.) Albrecht Koschorke (Konstanz) 36 gewachsenen Überlebenden eines Erdbebens in Turkmenistan (Vgl. Nicolosi 2011: 322) dazu prädestiniert, totalitäre Herrscher mit schier unbegrenzter Machtfülle zu werden. Doch gerade die Zufälligkeit solcher politischer Karrieren - was immer ihre Protagonisten im Nachhinein darüber schreiben und sagen -, die besonders bei vergleichender Betrachtung hervortritt, deutet darauf hin, dass die Form der Gewaltherrschaft sich nicht ursächlich aus der individuellen Persönlichkeit dessen erklärt, der sie verkörpert. Es hätte, auch wenn das bei einem auf Personenkult zugeschnittenen Regime schwer vorstellbar ist, ebenso gut ein anderer an die Spitze gelangen können. Der Weg ins Zentrum der Macht ist immer auch ein Prozess der Selektion; nur derjenige geht ihn mit Erfolg, der genau die Eigenschaften mitbringt oder entwickelt, die der Struktur des jeweiligen Machtraumes am besten entsprechen. Überhaupt muss man das Verhältnis zwischen Herrscher und Macht als Wechselbeziehung denken. Zwar hängt in despotischen Regimes unverhältnismäßig viel unmittelbar von der Persönlichkeit des Machthabers, seinen Launen, Vorlieben, Aversionen und damit von den willkürlichen Entscheidungen ab, die er scheinbar in größter Unabhängigkeit trifft. Aber noch die bizarrsten Willkürakte des Machthabers sind zugleich eine Funktion der Form des Regimes, weil derartige Alleinherrschaften auf Grund ihrer irregulären und prekären Beschaffenheit davon leben, dass alle Beteiligten, auch die Angehörigen der Elite, in Ungewissheit und Schrecken gehalten werden. Zudem sind viele erratisch wirkende Anweisungen des Machthabers aus den Inkonsistenzen und Zwängen erklärbar, die auch seine eigene Position kennzeichnen und ihn dazu nötigen, gewissermaßen die Flucht nach vorne in eine immer weiter eskalierende Gewalt anzutreten. III. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass Alleinherrschaft schon für sich genommen kontraevident oder, mit einer Anleihe an Niklas Luhmanns Kommunikationstheorie, in hohem Maß „unwahrscheinlich“ ist. Diese Einsicht ist alt und wurde im tyrannomachischen Schrifttum der Frühen Neuzeit wieder und wieder artikuliert. Schon Etienne de la Boétie hat sich in seinem Discours de la servitude von 1571 darüber gewundert, „wie es geschehen kann, daß so viele Menschen, so viele Dörfer, Städte und Völker manchesmal einen einzigen Tyrannen erdulden, der nicht mehr Macht hat, als sie ihm verleihen“ (la Boétie 1980: 33). La Boétie fährt fort, seinem entsetzten Erstaunen in drastischen Worten Luft zu verschaffen: Was kann das sein? Wie sollen wir es nennen? Was ist das für ein Unglück? Was für ein Laster, oder vielmehr, welch heilloses Laster? Eine zahllose Taten aus Worten 37 Menge Menschen nicht etwa gehorchen sehen, sondern knechtisch dienen [...]. Raub, Vergewaltigung und Grausamkeiten zu erleiden nicht von einem Herrn oder einer Barbarenhorde, gegen die man Blut und Leben wagen müßte, sondern von einem einzigen, und keineswegs von einem Herkules oder Samson, sondern von einem einzigen Männlein und noch dazu oft vom schlappesten und weibischsten Kerl seines Volkes [...]. (la Boétie 1980: 37) Damit ist das Paradox autokratischer Regimes angesprochen: Damit ein Einzelner, für sich genommen eine schwache und verletzliche Person, Macht über viele ausüben kann, die ihm, sofern sie sich nur zusammentun, physisch unendlich überlegen wären, müssen die Beherrschten oder jedenfalls ein wichtiger Teil von ihnen ‚mitspielen‘ (vgl. Koschorke 2002: 73-84). Ihnen kommt der Part zu, dem großen Einzelnen diese Machtvollkommenheit zuzuerkennen - explizit oder durch verschiedenste Formen der Duldung. Kurz, auch autokratische Befehlshaber sind auf irgendeine Art von ‚Einverständnis‘ der Beherrschten angewiesen, das nicht allein auf unmittelbarer Androhung von Gewalt beruhen kann. Aus zwei Gründen: Erstens, weil ein reines Gewaltregime auf Dauer zu kostspielig und ineffizient wäre; zweitens, in den Worten von Max Weber, weil ein Einverständnishandeln, das lediglich auf Furcht beruht, „nur den relativ labilen Grenzfall“ sozialer Ordnung bilden kann. Hier kommt eine imaginäre Dimension der Machtausübung ins Spiel, entsprechend der Einsicht von Thomas Hobbes, dass die Macht dem „Gerücht“ ähnelt, „das mit seiner Verbreitung zunimmt“ (Hobbes 1999: 66). Politische Autorität ist stets auch eine Glaubenssache, wenngleich nicht unbedingt in dem direkten Sinn, dass jeder einzelne vom Charisma des Herrschers geblendet sein muss; es reicht, zu glauben, dass alle anderen daran glauben, um die Macht in der Art eines sich selbst bestätigenden Gerüchts zu stabilisieren 4 . Für das Machtkalkül eines Despoten ergeben sich daraus zwei wichtige Anhaltspunkte. Er muss zum einen davor auf der Hut sein, dass eine Aberkennungsspirale in Gang kommt, die auf ähnlich epidemische Weise wie die Fama der Macht, nur unter umgekehrten Vorzeichen, die kollektive Erwartung seines Niedergangs zu einer self-fulfilling prophecy macht. Solche Aberkennungsspiralen sind in ihrer Dynamik durchaus mit einem Börsencrash vergleichbar, wenn sie sich gewöhnlich auch über längere Zeiträume erstrecken. Immer größere Teile der Bevölkerung und, was gefährlicher ist, 4 „Die kollektive Akkreditierung von Macht setzt einen positiven Rückkopplungsmechanismus in Gang, der performativen Charakter hat: Am Ende ist der, dem alle Macht attestieren, wirklich mächtig. Nur zum geringsten Teil verdankt sich die Macht der natürlichen Stärke des Mächtigen. Dass sie sich über diese natürliche Basis hinaus vermehrt [...], ist Folge einer sozialen Dynamik, deren wichtigste Ressource nicht in den objektiven Eigenschaften einer Person, sondern in der Einbildung der anderen liegt.“ (Koschorke 2002: 75) Albrecht Koschorke (Konstanz) 38 der Machteliten ziehen ihre Erwartungen von dem jeweiligen Machthaber ab; sie investieren nicht mehr in die Zukunft seines Regimes, sei es praktisch oder ideologisch, auch weil sie sehen, dass andere es nicht mehr tun. So kommt es gleichsam zu einer Flucht von symbolischem Kapital, die dann im Kollaps des Regimes endet - wenn nicht ein hartnäckiger Kern von Getreuen, die nichts zu verlieren oder vielmehr durch einen Wandel nichts zu gewinnen haben, diesen Prozess (gewöhnlich durch noch exzessivere Gewalt) aufhält. In diesem Zusammenhang ist es bedeutungsvoll, dass Gewaltregimes zumeist aus dem Bankrott überkommener Staatsordnungen entstehen. Ihnen geht eine Phase von revolutionären Unruhen, Bürgerkriegswirren und Staatszerfall voraus. Zu ihrer Entstehung trägt jedoch nicht nur die faktische Dysfunktionalität der alten staatlichen Einrichtungen bei, sondern auch der Zusammenbruch dessen, was man als das System des symbolischen Kredits innerhalb einer Gesellschaft bezeichnen kann. Wenn die etablierten Machtstrukturen keine Legitimationsgrundlage mehr haben, wenn bestehende Institutionen keinerlei Vertrauen genießen, dann kommt es zu einer ‚Kreditklemme‘ eigener Art, weil niemand mehr Vorschuss leisten und Zukunftsinvestitionen, gleich ob materieller oder ideeller Natur, in die Gesellschaft, wie sie ist, tätigen will. Das führt zur Auflösung des Bindegewebes weiträumigerer, größere Handlungsketten überspannender Loyalitäten, genauer: zum Rückzug der Loyalitäten auf einen kleineren, auch unter Bedingungen wachsender Anomie kontrollierbaren Kreis. Wenn die Staatsebene zerfällt, dann gewinnen die verlässlicher scheinenden Nahbezüge - Verwandtschaft, Stamm, Ethnie, Herkunftsregion - umso größeres Gewicht. Und wenn institutionelle Abläufe über ein hinnehmbares Maß hinaus undurchschaubar und zweifelhaft werden, fördert dies die Bildung von Netzwerken, Seilschaften und Subkulturen, die Loyalität auf andere Weise erzeugen, sei es durch ihren starken persönlichen Verpflichtungscharakter oder durch gemeinsame Ideologien und Gegnerschaften. Daraus lässt sich ein zweiter Faktor im Überlebenskalkül moderner Gewaltherrscher ableiten. Ihr Aufstieg vollzieht sich unter politischen Bedingungen, die sowohl durch eine Machtkrise als auch durch den Verlust von institutionell stabilisiertem Vertrauen gekennzeichnet sind; die Entwicklungslinien der hard power und der soft power sind hier, wie auch sonst, unauflöslich ineinander verwoben. Während sie die Machtkrise durch ihren eigenen autoritären Herrschaftsstil zu lösen vorgeben, zwingt sie der Mangel an Institutionenvertrauen und, allgemeiner noch, das symbolische Vakuum, in das sie vorstoßen, zu einem Regime, das auf Argwohn, Kontrolle und permanenter Gewaltdrohung basiert. Das führt zu einer Repersonalisierung der Macht, insofern persönlichen Loyalitäten der Vorrang vor den diskreditierten institutionellen Regelabläufen eingeräumt wird. Dadurch binden sich aber nicht nur die Gefolgsleute an den Despoten, sondern um- Taten aus Worten 39 gekehrt auch der Despot an die wenigen verlässlich scheinenden Menschen, an die er einen Teil seiner Herrschaftsaufgaben delegiert. Das wiederum hat zur Konsequenz, dass er, obwohl nominell im Alleinbesitz der Macht, in hohem Maß von seiner Entourage abhängig wird. Dieser inner circle um den Alleinherrscher verbindet ihn weniger mit der Außenwelt, als dass sie ihn von ihr trennt. Schon die barocken Dramen handeln davon, wie der Monarch zur Geisel seines Hofstaates werden kann, dem er in jeder Hinsicht - politisch, militärisch, informationell - ausgeliefert ist (vgl. Koschorke 2008: 68-78). Aus strukturell ähnlichen Gründen sind die Diktatoren des 20. Jahrhunderts nicht im souveränen Vollbesitz der Macht, die man ihnen zuschreibt. Schematisch gesprochen bleiben ihnen nur zwei Möglichkeiten, mit dem Paradox einer drohenden Ohnmacht im Zentrum der Macht umzugehen. Die stalinistische Methode besteht darin, in regelmäßigen Intervallen politische Säuberungen durchzuführen, die gewöhnlich die politisch Nahestehenden als erstes treffen. Die in den Diktaturen der Dritten Welt verbreitetste Methode dagegen läuft darauf hinaus, die Machteliten durch Reichtum und Pfründe loyal zu halten. Die beiden Optionen, die historisch in unterschiedlichsten Mischformen auftreten können, heißen also: Terror und Bestechung. In das System autokratischer Macht ist ein Mechanismus der Korruption eingebaut, der auch dann seine Wirkung zeitigt, wenn der Diktator selbst an dem Lebensstil eines revolutionären Asketen, als der er an die Macht kam, festzuhalten versucht. Das Paradox inverser Abhängigkeiten im Zentrum der Macht lässt sich an vielen Beispielen veranschaulichen. Ich will nur eines nennen. Als im April 1986 die USA im Rahmen einer sogenannten Strafaktion Luftangriffe auf Libyen flogen, hätten sie eigentlich mit massiver Gegenwehr rechnen müssen: „For a small Third World nation“, so heißt es in einer kurz danach erschienenen Gaddafi-Biographie, „Libya is remarcably, almost ridiculously, well armed.“ (Blundy/ Lycett 1978: 3). Aber das teure, unsystematisch zusammengekaufte Waffengerät kam praktisch nicht zum Einsatz, zumal es kaum qualifiziertes Personal gab, das damit umgehen konnte. Zu erklären ist dieses blamable Versagen unter anderem dadurch, dass Gaddafi der eigenen Armee aus guten Gründen misstraute und sie deshalb mit militärisch ungeschulten politischen Funktionären durchsetzte, was den Unmut unter den regulären Offizieren, bis hin zu offener Illoyalität, nur noch steigerte 5 . Wie dysfunktional der gesamte Machtapparat arbeitete, wird daran augenfällig, dass Gaddafi selbst keine Ahnung von dem bevorstehenden Angriff hatte, über den in der Weltpresse seit längerem spekuliert worden 5 „Qaddafi’s army is ill trained and unreliable. Uncertain of its loyalty, after a number of army-inspired coup attempts, he fed into its ranks members of the revolutionary committees, whose fanatical loyalty was not matched by their military ability. This caused bad feeling with the regular army officers, which in turn created the very coup attempts und unrest it was meant to suppress.“ (Blundy/ Lycett 1978: 3) Albrecht Koschorke (Konstanz) 40 war. Niemand hatte es für nötig befunden, ihn rechtzeitig zu warnen (Blundy/ Lycett 1978: 8). Die Geschwindigkeit, mit der sein Regime 2010 kollabierte, lässt darauf schließen, dass er sich auch Jahrzehnte später, trotz des enormen „Bestechungsfonds“ (Gellner 1991: 39), über den er auf Grund der Öleinnahmen verfügte, keine solide Machtbasis hatte verschaffen können. Misstrauen ist ein kostenintensiver und auf lange Sicht ineffizienter Modus sozialer Beziehung. Es erzwingt permanente Kontrolle, deren Ausübung wiederum kontrolliert werden muss und zudem häufig kontraproduktive Wirkungen hat. Eine Konsequenz daraus ist, dass Autokraten ihre Macht nur mit einer relativ kleinen Schar von Gefolgsleuten teilen können. Gaddafi umgab sich vorzugsweise mit Männern aus dem Gaddadfa-Stamm seiner Herkunftsregion um Sirte, Saddam Hussein mit Leuten aus Tikrit (er installierte seinen Mutterbruder Khairallah, der als Ziehvater prägenden Einfluss auf ihn hatte, später als Bürgermeister von Bagdad, musste ihn aber wegen Misswirtschaft und Korruption wieder aus dem Amt entfernen 6 ). Auch mit Blick auf das Sowjetregime ist gesagt worden, „dass das Wesen der Politik unter Lenin und Stalin von den Persönlichkeiten und der Patronage einer winzigen Oligarchie bestimmt wurde“ (Montefiore 2007: 19). Ähnlich wie im Nationalsozialismus führte in Stalins Schreckensherrschaft - nach Hannah Arendts bestechender Analyse - „die Tatsache einer doppelten Autorität von Staat und Partei“ dazu, dass „alle Ämter von irgendeiner Bedeutung“ verdoppelt wurden: Den Funktionsträgern des Staates wurden radikalere, noch bedenkenlosere Instanzen des Parteiapparats zur Seite gestellt, die häufig ihrerseits noch einmal ein geheimes Gegenstück in der obersten Parteiführung hatten. Durch diese Vervielfältigung von Zuständigkeiten und Befugnissen wird das Machtsystem nach außen hin und sogar für einen Großteil der Funktionäre undurchschaubar (Arendt 1985: 184ff.); der Zentralismus der Diktatur geht nicht mit einer strafferen, rationelleren Organisation einher, sondern zeitigt teils gewollte, teils ungewollte Effekte der Chaotisierung, die eine stabile Delegation von Entscheidungsmacht verhindern. Die Willkür des Systems liegt also weniger in den Launen des Herrschers als in dem Wirrwarr von Kompetenzen und Rivalitäten begründet, über dem er präsidiert. 6 Karsh/ Rautsi 1991: 15. Zur Charakteristik Saddams schreiben die beiden Autoren: „In the permanently beleaguered mind of Saddam Hussein, politics is a ceaseless struggle for survival. The ultimate goal of staying alive, and in power, justifies all means. Plots lurk around every corner. Nobody is trustworthy. Everybody is an actual or potential enemy. One must remain constantly on the alert, making others cower so that they do not attack, always ready to kill before being killed.“ (Karsh/ Rautsi 1991: 2) Taten aus Worten 41 IV. Wenn nun aber alle bisher diskutierten Strukturbedingungen autokratischer Gewaltherrschaft darauf hinauslaufen, dass der Machthaber sich nolens volens in die Abhängigkeit seiner Entourage begibt - sei es seiner näheren oder ferneren Verwandten, sei es einer Clique von Funktionären -, wie setzt er sich dann zu dem Gesamtkollektiv in Beziehung, über das er regiert? Zu den auffälligen Merkmalen schon der antiken Tyrannis, umso mehr der modernen Diktatur zählt es ja, dass beide ihren Mangel an Legitimität und die Gegnerschaft traditioneller Eliten durch einen Zug ins Populistische auszugleichen versuchen. Und in der Tat zeichnen sich alle bisher genannten Regimes durch pathetische Konzepte der Einheit von Volk und Führer aus. Auf was gründet sich dieses Pathos der Einheit, und mit welchen Mitteln wird es artikuliert? Hier gelangt man nun endlich zu den intrikaten Verstrickungen zwischen politischer Brutalität und schöner Literatur. Im Besonderen geht es dabei um die künstlerisch-poetische Ader, die erstaunlich viele Gewaltherrscher auszeichnet und die, wie ich behaupten möchte, zu den Begabungen zählt, die für ihre politische Existenzform von zentraler Bedeutung sind. Ich möchte auch diesen Aspekt, in der Art meiner bisherigen Ausführungen, typologisch angehen und die verschiedenen Fälle vor allem in vergleichender Absicht erörtern. Grundsätzlich sind zwei Weisen der Annäherung eines Diktators an sein Volk unterscheidbar, je nachdem ob man auf den Diktator selbst oder auf das Volk, genauer: auf die Idee, die er sich von seinem Volk macht, fokussiert. Die erste Option bezieht sich auf den Herrscher als individuelle Person, als ein Mensch unter Menschen, der Nähe, Geborgenheit, ja Liebe sucht. Das Thema, dass der Alleinherrscher Sehnsucht nach einem Freund jenseits des Kreises der Schmeichler und Günstlinge empfindet, hat eine illustre hochliterarische Tradition - man denke an Schiller (Don Karlos, Die Bürgschaft). Es beschäftigt aber auch die literarische Phantasie künftiger und amtierender Despoten. Bevor sie ihre politische Laufbahn antreten, empfinden sie sich, ähnlich wie in vielen Künstlerbiographien, als verlorene und von der restlichen Menschheit entfremdete Existenzen, denen gar keine Wahl bleibt, als im totalen Bruch mit dem Herkommen alle Hoffnungen auf die Zukunft zu setzen. Joseph Goebbels etwa, wenn wir ihn als Chefpropagandisten des Dritten Reiches in den Kreis der Despoten mit aufnehmen dürfen, sah mit expressionistischer Gebärde in sich und seiner Generation die „Quintessenz des neuen Menschen“: „wir jungen Männer ohne Tradition und ohne Geschlecht“ (Goebbels 1992: 97). Häufig kommt noch das auch aus apokalyptischen Actionfilmen vertraute Motiv der Liebeskatastrophe hinzu, um den Albrecht Koschorke (Konstanz) 42 jungen und von großen Ideen beseelten Mann gänzlich aus den Verankerungen des Privatlebens herauszureißen 7 . Während sich solche Privatgeschichten im Vorfeld der jeweiligen Machtergreifung abspielen, ist das Liebesverlangen des zur Herrschaft gelangten Despoten von seinem Amt nicht mehr zu trennen. Autobiographische Rückblicke oder andere Inszenierungen seiner Herkunftsgeschichte werden dann zu Kristallisationspunkten des Kultes um seine Person 8 , und selbst die Trauer um nahe Angehörige, die etwa Mussolini zur Feder greifen ließ, verwandelt sich in eine allgemeine patriotische Pflicht 9 . Einen interessanten Fall stellt Saddam Husseins Roman Zabibah und der König dar, eine Art allegorisches Märchen, das von der Liebe des Königs zu einer einfachen Frau handelt: „Ich habe mich in dich verliebt“, sagt er in wünschenswerter Ausdrücklichkeit, „weil ich in dir und durch dich das Volk lieben will.“ 10 Der König befreit Zabibah aus der Gewalt ihres Mannes, der ein Vergewaltiger 11 und zudem politischer Aufrührer ist 12 ; im Gegenzug lehrt sie ihn zu lieben. Dass die Liebe zum Volk jedoch schnell enttäuscht werden und abkühlen kann, verdeutlicht das literarische Werk eines anderen arabischen Potentaten, nämlich Gaddafis in jüngster Zeit häufig zitierte Essay-Erzählung Die Flucht in die Hölle. Darin führt ein amtsmüder Regent, der deutlich Gaddafis eigene Züge trägt, Klage über sein launisches, aufrührerisches, von Leidenschaften 7 So schreibt Goebbels nach der Trennung von Else Janke: „Ich habe Abschied vom Leben der anderen genommen! Das Herz zerbrach! “ (Eintrag vom 27. September 1926 in Goebbels 1992: 279). Vgl. schon Goebbels’ Roman ‚Michael‘, der die Trennung von Anka Stalherm 1920 verarbeitet. [...]. - Einen entsprechenden Moment gibt es in Stalins Biographie nach dem Tod seiner ersten Ehefrau 1907: „‚Mein Privatleben ist zerstört‘, schluchzte Stalin. ‚Nichts verbindet mich noch mit dem Leben, abgesehen vom Sozialismus. Ihm werde ich mein Dasein widmen! ‘ (Montefiore 2007: 270) 8 So die in eine Nationaloper verwandelte Kindheit von Kim Il-sung (Vgl. Kim 2011: 213-224). 9 Vgl. Bosworth 2011: 90f. Es ist bezeichnend, dass Mussolinis Vita di Arnaldo, ein Nachruf auf seinen Bruder, mit dem Leitmotiv des Vertrauens verbindet: „Ein Politiker kann Zweifel über seine loyalsten Kollegen nähren, er kann sogar von seinem Sohn verleugnet werden. Aber ein Bruder ist immer sicher.“ (Bosworth 2011: 91) 10 Hussein 2004: 126. Das Buch erschien 2000 anonym im Irak und wurde dort zu einer weitverbreiteten Pflichtlektüre. Ob Saddam tatsächlich der Autor des Buches war, ist nicht nachprüfbar; auch ist die Authentizität der deutschen Fassung zweifelhaft (laut taz vom 14.6.2004). 11 „Ja, Vergewaltigung ist das schlimmste Übel, das der Geschichte eines Volkes und der Seele eines freien Menschen angetan werden kann.“ (Hussein 2004: 144) 12 ‚Vergewaltigung‘ wird mit Okkupation durch einen militärischen Eindringling gleichgesetzt (Hussein 2004: 63), so dass die im Roman geschilderte Dreiecksgeschichte auch eine außenpolitische Bedeutung erhält. Nicht zufällig sollten die jährlichen Gedenkfeiern für Zabibahs Tod auf den 17. Januar, den Tag der amerikanischen Invasion von 1991 fallen (Hussein 2004: 154) und in der rituellen Steinigung des Leichnams ihres verbrecherischen Mannes gipfeln. Nicht nur dadurch ergeben sich allerdings gewisse Komplikationen im Schema der Staatsallegorie. Taten aus Worten 43 und Begierden hin- und hergetriebenes, der westlichen Moderne verfallenes Volk: Was suche ich [...], ich der herumschweifende arme Beduine, in einer modernen verrückten Stadt, deren Bewohner, immer wenn sie mich finden, nach mir schnappen: „Baue uns ein anderes Haus, schaffe uns eine bessere Verbindung, errichte uns eine Straße im Meer, lege uns einen Garten an, fange uns einen großen Fisch, schreibe uns ein Amulett, arrangiere für uns eine Ehe, töte uns einen Hund, kaufe uns eine Katze! ! “ Ein armer, herumschweifender Beduine, der nicht einmal eine Geburtsurkunde hat [...]. Aber jeder, der mir begegnet, bittet mich um dieses oder jenes, das ich in Wirklichkeit gar nicht besitze, sondern das ich den Händen von Räubern, den Mäulern von Ratten und den Reißzähnen von Hunden entrissen und unter die Bewohner der Stadt verteilt habe als Wohltäter, der aus der Wüste kam, als Befreier aus Fesseln und Ketten. (Gaddafi 2004: 60-62) Wenn Despoten etwas persönlicher werden, dann geht es ohne Larmoyanz selten ab. Wo sie von Liebe sprechen, changiert der Ton zwischen kitschiger Sentimentalität und einer lauernden Drohung, die an die Möglichkeit eines jähen Liebesentzugs gemahnt, der für die Betroffenen lebensgefährlich wäre. Überhaupt treten Salbung, Schwulst und Schrecken gern in eine enge Verbindung ein, wie schon die Geschichte der europäischen Schauerliteratur zeigt - de Sade nicht ausgenommen. Wie großsprecherisch auch immer die Liebesbeteuerungen sein mögen, sie schlagen schnell in ihre dunkle Kehrseite um - den Vernichtungswillen gegenüber all jenen, die sich nicht widerstandslos in das Beziehungsideal fügen. Damit ist der zweite Aspekt der Liebessehnsucht des Despoten angesprochen, der nicht mehr dessen private Gefühle, sondern seine historische Mission und sein Amt als solche betrifft. Und dieser Aspekt ist in einem noch weitaus elementareren Sinn poetisch zu nennen. Denn das Objekt jener Liebessehnsucht, das Volk, muss von seinen politischen Führern überhaupt erst erschaffen werden. Schon die Nationalisten des 19. Jahrhunderts standen vor dem Problem, die Grundlage des von ihnen errichteten Staates, nämlich das Nationalvolk, durch diesen Staat allererst hervorbringen zu müssen (Vgl. Hobsbawm 1991). Die Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts sind zumeist auf den Trümmern alter Imperien oder in Ländern errichtet worden, die reine koloniale Zufallsgebilde waren. Sie zwingen Bevölkerungen mit starker zentrifugaler Dynamik zusammen und sehen sich deshalb in einem noch größeren Maß dem Paradox gegenüber, sich von einer politischen Einheit her zu rechtfertigen, die doch in der ins Auge gefassten Form, wenn überhaupt, erst in der Zukunft zu realisieren ist. Das bringt sie in die Lage, nicht nur eine gemeinsame historische Mission, sondern auch eine kollektive Vergangenheit als Legitimationsgrundlage ihres Machtanspruchs erfinden zu müssen. Infolgedessen brauchen sie Männer an Albrecht Koschorke (Konstanz) 44 ihrer Spitze, die Visionäre und Mythenbildner in einem waren und die über Phantasie, Suggestivkraft und Sprachvermögen verfügten, um auf eine für sich selbst und andere glaubhafte Weise aus dem Nichts eine politische Ordnung zu erschaffen. Insofern ist es keineswegs nur ein Anzeichen von pathologischem Größenwahn, wenn solche Herrscher sich als „Bildhauer“, der „eine amorphe Masse in ein lebendiges Volk zu verwandeln“ habe 13 , als Bewahrer, Retter, ja Schöpfer eines gesunden Volkskörpers (Hitler) oder allgemeiner als demiurgische Staatskünstler verstehen. Aus diesem Selbstverständnis rührt die Verwandtschaft zwischen der politischen Praxis des Totalitarismus und einigen Kunstprogrammen der Avantgarde, die mit grandioser Gebärde die Welt von Grund auf neu konstruieren wollen. Wie Boris Groys in seinem Buch Gesamtkunstwerk Stalin überzeugend dargelegt hat, hat Stalin nichts anderes getan, als den Traditionsbruch der russischen Avantgardisten auf seine Weise praktisch wirksam werden zu lassen: „Die Stalinzeit realisierte tatsächlich den Traum der Avantgarde, das gesamte gesellschaftliche Leben nach einem künstlerischen Gesamtplan zu organisieren, wenn auch selbstverständlich nicht so, wie das der Avantgarde vorgeschwebt hatte.“ (Groys 1988: 14). Die „Stalinsche Poetik, wenn man in Stalin das Modell des Tyrannen-Künstlers sehen will“, lässt sich Groys zufolge als „unmittelbare Erbin des künstlerischen Konstruktivismus“ ansprechen (Groys 1988: 43). In diesem erweiterten Sinn sind die Diktaturen des 20. Jahrhunderts poetische Unternehmungen. Sie werden von Herrschern geschaffen, die sich als self-made men aus einer krassen sozialen Marginalität hervorgearbeitet haben; sie sind, als Reaktionsbildungen auf einen tiefgehenden Traditionsriss, auch in historischer Hinsicht ursprungslos und müssen ihre fehlende Anciennität durch die Produktion von historiographischen Phantasmen ausgleichen. Insofern stellen sie Ausgeburten einer Wortgewalt dar, in beiden möglichen Akzentuierungen dieses zusammengesetzten Begriffs. Das geschieht vor allem auf dem Weg der propagandistischen Rede; ohne Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen sind moderne Diktaturen undenkbar. Auffällig ist aber, wie viele dieser Regimes sich auf ein buchreligiöses Fundament stützen - von Hitlers Mein Kampf, der hier Modell steht, angefangen, über Maos Rotes Buch und Gaddafis Grünes Buch bis hin zu dem erst 2001 und 2005 erschienenen Ruhnama des turkmenischen Diktators Saparmyrat Nyýazow, des sogenannten Turkmenbashi, das trotz seiner Absurditäten bis heute als Gründungsdokument einer postsowjetischen Fiktion namens Turkmenistan unentbehrlich zu sein scheint (Nicolosi 2011: 307ff.). So unterschiedlich diese Regime-begründenden Texte im Einzelnen ausfallen, sie stimmen doch darin überein, dass sie eine Art von inauguralem 13 Joseph Goebbels am 17.6.1935 anlässlich der Eröffnung der zweiten Reichs-Theater- Festwoche in Hamburg. (Heiber 1971: 220) Taten aus Worten 45 Liebesvertrag zwischen dem Herrscher und dem Staatsvolk enthalten. Die Bedingung dafür ist, dass die wirkliche Bevölkerung sich dem Bild, das ihr vorgehalten wird, unterwirft. Wo dies nicht geschieht, tritt eine andere, komplementäre Fiktion in Geltung - nämlich die mit wechselnden Inhalten befüllbare Fiktion einer allgemeinen Verschwörung. Zu Recht hat Hannah Arendt auf die „außerordentlich zentrale Rolle“ hingewiesen, „welche die Fiktion von Weltverschwörungen für totalitäre Bewegungen spielt, die offenbar nur als ‚Antwort‘ auf eine solche Fiktion organisiert werden können“ (Arendt 1958: 160). Die Liebeserklärung des Herrschers an Volk und Land grenzt hart an den Schlagschatten der Paranoia. Und wie auch wieder Hannah Arendt gezeigt hat, steht von einem bestimmten Punkt der Konsolidierung an nicht mehr die Fiktion im Dienst des Terrors, sondern der Terror im Dienst der Stimmigkeit der Fiktion 14 . Dafür, wie die Fiktion auch den Despoten selbst überwältigt, hat Gaddafi kurz vor seinem Sturz ein schönes Beispiel gegeben. In seinem Grünen Buch hatte er dem Staat Libyen eine durch die staatsferne Lebensform der Beduinen inspirierte Verfassung geschenkt (Vgl. Lohmann 2011: 251-282) und durch gleichzeitige politische Reformen eine scheinbar basisdemokratische Selbstverwaltung des Volkes installiert 15 . Konsequenterweise begnügte er sich selbst mit der Rolle des Revolutionsführers, der nominell kein Regierungsamt ausübte. Darauf bezog sich seine notorisch wirre Rede vom 24. Februar 2011, die zwischen den beiden soeben erörterten Typen von Fiktion changierte: Einesteils verschwörungstheoretisch - ausländische Agenten, Drogen, Al-Qaida etc. -, andererseits in der Rolle des ratlosen Liebhabers: Denn wie kann das Volk gegen ihn revoltieren, wenn er doch gar kein Amt innehat und seinerseits nicht mehr ist als der Revolutionsführer des Volkes? 16 14 „Sobald totalitäre Diktaturen fest im Sattel sitzen, benutzen sie Terror, um ihre ideologischen Doktrinen und die aus ihnen folgenden praktischen Lügen mit Gewalt in die Wirklichkeit umzusetzen: Terror wird zu der spezifisch totalen Regierungsform.“ (Arendt 1958: 108) - „Die Kunst des totalitären Führers besteht darin, in der erfahrbaren Realität geeignete Elemente für seine Fiktion herauszufinden und sie so zu verwenden, daß sie fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt bleiben. [...] Dadurch wird eine Konsequenz und Stimmigkeit erreicht, mit der die wirkliche Welt und die nicht verabsolutierte Erfahrung nie und nimmer in Konkurrenz treten können. Die Organisation der totalitären Bewegung entspricht aufs genaueste dieser in der Propaganda erreichten Stimmigkeit einer fiktiven Welt. In ihr vermag die Bewegung die Aufdeckung aller spezifischen Lügen zu überleben, weil die Konsequenz der Fiktion als solche eine ‚höhere‘ Wahrheit zu repräsentieren scheint.“ (Arendt 1958: 136) 15 Vgl. Blundy/ Lycett, 1987: 84ff. Dort findet sich auch eine einprägsame Beschreibung, wie die allenthalben einberufenen Volksversammlungen abliefen und warum sie scheitern mussten (Blundy/ Lycett 1987: 103f.). 16 In einem Interview mit Oriana Fallaci Ende 1979 hatte Gaddafi seine Rolle folgendermaßen umrissen: „Ich fordere die Massen ständig auf, sich selbst zu regieren. Ich erkläre meinem Volk: ‚Wenn ihr mich liebt, hört auf mich und regiert euch selbst.‘ Darum Albrecht Koschorke (Konstanz) 46 V. Ich möchte schließen mit einem Zitat, das aus der Epoche der deutschen Klassik in die Welt der Diktatoren des 20. Jahrhunderts führt. Es handelt sich um eine Stelle aus den Briefen Heinrich von Kleists, die aufgeschlagen und unterstrichen auf dem Schreibtisch Gaddafis gesehen wurde (Blundy/ Lycett 1987: 92); Kleist selbst zitiert darin Lessings Nathan den Weisen, also das Drama der Toleranz. Die Textstelle, die Gaddafi offenbar gut gefallen hat, lautet: Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, dann bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern. Er fühlt, daß man sich über das Schicksal erheben könne, ja, daß es im richtigen Sinne selbst möglich sei, das Schicksal zu leiten. (Kleist 1984: 488) liebt mich das Volk.“ (Der Spiegel, 10.12.1979, http: / / www. spiegel.de/ spiegel/ print/ d-39685805.html). Taten aus Worten 47 Literaturverzeichnis Arendt, Hannah: Elemente totaler Herrschaft. Frankfurt a.M. 1958. Blundy, David/ Andrew, Lycett: Qaddafi and the Libyan Revolution. London 1987. de la Boétie, Etienne: Von der freiwilligen Knechtschaft. Übers. u. hg. v. Günther Horst. Frankfurt a. M. 1980. Bosworth, Richard: „Ich schreibe, um mich selbst neu zu schreiben“. Der Fall Benito Mussolini. In: Albrecht Koschorke/ Konstantin Kaminskij (Hg.): Despoten dichten. Sprachkunst und Gewalt. Konstanz 2011, S. 67-93. Fallaci, Oriana: Ein Wort, und die ganze Welt explodiert [Interview mit Muammar al- Gaddafi]. In: Der Spiegel, 10.12.1979. http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d- 39685805.html (Zugriff am 09.07.2014) al-Gaddafi, Muammar: Die Flucht aus der Hölle. In: Ders.: Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten. Übers. v. Gernot Rotter. München 2004, S. 59-69. Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne. Aus d. Engl. v. Meino Büning. Berlin 1991. Goebbels, Joseph: Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern. München 1929. Goebbels, Joseph: Tagebücher. 5 Bde. Bd. 1: 1924-1929, hg. v. Ralf Georg Reuth. München 2 1992. Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. München/ Wien 1988. Heiber, Helmut (Hg.): Goebbels Reden. 1939-1945. 2 Bde. Bd. 1: 1932-1939. München 1971. Hobbes, Thomas: Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt a. M. 9 1999. Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt a. M. 1991. Hussein, Saddam: Zabibah und der König. Eine Liebesgeschichte. Bad Wiessee 2004. Karsh, Efraim/ Inari Rautsi et al.: Saddam Hussein. A Political Biography. London 1991. Kershaw, Ian: Hitler. Bd. 1: 1889-1936. Stuttgart 1998. Kim, Suk-Young: Des toten Vaters lebender Körper. Kim Il-sungs Keimtheorie und die nordkoreanischen Künste. In: Albrecht Koschorke/ Konstantin Kaminskij (Hg.): Despoten dichten. Sprachkunst und Gewalt. Konstanz 2011, S. 213-224. Kleist, Heinrich von: Brief an Ulrike von Kleist, Mai 1799. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner. 2. Bde. München 7 1984, S. 488. Koschorke, Albrecht: Macht und Fiktion. In: Thomas Frank/ Albrecht Koschorke/ Susanne Lüdemann/ Ethel Matala de Mazza unt. Mitw. v. Andreas Kraß (Hg.): Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte - Bilder - Lektüren. Frankfurt a. M. 2002, S. 73-84. : Das Volk als Gerücht. Zur Labilität souveräner Herrschaft im Barockdrama. In: Jürgen Brockoff/ Jürgen Fohrmann/ Hedwig Pompe/ Brigitte Weingart (Hg.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008, S. 68-78. : / Konstantin Kaminskij (Hg.): Despoten dichten. Sprachkunst und Gewalt. Konstanz 2011. Lohmann, Heiner: Die Höllenfahrt eines armen Despoten. Zum Schreib- und Denkstil Muammar al-Gaddafis. In: Albrecht Koschorke/ Konstantin Kaminskij (Hg.): Despoten dichten. Sprachkunst und Gewalt. Konstanz 2011, S. 251-282. Montefiore, Simon Sebag: Der junge Stalin. Frankfurt a. M. 2007. Albrecht Koschorke (Konstanz) 48 Nicolosi, Riccardo: Saparmyrat Nyýazows Ruhnama und die Erfindung Turkmenistans. In: Albrecht Koschorke/ Konstantin Kaminskij (Hg.): Despoten dichten. Sprachkunst und Gewalt. Konstanz 2011, S. 301-323. Strauss, Leo: Über Tyrannis. Eine Interpretation von Xenophons Hieron. Neuwied/ Berlin 1963. Oliver Kohns (Luxemburg) Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. Bismarck - Disraeli - Goebbels I. Ein Herrscher, der Künstler sein will, begeht zumindest aus der Perspektive der Königsberger Transzendentalphilosophie eine unheilvolle Vermischung der Kategorien. Dies kann aus Kants Bezugnahme auf den römischen Kaiser Nero in seiner frühen Abhandlung Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) gefolgert werden, in dem Kant die poetische Ambition des Herrschers als Zeichen seiner „Narrheit“ deutet. Wenn [...] Nero sich dem öffentlichen Gespötte aussetzet, indem er von einer Bühne elende Verse abliest, um den Dichterpreis zu erlangen, und noch am Ende seines Lebens sagt: quantus artifex morior, so sehe ich in diesem gefürchteten und ausgelachten Beherrscher von Rom nichts Besseres, als einen Narren (Kant 1983a: 891). Das Wort ,Narr‘ klingt im heutigen Sprachgebrauch im Vergleich mit anderen Schimpfwörtern für Politiker harmlos. Kant gebraucht das Wort allerdings nicht in einer alltagssprachlichen Bedeutung, sondern gibt ihm eine präzise Definition: Wie der ,Tor‘ ist Kant zufolge auch der ,Narr‘ von einer Leidenschaft ergriffen, der er „eine Stärke einräumet, welche die Vernunft zu fesseln vermag“ (Kant 1983a: 890). Während der Tor jedoch die „wahre Absicht seiner Leidenschaft“ verstehen kann, ist der Narr „dadurch zugleich so dumm gemacht, daß er alsdenn nur glaubt im Besitze zu sein, wenn er sich des Begehrten wirklich beraubt“ (Kant 1983a: 890) Diese Definition lässt sich auf Kants Beispiel Nero anwenden: Der römische Kaiser möchte als Dichter bewundert werden und wird wegen dieses - offenbar der Würde seines Amts unangemessenen - Begehrens ausgelacht und verspottet. Nicht sein mangelndes Talent wirft Kant dem Kaiser vor, sondern den Wahnsinn, Anerkennung als großer Künstler zu suchen und sich dabei dem „öffentlichen Gespötte“ auszusetzen. Kant geht es hier kaum um historische Korrektheit. Die Beschreibung des wahnhaft auf Dichtung fixierten Kaisers Nero ist - wie auch das Nero zugeschriebene Zitat - aus Suetons Kaiserviten übernommen (vgl. Sueton 1997: 370). Bereits hier ging das Bild des Künstlers, „für den alles, selbst die Reali- Oliver Kohns (Luxemburg) 50 tät, nur Schauspiel ist, mit dem Despoten [...] eine intime, wenn auch perverse Verbindung ein“ (Gotter 2011: 31). Bei Kant wird diese exemplarische Figur des Despoten zu einer Warnung vor politischem Wahnsinn: Der Herrscher, der sich der Poesie verschreibt, verfällt einer für den gesamten Staat gefährlichen ,Narrheit‘. Kants Ablehnung des Dichtertyrannen Nero zielt darauf, dass er seine Herrschaft durch starke und unverstandene Leidenschaften lenken lässt, nicht durch politische Vernunft: Kants Argumentation schließt hier an die seit dem 17. Jahrhundert entwickelten rationalistischen Philosophien des Politischen an, in denen - wie Ernst Cassirer schreibt - „die Vernunft zuerst die Macht und ihren Anspruch auf die Leitung des sozialen Lebens der Menschen angemeldet“ (Cassirer 2002: 219) hatte. Die Mächtigen haben sich von Kants Warnung vor dichterischen Ambitionen offenbar nicht abschrecken lassen. Der Katalog der ,Politiker-Literatur‘, der von Herrschenden aller Couleur geschriebenen literarischen Werke, ist ebenso umfangreich wie heterogen. Es finden sich Gedichte aus der Feder von Monarchen, wie etwa die Gedichte Friedrichs des Großen, von denen eines sogar in Kants Kritik der Urteilskraft wohlwollend zitiert wird (Kant 1983b: 416) Ein großer Teil des Korpus stammt von charismatischen Herrschern der Moderne, von dichterisch inspirierten Despoten (vgl. Koschorke/ Kaminskij 2011: 15f.). Zu dieser Textgruppe gehören Goebbels’ Roman Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern (1928), Gaddafis Essays und Kurzgeschichten (Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde, und der Selbstmord des Astronauten 1993) oder Saddam Husseins Romane (von denen einer unter dem Titel Zabiba und der König 2004 in deutscher Übersetzung erschienen ist). Neben den Werken der „dichtenden Despoten“ (Koschorke/ Kaminskij 2011: 22) sind die literarischen Werke leitender Politiker aus demokratischen Systemen zu nennen, welche einen weiteren Anteil am Korpus der ,Politiker-Literatur‘ ausmachen. Dazu zählen Fundstücke wie die frühen Gedichte Abraham Lincolns, die Romane Benjamin Disrealis und Valéry Giscard d’Estaings sowie die Dramen und Essays Václav Havels. Erwähnenswert sind außerdem Texte wie Barack Obamas Autobiographie Dreams from my Father (1995), die sich insgesamt - wie David Samuels formuliert - als ein „black male bildungsroman“ (Samuels 2008) lesen lässt. Die Grenzen der Textsorte ,Politiker-Literatur‘ sind, wie dieses Beispiel zeigt, nicht scharf bestimmbar. Die Grenze zwischen ,Literatur‘ und ,Nicht-Literatur‘ kann nicht objektiv bestimmt werden, und es gibt Genres, die eher auf dieser Grenze angesiedelt sind als auf einer der beiden Seiten. Folglich bleibt es dem Leser überlassen, Memoiren bzw. Autobiographien (wie Obamas Dreams from my Father oder Hitlers Mein Kampf) oder historiographische Werke (für die Winston Churchill 1953 immerhin den Literatur-Nobelpreis erhielt) zu dieser Textsorte zu zählen oder nicht. Es fällt nicht leicht, diese Autoren allesamt des politischen Irrationalismus zu bezichtigen. Allein die Beschränkung auf die „dichtenden Despo- Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 51 ten“ erlaubt es, das Narrativ des politischen Irrationalismus zu aktualisieren (vgl. Manchev 2011: 340). Die Irrationalismus-These ist jedoch kaum mehr als eine Umkehrung des „Führer-Mythos“: Die Despoten des 20. Jahrhunderts als wahnsinnige Tyrannen zu beschreiben, mag möglich sein, aber es erzählt abermals eine Geschichte totaler Machtaneignung durch vollkommen potente Individuen und sagt nichts über die diskursiven und sozialen Konditionen der Macht, die diese Diktaturen möglich gemacht haben (Kershaw 2000: 22). Außerdem appelliert der Vorwurf des Irrationalismus (wie implizit auch immer) an die Möglichkeit einer rein rationalen Politik - einer vollständig wahren Politik ohne Dichtung -, ohne dass diese Möglichkeit jemals konkret beschrieben werden könnte (vgl. Cassirer 2002: 385f.). Die Verurteilung dichtender Kaiser begründet sich in dieser Perspektive letztlich durch die Abwertung politischer Repräsentation insgesamt. Hier wird ein traditionsreicher Dualismus erkennbar, der es seit Platon ermöglicht, jedes politische Schauspiel im Namen einer „exigency of truth“ als „illusion, simulacrum, artifice“ (Hénaff 1996: 7) zu verurteilen. II. Eine Erklärung für das Phänomen des zur Dichtung berufenen Herrschers wird bereits in den Legitimationsdiskursen souveräner Macht der Antike und des Mittelalters entwickelt. Wie Ernst Kantorowicz ausführt, haben die Juristen im Mittelalter eine „aequiparatio von Dichter und Kaiser oder König - das heißt vom Dichter und dem höchsten, Souveränität verkörpernden Amt“ (Kantorowicz 1998: 343) formuliert. König und Dichter werden Kantorowicz zufolge in zahlreichen juristischen Texten des Mittelalters in Analogie zueinander verstanden: „Poet und Kaiser“ (Dante 1994: 312) wurden hier als zwei Rollen interpretiert, in denen Menschen sich auf vergleichbare Art und Weise über das menschliche Normalmaß erheben konnten. Kantorowicz nennt zwei Elemente, die diese Gleichsetzung von Dichter und Herrscher ausmachen: Erstens ist der Souverän wie der Poet durch göttliche Inspiration dazu befähigt, „etwas Neues hervorzubringen“ (Kantorowicz 1998: 342): Seine Gesetze ahmen nicht die Natur nach, sondern gelten als eigene Kreationen. Zweitens (und infolgedessen) bestimmt sich das „Wesen der Souveränität“ durch das „Privileg, wonach der Souverän richten, selbst aber von niemandem gerichtet werden konnte“ (Kantorowicz 1998: 346f.). Das tertium comparationis in der Analogie zwischen Fürst und Poet ist die souveräne Erhebung über die Menschlichkeit, die Aneignung göttlicher Pracht: Kaiser und Dichter sind gleichermaßen gottgleich. Dergestalt wird es möglich, dass als die zentrale Tugend eines idealen Herrschers nicht mehr etwa Sinn für Gerechtigkeit oder Besonnenheit, sondern Schöpfungskraft erscheinen kann. Die Vorstellung des Souveräns als Oliver Kohns (Luxemburg) 52 Zwilling des Dichters entfaltet eine starke Attraktivität gerade in nachmonarchischer Zeit - im Deutschland der 1920er Jahre im Umfeld Stefan Georges (vgl. Raulff 2006: 9). In Friedrich Gundolfs Darstellung ist Julius Cäsar der „vollkommen heroische Mann“ und „das kosmische Urbild des Kaisertums“ (Gundolf 1921: 54) der „Inbegriff der menschlichen Monumentalität“ und „das höchste Maß für Herrscher (sein Name sagt es)“ (Gundolf 1921: 55), weil er „die stärksten Spannungen des weltverwandelnden Willens, der sachlichen Geistigkeit und der regen Menschlichkeit in sich ausgeglichen und [...] gestaltet“ und so eine „Einheit von Charakter, Schicksal, Werk“ (Gundolf 1921: 54) verwirklicht hat. Im „weltverwandelnden Willen“ sind Intention, Gestaltungsvermögen und Produkt auf eine in poetologischen und theologischen Diskursen beschriebene Art und Weise ineinsgesetzt: Der dichtende Diktator ist - zumindest auch - ein Phantasma der Autorschaft, das hier durch den alliterierenden Klang der Formel seinerseits als literarisch markiert wird. In diesem Sinn erscheint für Gundolf „die Doppelgnade Caesars, des Tuns und Schreibens“ (vgl. Thimann 2003: 155 sowie Gundolf 1968: 369), als überhistorisch vorbildlich. 1 Insofern die politischen Akteure der republikanischen Gegenwart der 1920er Jahre im Vergleich mit diesem „höchsten Maß für Herrscher“ notwendigerweise eine schlechte Figur abgeben müssen, dient das Phantasma des dichtenden Diktators als kulturkritisches Schema: „H EUTE , [...] da man [...] bald soziale Pfarrer bald unsoziale Generäle bald Erwerbs- und Betriebsriesen bald rabiate Kleinbürger für Staatsmänner hält, möchten wir die Voreiligen an den großen Menschen erinnern dem die oberste Macht [...] ihre Idee verdankt: Cäsar“ (Gundolf 1924: 7) schreibt Gundolf. In diesen Texten aus dem Diskurs der Souveränität vollzieht sich eine Umkehrung der Perspektive auf poetisch inspirierte Machthaber: Der poetisch inspirierte Griff des Herrschers zum Schreibgriffel erscheint hier nicht als irrationale Abweichung von politischer Tugend, sondern als notwendige Bedingung zur Ausübung souveräner Macht. Nur als Künstler ist der König wirklich ein Souverän, könnte man diesen Diskurs paraphrasieren. Zwar kann die literale Ebene dieses Künstlertums (der Souverän als Autor von Texten) von einer metaphorischen Ebene (der Souverän als Schöpfer des Staats) unterschieden werden. Nimmt man jedoch an, dass die literarische Produktion die politische Schöpferkraft verbürgen kann, werden beide Ebenen symbolisch austauschbar. Von hier aus wird die Zuneigung einiger prominenter Souveräne zur darstellenden Kunst nachvollziehbar: Auf der Bühne kann politische Handlungsmacht ästhetisch präsentiert und sichtbar 1 Gundolfs letztes, durch seinen frühen Tod fragmentarisch gebliebenes Buchprojekt folgt aus dieser Perspektive auf Cäsar als vorbildlichen „Täter“ und „Schreiber“: Gundolf plante ein Buch über Politiker, die zugleich literarische Werke publiziert haben: „Autoren, die er dabei im Sinn hatte, waren der Prinz Eugen von Savoyen, Edmund Burke, Mirabeau“ (Gundolf 1947 [nicht paginiert]). Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 53 werden. „Alles Politische verlangt die Inszenierung, selbst die Katastrophe“ (Schneider 2010: 64), schreibt Manfred Schneider in diesem Sinn - und rehabilitiert aufgrund dieses Postulats Nero, den Urahnen der poetisch inspirierten Tyrannen: „Der Dilettant Nero ist in vielen Dramen und Filmen zum Gespött der Geschichte geworden. Aber an ihm wird nur in extremer Entstellung das Theater des Kaiserlichen ansichtig. Man muss durch Pomp und große Inszenierung den Götterwillen, die Götterlust hervorlocken“ (Schneider 2010: 65). Wenn das ,Politische‘ notwendigerweise eine ästhetische ,Inszenierung‘ benötigt, wenn es ein „Theater des Kaiserlichen“ geben muss, kann der Wille des Kaisers zum Künstlertum nicht mehr als irrationaler Wahnsinn angesehen werden. Aus dieser Perspektive scheint die Suche nach einer rationalistischen Theorie der Politik zum Scheitern verurteilt: Machtausübung kann nicht vollständig rational sein, wenn Macht sich als Beherrschung der Kontingenz - d.h. als Beherrschung des nicht Vorhersehbaren, als Zeichen für Götterwillen und Götterlust - beweisen können muss. Herrscherliche Poesie ist in dieser Perspektive kein dekadenter Überfluss, sondern erscheint konstitutiv für die Legitimation von Macht und Politik überhaupt. Nero allerdings stellt wohl kein treffendes Beispiel für die Notwendigkeit einer theatralischen Inszenierung kaiserlicher Macht dar: Der künstlerische Einsatz Neros zielte nicht auf die Verherrlichung seiner politischen Macht, sondern auf den Ruhm als Künstler, auf die Wahrnehmung als „epochale[s] Genie“ (Gotter 2011: 40). Nero konnte zwar kritische Zuschauer unmittelbar hinrichten lassen (vgl. Flaig 2006: 28), doch Anerkennung als Künstler hat er so nicht gewonnen - und sogar noch die Anerkennung als Kaiser verloren. Kants Diagnose der ,Narrheit‘ behält hier eine gewisse Gültigkeit. Ein „Theater des Kaiserlichen“ ohne augenscheinliche Narrheit wäre dort zu suchen, wo die Ausübung von Herrschaft und die Tätigkeit der Kunst zusammenfallen: Wo die künstlerische Aktivität des Herrschers diesen als Herrscher in Szene setzt. Das Repräsentationsregime Ludwigs XIV. stellt wohl die prominenteste und aufwändigste Verwirklichung souveräner Kunstausübung in diesem Sinn dar. Den Ruhm des Monarchen inszeniert im Auftrag des Hofs nicht nur ein ganzes Heer von Künstlern „in schriftlicher Form - Gedichten, Theaterstücken, Geschichtsbüchern - und in [...] Balletten, Opern, höfischem Zeremoniell und anderen Formen inszenierten Schauspiels“ (Burke 2009: 9), sondern auch der künstlerische Einsatz des Königs selbst. Ludwig XIV. entwickelt sein „Theater des Kaiserlichen“ als Tänzer im Ballett und als Co-Autor des prototypischen Urtexts politischer Memoiren, der zwischen 1666 und 1671 verfassten Mémoires pour l’instruction du Dauphin. Ludwigs Memoiren dienen wesentlich dem Zweck, den Monarchen als „absolutes Subjekt der Geschichte“ (Marin 2005: 81) zu positionieren, als zentralen Akteur der Erzählung, der alle zentralen politischen Entscheidungen trifft und die politische Geschichte seiner Epoche souverän Oliver Kohns (Luxemburg) 54 lenkt: „Ich gestehe, daß ich bei diesen meinen Anfängen, als ich sah, wie mein Ruhm mit jedem Tag wuchs, wie mir alles leicht fiel und mir alles glückte, stärker als vielleicht jemals von dem Verlangen beseelt wurde, Gott zu dienen und ihm zu gefallen“ (Ludwig XIV 1931: 63), schreibt Ludwig. Ludwigs Memoiren sind - durch ihre Gattungsbezeichnung - als nichtfiktionaler Text ausgewiesen. Dennoch kreisen sie um die Beglaubigung einer Fiktion: die der absoluten Macht des zentralen Akteurs. Fiktionen verfügen, wie die Literaturtheorie weiß, über „Klammern [...], um zu bedeuten, daß die dargestellte Welt nicht eine gegebene ist, sondern nur so verstanden werden soll, als ob sie eine gegebene sei“ (Iser 1996: 666). Ludwigs Mémoires pour l’instruction du Dauphin sind nicht durch Klammern ,eingerahmt‘; als Markierung eines „Als-Ob“ (vgl. Iser 1996: 666) in Bezug auf die im Text dargestellte Welt dient hier die sprachliche Bildlichkeit, welche die Darstellung durchgehend auf eine symbolische Ebene referiert. Das Symbol der Sonne etwa ist zentral für Ludwigs Inszenierung als roi de soleil. „Als Bild [corps] wählte ich die Sonne, die nach den Regeln der Wappenkunst [dans les règles de cet art] das vornehmste [le plus noble] Emblem vorstellt“, schreibt Ludwig über das Sonnensymbol: Sie ist ohne Zweifel das lebendigste und schönste Sinnbild [la plus vive et la plus belle image] eines großen Fürsten [grand monarque], sowohl deshalb, weil sie einzig in ihrer großen Art ist, als auch durch den Glanz [éclat], der sie umgibt, durch das Licht [lumière], das sie den anderen Gestirnen spendet, die gleichsam ihren Hofstaat bilden, durch die gerechte Verteilung [le partage égal] des Lichtes über die verschiedenen Himmelsgegenden der Welt, durch die Wohltaten, die sie überall spendet, durch das Leben, die Freude und die Tätigkeit, die sie überall weckt, durch ihre unaufhörliche Bewegung, bei der sie trotzdem stets in ständiger Ruhe zu schweben scheint, durch ihren ständigen und unveränderlichen Lauf, von dem sie niemals abweicht (Ludwig XIV 1931: 137, vgl. auch Louis XIV 1860: 570). Im Sinnbild (image) können Politik und Kosmologie zusammengebracht werden - aber das geht nur, weil sie sich gewissermaßen von Natur aus analog zueinander verhalten: Die Sonne ist wie der Monarch einzig, sie spendet Glanz und weicht nie von ihrem „ständigen und unveränderlichen Lauf“ ab. Das ist soweit das erwartbare kopernikanische Modell der Monarchie (vgl. Kittsteiner 2010: 337). Das geeignete Symbol für monarchische Macht ist die Sonne aber in Ludwigs Darstellung nicht allein von Natur aus, sondern zugleich aufgrund der emblematischen und literarischen Kunstregeln („règles de cet art“), welche die Sonne als das „vornehmste“ Emblem ausweisen. Die Sonne als Metapher für die Macht und Pracht des Monarchen ist alt und traditionsreich, sie wurde bereits in der Literatur der Antike Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 55 entwickelt. 2 Ludwigs Referenz auf die Sonne verweist also nicht nur auf „die sinnliche Evidenz des Zentralgestirns“ (Peppel 2003: 88) und die durch diese Referenz suggerierte Einheit von kosmologischer und politischer Ordnung, sondern gleichzeitig auch auf die literarische und emblematische Tradition dieses Verweises: Der Hinweis auf die Tradition der „règles de cet art“ stellt, in der Terminologie Isers, eine Fiktionalitätsmarkierung des eigenen symbolischen Diskurses dar. In diesem Sinn beruht die Herrschaft Ludwigs XIV. - das hat bereits der Kunsthistoriker Louis Marin herausgearbeitet - auf einer systematischen Konstruktion einer Fiktion absoluter Macht. Nur als „Angriffspunkt für die Stärke der narrativen Macht“, schreibt Marin, kann „die politische Macht [...] ihre Vollendung, [...] ihr Absolutes [...] finden“ (Marin 2005: 74). Die Macht des Königs ist absolut und vollkommen nur in ihrer Repräsentation, ihrer Abbildung als ,Bild des Königs‘. Der Monarch selbst ist - in der pompösen Inszenierung seiner Allmacht - eine fiktionale Gestalt, wie Marin ausführt: „Das Porträt des Königs, das der König betrachtet, liefert ihm die Ikone jenes absoluten Monarchen, der er so sehr sein will, daß er sich genau dann, wenn der Referent aus dem Porträt verschwindet, in ihm und mit seiner Hilfe wiedererkennt. Wahrhaft König, will sagen Monarch, ist der König nur in Bildern“ (Marin 2005: 15). Das Paradigma der absolutistischen Repräsentationspolitik ist in Marins Interpretation das Medium Bild. Als Bild kann die Repräsentation des Königs buchstäblich zu einem Gegenstand werden, den der Monarch in narzisstischer Versenkung vor sich stellt. 3 Mit dem Medium Bild verbindet sich so nicht nur die Möglichkeit der Vergegenständlichung, sondern zugleich auch die - diesem Medium in aller Hartnäckigkeit zugeschriebene - Illusion einer Identität von Zeichen und Referent (vgl. Mitchell 1990: 48). 4 Insofern das Objekt der täuschenden Illusion im Fall des narzissti- 2 Es gibt, so der Philosoph Dion Chrysostomos im 1. Jahrhundert, für die Königsherrschaft „gewiß kein deutlicheres und schöneres Bild als die Lenkung des Alls durch die Hand des ersten und besten Gottes“ (Chrysostomos 1967: 50; vgl. auch Peppel 2003: 88). 3 Louis Marins Interpretation der monarchischen Repräsentation Ludwigs greift hier implizit auf Heideggers Analyse des Konzepts der Repräsentation zurück: In Die Zeit des Weltbildes beschreibt Heidegger einen systematischen Zusammenhang zwischen dem „Bildcharakter der Welt“ in der Moderne, der Idee der Repräsentation als Vorstellung und der Subjektivierung des Menschen als das die Welt zugleich naturwissenschaftlich begreifende und technisch beherrschende Wesen (vgl. Heidegger 1957 [1938]: 84): „Vor-stellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden zu, beziehen und in diesen Bezug zu sich als den maßgeblichen Bereich zurückzwingen. Wo solches geschieht, setzt der Mensch über das Seiende sich ins Bild.“ 4 „Noch so viele gegenteilige Beispiele, mit denen Künstler unter Beweis stellten, daß es auch andere Wege gibt, das abzubilden, was ‚wir wirklich sehen‘, haben die Überzeugung nicht zu erschüttern vermocht, daß die perspektivischen Bilder mit dem natürli- Oliver Kohns (Luxemburg) 56 schen Monarchen sein eigenes Idealbild als absolut potenter König darstellt, führt die Identifizierung Ludwigs mit einem Bild in einen Grenzbereich des Wahns: Jacques Lacan notiert lakonisch, „daß, wenn ein Mensch, der sich für einen König hält, wahnsinnig ist, ein König, der sich für einen König hält, es nicht weniger ist“ (Lacan 1994: 147). König ist der König nur in einer - Lacan folgend wahnsinnigen - Identifikation mit einer symbolischen Repräsentation des Idealbilds des Monarchen in der Form seiner ikonischen Abbildung. III. Wenn in diesem Sinn der absolutistische Monarch a priori eine fiktionale Gestalt besitzt, gilt dies für die Machthaber in der postmonarchischen Moderne unter anderen Umständen ebenso. Auch die herrschaftliche Pracht des modernen, demokratisch legitimierten Politikers - und damit ein wesentlicher Anteil seiner öffentlichen Rolle - ist strukturell fiktional konstruiert. Dies ist nicht, wie aus kulturkritischer Perspektive behauptet wird, ein Zeichen für eine Unterwanderung der Demokratie durch die Logik der Massenmedien (vgl. Meyer 2001: 91), sondern folgt strukturell aus der Ordnung der Moderne. Moderne Gesellschaften sind, so lehrt es die Soziologie Niklas Luhmanns, funktional differenziert: Jedes gesellschaftliche System (Wirtschaft, Religion usw.) prozessiert und entscheidet nach eigener Logik, es gibt keinen Ort einer übergreifenden Steuerung mehr. Die moderne Gesellschaft ist, mit anderen Worten, „eine Gesellschaft ohne Spitze und ohne Zentrum“ (Luhmann 2011: 19) Aufgabe und Inhalt der Politik kann es unter diesen Umständen nicht (mehr) sein, alle gesellschaftlichen Prozesse zu lenken; es geht Luhmann zufolge darum, „das Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“ (Luhmann 2002: 84) zu sichern. Entscheidend ist an dieser Bestimmung der darin implizierte Übergang von personal ausgeübter (z. B. monarchischer) Souveränität zu einer gesellschaftlich verteilten Souveränität (z. B. als Volkssouveränität): „[U]nter dem Vorzeichen von ,Souveränität‘“, schreibt Luhmann, „[musste] der (sakrale Körper) des Monarchen durch zu organisierende Entscheidungen ersetzt werden“ (Luhmann 2002: 86). An die Stelle eines lenkenden und entscheidenden Subjekts tritt, mit anderen Worten, ein gesellschaftliches System, das Entscheidungsfindungen organisiert und die Bindungskraft von Entscheidungen sichert. Die Macht der politischen Akteure wird im Zuge dieses Prozesses dramatisch eingeschränkt. In Luhmanns Darstellung ist dieser Machtverlust durch drei Entwicklungen charakterisiert. Die Ersetzung von Monarchen chen Sehvermögen und dem objektiven äußeren Raum in gewisser Hinsicht identisch sind“ (vgl. Mitchell 1990: 48). Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 57 durch Berufspolitiker bringt erstens eine Radikalisierung der Trennung von Amt und Person mit sich. Macht gehört nicht mehr einer Person als Person an, sondern wird nur innerhalb einer sozial definierten Rolle ausgeübt. Politische Macht wird zweitens eingeschränkt dadurch, dass sie nur noch als „Stellenmacht“ und also „nicht unabhängig von anderen Stellen“ (Luhmann 2002: 93) gedacht werden kann. Der Amtsträger regiert nicht mehr „wie von außen“ (Luhmann 2002: 85) - diese Formel greift das hergebrachte „Paradox der Souveränität“ (Agamben 2002: 25) auf, das besagt, dass der Souverän außerhalb des Rechts steht und es dadurch begründet -, sondern nur noch als ein Teil eines sozialen Systems - weshalb jede politische Entscheidung nunmehr „den Entscheidenden selbst einschließt“ (Luhmann 2002: 85). Die dritte Einschränkung politischer Macht ergibt sich aus der Ausdifferenzierung der Gesellschaft: Sobald jedes gesellschaftliche System gemäß eigener Logik prozessiert, kann Politik keine übergreifende Steuerung der Gesellschaft mehr beanspruchen, können Politiker keinen direkten Einfluss mehr auf wissenschaftliche oder wirtschaftliche Entwicklungen nehmen. Nichtsdestotrotz gehört die Behauptung einer direkten Steuerung zur Selbstbeschreibung der Politik und entwickeln Politiker ihre Legitimation wesentlich aus diesem Machtanspruch. „Die Politiker scheinen davon auszugehen, daß sie an dem wirtschaftlichen Wohlergehen ihres Landes gemessen werden“, schreibt Luhmann: „Wenn man den politischen Reden folgt, liegen dem Kausalannahmen zugrunde, die jedoch mit dem, was wirklich geschieht, wenig zu tun haben. Förderung und Korrektur der Wirtschaft sind wenig kompatible Ziele“ (Luhmann 2002: 111f.). Die Verwendung der Formel „was wirklich geschieht“ in einem avanciert konstruktivistischen Theorieansatz verrät: Bei der Durchsetzung der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme kennt Luhmann kein Pardon. Die Rhetorik der Politiker beansprucht einen gesellschaftlichen Führungsanspruch für die Politik, den ihr die Luhmann’sche Systemtheorie in aller Deutlichkeit aberkannt hat. Der hier formulierte systemtheoretische „Steuerungspessimismus“ wurde in der deutschen Soziologie kontrovers diskutiert (vgl. Lange 2002: 177- 181). Wichtiger als diese Diskussion sind allerdings in unserem Zusammenhang die Konsequenzen, die aus Luhmanns Diagnose einer mangelnden gesamtgesellschaftlichen Steuerungsmöglichkeit durch die Politik für die Rolle der Politiker gezogen werden können. Luhmanns Theorie ersetzt, wie eine nähere Betrachtung zeigt, Steuerung und Kontrolle durchgehend durch die kommunikative Adressierung von Steuerung und Kontrolle an eine lediglich behauptete Machtstelle. Die Theorie der Politik erweist sich als eine Theorie politischer Fiktionen. Das ist erstens in Bezug auf den Begriff der Macht nachzuweisen. Luhmann geht von Max Webers Definition von Macht als „ein Handlungsvermögen [...], das sich gegen erwarteten Widerstand kausal durchsetzt“ (Luhmann 2002: 21), aus. Macht hat demzufolge derjenige, dessen Wille auch Oliver Kohns (Luxemburg) 58 gegen andere Willen bestimmen kann, was geschieht. Dieser Bestimmung von Macht gibt Luhmann eine Wendung durch die „Frage, ob Macht wirklich eine Art innere Potenz, eine Art ‚Kraft‘ des Machthabers sei, die man an seinen Ressourcen ablesen könne, oder ob Macht nicht vielmehr erst durch die Gehorsamsbereitschaft der Unterworfenen erzeugt werde“ (Luhmann 2002: 27). Damit wird - systemtheoretisch gesprochen - von Beobachtung erster Ordnung auf Beobachtung zweiter Ordnung gewechselt: Macht ist kein prädiskursives ,Ding‘, sondern eine diskursive Konstruktion, um nicht zu sagen Fiktion; sie ist elementar nicht die Ausübung von Zwang und Herrschaft, sondern die Zuschreibung der Möglichkeit von Herrschaft an einen - in dieser Zuschreibung erst konstruierten - ,Machthaber‘. Aus dieser Bestimmung von Macht folgt zweitens eine Neubestimmung der Rolle von Politikern. Politische Ämter erscheinen in dieser Perspektive in erster Linie als eine „Form des Erscheinens von Macht“ sowie als „eine friedliche Form der Präsentation und Ausübung von Macht“ (Luhmann 2002: 91): Sie sind gewissermaßen primäre Adressen für diskursive Zuschreibungen von Macht. Politiker spielen dieses Spiel von Machtzuschreibung und Machtausübung qua Zuschreibung, indem sie sich als machtvolle Gestalter inszenieren und dabei eine Macht behaupten, über die sie ‚tatsächlich‘ nicht verfügen. Etwas provokant folgert Luhmann eine Apologie der politischen Verstellung: „Rechtfertigung und Heuchelei sind politische Optimierungsstrategien, mit denen man im Code gut/ schlecht kommuniziert, ohne das ausgeschlossene Dritte, die Realität, kontrollieren zu können“ (Luhmann 2002: 113). Der zunächst kritisch beschriebene Anspruch auf Steuerung der Gesellschaft in der politischen Rhetorik erhält in dieser Perspektive eine Funktion als sozusagen systembedingt notwendige Fiktion: Wie bei den Hopi-Indianern der Regentanz scheint das Reden von Ankurbelung der Wirtschaft, Sicherung des Standorts Deutschlands, Beschaffung von Arbeitsplätzen eine wichtige Funktion zu erfüllen; jedenfalls die, den Eindruck zu verbreiten, daß etwas getan wird und nicht einfach abgewartet wird, bis die Dinge sich von selber wenden (Luhmann 2002: 113). Der Vergleich zwischen Medizinmännern und Politikern ist bemerkenswert: Nicht nur, weil er dem politischen und wirtschaftlichen Geschehen dieselbe unvorhersagbare und unregulierbare Kontingenz wie der Wetterlage zuschreibt, sondern auch, weil er Politiker als - wenn auch betrügerische - Priester und Manipulatoren des Schicksals und göttlichen Willens entwirft. Die Figur des Politikers ist essentiell fiktional: Sie ermöglicht der Gesellschaft den Glauben, der Kontingenz nicht ausgeliefert zu sein. Die Macht des Politikers ist zwar fiktional, das hindert sie allerdings nicht daran - insofern der Glaube der Machtlosen an die Macht diese instituiert -, zugleich real und tatsächlich wirksam zu sein. Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 59 Luhmann stellt in dieser Analyse nicht die Frage, welche Rolle die in verschiedenen Medien entwickelten pluralen Perspektiven bei der Konstruktion dieser Fiktion politischer Steuerung spielen. Es lässt sich jedoch die These entwickeln, dass gerade die Pluralität medialer Darstellungen ein wesentliches Merkmal der modernen Repräsentation des Politischen (und der politischen Akteure) darstellt. Während der Monarch des 17. Jahrhunderts seine Darstellung in Medien wie Historiographie, Theater, Oper, Architektur und Malerei halbwegs zensieren und kontrollieren konnte, sind die medialen Perspektiven auf Politiker in der Moderne ungleich zahlreicher, verstreuter und unkontrollierbarer: „Indeed, what is specific about the present situation is that the new media (newspapers, radio, and above all television) are constantly placing politicians under the spotlight“, schreibt Marcel Hénaff. Und weiter schreibt er: „There is no longer a privileged and single stage specific to the political realm; from now on, there is only a ,media image‘ that is made and disseminated in all types of settings and occasions“ (Hénaff 1996: 23). Die polyperspektivische Abbildung des Politischen in den verschiedensten modernen Medien bringt, wie Manfred Schneider anmerkt, „triviale Dubletten von Ereignissen“ hervor: „Die Sichtbarkeit und Wiederholbarkeit der Worte, Gesten und Bilder, die das Politische ausmachen, reduzieren die Einzigartigkeitsqualität, die Aura der Machtkörper, die Seltenheit der Herrscherpersonen und das Hier und Jetzt des Ereignisses“ (Schneider 2010: 272). Das Paradigma der fiktionalen Darstellung der Politikerfigur in der Moderne ist nicht mehr, wie in der Repräsentationspolitik des Absolutismus, das Bild, sondern die Narration: Die Erzählung über einen Politiker kann zeitliche Abfolgen in eine kausal erscheinende Ordnung setzen und so ein komplexes image entwerfen, das Rechtfertigungen der Vergangenheit ebenso wie Hoffnungen auf die Zukunft einschließt. 5 In der Konkurrenz mit der vielfachen Präsentierung und Spiegelung dieser Narrationen in verschiedensten Medien kann die Erzählung des Politikers über sich selbst den Anschein von ,Echtheit‘ gewinnen. Das über sich selbst erzählende Ich wird zu einem Rückzugsort für ,echte‘ Erfahrung und ,wahre‘ Darstellung, sobald literarische Sprache als „Strukturzusammenhang zwischen dem Erleben und dem Ausdruck des Erlebten“ begriffen wird: „Das Erlebte geht hier voll und 5 Das Potential der Erzählung, durch ihre zeitliche Ordnung pseudo-logische Systeme auftreten zu lassen, hat bereits Roland Barthes beschrieben (vgl. Barthes 1988: 113): „Alles weist darauf hin, daß die treibende Kraft der narrativen Aktivität die Verwechslung von zeitlicher Folge und logischer Folgerung ist, das Nachfolgende in der Erzählung als verursacht von gelesen wird“. Der „creative writing instructor“ Robert McKee fasst die Aufgaben der Narration über den Politiker bündig zusammen: “Grundsätzlich werden in der Politik immer drei Geschichten erzählt. Erstens: der Protagonist als Held. Zweitens: Der Gegner als Bösewicht. Der dritte Erzählstrang ist eine Geschichte über die Zukunft“ (Blümner/ McKee 2012: 16). Oliver Kohns (Luxemburg) 60 ganz in den Ausdruck ein“ (Dilthey 1985: 165). Im Bereich der Politik führt diese Fokussierung auf das sein ,Erleben‘ beschreibende Subjekt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Blüte des Genres der Memoiren. Im Kontext einer inflationären Vervielfältigung der medialen Darstellung und Kommentierung von Politik versprechen Politikermemoiren eine doppelte Einsicht in ,Echtheit‘ und ,Wahrheit‘: Die Beschreibung politischer Ereignisse aus der Feder des Akteurs (der gewissermaßen hinter den Kulissen ,dabei‘ war) und zugleich eine Einsicht in die Psyche des schreibenden Ichs durch den Nachvollzug seines Ausdrucks. Die politischen Memoiren der Moderne sind - ebenso wie die Mémoires Ludwigs XIV. - im Kontext der medialen Repräsentation der Herrscherfigur in ihrer Zeit zu lesen: Durch ihren ‚subjektiven‘ Zug grenzen sich die Memoiren der modernen Politiker jedoch offensiv von anderen medialen Perspektiven ab. Zentral für die deutsche Tradition der Politikermemoiren - die sich bis in die Gegenwart fortschreibt: kein Bundeskanzler tritt ab, ohne sogleich seine Memoiren zu veröffentlichen - sind Bismarcks Gedanken und Erinnerungen (1898). Dieser autobiographische Text orientiert sich an einem historiographischen Stil und bedient das Interesse an der politischen Entwicklung Bismarcks - und nicht zuletzt an seiner Abrechnung mit dem jungen Kaiser Wilhelm II. und dessen Frau. Früh wurden dem Text allerdings auch literarische Qualitäten zugesprochen. Man verspürt „den Zauber der ,Gedanken und Erinnerungen‘ kaum ganz“, schreibt Gundolf, „wenn man sie nur als eine politische Schrift nimmt und nicht auch ihren vorpolitischen Lebenshauch, ja ihr poetisches Fluidum atmet“ (Gundolf 1980: 304). Ein „poetisches Fluidum“ kann in der Art und Weise wahrgenommen werden, in der Bismarck die Welt des Politischen und das Agieren von Politikern darstellt. Die Darstellung von politischem Handeln kann kaum auf eine spezifische - „poetisch“ wirkende - Bildlichkeit verzichten, die komplexe Prozesse auf anschauliche Einheiten reduziert und mit Sinnhaftigkeit verbindet (vgl. Münkler 1994: 126). In Bismarcks Text wird politisches Handeln im Bild des Spiels anschaulich, insbesondere in dem des Schachspiels. Bismarck entwickelt diese Bildlichkeit im Zusammenhang mit der Frage nach politischer Legitimität: Ist der Vertreter des ancien régime Ludwig XIV. aus deutscher Perspektive mit mehr Sympathie zu betrachten als der Usurpator Napoleon? „Ein legitimer Monarch wie Ludwig XIV. ist ein ebenso feindseliges Element für uns wie Napoleon I.“, schreibt Bismarck zu dieser Frage: Ich kann als Romantiker eine Träne für sein [Louis Napoleons, O.K.] Geschick haben, als Diplomat würde ich sein Diener sein, wenn ich Franzose wäre, so aber zählt mir Frankreich, ohne Rücksicht auf die jeweilige Spitze, nur als ein Stein, und zwar ein unvermeidlicher in dem Schachspiel der Poli- Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 61 tik, einem Spiele, in welchem ich nur meinem Könige und meinem Lande zu dienen den Beruf habe (Bismarck 2007: 131). Das Schachspiel ist eine politische Metapher mit außerordentlich weitem Sinnpotenzial und einer Geschichte, die bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgt werden kann (vgl. Poole 2004: 53). Zwei Konnotationen der Metapher erscheinen in Bismarcks Text relevant. Erstens verweist die Metapher auf die Notwendigkeit sozialer Ordnung: Jede Figur hat ihren Ort und ihre Zugmöglichkeiten, aber die zentrale Figur auf jeder Seite des Bretts ist der König. Zweitens beinhaltet Schach ein agonales Prinzip: Politik ist begründet durch Freund-Feind-Gegensätze, ideologische oder persönliche Sympathien für den Gegner haben hier nur „Romantiker“. Ein ganzer Katalog von Tugenden kann hier assoziiert werden: Sachlichkeit, strategisches Denken, die spielerische Fähigkeit zum Umgang mit kontingenten und unerwarteten Situationen. Dieser Wertekanon bestimmt für Bismarck die „Realpolitiker“ (Bismarck 2007: 62) oder „Staatsmänner“ (Bismarck 2007: 98), im Gegensatz zu den Vertretern der „Hofnebenpolitik“ (Bismarck 2007: 98) oder der „Gefühlspolitik“ (Bismarck 2007: 132). Im Vergleich mit der Bildlichkeit des Sonnensystems in Ludwigs Mémoires wird Politik als Schachspiel bei Bismarck nicht naturalisiert; Bismarcks Allegorie zielt nicht auf eine Repräsentation göttlicher Ordnung, sondern auf einen Raum, in dem ein Politiker durch seine staatsmännischen Tugenden, durch sein hervorragendes Können die Weltgeschichte in seinem Interesse beeinflussen kann. In diesem Sinn beschreibt sich Bismarck als einen Spieler, der immer den richtigen „Schachzug“ (Bismarck 2007: 318) weiß. Weit vom spektakulären Auftritt eines Sonnenkönigs entfernt, besteht ein solcher Zug in der artistischen Bewegung der richtigen Spielfigur zur richtigen Zeit, die nur der großer Politiker zu ziehen vermag: „Eine wirkliche Verantwortung in der großen Politik aber kann nur ein einzelner leitender Minister, niemals ein anonymes Kollegium mit Majoritätsabstimmung leisten“, schreibt Bismarck. Und weiter: „Die Entscheidung über Wege und Abwege liegt oft in minimalen, aber entscheidenden Wendungen, zuweilen schon in der Tonart und der Wahl der Ausdrücke eines internationalen Aktenstücks“ (Bismarck 2007: 214). Diese Beschreibung politischer Kunstfertigkeit - die Kategorien „minimale Wendung“, „Tonart“ verweisen auf die Sphäre der Literatur - deutet auf die „Emser Depeschen“ voraus, jenes Telegramm Wilhelms I., das in Bismarcks Überarbeitung der Legende zufolge zum Auslöser für den deutsch-französischen Krieg 1870/ 71 wurde. Bismarck stellt diese Episode so dar, dass der Entschluss zum Krieg gegen Frankreich seine souveräne Entscheidung gewesen sei, um durch die Auseinandersetzung mit dem äußeren Feind eine innere Einheit zu erreichen: Oliver Kohns (Luxemburg) 62 [I]ch [war] überzeugt, daß die Kluft, welche die Verschiedenheit des dynastischen und Stammesgefühls und der Lebensgewohnheiten zwischen dem Süden und dem Norden des Vaterlandes im Laufe der Geschichte geschaffen hatten, nicht wirksamer überbrückt werden könne als durch einen gemeinsamen nationalen Krieg gegen den seit Jahrhunderten aggressiven Nachbar (Bismarck 2007: 343). In seiner Darstellung zeigt Bismarck alle Tugenden des politischen Schachspiels: Er führt den Konflikt mit Frankreich nicht aus ideologischen Gründen herbei, sondern allein aus strategischer Überlegung und kühler Berechnung, um einen innenpolitischen Zweck zu erreichen. Vor allem aber entwirft Bismarcks Text den preußischen Ministerpräsidenten als einen vollkommen souveränen Akteur und als zentralen Gestalter des historischen Prozesses. Hier kann die Lektüre von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen mit Luhmanns Theorie politischer Fiktionen zusammengreifen. Bismarcks Text erhält nicht bereits durch die Verwendung der Schachmetapher eine fiktionale Dimension - dass der nüchternste Text nicht ohne figurative Sprache auskommt, ist seit Nietzsche eine Banalität -, sondern dadurch, dass sich der Politiker Bismarck zur Welt seines Buchs tatsächlich wie ein Schachspieler verhält: Er handelt souverän und überlegt, selbst unauffällige Handlungen verändern den weiteren Lauf der Dinge grundlegend. Friedrich Gundolf sieht Bismarcks „staatsmännische Größe“ dadurch „mitbestimmt, daß er die wildeste Leidenschaft mit reinster Besinnung lenkte und verwendete, seine echten Zornesausbrüche nicht mit kalter Rechnerei, sondern mit trunkener Triebsicherheit seinen politischen Plänen dienstbar machte“ (Gundolf 1980: 309): Die autobiographische Beschreibung des ,eisernen Kanzlers‘ greift auf die Charakterisierung seiner ,realen‘ Person über, alle topoi der Beschreibung des Realpolitikers sind versammelt. Die Politikermemoiren setzen so, zumindest im Fall von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, eine politische Fiktion in die Welt, in welcher der Politiker als derjenige in Erscheinung tritt, der noch seine „wildeste Leidenschaft“ (ebd.) in einen politischen Plan verwandeln kann. IV. Ein entscheidender Unterschied zwischen Politikermemoiren und von Politikern verfassten Romanen ist offenkundig: Im autobiographischen Text trägt der zentrale Akteur den gleichen Namen wie der Autor, daher gehört es zur Grundregel des Genres, den Text als transparenten „Ausdruck des Erlebten“ (Dilthey 1985: 165) zu lesen. Die fiktionale Welt des Romans dagegen stellt nach der bekannten aristotelischen Formel nicht das „wirklich Geschehene“ dar, sondern dasjenige, „was geschehen könnte“ (Aristoteles 1982: 29): Fiktionen eröffnen Raum für Kontingenz, auch in der Relation Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 63 zwischen dem Autor und den Akteuren. Ein politischer Roman kann den fiktionalen Entwurf für eine Politikerexistenz darstellen - wenn man berücksichtigt, dass die Existenz des Politikers an sich eine fiktionale Dimension besitzt, handelt es sich gewissermaßen um eine potenzierte Fiktion. Fiktionale Entwürfe von Politikerexistenzen stellen zahlreiche Romane Benjamin Disraelis - dem britischen Premierminister von 1874 bis 1880 - dar. Seine bekanntesten Romane - Coningsby (1844), Sybil (1845) und Tancred (1847) - „handeln allesamt von der Bildung eines jungen, wohlmeinenden Aristokraten, dessen hohe Ideale mit dem Zynismus und der Ohnmacht englischer Politik in Konflikt geraten“ (Kirsch 2011: 125). In Coningsby erlebt der Titelheld im Gespräch mit einem mysteriösen Fremden, der sich später als der Jude Sidonia erweisen wird, eine Art Initiationserlebnis in das politische Denken. Der Fremde klärt Coningsby über die Notwendigkeit eines politischen „guides“ auf: ,But are these times for great legislators and great conquerors? ‘ urged Coningsby. / ,When were they wanted more? ‘ asked the stranger. ,From the throne to the hovel all call for a guide. You give monarchs constitutions to teach them sovereignty, and nations Sunday-schools to inspire them with faith.‘ / ,But what is an individual,‘ exclaimed Coningsby, ,against a vast public opinion? ‘ / ,Divine‘, said the stranger. ,God made man in His own image; but the Public is made by Newspapers, Members of Parliament, Excise Officers, Poor Law Guardians‘. (Disraeli o. J.: 118) Der politische Hintergrund dieses Diskurses über politische Führer, der im Roman dargestellt wird, ist die Wahlrechtsreform im Jahr 1832, durch den die Anzahl der Wahlberechtigten in Großbritannien um etwa dreihunderttausend Bürger erhöht wurde. Die Bedeutung dieser Reform ist aber wohl weniger in der tatsächlichen Verschiebung der politischen Gewichte zu sehen als vielmehr darin, dass damit ein Schritt in Richtung auf die Entmachtung der Aristokratie und eine stärkere politische Partizipation der ärmeren (vor allem städtischen) Bevölkerung gemacht wurde (vgl. Kirsch 2011: 81f.). Die - diesen Schritt der Demokratisierung initiierende - Frage nach der angemessenen Repräsentation des Volkes erscheint in Disraelis Roman als ein offenes Problem: „On one hand it was maintained, that, under the old system, the people were virtually represented; while, on the other, it was triumphantly urged, that if the principle be conceded, the people should not be virtually, but actually, represented. But who are the people? And where are you to draw a line? “ (Disraeli o.J.: 36) In Frage steht - mit anderen Worten - der Gegensatz zwischen einer qualitativen und einem quantitativen Interpretation von Repräsentation (vgl. Friedland 2003: 36): Soll die Elite des Landes den Willen des Volkes bestimmen oder soll das Wahlrecht jedem Einwohner gleiche Rechte gewähren, auch dem ungebildeten Einwohner der Oliver Kohns (Luxemburg) 64 „hovels“? Die quantitative Bestimmung von Repräsentation, die der Idee nach das gesamte Volk einschließt (wenn auch erst mit einiger Verzögerung die Frauen), wurde im Frankreich des 18. Jahrhunderts entwickelt und in konservativen Kreisen Großbritanniens zur Zeit Disraelis daher mit der Gefahr von Revolution und Herrschaft des Mobs assoziiert (vgl. Disraeli o. J.: 37). Disraelis Protagonist Sidonia vertritt die konservative Ablehnung einer quantitativen Vorstellung von Repräsentation. Auch der „guide“, dessen Ankunft Sidonia beschwört, repräsentiert das ganze Volk („From the throne to the hovel“), doch geschieht dies nicht durch Wahl, sondern durch die göttlichen Sendung des Anführers, die ihm unmittelbare Autorität verleiht. Diese Argumentation verrät Sidonia als einen Leser von Thomas Carlyles On Heroes and Hero Worship (1841). Der „heroische“ politische Führer, schreibt Carlyle hier, kann ein ‚göttliches Recht‘ („a divine right over me“) (Carlyle 1950: 261) beanspruchen - und so die Nation vor dem revolutionären Egalitarismus der Moderne retten: „While man is man, some Cromwell or Napoleon is the necessary finish of a Sansculottism“ (Carlyle 1950: 267). Die Begegnung von Coningsby und Sidonia inszeniert dergestalt einen zentralen politischen Konflikt der Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien, aber die Bedeutung dieser Szene für Disraelis Roman ist damit noch nicht vollständig erfasst. Die Szene stellt einen dramaturgischen Höhepunkt der Handlung dar, insofern sie den Hauptakteur Coningsby mit der Imagination einer politischen Karriere erfüllt: Nach der Begegnung mit dem Fremden ist Coningsbys „fancyˮ mit Bildern von „statesmen giving up cricket to govern nations, beardless Jesuits plunged in profound abstraction in omnipotent cabinets“ (Disraeli o. J.: 122) - und also mit sehr englischen Variationen politischer Machtphantasien - erfüllt. Disraelis Text belässt es nicht bei dieser Information, sondern schaltet eine Reflexion über die lebensverändernde Kraft des Wortes ein: There are some books, when we close them; one or two in the course of life, difficult as it may to analyse or ascertain the cause; our minds seem to have made a great leap. [...] What is this magic? It is the spirit of the supreme author, by a magnetic influence blending with our sympathising intelligence, that directs and inspires it. [...] All of us encounter, at least once in our life, some individual who utters words that make us think for ever. [...] A great thing is a great book; but greater than all is the talk of a great man (Disraeli o. J.: 122). Diese Reflexion verschaltet die äußere Handlung - die Begegnung Coningbys mit dem „stranger“ - mit der (um einen Begriff aus Blanckenburgs Versuch über den Roman aufzugreifen) „innern Geschichte“ (Blanckenburg 1774: Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 65 146) des Protagonisten und rückt den Roman so nachdrücklich in die Tradition des Bildungsromans ein (vgl. Campe 2011: 56): Das Gespräch erscheint als der Umschlagpunkt, an dem Coningsby beschließen wird, sich auszubilden. Um den Konnex zwischen Romanhandlung und der inneren Entwicklung des Protagonisten zu verdeutlichen, entwickelt die Passage eine Metaphysik des Wortes: Jeder „great leapˮ des Geistes benötigt einen Anstoß, der durch Bücher geschehen kann, besser und stärker aber noch durch den „talk of a great manˮ, die gesprochenen Worte eines großen Manns, dessen magnetischer Einfluss keine Grenzen zu kennen scheint. Es ergibt sich - wenn man diese Reflexion im Zusammenhang mit der Ansprache Sidonias liest - eine hierarchische Stufung der Medien und ihrer politischen Tendenzen. Im Gespräch mit dem Fremden hat Coningsby den Grund dafür genannt, warum es keine Zeit für „great legislators and great conquerors“ mehr sei: Es herrscht die „public opinion“, die öffentliche Meinung. Diese besteht aus einem Gemisch aus verschiedenen Stimmen: Zeitungen, Parlamentarier, Steuerbeamte und - warum auch immer - Anwälte für Armenrecht sind Teil der Öffentlichkeit, insofern erstaunt Sidonias strenges Urteil nicht, dass diese ein rein menschliches Produkt ist und keinerlei göttliche Züge aufweist. Durch Sidonia lernt Coningsby die Macht des gesprochenen Worts („talk“) und des Buchs kennen, die der öffentlichen Meinung entgegengesetzt werden: Letzteres ist zwar nur eine Abbildung des ersteren, aber auch aus dem Buch spricht der Geist („spirit“) des „supreme author“ und inspiriert - nach dem schöpfungstheologischen Modell des pneumas - den Leser. Autorschaft und Autorität gehören hier unbedingt zusammen: Dem Hören auf die Stimme des großen Manns entspricht der Glaube an die Notwendigkeit politischer Führung durch ebenso große Männer. Die Begegnung Coningsbys mit dem „Fremden“ eröffnet dem jungen Aristokraten so nicht allein eine neue Perspektive auf die Politik, sondern zugleich auch einen Sinn für die Macht der Worte, die Kraft der Literatur. Disraelis Roman ist mehr als eine illustrierende Darstellung der politischen Probleme seiner Zeit: Er erzählt zugleich einen Mythos literarischer Macht. Diese literarische Macht des Wortes tritt gleichberechtigt neben die politische Macht des Handelns, wenngleich diese ihr eigentliches Thema darstellt. Es erscheint weder möglich noch nötig, Disraeli ausdrücklich mit einem seiner Akteure zu identifizieren (vgl. dagegen Kirsch 2011: 135): Sein Roman beschreibt im Modus der fiktionalen Potentialität verschiedene Varianten politischer Macht. Coningsby stellt nicht allein einen fiktionalen Entwurf einer Politikerexistenz dar, sondern zugleich ein Phantasma politisch wirkmächtiger Autorschaft. Aus diesem Grund wohl konnte auf eine heroische Darstellung der Figur Coningsbys verzichtet werden. Der mit allen Anlagen zu einem charismatischen Politiker gesegnete Coningsby wird gegen Ende des Romans mit einer Reihe offener Fragen aus der Geschichte verabschiedet: Oliver Kohns (Luxemburg) 66 Coningsby passed his next Christmas in his own hall, with his beautiful and gifted wife by his side, and surrounded by the friends of his heart and his youth. [...] What will be their fate? [...] Will their skilled intelligence subside into being the adroit tool of a corrupt party? [...] Or will they remain brave, single, and true; refuse to bow before shadows and worship phrases; sensible of the greatness of their position, recognise the greatness of their duties [...] and restore the happiness of their country by believing in their own energies, and daring to be great? (Disraeli o. J.: 477) V. Ein weiterer fiktionaler Entwurf eines Politikerlebens bietet Joseph Goebbels’ Roman Michael. Der Roman berichtet im Tagebuchstil von der Entwicklung eines jungen Mannes, der nach seiner Rückkehr aus dem Krieg einige Zeit im studentischen Milieu Heidelbergs verbringt, sich als Schriftsteller versucht und Gedanken über die politische Situation zu Papier bringt. Der Roman schließt strukturell an das Genre der ,Politiker-Literatur‘ an, allerdings verschärft sich der Tonfall: Michael orientiert sich - im Gegensatz zu Coningsby - nicht an der realistischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, sondern an einem expressionistischen Stil, der nicht an Ausrufezeichen geizt. Goebbels’ Protagonist Michael macht zwar nicht selbst eine politische Karriere, aber er hört die Rede eines aufstrebenden Politikers und sieht ihn als personifiziertes Versprechen einer neuen Politik [„Offenbarung! Offenbarung! “ (Goebbels 1934: 102)]. Der Auftritt dieses Politikers, der unschwer als Adolf Hitler zu erkennen ist, fehlt in der Fassung von 1923; die Szene hat Goebbels in der Überarbeitung des Romans 1928 hinzugefügt, nachdem er 1924 Hitler kennengelernt hat. Auch wenn diese Szene nur locker mit der restlichen Handlung verknüpft ist - in der weiteren Handlung wird eigenartigerweise nicht wieder auf die Begegnung mit dem Politiker Bezug genommen (vgl. Michel 1999: 130) - ist sie als Antwort auf Michaels politische Sehnsucht gewissermaßen ihr teleologischer Endpunkt: Auch Goebbels’ Roman kreist um die Forderung nach dem Aufritt eines „großen Manns“, der politische Rettung verspricht. Diese Forderung erscheint hier jedoch nicht im Rahmen eines Dialogs, sondern wird in knappen und apodiktischen, stakkatohaft hervorgebrachten Sätzen formuliert: Haben die Kühnsten das Heft in der Hand, so sollen sie offen heraus sagen: wir üben die Diktatur aus: Wir übernehmen dafür die Verantwortung vor der Geschichte - wer wirft den ersten Stein auf uns? Haben die Feiglinge das Heft in der Hand, so sagen sie: das Volk regiert; drücken sich vor der Verantwortung und steinigen den, der gegen diese Heuchelei Front macht. Herrschen wird immer eine Minderheit. Das Volk hat nur die Wahl, ob es un- Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 67 ter offener Diktatur der Kühnen leben oder unter heuchlerischer Demokratie der Feigen sterben will. Eine Rechnung, die so einfach wie logisch ist. (Goebbels 1934: 115) Politische Repräsentation wird hier grundsätzlich verabschiedet, indem sie von vornherein als Lüge begriffen wird. Vom idealen Herrscher wird keine Repräsentation eines Volkswillens erwartet, sondern - geradezu im Gegenteil - die Formung und Gestaltung des Volkskörpers, welche in Analogie zu künstlerischer bzw. göttlicher Kreation begriffen werden kann: „Die Masse siegt: welch ein Wahnsinn! Genau so, als wenn ich sagen wollte: der Marmor macht das plastische Werk. Kein Kunstwerk ohne Schöpfer! Kein Volk ohne Staatsmann! Keine Welt ohne Gott! “ (Goebbels 1934: 114) Goebbels’ „Staatsmann“ ist nicht - wie etwa Carlyles heroischer Charismatiker - in einem göttlichen Auftrag unterwegs, sondern seine Rolle besteht darin, selbst göttlich zu wirken und sein „Volk“ zuallererst zu erschaffen. Entsprechend ist das politische Vokabular des Texts durchgehend theologisch geprägt: Ersehnt wird nicht weniger als ein „andre[r] Gott“ (Goebbels 1934: 31), ein „nationales Wunder“ (Goebbels 1934: 35), „ein Wort aus dem Munde Gottes“ (Goebbels 1934: 61), ein „Opfer“ (Goebbels 1934: 82), eine „Erlösung“ (Goebbels 1934: 101), „Offenbarung“ (Goebbels 1934: 102) und „Schöpfung“ (Goebbels 1934: 124). Die Gegenwart lebt in einer absoluten Unwahrheit, die nur durch eine absolute Wahrheit abgelöst werden kann: Der Akteur phantasiert von einer völligen Vernichtung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung seiner Gegenwart. Die politische Welt der Moderne wird nicht kritisiert, sondern der völligen Verdammung überantwortet. ‚Politik‘ als eine Organisation öffentlicher Entscheidungsfindung in einem wie auch immer geregelten, institutionalisierten Rahmen wird hier - für das Genre der ,Politiker-Literatur‘ ungewöhnlich - insgesamt geradezu verteufelt: „Wie abwegig! Man hat die Politik zum Beruf gemacht; als wenn das etwas wäre, das man lernen kann“, schreibt Goebbels. Und weiter: „Und nebenbei: diesen Beruf hat jeder Grenadier mehr verstanden und ausgeübt, der draußen schweigend seine Pflicht tat, als die parlamentarischen Schwätzer, die in den Regierungsbüros saßen und Reden hielten (Goebbels 1934: 21f.). Auch die bürgerlichen Medien der politischen Öffentlichkeit werden in Goebbels’ Text - wie in Coningsby - als alternative Perspektiven auf die Politik angegriffen, dem eschatologischen Grundton des Textes entsprechend in deutlich verschärftem Ton. „In den Zeitungen wird gehetzt und geschimpft. Diese verantwortungslosen Schmieranten! “, notiert Goebbels’ Akteur grimmig: „Das Volk ist auf der Straße, randaliert und demonstriert. Die Herren sitzen am grünen Tisch und spielen seelenruhig ihre Partie zu Ende“ (Goebbels 1934: 85). Die hier entwickelte Dichotomie von Wort und Tat bestimmt die Logik des Textes: Die Zeit fordert die Handlung („Die Arbeit als Erlöse- Oliver Kohns (Luxemburg) 68 rin! “ Goebbels 1934: 149), Worte können da nur noch Ablehnung finden: „Das Geistige wird mir zum Überdruß. Mich ekelt jedes gedruckte Wort.“ (Goebbels 1934: 112) Goebbels’ Roman entwickelt so eine Phantasie von der Abschaffung nicht nur der Zeitungen (der „öffentlichen Meinung“), sondern auch vom „gedruckten Wort“ insgesamt: Der Roman phantasiert das Ende aller Romane herbei. Es kann daher nicht verwundern, dass das literarische Projekt des Hauptakteurs keinen glücklichen Abschluss finden kann: „Ich trage mit mir einen großen dramatischen Wurf; alles steht fertig im Kopf, nur der Schluß bricht durch“ (Goebbels 1934: 50), heißt es noch optimistisch zu Beginn der Handlung: Goebbels’ Protagonist arbeitet an einem Drama über Jesus Christus und scheint zeitweilig auch Fortschritte mit dieser Produktion zu erleben: „Die Feder fliegt durch die Seiten. Schaffen! Schaffen! “ (Goebbels 1934: 69) Dass allerdings diese literarische Produktion zwangsläufig zu „gedruckten Worten“, zu „Geistigem“ - und keineswegs zu reiner Handlung - führt, kann allerdings nicht übersehen werden: Das Projekt gerät in einen Widerspruch mit der politischen Mission des Akteurs. „Wie kann man Bücher schreiben und Wissen sammeln, wenn das Reich in Trümmern liegt? “ (Goebbels 1934: 121), fragt sich der angehende Autor und bricht die Arbeit an dem Drama ab, um fortan in einem Bergwerk einer ,echten‘ Arbeit nachzugehen. Die einzige Berechtigung hat - Michael zufolge - an diesem Punkt nur noch das „Wort, in dem die Tat sich schon aufbäumt“ (Goebbels 1934: 91): Das Wort, das fast schon kein Wort mehr ist, weil es zwingend zur Handlung führt. In dieser radikalen Negation jeglicher Fiktion und jeglicher Ästhetik führt Goebbels’ Roman die Phantasie einer Selbstauslöschung vor. Entsprechend findet der Text, der ohnehin durch einen parataktischen, abgehackt wirkenden Stil charakterisiert ist, bald nach dem Ende von Michaels Künstlerambitionen ein abruptes Ende. Negation jeder institutionalisierter Politik als Betrug, Negation aller Fiktionen als Heuchelei, alles andere als charakteristisch für die Textsorte der ,Politiker-Literatur‘, wird hier sowohl die Idee der Politik als auch die der Literatur einer radikalen Negation unterworfen. Goebbels’ Roman bringt die Textsorte damit in gewisser Weise an den radikalsten denkbaren Punkt und an ein Ende von Literatur überhaupt. Ein Roman, der nicht nur durchgehend auf eine simpelste Schwarz-weiß- Logik baut, sondern auch einen konsequenten Hass auf das gedruckte Wort, auf „das Geistige“ insgesamt entwickelt: Man wäre wohl, selbst wenn man die weitere Karriere des Autors nicht kennen würde, versucht, diesen irrwitzigen Text in Walter Benjamins Sammlung „Bücher von Geisteskranken“ (Benjamin 1972: 615-619) einzusortieren. Kants These der „Narrheit“ scheint hier - bei aller Verschiedenheit der Fälle - auch im Bereich moderner ,Politiker-Literatur‘ zuzutreffen. Wie sich hier zeigt, vermag es die Macht der Narration - im Fall von Goebbels’ Michael wie bei Coningsby eine Varian- Fiktionen politischer Existenz: Skizze zum Politiker als Schriftsteller. 69 te des Bildungsromans -, auch aberwitzigen politischen Phantasmen zumindest eine jederzeit erkennbare und lesbare Form zu geben. Oliver Kohns (Luxemburg) 70 Literaturverzeichnis: Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übers. v. 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Ich muss mich im vorgegebenen Rahmen allerdings auf einen sehr knappen Blick auf die verschiedenen Teilepochen der Neuzeit, dazu mit einem Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit, beschränken. Und in aller Kürze und daher abstrahierender Verallgemeinerung, ohne je spezifischen Beleg, skizziert werden können nur Konstellationen und Prozesse, die als einigermaßen repräsentativ für die Gesamtentwicklung angesehen werden können. Glücklicherweise hat sich in den jüngsten zwei Dekaden das Interesse einer Vielzahl von akademischen Disziplinen an diesem Themenkomplex erheblich verstärkt, so dass die Forschungsbzw. Kenntnislage als durchaus günstig zu beurteilen ist. Nicht nur die geschichts- und politikwissenschaftliche Politische Ideengeschichte, sondern auch deren philosophische Schwester haben wichtige Publikationen vorgelegt. Hinzu kommen literatur- und erziehungshistorische Beiträge. Zwar herrscht allenthalben noch die Analyse einzelner entsprechender Schriften vor, daneben hat aber jüngst auch der synchronische und diachronische Vergleich zunehmende Beachtung gefunden. Europäisch-regionalkulturell ist zwar noch immer ein Vorrang der Erforschung west- und mitteleuropäischer Handschriften und Drucke festzustellen, die Untersuchung des einschlägigen ost- und südostbis zum rand- oder außereuropäischen, vor allem türkischen und arabischen Schriftgutes ist jedoch mittlerweile ebenfalls wesentlich vorangekommen. Wolfgang E.J. Weber (Augsburg) 74 Auftakt in Spätmittelalter und Renaissance Im Spätmittelalter (Anton 1968 u. 1999; Brinkhaus 1978; Graßnick 2003; Senellart 1995: 17-63; Ferster 1996; Signori 1999: 51-242; Signori 2002; Lachaud-Scordia 2007: 69-275; Reinle-Winkel 2010: 21-68) war durchaus noch umstritten, ob bzw. in welcher Weise sich die Herrscher, also einerseits die Könige und Fürsten, andererseits der Adel und die städtischen Führungsgruppen, mit Lesen und Schreiben befassen sollten. Konservativ-traditionelle Auffassungen tendierten dazu, Fürsten und Adel Kriegsführung als standes- und rollengemäßes Betätigungsfeld zuzuweisen und dem Lesen und Schreiben demzufolge lediglich eine untergeordnete Rolle einzuräumen. Die Kirche beschränkte sich auf die Empfehlung christlich-frommer Lektüre und war stärker daran interessiert, den Herrschern aus ihren eigenen Reihen stammende Schreiber und Vorleser bei zu gesellen, um sie so besser kontrollieren zu können. Lediglich im städtischen Bereich, weil dort Geschäftsschriftlichkeit, -lesefähigkeit und administrativ-rechtliche Genauigkeit unerlässlich waren, konnte auf entsprechende Bildung auch der Eliten schon von Anfang an nicht verzichtet werden. Aus dem juristischen Ordnungsbedarf und -angebot, getragen von der zweiten, die mittelalterliche Ständeordnung sprengenden, frühmodernen Profession nach dem Klerus, also den Juristen, hatte allerdings schon früh, in Verknüpfung mit christlichbiblischen Motiven, eine zunehmend mächtige Tendenz zu erwachsen begonnen, nämlich die Auffassung des Herrschers als christlich-gütiger Richter, ja Verkörperer des Rechts (De Benedictis 1999: 159-191; Halevi 2002: 25- 68). Sie musste sich ebenfalls im herrscherlichen Bildungsprogramm niederschlagen: der Herrscher sollte sich auch per Lektüre geeigneter historischer Exempla-Sammlungen und Rechtsnormen sowie gute Rechtspraxis vermittelnder Texte entsprechend bilden. Dass ihm außerdem Unterhaltung und Zerstreuung zustanden, er sich ferner eine standesgemäße, konversationsfähige Grundkenntnis aller relevant erscheinenden Zustände und Weltläufe nicht nur im Gespräch mit entsprechend ausgewiesenen Persönlichkeiten, sondern durchaus auch lesend aneignen sollte, wurde zuerst an den großen Höfen entwickelt, blieb aber vorläufig noch ein Randphänomen. Dort, an den Höfen, scheint auch am frühesten der Vortrag eigener Gedichte oder kleinerer Geschichten durch den Herrscher als Ausweis literarischer Qualifikation einen gewissen Beifall gefunden zu haben (Reinle-Winkel 2011: 69- 98, 173-210). Mit der Renaissance bzw. dem Humanismus als deren Gelehrsamkeit und Bildungsprinzip änderte sich diese Konstellation grundlegend (Singer 1981; Baron 1509/ 1990; Maigler-Loeser 2004; Multer 1998; Halevi 2002: 69- 110; Sproede 1994; Lachaud-Scordia 2007: 277-450; Reinle-Winkel 2011: 69- 144). Ein umfassender Bildungsoptimismus trat auf den Plan. Über die damit möglich erscheinende vollständige Formung, ja Neuschöpfung des Was der Lenker lesen (und schreiben) soll. 75 Herrschers und der Eliten meinten die Humanisten nichts weniger als eine kulturelle Gesundung und neuerliche Hochblüte aller Verhältnisse erreichen zu können. Allerdings war dafür auch eine fortschreitend differenzierte Konzeptualisierung und Ausstattung der Rollen nötig, die die Individuen und Gruppen in der idealen Gesellschaft zu erfüllen hatten. Die allgemeinhumanistische Bildung zumal des Herrschers wurde demzufolge mit spezifischer Herrscherausbildung verknüpft. Die erste Tendenz verschaffte ihm das volle humanistische Leseprogramm, das von der Moralphilosophie über die diversen Abteilungen der Philologie bis zur Geschichte reichte, ohne die christliche Lektüre völlig auszublenden. Sie legte ihm außerdem die Pflicht zu eigener Schriftproduktion auf, von der Anfertigung entsprechender Abschriften und Exzerpte der humanistischen Klassiker bis zu deren Imitation, der Nachahmung klassischer Briefe, der Abfassung eigener Besinnungstexte, aber auch genealogisch-historischer Darstellungen, manchmal sogar gelehrter Abhandlungen. In die zweite Tendenz, das herrscherspezifische Lese- und Schreibprogramm, führte die Auferlegung der Aneignung klassischer Pflichtenlehren, voran Ciceros De officiis, und entsprechender antiker und sonstiger historischer Exempla guter Könige oder Regenten. Schon früh machten viele Humanisten die Anfertigung zeitgemäßer Fürstenspiegel, die sich in der Fürstenerziehung und -beratung einsetzen ließen, zu einem Hauptgeschäft. Marginalien und Kommentare vor allem aus prinzlicher Hand belegen, dass diese Fürstenspiegel tatsächlich eingesetzt wurden und demzufolge die Wahrnehmungen und Einschätzungen, dann das Verhalten des Fürsten konkret beeinflusst haben müssen, auch wenn die Zahl der genuin humanistischen Herrschaftsträger dieser vom ausgehenden 14. bis ins ausgehende 16. Jahrhundert reichenden Epoche doch begrenzt blieb. Der Fürst der Fürstenspiegel musste gelehrt sein, um sich in seiner Welt zurechtzufinden, zu höherem, tugendhaften Menschentum zu gelangen, dadurch moralisch besser, erfolgreicher und dauerhafter regieren zu können sowie auf diese Weise in die Ruhmeshalle der Weltgeschichte aufgenommen zu werden. Im Fortgang des Diskurses traten allerdings die spezifischen Anforderungen und Notwendigkeiten des Herrschens selbst in den Vordergrund. Aus den Tugenden wurden zweckbezogene Tüchtigkeiten, Qualifikationen und Kompetenzen. Der Fortschritt der Geschichtsschreibung ließ empirisch erhärtete, spezifische politische Strukturen und Prozesse hervortreten, denen sich der Herrscher je nach seiner historischen Situation anzupassen hatte. Entsprechend begann das moralisch-normative Kernprogramm an Bedeutung zu verlieren, musste dasjenige bevorzugt werden, was in der Epoche zunehmender innerer und äußerlicher Rivalität erfolgsträchtig erschien, wenn nicht das gesamte humanistische Konzept an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz verlieren sollte. Wolfgang E.J. Weber (Augsburg) 76 Auch vor diesem Hintergrund ist als gleichwohl genuin humanistische Fortentwicklung die machiavellistische Neudefinition der Politik als eigenes, eigenen Dynamiken folgendes Denk- und Praxisfeld zu sehen, die unweigerlich auch die Literarität der Regenten beeinflusste. Für den machiavellischen Prinzen, der sich in seiner Epoche freilich nicht offen zu erkennen geben durfte, weshalb die ihn propagierenden Traktate nicht in den offiziellen Lektüreprogrammen der Regenten auftauchen, vielmehr vor ihrer Lektüre gewarnt wird - für diesen neuen Herrscher begann sich Normativität sowohl in Gestalt der christlichen Gebote als auch der antik-humanistischen Moral zu Bedingungen und Techniken erfolgreichen Herrschens zu reduzieren (Baldini 1992: 11-125; Halevi 2002: 69-80; Vilches- Seaman 2007: 21-120). Wir haben es ohnehin erstmals mit einem wirklichen Herrscher, nicht mehr mit einer sanften, mahnenden, nur gelegentlich strengen, immer gerechten Gottvaterfigur zu tun. Was zu lesen war, waren damit einerseits alle Texte, die historisch-empirisch über die geographischklimatischen Verhältnisse, die Quantität und Qualität der Untertanenschaft, die Staatsfinanz und das Militär, Feindschaften und Freundschaften als politische Faktoren, die Ansprüche und Tendenzen der eigenen Dynastie, usw., Auskunft gaben. Hinzu mussten diejenigen kommen, aus denen die unerlässliche politische Klugheit zu gewinnen war. Die Spannweite reichte hier von praktisch anwendbaren moralphilosophisch-psychologischen Abhandlungen - z.B. zur Klugheits- oder Temperamentenlehre - über einschlägige Historien und direkte allgemeine wie situationsspezifische Herrschaftslehren - z.B. zum erfolgreichen Verhalten im Aufstandsfall - bis zu politischen Rechtssammlungen. Auch politische Fiktion in Gestalt von Utopien und Staatsromanen erschien zumindest punktuell empfehlenswert, aber insgesamt war Sachliteratur entschieden zu bevorzugen. Umfassende Gelehrsamkeit war nicht mehr erstrebenswert, weil zu zeitraubend und im Hinblick auf das herrscherliche Kerngeschäft zu abseitig. Der dichtende Fürst setzte sich der Gefahr aus, lächerlich zu wirken, d.h. seine Autorität und Ehrfurcht, die er bei den Untertanen erzeugen musste, zu verlieren. Mußezeiten sollten besser dem Sport und der Geselligkeit gewidmet werden. Nur wenn Volksverbundenheit oder ein hohes Bildungsniveau demonstriert werden mussten, war die Kenntnis entsprechender Lektüren angeraten. Und gelegentlich wird das Lesen auch als Mittel zur Reflexionsschärfung und zur Affektzurückdrängung empfohlen, also zur Förderung des kalten, kalkulierenden Denkens und Handelns nach der Herrschafts- und Staatsräson. Was der Lenker lesen (und schreiben) soll. 77 Zwischen Christlichkeit und moderner Politik: Das Konfessionelle Zeitalter Zur vollen Entfaltung konnte dieser frühmoderne, technisch-erfolgsorientierte, Politik professionalisierende Ansatz jedoch erst seit um 1600 kommen (Ahl 2004; Weber 1992: 10-31; Truman 1999; Zwierlein-Meyer 2010; vgl. die zeitgenössische kommentierte Bibliographie aller libri propaedeutici für den Regenten bei Arndt 1705: 281-297). Denn die Phase der frühen Machiavelli- Rezeption, die 1520-1530er Jahre, wurde bekanntermaßen von der Reformation und dem Konfessionellen Zeitalter unterbrochen und jahrzehntelang verdrängt. Was stattdessen die Auffassung der Politik und der Herrschaft bestimmte, waren die diversen Varianten des christlichen Glaubens (Kohnle 2009; Müssel 2007). Die humanistischen Regenten machten vielfach den frommen Platz. Wahre persönliche Frömmigkeit, angeeignet und ständig vertieft durch Bibel- und andere fromme Lektüren, sowie eigene entsprechende Textproduktion, wuchs zum eigentlichen Herrschaftsmittel heran, weil ihr Beispiel den Untertanengehorsam vertiefe, den Ansturm des Satans breche, Not und Krieg mit Zuversicht überstehen lasse und die Gnade Gottes auf die eigene Person und Familie, Land und Leute lenke. Das Lesen war freilich durch Gebet, fromme Übung und praktische Nächstenliebe zu ergänzen, nur entsprechend förderliche Belletristik war zulässig, und vielfach wurde das gemeinsame Lesen der einsamen, deshalb abschweifungs- und lasteranfälligen Lektüre entschieden vorgezogen. Mit der Zuspitzung der konfessionell-politischen Rivalität am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges waren allerdings zumindest die Realisten unter den frommen Staatslenkern gezwungen, sich auch Erfolgsrezepte des modernen technisch-instrumentellen Politikdenkens anzueignen, wenn sie den Kampf überleben wollten. Entsprechend wurde der fromme Fürst zum Auslaufmodell, auch wenn die mittlerweile entstandenen, bewusst christlichen Fürstenspiegel nach wie vor produziert, verkauft und gelesen wurden (Halevi 2002: 81-234; Lachaud-Scordia 2007: 229-258; exemplarisch Bellitto 2007; Weber 2009). Jetzt fungierte diese mittlerweile reichlich repetitive, d.h. wenig innovative bis langweilige Gattung freilich einerseits eher als Repräsentations- oder gar Propagandainstrument, um die Christlichkeit der Herrschenden vorzutäuschen, andererseits als Grundlage für kirchliche Eliten, um entsprechende Christlichkeit von ihrem weltlichen Gegenpart einzufordern. Was die Debatte und damit auch die Lektüre- und Schreibprogramme der Fürstenerziehung und -beratung bis mindestens um 1630 beherrschte, waren demzufolge eigenartige Mischungen aus christlichen Normativitätstraktaten und politisch-technischen Abhandlungen. Selbst Produkte der Spezialrichtung der Politica Christiana setzten mit Christlichkeitsbeschwörungen ein, um dann bei der Darstellung richtigen Herrscherverhaltens im Notstand auf die eigentlich verfemten, machiavellistischen Praktiken der Wolfgang E.J. Weber (Augsburg) 78 Lüge, Heuchelei, des Attentats, Vertragsbruchs usw. zurückzugreifen. Auch sie befürworteten, zentrale Komponenten der Politik zu arcana imperii, Herrschafts- und Staatsgeheimnissen, zu erklären, ihre Behandlung in allgemein zugänglichen Drucken zu untersagen und dem Herrscher damit erstmals die Lektüre eines gesonderten Textbestandes aufzuerlegen. Die geheimen Teile der Fürstentestamente wuchsen an. Dynastische Verträge und Abmachungen mit auswärtigen Mächten verschwanden im Giftschrank. Teile des mittlerweile stark ausgebauten Staatsrechts wurden der öffentlichen Debatte entzogen. Dezidiert machiavellistisch raffinierte Herrschaftsanweisungen wurden nur in geringer Stückzahl gedruckt und zirkulierten nur in höchsten Kreisen, waren dort aber unverzichtbar. Erstmals wird der Regent zudem massiv zum Aktenstudium angehalten, erscheint alles nicht unmittelbar politisch verwertbare Lesen und Schreiben randständig oder klar überflüssig. Die Aneignung der umfangreichen systematischen Politikdarstellungen in lateinischer Sprache, die die neue Politica (Politikwissenschaft) an den Universitäten ausstößt und im Studium einsetzt, dürften jedoch zu schwierig und zu abstrakt gewesen sein, um in der nachakademischen Herrschaftspraxis weiter benutzt zu werden. Was entstand, war deshalb nach und nach ein je nationalsprachlicher, inhaltlich vereinfachter Traktatbestand zur allgemeinen Politik, um den sich erneut ebenso leichter lesbare Spezialabhandlungen zur Steuer, zur Beamtenschaft, zur Diplomatie, zum Kriegswesen usw. gruppierten. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der Erleichterung, den Großen, Dreißigjährigen Krieg überlebt zu haben, setzte sich die Einsicht durch, dass ein völlig für die Politik in Beschlag genommener, durchdisziplinierter Herrscher kaum erzeugbar war und höchstens in Notsituationen funktionieren konnte (Halevi 2002: 235-294). Vielmehr musste der Regent auch durch Abwechslung und Belohnung für seine harte Tätigkeit neu motiviert werden. Gleichzeitig wurden verbesserte Lösungen gefunden, Herrschaftsaufgaben auf die sekundäre Machtelite, die Minister und sonstige Spitzenbeamten, zu übertragen. Und schließlich schien die Zeit gekommen, von dem düsteren, furchteinflößenden, autoritären Herrschertypus auf denjenigen des dem Lande dienenden, leutseligen, durchaus auch menschlichen, lebensfrohen, sogar glänzenden, ruhmvollen Landesvaters umzuschalten. Dieser barocke Zeitenwechsel machte sich unweigerlich auch im Lektüre- und Schreibaufgabenkatalog bemerkbar. Die Einübung in die Politik wurde noch praktischer und auf die Regierungszentrale am Hof konzentriert, wodurch die Überlast der akademischen und nachakademischen Politiklektüre sich einschneidend reduzierte, während die Aktenlektüre nicht nur erhalten blieb, sondern in den Vordergrund rückte. Der Erwerb gelehrten und musisch-poetischen Glanzes wurde wieder statthaft. Der Konsum allgemein unterhaltender, fantasieanregender, mehr oder weniger erotischer, selbst seichter Belletristik als Abwechslung und Ausgleich zum Was der Lenker lesen (und schreiben) soll. 79 harten Herrschaftsgeschäft wurde weder von den Erziehern und Beratern noch länger völlig auszuschließen versucht noch erschien er nunmehr im Hofzusammenhang oder in der weiteren Öffentlichkeit per se ehrabträglich. Bekanntermaßen konnten sich die Regenten dieser Zeit sogar in Theaterkostüme zwängen oder in Schäferspielen auftreten. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart Was dieser neuen Konstellation nach und nach ihr Ende bereitete, war die in zentralen Hinsichten letztlich asketische, teils auch erneuert christliche Aufklärung (Diedrich 2006; Halevi 2002: 295-360; Jacobs 2001; Lachaud-Scordia 2007: 393-403). Zwar trieb sie grundsätzlich die Unterscheidung der öffentlichen Herrscherperson von der Privatperson voran, woraus sich auch erweiterte Chancen für die private Entfaltung, nicht zuletzt im Hinblick auf Literarität, ergaben. Dennoch vertrat gerade die Aufklärung ein Bildungsprogramm, das eine mangelnde Bildung des herrscherlichen Privatmannes als Defizit auch des Herrschers erscheinen lassen musste. Und die öffentliche Herrscherperson wurde im Zeichen der neuen Vernunft, rationaler Umgestaltung und Optimierung aller Verhältnisse noch rigiderer Beobachtung, Belehrung und Kritik unterworfen. Als Instrumente nicht mehr nur einer kleinen Elite, der Humanisten, sondern einer wachsenden Schicht bürgerlicher, aber auch adeliger Intellektueller, waren diese Standards und Verfahren verbreiteter und debattenbestimmender als jemals zuvor. Ihre Medien, eine jetzt vielfache, druck- und absatztechnisch ungeahnt begünstigte, höchst variantenreiche Publizistik, erzeugte Erwartungen herrscherlicher Rollenerfüllung, wie sie zuvor so massiv noch nie existiert hatten. Der vernünftige Herrscher hatte nicht nur vernunftstärkende Literatur zu lesen, sondern deren Aneignung auch durch eigene Textproduktion unter Beweis zu stellen. Der Antimachiavell Friedrichs des Großen stellt dafür ein schönes, auch weil gleichzeitig eigenartig zur Praxis quer stehendes Beispiel dar. Aber auch mündlich hatte er sich in der aufgeklärten Debatte zu beweisen, was ohne entsprechende Lektüre kaum möglich war. Die Pflicht zum Lesen der entsprechenden Zeitschriften verband sich mit der Pflicht, auch die bereits zuvor eingeschärfte Zeitungslektüre auszuweiten. Zu beachten ist ferner, dass entgegen mancher heutiger Annahmen auch in der Aufklärung christlich-theologische Literatur zum allgemeinen Herrscherlektürekanon gehörte, wiewohl zurückgedrängt von den neuen philosophischen und naturrechtlichen Traktaten. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich die Lage indessen durchgreifend. Bereits Thomas Hobbes hatte um die Mitte des 17. Jahrhunderts den zur Fürstenerziehung und -beratung alternativen Ansatz des Systemdenkens entwickelt. Seine Vorstellung zielte darauf, das Wolfgang E.J. Weber (Augsburg) 80 politische System so zu gestalten, dass es auf den charakterlichen Zuschnitt und die allgemeine Bildung seiner Akteure gar nicht mehr ankäme. Herrschaftsvertrag, Verfassung, die konkreten Strukturen und Regeln der Politik sollten zumal die obersten Systembetreiber zu Funktionären transformieren, denen für unvernünftige, willkürliche, also systemschädliche Entscheidungen und Praktiken kaum mehr Raum blieb, letztlich bei Strafe der Amtsenthebung oder des Aufstandes. Was auch im Lektüreprogramm und in der Schreiberwartung übrig blieb, war damit ausschließlich der funktionale Horizont, die professionelle Ausbildung. Zu ihren Themen zählten naturgemäß noch immer Landeskunde, internes und internationales politisches Grundwissen, Rechtskenntnisse und ein Restbestand an politischem Klugheitswissen, verdichtet zu wenigen allgemeinen, aber praktikablen, nach wie vor nicht unbedingt für die breite Öffentlichkeit bestimmten Regeln. Deren neue Elemente bestanden etwa in Strategien und Taktiken im Umgang mit dem Parlament, aber auch der Pressearbeit. Ob der Herrscher, die adeligen Minister, die neuen bürgerlichen Politiker privat nicht lasen, Akzeptables oder Nichtakzeptables lasen, sich selbst in der literarischen Produktion versuchten, reduzierte sich zur Problematik der öffentlich dargestellten, massenkommunikativ anzupassenden und zu optimierenden, persönlichen Reputation. In der bürgerlichen Hochphase befassten sich die Spitzenpolitiker deshalb angeblich oder tatsächlich ausschließlich mit den Klassikern des bürgerlichen Literaturkanons, und zwar zunehmend in nationaler Verengung. Im deutschen Bereich durfte naturgemäß Goethe nicht fehlen, im englischen zählte beispielsweise Shakespeare zu den unverzichtbaren, auch in der parlamentarischen Debatte stets reputationsträchtigen Zitatlieferanten. In der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entstehenden Massendemokratie lag und liegt es nahe, sich zur Massenlektüre, heute Kriminalromane, Humoristisches, seltener sich als Literatur verkleidendes Pornographisches, Sachbücher, in jedem Fall allgemein oder wählergruppenspezifisch Angesehenes und Gängiges, zu bekennen. Ein fränkischer Freiherr, mittlerweile als Betrüger entlarvt, lies bekanntlich einmal streuen, er lese Homer im altgriechischen Original. Mit eigener Produktion wagt sich kaum mehr jemand erkennbar an die Öffentlichkeit; die eigenen Memoiren von einem Ghostwriter schreiben lassen, dient so unverkennbar auch dem eigenen Schutz. Und schließlich ist festzuhalten, dass neben das Lesen auch bei den heute Regierenden das Betrachten bewegter Bilder getreten ist. Der ehemalige bayerische Kultusminister bekannte in einem Anfang 2012 veröffentlichten Zeitungsinterview, gelegentlich in das sog. Dschungelcamp zu zappen. Was der Lenker lesen (und schreiben) soll. 81 Fazit Unser knapper Überblick hat die verschiedenen Konstellationen skizziert, in denen bestimmte Ideen über Politik, Staat und Herrscher- oder Lenkerrollen zu bestimmten Auffassungen, Vorschriften und Vorschlägen hinsichtlich herrscherlicher Literaturbefassung führten. Selbstverständlich darf nicht unterstellt werden, dass diese Präskripte mit der tatsächlichen Literaturbefassungspraxis identisch waren. Aber auch die gegenteilige Ansicht, dass nämlich Norm und Praxis überhaupt nichts mit einander zu tun gehabt hätten, erscheint wenig plausibel. Worauf es ankommt, ist mithin, das jeweilige Verhältnis je konkret zu bestimmen, was in erster Linie zunächst exemplarisch zu leisten ist, bevor aus der erarbeiteten Fülle der Beispiele systematische Schlußfolgerungen gezogen werden können. Wolfgang E.J. Weber (Augsburg) 82 Literaturverzeichnis Ahl, Ingmar: Humanistische Politik zwischen Reformation und Gegenreformation. 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Volker Reinhardt (Fribourg) Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. Pius II.: Leben und Werke 1 Der Selbst-Inszenierer Enea Silvio Piccolomini, von 1458 bis 1464 Papst Pius II., ist nicht als künftiger Herrscher geboren worden, und er hat sich auch nicht ‚nach oben geschrieben‘. 1 Im Gegenteil: ob sein Ruf als führender humanistischer Gelehrter seinem Aufstieg auf den Thron Petri förderlich oder hinderlich war, ist bis heute näherer Erörterung wert. Das Ergebnis fällt zwiespältig aus: Wichtige Schriften haben dem Fortkommen des spät, jenseits des vierzigsten Lebensjahres geweihten Klerikers Piccolomini ohne Frage geschadet, andere ebenso unzweifelhaft genützt. Dass seine poetische Produktion 2 im engeren Wortsinn dieser atemberaubenden Karriere überwiegend im Wege stand, darf als gesichert gelten. Dafür spricht schon sein eigenes Verhalten: Nach seiner Wahl zum Papst versuchte Piccolomini dichterische Werke, die er als besonders kompromittierend erachtete, nachträglich aus dem Verkehr zu ziehen. Zu diesem Zweck durchforsteten seine Agenten Bibliotheken und Buchhandlungen, insgesamt mit unterschiedlichem Erfolg. Frühe Verskompositionen wie die Nympholexis, in der es - wie der Titel andeutet - um Liebeswirren und -abenteuer mythologischer Figuren geht, sind bis heute verschollen. Ähnliche Texte wie Liebeselegien nach dem Vorbild eines Ovid, Catull oder Tibull und seine Komödie Chrysis, 3 die unter Prostituierten und deren Freiern in einem Bordell spielt, hat der Forschereifer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach langer Vergessenheit wieder zu Tage gefördert. Seine Geschichte von zwei Liebenden 4 schließlich war schon vor der Erfindung des Buchdrucks (und erst recht danach) ein Bestseller und beim besten Wil- 1 Die nachfolgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf meiner Pius- Biographie: Reinhardt 2013. Die älteren Lebensbeschreibungen (Voigt 1856-1863; Buyken 1931; Mitchell 1962; Paparelli 1978; Naville 1984) genügen neueren wissenschaftlichen Ansprüchen nicht mehr. Allerdings ist die entschieden feindlich gestimmte Biographie Voigts wegen ihres Reichtums an teils entlegenen Fakten bis heute unverzichtbar. Hervorragende Abrisse zu Leben und Werk, mit profunden Deutungen, bei Esch 1989 u. Worstbrock 1989. 2 Diese ist ediert bei Heck 1994. 3 Text und Kommentar sowie eine gute französische Übersetzung bei Charlet 2006. 4 Beste Ausgabe mit textgeschichtlichen Angaben sowie italienischer Übersetzung bei Pirovano 2001. Volker Reinhardt (Fribourg) 86 len nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Am peinlichsten für den Papst aber waren ohne Frage Zeit, Ort und Umstände, unter denen ein weiterer eher lockerer, vor seiner Priesterweihe verfasster Text einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde: Auf dem Fürstenkongress von Mantua, der nach dem Willen Pius’ II. die europäischen Mächte zur Rückgewinnung Konstantinopels und Jerusalems zusammenschließen sollte, verlas Gregor von Heimburg, sein deutscher Intimfeind, Piccolominis „Muster-Liebesbrief“ von 1443 an den jungen Herzog Sigismund von Tirol, in dem einer recht freizügigen Sexualmoral das Wort geredet wird. Trotzdem macht es weder lebensnoch werkgeschichtlich Sinn, dem (allzu) berühmten Motto Piccolominis „Verwerft Aeneas und nehmt Pius an! “ zu folgen. (Vgl. Weinig 1998) Gewiss lässt sich ab etwa 1445 ein ausgeprägter Wertewandel im Denken und Handeln verfolgen. So bekennt der leidenschaftliche Verehrer des schönen Geschlechts, von dem zumindest zwei uneheliche Kinder nachgewiesen sind, in brüsker Kehrtwendung seinen Ekel vor den Frauen und warnt eindringlich davor, im Umgang mit ihnen sein Seelenheil zu verspielen. Auch seine pädagogischen Vorstellungen haben sich binnen weniger Jahre einschneidend verändert. In seinem Erziehungstraktat für den jungen böhmischen König Ladislaus Posthumus schlägt Piccolomini ernste Töne an. In diesen harten Zeiten muss ein christlicher Musterfürst Ratio und Virtus, Verstandeskräfte und Seelenstärke, ausbilden, um den Kampf gegen die vorrückenden ‚Ungläubigen‘ erfolgreich bestehen zu können; vom Recht auf Lebensgenuss ist jetzt keine Rede mehr. Trotzdem stechen die Gemeinsamkeiten zwischen dem ‚heidnischen‘ Aeneas und dem ‚frommen‘ Pius hervor. Das wichtigste Merkmal, das beide zur Einheit verschmelzen lässt, ist der Kult des gesprochenen und geschriebenen Wortes. Kaum minder verknüpft sind beide durch die leidenschaftliche Bindung an die Heimatstadt der Familie, Siena (vgl. Nevola 2009; Polverini Fosi 1987). 5 Auch und gerade als Papst verwendet Piccolomini einen Großteil seiner Zeit, Energien und Ressourcen darauf, die politischen Verhältnisse der politisch stark zerklüfteten südtoskanischen Republik in seinem Sinne, das heißt: im Interesse seines Standes, des Adels, und natürlich seiner Familie neu zu ordnen. Über die drei Verklammerungen Rhetorik, Siena und die Familie Piccolomini hinaus sind weitere Kontinuitäten zwischen dem Humanisten und Diplomaten einerseits und dem Pontifex maximus andererseits festzustellen: sein ausgeprägter Nationalismus, seine Überzeugung, dass den politischen Auflösungserscheinungen der Zeit nur durch eine Stärkung der zentralen Autoritäten erfolgreich entgegen gewirkt werden konnte - und vor allem sein ungebrochener Glaube an sich selbst, seine Talente und seine Vorherbestimmung durch das Schicksal. 5 Zu Kirche und religiösem Leben im Siena der Zeit vgl. Mirizio/ Nardi 2002. Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. 87 Alle diese Verfugungen schlagen sich in Piccolominis literarischer Tätigkeit nieder, die bezeichnenderweise und - sehr modern ausgedrückt - „identitätstiftenderweise“ auch nach der Wahl zum Oberhaupt der Christenheit nicht aufhört. Im Gegenteil: nach dieser höchsten Erhebung, die gemäß traditioneller Auffassung einem Christenmenschen zuteil werden konnte, verfasst Piccolomini-Pius mit den Commentarii sein größtes und als Aussage in eigener Sache bei weitem wichtigstes Werk (Totaro 2004). Darin schreibt er nicht nur, wie häufig zu lesen, seine ‚Autobiographie‘ (vgl. Bürck 1956), sondern liefert eine umfassende Zeitdeutung mit alles dominierender ‚Ego-Zentrierung‘. So handeln die Kommentare - wie noch ausführlicher zu zeigen - letztendlich vom Willen der Vorsehung, die das auserkorene Individuum Enea Silvio Piccolomini lebenslang, von Wirkungsstation zu Wirkungsstation, auf die Probe stellt und jedes Mal für gewogen und schwer genug befindet. Dass der künftige Papst schon früh darüber nachdenkt und forscht, ob der Mensch im Verständnis Augustins ‚prädestiniert‘, also zum Paradies oder zur Verdammnis vorherbestimmt, ist, macht im Oeuvre des Nicht-Fachtheologen also tiefen Sinn. Die Antwort, die er in seinem Dialogus (Henderson 2011), einem fiktiven Gespräch zwischen Lebenden und Toten, dem heiligen Bernardino da Siena in den Mund legt, entspricht ohne Frage seinem Selbstverständnis: Ohne die Gnade Gottes vermag der Mensch nichts, doch besteht sein Verdienst darin, mit ihr zu kooperieren. Gott ist Allwissenheit, also Präscienz, doch überlässt er dem Menschen den freien Willen, sich zum Guten oder Bösen zu entscheiden. Alles weitere Wie und Warum ist Mysterium. Die Commentarii Pius II. sind nicht nur als ‚Herrschafts-Memoiren‘ eines Papstes ein absolutes Unikat, sondern auch als Versuch, als Historiker in eigener Sache das eigene Nachleben zu bestimmen, in vieler Hinsicht vergleichslos. Gewiss, auch andere Mächtige haben in Gestalt historischer Texte Selbstzeugnisse hinterlassen, die ihre memoria dauerhaft prägen sollten, doch kaum je in einer solchen Intensität und mit so durchschlagendem Erfolg wie Pius-Piccolomini. Diese immense Wirkung erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass es so gut wie keine ‚Konkurrenz-Texte‘ gibt. Ungefähr zeitgleich sind nur die Lebensbeschreibungen Campanos (Muratori 1734) und Platinas (Gaida 1932). Davon ist die erste ein Werk der pietas, also Dankabstattung an den Patron und Förderer mit wenig über dessen Selbststilisierung hinaus gehenden Informationen, und die zweite zwar unabhängiger, was historische Verortungen und Bewertungen des Protagonisten betrifft, doch führt auch sie nicht wesentlich über den durch die Selbstzeugnisse markierten Kenntnisstand hinaus. Für den Historiker ergeben sich daraus Gefahren und Herausforderungen zugleich. Das große Risiko besteht darin, Pius-Piccolomini zu viel oder - der weitaus seltenere Fall - zu wenig zu glauben, ihm also blindlings zu folgen oder ihn mit aller Macht demaskieren zu wollen. Was für den Ge- Volker Reinhardt (Fribourg) 88 schichtsforscher, der in der Nachfolge Rankes ermitteln möchte, „wie es wirklich gewesen ist“, oft kaum lösbare Probleme der Quellenkritik aufwirft, ist für den Kulturhistoriker, der diese Werke als einzigartigen Verewigungswillen einer Ausnahmepersönlichkeit liest, ein Glücksfall ohnegleichen: Für ihn ist das Œuvre des Humanisten-Papstes und speziell dessen Kernstück, die Commentarii, eine grandiose Inszenierung eines „voll entfalteten Individuums“ am Beginn der „Renaissance“ - und gerade deshalb, in diametralem Gegensatz zu Jacob Burckhardts Auffassung, ein extremer Ausnahmefall. 6 Wer nach der Selbstverklärung des Mächtigen in dessen eigenen Texten fragt, muss nicht immer nach der Unterscheidung zwischen Dichtung und Wahrheit forschen, was über ausgedehnte Lebensstationen hinweg schwierig ist. Er darf Leben und Werk als Einheit, nämlich als ein „Gesamtkunstwerk“ aus Fleisch und Blut, Marmor und Wort betrachten. Um Pius II. als Denker, Dichter und Lenker zugleich zu verstehen, ist es ratsam, sein „Vorleben“ ante pontificatum mit den biographischen und literarischen Leitmotiven ins Auge zu fassen, um danach seine Grenzen der Gattungen und der Konventionen sprengende Tätigkeit als Humanist mit der Tiara vertieft zu betrachten. 2. Schriftsteller, Diplomat, Bischof, Kardinal, Papst - oder: Aufstieg auf ungeraden Wegen Weder Geburtsdatum noch Geburtsort entsprachen den Erwartungen, die Enea Silvio Piccolomini an sich selbst stellen zu dürfen bzw. müssen meinte. Sein Geburtsjahr 1405 fiel mitten ins Große Abendländische Schisma, die ab 1378 bestehende Kirchenspaltung in zwei (kurz darauf sogar drei) verfeindete Päpste mit ihren Gefolgschaften - eine Krisensituation, die zu erneuern Piccolomini drei Jahrzehnte später sein Bestes gab. Leicht korrigieren hingegen ließ sich sein unpassender Geburtstag, der 24. August. An diesem dies ater des Jahres 79 hatte der Ausbruch des Vesuvs nicht nur die Städte Pompei und Herculaneum zerstört, sondern auch mit dem Tod des älteren Plinius ein großes Gelehrtenleben vorzeitig beendet. So brachte Piccolomini mit dem 18. Oktober, dem Festtag des Evangelisten Lucas, früh ein passendes Geburtsdatum in Umlauf. Nicht nur verbessern, sondern sogar regelrecht umtauschen ließ sich auch Corsignano, das südlich von Siena, abseits der Verkehrs- und Handelswege im Windschatten der Geschichte, gelegene Hügeldorf, in dem er das Licht der Welt erblickte. Nach seiner Erhebung zum Nachfolger Christi gab ihm Pius ein neues Zentrum, einen neuen Namen, eine neue Würde, eine neue Zweckbestimmung und damit ein neues 6 Unter dieser Perspektive nützliche Beiträge in: Rotondi Secchi 2007; Meccaci 2006; von Martels/ Vanderjagt 2003; Rotondi Secchi 1991; Casella 1972; Bernetti 1971; Maffei 1968; Atti del convegno Piccolominiano 1967. Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. 89 Wesen. Er ließ von einem der modernsten und vielseitigsten Architekten der Zeit, Bernardo Rossellino, eine Kathedrale und einen Familienpalast erbauen und damit ein Ensemble schaffen, das künftig als sein Museum dienen sollte. Diesen neuen Ort nannte er nach seinem Papstnamen Pienza und erhob ihn zur Stadt sowie zum Sitz eines Bischofs, natürlich aus seiner eigenen Familie. Am Ende versiegelte er diese Erinnerungsstätte an sich selbst mit dem Verbot, an dieser Anlage auch nur ein Jota zu verschieben (vgl. Vogas 2005; Pieper 1997; Tönnesmann 1990). Auch die Situation der Familie, in die Enea Silvio Piccolomini 1405 hinein geboren wurde, hat er später entscheidend verbessert. Die gens Piccolominiana, wörtlich: das „Geschlecht der kleinen Männer“, gehörte zu den großen Familien Sienas vor und nach der Gründung der Kommune im Jahr 1125. In ihrer Glanzzeit hatten die Piccolomini 7 Lehen und Burgen im sienesischen Umland inne, verschwägerten sich mit großen Familien Italiens, bestimmten die Politik der Republik Sienas wesentlich mit und waren an der Errichtung großer Kirchen- und Palastbauten an vorderster Stelle beteiligt. Von dieser Größe war zu Beginn des 15. Jahrhunderts wenig übrig geblieben. Die Pestepidemien seit 1348 hatten den biologischen Bestand der Sippe akut gefährdet, die politischen Umwälzungen der Republik ab 1289 reduzierten ihren politischen Rang gegen Null, während fehlender wirtschaftlicher Sachverstand, gepaart mit innerfamiliären Auseinandersetzungen, die wirtschaftlichen Ressourcen radikal geschmälert hatte - so weit, dass für Enea Silvios Eltern ein standesgemäßes Leben in Siena unmöglich und ein Ausweichen in eine der letzten ländlichen Besitzungen, eben nach Corsignano, unvermeidlich wurde. Nicht erloschen hingegen war mit dem Namen der Piccolomini die Erinnerung an ihre einstige Prominenz und damit ein soziales Kapital, das Enea Silvio zu Weichenstellungen seiner Laufbahn nutzen konnte. Wiederherstellung einer durch die Launen der ungerechten Glücksgöttin herab gedrückten Größe im Zeichen einer göttlichen Vorsehung - in diesem Lebensmotto treffen nicht nur zwei unterschiedliche Lebens- und Schicksalskonzepte, sondern auch die beiden Kulturgründe hervor, in denen der Humanist Piccolomini profunde verwurzelt war: der antik-pagane und der diesen transzendierende christliche Einfluss. Konkret ließ sich dieser Wiederaufstieg um 1420 auf dreierlei Weise ins Auge fassen: durch ein Studium der Rechte, das für höhere Aufgaben als Notar und Politiker in der Heimatrepublik Siena qualifizierte, als humanistischer Gelehrter, das - wie die Karriere-Beispiel eines Coluccio Salutati oder Leonardo Bruni zeigten - noch weiterrechende und zudem Grenzen überschreitende Karrierechancen bot, und, kombiniert mit den beiden zuerst genannten Perspektiven, der Eintritt in die Klientel eines Mächtigen, die interessante Aufstiegschancen bot. Enea 7 Überblick zur Familiengeschichte bei Strnad 1992. Volker Reinhardt (Fribourg) 90 Silvio Piccolomini beschritt alle drei dieser Wege, das Jusstudium allerdings entschieden verkürzt. Sein eigentliches Karrieremuster und ‚Markenzeichen‘ wurden die studia humanitatis mit den Schwerpunkten Rhetorik, Poesie und Geschichte sowie Moralphilosophie, vor allem in ihrer Anwendung zur Erziehung der kommenden Generationen. Schon während seiner auf Sparflamme betriebenen Rechtsstudien in Siena widmete sich der junge Mann aus Corsignano der Lektüre und bald auch der Produktion lateinischer Verse im Stile der augusteischen „Erotiker“. Was sich aus der etwas später zu datierenden Produktion solcher Poesie erhalten hat, zeigt wie die Elegien der Cynthia beträchtliche Gewandtheit in klassisch lateinischer Syntax, die Kenntnis ausgefallenen Vokabulars und vor allem die weitreichende Abhängigkeit von den berühmten Vorbildern eines Ovid, Catull oder Tibull. Nur gelegentlich blitzt dahinter Abweichung in Form von Eigenwahrnehmung auf, etwa bei der Schilderung weiblicher Schönheit. Doch schon diese Fingerübungen brachten Piccolomini den Ruf vielseitiger Verwendbarkeit ein, den er in die zum Aufstieg unverzichtbaren klientelären Anbindungen umzusetzen vermochte. Die erste dieser „Andock- Stationen“ bei Kardinal Domenico Capranica (vgl. Nardi 1987) führte ihn im Winter 1431/ 32 zum Konzil von Basel, 8 wo sich schon bald weitere Beschäftigungsverhältnisse anschlossen (vgl. Märtl 2010). Insgesamt lassen sich bis zur Papstwahl im August 1458 zehn Netzwerke nachweisen, in die Piccolomini ganz oder partiell integriert war, darunter so paradox anmutende ‚Doppel-Indienststellungen‘ wie bei einem Kaiser und einem Papst zugleich. Pius II. hat die Eigentümlichkeiten seines Aufstiegs zur Macht selbst auf den Punkt gebracht, als er darauf hinwies, als einziger Mensch überhaupt Sekretär eines Gegenpapstes (vgl. Andenmatten/ Paravicini Bagliani 1992) und eines Papstes gewesen zu sein. Bei allen diesen Dienstverhältnissen erwies sich Piccolomini als der vollendete Klient. Er übernahm nicht nur schwierige, sondern auch gefährliche, ja sogar potentiell Ruf schädigende Aufgaben, zum Beispiel als „Agent“ Bartolomeo Viscontis, seines Zeichens Bischof von Novara, der im Auftrag seines mächtigen Verwandten, Herzog Filippo Maria Viscontis, eine Verschwörung zur Entführung des damals in Florenz weilenden Papstes Eugen IV. angezettelt hatte. Auch literarisch wurde Piccolomini den Verpflichtungen gegenüber seinen Patronen stets gerecht. So hielt er eine viel bewunderte Prunkrede für Pavia als Ort der Begegnung zwischen dem Konzil von Basel und den Vertretern der griechischen Kirche, die dem Zwang der politisch-militärischen Umstände entsprechend die Union mit der römischen Kirche herbeiführen wollten, um so Unterstützung gegen das unaufhaltsam vorrückende Osmanische Imperium zu gewinnen. Pavia gehörte zum Herr- 8 Zu diesem ‚Schlüsselereignis‘ im Leben Piccolominis vgl. Dendorfer/ Märtl 2008; Helmrath 1987; Meuthen 1985. Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. 91 schaftsgebiet Viscontis, dessen Ruhm er durch diese oratio mehrte, auch wenn die alte Universitätsstadt am Ende nicht das Rennen machte. Sein wichtigstes Dienstverhältnis mit dem römischen König bzw. ab 1452 römischen Kaiser Friedrich III. von Habsburg (vgl. Koller 2005) hat Piccolomini langfristig und mit viel klientelärem Augenmaß in die Wege geleitet. Dabei waren ihm seine poetischen Texte das wichtigste Mittel zum Zweck. Er legte seine lateinische Poesie einem engen Vertrauten des Herrschers zur ‚Prüfung‘, im Klartext: zur Bewunderung und Weiterempfehlung vor, und alles Weitere nahm wie gewünscht seinen Lauf. Friedrich wurde auf den innovativen Poeten, der italienische Avantgarde-Kultur nach Deutschland zu transferieren versprach, aufmerksam und krönte ihn nach dessen Regieanweisungen im Juli 442 in Frankfurt zum Dichter. In Italien waren solche Zeremonien längst Gang und Gäbe, in Deutschland hingegen neu - die braven Frankfurter werden gestaunt haben. Auch gegenüber seinem neuen Herren hat Piccolomini die Regel, dass ein Klient das Ansehen seines Patrons mehren müsse, auf keinen Fall aber schädigen dürfe, im Großen und Ganzen eingehalten. In großen Geschichtswerken wie seiner Österreichischen Geschichte (Knödler/ Wagendorfer 2009; vgl. Wagendorfer 2003) und der Böhmischen Geschichte (Hejnic/ Rothe 2005) beschreibt er zwar den Machtzerfall des habsburgischen Herrschaftsgebiets als Folge eigennütziger Manöver und Intrigen des Adels und reicher Stadtbürger, die das unwissende Volk aufhetzen, doch spart er mit Schuldzuweisungen an den Herrscher selbst, obwohl dieser seiner Zögerlichkeit und Untätigkeit wegen allenthalben ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Im Sinne humanistischer Historiographie, die aus Vergangenheit und Gegenwart Lehren zur Bewältigung der Zukunft filtert, fordert er Friedrich III. zu mehr Entschlossenheit und damit zu energischer Stärkung seiner Autorität auf, ohne ihn damit zu delegitimieren. Die einzige Ausnahme von dieser Regel, ehemalige Dienstherren nicht anzuschwärzen, ließe sich in Piccolominis historischen Darstellungen des Konzils von Basel finden, von denen die erste konziliaristisch eingefärbt ist, also mit den damals üblichen Argumenten die Oberhoheit des Konzils über den Papst betont, die zweite gemäß der damaligen Position seines Patrons Friedrich III. neutral ausfällt und die dritte die höhere Wahrheit des Papsttums in der Auseinandersetzung mit der Kirchenversammlung unterstreicht (vgl. Christianson 1988). Allerdings ist diese Distanzierung zugleich eine Rechenschaftsablegung in eigener Sache: Viele, darunter herausragende Theologen von heiligmäßigem Lebenswandel, haben wie ich geirrt und die Einheit der Kirche durch das Konzil garantiert geglaubt. Bemerkenswert ist zudem, dass Piccolomini alle diese Dienst- und Abhängigkeitsverhältnisse liquidiert, ohne sich darüber mit seinen Ex-Patronen zu entzweien. Das galt vor allem für Friedrich III., dem er als Diplomat auch dann noch weiter diente, als er nach seiner Aussöhnung mit Eugen IV. zugleich den Posten eines päpstlichen Sekretärs innehatte (vgl. Diener 1968). Volker Reinhardt (Fribourg) 92 Während seines Aufenthalts in Österreich und seiner zahlreichen ‚Dienstreisen‘ zu Reichstagen und Fürsten fand Piccolomini erstaunlich viel Zeit für eine reiche literarische, jetzt auch im engeren Sinne dichterische Produktion. Unter diesen Texten ragt die in elegantestem Latein auf der Höhe der studia humanitatis verfasste Geschichte von zwei Liebenden (Historia de duobus amantibus) heraus. In dieser ‚Schlüssel-Novelle‘ verarbeitet Piccolomini nach eigenen Angaben Erlebnisse seines Co-Patrons, des Kanzlers Caspar Schlick, während dessen Aufenthalt in Siena zur Zeit der Kaiserkrönung Sigismunds von Luxemburg. Die Handlung lässt sich schnell zusammenfassen: der deutsche Ritter Eurialus verliebt sich in die schöne junge Sienesin Lucrezia, die Gattin eines seit Boccaccios Decamerone unvermeidlichen ältlichen und eifersüchtigen Ehegesponses, der sich Menelaus nennt, also wie der betrogene Gatte der schönen Helena heißt. Nomen est omen, es kommt, wie es kommen muss: Nach mancherlei Intrigen, Irrungen und Wirrungen kommen die beiden Liebenden zusammen, was erotisch sehr explizit geschildert wird. Doch zeigt sich schnell, dass Lucrezia liebt, Eurialus sich aber eher lieben lässt. Als er sich vor dem ersten erfolgreichen Schäferstündchen vom eifersüchtigen Ehemann aufgespürt und daher blamiert glaubt, schlägt seine Liebe sogar kurzfristig in Hass um, wie ein innerer Monolog deutlich macht: Wäre ich der Verführerin doch nur nicht ins Netz gegangen, dann bliebe mein Ruf unbefleckt und meine Karriere ungefährdet! Doch auch Lucrezias Liebe ist alles andere als uneigennützig. Sie langweilt sich im Haus ihres unansehnlichen Eheherrn, der ihr schon nach einem ersten Blick auf den schmucken Ritter Eurialus für immer unerträglich wird. Sie strebt nicht nur nach sexuellen Genüssen, sondern will darüber hinaus aus der Enge, die sie erdrückt, ausbrechen - auch für sie ist der Geliebte also letztlich ein Mittel zum Zweck. Zudem sind beide Liebende sehr von sich eingenommen. So testen sie in ihrer Affäre ihren sozialen und erotischen Marktwert, was in ausführlichen inneren Monologen zu Tage tritt: Ich bin schöner als er, er hat den höheren Rang. also sind wir ebenbürtig, und ich vergebe mir in einer Liebesbeziehung nichts - so denkt und handelt Lucrezia, die darin dem Beispiel ihres Geliebten folgt. Daher fällt das Ende für die eine Seite düster, für die andere folgenlos aus: Eurialus zieht mit dem Kaiser weiter; trotz ihrer inständigen Bitten, sie zu „entführen“, bleibt Lucrezia in Siena zurück und stirbt bald danach an Kummer. Eurialus aber erhält vom Kaiser eine schöne junge Gemahlin und vergisst Lucrezia schnell. Das bitter-süße Ende entspricht am ehesten der Moral, mit der die Geschichte schließt: Leser, verliere dich nicht in Liebesabenteuern, die flüchtig sind, dich aber deine Seele kosten können! In der ziemlich respektlosen „Widmung“ an seinen alten Jus-Professor Sozzini, die die Gattung der dedicatio ironisch unterläuft, schlägt Piccolomini ganz andere Töne an: Die Liebe in all ihren Erscheinungsformen und damit die Sexualität ist natürlich, niemand, der diesem alles beherrschenden Trieb folgt, muss sich schämen. Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. 93 Noch hedonistischer ist der Tenor der Komödie Chrysis, die Piccolomini 1444 in Nürnberg verfasste und dort vielleicht auch bei Hofe aufführen ließ. Hauptfigur ist die gleichnamige Prostituierte, die mit einer Kollegin und ihrer verheirateten Schwester das Personal eines Bordells bildet, das vorzugsweise von älteren Klerikern frequentiert wird. Zwei von diesen haben für die betreffende Nacht inklusive eines üppigen Banketts vorgebucht, werden jedoch von den jungen Liebhabern der Damen ausgestochen, die am Ende genießen, ohne bezahlt zu haben. Die beiden Diener der Kirche hingegen werden vage auf den nächsten Abend vertröstet. Signifikanter als das - mit mancherlei Slapstick-Szenen vor Schlüssellöchern und auf- und zu klappenden Türen versehene - Plot sind auch hier die Diskurse. Durch Reden und innere Monologe outen sich nämlich sämtliche Akteure als zynische Egoisten, die an nichts als irdische Vergnügen glauben und das Jenseits Jenseits sein lassen. Im Diesseits aber lauern so viele Gefahren und Unannehmlichkeiten wie zum Beispiel die Ehe, dass es sich am besten gänzlich ungebunden und ungezwungen lebt. Dieses Hohelied des rücksichtslosen Lebensgenusses stimmen Priester, Huren und Freier gemeinsam an. Umgekehrt äußerst sich am Ende des Stücks nur der Autor selbst: Man möge diese Komödie doch bitte als Aufforderung verstehen, vom Laster Abstand zu nehmen und sich zu Tugend und Enthaltsamkeit bekehren! Fast gleichzeitig zur Chrysis verfasste Piccolomini seinen Traktat Über das Elend der Hofleute, der sich an einen englischen Text des 12. Jahrhunderts anlehnt, doch fraglos eigene Erfahrungen im humanistischen Geist verarbeitet (vgl. Schreiner/ Wenzel 2012). Zweck dieser Abhandlung - so die Anrede des Lesers - ist es, verfehlte Lebensplanungen im Keim zu ersticken. Wer glaubt, dass in der engsten Umgebung der Mächtigen Tugenden regieren und belohnt werden, ist auf dem Holzweg. Genau das Gegenteil ist der Fall: Wer an den Hof zieht, muss zu Kreuze kriechen und sein wahres, besseres Ich konsequent verleugnen. Stattdessen nimmt er Unsitten an, die sein Seelenheil gefährden. Diese Warnung wird durch Ausmalungen des höfischen Alltags illustriert, die bei allem Sarkasmus gleichfalls ernst gemeint sind. Das Elend der Höflinge zeigt sich buchstäblich von morgens bis abends: Wenn man viel zu früh aus einem verwanzten oder sogar durch Pestkranke verseuchten Bett gerissen und in einen Krieg geschickt wird, für den man nicht gerüstet ist, oder wenn man seinen gerechten Lohn einfordert, doch vom Zahlmeister ein ums andere Mal vertröstet wird und mit leeren Händen und mit nach kärglichem Mahl knurrendem Magen in eine stinkende Schlafkammer geschickt wird, in der man wegen des schnarchenden Bettgenossen kein Auge zu tun kann. Mit solchen Texten war nach 1445 Schluss. Mit der Priesterweihe und dem raschen Aufstieg zum Bischof von Triest (1447) und Siena (1450) traten historische und moralphilosophische Themen in den Vordergrund (vgl. Veit Volker Reinhardt (Fribourg) 94 1964). Poesie im engsten Wortsinn schrieb Piccolomini nur noch für geistliche Anlässe. Macht- und Sittenverfall im Abendland, Machtkonzentration und unaufhaltsames Vorrücken im islamischen Osten: dieser fatale Gegensatz bestimmte von nun an seine Texte. Bei aller tiefen Besorgnis über das Vordringen der ‚Ungläubigen‘, die von etwa 1450 an das Leitmotiv seiner literarischen Produktion bildete, nutzte Piccolomini die Türkenangst zugleich zur Selbstprofilierung, am wortmächtigsten und durchschlagendsten, als die schlimmsten Befürchtungen am 29. Mai 1453 mit dem Fall von Konstantinopel Wirklichkeit geworden waren. Mit dem Ende des Oströmischen Reiches war der Kreuzzug zur Rückeroberung der Stadt am Bosporus und der heiligen Stätten sein Markenzeichen geworden. In diesem Sinne predigte und publizierte er unermüdlich. Der Stärkung der christlichen Abwehrfront diente seine Geschichte Europas (Heck 2001), die das Gemeinsame des Okzidents in der mehr oder weniger ausgeprägten römischen Prägung bestimmte. Für einen italienischen Humanisten des Jahres 1405 war alle Außenwelt notwendigerweise barbarisch. Das galt für so unterschiedliche Völkerschaften wie Franzosen, Schweizer, Schotten, Deutsche und Tschechen - ‚exotische‘ Stämme, die Piccolomini allesamt besucht und mit ihren mehr oder weniger bizarren Sitten und Gebräuchen beschrieben hat. Von diesen nationes standen die Schotten, die nicht einmal Brot und Wein kannten, der animalischen Sphäre und Natur am nächsten, dicht gefolgt von den Hussiten und den Germanen. Gradmesser der barbaries war für den zivilisationsstolzen Italiener eine ganze Bandbreite des menschlichen Verhaltens, von den Paarungsriten über die Tischgewohnheiten bis hin zum Maß aller Dinge, den Zwillingserscheinungen Sprache und Sitte. Nach all diesen Kriterien zeigten sich die nördlichen Völkerschaften von ungebrochener Triebhaftigkeit beherrscht, selbst wenn sie diese Instinktmächtigkeit phasenweise und situationsbedingt mehr oder weniger stark zurückdrängen konnten. Im Gegensatz dazu definierte Piccolomini das spezifisch französische Barbarentum deutlich verfeinert, aber dadurch nur umso zerstörerischer als Doppelzüngigkeit, Hinterhältigkeit und notdürftig mit Esprit und Lebensart übertünchte Unmoral. Barbaries ist auch das verdeckte Leitmotiv von Piccolominis Deutschland- Traktat, den er in Form eines Briefes an einen der Wortführer der Gravamina der deutschen Nation richtete (Schmidt 1962). Dieser hatte, wie mittlerweile in politisch interessierten Kreisen des Reiches üblich, die Aussaugung seiner Heimat durch die unersättlichen Steuereintreiber der römischen Kurie beklagt und ein baldiges Ende dieser Missbräuche in Aussicht gestellt. Piccolomini, zu diesem Zeitpunkt bereits Kardinal (vgl. Dendofer/ Lützelschwab 2011), kehrte diese Stoßrichtung um und packte seine Attacken zugleich in Watte, nämlich in vollmundige Lobreden über Deutschland und seine blühenden Landschaften. Doch eine Absolution von der Unmündig- Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. 95 keit des Barbarentums war dieser Text nicht, nicht einmal ein Freispruch zweiter Klasse. Was in Deutschland so prächtig florierte, war die materielle Kultur; diese beruhte auf einem nationspezifischen Gewerbefleiß, der nicht minder volkstypisch von der Habgier des Parvenüs genährt wurde. Deutschland - so Piccolominis liebloses Fazit - war reich und stellte sich arm, um die mehr als bescheidenen Abgaben an die Mutter allen Heils und aller Zivilisation, die römische Kirche, nicht leisten zu müssen. Diese Verweigerung war nicht nur Heuchelei, sondern schlimmer noch: unentschuldbare Undankbarkeit. Aus Rom, der religiösen wie kulturellen Prometheus- Stadt, war alles Licht der humanitas und urbanitas in die hinterwäldlerischen Gefilde Deutschlands gedrungen, doch statt mit der eigentlich angebrachten pietas, die Verehrung und freiwillige Unterwerfung hätte zur Folge haben müssen, reagierten die dreisten Barbaren mit Arroganz und Aufmüpfigkeit. Noch viel weiter vom Zentrum der Wahrheit in Rom hatten sich die aufständischen Hussiten entfernt, die mit ihrer krausen Barbaren-Theologie die sittliche Verwilderung des Adels und die völlige Verrohung des Volkes verdecken wollten. Religion wurde in Piccolominis Augen überall dort, wo sich Widerstand gegen das sanfte Joch des Papsttums zusammenbraute, zu einem durchsichtigen Erpressungsmanöver von Fürsten und Aristokraten. Die theologischen Wahrheitsfragen waren längst beantwortet. Roma locuta, causa finita: wer jetzt noch Widerreden wagte, war von superbia und invidia, von Hochmut und Neid, gegen die gottgewollte Führung der Kirche besessen. Damit legte der künftige Papst die Wahrnehmungs-Parameter der Kurie für Jahrzehnte fest. Die causa Lutheri, die sich ab 1517 schnell zum Alternativentwurf einer neuen Doktrin und einer anderen Kirche ausweitete, wurde von Leo X. ganz ähnlich, nämlich als eine politische Intrige der Fürsten, die sich eines fanatischen Mönchs bedienten, beurteilt. Für Piccolomini standen seine Schriften über Böhmen und Deutschland in engstem Zusammenhang mit seinen Aufrufen zum Kreuzzug: Vor der Rückgewinnung des verlorenen Terrains im Osten musste der innere und äußere Zusammenschluss im Westen bewältigt werden. Seine Auslassungen zu Deutschen und Tschechen sind daher Waffen geistiger Okzident-Verteidigung. Zugleich machen sie eher unfreiwillig deutlich, wie viel noch zu tun war, bis Europa im humanistischen Sinne durch-europäisiert war. Dass die Türken gegen einen immer noch halb-barbarischen Kontinent leichtes Spiel hatten, erschien nur allzu verständlich. 3. Herrschaft und Selbstdeutung: der Papst als sein eigener Historiker Im August 1458 wurde Enea Silvio Piccolomini, der ‚Kardinal von Siena‘, als Kompromisskandidat der römischen Adelsfraktionen und weiterer rivalisie- Volker Reinhardt (Fribourg) 96 render Netzwerke zum Papst gewählt. Seine Wahl war für alle außer ihn selbst eine Überraschung. Für kuriale Insider hatte ein ungerader Weg unerwartet, wenn nicht sogar unerlaubt auf den Thron Petri geführt. Ein spät bekehrter Hardliner des Konzils und des Konziliarismus, überdies Verfasser einiger sehr „ungeistlicher“ Texte als neues Oberhaupt der Christenheit: wahrlich, die Ratschlüsse des Heiligen Geistes waren unerforschlich, wenn nicht andere, finsterere Mächte den Ausschlag im Konklave gegeben hatten. Zugleich trat damit ein schier unbegrenzter Rechtfertigungs-, ja Bereinigungs-Bedarf des neuen Pontifex maximus zu Tage: Was sich den anderen als schief darstellte, musst er als begradigt, besser noch als zwangsläufig ausweisen. Dabei setzte der Humanist Piccolomini nicht, wie alle Päpste seit Sixtus IV. (1471-1484), vorrangig auf die Macht der Bilder, sondern auf die Überzeugungskraft des Wortes. Auch wenn die Commentarii erst einige Zeit später in Angriff genommen wurden, ihre Notwendigkeit war mit dem Akt der Wahl besiegelt (vgl. Totaro 1978). Gerade ist der Weg zur höchsten Würde der Christenheit, wie er sich in diesen Herrschaftsaufzeichnungen und -deutungen abzeichnet, deshalb, weil er von Anbeginn an von der Vorsehung gelenkt wird. Führung durch Providenz: das heißt nicht wohliges Sich-fallen-Lassen in die Hände eine bergenden und schützenden Gottes, sondern im Gegenteil, eine Probe nach der anderen zu bestehen. Vor-Zeichen und Nach-Prüfungen verschränken sich zu einem hindernisreichen Parcours der Bewährung oder des Scheiterns. Zeichen, dass die Große Prüfung begonnen hat, treten schon in der frühesten Kindheit auf: Wundersame Rettungen aus höchster Lebensgefahr, Heilungen von aussichtslos scheinenden Krankheiten bilden die Präliminarien der eigentlichen Examina. Diese Vor-Prüfungen werden durch kluge Notmaßnahmen des dadurch als mit-erwählt ausgewiesenen familiären Umfelds, doch sehr früh auch schon durch eigene virtus, Ratio, Willenskraft und Durchhaltevermögen, bestanden. Die gefährlichste dieser Prüfungen war die Meeres-Probe. Schon die erste Seereise Ende 1431 von Piombino nach Portovenere wurde zu einer Grenzerfahrung im wahrsten Wortsinn: Sein Schiff, so Piccolomini im Rückblick, wurde bis kurz vor die libysche Küste und danach wieder nach Korsika zurückgetrieben, und das alles in wenigen Stunden. Im Nachhinein stellte sich der monströse Sturm als heilsame Warnung heraus: Piccolomini zog zu einem Konzil, das noch legal war, doch in blinde Opposition gegen das gottgewollte Oberhaupt der Kirche abzusinken drohte. Diese Gefahr erkannte der Mann aus Corsignano nicht rechtzeitig, und darin lag die Schuld, die er selbst bekennt: Ich habe geirrt, doch wie so viele andere guten Gewissens. Dementsprechend gestaltete sich die zweite lange Seefahrt nach Schottland noch viel turbulenter. Diesmal wurde die Nussschale des Kirchendiplomaten Piccolomini, so dessen späterer Bericht, bis nach Norwegen verschlagen und Tage lang so gebeutelt, dass die Seeleute alle Hoffnung fahren ließen. Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. 97 Doch der unerschrockene Humanist tat ein Gelöbnis und rettete sich so samt der Mannschaft. Glücklich in Schottland gelandet, pilgerte er bei Eis und Schnee zu Fuß zu einer wundertätigen Marienkapelle. Dieser Ex-Voto- Marsch kostete ihn viel von seiner Gesundheit. Strafe und Heil hielten sich die Waage, so wie Piccolominis Mission beim schottischen Monarchen lauter und zweifelhaft zugleich war. Er sollte diesen zum Krieg gegen England anstiften und damit einen viel größeren Konflikt, den Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England, beenden helfen. Doch durfte man ein großes Übel um den Preis eines kleinen Übels abstellen? Piccolomini zahlte mit seiner chronischen Fußkrankheit einen ganz persönlichen Preis. Die dritte Seefahrt aber schlug er aus und bestand damit die Probe auf Leben und Tod: Der Kapitän, der ihn wohl als eine Art heilbringendes Maskottchen wieder nach Frankreich zurückfahren wollte, versank vor seinen Augen mit Mann und Maus. Zu einer solchen Kooperation des menschlichen Willens mit der angebotenen Gnade waren jedoch nur wenige befähigt. Pius’ Schoßhündchen hatte diese Einsicht jedenfalls nicht, wie er selbst ausführlich erzählt. Zweimal wird es aus drohender Todesgefahr gerettet, als es das Zeichen beim dritten Mal nicht erkennt, bricht es sich das Genick. Auch viele Kirchenfürsten waren nicht viel einsichtiger, wie der neu gewählte Papst schnell einsehen musste. Sie erkannten nicht, dass er mit der Wahl zum Nachfolger Petri und Stellvertreter Christi auf Erden seine Identität gewechselt, ja, geradezu seine Substanz ausgetauscht hatte. Kardinäle wie der große Theologe Nikolaus von Kues, die seinen mangelnden Reformeifer kritisieren, wurden daher wie Schuljungen abgekanzelt. Der Papst ist der Erste unter den Menschen - nach dieser Devise forderte Pius II. eine Verehrung ein, die offiziell durch das Amt begründet war, doch stark auf die Person ausstrahlte. Diese Trennlinie zwischen der Sakralität des Amtes und der keineswegs a priori gegebenen Heiligkeit ihres Inhabers verwischte sich im Verlauf des sechsjährigen Pontifikats immer mehr. Am Ende ließ sich Pius II. nicht nur, wie seine eigenen Aufzeichnungen in den Commentarii belegen, zu Lebzeiten als Heilbringer und damit schon fast wie ein Heiliger feiern, sondern er schildert darüber hinaus sein eigenes Wirken immer konsequenter als das Streben nach einer Heiligung, die es am Ende nur im Martyrium geben kann. Doch bis dieses Ende gewonnen ist, warten zahlreiche weitere Prüfungen auf den servus servorum Dei, den Diener der Diener Gottes, wie sich die Päpste selbst titulierten. Ja, der Pontifikat selbst ist eine einzige Prüfung - diese Formel, mit der Piccolomini die Wahl zum Papst annahm, war für ihn Demutsfloskel und Herrschaftsprogramm zugleich. Und die Commentarii, das literarische Hauptwerk, werden damit zu einer Vorstufe von Hagiographie in eigener Sache, die die Nachwelt auszuwerten haben wird. Der göttliche Auftrag war ergangen, jetzt musste sich der Beauftragte dieser Mission als würdig erweisen. Ob er diesen höchsten aller Ansprüche genügte oder nicht, Volker Reinhardt (Fribourg) 98 musste sich - Leitmotiv der Herrschafts-Memoiren - daran erweisen, ob und wie er das Projekt des Kreuzzugs vorantrieb. Verglichen damit waren alle anderen Obliegenheiten eines Papstes Nebensachen. Solche Nebenbeschäftigungen stehen - so scheint es - in den Commentarii über weite Strecken im Vordergrund. Pius II. beruft zwar als erste herausragende Regierungshandlung einen Kongress der europäischen Mächte nach Mantua ein, um dort die Rückgewinnung Konstantinopels und des Heiligen Landes zu koordinieren. Doch auf dem Weg in die Hauptstadt des Gonzaga-Marchesats legt er zahlreiche und lange Pausen ein, vor allem in der Nähe von Siena. Dort betreibt er die Nebensache Nummer eins, die Wiederzulassung des Adels und der Piccolomini zu den Führungsämtern. Nach ebenso ausgedehnten Aufenthalten an Badeorten in der Umgebung Sienas während der nachfolgenden Jahre vermag der Papst diese Forderungen zum Teil durchzusetzen, doch setzt er dabei die guten Beziehungen der Kurie mit der Republik nicht nur aufs Spiel, sondern verspielt sie geradezu. Nebensache Nummer zwei, die ebenfalls phasenweise zur Hauptsache wird, ist der Krieg um Neapel, dessen Schilderung zusammen mit dazu gehörigen historischen Abhandlungen ganz im Zentrum der Commentarii steht. Dabei nimmt Pius II., nicht ohne Zögern, Zweifel und Schwanken, für König Ferrante aus dem Hause Aragon und gegen René von Anjou Partei, was seine Beziehungen zu Frankreich stark eintrübt, aber Nebensache Nummer drei, der Förderung der Piccolomini, sehr zuträglich ist. Denn Ferrante überträgt Antonio Piccolomini, dem weltlichen Nepoten des Papstes, zum Lohn für dessen Unterstützung prestigeträchtige und lukrative Lehensherrschaften im Königreich Neapel und begründet damit den aristokratischen Rang der Piccolomini aufs Neue. Auch der Nepotismus droht damit zeitweise von der Nebensache zur Hauptsache aufzusteigen, umso mehr, als die Familieninteressen auch beim Kampf Pius’ II. gegen Sigismondo Malatesta ins Spiel kamen. Dieser war de facto Herr von Rimini und Umgebung, de jure jedoch nur Vikar des Papstes in diesem Teil der Romagna und übte dieses Amt nach dessen Urteil pflichtvergessen, ja geradezu verbrecherisch aus. Seinen Untaten und deren Bestrafung sind ebenfalls ausführliche Abschnitte der Commentarii gewidmet. Sie zeichnen mit dem Bild eines durch und durch diabolischen Menschen das effektvolle Gegenbild zu seinem Gegenspieler, dem Papst auf der Suche nach Heiligkeit. So machte es tiefen Sinn, dass Pius II. sich anschickte, diesen Teufel in Menschengestalt bei Lebzeiten in die Hölle zu verbannen und diese gespenstische Zeremonie eindrucksvoll inszenierte. Auf diese Weise treten die Schwarz-Weiß-Zeichnungen im literarischen Hauptwerk, je weiter der Pontifikat voranschreitet, desto klarer hervor. Pius lässt in Corsignano ein besseres Gegen-Siena bauen. Parallel dazu zieht er sich immer länger aus dem konfliktverseuchten Rom in die Campagna romana (vgl. Esch 2008), doch lieber noch in seine heimatlichen Gefilde um Siena Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. 99 zurück. Als einziger Papst der Geschichte überhaupt hat er freiwillig den Großteil seines Pontifikats außerhalb der Ewigen Stadt verbracht, was ihm die Römer sehr verübelt haben. Die mit großer literarischer Kunst beschriebenen Aufenthalte an den loci amoeni, den lieblichen Orten der Toskana, gehören ebenfalls zur groß angelegten Inszenierung der eigenen Person, des eigenen Pontifikats und damit einer immer stärker dichotomisch verstandenen Geschichte. Pius II. verlegte die Kurie, ihre Behörden und Tätigkeiten, in lachende Frühlingswiesen und unter schattenspendende Steineichen, wo ihm freundliche Landleute Milch und Brot reichten und damit ihren Segenspender ernährten. (vgl. Seeber 1997) Dieses trauliche Verhältnis von Herrscher und Untertanen in einer vom Riss der Erbsünde weitgehend freien Natur aber stand im krassest möglichen Gegensatz zu den zerstörerischen Umtrieben der Großen, die die Christenheit spalteten, statt sie zu einen. So folgte gemäß dem Kompositions-Schema der Commentarii auf jeden Aufenthalt in einem ländlichen Schein-Paradies der Absturz in politische Krisen und damit der fremd verschuldete Sündenfall. Die teilweise sehr ausführlichen Diskurse zu den daran beteiligten Mächten gewinnen damit einen ähnlichen Stellenwert wie die ebenso bezaubernden wie botanisch präzisen Schilderungen von Landschaften und Vegetationszonen: Je nachdem, ob es sich um dem Papst nahe oder fern stehende, befreundete oder verfeindete Herrscher und Territorien handelt, gehören sie der lichten oder der düsteren Sphäre an, in die sich die Welt mehr denn je aufspaltet. Wer dabei die stärkeren Bataillone auffährt, zeigt sich schon früh bei den enttäuschenden Verhandlungen von Mantua. Dort kann Pius II., wie er selbst beschreibt, gerade noch sein Gesicht wahren, doch von einem Ruck, der durch die Christenheit geht, oder gar von einem Aufbruch kann nicht die Rede sein. Beides ist in den Commentarii hingegen unübersehbar. 1463 ist die Zeit der Nebendinge endgültig vorbei. Allzu lange hat sich der Papst mit ihnen abgemüht. Das große Ziel - so seine Selbstanklage und zugleich Selbstentschuldigung - hat er darüber nicht aus den Augen verloren, doch wirklich näher gekommen ist er ihm auch nicht. Die Fürsten reden vom Kreuzzug, doch wenn es ernst wird, erfinden sie Ausreden. So lautete das deprimierende Fazit sogar zu Pius’ engsten Verbündeten Francesco Sforza, dem Herrn von Mailand, und Philipp dem Guten, dem Herzog von Burgund. Wenn selbst diese besten oder vorsichtiger formuliert: am wenigsten apathischen Herrscher der Christenheit nicht mit gen Osten zogen, dann mussten andere Methoden erwogen werden. Ein solches Mittel war der Versuch, Mehmet II. Fatih, den siegreichen Sultan des Osmanischen Reichs, zum Christentum zu bekehren (Glei/ Köhler 2001) - zumindest in der Theorie. Pius II. hat ein solches Schreiben verfasst, doch wohl kaum abgeschickt. Es diente ihm als Leistungsnachweis in eigener Sache: In diesem Brieftraktat zeigte er sich auf der Höhe zeitgenössischer Kontroverstheologie, deren Argumente für die alleinige Wahrheit des Volker Reinhardt (Fribourg) 100 Christentums er ausführlich ausbreitet. Dabei schlägt er gegenüber dem Herren der Gegenwelt, der in seinen Geschichtswerken zum Teufelsdiener dämonisiert wurde (vgl. grundlegend Helmrath 2000), ganz neue, verbindliche Töne an. Pius würdigt die historische Größe Mehmets und stellt ihm eine hegemoniale Herrschaftsposition, vor allen gekrönten Häuptern des Abendlands, in Aussicht, wenn er sich zum Glauben an Jesus Christus bekehrt. Als alles nichts fruchtet, bleibt nur die Idee des Selbstopfers: Wenn niemand mitziehen will, muss ich eben alleine ziehen. Vielleicht wird der Opfergang eines alten und kranken Papstes das Abendland aufrütteln. Unter diesem Zeichen stehen die letzten Kapitel der Commentarii. Von Ancona aus soll ihn eine kleine venezianische Flotte nach Osten tragen, dem Sieg mit göttlicher Hilfe oder dem Martyrium entgegen. Doch als Pius II. in Ancona eintrifft und auf das Eintreffen der venezianischen Galeeren wartet, hat ihm die Krankheit zum Tode bereits die Feder aus der Hand gerungen. Als die Schiffe schließlich ankommen, stirbt Pius II. Seine letzte Reise führte nicht übers Meer. Der „gekrönte Poet“ auf dem Papstthron. 101 Literaturverzeichnis Andenmatten, B./ A. Paravicini Bagliani (Hg.): Amédée VIII - Felix V. Premier duc de Savoie et Pape (1383-1451). Lausanne 1992. Bernetti, G.: Saggi e studi sugli scritti di Enea Silvio Piccolomini Papa Pio II (1404-1464). Firenze 1971. Bürck, G.: Selbstdarstellung und Personenbildnis bei Enea Silvio Piccolomini (Pius II.). Basel/ Stuttgart 1956. Buyken, T.: Enea Silvio Piccolomini. Sein Leben und Wirken bis zum Pontifikat. Bonn/ Köln 1931. Casella, N.: Pio II tra geografia e storia. La Cosmographia. 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Die Selbstzeugnisse Baburs und Maximilians I. als Reaktionen auf die Abhängigkeiten und Gefährdungen ihrer Herrschaft In den Beiträgen dieses Bandes wird das Verhältnis zwischen dem Dichten und dem Lenken in den Fokus genommen. Der Thematik inhärent ist die Annahme, dass der dichtende Herrscher stets auch ein ‚Lenker‘ des politischen Geschehens seiner Zeit sei. Vor allem in historischen Umbruchszeiten erwachsen Herrschern zahlreiche Gefährdungen ihrer Machtposition - die ‚Lenker‘ drohen dann zu ‚Gelenkten‘ zu werden. Im vorliegenden Beitrag wird die Analyse der Selbstzeugnisse zweier Herrscher aus unterschiedlichen Kulturräumen Aufschluss darüber geben, welche Rolle die dichtenden Herrscher der Literatur in solchen Umbruchszeiten zuschrieben. In einem transkulturellen, typologischen Vergleich werden die Gefährdungen und Abhängigkeiten, die sich in den Texten der beiden Herrscher widerspiegeln, herausgearbeitet und einer Analyse unterzogen. Dabei wird zu fragen sein, in welche Sinnzusammenhänge die Herrscher die Widrigkeiten, die ihre Regierung beeinträchtigten, in ihren literarischen Texten stellen, welche Rechtfertigungen sie für ihr politisches Handeln angeben. Mit Hilfe des Vergleichs werden kulturübergreifend wirksame Vertextungsstrategien herausgestellt, mit denen Gefährdungen und Abhängigkeiten neu gedeutet werden. Der Habsburger Kaiser Maximilian I. und der letzte bedeutende Timuridenherrscher und erste Großmogul Zahiruddin Muhammad Babur 1 lebten und wirkten in geographisch weit auseinander liegenden Kulturräumen. Das Habsburger Reich in der Mitte Europas und das Herrschaftsgebiet Baburs, das sich mit wechselnder Ausdehnung über Teile Transoxaniens, des heutigen Afghanistans und zuletzt Indiens erstreckte, standen in keinem nennenswerten Kontakt miteinander, gegenseitige Einflüsse sind daher nicht anzunehmen. Dennoch finden sich in zeitlicher Koexistenz zahlreiche ähnlich verlaufende Entwicklungen: Die Zeit Baburs und Maximilians gilt in 1 Die Umschrift aus der arabischen Schrift des Tschagataischen wird in der Forschung uneinheitlich vorgenommen, ein Standard hat sich bisher nicht durchgesetzt. Im Folgenden wird die Schreibweise der englischen Übersetzung des Baburnama von Thackston 1996 verwendet. Die Folio-Angaben bei den Referenzstellen beziehen sich auf die kritische Ausgabe von Mano 1995. Kristina Rzehak (Münster) 106 politischer Hinsicht in beiden Kulturräumen als ‚Übergangs-‘ oder ‚Umbruchszeit‘, in der den Herrschern Gefährdungen sowohl aus dem Inneren ihres Reiches als auch von außerhalb der Reichsgrenzen erwuchsen. Die zumeist leeren Reichskassen suchten die Machthaber durch Steuereinnahmen, Beutewirtschaft (Babur) bzw. Verpfändungen (Maximilian) zu füllen. Glaubensspaltungen und ein Hang zur Mystik prägten den religiösen Hintergrund in beiden Herrschaftsgebieten. In gesellschaftlicher Hinsicht begann sich mit der Verwaltung ein Bereich auszudifferenzieren, der für die Herrschaftspraxis zunehmend an Bedeutung gewann. Die Wissenschaften, vor allem die Astronomie und die Mathematik, erlebten einen ausgeprägten Aufschwung. Es kann ebenfalls von einer kulturellen Blütezeit gesprochen werden, die von der Forschung mit Blick auf beide Kulturräume als ‚Renaissance‘ bezeichnet wurde. 2 Vor allem der Literatur wurde eine zentrale Rolle für die Herrschaft zugesprochen: Kulturelles Prestige symbolisierte gleichzeitig politische Macht. In ihrer Rolle als Mäzen beschäftigten die Herrscher Panegyriker, um sich im besten Licht darstellen zu lassen. Sie betätigten sich aber auch selbst als Autoren, denn die Literatur war zum einen notwendiger Bestandteil der elitären Wissenswelt, zum anderen stellte sie diejenige Kunstform dar, die die Herrscher am unmittelbarsten zu beeinflussen wussten. In Baburs Kulturkreis gehörte es zum (Selbst)Bild des idealen Herrschers, dichten zu können, und es war üblich, sich in der Poesie und den kanonisierten Werken gut auszukennen. Nicht selten folgten die dichtenden Herrscher kulturellen Leitbildern, denen sie und ihre Zeitgenossen Modellcharakter zusprachen. Auch Maximilian I. folgte in seiner Literaturbegeisterung einem solchen Vorbild, nämlich der kulturellen Welt Burgunds. Die prachtvolle Bibliothek des Hofes, an den er durch seine Hochzeit mit der Thronfolgerin Maria von Burgund gelangte, ließ seine Begeisterung für Literatur deutlich wachsen. 3 Die Motivation für Maximilian und Babur, sich dichterisch zu betätigen, entstand vor allem aus der Sorge um ihr Bild in der Nachwelt. 4 Damit diese 2 Bouvat übertrug die Epochenbezeichnung wohl als erster auf die Zeit der Timuriden (vgl. 1927: 201), ihm folgten Grousset (vgl. 1929: 282; 1939: 546) und Roemer (vgl. 1986: 142). Gegen die Verwendung dieser Bezeichnung mit Blick auf die Timuridenherrschaft argumentiert Aubin (vgl. 1957: 72). Die Epoche unter Maximilian wird etwa in den Literaturgeschichten Wehrlis (vgl. 1997: 907ff.) und Beutins u.a. (vgl. 2001: 57ff.) unter der Bezeichnung Renaissance-Humanismus behandelt. 3 In seiner Kindheit galt Maximilian I. eher als lernunwillig und verbrachte seine Zeit lieber auf der Jagd (vgl. Holleger 2005: 22ff.). 4 Jan-Dirk Müller verfolgt dies als zentrale These in seiner Habilitationsschrift, die bereits 1982 erschien, aber immer noch als Standardwerk zu Kaiser Maximilians literarischen Schaffen anzusehen ist (vgl. Müller 1982). Auch für Baburs Verfasserschaft ist - unter anderen Motiven - die Sorge um sein Fremdbild, das nach seinem Ableben kursieren würde, Motiv und Antrieb. Sein Werk ist wohl am ehesten als Familiengeschichte und als Vermächtnis zu sehen (vgl. Subtelny 1989: 117). Literatur und politischer Umbruch. 107 eine adäquate Vorstellung in ihrem kollektiven Gedächtnis bewahren konnte, modellierten sie ihre Idee des vollkommenen Herrschers im Medium der (literarischen) Selbstzeugnisse. Mit dem Baburnama verfasste Babur eine Autobiographie, die noch heute zur Weltliteratur gezählt wird und die als Ausnahmeerscheinung nicht nur unter den islamischen Selbstzeugnissen gilt (vgl. Dale 2004: 24). Maximilian I. stand einem Gelehrtenzirkel vor, der aus seinen Diktaten und Anweisungen die volkssprachigen Selbstzeugnisse Theuerdank, Weißkunig und Freydal schuf. Die ebenso benannten Protagonisten dieser Texte stellten Verschlüsselungen des Kaisers dar. Die Autorenrolle füllten die Herrscher also jeweils unterschiedlich aus: Während Babur sein Werk wohl eigenhändig niederschrieb, geht man bei Kaiser Maximilian von einem arbeitsteiligen Schreibprozess aus. Er diktierte den Gelehrten seine Erinnerungen, überarbeitete ihre Entwürfe und fügte Korrekturen ein. Ein Auseinanderdividieren der Texte mit Blick auf seine genuinen Anteile an der Verfasserschaft dürfte deswegen schwer möglich sein (vgl. Müller 1982: 66). Um einen gemeinsamen Terminus für die vier zu analysierenden Texte verwenden zu können, wird auf den Begriff ‚Selbstzeugnis‘ zurückgegriffen. Bestimmt wird der Begriff durch das konstitutive Merkmal der Selbstreferentialität (vgl. von Krusenstjern 1994: 463), das allen vier vorliegenden Texten gemein ist. Neben den vier genannten Selbstzeugnissen schufen beide Herrscher weitere Texte: Babur stellte einen Diwan (eine Gedichtsammlung) zusammen, schrieb ein Kompendium über Metrik, ein hanafitisches Buch der Rechtsgelehrtheit und er fertigte eine Übersetzung eines mystischdidaktischen Werks aus dem Persischen an. Maximilian plante zahlreiche Buchprojekte, wie aus den Aufzeichnungen in seinen ‚Gedenkbüchern‘ hervorgeht; einige davon sind jedoch überhaupt nicht begonnen worden. 5 Bei den meisten der angefangenen Bücher fungierte er als Mäzen; eine Autorschaft Maximilians ist hingegen bei der fragmentarischen Lateinischen Auto- 5 Codex 2900 der Österreichischen Nationalbibliothek (Sammlung von Handschriften und alten Drucken) enthält das sogenannte Dritte Gedenkbuch Kaiser Maximilians, in dem Fol. 2 eine Aufzählung verzeichnet über die „püecher so die Ro. Kay. Mt. dannen richten wil, / Grab / Erenporten / Weyszkunig / Tewrdannck / Freytal / Tryumpfwagn / Stam Cronick / Der Stam / Artalerey / Die siben lustgarten / Wappenbuech / ‚Stalpuech‘ / Plattnerey / Jegerey / Valcknerey / Kucherey / Kellerey / Vischerey / Gartnerey / ‚Pawmaisterey‘“ (zitiert nach Chmel 1840: 458). Von diesen Büchern sind einige fertig gestellt worden (z.B. Jagd- und Fischereibücher), einige sind jedoch nur unfertig überliefert. Auch die drei volkssprachigen Selbstzeugnisse sind zu einem größeren (Freydal) oder kleinerem (Theuerdank) Teil Fragmente. Aufgrund des unvollendeten Status der Texte wurde Weißkunig erst 1775, Freydal erst 1880 herausgegeben. Nur Theuerdank wurde noch zu Lebzeiten des Kaisers gedruckt - wenn auch ohne den Text für das 117. Kapitel: Da in jenem ein Kreuzzug geschildert werden sollte, an dem der Protagonist teilnimmt, aber ein solcher im wirklichen Leben Maximilians, das der Erzählung Pate stand, nicht stattfand, ließ man wohl die Seiten frei. Kristina Rzehak (Münster) 108 biographie zu konstatieren, die aus lateinischen Diktaten des Kaisers hervorging und die der Gelehrte Joseph Grünpeck in ihre literarische Form brachte. Die Fokussierung auf die vier volkssprachigen, das heißt in den Sprachen Tschagataisch und Frühneuhochdeutsch abgefassten Selbstzeugnisse der beiden Herrscher erfolgt aus zwei Gründen: Um einen Rückschluss auf die Reaktion der Herrscher auf die sie umgebenden Unsicherheiten und Gefahren ziehen zu können, sind Texte auszuwählen, in denen ein Selbstbezug hergestellt wird. Texte also, in denen die Person des Verfassers als Protagonist handelnd in Erscheinung tritt. Dieses Kriterium führt zum Ausschluss der Sachtexte und der Lyrik. 6 Des Weiteren sind Texte, die in der Volkssprache abgefasst wurden, Ziel der Analyse, da die Herrscher mit ihnen eine gezielte Identitätskonstruktion vorantrieben. Mit ihnen sollte ein bestimmtes Publikum angesprochen werden, nämlich die eigenen Nachfahren sowie die adligen Eliten. 7 Der Selbstbezug und der Adressatenkreis der Texte fungieren also als Kriterien für die Auswahl der Texte und müssen bei Aussagen, die aufgrund der Analyse der Werke getroffen werden, berücksichtigt werden. In ihren Texten verarbeiteten die beiden Herrscher Gefährdungen und Abhängigkeiten, die ihnen in der unsicheren Umwelt einer ‚Übergangszeit‘ drohten. Mit der literarischen Darstellung verfolgten Babur und Maximilian ähnliche Ziele: sie stellten ihr Handeln, zu dem sie in Auseinandersetzung mit einer widerständigen und kontingenten politischen Realität gezwungen waren, nachträglich in einen sinnstiftenden Rahmen, wobei sie zu diesem Zweck häufig auf religiöse Argumente zurückgriffen. Auf diese Weise rechtfertigten sie ihr politisches Vorgehen und übten Propaganda für sich und ihre Dynastie. Soziale Ordnung, so Albrecht Koschorke, basiere auf regulativen Fiktionen (vgl. 2002: 77). Ihnen zugrunde liegen implizite „Als-ob-Regeln“, die für die Sicherung der Ordnung sorgen sollen. Um das „Anfangsproblem“ jeder 6 Für die Lyrik Baburs hält Dale die autobiographische Interpretation zwar für möglich (vgl. Dale 1996: 636), nennt jedoch zahlreiche Einschränkungen, die bei einer solchen Lesart beachtet werden müssten (literarische Konventionen, inhaltliche Ambiguitäten, usw. - vgl. Dale 2004: 259ff.), sodass die Möglichkeit legitimer autobiographischer Rückschlüsse zumindest nicht besonders umfangreich erscheint. 7 Die Texte sind als Fürstenspiegel lesbar und in dieser Eigenschaft als Lektüre für die Nachkommen gedacht. Zum weiteren Adressatenkreis gehörte die islamisierte und Tschagataisch sprechende timuridische und mongolische Elite, darüber hinaus die turkomongolischen Offiziere des Militärs auf Seiten Baburs (vgl. Dale 2004: 41) und auf Seiten Maximilians die Reichsstände, der Adel, bürgerliche Ober- und Mittelschichten und fürstliche Diener in Kammer und Regiment (vgl. Müller 1982: 76). Gemein war den Texten, dass sie nur für einen exklusiven Adressatenkreis gedacht waren, über den die beiden Herrscher selbst entschieden. Dass die Adressierung nicht ausschließlich an die gelehrten Schichten erfolgte, zeigt die Wahl der Volkssprachen Frühneuhochdeutsch bzw. Tschagataisch anstatt der ‚Gelehrtensprachen‘ Latein bzw. Persisch. Literatur und politischer Umbruch. 109 Machtergreifung zu bewältigen, die Legitimierung, werde etwa die Einsetzung der neuen Herrschaftsform so inszeniert, „als ob“ sie von einer höheren Instanz autorisiert worden wäre (vgl. Koschorke 2002: 77). Weitere „fiktive Vorannahmen“ seien notwendig, um die Abgrenzung des Machtbereichs nach außen festzulegen (vgl. Koschorke 2002: 78). Drittens erfahre schließlich das Verhältnis zwischen dem Herrscher und dem Kollektiv eine Gestaltung über die symbolische Aufladung des Herrscheramtes (vgl. Koschorke 2002: 79). An der ästhetischen Modellierung dieser drei Fiktionen tragen die Dichter stets einen großen Anteil (vgl. Koschorke 2002: 80f.), im Falle Baburs und Maximilians auch die dichtenden Herrscher selbst. Während die Darstellung der Legitimität ihrer Herrschaft bzw. der Usurpation der Macht beiden Herrschern in ihren Selbstzeugnissen kaum notwendig erscheint 8 - beide gehörten etablierten Herrscherdynastien an - sind vor allem die Abgrenzung des Herrschaftsraumes und die Verbindung zwischen Herrscher und Gefolge Aspekte, die in ihren Selbstzeugnissen aufgegriffen werden. Besonders aus letztgenannter Konstellation erwachsen Babur und Maximilian gemäß ihrer Beschreibung Gefährdungen und Abhängigkeiten für ihre Herrschaft: Durch die gezielte Selbststilisierung, die bei der ästhetischen Gestaltung der regulativen Fiktionen ansetzt, wird die Herrscherposition in den textuellen Selbstbildern neu ausgehandelt und auf diese Weise vor Angriffen aus den eigenen Reihen geschützt. Eine Art der Stilisierung stellen dabei Sakralisierungsstrategien dar, die die Herrschenden aufgrund ihrer Legitimation durch eine metaphysische Instanz in ihrer Herrscherfunktion für ihre Untertanen unantastbar machen und dadurch ihre Herrschaft garantieren sollten. Abgrenzungen des Herrschaftsraums und Gefährdungen von außen Ausgehend von der Annahme, dass die Erzählungen Theuerdank und Weißkunig herrschaftspropagierende und herrschaftssichernde Strategien Maximilians I. offenlegen, sollen an dieser Stelle die Handlungsprofile der fürstlichen Protagonisten untersucht werden. Außenpolitische militärische Gefährdungen erwachsen den Hauptfiguren im Theuerdank und im Weißkunig vor allem in den dritten und damit letzten Teilen der Erzählungen. Theuerdank sieht sich gezwungen, am dritten Pass, an den er gelangt, in kriegerischen Auseinandersetzungen die Feinde seiner zukünftigen Braut, der Königin Ehrenreich, zu bekämpfen. 9 Er 8 Als Ausnahme ist Baburs Rekonstruktion seiner Abstammung zu nennen, die er im Baburnama vornimmt und die seine hohe Abkunft unterstreicht, die ihn zum Herrschen legitimiere (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 6b). 9 Näher bezeichnet werden diese Gegner nicht, sie werden zumeist lediglich als „die veinndt“ beschrieben (vgl. Theuerdank 1517: 365). Während an den ersten beiden Päs- Kristina Rzehak (Münster) 110 wird als wehrhafter und kampffähiger Held dargestellt, der jedoch in allzu gefährlichen Situationen bisweilen von Gottes schützender Hand gerettet werden muss. Diese göttliche Interaktion macht zugleich sein Auserwähltsein deutlich. 10 Die außenpolitische Gefährdung, die dem Protagonisten (Maximilians Alter Ego) im Weißkunig aufwartet, rührt vom blauen König - so wird der König von Frankreich verschlüsselt - her. 11 Der blaue König gelangt häufig sowohl durch militärische als auch durch nichtmilitärische Mittel zum Sieg über Weißkunig, indem er z.B. Geld und Geschenke einsetzt, um eine Parteinahme Dritter zu erreichen. Im Weißkunig werden diese Wege als unehrlich gekennzeichnet. Zwar wird auch Weißkunigs „miltigkait“ in einem Kapitel beschrieben, er habe jedoch sein Geld nie ausgegeben, um eine Parteinahme anderer Könige zu erreichen. Auch habe er das Geld nicht für sich selbst gehortet, sondern unter seinen Gefolgsleuten verteilt. So wolle er als „kunig des volcks“ gelten und nicht als „kunig des gelts“, eröffnet er seinem Vater, dem alten Weißkunig, bereits früh (Der Weiß Kunig 1775: 72). 12 Deutlich wird hier ein Kontrast zwischen einem als tugendhaft überlegen dargestellten jungen Weißkunig und einem mit allen realpolitischen Möglichkeiten agierenden blauen König, der sich auf militärischer Ebene überlegen zeigt. Nicht jedoch auf der Ebene der Tugend, wie im Weißkunig gezeigt werden soll: Zwar gibt sich Weißkunig, wie erwähnt, ebenfalls freigiebig, sieht die Verteilung von Geldern jedoch eher als Gnadenakt und nicht als Alternative zu ethischen Bindungen an. Er erwartet die Loyalität seiner Gefolgsleute, weil er ihr „naturlicher“ Herr sei (vgl. Der Weiß Kunig 1775: 163), nicht, weil er ihnen dafür Geld zahle. In dieser Darstellung spiegelt sich die paradoxe Struktur der geschichtlichen Übergangszeit: Es steht die feudalistische Position des „naturlichen“ Herrn der des Herrschers, der eine Söldnerschaft bezahlt und sich Kriegsdienst und Gehorsam erkauft, gegenüber. Im Weißkunig wird die feudalistische Position als die tugendhafte gekennzeichnet. Eine Machtposition wie die des blauen Königs, die auf ökonomischer Potenz basiert, wird negativ bewertet. Zwar wird in der literarischen Darstellung Partei für die feudalistische Position sen vor allem drohende Unfälle und Jagdabenteuer den Helden gefährden, hebt sich der dritte Pass durch die Existenz dieser ‚äußeren Feinde‘ von den anderen beiden ab. 10 Die Rettung Theuerdanks nach einer geverlicheit wird im Text wie folgt kommentiert: „So het Er sich warlich zů todt / Gefallen/ aber der ewig got / Solhen schaden nit haben wolt“ (Theuerdank 1517: 121). 11 Während der Weißkunig aufgrund seiner weißen Rüstung aber auch aufgrund seiner Weisheit seinen Namen erhält, wird der König von Frankreich nur heraldisch verschlüsselt. 12 Auch in der historischen Realität begriff Kaiser Maximilian den König von Frankreich als seinen Erzfeind. Als Höhepunkt der Feindschaft gilt der sogenannte ‚bretonische Brautraub‘, bei dem Maximilians per procuram geschlossene Ehe mit Anne de Bretagne unter dem politischen Druck Frankreichs gelöst wurde, bevor der französische König Karl VIII. selbst Anne ehelichte. Literatur und politischer Umbruch. 111 ergriffen, in der Realität wurde Maximilian, der mit den Landsknechten ein bedeutendes Söldnerheer schuf, jedoch auch als ‚Vater der Landsknechte‘ bezeichnet. 13 Der Weißkunig kann wiederum als Idealisierung eines überkommenen Kriegsdienstes und als Abkehr von den Landsknechten gelesen werden. Wird im Weißkunig die Tugendhaftigkeit zum Argument für fürstliche Souveränität und Ersatz für mangelnde militärische Stärke, ist es im autobiographischen Werk Zahiruddin Muhammad Baburs, dem sogenannten Baburnama, die Darstellung der Gelehrsamkeit, die Kampfkraft substituiert. Auch im Baburnama wird ein Erzfeind konstruiert - in diesem Fall handelt es sich um den Usbekenherrscher Shaybani Khan - der sich militärisch wiederholt als siegreich gegen Babur erweist. Jedoch sei Shaybani, so die Darstellung, ein ungebildeter Banause, der sich anmaße, berühmte Religionsgelehrte und Künstler seiner Zeit zu korrigieren (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 206). Da sich Babur in seiner Autobiographie selbst als einen universalgelehrten Herrscher beschreibt, kann er sich also zumindest in dieser Hinsicht als seinem stärksten militärischen Kontrahenten überragend zeigen. 14 Als intellektuell und militärisch überlegen inszeniert sich Babur gegenüber den Hindus, an denen er zudem scharfe zivilisatorische Kritik übt. 15 Babur bescheinigt ihnen außerdem, weder tapfer zu kämpfen noch strategisch klug zu agieren (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 303b). Vor der entscheidenden militärischen Schlacht gegen sie greift Babur in einer ermutigenden Rede auf religiöse Motive zurück. Er zielt damit darauf ab, das Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Truppe zu stärken und Zersetzungserscheinungen in seinen Reihen vorzubeugen, wie er selbst formuliert (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 314b). Zuvor, aber ebenfalls in diesem Zusammenhang, schwört Babur dem Alkohol ab und lässt öffentlich allen Wein ausgießen und die Trinkgefäße zerbrechen, um sich als Vorbild für seine Truppe darzustellen 13 Die spätere, populär gewordene Bezeichnung ‚letzter Ritter‘ von Anastasius Grün zeigt Maximilian jedoch ebenso als in den Rittertraditionen verhafteten Herrscher. 14 Babur gibt in seiner Autobiographie Kostproben seines Wissens in vielen Bereichen: allen voran der Literatur, des Weiteren der Geschichtsschreibung, der Religion, der Astronomie, der Geographie, der Musik, der Malerei und Kalligraphie, der Flora und Fauna usw. 15 Babur zeigt sich angetan vom Reichtum des Landes und von den Gewichts- und Längenmaßen Indiens, äußert sich aber ansonsten zumeist negativ: „Hindustan is a place of little charn. There is no beauty in its people, no graceful social intercourse, no poetic talent or understanding, no etiquette, nobility or manliness. The arts and crafts have no harmony or symmetry. There are no good horses, meat, grapes, melons or other fruit. There is no ice, cold water, good food or bread in the markets. There are no baths and no madrasas. There are no candles, torches, or candlesticks“ (Übers. von Thackston 1996: 350 [fol. 290b]). Kristina Rzehak (Münster) 112 (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 312). 16 Um Babur zu bekämpfen, greifen die Hindus auch auf Einzelaktionen zurück, die Babur als feige markiert, etwa einen Vergiftungsversuch (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 305b) oder einen nächtlichen Hinterhalt (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 371bf.), sie bleiben damit jedoch erfolglos. Babur und Maximilian definieren in ihren Texten deutlich, wer zum ‚Außen‘ ihres Herrschaftsbereiches gehört und liefern damit dem Rezipienten eine klare Orientierung über Freund und Feind. Waren sie den Außenstehenden militärisch nicht überlegen, substituieren sie die Darstellung ihrer Unterlegenheit durch die Schilderung ihrer Dominanz hinsichtlich der Tugend oder des Intellektes. Auf diese Weise erfährt die bei Koschorke angesprochene zweite regulative Fiktion, die Abgrenzung des Herrschaftsraumes nach außen hin, literarische Gestaltung. Innere Anfechtungen und die Steigerung der Sakralität Als Gefährdung, die ihm aus dem Inneren seiner Person erwächst, empfand Kaiser Maximilian die Spannung zwischen seiner Auffassung, ein göttlich Auserwählter zu sein, und der unglücklichen Sternenkonstellation, die seine Geburt begleitete (vgl. Hollegger 2005: 19). Im Weißkunig freilich deutet er letztere um: Dem Kometen, der bei der Geburt des jungen Weißkunigs erscheint, wenden sich alle Menschen freundlich zu, obwohl eine solche Himmelserscheinung normalerweise Schwermut bei den Leuten hervorruft. 17 Beide Herrscher inszenieren in ihrer Literatur ihren inneren Kampf gegen die Laster. Weißkunig erwirbt während der Zeit seiner Ausbildung die exklusive, dem Herrscher vorbehaltene Fähigkeit, sich zu mäßigen und „nach zugebung und erleidung der Zeit“ zu handeln (Der Weiß Kunig 1775: 66). Die (Kardinal-)Tugend der Mäßigung schützt ihn dabei vor emotional aufgeladenen Handlungen. Für seine Taten wählt er immer den richtigen Zeitpunkt - besser, als es ein menschliches Gemüt vermag - und er wird gar mit der Zeit gleichgesetzt: „Ich nenn vnd haiß den Jungen weißen kunig, in 16 Seinem Beispiel folgen annähernd 300 seiner Männer (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 312f.). Es ist daher möglich, dass Babur mit seinem Handeln nicht nur die religiöse Zusammengehörigkeit beschwören, sondern auch die militärische Schlagkraft seiner Truppe erhöhen wollte, die nüchtern kämpfen sollte. 17 Hinter der sich hier widerspiegelnden Auffassung, ein Komet könne Schwermut bei den Menschen hervorrufen, vermutet Tersch u.a. den einflussreichen Stich Albrecht Dürers, Melencolia I, der einen offenbar schwermütigen Mann zeigt, in dessen Hintergrund ein Komet niedergeht. Das Deutungsangebot des Stiches wollte der Gelehrte Treitzsaurwein, der mit der literarischen Formung des Weißkunig befasst war, offenbar jedoch ausschließen, um die vielmehr intendierte messianische Interpretation sicherzustellen (vgl. Tersch 1999: 69ff.). Literatur und politischer Umbruch. 113 seiner handlung nit ein mensch, sonnder Ich hais Ine die Zeit, Aus ursach Er hat gehandlt, das der Menschen gemuet ubertrifft, vnd sich der Zeit geleicht“ (Der Weiß Kunig 1775: 66). Im inneren Kampf zeigt sich Weißkunig also mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet, die ihn daran hindern, Impulsen nachzugeben. Durch die Gleichsetzung mit der Zeit wird er zudem als Kenner des Welten- und Heilsgangs der Geschichte ausgewiesen. Dies und die messianische Deutung seines Geburtsmoments präsentieren Weißkunig als mit göttlichen Attributen ausgestatteten Herrscher. Der innere Kampf, den Theuerdank ausficht, ist religiös aufgeladen und wird in der Erzählung zunächst als Ereignis in der Außenwelt dargestellt: Der Teufel setzt drei Hauptleute auf das Leben des Helden an, deren sprechende Namen Fürwittig (Übermut), Unfalo (Unfall, Missgeschick) und Neydelhart (Neid) auf ihren Charakter als Laster verweisen. Der Protagonist muss sich also nicht nur in den wörtlich beschriebenen „geverlicheiten“, also etwa Jagdabenteuern oder Unfällen mannigfaltiger Art, bewähren, sondern auch auf übertragener Ebene gegen die Widrigkeiten des Lebens kämpfen. In der Erzählung werden Laster verschiedener Art personifiziert, wie durch die Clavis, die Aufschlüsselung am Ende, angedeutet wird: Ist Fürwittig, die Neugier, der Person des Helden inhärent, so ist Unfalo, das Missgeschick, eher Repräsentant eines Gegenprinzips zur planvollen und vorbestimmten Schöpfung und ohne ontologischen Status bzw. ‚Sitz im Leben‘. Neydelhart, der Neid, stellt die von außen an Theuerdank herangetragene Missgunst dar. Die Überwindung dieser Laster und seelischen Fehlhaltungen geschieht durch einen langen, jedoch erfolgreichen Prozess aus äußeren Heldentaten, aber auch des inneren Erleidens all der Anschläge auf sein Leben, die er meist stoisch und ohne sichtbare Gemütsregung erträgt. 18 Die Verbindung von weltlichen Heldentaten und Seelenkampf findet ihre Inspiration sowohl in antiken (paganen) als auch christlichen literarischen Stoffen. Offenbar wird einerseits auf den Herkulesmythos rekurriert, der erzählt, wie der Held mit Hilfe der Tugend (Patientia) die ihm aufgebürdeten Arbeiten zu bewerkstelligen weiß (vgl. Müller 1982: 234ff.). 19 Andererseits wird auch die Verführung der Seele durch die Kräfte des Teufels thematisiert: 20 Die seinen Handlungen zugrunde liegenden ethisch-christlichen Tugenden weisen Theuerdank als Miles christianus aus (vgl. Strohschneider 1986: 380ff. und Wang 1975: 202). In der Figur des Miles christianus verbindet 18 Im Text wird dies eher spärlich kommentiert, z.B.: „Tewrdannck musts beschehen lassen“ (Theuerdank 1517: 99). 19 Zu den verschiedenen Anknüpfungspunkten, die Maximilian und seine Gelehrten in den Herkules-Geschichten fanden vgl. auch Braungart (1991). 20 Auch tritt zum Ende der Geschichte ein Engel auf, der den Helden in seiner Überlegung bestärkt, gemäß dem Willen der Königin auf einen Kreuzzug zu ziehen (vgl. Theuerdank 1517: 545ff.). Zur Nähe des antiken und christlichen Modells vgl. Braungart (1991: 80) und Wang (1975: 196ff.). Kristina Rzehak (Münster) 114 sich seit dem 12. Jahrhundert die Idee eines geistlichen und eines weltlichen Kriegsdienstes. Die Kämpfe, die der Miles christianus auszufechten hatte, waren demnach sowohl seelischer als auch weltlicher Natur. Hinter der Gestaltung des inneren Leidenswegs stehen wohl auch mystische Einflüsse, bei denen im eigenen Leben das Leiden Christi nachempfunden werden soll, das als Exempel des Leidens und Erduldens galt. 21 Einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Theuerdank dürfte die Vita Heinrich Seuses ausgeübt haben, die Maximilian zu den Besitztümern seiner Büchersammlung zählte. Heinrich Seuse stilisierte darin sein Leben als geistliche Ritterschaft auf einem dreigeteilten, mystischen Weg zur „Gleichförmigkeit mit Christus“ (Enders 2009: 76). Er bezeichnet sich selbst als ‚Diener‘ und weist der Tugend der Gelassenheit eine Schlüsselrolle für das Beschreiten dieses Weges zu (vgl. ebd.). Mit dem Erdulden und dem Martyrium in der Imitatio Christi empfand sich der Leidende als gottesnah. In der literarischen Selbstdarstellung wird diese Imitatio sichtbar gemacht. Babur stellt sich in seiner Autobiographie als Verfolger des Sufipfades dar, der auf diesem Weg gegen die Nafs, die Seele bzw. (im mystischen Verständnis) das niedere Selbst kämpft. Er setzt sich mit zahlreichen motivischen Anklängen zur literarischen Figur des Madschnuns, dem Liebhaber Leilas, parallel. In der Literatur des islamischen Kulturraums gelten beide als das berühmteste Liebespaar. Da Babur wohl vor allem die persische Bearbeitung des Erzählstoffes von Ilyas ibn Yusuf Nizami (1141-1209) geläufig gewesen sein dürfte - zumal sein Vater diesen Text ebenfalls zu seiner Lektüre zählte (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 7) - wird auch die mystische Einfärbung des Werkes Eindruck auf ihn gemacht haben: Durch die bewusste Parallelisierung des Protagonisten des Baburnama mit Madschnun, dem mystisch Liebenden in der Erzählung, stilisiert auch Babur sich zum mystisch Liebenden. 22 Den Anfangspunkt der Parallelsetzung markiert seine erste Hochzeit mit Ayischa Sultan Begim, an der er jedoch schnell das Interesse verliert. Gleich darauf verliebt er sich in den Basarjungen Baburi. Sein Klagen über dessen Gleichgültigkeit fasst er in selbst erdichtete Verse, die 21 Von Maximilian ist ein Ausspruch überliefert, dass niemand auf der Welt - außer Jesus Christus - so habe leiden müssen wie er (vgl. Wiesflecker 1986: 336). In seinen literarischen Werken sorgt der Kaiser ebenfalls dafür, dass ihn Anklänge an Jesus Christus in göttliche Nähe rücken. Im Weißkunig finden sich beispielsweise ikonographische Parallelsetzungen bei der Gestaltung der Holzschnitte (vgl. Dietl 2009: 39). Mystische Einflüsse allgemeiner Art auf Maximilian und seine Texte vermutet bereits Burger (vgl. 1963: 23f.). Dass der Kaiser der Mystik sehr zugetan war, ist auch an seinen Bemühungen um eine Übersetzung der Eingebungen der schwedischen Heiligen Birgitta abzulesen. 22 Eine Parallelsetzung von Madschnun und Babur vermutet auch Dale, führt seine Überlegungen aber nicht weiter aus (vgl. 2004: 108). Literatur und politischer Umbruch. 115 gleichzeitig den Beginn seiner poetischen Tätigkeit markieren. 23 In der persischen Erzählung setzt der Vater von Leila die Trennung der beiden Liebenden durch und verheiratet seine Tochter anderweitig. Aus unglücklicher Liebe verliert Madschnun daraufhin den Verstand und streift ruhelos durch die Wildnis. Anklänge an den vor Liebe Wahnsinnigen finden sich auch im Baburnama: Babur durchstreift in seiner Darstellung ebenso ruhelos Gärten und Wildnis und bezeichnet sich im Vers als verrückt vor Liebe. Dass die Liebe sowohl bei Madschnun als auch bei Babur mystisch gedacht ist, zeigt ihre körperliche Unerfülltheit: Als sich Madschnun und Leila wiedertreffen, um ihr Treuebündnis zu erneuern, flieht Madschnun unvermittelt. Dem entspricht Baburs Schilderung, dass er trotz seiner Zuneigung seine Ehefrau nicht häufiger als von der Mutter erzwungen aufsucht. Auch in Baburis Gegenwart zeigt er sich als unfähig, überhaupt nur in kommunikativen Kontakt mit ihm zu treten (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 75ff). Mystisch Liebende, Sufis, folgen im übertragenen Sinne einem Pfad, der sie bis zur Entwerdung bzw. Einswerdung mit dem Göttlichen führen soll. Auf der ersten Stufe des Sufipfades gilt es, sich von seinen Sünden und allem Weltlichen abzuwenden: 24 Babur bereut, obszöne Dichtung verfasst zu haben, die kein frommer Mensch dichten sollte, und distanziert sich von ihr. 25 Das Trinken von Alkohol verknüpft Babur in seiner Selbstdarstellung an vielen Stellen mit Schuldempfinden (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 189f.). 26 Seinem teils exzessiven Alkoholkonsum schwört er später ab, auch wenn er im weiteren Verlauf formuliert, welch große Schwierigkeiten ihm das bereite (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 359ff.). Diese beiden Selbstbefreiungen von Lastern finden in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Jihad statt, den Babur ge- 23 Der gleichzeitige Beginn der Dichtertätigkeit und der Verliebtheit ist ein Motiv aus Nizamis Fassung von Leila und Madschnun, das Leiden um der Liebe willen ist ein geläufiges Motiv mystischer Dichtung (vgl. Schimmel 1995: 199). 24 Über die Abfolge der verschiedenen Stufen und Zustände herrschen unterschiedliche Auffassungen. Als Hauptschritte werden jedoch immer Reue, Gottvertrauen und Armut angesehen, die den Gläubigen zu Zufriedenheit, den verschiedenen Graden der Liebe oder zur Erkenntnis führen sollen (vgl. Schimmel 1995: 151). 25 Diese Einsicht kommt ihm, als er den Mubin, ein Werk zum islamischen Recht, verfasst. Da er zur Auffassung gelangt, dass ‚Zunge und Gehirn‘ nicht zum Verfassen obszöner Dichtung geschaffen seien, bereut er sein Werk. Als ihn eine Krankheit ereilt, empfindet er sie als Strafe und führt sie auf seine sündhaften Verse zurück. Nach der Rezitation einiger Koranzeilen und dem Anflehen Gottes um Vergebung, ‚bricht er seine Schreibfeder gegen diese Art von Gedanken‘ und sieht diese Einsicht als gottgesandt an (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 253). 26 Nachdem Babur in der Phase seines Heranwachsens keinen Alkohol konsumiert und auch den Aufforderungen seines Vaters dazu widersteht, weil er ‚diese Sünde nicht begehen wolle‘, beginnt er später umso heftiger dem Wein zuzusprechen. Seinen vierzigsten Geburtstag bestimmt er sich dann selbst zum letzten Tag, an dem er Alkohol trinken möchte. Aus Angst vor diesem Termin betrinkt er sich jedoch vorher bis zum Exzess (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 249b). Kristina Rzehak (Münster) 116 gen die Hindus führen möchte. Mit dem inneren, religiös geprägten Kampf korrespondiert also auch ein äußerer Kampf gegen Andersgläubige. Im Islam spricht man auch vom kleinen Jihad als Kampf gegen Polytheisten und vom großen Jihad als Kampf gegen sich selbst (vgl. Ruthven 2000: 161). 27 Die Bewusstseinstufe der Reue als weitere Stufe des Sufipfades spiegelt sich also an Stellen, an denen Babur Schuldempfinden äußert, ausführlich wider. Die beiden anderen Hauptschritte des Sufipfades, Gottvertrauen und Armut, drücken sich möglicherweise in der Phase der Qazaqliq 28 aus, die Babur und seine Gefolgsleute durchleben. Babur beschreibt sie als eine Periode der absoluten Armut, der Niedergeschlagenheit und Machtlosigkeit. In der Lebenswirklichkeit hatte diese Phase wohl die Funktion einer Prüfung der Loyalität des Gefolges gegenüber dem Herrscher. In kritischen Situationen während dieser Phase wird bisweilen auf das Gottvertrauen verwiesen, auf das es zu bauen gelte (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 193ff.). Die Vorstellungen vom inneren Kampf, die sich in den Selbstzeugnissen widerspiegeln, haben miteinander gemein, dass ihnen eine Wegmetaphorik zugrunde liegt. Im Theuerdank will der böse Geist den Helden vom „rechten weg“ abbringen (Theuerdank 1517: 40). Auf allegorischer Ebene ist dieser Weg als Stufenweg zu Gott zu verstehen. Tatsächlich erscheint Theuerdank am Ende der Erzählung mit dem Engel ein Bote Gottes, der ihn darin bekräftigt, auf einen Kreuzzug gegen die Ungläubigen zu ziehen, erst dann solle die Ehe mit Ehrenreich vollzogen werden. 29 Diese Wegmetaphorik findet sich auch prominent im antiken Mythos von Herkules am Scheideweg. Wie Herkules wählt Theuerdank den langen und mühseligen Weg der Tugend. Auch die Sufis pflegen die Vorstellung eines Pfades, der über verschiedene Stationen und Zustände zur Vereinigung mit dem Göttlichen führt. 30 Zum Bedeutungsgehalt dieses Topos gehört auch, dass jeweils ein breiter Weg und ein schmaler Pfad existieren, von denen der schmale die schwierigere, aber zu erstrebende Variante darstellt. Die Gestaltung der Lebenserzählungen mit Hilfe dieser Metaphorik hat für die beiden Herrscher im vorliegenden Fall gewichtige Vorteile: Niederlagen und Phasen der Machtlosigkeit werden durch die literarischen Topoi als naturalisierte Elemente dargestellt. Die Heilsabsicht Gottes ist somit der 27 Die wörtliche Übersetzung von Jihad lautet ‚Anstrengung‘, ‚Mühe‘. Ein ‚Heiliger Krieg‘ in Form eines Kreuzzugs ist auch im Weißkunig und im Theuerdank konzeptionell angelegt, wurde jedoch nicht ausgeführt. 28 Der Begriff der Qazaqliq bezeichnet die Phase, die ein Herrscher vor der erfolgreichen Etablierung seiner Macht in einem Herrschaftsgebiet durchlebt. Zusammen mit seinen Gefolgsleuten lebt er in der Zeit zumeist von Räubereien und Plündereien. 29 Möglich, dass auch die in Aussicht gestellte Ehe hier allegorisch zu verstehen ist als Vereinigung der Seele mit dem Göttlichen, dem Ziel mystischen Strebens. 30 Generell ist die Wegmetaphorik für den Verlauf des Lebens ein in den Weltreligionen weit verbreitetes Motiv (vgl. Sudbrack 2006: 996f.). Literatur und politischer Umbruch. 117 Welt in ihrer Struktur inhärent, denn sie stellt durch diese Prüfungen die Möglichkeit einer Überwindung der Hindernisse und eine Annäherung an Gott, das Wegziel, bereit. 31 Der sinngebende Rahmen wird mit Hilfe von Erzählmustern gestaltet, die dem damaligen Rezipienten wohlbekannt gewesen sein dürften, da sie aus der zum Wissenshorizont gehörenden Literatur entstammten. Die Beschreibungen des gelungenen Seelenkampfs der Herrscher dienen der Betonung ihrer sakralen Aura. Als von Gott auserwählte und den Weg des Glaubens beschreitende Herrscher versuchten sie auf diese Weise, die Verbindung zu ihren Gefolgsleuten, von denen sie als besondere und hervorstechende Persönlichkeiten geachtet werden wollten, symbolisch aufzuladen und dadurch zu stärken. Gefährdungen durch das eigene Gefolge Generell wird die Verbindung zwischen den Protagonisten und ihrem Gefolge als prekär dargestellt. Immer wieder werden sie von ihren Gefolgsleuten in entscheidenden Situationen allein gelassen, ihnen werden Befehle verweigert oder sie werden verraten. 32 Die Herrscher-Alter Egos schreiben sich selbst daran keine Schuld zu; in den meisten Fällen wird allein das Gefolge als untreu oder feige dargestellt. Wirft man einen näheren Blick auf die Verbindung des Herrschers zu seinen Untergebenen, zeigen sich Unterschiede in Baburs und Maximilians Texten. Die Protagonisten in den Texten des deutschen Kaisers pflegen sehr einseitige Beziehungen zu ihren Gefolgsleuten. Zum einen fordern sie von ihnen bedingungslosen militärischen Gehorsam. Zum anderen versuchen sie, sich im Bereich des Wissens und der Fähigkeiten von ihnen unabhängig zu machen: So eignet sich Weißkunig während seiner Ausbildung das Wissen seiner Lehrer und Ausbilder an und erklärt, dass er das unter anderem deswegen tue, damit er sich mit seinem Wissen von ihnen frei machen könne. Ein Herrscher dürfe sich nämlich nicht von seinen Knechten abhängig 31 Folgt man der Herkules-Konzeption, sind es die Labores, die oft scheinbar unlösbaren Aufgaben, die der Held durch Mut, Tapferkeit und durch den unbändigen Willen zur Erfüllung dieser Prüfungen löst. Er befreit dadurch die Menschen vor Ungeheuern und trägt zur Befriedung der Welt bei (vgl. Braungart 1991: 78). 32 Als Babur das erste Mal seine Lieblingsstadt Samarkand erobert, ist sie in einem so schlechten Zustand, dass kaum Beute gemacht werden kann, mit der er seine Gefolgsleute hätte belohnen können. Daraufhin desertieren sie einer nach dem anderen, bis Babur Samarkand aufgeben muss (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 51ff.). Unter Maximilians Selbstzeugnissen ist es vor allem der Weißkunig, in dem sich das Verhältnis des Herrschers zu seinem Gefolge widerspiegelt. Der König wird wiederholt von seinen Hauptleuten verraten, die in den meisten Fällen vom Gegenspieler, dem blauen König, bestochen wurden (vgl. Der Weiß Kunig 1775: 174f.). Kristina Rzehak (Münster) 118 machen, da er dann von seinen Feinden überwunden werde, so lautet seine Begründung (vgl. Der Weiß Kunig 1775: 96). Während Weißkunig also den Gehorsam seines Kriegsvolks einzig kraft seines Herrscherdaseins erwartet, entwickeln sich die im Baburnama dargestellten Beziehungen zwischen Herrscher und Gefolge mit größer werdendem Reichtum Baburs in Richtung eines Tauschverhältnisses: Rangerhebungen, Geld, Geschenke und göttlicher Beistand, den Babur für die Leute auf seiner Seite ‚erwirkt‘, werden gegen Unterstützung im militärischen Kampf gehandelt. In diesem Austausch spiegelt sich, so meine These, die Idee des ‚Kreislaufs der Gerechtigkeit‘ wider, ein Konzept, das sich in den islamischen Fürstenspiegeln der Zeit häufig findet: Die Idee von Gerechtigkeit, die das Kreislauf-Konzept abbildet, besteht in der Prosperität, die die aufgezählten Teile der Gesellschaft erreichen soll und in der Stabilität der Regierung, die für den Herrscher von größter Bedeutung ist. Eine solche Stabilität dauerhaft einzurichten gelingt Babur allerdings erst am Ende seines Lebens, nach seiner Eroberung Hindustans, da er erst dann über nennenswerte materielle Ressourcen verfügt. Die Beschreibung des Kreislaufes ist in einer vierzeiligen und in einer achtzeiligen Version bekannt. Bei den Timuriden waren beide Versionen im Umlauf, sodass Babur beide gekannt haben wird (vgl. Darling 2002: 8). 33 Baburs gestiegenes Ansehen als Herrscher ist auch an der Zusammensetzung seines Gefolges abzulesen: Nach und nach treffen bedeutende Künstler oder Gelehrte, wie der Geschichtsschreiber Khwandamir, an seinem Hof ein (vgl. Bābur-Nāma 1995: fol. 339). Eine gleichzeitige Gefährdungswie Abhängigkeitsbeziehung unterhält Theuerdank zu den drei Hauptleuten Fürwittig, Unfalo und Neydelhart, die seine Reise zur Königin verhindern wollen. Während sie ihm fortwährend nach dem Leben trachten, benötigt er diese Anschläge jedoch sogar: Da zu Beginn des Textes ein möglicher Mangel an weltlicher Ehre erwähnt wird, der dem Helden noch anhafte (vgl. Theuerdank 1517: 56), versucht dieser, sich im Kampf gegen die Bösewichte zu bewähren, damit er sich als ausreichend ehrenvoll für eine Ehe mit Ehrenreich erweisen kann. Aus diesem 33 Die vierzeilige Version lautet in der englischen Übersetzung: „There can be no government without men, no men without money, no money without prosperity, and no prosperity without justice and good government“ (Übers. von Lewis 1974: 185). Sie ist so etwa bei Ibn Qutayba überliefert. Die achtzeilige Version aus dem Nasayih-i Iskandar, das für den Timuridenprinzen Baysunghur (1399-1434) angefertigt wurde, liest sich übersetzt wie folgt: „The world is a garden for the state to master. / The state is power supported by the law. / The law is policy administered by the king. / The king is a shepherd supported by the army. / The army are assistants provided for by taxation. / Taxation is sustenance gathered by subjects. / Subjects are slaves provided for by justice. / Justice is that by which the rectitude of the world subsists“ (Übers. von Lentz/ Lowry 1989: 12). Literatur und politischer Umbruch. 119 Grund wird das Erzählmuster der zahlreichen „geverlicheiten“, die der Held absolviert, so ausdauernd durchgehalten: Jedes weitere Abenteuer, das Theuerdank erfolgreich übersteht, ist gleichsam als ‚symbolisches Kapital‘, als gewonnene Ehre, zu betrachten. Geprägt wird die zweiseitige Beziehung zu den Hauptleuten durch unterschiedliche Konzepte von Schicksalsglauben: Während die Hauptleute an die unbeständige Fortuna glauben, der Theuerdank eines Tages zum Opfer fallen soll, vertraut der Protagonist auf Gottes Schutz und das von Gott gesandte Glück. Schließlich siegt der so beschützte Held über die widerständige Fortuna. 34 Der Triumph wird am Ende des Buches symbolisch auf einem Holzschnitt dargestellt: Zu sehen ist der Held, der in Siegerhaltung auf einem Kranz aus Schwertern steht, die als „Wechselfälle des Schicksals“ gedeutet werden können (Müller 1982: 129). Auch in Baburs Text wird eine solche gleichzeitige Gefährdungswie Abhängigkeitsbeziehung beschrieben: Es ist die des Herrschers zu seiner Familie. Koalitionen, die innerhalb der eigenen Sippe geschlossen werden, können auch als ‚wechselnde Bündnisse‘ klassifiziert werden: Teilweise führt Babur gegen die eigenen Familienmitglieder Krieg, teils verbündet er sich mit ihnen, wobei sich diese Konstellationen stets auch wieder ändern können. 35 Das extrem fragile timuridische Loyalitätsgebilde ‚Familie‘ liegt in der Hochzeitspolitik begründet, in der es üblich war, kulturell völlig unterschiedliche und auch verfeindete Clans miteinander zu verknüpfen. Da ein Herrscher oft mehrere Ehefrauen hatte, vervielfachten sich solche Heiratsverbindungen zudem. Dementsprechend war zwar ein Bewusstsein für innerfamiliäre Loyalitätsverpflichtungen vorhanden - Babur pocht wiederholt darauf, Beistand aus der eigenen Familie bekommen zu müssen - ihnen wurde jedoch nicht immer nachgekommen. Weißkunig und Baburnama als Beispiele einer Literatur gelenkter Herrscher Die drei regulativen Fiktionen, die Koschorke als Basis von sozialer Ordnung bezeichnet hat, ähneln sich in ihrer Ausgestaltung in den Selbstzeugnissen der beiden betrachteten Herrscher - mit Unterschieden im Detail. Während der Gründungsmythos der Herrschaft in den Texten keine bedeu- 34 Schon im Freydal wird angekündigt, dass Theuerdank stets „von got so genedigclich behutt vnd genesen sye“ (Freydal 1880-82: XV). 35 Das prägnanteste Beispiel ist wohl Baburs Verhältnis zu dem Stamm der ‚Mongolen‘, wie er sie zusammenfassend bezeichnet. Mit ihnen ist er mütterlicherseits verwandt, hegt aber, wie sich im Text widerspiegelt, großes Misstrauen gegen sie. Tatsächlich scheint die Loyalität, die sie ihm entgegenbringen, sehr brüchig gewesen zu sein und stets von aktuellen politischen Konstellationen abhängig (vgl. u.a. Bābur-Nāma 1995: fol. 64b). Kristina Rzehak (Münster) 120 tende Rolle spielt - wohl, weil die Dynastien schon auf eine Etablierung zurückblicken, die längere Zeit zurückliegt - legen beide Herrscher großen Wert auf die Konstruktion von Feindbildern, also das ‚Außen‘ ihrer Herrschaft. Vor allem der blaue König im Weißkunig und Shaybani Khan im Baburnama werden als Erzfeinde der Protagonisten eingeführt. Während militärische Niederlagen gegen diese Feinde hingenommen werden müssen, wird in den Texten jedoch vor allem die eigene Überlegenheit im Bereich der Tugend und Gelehrsamkeit betont und dem Manko militärischer Unterlegenheit entgegengesetzt. Die Feinde werden gleichzeitig als untugendhaft oder ungebildet diskreditiert. Die größte Sorgfalt verwenden die beiden Herrscher in ihren Texten auf die Ausgestaltung der Beziehung zu ihren Gefolgsleuten, wohl kalkulierend, dass einige auch zu den Rezipienten ihrer Texte gehören werden. Durch Illoyalität und Verrat - so die literarische Darstellung - geraten die Herrscher-Alter Egos ständig in Gefahr. Um das Gefolge besser und dauerhafter an die Person des Herrschers zu binden, kreieren sie eine sakrale Aura, die sie als göttlich erwählt und mit Gottes Beistand ausgestattet ausweist. Gleichzeitig stellen sie sich als leidende, im inneren Kampf gegen die Laster verwickelte mystisch Gläubige dar, die die ihnen widerfahrenden Widrigkeiten tapfer ertragen. Auf diese Weise gelingt ihnen zweierlei: Gottes Beistand weist sie als herausragende Persönlichkeiten aus, eine eher traditionelle Art, um sich als bedeutende Herrscher darzustellen. Zugleich dient ihnen die geistliche Kämpferschaft, in deren Dienst sie sich stellen, als Sinnstiftung, um die Gefährdungen, die ihrer Herrschaft drohen, als Bewährungsproben auf dem Weg zur Einswerdung mit dem Göttlichen zu deuten. Neben dieser zweifachen Sakralisierung setzt Babur zumindest zum Ende seiner Herrschaft hin zusätzliche symbolische und materielle Mittel ein, um sein Gefolge zur Loyalität zu bewegen: eine Methode, die sich in den Maximilianischen Texten kaum widerspiegelt - zumindest, was den Einsatz durch die Maximilian-Alter Egos angeht. Die Protagonisten der Habsburgischen Texte erwarten volle Loyalität kraft ihres Herrscherdaseins. Die materiellen Beschränkungen, denen der Kaiser in der historischen Realität unterlag, finden auch in seinen Texten Erwähnung. 36 Somit stehen die dichtenden Machthaber weniger in ihrer Rolle als Lenker, denn vielmehr als von Gefahren und Abhängigkeiten ‚gelenkte Herr- 36 Die Freigebigkeit des Kaisers wird im Weißkunig im Kapitel zur „miltigkait“ als Tugend dargestellt, da er das Geld stets für das Kriegsvolk und auf die „kunfftige gedaͤ chtnus“ verwendet habe und so nicht - wie andere Herrscher - der Gefahr von „hoffart“ unterliegen könne (vgl. Der Weiß Kunig 1775: 73). Was die Situation in der historischen Realität angeht, so schränkten Kaiser Maximilian seine fehlenden finanziellen Möglichkeiten und seine Verschwendungssucht in seinem Handeln ein: so musste er sich fortwährend bei den Fuggern Geld leihen und wurde zeitweise gar „Augsburger Bürgermeister“ genannt, weil er deswegen so oft diese Stadt besuchte. Literatur und politischer Umbruch. 121 scher‘ im Vordergrund. In ihrer Literatur stellen sie dieses Gelenktwerden jedoch in neue Sinnzusammenhänge. Militärische Unterlegenheit wird durch Tugendhaftigkeit und Gelehrsamkeit wettgemacht, äußere wie innere Anfechtungen werden umgedeutet in einen Kampf gegen die Laster, werden also als religiöse Bewährungsproben präsentiert. Die prekäre Verbindung zu ihrem Gefolge soll durch symbolische Aufladung des Herrscheramtes wieder gestärkt werden. Auf diese Weise werden in der literarischen Darstellung aus den in der Realität Gelenkten doch wieder Lenker der Rezeption der Nachwelt. Der angestellte Vergleich zeigt, dass Herrscher aus weit auseinander liegenden Kulturräumen mit ähnlichen Strategien ihr Bild für die Nachwelt prägen. Dabei geht es ihnen stets auch darum, die regulativen Fiktionen, auf denen ihre Herrschaft beruht, und die sich aufgrund ihres fiktionalen Status als angreifbar ausweisen, in ihren Selbstzeugnissen so zu modellieren, dass neue Sinnzusammenhänge die Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit des aktuellen Herrschers belegen und prekäre Situationen umgedeutet werden können. Die komparatistische Textanalyse deckt die Universalität dieser Verfahrensweise auf, zu deren Voraussetzungen jedoch die hohe Bedeutung der Literatur für die herrschende Elite im jeweiligen Kulturraum zählt. Kristina Rzehak (Münster) 122 Literaturverzeichnis Appuhn, Horst (Hg.): Kaiser Maximilian I. Theuerdank. 1517. Mit einem Nachwort von Horst Appuhn. Dortmund 1979. Aubin, Jean: Le mécénat timouride à Chiraz. In: Studia Islamica 8 (1957), S. 71-88. 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Wiesflecker, Hermann: Kaiser Maximilians I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit. 5 Bde. Wien. München 1971-86. Florent Gabaude (Limoges) Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig zur Verhöfischung des Theaters und zur Sozialdisziplinierung Der gelehrte und musisch veranlagte protestantische Fürst Heinrich Julius, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg und Bischof von Halberstadt, ist als wichtige politische Persönlichkeit seiner Zeit aufgetreten und hat dabei ein von zeitgenössischen Lesern geschätztes Dramenwerk hinterlassen. Am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit stehend (vgl. Werner 1976), gilt diesem anspruchsvollen Werk das ungebrochene Interesse der Forschung. Mit seiner Komödie Vincentius Ladislaus ist der Herzog als Wegbereiter des barocken Lustspieles gelobt worden. Zusammen mit seinem Vater Julius gilt Heinrich Julius unter den Historikern als Pionier in der Ausgestaltung neuer, frühabsolutistischer Herrschaftsformen (vgl. Lippelt 2008). Es ist naheliegend, das literarische und politische Wirken des Monarchen aufeinander zu beziehen und deren Wechselwirkungen transparent zu machen. In der Forschung wird oft auf die Ambivalenz dieses zwischen Modernität und Rückwärtsgewandtheit schwankenden Fürsten hingewiesen (vgl. Friedenthal 1996). Einerseits setzt er sich nachgerade voraufklärerisch für die Verrechtlichung und Modernisierung des Stadtregiments ein, andererseits gehört er mit seinem Teufelsglauben und der Verfolgung von Juden und Hexen 1 unter seiner Herrschaft noch ganz dem Spätmittelalter an: Am Wolfenbütteler Gerichtshof soll die Folter in den Hexenprozessen am Strengsten angewandt worden sein. 2 Dieser Widerspruch lässt sich auch im dramatischen Werk nachvollziehen, und zwar am deutlichsten in den ersten Stücken, in denen der Teufel eine entscheidende Rolle spielt, so in Der Fleischhawer und in den drei Gastwirtsspielen. Insbesondere die stoffliche Nähe dieser Gewerbedramen - eine Gattung, auf die ich noch eingehen werde - zu den ordnungspolitischen Maßnahmen des Fürsten wirft die Frage nach der Funktion solcher Literatur auf. 1 Edikt, worin den Juden das Fürstenthumb verbotten wirdet, am 28. Junij Anno 1591; Edikt vom 6. Januarij 1593. 2 Allerdings ging dabei Heinrich Julius, wie die jüngste Forschung gezeigt hat, nicht so hart vor wie die damaligen deutschen katholischen Bischöfe. Vgl. Lehrmann 2005. Florent Gabaude (Limoges) 126 In der älteren Forschung wird die literarische Tätigkeit dieses Staatsmanns als ‚Mittel zum Zweck‘ ausgelegt: Heinrich Julius habe eher zur Erreichung gesellschaftlich-politischer Ziele denn aus „innerem Bedürfnis“ geschrieben, so Christian Emmrich in seiner Habilitationsschrift von 1964, die Wilhelm Pfützenreuters Worte aus dem Jahre 1936 wiederholt: „Das Dichten ist ihm Aufgabe, nicht so sehr Bedürfnis“ (Pfützenreuter 1936: 54). Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Beziehung von Politik und Muse bei Heinrich Julius bei genauerem Hinsehen vielschichtiger ist, als man es vermuten könnte. Trotz des Überlappens von künstlerischer Praxis und Herrschertätigkeit darf die Eigengesetzlichkeit des literarischen Schaffens nicht verkannt werden. Zunächst möchte ich den sozialgeschichtlichen Hintergrund der Theaterproduktion von Heinrich Julius kurz skizzieren, bevor ich auf die genannten Stücke eingehe und ihre mehrfache Funktion erörtere. Dichter und Lenker: das Theater als Herrschaftsanspruch „Nur von einer Bühne aus kann Absolutismus seine politische Wirkung erfüllen“, bemerkt der Philosoph Rudolf zur Lippe (1986: 142). Diese Behauptung setzte offenbar Heinrich Julius frühzeitig in konkrete Wirklichkeit um. Denn das Interesse für das Theater entsprach seiner persönlichen Neigung. 3 Als Schüler hatte er sich bereits an Aufführungen beteiligt, was allerdings damals bei Prinzen durchaus üblich war, zumal das Theater als die Schule des Hofes betrachtet wurde. Wie später Ludwig XIV., neigte er zu prachtvoller, aber auch komödiantischer Selbstinszenierung. Anlässlich seiner ersten Hochzeit nahm er an zwei allegorischen Aufzügen teil: als König Heinrich der Löwe auf einem Triumphwagen und als Diana im darauf folgenden Jagdzug. Seine zweite Gemahlin heiratete Heinrich Julius in Kopenhagen. Bei seiner ersten Begegnung mit der zukünftigen Ehegattin verkleidete er sich als Krämer, als Juwelenverkäufer, ein anderes Mal als Bauer. Heinrich Julius wies einen ausgeprägten Hang zur Verschleierung auch in seinem gedruckten literarischen Werk auf: Seine Dramen erschienen unter Pseudonym. In Kopenhagen lernte er die sogenannten englischen Komödianten kennen, die er dann ab 1592 zu sich nach Wolfenbüttel rief. Das Engagement dieser Schauspielertruppen, die ab 1595 ständig in Wolfenbüttel gastierten, belebte die Theaterkultur der Residenzstadt. Die dem Hof eigene Theatralik stimmte mit der Theaterleidenschaft des Prinzen überein. Sie trug zum Aufblühen dieser Kunstrichtung am Wolfenbütteler Hof deutlich bei, nicht zuletzt dank der eigenen Dramenproduktion des Herzogs, die wiederum von den Engländern unmittelbar angeregt wurde (vgl. Haekel 3 Zur Biographie von Heinrich Julius vgl. Witte 1991, Lietzmann 1993, Friedenthal 1996, Blume 2012. Ferner: Spehr 1880, Eckhardt 1969. Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 127 2004: 141-145). Heinrich Julius’ dramatische Schaffenszeit fiel nicht von ungefähr mit dem Zeitraum überein, in dem die Engländer am Wolfenbütteler Hof gastierten. Heinrich Julius griff auf alle Mittel der modernen Mediatisierung von Macht zurück: das Theater, aber auch die Presse, die Hoffeste und die eifrige und repräsentative Bautätigkeit - auf alle kommunikativen und künstlerischen Mittel also, die die absolutistische Zurschaustellung der Macht unterstützen. Die Reputation ist, so Niklas Luhmann, „Teil des Staates (status) eines Fürsten“ (Luhmann 2002: 276). Die Fürsten entdeckten dabei die Wirkung von Zeitungen, die sie fortan nutzten, nicht zuletzt indem sie selbst welche gründeten. Es ist kaum verwunderlich, dass die erste regelmäßig erscheinende deutsche Zeitung, der Aviso, ab 1609 in Wolfenbüttel erschien. Julius setzte die Medien entschieden nicht nur als diplomatische Waffe, sondern auch als Mittel politischer Propaganda ein (Lietzmann 1993: 16). Das rege Hofleben zog Künstler nach Wolfenbüttel, und Heinrich Julius avancierte zum Kunstmäzen. Im Aufbau eines Hofstaates stand zu dieser Zeit die fürstliche Repräsentation im Vordergrund: „Leben wurde zur Darstellung von Leben; Präsenz zur Repräsentanz; der Ort der Residenz zur Szene, die die Welt bedeutet“ (R. zu Lippe 1986: 142). Was hier vorherrschte, war eine vorbarocke Lebensauffassung, der zufolge der Mensch die ihm von Gott zugewiesene Rolle zu spielen hatte. Die Hofbediensteten aus dem höfischen Stand machen sich etwa in Heinrich Julius’ Hofspiel Vincentius Ladislaus über das Unvermögen des Titelhelden lustig, die eigene Rolle als solche zu erkennen. In allen Bereichen der Kunst fiel die Kompetenz des Königs auf, Neuerungen zu integrieren. Das Theater wie die Architektur oder die Medaillenkunst des Herzogtums waren gekennzeichnet durch großzügigen Transfer und Nachahmung ausländischer Muster - seine Medaillen etwa sind eine direkte Übernahme der Emblemata des Joachim Camerarius (vgl. Stemper 1955). Mit seinen eigenen Stücken trug Heinrich Julius zum Beispiel zur Einführung von Prosadialogen und der komischen Figur des Clowns bei. Heinrich Julius darf als Prototyp späterer absolutistischer Herrscher angesehen werden. Alleinherrschaft ging für ihn mit dem Anspruch auf Herrschaft in allen Bereichen einher. Nach den Aussagen seiner Umgebung soll der Herzog manche konventionelle oder gar ausgefallene Fertigkeiten wie das Reiten oder das der ars venandi zugehörige Zerlegen von Wild ebenso souverän gemeistert haben, wie er auch die Staatsgewalt souverän ausübte. Dabei war die Versuchung naheliegend, diese Souveränität auf das Gebiet der Kunst auszudehnen, und zwar nicht nur im Sinne einer Regelung und Beaufsichtigung der literarischen und künstlerischen Produktion oder durch Mäzenatentum, sondern als Selbstbetätigung im poetischen Bereich. Auf der Ebene der theatralischen Produktion war Heinrich Julius gewissermaßen sein eigener Auftraggeber. Florent Gabaude (Limoges) 128 Die Frage ist nun: Was erwartete der Herzog von seiner unmittelbaren Beteiligung am Literaturbetrieb? Verfolgte er eher staatserzieherische Ziele statt Repräsentation, wie die Forschung einstimmig behauptet? Setzte er sein literarisches Talent zur Bewusstseins- und Meinungsbildung ein? War sein literarisches Schaffen nur Instrument praktischer Zwecke oder diente es nicht eher der Selbstrepräsentation, der Selbstprofilierung und dem inneren Zwang, sich als Herrscher mit den besten Literaten seiner Zeit zu messen und sich als talentierter Dramatiker hervorzutun? Literarische Verarbeitung und Überzeichnung der sozialen Realität Besprechen möchte ich hier in erster Linie weniger bekannte und in der Forschung kaum behandelte Stücke, die von Arthur Knight als „Gewerbedramen“ (1937: 112) bezeichnet werden: das zu Heinrich Julius’ Lebzeiten unveröffentlichte Spiel Der Fleischhawer und die drei verwandten Wirtsspiele - d. h. die ungedruckte Erstfassung und die beiden daraus hervorgegangenen Stücke, die Komödie Von einem Wirthe und die Tragikomödie Von einem Wirthe oder Gastgeber, die beide in die Stuttgarter Sammlung von 1594 aufgenommen wurden. Das Stück Der Fleischhawer ließ Herzog Heinrich Julius ungedruckt, weil - so Wilhelm Ludwig Holland, der Herausgeber der Schauspiele - dieses Stück ihn wohl nicht befriedigt habe (vgl. Heinrich Julius 1855: 906). Entstanden ist das Stück wohl um 1592 und es gehört zu den ersten, die der Autor verfasste. Es handelt sich wohl um das zweite (laut Brüggemann 1926) oder das dritte (laut Pfützenreuter 1936) (nach der ersten Version der Susanna und dem Pamphilus, einem Ehebruchsdrama) der insgesamt zwölf Stücke, die er in den frühen 1590er Jahren verfasste und 1593 und 1594 veröffentlichte. Der Fleischhawer geht teilweise aus mundartlichen Zwischenszenen seiner Tragikomödie Susanna, seinem Erstlingsdrama nach der Adaption von Nicodemus Frischlin, hervor. Die Wahl eines solch ausgefallenen Themas ist in der Forschung auf die tagespolitische Beschäftigung des Herzogs mit Verordnungen zur Regelung des städtischen Gewerbes zurückgeführt worden (vgl. Brauneck 1967). Aber für die Themenwahl mag genauso eine rein biographische Ursache in Frage kommen: Wie schon erwähnt, soll der leidenschaftliche Jäger auch im Entbästen 4 gewandt gewesen sein, was seine genaue Kenntnis des Stoffes erklärt. Der Plot des Dramas um einen betrügerischen Fleischer ist äußerst reduziert. Im Eingangsmonolog beruft sich der Held Matz auf seinen früheren Meister, der sich auf Kosten der betrogenen Kunden sehr schnell bereichert hat, und er erzählt, wie er seinem Beispiel rasch gefolgt ist. Der gerade an- 4 Eine Form des Aufbrechens und Zerlegens von erlegtem Wild. Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 129 gekommene Fleischer besticht den Großvogt und den Marktmeister der Stadt, in der er sich niederlassen möchte, um ungestraft seine Kundschaft betrügen zu können. In mehreren Szenen am Rande der Haupthandlung lebt der einst verbreitete Topos von der zornigen streitsüchtigen Bauernschaft wieder auf. Die Bauern werden vom Metzger dreist übervorteilt. Als sie sich beim Großvogt beschweren, werden sie rücksichtslos abgewiesen. Der Metzger gerät schließlich dadurch in die Enge, dass er auch den Knecht des Großvogts zu betrügen versucht und dabei entlarvt wird. Seine Ware wird beschlagnahmt, sein ganzes Hab und Gut eingezogen und jede weitere Verkaufstätigkeit fortan untersagt. Im vierten Akt schließt der verarmte Metzger einen Pakt mit dem Teufel und wird mit dessen Hilfe zum Viehräuber. Im letzten Akt wird er unbußfertig hingerichtet. Die mitverantwortlichen Stadtverwalter werden ihrerseits von Gewissensqualen geplagt und sterben einen raschen und gewaltsamen Tod. Im vierten und fünften Akt sind Anklänge an die Faustthematik zu erkennen. Allerdings verschreibt sich hier ein Mensch aus reiner Geldgier dem Teufel - und nicht etwa aus hehrer curiositas. Nach der gängigen Auslegung des Stückes sollen hier in erster Linie unredliche Händler und Stadtverwalter an den Pranger gestellt werden. Implizit wird für eine Straffung der Vorschriften und der Kontrolle ihrer Ausübung plädiert, ganz im Geiste der vom Herzog eigens erstellten Verordnungen. Es liegt mir nicht daran, diesen Aspekt zu bestreiten, nur soll dessen Bedeutung hier relativiert werden. Einem orthodox marxistischen Ökonomismus folgend, betont Christian Emmrich die wirtschaftspolitische Motivierung dieser Stücke: „Die Gewerbedramen kritisieren Missstände, die sich auf den Binnenhandel und das Entstehen des inneren Marktes schädlich auswirken“ (Emmerich 1964: 313). Schon Heinrich Julius’ Vater, Herzog Julius, betrieb eine merkantilistische Politik, forcierte die Zentralisierung der Verwaltung und bewirkte die Einheit seines Staates, nicht zuletzt auf der wirtschaftlichen Ebene: Zum Wohlergehen der gesamten Bevölkerung müssen die eigenen Gesetze und Privilegien der Korporationen (Städte, Gilden, Kirchen) abgebaut, Egoismen bekämpft werden. Die erstrebte Entmachtung der Städte und Stände vollzog sich nicht konfliktfrei, was etwa der Streit mit der Stadt Braunschweig und deren Besetzung durch die Truppen des Herzogs zeigt. Der mittelalterliche Ständestaat wurde zum modernen Fürstenstaat ausgebaut, der seine Souveränität auf weite Gebiete zu erstrecken suchte. Das an der 1576 gegründeten juristischen Universität Helmstedt gelehrte gemeine Kaiserrecht löste die auf dem Prinzip des Gewohnheitsrechts beruhenden Rechtsnormen ab; die neuen Fürstlichen Hofgerichte schränkten die Gerichtshoheit der Städte ein (Merkel 1904). Luhmann definiert eine solche Form der „Polizey“ wie folgt: eine „Regelungstätigkeit in bisher rechtlich nicht erfassten Bereichen, in bisher rechtsfreie Räume; Gesetzgebungskompetenz auch in kirchlichen Florent Gabaude (Limoges) 130 Angelegenheiten Souveränität heißt jetzt die Einheit der Staatsgewalt auf einem eindeutig begrenzten Territorium“ (Luhmann 2002: 339). Heinrich Julius pocht auf eine rechtmäßige Herrschaft, lauten doch seine beiden Devisen: Pro patria consumor (sich für das Vaterland verzehrend) und Honestum pro patria (rechtschaffen für das Vaterland). Seine Aufgabe sieht der Herzog darin, nach Innen sowie nach Außen für Frieden und öffentliche Ordnung zu sorgen, was ihn seiner Ansicht nach dazu berechtigt, immense Summen für Kriegsmittel einzutreiben und mit seinen „Polizeyen“ ins Stadtmanagement einzugreifen. Wie aus dem Fleischawer ersichtlich wird, gibt sich Heinrich Julius gerne als barmherzigen Landesvater aus, der ein Ohr für die armen Leute hat. So gelangt der Marckmeister zu der Einsicht, er solle den betrügerischen Metzger betrafen: „jch will es aber verrichten, [sagt er], were es vorlengst geschehen, so hetten wir vnsere gewißen so nicht beschwert vnd were auch so manch arm Man nicht betrogen worden“ (Heinrich Julius 1855: 775f.). Der Herzog will gerecht und mächtig über seine Untertanen herrschen. Von diesen wird in den einleitenden Worten zu den 1602 in der Residenzstadt Heinrichsstadt, später Wolfenbüttel, veröffentlichten Fürstlichen Privilegia gefordert, sie sollten sich auch gegenüber den Erben und Nachkommen des Fürsten stets treu und gehorsam erweisen. Im Frühabsolutismus, wie Heinrich Julius ihn verkörpert, fällt der Staatsbegriff mit der „Domäne“ des Fürsten in eins: Familienhaushalt, Territorialstaat und Person des Herrschers sind weitgehend identisch (Bourdieu 2012: 310f.). Erst in der späteren Entwicklung der Staatssemantik sondert sich der Staat von seinem Oberhaupt ab, der sich für den „ersten Diener des Staates“ ausgeben kann. Indes löst die neue Rechtsordnung, die der Herzog einführen will, die alten ständischen oder republikanischen Hierarchien ab. Ein literarisches Indiz dafür liefert in der Tat Julius‘ Fassung der Susanna: Hier sind es keine Ratsherren oder Ratsältesten, die als Schiedsrichter das letzte Wort haben, wie noch bei Paul Rebhun. Der Richter als Vertreter der Staatsgewalt übt die oberste Autorität aus. Konkurrierende Kräfte werden ausgeschaltet. Der Eingangsmonolog des Fleischhawer ist eine scharfe Satire auf den blühenden Kaufmannsstand, der sich sowohl beim Volk als auch am Hof Neider schafft. Im Prozess der Refeudalisierung zielt die Satire wieder auf das Bürgertum. Stadt und Hof streiten um die Herrschaft, was sogar bis zum Krieg gegen Braunschweig führt. Auch in dem Ehebruchspiel Von einem Weibe ist der betrogene und lächerliche Ehemann Thomas ein Kaufmann. Dagegen wird das Bauernvolk von Heinrich Julius im Vergleich zu seiner Darstellung in bürgerlichen Dramen rehabilitiert. Durch den wohlwollenden und realistischen Einsatz der Mundart erscheinen die Bauern weniger typenhaft als in den Reformationsdramen, wo sie das schlechthin Andere und das Böse verkörpern, selbst wenn Heinrich Julius auch Stereotypen verarbeitet. Im frühabsolutistischen Machtkampf will der Despot das niedere Volk, die einfachen Leute und die Bauern, auf seine Seite gegen die mächtigen Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 131 Stadtbürger ziehen. Auffallend ist dabei die realistische Bauernzeichnung: Letztere treten nicht mehr als tölpelhafte Grobiane wie noch bei Hans Sachs auf. Über die Nähe zum Bauernvolk notiert schon Pfützenreuter (1936: 64): „Die Lebendigkeit der Dialektszenen wird der Herzog geschöpft haben aus den Gesprächen der sich unterhaltenden Bauern auf seinen Gütern“. Rudolf Vierhaus (1986: 122) betont, dass im Frühabsolutismus „das Leben am Hofe nicht so scharf von dem der übrigen Bevölkerung getrennt wie später“ gewesen sei. Im 16. Jahrhundert spielten sich die Kräfte des Adels bzw. des Hofes und des Bürgertums gegeneinander aus bis zum Triumph der feudalen Reaktion. Bei Hans Sachs werden der räuberische Landadel und der Bauernstand, die Hofnarren, der Klerus, selbst Könige verhöhnt; bei Heinrich Julius dagegen sind es die Kaufleute und die bürgerlichen Richter. Der Hofnarr wird zur klugen Person, zum Sprachrohr des Autors erkoren. Nur der falsche, weil ungewollte Narr gehört zu den verlachten Figuren (vgl. Meise 2009). Manfred Brauneck behauptete 1967 im Nachwort zur Reclam-Ausgabe der Komödie Von einem Weibe allzu kategorisch: „Der Zusammenhang von realpolitischer Maßnahme, pädagogischer Absicht und der Funktion des Theaters erscheint eindeutig“ (Brauneck 1967: 120). So eindeutig ist die didaktische Funktion des Stückes gerade nicht, steht doch wie bei den englischen Komödianten, die dem Autor als Muster gelten, das Amüsement des Höfischen im Vordergrund. Brauneck fügt gleich hinzu: „in dem Stück Der Fleischawer lassen sich eine Reihe wörtlicher Übereinstimmungen mit der entsprechenden Constitutio nachweisen“ (ebd.). Sieht man sich diese Privilegien näher an (vgl. Appendix), so lässt sich feststellen, dass den meisten handwerklichen Berufen nur eine halbe Seite gewidmet wird, etwa den Schustern, Schneidern oder Schmieden, wohingegen der Wagemeister eine ganze Seite verdient. Eine noch größere Aufmerksamkeit widmet der Herzog dem Bäcker und vor allem dem Fleischhauer, weil diese Handwerker Grundnahrungsmittel herstellen bzw. vertreiben. Festzustellen ist indessen, dass sich der Schauspieltext nur vage an die Fleischverordnungen anlehnt. Die juristische Amtssprache, die Kanzleisprache wird gegen Alltags- und Volkssprache eingetauscht; statt juristischer Floskeln schmücken volkstümliche Redensarten und Sprichwörter die Dialoge. Heinrich Julius beweist seine Gewandtheit im Umgang mit allen Sprachebenen und respektiert durchaus die textsortenspezifischen Merkmale. Von den aufgelisteten Verstößen werden ein paar herausgenommen: das Fälschen der Ware, das falsche Gewicht und das Aufblasen des Fleisches. Die Verstöße werden grob überzeichnet, entstellt, karikiert. Das Verbot etwa der Fleischvermischung wird auf die Vermischung von männlichem und weiblichem Tierfleisch reduziert, was Anlass zu grotesker Übertreibung und zu sexuell konnotierten witzigen Einfällen um die männlichen Geschlechtsteile der Tiere (Hein- Florent Gabaude (Limoges) 132 rich Julius 1855: 772) und die Zitzen gibt, die am vermeintlichen Rinderstück noch daran hängen: Fester Junker, ich hette auch wol eine Klage, wen jrs horen wollet, der bube der fleischer hatt mich och so schandlos betrogen, den er hatt mir Kuflischs vor Rindflischs verkaufft vnd jch habe es jhm deur zalen mußen als Ichs jn die schencke bracht vnd wollte es zurichten da saßen die titten noch daran, vnd er wuchs mir vor 14 U. zu als jchs aber nachwug wuchs nhur 7 vnd habees jhm gleicherwol vor 14 U. bezahlen mußen, vnd das ist jo gar ein vmbillich Ding drumb bitte jch euch jhr wollet ihn straffen und dafur halten, das er mir mein gelt moge wieder geben vmb welches er mich betrogen hatt. (ebd.: 767f.). Das Aufblasen des Fleisches wird wohl deshalb so ausdrücklich und insistierend genannt, weil es in ein Wortspiel mündet: „Ey so mochte er eben so mehr jn den hindern blaßen, datt sie gott schendt alle losen betriger“ (ebd.: 759) Festzuhalten bleibt, dass Heinrich Julius das Fleischbankmotiv im Grunde durchaus als Komödienstoff behandelt: Im Vordergrund der Marktszene stehen Überlistung, Bauernzank, Zoten und Wortspiele. Es hieße wohl, die Spezifizität des Theaters verneinen, wollte man diese heitere Komponente herunterspielen. Richter und Henker: literarische Vorbilder der Teufelsbesessenheit Heinrich Julius hätte es dabei belassen können und den komischen Strafen des Fleischhauers nichts mehr hinzuzufügen brauchen. Dann wären aber die bestechlichen Stadtverwalter glimpflich davongekommen. Deren Bestrafung durch Einwirkung des Teufels und der göttlichen Justiz wurde aber sehr künstlich herbeigeführt, wie es der Autor wohl selbst eingesehen hat. Wenn eine didaktische Intention zu unterstellen ist, dann betrifft sie nämlich nur am Rande das niedere Volk der Käufer oder die verpönten Händler, die ohnehin nicht zum Stammpublikum der Stücke gehören. Der wahre Adressat der politischen Botschaft des Stückes sind vielmehr der Hofstaat und die Beamten. Bestraft werden nicht zuletzt die korrupten Stadtverwalter, die auf ihren eigenen Profit aus sind. Die absolutistische Verwaltung benötigt Staatstreue, beflissene dienstbare Untergebene: Die Bestrafung des Landvogts könnte den zahlreichen Staatsdienern, die am Wolfenbütteler Hof verkehrten, durchaus zum abschreckenden Exempel gedient haben. Zur Durchsetzung seiner polizeilichen Verordnungen ist Heinrich Julius auf die lokale Gewalt angewiesen. Dafür sollen aber alle Mitschuldigen aufs strengste bestraft werden. Mit seiner Susanna-Adaptation hat Heinrich Julius den altbeliebten dramatischen Stoff der Bestrafung ungerechter Richter be- Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 133 reits behandelt. Jetzt greift er darüber hinaus auf die Faustthematik zurück, die durch den Verkaufserfolg der 1587 erstmals veröffentlichten Historia sehr populär geworden ist: Hier wie dort (Szene V, 2) versucht ein Geistlicher den Teufelsverbündeten vergebens zur Reue zu bewegen. Die Hauptquelle des zweiten, tragischen Teils des Stückes ist jedoch das dem Magistrate der Bergstadt Joachimsthal gewidmete, satirisch-didaktische Spiel von den bäurischen Richtern und dem Landsknecht von Bartholomäus Krüger, der unter dem Pseudonym Hans Clauert als Autor des Schwankbuchs über den „märkischen Eulenspiegel“ bekannt wurde. Krüger dramatisiert seinerseits ein durch Georg Lauterbecks Regentenbuch vermitteltes Exemplum aus dem Convivalium sermonum von Johann Gast, 5 das von „bösen und falschen Richtern/ und derselben straffe“ handelt. Bäurische Richter fällen hier ein Todesurteil gegen einen Landsknecht : Was ist hierauff erfolget? Ehe daß ein Jar vergangen/ sind jr vier auß diesem Gericht erbärmlich umbkommen. Der erste ist vom Donner erschlagen. Der ander/ als er in eim frölichen Gelag gewesen/ ist er mit eim Schwert erstochen. Der dritte ist umb Dieberey willen erhenckt. Der vierdte hat grosse marter und hitz eines hefftigen Fiebers halben gehabt. 6 Heinrich Julius hat ganze Passagen aus dem Drama seines späthumanistischen Vorgängers übernommen (vgl. Gabaude 2012). Somit betritt er also kein dramatisches Neuland, gibt aber die Bauernsatire auf, um die Ständekritik in eine andere Richtung zu lenken: An die Stelle der geldgierigen tölpischen Dorfschöppen, die zum Personarium der aus dem mittelalterlichen und Renaissance-Schauspiel tradierten Gerichtsszenen gehören, 7 treten nun zwei Stadtmagistrate auf. Oberster Richter ist in beiden Fällen der Teufel. Trotz allen Ernstes ist Heinrich Julius’ Vorlage doch lange nicht so düster und witzlos wie die letzten Akte vom Fleischawer, die vom leichteren Ton der ersten drei Akte abweichen. Bei Krüger zaubert der biedere „Mordteuffel“ der Renaissancebühne zwar in Persona die schuldigen Richter weg, feiert aber seine Beute jeweils mit einem grotesken Teufelsreigen und zuletzt mit einem feurigen Höllenschmaus: „Zween feiste Braten seind allhie, / Dergleichen wir gehabt noch nie“ (Krüger 1884: 123). Darüber hinaus wird Krügers Spiel mit einer dem Herzog vollkommen fremden Namenskomik ausgestattet: die sechs „peurische[n] Scheppen“ heißen Cuntz Kachellofen, Merten Fressebier, Fritz Spülebacke, Blasius Bundschuh, Marr Saurkohl und Matz Haberstroh; der Wirt nennt sich Laur Fulbauch, der Dorfschulze Gürgen Taubennest, der unglückliche Landsknecht Hans Huen und sein Gefährte 5 Lauterbeck 1559: 320-231; Gast o.J.: S. 126. 6 Lauterbeck 1559: 231. 7 Vgl. etwa Hans Sachs’ Fastnachtspiel Der roßdieb zu Fünsing mit den thollen diebischen bawren. Florent Gabaude (Limoges) 134 Nickel Ohnegeldt. Mit dem sehr vernünftigen tabernator - „Krüger“ ist norddeutsch für „Krugwirt“ - als Sprachrohr des Autors wird letzterer auf witzige Weise ins Spiel mit einbezogen. Auch kann der ausgezeichnete Jurist Heinrich Julius die dem Volksmund eigene Skepsis gegenüber der Justiz mit der „wächsernen Nase“ - eine Skepsis, die der Autor dem fiktionalen „Krüger“ aussprechen lässt - keinesfalls teilen: „Wie ist das Recht so wünderlich, / Ich kann nicht gnug verwundern mich. / Darzu sagt heut mir ein Man, / Es sol ein wechsin Nasen han, / Man kann es wenden wie man wil.“ (Krüger 1884: 59) Ansonsten übernimmt Heinrich Julius von seinem Vorgänger die Gerichtssitzung sowie die Beicht- und Hinrichtungsszenen und weitet sie sprachlich aus. Inszeniert werden auf ähnliche Weise die Beschuldigung vor Gericht, das Geständnis des Angeklagten, der Urteilsspruch, in dem die Hinrichtung durch den Strang verkündet wird - vom Gerichtsschreiber bei Heinrich Julius, von Quartus Scabinus bei Krüger -, sowie die höhnische Beichtverweigerung: (Spiel von den bäurischen Richtern, Akt V, Sz. 2, S. 108) (Der Fleischhauer Akt V, Sz. 1, S. 790) Fabian [der Hencker] : Herr Richter mag ich treten fort, Und jn anklagn an diesem ort? Iudex. Es sol dir ja vergünnet sein, Magst neher zu uns treten hrein. SCHARFFRICHTER. Her Richter jch frage, ob jch meine Klage gegen einen Matthias fleischawer genant moge vorbringen. RICHTER. Es ist dir erlaubtt. […] (S. 791) Fabian. Ich klag den armen Sünder an, Der wider alle recht gethan, Zu hals, zu bauch, zu fleisch und blut, Welchs ist sein höchstes pfand und gut, Nach meiner Herren ernst befehl, Und Gott ergeb ich seine Seel. SCHARFFRICHTER. Her Richter jch klage an diesen jegenwertigen Matthias fleischawer zu Leib vnd leben zu haut zu har wie er gehett vnd stehet vnd mitt alle dem was er vmb vnd an hatt das er habe gehandelt wider Gott vnd wider das siebende gebott vnd bitte, das er moge dahin geballten werden, seine vbelthat auff welcher ehr betroffen, auch selber schon bekannt, nochmals hir vor jdermennigh moge außagen damitt also jdermenniglich wißen möge, aus was vrsach er an diesen ortt gebracht worden. Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 135 […] […] Ich sag es hie vor jederman, Das ich es alles hab gethan. MATTHIAS. Was jch vor bekantt habe das kan jch nicht leugnen, den jch bin jo vff offener that begriffen. (S. 120) (Akt V, Sz. 4, S. 793) Quirinus. Bedenckt doch ewer liebe Seel, Die müste leiden ewig quel, Wenn jr euch wolt dem Teuffel geben, Bekeret euch in diesem leben. PREDIGER. Ah lieber Matz bedenke dich doch eines andern. […] PREDIGER. Ah matz du hast Zeitt das du dich bekerest sich der ortt da du hin sollst jst nicht weit. (S. 111) (S. 794) Merten. Wie kom ich immermehr so hoch? Es ist besser auff Erden gehen Denn allhie in die höhe stehn. MATZ. Saget mir was das jch nicht weys, das sehe jch selber wol, lieber steiget jhr doch erst hinauff damitt jchs sehe, wie man sich dazu stellen mus, es jst ein heylose ding vmb das hengen, den es ist kein vortheil dabey was man an den schuen ersparet das zerreißet es am halse wieder. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts weiden sich der Sensationsjournalismus der Neuen Zeitungen sowie die Schwankliteratur (der Wegkürzer von Martin Montanus, das Rollwagenbüchlin von Jörg Wickram) und die Teufelsbücher an dem Bericht von Naturwundern und -katastrophen, von Teufelsbeschwörungen und -opfern. Heinrich Julius thematisiert in mehreren Stücken den Teufelsdiskurs der Zeit, nicht nur aus religiöser Überzeugung oder als Strafandrohung, sondern auch wegen der großen Publikumswirksamkeit. In dem Stück Von einer Ehebrecherin wird die untreue Frau von Teufeln erhängt. Das stofflich verwandte Stück Von einem Weibe ist versöhnlicher und komödiengerechter, die Ehebrecherin wird nur verbal verhöhnt. 8 8 Die Nähe von Heinrich Julius’ Vincentius Ladislaus zur Teufelsliteratur (zu Westphals Wider den Hoffartßteuffel, 1565) hat Richard Erich Schade bereits nachgewiesen (vgl. Schade 1985; Ders. 1986: 575-578). Florent Gabaude (Limoges) 136 Den Stoff für seine Komödie Von einem Wirthe hat Heinrich Julius einer weiteren Sammlung der damals so beliebten kurzweiligen Erzählungen, dem Nachtbüchlein, entnommen. 9 Konfrontiert wird der geldgierige Wirt mit drei losen diebischen Wandergesellen. Die Wirte standen damals im Spätmittelalter schon in Verruf und waren eine Zielscheibe der literarischen Satire (im Eulenspiegel, im Fortunatus oder bei Hans Sachs). Heinrich Julius’ Stück ist vorrangig ein Scherzspiel nach dem Schema des betrogenen Betrügers, in dem keiner der beiden Parteien Recht gegeben wird. Der herbeigeholte Richter - bzw. der gerade auftretende Bürgermeister im ungedruckten Spiel - schlichtet auch den Streit nicht. Der leichtgläubige Wirt nimmt die römischen Wundererzählungen (die katholischen Motive der Himmelsleiter und des Engels) der drei Gesellen für bare Münze und wird überrumpelt. Den Ort der Lügengeschichten verlegt er von der Donau bei Wien nach Rom. Das Stück ist eine Satire auf gängige Vorstellungen, Requisiten und Bildsymbole der katholischen Kirche - wie die Himmelsleiter, die Engel, das Ewige Rom am Tiber - und auf die Wundergläubigkeit des Volkes und auf die Lügendichtung. Es heißt etwa, der Tiber wäre ausgebrannt und die Fische seien zu Bratfischen geworden. Über die Thematik der Überlistung hinaus scheint der Bezug zur sozialdisziplinierenden Intention des Herzogs äußerst gering. Erst in dem dritten Spiel, der Tragica Comoedia Hibaldeba, von einem Wirt oder Gastgeber, das im Stuttgarter Sammelband der Werke veröffentlicht wurde, 10 wird der Wirt wegen seines Betrugs und seiner Anrufung des Teufels bestraft. Hier macht das Auftauchen des beschworenen Teufels - wie beim Fleischhawer - das Spiel zur Tragikomödie. Und auch hier steht eine genuin literarische Referentialität vor jeder Fremdreferenz, obwohl sich der Bezug zu den Fürstlichen Privilegien wie beim Fleischhawer herstellen lässt. Die Statuten der Heinrichsstadt wiederholen die traditionelle Beherbergungspflicht der Gastmeister, auch gegenüber wenig bemittelten Gästen, und dem unterzeichnenden Herzog gelten die Gasthäuser, in denen Auswärtige sowie Ansässige um ihre Almosen gebeten werden, als Orte der caritas. Doch kommt es dem Herzog in den Statuten vor allem darauf an, den registrierten Gasthofbetreibern die Ausschließlichkeit der Aufnahme von Fremden zu vermitteln. Somit werden sie an der vorsorglichen Abgrenzung und Überwachung der Zugereisten - einschließlich reisender Adliger - unmittelbar beteiligt. Allen übrigen Bürgern der Stadt wird ausdrücklich untersagt, Fremde bei sich zu beherbergen (vgl. Appendix). Statt eine solche Problematik aufzugreifen, thematisiert Heinrich Julius lieber Altbekanntes, wie es in dramatisierter Form bereits bei Hans Sachs vorzufinden ist: Das 9 Nachtbüchlein, der Erste theyl. Darinnen vil seltzamer, kurtzweyliger Hystorien und Geschicht, von mancherley sachen, schimpff und schertz, glück auch unglück, zu Nacht nach dem Essen, od. auff Weg und Strassen, zu lesen etc., Valten Schumann, 1559. 10 Weitere Ausgaben der Spiels erschienen in Magdeburg 1598 und 1599. Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 137 Fastnachtspiel Der Ewlenspiegel mit den blinden (Sachs 1882: Bd. 14, 288-303) ist ein Spiel von einem kargen und unbarmherzigen „Jakobswirt“, der sich vor der Bewirtung der ungeliebten armen Leute drückt. Es sind gerade solche Wirte, bei denen der Auswuchs der mittelalterlichen Gesellschaft einkehrt, wie bereits der Kuhdieb in Hans Sachs‘ weiterem Fastnachtspiel Der pawr mit dem kuedieb. Diese selbst oft unlauteren Gastgeber werden zu privilegierten Opfern von durchziehenden Gaunern. Schlussbemerkungen Heinrich Julius’ Gewerbedramen weisen einen ausgeprägten Realitätsbezug auf, der im Falle des Fleischhawer über die bloße Darstellung von Sozialtypen hinausgeht, und bieten gleichzeitig eine theatralische Aufbereitung einheimischen und fremdländischen literarischen Gutes. Der widersprüchliche Tenor der ungedruckten Frühfassungen dieser Spiele rührt nicht zuletzt von diesen verschiedenartigen Schreibanstößen und auch Wirkungsabsichten her. Was aber Heinrich Julius in erster Linie bewogen haben mag, selbst zur Feder zu greifen, ist durchaus der Wunsch nach Anerkennung auf dem Gebiet der Dichtung. Verse konnte er nicht schmieden, nach Meinung seiner Zeitgenossen. Deshalb hat sich der begabte und redegewandte Jurist kurz, aber intensiv dem Prosadrama gewidmet, bevor er zu staatstragenden Geschäften übergegangen ist. Lenker wollte Heinrich Julius nicht nur in staatspolitischen Angelegenheiten als Landesfürst, sondern auch als Lenker des literarischen Geschmacks sein, indem er durch das Engagement von Berufsschauspielern und durch sein eigenes theatralisches Schaffen eine neue Norm der Unterhaltung am Hofe prägte. Der Herzog und sein Gefolge in Vincentius erhoffen sich vom komischen Auftreten des Vincentius ganz im Sinne der Englischen Komödianten „einen reinen Scherz“ und ein „gut lachen“ (Akt VI, Sz. 1). Darüber hinaus lenkt Heinrich Julius auch das soziale Verhalten durch den paränetischen Gehalt seiner Stücke, den man allerdings nicht überschätzen sollte. Zwar besteht ein Zusammenhang zwischen seinen Edikten und den etwa zur gleichen Zeit entstandenen dramatischen Werken, was schon allein deren Titel bekunden. Unverkennbar verfolgt Heinrich Julius mit seinen Gewerbespielen wie auch mit seinen Ehebruchsstücken durchaus wirtschafts- und sozialregulierende bzw. -disziplinierende Absichten wie den Kampf gegen den geschäftlichen Betrug der Wirte oder der Händler oder die Hurerei. Er zielt auf die Herausbildung moderner Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse ab. Ein ebenfalls modernes hygienisches Anliegen hat die Verordnung über die Fleischhauer. Florent Gabaude (Limoges) 138 Aber vor allem ist Heinrich Julius daran gelegen, u. a. mit Hilfe des Theaters, diesen Anspruch auf Gewalt und Herrschaft über alle Stände zu behaupten und zumindest dichterisch umzusetzen, was sich in der realen Wirklichkeit nicht so einfach und schnell durchsetzen lässt. Der Dramenschluss gleicht in diesem Sinne eher einer dichterischen Verklärung und Verwirklichung einer Wunschvorstellung. Das theatralische Spektakel unterstützt gewissermaßen Heinrich Julius’ Reformbestrebungen, gibt ihm eine zweite ermahnende oder aber eine kompensatorische Möglichkeit, seine reformerischen Pläne und seine Autorität geltend zu machen. Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 139 Literaturverzeichnis: Blume, Herbert: Herzog Heinrich Julius von Braunschweig und Lüneburg: Renaissancefürst, Theatergründer, Dramatiker. In: Heimatbuch 58 (2012), S. 39-52. Bourdieu, Pierre: Sur l’État. Cours au Collège de France (1989-1992). Paris 2012. 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Appendix : Herzog Heinrich Julius Braunschweig-Wolfenbüttel: Fürstliche Privilegia, Statuta und Ordnungen der Heinrichstadt, Heinrichstadt, 1602 [Exemplar Universitätsbibliothek Würzburg, M.ch.q. 11] XXII. Von Fleischhawern. [G] Unser Schuldtheiß Bürgermeister und Rath sollen darauff mit fleis achtung haben lassen/ das gut düchtig l e isch von den Fleischhawern tegliches verkaufft und außgehawen werde/ welches nicht Wolffbeißig/ Beinbrüchig/ Wurmig oder Madig und Finnig/ abgesetzet/ Tadel : und breßhafftig sey/ und das solches unter das guete und gesunde nicht vermischet/ sondern eins vom andern abgesondert/ und nicht alles zugleich verunreiniget werde/ Und damit die Fleischhawere hierein sich für zusehen/ und für der straffe zu hüten haben/ So sollen sie nachvolgende Puncte wol in acht nehmen. 1. Es sol nichts groß oder klein geschlachtet werden/ es habe dann des Raths geschworner Marckmeister dasselbe Lebendig und ungeschlachtet gesehen/ und obs gesundt oder nicht gnugsamb erkundigt. 2. Sie sollen dauon das geringste nicht verkauffen/ es auch nicht zerhauwen / die geschworne Schatzmeister haben es dann besichtiget/ gewogen vnd Taxirt/ wie ein Pfundt dauon sol gegeben werden/ Imgleichen wie Kopff/ Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 141 Gekröse/ Caldunen/ Herz/ Lebern/ Lungen vnd Zungen zu geben sey/ vnd wie sie dasselbe schätzen/ dabey sol es pleiben/ bey Poen einer halben Heinrichstedtischen Marck/ so offt darwieder gehandelt. 3. Und damit in solchem schatzen den Fleischhawern nicht zu nahe geschehe/ So soll ein jeder bey seinem Aydt schüldig sein/ des abgeschlachteten Viehes rechten einkauff zuberichten/ den außkauff darnach zu setzen bey Poen des Meinaydts. 4. So sol/ wie obangemeldet/ kein Wurmig/ Bißig/ Finnig/ oder schadhafftig Fleisch alhie verkaufft werden/ darnach sich ein jeder im einkauffe zu richten/ vnd vor schaden zu hüten hat. 5. Von Pfingsten bis auff Weinachten sollen sie Hämel/ vnd wieder bis auff Pfingsten Kelber/ wann die am besten vnd feisten sein/ wie auch eines durchs ander/ was zu bekommen/ schlachten. 6. Kein Kalb/ so geschlachtet wirdet/ sol unter Drey oder Vier Wochen nicht sein/ bey Poen zwo Heinrichstedtischen Marck/ vnd verlust des Fleisches. 7. Alles Fleisch sol in den Scharren/ vnd nichts im Hause aus=[G ij]gehawen werden/ dem einen so wol als dem andern/ bey Poen eines Heinrichstedtischen Marck/ 8. Das Fleisch so volgenden tages sol ausgehawen werden/ sollen sie vorher wol erkalten lassen. 9. Sie sollen des Viehes/ wann es geschlachtet/ Nieren mit seiner eigen Haut nicht bedecken / sondern es offen vnd bloß in der Lufft hengen lassen. 10. Sie sollen auch kein Fleisch auffblasen/ streichen/ erheben/ ferben/ mit Lumpen inwendig untersetzen/ oder sonsten in einigerlei weise verfelschen/ vnd ihme ein ansehen machen. 11. Sie sollen auff einem Laden zugleich nicht Zweyerley Fleisch/ als Ochsen und Kuhe/ Hämel : und Bockfleisch/ Schaffen : vnd Ziegen fleisch feil haben/ die verdacht der vermischung/ der sie sich durchaus enthalten sollen zuuerhüten. 12. In den Hemeln sollen sie das eusserste felwerck mit der Wolle am Schwantze sitzen lassen / damit man Hämel : vnd Ziegen fleisch zuerkennen habe. 13. Das geschlachte Fleisch sollen sie vber Drey Tage/ nemblich Dingstags/ Donnerstags und Sonnabendts/ als die verordente Fleisch Marcktage nicht zum Scharren bringen. 14. Da solches ja geschehen müste / so sollen sie gleichwol das frische nicht darunter legen. 15. Sollen sie von dem wolgemesteten Rindtvieh allein/ vnd nicht von dem vngemesteten die Nieren/ also wet die sich erstrecken mit dem Talge ausreissen / bey Poen Zweyer Heinrichstedtischer Marck. 16. Das Gekröse vnd ws zu deme gehörig sollen sie nicht nach Pfunden/ sondern nach der Taxation stückweis verkeuffen. Florent Gabaude (Limoges) 142 Frembde Fleischhawer mügen in den freyen Jahrmarckten, auch wohl Fleisch auff frey feilen kauff anhero bringen. Es sol aber den Abend zuuor alhie geschlachtet/ vnd von den geschwornen Gildemeistern der Fleischer heneben den Schatzmeistern besichtigt / vnd wie das andere auch eingesetzet vnd geschetzet werden. Wir wollen vns aber vnd vnsern Erben außtrucklich vorbehalten haben / wenn die Fleischhawer alhie sich dieser Ordnung nicht gemeß verhalten / vnd hierunten der Gemeine alhie vngelegenheit entstehen würden / den frembden Schlechtern zuerlauben/ das sie jede Woche Zwey mahl auff die Marcktage / gut vnd gesund Fleisch jtztberürter massen in die Heinrichstadt zu offenem kauff bringen mügen. Wer sich vnterstehet die geschworne Schatzmeister oder Marckmeister ausserhalb/ was erheischender nodturff nach sich vor unsrem Schuldtheissen / Bürgermeistern vnd Rath gebühret / heimblich oder offentlich zu schmehen vnd zu schelten / oder ihnen böses nach zureden / der sol alle mahl / so offt das geschicht / eine Heinrichstedtische Marck zur straffe geben/ vnd ihme ein stilschweigendt bey einer hohern Poen eingebunden werden. Einem Schlechter sol man für das Hausschlachten nicht mehr geben als : [G iij] Für einen Ochsen 6. Für eine Kuh 5. Für ein Speckschwein 2 ½ Für ein Schratschwein 2. Für ein Kalb 1 ½ Für einen Hamel 1 ½ Für ein Lamb 1. MarienTH XXIII. Von Wirdten und Gastgebern. [G iij] Wer hinfuhro in vnser Heinrichstadt will einen Gasthoff halten / der sol / wie in andrn wolbestalten Communen gebreuchlich/ ein Zeichen oder Taffel außhengen / damit ein frembder Wandersman wissen möge/ wo er könne einkehren / vnd außerhalb denselben sol kein Bürger sich unterstehen jemandts frembdes / der nicht bekandt/ oder sonsten bey ihme pflegen einzukehren / vnd vielleicht Verdechtig müchte sein / noch jemandts anders / wie oben gerürt einzunehmen / vnd zu beherbergen / sondern schuldig sein / Dieselben in die offne Gasthöfe zuweisen / bey Poen ein Viertheil Heinrichstädtischen Marck für jede Nacht. Die Wirdte sollen auff frembde vnd vnbekandte / vnd sonderlich die jenigen / denen jrgendt Verdacht nachhenget / gute fleißige Achtung haben / auff das kein Schade jhnen vnd der gantzen Gemeine begegnen müge / Und da sie etwas vermercken / es dem Fürstlichen Großvogt vnd Haubtleuten anmelden. Wan sie vornehmen ds frembde HERrn oder derselben Gesandten vnd Diener / wie auch andere furnehme Personen bey ihnen eingekehrt / vnd sich nicht kundt geben wollen / sollen sie solche vnserm Stadthalter / GRoßvogt Der literarische Beitrag von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 143 vnd Vestungs Haubtman anzeigen vnd nicht vorschweigen bey Poen eines halben Gülden. Die Wirtte sollen einen jeden zu Wagen / Roß vnd Fuß auffzunehmen schüldig sein / denselben gütlich thun / vnd vber die Billigkeit nicht beschweren / Auch eine verschlossene Eiserne oder Kupfferne Büchsen hengen haben / zu behueff der armen Leuthe/ darin nach gelegenheit mitzutheilen / welche Büchse dann alle Quartal durch die Kirchuäter ledig gemacht/ vnd was darin befunden wirdt/ den Armen imGotteshause ausgetheilet werden soll. [J iij] „Geschehen auff unser Schloß Vestung Wolfenbüttel bey unser Heinrichstadt am Tage Pauli bekerung/ war der Fünff vnd Zwantzigste Ianuarij Nach Christi gebuhrt im Tausent Sechs Hunderten vnd Zweyten Jahre] 25. Januar 1602 Roland Alexander Ißler (Bonn) Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand. Richelieus Europapolitik auf der Theaterbühne Un Monarque a souvent des loix à s’imposer, Et qui veut pouvoir tout, ne doit pas tout oser. (Pierre Corneille, Tite et Bérénice, IV.5) ‚Dichter und Lenker‘ - das Wortspiel ist nicht die erste kreative Abwandlung des im 19. Jahrhundert aufgekommenen geflügelten Wortes vom ‚Volk der Dichter und Denker‘. Hatte Karl Kraus ihm nach dem Ersten Weltkrieg in seinem Drama Die letzten Tage der Menschheit den bitteren Ausdruck ‚Richter und Henker‘ entgegengehalten, so zielt der im Rahmen des hier präsentierten Forschungsprojekts geprägte Ausdruck weniger auf ein ganzes Volk als vielmehr auf das Individuum, kurz: auf Schriftsteller und Staatsmänner in Personalunion. Die in dem Ausdruck formelhaft benannte Verzahnung von Literatur und Politik verweist dabei auf ein pluridisziplinäres und bislang kaum systematisch durchpflügtes Forschungsfeld, das neben kulturhistorischen, sozial- und politikwissenschaftlichen Fragen vor allem Literatur- und Geschichtswissenschaft miteinander verbindet. Während aber Dichtung - Sartres littérature engagée hin oder her - im gesellschaftspolitischen Niemandsland, ohne ideologischen Impetus und Herrschaftsaspiration entstehen und etwa allein aus ästhetizistischen Motiven niedergeschrieben werden und Gehör finden kann, wie nicht allein im späten 19. Jahrhundert die L’art-pour-l’art-Bewegungen bewiesen haben, - während also Dichtung durchaus nicht notwendigerweise der Politik bedarf, so ist der Satz in seiner Umkehrung durchaus fraglich: Politik braucht Literatur sehr wohl, verwendet sie doch Sprache als Ausdrucksmedium im öffentlichen Raum, ist mündlich wie schriftlich unweigerlich auf sie angewiesen. In der Rhetorik, seit der Antike als Hort der Redekunst auch eine Domäne der Poetik, finden beide zusammen, sind hier vielmehr genuin vereint. Dichter des Staates und Lenker der Dichtung: Ein Kardinal im Dienste des französischen Absolutismus Politische Systeme, zumal solche, die im Begriff sind, sich selbst zu konstituieren, sich neu zu erfinden, bilden wohl die interessantesten Schnittstellen einer zielgerichteten Analyse mit Blick auf das Phänomen von Dichtern und Lenkern. Vor diesem Hintergrund scheint sich der Absolutismus als Untersuchungsgegenstand geradezu aufzudrängen. In seiner französischen Spielart des 17. Jahrhunderts, einem der prägenden Abschnitte der gesamteuro- Roland Alexander Ißler (Bonn) 146 päischen Geschichte, deutet er paradigmatisch den Staat zur Bühne um und bündelt die königliche Macht gleichsam in einem perfekt organisierten „Theaterstaat“ (Schmale 2000: 129). 1 Derjenige, der unter den französischen Königen die absolute Monarchie auf die Spitze getrieben hat, ist gewiss Ludwig XIV. Von seinem Expansionsdrang zeugt sogar am geschichtsträchtigen Tagungsort der Dichter-und- Lenker-Konferenz ein Abwehrbündnis, das Kaiser Leopold I. im Jahr 1686 mit den Königen Karl II. von Spanien und Karl XI. von Schweden sowie dem Kurfürsten Maximilian II. von Bayern zur Verteidigung gegen Frankreich schloss: die Augsburger Allianz. Die Beteiligung des schwedischen Königs ist daran besonders erstaunlich vor dem Hintergrund, dass die Fuggerstadt erst 1632 von der schwedischen Armee eingenommen worden war, woran Teile der Stadtbefestigung - der Schwedenturm, der Steinerne Mann und die Schwedenstiege - noch heute erinnern. Und noch ein Kuriosum tut sich auf, wenn man bedenkt, dass der Dreißigjährige Krieg aus einer religiös motivierten Konfessionsfehde hervorgegangen war, das protestantische Schweden hier aber noch an der Seite des katholischen Frankreichs kämpfte. Das Geflecht dieser über Generationen von Staatenlenkern gesponnenen politischen Fäden zu entwirren hilft der historische Blick. Verantwortlich für die der Staatsraison geschuldete Zweckallianz mit Schweden ist der Staatsmann, der als Erster Minister unter dem Vater des späteren ‚Sonnenkönigs‘, Ludwig XIII., und an dessen Seite die Geschicke Frankreichs lenkte und der Monarchie zugleich die Zentralgewalt sicherte: der Kardinal Richelieu (1585-1642). Seiner lenkenden Dichtung und Europapolitik gilt dieser Beitrag. Armand-Jean du Plessis, der spätere Duc de Richelieu, hat sich aus niederem Adel emporgearbeitet und wird 1608, mit 21 Jahren, vorzeitig zum Bischof von Luçon im Poitou geweiht. Ehrgeiz und politisches Interesse treiben ihn an den Pariser Hof, wo er schnell das Vertrauen der Königinmutter Maria de’ Medici gewinnt, aus deren Vormundschaft sich der junge König gerade erst befreit und schließlich mit ihr arrangiert hat. 1624 wird der 39jährige Richelieu, kaum dass er die Kardinalswürde erlangt hat, zum Premierminister eines fünfzehn Jahre jüngeren Königs ernannt. 2 Im neuen Amt sorgt er zunächst für innere Stabilität in Frankreich, drängt den hugenottisch-protestantischen Einfluss ebenso massiv zurück wie die Macht des Adels gegenüber dem König und konsolidiert so zunächst die Monarchie, bevor er sein wachsames Auge auf die Außenpolitik richtet. Richelieus unerbittliche Haltung und diplomatisches Geschick brin- 1 Zum Absolutismus allgemein vgl. u.a. Kunisch 1999. 2 Zur Vita Richelieus vgl. die historischen Studien von Mousnier 1992 und Hildesheimer 2011; zu seiner Staatstätigkeit bündig z.B. Méthivier 1994: 41ff. Den Premierminister als Bauherrn, Kunstsammler und -mäzen zeigt u.a. der Ausstellungskatalog Richelieu - Kunst, Macht und Politik 2002. Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand. 147 gen ihm schnell den Ruf eines kaltblütigen Machtmenschen ein, der die Staatsraison stets mit Kalkül durchsetzt. Im Vorwort zum posthumen Erstdruck (1688) des nach seinem Tod lange verborgen gehaltenen Manuskripts der politischen Aufzeichnungen, die er Ludwig XIII. unter dem Titel Testament politique hinterlassen hat, heißt es in einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung über Richelieu: C’est un Favori & un Premier Ministre d’Etat, qui a gouverné plus de 25. ans l’un des plus considérables Royaumes de l’Europe; qui l’a guidé; & pour ainsi dire, l’a tenu par la main dans les premiers pas de son Agrandissement; qui ne prescrit aucun Conseil, qu’il ne l’ait mis lui-même en Pratique plusieurs fois; & qui enfin par sa Fermeté & par son Courage a surmonté une infinité d’Obstacles & d’Intriques, qui auroient accablé tout autre que lui. 3 Die Stärkung der Monarchie geht mit einer Kulturpolitik einher, deren Spuren bis in die sog. exception culturelle des heutigen Frankreichs verfolgt werden können, wo historisches und literarisches Bewusstsein im Vergleich zu anderen Nationen immer noch deutlich stärker ausgeprägt sind. Dass etwa französische Politiker bis in die Gegenwart hinein als Autoren in Erscheinung treten, ist dafür ebenso ein Indiz wie die Tatsache, dass der französische Staat bis heute die Sendequote frankophoner Musik- und Filmproduktionen protektionistisch steuert. Zu vielen solchen Gegebenheiten legt Richelieu im 17. Jahrhundert direkt oder indirekt den Grundstein. Als großer Kunstliebhaber besitzt er eine umfangreiche Gemälde- und Skulpturensammlung, gründet Akademien, darunter die Académie française zur Pflege der französischen Sprache und Kultur, und fördert zahlreiche zeitgenössische Bildkünstler und Schriftsteller, mit Vorliebe Dramatiker. Da der Schauspielkunst seine große Leidenschaft gilt, beherbergt der von Richelieu in Auftrag gegebene Bau des Palais Cardinal (heute Palais Royal, nördlich des Louvre gelegen) ein eigenes Theater - die seinerzeit modernste Bühne der Stadt. Richelieus politisches Vermächtnis: Vom Testament politique zu Europe Richelieu weiß um die Möglichkeiten, die ihm Kunst und Literatur auch auf der staatspolitischen Bühne bieten, und er schöpft sie weidlich aus. Wie kaum jemand beherrscht er die Medien seiner Zeit, stellt Ikonographie, Druckpropaganda und Rhetorik, Festinszenierungen, Architektur und 3 Richelieu 1688: Bd. I, unpaginiert [„Avertissement“, S. 4]. Aus dem Testament politique wird hier und in der Folge unter Angabe des Bandes nach der posthumen Erstausgabe zitiert. Roland Alexander Ißler (Bonn) 148 Skulptur, Musik, Ballett und Schauspiel in den Dienst des zunehmend absolutistisch konturierten Staates und setzt sie zur Glorifizierung der französischen Monarchie ein. Zeitlebens von schweren Krankheiten gepeinigt, wird der Kardinal- Minister von der ständigen Sorge geplagt, vor seinem König sterben zu müssen: „que j’ai de finir mes jours avant que le cours des vôtres se termine“ (Richelieu 1688: Bd. I: 3). So trägt er schon in den 1630er Jahren seine staatsmännischen Erfahrungen und Überzeugungen in dem genannten Testament politique zusammen und überantwortet die Schrift seinem König, der ihn tatsächlich nur um wenige Monate überleben wird. An ihn richtet sich Richelieu eingangs mit Worten, die das enge Verhältnis zwischen dem Premierminister und Ludwig XIII. wohl glaubhaft, wenn auch nicht ohne Selbststilisierung charakterisieren: Sire, Aussi-tôt qu’il a plû à V OTRE M AJESTE , me donner part au maniement de ses Affaires, je me proposai de n’oublier aucune chose qui pût dépendre de mon industrie, pour faciliter les grands Desseins qu’Elle avoit aussi utiles à cet Etat, que glorieux à sa Personne. Dieu ayant beni mes intentions jusques à tel point, que la vertu & le bonheur de V. M. qui ont étonné le Siécle présent, & seront en admiration à ceux de l’avenir. […] Cette piéce verra le jour soûs le titre de mon Testament Politique; parce qu’elle est faite pour servir aprés ma mort, à la Police & à la conduite de vôtre Royaume, si V.M. l’en juge digne. […] Je commencerai cet Ouvrage, en lui mettant devant les yeux un Tableau racourci de ses grandes Actions passés [sic! ], qui la comblent de gloire, & peuvent être dites à trés-juste tître, le Fondement solide de la félicité de son Royaume. (Richelieu 1688: Bd. I, 1, 3, 4f.) Das zweiteilige Werk umfasst mithin neben einer apologetischen Bilanz der eigenen Politik praktische Hinweise an den diplomatisch weit unterlegenen König und ist im Nachhinein vor allem als frühes Dokument absolutistischer Staatsraison und politischer Ethik von Bedeutung. Es verpflichtet den Herrscher zu realistischer Einschätzung, rationalem Entscheiden und konsequentem Handeln gemäß der dem Menschen eigenen Vernunftbegabung und verlangt von ihm, jedes Partikularinteresse bedingungslos dem öffentlichen Interesse unterzuordnen: Les Intérêts Publics doivent être l’unique Fin du Prince, & de ses Conseillers, ou du moins les uns & les autres sont obligez de les avoir en si singuliére récommandation, qu’ils les préférent à tous les Particuliers. […] on ne sçauroit s’imaginer le Mal qui arrive à un Etat, quand on préfere les Intérêts Particuliers, aux Publics, & que ces derniers sont réglez par les autres. (Richelieu 1688: Bd. II, 14) Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand. 149 Das Testament politique ist, nach langem Zweifel an seiner Echtheit, als bedeutendes historisches Zeugnis gründlich untersucht worden (vgl. z.B. Hildesheimer 1985) und soll hier nur indirekt Gegenstand sein. Weniger bekannt hingegen ist ein literarisches Gegenstück aus Richelieus letztem Lebensjahr, das - wie im Folgenden gezeigt werden soll - als sein zweites politisches Vermächtnis Geltung beanspruchen kann. Der Premierminister entfaltet darin Hintergründe seiner Europapolitik in den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges, in den er Frankreich 1635 eintreten lässt, 4 dessen Ende er aber nicht mehr erleben wird. Dabei ist es sicher kein Zufall, dass dieses politische Testament in Form eines Dramas vorliegt. Sicher kein Zufall ist es auch, wen Richelieu mit dem Werk betraut: Es ist Jean Desmarets de Saint-Sorlin (1595-1676), Dichter, Hofdramaturg und ballettmeister, seinerzeit für die opulenten Inszenierungen der Ballets de cour Ludwigs XIII. zuständig. Richelieu macht seinen Günstling zum ersten Kanzler der Académie française und lässt dessen Tragikomödie Mirame 1641 zur Einweihung des Theaters in seinem Kardinalspalast aufführen. Die Theaterlaufbahn Desmarets’ ist so kurz wie produktiv, und sie ist allein auf Richelieu ausgerichtet, für den er in sechs Jahren neben den Balletten insgesamt sieben Theaterstücke schreibt. 5 Das brandaktuelle Politdrama, um das es hier geht, trägt den schlichten Titel Europe 6 und beschäftigt Richelieu bis in die letzten Tage vor seinem Tod am 4. Dezember 1642. Zumal das Stück zuerst anonym erschien, wird bisweilen gemutmaßt, dass Richelieu selbst der Autor gewesen sein könnte (vgl. Taussig 2006: 10ff.). 7 Gesichert ist, dass von ihm der Anstoß kommt; er 4 Ludwig XIII. erklärt Spanien am 19. Mai 1635 den Krieg, nachdem sechs Wochen zuvor der Frankreich traditionell verbundene Kurfürst von Trier, Philipp Christoph von Sötern, von Kaiser Ferdinand II. gefangengenommen worden ist (vgl. u.a. Malettke 1998: 178ff.). Kurz vor seiner Festnahme, die Ludwig und Richelieu als Angriff auf die ganze Christenheit werten, hat der Kurfürst die Wahl des französischen Kardinals zum Nachfolger in seinem Amt als Trierer Erzbischof befürwortet und damit Frankreich ein Mitbestimmungsrecht bei der Wahl des Kaisers verschafft; Sötern spielt zudem eine wichtige Rolle für die Position Frankreichs am Rhein. 5 Zu Leben und Werk Desmarets de Saint-Sorlins vgl. Ricaud 1996. 6 In jüngster Zeit sind zwei kritische Editionen der Europe erschienen, zunächst im Rahmen einer dramatischen Gesamtausgabe (Desmarets de Saint-Sorlin 2005), kurz darauf als kritische Einzelausgabe des Stücks (Desmarets de Saint-Sorlin 2006). Unter dem abweichenden Titel Japeta ist eine zeitgenössische Übersetzung ins Deutsche überliefert, die hier nicht in die Analyse einbezogen wird (vgl. Harsdörffer 1643 sowie dazu Schneider 1927). Zu Desmarets de Saint-Sorlins Europe vgl. ferner Guthmüller 2009; Azoulay 2007; Schmale 2001-2004. Eine ausführliche Besprechung des Werks findet sich auch in der Dissertation d. Vf.s (Ißler 2011: 438-466). 7 Richelieu ist sicherlich als ideeller Urheber des politischen Stücks anzusehen, auch wenn hier formal von Desmarets’ Komödie die Rede ist. Das entspricht übrigens auch den Angaben des Chronisten Tallemant des Réaux, der die Verfasserschaft Desmarets’ auf Geheiß Richelieus bezeugt: „Cette vision lui [à Richelieu] estoit venue dans le des- Roland Alexander Ißler (Bonn) 150 verfolgt das Gedeihen der sogenannten heroischen Komödie (Comédie héroïque) 8 bis zuletzt, frequentiert Proben, finanziert die Kostüme, kann der Uraufführung am 28. November 1642 jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr beiwohnen, wie der Zeitgenosse Gédéon Tallemant des Réaux in seinen als Historiettes bekannt gewordenen Hofanekdoten berichtet: „Quand on joua l’Europe, il [Richelieu] n’y estoit pas; il l’avoit bien veu repéter plusieurs fois avec les habits qu’il fit faire à ses dépens“ (Tallemant des Réaux 1960: Bd. 1, 288). 9 Formal der klassischen Regelpoetik verpflichtet, umkreist die in rhetorisch ausgefeilten Alexandrinerversen verfasste Komödie auf der Handlungsebene zunächst einen amourösen Konflikt mit versöhnlichem Ausgang. Die Liebesintrige erweist sich jedoch als historisch motiviert. ‚Heroisch‘ an ihr ist die Besetzung mit einem allegorisierten Personal von geschichtlicher Dimension. Im Zentrum steht die als Königin personifizierte Europe in Gestalt einer Erdteilallegorie, umringt von männlichen Staatenallegorien des Kontinents, von denen insbesondere Ibère (Spanien) und Francion (Frankreich) um die Gunst der Europe buhlen, d.h. im übertragenen Sinn die Vorherrschaft in Europa zu erlangen trachten. Das komplexe Stück kann hier nur in Auszügen vorgestellt werden; im Folgenden sollen daher neben einer historischen Kontextualisierung einzelne repräsentative Expositions- und Finalszenen diskutiert werden. Das Politdrama Europe (1642) vor dem historischen Hintergrund des Dreißigjährigen Kriegs Wenn man das staatspolitische Bestreben Richelieus auf eine knappe Formel bringen will, so ist es sicherlich diese, das französische Königreich aus seiner strategisch misslichen Klammerstellung zu befreien, die der Universalmo- sein de destruire la monarchie d’Espagne. C’estoit une sorte de manifeste. M. Desmarestz en fit les vers et en disposa le sujet.“ (Tallemant des Réaux 1960: Bd. 1, 287). Desmarets selbst äußert sich in einem Gedicht an Mazarin zu seiner Autorschaft: „Tu sais qu’il [Richelieu] m’aimait, que cet esprit sublime / Eut pour moi des moments de tendresse et d’estime […]. J’ai fait parler l’Europe / Et les siècles futurs aimant ses belles larmes / Aimeront dans mes vers l’équité de nos armes.“ (zitiert nach Couton 1986: 87, Anm. 126). 8 Die Gattungsbezeichnung Comédie héroïque wird der Dramatiker Pierre Corneille übrigens 1650 als Substitut für die poetologisch umstrittene Form der Tragi-comédie vorschlagen (vgl. dazu genauer Baby 2005) und u.a. für sein Schauspiel Tite et Bérénice verwenden (Corneille 1671). 9 Am Tage nach der Uraufführung (zu dieser vgl. Chaineaux 2005: 813) wird bei Richelieu eine Peritonitis diagnostiziert, und sein Bewusstsein setzt bereits über Stunden aus. Bereits von schwerer Krankheit gezeichnet, hat er fast das ganze Jahr auf Feldbetten bei den französischen Truppen verbracht (vgl. Moser 2008: 138). Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand. 151 narchie der habsburgischen Mächte Spanien und Österreich geschuldet ist und sich im 17. Jahrhundert bereits als historisch gewachsen darstellt: Geographisch wird Frankreich von beiden Seiten, nach Südwesten und nach Osten hin, von den Habsburgern bedrängt. Die Lagerbildung zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges zeigt einerseits Frankreich, unterstützt von den kleineren europäischen Mächten Schweden und Niederlande, andererseits Spanien und Österreich, unterstützt von Italien und dem Heiligen römischen Reich deutscher Nation. Auf die Seite Frankreichs gehört zudem das Fürstentum Lothringen, während Spanien und Österreich von von den Königreichen Sizilien und Neapel, dem Herzogtum Mailand und Böhmen unterstützt werden. Die Ausgangslage entspricht für Frankreich ziemlich genau der Konstellation seines sogenannten „Habsburg-Syndroms“ (Schmale 2000: 315-318): Im Wesentlichen steht eine antispanische Koalition aus Franzosen, Schweden und Holländern den mächtigen Habsburgern gegenüber (vgl. Taussig 2006: 123). Trotz des von ihm vertretenen Katholizismus und dessen französischer Tradition scheut der Kardinal auch die Koalition mit dem protestantischen Schweden nicht, wenn es dadurch gelingt, Spanien in die Knie zu zwingen und seine Hegemonie in Europa zu verhindern. 10 Der dramatische Konflikt entfaltet sich nach einem allegorischtänzerischen Prolog 11 in fünf Akten. Dass hier die französische Perspektive die Richtschnur bildet, ist nicht nur an den vier an den Leser gerichteten Versen ersichtlich, welche die Erstausgabe gleichsam als Motto überschreiben und nicht gerade zur Entlastung der politischen Auseinandersetzung beitragen: Quiconque aime la France, aimera cet ouvrage Et qui ne l’aime pas, en maudira l’Auteur. Tu me vas contenter, qui que tu sois, Lecteur, Des uns j’aime la joie, & des autres la rage. Auch im Vorwort ist die Tendenz deutlich vernehmbar: „[C]ette Pièce […] représente l’ambition des Espagnols pour se rendre maître de l’Europe, & la protection que lui donne le Roi avec ses Alliés, pour la garantir de servitude“ (Desmarets 1643: unpaginiert). Die einzelnen am Konflikt beteiligten Nationen erhalten meist sprechende Namen, die sich aus Geschichte und Nationalmythologie herleiten und 10 Zur Außen- und Europa-, im engeren Sinne zur Reichspolitik Richelieus vgl. Malettke 1998; Weber 1968. 11 Der Prolog - darauf deuten die Verse lxiv-lxv hin: „Ballets, masques, déguisements, / Tournois & carrousels“ - ist als Ballett angelegt; vgl. Taussig 2006: 42. Roland Alexander Ißler (Bonn) 152 die am Ende des Erstdrucks durch den folgenden Personenschlüssel (Desmarets 1643: unpaginiert) dechiffriert werden. 12 CLEF-Personnages. LA REYNE EVROPE Représente l’Europe FRANCION. Le Franςois. IBERE. L’Espagnol. AVSONIE. L’Italie PARTHENOPE. Naples MELANIE. Milan AVSTRASIE. La Lorraine LILIAN. Suivant de Francion HISPALE. Suivant d’Ibere. Als Titelfigur erscheint die Europa als geopolitische Entität verkörpernde Kontinentalallegorie Europe, die - in Anknüpfung an die Tradition der Erdteildarstellungen einerseits (vgl. Poeschel 1985), an ihren mythologischen Namen andererseits (vgl. Guthmüller 2009; Renger/ Ißler 2009) - weibliche Züge trägt. Der Weiblichkeit Europes steht die Männlichkeit der beiden Antagonisten Francion und Ibère (Frankreich und Spanien) entgegen, die als Edelmänner um die Gunst der „Reyne Europe“ werben. Die ambivalente Semantik des Begriffs der ‚Eroberung‘ erstreckt sich dabei sowohl auf die erotische als auch auf die militärische Ebene. Wenn etwa Ibère gleich in der ersten Szene verlauten lässt, er entbrenne in Liebe zu der Königin und sei einzig ihrer würdig („Je brûle pour Europe, […] je suis seul digne d’elle.“, I.1, V. 9f.), 13 so ist auf der Handlungsebene der Comédie der geplante amouröse Eroberungszug gemeint, im allegorischen Sinn aber zugleich der deutliche Hegemonialanspruch Spaniens auf dem Kontinent, hier übrigens geäußert gegenüber Germanique, der Allegorie des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Aus der Menge der europäischen Nationen und Konfliktparteien wählen Richelieu und Desmarets gezielt nur einzelne aus. Schweden und Holland 12 Das Vorwort der Erstausgabe, abgedruckt unter dem Titel „Le libraire au lecteur“, erläutert die Typisierung des allegorischen Personals, für dessen Darstellung Desmarets sich bei einzelnen Vertretern klischeehafter Zuschreibungen bedient: „Vous jugerez encore que l’Autheur accusant de quelques vices quelques uns des Personnages de la Piece, a entendu parler des vices que l’on attribuë aus Nations, n’ayant pas mesme espargné la nostre, pour se montrer equitable: mais qu’il n’a point entendu parler des Princes qui lui commandent, lesquels n’ont aucun de ces deffauts; & que representant Ibere, il a presenté seulement l’Espagnol en general: ce qui est manifeste en ce que ceux qui ont veu le Roy d’Espagne, sçavent qu’il est d’un teint bien contraire au bazané ; & qu’il est bien esloigné d’avoir les qualitez de violent & d’artificieux, que l’on attribuë à Ibère dans cét ouvrage.“ (Desmarets 1643: unpaginiert). 13 Zitiert wird hier und im Folgenden, sofern nicht anders angegeben, mit Akt-, Szenen- und Versangabe nach der Ausgabe Desmarets de Saint-Sorlin 2006. Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand. 153 werden z.B. ausgeblendet - Francion bedarf fremder Hilfe nicht. 14 Dagegen kommt den kleineren, weitgehend fremdbestimmten Fürstentümern besonderes Gewicht zu. Lothringen etwa steht - zumindest offiziell - auf der Seite Frankreichs; das Herzogtum Mailand und die Königreiche Sizilien und Neapel hingegen sind bereits seit dem späten 15. bzw. frühen 16. Jahrhundert von der spanischen Krone dominiert. Im dramatischen Konflikt stehen sich schließlich Francion mit Austrasie (Lothringen) und Ibère mit Mélanie (Mailand) und Parthénope (Neapel) gegenüber. 15 Zwischen Francion und Ibère steht zudem noch Ausonie, die Allegorie des in Fürstentümer, Stadtrepubliken und Kirchenstaat zersplitterten Italiens, immer wieder Austragungsort für kriegerische Auseinandersetzungen der europäischen Großmächte. In der Comédie wie in der Geschichte kommt dieser Partei eine strategische Position zu, über deren Eroberung die Vormacht in Europa erfolgen könnte. 16 Durch ihre allegorischen Bezüge zur Realpolitik reflektiert die Komödie also insgesamt die Situation Europas im Jahr 1642. Der poetologisch unabdingbare glückliche Komödienschluss wird jedoch nicht durch die obligatorische Vermählung der Liebenden erreicht werden, sondern durch politische Verhandlungen, wie sie erst sechs Jahre nach der Uraufführung des Stücks im Westfälischen Frieden Realität werden sollen. Dass Richelieu vor diesem historischen Finale durch seinen Tod von der politischen Bühne abberufen wird, macht es im nachhinein möglich, im Drama Europe seine politischen Ziele - die politische Neuordnung des Kontinents im Hinblick auf eine ausbalancierte Machtverteilung gleichberechtigter Staaten unter französischer 14 Dass gerade die Bündnispartner Frankreichs in der Anti-Habsburg-Koalition, Schweden und die späteren Niederlande, letztere selbst noch bis 1568 in habsburgischer Hand, ersatzlos entfallen, mag an der unverhohlen parteiischen Darstellung aus französischer Sicht liegen, geht doch Frankreich um so heroischer aus dem Wettstreit um die Gunst Europas hervor, wenn Francion den Konflikt ohne fremde Unterstützung zu lösen vermag. Aber auch dramaturgische Gründe mögen vor dem Hintergrund der didaktischen Konzeption der Komödie die Reduktion der komplexen historischen Gemengelage motiviert haben; die Überschaubarkeit der Handlung auf der Bühne wird zumindest deutlich vergrößert. - Das Haus Habsburg erscheint nur in der Verkörperung Ibères, wohingegen das Erzherzogtum Österreich als Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation nicht explizit hervorgehoben wird. An der Spitze des Kaiserreichs steht zwischen 1619 und 1637 Ferdinand II. 15 Den beiden Antagonisten sind in einer „symétrie inverse“ (Taussig 2006: 131) jeweils Vertraute oder Gefolgsleute („suivants“) zugeordnet, die keine eigenen Nationen im strengen Sinn verkörpern: Für Francion ist dies Lilian, dessen Name auf die bourbonische Lilie anspielt und in dem sich möglicherweise Richelieu selbst ein Denkmal setzen will (vgl. ebd.; die keineswegs abwegige Vermutung wird durch den dramatischen Text allerdings nicht ausdrücklich gestützt), für Ibère hingegen, etymologisch motiviert, die Kunstfigur Hispale. 16 Vgl. dazu genauer den Abschnitt „Minnedienst mit Rückschlägen: Ibères Intrigen“ (s.u). Roland Alexander Ißler (Bonn) 154 Führung - gleichsam in actu mitzuverfolgen. Wie setzen Richelieu und Desmarets diesen Konflikt nun dramaturgisch um? Dramaturgie der Machtverteilung: Die Exposition der Comédie héroïque Der Erste Akt zeigt zunächst Ibère im Dialog mit Germanique. Gegen dessen Rat bleibt er entschlossen, Europe mit aller Macht besitzen und nebenbei Francion besiegen zu wollen (I.1). Doch schon der zweite Auftritt erweist, dass Europe ihren Verehrer Ibère in Wahrheit als Feind betrachtet, der sie zerstören wolle. Die französische Perspektive ist also auch die der Protagonistin, was die Sympathielenkung des Zuschauers mit deutlicher Intention zu Ungunsten Spaniens beeinflusst. 17 Dennoch präsentiert sich Ibère selbst als glühender Liebender, dessen Affekte Europe jedoch schnell als Ehrgeiz und Stolz entlarvt. Je mehr sie aber ihren selbsternannten Eroberer von seinem Vorhaben abzubringen trachtet, desto mehr stachelt sie ihn dazu an, und desto mehr erweist sich sein Eroberungsdrang als gegen den Willen der Europe gerichtetes Verhalten. Ihren Retter aus dieser iberischen Bedrohung hat Europe sich gleichwohl schon selbst erwählt: „Non pas pour mon Amant, mais pour mon Chevalier.“ (I.4, V. 224) Francion und Ibère werden in der Rede Europes als loyaler, ritterlicher Held und ‚Anti-Held‘ in trennscharfen Antithesen gegeneinander ausgespielt: „Ie connois vos vertus, & ie sçay ses deffauts. / De vous naissent mes biens, de luy naissent mes maux.“ (I.4; V. 211f.) Das französische Feindbild Spanien wird mithin durch den Text der Komödie wenn nicht überhaupt erst generiert, so doch zumindest unmissverständlich provoziert und gefestigt. 18 Europe macht aber noch etwas anderes deutlich, und darin liegt die zukunftsweisende Botschaft Richelieus: Der Komödienkonflikt wird sich nicht etwa konventionell durch eine (Liebes-, Vernunft- oder Zwangs-)Heirat mit einem der Antagonisten, Francion oder Ibère, beilegen lassen, sondern Europe - ganz dem höfischen Rollenmodell der besungenen Dame verpflichtet, 17 Diese Parteinahme hat fundamentale Auswirkungen auf die historische Deutung des Geschehens: „[L]a France y prend l’image du justicier qui aide Europe à retrouver la paix et la liberté contre les ambitions despotiques de l’Espagne.“ (Chaineaux 2005: 820). Dass Europe in dieser Hinsicht auch als Rechtfertigungsschrift für die französische Außenpolitik der 1630er Jahre dient, darauf deutet u.a. die auffällige Rekurrenz des Adjektivs „(in)juste“ mit seinen Derivaten in der Comédie hin (vgl. Taussig 2006: 147, hier allerdings nur auf den Lothringen-Konflikt bezogen). 18 Auch in seinem Testament politique kontrastiert Richelieu Spanien systematisch und ausgiebig als ‚abschreckendes Beispiel‘ mit Frankreich; vgl. dazu Hildesheimer 2002: 133. Zum ambivalenten Bild Spaniens aus der Sicht Frankreichs im 17. Jahrhundert vgl. Yali Haran 1997. Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand. 155 die dem für sie glühenden Ritter keine Gnade gewährt - verlangt vielmehr die Gewährleistung, Jungfrau zu bleiben und frei zu sein: „Car ie veux demeurer vierge & libre à iamais“ (V. 112). 19 Nicht durch die Inbesitznahme Europes kann man ihr dienen, sondern, im Gegenteil, durch das Eintreten für ihre Unabhängigkeit. Richelieu und mit ihm die Comédie erkennen sehr subtil, dass das Europa ihrer Epoche nicht einer Eheschließung, sondern vielmehr der Unabhängigkeit bedarf; so wird Francion die Braut Europe nicht heimführen, sondern - ein prägnantes Bild für die Friedenssicherung auf dem Kontinent durch Frankreich - als liebender Held für ihre Freiheit eintreten. Dies alles deckt sich verblüffend exakt mit der Zielsetzung Richelieus nach dessen eigener Aussage im historischen Konflikt, wie der Historiker Wolfgang Schmale bestätigt: „[D]en Kampf gegen die vermeintliche habsburgisch-spanische Universalherrschaft führte Frankreich in der Selbstinterpretation nicht nur für sich, sondern für ganz Europa. Man muß sich nicht wundern, wenn Richelieu und Ludwig XIII. öffentlich als ‚libérateurs de l’Europe‘ bezeichnet wurden.“ (Schmale 2000: 318). Einen kleinen Eindruck vom klassischen Sprachduktus und der rhetorisch höchst kunstvoll verdichteten Anlage der Comédie mag das folgende Textbeispiel aus der Finalszene des Ersten Aktes (V. 276-285, 292f.) vermitteln. Das Wortgefecht zwischen Ibère und Europe, das den ersten Akt beschließt, ist als erbitterter Schlagabtausch inszeniert. IBERE Mon sang pour vostre amour est prest à se répandre. EVROPE C’est pour m’assuiettir & non pour me deffendre, IBERE Mais c’est moy que l’amour a fait vostre sujet. EVROPE De vostre amour nous mesme estes le seul objet. IBERE J’ay pour vous plus d’amour que nul Prince des vostres. EVROPE De cette mesme amour vous en aymez cent autres. IBERE Seule dans l’univers vous possedez mon cœur. EVROPE Pretendez-vous quitter Amerique ma sœur ? IBERE Non, car contre vous-mesme elle m’est secourable. EVROPE Vous voulez les deux sœurs, inceste abominable. IBERE Europe il faut choisir : soyez belle inhumaine, L’objet de mon amour, ou l’objet de ma haine. Ibère übernimmt folgerichtig die Rolle des Herausforderers, Europe hingegen bringt den Reim jeweils zum Abschluss und behält so stets, im forma- 19 Vgl. auch Chaineaux 2005: 829. Eine interessante historische Fragestellung leitet Taussig aus dem Verzicht auf die Hochzeit am Komödienende her: „Remarquable est donc ici, au contraire, que la pièce se termine non pas par un mariage, mais par des négociations diplomatiques. Est-ce à dire que Richelieu aurait aimé éliminer la dimension matrimoniale de la politique étrangère? “ (Taussig 2006: 52). Roland Alexander Ißler (Bonn) 156 len wie übertragenen Sinn, mit Ausnahme des letzten Verspaars, das letzte Wort. Von Herrschsucht und Machtbesessenheit über Nationalstolz und Selbstverliebtheit bis hin zu Unersättlichkeit im Erotischen wie im Politischen und ausbeuterischen Kolonialinteressen Europas Schwester Amerika gegenüber kommen darin nacheinander die in der Comédie durchgängig inszenierten, oft klischeebehafteten Vorwürfe Ibère bzw. Spanien gegenüber systematisch zur Sprache, so als arbeiteten Richelieu und Desmarets einen ganzen Katalog von antispanischen Nationalstereotypen ab. 20 Minnedienst mit Rückschlägen: Ibères Intrigen Wie dramaturgisch elaboriert das Stück sich präsentiert, zeigt sich auch an der instinktsicheren Erzeugung von Spannung. Das lässt sich schon am Ende des Ersten Aktes nachweisen: Die Drohung, mit der Ibère Europe am Schluss des Streitgesprächs das Wort abschneidet (I.5, V. 315f.), ist von Desmarets in ihrer Wortwahl, Wirkung und Position genau kalkuliert: IBERE Adieu, superbe, adieu: nous verrons queque iour Si vous serez à nous par force ou par amour. Die herausfordernden Worte deuten an, dass Ibère noch andere Wege sieht, seine Interessen gegen Europa und Frankreich durchzusetzen. Und tatsächlich bedient sich die Figur, um doch noch an ihr Ziel zu gelangen, den Kontinent bzw. die Königin Europe zu unterwerfen und gleichzeitig Frankreich auszustechen, zweier Intrigen. Zuerst versucht Ibère, die strategische Zwischenposition Italiens auszunutzen; er umwirbt die als weibliche Figur eingeführte Ausonie (II.1). Die planvoll angelegte Geschlechterzuordnung der Nationalallegorien bedient 20 Die Verwendung von Stereotypen wird in den Ausgaben von Chaineaux und Taussig dezidiert erörtert. Stilisiert Desmarets die Figur des Francion als „l’exemple du monarque parfait qui ne gouverne pas par goût du pouvoir mais par sens du devoir et pour servir les autres“ (Chaineaux 2005: 835) und „[p]arfait héros, amoureux vertueux et grand prince [qui] agit avec clémence [et] se montre magnanime vis-à-vis d’Ibère“ (Chaineaux 2005: 834), so tritt dem „homme de la clémence et du pardon“ (Taussig 2006: 122) in Ibère „l’incarnation parfaite de l’anti-héros“ gegenüber, „[guidé] par sa passion du pouvoir“, „prêt à tout pour parvenir à ses fins [mais qui] ne tient pas ses promesses“. (Chaineaux 2005: 835). Franchetti ergänzt für Ibère „[l]’incontenibile passione amorosa per Europa e l’insaziabile sete di potere“ (Franchetti 2002: 15). In seltener Eintracht finden die beiden Kontrahenten allerdings in dem Bild zusammen, das beide sich von der Figur der Europe machen: „[L]es deux adversaires partagent une seule et même vision de la femme en elle: généreuse, grave, courtoise, riche, amoureuse des arts et non pas des hommes (dans la bouche d’Ibère, v. 58-60; de Francion, v. 174) et guerrière quand il le faut (selon Ibère, v. 63, selon Europe, v. 755).“ (Taussig 2006: 46). Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand. 157 mithin wiederum die erotische Bedeutungsebene. 21 Die Gelegenheit zum Übergriff scheint günstig, nachdem gerade ein italienischer Fürst gestorben ist (vgl. V. 342) - eine Anspielung auf den historischen Erbfolgestreit im Fürstentum Mantua, in den sich sowohl Spanien als auch Frankreich einschalten (vgl. Hinrichs 1997: 176). Im Dialog Ibères mit Ausonie spielen jetzt die Königreiche Neapel und Mailand eine bedeutende Rolle, da sie geographisch Italien verbunden, politisch jedoch Spanien zugeordnet sind. Scheinbar großherzig bietet Ibère seine Hilfe an. Historisch folgerichtig stellen sich Parthénope und Mélanie auf seine Seite und raten Ausonie dazu, gegen Europe zu paktieren. Ausonie aber lässt sich von Ibères glorreichen Versprechungen nicht blenden; sie erkennt vielmehr, dass sie sonst ihre Königin verriete: „ie tromperois Europe“ (V. 396). Um die Verwicklungen der Comédie héroïque hier abzukürzen: Ibères erste Intrige scheitert am rechtzeitigen Eingreifen Francions zum Schutze Ausonies und Europes. Die nächste Schwachstelle wählt Ibère ebenfalls erfolglos - Austrasie, d.i. Lothringen, aufgrund des Aussterbens der männlichen dynastischen Linie im 15. Jahrhundert unfreiwillig in französische Hand geraten. Francion wendet aber auch diese Intrige zu seinen Gunsten, und so gehen einem nunmehr isolierten Ibère die Koalitionspartner aus. In der wenig heldenhaft angelegten Figur ersetzen Hitzigkeit, Wut und Emotionalität die kühle Raison, für die Frankreich steht: „Et si la force manque, il me reste la rage“ (III.7, V. 1060). Haben Richelieu und Desmarets im Verlauf des dramatischen Texts gezielt darauf hingearbeitet, Ibère durch hyperbolische Selbstaussagen und ‚unfranzösische‘ Attitüden systematisch zu diskreditieren, so wird Ibère spätestens jetzt als heimtückischer Verräter abqualifiziert, dem für die Erreichung seiner selbstsüchtigen Ziele nichts heilig ist: „Tout sert à mes desseins: pour mon ambition / J’immole honneur, parens, respect, Religion.“ (V.2, V. 1159f.). In der historischen Wirklichkeit ist Spanien seit der vernichtenden Niederlage der Armada im Seekampf gegen England in einer militärisch geschwächten Position, kraftlos zudem durch Staatsbankrotte und den politisch wenig ambitionierten König Philipp III. 22 Davon aber ist in Europe weniger die Rede: Francion als Held auf der Theaterbühne benötigt einen starken, wenigstens ernstzunehmenden Gegner. 21 „Avsonie est son cœur, son œil, sa fauorite, / Ses delices, son ame, elle croit son conseil.“ (II.1, V. 330f.). Ibère greift damit übrigens unmittelbar Worte aus Richelieus Testament politique auf, der Italien als „Cœur du Monde“ bezeichnet (Richelieu 1688: Bd. II, 131). 22 Spanien ist demnach zur Aufrechterhaltung seiner Monarchie auf Europa angewiesen: „Depuis 1588, date du désastre de l’Invincible Armada, le roi d’Espagne a besoin de son axe européen, pour assurer la communication avec les Pays-Bas du sud et la maison d’Autriche.“ (Taussig 2006: 20). Roland Alexander Ißler (Bonn) 158 Richelieus literarische Vision: Die „Verrechtlichung“ des Friedens Fluchtpunkt der Comédie jedenfalls, und darin ist sie tatsächlich ein visionäres Werk von unschätzbarem kulturgeschichtlichem Wert, ist die Verhandlung eines zum Zeitpunkt der Textredaktion noch ausstehenden, ja sogar durchaus noch illusorischen Friedens in Europa. Das Stück ist mithin die fiktionale Umsetzung einer politischen Utopie, von der keiner der an ihrer politischen Gestaltung und ästhetischen Darstellung Beteiligten, weder Richelieu noch Ludwig XIII. noch Desmarets, wissen konnte, ob überhaupt und, wenn ja, wann und in welcher Form sie sich würde verwirklichen lassen. Indem Richelieu diese Erwägung in der Literatur verankert, führt er den späteren Frieden natürlich durchaus auf seine eigenen staatsmännischen Meriten zurück. Ein mit dem Inhalt der Comédie mehr oder minder kongruenter Eindruck hat sich in der heutigen Historiographie in der Nachwelt tatsächlich etabliert: „Mit dem offenen Kriegseintritt“, schreibt z.B. der Berliner Historiker Günter Vogler noch 2003, „war Richelieus Ziel ein Frieden für die ganze Christenheit. Es sollte ein Gleichgewicht der Mächte hergestellt, der Staatenpluralismus gesichert und der französische König eine herausgehobene Stellung einnehmen.“ (Vogler 2003: 145f.) Eine dieser Richelieu’schen Vision gemäße Verhandlung nach französischem Diktat leistet in Europe die Finalszene im Fünften Akt. Francion agiert darin als Friedensbringer, in einer ihm von Europe selbst zugewiesenen Rolle: „Je désire la paix, & la veux espérer, / C’est à moi d’y courir, à vous de l’assurer.“ (V.4, V. 1688f.). Am Ende der Komödie muss Ibère schließlich seine umfassende Niederlage eingestehen; der weise Germanique fügt sich dem höheren Ziel einer internationalen Verständigung und nimmt das Friedensangebot an, das Francion, im Interesse Europes, ihm anträgt. In Ansehung des weiteren Verlaufs der europäischen Geschichte lässt sich nachträglich sagen, dass Frankreichs Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg seine spätere Führungsstellung in Europa begründet hat (vgl. Hinrichs 1997: 177). „Spanien verlor seine Bedeutung als Hegemonialmacht, und Frankreich trat an seine Stelle. Die spanische Monarchie war künftig nur noch eine zweitrangige Macht.“ (Vogler 2003: 86). Richelieu hat diese Entwicklung nicht mehr erlebt, wenngleich zeitlebens vehement darauf hingearbeitet. Seine Einflussnahme auf die Komödie Europe deutet darauf hin, dass er die politische Entwicklung sehr hellsichtig verfolgt und im Kern vorausgesehen hat. 23 In diesem Sinne kann die Finalszene der Comédie als eine literarische Antizipation des Westfälischen Friedens gelesen werden. 23 Richelieu akzentuiert in seinem Testament politique die Voraussicht ausdrücklich als unbedingt notwendige Voraussetzung für die Staatslenkung: „Rien n’est plus nécessaire au Gouvernement d’un Etat que la Prévoyance, puis que par son Moyen on peut aisément prévenir beaucoup de Maux, qui ne se peuvent guerir qu’avec de grandes Difficultez quand ils sont arrivez.“ (Richelieu 1688: Bd. II, 18). Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand. 159 Durch diesen „gab es erstmals so etwas wie eine politische europäische Ordnung, die durch einen Vertrag abgesichert war. Frankreich wurde eine der Garantiemächte.“ (Schmale 2000: 319). In der im 17. Jahrhundert geltenden Komödienpoetik ist die Entwirrung der Intrige (dénouement) notwendig mit einer umfassenden Integration aller konflikttragenden Elemente verbunden. Dem integrativen Charakter eines klassischen Komödienschlusses entsprechen folgerichtig auch in Europe die versöhnlichen Schlussworte der Titelheldin (Finale, V. 1896-1904), die sich ihres Friedensfürsten Frankreich zwar gewiss ist, als schützende Kontinentalpatronin trotz allem aber die ‚feindlichen‘ Mächte nicht von der für alle profitablen Einigung ausschließt: EVROPE. Tous deux estans d’accord Vous me donnez la paix : ie ne crains nul effort. Que le Ciel, Francion, toujiours vous favorise, Et vos chers Alliez autheurs de ma franchise. Germanique en mon cœur tiendra ce mesme rang. Ie vous aymeray tous : vous estes tous mon sang. Ibere l’est außi : s’il estouffe sa flame Ie luy reserve encor une place en mon ame. Europa: Seid einig im Vertrag Und schenkt den Frieden mir: Ich fürchte keinen Schlag. Auf immer, Francion, sei günstig Euch der Äther Und den Verbündeten, die meiner Freiheit Väter. Genauso ist mein Herz auch Germanique gut. Euch alle liebe ich: Ihr seid von meinem Blut. Ibere ist es auch: Läßt er die Flamm’ erkalten, So bleibt in meiner Seel’ auch ihm ein Platz erhalten. 24 Auch wenn der Krieg zwischen Frankreich und Spanien selbst 1648 noch nicht beigelegt sein, sondern Spanien noch bis 1659 entkräften wird, entsteht der Frieden in Richelieus Vision aufgrund der „Verrechtlichung“ (Mirow 2009: 328) des Befriedungsprozesses, d.h. im Drama aus dem Einklang (accord) der beteiligten Konfliktparteien heraus, und er ist als ein vertraglicher Friedensschluss an Bedingungen geknüpft. Europa als friedlicher Kontinent und Garant für Sicherheit und Stabilität ist das Produkt einer ‚Allianz‘; als solche funktioniert die Staatengemeinschaft deswegen, weil ihre einzelnen Glieder sich in der Bühnenfiktion als blutsverwandt mit der gemeinsamen Königin entpuppen. Tatsächlich wird die Zeit der großen Hegemonialversu- 24 Nachdichtung d. Vf.s, zitiert nach Renger 2003: 99f. Roland Alexander Ißler (Bonn) 160 che bald der Vergangenheit angehören und etwa zwischen dem Tod Ludwigs XIV. und der Französischen Revolution in ganz Europa weitgehend durch die einst von Richelieu vorgedachte Kräftebalance ersetzt werden (vgl. etwa Mirow 2009: 327). Was aus heutiger Sicht, im Wissen - trotz aller schlimmen Rückschläge in späterer Zeit - um die europapolitische Entwicklung der Europäischen Union, als ein selbstverständlicher Gedanke erscheint, muss am Ende eines dreißig Jahre währenden Dauerkonflikts ohne Hoffnung auf Einlenken und vernunftgeleitete Beilegung als ein wirklicher Befreiungsschlag empfunden worden sein. So zieht denn auch der Rezensent einer Nachkriegsaufführung durch eine Pariser Laienspieltruppe im Theatersaal des Bahnhofs Austerlitz im April 1954 von der „späte[n] Wiederholung einer politischen Bühnenallegorie“ eine direkte Verbindung in seine Gegenwart: „Europa-Union im siebzehnten Jahrhundert“ (Ellmar 1954). Richelieu als ‚Dichter und Vor-Denker’ des europäischen Friedens Es soll hier keine historische Verklärung der Richelieu-Ära betrieben werden. Sachlich ist zwar festzuhalten, dass der Kardinal seine politische Vision sehr klug und zielgerichtet in ein klares, im Geiste der französischen Klassik organisiertes dramatisches Konzept einbettet bzw. einbetten lässt. Aus der bewusst eingesetzten Rhetorik wird aber auch die subtile Propagandamaschinerie ersichtlich, als welche Richelieu das Theater begreift. 25 Der Lenker der Kulturpolitik von Amts wegen macht sich das von ihm dominierte Theatermedium in einem beachtlich modernen Akt der politischideologischen Manipulation zunutze, deren Wirkung nur aufgrund der theatergeschichtlichen Kurzlebigkeit der von ihm in Auftrag gegebenen Comédie verfehlt wird - dafür aber sind äußere Faktoren die Ursache, nicht etwa eine mangelnde rhetorische Schlüssigkeit oder Ingeniosität des Dramas. Das Kuriosum hieran ist seine nachträgliche Beglaubigung durch den Verlauf der Geschichte im Hinblick auf den Westfälischen Frieden und die diplomatische Garantenrolle Frankreichs. Anders als offenbar von Richelieu beabsichtigt, hat gerade das Drama am wenigsten zu alledem beigetragen. Dass es Richelieu dagegen mit der Comédie héroïque durchaus um die literarische Festschreibung seines staatspolitischen Lebenswerks geht, das auf diese Weise gesteuert in das kulturelle Gedächtnis seiner Nation übergehen soll, belegen seine nachgewiesen erfolgreichen Bestrebungen in letzter Eile, noch zwei Tage vor seinem Tod, für Europe Sonderprivilegien der Überset- 25 Taussig bezeichnet das Theater im Sinne Richelieus als „perçu comme une arme de persuasion politique“ (Taussig 2006: 38) und äußert an anderer Stelle, konkret auf die hier untersuchte Comédie bezogen, auch die Hypothese, dass „Europe vise aussi à convaincre le roi lui-même, après la Cour.“ (Taussig 2006: 143). Der Dreißigjährige Krieg in allegorischem Gewand. 161 zung zu erwirken. 26 So kann das ungewöhnliche Stück, ob aus Richelieus eigener Feder oder nur von ihm konzipiert, als literarisches Pendant zu dessen politischem Testament betrachtet werden. 26 „A special privilège of twenty years for Europe was issued to Le Gras on 2 December 1642 specifically and unusually granting the rights for publishing the play not only in French but in Latin, German, and any other language. No such translation has come to light.“ (Hall 1990: 196). Hall scheint die oben erwähnte deutsche Fassung nicht zu kennen. Außer dieser Übertragung ist jedoch keine weitere zeitgenössische Übersetzung bekannt. Vgl. auch Chaineaux 2005: 815; Franchetti 2002: 7f. Roland Alexander Ißler (Bonn) 162 Literaturverzeichnis Primärwerke Anonymus [Desmarets de Saint-Sorlin, Jean]: Evrope. Comedie heroique. A Paris, Chez Henry Le Gras, au troisiesme pilier de la grand’ Sale du Palais, à L[a] Couronnée. M. Paris 1643. 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Als Erscheinungsort der zwei ersten Fassungen bestimmt der Dichterkönig einen imaginären Turm, den donjon du château, jenen hohen, durch dicke Mauern wehrhaft gemachten Wohnturm eines Schlosses, der als Markenzeichen der Macht und als Symbol der Unabhängigkeit des Adels in der feudalen Lebenswelt fungiert. Die drei Gedichtbände des preußischen Monarchen erwähnen an keiner Stelle explizit den Namen ihres Verfassers; allerdings weist der Titel der Bände Œuvres du Philosophe de Sans-Souci auf den mächtigen Besitzer des neuerbauten Schlosses Sanssouci im Arkadien Preußens hin. Der Verweis auf ein allumfassendes schriftstellerisches Werk gerade in der Pluralform Œuvres für Bände, die sich ausschließlich der Dichtung widmen, hebt deren Stellenwert hervor, bei einem ja auch sonst sehr produktiven und vielseitigen Autor. 2 Und auch Apollo, der griechische Gott des Lichtes und der Dichtung, wird auf dem Deckblatt des Werkes als zeitloser Garant für Qualität zitiert. So steht in den seltenen Exemplaren der rot eingebundenen Prachtausgabe mit Goldverzierung auf dem Deckblatt: Œuvres du Philosophe de Sans-Souci / Au donjon du château, avec le privilège d’Apollon, womit ausgewiesen wird, dass sich hier die Dichtung mit der Philosophie, die Modernität mit der Mythologie, aber auch das Licht der neuen Zeiten mit der verborgenen Dunkelheit eines mittelalterlichen Turmes vereint finden. In Veröffentlichungen des 18. Jahrhunderts sind fiktive Ortsangaben keine Seltenheit . Um gedruckt zu werden, benötigten Bücher eine königliche 1 Dt. Übersetzung: „Aber er war von der Wut, Verse zu schmieden, besessen wie Dionys.“ (Voltaire 1967, S. 42.) 2 Parallel zu einer öffentliche Fassung beim Verleger Neaulme in Berlin hat Friedrich 1751 seine Mémoires pour servir à l'histoire de la maison de Brandebourg auch privat drucken lassen mit der Ortsangabe „donjon du château“. (Vgl. dazu Preuss 1848, Bd. 1, S. XXXVII.) Vanessa de Senarclens (Potsdam) 166 Erlaubnis, in Frankreich das sogenannte Privilège du Roi. Aber im Schatten dieses Bereichs florierte in ganz Europa ein inoffizieller Büchermarkt mit entweder stillschweigend geduldeten Titeln oder mit strikt verbotenen, von Kirche und absolutistischem Staat aufs Schärfste bekämpften Werken (vgl. Darnton/ Roche 1989). Im Falle der streng verbotenen Bücher, die in der Sprache der Fachwelt als marrons (Esskastanien) bezeichnet werden, dienten die fiktiven Ortsangaben dazu, die Zensur zu umgehen und den Autor und seinen Verleger vor Verfolgungen zu schützen. Fiktive Ortsangaben verweisen dabei oft indirekt auf den Inhalt des Buches. Sie bieten dem Leser eine erste Orientierung und geben zudem einen Hinweis auf die literarische Gattung. So erscheinen erotische Texte des 18. Jahrhunderts bevorzugt auf der Venusinsel Cythère (oder auch in „La Nouvelle Cythère“), politisch-kritische Bücher hingegen „bei dem Drucker, der es gedruckt hat“, „im Meer“ oder - mit einer gewissen Lust an der Provokation - „hundert Meilen von der Bastille entfernt“ (vgl. Sauvy 1984: S. 110-118 ) . Manche geben als Erscheinungsort schlechthin die „Hölle“ an, womit die Gefahren für Leib und Leben angedeutet werden, welchen die Verleger beim Verfolgen ihrer Geschäfte ausgesetzt sind, oder, eher ironisch, die vermuteten Gefahren für die Seelen der Leser. Dichtung im Turm Um seine eigene Dichtung geheim zu halten, hat Friedrich besondere Vorkehrungen getroffen: Seine Gedichtbände erscheinen ohne den Namen des Autors, nur mit einer fiktiven Ortsangabe versehen und noch dazu in einer sehr kleinen Auflage. Nur auf jeweils annähernd vierzig Bände kommen die drei verschiedenen Ausgaben. Laut des Berichtes eines italienischen Historikers des 18. Jahrhunderts, Carlo Denina, hat Friedrich im Falle des ersten Druckes der Œuvres du Philosophe de Sans-Souci von 1749 - einem Band, der ein komisches Epos enthält, Le Palladion, in dem die Jesuiten als gefährliche Bande von Vergewaltigern figurieren - sogar zu besonders drastischen Methoden gegriffen. Im absolutistischen Gestus des Zensors ließ er zunächst die Gedichtbände, die ihm besonders verfänglich erschienen, verbrennen, um sie dann nur wenig später, im Gestus einer trotzigen Freiheit, erneut zu publizieren . 3 Neben den Vorsichtsmaßnahmen, zu denen er bei seiner eigenen Bücherproduktion griff, hielt Friedrich auch beim Verfassen seiner Dichtung keinen Aufwand für zu groß. Der bekannteste aller zeitgenössischen 3 „Le roi en fit imprimer au donjon du château cinquante exemplaires, qu'il brûla ensuite. Je tiens cela d'une personne qui étoit présente lorsque les exemplaires furent jetés aux flammes. Cependant Fréderic fit de nouveau imprimer ce poëme; et il n'en laissa tirer que vingt-quatre exemplaires.“ (Denina 1789: 89) „Au donjon du château“ - Im Turm des Schlosses: 167 französischen Dichter, Voltaire, wurde ganz ausdrücklich deswegen nach Potsdam geholt und großzügig vergütet, um des Königs Dichtung „zwei Stunden pro Tag“ zu korrigieren, ihr dabei „einen gewissen Schick“ zu verleihen und dem lernbegierigen Dichter die Regeln der Poetik zu vermitteln. (Voltaire 2006: 75f.) 4 . Man kann daher den letzten Gedichtband der Œuvres du Philosophe de Sans-Souci von 1752 als das Ergebnis einer langjährigen Auseinandersetzung Friedrichs mit der französischen Dichtkunst unter Voltaires Regie ansehen, eines Gesprächs über Literatur, das bereits in den Rheinsberger Jahren (1736-1740) seinen Anfang nahm. Zudem wurde ein begabter Künstler, Georg Friedrich Schmidt (1712-1775), der in der französischen Stechkunst der Buchillustrationen der Contes Jean de La Fontaines bewandert war, eigens aus Paris nach Preußen geholt, um die Dichtung des Königs mit Putti, Satyren und tanzenden Musen in Rokokomanier zu illustrieren (Seidel 1901: 60-75). Außerdem ließ der König 1745 im Apothekenflügel des Berliner Schlosses eine private Druckerei einrichten, um dort seine Gedichte zu drucken (Droysen 1912: 228). 5 Die fiktive Ortsangabe des ersten Gedichtbandes, „au donjon du château“, weist zuallererst auf Gepflogenheiten der französischen Noblesse hin, die ihre Bücher im höchsten Turm des Schlosses in einer privaten Druckerei drucken ließ (Droysen 1904: 83-91; Knoll 2004: 57-75). Verfolgt wurde damit kein wirtschaftliches Interesse. Denn die Druckerpresse war von ihren adeligen Eigentümern lediglich dazu bestimmt, für einen engeren, vertrauten Kreis ausgewählte Texte zu drucken. Eine private Druckerei war eine Möglichkeit, sich der Kontrolle des Staates zu entziehen und seine Unabhängigkeit zu demonstrieren. Im Frankreich des Ancien Régime hatten die Donjons Symbolcharakter. Für den Landadel, der sich seit dem Absolutismus gegen die Zentralisierungspolitik des Hofes wehren musste, galten diese hohen Türme als Fanal des Widerstandes und des Stolzes, wie es ein Gedicht des 18. Jahrhundert darstellt: Quand toujours guerroyant vos gothiques ancêtres Transformaient en champ clos leurs asiles champêtres Chacun dans son donjon de murs environnés Pour vivre sûrement vivaient emprisonné (Delille 1782) 4 „Je travaillais deux heures par jour avec Sa Majesté ; je corrigeais tous ses ouvrages, ne manquant jamais de louer beaucoup ce qu’il y avait de bon, lorsque je raturais tout ce qui ne valais rien. Je lui rendais raison par écrit de tout ; ce qui composa une rhétorique et une poétique à son usage ; il en profita, et son génie le servit encore mieux que mes leçons.“ (Voltaire 2006 : 75f.) 5 „Die Exemplare, die nicht zur Verteilung gekommen waren, wurden sorgfältig in Kisten verpackt und versiegelt im Zimmer der königlichen Druckerei aufbewahrt, zu welcher außer den vom Könige beauftragten nur besonders in Eid und Pflicht genommenes Personal Zutritt hatte“. (Droysen 1912: 228) Vanessa de Senarclens (Potsdam) 168 Aber im 18. Jahrhundert tragen die Donjons nicht nur zur Identitätsstiftung des Adels bei, sondern auch zum Selbstverständnis des homme de lettres. Es gibt polemische Schriften, die tatsächlich „au donjon du château“ erscheinen, aber im Erfahrungshorizont des Publizisten ist der Donjon nicht nur ein Symbol, sondern - in einigen Fällen - auch tatsächlich ein ganz konkreter Ort. Man denke hier insbesondere an zwei berühmte Gefängnisse des Ancien Régime (und an ihre nicht weniger bekannten Insassen): der Kerker im Donjon des Schlosses von Vincennes sowie die Bastille, ein Bau mit acht Türmen, der seit Mitte des 17. Jahrhunderts als Staatsgefängnis diente. Es war kein Geringerer als Diderot, der in Vincennes nach der Veröffentlichung der Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient im Jahr 1749 inhaftiert war. Auch Honoré-Gabriel Riqueti, der Marquis de Mirabeau, verfasste zärtliche Briefe, die Lettres à Sophie, sowie auch ein Libell gegen den Absolutismus, die Lettres de cachet des prisons d’Etat, in Gefangenschaft. Und der Marquis de Sade verbrachte über zehn Jahre seines Lebens gleich in zwei verschiedenen Donjons - im Schloss von Vincennes und in der Bastille. Der Turm, den er in der Bastille bewohnte, wurde jedoch „Tour Liberté“ genannt, denn im Fall de Sades, wie auch in vielen anderen Fällen, war das Gefängnis auch ein Ort der schriftstellerischen Tätigkeit. Bei Jean-Jacques Rousseau wurde das Wort donjon auf einer metaphorischen Ebene in Gebrauch genommen, als Ort, an den der Schriftsteller sich zum Schreiben zurückzieht: ein unbequemer, von Feinden umringter und von kalten Winden umwehter Ort, der aber der Phantasie des Schriftstellers einen Freiraum gewährt (Rousseau 1959: 495). Friedrichs literarische Verortung seiner Dichtung in einem „donjon du château“ stützt sich auf ganz bestimmte Erfahrungen eines Poeten aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts - denn sie ist dem Diskurs eines zu dieser Zeit verfolgten homme de lettres entlehnt, der über seine eigene prekäre Lage sinnierte: Voltaire. Dieser wurde bereits als junger Autor zwei Mal wegen seiner schriftlichen Äußerungen ins Gefängnis geworfen. Ab 1726 wählte er, um seine Freiheit zu bewahren, das Exil als Lebensform: er lebte bis zum Jahr 1728 in England, ab 1735 in Cirey und noch später in Ferney. Friedrich war auch durch das Reisetagebuch seines Freundes Charles-Etienne Jordan, der in den 1730er Jahren in Paris verweilte, über die gefährliche Lage Voltaires im absolutistischen Frankreich informiert (Jordan 1735; vgl. Häseler 1993: 72ff.). Ab August 1736 schließlich erhielt Friedrich Briefe von Voltaire persönlich, der zu diesem Zeitpunkt als Skandalautor der Lettres philosophiques (1734) ein europaweit bekannter Dichter und Dramaturg war. In diesen Briefen wurde der zukünftige König über den Ärger des Schriftstellers mit Behörden, Rivalen und Verleger in Kenntnis gesetzt und er nahm an Voltaires Geschick regen Anteil. Wie verwundbar der Dichter war, wird in seinem monumentalen Briefwechsel überdeutlich (vgl. Koser/ Droysen 1908-1911). Sein Ruhm schützte ihn nicht vor Demütigungen und der stän- „Au donjon du château“ - Im Turm des Schlosses: 169 digen Gefahr, infolge einer willkürlichen Anschuldigung ins Gefängnis gebracht zu werden (vgl. Senarclens 2010). Die Briefe, die Friedrich und Voltaire austauschen, machen somit nicht nur den hohen Stellenwert der Poesie für beide Korrespondenten deutlich, sondern auch die Identifikation des damaligen Königs in spe mit dem Schicksal des vertriebenen und immer wieder schikanierten Dichters. Vermutlich hatte Friedrichs Empathie für Voltaire und seine Anteilnahme am Geschick des verfolgten homme de lettres auch mit seiner eigenen Biographie zu tun, hatte er doch selber erfahren, wie seit seiner Kindheit seine Vorliebe für die französische Literatur und für die schönen Künste von einem absolutistischen Vater mit Wucht und Strenge bekämpft worden war. Friedrichs starkes Interesse an den herausragenden Werken der französischen Literatur war für ihn von jeher mit Risiken behaftet und mit dem Zwang zur Verschwiegenheit verbunden (vgl. Kunisch 2004: 11-72). Vor und während der prägenden Jahre des Gedankenaustauschs zwischen dem französischen Dichter und dem preußischen Kronprinzen trug Voltaire auf besondere Weise zum berüchtigten literarischen Ruhm des Donjon der Bastille bei, und zwar mit einem kurzen Gedicht La Bastille von 1717, in dem er den Neologismus „être embastillé“ prägte, aber vor allem mit einem Werk, das in einem ihrer Türme entstand: La Henriade (1723). In dem Vorwort der Londoner Ausgabe von 1730 wird ausdrücklich die Bastille als Entstehungsort des Epos genannt, in dem der französische König Heinrich IV. als Held der Toleranz in den höchsten Tönen besungen wird. Das Gedicht in zehn Gesängen wird von Friedrich als Modell einer „perfekten“ Dichtung gepriesen. Er war von dem Werk so überzeugt, dass er 1739 sogar ein Vorwort zu einer neuen Ausgabe des Werkes schrieb - Avant- Propos sur la Henriade de M. de Voltaire (Erdmann Preuss Bd.8: 51-63) -, in dem er Voltaire als „Prince de la poésie“ bezeichnete und mit Virgil und Homer verglich, um dessen Überlegenheit zu proklamieren. Friedrich wollte dieses Werk prachtvoll illustrieren, und er plante daher, in Rheinsberg eine Druckerei zu erwerben. Etwas voreilig schrieb er in einem Brief vom 10. Oktober 1739 an Voltaire, er habe einen passenden Ort für eine private Druckerei gefunden: „J’ai fait contruire une tour…“ (Pleschinski 1994: 168). 6 Mit dem auf dem Titelblatt seines poetischen Werkes gegebenen Hinweis auf einen donjon stellt Friedrich seiner Dichtung metaphorisch auf einen trotzig hohen, uneinnehmbaren Turm. Durch diese Geste charakterisiert er sie sowohl als schützenswertes Dokument, als Privatvergnügen, als Zuflucht und schließlich auch als ein Schatz und Archiv für die nachkommenden Generationen. 6 „Ich habe einen Turm bauen lassen…“ Vanessa de Senarclens (Potsdam) 170 „J’étois poëte incognito“ 7 Wie ein Staatsgeheimnis hat Friedrich seine Dichtung vor der Öffentlichkeit geschützt. Die drei ersten Gedichtbände, die er unter dem Titel Œuvres du Philosophe de Sans-Souci selber herausgibt, werden streng vertraulich behandelt. In seinen Briefen an Verwandte und Freunde in die er Verse einfügt, betont Friedrich stets, dass sie nicht für das „Publikum“ (ebd.: 29) 8 geschrieben seien. Er schreibe, so der Dichter, um sich selber zu unterhalten. 9 Das Vorwort seines Gedichtbandes von 1750 enthält eine Widmung an „seine Freunde“, die eigentlichen Adressaten der Gedichte: „Euch, meinen Freunden, widme ich dieses Werk.“ (Overhoff/ Senarclens 2012: 27). Für einen ausgewählten Kreis, den er selber definiert und kontrolliert, gibt der Dichter von Sanssouci Einblicke in seine Tätigkeit. Wer einen Band seiner Dichtung enthält und wie lange dieser dann bei ihm verbleibt, wird akribisch registriert. Der Kreis der Auserwählten, die einen Band einsehen dürfen, wird aufgefordert, darüber nicht zu sprechen und keine Abschriften in Umlauf zu bringen. Schließlich hat die bekannte Episode von Voltaires Festnahme 1753 in Frankfurt damit zu tun, dass Friedrich die unrechtmäßige Veröffentlichung seiner Poesie durch den früheren Vertrauten unbedingt verhindern möchte (vgl. Magnan 1986). Hatte doch Voltaire entgegen Friedrichs Anweisung den Gedichtband, an welchem er während seines Aufenthaltes in Preußen zwei Jahre „gehobelt“ (Voltaire 2006: 78) und gefeilt hatte, auf seiner Flucht aus Preußen heimlich mitgenommen (vgl. Mervaud 1985). Erst durch einige Raubdrucke, die Anfang 1760 in Lyon und in Paris mit falscher Ortsangabe erschienen - „A Potzdam“ - gelangten die Gedichte des Königs zu seinem größten Ärger an die Öffentlichkeit. In Paris, Lyon, Neuchâtel und Amsterdam vermehrten sich die unerlaubten Raubdrucke der Œuvres du Philosophe de Sans Souci und sie wurden sogleich in den Buchhandlungen ein riesiger Erfolg (Knoll 2004: 57-75). Denn mitten im Siebenjährigen Krieg sind Friedrichs Verse ein Politikum: Ohne Rücksicht auf einen möglichen politisch-diplomatischen Schaden äußert er sich gleichermaßen frei über Feinde und Verbündete. Seine ironischen Verse über Zeitgenossen, darunter gekrönte Häupter und Würdenträger - etwa die als Geliebte des französischen Königs einflussreiche Marquise de Pompadour, Kaiserin Elisabeth von Russland, Maria-Theresia von Österreich oder auch König Georg II. von England - machten alle diplomatischen Bemühungen 7 Preuss 1846-1857, Bd. 19: 151. „Ich blieb als Dichter inkognito“, an den Marquis d’Argens. 8 An Voltaire : „Mes vers ne sont pas faits pour le public. Ils sont soufferts entre amis, et voilà tout.“ 9 „J’ai fait les poésies que je vous ai donné pour m’amuser, mais ne veux ni être lu, ni être transcrit“. „Au donjon du château“ - Im Turm des Schlosses: 171 mit einem Schlag zunichte. Auch die Kirche wurde in seinen Versen vehement kritisiert. Als Friedrich im Januar 1760 im Feldlager die Nachricht erreichte, dass es Raubdrucke seiner poetischen Werke gebe, fühlte er sich genötigt, der Öffentlichkeit möglichst umgehend eine revidierte Fassung seiner Dichtung zu präsentieren. Noch im Jahr 1760 erschienen unter seiner Ägide zwei Bände, in denen alles in politischer und moralischer Hinsicht Unanständige des „au donjon du château“ publizierten Werkes korrigiert worden war. Diese revidierte Fassung erhielt zudem ein anderen Titel, Poésies diverses, dazu auch eine unverkennbare neue Adresse: „A Berlin. Chez Chretien Frédéric Voss“. In einem Brief vom 20. März 1760 an den Marquis d’Argens, der vom König mit der Neuausgabe betraut worden war, fügte der enttarnte Dichter verdrossen hinzu, dieser für die Öffentlichkeit gemachte Band verdiene es nun nicht mehr, im Titel als Werk eines „Philosophen“ angezeigt zu werden. Der Titel Poésies diverses würde daher genügen. 10 Er beklagte sich außerdem über die Unannehmlichkeiten, die seine nun veröffentlichten Gedichte verursachten: Vor allem wetterte er gegen das „wütende“ und „belästigende Geschrei“ 11 , das sein Werk bei den Bigotten hervorrief. In dem Vorwort zur neuen Ausgabe stellte er klar, dass diese Dichtung, die er hier unter veränderten Umständen dem Publikum vorlege, ursprünglich nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war. Seine Verse waren - wie er es selber ausdrückte - nicht einmal dafür bestimmt, „das Licht der Welt“ zu erblicken (vgl. Overhoff/ Senarclens 2012: 504). 12 In die neue Ausgabe fügt er bezeichnenderweise noch eine „Ode à la Calomnie“ ein, eine Ode, die die Verleumdung als ein mythologisches Monster darstellt. Was war nun am metaphorischen Erscheinungsort des Donjons so geheimnisvoll und schützenswert? Zweierlei: Zuerst - und im Hinblick auf den Skandal, den seine Dichtung verursachte, vielleicht mit Recht - eine Dichtung, die der Philosophie der Aufklärung und ihrer radikalen Kirchenkritik verpflichtet war. Aber auch, auf einer anderen Ebene, eine Dichtung, die etwas über einen König preisgab, einen König, den viele Historiker bis heute als unergründliche und rätselhafte Figur beschreiben. In der Dichtung kommt eine Facette seines ‚Ich‘ zum Vorschein, das er in einem Gedicht an 10 „Je ne veux point, qu’on y mette le titre de Philosophie, simplement Poésie diverses, cela suffit.“ (Preuss 1846-1857, Bd. 19: 157. 11 „Redoutez-vous, cher Marquis, la clameur importune / De nos ennemis les bigots ? / Ce sont là les beaux fruits que m'ont valus mes Œuvres.“ (Preuss 1846-1857, Bd. 19: 150.) 12 „L’ouvrage que nous donnons au public n’a pas été composé dans l’intention qu’il vît le jour ; c’est le fruit de l’amusement d’un grand prince qui s’est fait connaître au monde par d’autres parties que par des ouvrages de poésie“. Vanessa de Senarclens (Potsdam) 172 d’Argens als „totgeboren“ 13 bezeichnet. Als solches sollte es wohl besser das Geheimnis eines dunklen Turms bleiben. Dichtung und Aufklärung Nach der Veröffentlichung der Œuvres du Philosophe de Sans Souci sorgte - neben einigen politischen Peinlichkeiten - vor allem ein ganz bestimmtes Gedicht für einen Skandal: die Epistel „Au Maréchal Keith. Sur les vaines terreurs de la mort et les frayeurs d’une autre vie“ (Overhoff/ Senarclens 2012: 354ff). 14 Darin werden die Christen wegen ihres Glaubens an ein Leben nach dem Tod als „feige“ Menschen bezeichnet. Eine Antwort von höchster Stelle ließ nicht lange auf sich warten: Der Gedichtband wurde von der päpstlichen Glaubenskongregation auf den Index gesetzt. Damit aber war nun Friedrichs Werk kategorisch als gefährliche Aufklärungsliteratur stigmatisiert worden, Seite an Seite mit Schriften wie Voltaires Lettres Philosophiques (1728). Diese - in gewisser Weise paradoxe - Auszeichnung, die das Lager der Gegner der Aufklärung vorgenommen hatte, wurde dann Ende des 18. Jahrhundert von den prominenten Vertretern aufklärerischen Denkens aus ganz anderen Gründen bestätigt. Sowohl Herder - im siebten Kapitel seines ersten Briefes zur Beförderung der Humanität aus dem Jahre 1793 - als auch Immanuel Kant lobten Friedrichs Dichtung als Monument aufklärerischer Dichtung. In einem Abschnitt seiner Kritik der Urteilskraft von 1790, in dem es um die Lyrik als „die edelste aller schönen Künste“ geht, wird Friedrichs Epistel an den Marschall Keith in den höchsten Tönen gelobt. Kant führt sie als Beispiel einer genialen aufklärerischen Dichtung an. „Was macht ein Genie aus? “, fragt Kant in seiner Abhandlung. Und er beantwortet seine Frage, indem er behauptet, das Genie habe die Fähigkeit, „das Unnennbare in dem Gemütszustande bei einer gewissen Vorstellung auszudrücken und allgemein mitteilbar zu machen“. In seiner Dichtung mache der „Große König“, genau dies, er belebe „eine Vernunftidee“ (Kant 1974: 252-254). Gleich am Anfang des Briefwechsels mit Voltaire definiert Friedrich, was er bei seinem französischen Mentor bewundert und nachahmen will, nämlich eine Dichtung, die zum „denken“ und zum „handeln“ anspornt; eine Dichtung die, als „Unterricht in Moralfragen“ gelesen werden kann 15 . In 13 „Ces vers, morts le jour qu'ils sont nés.“ (Au Marquis d’Argens sur l’édition qu’il envoya au roi des Poésies de Sans-Souci. In: Preuss 1846-1857, Bd. 12 : 157.) 14 „An den Marschall Keith. Über die leeren Schrecken des Todes und die Angst vor einem anderen Leben.“ 15 Brief von Friedrich an Voltaire vom 8. August 1736: „Vos poésies ont des qualités qui les rendent respectables et dignes de l’admiration et de l’étude des honnêtes gens; elles sont un cours de morale où l’on apprend à penser et à agir.“ (Voltaire 1971: D 1126.) „Au donjon du château“ - Im Turm des Schlosses: 173 seiner Antwort bestätigt Voltaire diese pragmatische Ausfassung vom Wert der Dichtung und empfiehlt seinem Bewunderer, sich in seiner eigenen Poesie immer an der „Wahrheit“ zu orientieren. 16 Friedrich, der stets über seine eigenen Verse einen selbstkritischen Diskurs pflegt - sie seien im Vergleich zu ihren eleganten französischen und lateinischen Vorbildern mangelhaft, „barbarisch“ oder schlicht „Deutsch“ (Overhoff/ Senarclens 2012: 26f) 17 - betont wiederum den philosophischen Inhalt und die Ernsthaftigkeit der Themen. 18 Man finde darin keine „crême fouettée“, so seine Formulierung in einem Brief an Voltaire. 19 Friedrichs Dichtung hat in der Tat Züge eines pädagogischen Projektes. In Oden, in Episteln und in Gesängen setzt er sich mit ganz bestimmten Themen auseinander, die er in Form von Fragen anspricht: Was ist der Geist? Was ist eine Tugend? Woran erkennt man die wahre Ehre? Wie findet man Vergnügen? Gibt es eine göttliche Vorsehung? Wie unterscheidet man Ruhm von Selbstruhm? Bilden Reisen wirklich die Jugend, oder ist es nicht eher eine stupide Mode, die jungen Adligen unsinnigerweise vorschreibt, in Europa auf Grand Tour zu gehen? In Versen philosophiert er über den Nutzen von Kunst und Wissenschaft, schreibt - an Ovids Ars amatoria angelehnt - eine Kunst des Krieges, L’Art de la Guerre, die eine sorgfältige Gesamtschau aller Aspekte des Krieges enthält. Er schreibt auch Oden, die er einer Person seines Umfelds widmet. Oftmals ähneln sie Predigten oder Erbauungsreden. In seiner Dichtung erhebt er den Anspruch, die Wahrheit - gepriesen entweder als Vernunft oder auch als gesunder Menschenverstand („le bon sens“) - aufscheinen und leuchten zu lassen. Aphorismen, Maximen oder Losungen kennzeichnen seine Verse: „Ohne zu erröten, gebt Euch der nied- 16 „Les vers qui n’apprennent pas aux hommes des vérités neuves et touchantes, ne méritent guère d’être lus.“ (Voltaire 1971: D 1139) Dt. Übers. Pleschinski 1994: 16: „Die Verse, die den Menschen keine neuen und berührenden Wahrheiten mitteilen, verdienen es kaum, gelesen zu werden“. 17 „Ma muse tudesque et bizzare“ / „Meine raue, deutsche Muse“. 18 Siehe Brief an Voltaire vom 5. März 1749 : „Si je pêche du côté de l’élocution, du moins trouverez-vous des choses dans mes épîtres, et point de ce paralogisme vain, de cette crème fouettée qui n’étale que des mots et point de pensées. (...) Nous autres étrangers, qui ne renonçons pas pour notre part à la raison, nous sentons cependant que nous ne pouvons jamais atteindre à l’élégance et à la pureté que demandait les lois rigoureuses de la poésie française.“ (Voltaire 1971: 12.) Dt. Übers. Pleschinski 1994: 343: „Sofern ich gegen die rechte Diktion verstoße, finden Sie in meinen Episteln doch wenigstens etwas Handfestes, keine schalen Paralogismen, keine Schlagrahm, der nur mit prätentiösen Worten und Gedankenstrichen protzt. (…) Wir Ausländer, die wir unsererseits nicht auf Vernunft verzichten, wir verspüren wohl, daß wir niemals die Eleganz und die Reinheit erreichen können, die die strengen Regeln der französische Poesie fordern.“ 19 „Votre majesté a bien raison de dire que je ne trouveray ny clinquant ny crème fouettée dans cet ouvrage. C’est le chef d’oeuvre de la raison.“ Voltaire an Friedrich am 17. März 1749 (Voltaire 1971: D 3893). Vanessa de Senarclens (Potsdam) 174 rigsten Arbeit hin“, oder „Wer nicht gehorchen kann, kann nicht befehlen“, aber auch: „Wir haben das Schicksal in unserer Hand“, „Das erste aller Vergnügen ist, sich zu belehren“ „Es ist eine göttliche Lust, die Ordnung aus dem Schoß der Unordnung zu ziehen“ usw. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Gedichte der Œuvres du Philosophe de Sans Souci stets an einen Adressaten gerichtet, der auch im Titel des jeweiligen Gedichtes erwähnt wird: Nicht selten ist Friedrichs Dichtung dennoch verwirrend. An wen wendet sich der Dichter und wer spricht eigentlich in seinen Versen? Das Gedicht richtet sich an einen Empfänger, der manchmal innerhalb nur einer einzigen Strophe variieren kann; auch der Sprecher bleibt nicht immer der gleiche. Mal ist es der Dichter, der sich an andere Dichter wendet, mal der König, der zukünftigen Machthabern Ratschläge erteilt, mal der erfahrene Soldat, der über Kriege und Strategie berät. Aber jenseits dieser wechselnden Standpunkte ist vor allem der Philosoph in Friedrichs Dichtung zu hören, der Philosoph, der über Wissen und Erfahrung verfügt, die er mitteilen muss. Seine Episteln wollen Aberglauben vertreiben und falsche Ideengebäude zerstören, wie dies vor Friedrich schon Pierre Bayle in seinem Dictionnaire historique et critique von 1697 versucht hat. Mit Blick auf die alltägliche Lebenspraxis sollen die Gedichte von Nutzen sein. Als „Philosoph“ schreibe er mit dem Ziel, so Friedrich „den Geist zu überzeugen“. 20 In manchen Gedichten - meist in unveröffentlichten und versteckten Versen - grenzt Friedrichs aufklärerische Dichtung und Kritik an Blasphemie, so zum Beispiel im Falle eines fiktiven Dialogs zwischen der heiligen Maria und der einflussreichen Geliebten des französischen Königs: Der Dialogue des morts entre Madame de Pompadour et la vierge Marie aus dem Jahr 1773 (Knoll 1999). Schon der Titel dieses Dialogs lässt die volle blasphemische Wucht erahnen. Das Totengespräch ist ein radikaler Angriff auf christliche Dogmen. Die Pompadour wendet sich als schöne, liberale und einflussreiche Mätresse des französischen Königs mit Schärfe an Maria, die sie als „gueuse de juive“ (Knoll 1999: 15) 21 bezeichnet. Sie hinterfragt die biblische Geschichte: „Ne suffit-il pas que ces fables insipides ayent subjugés le monde pendant quatorze siècles; & n’est-il pas temps enfin que les hommes sortent de leur aveuglement? “ (ebd. : 17). 22 Und die Pompadour ist hier nicht so sehr eine authentische historische Gestalt, sondern vielmehr eine Kunstfigur, welche die Ideen des preußischen Monarchen vertritt - und als solche hat sie in diesem bemerkenswerten Dialog natürlich das letzte Wort. 20 Friedrich an Voltaire am 23. März 1740. (Voltaire 1971: D. 2186.) 21 Dt. Übers.: „Ein jüdisches Bettelweib, das im Stall zwischen Ochsen und Esel niederkam“. (Knoll 1999, S. 20.) 22 Dt. Übers.: „Genügt es nicht, dass diese albernen Märchen die Menschen vierzehn Jahrhunderte lang unterjocht haben, und ist es nicht endlich Zeit, dass die Menschen aus ihrer Verblendung heraustreten? “ (Knoll 1999, S. 23.) „Au donjon du château“ - Im Turm des Schlosses: 175 Dichtung und „ich“? Nach Friedrichs Tod erscheint sein hinterlassenes Werk in den Jahren 1788 und 1790 in mehreren Bänden: zwischen den Schriften zur Politik und Geschichte nimmt seine Dichtung einen Ehrenplatz ein (Hertzberg 1789 und 1790-94). In der Standardausgabe seiner Werke, die J. D. E. Preuss im 19. Jahrhundert im Auftrag von Friedrich Wilhelm IV. für die Akademie der Wissenschaft herausgibt, umfasst das poetische Œuvre des Königs dann sogar sechs Oktavbände. Doch als diese würdige Dichtkunst in solch einem beeindruckenden Umfang endlich die Öffentlichkeit erreicht, gilt sie bereits als veraltet und überholt. Bei einer Generation, die von den Dichtern der Romantik geprägt ist, gelten Friedrich Verse als kopfgesteuert, vernünftig, apodiktisch; sie werden wegen ihres Mangels an Gefühlen und Emotionen kritisiert. Friedrich selbst hat seine Dichtung als „raison en prose cadencée“, also „Vernunft in rhythmischer Prosa“ bezeichnet (Overhoff und Senarclens 2011: 402). 23 Denn seine literarischen Vorbilder waren die französischen Klassiker des „höflichen Jahrhunderts“ von Boileau, Racine, Corneille mit ihrer Betonung der Form - die zu einer strikten Einhaltung der Metrik aufrief - und der Sittlichkeit. Zudem orientierte er sich an den römischen Dichtern Horaz und Virgil, die er in einer französischen Standardübersetzung las, die von der klassischen Ästhetik geprägt war. Und doch: trotz der klassizistischen Konventionen der strengen Metrik geben die Gedichte Friedrichs etwas über ihren Verfasser preis. In einem Essay über Dichtung aus dem Jahr 1762, den Réflexions sur les réflexions des géomètres sur la poésie, schildert Friedrich die Reihe der großen Dichter - von Homer bis Voltaire -, in der er „leben und sterben will“. 24 Er versichert, diese leidenschaftlich zu „lieben“ und beschreibt ihre Werke als eine Art Religion und ihre Dichter als „Apostel“. Die Emotion und Verve dieser Aussage muss man im Kontext einer lebenslangen Beschäftigung des Königs mit der Poesie lesen und verstehen. In seinen ersten Versen von 1731 feilte der junge Fédéric, wie er damals unterschrieb, an seiner Lebensphilosophie, Conseil à moy-même (Ratschläge an mich selbst), zugleich ein Selbstgespräch, in dem sich Friedrich über die „Tristesse“ und die Melancholie seiner Ju- 23 „in rhythmischer Prosa / meine Gedanken darzustellen und Vernünftiges vorzubringen.“ 24 Siehe Réflexions sur les réflexions des géomètres sur la poésie, 1762. In: Preuss 1846-1857, Bd. 9: 89 : „Pour moi, je vous déclare que, tout vieillard que je suis, j'aime aussi passionnément la poésie que dans ma jeunesse, et je prie Apollon qu'il me fasse, par sa grâce efficace, persévérer dans la foi orthodoxe et vraiment poétique qu'Homère nous a enseignée, que Virgile a étendue, qu'Horace a expliquée et commentée, dont le Tasse, Pétrarque, l'Arioste, Milton, Boileau, Racine, Corneille, Voltaire, Pope, ont été les apôtres, et qui, par une tradition non interrompue, est parvenue à nous, dans laquelle je veux vivre et mourir, afin qu'après ma mort mon âme puisse se joindre à cette troupe d'esprits sublimes et bienheureux dans l'Élysée qu'ils habitent.“ Vanessa de Senarclens (Potsdam) 176 gend klar wird. „Raisonnez, mais restez-en là“ - was so viel heißt wie „Denk dir deinen Teil, aber bleib dabei“ - lautet seine wiederholte Aufforderung an sich selbst. Zehn Jahre vor seinem Tod dichtet der Alte Fritz noch immer, mal wehmütig über den unaufhaltsamen körperlichen Verfall, mal mit Spott über die lästigen Ärzte, die vergeblich versuchen, ihm eine Diät zu verpassen, mal philosophisch über das Dasein Gottes: “Unde? Ubi? Quo? D’où viens-je? Où suis-je? Où vais-je“ (Overhoff/ Senarclens 2011: 292-295) 25 , fragt er in Reimen. In manche Briefe fließen Verse ein, in denen Friedrich Wut, Verzweiflung, aber auch Liebe, Freundschaft und Bewunderung ausdrückt. Er spart auch nicht an Zuneigungs- und Liebeserklärungen: „je t’aime“ oder „je vous aime“ reimt er in Versen an Grumbkow, an Frau von Wreech, an seine Freunde und Schwestern, und vor allem an die Lieblingsschwester Wilhelmine, die er mal als „meines Wesens Hälfte“, mal als Idol bezeichnet. Allein die Menge seiner Gedichte ist erstaunlich: Nach einer zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgenommenen Berechnung hat er über 40.000 Verse geschrieben (vgl. Mangold 1899/ 1900: 629). Er schrieb auch in jeder Lebenslage und in jedem Seelenzustand: im musisch-kultivierten Umfeld von Rheinsberg oder Sanssouci, aber auch im verdreckten Feldlager, mitunter in konkreter Todesgefahr. Im Siebenjährigen Krieg verfasste er im Angesicht des Todes dramatische und sehr emotionale Gedichte, speziell eine Epistel an seinen Freund d’Argens, in der er seinen unmittelbar bevorstehenden Freitod ankündigt. Diese Epistel ist von größter Dramatik geprägt. 26 Sein Drang zu dichten, hat er selber als eine Sucht beschrieben, „La Métromanie“, die Reimsucht. Diese Beschäftigung mit der Poesie mache ihn glücklich, sie verleihe ihm „Illusionen“ über seine gegenwärtige Lage, schreibt er in einem Brief an d’Argens. 27 An anderer Stelle bezeichnete er die Reimwut als einen „Dämon“, der ihn quäle und keine Ruhe lasse. Dichter, so schreibt er an anderer Stelle, seien „Wahnsinnige“. 28 In Friedrichs umfangreichen poetischen Nachlass sticht eine Epistel ganz besonders hervor, nämlich die Epître à mon esprit aus dem Jahr 1750 (Overhoff und Senarclens 2011: 166-191). Sie enthält einen Dialog zwischen einem 25 „Wo kam ich her? Wo bin ich? Wohin geh’ich? “ 26 „Epître au marquis d’Argens“. In: Overhoff/ Senarclens 2011: 220ff. 27 Am 30. März 1760 schreibt er an d’Argens : „Pour me distraire de ces images tristes et lugubres, qui rendraient à la fin mélancolique et hypocondre jusqu'à Démocrite même, j'étudie, ou je fais de mauvais vers. Cette application me rend heureux pendant qu'elle dure; elle me fait illusion sur ma situation présente, et me procure ce que les médecins appellent de lucides intervalles.“ (Preuss 1846-1857, Bd. 19: 156.) 28 In einem Brief vom 22. Oktober 1762 schreibt er an d’Argens : „Quiconque n'écrit pas comme Racine devrait renoncer à la poésie. Mais on dit que les poëtes sont fous; voilà mon excuse. Vous m'avouerez que cette folie n'est pas dangereuse pour le public, surtout lorsque le poëte ne violente pas le monde pour lire ses ouvrages, qu'il ne fait des vers que pour s'amuser, et qu'il est le premier à rendre justice à son faible talent…“ (Preuss 1846-1857, Bd. 19: 407.) „Au donjon du château“ - Im Turm des Schlosses: 177 „Ich“ und eben jenem Geist der Dichtung, der dieses „Ich“ befallen hat. Diese Epistel kann als Selbstporträt ihres Autors in seinem Selbstverständnis als Dichter gelesen werden. Darin erweist sich Dichtung zuerst als rein privates Vergnügen. Poesie reime sich auf „plaisir“, ein Vergnügen, das manchmal einer gelehrten Tätigkeit, mal dem Rückzug von den Pflichten, mal der „volupté“ und hin und wieder auch der Berauschung gleicht. Als Dichter sei er der „Liebhaber der Harmonie“, der sich von den alten Epen, die von Trojas Zerstörung erzählen, ergreifen lässt. Auch Didos Trauer „betört“ ihn in dieser Weise (Overhoff/ Senarclens 2011: 396). 29 Aber die Dichtung erweist sich auch gleich am Anfang des Dialogs als eine Beschäftigung, für die der Dichter sich rechtfertigen muss. Denn man spottet über diesen seltsamen Monarchen, der keinen Hirsch jagen mag, sondern stattdessen gelungenen Reimen nachstellt und sich für kursierende Geschichten und bedrohliche Gerüchte interessiert. Er muss Kritik hinnehmen und ständig aufs Neue beweisen, dass diese für seinen Stand so ungewöhnliche und merkwürdige Beschäftigung ihn nicht von seinen Pflichten abhält. Als Dichter sei er durch die „Tyrannei“ der Meinung bedroht. Er muss den Spott, den er damit erntet, ertragen lernen. Zugleich muss er sich vor den Schmeichlern hüten, die seine Poesie in hohen und zugleich falschen Tönen loben. Die Epître à mon esprit enthält eine demütige Einschätzung der Grenzen seines eigenen Könnens als Dichter. Trotz aller Anstrengungen bleibe seine Muse „barbarisch“ und seine Sprache ohne „Feinheit“, so ein wiederkehrendes Motiv seiner Schriften. Er könne dem Vergleich zu seinen Vorbildern in der Antike und in der Moderne nicht standhalten. Er mache sich da auch nichts vor, sei in dieser Hinsicht also nicht zu „verblenden“. Aber, fragt er mit einem Hauch von Selbstmitleid, soll er deswegen auf Dichtung verzichten: „Et moi, je ne pourrais, moi seul dans l’univers, / Adoucir mes travaux par le charme des vers“? (Overhoff/ Senarclens 2011: 395). 30 In der Epître à mon esprit vergleicht er das Los des Dichters mit dem des Königs. 31 Letzterer komme selbst als „stupider Fötus auf den Thron“, der Poet hingegen müsse seinen Erfolg durch Arbeit, Genie und Kunst erlangen. Doch der Ruhm des Dichters ist der wahre Ruhm, ein Ruhm, der ihm „den apollinischen Himmel“ öffne und die Unsterblichkeit gewähre. Das Leben von Königen werde in staubigen Chroniken festgehalten; Homer, Virgil und Horaz hingegen lebten im Menschengedächtnis auf ewig. Die Ode X in den Œuvres du Philosophe de Sans-Souci von 1752 ist an einen Adressaten gerichtet, der im Horizont der Dichtung Friedrichs stets präsent ist: die Zeit. Die Ode für 29 „il touche par l’amour de la triste Didon.“ 30 Dt.: Übers.: „und ich, ich als Einziger auf der Welt, darf mir die Arbeit nicht durch den Zauber von Versen versüßen“ 31 Die Korrespondenz mit Voltaire thematisiert oft die Rivalität zwischen armis und litteris, zwischen Feder und Degen, zwischen den Dichter und den König um die Unsterblichkeit zu erlangen. Vanessa de Senarclens (Potsdam) 178 Voltaire, schließt mit den drei folgenden Versen: „Le temps qui s’élance / te promet d’avance / l’immortalité“. 32 In diesen Versen bezeichnet Friedrich die Nachwelt als eine Empfänger-Instanz, der Voltaires Werk - im Vergleich zu seinem eigenen - durchaus würdig ist. Die Epistel schließt mit einer melancholischen Note: Er sei derjenige, der trotz mangelnden Genies weiter dichte. So wendet der König sich an den „duldsamen“ Leser der Zukunft und ermutigt diesen, ihn in seiner Dichtung zu suchen: „Apprenez quelques jours aux lecteurs indulgents, Si vous pouvez percer la sombre nuit des temps, Ou si quelques hasard vous amène au grand monde, / Quel était cet auteur…“ 33 32 „Die Zeit, die enteilt, / verspricht dir jetzt schon / Unsterblichkeit“ (Ode à Voltaire). In: Overhoff/ Senarclens 2011: 97-99. 33 „Zeigt eines Tages duldsamen Lesern, / wenn Ihr die dunkle Nacht der Zeiten durchdringen könnte (…) Wer dieser Autor war“. In: Overhoff/ Senarclens 2011: 402f. „Au donjon du château“ - Im Turm des Schlosses: 179 Literaturverzeichnis Darnton, Robert/ Daniel Roche (Hg.): Revolution in Print: The Press in France, 1775- 1800. Berkeley u.a. 1989. Delille, Jacques: Les Jardins ou l’art d’embellir les paysages. Paris 1782. Denina, M. 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Die Kritiker überschlugen sich förmlich in ihren positiven Würdigungen der königlichen Poesie: „ganz Deutschland, ja ganz Europa athmete tief auf in einem Ausruf, einer Ueberraschung des Erstaunens, der Bewunderung“ (Grosse 1830). Der Hesperus vom 5. Mai 1829 bescheinigte der Veröffentlichung der Gedichtsammlung sogar „ein welthistorisches Aufsehen“. Von einer „Erscheinung“, die „wahrhaft heilverkündend, anregend und tröstend dem gesammten deutschen Vaterlande entgegentritt“ (Neumann 1835: 55), sprach der namhafte Schriftsteller und Literaturkritiker Wilhelm Neumann - dessen Urteil auch Johann Wolfgang von Goethe beipflichtete (Varnhagen von Ense 1990: 311). Die Begeisterung und das Erstaunen über das literarische Ereignis aus Bayern erfassten nicht nur auf die Öffentlichkeit, sondern auch die Königshäuser im Deutschen Bund etwa Preußens oder Sachsens (vgl. Johann von Sachsen 1911: 52 u. 54). Auf die Neuauflagen der ludovizianischen Gedichte folgten schon bald Übersetzungen ins Französische, Italienische, Neugriechische, Schwedische, Ungarische, Holländische, Englische, Armenische, Russische, ja sogar ins Lateinische, Altgriechische und Gotische (Goedeke 1929: 472ff.). Den beiden 1829 publizierten Gedichtbänden fügte Ludwig I. 1839 einen dritten und 1847 einen vierten Band hinzu. Dazu gesellten sich Einzelveröffentlichungen in Zeitungen, Almanachen oder Taschenbüchern. Wie ist nun die Lyrik des bayerischen Königs historisch einzuordnen? Franz Grillparzer hat hellsichtig bemerkt, dass bei einem monarchischen Dichter wie Ludwig I. die ästhetische Bewertung nicht im Vordergrund stehen kann: Die Gedichte eines Königs sind aus einem ganz andern Gesichtspunkte zu beurteilen, als die des übrigen Haufens der Sterblichen. Bei einem Dichter aus dem Privatstande ist, was er etwa bei seinem Gedichte g e d a c h t , ganz gleichgültig, und nur, was er g e g e b e n , darf berücksichtigt werden. Bei dem Karl Borromäus Murr (Augsburg) 182 dichtenden Könige ist das Gegebene nicht das Wichtigste; was er dabei gedacht, ist die Hauptsache und beglückt in seinen Wirkungen ein hoffendes Land. (Grillparzer 1892: 99) Die folgende Untersuchung widmet sich deshalb den Beweggründen, die den bayerischen Monarchen veranlasst haben, eine solchermaßen systematische Publikation seiner Lyrik zu betreiben. Welche persönlichen, künstlerischen oder politischen Ziele verfolgte Ludwig I. mit der Veröffentlichung seiner Gedichte? Kommt der königlichen Poesie eventuell sogar eine Schlüsselrolle für das Verständnis der Herrschaft des kulturpolitisch so ungemein aktiven bayerischen Königs zu? Trifft demnach vielleicht die Behauptung der zeitgenössischen Chronistin Luise von Kobell zu: „Wer Ludwig I. und seine Zeit verstehen will, muß seine Gedichte lesen und beherzigen“? (von Kobell 1894: 120) In der Tat mag es verwundern, dass die Lyrik eines Königs, dessen sonstige Kunst- und Geschichtspolitik mit all ihren Bauten und Denkmälern von der Forschung viel Aufmerksamkeit erfahren hat (vgl. Erichsen/ Puschner 1986; Erb 1999; Putz 2013), noch kaum untersucht ist, 1 stellt doch seine Lyrik die wohl persönlichste Kunstform dar, der Ludwig I. anhing. Da sich kaum erläuternde Selbstaussagen des bayerischen Königs bezüglich seiner Poesie überliefert haben, bietet es sich an, die reiche Wahrnehmungsgeschichte der Gedichte zu untersuchen, die sich vor allem im Kontext der Doppelpublikation von 1829 als sehr aufschlussreich erweist. Diese Wahrnehmungsgeschichte erlaubt nicht nur Rückschlüsse auf die poetischen Beweggründe des wittelsbachischen Monarchen, sondern führt zugleich mitten hinein in ein instruktives Diskursgeschehen, das um ein einigermaßen neues historisches Phänomen kreiste: um die poetisch verfolgte Gefühlspolitik eines deutschen Monarchen. Denn mit seinem politisch motivierten Kalkül des Gefühls erweiterte Ludwig I. den Kommunikationsraum der vormärzlichen Öffentlichkeit um eine bis dahin ungeahnte Dimension. Die dichterischen Ergüsse des Königs erzeugten letztlich ein sehr angeregtes Spannungsfeld von Kunst und Politik, aus dem Ludwigs Lyrik ihre Besonderheit bezog. Aus der Perspektive möglicher politischer Handlungsfelder betrachtet, lotete die königliche Poesie mit den Mitteln der Ästhetik den Spielraum zwischen dem Sagbaren und dem Machbaren auf neue Weise aus. (vgl. Steinmetz 1993) Schließlich fanden in der ludovizianischen Lyrik auch nicht-intentionale, das heißt unbewusst verfolgte, Motive ihren Ausdruck, die im Folgenden gleichfalls zu untersuchen sind. In diesem Sinne 1 Immer noch einschlägig: Wolfgang Frühwald 1976: 127-157. Vgl. die reservierte Sicht von Heinz Gollwitzer 1986: 108f. u. 248. Die Arbeiten von Ludwig Merkle 1979 und Michael Dirrigl 1980: 948-1020 sind lediglich als Materialsammlungen hilfreich. Die Studie von Eckhard Schwarz 2005 vermag nur wenig zu überzeugen, da sie wiederholt am Rande von Zirkelschlüssen operiert. Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 183 kommentierte Goethe die Lyrik des bayerischen Monarchen, dass dichterische Äußerungen „unwillkürliche Bekenntnisse“ seien, „in welchen unser Innres sich aufschließt und zugleich unsere Verhältnisse nach außen sich ergeben“. (Goethe 1993: 108) Die literarische Selbstherstellung des Königs Der bayerische König Ludwig I., der 1825 seinem Vater auf den Thron gefolgt war, (zur Biographie vgl. Gollwitzer 1986; Murr 2012) besaß ein literarisch geprägtes Naturell. In seiner Selbstwahrnehmung fühlte er sich zweifellos als Dichter, auch wenn seine Lyrik, die Schiller wie Goethe gleichermaßen nacheiferte, in literaturhistorischer Hinsicht der Dilettantenkultur der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zuzurechnen ist. (vgl. Frühwald 1976: 134) Das umfangreiche poetische Œuvre des Königs - darunter zahlreiche Sonette, Elegien, Distichen, Epigramme - weist allein bis zu seinem Thronverzicht 1848 neben etwa 900 publizierten Gedichten rund 1.800 unpublizierte Gedichte auf. Aber auch die Abdankung, die sich im Zusammenhang der Revolutionswirren mit dem Namen der viel kritisierten Liebe zu Lola Montez verband, ließ die literarische Produktion Ludwigs keineswegs versiegen. So entstanden bis 1867 - die letzten Niederschriften datieren vier Monate vor seinem Tod im Februar 1868 - über 1.900 neue Gedichte, die allesamt zu Lebzeiten des Königs unpubliziert blieben. 2 So ergibt sich insgesamt eine bemerkenswerte Summe von über 4.600 verfassten Gedichten. Versucht man, diese umfangreiche literarische Produktivität auf den Alltag Ludwigs zu beziehen, muss der bayerische Fürst über einen Zeitraum von etwa 60 Jahren hinweg etwa alle vier Tage ein neues Gedicht verfasst haben. Mehr noch: da dieser seine Gedichte laufend überarbeitete, muss ihn die lyrische Beschäftigung beinahe täglich begleitet haben. Der zeitintensive Aufwand für die Poesie des Monarchen, der in seiner politischen Tätigkeit als ebenso viel beschäftigter wie arbeitswütiger Autokrat galt, muss hier eigens gewürdigt werden. Denn fraglos implizierte die dichterische Tätigkeit ein hohes Maß an Selbstdisziplin, die poetisch gefasste 2 Die in der Handschrift Ludwigs gesondert und säuberlich überlieferten 16 Gedichtbände, die im Nachlass in der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt werden, überspannen den Zeitraum von 1801 bis 1867. Bayerische Staatsbibliothek, Ludwig I.- Archiv, 12,1-12,16. Weitere sieben handschriftliche Bände dokumentieren poetische Entwürfe Ludwigs von 1801 bis 1867 (ebd.: 13,1-13,7). Zu dem dichterischen Œuvre gesellen sich aus der Kronprinzenzeit überdies drei voll ausgearbeitete Dramenentwürfe, die Ludwig allerdings nicht publikationswürdig fand, nebst weiteren dramatischen Entwürfen aus jenen Jahren (14-16). Karl Borromäus Murr (Augsburg) 184 Reflexion über die Welt und das eigene Selbst in gebundene Sprache zu übersetzen. 3 Letztlich begegnet dem Leser in dem so umfangreichen lyrischen Werk des bayerischen Königs eine poetische Selbstherstellung von beeindruckender Dimension. Im Medium der Poesie vergewisserte sich Ludwig unentwegt seiner selbst: urteilte, beurteilte, zweifelte, klagte, sprach sich Mut zu, sehnte, hoffte, äußerte Freude oder Schmerz und bekundete, ja erzeugte so das eigene Weltbild. Auch wenn der bayerische Monarch seine poetische Selbstherstellung mit noch so vital-selbstbewusstem Gestus zum Ausdruck brachte, verweist sie letztlich auf die conditio humana des modernen Individuums, dem es doch - angesichts der grundlegenden Gebrochenheit seiner Identität - aufgegeben war, sich in mentalen und emotionalen Operationen unablässig selbst herstellen zu müssen. Die permanente literarische Beschäftigung - ob lesend oder schreibend - gehörte neben etwa anderen Kulturpraktiken wie der Arbeit zu den modernen Techniken des Selbst, die eine solche Selbstherstellung leisteten, indem sie ein Innen- und ein Weltverhältnis zugleich kultivierten. Als Subjektordnung im 18. Jahrhundert stark befördert, gewannen die literarischen Selbst-Techniken in der Romantik eine neue Qualität (vgl. Reckwitz 2010), aus der auch Ludwig I. ein hohes Maß an Individualität und Subjektivität bezog. In diesem Sinne sah der einflussreiche Literaturkritiker Wolfgang Menzel (im Literaturblatt Nr. 36, vom 5. Mai 1829) in Ludwig I. einen Fürsten mit einmaligem Charakter, der ihn „als Individuum und als Menschen unterscheidet und auszeichnet“. Goethe hatte schon früher die einzigartige, gerade auch in der literarischen Tätigkeit sich ausdrückende Individualität Ludwigs I. bemerkt, den er als: „dies merkwürdige vielbewegliche Individuum auf dem Throne“ (Goethe 1993: 525) bezeichnete. Dass zeitgenössisch gerade die Lyrik als die emotionalste literarische Gattung galt, deutet auf die grundlegend emotionale Basis des modernen Selbst, die der bayerische König bei sich immer wieder zu stimulieren trachtete. ‚Gefühl‘ stellt einen der zentralen und häufig wiederkehrenden Begriffe der königlichen Lyrik dar. Ludwigs notorische Liebschaften, die er ausnahmslos wortreich besang, verweisen auf eine Natur des Königs, die stets nach affektueller Erregung suchte, die unentwegt darum bemüht war, die Leidenschaft zu entzünden, das Gemüt in Wallung zu bringen, das Herz in Bewegung zu setzen, der Seele Schwung zu verleihen, die Phantasie zu aktivieren - gesteuert von einem besonderen emotionalen Kompass: der als unstillbar erlebten Sehnsucht. Diese besang Ludwig um ihrer selbst willen in 3 In das Reich psychologischer Spekulation gehört, die poetische Obsession des Königs auf seinen Sprachfehler - Ludwig war Stotterer -, zu reduzieren, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass gerade diese Disposition dazu beitrug, eine Vorliebe für die in strengem Versmaß rhythmisierte Sprache der Lyrik zu entwickeln. Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 185 Gedichten wie „Sehnsucht nach Sehnsucht“ (Ludwig I. 1829b: 92ff.). Dem König, der auch aus Schmerz und Verzweiflung eine substantielle Selbsterfahrung bezog, ging es oft um den Erregungszustand als solchen, unabhängig von konkreten Inhalten. Denn nach dichterischer Selbstaussage blieb der bayerische Fürst „immerfort geschäftig“, „immer fort bewegt“ und „mannichfach erregt“ (Ludwig I. 1839: 268). In seiner Lyrik bannte und verstärkte Ludwig seine so produktive Erregbarkeit gleichermaßen. Wenn er im Zeichen der Lola-Montez-Affäre 1847 bekannte, er besäße „ein poetisches Gemüt, was nicht mit dem gewöhnlichen Maßstab gemessen werden darf“ (zit. n. Gollwitzer 1986: 674), lässt sich diese Aussage einerseits als Zeugnis der eigenen Individualitätserfahrung werten und andererseits als Ausdruck einer durch und durch emotionalen Grunddisposition. Denn die Rede vom „poetischen Gemüt“ bedeutete im zeitgenössischen Gefühlsdiskurs nicht zunächst eine dichterische Begabung, sondern nur eine besondere emotionale Veranlagung eines Menschen von spezifischer Erregbarkeit. Wie sehr Dichtung und emotional erregtes Leben bei Ludwig in eins fielen, bekannte er wiederholt. Deshalb beschwor er die Muse: „bleibe mir treu, verlasse mich nur mit dem Leben! “ (Ludwig I. 1839: 245) Seine Gedichte, so betonte Ludwig häufiger, brächten zur Sprache, was er „empfunden, gelitten“ - er, der von sich behauptete, dass er doch „jedes Gefühl“ (ebd.: 42) kannte. Allein poetisch empfunden und ausgedrückt, schien für Ludwig das Leben geglückt. Prosa hingegen war für ihn die Metapher des trockenen Alltagsgeschäfts, dem er sich permanent zu entwinden suchte. Hier zeigt sich nicht zuletzt, dass Ludwig ohne Unterlass bestrebt war, mit dem Reich der Poesie eine Gegenwelt, einen Rückzugs- oder Zufluchtsraum zur oft trostlos erlebten Alltagsrealität zu errichten, die mit ihren zahllosen Regierungsaufgaben selbst für den so autokratisch agierenden König einen spürbaren Verlust von Selbstbestimmtheit bedeutete. In seiner emotionalen Emphase erweist sich Ludwig letztlich als ein zeittypisches Kind der Entwicklung einer ästhetischen Gefühlskultur, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Gegenbewegung zu einem vernunftorientierten Rationalismus ausgeprägt und zunächst in der Empfindsamkeit ihren ästhetischen Ausdruck gefunden hatte. Die Romantik verstärkte nochmals das affektive Moment als dialektischen Gegenpol einer zunehmend rationalisierten Welt. (vgl. Frevert 2011) Letztlich findet sich in Ludwigs Lyrik allenthalben ein Weltbild von beinah manichäischer Qualität, das die heitere, lebendige, entrückte, himmlische, innere, vergeistigte, ideale, ästhetische, ewige und göttliche Welt freier Phantasie von einer trostlosen, toten, irdischen, höllischen, äußerlichen, körperlichen, bloß sinnlichen, nur funktionalen, selbstsüchtigen, einsamen, erstarrten, amorphen, zeitverlorenen und sinnentleerten Wirklichkeit scheidet. Der Phantasie, dem Gemüt, dem Gefühl kommt in dieser Ordnungsvorstellung die Aufgabe zu: nämlich sich gleichsam in den Himmel emporzuschwingen und so das Irdische zu überwinden - eine Aufgabe, die Ludwig Karl Borromäus Murr (Augsburg) 186 gleichermaßen als eine ästhetische, ethische wie religiöse Herausforderung verstand. Letztlich lässt sich das lyrische Gesamtwerk Ludwigs I. wie eine poetische Autobiographie seines Innenlebens lesen, das gleichwohl nicht rückhaltlos erzählt wird, sondern in einem hohen Maß stilisiert erscheint. Die königliche Poesie nicht als unmittelbaren Gefühlsausdruck, sondern vielmehr als eine literarische Technik der Selbstherstellung zu begreifen, sensibilisiert für die kulturelle Konstruktion dieser subjektiven Innenwelt. Somit bietet die Lyrik Ludwigs ein sprechendes Beispiel für die Selbstaneignung moderner Individualität. Dieser Befund wird auch nicht getrübt durch den Hinweis von Wolfgang Frühwald darauf, wie wenig originell die Wahl der poetischen Mittel von Ludwigs Individualisierungsprozess ausfiel. Denn seine in Subjektivität nur so schwelgende Lyrik verrate bei genauer Betrachtung ein sehr vermitteltes Erleben, eine „historistische Kulissenwelt“, eine letztlich nicht aus selbst gefühlter Realität sich formende, sondern eine „nur aus Literatur sich speisende Literatur“ (Frühwald 1986: 370). Diese Erkenntnis, die nicht die als ursprünglich empfundene Selbstwahrnehmung des bayerischen Königs in Frage stellt, lenkt mit den formal-ästhetischen Bedingungen die Aufmerksamkeit erneut auf die grundlegende Historizität von Subjektivität, Individualität, Authentizität und nicht zuletzt Emotionalität. (vgl. Frevert 2013) Ludwigs I. öffentliches Eintreten für die Dichtung Fand die beschriebene poetische Tätigkeit des Königs als eine Selbst-Technik zunächst im vorpolitischen Raum statt, betrat der denkmalsfreudige Monarch mit zahlreichen öffentlichen Dichterreverenzen endgültig die Arena des Politischen. In den Kern monarchischer Repräsentation, die sich klar mit dem Motiv der Außenwirkung verband, zielte die Ausgestaltung der zwischen 1826 und 1842 neu gebauten Teile der Münchner Residenz. Innerhalb derer ließ Ludwig I. die Räume des so genannten Königsbaus, die dem König und der Königin vorbehalten waren, mit zahlreichen Wandbildern ausschmücken, die antiken und deutschen Dichtern gewidmet waren. 4 Beim Königsbau sind zudem noch die fünf im Erdgeschoss verwirklichten Nibelungensäle hervorzuheben, womit Ludwig I. dem deutschen Nationalmythos seine Ehre erwies. Damit zeigt sich im Herzen der monarchischen Re- 4 Die Gemächer des Königs nahmen Motive aus der altgriechischen Dichtung auf, so aus der Orpheussage, Hesiod, Homer, Anakreon, Pindar, Aischylos, Sophokles, Aristophanes und Theokrit; die der Königin nahmen Sujets aus den Werken deutscher Dichter auf, so von Walter von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Gottfried August Bürger, Friedrich Gottlieb Klopstock, Christoph Martin Wieland, Goethe, Schiller und Ludwig Tieck. Vgl. Fastert 2009: 81-99. Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 187 präsentation neben dem Bekenntnis zur klassischen Antike die unmissverständliche Sympathiebekundung für die deutsche Nation. 5 Dezidiert an die Öffentlichkeit richtete sich eine Reihe von Einzeldenkmälern, die Ludwig selbst noch nach seiner Abdankung errichten ließ, so für Jean Paul in Bayreuth, für Friedrich Schiller in München, für August Wilhelm Iffland in Mannheim, für Wolfram von Eschenbach in Eschenbach und für Wilhelm Heinse in Aschaffenburg. (Reidelbach 1888: 268, 272f., 275) In den Kreis der 1842 eröffneten Walhalla, die Ludwig I. den zu deutschen Heroen erkorenen Persönlichkeiten widmete, nahm dieser folgende Dichter auf: die mittelalterliche Mystikerin Roswitha von Gandersheim, den/ die Dichter des Nibelungenliedes, die Minnesänger Walter von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach, Gotthold Ephraim Lessing, Gottfried August Bürger, Friedrich Gottlob Klopstock, Schiller, Christoph Martin Wieland und Goethe. 6 Da Ludwig eigenhändig Kurzbiogramme zu all den Walhalla- Heroen verfasste, finden sich darin alle so geehrten Dichter aus der königlichen Perspektive geschildert. 7 Für seine über der Münchner Theresienwiese thronende Ruhmeshalle bestimmte er schließlich folgende Poeten: Konrad Celtes, Hans Sachs, Jakob Balde wie auch die schon genannten Jean Paul und August von Platen. (Reidelbach 1888: 242) Die unbestrittenen Dichterheroen stellten jedoch für Ludwig I. Schiller und Goethe dar, wobei er den ersteren, dem er sich wesensverwandt fühlte, noch höher schätzte. Ludwigs I. öffentliches Eintreten für die Dichtung erschöpfte sich jedoch nicht in der Errichtung von Denkmälern. Denn der bayerische Monarch suchte verschiedentlich auch, auf dem Feld der Literaturförderung Zeichen zu setzen. (Fallbacher 1992: 38-49) Anders jedoch als bei seiner Förderung von bildender Kunst und Architektur, die internationales Renommee erzielte, gelang es Ludwig nicht, namhafte Schriftsteller nach Bayern zu ziehen, das folglich hinter den norddeutschen Literaturzentren zurückstand. Gleichwohl erregte er mit einzelnen Entscheidungen und Aktionen doch einiges Aufsehen weit über das wittelsbachische Königreich hinaus. So vor allem mit seinem persönlichen Besuch Goethes in Weimar, dem er zu dessen 78. Geburtstag mit den Worten „Dem Könige der Teutschen Dichter“ (Glaser 2006: 272) das Großkreuz des Bayerischen Zivilverdienstordens verlieh. 5 Wenngleich die Residenzräume des Königsbaus als private Räumlichkeiten erscheinen mögen, so erhielt eine ausgesuchte Öffentlichkeit häufig Zugang zu diesen Repräsentationszimmern. Vgl. Förster 1834: 3. 6 Als Ritter, Dichter und Gelehrten ehrte Ludwig Ulrich von Hutten. Albrecht von Haller hielt Einzug in die Walhalla als Arzt, Dichter Gelehrter. Auch in dem Staufer Kaiser Friedrich II. erkannte Ludwig - neben dem Politiker - den Gelehrten und Dichter. Dem gleichfalls in der Walhalla vertretenen Friedrich dem Großen, den Ludwig I. ansonsten sehr verehrte, sprach er jedoch - mit Bezug auf die posthum erschienene Gedichte des preußischen Königs - das Dichtersein ab. Vgl. Ludwig I. 1842: 87f., 131f., 213f., 222. 7 Ebd.: 54, 78f., 80f., 89, 131f., 213f., 219f., 232f., 236f, 238f., 244f, 250, 267f.. Karl Borromäus Murr (Augsburg) 188 (Vgl. ebd. 210-276; Jesse 2000: 300-305) Presse und Öffentlichkeit bewerteten das Treffen als ein gesellschaftliches Ereignis von hoher Symbolkraft. Rahel Varnhagen ließ aus Berlin verlauten: „Schön, herrlich, dieser König weiß, daß auch Könige huldigen müssen“ (Heigel 1872: 104f.) Und Eduard Gans kommentierte: „Die Originalität der ganzen Erscheinung, die unerhörte Tatsache, dass ein königlicher Herr sich auf die Reise begebe, um den Nestor der Schriftsteller mit dem Großkreuze des Zivilverdienstordens zu schmücken, machte ein Aufsehen, wie selten eine Begebenheit in Zeiten des Friedens“ (Herwig 1972: 175). Der königliche Besuch eines gottbegnadeten Monarchen bei dem verdienstvollen Dichterfürsten wurde als ein gesellschaftspolitisches Zeichen wahrgenommen, wären sich doch mit Ludwig I. ein Dichter unter den Königen und mit Goethe ein König unter den Dichtern ohne soziale Schranken auf Augenhöhe begegnet. Inwieweit Ludwig I. seinen Weimarbesuch als dezidiert liberales Signal verstanden wissen wollte, sei dahin gestellt. Was den bayerischen König jedoch antrieb, war das Bestreben, Karl August von Sachsen-Weimar- Eisenach als Mäzen der deutschen Literatur abzulösen. Ludwigs kurz nach seinem Goethebesuch abgefasstes Gedicht „Nachruf an Weimar“ (Ludwig I. 1829b) spiegelt einerseits die persönliche Enttäuschung über den als distanziert und gefühlskalt wahrgenommenen Goethe wider, bringt jedoch andererseits eine Historisierung Weimars zum Ausdruck, dessen Strahlkraft als Hort der deutschen Literatur verblasst sei. Das dadurch entstandene Vakuum hätte der bayerische König mit München nur allzu gern aufgefüllt. Selbst das von Goethe bei Friedrich von Müller in Auftrag gegebene Dankesgedicht für den bayerischen Königsbesuch, insinuiert den Gedanken, Ludwig könne als Erneuerer der mit Weimar verbundenen Kunstförderungsidee in die Geschichte eingehen. (Goethe 1993: 180ff.) Letzterer ließ sich von seinem Befremden gegenüber Goethe nicht von dem Bemühen abbringen, den greisen Dichterfürst zur Übersiedlung an die Isar zu bewegen - ohne Erfolg. Als eine Vereinnahmung des deutschen Dichterfürsten erscheint der Vorgang, dass Ludwig I. 1828 durch seinen Hofmaler Joseph Karl Stieler Goethe porträtieren ließ mit einem Autograph in der Hand, auf dem das königliche Gedicht „An die Künstler“ zu erkennen ist. (Jesse 1999: 303) Die Zeitgenossen verstanden als eine weitere Entscheidung von literaturpolitischem Symbolwert die Erhebung des Juristen Eduard von Schenks - eines Schiller-Epigonen, der als Dramatiker und auch als Dichter hervorgetreten war - zum bayerischen Innenminister im August 1828. Ein unter dem Pseudonym Φιλανθρωπος (Philanthropos) gezeichneter Rezensent, der die im Jahr darauf publizierten Gedichte Ludwigs I. besprach, bemerkte dazu: „unser Monarch hat einen Minister an der Seite, der, um Mäcenas Schicksal zu entgehen, ebenfalls Dichter ist; beide Barden wünschten das augustische Zeitalter, allein einen Gegensatz in den Personen alter augustischer Zeit zu bilden.“ (Philantrophos 1829) Ludwig selbst verfolgte mit der Ministerer- Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 189 nennung des Dichters Schenk ein klares gesellschaftspolitisches Ziel, dem ein kunstpolitisches Motiv zugrunde lag: „Ausgezeichnete Künstler und Gelehrte sind bey uns zu nieder gehalten, ausgeschlossen von den Adligen Gesellschaften […] Schenk’s Erhebung zum Minister hoffe ich wird auch die gute Folge haben, daß sie in der Gesellschaft erhoben werden.“ (Spindler 1930: 59f.) Wie sich in der Aussage Ludwigs andeutet, stand im Vormärz das Künstlertum, das als bürgerliche Profession wahrgenommen wurde, nicht in einem hohen sozialen Ansehen. Adels- und Hofkreise neigten dazu, in den Künstlern und insbesondere Dichtern weltfremde Vertreter der Menschheit zu sehen, die, geleitet „durch die kindischen Eingebungen einer regellosen Phantasie“, dem nichtsnutzigen Geschäft von „unverständigen Träumern“ nachgingen. (Hermes 1829: 10) Ludwig I. kunstpolitisches Credo, das um eine von Schiller und der klassizistischen Pädagogik entlehnten Idee der ästhetischen Erziehung des Menschen kreiste, musste folglich daran gelegen sein, den Beruf des Künstlers in Bayern sozial aufzuwerten. Nur dann träte Bayern eine „neue Ära der Kunst, ein neues augustisches Zeitalter“ (Grosse 1830), oder - in anderen Worten - in ein „zweytes mediceisches Zeitalter“ (Kunst-Blatt Nr. 53, 02.07.1829) ein. Hier deutet sich bereits an, dass sich mit Ludwigs öffentlichem Eintreten für die Kunst im Allgemeinen und die Dichtung im Besonderen die Utopie eines ästhetischen Staates verband. (Vgl. Schmitz 1987) 8 Die literarische Selbstdarstellung des Königs Mit der Publikation der beiden Gedichtbände 1829 wandelte Ludwig I. seine über einen Zeitraum von etwa 25 Jahren festgehaltenen poetischen Reflexionen in ein Politikum. Der bayerische Monarch schuf sich damit ein prominentes Forum, das er außenpolitisch dazu nutzte, um vor der ganzen deutschen Öffentlichkeit demonstrativ seine nationale Gesinnung zu bekennen. Den zeitgenössischen Lesern musste dieses Bekenntnis umso suggestiver erscheinen, als sich Ludwig in mehreren Gedichten geradezu im Bunde mit dem Gang der deutschen Geschichte darstellte, die mit gleichsam geschichtsphilosophischer Notwendigkeit in der Befreiung vom napoleonischen Frankreich resultierte. Deshalb versäumte er es nicht, entsprechende Gedichte wie etwa „An die Teutschen im März 1807“ explizit mit Datum zu versehen, das mit folgender Zeile beginnt: „Auf ihr Teutschen! auf, und sprengt die Ketten, / Die ein Corse euch hat angelegt“. (Ludwig I. 1829a: 46) Mit der Veröffentlichung seiner „Befreiungskriegsgedichte“ etwa 20 Jahre nach den tatsächlichen Geschehnissen unternahm Ludwig den Versuch, sich 8 Herrn Professor Schmitz danke ich sehr für die Bereitschaft, mir diese Arbeit zur Verfügung zu stellen. Karl Borromäus Murr (Augsburg) 190 selbst zu historisieren und dadurch die vergangene Geschichte - in ihrer unterstellten Teleologie - für sich einzunehmen, indem er sich selbst einen Part am erfolgreichen Kampf gegen Frankreich zumaß, selbst wenn dieser Part lediglich in einer Gesinnungshaltung bestand. Mit seiner so starken Sympathiebekundung für die „Befreiungskriege“ bediente sich der bayerische Monarch mithin des seit napoleonischer Zeit gewachsenen deutschen Nationalismus, der den antifranzösischen Befreiungskampf als einen zentralen Geschichtsmythos kultivierte. Ludwigs prononcierter Nationalismus, der allerdings innerhalb der Vorstellung einer Kultur-Nation der Staaten des Deutschen Bundes verblieb, stellte nicht nur ein persönliches Bekenntnis dar, sondern verfolgte ein klares politisches Motiv: nämlich die spätestens seit dem Wiener Kongress immer lauter an Bayern geübte Kritik zu entkräften, die dem wittelsbachischen Königreich wegen dessen langjähriger napoleonischer Allianz Verrat am deutschen Vaterland vorwarf. Nicht weniger schwer wogen die Anschuldigungen, dass Bayern dem Feind Frankreich nicht nur zahlreiche Gebietserweiterungen, sondern vor allem auch die Erhebung zum Königreich zu verdanken hatte. Vor dem Hintergrund dieser gegen Bayern gerichteten Vorwürfe erscheinen Ludwigs poetische Bekenntnisse zu Deutschland, wenngleich deren persönliche Motivation unbestritten sein mag, unweigerlich wie Rechtfertigungsversuche des wittelsbachischen Staates, der seine Position im Deutschen Bund zu behaupten suchte. Für die rechtfertigende Untermauerung der eigenen Gesinnung nahm Ludwig sogar seinen eigenen erstgeborenen Sohn in Anspruch, dem er Anfang Dezember 1811 poetisch gleichsam ins Taufbuch schrieb: „Dessen eingedenk, o Max sey immer, / Daß als Teutscher du geboren bist“ (Ludwig I. 1829a: 66). Wenn Ludwig in demselben Gedicht mit dem Gedanken an den eigenen Heldentod für Deutschland kokettierte, deutet sich hierin ein auch in anderen Gedichten wiederholtes Motiv an, in dem der bayerische Fürst beklagt, dass ihm die Gelegenheit versagt blieb, persönlich für das deutsche Vaterland in den Krieg zu ziehen. So bekannte er in „Den bayerischen Schützenmarsch vernehmend im Jänner 1814“: „Seh’ nach Frankreich Teutschlands Jugend eilen / Mit den Fürsten, ich allein muß weilen / Thatlos, von dem Heere weit zurück. / Mich, den frühe teutscher Sinn begeistert, / Den nicht die Gefahr, nicht Glanz bemeistert / Seh’ ich ausgeschlossen von dem Glück.“ (Ludwig I. 1829a: 108; siehe auch 177) Besonders neidete Ludwig dem Befreiungsdichter Theodor Körner sein „Glück“, für das deutsche Vaterland gefallen zu sein - vor allem deshalb, weil der bayerische Fürst sich nicht mit diesem als Kriegshelden, sondern zugleich als Dichter ganz und gar identifizierte. „Zwey von Harmonie umfangene Seelen, / Wie die Töne liebend sich vermählen / Gleich gestimmter Harfen, her und rein, / Hätten unser Seelen sich verbunden, / Zu dem Höchsten muthig sich entwunden / In des heiligsten Gefühl’s Verein.“ Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 191 (Ludwig I. 1829a: 197) Ludwigs literarische Identifikation mit Körner kann auch als ein Versuch gelesen werden, über die poetische Angleichung am Heldenstatus des Befreiungskriegsdichters zu partizipieren. Da Ludwig der eigene Kriegseinsatz verwehrt blieb, erscheint seine pathosgeladene Poesie der „Befreiungskriege“ wie eine Ersatzhandlung für den selbst nicht geleisteten Kriegsdienst. Die Einheit von Wort und Tat, die bei Körner, dem Dichter von „Leyer und Schwerdt“ (vgl. Körner 1814) zusammenfielen, war dem bayerischen Fürsten verunmöglicht. Bei diesem musste gewissermaßen das Wort die Tat ersetzen, die Leier das ungenutzte Schwert vergessen machen. Anstelle eines Nationalismus der Tat trat ein Nationalismus des Wortes, der allerdings im gewählten Medium der Poesie im Vormärz ein breites Echo fand. Da Ludwig I. in seinem Geschichtsverständnis von der unwiederbringlichen Einzigartigkeit historischer Ereignisse ausging, musste ihn das Bewusstsein des ein für allemal entgangenen Heldentums umso mehr schmerzen. „Kriege mag es viele künftig geben, / Doch ein s o l c h e r kommt uns nimmermehr“ (Ludwig I. 1829a: 177). So blieb Ludwig in der Selbstwahrnehmung lediglich ein Held im Konjunktiv: „Den als Retter Teuschland hätt’ betrachtet, / Stehet in der Menge, unbeachtet“ (ebd.: 191). Das politische Motiv, seine deutschen Sympathien poetisch zu artikulieren, wog so schwer, dass es Ludwig I. darüber versäumte, die eigene Heimat Bayern zu preisen. Joseph von Görres kritisierte deshalb in seiner literarisch raffiniert angelegten Rezension, dass Ludwig in seiner Gedichtpublikation nicht auch „auch ein paar freundliche [Worte] an sein Volk hier im Bayerland“ (Görres 1958: 140) 9 gerichtet habe - eine Kritik, auf die Ludwig I. in der noch 1829 erschienenen zweiten Auflage seiner Gedichte offensichtlich reagierte. 10 Ähnlich wie Ludwig seinen Nationalismus lyrisch demonstrierte, war ihm daran gelegen, seine in der Tat frühe Anteilnahme für den griechischen „Befreiungskampf“ öffentlich zu belegen. (Vgl. Maillet 2009) Was in der Vorstellung Ludwigs I. beide Befreiungskämpfe - den deutschen wie den griechischen - miteinander verband, war das zugestandene Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, dessen Anerkennung dem Wittelsbacher sicherlich liberale Sympathien eintrug. Dass München zu einem europäischen Zentrum des Philhellenismus wurde, lag sicherlich auch an der 9 Das Raffinement der Rezension besteht darin, dass Görres sein Lob sowie seine Kritik verschiedene Charaktere vortragen lässt, die sich wiederholt gegenseitig widersprechen und ihre Positionen dadurch relativieren. So entsteht letztlich ein subtil ausgewogenes Für und Wider, das im jeweiligen Urteil nicht zu apodiktisch daherkommt. 10 Es liegt der Verdacht nahe, dass Ludwig I. eine Reihe der neu eingefügten Gedichte überhaupt erst auf die Kritik von Görres hin neu geschrieben hat. Gedichte des Königs Ludwig von Bayern 1829c: 168f. (An das Bayerische Heer), 181 (In München), S. 186 (Sonett An meinen verewigten Vater), S. 191f. (Auf meine Reisen im Königreiche. Im Jahr 1829). Karl Borromäus Murr (Augsburg) 192 Patronage des damaligen Kronprinzen Ludwig, der sich selbst als König noch der griechischen Sache verschrieb. (Vgl. Spaenle 1990) Sich für den „Befreiungskampf“ der Griechen zu begeistern - dazu bewegte Ludwig allerdings noch ein weiteres Motiv, nämlich ein christliches. Denn für ihn ging es bei der Auseinandersetzung um das osmanisch beherrschte Griechenland vor allen Dingen um einen Kampf des Christentums gegen den Islam. Wenn der königliche Poet somit die Hellenen zum Aufstand anfeuerte, sah er allenthalben schon christliche Blutzeugen am Werk. „Mit Blut gefärbt ist frisch das Kreuz errichtet, / Und Muth mit Frömmigkeit hält es umschlungen; / Dem Raube habt’s, Hellenen, ihr entschwungen, / Viel neue Märtyrer sind rings geschichtet.“ (Ludwig I. 1829b: 11) Und, so Ludwig an späterer Stelle: „Die reinste Glut hat jedes Herz entzündet, / Froh wird die frohe Botschaft jetzt verkündet, / Auf heil’gen Boden steht das Kreuz gegründet.“ (ebd.) Ludwigs Einsatz für Griechenland, der durch Geldspenden und der von Bayern finanzierten „Philhellenenfahrt“ (vgl. von Heideck 1897) zur Unterstützung griechischer Truppen tatsächlich auch über die Poesie hinausreichte, zielte deshalb nicht zuletzt darauf neben seiner klassischen seine christliche Gesinnung öffentlich darzutun. Das christliche Motiv des bayerischen Königs spielte auch eine wichtige Rolle bei einem weiteren Griechenlandgedicht, das Ludwig im Sommer 1829 verfasst hatte: „An Rußland’s Kaiser“ (abgedruckt im Literatur-Blatt Nr. 89, 06.11.1829). Die russische Kriegserklärung an die Türkei vom 26. April 1828 hatte Ludwig I. zu dem Gedicht angeregt, das den Zaren Nikolaus I. als den künftigen Befreier der griechischen Christen von der Herrschaft der muslimischen Herrschaft feierte. (Vgl. Spindler 1930: 105f.) Mit dem Gedicht verfolgte der wittelsbachische Monarch jedoch über die die christliche Sympathiebekundung hinaus einen weiteren, sehr konkreten Zweck, nämlich die mögliche Verheiratung entweder des bayerischen Kronprinzen Maximilians oder des Prinzen Ottos mit dem Zarenhaus. (Vgl. Kirschbaum 2011) Ludwig ließ seine lyrische Hommage an den Zaren deshalb dem russischen Außenministerium zuspielen. Das Gedicht wurde dazu von dem russischen Gesandtschaftsangehörigen in München Fjodor Tjutčevs ins Russische übersetzt und vom russischen Gesandten in München, Fürst Potemkin, in einer Depesche an den russischen Außenminister, Graf Nesselrode beigelegt. Später sollte Ludwig I. allerdings von dieser Heiratspolitik Abstand nehmen, als ihm eine so enge Liaison mit dem Zarenhaus mit Blick auf die internationale Bühne der Politik nicht mehr opportun erschien. Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 193 Die poetische Menschwerdung eines Königs oder das Kalkül des Gefühls Verfolgte die literarische Selbstdarstellung des bayerischen Königs als eines emphatischen Gesinnungsgenossen der deutschen „Befreiungskriege“ und des griechischen „Befreiungskampfes“ mehr eine außen- und bundespolitische Zielrichtung, transportierte Ludwigs Poesie auf einer anderen Ebene ein gesellschaftspolitisches Motiv. Nicht wenige Zeitgenossen stellten mit Bewunderung und Erstaunen fest, dass Ludwig I. mit der Publikation seiner Gedichte sein Gefühlsleben in einem für einen deutschen Fürsten bislang undenkbaren Maße öffentlich machte, so dass viele Kritiker genau darin den besonderen Charakter der königlichen Poesie erkannten. Dieserart Gefühlsäußerung zeugte in ihren Augen von einer Wesensverwandlung Ludwigs, dessen Gedichte nämlich den Monarchen nicht als König, sondern als Mensch zeigen würden. Das „Reinmenschliche“ überstrahle, so die Allgemeine Literaturzeitung vom Dezember 1829, „selbst noch den Glanz des Thrones“. Ernst Grosse entdeckte in der ludovizianischen Dichtung ein „königliches Gemüth“, das sich „wie das Herz jedes andern Privatmanns mit seinen persönlichsten innersten Gefühlen, Schmerzen und Täuschungen“ darbiete und den „Zepter und Purpurmantel“ ablege, „um ganz Mensch zu sein“. (Grosse 1830) Und Karl Heinrich Hermes fragte: „Können wir daher etwas höheres von einem Fürsten sagen, als daß er Mensch sey; daß nichts Menschliches ihm fremd, nicht Menschliches weder so groß und erhaben, noch so klein und gering sey, was nicht bereits Statt in ihm fände? Und dieß ist es, dieß edle Gefühl der Humanität, das aus jeder Zeile uns anspricht, was wir als den unterscheidenden Charakter dieser Gedichte anerkennen müssen.“ (Hermes 1829: 12) Auch Goethe bekannte, dass sich Ludwig, „neben der Königlichen Majestät seine angeborene Menschennatur gerettet“ (Goethe 1986: 316) habe. Bei der angedeuteten poetischen Menschwerdung des bayerischen Königs ging es aber nicht um die Humanität als solche, sondern sie verband sich bei den Rezensenten mit einer politischen Botschaft, nämlich die einer sozialen Egalisierung, die den Ludwig I. mit dem Volk gemein mache. Die poetisch bezeugte Humanität des Königs überbrücke die gesellschaftliche Kluft zwischen Herrschaft und Gefolgschaft. Johann Baptist Rousseau würdigte genau deshalb Ludwigs Dichtung: „Hier ist ein Riesenschritt gethan, Monarch und Unterthan mit den gegenseitigen Banden des Vertrauens und der Achtung wieder zu umschlingen.“ (Rousseau 1834: 88) Solchermaßen reiche der König dem Volk die Hand zur Freundschaft. Zweifelsohne äußerte sich in der Gefühlslyrik Ludwigs I. eine unverkennbare Tendenz zur Verbürgerlichung, die sich zugleich als eine Tendenz zur Privatisierung darstellte. (Vgl. Wienfort 2013) In mehreren Gedichten reklamiert er für sich die Rolle des Privatmannes und hadert regelrecht mit Karl Borromäus Murr (Augsburg) 194 seinem Monarchenberuf, mit „Der Könige Loos“ (Ludwig I. 1829b: 53), welches das Ich des Herrschers auszulöschen drohe. Deshalb klagt Ludwig, dass er von „des Hofes Zwang umgeben / Schon ein Todter in dem Leben“ sei. Die Monarchenrolle verdamme ihn dazu, zu „vergessen / Daß er Mensch ist“; „immer kühl / Soll sein Herz nie höher schlagen, / Einsam, freudlos soll er ragen, / Abgestorben dem Gefühl“. Ludwig identifizierte mithin das eigentliche Menschsein mit dem Recht zu fühlen - ein Recht, das „dem Aermsten selbst gewähret / Er auf seinem Thron entbehret“. In dem Gedicht „Königsklage“ sieht er sogar darin ein regelrechtes „Vergehen / Mit dem Menschen Mensch zu seyn“ (ebd.: 56). Dagegen bekennt er in dem Gedicht „Fürstenklage“: „Mich nicht meiden / Kann ich, scheiden / Fürst vom Menschen nicht“ (ebd.: 127), um danach geradezu einen Lebensüberdruss Ausdruck zu verleihen. 11 Es wäre eine viel zu schlichte Einschätzung, in den königlichen Klagen lediglich den eitlen Hader einer über die Maßen privilegierten Fürstenpersönlichkeit zu sehen. In ihnen dokumentiert sich vielmehr der Privatismus eines modernen Individuums, das für sein Ich eine Privatsphäre des Gefühls beanspruchte. Der Privatismus Ludwigs I. ging so weit, nicht in der Rolle des Monarchen, sondern in der persönlichen Gefühlswelt das eigentliche Leben zu sehen. Die entscheidende Grundlage für dieses Urteil bildete die Wahrnehmung, die von Ludwig ausgebreitete Gefühlswelt als „wahrhaftig“, als authentisch anzuerkennen. So würdigte Görres bei diesen Gedichten die „Wahrhaftigkeit, die aus ihnen unverkennbar hervorleuchtet. Da ist nicht unterschobenes, nichts was etwas später nachgemacht wäre; kein leeres Spiel mit Gefühlen, die eine erkünstelte Begeisterung sich mühselig hineingedachte; keine übertünchte Lüge, die früheres Unterlaßen sophistisch sich beschönigen möge: denn Alles ist aus ächter und rechter Eingebung des Augenblicks hervorgegangen“ (Görres 1958: 140). Einmal von der Authentizität der ludovizianischen Gedichte überzeugt, gingen mehrere Kritiker soweit, die zahlreichen formalen Mängel der königlichen Poesie nicht als Makel zu konstatieren, sondern vielmehr als untrügliches Zeugnis eines wahrhaftigen Gefühlslebens zu interpretieren. Die Authentizitätserwartung der Zeitgenossen ging deshalb davon aus, dass Ludwigs Dichtung unvermittelt an die Öffentlichkeit gelangt war. Tatsächlich verdankte sie sich jedoch der peniblen Textredaktion des literarisch erfahrenen Schenk. (Vgl. Spindler 1930) 11 Die wohl als zu schwermütig wahrgenommene„Fürstenklage“ fand interessanterweise keinen Eingang mehr in die noch 1829 erschienene zweite Auflage der königlichen Gedichte. Anstelle fügte Ludwig der neuen Auflage das Gedicht „Königsgefühl“ hinzu, das einen unumschränkt positives Verständnis des Fürstenberufs zum Ausdruck brachte. Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 195 Der „Klang der jungen Freiheit“ In Ludwigs scheinbar so vorbehaltloser Lyrik des Gefühls erblickten verschiedene Zeitgenossen ein liberales Versprechen auf ein neues politisches Zeitalter. Der bayerische Monarch, der kurz nach seinem Regierungsantritt im November 1825 eine viel beachtete und von Metternich kritisch beäugte Lockerung der Pressezensur für innere Angelegenheiten eingeführt hatte - gab auch in seiner Dichtung, etwa in dem Gedicht „Königsgefühl“, Anlass zu liberalen Hoffnungen. Darin bekannte er sich zum freiheitlichkonstitutionellen Staat: „Herrlich! über freies Volk zu walten, / Nicht nach Willkür grenzenlos zu schalten, / Sondern in den Schranken, die bestehn, / Muthig, kräftig stets voran zu schreiten“ (Ludwig I. 1829c: 189). Aufgrund solcher Zeilen lobte Grosse Ludwigs „Begeisterung für Gesetz und Freiheit“ (Grosse 1830). Ihn beeindruckte „jene ungewohnte königliche Stimme, die nur für seine Freiheit und die große Wahrheit der Zeiten sprach“ (ebd.). Mit Ludwig I. sei Bayern deshalb ein Land, „wo der junge Geist des Jahrhunderts seine freieren Schwingen regte“ (ebd.). Der Hesperus vom 20. März 1829 sah in den Gedichten eines Königs, der „Licht und Aufklärung, Wissenschaft und Kunst, Recht und Wahrheit“ zu schützen weiß, eine „Kriegserklärung“ gegen die Restauration. Rousseau konstatierte dem enthusiastischen Eintreten Ludwigs für die „geistige Freiheit“ und seiner Positionierung gegen den Wiener Kongress eine so gewagte Liberalität, die doch in andern Fällen noch der Zensur anheim gefallen war. (Rousseau 1834: 77) Auch wenn nur wenige explizite Hinweise in Ludwigs Lyrik auf eine moderne freiheitliche Grundhaltung schließen ließen, bediente schon die königliche Publikation als solche liberale Erwartungen. Der bayerische König, der seine Poesie bewusst unter seinem eigenen Namen publizierte, nährte die Hoffnung auf eine unzensierte freiheitlich-bürgerliche Öffentlichkeit in Deutschland, „wo“ doch bislang, wie Grosse bemerkte, „kein öffentliches Leben“ (Grosse 1830) existiert hatte. In dieser Vorstellung von Öffentlichkeit waltete - so der Anspruch - allein die Wahrheit in der Form eines „herrschaftsfreien Diskurses“ (Jürgen Habermas) - eine Wahrheit, die sich lediglich von Argumenten, nicht aber von herrschaftlichen Autoritäten bestimmen ließ. Im Zeichen der Wahrheit lade so die zum öffentlichen Gut gewordene Poesie Ludwigs I. notwendiger Weise zu einer kritischen Auseinandersetzung ein. „Das königliche Werk fange an, im Reiche der Kritik die erste Ausstellung der Wahrheit zu werden […] wie wird sich der Monarch nicht freuen, eine so schöne Gutthat dem Reiche der Literatur gespendet zu haben.“ (Philantrophos 1829) Der bayerische König, der mit seiner Gedichtpublikation „offen mit seinen Freunden“ umgehe, fordere im Gegenzug seine Leser zu ebenso offener Äußerung auf: „darum müßt ihr frei euch Karl Borromäus Murr (Augsburg) 196 äußern, oder müßte es ihm [Ludwig I.] nicht lächerlich scheinen, wenn er erführe, daß ihr ob des voranstehenden Namens den Muth verloret? “ (Ebd.) Liberale Erwartungen schürte Ludwig zudem mit der von ihm gewählten Kommunikationsform der Poesie, die in ihrer expressiven Gefühlsbetontheit als eine bürgerliche Kunstform galt. Der zeitgenössische Gefühlsdiskurs maß authentische Gefühls- oder Gemütsäußerungen vor allem dem Bürgertum zu. (Vgl. Frevert 2011; Scheer 2011) Wer wie Ludwig I. - so die Schlussfolgerung der Zeitgenossen - den lyrisch-emotionalen Ton des Bürgertums anschlug, musste sich konsequenter Weise mit dem bürgerlichen Wertekanon identifizieren, der unter anderem Freiheit, Gleichheit und Wahrheit beinhaltete. Im Gegensatz zum Bürgertum traf den Adel der Vorwurf, er würde keine Gefühle offen zu erkennen geben und bleibe vielmehr in höfischer Konvention maskenhaft gefangen. Statt der Wahrheit herrsche bei der Aristokratie vielmehr Obskurantismus vor. Von daher erkannte der Rezensent des Kunst-Blatts vom 2. Juli 1829 in Ludwigs bürgerlichen Dichterhabitus folgerichtig einen „von Aristocratismus freyen Geist“. Der Hinweis zur bürgerlichen Bedeutung des Gefühlsaspektes, von dem Ludwig I. überzeugt war, führt letztlich zu dem zentralen politischen Motiv, das den bayerischen König überhaupt zur Veröffentlichung seiner Gedichte veranlasste. Die Kraft des Gefühls sollte nicht nur dazu dienen, eine bürgerliche Öffentlichkeit herzustellen, sondern darüber hinaus die monarchische Herrschaft befestigen. Der bayerische König war nämlich zu der Erkenntnis gelangt, dass es im Zeitalter der konstitutionellen Monarchie trotz deren staatsrechtlicher Legitimation nicht mehr hinreichte, Herrschaft lediglich rational-bürokratisch auszuüben. Die Staatsform der konstitutionellen Monarchie forderte vielmehr dazu heraus, aktiv beim Volk für die Legitimität ihrer Herrschaft zu werben. Für diese aktive Werbung bot sich die politische Indienstnahme des Gefühls an, das im Zuge romantischer Herrschaftsbegründung einen neuartigen politischen Stellenwert erhalten hatte. Ludwigs gesamtes politisches Streben war zu einem Gutteil von dem rastlosen Bemühen gekennzeichnet, das bayerische Volk bzw. die bayerische Nation emotional für die monarchische Regierungsform einzunehmen. Neben seiner so umfangreichen Kunst-, Geschichts- und Religionspolitik beschritt der bayerische König mit der Publikation seiner Lyrik einen für einen deutschen Fürsten bis dahin völlig neuen Weg in der öffentlichen Kommunikation - in der Intention, einen höheren Grad an Legitimität für die Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft hervorzurufen. In diesem Sinne deutete auch Ignaz Lautenbacher die Publikation der ludovizianische Lyrik, indem er sich auf die staattheoretische Einschätzung von Johannes Weitzel berief. „Die Monarchie muß etwas mehr, als auf den todten Begriff der Legitimität, nämlich auf das lebendige Gefühl wechselseitigen Vertrauens, der Achtung, Dankbarkeit und Liebe gegründet seyn. Persönlich müssen die Fürsten sich geltend machen, wenn die Fürstengewalt gelten soll.“ (Lautenbacher 1829b) Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 197 Die ludovizianische Poesie stellte das persönlichste und zugleich emotionalste Instrument dar, die wittelsbachische Monarchie in einer Epoche öffentlich geltend zu machen, in der sich das bürgerlich konnotierte Gefühl zu einem politischen Faktor entwickelt hatte. Deshalb lag in dem lyrischen Zugriff des bayerischen Königs auf die Öffentlichkeit seiner Zeit ein unbestreitbar moderner Zug. Dieser erhellt umso deutlicher, wenn man nach möglichen sprachlichen Alternativen fragt, mit Hilfe derer ein Fürst im Vormärz dermaßen affektiv in den öffentlichen Raum hinein wirken konnte. Angesichts der fürstlichen Rollenerwartung und der höfischen Etikette, die den Monarchen jener Zeit ansonsten eine emotionale Ansprache an die Staatsbürger bzw. Untertanen verwehrten, erscheint Ludwigs Strategie, die ‚Herzen‘ der Bevölkerung auf poetischem Weg zu erreichen, als ein politisch innovativer Schachzug. Im Jahr 1829 schien die für die Monarchie werbende Gefühlspolitik des bayerischen Königs mit liberalen Herrschaftsvorstellungen noch keineswegs in einem Widerspruch zu stehen. Bei den Liberalen galt Ludwig im Jahr seiner Gedichtspublikation vielmehr als ein politischer Hoffnungsträger unter den deutschen Fürsten, dem man ihm zutraute, die Freiheit mit dem „Königthume“ wie auch die „Vernunft mit dem Glauben“ (Lautenbacher 1829a) zu versöhnen. Ludwigs Dichtung stünde deshalb als „ein historisches Denkmahl von der wichtigsten Bedeutung“ da, „und zwar nicht blos zunächst für Bayern, sondern für den Fortschritt des Jahrhunderts und den Geiste, der den ganzen Welttheil bewegt.“ (ebd.) Eine Poesie zwischen Sagbarem und Machbarem Dass es im Vormärz ein deutscher Fürst wagte, mittels Poesie politisch zu agieren, lädt dazu ein, tiefer gehend über das sich darin äußernde Verhältnis von Kunst und Politik bei Ludwig I. nachzudenken - ein Verhältnis, das im Spannungsfeld von Wort und Tat, von Sagbarem und Machbarem beschrieben werden kann. Tatsächlich wurde die Poesie Ludwigs nicht nur als ein künstlerischer Akt, sondern vielmehr als ein Politikum verstanden, wie etwa Schenk befand. „Allenthalben wird jene Gedichtsammlung nicht bloß als eine herrliche l it e r a r i s c h e , sondern auch als eine höchst merkwürdige p o lit i s c h e , wahrhaft mehr als europäische Erscheinung betrachtet.“ (Spindler 1930: 80) 12 Schon im Vorfeld der Veröffentlichung der ludovizianischen Poesie nannte Schenk die „An die Künstler“ adressierten königlichen Verse „mehr als Poesie“; sie seien „eine Tat“ (Spindler 1930: 46). Poesie zur 12 Später berichtete Schenk: „Auch die Mitglieder der königlich Preußischen Familie, namentlich des Kronprinzen und der Kronprinzessin Königliche Hoheiten, nehmen den lebhaftesten Anteil an dieser großen, nicht bloß literarisch, sondern auch politisch wichtigen Erscheinungen“ (Spindler 1930: 89). Karl Borromäus Murr (Augsburg) 198 Politik erheben, Worte zu Taten zu erklären - diese semantische Bemühung von Ludwigs Zeitgenossen verweist zunächst auf Zweierlei. Zum einen erlaubt sie, auf einen dahinter liegenden Politikbegriff zu schließen, der Fürsten einzig mittels Handlungen politisch agieren ließ. Görres, dem die bloße Dichtung allein der Tatkraft entbehrte, betonte in einer suggestiven sprachlichen Vermischung: „Die beredsamsten Worte, durch die ein König zu dem ihm zugewandten Volke redet, sind seine Regentenhandlungen; mit Thaten lohnt er seine Liebe und Anhänglichkeit“. (Görres 1958: 140) 13 Dieses Verständnis von Politik wertete Worte - zumal die der Poesie - ab als unproduktive „Thatenlosigkeit“, die zudem schnell als „weibisch“ galt. (Schwab 1830a) Zum anderen zeigen die Versuche, Ludwigs Poesie zur Tat zu adeln, auf den originellen Charakter der königlichen Kommunikation, die wider Erwarten politische Kraft entfaltete. Ludwig selbst reflektierte in einem seiner zahlreichen Griechenlandgedichte („An die Hellenen, da ich König“) das poetische Dilemma der Handlungsunfähigkeit, die in Aktion umschlagen solle, „wo das Lied zur That werden soll“ (ebd.), wie Schwab es formulierte. „Thatlos verweheten mir in den Hütten die Töne der Lyra, / Blos in die Saiten allein durfte sie greifen, die Hand; / Einsam erklangen dieselben, wie Seufzer verheimlichter Liebe; / Jetzt ist die Lyra verstummt, aber das kräftige Wort / Tönt von dem Könige aus der Fülle des glühenden Herzens, / Daß sich’s gestalte zur That, Griechen, zu eurem Heil! “ (Ludwig I. 1829b: 29) Nun mag man dem Engagement Ludwigs für Griechenland - unabhängig von der späteren dortigen Thronbesetzung durch das Haus Wittelsbach, die im Februar 1828 zum ersten Mal zur Sprache gekommen war - eine gewisse Tatkraft nicht absprechen. Ludwig selbst hatte ein Jahr nach seinem Regierungsantritt öffentlich zur finanziellen Unterstützung Griechenlands aufgerufen und im selben Jahr den im Guerillakrieg erfahrenen Karl Wilhelm von Heideck mit vierzehn Offizieren und Unteroffizieren nach Griechenland gesandt, um dort heimische Truppen auszubilden. (Vgl. Seewald 1994) Solcherart Einsatz hinderte Görres nicht, die königlichen Griechenlandgedichte zum Anlass zu nehmen, einen literarischen Philhellenismus als pseudoaktive Schreibtischtat zu verurteilen. Also ließen sie im Vaterlande alles liegen und stehen, wie es eben lag und stand, und begaben sich auf die Fahrt; versteht sich, in Gedanken, denn die Ermüdung von der vorigen Anstrengung war noch allzu groß, und das Gemach auf dem Bären-Fell war allzu süß und lieblich. Da es nur Redensarten und Worte gelten sollte, traten wie billig die Philologen, die mit Worte nur verkehren, an die Spitze des Zugs, der sofort wie jener Nachtwandler mit 13 Frühwald hat diese Görres-Stelle m.E., wenngleich richtig interpretiert, doch falsch gelesen, da hier gerade nicht davon die Rede ist, dass Worte Taten seien, sondern vielmehr reale Taten die eigentliche Herrscheraufgabe seien. (Vgl. Frühwald 1976: 150; Frühwald 1986: 377). Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 199 den Füßen alle Bewegungen und Schritte machte, die nöthig waren, um bis zum Peloponnese zu gelangen, aber in Wahrheit nicht aus seinem Bette kam. (Görres 1958: 143f.) Beim Thema der deutschen „Befreiungskriege“ zeigte sich Görres hingegen großzügiger. Dort akzeptierte er, dass Ludwig nicht im aktiven Kriegsdienst das deutsche Vaterland hatte unterstützen können. Deshalb nahm er in diesem Fall die königliche Dichtung, den „gehabten guten Willen durch Sängersmund […] für die That“, billigte mithin die poetische Ersatzhandlung, nicht ohne darauf hinzuweisen: „dem Volke aber wird die That für den Willen bürgen, uns so darf der Mund wohl billig schweigen.“ (Ebd.: 141) Görres mochte anstelle königlicher Lyrik politische Taten fordern - allein dem bayerischen König waren im Feld der Politik enge Grenzen gesetzt. Dies anerkannte sein Rezensent Rousseau, dessen Überlegung zu einem weiteren wichtigen Motiv von Ludwigs I. Dichtung führt. „Einsehend, daß Baiern’s politische Rolle in den großen Staatenbündnissen nur immer eine zweiten Ranges sein könne, verschmäht der Monarch in die feineren Machinationen der Kabinette einzustimmen, und spricht seine Ueberzeugungen für wahre Freiheit so unumwunden aus, daß er sie sogar jetzt gedruckt der Welt vorlegt.“ (Rousseau 1834: 78) Ludwig selbst hätte schon in seiner Kronprinzenzeit gegenüber dem französischen Gesandten in München geäußert, dass man nach Napoleon „auf den Ruhm der Waffen“ (zit. n. Spindler 1966: 323) verzichten müsse. Erweckt letztere Aussage Ludwigs noch den Eindruck, dass für Bayern Waffentaten zumindest eine politische Option darstellten, lässt der unmittelbar folgende Satz sich als programmatische Aussage verstehen, welche die Kunst in den Rang der Politik erhob. „Um ein großer Fürst zu werden“, fuhr Ludwig fort, „sei das Land Bayern ein viel zu enger Spielraum, so daß nichts übrig bleibe als der Mäzen Europas zu werden“ (ebd.). Wer Bayerns realpolitische Bedeutung jenes Zeitalters nüchtern einschätzt, muss ohne Zweifel die strukturelle Schwäche des wittelsbachischen Königreichs konstatieren, dem es schlichtweg an Ressourcen gebrach, im Konzert der europäischen Großmächte mitzuspielen. Angesichts dessen zeugt der von Ludwig eingeschlagene Weg, zumindest als Mäzen politisches Ansehen zu erlangen, von bemerkenswerter Weitsicht. Die Strategie, entweder durch die persönliche Ausübung oder durch die Förderung von Kunst, politisch zu reüssieren, fand ihre Fundierung darin, dass Ludwig bewusst das Ästhetische dem Politischen überordnete. Ludwig I., der mit Schiller fest an die ästhetische Bildungskraft der Kunst glaubte, bemühte mit metaphysischem Ernst stets den Maßstab des Ewigen, um auf die Relativität einer endlichen Politik hinzuweisen. Dass sich Ludwig selbst in dem Prozess der wesentlichen Relativierung einer Politik des Alltags im Bunde mit den in Ewigkeit überdauernden Kräften der Kunst sah, ist keineswegs frei von Narzissmus und geschichtsphilosophischer Selbstüberschätzung. Karl Borromäus Murr (Augsburg) 200 Da „habt ihr mich, wie ich leibe und lebe, honny soit qui mal y pense! “ So modern Ludwigs lyrisch beschrittener Weg in die Öffentlichkeit seiner Zeit auch anmuten mag - dieses Unterfangen war, politisch betrachtet, gleichermaßen gewagt. Die anfängliche, fast einhellige Begeisterung über die Gedichte des bayerischen Königs, wie liberal sich auch genährt war, täuscht nur allzu leicht über die Risiken hinweg, die Ludwig mit der Publikation seines poetisch aufbereiteten Innenlebens einging. Am heikelsten mochten in dieser Hinsicht die erotischen Gedichte des bayerischen Königs erscheinen. Ludwig selbst sah offensichtlich keine Notwendigkeit, seine wechselnden Amouren, die ihn zu immer neuen Versen inspirierten, öffentlich zu verbergen. Prinz Johann von Sachsen befand deshalb gegenüber dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm in Bezug auf die königliche Lyrik: „Nur find’ ich die ganze Publication unter eigenem Namen […] und inclusive sämmtlicher Liebeleien - vor und nach der Heirath eine große Tactlosigkeit.“ (Johann Georg von Sachsen 1911: 54) Ludwig besang immer wieder ausdrücklich seine Geliebten. Damit seine Leser nur alle erotischen Anspielungen richtig verstanden, nahm er in der zweiten Auflage eigens sprachliche Präzisierungen vor, so bei dem Gedicht „In Beziehung auf Brückenau’s Gegend“ (Ludwig I. 1829b: 136). „Denn bis jetzt wurde irrig dafür gehalten, daß sich das Gedicht auf eine Geliebte in Brückenau bezöge, da ich doch nie eine daselbst hatte, sondern auf die abwesende, an welche ich aber an jeder anmuthigen Stelle dachte, und so lebhaft, daß jede derselben mich an sie erinnerte, als hätte ich sie da gesehen.“ (Spindler 1930: 87; vgl. Ludwig I. 1829c: 149) Bei Ludwig schien ein Liebesgedicht unweigerlich mit einer eigenen erotischen Erfahrung verbunden, die er in manchen Versen in einer für seine Zeitgenossen verhältnismäßig offenen Weise schilderte. So heißt es etwa im Gedicht „Erfolgloses“: „O! in dir möcht’ ich versinken, / Mit dir werden eine Glut, / Tod und Leben aus dir trinken, / Stillen höchste Liebeswuth. / Meine Arme schon erfassen / Unvergleichlichsten Genuß. / Nein! von dir kann ich nicht lassen, / Sey du meines Daseyns Schluß.“ (Ludwig I. 1829b: 113) Dass Ludwig mit solchen Zeilen Gefahr lief, bei manchen Lesern eine literarische Schaulust zu bedienen, war nicht von der Hand zu weisen. In der zurückgenommenen Sprache des Vormärz stellte etwa Schwab fest, dass gerade bei den erotischen Gedichten des Königs das Risiko bestehe, sie „aus dem Kreise der Poesie in den der Neugierde und Beobachtung zu ziehen“, handele es sich doch um einen delikaten Gegenstand, den „am meisten die Ausdeutung aufregen kann“ (Schwab 1830b). Schwab verteidigte Ludwig allerdings gegenüber anderen Poeten, die allein „mit der Wollust [Humor] treiben“ (ebd.). Diese seien am wenigsten befugt, „den ersten Stein gegen diese edlere Gattung“ von Ludwigs „erotischer Poesie aufzuheben“ (ebd.). Den edleren Rang erhielten dessen Gedich- Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 201 te nach der Auffassung Schwabs aufgrund der letztlich immer obsiegenden Moral, die den königlichen Autor nach bestandener Leidenschaft wieder zurück auf den Pfad der Tugend führt. So erweist sich Ludwigs Liebeslyrik als eine wortreiche Erotik der Phantasie - eine Erotik, die offenbar nicht bis zum Äußersten ging. „Nur gesündigt in Gedanken, / Nicht berührt mit Wirklichkeit, / Trat’ ich in der Tugend Schranken / Wieder, böser Lust befreyt.“ (Ludwig I. 1829b: 114) Ludwigs lässt damit die biedermeierlichidealistische Moral, die in der Tradition platonisch-christlicher Leibfeindlichkeit stand, in der letzten Strophe des Gedichtes „Erfolgloses“ vollends obsiegen, das damit seinen sprechenden Titel einlöst. „Wie der Phönix aus den Gluten / Herrlicher zum Himmel kreist, / Kehr’ ich besser zu dem Guten, / Ueber Körper sieget Geist.“ (Ebd.) Selbst der konservative Görres fand letztlich zu einer positiven Würdigung gerade der erotischen Gedichte des Königs, da diese allenthalben erkennen ließen, dass ihr Autor „die gröbern Leidenschaften“ in einer inneren moralischen Läuterung bezwungen hat, die „nicht auf dem ungewissen Grunde eines stets bewegten Herzens, sondern auf einem tiefern Fundamente, das der Wandel nicht berührt, gevestet ist.“ (Görres 1958: 152) Schließlich hatte sich Ludwig selbst bisweilen bemüßigt gefühlt, der Moral in Anmerkungen, die er manchen Gedichten jenseits des literarischen Textes hinzufügte, ausdrücklich das Wort zu reden. So empfiehlt Ludwig etwa, sich dem Genuss, den die Horen im flüchtigen Augenblick bescheren mögen, zu genießen - nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen: „Nur vom Erlaubten ist die Rede, sowohl in diesem als in den andern Gedichten.“ (Ludwig I. 1829a: 16) 14 Allerdings kritisierte Görres grundlegend die Strategie des Königs, mit seinen Gedichten überhaupt die Öffentlichkeit zu suchen. Was also Ludwig selbst und mit ihm viele Rezensenten der Gedichtbände von 1829 als die besondere Stärke eines dieserart unverstellten Umgangs mit der Öffentlichkeit anerkannten, erschien dem publizistisch erfahrenen Görres umgekehrt als ein hohes Risiko, das dazu angetan war, den Monarchen wie die Monarchie zu beschädigen. Er warf deshalb berechtigte Fragen auf: „wie mag doch in einer so absichtvollen, calculierenden Zeit ein König sein Inneres so unvorsichtig erschließen und Preiß geben; wie mag er umlauert von so vielen spähenden Augen, die ihm jede Schwäche abzugewinnen suchen, um sogleich gegen diese ihre bedeckten Schleichwegen hinzuführen; umgeben von so Manchen, die argen Willen im Herzen tragen, und jeden unbewachten Augenblick zu ihren Absichten zu benutzen wissen, wie mag er selbst den weiten Königsmantel auseinanderschlagen, sprechend: da habt ihr mich, wie ich leibe und lebe, honny soit qui mal y pense“! “ (Ebd.: 131f.) Görres unter- 14 Vgl. auch ebd.: 288 (Freudelied) mit folgender Anmerkung: „Nur von dem der Tugend nicht Zuwiderlaufenden darf die Rede seyn; dieses bemerke ich, um nicht mißverstanden zu werden.“. Karl Borromäus Murr (Augsburg) 202 stellte dem bayerischen König schlichtweg einen naiven Umgang mit der Öffentlichkeit, dessen Macht sich doch allzu leicht gegen den poetisch ambitionierten Monarchen wenden und diesen politisch unter Druck setzen konnte. „Die ich rief, die Geister …“ In den Jahren 1829/ 30 vermittelte die deutsche Publizistik - entgegen der Befürchtung von Görres - noch den Eindruck, als wäre Ludwigs I. Kalkül aufgegangen, mit der Publikation seiner Gedichte eine neuartige literarische Öffentlichkeit schaffen. Es schien, als könnte der bayerische König die Hoffnung auf ein poetisches Zeitalter, auf einen ästhetischen Staat tatsächlich einlösen, die sich mit der Erwartung von liberalen Reformen verband. Der dichtende Monarch hatte zunächst eine Reihe der bedeutendsten deutschen Literaturkritiker für sich eingenommen, darunter Karl August Varnhagen von Ense, Wilhelm Neumann, Wolfgang Menzel, Gustav Schwab und Ernst Ludwig Grosse. Zugleich hatte Ludwig zu einer kaum überschaubaren Vielzahl von poetischen Reverenzen Anlass geboten, die auf sein literarisches Gesprächsangebot antworteten, ohne eo ipso einer überkommenen Panegyrik oder anlassbezogenen Festtagslyrik verdächtig zu sein. Die namhaftesten Stimmen gehörten aus Bayern August von Platen (vgl. von Platen 1839: 106; 111), Friedrich Rückert (Rückert 2002: 123), Michael Beer (Beer 1835: 883; 887) 15 und selbstverständlich Schenk, dann aus Berlin Adelbert von Chamisso (Chamisso 1829) 16 , aus dem Habsburgerreich Joseph Christan von Zedtlitz (von Zedtlitz 1832: 157) und Friedrich Halm (Halm 1838) 17 und schließlich aus Dänemark Adam Oehlenschläger. (Oehlenschläger 1984: 15ff.) Doch bald sollte Deutschlands literarische Öffentlichkeit dem bayerischen König ihre Sympathie entziehen und sich vielstimmig gegen Ludwig I. wenden. Die poetischen Geister, die der Wittelsbacher - mit dem Liberalismus kokettierend - gerufen hatte, begannen sich seit dem Jahr 1830, in mehr oder weniger unerbittlicher Weise gegen ihn zu richten. Den Anlass für dieserart literarische Opposition bot Ludwig I. selbst. Die französische Julirevolution von 1830 hatte mit ihren Auswirkungen auf Deutschland bei dem wittelsbachischen Monarchen zu einer grundlegenden Neubewertung seines bisherigen Umgangs mit der Öffentlichkeit geführt und die - immer schon vorhandene - konservative Dimension seines politischen Wesens stark mobilisiert. (Vgl. Gollwitzer 1986: 443-458; Mayring 1990; Zumkeller 15 Siehe ebd. unpaginiert: Beers Widmung seines Schauspiels Streunsee an König Ludwig. 16 Chamisso sollte als Herausgeber des Deutschen Musenalmanachs mehrere Gedichte des bayerischen Königs abdrucken. 17 Siehe ebd., unpaginiert: die Zueignung an König Ludwig I. Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 203 1991) Die Verschärfung der Pressezensur am 28. Januar 1831, die Ludwig Ende des Jahres 1825 eigens gelockert hatte, machte die politische Kehrtwende des bayerischen Königs offenkundig. Das Gebäude der politischen Hoffnungen, das Ludwig I. in den Augen der Zeitgenossen bis dahin errichtet hatte - nämlich die Verbindung von liberalen Vorstellungen mit dem monarchischen Prinzip -, fiel mit der konservativen Kursänderung des bayerischen Königs in sich zusammen. Mehr noch: die Abkehr von einer freiheitlichen Politik diskreditierte in hohem Maße auch seine Poesie, die doch viele als liberales Signal einer praktizierten Pressefreiheit gelesen hatten. Die literarischen Schwächen von Ludwigs Lyrik, die man nun schonungslos der Kritik unterzog, dienten als willkommener Anlass, den bayerischen Monarchen politisch anzugreifen. Obgleich Spottgedichte auf den König den Straftatbestand von Majestätsbeleidigung oder sogar von Hochverrat erfüllten, (vgl. Droß 1994) gelang es in den Folgjahren einer Schar angriffslustiger Autoren, sich erfolgreich der Zensur und auch der Strafverfolgung zu entziehen. Zu den namhaftesten Kritikern Ludwigs I. zählten Ludwig Börne, Georg Büchner, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Heinrich Heine und Adolf Glassbrenner, die sich politisch allesamt einem mehr oder weniger radikalen Liberalismus, (vgl. Petzet 1903: 66, 104ff., 168, 228f., 349, 428f.) literaturgeschichtlich dem „Jungen Deutschland“ zuordnen lassen. (Koopmann 1993) Deren oftmals als Satire angelegte Kritikwandte sich gegen Ludwig I. als einen konservativen Monarchen, dessen Poesie sie als lächerlich-groteske Attitüde eines despotischen Tyrannen anprangerte. 18 Vor allem Heine sollte mit seinen berühmt gewordenen „Lobgesängen auf König Ludwig“ (Heine 1983: 142-146) von 1844 dessen Bild als Dichter nachhaltig beschädigen. Die Kritik aus literarisch berufenem Munde stellte indes nur die Spitze des Eisberges einer viel breiteren Front von Schmähschriften und Karikaturen auf den bayerischen König dar, der so viele Angriffe aus sich zog wie sonst kein bayerischer Monarch. (Ursel 1973: 64) Dieser provozierte speziell im Zusammenhang der Affäre mit Lola Montez, die im Oktober 1846 in München eingetroffen war, eine große Anzahl an neuen Spottversen. (Vgl. Otto 1982: 249-269; Pulz 1982: 303-330; Ursel 1973: 61ff.) Die Liaison mit der Montez führte schließlich zu einem gravierenden Legitimitäts- und damit Autoritätsverlust des Monarchen, der nun auch Schmähungen von konservativer Seite hervorrief. Der aufgrund der Affäre mit Lola Montez angeschlagene Monarch vermochte letzten Endes nicht mehr, der politischen Dynamik Einhalt zu gebieten, die in der Märzrevolution von 1848 auch München erfasste und den so autokratisch veranlagten König zur Abdankung zwang. 18 Um den vorliegenden Rahmen nicht zu sprengen, soll die Kritik des Jungen Deutschland an Ludwig I. an anderer Stelle vertieft werden. Karl Borromäus Murr (Augsburg) 204 Das Scheitern des königlichen Sängers Die Tatsache von Ludwigs I. Thronverzichts führt zu der ebenso lapidaren wie schwerwiegenden Erkenntnis, dass der bayerische König gescheitert ist. Im Ergebnis scheiterte er dreifach: erstens politisch, da er sich modernisierenden Staatsreformen versagt hatte, zweitens künstlerisch, da seine Lyrik einer höheren literarischen Qualität entbehrte, und drittens persönlich, weil er sich letztlich in Lola Montez getäuscht sah, auch wenn ihm dieses Eingeständnis ausgesprochen schwer fiel. Ursprünglich war Ludwig I. mit der Publikation seiner Lyrik 1829 angetreten, in Bayern eine neue Brücke zu schlagen von der Monarchie zum Volk. Dieser Schritt stellte eine Reaktion auf die Entwicklung einer in die Defensive geratene Monarchie dar, die im Gefolge der Aufklärung, der Französischen Revolution und des Napoleonischen Umbruchs erheblich an politischer Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte. Um die Herrschaftsform der Monarchie wieder zu stärken, galt es auch für das wittelsbachische Königshaus, bei dem politisch an Bedeutung gewinnende Volk um Legitimität zu werben - einem Volk, dessen gesellschaftliche Dynamik in jener Zeit vom Bürgertum bestimmt wurde. Eine Verbürgerlichung der Monarchie erschien deshalb auch für den wittelsbachischen König das politische Gebot der Stunde. Da es Bayern an machtpolitischen Mitteln gebrach, sich in Konkurrenz mit den deutschen Hegemonialmächten Österreich und Preußen zu behaupten, schlug Ludwig I. den Weg einer im Vormärz beispiellosen Kunstpolitik ein, die als eine an das Bürgertum adressierte Außendarstellung der Monarchie fungierte. Innerhalb dieser Kunstpolitik stellte des Königs eigene Lyrik das persönlichste Mittel dar, auf das Bürgertum zuzugehen. ‚Mittel’ ist hier durchaus auch als Medium zu verstehen, das dazu diente, die Autoritätsdifferenz zwischen Fürst und Volk symbolisch aufzuheben, um damit Volksbzw. Bürgernähe zu praktizieren. Es lag durchaus ein Paradoxon in der Strategie, das im Grunde dem privaten Raum Vorbehaltene öffentlich zu machen und dadurch zu politisieren. Ludwigs Poesie, die seiner fürstlichen Außendarstellung mithin eine privatisierte Dimension hinzufügte, demonstrierte dabei in mehrerlei Hinsicht Bürgernähe. Mit seiner Parteinahme für einen deutschen Nationalismus und das Selbstbestimmungsrecht der Völker bekundete er seine inhaltliche Sympathie für die politische Agenda des nationalliberalen Bürgertums. Aber allein schon in formaler Hinsicht war die königliche Lyrik, die in jener Zeit als eine vornehmlich bürgerliche Kunstform galt, dazu angetan, eine enge Verbundenheit mit der mittleren Gesellschaftsschicht zum Ausdruck zu bringen. Zudem verband sich mit der zeitgenössischen Literaturgattung der Poesie die Vorstellung einer im besonderen Maße emotionalisierten Kunstform - in einem Zeitalter, in dem Gefühlsäußerungen zuallererst als eine Domäne bürgerlichen Selbstverständnisses erachtet wurden. Ludwigs Verfahren, seine Poesie öffentlich zu machen, kann deshalb auch als eine auf Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 205 das Bürgertum zielende Gefühlspolitik gedeutet werden, innerhalb derer folglich dem Kalkül des Gefühls ein zentraler Stellenwert zukam. Kein anderer deutscher Monarch hatte es im Vormärz gewagt, sich als Gefühlswesen bzw. als Privatperson dergestalt prominent in die Öffentlichkeit hinein zu stellen wie Ludwig I. Die Publikation der emotionsgeladenen Gedichte suggerierte nicht zuletzt den Willen des Monarchen, an der bürgerlichegalitären Öffentlichkeit teilzuhaben, indem er sich ihren Spielregeln unterwarf. Der bayerische Monarch bot damit eine völlig neue Form herrscherlicher Selbstdarstellung an, welche die bürgerliche Öffentlichkeit zunächst gleichermaßen begeisterte wie verblüffte. Die literarische Kritik würdigte trotz ihres anfänglichen Enthusiasmus’ letztlich weit mehr den dezidierten Schritt des Königs in die Öffentlichkeit als die ästhetische Qualität seiner Gedichte. Selbst Ludwig I. war sich darüber im Klaren, dass sein königlicher Stand und nicht die künstlerische Güte die Rezeption seiner Lyrik bestimmte. Im dritten Band seiner Gedichte rief er sich deshalb zu einer bescheidenen Selbsteinschätzung auf, die allerdings durch ihre Veröffentlichung wiederum auf Außenwirkung zielte: „Daß dich nicht täusche das reichliche Lob, denn was du gedichtet, / Ungepriesen blieb’s, säßest du nicht auf dem Thron.“ (Ludwig I. 1839: 88) 19 Dass Ludwig I. mit seiner auf die eigene Lyrik setzenden Gefühlspolitik scheiterte, lag auch an seiner ursprünglichen Konzeption von Öffentlichkeit, die von einem romantischen Verständnis geprägt war. Der bayerische König hatte die Öffentlichkeit nämlich von der personalen Logik einer vertrauensvollen Freundschaft bestimmt gesehen, in der man rücksichtsvoll miteinander umging und in der sich zugleich eine allzu direkte Kritik - am Monarchen ohnehin - verbot. Die solchermaßen als personale Freundschaft konzipierte „imaginierte Gemeinschaft“ (Benedikt Anderson) von Fürst und Volk, die doch eine Komplexitätsreduktion tatsächlicher Staatsverhältnisse darstellte, konnte jedoch der zunehmend entfesselten Dynamik einer liberalen Öffentlichkeit nicht standhalten, in der literarische Kritik tendenziell keine Rücksicht (mehr) auf das Ansehen der ins Visier genommenen Persönlichkeit nahm. Mit seiner konservativen Rückbesinnung im Gefolge der Julirevolution von 1830 hatte der bayerische König selbst das Koordinatensystem für die Bewertung auch seiner Poesie verschoben. Nährte die Herrschaftsauffassung Ludwigs I. bis Ende der 1820er Jahre noch die liberalen Hoffnungen auf ein bayerisches Bürgerkönigtum, entzog der Monarch mit seiner politischen Kursänderung, die die zuvor in seiner Person integrierten Antinomien in reale Widersprüche auseinanderfallen ließ, (Murr 2012: 176-185) der freiheit- 19 Siehe ebd. ein zweites Distichon (Auf den nämlichen Gegenstand): „Finster bliebe der Mond, empfing er nicht Licht von der Sonne, / Was du gedichtet, es auch, glänzte die Krone nicht d’rauf.“ Karl Borromäus Murr (Augsburg) 206 lichen Perspektive auf seine Lyrik den Boden. Die lyrische Offenlegung von Ludwigs Innenleben, die sich anfangs noch als ein modernes Aktivum eines Bürgerkönigtums verstehen ließ, erwies sich - unter den gewandelten Vorzeichen - nun als politische Verletzlichkeit sondergleichen, da sie den wittelsbachischen Monarchen auf einzigartige Weise exponierte. Jetzt wurde offenkundig, wie prekär sich der „vertrauensselige“ Umgang Ludwigs mit der Öffentlichkeit ausnahm, den er selbst später nicht aufzugeben gewillt war, wie die Publikation der Gedichtbände 1839 und 1847 belegt. Auch wenn Ludwig selbst seine Lyrik, in der er bewusst private Person und öffentliches Amt verquickte, als einen unmittelbaren Ausdruck von höchster persönlicher Authentizität und Glaubwürdigkeit begriff - für eine oppositionell eingestellte Medienlandschaft im Vormärz bot sie einen willkommenen Anlass, den Hebel der Kritik gleichsam im Kern der königlichen Person anzusetzen und diesen dem Spott preiszugeben. Die ludovizianische Dichtung anzugreifen, wirkte sich letztlich weit schwerwiegender aus als eine rein literarische Kritik oder als ein bloßer Aufweis von individuellen Charakterschwächen. Denn dieserart Kritik diskreditierte den König nicht nur als Menschen, sondern auch, weil sich die Privatperson nicht von der Person des Monarchen trennen ließ, als politische Figur. So hatte die Dichtung Ludwigs I. die Angriffsfläche auf seine politische Person deutlich ausgedehnt, so dass die Fallhöhe bei einem Scheitern des Königs umso größer ausfallen musste. Ludwig I. selbst bot gerade in seiner Lola-Montez-Affäre einen neuen Grad der Vermischung von Privatem und Politischem dar, die umso deutlicher die Ambivalenzen einer öffentlich gemachten Gefühlskultur hervortreten ließ. Die königlichen Amouren hatten solange kein Problem dargestellt, als sie im Reich poetischer Phantasie verblieben. In seiner höchst riskanten Vermengung von Person und Amt, wie sie im Umgang mit Lola Montez aufschien, beschädigte Ludwig I. jedoch die Monarchie selbst. Damit scheiterte der König nicht zuletzt am eigenen Privatismus, mit dem doch seine Lyrik bewusst politisch experimentierte. Er selbst hatte 1847 im Sturm der öffentlichen Entrüstung, der wegen seiner Liaison mit der „spanischen“ Tänzerin über ihn hereinbrach, gestanden: „Ich besitze ein poetisches Gemüth, was nicht mit gewöhnlichem Maßstab gemessen werden darf.“ (zit. n. Gollwitzer 1986: 674) Dieser Satz offenbart die Abgründe einer Gefühlskultur, die die persönliche Erregung über jegliche Moral stellte, indem sie die lyrisch veredelte Emotion zur Sittlichkeit erhob. So äußerte sich in der königlichen Poesie ein ins Extreme getriebener Individualismus, der sich schlechterdings nicht mit dem egalitären Anspruch einer bürgerlichen Öffentlichkeit vertrug. Die romantische Gefühlskultur, die für Ludwig I. persönlich ein vitales Lebensmotiv darstellte, erscheint deshalb bisweilen wie eine Rechtfertigung neoabsolutistischer Allüren. Die dauernde emotionale Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 207 Erregbarkeit des bayerischen Königs geriet damit zum öffentlichen Problem, weil sie schließlich riskierte, die Politik selbst zu entwerten. Aber nicht nur von Seiten des ludovizianischen Privatismus drohte eine Entwertung der Politik, sondern auch von Seiten des königlichen Kunstverständnisses, das wie auch die Vorstellung von der ästhetischen Erziehung des Menschen in einem romantischen Idealismus wurzelte. Denn aus dieser Geisteshaltung schöpfte der bayerische König letztlich seine Tendenz, Politik zu ästhetisieren - in der festen Überzeugung, dass Politik vergänglich sei, Kunst allein hingegen überdauere. Diese von Ludwig I. häufig betonte Haltung setzte die Kunst, die einzig Nachruhm zu versprechen schien, kategorial über die Politik. (Vgl. Murr 2012: 178) Die von Görres infragegestellte Haltung des königlichen Dichters, dessen Poesie Gefahr laufe, lediglich zu bekennen, statt zu handeln, erhält vor dem Hintergrund des königlichen Kunstidealismus ihre tiefere Bedeutung. Die Kritik, Ludwigs Kunstpolitik im Allgemeinen und seine Poesie im Besondern lediglich als Ersatzhandlung zu begreifen, ist von daher nicht von der Hand zu weisen. Hoffmann von Fallersleben hatte mit einem 1842 anonym publizierten Gedicht das sich in Ludwigs I. Walhalla äußernde Kunstverständnis kritisiert, das den politischen Bedürfnissen der Gegenwart entfremdet, die deutschen Heroen unerreichbar entrückte. (Hoffmann von Fallersleben 1842: 81f.) Für ihn glich der bayerische Monarch deshalb einem „Geisterbanner“ (ebd.), der mit den Mitteln der Kunst Geschichte in seine idealistisch Weltanschauung zu zwingen versuchte. In diesem Sinne ließe sich auch Goethes Analyse von Ludwigs I. lyrischem „Nachruf auf Weimar“ verallgemeinern. Darin sah der Dichterfürst nämlich einen Autor am Werke, dem es darum ging, die Vergangenheit „erst todtzuschlagen, um sie besingen zu können“ (Burkhardt 1870: 121). Während Ludwig mithin Politik ästhetisierte, war dem Jungen Deutschland umgekehrt daran gelegen, Kunst zu politisieren. Die zeitgenössische Kritik eines Börne, Hoffmann von Fallersleben oder Heine stellte damit den bayerischen König ins Abseits der Literaturgeschichte, die das romantische Literaturverständnis eines Ludwig I. hinter sich ließ. Die Reflexion über das Scheitern der königlichen Poesie soll allerdings nicht die Einsicht trüben, dass es sich beim lyrischen Publikationsunternehmen Ludwigs I. um einen für seine Zeit höchst originellen Versuch einer Gefühlspolitik handelte, die große Hoffnungen auf ein Bürgerkönigtum geweckt hatte. 20 Selbst der so Ludwig-kritische Heine bekannte noch im Januar 1848 - ähnlich wie Goethe rund 20 Jahre zuvor - bezüglich des baye- 20 Deutlich später als der bayerische Monarch sollte etwa die britische Königin Viktoria mit der Publikation ihrer privaten Tagebücher eine gleichfalls privatistisch motivierte, wenngleich wesentlich kontrolliertere, Annäherung an das Bürgertum versuchen. Vgl. Dollinger 1985: 358f.; Barclay 1987: 2-21; Gollwitzer 1987: 723-736. Karl Borromäus Murr (Augsburg) 208 rischen Monarchen, dass dieser „ihm wegen seiner Originalität nicht unlieb sei, ja daß er selbst in seinen Dichtungen manches nicht so übel gefunden habe.“ (zit. n. Dirrigl 1980: 695) Die Feststellung der Originalität Ludwigs I. bleibt selbst dann noch bestehen, wenn man sein dichterisches Œuvre als dilettantisch, epigonal oder als historistisch im Sinne einer Literatur des weitgehenden Zitats begreift. Denn es ist das Œuvre eines bedeutenden vormärzlichen Fürsten, das über dessen (politische) Auffassungen und Strategien ungemein viel verrät - zumal für solche Bereiche, über die andere Quellen schweigen. So stellt Ludwigs Dichtung, auch wenn sie von der Literaturgeschichtsschreibung nicht in den Kanon der deutschen Lyrik aufgenommen worden ist, für die Profangeschichtsschreibung ein sehr instruktives Zeugnis der monarchisch-politischen Kultur der Jahrzehnte vor der deutschen Revolution dar, das noch weiterer Erforschung harrt. Die Dichtung Ludwigs I. von Bayern: 209 Literaturverzeichnis Barclay, David E.: König, Königtum, Hof und preußische Gesellschaft in der Zeit Friedrich Wilhelms IV. (1840-1861). 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Elisabeth von Österreichs lyrisches Geschick als epigonale Meisterinszenierung und Beitrag zu einem habsburgischen Mythos Die Monarchin als Mythos und Dichterin Was wir heute über die Persönlichkeit Kaiserin Elisabeths von Österreich wissen, entblößt den Mythos einer Monarchin, die keineswegs die allseits geliebte und verehrte Landesmutter war, sondern vielmehr eine höchst ambivalente Persönlichkeit (vgl. Hamann 1984: 10). Ihre lange Zeit besonders märchenhaft verklärte Biographie, die gewiss nicht erst seit den Filmen des deutsch-österreichischen Nachkriegskinos Eingang in das kulturhistorische Gedenken gefunden hat 1 sowie ihr tragischer Tod überlagern ihr weitgehend unbekannt gebliebenes literarisches Vermächtnis, das sich neben wenigen Briefen vornehmlich in einer epigonalen 2 Lyrik ausdrückt. Tatsächlich ist es jedoch das rastlose Leben dieser Monarchin, das bis heute den Elisabeth-Kult stetig am Laufen hält. 3 Wen mag da erstaunen, welche Vielzahl an Neupublikationen zum Leben der Kaiserin immer wieder den Buchmarkt überschwemmt, wobei Autoren und Herausgeber stets noch einen besonderen Aspekt im Wesen der exzentrischen Monarchin zu finden glauben, um uns diese Frauengestalt in scheint es immer neuem Blickwinkel erzählen zu können. 4 Vielfach handelt es sich bei den angepriesenen Entdeckungen jedoch schlichtweg um Wiederaufbereitungen von bereits Bekanntem. Die 1 Vgl. hierzu die Ausführungen von Ursula Storch, die ausführlich die Elisabeth- Verklärung in Dramentexten der 1920er und 1930er Jahre thematisiert (Storch 1986: 111-116). 2 Matthias Kamann definiert den Begriff des Epigonalen keineswegs negativ, sondern erkennt darin ein produktives, ästhetisches Verfahren der Dichtung (vgl. Kamann 1993: 9ff.). 3 Bis heute lebt die Bundeshauptstadt Wien dank eines geschickten Tourismusmarketings vom Erbe der Donaumonarchie, die Galionsfiguren Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph I. sind allgegenwärtig und zieren selbst als Konterfei die Papiersackerl der Museumsshops. 4 Es sind hierbei vor allem die Publikationen, die zu jedem nur denkbaren Jubiläum erscheinen und sich vorwiegend an eine populärwissenschaftlich interessierte Leserschaft richten (Unterreiner 2010 und 2012, Thiele 2011, Reiser 2009 sowie Sternthal 2011). Clemens Götze (Potsdam) 214 historische Person Kaiserin Elisabeth ist mittlerweile hinlänglich biographisiert und jedermann leicht zugänglich. 5 Seit Kurzem liegt überdies eine umfassende Studie zur Entstehung des Elisabeth-Mythos’ in der Literatur von 1854-1918 vor (vgl. Maikler 2011), der zweifellos Grundlage war für die zahlreichen filmischen Bearbeitungen dieses Stoffes. 6 Lange Zeit hingegen unbekannt waren die literarischen Werke der Monarchin, die in reifem Lebensalter die Dichtkunst als Ausdrucksmittel entdeckte. Es ist das Verdienst von Elisabeths Biographin Brigitte Hamann, dass jenes Poetische Tagebuch in einer kommentierten Ausgabe vorliegt 7 , deren interpretatorisches Hauptaugenmerk auf den Quellenwert dieser Texte verweist und den literarischen Wert als „Kuriosität des Wiener Fin de siècle“ tituliert (Hamann 1984: 9). Gleichwohl blieb das literaturwissenschaftliche Interesse an diesen Dichtungen bis heute marginal; es existieren kaum Studien, die das lyrische Werk der Kaiserin unter literaturwissenschaftlichen Fragestellungen untersuchen (Mészöly 1998, Kill 1995), und jene, die existieren, sind nicht selten „nachlässig erstellt[] [...] und bleiben im Ganzen unergiebig“ (Maikler 2011: 36). Dies mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die Edition verspätet und im Kontext ihrer Auseinandersetzung als historische Quelle ausschließlich als „Selbstportrait der etwa fünfzigjährigen Elisabeth“ gewertet wurde (Hamann 1984: 10). Diesen Umstand bemängelt Josef Hermann Stiegler in seinen knappen Ausführungen zum lyrischen Werk der Kaiserin Elisabeth und betont, dass dieses Werk trotz „viel Mittelmäßige[m] und manch Missglückte[m] [...] dennoch genügend auch vom dichterischen Gesichtspunkt aus Bemerkens- und Schätzenswertes enthält, das eine Betrachtung in literarischer Hinsicht rechtfertigt, ja empfiehlt“ (Stiegler 1987: 170). Inwiefern, so stellt sich die Frage, sind diese Verse dann doch mehr als bloße Spielereien einer gelangweilten Fürstin? So ist der symbolische Wert 5 Neben der zum Standardwerk avancierten Biographie von Brigitte Hamann, die seit 1982 in etlichen Neuauflagen und Übersetzungen Verbreitung gefunden hat (Hamann 1997), finden sich auch deutlich komprimiertere Monographien wie Exner 2004 oder Schad 2004. 6 Als Thema und Filmstoff war die Figur der schwermütigen Kaiserin schon seit Beginn des filmischen Zeitalters präsent. Die Filmindustrie der 1950er Jahre formte schließlich das zuckersüße Image einer zum Kitsch verkommenen Monarchin, die mit der Realität nur wenig zu tun hatte. Gewiss lag der immense Erfolg der Sissi-Trilogie von Ernst Marischka auch an seiner Entstehungszeit, die einerseits mit dem Genre des Heimatfilmes das Leben im Nachkriegsdeutschland (sowie dem Österreich der Zweiten Republik) erträglicher machen wollte, zum anderen auch genau einhundert Jahre nach den historischen Geschehnissen das moderne Märchen vom Mädchen, das zur Prinzessin der Herzen wird am Beispiel der jungen Romy Schneider durchexerzieren konnte. 7 Nach dieser Ausgabe werden die Primärtexte Elisabeths vorwiegend zitiert. Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 215 des Künstlerhabitus auch beim Adel nicht zu unterschätzen. 8 In jedem Falle fungieren Elisabeths Dichtungen als Ausdruck eines Paradoxons, will man sie als Herrschaftsausdruck 9 fassen, denn im Sinne einer tradierten Dilettantismusdefinition 10 erscheinen Elisabeths Gedichte durchaus problematisch, wenn man bedenkt, „daß sich dilettierende Kunstausübung stets in Abgrenzung zu professionellem ‚banausischem‘ Künstlertum gleichsam als Privileg versteht“ (Rosenbaum 2007: 236). Anders gesagt: „Die Kunst des Dilettanten besteht darin, diese nachlässig zu verbergen und das eigene Tun stets als Gegenstand eines unangestrengten Zeitvertreibs kenntlich zu machen“ (Rosenbaum 2007: 236). Eben dies tut die Kaiserin jedoch nicht, denn ihre Verse bleiben lange Zeit geheim, obschon ihre Vertrauten von ihrem Dichten Kenntnis haben. Man stößt ferner auf ein Problem, das rezeptionsästhetisch zu verorten ist und im Augenschein der Publikationsgeschichte von Elisabeths Dichtungen weit ins 20. Jahrhundert hinein reicht. Wie Albrecht Koschorke und Konstantin Kaminskij in ihrer Studie über Sprachkunst und Gewalt konstatieren, gilt „die Sprachgewalt des Führers als wesentliches Bindeglied zwischen ihm und dem Volk“, ihm kommt eine Einheit stiftende Funktion zu (Koschorke/ Kaminskij 2011: 14). Wo Monarchien über Jahrhunderte hinweg teils abstruse Genealogien schaffen konnten, müssen moderne Despoten mit schöpferisch-fiktionaler Kreativität „eine Vergangenheit [...] erfinden, als deren Erbe sie sich ausgeben“ können (Koschorke/ Kaminskij 2011: 14). Da Kaiserin Elisabeth gerade dies nicht unternimmt, kehrt sie mit ihren Bestrebungen einerseits ihren politisch-gesellschaftlichen Status ins Gegenteil, indem sie sich dem in Wien als subversiv diskreditierten Heinrich Heine verpflichtet fühlt; und andererseits durch das exzessive Ausleben eines luxuriösen Lebenswandels infolge von Egozentrik und royalem Selbstbewusstsein plakativ zur Schau stellt. Eine Funktionalisierung in Form der Visualisierung literarischen Geschmacks und Kunstverstandes wie es Herrscher und Fürstinnen im 18. Jahrhundert im Spiegel ihrer selbstaufgebauten Kunstsammlungen vornahmen, findet bei Elisabeth dergestalt nicht mehr statt. Durch ihr literarisches Vermächtnis an die Nachwelt wird vielmehr ein nachträglicher Mythos konstruiert, der eine dauerhafte Anerkennung als Persönlichkeit und Dichterin begünstigen soll. 11 So trägt das 8 „Der Anteil der Künste an der sichtbaren Erscheinung fürstlicher Aura, die privilegierte Nähe des Künstlers zum Herrscher hat den Eindruck von einer ‚höheren‘, aus besonderen Gnaden genährten, mit universaler Kompetenz begabten, außergewöhnlichen Tätigkeitsform hervorgerufen und festgelegt“ (Warnke 1985: 11). Eine Potenzierung dieses Sachverhaltes ergibt sich folglich durch die Personalunion von Monarchin und Dichterin wie im Falle Elisabeths. 9 Zum Verhältnis von Herrschaft, Macht und Literatur vgl. Kleber 2005. 10 Zum Begriff des Dilettantismus’ und dessen Wandel vgl. Leistner 2001: 63-87. 11 „Sicherlich spielte auch Elisabeths Ehrgeiz eine Rolle, sich als Person - und eben nicht als monarchische Würdenträgerin - zu profilieren und einmal in den Kreis der fürstli- Clemens Götze (Potsdam) 216 Poetische Tagebuch nicht nur dazu bei, die Befindlichkeiten zu artikulieren, sondern, ähnlich wie das körperliche Reglement der Schönheitspflege, einen Mythos abzubilden und zu festigen. Allen Krisen der Monarchie des 19. Jahrhunderts trotzte das Selbstverständnis Elisabeths, sie „setzte ihren eigenen Körper als ein unkorrumpierbares, unverderbliches Zeichen ein“ (Vogel 2002: 233). Kaum eine öffentliche Frau ihrer Zeit war so extrem auf ihr Äußeres bedacht wie Elisabeth, was ein höchst interessanter Aspekt bezüglich ihrer Stellung ist: „Haut, Haar und Figur der Kaiserin bildeten eine imperiale Ikone der Habsburger Monarchie, die durch die Transfiguration des natürlichen Körpers das Ansehen zurückeroberte, das durch das Aussehen ihrer königlichen Zeitgenossen eingebüßt worden war“ (Vogel 2002: 235). Ähnlich wie die Kaiserin an ihrem äußerlichen Mythos laborierte, kann auch ihre Dichtung nur der Selbstverherrlichung huldigen. Die Konservierung der Schönheit erfolgte auf der Ebene des literarischen Vermächtnisses infolge seiner Geheimhaltung als Spiegelbild. 12 Inhaltlich korrespondieren sie dagegen wenig mit der Realität Elisabeths, denn während die Autorin in ihren Texten das zwischenmenschliche Miteinander durch Karikatur implizit einforderte, trug sie in ihrer eigenen Biographie selbst nicht viel zur innerfamiliären Stärkung bei; ihre Dichtungen „erwiesen sich bei genauerer Betrachtung als oberflächliche, nur der Wortwahl nach wohlklingende Zeilen, jedoch ohne wirkliche Tiefe“ (Schilke 1993: 140). Oberfläche und dahinter Verborgenes sind kaum in Einklang zu bringen, Scheinbares wird zum Realitätspartikel instrumentalisiert. 13 Ziel dieses Beitrages soll es daher sein, (I) die Lyrik der Kaiserin in eine knappe literaturhistorische Verortung einzubetten, kurz deren charakteristische Merkmale herauszuarbeiten, um zu klären, inwieweit diese Gedichte höfisch-repräsentativen oder rein dilettantischen Charakter haben und (II) die Beleuchtung des Inszenierungsaspektes als Rollenspiel und die Verbindung zum Habsburgischen Mythos. chen Schriftsteller aufgenommen zu werden, der 1883 in einem Buch von Franz Xaver Seidl mit dem Titel Deutsche Fürsten als Dichter und Schriftsteller vorgestellt wurde“ (Hamann 1984: 14). 12 Stiegler sieht in der Notwendigkeit der Geheimhaltung dieser Verse einen nicht unbedeutenden Grund für deren teilweise eher geringe Qualität, da die Urheberin sich eben nicht einer kritischen, öffentlichen Meinung habe unterziehen können (vgl. Stiegler 1987: 171). 13 „Die Werkpolitik des 19. Jahrhunderts steuert auf eine selektionslose Aufmerksamkeit zu, die auch das Mangelhafte interessant finden kann, weil es historisch ‚bedeutsam‘ ist“ (Martus 2005: 68). Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 217 Literaturhistorische Einordnung der Dichtungen Kaiserin Elisabeths Das lyrische Werk der Kaiserin ist literaturhistorisch schwer einzuordnen, da es sich an der Grenze zwischen epigonaler Gelegenheitsdichtung 14 und chiffriertem Gesellschaftskommentar bewegt. Nun ist das Merkmal künstlerischer Epigonalität für die deutsche Kultur des 19. Jahrhunderts durchaus charakteristisch (vgl. Sorg 2004: 375), weswegen kaum verwundern kann, dass Elisabeths lyrisches Werk zumeist vor dem Hintergrund einer Epigonendichtung 15 abgewertet wurde. 16 Stiegler bemängelt diese Gefahr der Rezeption und zählt gerade jene „Gedichte im Stil politischer Kabarett-Texte [...] zu den besten der Sammlung“ (Stiegler 1987: 173). Einer literarischen Bewertung unerachtet steht die Kaiserin mit ihren lyrischen Versuchen durchaus in einer höfischen Tradition, nicht zuletzt im eigenen Hause Wittelsbach. 17 Brigitte Hamann schließt eine genauere Betrachtung hinsichtlich literaturwissenschaftlicher Gesichtspunkte wie der Heine-Epigonalität aus, weil dies „wohl die künstlerische Bedeutung der Elisabeth-Gedichte zu hoch veranschlagen [würde]“ (Hamann 1984: 13). Da es sich aber nicht um historische Quellen etwa in Briefform oder offizielle Schriften handelt, sondern um eine Literarizität anstrebende Ausdrucksform erscheint es durchaus legitim, Elisabeths Verse als Dichtung zu betrachten. Im Folgenden soll indes weniger die Bewertung nach literaturwissenschaftlichen Maßstäben im Vordergrund stehen, sondern die Relevanz der Inhalte zur Diskussion gestellt werden. 14 Elisabeths Dichtungen fallen in die von Meyer-Sickendiek beschriebene Kategorie der Legitimation von Epigonalitätswerken, „wenn der Künstler sein wiederholendes Schreiben als Gattungstreue begreift, die dabei auftretenden Wertungsfragen - mangelnde Originalität bzw. Experimentierfreude, allzu starke Orientierung an literarischen Vorlagen - also kaum mehr berücksichtigt“ (Meyer-Sickendiek 2001: 28). 15 Epigonalität „ist eine von Verlauf und Vollzug des einzelnen Werks nicht ablösbare Formungsweise, die inhaltlich wie formal eine nur textuell fassbare individuelle Disposition thematisiert, welche vergangene Literatur nicht einfach als Objekt des Gebrauchs benutzt, sondern sich wiederholend in dieser konstituiert bzw. sich in solchen Formen des Umgangs mit dieser konturiert, die keinen Hinweis darauf geben, daß sich das Individuum der vergangenen Literatur in irgendeiner Weise überlegen oder von ihr unabhängig fühlt“ (Kamann 1994: 11). 16 Schilke konstatiert Selbstüberschätzung hinsichtlich der lyrischen Qualität, hält die Bildung der Kaiserin für wesentlich bedeutender als ihr lyrisches Geschick und bezeichnet die Gedichte Elisabeths als Lyrik, die „durchaus dilettantische Züge in sich birgt - mit teilweise infantilen Sequenzen, überspannt und von Selbstmitleid durchzogen“ (Schilke 1993, 68ff.). 17 Man denke an die Dichtungen König Ludwigs I., auch Elisabeths Vater Herzog Max in Bayern konnte es sich aufgrund seiner dynastischen Stellung als Oberhaupt einer unbedeutenden Nebenlinie der Wittelsbacher leisten, sich in Kunst und Poesie zu ergehen. Unter dem Pseudonym „Phantasus“ betätigte sich der Herzog sowohl als Dramatiker, Lyriker und Essayist (vgl. Albrecht-Weinberger 1986: 254). Clemens Götze (Potsdam) 218 Der Überraschungen gibt es in diesen gedichteten Selbstbekenntnissen viele: war die Monarchin doch eine glühende Verfechterin der republikanischen Staatsform, war sie als Kaiserin eines derart mit der Kirche verbundenen Reiches wie Österreich-Ungarn antiklerikal, war sie als erste Repräsentantin auch des österreichisch-ungarischen Adels eine Feindin der Aristokratie und schließlich - als Gattin eines stark von militärischem Denken bestimmten Kaisers - ausgerechnet Pazifistin und scharfe Kritikerin des Militärs. (Hamann 1984: 10) Elisabeths dichterische Existenz muss schließlich als Ergebnis ihrer gesellschaftlichen Stellung 18 und ihres Lebenswandels 19 verstanden werden: So nutzte die Kaiserin die Zeit während ihrer täglich mehrstündigen Haarpflege zur geistigen Arbeit, indem sie las, übersetzte und dichtete; dies jedoch erst mit fast fünfzig Jahren, als ihre gerühmte Schönheit merklich schwindet. Ihre Lyrik liest sich als Kontrastprogramm zur panegyrischen Kasualdichtung 20 und steht dennoch hinsichtlich ihrer Produktionsbedingungen erstaunlich in der Tradition des Musenhof-Typus, mit dem das fürstliche Selbstverständnis mangelnden politischen Einfluss auf europäischem Parkett auszugleichen suchte. 21 Natürlich verbietet es die politische Bedeutung Wiens in über sechshundertjähriger Habsburgerherrschaft von einem klassischen Musenhof zu sprechen. 22 Trotzdem lässt sich Elisabeths Selbstverständnis eher mit dem einer Fürstin im 18. Jahrhundert vergleichen, da sie ihre repräsentativen Aufgaben wie etwa karitatives Engagement weitgehend ablehnte und sich zu allererst als Privatperson verstand. Die adeligen Damen, gebildet genug, um schreiben zu können, und unbegabt genug, um das weite Feld der Mittelmäßigkeit nicht zu verlassen [...], diese 18 Zur Herkunft und sozialem Status schreibender Frauen im 19. Jahrhundert vgl. Hacker 2007: 45ff. 19 Dieser besteht seit den 1860er Jahren zunehmend aus einer aktiven Reisetätigkeit der Kaiserin. Da insbesondere Fernreisen, wie Elisabeth sie unternahm, kostspielig waren, gehörte dieses Vergnügen zu denjenigen Hobbys, die sich nur wenige Frauen dieser Zeit leisten konnten. Einige prominente Beispiele dafür sind die Österreicherinnen Ida Pfeiffer (1797-1858), Maria Schuber (1799-1881) oder Gräfin Pauline Nostitz (1801- 1881), die auch entsprechende Reiseberichte verfassten. Gräfin Paula Kollonitz (1830- 1890) reiste im Gefolge des Hofstaates von Erzherzog Ferdinand Maximilian, dem Schwager Kaiserin Elisabeths, nach Mexiko und publizierte 1867 den Bericht dieser Reise (vgl. Habinger 2006: 42ff.) 20 Zur Kasualdichtung im 19. Jahrhundert vgl. Andres 2005. 21 Zur Typologie des Fürstenhofes im 18. Jahrhundert vgl. Bauer 1993. 22 Dies muss auch hinsichtlich der Definition des Musenhofes gelten, der sich ja in hohem Maße als Förderinstanz einer kulturellen Elite verstand. Dem stand Elisabeths Einstellung zum Geistesleben der Donaumonarchie entgegen, da sie „weder zur geistigen Elite des Reiches Verbindungen knüpfte noch an den neuen Entwicklungen in Kunst und Kultur teilnahm, sie demzufolge auch nicht förderte“ (Schilke 1993: 68). Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 219 Damen vertrieben sich mit der modischen Schreiberei die Zeit, da ihnen gesellschaftliche Normen untersagten, einen bürgerlichen Beruf auszuüben; sie kompensierten ihre soziale Restriktion durch literarische Ausflüge in niederes Milieu oder fernere Gestade, sublimierten mit ihren „Dichtungen“ die erotischen Gefühle, die ihnen eine strenge Gesellschaftsmoral verbot oder verdrängte. (Schenda 1988: 153) Kaum eine amtierende Monarchin zu Elisabeths Zeit war so ernsthaft mit Dichten beschäftigt: weder die deutsche Kaiserin und Königin von Preußen, Auguste Victoria, noch Königin Victoria von England oder die französische Kaiserin Eugénie. Die große Ausnahme war Rumäniens Königin Elisabeth, die unter dem Pseudonym Carmen Sylva 23 ein sowohl gattungsspezifisch wie quantitativ ausgesprochen umfassendes Werk publizierte und die Initiatorin für Elisabeths lyrisches Geschick war. 24 Im Gegensatz zum Werk Sylvas sind die Ausprägungen von Elisabeths Lyrik eher homogen zu nennen, das Interesse an einer breiten, gattungsübergreifenden literarischen Tätigkeit lässt sich bei ihr nicht erkennen. 25 „Elisabeth war nicht an poetologischen Fragestellungen interessiert, sie reflektierte auch nicht das problematische Verhältnis von Dichtung und Erfahrungswelt“ (Exner 2004: 100). 26 Dies passt freilich in das Außenseiterbild dieser Dichtungen, die sich zu ihrer Entstehungszeit keineswegs einer breiten Zustimmung erfreuten, kritisierten sie doch nicht zuletzt jene eigenen Kreise am Wiener Hof und wurden daher geheim gehalten. Kaiserin Elisabeths Gedichte demontieren die Repräsentationspraxis des Wiener Hofes und stellen damit ein Gegenprogramm zur tradierten Huldigungslyrik dar. Dort wo ihre Gedichte vom bissigen Gesellschaftskommentar abweichen, sind sie Ausdruck einer privat-romantischen Weltflucht in Naturbeschreibungen und Nachahmungsdichtung 27 , sie entsprechen damit 23 Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die zeitgenössische Kritik sich zu Lebzeiten der Königin keine Bewertung ihrer Dichtungen vornahm, auch nach ihrem Tode war dies lange Zeit nicht der Fall (vgl. Badea-Păun 2011: 130). 24 Eine umfassende Studie zum Werk der rumänischen Königin bietet Zimmermann 2010, die das Schreiben Carmen Sylvas als Selbstmythisierung und prodynastische Öffentlichkeitsarbeit durch Literatur charakterisiert. 25 Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Sylva den Imageverlust aufgrund ihrer Kinderlosigkeit mittels literarischer Produktion und ihrer vorbildhaften Funktion als Landesmutter zu kompensieren suchte, ein Umstand, der auf Kaiserin Elisabeth keinesfalls zutreffend war, da diese zum Zeitpunkt des Beginns ihrer Dichterinnenlaufbahn bereits fast fünfzig Jahre alt ist und vier Kinder geboren hat, darunter 1858 den für die Monarchie und das Ansehen Elisabeths in ihrer Funktion als Kaiserin bedeutenden Thronfolger Rudolf. 26 Damit entspricht die Dichtung Elisabeths auch nicht der Tendenz poetologischer Reflexion im 19. Jahrhundert, wie Sandra Pott sie herausgestellt hat (vgl. Pott 2005: 50f.). 27 Die „langen Schilderungen von Meer, Sternen, Bergen [...] sind auch Ausdruck der Opposition, Ausdruck des Rückzuges in die Größe der Natur vor den Kleinheiten des Clemens Götze (Potsdam) 220 einem Dilettantismus, der im späten 19. Jahrhundert das bürgerliche Milieu eroberte. 28 Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - lässt sich das Werk der Monarchin keineswegs in eine spezifisch weibliche, literarische Tradition einreihen, denn ihr Dichterinnenhabitus zeigt keinerlei Bezugnahme auf zeitgenössisches weibliches Schreiben 29 (wie bei Annette von Droste- Hülshoff, Bettina von Arnim, Ada Christen 30 , Marie von Ebner- Eschenbach 31 , Franziska zu Reventlow oder Nataly von Eschstruth 32 ), obschon doch gerade eine geistige Verbindung mit der durch die zeitgenössische Literaturszene so verkannte und nicht minder tragisch endende Karoline von Günderrode sinnfällig erscheint. Da die Gedichte zu Lebzeiten der Kaiserin jedoch nicht veröffentlicht wurden, stellte sich ein wesentliches Problem der weiblichen Autorschaft für die Autorin nicht: das der Positionierung als Dichterin. 33 Die Tradition weiblicher Autorschaft negierend richtet sich Elisabeths Interesse auf den am Wiener Hof verpönten Dichter Heinrich Heine und ist geprägt durch intertextuelle Referenzen und epigonale Bezüge zu dessen Werk und zu Figuren aus Shakespeares Ein Sommer- politischen Lebens“ (Hamann 1984: 11). Dem gegenüber steht die Betrachtung Stieglers, der in Elisabeths Texten einen „geradezu filmische[n] Bilderreigen von Pracht und hohem epischen Reichtum“ erkennt (Stiegler 1987: 173). 28 „Dichten war wie Musizieren, Komponieren oder Malen Ende des 19. Jahrhunderts noch Teil standesgemäßer adeliger wie bourgeoiser Lebensführung“ (Exner 2004: 100). Ein besonders anschauliches Beispiel bietet für die bürgerliche Perspektive die Erzählung Der Bajazzo von Thomas Mann. 29 Zu österreichischen Dichterinnen seit 1800 vgl. Schmid-Borstenschlager 2009, spezifischer zu Autorinnen der Donaumonarchie vgl. Gürtler/ Schmid-Bortenschlager 1998. 30 Ada Christen (1839-1901) erregte 1868 mit ihrem Lyrikband Lieder einer Verlorenen Aufsehen, in dem sie das weibliche Bedürfnis nach einer erfüllten Sexualität artikulierte. 31 Die bereits früh als Ausnahmeerscheinung im zeitgenössischen Literaturbetrieb anerkannte Ebner-Eschenbach lässt sich hinsichtlich ihres Autorinnenselbstverständnis am ehesten mit Elisabeth kontrastieren, war es doch bei ihr „das Bewusstsein von der eigenen, kreativ schaffenden Persönlichkeit, die das Gefühl der Befriedigung hervorbrachte“ (Tebben 1998: 35), während die Kaiserin dieses zu deutlichen Teilen aus ihrer Epigonalität der Dichtung bezog. 32 Trotz einiger Parallelen dieser zwei Autorinnen, hat beider Werk eine sehr unterschiedliche Wirkung entfaltet. Obschon ungleich produktiver als Reventlow, ist Eschstruth heute fast völlig vergessen. Ihr Werk fand über die wilhelminische Epoche hinaus, für die es eindrucksvolles Zeugnis einer adeligen Gesellschaft ist, kaum Verbreitung und hat sicher auch deswegen bisher keine nennenswerte Diskussion von Seiten der Forschung erfahren. 33 Jenes Dilemma umreißt Karin Tebben in ihrer Bestandsaufnahme zu soziokulturellen Bedingungen weiblicher Autorschaft treffend: „Freiwillige oder unfreiwillige Akzeptanz des kulturellen Primats männlicher Autorschaft führten unweigerlich zu Identitätskonflikten: Veröffentlichte die Autorin nicht anonym, riskierte sie eine Attacke auf ihre Geschlechtsidentität, veröffentlichte sie anonym, leugnete sie wesentliche Bereiche ihres Selbstverständnisses“ (Tebben 1998: 27). Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 221 nachtstraum sowie der griechischen Antike. Damit demonstrierte die Kaiserin ihre selbstbewusste Emanzipation gegenüber einer höfischen Gesellschaft, der sie sich nur nach ihren eigenen Regeln zugehörig fühlte. 34 Ihre zwischen 1885 und 1889 entstandenen Gedichte zeigen eine prozentual interessante Unterteilung der thematischen Gesichtspunkte, wie Heike-Susanne Kill herausgearbeitet hat, wonach sich die Texte in 45% Natur- und Reisegedichte 35 , 24% Gedichte über sich selbst und ihre Familie, gut 3% Gedichte über Heinrich Heine, 1% Gedichte über Politik aufgliedern; fast 8% der Gedichte werden von einem ironischen Ton getragen, der in Richtung Zynismus tendiert (Kill 1995: 19f.). Bezüglich der Liebesgedichte lässt sich indes unschwer ein verbitterter, ja depressiver Grundton ausmachen (Stiegler 1987: 172). Konstituenten der Gedichte Mészöly betont wiederholt, dass Elisabeth eigene Erlebnisse verarbeitet habe 36 , was sicherlich der Fall ist. Dies führt er jedoch als Argument für den Wert der Werke an, die seiner Ansicht nach deswegen eben gerade nicht als epigonal zu bezeichnen seien (Mészöly 1998: 18 u. 24). Gerade dieser Aspekt der stilistischen Nachahmung ist es jedoch, der Elisabeths Lyrik zu einer epigonalen Dichtung werden lässt (vgl. Meyer-Sickendiek 2001: 24), die von einem ausgesprochen persönlichen Ton getragen wird und ein deutlich autobiographisch fundiertes lyrisches Ich erkennen lässt. Der Selbstpositionierung als nicht involvierte Beobachterin des Hofes entspricht schließlich der volksliedhafte Duktus vieler Gedichte und die zum Teil starke Anlehnung an das Vorbild Heine bis hin zu ganzen kopierten Verszeilen (Kill 1995: 108f.), was bewusst eine deutlich epigonale Inspiration offenbart 37 , und das Werk in den Kontext einer verspielten Gelegenheitsdichtung rückt. Elisabeths Hinwendung zum mythologischen Diskurs und das Interesse für Griechenland entspricht dabei durchaus nicht nur dem aktuellen Zeitgeschmack, sondern fungiert darüber hinaus als dynastischer Legitimations- 34 Ironischerweise stellen ihre Verse jedoch oftmals die einzigen Quellen für Hofbeschreibungen über manche Eskapaden der Habsburger dar, weil die Pressezensur ein skandalöses Habsburgerimage vehinderte (vgl. Hamann 1984: 11). 35 Damit entspricht Elisabeth durchaus einem zeittypischen Frauenbild, wie Tamara Felden in Bezug auf die zeitgenössische Reiseliteratur von Frauen ausgemacht hat. Reisen als Form des Überlebens (vgl. Felden 1993: 28) spielt bei Elisabeth von Österreich eine bedeutende Rolle, die fast schon als Lebensgrundlage, ähnlich wie das Schreiben in jenen Jahren bezeichnet werden kann. 36 Zum therapeutischen Moment in Elisabeths Lyrik vgl. Hamann 1984: 13f. Die Überwindung von Leid und Trauerarbeit waren auch bei Carmen Sylva wichtige Motoren ihres Schreibens (vgl. Zimmermann 2010: 24ff.). 37 Zum Verhältnis Epigonalität und Gattung vgl. Zymner 2010: 63. Clemens Götze (Potsdam) 222 mechanismus 38 : „Mythos und Poesie, der Mythos in der Poesie werden als Möglichkeit sinnlicher Erkenntnis verstanden“ (Andres 2005: 93). Stilistisch betrachtet sind Elisabeths Gedichte einem bewusst immer wiederkehrenden Konstruktionsschema des Volksliedes zuzuordnen, das sie kaum variiert (Kill 1995: 128). Jamben bestimmen die Metrik, seltener Trochäen oder Anapäste. Enjambements brechen vereinzelt den Rhythmus; nicht selten wirkt das Versmaß wie erzwungen, was sicherlich auch in Elisabeths Perfektionsstreben begründet liegt (vgl. Kill 1995: 127). Ähnliches gilt für die Verwendung von Bild- und Namenschiffren, die Elisabeth bei Heine ‚entlehnt‘. Stets bemüht die Kaiserin dieselben Bilder („Möwe“ für Freiheit, „Esel“ für Dummheit usw.) und kreiert keine besonders originellen Neuschöpfungen. Ihre eigenen Bilder (wie „dicke, gelbe Kröte“ oder „Trampeltier“ für ihre Schwiegertochter Stephanie von Belgien) sind nicht annähernd so poetisch wie die dem klassischen Lyrikrepertoire entnommenen Bilder. Per Definitionem daher von Oden, Hymnen oder panegyrischen Werken zu sprechen, die dem Habsburgerreich huldigen, wäre zu weit gegriffen. Es lässt sich allenfalls in Bezug auf deren Karikatur von einer ironischen Umdeutung sprechen. 39 Ein Beispiel anlässlich der Geburt einer Erzherzogstochter 40 : Heil! Zur sechsten Tochter, Heil! / Heil dem Hause Habsburg! Weil / Seine Sprossen ungezählt, / Sternengleich am Himmelszelt; / Täglich mehrt sich ihre Zahl, / Die bereits schon unnormal. / Ängstlich nach dem Herrscherhaus / Blickt das Volk: „Was wird wohl draus? / Himmelssterne glänzen mehr, Doch das kommt von oben her; / Aber unsrer Sterne Schein, / Muss durch uns geliefert sein. (Hamann 1984: 293) Elisabeths intensive Rezeption Heines, dessen Werk sie für die Auseinandersetzung mit ihren Versen als grundlegende Kenntnis voraussetzte, 41 stell- 38 Nicht nur dynastisch, auch literarisch wird mit dieser von Elisabeth praktizierten Epigonalität legitimiert, was auf die von Meyer-Sickendiek vorgenommene Typologisierung der epigonalen Disposition Anwendung finden kann (vgl. Meyer-Sickendiek 2001: 28). 39 Inhaltlich-thematisch ist diese Form der Lobpreisung positiver Eigenschaften und Taten des Regenten ins genaue Gegenteil verkehrt. Weiters fehlt im Falle Elisabeths die direkte Wendung an eine Öffentlichkeit: „Durch die Verpflichtung der Panegyrik auf Außendarstellung, auf Publikumsbezug, ist sie oft zeremoniell eingebunden und weist in den Aspekten von Anlass, Repräsentation und Funktionalität große Nähe zur Gelegenheitsdichtung im engeren Sinn auf“ (Andres 2005: 188). 40 Erzherzog Friedrich von Österreich-Teschen (1856-1936) hatte mit seiner Gemahlin Isabella neun Kinder, von denen fast alle in den 1880er Jahren zur Welt kamen. 41 Zwischen 1886 und 1888 arbeitete die Kaiserin die 22-bändige Heine-Gesamtausgabe aus ihrem Privatbesitz durch; die einzelnen Bände wurden mit Anmerkungen und Angaben zu Ort und Datum der Lektüre versehen und waren für das Reisegepäck unentbehrlich (vgl. Hamann 1984: 13 sowie Albrecht-Weinberger 1986: 262). Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 223 te nicht nur eine bewusste Provokation des Wiener Hofes dar, sondern ist Ausdruck einer metaphysisch verbrämten Weltflucht, behauptete die Kaiserin doch spiritistischen Umgang mit Heine zu haben (vgl. Hamann 1998: 438). 42 Dies kennzeichnet sowohl Epigonalität, Phantastik als auch Inszenierung ihrer Lyrik, die Elisabeths Gemahl Kaiser Franz Joseph ohne genaue Kenntnis über Inhalte zu haben dennoch trefflich „Wolkenkraxeleien“ nannte (Unterreiner 2005: 91f.). 43 Dem als Meister verehrten Heine zugeeignete Gedichte 44 verdeutlichen vor allem Eines: unsäglicher, romantischschwülstiger Pathos auf der einen, realistische Selbsteinschätzung des dichterischen Könnens auf der anderen Seite. Diese Ambivalenz kennzeichnet vielfach die Verse der Kaiserin Elisabeth, wie diese beiden Beispiele illustrieren: An meinen Meister Ich eil ins Reich der Träume Mein Meister, da bist Du Es jubelt meine Seele Begeistert schon Dir zu. Dein Geist hat mich geleitet Beherrscht den ganzen Tag Ich fühlt wie er gebreitet Auf meiner Seele lag. […] (Hamann 1984: 152) An den Meister Nur einmal, einmal komme wieder, Dass ich Dich schau von Angesicht, O, schwebe einmal noch hernieder, Du meiner Seele Trost und Licht. Führ’ sie zurück in Deine Bahnen, Eh’ ihr die Welt ein Böses tut. Mein Herz durchzieht ein schlimmes Ahnen Mir fällend fast den stolzen Mut. (Hamann 1984: 359) Schwärmend und schwermütig zugleich bekennt sich Elisabeth zu Heines Vorbildfunktion, der politische Anspruch seiner Werke erwächst aus ihrem eigenen literarischen Nachlass keineswegs. Vielmehr lässt sich in diesen hier exemplarisch angeführten Gedichten eine religiöse Dimension erkennen. Einem säkularisierten Gebet ähnlich, richtet sich die Monarchin an ihren als Heiligenfigur verehrten Dichter Heine. Dessen Geist, der sich wie heilender 42 Gerade in diesem Umstand erkennt Stiegler einen wesentlichen Grund dafür, dass gerade die Liebeslyrik am wenigsten als geglückt zu bezeichnen sei (vgl. Stiegler 1987: 172). 43 Elisabeth verfasst ein Gedicht mit dem Titel Mein Traum und karikiert das Modell des kaiserlichen Gottesgnadentums und damit den Gemahl in einem Rollenspiel ihres lyrischen Ichs mit den volksliedhaften Worten: „Nach langem Überlegen / Komm ich jetzt zum Entschluß / daß hier mit Gottes Segen / etwas geschehen muß“ (Hamann 1984: 144). 44 Gerade diese Dichtungen fallen in die Kategorie der Elevation, wie sie Nikolas Immer in seiner Untersuchung zum Dilettanten als Nachahmer diskutiert (vgl. Immer 2007: 63). Clemens Götze (Potsdam) 224 Balsam über die Seele des lyrischen Ichs legt, wirkt identitätsstiftend für den gesellschaftlichen Gegenentwurf einer leidenden Kaiserin. Indem sich Elisabeth gewissermaßen ihren eigenen Glauben konstruiert, grenzt sie sich bewusst und unmissverständlich vom katholischen Kaiserhof als auch von ihren wittelsbachischen Wurzeln ab. Sie inszeniert sich als die Einzige am Hof, die Zugang zum vergötterten Heine findet, dessen bloßes Angesicht ihr, ganz der religiösen Bildsprache verpflichtet, Trost und Licht spenden könne. Auch hier lassen sich inhaltlich wie formal deutliche Bezüge zum leidenden Heine herstellen, was gewiss eine deutliche Bezugnahme Elisabeths auf dessen Klagelieder darstellt. Heines eigenes Leid als Schöpfungsproblem ist die Abarbeitung an Gott (vgl. Kuschel 2009: 73); Elisabeth vollzieht dieselbe an ihrem Idol Heine, indem sie aber nicht wie er die biblische Tradition zitiert, sondern Heines Leidensgeschichte als Spiegelbild ihrer empfindsamen Seele intendiert. Aus dem Kampf mit Gott wird ein Kampf mit sich selbst, oder um sich selbst, um die eigene Identität. Weitere thematische Aspekte von Elisabeths Dichtung sind: Bitterkeit, Einsamkeitsbeschreibung, Todessehnsucht, Flucht in Traumwelten und unberührte Landschaften, abwertende Kommentare der Hofgesellschaft, chiffrierte Darstellung etwa von Eheproblemen und persönliche Abneigungen, kurz eine durchweg negative Bilanz des eigenen Lebens wie in dem 1886 verfassten Gedicht Verlassen: „In meiner großen Einsamkeit / mach’ ich die kleinen Lieder; / Das Herz voll Gram und Traurigkeit / drückt mir den Geist darnieder“ (Hamann 1984: 137). Hier spiegelt das Gegensatzpaar „große Einsamkeit / kleine Lieder“ Elisabeths Gefühl des Unverstandenseins wider. Durch diese Ambivalenzkonstruktion wird auf die ungleich geringere Bedeutung der verfertigten Texte angespielt, die in keinem, dem Leid entsprechenden Verhältnis zu stehen scheinen und ebenso wenig an die Größe des Vorbildes Heine heranreichen; und es bliebe zu fragen, inwieweit es sich dabei um Koketterie der Monarchin handelt. Das Gedicht An die Gaffer illustriert die in späteren Jahren zur Manie werdende Menschenscheu der Kaiserin, die im krassen Widerspruch zu ihren repräsentativen Pflichten steht. Mészöly konstatiert eine gezwungene Erhabenheit bei Elisabeths zeitgenössischen Dichterkolleginnen, die allerdings bei der Kaiserin gänzlich fehle (vgl. Mészöly 1998: 96). Doch genau dies trifft nicht zu. Zwar mag die oberflächliche Betrachtung des Textes zu diesem Schluss verleiten, doch bringt die Kaiserin jenen majestätischerhabenen Impetus schon per se mit, muss ihn jedoch nicht zwingend in ihrem Text dichterisch umsetzen, indem sie einen entsprechend getragenen Duktus zur Anwendung bringt; dieser ist hingegen immer schon da und erfährt eher gegenteilig durch inhaltliche Aspekte der Lyrik eine ironische Brechung, die von Elisabeths ambivalentem Charakter Zeugnis ablegt: Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 225 Ich wollt’, die Leute liessen mich / In Ruh’ und ungeschoren, Ich bin ja doch nur sicherlich / Ein Mensch, wie sie geboren. Es tritt die Galle mir fast aus, / Wenn sie mich so fixieren; Ich kröch’ gern in ein Schneckenhaus / Und könnt’ vor Wut krepieren. Gewahr ich gar ein Opernglas / Tückisch auf mich gerichtet, Am liebsten säh’ ich gleich das, / Sammt der Person vernichtet. Zu toll wird endlich mir der Spass; / Und nichts mehr soll mich hindern; Ich dreh’ eine lange Nas’ / Und zeig ihnen den H……n. (Mészöly 1998: 157f.) Hier entblößt Elisabeth den ihr so verhassten höfischen Voyeurismus 45 , indem ihr lyrisches Ich einen weit größeren Skandal provoziert, als sich seine Verfasserin im realen Leben zu erlauben getraute und offenbart damit das subversive Potenzial ihrer dichterischen Aktivität. Kaiserin Elisabeth benutzte folglich die Lyrik zur deutlichen Meinungsäußerung, die einer Konversation nicht zuträglich war. Ihre Texte offenbaren eine psychologische Komponente, sind sie doch verschlüsselte Stellungnahmen zu persönlichen Begebenheiten und Lebensumständen, wie etwa der Beziehung der Schauspielerin Katharina Schratts zu Kaiser Franz Joseph durch die Bezugnahme auf Heines König Wiswamitra, der eine Kuh liebte. Elisabeths Kunst ist thematisch dennoch zumeist strikt apolitisch, was dem persönlichen Lebensstil der Monarchin entspricht. Zwar lassen ihre Texte eine pazifistische Haltung und sogar republikanische Tendenzen erkennen 46 , doch das stark Resignative ihres Tones, in Verbindung mit mangelndem Tatendrang und der konsequenten Geheimhaltung gerade dieser brisanten Dichtungen hebt die potenzielle Sprengkraft ihrer Texte auf. Politisch ist ihr Werk da, wo die elitäre Weltflucht der Monarchin durch die literarische Inszenierung gefeiert wird. Selbst in der Karikatur des Panegyrik-Topos durch spöttische Beschreibungen von Hoffestivitäten 47 wird das Politische im Rollenspiel überdeckt, indem die Rollen des Oberon und der Titania vergeben und gegeneinander ausgespielt werden: „Was Ob’ron treibt, das kümmert nicht Titanien, / Ihr 45 Wie Kill anmerkt, zeigen manche ihrer Werke auch einen journalistischen Stil, da sie Begebenheiten mitteilt, die aus Gründen der Zensur nicht in die Öffentlichkeit gelangten (vgl. Kill 1995: 137). 46 Zur Abneigung Elisabeths gegenüber dem Militär und die republikanischen Neigungen vgl. Amtmann 1998: 60 und 71f. Auch Mészöly, der unter den Interpreten die Texte der Kaiserin literarisch am ehesten als hochwertig verstanden wissen will, sieht in der Sehnsucht nach Flucht Elisabeths bedeutendstes Merkmal für die dichterische Inspiration (vgl. Mészöly 1998: 97). 47 Das Gedicht Klingel-Lied offenbart besonders Elisabeths Abneigung gegen die banale Vergnügungssucht des Wiener Hofes. Clemens Götze (Potsdam) 226 Grundsatz ist: Einander nicht genieren. / Frisst Einer Disteln 48 gerne und Kastanien, / Sie selber will sie ihm sogar off’rieren“ (Hamann 1984: 360). Sehr deutlich wird hier das Verhältnis des Kaiserpaares charakterisiert, die Anspielung auf die Vorlieben bezieht sich auf des Kaisers Beziehung zur Burgschauspielerin Schratt, die durch Kaiserin Elisabeth selbst ihren Anfang genommen hatte (Hamann 1998: 500). Die Figur der Titania wird zum Sprachrohr der Kaiserin 49 wie etwa in dem sehr ausführlich beschriebenen Bild des Hauses Habsburg im Gedicht Familienmahl aus dem Jahr 1887, in dem es beispielsweise heißt: Auf Titania, schmücke Dich Heut’ mit Diamanten! Sonntag ist’s, es nahen sich Wieder die Verwandten. (Hamann 1984: 147) Erster zu erscheinen pflegt Ob’rons jüngster Bruder 50 ; (Und der große Erdball trägt Kein solch zweites Luder). (Hamann 1984: 148) Elisabeths im Privatleben zelebrierte Außenseiterrolle findet in den Gedichten ihre Entsprechung. Solche zum Teil sehr verletzenden Verse sind indes dem von ihr so verabscheuten Hofklatsch in Form und Funktion sehr ähnlich. Elisabeth inszeniert sich als sensible und unverstandene, aber gebildete Dichterin und weise Feenkönigin, ihre Mitmenschen und Umgebung hingegen als verständnislose Kretins; ihre Kritik am Hofklatsch verblasst jedoch in dem Moment, da sie sich selbst in ihrer Dichtung dieser sprachlich wie inhaltlichen Form der Stellungnahme bedient. Man kann eine derartige Diagnose gewiss mit der Feststellung Schilkes psychologisch deuten und untermauern, wenn dieser konstatiert: Die Kaiserin hing zeit ihres Lebens gedanklich dem Trauma nach, durch zu frühe Heirat Mitglied einer höfischen Gesellschaft geworden zu sein, die ihr regelrecht zuwider war. Diese permanente Selbstbemitleidung, die verkannte Person am falschen Ort zu sein, führte dazu, dass sie sich ihren eigentlichen Aufgaben als Kaiserin mehr und mehr verweigerte. [...] Allein für die Durchsetzung eigener Vorteile trat sie vehement ein, sah in einer Verbesserung des 48 Anspielung auf Heines Gedicht Pferd und Esel. 49 Zur offenkundigsten Durchbringung von Realität und Fiktion als Abbildung eines figuralen Rollenspiels kommt es in Elisabeths Text Titanias Besuch bei Carmen Sylva und Rückkehr in ihr Feenschloß, genannt Villa Hermes (vgl. Hamann 1984: 196-207). Hier offenbart schon der Titel, dass es keine Unterscheidung mehr gibt zwischen Wirklichem und Fiktionalem. 50 Gemeint ist Erzherzog Ludwig Viktor (1842-1919), dessen homosexuelle Neigungen und ausschweifender Lebensstil für jede Menge Hofklatsch sorgten. Zu Oberons Wiegenfeste charakterisiert sie ihn ebenfalls als geschwätzig und böse: „Ekelhaft ist mir der Affe / Boshaft, wie kein andres Vieh / Solcher Tag scheint wahre Strafe / Seh’ ich ihn, den ich sonst flieh’“ (Hamann 1984: 263). Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 227 damals unterprivilegierten Status ihrer niedriger gestellten Geschlechtsgenossinnen keine lohnende sozial-politische Aufgabe. (Schilke 1993: 114) Es erscheint in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen, weshalb die von Elisabeth gewählte Form der plakativen Bildungsbeflissenheit so bedeutend war für ihre Zeit, war sie doch das probate Mittel, um sich von einer ungebildeten wie bildungsfeindlichen (nicht nur höfischen) Wiener Gesellschaft abzusetzen (vgl. Hamann 1998: 448). Der Mythos dieser Frau ist Bestandteil eines Inszenierungskultes, der dem höfischen Zeremoniell diametral entgegensteht: „Elisabeths Abwesenheit destabilisiert jenes machtvolle Zeugnis monarchischer Kontinuität und Potenz, das der Öffentlichkeit geboten werden soll. Nur das Phantasieren überläßt die Kaiserin der Mitwelt und Nachwelt“ (Vogel 1998: 162). Ihre Lyrik ist Ausdruck einer schwermütigen Seele und Abbild eines hohen, literarischen Geschmacks gleichermaßen. In ihrer künstlerisch-ästhetischen Zelebration verweist Elisabeth auf die eigene Mystifikation und vereint die denkbar massivsten Gegensätze in ihrer Figur der dichtenden Kaiserin. Inszenierung und Mythos in Kaiserin Elisabeths Lyrik Die in jungen Jahren über das Motiv der gerühmten Schönheit vorgenommene Inszenierung Elisabeths wird im Alter durch ihre lyrische Produktivität abgelöst. Dass Elisabeths Epigonendichtung vor allem Inszenierungscharakter und Mythenbildungsfunktion hat, zeigt ihr Verständnis des Auserwähltseins, fühlte sie sich doch als Medium Heinrich Heines, der ihr die Verse in die Hand diktiere. Dies entsprach ihrem hohen Status als Kaiserin, was sich auch in der angenommenen Rolle der Titania widerspiegelt. 51 Eine derartige Machtdemonstration ist für die politische Herrschaft natürlich unerlässlich, denn sie konstituiert die herrschende Persönlichkeit mittels Zuschreibungen von außen. 52 Im Falle der Kaiserin Elisabeth aber funktionierte diese Art öffentlicher Wahrnehmung durch das Trugbild eines sorgfältig komponierten Images der unnahbaren Schönheit, das aufgrund ihres exzentrischen Lebenswandels, geprägt durch permanente Abwesenheit der Residenz Wien 53 , keineswegs positiv besetzt sein konnte - ganz im Gegen- 51 Zum von Elisabeth zelebrierten Rollenbild der kaiserlichen Schönheit vgl. Christen 1998: 182. 52 „Als derjenige, der den sozialen Körper personifiziert, ist der Herrscher den Untertanen nicht einfach gegenübergestellt, sondern Inbegriff dessen, was sie sind; er ist als Einzelner, gewissermaßen in der Gestalt eines Kollektivsingulars, was sie in der Menge umfassen“ (Koschorke 2002: 79f.). 53 Einen Überblick über die umfassende Reisefreude der Kaiserin in einer anschaulichen Zeitstrahlauflistung bietet Hamann/ Hassmann 2000. Clemens Götze (Potsdam) 228 satz zu jenem ihres Gemahls Kaiser Franz Joseph. 54 Privatheit und Herrscherideal finden vereint in der Figur der Kaiserin ihre deutlichste Ausprägung. In dem Gedicht Titanias Klage wird offenkundig, was die Monarchin Elisabeth nicht offen aussprechen kann. In der verzweifelten Suche nach Liebe und Anerkennung wird ihr deutlich, dass auch der schönste und mächtigste Thron nichts wert ist, wenn man persönlich unglücklich ist (vgl. Mészöly 1998: 153f.). Die stets von Neuem anhebende Klage wird zum Artikulationsmodus einer weiblichen Persönlichkeit, die gegen den heroischen Kaiser und seinen Hof nicht nur emotional, sondern auch körperlich anschreibt. Als Selbstschutz einerseits und Beleg einer an die Nachwelt gerichteten, empfindsamen Seele andererseits lassen sich Elisabeths Gedichte schließlich im Hinblick auf die eigene Körperwahrnehmung lesen. Dort, wo das militärisch-patriarchalische Herrschaftsideal des Hauses Habsburg zur inkorporierten Majestätsdarstellung unbezwingbar tradiert schien 55 , schuf sich die Kaiserin, deren Machtmittel stets ihr Körper und ihre außergewöhnliche Attraktivität gewesen war 56 , im Alter ein Mittel der Manifestation eines weiblich-herrschaftlichen und dabei authentisch fühlenden Ichs, welches sinnbildlich für die Integrität ihrer Person wie auch ihrer Persönlichkeit steht. Elisabeths Perfektionsdrang stand dem oberflächlichen Hofleben diametral entgegen, da zum Einen die Konversation vom Klatsch geprägt war und zum Anderen der Kaiser jede geistige Beanspruchung von seiner Gemahlin fern hielt und ihr Dasein auf Repräsentationspflichten reduzierte. Die daraus resultierende Diskrepanz zwischen äußeren Umständen und inneren Bedürfnissen der Kaiserin musste zwangsläufig zu einem enormen Konfliktpotenzial führen, welches in der Provokation Elisabeths sein Ventil fand. 57 Dass die Kaiserin ihre Gedichtsammlungen erst 60 Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht sehen wollte und sich außerdem mit zunehmendem Alter durch eine fast schon manische Reisetätigkeit immer stärker der Öffentlichkeit entzog, führt unweigerlich zu der Erkenntnis, in ihrer Verweigerungs- 54 Zur zeitgenössischen Rezeption und Interpretation des Elisabeth-Bildes in der Presse der Donaumonarchie vgl. Knappitsch 2012: 37ff. 55 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die starken Frauen am Wiener Hof, die in Gestalt Maria Theresias und Elisabeths Schwiegermutter Erzherzogin Sophie omnipräsent waren und durch ihr Wirken aktive Politik betrieben. 56 Dieses Machtmittel war nicht bloß ein persönliches Instrument der Kaiserin, sondern gesetzter Konsens einer Gesellschaft, „die ‚schön sein‘ als erste Pflicht der Frau definierte“ und entsprechend in der öffentlichen Wahrnehmung präsent war (Knappitsch 2012: 42). 57 Hier seien stellvertretend zwei Situationen genannt, mit denen die Kaiserin die Wiener brüskierte: die Einweihung der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn fand 1860 ohne die Namenspatronin Elisabeth statt und auch bei der feierlichen Eröffnung der Wiener Hofoper an der Ringstraße 1869 blieb sie fern, obschon man den Termin ihretwegen extra verschoben hatte. Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 229 haltung eine Strategie zur eigenen Mystifizierung zu erblicken. Insbesondere Elisabeths implizite Bezugnahmen auf Heine und Shakespeare tragen zur Überhöhung ihrer Person bei; solch elitäre Rollenspiele (wie das Beispiel Titania zeigt) belegen statt eines durch volksliedhafte Dichtung evozierten bürgerlichen Bewusstseins eher ihren eigenen Standesdünkel, denn selbst in ihrer Traumwelt ist ihr Alter Ego von Adel und damit eine Standesperson. Auf die Ambivalenz von Elisabeths Persönlichkeit verweist Brigitte Hamann, wenn sie unterstreicht: „Trotz dieses Auserwähltseins und ihrer kaiserlichen Stellung verlor Elisabeth zeitlebens nicht ihre Sehnsucht, das Leben ‚gewöhnlicher‘ Menschen kennenzulernen“ (Hamann 1998: 372). Vermutlich begründet diese Sehnsucht neben der allgemeinen Abneigung des Wiener Hofes auch die aktive Reiselust der Monarchin, die sie ähnlich wie die Dichtung in fremde Welten entführte. Nach dem tragischen Suizid ihres Sohnes Rudolf 1889 gibt die Kaiserin das Dichten schließlich sehr abrupt auf und versteckt ihre Gedichte. 58 Zwar hat dies sicherlich mit der öffentlichen Wahrnehmung Rudolfs und seiner politischen Schriften nach dessen Ableben und dem gebrochenen Herzen einer sonst erstaunlich unbekümmerten Mutter zu tun. 59 So radikal wie Elisabeth ihre Dichtung aufgibt, stellt sich aber durchaus die Frage, welchen Stellenwert diese für Elisabeth gehabt haben mag. Die unverkennbar therapeutische Wirkung ihres Schreibens hat die Kaiserin nach 1889 jedenfalls nicht mehr in Erwägung gezogen; stattdessen zeugt die Rettung ihres dichterischen Nachlasses von einer bedachten Handlungsweise, die sehr wohl das Urteil der Nachwelt im Blick gehabt haben dürfte. 60 Dennoch hat die Dichtung ihr auch nach ihrem Tod keinen nennenswerten Ruhm eingebracht. Dies mag auch an Elisabeths mangelndem Wagnis liegen, denn an- 58 Ein solches Schockerlebnis hatte die Kaiserin bereits 1884 getroffen, als man den bayerischen König Ludwig II. tot im Starnberger See fand. Elisabeths Seelenleben war schwer erschüttert, sie durchlebte eine längere Krise, die auch in ihrer Dichtung Ausdruck fand. Zu dieser Zeit funktionierte die therapeutische Wirkung ihres Tagebuches noch. Der Tod ihres Sohnes schließlich war nicht nur ausschlaggebend für das Einstellen jeglicher Versproduktion, sondern führte auch dazu, dass das von ihr initiierte Heine-Denkmal nicht wie geplant ausgeführt wurde, stattdessen - und ganz Abbild ihres Rückzugs - ließ die Kaiserin ein privates Huldigungsmonument vor ihrem Besitz auf Korfu errichten. 59 Dieses Ereignis musste die Kaiserin so tief getroffen haben, dass ihr die Dichtung keinen Halt mehr geben konnte und auch die Initiatorin von ehedem, Carmen Sylva, nichts dagegen auszurichten vermochte (vgl. Schad 2004: 91f.). 60 Es ist bezeichnend, dass schon kurz nach Elisabeths Ableben der Rezeptionsfokus auf der Eingliederung der flüchtenden Monarchin gelegen hat: „Mehr als auf alle anderen Facetten ihrer Persönlichkeit konzentrierten sich pressemediale Reminiszenzen auf Elisabeths tragisches Schicksal der leidenden Mutter, einem Bild, dem die Monarchin, die im letzten Jahrzehnt ihres Lebens Schleier und Trauerkostüm nicht mehr ablegte, auch nach außen hin entsprach. Erst in der Verkörperung der ‚Mater Dolorosa‘ wurde die flüchtige Kaiserin verspätet in der Gesellschaft assimiliert“ (Knappitsch 2012: 47). Clemens Götze (Potsdam) 230 statt selbst eine unverwechselbare Formensprache zu entwickeln, kettet sie ihre Werke bewusst an literarische Gewährsmänner. Damit avanciert ihr Schreiben zur Fortführung alter Meister und trägt so auf den ersten Blick wesentlich mehr zu deren Mythenbildung bei als zu ihrer eigenen. Dennoch muss man in dieser Strategie einer starken Autorenbindung das wohl markanteste Merkmal von Elisabeths Dichtkunst erblicken, indem sie durch eine Überhöhung fremder Dichter die eigene Glorie gleich mit konstituiert. Es gehört indes zum habsburgischen Mythos, dass das Kaiserhaus die offiziöse Huldigung besonders gern hatte, denn das Gegenteil ist der Fall: „Die Habsburger waren besonders gerne unter sich, alleine in den eigenen vier Wänden, und haben den Zustand des Privatseins in vollsten Zügen ausgelebt“ (Praschl-Bichler 2007: 220). Zeremoniell und Etikette waren besonders für das Reglement des höfischen Lebens prägend und dienten schließlich zur Erhöhung des Monarchen und seiner Familie: „Wer - räumlich und ideell - schwer zu erreichen ist, ist schwer anzugreifen, ist geschützt. Hauptsächlich aus diesem Grund haben sich Fürsten dem Prinzip des Zeremoniells unterworfen. Wer das nicht tat, bezahlte es häufig mit dem Leben - Kaiserin Elisabeth ist ein gutes Beispiel dafür“ (Praschl-Bichler 2007: 220). So ist Kaiserin Elisabeths Lyrik ein prägnantes Exempel für die bewusst vorgenommene, literarische Demontage höfischer Huldigungspraxis, da ihr lyrisches Ich von einer außen stehenden Position die Hofgesellschaft und eigene Familie dem Spott des Betrachters preisgibt. De toute façon, Elisabeth déteste sa caste, lui reproche sa vie oisive de luxe auf frais du peuple. Dans le poème étonnant, „Un rêve“, son attitude républicaine se manifeste sans equivoque. Si elle était l’Empereur, elle renoncerait à exploiter le peuple pour produire des canons, et si le peuple décidait de se gouverner seul, elle l’en féliciterait. (Philippoff 2003: 416) Gleichzeitig gelingt es der Autorin durch das Zelebrieren ihrer Rollenspiele mit literarischen Figuren ironischerweise dieselbe Überhöhung und Unantastbarkeit zu erlangen, die das von ihr kritisierte Spanische Hofzeremoniell am Wiener Kaiserhof bewirkte. Was die Zeitgenossen Elisabeths am Verhalten der Monarchin ablesen konnten, nämlich ihre Kritik an den Verhältnissen durch Rückzug ins Private, offenbart sich der Nachwelt - jenen so hoffnungsvollen Zukunftsseelen - in ihren Dichtungen als bedeutende historische Quelle. Sie zeigen eine Kaiserin, die zwar die Vorzüge ihrer hohen Stellung im vollen Ausmaß in Anspruch nahm, jedoch ohne die Bereitschaft, ihre Persönlichkeit zugunsten ihrer kaiserlichen Stellung hintanzustellen, wie es Kaiser Franz Joseph so selbstverständlich bis zur Selbstentäußerung tat (vgl. Hamann 1984: 10). 61 61 Zum Lebensstil Kaiser Franz Josephs vgl. Winkelhofer 2010. Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 231 Ohne es freilich zu wollen, stiften Elisabeths lyrische Ambitionen ein durchaus kritisches, wenn auch ambivalent-ausschnitthaftes Abbild jenes Habsburgerreiches, auf das wenig später in der österreichischen Literatur die Verklärung eines mythologischen Konstruktes folgen sollte. Hierbei von einem Mythos zu sprechen, erscheint durchaus legitim: [I]n ihm vermengen sich ja fortwährend die echte Verherrlichung realer Werte mit einer Entstellung und märchenartigen Idealisierung der Welt, so dass die Dichter des „habsburgischen Mythos“ zugleich Zerrspiegel und Mikroskop der Prägung des alten Reiches sind. (Magris 1988: 9) Claudio Magris hat in seiner wegweisenden Studie über den Topos des habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur jene Feststellung getroffen, die von Kaiserin Elisabeth freilich konterkariert wird: gemeint sind „die Atmosphäre und Kennzeichen des kulturellen Lebensstils der Donaumonarchie“ (Magris ²1988: 8). In ihrer kontra-verherrlichenden Ausprägung wird der Ruhm Habsburgs durch Elisabeths Lyrik freilich demontiert, die Wiener Gesellschaft demaskiert. Dennoch ist Kaiserin Elisabeth sicher eine der ersten, die den k.-u.-k.-Topos literarisch aufgreifen; ihre verspätete, spärliche und teilweise einseitige Rezeption hat diese Wahrnehmung indes verhindert. Da dieser habsburgische Mythos nicht erst nach dem Ende der Monarchie entstand, sondern schon zu deren Existenz erlebbar war, „knüpft [er] vielmehr unmittelbar an eine säkulare habsburgische Tradition der Wirklichkeitsverwandlung an“ (Magris 1988: 21). Als Ironie der Geschichte muss man es wohl bezeichnen, dass die Wittelsbacherin Elisabeth mit ihrer epigonalen Meisterinszenierung ausgerechnet jenem Mythos des ihr so ungeliebten Hauses Habsburg Vorschub geleistet und damit nicht nur sich, sondern einer ganzen Epoche ein Denkmal gesetzt hat, an dessen literarischer Verarbeitung noch die österreichischen Autoren des 20. Jahrhunderts sich vortrefflich abarbeiten konnten. 62 Allerdings reguliert das Moment des Außenstehens Elisabeths Betrachtungsweise, die binäre Konstellation aus Involviertheit und Abneigung trägt zu einer Spannung innerhalb der lyrischen Texte bei, die in der Selbstmythisierung der Kaiserin mündet. 63 62 Ähnliches konstatiert auch Maikler: „Nach Untergang des Habsburgerreiches wird der Elisabeth-Stoff in der Literatur wie ein antiker Mythos rezipiert […]. Diese Texte fungieren nicht mehr als Herrscherlob, sondern widmen sich ausschließlich der Person Elisabeth, deren widersprüchlicher Charakter jetzt problematisiert wird“ (Maikler 2011: 458). 63 Dieses Moment sei mit Maikler folgendermaßen verstanden: „Bei einer Mythisierung wird nicht eine mythische Gottheit auf eine berühmte Geschichtsperson reduziert, sondern umgekehrt eine historische Gestalt zur mythischen Gottheit auratisiert“ (Maikler 2011: 19). Clemens Götze (Potsdam) 232 En ce sens, Elisabeth peut nous apparaître comme une femme très moderne, révoltée, qui, tout en n’étant pas à sa place dans la fonction qu’elle exerçait, était la personne qu’il fallait pour nous en livrer les secrets. (Philippoff 2003: 419) Zwischen Mythos und Konstrukt eines Hauses Habsburg, das noch heute so glanzvoll zum Zwecke touristischen Umsatzertrages zelebriert wird, bewegen sich die Dichtungen jener Monarchin, die mit ihren literarischen Äußerungen Kritik an ihrer eigenen Lebenswirklichkeit üben wollte. Ob sich ihre Lyrik zukünftig als Stoff der literaturwissenschaftlichen Forschung etablieren wird, bleibt abzuwarten. Für die Etablierung ihres Mythos’ und selbst die Diskussion um den Komplex des habsburgischen Symbolerbes waren und sind die Dichtungen hingegen stets präsent und produktiv gewesen. Was als Lebenskommentar gedacht war, zeigt bis heute eine Faszination für das Wesen einer ungewöhnlichen Frau, die ihrer Zeit in mancher Hinsicht voraus war. Dass die Literatur hierbei eine wesentliche Rolle spielt, kann trotzdem nicht darüber hinwegtäuschen, woran das lyrische Werk Kaiserin Elisabeths freilich zu messen ist: ihr lyrisches Geschick funktionierte als epigonale Meisterinszenierung und unbewusster, aber dennoch repräsentativer Beitrag zum habsburgischen Mythos. Der österreichische Autor Felix Salten schrieb in seinem Nachruf auf die Kaiserin 1898: „Jetzt ist uns ihre Existenz fast schon wie etwas Unwirkliches, ihre Gestalt schwebend wie die Gestalten eines Traumes, und auf ihr Schicksal blicken wir kaum noch wie auf ein gelebtes Dasein, sondern wie auf eine Dichtung“ (Salten 1909: 257). So ist denn doch der Nachwelt diese ungewöhnliche Frau zwar nicht unbedingt durch ihr literarisches Werk, so doch aber durch ihr poetisches Leben gleich einer Dichtung in Erinnerung geblieben (vgl. Maikler 2011: 443f.). Indem jedoch das Leben zur Poesie wird, verblasst die Dichtung vor dem Hintergrund glorifizierter Schönheit. Ein mitunter zweifelhafter Ruhm ist Kaiserin Elisabeth von Österreich damit - auch abseits ihrer rein biographischen Verklärung - allemal gewiss. Inversion der Panegyrik oder Kunstmach(t)werk? 233 Literaturverzeichnis Albrecht-Weinberger, Karl (Hg.): Elisabeth von Österreich. Einsamkeit, Macht und Freiheit. 99. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien 1986. Amtmann, Karin: Elisabeth von Österreich. Die politischen Geschäfte der Kaiserin. Regensburg 1998 Andres, Jan: „Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet“. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M./ New York 2005. 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Die Erinnerungen an Korfu als Medium imperialer Selbstdarstellung Wilhelm II. als Autor Der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. gilt gemeinhin als engagierter Gegner künstlerischer Avantgarden. 1 Diese Sichtweise ist durchaus begründet: So kündigte der Kaiser etwa seine Loge im Deutschen Theater, weil dort Gerhart Hauptmanns Drama Die Weber aufgeführt worden war (vgl. Sprengel 1984: 93; Schwab-Felisch 2008). Wilhelms epigonaler Kunstgeschmack und entsprechende Äußerungen über Wesen und Aufgabe der Kunst trugen dazu bei, den Kaiser in Kulturkreisen zu diskreditieren (vgl. Brude-Firnau 1997: 6; Mast 1980). Gerade wegen seiner antimodernen Agitation diente der Kaiser vielen Literaten und Künstlern als Ziel beißender Satire (vgl. Sprengel 1993; Peters 2003; Rebentisch 2000), so etwa in Heinrich Manns Roman Der Untertan, der dem wilhelminischen Deutschland den Spiegel vorhält und über die Darstellung des enthusiastischen Wilhelm-Verehrers Diedrich Heßling auch die Person des Kaisers der Lächerlichkeit preisgibt. Emil Ludwig wendet in seiner viel gelesenen Biographie Wilhelms II. den Befund ins Positive, wenn er erklärt, „Kunst und Dichtung [seien] durch den Widerspruch mit dem Herrscher eher beflügelt“ worden (Ludwig 1926: 294). 2 Der selbstherrliche Hohenzoller erscheint, so ließe sich der kanonisierte Diskurs zusammenfassen, bestenfalls als Inkarnation kulturellen Banausentums, schlimmstenfalls als unfähiger Monarch und pathologische Existenz, deren Komplexe für den Weltkrieg und den Zusammenbruch des Deutschen 1 Vgl. Brude-Firnau 1997: 5: „Die literarischen Werke, die während der Regierungs- und Exilzeit über den letzten deutschen Kaiser entstanden, wurden durch seine prekären Beziehungen zur Literatur der Zeit bestimmt: von den Jahren als Kronprinz in Potsdam bis ins Doorner Exil bemühte sich Wilhelm II. um zeitgenössische Schriftsteller, traf aber mit seinen Anerkennungen und Preisen selten einen Autor jenseits der Unterhaltungsliteratur.“ Anzumerken ist jedoch, dass die Opposition großer Teile der Avantgarde keineswegs das gesamte geistige Klima des Kaiserreichs widerspiegelt: Konträr zu derartigen satirischen Abwertungen galt Wilhelm II. in weiten Teilen der Bevölkerung als populärer Herrscher. 2 Vgl. zu Emil Ludwigs außerordentlich einflussreicher Biographie Gradmann 1993: 38- 58; Ullrich 2005. Christopher Meid (Freiburg i. Br.) 238 Reichs unmittelbar verantwortlich seien (vgl. Röhl 1982). Die Niederlage bewirkte einen radikalen Stimmungsumschwung in weiten Teilen der Bevölkerung: Selbst Verfechter der Monarchie mussten bei ihrem Lob des Kaisergedankens vielfach von dem letzten Throninhaber abstrahieren, um ihre Positionen nicht zu desavouieren (vgl. Paquet 1915; dazu Lützeler 1992: 219- 224). Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die wissenschaftlichen, künstlerischen und literarischen Arbeiten des Kaisers kaum Beachtung fanden (vgl. Gschliesser 1972; Spanke 2002). Die Vernachlässigung des erstaunlich reichhaltigen Quellenmaterials ist unter Gesichtspunkten der ästhetischen Wertung und des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns über die jeweils behandelten Themen nachvollziehbar, bedeutet aber, dass auf die Analyse einer für die Selbstinszenierung Wilhelms wesentlichen Komponente verzichtet wird. Wenn auch Wilhelm II. bereits während seiner Herrschaft zumindest einmal literarisch hervortrat - erinnert sei an den pseudo-nordischen, vielrezipierten und -parodierten Sang an Aegir (vgl. Schulz/ Heesch 2009; Zernack 2009) -, so liegt der Höhepunkt seiner publizistischen Tätigkeit in den Jahren des Exils. In den Niederlanden schrieb und veröffentlichte der entthronte Kaiser eine stattliche Reihe von autobiographischen und wissenschaftlichen Texten. 3 Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Zur ersten gehören die autobiographischen Schriften und die Texte, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Leben und Herrschaft Wilhelms II. stehen, zur zweiten zählen die archäologischen, historischen und kulturhistorischen Abhandlungen des Ex-Kaisers. Die Texte beider Gruppen verbindet eine Grundtendenz: Allesamt sollen sie Wilhelms Vorstellungen von Königtum und nationaler Größer propagieren, legitimieren und auf diese Weise zu der angestrebten Restauration der Monarchie im Deutschen Reich beitragen. 4 Dass sie nicht einmal geeignet waren, Gesinnungsgenossen günstig zu stimmen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Anziehungskraft des exilierten Kaisers. Über Wilhelms Memoiren Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878-1918 urteilte 3 Vgl. die Liste der im Exil entstandenen Publikationen Wilhelms II. im Literaturverzeichnis. 4 Vgl. Röhl 2008: 1273: „In der Einsamkeit von Doorn war der Kaiser von einer einzigen Idee beseelt - von seiner Rehabilitierung und der Wiederkehr auf den Thron seiner Vorfahren. Zu diesem Zweck arbeitete er - abgesehen vom Bäumefällen und Holzhacken im Schloßpark und den archäologischen Studien in seinem Turmzimmer - an einer Reihe von Rechtfertigungsschriften, durch die er seine Restauration zu erlangen hoffte.“ Symptomatisch für Wilhelms aktualisierenden Umgang mit historischen Zusammenhängen ist etwa seine Abhandlung Das Königtum im alten Mesopotamien, in der er versucht, die Vorstellung des Gottkönigtums in modifizierter Weise bis hin zu den Hohenzollern zu verfolgen, deren Überlegenheit gerade in ihrem christlichen Glauben liege. Vgl. Wilhelm II. 1936b: 44. Kaiser Wilhelm II. als Reiseschriftsteller. 239 etwa Arnold Wahnschaffe, der ehemalige Chef der Reichskanzlei, sie seien „sicherlich eine reine Freude für alle Gegner der Hohenzollern-Monarchie“ (Röhl 2008: 1273). Wilhelms Schriften wurden also keineswegs affirmativ rezipiert, wohl aber nicht zuletzt wegen der Prominenz des Autors zur Kenntnis genommen. Die Erinnerungen an Korfu nehmen im Kontext seiner Schriften eine besondere Position ein, weil es sich dabei um den einzigen reiseliterarischen Text des Kaisers handelt. Er schließt damit an etablierte literarische und kulturelle Muster an. Dieses Reise- und Erinnerungsbuch über die kaiserlichen Sommeraufenthalte auf der Mittelmeerinsel ist nicht nur als Kuriosität, die entlarvende Einblicke in die Psyche des entthronten Monarchen geben kann, von Interesse, sondern primär als Dokument von Wilhelms Selbstverständnis als Herrscher. An diesem kaum rezipierten Text lässt sich aufzeigen, wie Wilhelm II. die Darstellung des kaiserlichen Privatlebens nutzt, um nachträglich seine Herrschaftskonzeption zu propagieren (vgl. Wilhelm II. 1924). Die Erinnerungen an Korfu sind ein aufschlussreicher Beleg für die retrospektive Selbstdarstellung des entthronten Kaisers und darüber hinaus kulturhistorisches Zeugnis eines höfischen Tourismus. Wilhelms Reisen nach Griechenland im zeitgenössischen Kontext 1907 erwarb Wilhelm II. das sogenannte Achilleion auf der griechischen Insel Korfu und verbrachte dort zwischen 1908 und 1914 (mit Ausnahme des Jahres 1913) seine Frühjahrsurlaube. 5 Das neoklassizistische Schloss war von Kaiserin Elisabeth von Österreich erbaut worden. 6 Wilhelm II. stellt sich also demonstrativ in die Tradition seiner Tante. Zugleich dürften weitere familiäre Überlegungen eine Rolle gespielt haben, war doch die ältere Schwester des Kaisers mit dem griechischen Kronprinzen und (seit 1913) König Konstantin verheiratet. In ihrem Reisebericht Korfu und das Achilleion vertritt Therese Kracht die Auffassung, die Urlaubsaufenthalte Wilhelms würden den Tourismus stimulieren: Dann brachten im Mai 1907 die Zeitungen die Nachricht, dass unser Kaiser dies berühmte Schloss, das Achilleion, für sich erworben habe, und naturgemäss wuchs damit auch das Interesse für die Insel. […] Wenn erst unser Kai- 5 Vgl. zur Vorgeschichte des Kaufs Wilhelm II. 1924: 7-11. Siehe zu Architektur und Ausstattung des Achilleions Dierichs 2004, bes. 82-100; vgl. auch die in den biographischen Angaben zuverlässigen, in ihrer apologetischen Grundtendenz ärgerlichen Darstellungen bei Henneberg 2004. 6 Vgl. zur literarischen Rezeption der so genannten ‚Sissi‘ die materialreiche Studie von Maikler 2011. Zur literarischen Produktivität Elisabeths von Österreich vgl. den Beitrag von Clemens Götze in diesem Band. Christopher Meid (Freiburg i. Br.) 240 ser im Frühling nach dem Süden geht und zu längerem Aufenthalt in sein Schloss auf Korfu einzieht, so werden sich bald die Blicke der ganzen Welt auf diese kleine Insel richten. Wer’s kann, wird dann ebenfalls sein Schifflein dorthin steuern, wer’s nicht kann, wird gerne etwas darüber lesen wollen. (Kracht 1908: 6-8) Durch die Wahl seines Urlaubsortes partizipiert Wilhelm II. an Strömungen des Tourismus der Jahrhundertwende (vgl. Ipsen 1999: 48-52). Um 1900 nimmt die Bedeutung Griechenlands als Reiseziel deutlich zu. Diese Hochkonjunktur von Griechenlandreisen schlägt sich auch in der Reiseliteratur nieder: Texte über Griechenland entstehen in großer Zahl und werden viel gelesen (vgl. Meid 2012). In diesen größeren Zusammenhang gehört auch Wilhelms Reisebericht, der in vielen Aspekten den Konventionen der Gattung folgt. Zwischen den Reiseerlebnissen und ihrer literarischen Umsetzung in den Erinnerungen an Korfu liegen die Jahre des Ersten Weltkriegs. Der Text wurde von der 1921 verstorbenen Kaiserin Auguste Viktoria angeregt. Er entstand zwischen 1919 und 1924 in Amerongen und Doorn (vgl. Wilhelm II. 1924: 144). Man geht wohl kaum fehl, wenn man den Beginn der Niederschrift im ersten Jahr des Exils als Ablenkung mit therapeutischer Funktion begreift. Diese Motivation scheint sich im Verlauf der Arbeit verändert zu haben, wie überhaupt der lange Entstehungszeitraum (und möglicherweise unterschiedliche Beiträger) zu der Heterogenität des Textes beigetragen haben dürfte, 7 der in fünf Kapiteln die Urlaubserlebnisse des Kaisers darstellt. Diese touristischen Beschreibungen werden ergänzt durch ausführliche Überlegungen zu archäologischen und kulturhistorischen Themen. Sie verraten den Einfluss des Ethnologen Leo Frobenius, dessen Kulturkreistheorie bekanntlich stark auf die Gedankenwelt des exilierten Kaisers einwirkte (vgl. Wilhelm II. 1924: 121f.; Wilderotter 1991). Die Mischung von autobiographischen Rückblicken und theoretischen Reflexionen sowie wissenschaftlichen Überlegungen und touristischen Beschreibungen hat einen Schwerpunkt: die positive Selbstdarstellung des Autors. Wilhelm II. entwirft in dem Reisebericht ein Selbstbild, das den Monarchen mit ausschließlich vorbildlichen Eigenschaften versieht. In seinem Privatleben sollen sich die Attribute zeigen, die ihn zum mustergültigen Herrscher qualifizieren. Auch der sprachliche Gestus des Textes soll die Bedeutung seines Verfassers unterstreichen: Wenn Wilhelm II. von sich zumeist in der dritten Person schreibt, schließt er damit an Traditionen autobiographischen Schreibens an, die bis auf Cäsars Gallischen Krieg zurückgehen. 7 Der Text besteht aus fünf Kapiteln und einem denkbar knappen Schluss: I. Das Achilleion und seine Umgebung, II. Karfreitag und Ostern auf Korfu, III. Die Tage auf Korfu, IV. Ausgrabungen und Archäologie, V. Der Abschied von Korfu. Kaiser Wilhelm II. als Reiseschriftsteller. 241 Wilhelm II. als germanisch-christlicher pater familias und gütiger Herrscher Seinem Selbstverständnis nach ist Wilhelm nicht nur Kaiser, sondern auch religiöses Oberhaupt. Diese Herrschaftskonzeption zeigt sich an den Gottesdiensten, bei denen Wilhelm predigt (vgl. Samerski 2001): „Jetzt hielt hier jeden Sonntag der Schloßherr für seine ganze Hausgemeinde, Herrschaften, Beamte, Diener und Hauspersonal, in alter deutscher patriarchalischer Weise den Gottesdienst ab.“ (Wilhelm II. 1924: 35) Wenn sich Wilhelm II. als Hausvorsteher mit geistlicher Funktion darstellt, unterstreicht er damit seine Überzeugung von der Aktualität des Gottesgnadentums. 8 Zugleich betont er, dass er für alle Angehörigen seines Haushalts gleichermaßen seelsorgerisch tätig ist. Er erscheint in der Logik des Textes als pater familias, der im Kreise der Seinen eben die Tugenden demonstriert, die einen christlichen Herrscher ausmachen. Wilhelms Praxis christlicher Religionsausübung zeichnet sich durch ihre „alte[] deutsche[] patriarchalische[] Weise“ aus und befindet sich mithin in großer Nähe zu völkisch-christlichen Strömungen (vgl. Schnurbein/ Ulbricht 2001; Ulbricht 2006). Zur Zeit der Abfassung der Erinnerungen an Korfu näherte sich Wilhelm II. zunehmend den Positionen von Houston Stewart Chamberlain (Mensch und Gott) und Friedrich Andersen (Der deutsche Heiland) an. Seine religiösen Vorstellungen im Exil entsprechen wesentlich diesen antisemitischen Versuchen, Christentum und Germanenkult in Einklang zu bringen. So war für Wilhelm der Gott des Alten Testaments mit Satan identisch, während in der Logik der Deutschen Christen der Religionsgründer Jesus Christus selbstverständlich arischer Herkunft sein musste (vgl. Röhl 2008: 1293). Wilhelm zeigt sich hier nicht nur als christlicher, sondern dezidiert als deutscher Herrscher: Im Hintergrund seiner Auffassung des Christentums stehen biologistische Ideologeme. Treu sorgend und gütig geriert sich Wilhelm auch gegenüber seinen Untertanen. Da Korfu beliebtes Ziel von Mittelmeerkreuzfahrten ist, ergibt sich oft die Gelegenheit, deutsche Touristen die Gärten des Achilleions besichtigen zu lassen. Der Monarch bleibt unsichtbar und beobachtet heimlich die Besucher: Kam nun gar der „Meteor“ mit einigen hundert Deutschen, so wurden seine Passagiere allesamt durch den Garten geleitet, während der Schloßherr, ungesehen auf der Terrasse über ihnen stehend, die Ausdrücke staunender Bewunderung vernahm in allen Idiomen seines Vaterlandes. Denn es gewährte ihm neben der Befriedigung des Schaffens und des eigenen Genusses nichts größere Freude, als wenn er in der Lage war, auch anderen durch seine 8 Diese Vorstellung ist zentral für Wilhelms Herrschaftskonzeption. Vgl. etwa Hall 1991, bes. 3f. Christopher Meid (Freiburg i. Br.) 242 Schöpfung einen Genuß bereiten zu können. Und gerade seine Landsleute vor allem sollten gehobenen Gefühls den schönen Fleck Erde betreten und verlassen und daheim berichten von den Farbenwundern des schöne Achilleions. (Wilhelm II. 1924: 27) Wie ein orientalischer Herrscher aus Tausendundeiner Nacht inszeniert sich Wilhelm II. theatralisch als Gönner seines Volkes, der bezeichnenderweise „über ihnen stehend“ seine eigene Philanthropie genießt. In der Heimat sollen die heimkehrenden Touristen den Ruhm des urlaubenden Kaisers mehren. Auch die entsprechende Vermarktung der Urlaubsaufenthalte, etwa durch den Verkauf von Filmen und Fotografien, gehört in diesen Zusammenhang (vgl. Henneberg 2004: 14; Petzold 2012). Wie der oben zitierte Reisebericht von Therese Kracht andeutet, waren die wirkungsvoll inszenierten Urlaubsreisen des Monarchen im Kaiserreich tatsächlich wesentlicher Bestandteil der Herrschaftsinszenierung. 9 Wilhelm II. als Zivilisationsbringer Auch die einheimische griechische Bevölkerung sieht sich mit dem Altruismus des deutschen Kaisers konfrontiert. Den Korfioten gegenüber tritt Wilhelm mit kolonialistischem und didaktischem Gestus auf: Unterwegs kommt es oft vor, daß einzelne Frauen oder Mädchen oder auch Gruppen von Kindern kleine Blumensträuße überreichen. Dann greift der Schloßherr des Achilleions in die Tasche, und Filigranknöpfe oder eine Brosche, Ohrringe oder ein Kettlein werden zum Austausch geschenkt; nie aber Geld, um den Leuten nicht das Betteln anzugewöhnen, wie es einem so abstoßend in Italien entgegentritt. (Wilhelm II. 1924: 55f.) Die liebenswürdige und gastfreundliche Bevölkerung hat allerdings, so Wilhelm, ein großes Problem, nämlich mangelhafte Körperhygiene. Auch hier greift der Monarch tatkräftig ein, indem er ihnen deutsche Seife schenkt und versucht, sie zum regelmäßigen Gebrauch derselben zu animieren: 9 Auch in der medialen Inszenierung der kaiserlichen Urlaubsaufenthalte wird ein Grundmerkmal von Wilhelms Herrschaft deutlich, nämlich die Diskrepanz zwischen traditionalistischer Herrschaftskonzeption und moderner Verfahren der Öffentlichkeitsdarstellung: Vgl. Fehrenbach 1982: 269: „To a much greater extent than was the case with the Napoleonic Imperium of the French, which was the product of the Revolution, the German image of Kaiserdom was formed out of the conflicting elements of modernity and traditionalism. In this way it mirrors the contradictory tendencies of an age which retained traditional structures of political authority in spite of the rapid pace of social and economic change.“ Kaiser Wilhelm II. als Reiseschriftsteller. 243 Vor und um die Osterzeit wurde den Korfioten eine andere, sehr nötige und nützliche Gabe zuteil. Die Göttin des Waschens und der Sauberkeit wird von ihnen nicht sehr geehrt. Besonders die Kinder starren hin und wieder von Schmutz. Die Sonne, die große Bazillentöterin, muß für alles sorgen. Um dieser nun die Arbeit zu erleichtern und die Korfioten zur Mitwirkung anzuspornen, hatte ich aus Berlin einige tausend hölzerne Ostereier mitgebracht, die Eier aus Seife enthielten. (Wilhelm II. 1924: 56) Wilhelms Ostergeschenk an die Korfioten demonstriert seinen überheblichen Gestus gegenüber den einheimischen Griechen, die ansonsten hauptsächlich als volkstümliche, malerische Staffage erwähnt werden. Die kolonialistischen Untertöne sind nicht zu überhören: Wilhelm reproduziert die gängigen Stereotype über schmutzige Griechen und stilisiert sich zugleich zum Zivilisationsbringer, der den wie Kindern dargestellten Einheimischen die Grundlagen hygienischer Körperpflege nahe bringt - und an der Unbelehrbarkeit der rückständigen Eingeborenen scheitert. 10 Unfreiwillig entlarvt Therese Kracht die Nähe zwischen Urlauber und Kolonisator, wenn sie das Achilleion als „unseres Kaisers neueste[n] Platz an der Sonne“ bezeichnet (Kracht 1908: 8). Wilhelm II. als siegender Achill In der bildkünstlerischen Ausstattung des Achilleions, wie sie Wilhelm beschreibt und deutet, treten sowohl der Kunstgeschmack als auch das Herrschaftsverständnis des Monarchen zutage (vgl. Stather 1994: 81-86). Symptomatisch für seinen ästhetischen Standpunkt ist seine Abwehrreaktion gegen das Heine-Standbild, das er im Park vorfindet: „In diesem Tempel stand ein Marmorbild von Heine, dem Lieblingsdichter der Kaiserin Elisabeth. Er war dargestellt im Hemde auf einen Sessel hingesunken, die Beine von einer Decke umhüllt. Kein geeignetes Motiv für einen Tempel.“ (Wilhelm II. 1924: 31) Die Statue wird verkauft. 11 An derselben Stelle errichtet man ein Standbild der Kaiserin Elisabeth. 10 Vgl. Wilhelm II. 1924: 56: „Als ich ihnen mit Hilfe des begleitenden griechischen Gendarmerieoffiziers als Dolmetscher verständlich zu machen versuchte, daß die Seife nicht nur für das Gesicht, sondern auch für den übrigen Menschen gemeint sei, und dies auch pantomimisch zu erklären trachtete, brachen die guten Korfiotinnen in ein schallendes Gelächter aus, wobei sie die Köpfe heftig verneinend schüttelten.“ - Diesen Einheimischen muss Wilhelm auch die griechische Kultur nahe bringen: Unvertraut mit der antiken Mythologie, halten sie das Achill-Standbild für eine Darstellung von Martin Luther - eine Wahrnehmung, die Wilhelm trotz aller Komik nicht gänzlich von der Hand weist (vgl. ebd.: S. 28). 11 Vgl. hingegen Kracht 1908: 123: „Dies stimmungsvolle Kunstwerk soll unverändert an seinem meerüberschauenden Platz erhalten bleiben.“ Christopher Meid (Freiburg i. Br.) 244 Anders als Heine findet die Statue des Achill von Ernst Herter den Beifall Wilhelms - allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: Der schöne „Sterbende Achill“ in weißem Marmor, von Meisterhand für Kaiserin Elisabeth einst gebildet, war für die große Terrasse doch zu klein, zumal er von mächtigen Dattelpalmen beschattet war, deren Zweige bis über vier Meter lang sich ausstreckten. So ließ ich ihn auf die kleine Mittelterrasse hinaufbringen, und an seiner Stelle ragt jetzt das eherne, 10 m hohe Standbild des Peliden, in voller Waffenrüstung, auf seinen Speer gestützt, das Antlitz zur Stadt Korfu gewendet. (Wilhelm II. 1924: 27) Für das Bildprogramm des Kaisers ist der sterbende Held zu unheroisch: Er muss durch den siegenden Helden ersetzt werden. In dem monumentalen Werk des Fürther Bildhauers Johannes Götz wird für Wilhelm die Essenz antiker Kunst deutlich. 12 Vor allem die Größe der Skulptur hebt der Autor mehrfach hervor: Die Maßangaben zeigen, dass in diesem Fall die Gigantomanie künstlerische Erwägungen in den Hintergrund drängt. Dieses Standbild soll bereits durch seine Größe die Bewunderung der Betrachter erzwingen. 13 Nunmehr ragt der mächtige Held der Homerischen Ilias in Erz auf der Terrasse des Achilleions als Wahrzeichen des Hauses und als Denkmal uralter Geschichte des Landes, in voller Jugendkraft und Schönheit, selbstbewußt und stolz, der achäische Fürst der Myrmidonen. Wunderbar ist der Augenblick, wenn am Abend die untergehende Sonne den gewaltigen Schild mit 12 Obwohl Wilhelm II. kulturhistorischen Forschungen gegenüber aufgeschlossen war, die die griechische Kultur in einem größeren Zusammenhang sahen, erschöpft sich seine Wahrnehmung der Antike auf klassizistische Stereotype. Bezeichnenderweise erblickt er die Essenz griechischer Kunst gerade in epigonalen Nachschöpfungen, wie Götz’ Sterbendem Achill oder den Bauten des Achilleions. Die erhebende Wirkung des Achilleions stellt Wilhelm an etlichen Stellen des Textes heraus. Vgl. Wilhelm II. 1924: 16: „Staunende Ausrufe, klassische Zitate werden laut, und helle, freudige Begeisterung leuchtet aus allen Blicken ob dieses Paradieses mit seiner Stille und seiner Farbensymphonie. Das ist Griechenland! Das ist die klassische Schönheit! Hier schreitet der mächtige Geist der ewig-jungen, nie zu übertreffenden edlen Antike unmittelbar neben uns her! “ In der Palastanlage verkörpert sich für den Kaiser das Wesen der antiken griechischen Kultur, die für ihn unhinterfragt als Verkörperung des Wahren und Schönen gilt. 13 Vgl. hingegen den meines Erachtens absurden Versuch, Götz’ Standbild in die Nähe der Klassischen Moderne zu rücken: Henneberg 2004: 13: „Bemerkenswert ist, daß der vielgescholtene ‚Siegreiche Achill‘ mit seinem Medusenschild bis heute völlig unerkannt als eine ‚Inkunabel‘ der modernen Archaik in der Deutschen [! ] Kunst gelten kann und das [! ] diese Monumentalplastik fast gleichzeitig mit Picassos, die Kunst Schwarz-Afrikas und der Südsee kubistisch umformenden ‚Demoiselles d’Avignon‘ von 1906/ 1907 entstanden ist. Gewiß handelt es sich hier um eine eher unfreiwillige Zeitgenossenschaft und doch liegt in dieser Parallelität ein tieferer Sinn verborgen! “ Kaiser Wilhelm II. als Reiseschriftsteller. 245 seiner Goldverzierung, sowie Helmbusch und Speerspitze, die gleichfalls vergoldet sind, mit ihren feurigen Lichtpfeilen trifft, so daß sie weit über die Insel hin erglänzen. Magisch dagegen, wie in überirdischem Zauber, wirkt das Standbild, wenn es in dunkler Nacht auf pechschwarzem Hintergrunde des Palmenhaines von Scheinwerfern beleuchtet wird. Dann sieht es von weitem aus, als schwebe eine weiße, glühende, anscheinend durchsichtige Geistergestalt über dem dunklen Berge, um in Wehr und Waffen das Achilleion zu schirmen. (Wilhelm II. 1924: 28) Achill verkörpert Macht, Jugend und Schönheit. Das Standbild solle - so Wilhelm - zugleich auf die griechische Geschichte verweisen und als „Wahrzeichen des Hauses“ dienen. Wenn er hervorhebt, das Achilleion stehe unter dem Schutz des homerischen Helden, so bedeutet dies, dass Achill als preußischer Schutzgott gleichsam eingemeindet wird. In dem siegenden Achill des Sommerpalastes scheint symbolisch die Herrschaftskonzeption des deutschen Kaisers auf, der auch in Griechenland imperiale Größe und Wehrbereitschaft inszeniert. Als „Geistergestalt“ in „Wehr und Waffen“ - man beachte die wagnerisierende Alliteration! - demonstriert der siegende Achill die Verbindung zwischen dem antiken Mythos und dem deutschen Kaiserhaus - der sterbende Held hingegen wird marginalisiert. 14 Wilhelm II. als friedliebender Wissenschaftler Die archäologischen Beschreibungen und Reflexionen nehmen in den Erinnerungen an Korfu großen Raum ein. Auch wenn Wilhelms Engagement letztlich von politisch-nationalen Überlegungen geleitet ist, 15 spiegelt sich in den einschlägigen Passagen des Reiseberichts seine zweifellos echte Begeisterung für das Fach: 16 Die eingehenden Meldungen, welche ich nach wichtigen Entdeckungen an die Archäologische Gesellschaft nach Berlin richtete, geben Zeugnis von dem Ernst und der Gründlichkeit, mit welchen die Arbeiten betrieben und für die 14 Dies erinnert an die Aufstellung der kolossalen Fridtjof-Statue des Bildhauers Max Unger im norwegischen Sognefjord (1913), die Wilhelm II. den Norwegern schenkte. 15 Vgl. Wilhelm II. 1924: 143: „Ich habe mich stets eifrig für die Archäologie erwärmt und nach meinem Regierungsantritt ihr meine Hilfe und meinen Schutz angedeihen lassen, soviel in meinen Kräften stand.“ - Vgl. dazu Simon 199: 97: „Geht es ihm bei den naturwissenschaftlich-technischen Fächern primär um militärische Macht und nationale Größe, so verbindet sich mit seinen Interessen für bestimmte Fächer aus den Kulturwissenschaften dasselbe nationale Motiv.“ 16 Vgl. Simon 1991: 97: „Wilhelm teilt die Archäologiebegeisterung vieler Zeitgenossen. Wer seine Sätze über die von ihm selbst geleiteten Grabungen auf Korfu liest, glaubt ein Stück echter Faszination wahrzunehmen.“ - Siehe auch Löhlein 2009. Christopher Meid (Freiburg i. Br.) 246 Wissenschaft verwertet wurden, und wie intensiv ich mich dieser Arbeit hingab. Ich pflegte meinen Herren, wenn ich gefragt wurde, welche Gefühle mich während des Ausgrabens der Gorgo bewegt hätten, zu antworten: „So aufregend wie die Pürsche auf einen Zwanzigender! “ (Wilhelm II. 1924: 132) Ziel seiner Auseinandersetzung mit archäologischen Problemen sei immer gewesen, die Verbindung zwischen der orientalischen und der griechischen Kunst zu finden (vgl. Wilhelm II. 1936). 17 Wilhelm inszeniert sich nicht nur als tatkräftiger Förderer der Wissenschaft, sondern auch als fähiger Wissenschaftler. Selbstverständlich übernimmt er selbst die Leitung archäologischer Ausgrabungen und spornt die arbeitsscheuen Griechen zu Höchstleistungen an (vgl. Wilhelm II. 1924: 78). Immer wieder hebt er hervor, dass seine Reflexionen über Kultur und Geschichte von bedeutenden Wissenschaftlern bestätigt würden (vgl. Wilhelm II. 1924: 110-113). Die Beschäftigung mit der Archäologie besitzt für den Autor der Erinnerungen an Korfu noch eine weitere, gerade im Kontext der Nachkriegsjahre essentielle Funktion. Sie ist auf griechischem Boden, dem Mutterland der westlichen Zivilisationen, prädestiniert, eine völkerverbindende Rolle einzunehmen. Der globale Philhellenismus solle - unter tätiger Beteiligung des „Friedenskaisers“ 18 Wilhelm - dazu beitragen, die Völker zu versöhnen: Vielleicht ist Griechenland dazu berufen, so hoffe ich, daß auf seinen klassischen Fluren die Männer der archäologischen Wissenschaft zuerst wieder zusammentreten und sich die Hände reichen, um zwischen den Völkern die zerrissenen Fäden wieder neu zu knüpfen, im gemeinsamen Streben, sie an ihre Kulturideale zu erinnern und den Grund zu legen zu neuer friedvoller und fruchtbringender Kulturarbeit! Möge es späterhin, wenn Haß und Feindschaft verschwunden sind, mir vergönnt sein, auch meinen bescheidenen Anteil durch Wiederaufnahme der unterbrochenen Arbeit mit beitragen zu dürfen. Das walte Gott! (Wilhelm II. 1924: 144) Wilhelms Forderung ist selbstverständlich unrealistisch, negiert er doch, dass gerade seine Person spätestens seit dem Krieg weltweit verhasst war. Die Vorstellung, über den Rekurs auf die Antike völkerverbindend zu wirken, findet sich jedoch in etlichen zeitgenössischen Reiseberichten, so etwa bei dem Archäologen Hans Börger, der hervorhebt, Angehörige ehemals 17 Vgl. Sprengel 1982: 195f.: „Wenige Bücher haben Hauptmann im Alter so beeindruckt wie dieses über weite Strecken die Handschrift von Frobenius verratende archäologische Aushängeschild des Exkaisers; so vollzieht Hauptmann infolge der Lektüre geradezu eine innere Rehabilitation des letzten regierenden Hohenzollern, dem er zuvor, und mit mehr Gründen als andere, in äußerster Distanz gegenüberstand.“ 18 So die gängige Bezeichnung treuer Monarchisten. Vgl. etwa Bund deutscher Männer und Frauen zum Schutze der persönlichen Freiheit und des Lebens Wilhelms II. 1919. Kaiser Wilhelm II. als Reiseschriftsteller. 247 verfeindeter Nationen könnten sich „in gemeinsamer Begeisterung für das griechische Altertum versöhnlich die Hände“ reichen (Börger 1925: 83). 19 Der satirische Blick Wilhelms Publikation seiner Reiseerinnerungen fällt in eine Zeit, in der kontrovers über den entthronten Kaiser diskutiert wird (vgl. Röhl 2008). Auch seine Griechenlandreisen werden dabei kritisch betrachtet. Die Außenwahrnehmungen bieten dabei eine erhellende Ergänzung zu der stilistisch wie inhaltlich epigonalen Selbstinszenierung Wilhelms. Im Erscheinungsjahr von Wilhelms Erinnerungen an Korfu publizierte der Feuilletonist Victor Auburtin den Reisebericht Delphische Wanderung. 20 Er nutzt das Medium, um mit Militarismus und Großmannssucht abzurechnen - Eigenschaften, die für Auburtin von Wilhelm II. verkörpert werden. Als Wilhelm II. - an dem, wie er selbst berichtet, alles groß war - als Wilhelm im Hafen des Piräus landete, sprach er mit tönender Stimme zu den Herren seines Stabes: „Meine Herren, halten Sie jetzt die Taschen fest zu, Sie gehen in das Land der Diebe.“ Er sprach das mit tönender Stimme in Gegenwart der griechischen Minister, so daß diese es hören konnten. Denn unter seinen vielen großen Eigenschaften war das Zartgefühl besonders stark entwickelt. (Auburtin 1924: 66) Gerade Korfu habe, so Auburtin, in besonderem Maße unter dem deutschen Kaiser zu leiden gehabt. Dabei betont er die dunklen Seiten der Geschichte, die gerade auch auf der scheinbar idyllischen Insel nachzuvollziehen seien. „Korfu ist in diesen Jahrzehnten etwas mitgenommen worden. Erst die tragische Elisabeth; dann Wilhelm; der Krieg und seine Lazarette und Konzentrationslager; und jetzt fuhrwerkte Mussolini mit seinen Bersaglieri hinein…für das geplante Pokerkasino liegt Korfu vorläufig zu sehr mitten auf der Kegelbahn.“ (Auburtin 1924: 14) 21 Als ein Ansichtskartenhändler an diesem ehemaligen Urlaubsort von Kaiser Wilhelm II. versucht, die patriotischen Gefühle des Erzählers zu wecken, ruft er eine ungeahnte Reaktion hervor. „‚Vielleicht kommt Ihr Kaiser wieder her,‘ sagt er. Er wollte mein Herz gewinnen; aber ich habe ihm nun 19 Vgl. hingegen die konträre Wahrnehmung bei Paquet 1923: 68. Vgl. zu den Griechenland-Reiseberichten der 1920er Jahre Meid 2012: 139-253. 20 Vgl. Auburtin 1924. - Vgl. zu Auburtins Delphischer Wanderung Meid 2012: 159-169; zu Auburtins Werk darüber hinaus Tomczuk 2008; Zauner-Schneider 2006. 21 Vom 31. August bis zum 29. September 1923 war Korfu von Italien besetzt; die griechische Regierung zahlte 50 Millionen Lire an Mussolini, um die Insel zurückzuerlangen. Vgl. Coppa 1985: 93. Christopher Meid (Freiburg i. Br.) 248 erst recht keine Karte abgekauft; und Korfu kennt nun die Gesinnung des deutschen Volkes.“ (Auburtin 1924: 14f.) Anders als Therese Kracht, die 1908 in den kaiserlichen Urlaubsaufenthalten einen Anreiz für Touristen erblickte, es dem Monarchen gleichzutun, distanziert sich Auburtin von der Hohenzollern-Verehrung. Seine bissigen Seitenhiebe können kaum als repräsentativ für die „Gesinnung des deutschen Volkes“ gelten, demonstrieren aber immerhin eine Tendenz der 1920er Jahre, die darauf abzielt, sich von den Jahren des Kaiserreichs und insbesondere von der Person des Kaisers zu distanzieren und auf diese Weise für die junge Demokratie Position zu beziehen. Daran partizipiert auch die Auseinandersetzung mit Wilhelms Griechenland-Reisen, die im Kleinen für die Auswüchse wilhelminischer Herrschaft stehen. Herrschaftslegitimation und dynastisches Lob In seinen Erinnerungen an Korfu blickt Wilhelm II. auf Urlaubsaufenthalte zurück, die der Kaiser „zwischen Arbeiten für die Heimat, dem Genusse der Ruhe und der Naturschönheiten und dem Dienste der Archäologie“ (Wilhelm II. 1924: 140) verbrachte. Diese nostalgische Rückschau verklärt die Vergangenheit. Wilhelm II. entwirft das Selbstbild eines idealen Herrschers, der mildtätig, freigiebig, fleißig, gebildet und kunstliebend ist, der treu für seine Untertanen sorgt und somit in seiner Person die Größe des Reichs sinnfällig macht. Die private Ebene besitzt eine politische Dimension: Sie gibt dem entthronten Monarchen reichlich Gelegenheit, sich in bestem Licht zu zeigen - als treu sorgender Familienvater, gläubiger Christ, fähiger Archäologe und großzügiger Wohltäter der einheimischen Bevölkerung. Das Erinnerungsbuch wird so zu einem restaurativen Manifest, das Ausschnitte aus dem kaiserlichen Privatleben nutzt, um retrospektiv die Herrschaft der Hohenzollern zu verklären. Zugleich ist die aktuelle politische Wirkungsintention nicht von der Hand zu weisen, machte sich doch Wilhelm II. zum Zeitpunkt des Erscheinens durchaus Hoffnungen, auf den Thron zurückkehren zu können. 22 Der Reisebericht dient als imperiale Werbeschrift, 23 deren Wirkungslosigkeit aber kaum überraschen dürfte: Er erscheint zu einem Zeitpunkt, als die Historisierung des Kaisers bereits einge- 22 Vgl. Andler 1991: 143: „Diese Dokumente [Briefwechsel mit monarchistischen Verbänden, C.M.] legen Zeugnis von der Tatsache ab, daß Wilhelm mit energischer Hartnäckigkeit die Idee verfocht, eines Tages wieder als Kaiser auf den Thron zurückzukehren, eine Überzeugung, der er wohl beinahe bis zum letzten Tag seines Lebens treu blieb.“ 23 Vgl. Röhl 2008: 1276: „Die apologetische Schriftstellerei Wilhelms II. war nicht unbedenklich, denn sie trug zur Mythenbildung beziehungsweise zur Geschichtsverdunkelung bei.“ Kaiser Wilhelm II. als Reiseschriftsteller. 249 setzt hat. Die (auch stilistisch) epigonalen Erinnerungen an Korfu können in diesem Zusammenhang nur noch anachronistisch erscheinen. Christopher Meid (Freiburg i. Br.) 250 Literaturverzeichnis Andler, Sylvia: ‚…ein neues Deutsches Reich unter mir erobern.‘ Politische Verbindungen und Verbündete im Exil. In: Hans Wilderotter/ Klaus D. Pohl (Hg.): Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil. Gütersloh/ München 1991, S. 143-149. Auburtin, Victor: Nach Delphi. München 1924. Börger, Hans: Griechische Reisetage. Hamburg 1925. Brude-Firnau, Gisela: Die literarische Deutung Kaiser Wilhelms II. zwischen 1889 und 1989. Heidelberg 1997. Bund deutscher Männer und Frauen zum Schutze der persönlichen Freiheit und des Lebens Wilhelms II.: Für oder wider Wilhelm II. den Friedenskaiser? Görlitz 1919. Coppa, Frank J. (Hg.): Dictionary of Modern Italian History. Westport 1985. Dierichs, Angelika: Korfu - Kerkyra. Grüne Insel im Ionischen Meer von Nausikaa bis Kaiser Wilhelm II. Mainz 2004. 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Der „Cowboy-Präsident“ Theodore Roosevelt als Schriftsteller und Literaturkritiker In den USA werden schon seit Ende der 1940er Jahre unter Politikwissenschaftlern und Historikern periodisch Umfragen durchgeführt, die dazu dienen, eine Rangliste der besonders verdienstvollen ‚großen Präsidenten‘ zu ermitteln. Ein Mann, der es in diesen Rankings regelmäßig sehr weit nach vorne schafft ist, der (im Gegensatz zu seinem weitläufigen Verwandten und jüngeren Namensvetter Franklin D. Roosevelt) heute in Europa inzwischen fast vergessene Theodore Roosevelt. 1 In den Vereinigten Staaten ist der 26. Präsident, der das Amt von 1901 bis 1909 bekleidete, einem breiteren Publikum vor allem noch deshalb bekannt, weil ihm das Lieblingskuscheltier aller Kinder - der Teddy Bear - seinen Namen verdankt. Der von den Tugenden sportlicher Fairness überzeugte Großwildjäger soll sich 1902 bei einem Jagdausflug geweigert haben einen Bären zu erschießen, den Jagdhelfer zuvor für ihn an einen Baum gebunden hatten. Ein findiger Spielzeughersteller, der durch eine Zeitungskarikatur auf den Vorfall aufmerksam geworden war, witterte in diesem Gnadenakt ein gutes Geschäft. Er kreierte mit dem Teddy Bear ein nach dem Präsidenten benanntes Stofftier, das schnell einen Siegeszug um die ganze Welt antrat (Landsford 2005: 88). Seine politische Karriere führte den Republikaner Roosevelt über ein Abgeordnetenmandat im Staat New York zum Amt des Bundesbeauftragten für den Öffentlichen Dienst (Civil Service Commissioner). Danach bekleidete er den Posten des Präsidenten der New Yorker Polizeibehörde, das Amt des stellvertretenden Marineministers und schließlich des Gouverneurs des Staates New York. 1900 wurde er an der Seite William McKinleys Vizepräsident der USA. In die Präsidentschaft rückte er im Alter von nur 42 Jahren als verfassungsmäßiger Nachfolger von McKinley auf, als dieser 1901 nach nur wenigen Monaten im Amt dem Attentat eines Anarchisten zum Opfer fiel. Roosevelt wurde bei den Wahlen 1904 im Amt bestätigt. 1908 verzichtete er auf eine erneute Kandidatur. Unzufrieden mit der Politik seines Amtsnachfolgers William Howard Taft trat er aber 1912 überraschend für die sozialreformerische Progressive Party gegen seinen ehemaligen republikanischen 1 In einer Umfrage des Siena College Research Institute (SRI) unter 238 amerikanischen Historikern und Politologen belegte Theodore Roosevelt 2010 den zweiten Platz gleich nach Abraham Lincoln. Dominik Nagl (Mannheim) 254 Parteifreund an, unterlag aber in dieser Wahl ebenso wie Taft dem Demokraten Woodrow Wilson. Für Historiker verkörpert Theodore Roosevelt mehr als jeder andere amerikanische Präsident eine Epoche, die vom Wandel der USA zur Industriegesellschaft, ihrem Aufstieg zur Großmacht und rapiden gesellschaftlichem Wandel geprägt war. Eine Beschäftigung mit Theodore Roosevelt gerät daher notwendigerweise zugleich zu einer Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Nationalismus, Militarismus, Kolonialismus, Rassismus, Sozialdarwinismus, Massenimmigration und den sozialen und ökologischen Schattenseiten von Industrialisierung und Urbanisierung im Zeitalter des Hochimperialismus. 2 Sein politisches Lebenswerk war von dem Versuch geprägt, nach innen die durch die Industrialisierung entfesselten Kräfte ökonomisch, sozial, politisch und ökologisch zu bändigen und zugleich die USA nach außen in der globalen Staatenkonkurrenz als eine den europäischen Nationen ebenbürtige Großmacht zu etablieren. Innenpolitisch machte sich Roosevelt zum Anwalt des sogenannten Progressive Movement, einer vielschichtigen Reformbewegung, die durch staatliche Maßnahmen den gesellschaftlichen Wandel sozialverträglich regulieren und mit den überkommenen Institutionen der amerikanischen Demokratie in Einklang bringen wollte (vgl. Mowry 1946). Im Rahmen einer sogenannten „Politik des gerechten Ausgleichs“, die er als square deal bezeichnete, setzte er sich insbesondere für die Kontrolle wettbewerbsverzerrender monopolistischer Großunternehmen ein und bekämpfte als trust-buster ein schließlich vom Supreme Court zerschlagenes Eisenbahnkonglomerat. Weitere reformerische Anstrengungen betrafen die Einrichtung eines Ministeriums für Handel und Arbeit zur Kontrolle der national operierenden Wirtschaftsunternehmen, die Vermittlung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern bei Streiks sowie die gesetzliche Regulation der Frachttarife der privaten Eisenbahnen. Die Wirkung der meisten dieser Maßnahmen blieb gering. Sie waren aber Gesten, die zumindest symbolisch einen Gegensatz zur liberalen Ideologie selbstregulierender Märkte bildeten und Roosevelt viel Zustimmung in der Bevölkerung brachten ohne das big business ernstlich gegen ihn aufzubringen. Bis heute populär ist außerdem Roosevelts nachhaltiges Engagement für den Natur- und Landschaftsschutz, zu dessen Förderung er mehr als 930.000 km 2 Bundesland zu Nationalparks, nationalen Monumenten und Natur- und Tierschutzgebieten erklärte. Im Unterschied zu dem bekannten Naturschüt- 2 Für eine umfassende Bilanz seines politischen Wirkens sowie eine aktuelle historiographische Bestandsaufnahme der Forschung zu seiner Person vgl. Ricard (2007). Als detaillierteste Biographie gilt Morris’ monumentale, mit dem Pulitzerpreis (für Band 1) ausgezeichnete Trilogie (Morris 2001/ 1979; Morris 2001; Morris 2010). Weitere einflussreiche politische Biographien sind: Pringle (1931), Mowry (1958), Miller (1992), Brands (1997), Dalton (2002), O’Toole (2005), Brinkley (2009). „I am a part of everything that I have read“. 255 zer John Muir und seinen Mitstreitern im 1892 gegründeten Umweltschutzverband Sierra Club verstand sich Roosevelt jedoch nicht als radikaler preservationist, dem es primär um die Unberührtheit der Natur ging, sondern als moderater conservationist. Als solcher befürwortete er die wirtschaftliche Nutzung der staatlichen Ländereien, solange diese behutsam und im öffentlichen Interesse geschah (vgl. Fishman in Ricard 2007). 3 Außenpolitisch vertrat er das chauvinistische Prinzip, ‚sanft zu reden und einen dicken Knüppel zu tragen‘. Mit dem ‚Knüppel‘ war die amerikanische Kriegsflotte als wichtigstes außenpolitisches Machtmittel gemeint, für deren Ausbau Roosevelt sich stets eingesetzt hatte. 1901 erreichte er durch militärische Intervention in Panama, dass die USA 1903 für immer die Nutzung, Kontrolle und das Okkupationsrecht in der Kanalzone erhielten. 1904 erweiterte er außerdem die Monroe-Doktrin und beanspruchte für die USA das Recht auf Intervention in Lateinamerika in Fällen europäischer Einmischung. 1898 hatte Roosevelt während des spanisch-amerikanischen Krieges sogar sein Amt als stellvertretender Marineminister niedergelegt, sich zum Militär gemeldet, ein „Rough Riders“ genanntes Freiwilligenregiment (der Name spielte auf die berühmte Wildwest-Show Buffalo Bill’s Wild West and Congress of Rough Riders of the World an) mitbegründet und dieses persönlich ins Gefecht geführt (Feess 1999: 24-40). Als Fürsprecher einer globalen Großmachtpolitik verteidigte er die koloniale Besetzung der ehemals spanischen Philippinen durch die USA und reklamierte für sein Land eine Polizistenrolle im lateinamerikanischen Hinterhof. Trotz dieses imperialistischen Gestus’ und einer oft ins Martialische abgleitenden Rhetorik betrieb Roosevelt gegenüber den Großmächten eine realpolitisch ausgerichtete Außenpolitik. Er trat verschiedentlich als internationaler Konfliktvermittler auf und erhielt 1906 für seine Vermittlung eines Friedensschlusses im japanischrussischen Krieg sogar den Friedensnobelpreis (vgl. Wilson in Ricard 2007). Neben seinen politischen Aktivitäten betätigte sich Roosevelt als Historiker, Verfasser von Jagd- und Naturreportagen, eines Kriegserlebnisberichts und einer Autobiographie sowie als politischer Essayist und Literaturkritiker. 4 Er muss geradezu als manischer Schreiber angesehen werden. Roose- 3 Das in den letzten Jahren stark in das Interesse der Forschung gerückte „ökologische“ Bewusstsein Roosevelts würdigt Jack (2001) anhand einer Zusammenstellung seiner naturschriftstellerischen Versuche. Der Band bietet eine interessante Textauswahl. Fragwürdig ist allerdings das Editionsprinzip, Passagen auszulassen, in denen Roosevelts Jägerperspektive („predatory perspective“) allzu deutlich zum Vorschein kommt. Diese war für sein Natur- und Gesellschaftsbild prägend und sollte daher nicht einfach der Konstruktion eines politisch korrekten, ‚grünen‘ Roosevelt zum Opfer fallen. 4 Die wichtigsten Editionen der Schriften und Reden Theodore Roosevelts sind: Roosevelt (1910), Griffith (1919), Hagedorn (1923-1926) (beinhaltet das gesamte schriftstellerische Werk und ist vollständiger als die 20-bändige „National Edition“ von 1926 desselben Herausgebers); Bishop (1926), Roosevelt (1928), Wills (1937), Morrison (1951- Dominik Nagl (Mannheim) 256 velt schuf das nicht nur für einen hauptberuflichen Politiker erstaunliche schriftstellerische Oeuvre von achtunddreißig regulären Büchern und insgesamt mehr als fünzig Buchveröffentlichungen unter seinem Namen, darunter historische und journalistische Arbeiten, politische Pamphlete sowie unzählige Essays, Reden und Briefe (Norton 1980: 1; Morris 2001/ 1979: 135). Ein englischer Kommentator ging sogar soweit zu behaupten, dass Roosevelt ein homme de lettres gewesen sei, der nur zeitweise andere Pflichten übernommen habe. Eines der vielen dem leidenschaftlichen Leser Roosevelt zugeschriebenen Zitate, ist der Ausspruch: „I am a part of everything that I have read.“ Im Hinblick auf die Intensität der emotionalen Anteilnahme und das identifikatorische Begehren, das sich in Roosevelts Schriften manifestiert, könnte der Ausspruch aber genauso lauten: „I am a part of everything that I have written.“ Wie ich im Folgenden zeigen möchte, kann Roosevelts schriftstellerische Tätigkeit auch nicht isoliert von seinem politischen Denken und Handeln betrachtet werden. Sie ist gerade weil (und eigentlich auch nur deshalb) von bleibendem Interesse, weil die Lektüre seiner Schriften einen tiefen Einblick in seine private und politisch-kulturelle Vorstellungswelt eröffnet. Hierbei wird deutlich, dass er persönliche Erlebnisse sowie eine intensive Beschäftigung mit Geschichte, Naturkunde und populären zeitgenössischen Theorien über Evolution, Biologie und Rassen zu einem idiosynkratischen Gedankengebäude verdichtete. Roosevelts schriftstellerisches Schaffen erlaubt es nicht nur sein politisches Handeln intellektuell zu kontextualisieren. Es liefert zugleich beispielhaft einen Einblick die Mentalität und das Selbstverständnis amerikanischer Führungseliten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Roosevelts exzessiver Strebsamkeit in allen Lebensbereichen ist in seiner Kindheit und Jugend zu suchen. Der stark kurzsichtige und an Asthma leidende Roosevelt entwickelte früh eine Obsession, seine schwächliche Konstitution durch die Ausbildung einer betonten ‚Männlichkeit‘ zu kompensieren. Er verordnete sich daher selbst extreme körperliche Betätigung, Tatendrang und insgesamt ein ‚anstrengendes Leben‘ gemäß seinem Credo: „[T]he man who does not shrink from danger, from hardship, or from bitter toil, […] wins the splendid ultimate triumph.“ (Roosevelt 1910: 3). Schon als Teenager tat sich der Sohn eines wohlhabenden und weltläufigen New Yorker Geschäftsmanns als passionierter Schütze und Reiter hervor. Während seines Studiums von 1876 bis 1880 wetteiferte er mit seinen Kommilitonen in Harvard im Boxen und der Ringermannschaft. Zugleich ging er aber auch seinem starken Interesse an Naturkunde und Biologie nach. Dieses hinterließ tiefe Spuren in seinem 1954), Hart/ Ferleger (1989) (beinhaltet eine thematische Zusammenstellung von Zitaten sowie eine umfassende Bibliographie sämtlicher Werke Roosevelts). „I am a part of everything that I have read“. 257 Denken über Politik, Geschichte und Gesellschaft. Roosevelt soll schon mit vierzehn Jahren Darwins Origins of Species gelesen haben und später in Harvard zum Anhänger der lamarckistischen Vorstellung geworden sein, dass Lebewesen auch Eigenschaften an ihre Nachkommen vererben können, die sie während ihres Lebens erworben haben (Dyer 1980: 6; Hawley 2008: 32- 47; Norton 1980: 16f.). Roosevelts Begeisterung für Natur und Biologie war aber nicht nur rein theoretisch. Es führte zusammen mit seiner vitalistischen Lebensauffassung zu einer Begeisterung für das Sammeln und Klassifizieren von Tierarten und das Leben in der Wildnis. Diese intellektuellen Einflüsse sind indessen in Roosevelts erstem wissenschaftlich-schriftstellerischem Werk kaum präsent. The Naval War of 1812 behandelt den britisch-amerikanischen Seekrieg zwischen 1812 und 1815 (vgl. Roosevelt 1910). Die penibel recherchierte Studie, die Roosevelt aus persönlichem Interesse am Ende seines Studiums zwischen 1879 und 1882 verfasste und im Alter von erst dreiundzwanzig Jahren veröffentlichte, etablierte ihn zu einer Zeit in der in den USA die meisten historischen Darstellungen noch von Amateurhistorikern geschrieben wurden als Vertreter einer modernen faktenbasierten Militärgeschichtsschreibung mit wissenschaftlichem Anspruch. Das Werk war gleich bei Erscheinen ein großer Erfolg und sollte nach einem Beschluss von 1886 sogar auf allen Schiffen der U.S. Navy mitgeführt werden. Zwar basiert es fast ausschließlich auf amerikanischen Quellen und ist merklich von einer betont patriotischen, anti-britischen Perspektive, polemischen Ausfällen gegenüber dem britischen Historiker William James sowie einem heute stark befremdlichen englischen Ethnozentrismus durchzogen. Roosevelt kontrastiert etwa die angeblich mutige und überlegene Gelassenheit der „englischen Rasse“ auf beiden Seiten des Atlantiks mit den vermeintlich „verräterischen“ und gewalttätigen Charakterzügen italienischer und portugiesischer Seeleute (Roosevelt 1910: 36). Aufgrund seines Detailreichtums und der Angabe einer Vielzahl überprüfbarer Quellenbelege gilt The Naval War of 1812 aber dennoch bis heute als eine ernstzunehmende Pionierleistung der amerikanischen Militärhistoriographie. Politisch verstand er seine historische Abhandlung über die amerikanische Flotte als eine Mahnung zur Modernisierung der inzwischen veralteten amerikanischen Seestreitkräfte, für die er sich fortan zeitlebens einsetzte. Wie Roosevelt aber interessanterweise sechsundzwanzig Jahre nach Erscheinen dieses eher langatmigen und stilistisch extrem trockenen Fachbuches in einer Rede vor der American Historical Association darlegte, sah er sich wissenschaftlich keinesfalls als Anhänger des Ideals einer positivistischwertneutralen, auf literarische Gestaltungsmittel verzichtenden Geschichtsschreibung. Vielmehr forderte er in fast schon postmoderner Weise eine klare moralische Positionierung des Historikers gegenüber seinem Gegenstand und eine explizit literarisch-ästhetische Darstellungsform ein, ohne Dominik Nagl (Mannheim) 258 hierbei allerdings den Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität aufzugeben: Literature may be defined as that which has permanent interest because both of its substance and its form, aside from the mere technical value that inheres in a special treatise for specialists. For a great work of literature there is the same demand now that there always has been; and in any great work of literature the first element is great imaginative power. The imaginative power demanded for a great historian is different from that demanded for a great poet; but it is no less marked. Such imaginative power is in no sense incompatible with minute accuracy. On the contrary, very accurate, very real and vivid, presentation of the past can come only from one in whom the imaginative gift is strong. The industrious collector of dead facts bears to such a man precisely the relation that a photographer bears to Rembrandt. (Roosevelt 1913a: 8). Erkennbar selbst angestrebt hat Roosevelt die Erfüllung dieses literarischen Anspruchs erst in seinen folgenden Büchern, die sich in dieser Hinsicht stark von seinem sperrigen Erstlingswerk unterscheiden. Er blieb zwar immer einem auf Klarheit des Ausdrucks zielenden, prosaischen Stil treu, gestaltete aber zukünftig seine literarischen und historiographischen Texte wesentlich narrativer. Zunächst verfolgte Roosevelt jedoch auch nach seinem großen Anfangserfolg nicht seine wissenschaftlich-akademische Karriere weiter, sondern seine politische. Diese hatte 1881, also schon ein Jahr vor Erscheinen von The Naval War of 1812 begonnen, als er als Kandidat der Republikanischen Partei zum jüngsten Mitglied des Staatsparlaments von New York gewählt worden war. Nach dem tragischen gleichzeitigen Ableben seiner Frau und seiner Mutter am 14. Februar 1884 zog er sich für eine längere Auszeit aus dem politischen und öffentlichen Leben der Ostküste zurück und kaufte zwei Rinderfarmen im Westen der USA (Collins 1989: 24-31; Morris 2001/ 1979: 230). In den Badlands des ländlichen North Dakota hoffte Roosevelt, durch das anstrengende Leben eines Cowboys und Viehzüchters und die körperliche Betätigung in der Natur das familiäre Trauma zu überwinden. Die Unternehmung erwies sich allerdings wirtschaftlich schnell als Fiasko. 1886 beendete ein harter Winter den jahrzehntelangen Boom der uneingehegten Viehzucht auf der Prärie und raffte auch die meisten Rinder Roosevelts dahin. Das Abenteuer bescherte ihm aber zumindest neue publizistische Erfolge. Mit Hunting Trips of a Ranchman. Sketches of Sport on the northern plains (1885) und Ranch Life and the Hunting Trail (1888) veröffentlichte er gleich zwei Erlebnisberichte, die die Jagd und das Leben an der cattle frontier in populärer Form glorifizierten (vgl. Roosevelt 1900/ 1885; Roosevelt 1899/ 1888). Weniger gut aufgenommen wurden dagegen seine 1887 erschienene Biographie des expansionistischen U.S. Senators Thomas Hart Benton (1782-1858) „I am a part of everything that I have read“. 259 und die 1888 publizierte Lebensgeschichte des Mitverfassers der Unabhängigkeitserklärung Gouverneur Morris (1752-1816), die (ebenso wie seine 1900 publizierte Biographie Oliver Cromwells) als schnell geschriebene und oberflächliche Vehikel zur Verbreitung von Roosevelts politischen und historischen Ansichten angesehen werden müssen (vgl. Roosevelt 1887/ 1914, Roosevelt 1888; Roosevelt 1900). Zwischen 1889 und 1896 folgte dann aber mit The Winning of the West eine höchst erfolgreiche monumentale vierbändige Geschichte des amerikanischen Westens, die auf umfangreichen Quellenstudien in mehreren Bundesstaaten basiert und das Vordringen der europäischen Besiedlung triumphalistisch als Übergang von der Barbarei zur Zivilisation und Geburt einer neuen Nation erzählt (vgl. Roosevelt 1896/ 1889-1896). Roosevelt betrachtete das Werk, obwohl es unvollendet blieb (ein geplanter fünfter und sechster Band wurden nie vollendet), als sein opus magnum. Es kann mit dem Historiker Edmund Morris als „Synthese“ seines bisherigen publizistischen Schaffens bezeichnet werden, die sein patriotisch-„amerikanistisches“ Weltbild in Gestalt eines historischen Nationalepos artikuliert: The Winning of the West, which occupied Roosevelt, on and off, for nearly nine years, was the first comprehensive statement of his Americanism, and, by extension (since he ‘was’ America), of himself. All his previous books had been, in a sense, sketches for this one, just as his subsequent books were postscripts to it, of diminishing historical and psychological interest. One by one, themes he had touched on in the past came up for synthesis and review: the importance of naval preparedness, and effect of ethnic derivations on fighting blood (The Naval War of 1812); the identity of native Americans with their own flora and fauna (Hunting Trips of a Ranchman); the doctrine of Manifest Destiny (Thomas Hart Benton); the need for law and order in a savage environment (Ranch Life and the Hunting Trail); the significance of the United States Constitution (Gouverneur Morris); the problems of free government (Essays in Practical Politics); and the social dynamics of immigration (New York). (Morris 2001/ 1979: 474). Roosevelts Beschäftigung mit dem Thema der Westexpansion entsprach ganz dem Zeitgeist einer Ära, in der die rapide Industrialisierung und Urbanisierung der Vereinigten Staaten mit einer Historisierung und wehmütigen kulturellen Mythologisierung des Westens Hand in Hand ging (Collins 1989: 105-109). 1893 erklärte der von Roosevelts Darstellung beeinflusste Historiker Frederick Jackson Turner in seinem berühmten Aufsatz „The Significance of the Frontier in American History“ rückblickend die koloniale Siedlungsgrenze zum Geburtsort des besonderen amerikanischen Nationalcharakters mit seinem ausgeprägten Freiheits- und Selbstbehauptungswillen und Motor der nordamerikanischen Geschichte (Turner in Faragher 1994: 31-60). Wie der Historiker George Edward White deutlich gemacht hat, Dominik Nagl (Mannheim) 260 diente der frontier-Mythos den Zeitgenossen Jacksons aber nicht nur der nationalen historischen Sinnstiftung, sondern zugleich auch der kollektiven Rückbesinnung auf eine vermeintlich ursprüngliche amerikanische Kultur, die durch die Industrialisierung und den damit einhergehenden rapiden gesellschaftlichen Wandel zunehmend bedroht schien (White 1968: 79-93). Ein wesentlicher Aspekt war hierbei der Wunsch zur Restauration, der durch die emaskulierenden Einflüsse der modernen Industriegesellschaft in die Krise geratenen weißen männlichen Geschlechtsidentität (Bederman 1996: 170-216; Watts 2003: 29-56). Populäre Western-Romane wie Owen Wisters The Virginian feierten um die Jahrhundertwende nostalgisch das einfach Leben der Cowboys an der frontier als untergegangene Utopie männlicher Selbstbehauptung (Hine/ Faragher 2000: 472-511). Bei Roosevelt vermischten sich eine individuelle jungenhafte Obsession mit der eigenen Maskulinität mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherung über die Geschlechterrollen. Roosevelt beschreibt in seiner Autobiographie von 1913 den Westen als Ort, an dem er physisch und psychisch regenerieren und seine Männlichkeit erblühen konnte (Roosevelt 1913b: 103-145). Ausdruck hiervon ist seine atavistische Jagdbegeisterung und die Idealisierung von Cowboys zu tugendhaften Gestalten, die keine Lügen, Heucheleien und Falschheiten in ihrer weitgehend frauenlosen Welt dulden. Die Erfahrungen im Westen und das damit verknüpfte Ideal einer ,unverweichlichten‘ Männlichkeit blieben für sein gesamtes Leben prägend; egal ob er sich im spanisch-amerikanischen Krieg freiwillig zum Kampfregiment der Rough Riders meldete, sich in der Öffentlichkeit als hypermaskuliner Cowboy-Präsident und imperialistischer Großmachtpolitiker stilisierte, sich als Naturschützer engagierte oder er als Großwildjäger und Jagdschriftsteller auftrat. Die von Roosevelt propagierte Variante des frontier-Mythos weist aber auch eine Reihe von Besonderheiten auf. Der amerikanische Kulturwissenschaftler Richard Slotkin sieht in Frederick Jackson Turners frontier-Narrativ sogar einen dichotomischen Gegenentwurf zu Roosevelts Vorstellungen (Slotkin 1981: 608-637). Slotkin betont, dass bei Turner die vermeintlich friedlich das Land bestellenden Farmer im Mittelpunkt einer schwarmartigen Expansionsbewegung stehen. Bei Roosevelt ist dies ganz anders. Er weist dem Typus des vereinzelten und einzelgängerischen Jägers mit europäisch-ritterlichen Charaktereigenschaften, der sich in der Wildnis zugleich die Fähigkeiten der Indianer aneignet, die Heldenrolle bei der Besiedlung des Westens zu. Dieser Mittlerfigur zwischen Zivilisation und Wildnis haften deutliche Anklänge an James F. Coopers Romanfigur Lederstrumpf an. Sie wurde im 19. Jahrhundert schnell zu einem festen Topos in der Gattung der entstehenden Wildwestliteratur. In vielen dieser Erzählungen ist der Farmer nur Nebenfigur des eigentlichen Helden: einer dynamischen Jägergestalt mit aristokratischen Zügen. Als Inspirationsquelle dienten Roosevelt aber auch reale Personen wie Daniel Boone, der im späten 18. Jahrhundert „I am a part of everything that I have read“. 261 Kentucky erkundete. Roosevelt sah in Boone keine singuläre Erscheinung, sondern die Verkörperung des Typus des Wild-West-Pioniers schlechthin. Boone steht pars pro toto für alle Männer seines Schlages, die den Westen als Vorhut für die weitere Besiedlung durch Farmer erschlossen. Roosevelt betont hierbei die konflikthafte und kämpferische Dimension des frontier- Lebens. Sie wirkte seiner Meinung nach im Guten wie im Schlechten als eine Art sozialdarwinistisches Selektionsprinzip: „The two extremes of society, the strongest, best, and most adventurous, and the weakest, most shiftless, and vicious, are those which seem naturally to drift to the border.“ (Roosevelt 1889/ 1896a: 135) Bei dem Ostküstenintellektuellen Frederick Jackson Turner figuriert die frontier anders als bei Roosevelt als nostalgischer Gegenentwurf zu einer zunehmend von Profitstreben und Industrieproduktion gekennzeichneten Gegenwart. Sie repräsentiert das Ideal einer egalitären agrarischdemokratischen Republik. Im Gegensatz hierzu begriff Roosevelt als evolutionistisch denkender und fortschrittsgläubiger Politiker die frontier nicht als Kontrapunkt der Gegenwart, sondern als deren Rechtfertigung. Sie war der Ort, an dem sich die Tüchtigen und Tugendhaften bewährt und eine aus allen Klassen, Nationen und Ethnien zusammengesetzte amerikanische Leistungselite herausgebildet hatte. Eine weitere, im direkten Zusammenhang mit dieser sozialdarwinistischen Sichtweise stehende Besonderheit von Roosevelts frontier-Narrativ ist ein biologische und kulturelle Elemente vereinendes Rasseverständnis. Dieses nahm in seinem Denken eine Schlüsselstellung ein und schlug sich auch in Roosevelts Geschichtsbild nieder. Für Roosevelt war die wichtigste Wirkung der frontier die Hervorbringung des Amerikaners als neuem Menschenschlag, den er auch als neue „Rasse“ bezeichnete. Bereits in seiner Biographie Thomas Hart Benton hatte er diesen Prozess der Genese des amerikanischen Volkes anschaulich geschildert: In a generation or two, all, whether their forefathers were English, Scotch, Irish, or, as was often the case, German and Huguenot, were welded into one people; and in a very short time the stern and hard surroundings of their life had hammered this people into a peculiar and characteristically American type, which to this day remains almost unchanged. (Roosevelt 1914/ 1887: 3). Der erste Band von Roosevelts ‚Geschichte des Westens‘ beginnt konsequenterweise mit einem Kapitel über die weltweite „Ausbreitung der Englisch sprechenden Völker“, welches er als das wichtigste und folgenreichste Ereignis der letzten dreihundert Jahre bezeichnet. Im Folgenden vergleicht er dann die Wanderungen anderer „Rassen“ wie der Germanen in der Antike und Spätantike mit dem Verlauf der Geschichte der „englischen Rasse“ (Roosevelt 1896/ 1889a: 1-28). Als entscheidende Besonderheit des engli- Dominik Nagl (Mannheim) 262 schen Falls erscheint ihm die angeblich „unverwässerte“ und ununterbrochene Kontinuität einer angelsächsischen nationalen Identität seit den Tagen Alfreds des Großen im neunten Jahrhundert, die er auf teutonisch-germanischen Ursprüngen begründet sieht. Mit der Expansion auf den amerikanischen Kontinent habe sich das englische Element dann aber mit anderen Einflüssen verbunden und so zur Geburt eines neuen Menschentypus geführt: [I]t is well always to remember that at the day when we began our career as a nation we already differed from our kinsmen of Britain in blood as well as in name; the word American already had more than a merely geographical signification. Americans belong to the English race only in the sense in which Englishmen belong to the German. The fact that no change of language has accompanied the second wandering of our people, from Britain to America, as it accompanied their first, from Germany to Britain, is due to the further fact that when the second wandering took place the race possessed a fixed literary language, and, thanks to the ease of communication, was kept in touch with the parent stock. The change of blood was probably as great in one case as in the other. (Roosevelt 1896a/ 1889: 20). Roosevelt sah diese Entwicklung grundsätzlich positiv. Seine allgemein bekannte Unterstützung für die Idee der Assimilation brachte den britisch jüdischen Schriftsteller Israel Zangwill 1908 sogar dazu, sein berühmtes Theaterstück The Melting Pot Theodore Roosevelt zu widmen (Doorsey 2007: 14-45; Taubenfeld 2008: 13-40). Roosevelts ausgestreckte Hand des Willkommens galt allerdings nur Europäern. Nichtweiße Einwanderer aus Asien und Lateinamerika betrachtete er wegen ihrer ‚rassischen‘ Verschiedenheit als grundsätzlich nicht ‚amerikanisierbar‘. Zwar hegte Roosevelt zumindest für die japanische Kultur und Großmachtpolitik eine gewisse Bewunderung und sinnierte darüber, dass die Japaner, obwohl eine „fernöstliche“ und „nichtarische Rasse“, den Amerikanern möglicherweise in mancherlei Hinsicht näher stünden als die Russen. Er hielt jedoch selbst Japaner für keinen wünschenswerten Zuwachs im amerikanischen melting pot und befürwortete deren informelle Exklusion von der Einwanderung im sogenannten Gentlemen’s Agreement von 1907 (Dyer 1980: 138-140). Auch Schwarze („a perfectly stupid race“) passten nicht in Roosevelts mythologisch-nationalistische Konstruktion einer „amerikanischen Rasse“, die er sich nur als weiß imaginieren konnte. Afroamerikaner hielt er für rückständig und den Weißen in ihrer zivilisatorischen Entwicklung um Jahrtausende unterlegen (Bederman 2003: 197). Politisch und persönlich schätzte Roosevelt allerdings Booker T. Washington und nahm in der Frage afroamerikanischer Bürgerrechte eine schwankende Haltung ein (Burns 2007: 203). Von rassistischem und sozialdarwinistischem Gedankengut durchdrungene Auslassungen prägen auch die Passagen in The Winning of the West, in „I am a part of everything that I have read“. 263 denen sich Roosevelt mit der indigenen Bevölkerung beschäftigt. „Aus Sicht der Frontier-Siedler“, lässt er seine Leser im zweiten Band dieses Werkes wissen, „war der [indianische] Krieger kein Geschöpf von Romantik. Sie sahen ihn, wie er wirklich war - schmutzig, grausam, lüstern und ohne Glauben“ (Roosevelt 1896/ 1889b: 147f.). Für Roosevelt befanden sich die meisten nordamerikanischen Indianerstämme zivilisatorisch noch auf dem Niveau der niedrigsten Kulturstufe der Menschheit. Sie waren nicht nur „Barbaren“, sondern auch „Wilde“, weshalb die frontier zugleich eine historisch-zivilisatorische Schwelle markierte. Im Zuge des unvermeidlichen Fortschritts der Geschichte war seiner Auffassung nach die unterlegene indigene Seite dem Untergang geweiht: „They [the Indian and the frontiersmen] represented two stages of progess, ages apart; and it would have needed many centuries to bring the lower to the level of the higher.“ (Roosevelt 1896/ 1894: 17). Der im 19. Jahrhundert verbreitete Topos von den Indianern als einer tragischen „verschwindenden Rasse“, stand bei Roosevelt in direktem Zusammenhang mit einer rassistisch-sozialdarwinistischen Geschichtsphilosophie des Kampfes. Der Konflikt über die Herrschaft auf dem amerikanischen Kontinent war demnach ein unvermeidlicher Krieg zweier unterschiedlicher Rassen: On the border between civilization and barbarism war is generally normal because it must be under the conditions of barbarism. Whether the barbarian be the Red Indian on the frontier of the United States, the Afghan on the border of British India, or the Turkoman who confronts the Siberian Cossack, the result is the same. In the long run civilized man finds he can keep the peace only by subduing his barbarian neighbor; for the barbarian will yield only to force. (Roosevelt 1899: 29). Analog zu diesen Vorstellungen stellte für ihn letztlich auch die koloniale Expansion der USA nur die Fortsetzung dieses Prozesses und die Erfüllung des Manifest Destiny der amerikanischen Nation dar. Die Kolonisierung der Philippinen begriff er als überseeische Verschiebung der amerikanischen frontier nach Asien, wenngleich hier nicht die Besiedlung durch die Europäer, sondern die Zivilisierung und Erziehung der einheimischen Bevölkerung im Vordergrund stand: „ If we ought to leave the Philippines now, then we ought to leave Alaska; indeed we ought to leave [New York] to the Indians.“ (Holmes 2006: 73) Dieses Geschichts- und Gesellschaftsbild korrespondierte mit einer sozialdarwinistischen Naturauffassung, die durch das Prinzip des survival of the fittest geprägt war. Bemerkenswerterweise entwickelte der passionierte Großwildjäger dennoch schon in den 1880er Jahren eine Sensibilität für das rasante Tempo der Zerstörung natürlicher Lebensräume durch das Vordringen von Siedlern und Eisenbahnen in den Westen und äußerte sich scho- Dominik Nagl (Mannheim) 264 ckiert über die Ausrottung der Büffel. Obwohl er diese selbst gejagt hatte, beschrieb er 1885 ihre toten Gebeine in Hunting Trips of Ranchman als „melancholische Denkmäler ihrer früheren Existenz“ und erkannte die Notwendigkeit „strenger Gesetze“ zum Schutz der letzten dieser Tiere (Roosevelt 1900/ 1885: 245). Roosevelts frühes, vehementes und lebenslanges Eintreten für die Einrichtung von Natur- und Tierschutzgebieten sowie eine nachhaltige Forstwirtschaft stand jedoch in keinem Widerspruch zu seiner Begeisterung für die Jagd, sondern speiste sich geradezu aus dieser Vorliebe. Er stand damit in Kontinuität von aristokratischen Jagdfreunden in England, die sich schon seit langem zur Erhaltung des Wilds und der Jagdräume für Tierschutzgebiete einsetzten. Roosevelt setzte diese Tradition fort unter den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der demokratischen, nationalistischen und sich industrialisierenden Vereinigten Staaten. Er war 1887 Mitbegründer des Boone and Crocket Club, einer elitären Jäger- und Naturschutzgesellschaft mit einflussreichen Mitgliedern aus Politik und Wirtschaft. Der Verein engagierte sich zugleich für die „Förderung des männlichen Sports mit dem Gewehr“, das naturkundliche Studium der Wildnis und der Tierwelt sowie die Verabschiedung und Durchsetzung von Gesetzen zum Schutz des Großwilds (Brinley 2009: 201-207). In seinen journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten zeigte Roosevelt zwar auch Sinn für den ästhetischen Reiz schöner Landschaften und schwelgte bei ihrer Beschreibung nicht selten in einem ausgesprochen poetischen Stil. Zugleich verwahrte er sich aber entschieden gegen eine sentimentale Verklärung und Romantisierung der Tierwelt und ihrer Lebensgesetze. Sein Drang zum Ideal einer authentischen, d. h. naturalistisch-realistischen Repräsentation der Natur in der Literatur führte schließlich sogar dazu, dass sich Roosevelt öffentlich als Literaturkritiker betätigte und in die sogenannte Nature Faker-Kontroverse intervenierte, die zwischen 1903 und 1907 die Gemüter von Schriftstellern und literarisch interessierten Zeitungslesern in den Vereinigten Staaten erregte (vgl. Lutts 1990). Kern dieser aus heutiger Sicht reichlich kuriosen Debatte, war die Frage, ob Naturschriftsteller Tiere vermenschlicht, also mit anthropomorphen Zügen, darstellen dürften. Genau dies taten Autoren wie Ernest Thompson Seton (Wild Animals I have known) und William J. Long (School of the Woods), die mit Erzählungen große Publikumserfolge feierten, in denen Wildtiere mit noblen menschlichen Charaktereigenschaften als Protagonisten auftraten (Burroughs in Lutts 1998: 129- 143). Als im März 1903 der damals berühmteste amerikanische Naturschriftsteller John Burroughs unter dem Titel Real and Sham Natural History eine Invektive gegen diese Autoren veröffentlichte, trat er damit eine von der New York Times als „Krieg der Naturalisten“ bezeichnete feuilletonistische Debatte los (Lutts 1990: 37-68). Sie ebbte erst vier Jahre später endgültig ab, als Theodore Roosevelt seinem Freund Burroughs öffentlichkeitswirksam „I am a part of everything that I have read“. 265 mit einem Artikel gegen die von ihm als „Natur Faker“ verunglimpften Autoren zur Seite sprang (Roosevelt in Lutts 1998: 192-198). Inhaltlich kreiste die Kontroverse, hauptsächlich um die Frage, ob Tiere intelligent und lernfähig genug seien, um menschenähnliche Verstandes- und Charaktereigenschaften zu entwickeln, wie dies die moralisch und vernünftig handelnden Tiere in den Erzählungen von Seton und Long nahelegten. Deutlich ist, dass beide Seiten von einem vermeintlich authentischnaturalistischen und wissenschaftlich-aufgeklärten Standpunkt zu argumentieren beanspruchten. Die als „Nature Faker“ kritisierten Autoren wie Jack London verteidigten ihre Arbeiten als „realistisch“ und wähnten sich ebenso wie ihre Kritiker auf dem Boden der darwinschen Evolutionslehre. Sie glaubten diese sogar besser zu verstehen als ihre Kritiker und leiteten aus eigenen Beobachtungen ab, dass Tiere nicht nur Instinkt gesteuert, sondern auch zu moralischem und vernünftigem Handeln befähigt seien (London 1908; London in Lutts 1998: 199-210). Unter Berufung auf seine Autorität als erfahrener Naturkundler und Großwildexperte konnte sich Theodore Roosevelt in diesem Streit als strenger wissenschaftlicher Kritiker literarischer Tierfiktionen gerieren, die ihren Lesern dreist als Fakten präsentiert wurden. Gefährlich erschienen ihm die „Nature Faker“ vor allem deshalb, weil deren gefühlige und moralisierende Erzählungen die amerikanische Bevölkerung sittlich desorientieren und vom „richtigen“ Gebrauch der Natur abringen könnten. Wie deren förderliche, der seelischen Gesundheit der Nation zuträgliche Nutzung aussah, hatte er bereits in seinem 1893 erschienen Buch The Wilderness Hunter in einer Passage dargelegt, die die Quintessenz seines Natur-, Männer- und Gesellschaftsverständnisses einmal mehr als anachronistisches Jägerutopie artikuliert. Dieses Ideal postulierte Roosevelt als zeitloses Leitbild individueller männlicher Charakterbildung und Quelle nationaler Tugendhaftigkeit: In hunting, the finding, and killing of the game is after all but a part of the whole. The free, self-reliant, adventurous life, with its rugged and stalwart democracy; the wild surroundings, the grand beauty of the scenery, the chance to study the ways and habits of the woodland creatures—all these unite to give to the career of the wilderness hunter its peculiar charm. The chase is among the best of all national pastimes; it cultivates that vigorous manliness for the lack of which in a nation, as in an individual, the possession of no other qualities can possibly atone. (Roosevelt 1893: 13). Dominik Nagl (Mannheim) 266 Literaturverzeichnis Bederman, Gail: Manliness and Civilization. A Cultural History of Gender and Race in the United States, 1880-1917. Chicago 1996. Bishop, Joseph Bucklin (Hg.): Letters to His Children. New York 1926. Brands, H. W.: T. R. The Last Romantic. New York 1997. Brinkley, Douglas: The Wilderness Warrior. Theodore Roosevelt and the Crusade for America. New York 2009. Burns, Adam D.: „Half a Southener“. 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Ich muß nur noch das hineinflechten, was an neuen Problemen den heutigen Menschen erschüttert [...] Im Herbst regt sich immer wieder der Schöpfergeist in mir. Mein Gebet: ‚Komm heiliger Geist, der alles schafft.‘ (Goebbels 1992: 127) Als der spätere nationalsozialistische Propagandaminister Joseph Goebbels im Spätsommer 1924 in seinem Tagebuch ein neues literarisches Projekt erwähnte, sagte er damit trotz der Trivialität seines Ansatzes („Liebesroman“) und einer unverkennbaren Selbstüberschätzung einiges über die Bedeutung der Literatur aus. Goebbels spricht von Literatur als einer Kunst, die als ästhetisches Artefakt für den Schöpfer eine Herausforderung („künstlerisches Problem“) ist und der Inspiration bedarf, die in der individuellen Erfahrung wurzelt, dennoch mit dem kollektiven Trauma der Zeit verbunden sein soll: der Autor als poeta doctus, poeta vates und poeta faber in einem. Mit diesem aus Tradition und Moderne amalgamierten Literaturbegriff lässt Goebbels sich durchaus in die zeitgenössische deutsche Kulturlandschaft einordnen, in der er sich als Schriftsteller zu jener Zeit mit mehreren literarischen Entwürfen im expressionistischen Stil versucht hatte. Neben (meist unveröffentlichten) Gedichten und Dramen, wie der „biblischen Tragödie“ Judas Iscariot und Arbeiterdramen wie Heinrich Kämpfert und Die Saat, war Goebbels auch der Verfasser eines Romans Michael Voormann. Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern, den er 1923 in einer ersten Version fertig schrieb, aber erst 1929, umgeschrieben als Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, beim nationalsozialistischen Parteiverlag Eher veröffentlichte (Reuth 1992: 4, vgl. Barnett 2001, Möbus 2007: 95-99). Mitte Dezember 1928 heißt es in seinem Tagebuch dazu: „Ich warte mit Schmerzen auf den ‚Michael‘.“ (Goebbels 1992: 343) Wie man auch die literarische Qualität des Schriftstellers beurteilen mag (vgl. Möbus 2007; Thomas 2000), sachverständig war Goebbels insofern, als er promovierter Literaturwissenschaftler war und, wie seine Tagebücher Anke Gilleir (Leuven) 270 zeigen, ein überdurchschnittlich breit interessierter Leser. Vor allem diese letzte Feststellung, die in der Forschung zu Goebbels kaum verfolgt wird, bietet die Möglichkeit den Zusammenhang von Politik und Literatur aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Der Dialog mit der Literatur zeigt sich schon symptomatisch in den vielen literarischen Zitaten und Paraphrasen, die seine Tagebücher durchziehen, von Shakespeare über Goethe und Fontane bis zu einer an Kurt Schwitters „Anna Blume“ erinnernde Phrase wie: „Preisfrage: kommt Krieg oder nicht? Wenn ja, wer gegen wen? “ (Goebbels 1992: 891). Über die bloß oberflächlichen Formen der Intertextualität hinaus aber handelt es sich hier um genuine Literaturrezeption, um die Sicht des Literaturlesers - nicht des verfehlten Dichters -, der seinen Mangel an Begabung mit (nach Frank Möbus) ‚luziferischer Propagandaarbeit‘ zu kompensieren versuchte. Im Vorwort zur Ausgabe von Goebbels’ Reden merkt Helmut Heiber an, dass, entsprechend ihrer Entstehungsgeschichte „als Sammelbecken aller nur denkbaren Ressentiments“, die nationalsozialistische Partei, noch weniger als andere, „Menschen von Format“ vorzeigen konnte. (Heiber 1971: XIII) „Unter all den hypertrophierten Blockwaltern aber - die in der Regel auch so aussahen, wie sie waren - sind ganze zwei Kandidaten ausfindig gemacht worden“ (Heiber 1971: XIII), die man so kategorisieren könnte, und zu denen wird Goebbels gerechnet. Der Begriff „Format“ soll hier nicht als Anfang einer heillosen Diskussion über Goebbels’ intellektuelle Kapazitäten dienen, betont seien damit lediglich die literarische Bildung und der kulturelle Habitus des Propagandisten. Diese werden weniger in seinen zahllosen öffentlichen Reden und Schriften offenkundig; vielmehr zeigen sich die Ergebnisse seiner vielseitigen Lektüre primär in den Tagebüchern jenseits der Öffentlichkeit, das heißt in jenem Diskursfeld, in dem die Literatur nahezu verschwindet. Dass die Spur des Literarischen sich verflüchtigte, hatte zum Teil ganz pragmatische Gründe. Ab 1941 hörte Goebbels auf, selber Tagebuchnotizen zu machen und diktierte stattdessen nur noch seinem Stenographen, der die Diktate nachher auf einer Schreibmaschine übertrug. (Reuth 1992: 6) Damit verlor das Tagebuch seinen privaten Charakter und wurde zum Annex des politischen Diskurses. Eine Form der Selbstzensur setzte aber schon einige Jahre vorher ein. 1936 verkaufte Goebbels die Rechte an seinem Tagebuch an Max Amann mit der Bedingung, es zwanzig Jahre nach seinem Tod veröffentlichen zu lassen. (Goebbels 1992: 996) Mit diesem Vertrag realisierte er eine Intention, die er vermutlich schon seit längerem hegte und die wohl mit seinem Aufstieg als politischer Protagonist zusammenhing. (vgl. Patin 2009: 84f.) Im Grunde war Goebbels die öffentliche Person par excellence. Nicht als Politiker oder ‚Parteibonze‘, sondern als Propagandist, das heißt als Wort und Stimme der Naziideologie und Regisseur des Regimes, schaffte und verkörperte er nahezu buchstäblich den imaginären Raum des Nationalsozialismus. In seinen Tagebüchern zeigt sich, wie genau der Minister die Spek- Schwund der Imagination. Joseph Goebbels und die Literatur 271 takel der Partei bis ins kleinste Detail inszenierte und wie verärgert er auf dilettantisches Scheitern reagierte. Dass die Tagebücher in dieser Hinsicht zunehmend als Teil dieser politischen Manifestation konzipiert wurden, verwundert kaum. Die Reichspropaganda von Goebbels erinnert auf den ersten Blick an den berühmten Schlusssatz aus Walter Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in dem er feststellt, dass im Faschismus „die Menschheit ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss [erlebt].“ (Benjamin 1991 [1939]: 508) Der Vergleich der Nazipropagandamaschinerie mit Benjamins Fazit über die Ästhetisierung der Politik im italienischen Faschismus hinkt aber, denn die Überleitung ästhetischer ‒ vor allem modernistischer ‒ Wertvorstellungen ins Politische, die sich im Regime von Mussolini zeigen, lief in Deutschland in entgegengesetzter Richtung. Die nationalsozialistische Gleichschaltung war alles andere als ein Austausch von Politik und Modernismus, es war die komplette Unterwerfung der Kunstpraxis unter die Ideologie, die Politisierung der Kultur, die Goebbels im November 1930 anlässlich eines Rundfunkgesprächs mit Erwin Piscator in einer rhetorisch geschickten Wendung propagierte: [...] wir stehen ja beide auf dem Standpunkt, daß die Politik das Primäre ist, und daß die Kultur nur ein Ausdruck des politischen Zustandes ist. Ich stimme mit Ihnen überein in der Ansicht, daß es heute keine tendenzlose Kunst mehr gibt. Aber während Sie die Kunst in den Dienst einer Klasse oder einer internationalen Ideologie stellen wollen, die im Innersten amorph und tot ist, will ich sie stellen in den Dienst einer lebendigen Volksidee. (Piscator 1986: 290) Wenn die Tatsachen auch hinreichend bekannt sind, ist damit das ‚Warum‘ jener Eliminierung der modernen Kultur noch nicht geklärt: „By 1939 it looked as though the nazis had eradicated modernism from the culture of their country. Why? “ (Darnton 1991: 29) Einige Gründe für den Hass gegen die Moderne liegen auf der Hand, doch, wie Robert Darnton in einer Analyse der notorischen Ausstellung Entartete Kunst von 1937 anmerkt, kann nicht alles auf intellektuelle Derbheit oder Einfältigkeit zurückgeführt werden: „Everything seemed to fit: populism, Weimar-bashing, the need for legitimation, the frustrations of mediocre and marginalized intellectuals in the face of an established art elite. Yet the antimodernism of the Nazis defies comprehension, partly because of its sheer virulence.“ (Darnton 1991: 30) Wie noch nie zuvor in der Kunstgeschichte wurde eine Grenze zwischen guter und schlechter Kunst gezogen, immer wieder jedoch verstrickten die Nazis sich bei ihren Erklärungen in Widersprüche und Inkonsistenzen. (Darnton 1991: 30) Als Joseph Goebbels in einer öffentlichen Rede zur oben erwähnten Ausstellung auf die Notwendigkeit verwies, „Deutlichkeit zu schaffen in einer Umgebung, wo die Umstände sonst nicht aufgehört hätten, einen di- Anke Gilleir (Leuven) 272 rekten Schlag ins Gesicht des nationalsozialistischen Begriffs von Volk, Staat und Kultur zu sein“ (zit. n. Darnton 1991: 30), so war damit wenig geklärt. Einiges von der Verwirrung wird indes klar aus einem Zwischenfall bei der Münchener Ausstellung, den Goebbels schadenfroh in sein Tagebuch notiert: Verfallsausstellung angeschaut. Dann kommt auch der Führer dahin. Das ist das Tollste, was ich je gesehen habe. Glatter Wahnsinn. Wir nehmen nun keine Rücksicht mehr. Auch Stücke von Prof. Marcks, den Rust in die neue preußische Akademie der Künste berufen hat. Zur Ausrichtung im Sinne des Nationalsozialismus. Der Führer ist wütend. Rust wollte seinem Zorn entfliehen, und (! ) das Gegenteil ist der Fall. (Goebbels 1992: 1104) Parolen, Undeutlichkeit und Wetteifer, - weder aber über die „entartete Kunst“ selber noch über das Werk von Gerhard Marcks lässt Goebbels sich aus. Über das Fest im Haus der deutschen Kunst, das am nächsten Tag veranstaltet wurde, heißt es indesssen: „Ein echter Tag der deutschen Kunst mit dem ganzen Volk. Künstlerfest auf der Terasse (sic) des Hauses der deutschen Kunst. Nicht gut organisiert, langweilig und stumpfsinnig.“ (Goebbels 1992: 1105) Diese Andeutung eines Geistesmangels steht im Widerspruch zur Rhetorik der Klarheit, die Goebbels in seiner Ansprache verwendete, sie offenbart aber das grundsätzliche Problem der ‚richtigen‘ Ästhetik, die sich vor allem in der Literatur als unmöglich darstellte. Das Problem mit der ideologisch 'richtigen' Kunst bringt Darnton auf den Punkt: Their art would correspond in a positive way to ‚things as they really are‘ ‒ that is to truth and beauty as it had been formulated by the Greeks and transmitted to the present through the blood and soil of Germany. But however simple their notions of aesthetics, the Nazis could not get around the problematic side of mimesis. For artists do not merely record reality. They also organize it. And in attempting to get reality right, they confront a dangerous array of contradictions and ambiguities. (Darnton 1991: 30) Als Oscar Wilde, den Goebbels gelesen hatte, behauptete, dass die Kunst nicht das Leben abbildet, sondern die ästhetischen Normen setzt, nach denen das Leben wahrgenommen wird, formulierte er eine Ansicht, die auch jenseits seines anti-mimetischen Ästhetizismus in der westlichen Kultur heute standardisiert ist. 1 Kunst steht der ‚Klarheit‘ im Wege, es sei denn sie 1 In diesem Zusammenhang sei auf das Fazit Jacques Rancières hingewiesen: „It is vain to oppose the illusion of those who believe in the absoluteness of literature to the wisdom of those who know the social conditions of its production. Literature as an expression of the individual genius and literature as the two versions of a single text; they express one and the same mode of perception of works and the art of writing.“ (Rancière 1998: 70) Schwund der Imagination. Joseph Goebbels und die Literatur 273 evoziert eben jene Form der Klarheit, die programmatisch in der physischen Dimension des Lebens durchgesetzt werden soll. Darin liegt ihre Bedrohung und Faszination, darin liegt die Kluft zwischen dem Propagandisten und dem Leser Goebbels, der letztendlich die Literatur zugunsten des Politischen aufgab und die Spuren seines literarischen Engagements auswischte. Es ist also nicht nur der Zeitmangel des Politikers, der ihn von der Literatur entfernte, sondern die Art der Literatur selber, die ihn als Leser immer wieder in Verwirrung brachte und ihn deshalb immer wieder den Königsweg der politischen Eindeutigkeit abzusperren drohte. Es ist allerdings bemerkenswert, dass der Minister für Reichspropaganda und Kultur von seiner Schlüsselposition im gleichgeschalteten Kulturbetrieb keinen Gebrauch machte, um seine literarischen Produkte an die Öffentlichkeit zu bringen, was im totalitären System zu hohen Auflagen geführt hätte ‒ außer dem Roman Michael, den er wie bereits erwähnt, umschrieb. Dichten und Lenken hat er selber nicht verknüpft. Er, der, wie Frank Möbus anmerkt, nie eine Unterschrift setzte ohne seinen Doktortitel hinzuzufügen, ließ, nachdem er Reichsminister für Propaganda geworden war, seine Dissertation Wilhelm von Schuetz und das Drama der romantischen Schule aus der Universitätsbibliothek in Heidelberg entfernen und veränderte den Umständen entsprechend den Titel: Die geistig politischen Strömungen der Frühromantik. (Riess 1948: 8) Dies lässt sich als machtpolitische Kosmetik an seinem wissenschaftlichen Frühwerk interpretieren. Mit der Titeländerung soll suggeriert werden, wie früh Goebbels sich schon im Denken politisch engagiert hatte, zugleich aber ist sie nichts weniger als die Kündigung seiner geistigen Mitbürgerschaft in der Welt der Literatur. Goebbels schaffte stattdessen eine andere Welt (ein anderes ‚Werk‘) mit seiner Propagandaarbeit und leistete damit den wesentlichen Beitrag zum institutionellen Diskurs, der die Grenzen der diskursiven Formierung mit den Grenzen der Gemeinschaft übereinstimmen lassen wollte. (Laclau 2005: 81) Diese Übereinstimmung propagierte er ab Mitte der zwanziger Jahre unentwegt in seinen Auftritten in ganz Deutschland und nach der Machtergreifung in seiner Funktion als Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, dem auch die Kultur untergeordnet ist. Im August 1933 schreibt er in sein Tagebuch: „Mein Amt: bekommt alles, was Inspiration bedarf. Soll nicht von Verwaltung und Bürokratie erdrückt werden.“ (Goebbels 1992: 829) Doch der Freiraum der Imagination, den er hier zu suggerieren scheint, ist zu dem Zeitpunkt schon im Verschwinden begriffen, genau wie Goebbels’ ehemalige Identifikation mit ihr. Der Ausblendungsprozess lässt sich anhand unterschiedlicher Aufenthalte in Weimar illustrieren. Mitte August 1924 nimmt er Teil am „Nationalsozialistischen Kongress“ und besucht damit das erste Mal die Stadt par excellence des deutschen ‚Geisteswesens‘. Die Beschreibung seiner Ankunft mit dem Zug trägt unverkennbar den Unterton von Stefan Georges Gedicht „Goethe-Tag“: „Eine rote Stadt Anke Gilleir (Leuven) 274 leuchtet: Weimar! “ (Goebbels 1992: 132) Die Euphorie über den materialisierten Geist hält sich auch bei näherer Erkundung: „Ich denke bei jedem Schritt an Goethe. Weimar ist Goethe. Eine Stadt der zuchtvollen Geschlossenheit und einer vollen, runden Harmonie. Ich treffe alle Erwartungen in mir vollendet. Ja, dieses prächtige Weimar. Ein Platz der gesegneten Kultur einer schöneren Zeit.“ (Goebbels 1992: 132) Wesentlich ist, dass Goebbels das Weimar Goethes in sich vollkommen im Einklang findet mit der Stadt, in der er sich jetzt aufhält, die Imagination hält der Realität stand, formiert sie gar. Ein probates Antidot gegen den literarischen Traum ist die begeisterte Masse der Nazis, die zur Parteiveranstaltung in Weimar herbeigeströmt ist und die ‚heilige Stadt‘ regelrecht besetzt. Einigen Widerstand leistet - der obwohl selbst mitunter von Begeisterung erfüllte - Goebbels dennoch gegen jene politische Realität, die die Welt in ihm befleckt: „Ich schäme mich etwas des lauten Geräusches in Weimar, wenn ich an Goethe denke.“ (Goebbels 1992: 134) Goethe ist das Geistesideal, zu dem er aufsieht. Dennoch ist es vor allem der von Goebbels als zerrissen, gequält und unruhig imaginierte Schiller, dem er sich verwandt fühlt. In diesem Gefühl wird er durch eine wortlose Begegnung im Schillerhaus bestätigt: Ein Mensch stirbt, ohne fertig geworden zu sein. Der Titane wird gestürzt und der Götterliebling. Goethe darf alles zu Ende dichten. Tragik des Lebens. Da hängt ein Bild von Schiller. Ich meine, eine Ähnlichkeit im Schnitt mit mir feststellen zu können. Eine Dame steht vor dem Bild, betrachtet es aufmerksam, schaut mich einen Augenblick an und wird dann ganz verwundert und so etwas wie entsetzt. Ich merke, sie hat auch diese Ähnlichkeit entdeckt. [...] Ich bitte dem großen Kämpfer und Dulder manches ab. Ich machte ihn zu klein - und Goethe vielleicht zu groß. Vielleicht weil ich selber zu viel Schiller bin und mehr Goethe vergeblich verlangte. (Goebbels 1992: 138) Ob die Anekdote stimmt oder einem Wunschdenken entsprungen ist, ist weniger von Bedeutung als die Feststellung, welche reale Dimension die Literatur hier erlangt. Die emphatische Rhetorik, die Goebbels für das Heraufbeschwören von Goethe und Schiller verwendet, unterscheidet sich vom Stakkato seiner Beschreibung der Parteiversammlung, die aus einem abrupten Nebeneinander von Erregung und Skepsis besteht. Der Mythos Goethe schwingt hier mit, aber, dass es vor allem die Literatur selbst ist, die den Erfahrungshorizont bildet, zeigt sich zum Beispiel darin, dass Goebbels sich mit Tasso vergleicht (Goebbels 1992: 151) und in seinem Versuch, seine Geliebte, die er als „meine Christiane“ bezeichnete, für die Wahlverwandtschaften zu begeistern, obwohl sie wenig Freude daran fand. Bei einem Parteitreffen 1926 ist weder von Goethe noch Schiller die Rede; 1931 notiert er abermals in Weimar: „Sonntag: morgens Goethe- und Schillerhaus. Wie viel sympathischer ist doch Schiller. Goethe kommt mir unaussehlich [sic! ] vor.“ Schwund der Imagination. Joseph Goebbels und die Literatur 275 (Goebbels 1992: 563) Der Schwund geht weiter. Nachdem ihm Anfang Juli 1935 als Minister der „Verrat“ mitgeteilt wird, den Richard Strauss begangen hat, indem er „einen besonders gemeinen Brief an den Juden Stefan Zweig“ schrieb, drückt er die Erkenntnis aus, dass Kunst sich politisch nicht mobilisieren lässt und sich damit erübrigt: „Diese Künstler sind doch politisch alle charakterlos. Von Goethe bis Strauss.“ (Goebbels 1992: 865) Nicht nur der „unaussehliche“ Goethe wird verabschiedet, ihm folgt bald auch Schiller, von dessen Drama Die Jungfrau von Orléans es auf einmal heißt, es könne einen Vergleich mit George Bernhard Shaws gleichnamigem Stück nicht bestehen. Jener hat ja die „wahren Triebkräfte seiner Zeit entdeckt“, so im Februar 1938, „Schiller hatte keine blasse Ahnung davon.“ (Goebbels 1992: 1195) Deutlich wird aus den Tagebüchern allerdings auch, dass die Beachtung von Shaw zu diesem Zeitpunkt mit dessen öffentlichem Standpunkt gegen einen Krieg mit Deutschland zusammenhängt und weniger mit seinem Oeuvre, das Goebbels allerdings auch kannte. Goebbels war nicht nur Kind des klassischen literarischen Erbes, das seit der Reichsgründung als Profil der deutschen Kultur par excellence galt und mit dem eine gesamte Generation, inklusive aller Modernisten und Avantgardisten, aufgewachsen war. Im ersten Teil seines Tagebuches, in dem er mehrere Jahre zusammenfasst und einen skeptischem Blick auf seine Jugenddichtung wirft („Sentimentale Periode [...] Sehr sentimental. Volksliedeinflüsse“) taucht das Motiv Thomas Mann auf. Goebbels spricht von seiner damaligen Vorliebe für ältere Frauen und führt diese frühe Empfindung auf seine Faszination für „deren Familiengeschichten“ zurück, die er rückblickend folgendermaßen einstuft: „Erinnert mich heute an die Buddenbrooks“. (Goebbels 1992: 53) Manns Die Buddenbrooks bleibt ein Werk, das ihn immer wieder in den Bann zieht, auch in jenen Jahren, als politische Parolen seine Lektüre überstimmen und der Autor selber persona non grata geworden ist („Schade um den Mann! “, Goebbels 1992: 453). Beim ersten Besuch in Lübeck, wo er eine Rede über die sogenannte nationalsozialistische Revolution hält, geschieht Ähnliches wie in Weimar: die Stadt steht im Zeichen einer fiktionalen Welt, sogar der Parteigenosse, der ihm Städteführer ist: „Lübeck, die alte Hansestadt im Schnee. Welch ein entzückendes Bild. [...] Pg. Koop, er erinnert mich an Th. Manns Christian, führt mich durch die Stadt. Ich ahne den alten Handelsgeist und denke immer an die Buddenbrooks. [...] Ich bin wie neu geboren.“ (Goebbels 1992: 209) Die Enttäuschung über Thomas Manns nächsten Roman Königliche Hoheit aber ist enorm: „Ein peinliches Buch für den Dichter und den Leser. Der Konflikt ist etwas gartenlaubmäßig. Der Stil schon etwas stark gemacht. [....] alles ist da zum Gartenlaubenroman.“ (Goebbels 1992: 108, 109) „Kitsch, billiges Zeug, Humbug“, so fällt das vernichtende Urteil aus. Je mehr Goebbels den Roman betrachtet, umso größer ist seine Entrüstung über ein Werk, dessen Plot der Trivialliteratur entnommen zu sein scheint ‒ Goebbels war keineswegs Anke Gilleir (Leuven) 276 der einzige, der so dachte ‒ und dessen Protagonisten nirgendwo zu tiefer Reflexion oder Identifikation einladen. In die ausgedehnte Romananalyse, wobei der Sprecher/ Leser immer mehr den Autor selber anspricht, ihn letztendlich geradezu des Versagens beschuldigt, bricht auf einmal eine völkische Rhetorik: „Ein armes Buch. Das ist der große deutsche Erzähler? Arme deutsche Kunst! “ (Goebbels 1992: 110) Diese Empörung nur auf nationalsozialsozialistische Prämissen zurückzuführen, greift aber zu kurz. Literatur, die formal wie thematisch nichts macht als die Plattheit des Lebens zu wiederholen, muss notwendigerweise in den Augen des verkappten Avantgarden/ Ästhetizisten Goebbels ihre Bedeutung verlieren. Dass hier nicht irgendeine Form der ‚Entartung‘ oder des fehlenden Vitalismus vorliegt, zeigt der Vergleich, den Goebbels mit der Literatur von Eduard von Keyserling macht, „Jenes Unkultur, dieses bis ins letzte verfeinerte und köstlich aufgearbeitete Kultur. [...] Welch eine Kultur in der Sprache Keyserlings. Fein, ziseliert, ein Filigran.“ (Goebbels 1992: 96, 97) Als er dann unmittelbar hinzufügt, man dürfe sich dieser Literatur nicht unterwerfen, „wir dürfen nicht daran kleben bleiben“ (Goebbels 1992: 97), unterstreicht er damit ihre Kraft im Hinblick auf die Realität, was im Fall der völkischen Politik als ihre ‚zersetzende‘ Kraft bezeichnet wird. Immerhin: „Thomas Mann hat in seinem Schaffen gezeigt, wie gefährlich es ist, mit dem Untergang zu spielen.“ (ebd.) Immer wieder zeigen die Tagebücher, wie die Literatur an das Leben rüttelt, wie die Grenze zwischen Literatur und Leben beginnt durchlässig zu werden: Lektüre. Hasenklever [! ] „der Sohn“. „Antigone“. Strindberg „das rote Zimmer“. Th. Mann „Tod in Venedig“. Strindberg „Entzweit“, „Einsam“. Ibsen, Tolstoi, Georg Kaiser und Myerinck. Chaos in mir. Gärung. Unbewußte Klärung. (Goebbels 1992: 70) Lesen ist eine menschliche Totalerfahrung, die oft schwer sachlich zum Ausdruck gebracht werden kann: „Dostojewski. Brüder Karamasow. Nervös und abgespannt. Zusammenbruch.“ (Goebbels 1992: 75) oder „Totentanz und Strindberg, zwei Dinge, über die man nichts sagt, die einen überlaufen wie kalte Schauer.“ (Goebbels 1992: 173) Alles andere als einen Ausweg bietet die Literatur, sie konfrontiert den Leser stattdessen mit seinem Zweifel und seinen Schwächen und reicht bis in die physische Dimension seiner Existenz: „Im Schauspielhaus Georg Kaiser ‚Gas‘. Regiekunst. Meine Netzhautentzündung.“ (Goebbels 1992: 72) Auch später wird deutlich, wie wenig die Revolution der Literatur mit jener der ideologischen Eindeutigkeit gemeinsam hat: „Thomas Mann. Heinrich Mann ‚der Untertan‘. Dostojewski ‚Idiot‘. Von größtem Eindruck. Revolution in mir. Pessimismus gegen alles.“ (Goebbels 1992: 84) Schwund der Imagination. Joseph Goebbels und die Literatur 277 Immer wieder aber versucht Goebbels sich gegen diese Verwirrung des Geistes aufzulehnen, zu der die Literatur beiträgt: „Der Geist ist eine Gefahr für uns. Wir müssen den Geist überwinden. Der Geist quält uns und treibt uns von Katastrophe zu Katastrophe.“ (Goebbels 1992: 92) Beachtenswert, obwohl wenig überraschend in diesem Zusammenhang, ist das Fehlen jeglichen Kommentars zu Hitlers opus magnum. Als dieser ihm Mein Kampf zum Geschenk zuschickt, schreibt Goebbels: „Weihnachtsgruß von Hitler. Sein Buch in Leder mit Widmung. Ich freue mich.“ (Goebbels 1992: 215) Darin zeigt sich ein Unterschied zu jenem anderen im Gefängnis entstandenem Werk, welches ihn dermaßen zu fesseln schien, dass er mehrmals darüber reflektierte: „,Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis an Karl Liebknecht‘. Vielleicht eine Idealistin. Manchmal überraschend in ihrer Innigkeit, in dem warmen, lieben Freundschaftston.“ (Goebbels 1992: 92) Als Joseph Goebbels nach der Machtübernahme die Zügel in die Hand nimmt und die Kultur der NS-Ideologie entsprechend formt, sieht er sich in die Rolle des Regisseurs oder gar des Schöpfers des Volkes berufen, wie er es Jahre zuvor formuliert hatte: „Zum Staatsmann gehört Instinkt. [...] Auch er ist ein Künstler. Das Volk ist sein Stoff.“ (Goebbels 1992: 295) Als Propagandaleiter ist Goebbels die Person, die den „leeren Signifikanten“ im Sinne Ernesto Laclaus zu einer als kollektiv erfahrenen ‚Realität‘ gestalten soll, eine Aufgabe, die er mittels seiner öffentlichen Reden unentwegt bis zum Ende des Regimes unternommen hat. Die Zahl der Reden sowie deren spezifische Themenbereiche sind unübersichtlich, die Botschaft aber immer die gleiche: Einheit von Volk und Partei, Richtigkeit des Nationalsozialismus. In einer Rundfunkansprache Ende Februar 1945 klingt es beharrend: In einer so bewegten Zeit, in der sich manchmal in einer Woche Ereignisse abspielen und Veränderungen ergeben, für die die Weltgeschichte normalerweise ein Jahr oder sogar ein Jahrzehnt gebrauchen würde, ist es allzu leicht möglich, daß die Menschen den Blick für die Größenordnungen verlieren [...] Es muß deshalb eine der Hauptaufgaben seiner politischen Führung sein, ihm das Auge nicht nur für die Tatsachen, sondern auch für seine Möglichkeiten und Chancen zu schärfen und es damit immun zu machen gegen moralische Anfälligkeiten [...] (Goebbels 1971: 430) Über die Bedeutung der Propaganda als Mittel sich die Macht im Volk anzueignen ‒ „eine Diktatur auf Bajonetten wird im Chaos enden“ (Goebbels 1992: 686) ‒ spricht Goebbels mit einer verblüffenden Offenheit. 1932 drückt er seine Verwunderung darüber aus, dass „unsere Journalisten“ nicht zu verstehen scheinen, dass es in Zeiten des politischen Kampfes auf die Überzeugungskraft ankommt: „Sie sind meist zu gründlich, und eher für die Wissenschaft als für die schwarze Kunst geeignet.“ (Goebbels 1992: 703) In einer Rede zu den „Intendanten und Direktoren der Rundfunkgesellschaft“ Anke Gilleir (Leuven) 278 kurz nach der Machtergreifung, weist er sie auf ihre künftige Aufgabe hin und spricht aus, in welchem Maß das Wort die Welt bestimmt: Ich verwahre mich dagegen, daß die Propaganda etwas minderwertiges sei, denn wir säßen heute nicht in Ministersesseln, wenn wir nicht die großen Künstler der Propaganda gewesen wären. Und wir hätten den Krieg nicht verloren, wenn wir die Kunst der Propaganda etwas besser verstanden hätten. (Goebbels 1971: 95) Die Literatur, so wie er sie erlebte und schätzte, lässt sich aber in jenem unaufhörlichen Schaffen des „organischen Ganzen“ nicht verorten, dessen war sich Goebbels sehr bewusst und darin unterschied er sich von Joseph Stalin. In seiner bekannten Analyse Gesamtkunstwerk Stalin (1988) weist Boris Groys darauf hin, dass die Kulturpolitik Stalins - die schonungslose Durchführung des sozialistischen Realismus - sich im Grunde als eine Art radikaler Weiterführung avantgardistischer Kunstprinzipien gestaltete. Die Idee, dass Kunst die Realität nicht einfach darzustellen hat, die Überzeugung, mittels der Kunst das Leben neu zu gestalten sowie der selektive Umgang mit der kulturellen Tradition wiederholten sich hier im politischen Kunstwerk. Irrelevant ist, so Groys, dass Stalin und die Seinen alles andere als Kunst- und Literaturexperten waren, “for they were in reality creating the only permitted work of art - socialism - and they were moreover the only critics of their own work.” (Groys 2011: 36) Jedenfalls führte das in der Sowjetunion dazu, dass die kanonisierte Literatur so umgeschrieben wurde, bis die individuelle Urheberschaft jeglicher Werke unkenntlich geworden war. (Groys 2011: 71) Im Fall Goebbels' sah einiges anders aus, obgleich von vergleichbaren Machtverhältnissen die Rede war. Als ihm gesagt wurde, er sei „der Stalin der Bewegung, der über die Reinheit der Idee wache“, schrieb er, das wäre noch nicht der Fall, „aber ich will es sein oder doch werden.“ (Goebbels 1992: 424) Auch hier galt der Individualismus als Erzfeind des nationalsozialistischen Kulturideals, und der Propagandachef hörte nicht auf, diesen Begriff, den er auch geistiges „Nomadentum“ nannte, als größtes Übel der Kunst zu betonen: „Die Zeit des Individualismus [ist] endgültig gestorben“ (Goebbels 1971: 82), bekundete er kurz nach der Machtübernahme, und bei der feierlichen Eröffnung der Reichskulturkammer hieß es, „das schlimmste Vergehen des künstlerisch schaffenden Menschen der vergangenen Epoche [war]: dass sie nicht mehr in organischer Beziehung zum Volke selbst standen und damit die Wurzel verloren, die ihnen täglich neue Nahrung zuführte.“ (Goebbels 1971: 132) Auch die Nazi-Kultur wird durch Eklektizismus in Bezug auf die Vergangenheit gekennzeichnet. In einer Rundfunkansprache von 1932 über den Nationalcharakter als Grundlage der Nationalkultur brachte Goebbels Schwund der Imagination. Joseph Goebbels und die Literatur 279 das künstlerische Sammelsurium des kommenden Regimes auf den Punkt: „Holzschnitzereien eines oberbayerischen Hirten“ wie die deutschen Dome in Ulm und Straßburg und Freiburg, die Bildwerke eines Albrecht Dürer, die geistigen Zeugnisse eines Kant und Schopenhauer, die Lyrik Goethes und Mörikes, das dramatische Genie eines Friedrich von Schiller, die Neunte Symphonie und die letzten Streichquartette Beethovens, die preußische Staatsidee eines Friedrich Wilhelm I. [...] die Reichsschöpfung eines Bismarck, - sie alle sind die beglückenden Ergebnisse jener schöpferischen Kulturfähigkeit des deutschen Volkes [...]. (Goebbels 1971: 55) Eine Aufzählung von Themen, über deren Disparatheit und Nivellierung man nicht zu streiten braucht und die die vorhin erwähnte Verwirrung über die 'richtige' Kultur, die sich manchmal offenbarte, erklärt. Aber das systematische Umschreiben der Literatur und/ oder das Schaffen einer neuen, ideologietreuen Gattung, die sich von jeglicher künstlerischen Individualität befreit hat, erweist sich für den Literaturintellektuellen im Politikergewand als Problem. Als die Studentenschaft am 10. Mai 1933 eine spontane Bücherverbrennung „wider den deutschen Geist“ veranstaltete, zeigte sich die Materialisierung der politischen Imagination im Sinne Rancières und Laclaus, die Goebbels fast ein Jahrzehnt lang mit seiner Propaganda geschaffen hatte. Das Bild der Rede Goebbels’ am Fuße des Scheiterhaufens ist emblematisch für den Zynismus der nationalsozialistischen Kultur geworden. Interessant ist jedoch, dass er wohl nicht der Initiator der Bücherverbrennung war, und, wie Golo Mann sich erinnerte, bei der Gelegenheit eher aussah, als ob „er von der Sache nicht sehr begeistert sei“, „eher zivilisiert“ geredet habe und „eher zu bremsen als aufzuwiegeln versucht[e].“ (zit. n. Reuth 1992: 801) Goebbels’ Ungewissheit im Hinblick auf die brennenden Bücher wurzelt in der Konfrontation jener zwei unvereinbaren Dimensionen aus seinem Leben, wobei das Literarische hier durch das Politische brutal entmachtet wurde. Im Tagebuch heißt es lediglich: „Abend Rede Opernplatz. Vor dem Scheiterhaufen der von Studenten entbrannten Schmutz- und Schundbücher. Ich bin in bester Form.“ (Goebbels 1992: 801). Aber weder über die Art und Form der Schundbücher, noch über seine Freude über ihre Vernichtung ein Wort. Auch nicht in seiner Rede bei der Bücherverbrennung, wo er lediglich auf das Problem hinweist, eine neue Literatur schaffen zu müssen: „Wenn ihr Studenten Euch das Recht nehmt, den geistigen Unflat in die Flammen hineinzuwerfen, dann müsst ihr auch die Pflicht auf Euch nehmen, an die Stelle dieses Unrates einem wirklichem deutschen Geist die Gasse freizumachen.“ (Goebbels 1991: 110) Der „wirkliche deutsche Geist“ betrat aber nicht die Gasse der Literatur und das wusste der Reichspropagandaminister. Zum Teil hatte das mit dem Bildungsniveau Anke Gilleir (Leuven) 280 seiner Parteigenossen zu tun, „unsere völkischen Idioten“, die sogar Spengler „nicht um ein Quentchen verstehen.“ (Goebbels 1992: 180) Aber es ging vor allem um jenen widerspenstigen „Geist“ der Literatur, der Goebbels über Jahre fesselte und den er schließlich ausradierte, obwohl ihm die Konturen klar blieben. Der unlösbare Konflikt zwischen Goebbels’ Empfindung der Literatur und seinem zynischen politischen Ehrgeiz, der in den unterschiedlichen Diskursen wahrnehmbar ist, korrespondiert mit dem Kerngedanken über das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Literatur im Denken des französischen Philosophen Jacques Rancière. In seinem Buch Politique de la littérature spricht Rancière über den grundsätzlich demokratischen Wert der Literatur, den er in ihrem „Überfluss“ verortet, in ihrem Entwurf von „schwebenden oder überzähligen Namen, die neue Fiktionen bilden, die das Gesamte verteilen und seine Form und Funktionalität auflösen.“ (Rancière 2007: 41, Übersetzung AG) Politische und literarische Differenz „greifen beide einen Aspekt des konsensualen Paradigmas über das proportionale Verhältnis zwischen Wort und Sache an“, aber Politische Differenz (political disagreement) erfindet Namen, Aussagen, Argumente und Vorführungen, die neue Kollektivitäten etablieren, zu denen jeder sich rechnen kann in der Rechnung dessen was unberechenbar ist. Literarische Differenz (misunderstanding) befasst sich mit diesem Verhältnis und mit der Rechnung aus anderer Perspektive, indem es die Formen der Individualität, durch die eine Konsenslogik Körper an Bedeutung bindet, aufhebt. Politik wirkt auf das Gesamte, Literatur auf das Einzelne. (Rancière 2007: 41, Übersetzung AG) Mit Politik meint Rancière nicht einfach den gewöhnlichen Machtkampf. Die Voraussetzung für Politik ist die Konfiguration einer spezifischen Gemeinschaft, sie impliziert „die Konstruktion eines spezifischen Erfahrungsraums, in dem bestimmte Objekte als gemeinsam dargestellt werden und manche Subjekte als fähig betrachtet werden, diese Objekte zu bezeichnen und darüber zu argumentieren.“ (Rancière 2007: 3) In diesem entworfenen Raum funktioniert die Literatur mit einer egalitären Differenz, die „die Wahrheit der Dinge ist, im Gegensatz zum Gerede und den Lügen der Oratoren“ (Rancière 2007: 14), die das „organische Ganze“, das „Schöne Tier“ zur Realität machen. Rancières Konzept des „organischen Ganzen“, das erst einmal zu schaffen ist, entspricht Ernesto Laclaus Theorie vom „leeren Signifikanten“, der auszufüllen ist, „the production of a discourse on which demands can be inscribed.“ (Laclau 2005: 97). Scharfsinnig diagnostiziert Laclau, wie das politische Streben nach homogenen Gemeinschaften, ob nun rechts oder links, sich nicht aufgrund von objektiven Konzepten erklären lässt: Schwund der Imagination. Joseph Goebbels und die Literatur 281 A discussion of whether a just society will be brought about by a fascist or by a socialist order does not proceed as a logical deduction starting from a concept of „justice” accepted by the two sides but through a radical investment whose discursive steps are not logico-conceptual conceptions but attributeperformative ones. (Laclau 2005: 97) Goebbels’ wesentlicher politischer Auftrag war es, den „leeren Signifikanten“ auszufüllen; die Literatur stand ihm dabei als „Zuviel“ im Wege, eine Alternative ergab sich in dieser Kunstgattung nicht. Als er in sein Tagebuch über Erich Maria Remarques „gemeinen zersetzenden“ Roman Im Westen nichts Neues schrieb: „Das Buch ist gemacht. Deshalb so gefährlich.“ (Goebbels 1992: 390), ist das keine läppische Tautologie. Er kannte die Wirkung jener anderen Fiktion zu gut und wusste, wie er mal von Ibsens Werk sagte, dass sie „schamlos und gemein“ sein konnte, aber keineswegs als „Kitsch“ abgetan werden konnte, wie ihm das mehr als einmal in Anblick nationalsozialistischer Kreationen geschah: „Widukind-Drama. Blöder Schmarren! " (Goebbels 1992: 855). Das Literarische verflüchtigt sich in seinem Tagebuch im Takt seines Aufstiegs als Politiker, aber es fällt nicht einfach der mangelnden Zeit zum Opfer. Mitte der zwanziger Jahre schrieb er, wie gut es war, dass er „auf Vorrat“ so viel gelesen hatte, da ihm jetzt die Zeit fehlte, aber das wiederholte er nicht mehr. Anke Gilleir (Leuven) 282 Literaturverzeichnis Barnett, David: Joseph Goebbels. Expressionist Dramatist as Nazi Minister of Culture. In: New Theatre Quarterly 17,2 (2001), S. 161-169. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seinen technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2, hg. v. Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. Darnton, Robert: The Fall of the House of Art. Hitler’s Blitzkrieg against Modern Art. In: The New Republic, 06.05.1991, S. 27-33. Goebbels, Joseph: Tagebücher 1924-1945 in fünf Bänden, hg. v. Ralf Georg Reuth. München 1992. Groys, Boris: The Total Art of Stalinism. Avant-Garde, Aesthetic Dictatorship, and Beyond. London 2011. Heiber, Helmuth (Hg.): Goebbels Reden. 1939-1945. 2 Bde. München 1971. Laclau, Ernesto: On Populist Reason. London 2005. Möbus, Frank: Wie, was und - Wer? Zur An- oder Abwesenheit des Autors bei der literarischen Wertung. In: Nicholas Saul/ Ricarda, Schmidt (Hg.): Literarische Wertung und Kanonbildung. Würzburg 2007, S. 89-202. Patin, Nicolas: Le Journal de Joseph Goebbels. Un Parcours Critique. In: Vingtième Siècle: Revue d'histoire 104 (2009), S. 81-93. Rancière, Jacques: La parole muette. Essai sur les contradictions de la littérature. Paris 1998. : Politique de la littérature. Paris 2007. Riess, Curt: Joseph Goebbels. A Biography. New York 1949. Thomas, Richard F.: Goebbels „Georgics“. In: Classical Bulletin 17,2 (2000), S. 157-168. Julian Osthues (Luxemburg) Maskeraden der Macht/ Schrift. Strategien medialer Fremdbestimmung und literarischer Selbstinszenierung in Muammar al- Gaddafis Essayband Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten (1993) „Wen kümmert’s, wer spricht? “ Mit dieser prominenten Frage eröffnet Michel Foucault seinen Vortrag Was ist ein Autor? , den er am 22. Februar 1969 vor der Französischen Gesellschaft für Philosophie am Collège de France hält. Foucault versucht in diesem Beitrag eine Argumentation zu entwickeln, um das „grundlegendste ethische Prinzip zeitgenössischen Schreibens“, so Foucault, das „Zurücktreten des Autors“ zu beschreiben. Anders als z.B. Roland Barthes, der das Diktum vom Tod des Autors bereits 1967 (engl.) bzw. 1968 (franz.) aufstellte, geht es Foucault weniger um „sein Verschwinden“, sondern um denkbare Transformationen des Autors, also um die „Orte [...], an denen er seine Funktion ausübt.“ (Foucault 2007: 198) Für Foucault stand somit nicht die völlige Abschaffung des Autors im Mittelpunkt, wie häufig in der Rezeption angenommen, sondern „eine kritische Analyse der Funktion des Autors in der Ordnung des Diskurses, nicht das Verschwinden des Autors aus dieser Ordnung“ (Japp 1988: 223-234). Diese in der Literaturwissenschaft etablierten Theoriekonzepte von Autorschaft prägen bis heute einen bestimmten Umgang mit literarischen Texten. Von Bedeutung ist hier - vereinfacht gesagt - eine Trennung von Autor und Text, insofern diese eine Gleichsetzung von fiktionaler Sprechinstanz und Autor ausschließt. Ein „methodisch gut begründeter Vorbehalt“, so schreiben Albrecht Koschorke und Konstantin Kaminskij, der es „jedoch erschwerte, Verbindungslinien zwischen literarischen Texten und politischer Praxis zu ziehen“ (vgl. Koschorke/ Kaminskij 2011: 10). Für die Beschäftigung mit literarischen wie nicht-literarischen Texten, die von Herrscherpersönlichkeiten, insbesondere von Despoten verfasst wurden, wird der Stellenwert des Autors für die Textanalyse zu einer nur schwer zu ignorierenden Kategorie - ja die Autorfunktion scheint oftmals das entscheidende Kriterium zu sein, das die Texte als solche für eine wissenschaftliche Perspektive überhaupt qualifiziert bzw. interessant macht. Der folgende Beitrag versucht dabei den Zusammenhang von Macht und Schrift im Spannungsverhältnis zwischen Rezeption, Autor und Text über Julian Osthues (Luxemburg) 284 unterschiedliche Fluchtlinien der Analyse zu perspektivieren. Im Allgemeinen geht es um Formen der Repräsentation, im Besonderen um die Untersuchung zweier Beziehungen: Auf der einen Seite steht die Beziehung zwischen Rezeption und Text, auf der anderen Seite das Verhältnis zwischen Autor und Text. Scheint der Blick auf den Zusammenhang von Schrift und Macht, wie oben thematisiert, häufig über die Kategorie des Autors gewählt, so schlägt der erste Abschnitt (Medienanalyse) einen anderen Weg ein, der die mediale Konstruktion des Despoten in den Mittelpunkt rückt: Wie wird das Subjekt, also der Despot als Herrscher und Autor in Personalunion, durch eine bestimmte Formation von Aussagen diskursiv hervorgebracht? Wie entwirft die Literaturkritik ein Bild Gaddafis und welche diskursiven Mechanismen sind daran beteiligt? Gegenstand dieses Abschnitts bildet ein Korpus an Rezensionen, das im Rahmen einer kleinen Diskursanalyse untersucht werden sollen. Die Art und Weise, wie von der Literaturkritik über die Texte Gaddafis gesprochen und ein Despoten-Bild gezeichnet wird, rekurriert auf ein traditionelles Archiv kultureller Stereotype, die das Despotische ferner über seine kulturelle Fremdheit zugleich ausschließt als auch einschließt. Über ein spezifisches Begehren gegenüber der Literatur, das oftmals mit einer subtilen Faszination am ,Schrecklichen’ verbunden scheint, wird das vormals Ausgeschlossene schließlich rehabilitiert. Der Literatur wird dabei eine Funktion untergeschoben, die dem Leser Einblicke in die Psyche des Despoten ermöglichen soll: Die Literatur als pathologische Mitschrift wird, so das Versprechen der Literaturkritik, demzufolge als Psychogramm lesbar, die den Wahnsinn des Despotischen in ein rationales Modell zu bringen vermag. Der zweite Abschnitt (Textanalyse) geht demgegenüber der Frage nach, wie sich der Despot im Modus der Schrift selbst erfindet. Am Beispiel von Muammar al-Gaddafis Essay Die Flucht in die Hölle, einer der insgesamt zwölf Essays, aus denen sich die Textsammlung Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten zusammensetzt, werden ästhetische Strategien der Selbstinszenierung in den Blick genommen. 1993 in Libyen erschienen, 2004 aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt, reflektiert das gewählte Kapitel wie kein anderes das Selbstverständnis des Despoten zur Macht. Die Selbstinszenierung - so eine These - wird dabei als eskapistische Maskerade lesbar, welche die narrative Logik der Höllen- Erzählung mit einer herrschaftslegitimierenden Funktion unterlegt. Zum Schluss gilt es den Status des Textes näher zu diskutieren. Ausgehend von der Annahme, dass dieser von der bisherigen kulturwissenschaftlichen Betrachtung nicht hinreichend geklärt werden konnte, wird der Versuch einer gattungstypologischen Einordnung als ,Essay‘ unternommen. Das Essay, so die abschließende These, garantiert dem Despoten einen strategischen Zwischenraum der ästhetischen Selbstinszenierung. Zwischen der Maskeraden der Macht/ Schrift. 285 fiktionalen Welt des Textes und der außertextuellen Wirklichkeit kann die Stimme sich sozusagen ,in der Schwebe halten‘, um einerseits einen Wahrheitsanspruch als Herrschaftsanspruch zu affirmieren. Anderseits kann sie strategisch ihre Position in den Bereich der Fiktion verschieben. Diese Verschiebung ermöglicht dem Despoten, Intentionen und Gedanken zu verschleiern und sich damit einem Verstehens-Zugriff zu entziehen. In diesem Punkt laufen die Überlegungen zur Maskerade zusammen, an die sich ferner die Ergebnisse der Medien- und Textanalyse anschließen lassen. Mediale Schrift/ Macht-Effekte: Die Fremdkonstruktion Muammar al- Gaddafis Die Neigung zur Exzentrik scheint ein typisches und wiederkehrendes Charaktermerkmal von Despoten zu sein. Ob Muhammad Husni Mubarak, der seinen Namen in Miniaturschrift in einen Nadelstreifenanzug einarbeiten ließ oder Jean-Bédel Bokassa, der sich 1976 in feierlichem Prunk europäischer Herrschaftssymbolik zum Kaiser Bokassa I. krönte und das ,Zentralafrikanische Kaiserreich‘ (1976-1979) ausrief, die Beispiele sind zu zahlreich, um an dieser Stelle genauer darauf einzugehen. Im Medienzeitalter der Gegenwart wird die mediale Selbstinszenierung als zentrale Strategie politischer Herrschaft sowie als probates Mittel zum Aufbau von Personenkult lesbar, die Herrscher und Untertan in ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis setzen soll. Der Despot ist eine Figur der Devianz, ,exzentrisch‘ im direkten Wortsinn für ,ungewöhnlich, abweichend‘, der sich ,außerhalb der Mitte‘ befindet (lat. eccentrus, entlehnt aus gr. ékkentros für ,aus dem Mittelpunkt gerückt‘; Kluge 2002: 268). In der binären Herrschaftslogik muss er von der Norm abweichen, um durch die hervorgebrachte Differenz seinen Anspruch auf Herrschaft zu bekräftigen, der ihn für das Volk unentbehrlich macht. Der Despot als „Self-made-man“ (Koschorke/ Kaminskij 2011: 18), so insinuiert diese Lesart, muss demnach nicht nur schöpferisch tätig werden und sich im Modus der Schrift selbst erschaffen (vgl. ebd: 14), um seine ungesicherte Herrschaft in einem Akt der Selbstschöpfung auf ein stabiles Fundament zu setzen. Denn der Despot besitzt eine „geringe und in jeder Hinsicht unbedeutende Herkunft“ (ebd.: 16). Der Despot muss sich neben der Schrift dabei ebenso medial inszenieren - oder besser gesagt: Er muss sich ,ins Bild setzen‘. Muammar al-Gaddafi, der in einer häufig als „operettenhafte Kostümierung“ oder als „Phantasiekostüme“ (vgl. Rotter 2004: 5) bezeichneten Kleidung auftrat, ist ein leuchtendes Beispiel für die Selbstinszenierung von Despoten. Gaddafi, der zu einem französischem Staatsbesuch im Dezember 2007 das traditionelle Beduinenzelt dem Élysée-Palast vorzog und sogar Kamele mitführte, scheute nicht davor, den ,Internationalen Gaddafi-Preis Julian Osthues (Luxemburg) 286 für Menschenrechte‘ zu gründen, 1 den Vorschlag zur Einführung einer „neuen ,islamischen‘ Zeitrechnung“ (Rotter 2004: 5) zu unterbreiten sowie sich 2008 von afrikanischen Königen zum „König der Könige“ Afrikas (Das Gupta 2011) ausrufen zu lassen. Nicht unerwähnt bleiben darf das Weiße Buch, in dem er die Figur der ,Isratin‘ entwirft: ein Hybrid aus „Israel plus Filastin“ (arabisch für Palästina), Gaddafis Lösungsvorschlag für den Nahost-Konflikt. (FAZ, 22. 08. 2011) Die folgende Analyse will einen bestimmten Wahrnehmungseffekt in den Mittelpunkt der Untersuchung rücken. Prägend für Gaddafis mediale Wahrnehmung ist oftmals ein uneindeutiges, verzerrtes und damit höchst ambivalentes Charakterbild, dessen Effekt auf den Betrachter ich als grotesk bezeichnen möchte. Das Bild Gaddafis wird folglich als komplex, ambivalent und widersprüchlich entworfen. Ein wesentliches Prinzip des Grotesken ist nach Malte Fischer „die Kombination von eigentlich Unkombinierbarem, von Elementen, die in einem geordneten Weltbild neben- oder gegeneinander existieren: häßlich und schön, krumm und gerade, scheußlich und lächerlich, grauenvoll und komisch“ (Fischer 1994: 186). Indem das Groteske beide Extreme in einem Wahrnehmungsmoment koinzidieren lässt, entsteht ein ambivalenter Effekt bzw. Affekt, der komisch und beklemmend schaurig zugleich wirkt. Diese Wirkung verhindert ein eindeutiges Bild und lässt stattdessen das Unberechenbare und Willkürliche, sprich das ,Wesen‘ des Despoten hervortreten. Im Lachen wird somit stets auch ein Schaudern und damit die Bedrohung des fürchterlich Tyrannischen aufgerufen. Was entsteht, ist ein Zerrbild, das sich als Chiffre einem eindeutigen Signifikationsprozess, d.h. einer konkreten Zuordnung von Bedeutungen durch den Betrachter, hartnäckig entzieht. Dadurch bleibt das Bild unkonkret, verzerrt und unverfügbar. „Der Ort des Grotesken“, so schreibt Jens Malte Fischer, befindet sich in fragilem Gleichgewicht zwischen Grauen und Komik (ähnlich wie sich der des Phantastischen zwischen Gewöhnlichem und Wundervollem befindet). Das Lachen, das im Halse stecken bleibt, das verlegene Grinsen neben der Leiche - dies beschreibt die Wirkung des Grotesken. (Fischer 1994: 186-187) Eine Vielzahl an Rezensionen, die ich im Folgenden untersuchen werde, bedienen sich dieses ambivalenten Effekts, um das Bild Gaddafis zwischen Ernst und Komik, zwischen Bedrohung und Witz einzuspannen. So heißt es in einem Beitrag in der Tageszeitung Die Welt vom 26.12.2004, bei Gaddafi trete 1 Neben Nelson Mandela finden sich Preisträger wie Hugo Chávez und Fidel Castro (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Internationaler_Gaddafi-Preis_für_Menschenrechte; Zugriff vom 22.01.2013). Maskeraden der Macht/ Schrift. 287 (...) das Weltmännische in Kombination mit dem Clownesken [auf, J.O.] - Gaddafi, Alleinherrscher ohne offizielles Amt seit 1969, ist noch immer der prominenteste Gangsta-Rapper der internationalen Politik (Kredel 2004). Ähnlich lautet der Tenor im Untertitel eines Beitrags in der Süddeutschen Zeitung (29.03.2011): „Manche halten ihn für den Helge Schneider unter den Diktatoren, andere für den derzeit gefährlichsten Mann der Welt“ (Schneeberger 2011). Auffällig ist hier eine deutlich populärkulturelle Implikation, die durch den Ausdruck „prominenteste Gangtsa-Rapper der internationalen Politik“, dem Helge-Schneider-Vergleich als auch durch eine Bildunterschrift der FAZ (13.12.2007), die ihn als „gealterten Rockstar“ (Wiegel 2007) tituliert, aufgerufen wird. 2 Ferner bilden Bezeichnungen wie „Vergnügungen eines Spaßmachers“ (Widmann 2004), „Komiker“ (Titanic), „Witzfigur“ oder „Irrlicht“ (Rössler 2011) typische Repräsentationsmuster der Rezeption, die das Spannungsverhältnis am Pol der Komik aufladen. Ein weiterführendes Beispiel liefert der Artikel „Kamelmilch für alle! Im Zelt mit der Natur: Muammar al-Gaddafi“, veröffentlicht am 17.04.2003 in der Reihe „Die literarische Achse des Bösen: Blut an den Händen und an den Fingern Tinte - Wenn Schurken zur Feder greifen“ der Süddeutschen Zeitung (Zekri 2003). Über den Titel aktualisiert der Beitrag ebenso das Motiv der Komik. Darüber hinaus findet hier eine interessante Verschiebung statt, indem zusätzlich das Konzept des Wahnsinns in die Nähe zur politischen Autorität des Despoten gerückt wird: „Muammar al-Gaddafi gilt als exzentrisch, gefährlich wie eine Klapperschlange und sprechen wir es ruhig aus: komplett irre“ (Zekri 2003). Über den Wahnsinn kann die Eigenschaft des Unberechenbaren und Willkürlichen, also typische Charakterzüge des Despotischen 3 , aktualisiert und in das mediale Bild Gaddafis integriert werden. Die Konstruktion des Despoten als Wahnsinnigen, Gaddafi als „Wüsten- Nero“ (Halter 2011), bekommt durch die negative Charakterzeichnung der ,Klapperschlange‘ eine bildliche Dimension und damit einen Topos: Die 2 Hinzu treten Vergleiche Gaddafis mit der Popikone ,Lady Gaga‘, die eine ironische Anspielung auf Gaddafis Kleidungsstil darstellen und in Analogie zum exzentrischen Auftreten und der skurrilen Kleidung der Musikerin zu lesen sind. 3 Eine definitorische Bestimmung des Begriffs ‚Despot‘ in Abgrenzung zu ,Tyrann‘, ,Diktator‘ und ,Autokrat‘ erweist sich als schwierig. Oftmals werden die Begriffe synonym verwendet, da ihre begriffsgeschichtliche Entwicklungen nicht klar trennbar voneinander verlaufen und sich vielmehr überlagern (vgl. Koschorke/ Kaminskij 2011: 24). Etymologisch ist der Begriff ,Despot‘ entlehnt aus dem Griechischen von despotes, was so viel wie ,Herr‘, ,Hausherr‘, ,Herrscher‘ bedeutet (Kluge: 192). Entscheidend für die Semantik ist die lateinisch Silbe potis für ,mächtig‘, ,vermögend‘, die auch in Wörtern wie ,potent‘ oder ,Potentat‘ (= Machthaber, Herrscher) vorkommt. Wichtig ist die Wertungsperspektive, die Despoten als nicht legitimierte Herrscher aus dem Blickwinkel demokratischer Systeme eine negative Konnotation einschreibt. Julian Osthues (Luxemburg) 288 Wüste. Diese mediale Repräsentationsform steht dabei in einer Traditionslinie von Feindbildern, welche bis in die Medienberichterstattung der 1980er Jahre zurückreicht. Jürgen Link hat Anfang der 1990er in einer diskurstheoretischen Analyse Diktatoren als Feindbilder untersucht (vgl. Link 1993: 382-401). Am Beispiel von Karikaturen und Titelüberschriften von Medienberichten stellt sich Link die Frage, wie Diktatoren - im direkten Wortsinne - zu Feindbildern werden. Feindbilder zeichnen erstens ein „extrem negatives stereotypisiertes ,Charakterbild‘“ und speisen sich zweitens „aus einem Reservoir an Kollektivsymbolen“ (Link 1993: 386). 4 Sie sind Teil eines Kollektiv-Symbolsystems und markieren ein bedrohliches ,Außen‘, ein Chaos gegenüber der eigenen, vermeintlich stabilen Ordnung. Kennzeichnend für diesen Ausschlussmechanismus ist eine Strategie der Repräsentation, die den „Orient als Bereich der Gegen-Vernunft und des Wahnsinns, des unzurechnungsfähigen Fanatismus“ (Link 1993: 392) erfindet und als Negativfolie dem Okzident entgegensetzt. Als „negative Kulturtypologie“ (Link 1993: 392) wird der „Orient als symbolischer Raum unter dem Okzident“ (Link 1993: 393) platziert. Das Beispiel aus dem Jahr 1986, das Link dabei wählt, aktualisiert über das Symbol der Wüste ein verblüffend ähnliches Set an Bildern wie das oben angeführte Zitat aus der Süddeutschen Zeitung. Link bezieht sich auf einen Beitrag mit dem Titel „Gefährlicher Gaddafi: Der Wahn, der aus der Wüste kommt“, der am 15. April 1986 in der Bild-Zeitung publiziert wurde. Ferner titelte Die Zeit am 10. Januar 1986: „Bedrohlich wie die Wüste. Muammar al- Gaddafi: eine gefährliche Randfigur der Weltpolitik“ (Weck 1986/ Link 1993: 393). Der Vergleich zeigt, wie der Symbolkomplex der ,Wüste‘ im Jahr 2003, also fast zwanzig Jahre später, ebenso als zentraler Bildspender und Symbolstrategie dient, um eine „Subjekt-Situation der Bedrohung, das Stereotyp vom Orient als Raum des Wahnsinns sowie das Chaos-Symbol der Wüste“ (Link 1993: 393) hervorzubringen, um das bedrohliche Fremde gegenüber dem kulturell Eigenen auszuschließen. Die Rezeption der Texte Gaddafis rekurriert somit auf ein tradiertes Set kollektivsymbolischer Muster, das auf einen kulturellen Resonanzboden zurückgeführt werden kann, wie der Okzident seit jeher - so haben die wegweisenden Studien Edward Saids zeigen können - seine Identität in einer „diskursiven Absetzung von dem, was Europa ,nicht‘ war“, hervorbringen konnte bzw., so zeigen die Beispiele 4 Unter Kollektivsymbol versteht die Interdiskurstheorie „Sinn-Bilder (komplexe, ikonisch motivierte Zeichen)“ (Link 1988: 286), d.h. „kollektiv verankerte Bilder im Wortsinn als Träger symbolischer Bedeutungen. Diese Bilder sucht die Diskursanalyse in empirischen Diskursen (d.h. Reden, Mediensendungen, Artikeln usw.) auf, um ihre Stereotypie, Wiederholung, funktionale Beziehung zu Verhaltensweisen und zur Subjektbildung, ferner ihre breite Streuung und historische Entwicklung im einzelnen zu untersuchen“ (Link 1993: 383). Maskeraden der Macht/ Schrift. 289 deutlich, wie dieses Verfahren bis heute weiter perpetuiert wird (Reif-Hülser 2006: 267/ vgl. Gymnich 2010: 369). Die genannten Beispiele zeigen zwei diskursive Bewegungen, die auf den ersten Blick paradox erscheinen mögen: Indem Gaddafi als ,verrückt‘ erklärt wird, er durch diese - mit Michel Foucault gesprochen - ,Ausgrenzung des Wahnsinns‘ diskursiv in eine exterritoriale Position (fest)gesetzt wird, können seine Texte als „atemlose Mitschrift seiner Paranoia“ (Kredel 2004) und „literarische Selbstenthüllung“ (Rotter 1995: 150) gelesen werden. Auf das Ausschlussprinzip folgt demnach eine Gegenbewegung, die dem Subjekt im Kontext der Literatur wieder in eine besondere Position reintegriert. „Muammar al-Gaddafi, der libysche Diktator, ist unter die Dichter gegangen“ (Köhler 2004), so titelte der Tagesspiegel. Diese Hinwendung des Lesers zur Literatur folgt einem Begehren, das der Fiktion ein ,Wissen‘ zuspricht, das dem Leser innerhalb der außertextuellen Wirklichkeit verwehrt bleibt. Der Schrift wird demnach eine wahrheitsstiftende Funktion untergeschoben: „Die Lektüre lohnt sich“, schreibt Gernot Rotter, „sagt das Buch über die gegenwärtige innere Befindlichkeit des libyschen Revolutionsführers doch mehr aus als manche noch so scharfsinnige politologische Analyse“ (Rotter 1995: 150). Dieser Wille zur Wahrheit als „Forschung zur ewigen Diktatorenseele“ (Kredel 2004) führt darüber hinaus dazu, den Despoten zum unverstandenen Dichter zu stilisieren: „Aber die wahrscheinlichste Lösung für das Rätsel Gaddafi lautet, dass er ein Künstler ist: ein Individualist, ein Eigenbrötler und Außenseiter, einer, der sich um Konventionen nicht schert und seine eigenen fixen Ideen über jene der breiten Masse stellt (Köhler 2004). Die Literatur ist, so ein weiteres Zitat, Ausdruck der „(...) launischen Tiraden eines Mächtigen, der sich tragisch unverstanden fühlt und sich jeder Ausdrucksform und Tonlage bedient, die ihm gerade gelegen kommt - sei es das didaktische Lehrstück oder die sentimentale Meditation (Kredel 2004). Wird dem Despoten somit einerseits die Vernunft abgesprochen und damit auch die Autorität entzogen (denn der Despot handelt unberechenbar, willkürlich und somit ,unvernünftig‘), so wird ihm andererseits die Autorität im Medium der Schrift beglaubigt. In diesen Zusammenhang lassen sich die Aussagen des Verlegers Michael Farin einfügen, der die deutschen Übersetzungen von Gaddafis Texten im Münchener Belleville Verlag herausgibt. Farin konkretisiert den Zusammenhang zwischen Leser und Autor/ Text dabei über das Symbol der Maske. Gaddafis Texte seien, so Farin im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, „gut als Psychogramm“ lesbar. Sie erlauben einen „Blick hinter die Kostüme“ und eröffnen damit eine „Innensicht“, die „einen aufregenden Blick in das Denken eines Mannes ermöglichen, von dem man in den Medien zumeist nur Kurioses und Spektakuläres berichtet hatte“ (Farin nach Schneeberger 2011). Julian Osthues (Luxemburg) 290 Die Rezeption, so ließe sich zusammenfassen, bedient sich hier eines stereotypen, tradierten Sets an Bildern (Kollektivsymbolen), um eine Vorstellung des Despoten-Subjekts diskursiv hervorzubringen. In doppelter Geste wird der Despot über den Wahnsinn sowohl ausgeschlossen als auch gleichzeitig als Autor-Autorität reintegriert. Konstitutiv für diesen Mechanismus ist die Art und Weise mit der versucht wird, die Einheit des Subjekts im Modus der Schrift (wieder)herzustellen, um die Leerstellen, die blinden Flecken, also das Nicht-Wissen im Vexierbild Gaddafi auszuleuchten. Wenn Michel Foucault über den Autor schreibt, er sei „dasjenige, was der beunruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt“ (Foucault 2010: 21), so kehrt sich diese Blickrichtung von Autor und Text im Falle Gaddafis um: Durch den Text soll es gelingen, an den „verborgenen Sinn“ (Foucault 2010: 21), an „den Mann hinter der Maske des skurrilen Tyrannen“ (Schneeberger 2011) zu gelangen; und nicht andersherum. Maskeraden der Selbstinszenierung (Die Flucht in die Hölle) - Masse und Macht Was suche ich also, ich der herumschweifende arme Beduine, in einer modernen verrückten Stadt, deren Bewohner, immer wenn sie mich finden, nach mir schnappen [...] Diese Massen, die nicht einmal barmherzig zu ihren Errettern sind, ich glaube, sie verfolgen mich, verbrennen mich. (Gaddafi 2004: 60-61) „Dass Tyrannen in Selbstmitleid schwelgen“, so schreiben Albrecht Koschorke und Konstantin Kaminskij, „sich für die Ärmsten der Menschen halten und nach der Liebe ihrer Untertanen zehren, ist ein antiker Topos seit Xenophons Hieron-Schrift“ (Koschorke/ Kaminskij 2011: 22). In dieser Traditionslinie, so zeigt der zitierte Auszug, steht auch das Charakterbild, das die Erzählinstanz des fünften Essays Die Flucht in die Hölle hier entwirft. Heiner Lohmann, der den „Schreib- und Denkstil“ Muammar al-Gaddafis am Beispiel des vorliegenden Essays untersucht hat, spitzt dieses Selbstkonzept sogar noch weiter zu: „(...) so sind Despoten eine schutzlose, verfolgte und in ihrer Existenz bedrohte Spezies“ (Lohmann 2011: 251). Bevor der Erzähler, dem Gaddafi seine Stimme gibt, die „Flucht in die Hölle“, „den Weg dorthin“, „dann die Hölle selbst“ (66) und anschließend seine Rückkehr beschreibt, schildert er die Beweggründe, die ihn zu dieser Flucht veranlasst haben. Es ist der Druck der Massen, dem der überforderte, einsame und unverstandene, seines Amtes müde Despot nicht standhalten kann, der - so könnte überspitzt man sagen - ,Despoten-Burnout‘, der ihn an die Belastungsgrenzen führt und zum ,Aussteiger‘ macht. Was Gaddafi auf den ersten sechs Seiten in redundantem Stil preisgibt, ist der Konflikt zwi- Maskeraden der Macht/ Schrift. 291 schen ihm, dem „Wohltäter, der aus der Wüste kam als Befreier aus Fessel und Ketten“ (61-62) und den „Massen“ (55), „(...) dieser kollektiven Flamme, die mir meinen Rücken verbrennt [...], die dich liebt, aber kein Erbarmen mit dir hat [...], die ihre Rechte verstehen, die sie dir gegenüber haben, und die nicht ihre Pflichten kennen, die sie dir gegenüber haben“ (60). Die angeführten Textstellen zeigen bereits die zentralen Strategien der Selbstinszenierung, mit der sich der Despot im Rahmen des vorliegenden Essays, aber auch über die Grenzen hinweg, wie andere Stellen des Essay-Bandes zeigen, selbst erfindet. Obwohl der Duktus des Erzählens dem Leser über weite Strecken als unzusammenhängend, larmoyant und redundant im Stil erscheinen mag, ist dem Text dennoch eine narrative Logik unterlegt, die den Souverän am Ende seiner Reise wieder als Souverän einsetzt und damit seinen Herrschaftsanspruch (re)legitimiert. Für diese Textkonstitution bedarf es einer semantisch binär angelegten Ordnung, die - so zeigen die Auszüge - zwischen Souverän und Volk eine Differenz markiert. 5 Ist diese Trennlinie einerseits als dichotome Konstellation zweier (Macht)Positionen zu verstehen, so bedeutet sie anderseits ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten, das als „reziprok“ zu verstehen ist (Lohmann 2011: 254). Dabei wird die binäre Struktur gleichzeitig permanent irritiert und ins Unverständliche verschoben, ohne hingegen das asymmetrische Verhältnis vollständig aufzukündigen: „Ich bin ein Mensch wie ihr. Ich liebe Äpfel“ (64). Für den Aufbau der Differenz zwischen Despot und Volk ist die semantische Binäropposition Tradition vs. Moderne von zentraler Bedeutung. Geradezu holzschnittartig werden die Parteien charakterisiert: Auf der einen Seite der einsame, „verfolgt[e]“ (64), selbstlose, „herumschweifende arme Beduine“ (60): „Ein einfacher und armer Mensch. Ich bin nicht königlicher Abstammung, sondern beduinischer Herkunft“ (62). Dem gegenüber der entfremdete, unbarmherzige Bewohner der „modernen verrückten Stadt“ (60). Der Topos der ,modernen Stadt‘ dient ferner als Projektionsfläche antiwestlicher und antiamerikanischer Stereotype, die einer archaischen Traditi- 5 Anders als Lohmann, der „Differenzlosigkeit“ (Lohmann 2011: 253), „hermeneutische Verwirrung“ (ebd: 254) und ein Fehlen „von schlüssiger Differenz“ (ebd.: 255) als Merkmal des Textes hervorhebt, geht dieser Ansatz davon aus, dass dem Text eine semantisch binär angelegte Ordnung (Tradition vs. Moderne, Individuum vs. Masse, Land vs. Stadt; Herrscher vs. Volk, Barmherzigkeit vs. Unbarmherzigkeit, Opfer vs. Täter) unterlegt ist, die zwischen Souverän und Volk klar unterscheiden muss, um den Herrschaftsanspruch des Despoten zum Schluss der Erzählung zu erneuern. Das Vorhandensein dieser Dichotomie ist demzufolge eine zentrale Voraussetzung, um das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Souverän und Volk nicht aufzukündigen. Dass der Duktus des Erzählens keineswegs durchgängig kohärent ist, kann hier im Anschluss an die Medienanalyse des vorausgegangenen Abschnitts als Strategie gelesen werden, mit der sich das Bild einer eindeutigen Festschreibung und Verortung zu entziehen versucht. Julian Osthues (Luxemburg) 292 on entgegengesetzt wird (vgl. 63). Die binäre Raumstruktur des Textes (Stadt vs. Land) bildet für den Text ein konstitutives Element, das sich wie ein roter Faden durch die Essays zieht und den Konflikt zwischen Moderne und Tradition topografisch verortet (vgl. u.a. das zweite Essay „Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten“). Die Erzählinstanz bedient sich hier zweier Symbolkomplexe, um den Konflikt zwischen Masse und Despot aufzuspannen. Als sogenannte „Massensymbole“ dienen sie in diesem Zusammenhang dazu, die höchstmögliche Potenz einer bedrohlichen, doch zugleich anonymen und amorphen Volksmasse zu konstruieren. Elias Canetti hat in seiner 1960 verfassten Arbeit Masse und Macht Massensymbole beschrieben als „kollektive Einheiten, die nicht aus Menschen bestehen und dennoch als Massen empfunden werden“ (Canetti 1960: 86). In Gaddafis Text wird zum einen die Bedrohlichkeit der Masse über das Symbol des Feuers repräsentiert. In der Allegorie der „kollektiven Flamme“ wird das Volk gegenüber dem Souverän als undankbar und erbarmungslos charakterisiert: „Diese Massen, die nicht einmal barmherzig zu ihren Errettern sind, ich glaube, sie verfolgen mich, verbrennen mich“ (60-61). In derselben Bedeutung steht zweitens die Verkörperung der Masse als „gewaltiger Strom“ (59), „der mit keinem Mitleid hat, der sich ihm in den Weg stellt“ (59). Über die Massensymbole ,Strom‘ und ,Feuer‘ wird die Macht der Masse gegenüber dem schutzlosen, verfolgten Despoten maximal potenziert, die ferner - um in der Typologie Canettis zu bleiben - als „Hetzmasse“ agiert (Canetti 1960: 54-59): Euer Atem belästigt mich, zwingt mich zur Einsamkeit, vergewaltigt meine Persönlichkeit, sucht mit Heißhunger und wilder Gefräßigkeit mich auszupressen, meinen Saft zu trinken, meinen Schweiß zu lecken und meinen Atem zu saugen. Dann werft ihr mich weg, um erneut zu beginnen. Euer Atem verfolgt mich wie rasende Hunde, deren Speichel in den Straßen eurer wahnsinnigen modernen Stadt fließt. Wenn ich dem entfliehe, verfolgt er mich über Spinnweben und Blätter des Halfa-Grases. Deshalb beschloss ich, ganz allein in die Hölle zu fliehen. (64-65) Die Hölle als Fluchtraum - Eskapismus als Herrschaftslegitimation Der Raum der ,Hölle‘ wird als Fluchtraum inszeniert, der dem Verfolgten Schutz gewährt vor den Forderungen und Bedrängnissen der Massen. Die klassische Semantik des Höllen-Topos steht dabei quer zur Wahrnehmung und Empfindung des Erzählers: „Da sehe ich die Hölle [...], nicht rot wie Feuer, nicht brennend wie Kohle. Ich hielt an, doch nicht etwa aus Angst, näher zu ihr zu gehen, denn ich liebe sie, will mich mit ihr verbinden. Sie ist meine Zuflucht, wenn ihr mich verfolgt in eurer dreifachen Stadt“ (65). Die Hölle ist dabei Raum der Zuflucht und Selbstfindung zugleich. Das traditio- Maskeraden der Macht/ Schrift. 293 nelle literarische Motiv des Unterweltabstiegs (vgl. Frenzel 2008: 700-714), auf das diese Sequenz rekurriert, ist verbunden mit einer Katharsisfunktion, welche die dialektische Einheit von Seele und Geist transzendiert. In dieser Lesart steht der folgende Chiasmus: Nichts blieb außer der Hölle und vor allem ihr Herz [...] Auch ich selbst ging auf in meiner Seele, und meine Seele ging auf in mir, beide suchten Schutz beim anderen, umschlangen den anderen. Zum ersten Mal wurden wir eins, nicht weil meine Seele außerhalb von mir gewesen wäre, sondern weil mir eure Hölle nicht die Gelegenheit gegeben hat, mit meiner Seele je allein zu sein, gemeinsam mit ihr zu meditieren und uns gegenseitig ins Vertrauen zu ziehen. (66-67) Deutlich wird hier aus der Perspektive der Erzählinstanz die Stadt als Gegenraum, als eigentliche Hölle entworfen. Die räumliche Semantik von Diesseits (Wirklichkeit) und Jenseits (Hölle) wird folglich invertiert: Wir - d.h. ich und meine Seele - sind in eurer Stadt wie zwei gefährliche Verbrecher. Ihr unterwerft uns Kontrollen und Verhören, und auch nachdem unsere Unschuld feststeht und unsere Identität bekannt ist, werft ihr uns ins Gefängnis und umringt uns mit scharfen Wachen. Es ist euer ständiger Wunsch, mich und meine Seele zu trennen, weil dies zu eurer eigenen Ruhe und Gelassenheit beiträgt. Um wie viel schöner ist doch die Hölle als eure Stadt. Warum habt ihr mich wieder zurückgeholt. Ich will dorthin zurückkehren. Ja, ich möchte sogar dort leben. [...] Gebt mir nur meine Seele, an der ich entdeckte, dass ihr sie verunstaltet habt und ihre lobenswerte Natur zu verderben trachtet. Ihr habt versucht, mich und meine Seele zu trennen. Aber durch meine Flucht in die Hölle habe ich euch meine Seele entrissen. (67) Die Hölle ist dabei kein Ort ex negativo, der die Semantik der modernen Stadt mit einer traditionellen Lehensweise kontrastiert. Für das Herrschersubjekt stellt die Hölle erstens einen Fluchtpunkt in die Innerlichkeit dar, die das entfremdete Subjekt dialektisch rekonstituiert. Zweitens ist der Raum der Hölle ein fiktionaler Ort, eine Art archimedischer Punkt, von dem aus Kritik an der modernen, d.h. vor allem an einer westlichen bzw. amerikanischen Lebensweise geübt werden kann (vgl. 68). Drittens, und auf diesen Aspekt gilt es im folgenden näher einzugehen, ist der Höllen-Topos ein tragendes Element der narrativen Logik: Die Flucht in die Hölle fordert die symbolische Rückkehr des Helden, wodurch die Abhängigkeit von Souverän und Volk und damit die Legitimation von Herrschaft erneuert werden kann. Julian Osthues (Luxemburg) 294 Spielarten der Tyrannei: Tyrannei des Despoten - Tyrannei der Massen - Selbsttyrannei Gaddafi entwirft hier die Vorstellung eines Tyrannen, der in seiner Selbstwahrnehmung eigentlich gar keiner ist. In dieser Logik sind Despoten „unschuldig, sie unterdrücken nicht, sie werden unterdrückt“ (Lohmann 2011: 251). Opfer- und Täter-Positionen werden folglich vertauscht, Gaddafi erscheint in diesem Licht als „Nicht-Despot-Despot“ (Lohmann 2011: 252). Bereits im Vorwort der deutschen Übersetzung beschrieb Gernot Rotter dieses Selbstbild als „Selbstzeugnis eines in seinen eigenen Augen natürlich ,guten‘, einsamen Tyrannen“ (Rotter 2004: 10). Wie zuvor am Beispiel der Höllen-Semantik thematisiert, bedient sich Gaddafi erneut des Verfahrens der Inversion. Willkürlich und totalitär ist demnach das „blinde Volk“ (59), wodurch sich Gaddafi als Opfer einer Tyrannei der Massen inszenieren kann. Die Binäropposition Individuum vs. Masse wird dabei nicht dauerhaft aufrechterhalten und zu ihren Polen hin weiter ausdifferenziert, sondern gegenläufig permanent irritiert. Als zentrale Textstelle ist der Einstieg zu lesen, der das Spannungsverhältnis zwischen Souverän und Volk, zwischen Freiheit und Tyrannei (= Unfreiheit) auslotet, wobei gleichzeitig die Grenzen verwischt werden: Die Tyrannei eines Einzelnen ist die schändlichste aller Tyranneien, doch der Despot ist ein Einzelner, den die Gemeinschaft beseitigen kann, ja sogar ein unbedeutendes Individuum kann ihn, womit auch immer, beseitigen. Die Tyrannei der Massen dagegen ist die brutalste Art von Tyrannei, denn wer kann sich allein gegen den reißenden Strom, gegen die blinde umfassende Macht stellen? (59) Dieser, so könnte man meinen, Versuch einer definitorischen Bestimmung von Tyrannei stellt eine Gleichung auf, in der Volk und Souverän als ähnlich agierende Aktanten auftreten: Auf der einen Seite der Despot als Willkürherrscher, auf der anderen Seite die Willkürherrschaft der Volksmasse. Obwohl sich eine qualitative Unterscheidung der Attribute „schändlichste“ auf der Seite des Despoten, und „brutalste Art von Tyranneien“ auf Seiten der Masse als schwierig erweist, wird die Tyrannei der Masse deutlich negativer besetzt. Die Ohnmacht des Einzelnen wird gegenüber der Potenz der Masse, die überdies im Plural als ,Massen‘ angesprochen wird, deutlich akzentuiert. So kann das klassische Motiv des Tyrannenmordes (vgl. Frenzel 2008: 682- 700) als nicht legitimierte und ungerechte Handlung verurteilt werden. Diese Positionen bleiben jedoch nicht unversöhnlich gegenübergestellt. Um die Beziehung von Volk und Despot nicht aufzukündigen, sondern vielmehr in ein Abhängigkeitsverhältnis zu bringen, bedient sich die Erzählinstanz eines Maskeraden der Macht/ Schrift. 295 Gleichnisses, um beide Positionen innerhalb eines Vater-Sohn-Verhältnis zu verbinden: „Doch wie ich auch Furcht und Angst vor ihnen empfinde! Ich liebe die Massen wie meinen Vater, und ich fürchte sie, wie ich ihn fürchte“ (59). Neben der Tyrannei des Despoten und der Tyrannei der Masse tritt darüber hinaus eine dritte Form von Tyrannei auf. So schreibt Gaddafi: „(...) doch ich leugne nicht, dass ich selbst dabei mitgewirkt und mich selbst tyrannisiert habe“ (62). Das Zugeständnis der Selbsttyrannei ermöglicht dem Despoten, die Flucht in die Hölle als selbstreflexive Bewegung zu inszenieren. Zum einen folgt diese Bewegung der Argumentationslinie, das ,vernünftige‘ Subjekt gegenüber der willkürlich, ,vernunftlos‘ agierenden Masse zu positionieren. Zum anderen ist die Flucht - so fordert es die narrative Logik - bereits mit der symbolischen Rückkehr verknüpft, die den Despoten am Schluss des Textes nach dieser nur scheinbaren Lossagung vom Volk wieder in Amt und Würden einsetzt: Ihr habt diese Lüge geglaubt und habt euch durch diesen Betrug täuschen lassen. Am Ende hattet ihr verloren. Bis ich eure Lage wahrgenommen habe. Und ich hörte den Freitagsprediger in euren Moscheen sagen: Unsere Lage ist dir nicht verborgen und unser Unvermögen liegt klar in deinen Händen. Es gibt keine Zuflucht außer zu dir, labbayka labbayka! (68-69) 6 Mit dieser finalen Fügung wird die Abhängigkeit des Volkes vom Herrscher reformuliert. Deutlich werden die Positionen des Vater-Sohn-Komplex vertauscht, die zuvor noch die Beziehung von Despot zum Volk charakterisierten. Die vormals blinde Masse erhält plötzlich eine Stimme, die sich des eigenen „Unvermögen(s)“ und dadurch der Abhängigkeit bewusst werden kann. Die Erkenntnis-Formel des Predigers „Es gibt keine Zuflucht außer zu dir, labbayka labbayka “ bekräftigt den Herrschaftsanspruch und setzt den ehemals Verfolgten wieder in die Rolle des Retters und Beschützers ein. Die narrative Logik der Höllen-Passage ist somit in eine übergeordnete Herrschaftslogik eingelassen. Flucht und Rückkehr erscheinen vor diesem Hintergrund als narrative Elemente, um die binäre Konstellation, das Bündnis zwischen Herrscher und Untertan zu erneuern. Die Flucht in die Hölle und der damit verbundenen scheinbaren Lossagung vom Volk wird als Maskerade, als ästhetische Strategie lesbar, um dem Herrschaftsanspruch im Modus der Schrift eine legitime Gestalt zu verleihen. 6 Der Ausspruch ,labbayka labbayka‘ kann nach Übersetzer Gernot Rotter mit „Hier bin ich, zu Deinen Diensten“ übersetzt warden (vgl. 68-69). Julian Osthues (Luxemburg) 296 Der Essay als strategischer Zwischenraum ästhetischer Selbstinszenierung Der gattungstypologische Status der vorliegenden Textsammlung Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten ist keineswegs hinreichend geklärt. So wird im Katalog des Belleville Verlags der Text als „Band Prosa“ angekündigt. Koschorke/ Kaminskij, die eine Typologie von ,Despotenliteratur‘ 7 skizziert haben, stufen den Text als „Roman“ (Koschorke/ Kaminskij 2011: 15) ein, Heiner Lohmann spricht dabei mal von „Erzählungen“ (Lohmann 2011: 262), mal von „Essay“ (Lohmann 2011: 263). Gegenüber dieser Verortung im fiktionalen Bereich der Literatur, der auch die Literaturkritik folgt, spricht der Übersetzer Gernot Rotter von einer „Sammlung von Essays“, die (...) alle mehr oder weniger starke Bezüge zu der soeben skizzierten Biographie Gaddafis aufweisen. Literarisch sind sie schwer in eine bestimmte ,Schublade‘ einzuordnen, da sie sich zwischen philosophischem Anspruch, beduinischen Träumereien, ironischer Gesellschaftskritik und politischer Satire bewegen. (Rotter 2004: 9) Auch sei den Essays eine „politische Botschaft“ (Rotter 2004: 9) unterlegt. Für diese Einordnung als Essay sprächen ferner die Vielzahl autobiographischer Bezüge, vor allem aber die Position der Stimme, die sich aus dem biographischen Kontext Gaddafis nicht herauslösen lässt. Ebenso bildeten der „Verzicht auf strengen Aufbau“, der „durchschnittliche Umfang“ und der „monologische Charakter“ (Schlaffer 1997: 522) Merkmale, die trotz des Fiktionalitätspotentials der Texte auf einen prekären gattungstypologischen Status hindeuten. Ferner weist Gernot Rotter auf eine starke Nähe zur Mündlichkeit der arabischen Urfassung hin. „Gaddafi hat diese Essays“, so schreibt der Übersetzer, „wohl nicht schriftlich niedergelegt, sondern vermutlich frei auf Band gesprochen“ (Rotter 2004: 12). In der Literaturwissenschaft kennzeichnet die Textsorte Essay, was seine Gattungszuweisung betrifft, eine besondere gattungstypologische Situation: Er bewegt sich im Sinne eines „sowohl als auch“ bzw. - anders gewendet - als ein „weder noch“ (Parr 2006: 1) gewissermaßen zwischen den Stühlen einer eindeutig binären Zuordnung (z.B. Wissenschaft vs. Kunst/ Literatur; Politik vs. Literatur). Das Essay ist, so Parr, ein „je nach Kontext immer wieder aufs Neue wandelnde[s] Chamäleon“, das sich „allen traditionellen Zugriffen gattungstheoretischer wie auch stilistischer Art beharrlich zu entzie- 7 Koschorke/ Kaminskij unterteilen diese dabei in vier Texttypen: (1) staatsreligiöse Buchkulte (Hitler, Mao Zedong, Nyýazow); (2) literaturkritische Einlassungen (Lenin, Stalin, Mussolini, Kim Jong-il); (3) Romane (Gaddafi, Saddam Hussein); (4) Lyrik (Karadžić) (vgl. Koschorke/ Kaminskij 2011: 15). Maskeraden der Macht/ Schrift. 297 hen“ (Parr 2006: 1f.) vermag und sich somit „nur sehr schwer ins enge Korsett einer Definition zwingen lässt“ (Parr 2006: 1). Der Essay provoziert folglich eine „Durchbrechung gleich mehrerer Gattungserwartungen“ (Parr 2006: 9). Als Beispiel hierfür gelten u.a. das „Traktat“, die „feuilletonistische Kritik“, die „Literatur“ oder das „Populärphilosophische“ (Parr 2006: 9). 8 Dieser ambivalente und prekäre Status des Essays eröffnet eine Perspektive, die der vorliegenden Textsammlung im Kontext von Macht, Maskerade und Schrift eine zentrale Bedeutung einschreibt. Im Folgenden gilt es abschließend den Zusammenhang zwischen Essay und Autorität zu diskutieren und an die Ergebnisse der Medien- und Textanalyse anzuschließen. Der Essay Die Flucht in die Hölle erlaubt vor diesem Hintergrund eine Lesart, die dem Essay als Grenzbereich zwischen Faktum und Fiktion eine wichtige Funktion zuweist: Die Identifikation von Autor (Gaddafi) und Erzählposition garantiert Gaddafi, die Autorität seiner Stimme nicht vollständig an eine fiktionale Erzählinstanz abgeben zu müssen. Dieser Wirklichkeitsanspruch der Stimme besitzt eine tragende Rolle, um den formulierten Herrschaftsanspruch, erscheint die Höllen-Erzählung auch noch so weit ins Fiktionale entrückt, zu beglaubigen. Der Anspruch auf Authentizität des Erzählten ist somit stets rückgebunden an einen Wahrheitsanspruch, der über die Grenzen des Textes hinweg außertextuelle Gültigkeit einfordert. Dieser Realitätseffekt wird von der Erzählinstanz gleich an mehreren Stellen aufgerufen, um die Flucht in die Hölle als wahrhaftiges Erlebnis zu bezeugen: „Es war wirklich ein Abenteuer und zählt zu den seltsamsten wahren Geschichten. Ich schwöre euch, dass es kein Phantasieprodukt ist. Ich bin tatsächlich zweimal vor euch in die Hölle geflohen, um mich selbst zu retten“ (64 ). An späterer Stelle heißt es: „Ich kann sie euch jetzt beschreiben, wie ich sie gesehen habe. Ich kann euch jede Frage beantworten, die ihr zur Hölle habt, die ich von so nahe sah“ (66). Die Beispiele zeigen außerdem, wie die Erzählinstanz gleichzeitig einen Adressaten erschaffen muss, um das 8 (Inter)diskurstheoretisch betrachtet changieren Parr zufolge essayistische Schreibweisen zwischen nicht-fiktionalen und fiktionalen Textsorten, wobei sie „spezialdiskursives Material als auch hochgradig interdiskursives Material, insbesondere literarisches Diskursmaterial zugleich verarbeiten“ (Parr 2006: 7,10). Der Essay als „diskursverbindendes Genre“ (Parr 2012: 79) integriert und koppelt, so zeigt ein (inter)diskursanalytischer Blick auf Gaddafis Essayband, auf vielfältige Weise religiöse, politische, philosophische und literarische Diskurselemente. Vgl. hierzu auch folgende Aussagen Rotters über Gaddafis Schreibweise: „Auffallend und ungewohnt im Vergleich zu seinen rein politischen Schriften ist, dass er immer wieder Bezug auf den Koran nimmt, sich dabei aber nicht scheut, einzelne Verse und Passagen in - gelinde gesagt - sehr unorthodoxer Weise für seine eigene Weltsicht einzusetzen und zu kommentieren. Bei aktuellen politischen Bezügen schließlich wird immer wieder seine Antipathie gegen Israel und die USA deutlich, wobei er aber auch keinen Hehl aus seiner kritischen Haltung gegenüber den etablierten arabischen Führern macht“ (Rotter 1994: 9). Julian Osthues (Luxemburg) 298 binäre Herrschaftsverhältnis und damit die reziproke Abhängigkeit zwischen sich, dem Despoten, und dem Volk herzustellen und zu bekräftigen. Zusammengefasst wird das Essay als strategischer Ort einer ästhetischen Selbstinszenierung lesbar. Was somit einerseits als Schwierigkeit einer gattungstypologischen Einordnung erscheint, wird anderseits - so die abschließende These - als Zwischenraum inszenierbar, in dem die Stimme zwischen den Polen Fiktion (Literatur) und Faktum (Wirklichkeit) oszilliert, sich sozusagen in der Schwebe halten kann. Diese strategische Unverfügbarkeit erlaubt der Stimme eine Form der Maskerade, die ein psychologisches Wissen, einen Blick hinter die Maske verweigert. Die Schrift ermöglicht dem Despoten somit einen fiktiven Rückzugswie Reflexionsraum, die jedoch eine nur scheinbar abgeschlossene Welt repräsentiert. Die Grenzziehungen zwischen der fiktionalen Welt des Textes und der außertextuellen Wirklichkeit werden dabei permanent aufgerufen, suspendiert und neu verhandelt. Auf der einen Seite folgt der Text damit einer narrativen Logik, die im Schluss die Herrschaftslegitimation aktualisiert und darüber hinaus rückwirkend zu bezeugen versucht. Andererseits - so haben die zitierten Textstellen zeigen können - bleibt ein gewisses Maß an Widersprüchlichkeit und Irritation im Textverständnis bestehen, wodurch die Erwartungen, wie sie die Rezeption an die ‚Literatur‘ formuliert, enttäuscht werden müssen. Die Essays fügen sich demnach eher in das Medienbild ein, als dass sie entgegengesetzt eine analytische Innensicht preisgeben und ein ,Verstehen‘ des Despoten ermöglichen. Im prekären Zwischenraum des Essays bleibt der Despot schließlich unverfügbar. Maskeraden der Macht/ Schrift. 299 Literaturverzeichnis al-Gaddafi, Muammar: Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten. München 2004 [arab. 1993/ franz. 1996]. : Vision. Gespräche und offener Meinungsaustausch mit Edmond Jouve. München 2009 [franz. 2004]. : Illegale Publikation. Vier Essays. München 2009. : Das Grüne Buch. Die dritte Universaltheorie. Schnellbach 2011. 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Als 2009 im Hanser Verlag, in der Edition Lyrik Kabinett, ein Gedichtband mit dem Titel In der Wüste findet nur der Kluge den Weg erschien, war die Aufmerksamkeit in Feuilletons und Literatursendungen groß, 1 was weniger am poetischen Inhalt oder ästhetischen Gehalt des Werkes lag, sondern vor allem der Tatsache geschuldet war, dass sich hier ein gegenwärtiger Staatslenker als Dichter hervortat. Der Autor war nämlich kein Geringerer als Mohammed bin Rashid Al Maktoum, der Scheich des Emirats Dubai, das sich mit milliardenschweren infrastrukturellen Projekten und städtebaulichen Visionen in den letzten Jahrzehnten zum „Leitstern einer ganzen Weltregion“ (Daus 2007: 224) entwickelt hat und 2005 durch die Financial Times das Prädikat „Middle Eastern City of the Future“ (Konzelmann 2005: 309) verliehen bekam. Dass sich der Herrscher dieser modernen Geschäftsmetropole und exotischen Urlaubsoase in dem Gedichtband von einer vermeintlich anderen Seite zeigt - weniger als kapitalschwerer Visionär, sondern vielmehr als Ästhet, der, immer noch ganz Beduine, tief den Traditionen der indigenen Volksdichtung, der Nabati-Dichtung, verwurzelt ist und sich sogar selbst in diese einschreibt -, durfte verwundern. Das Spannungsverhältnis, das sich zwischen seiner zukunftsgerichteten Realpolitik auf der einen und dem Verfassen traditioneller Gedichte in einer jahrhundertealten Dichtungstradition auf der anderen Seite ergibt, wird ein zentrales Thema dieses Aufsatzes sein und verbindet sich mit verschiedenen Fragestellungen: Was bringt den Herrscher eines hochmodernisierten, von urbanen Visionen geprägten Staates dazu, sich intensiv mit der beduinischen Nabati-Dichtung auseinanderzusetzen, ja, diese gar fortzuschreiben? Gibt es Berührungspunkte zwischen poetischem Inhalt und politischem 1 Zu nennen wäre etwa Druckfrisch mit Denis Scheck: http: / / www.daserste.de/ information/ wissen-kultur/ druckfrisch/ sendung/ 2009/ inder-wueste-104.html (Zugriff am 2.05.2014). Christopher Schliephake (Augsburg) 302 Programm? Ist die Dichtung vielleicht nur eine Spielart der in den Emiraten häufig anzutreffenden Umwandlung des kulturellen Erbes in ein mehr oder minder spektakuläres Anschauungsobjekt, wie es Besuchern etwa im Hotelturm „Burj al-Arab“ entgegentritt, der architektonisch das geblähte Segel einer Dhau, eines klassischen arabischen Segelschiffs, nachbildet? Antworten auf diese Fragen können lediglich als ein Versuch der Annäherung an das Thema verstanden werden, zumal auf eine sprachlichästhetische Analyse verzichtet und der Fokus auf politische sowie kultur- und funktionsgeschichtliche Aspekte gelenkt sein wird. Die Dichtung des Scheichs wird als ein Medium des kulturellen Gedächtnisses interpretiert werden, das einen integralen Bestandteil der Kulturpolitik des Scheichs darstellt und sich mit einer dezidiert politisch-funktionalen sowie herrscherrepräsentativen Zielsetzung verbindet. Die Argumentation entwickelt sich dabei aus einer Betrachtung der gegenwärtigen Politik Scheich Al Maktoums und der Entwicklung des Emirats Dubai sowie kulturgeschichtlichen Bemerkungen zur Nabati-Dichtung, bevor einige Gedichte des Scheichs auf ihre Funktion und ihren Inhalt hin analysiert werden. II. My Vision: Challenges in the Race for Excellence - so lautet der Titel 2 eines Buches von Scheich Al Maktoum, das im Jahr 2006 erschien und im Wesentlichen jenes politische Programm absteckt, das er konsequent verfolgt, nämlich „die Wirtschaft seines Emirats in ein ökonomisches Zentrum für die ganze Welt“ (Konzelmann 2005: 289) zu verwandeln. 3 Die visionären Zukunftspläne des Scheichs ergeben sich dabei aus der Herausforderung, 2 Der Titel bringt implizit das von Konkurrenzkampf und Kooperation bestimmte Verhältnis zu den anderen Mitgliedern der Vereinigten Arabischen Emirate zum Ausdruck. Dieses ist bereits in der Struktur der Föderation angelegt, die „einerseits durch den Gegensatz von staatlichem Zusammenschluss und partikularen Eigeninteressen der Mitglieder und andererseits durch das Ineinandertreffen tribaler und staatlicher Herrschaftsformen“ geprägt wird (Scharfenort 2009: 42). Das Erreichen einer herausragenden, exzellenten Stellung im internationalen Vergleich ist dementsprechend auf Zusammenarbeit und den Zusammenschluss von Ressourcen gerichtet, während das „mentale Konkurrenzdenken“, das die Emirate seit alters her auszeichnet, heute vermehrt „städtebaulich“ zutage tritt, insbesondere in der „kontinuierlichen Schaffung von Statussymbolen“ (ebd. 74), die die jeweilige Vorrangstellung innerhalb der Scheichtümer nach außen hin repräsentieren sollen. 3 Verbunden mit diesem ambitionierten Ziel sind zwei Lieblingsprojekte des Scheichs: zum einen das infrastrukturelle Projekt Dubai Business Bay, das das Emirat sukzessive zu dem größten Bankenzentrum der Region machen soll, zum anderen das verwandte Vorhaben Dubai Media City, das die Rahmenbedingungen dafür schaffen soll, es in einen Industriestandort für Computerfirmen und High-End Technologien umzuformen (vgl. Konzelmann 2005: 289; Daus 2007: 208). Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 303 Dubais Status als global player auch für die Zeit zu sichern, in der die Ölressourcen der Region aufgebraucht sein werden und der Profit aus anderen Quellen geschöpft werden muss. 4 Tatsächlich ist der Aufstieg Dubais insgesamt ohne dieses spannungsvolle Zusammenspiel von innovativen Visionen auf der einen und wirtschaftlichen und machtpolitischen Herausforderungen auf der anderen Seite nicht zu erklären. Wie Scharfenort feststellt „waren die Scheichtümer der arabischen Golfstaaten bis Mitte des 20. Jahrhunderts infrastrukturell unterentwickelt sowie politisch und wirtschaftlich unbedeutend“ (Scharfenort 2009: 9). Dass die Entwicklung erst mit der Ölförderung nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, zeigen noch die Fotos Sir Wilfried Thesigers sowie Luftaufnahmen der British Airforce aus den 1950er Jahren als Dubai nicht mehr war als eine mittelgroße Hafenstadt am Arabischen Golf, die v.a. als Warenumschlagplatz fungierte und sich im Wesentlichen durch Perlenfischerei finanzierte (vgl. Daus 2007: 183-186). Die Produktion und Ausfuhr von Öl brachten ein Kapitalwachstum, das sich seit den 1960er Jahren städtebaulich niederschlug und seit dieser Zeit aus der Hafenstadt mit gerade einmal zwei historischen Stadtvierteln durch Ölschifffahrt, v.a. aber durch Reise- und Flugverkehr und der Errichtung eines weitvernetzten, globalen Handels- und Verbindungsnetzes eine der pulsierendsten Businessmetropolen und beliebtesten Urlaubsoasen der Welt gemacht hat; eine weitverzweigte, auf den Reißbrettern der internationalen Stararchitekten entstandene Eventstadt, die mit der alten Beduinenstadt nicht mehr viel gemeinsam hat. (vgl. Scharfenort 2009: 134-152) Mohammed bin Rashid al-Maktoum ist ein Kind dieses rasanten Aufstiegs. 5 Am 22. Juli 1949 geboren, erlebte er während seiner Schul- und Studienzeit - 1966 ging er zum Englischstudium nach Cambridge bevor er seinen militärischen Grunddienst leistete - diese Entwicklung hautnah mit und tat sich ab den 1980er Jahren bei Pferdesportwettkämpfen und als Pferde- 4 Dementsprechend wird Dubai bereits häufig als „Post-Oil City“ bezeichnet. Zu einer Diskussion dieses und verwandter Begriffe wie „Oil Urbanisation“ (vgl. Scharfenort 2009: 331 ff.). 5 Die Familie Al Maktoum, die 1833 nach Dubai kam, gilt seit jeher als ungemein geschäftstüchtig und lehnte sich bei ihren Konflikten mit den umliegenden Scheichtümern häufig an auswärtige Mächte an - ganz besonders an Großbritannien. Die im Vergleich mit den anderen Emiraten stärker am Westen orientierte Gesetzgebung sowie die frühe Einrichtung von Freihandelszonen hat darin ihren geschichtlichen Ursprung und wird häufig im Gegensatz zu „den beduinisch sozialisierten und eher konservativ agierenden Al Nahyan“ aus Abu Dhabi gesehen. Vgl. Scharfenort 2009: S. 79- 84. Christopher Schliephake (Augsburg) 304 züchter mit durchaus umstrittenen Praktiken hervor. 6 Als er am dritten Januar 1995 per Dekret seines Bruders zum Kronprinz des Emirats wurde, wirkte er intensiv an jenen Bauprojekten mit, die das heutige Stadtbild Dubais prägen. 7 Seit 2006 ist Mohammed bin Rashid al-Maktoum Scheich des Emirats. Zugleich ist er Premier- und Verteidigungsminister sowie Vizepräsident der Vereinigten Arabischen Emirate. Die Modellierung Dubais als hypermoderne Weltstadt wird unter seinem Emirat unentwegt weiterbetrieben. Wie seine Vorgänger, legt auch er den Fokus auf infrastrukturelle Bereiche wie den Flughafenausbau, die das Emirat zum „Zentrum des diversesten Warenhandels“ und einem „Verkehrsmittelpunkt erster Ordnung“ gemacht haben, der als „logistisches Drehkreuz zwischen den Märkten in Asien, Europa, dem Nahen Osten und Afrika“ fungiert (Daus 2007: 189- 193). Dubai hält mittlerweile nicht nur den beherrschenden Anteil an der Emirates Airline, sondern hat auch den Duty-Free-Bereich am Flughafen erweitert, wo „Shopping zur Folklore“ wird (195). 8 Scheich Al Maktoum schafft so ein „Paradies unserer Zeit, mit Hilfe der Regeln einer kapitalistisch orientierten Welt“ (Konzelmann 2005: 18) und macht sein Emirat kontinuierlich zu einem Businessprojekt, in dem die Technologien der Zukunft entwickelt und milliardenschwere Investitionen getätigt werden sollen, sowie zu einem Inszenierungs- und Prestigeobjekt, das nicht nur innerhalb der Emirate eine Vorrangstellung beansprucht, sondern auch Touristen aus der ganzen Welt in seinen Bann zu ziehen vermag. Die Rekonstruktion des alten Stadtzentrums, vor allem des Stadtteils Al Bastakiya verliert dagegen an Bedeutung und wird auch in Reisebroschüren oder im Internet kaum 6 So wird ihm, was die Ausbildung seiner Jockeys angeht, der Vorwurf des Menschenhandels und der Kinderarbeit gemacht, was auch für die vielen Gastarbeiter in seinem Emirat insgesamt gilt. Siehe dazu etwa http: / / www.hrw.org/ de/ news/ 2006/ 11/ 11/ vae-missbrauch-von-arbeitern-w-hrenddes-baubooms (letzter Zugriff am 02.05.2014). 7 Hervorzuheben sind der Burj Dubai oder Khalifa Tower, mit 829 Meter Höhe das momentan höchstragendste Gebäude der Welt, ein „Materie gewordenes Ausrufezeichen“ (Daus 2007: 219), das die Skyline der Stadt prägt sowie die Palm Islands, eine Gruppe künstlich geschaffener Inseln, deren Landzungen wie Dattelpalmen in den Arabischen Golf reichen und mit Villen und Ferienhäusern bebaut werden. 8 In diesem Zusammenhang ist eine Initiative des Scheichs zu sehen, die den Ankauf von Goldbeständen vorsieht, die hier in beträchtlicher Menge und vielfältigen Ausführungen und Verarbeitungen angeboten werden ebenso wie seine weltweit einzigartige Einführung des „Dubai Shopping Festivals“, das jährlich Millionen von Besuchern aus aller Welt anlockt und den Kommerz zur Kult- und Kulturform erhoben hat (vgl. Konzelmann 2005: 288). Unterschiedliche kulturelle sowie sportliche Events - vom Klassikkonzert bis hin zu hochdotierten Tennistournieren und einer großen Halle mit künstlichen Skipisten einschließlich Lifts - machen Dubai des Weiteren zu einer Urlaubsadresse ersten Ranges, wobei Erlebnis und Unterhaltung groß geschrieben werden; so wurde erst kürzlich das „Dubailand“ fertiggestellt, ein großer Freizeitpark, der das Emirat als Ziel von Familienurlauben noch interessanter machen soll. Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 305 beworben, wobei die Förderung von einheimischen Kulturschaffenden insgesamt gering zu veranschlagen ist (vgl. Daus 2007: 210-212). Ein ‚kulturelles Erbe‘ als solches wird hier dementsprechend kaum in die Planspiele der von urbanen Visionen und ökonomischen Interessen geprägten Realpolitik miteinbezogen. 9 Dass die Modellierung Dubais als hypermoderne Weltstadt nicht nur eine städtebauliche Seite hat, sondern auch medial in Szene gesetzt wird, zeigt ein Blick auf die Homepage des Scheichs, wo sie sich mit Aspekten der Herrschaftsinszenierung und der Herrscherrepräsentation verbindet und wo auch dem kulturellen Gedächtnis eine entscheidende Bedeutung zukommt, als dessen Bewahrer und Förderer Scheich Al Maktoum sich stilisiert. 10 Gleichsam erfährt die Biographie des Scheichs eine ausführliche Würdigung: Klickt man auf den Tab „Biography“, so öffnet sich ein Video, das Mohammed bin Rashid Al Maktoum zunächst in einem Hubschrauber zeigt, wie er sowohl über die Baustellen als auch die Wüstenlandschaften seines Emirates hinwegfliegt. Es ist das Bild eines Herrschers, der alles sieht und, so meint man, aufgrund seiner Mobilität überall gleichzeitig sein kann. Man kann diverse Episoden aus seinem Leben betrachten: maschinengewehrschießend beim Militär, händeschüttelnd bei Wohltätigkeitsveranstaltungen, der Scheich als Bauherr, als Jockey bei Pferderennen und, nicht zuletzt, als Poet, lesend auf Bühnen sitzend; all das mit einer Musik unterlegt, wie man sie in einem Actionfilm erwarten würde und, das ist für das präsentierte Selbstverständnis des Scheichs von herausragender Bedeutung, mit den gleichgeordneten Begriffen „leader, equestrian, poet“ untertitelt. Die Dichtung nimmt innerhalb dieser intermedialen Selbstinszenierung des Scheichs eine überragende Stellung ein. An die Seite des realpolitischen Visionärs tritt hier das Bild eines Denkers, eines Ästheten, der zurückgezogen über seinen Gedichten sitzt; auf Fotos sieht man ihn mal schreibend, mal rezitierend, oft bei öffentlichen Anlässen, aber auch im Privaten. Dementsprechend findet sich auf der Webseite ein Archiv seiner Dichtung, die in englischsprachigen Übersetzungen abzurufen ist, wobei unter der Überschrift „Studies“ auch literaturwissenschaftliche Aufsätze und Interpretationen zu einigen Gedichten zu finden sind, ebenso wie Informationen zur Nabati-Dichtung selbst - 9 Diese Politik ist kostspielig und hat durchaus ihren Preis: So stand Dubai vor einigen Jahren vor dem Staatsbankrott - ein Schicksal, das gerade noch durch ein milliardenschweres „Rettungspaket“ aus Abu Dhabi abgewendet werden konnte. Wer jedoch meint, dass sich Scheich Al Maktoum dadurch von seinen umtriebigen Geschäften und Projekten abbringen ließe, der sieht sich in diesem Eindruck getäuscht, seitdem der Scheich die Planung einer Stadt mit seinem Namen, Mohammed bin Rashid City, ausgeschrieben hat. Ein Projekt für das zunächst 10 Milliarden Dollar veranschlagt sind. 10 http: / / www.sheikhmohammed.co.ae/ vgn-ext-templating/ v/ index.jsp? vgnextoid= b9dfc4b62dbb4110VgnVCM100000b0140a0aRCRD&appInstanceName=default / index.asp (Zugriff vom 20.07.2014). Christopher Schliephake (Augsburg) 306 der wissenschaftliche Apparat wird dem Corpus des Dichters gewissermaßen beigegeben. Das Bild, das dem Besucher auf der Seite entgegentritt, ist somit das eines omnipotenten Herrschers, der sich politisch nicht nur als Visionär gibt, sondern auch ganz den Traditionen und der Geschichte seines Landes verhaftet bleibt. Das wird in den vielfältigen Informationen deutlich, die die Seite über Familienhistorie und Geschichte des Landes enthält, äußert sich aber nirgends so sehr wie in der Dichtung des Scheichs. Um die Rolle herauszustellen, die diese Dichtung für die Herrscherrepräsentation und die Kulturpolitik Al Maktoums spielt, ist es jedoch zuvor notwendig, die kulturhistorische Bedeutung der Nabati-Dichtung zu skizzieren, die seit jeher integraler Bestandteil der politischen und sozialen Kommunikation auf der arabischen Halbinsel war. III. Poesie allgemein nimmt in der arabischen Welt seit Jahrhunderten eine überragende Stellung ein und gilt als die höchste aller Künste. Ihre Ursprünge liegen in vorislamischer Zeit in den langen, polythematischen Kassiden der arabischen Beduinenstämme (vgl. Walther 2004: 22), 11 die seit dem 8. Jahrhundert von Schriftgelehrten, Grammatikern und Philologen aufgezeichnet wurden und nicht nur aufgrund ihrer kunstvollen sprachlichen Verfasstheit den Kern des lyrischen Kanons ausmachten, sondern weil sie auch eine historische Quelle von unschätzbarem Wert darstellten. So wurden sie verwendet, um einerseits „dunkle Stellen des Korans“ (Walther 2004: 26) zu interpretieren, andererseits um die Geschichte der vorislamischen Zeit, die auch als „Zeit der Unwissenheit“ (ebd.) bezeichnet wird, zu studieren, deren Grundlinien lediglich in den langen Beduinengedichten enthalten waren. In diesem Sinne war Dichtung seit jeher mehr als eine reine Kunstform, sondern, gemäß der Wendung, wonach es sich bei Poesie um „geordnete“, bei Prosa jedoch um „ungeordnete oder verstreute Worte“ handelt (Reynolds 2010: 392-393), integraler Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Dies wird nicht zuletzt in ihrer Bezeichnung als diwan al-‘arab 12 zum Aus- 11 Jayyusia spricht deshalb auch davon, dass „Arabic poetic language had largely originated in the desert and had built most of its poetic idiom in desert surroundings” (Jayyusia 2006: 26). 12 „Diwan“ ist ein ursprünglich persisches Wort, das die höfische oder königliche Kanzlei beschrieb und häufig mit „Archiv“ wiedergegeben wird. Seit der klassischen Zeit umschreibt es Kompilationen von Gedichten eines Dichters, Stammes etc. Vgl. Walther 2004: 38-39. Das Wort spiegelt allgemein die Bedeutung der Dichtung für das kulturelle Gedächtnis wider oder wie Heinrichs es ausdrückt: „What the diwan was to the Per- Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 307 druck gebracht - eine Funktion, die sie in der städtisch-höfischen Kultur der islamischen Zeit und des Mittelalters verlor, als Geschichte vermehrt in Prosa abgefasst wurde 13 und sich kürzere thematisch orientierte Gedichtgattungen auszubilden begannen, die sich in Aufbau, Metrik und Sprache jedoch strikt an die altarabischen Kassiden orientierten. 14 Zusammen mit der antiken Beduinendichtung bilden die Gedichte dieser Zeit den Kanon der arabischen Dichtung, der noch bis in die Gegenwart Bestand hat und im Kern das ausmacht, was als „klassische arabische Dichtung“ bezeichnet wird. 15 Die Nabati-Dichtung gehört zwar in den weiteren geschichtlichen Kontext der klassischen Dichtung, ist dabei aber nicht deckungsgleich mit ihr und ist vielmehr eine Variante der beduinischen Volksdichtung, die sich auf der arabischen Halbinsel herausbildete, wobei ihre Genese im Einzelnen im Dunkeln liegt. Der arabische Universalgelehrte Ibn Chaldun verwies in seinem Werk al-Muqaddima bereits Ende des 14. Jahrhunderts auf diese Dichtung und verortete sie im soziokulturellen Umfeld der umherziehenden Beduinenstämme, die sie mündlich tradierten und im Wesentlichen über sie kommunizierten (Reynolds 1995: 10). Dass die Nabati-Dichtung nicht von den Schriftgelehrten im höfisch-städtischen Milieu rezipiert wurde, hatte dabei zum einen räumlich-geographische Gründe, zum anderen aber auch ideologische, da sie als eine im jeweiligen Dialekt der Beduinenstämme abgefasste Dichtung nicht zum Kanon der Fushā, also der im klassischen Hocharabisch des Korans formulierten Poesie, passte. 16 Dies ist auch als ein sians, poetry was to the Arabs, namely a preserver of historical records“ (Heinrichs 1997: 251). 13 Dazu auch Shryock, der die vielfältigen Mischformen zwischen Prosa und Lyrik bespricht, innerhalb derer das Spannungsverhältnis von mündlicher Überlieferung und schriftlicher Verfasstheit deutlich zutage tritt, und untersucht, wie das Abfassen von Stammesgeschichten in schriftlichen Berichten zu vielfältigen Deutungsproblematiken in traditionellen Beduinengesellschaften führt (vgl. Shryock 1997: 95-147). 14 Zu den unterschiedlichen Gattungen, innerhalb derer v.a. die Panegyrik und Liebeslyrik eine herausragende Stellung einnehmen vgl. Walther 2004: 50-56, die auch die Schmähgedichte hervorhebt, die „an Einzelpersonen, oft mit ihren Familienangehörigen, an Gruppen, Sekten und Völker gerichtet sein“ konnten und „dann politisch, sozial oder auch religiös kämpferische bis destruktive Intentionen“ hatten (55). 15 Jayussia sieht in diesem strikten Festhalten an der althergebrachten Regeldichtung einen Grund für den qualitativen „Niedergang“ der arabischen Dichtung in postklassischer Zeit, als keine neuen Themen erschlossen wurden und auch der spontane, subjektive Ausdruck stark zurückging. Siehe dazu allgemein Jayyusia 2006. Freie Variation der althergebrachten Schemata und Themen ist demgegenüber - abgesehen von älteren Versuchen in der Volksdichtung - erst die Tendenz einer literarischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Siehe dazu Walther 2004: 289-291. 16 Fushā, das klassische Hocharabisch, ist eine Kultursprache, die auf der Grammatik des Korans beruht und die lange zum Bildungsideal einer Elite gehörte, da ihre Beherrschung, wie Wiebke Walther herausstellt, bis ins 19. Jahrhundert hinein auch klassendistinktiv wirkte, um die Besonderen, al-Chāssa, von der Masse, al-’Āmma, zu unterscheiden (vgl. Walther 2004: 10-15). Das Hocharabisch bzw. Neuhocharabisch ist dabei Christopher Schliephake (Augsburg) 308 Grund dafür zu sehen, warum die Nabati-Dichtung noch von arabischen Gelehrten in der Neuzeit verschmäht, umgekehrt die klassische arabische Dichtung jedoch als ausgesprochen elitär angesehen wird (Sowayan 1982: 17). Der Literaturwissenschaftler Saad Sowayan, der in seiner Dissertation Nabati Poetry: The Oral Poetry of Arabia (1982) die bislang einschlägige Monographie zur Nabati-Dichtung vorgelegt hat, führt die Ursprünge der Beduinendichtung auf die klassische Tradition zurück und stellt die vielfältigen, insbesondere formalen Bezüge dazu heraus: So lehnt sie sich in „Form, Metaphorik, Metrik und Duktus“ (Tramontini 2009: 82) eng an die klassische Dichtung an, wobei die Zahl der möglichen Metren verkürzt, das Reimschema jedoch auf ein „doppeltes Monoreimschema“ (Ott 2009: 79) erweitert wird. Als grundlegenden Unterschied nennt Sowayan die unterschiedlichen Sprachvarianten, ersichtlich auch in der Bezeichnung „Nabati“. Ihm zufolge geht das Wort etymologisch auf eine geographische Region im saudischen Hochland zurück ebenso wie auf den Beduinenstamm der Nabatäer, wird heute aber nicht mehr in dieser spezifischen Bedeutung verwendet, sondern bezeichnet allgemein eine in Umgangssprache oder im Beduinendialekt der arabischen Halbinsel verfasste Dichtung (vgl. Sowayan 1982: 1-2). Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand ist besonders der erste Teil von Sowayans Monographie aufschlussreich, der die soziokulturellen und funktionsgeschichtlichen Bezüge und Aspekte der Nabati-Dichtung nachzeichnet. Denn anders als die klassische arabische Dichtung in den städtischen Herrschaftszentren blieb sie unter den Beduinenstämmen der arabischen Halbinsel, wo sich die Lebensverhältnisse von der Frühzeit bis ins frühe 20. Jahrhundert wenig wandelten, ein zentrales Medium des kommunikativen Gedächtnisses und bezog dezidiert herrschaftsrepräsentative sowie politisch-funktionale Aspekte mit ein. So stellt Sowayan heraus, dass Geschichte unter den Beduinenstämmen nicht nur deshalb in Gedichten tradiert wird, weil sie mit ihrem festen Reimschema und Metrum leichter zu memorieren sind, sondern weil sie darüber hinaus integraler Bestandteil jeglichen historischen Geschehens selbst waren. Zur Illustration liefert er etliche poetische Beispiele aus dem 19. Jahrhundert, in denen historische Fehden und Kriege festgehalten, mit denen aber auch Herrschaftsansprüche kundgetan und Friedensverhandlungen geführt wurden, kurzum: mit de- heute Literatur- und Schriftsprache, die in Medien, Politik und formalen Kontexten gebraucht und auch in der Schule unterrichtet wird. Umgangssprache sind jedoch die Dialekte und Soziolekte, die sich in den verschiedenen Teilen der arabischen Welt zum Teil sehr stark voneinander unterscheiden können. „Als eigentliche Muttersprache dient“, wie Walther erklärt, „die Umgangssprache heute in der Literatur oft zum Ausdruck natürlicher Gefühle. (...) Politische und sonstige Schmähdichtung wird, sofern sie nicht überregional wirken soll, deswegen schon seit einigen Jahrzehnten gern im jeweiligen Dialekt abgefasst“ (16). Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 309 nen Politik gemacht wurde. Beispielsweise schickte etwa ein Scheich, der von einer verfeindeten Gruppe von seiner Position verdrängt wurde, in Gedichtform ein Hilfegesuch an seine beiden Söhne. Als er mit deren Unterstützung wieder restituiert war, erging an die Nachbarstämme eine Botschaft über seinen Führungsanspruch, wiederum in Gedichtform. Und wieder war es ein Gedicht, das seinen Einfall in das Territorium eines anderen Beduinenstammes ankündigte (Sowayan 1982: 80-105, vgl. auch Reynolds 2010: 392-394). Diese Beispielkette ließe sich weiter ausdehnen und macht v.a. den engen Zusammenhang von Stammesdichtung, -geschichte und politik deutlich, der vereinzelt auch heute noch präsent ist - zumindest unter den Bevölkerungsgruppen Arabiens, die noch traditionell beduinisch sozialisiert sind. Ende des 20. Jahrhunderts interviewte der Anthropologe Andrew Shryock einen jordanischen Beduinenscheich, der in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Stammesgeschichten die Rolle der Dichtung hervorhob und ihr die eigentliche Autorität zuwies. Er formulierte prägnant: „The story that doesn’t have a poem is a lie“ (Shryock 1997: 258). Freilich bietet die Dichtung, die Saad Sowayan vorstellt, eine weite Formen- und Inhaltsvielfalt: Neben der Beschreibung von alltäglichen Vorkommnissen findet sich ein breites Spektrum von Liebeslyrik, die auf Motivebene eng an die klassische arabische Dichtung angelehnt ist, ebenso wie ein Korpus von Gedichten, die Lebensja Überlebenswissen der Beduinen enthalten - etwa, wenn Jagdpraktiken beschrieben, Wasserlöcher lokalisiert oder ganz allgemein Wanderrouten und geographische Gegebenheiten weitergegeben werden. Der deutsche Titel des Gedichtbandes von Scheich Al Maktoum lautet: In der Wüste findet nur der Kluge den Weg. Er ist einem Vers aus einem darin enthaltenen Gedicht entnommen, verweist implizit auf diese Art von Wissen und gibt dem Rezipienten gleichsam die Lyrik als eine Form der Erlangung dieser Überlebensklugheit an die Hand. Eine große Bedeutung innerhalb der Beduinendichtung kommt der beschreibenden oder deskriptiven Poesie zu, die zumeist Kamele oder auch Pferde in den Mittelpunkt stellt ebenso wie Heldendichtung, die von Raubzügen, Einzelkämpfen und allgemein männlichem Mut handeln, wobei auch ehren- und vorbildhaftes Verhalten gewürdigt und eingefordert wird - so auch im Ritus der Gastfreundschaft, wo die Zubereitung und der Genuss von Kaffee eine zentrale Rolle spielen (vgl. Walther 2004: 41-42; Sowayan 1982: 58-78). Die eben präsentierten Aspekte werden auch auf der Webseite des Scheichs behandelt, die ausdrücklich folgende Punkte hervorhebt: Nabati- Dichtung wird als integraler Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses der arabischen Halbinsel und der kollektiven Identität der Beduinenstämme präsentiert, wobei wiederum besonderer Bezug auf die Sprachvariante genommen wird. Auf der Website heißt es: Christopher Schliephake (Augsburg) 310 Nabati poetry shows the natural creativity of the Gulf's inhabitants and represents their roots in this land. It is their everyday dialect. A strong dialect, slightly removed from classical Arabic. It should be studied so that it may be preserved. (…) It is the document on which one can catch a glimpse of the past, or even get a more precise idea of historical customs. It depicts the situations faced by the countries of the Gulf and the Arabian Peninsula before their modern-day renaissance. 17 Der Verweis auf die „modern-day renaissance“ ist insofern interessant als er implizit auf die Politik der Maktoum-Familie Bezug nimmt, wobei klar wird, dass die Vergangenheit als solche im Emirat selbst kaum mehr in anderen Formen als der Nabati-Dichtung greifbar ist - in diesen Zeilen, die das kulturelle Selbstverständnis des Scheichs und seiner Mitarbeiter widerspiegeln, wird sie zum „Erinnerungsort“, 18 der die Abkommen der Beduinenstämme mit ihrem Land, mit ihrer eigenen Vergangenheit verbindet. In seinem Bemühen um den Erhalt dieser Traditionen, der in dem oben zitierten Appell deutlich wird, dass man die Dichtung und ihre Sprache studieren solle, v.a. aber in seinem eigenen Fortschreiben dieser Dichtkunst, wird Scheich Al Maktoum gleichzeitig zum Bewahrer der Vergangenheit, zum Verwalter des kulturellen Erbes, zu einem Fixpunkt, in dem die verschiedenen Aspekte der (kollektiven) Identität der Beduinenabkömmlinge, die gegenwärtigen wie die vergangenen, zusammenlaufen. IV. Scheich Mohammed bin Rashid Al Maktoum stellt sich in seiner Selbstrepräsentation - sowohl medial als auch bei öffentlichen Auftritten - ausdrücklich in die Tradition der Nabati-Dichtung und gilt, darf man den Berichten auf seiner Homepage glauben, als einer der bekanntesten und besten Dichter seiner Zeit. 19 Dass ein arabischer Herrscher sich so intensiv den schönen Künsten hingibt und über die Grenzen seines eigenen Herrschaftsbereiches als Kunstschaffender wahrgenommen werden kann, ist zunächst nichts Neues trifft in der Vergangenheit auf nicht wenige arabische Fürsten zu (vgl. 17 http: / / www.sheikhmohammed.co.ae/ vgn-ext-templating/ v/ index.jsp? vgnextoid= 98fdf9b743cb4110VgnVCM100000b0140a0aRCRD (Zugriff vom 20.07.2014). 18 Der Begriff „Erinnerungsort“ wird hier im Sinne Pierre Noras verwendet und bezeichnet eine historisch gewachsene Tradition, die ihren ursprünglichen, funktionalen Sitz in der Lebenswelt verloren hat und nun als ein integraler Bestandteil der Vergangenheit eines Volkes als ein Eckfeiler ihrer kollektiven Identität fungiert (vgl. Nora 1990). 19 So werden seine Gedichte auch vielfach vertont und sind auf der arabischen Halbinsel überall im Radio zu hören (Vgl. Tramontini 2009: 85); zur „Musikalität“ der Dichtung vgl. Haydar 1985: 249-251; zu Performanz und Performativität in diesem Zusammenhang siehe auch Reynolds 1995: 88-95. Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 311 Sartorius 2009: 70-71). Dennoch ist Scheich Al Maktoum im Moment derjenige, der sich am nachdrücklichsten der Dichtung verschrieben hat und bereits dadurch aus dem Kulturbetrieb heraussticht, weil er die Poesie zu einem integralen Bestandteil seiner Herrscherrepräsentation gemacht hat. Anders ist das Bemühen um englischsprachige Übersetzungen und auch das Erscheinen ausgewählter Gedichte in deutscher Übersetzung im Hanser Verlag nicht zu erklären - zumal sich der Anteil von arabischen Lyriktiteln auf dem deutschen Buchmarkt und seiner Verlagslandschaft doch sehr gering ausnimmt. 20 Der Gedichtband In der Wüste findet nur der Kluge den Weg ist nach thematischen Gesichtspunkten in drei Teile gegliedert: Der erste, „Blitze mit Zügeln“, handelt von der Liebe des Scheichs zu Pferden und dem Pferderennsport, und enthält die einzigen drei Prosatexte des Bandes; der zweite, „Umlaufbahnen“ betitelte Teil handelt von der Liebe zu Frauen, dem Liebeswerben, aber auch der Wehklage über unerfüllte Leidenschaft; der dritte Teil schließlich versammelt unter dem Titel „Seltene Sprichwörter“ einige politische Gedichte des Scheichs, in denen wiederholt die Einigkeit der arabischen Welt eingefordert wird, wobei moralische und panegyrische Aspekte eine Rolle spielen. Die thematischen Übergänge sind fließend und über ein dichtes Netz an Motiven, Metaphern und intertextuellen Anspielungen verknüpft, die die Gedichte oftmals, wie Joachim Sartorius im Nachwort in Bezug auf die Liebeslyrik bemerkt, wie eine „endlose Variation eines einzigen“ Gedichtes wirken lassen (Sartorius 2009: 72). Dies wird bereits im ersten Gedicht des Bandes deutlich („Beduinenbild“), das den drei Hauptteilen vorangestellt ist, da es wesentliche Motive verarbeitet, die auch in anderen Gedichten immer wieder aufgegriffen werden: Ich liebe meine Leute, die Beduinen, doch Liebe bedeutet auch Tod Sie sind meine Rechte im Kampf mit der Zeit und meine Linke Die Beduinen sind der Ursprung der Araber, ihrer Worte und Taten, männlich und ritterlich sind sie, großmütig, kühn! Ich liebe das Land, das Männer und Schwerter hervorbringt Ein mir treues Land, das den Widrigkeiten der Nacht widersteht Ich liebe den Scheich, seine Treue in Worten und Taten, Scheich Zayed, den Anführer der Männer! 20 Hier wäre zu fragen, welche Überlegungen den Verlag veranlasst haben, ausgerechnet die Dichtung Scheich Al Maktoums in ihre Edition Lyrik Kabinett aufzunehmen. Handelt es sich dabei um ein echtes Interesse an einer indigenen arabischen Volksdichtungstradition, die abseits dem klassischen Korpus’ steht, oder geht es hier doch primär um die hierzulande vielleicht zunächst exotisch anmutende Wahrnehmung eines Staatslenkers als Künstler, um das Porträt eines Herrschers als Dichter? Die Nachworte lassen eher letzteren Schluss zu, zumal Scheich Al Maktoum auch hier als der momentan führende Vertreter der Nabati-Dichtung gewürdigt wird - ein Urteil, das zu prüfen wäre. Dies kann und soll an dieser Stelle freilich nicht erfolgen. Christopher Schliephake (Augsburg) 312 Zayeds Ruhmesblatt ist voller Taten und Tugenden Alle Araber, nah und fern, kennen ihn Ich liebe die Jagd und die Kamele, ich reite gern zu Pferde Ich wache gern nachts bei einer Tasse Kaffee und Kardamon Ich liebe eine Gazelle mit schwarz umränderten Augen Ihr Anblick würde dich heilen von den Rehen der Wüste Blond, der Hals lang und schmal, öffnet sie dir das Herz Sie ist, wann immer sie erscheint, mein gutes Omen In der Ödnis der Wüste, in der mit Perlen bestickten Nacht Oder in der Wildernis, wo es nichts als Gazellen gibt Dort erneuern sich Bedeutung und Hoffnung, und befreit von Sorgen, die ich vergesse, kehr’ ich zurück. (Al Maktoum 2009: 5) Das Gedicht vereint fast paradigmatisch die zentralen Leitmotive, die in der Dichtung Scheich Al Maktoums eine tragende Rolle spielen und immer wieder mit der Besinnung auf die eigene Identität und Vergangenheit verknüpft werden: Die Beduinen, die das lyrische Ich als „meine Leute“ anspricht, werden als „Ursprung der Araber“ bezeichnet, wobei sie alle Attribute des ‚ritterlichen‘ Lebens in sich vereinen und in einer ‚männlich‘ besetzten Welt zuhause sind, die durch das Gesetz der Wüste - man könnte auch sagen: des Stärkeren - bestimmt wird, wo Rauheit, Kargheit und ‚Widrigkeiten‘ einerseits einschränkend wirken, andererseits aber zu Einfallsreichtum und ‚Kühnheit‘ herausfordern. Das Gedicht greift damit einen Topos der epischen Heldendichtung auf, der seit jeher das Leben der Beduinen als besonders ehrenhaft und vorbildlich darstellte, da es nicht nur von Gefahren und Entbehrungen, sondern auch von ‚Mut‘ und Moral geprägt war, die bereits in der Dichtung der klassischen Zeit fast elegisch wiederbeschworen wurden (vgl. Reynolds 1995: 66). 21 Diese idealisierte Lebenswelt wird dabei in der Lyrik nicht nur konserviert, sondern durch sie gleichsam hervorgebracht und bildet einen Imaginationsraum, der durch vielfältige Assoziationen und Motive aus anderen Erzählungen je subjektiv bereichert und erweitert werden kann. Dass die Beduinen gewissermaßen als überzeitliche Konstante, ja als Ausgangspunkt der arabischen Kultur gelten, bringt das lyrische Ich dadurch zum Ausdruck, dass er sie als seine Waffe im „Kampf mit der Zeit“ evoziert, womit implizit auf den Wandel der Lebensverhältnisse in der modernen Welt Bezug genommen wird. Die Dichtung wird dabei sowohl zu einer Form der Mnemotechnik als auch zu einem Weg der Fortführung des beduinischen Lebens, in dessen Tradition sich das lyrische Ich ausdrücklich stellt. 21 Zur Bedeutung der Wüste auch Sowayan 1982: 34-35, zum Beduinen als ‚Ritter‘ ebd. 58-78. Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 313 Die Nabati-Dichtung Scheich Al Maktoums verbindet somit zwei Zeitebenen: In „Beduinenbild“ (Zeilen 7-10) wird ein Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart geschlagen, rühmen sie doch den 2004 verstorbenen Scheich Zayed von Abu Dhabi, der in den politischen Gedichten Scheich Al Maktoums immer wieder als visionärer und tugendhafter Führer gewürdigt wird, der den Aufstieg und die Entwicklung der Vereinigten Arabischen Emirate wesentlich geprägt hat. Die Dichtung nimmt hier Züge einer Panegyrik an, die das Herrscherlob nicht erst erschaffen muss, sondern als bereits gegeben voraussetzt, da Zayeds „Ruhmesblatt“ allen Arabern bekannt ist und er nicht nur als eine Ikone der Emirate, sondern der gesamten arabischen Welt präsentiert wird. Die Treue „in Worten und Taten“, die Zayed auszeichnete, werden dabei zugleich zu einem Merkmal Al Maktoums selbst, der in seiner Dichtung wiederholt seine eigenen Vorgänger und die Herrscherfamilie Abu Dhabis lobt und sich mit seinen eigenen „Worten und Taten“ ganz in deren Dienst stellt. Die Liebe zum Scheich, die das lyrische Ich so emphatisch zum Ausdruck bringt, löst sich damit von einem subjektiven, personellen Bezug und wird selbst zu einer Tugend, die auch von anderen eingefordert werden kann. Der letzte Teil des Gedichts greift dann all jene Motive auf, die aus der klassischen Beduinendichtung bekannt sind und die, wie Joachim Sartorius herausstellt, gewisse Parallelen zur „europäischen Ritterdichtung des Mittelalters“ (Sartorius 2009: 72) aufweisen: Das lyrische Ich beschreibt seine Liebe zur Nachtwache, zur Jagd und v.a. zu Pferden, „dem Symbol des Herrschers und Ritters schlechthin“. Das Gedicht wird zu einer Form des „Minnesangs“ (ebd.), das die Geliebte in Verwendung von tradierten Metaphern als „Gazelle“ bezeichnet. Umrandet ist dies alles, auch dies durch klassische Motive besetzt, von der Nacht und der „Ödnis der Wüste“, der „Wildernis“ die letztlich als regeneratives Kräftefeld, als Rückzugsort spiritueller Reinigung gesehen wird, da sie nicht nur die Beduinen hervorgebracht hat, sondern beständig Lebensenergien erneuert. „Die Idee des Ritters“ (Sartorius 2009: 71) sieht Sartorius dabei insgesamt als den zentralen Bezugspunkt der Dichtung Scheich Al Maktoums, die sich nicht erst in Motiven und Themen entfaltet, sondern bereits im Akt des Dichtens selbst zum Ausdruck gebracht wird, der seit jeher als kunstvolles, ritterliches Unterfangen gilt. In einer nach strikten Hierarchien geregelten Stammesgesellschaft war Dichtung nicht nur ein Medium, das kollektive Werte und politische Botschaften kommunizieren, sondern auch persönliche Empfindungen und subjektive Gefühle im geordneten Rahmen einer althergebrachten Regeldichtung vermitteln konnte (vgl. Sowayan 1982: 313). 22 Dieses offene Kana- 22 In diesem Zusammenhang ist auch die ebenso lange Tradition weiblicher Traueroden zu sehen, die einen integralen Bestandteil beduinischer Poesie ausmachen und Frauen Christopher Schliephake (Augsburg) 314 lisieren von Gefühlen, ihre Zur-Schau-Stellung bieten auch für Rezipienten eine Projektionsfläche, die die Distanz zum Herrscher-Dichter durch Empathie verringern kann, wobei dieser freilich durchgehend als jemand erscheint, der das ritterliche Leben nicht nur beschreibt, sondern selbst - in seiner eigenen Liebe zu Pferden, zur Jagd und zu anmutigen Frauen - lebt und den Tugend- und Wertekanon von Mut, Gerechtigkeit, (materiellem wie praktischem) Vermögen durch und durch verinnerlicht hat. Die Art und Weise, wie Scheich Al Maktoum von seinem (impliziten) Leser wahrgenommen werden soll, ist der Dichtung somit bereits eingeschrieben. Dass Scheich Al Maktoum oftmals die Pferde in das Zentrum seiner Dichtung stellt, ist zwar innerhalb der Nabati-Dichtung nichts Neues, verweist aber insofern auf seinen distinkten Status und seinen Reichtum, als in der klassischen Beduinendichtung viel häufiger Kamele, v.a. Kamelstuten eine - sprichwörtlich - tragende Rolle spielen (vgl. Sowayan 1982: 50-53). Denn es waren vornehmlich Kamele als Reit- und Lasttiere, die durch ihre an die Wüste angepasste Natur das Überleben der Beduinenstämme sicherten, während Pferde v.a. als Statussymbole und zur Jagd oder zu kriegerischen Überfällen gehalten wurden. Dies ist im weitesten Sinne auch das Konnotationsfeld, das Al Maktoum in seiner Pferdedichtung aufruft (so ganz besonders in „Blitze mit Zügeln“, wo Pferde mit Naturgewalten assoziiert werden), wobei Pferde darüber hinaus immer wieder mit Reichtum gleichgesetzt werden, den sie auch durch ihre Siege in prestigeträchtigen Wettrennen oder bei „Weltmeisterschaften“ mehren können (so etwa in „An die Reiterin“, „Pferdeauktion“ oder „Ruhm auf Pferdesrücken“). Freilich wird neben dieser materiellen Ebene auch wiederholt die innige Beziehung zwischen Reiter und Pferd evoziert, die durch ein blindes Verständnis und Vertrauensverhältnis zwischen Mensch und Tier auf der einen („Der empfindsame Hengst“), aber auch durch (zügellose) Liebe auf der anderen Seite („Eine Vollblüterin“) geprägt sein kann. Innerhalb dieses „Pferdezyklus“ stechen die einzigen drei Prosatexte des Bandes heraus („Der Ruf eines Pferdes“, „Dahis und Ghabra“ und „Opfer“), die anekdotenhaft die große Bedeutung illustrieren sollen, die Pferde für Araber allgemein, für ihre Krieger und Scheichs aber im Besonderen hatten und haben: Umrisshaft wird von vergangenen kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Beduinenstämmen berichtet, die entweder aufgrund von Pferdediebstahl oder manipulierten Pferderennen entbrannten. Den Pferden, die selbst - schon durch die Namensgebung - als Individuen erscheinen, kommt hier eine tragende Handlungsrolle zu. Von ihrem Besitz/ Verlust, von ihrem Sieg/ ihrer Niederlage hängt auch der Status, die Ehre eines Stammes ab. Letzten Endes macht aber die individuelle Bezie- eine Möglichkeit geben, ihren Gefühlen auf öffentlich-sanktionierte Weise Ausdruck zu verleihen (vgl. Abu-Lughod 1986). Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 315 hung zwischen Scheich/ Krieger und seinem jeweiligen Pferd die Moral der Geschichte aus: So verzichtet der beraubte Scheich in „Der Ruf eines Pferdes“ darauf, dem teuren Pferd samt seines Diebes hinterherzujagen, aus Sorge er würde damit dessen Ruf ruinieren; und in „Opfer“ befreit das Pferd eines Kriegers seinen Herrn aus den Fängen seiner Feinde, um in der Sicherheit des eigenen Lagers völlig erschöpft zusammenzubrechen und zu sterben. Der bereits angesprochene Wertekodex des ritterlichen Lebens wird hier also in vielfältiger Weise aufgerufen, wobei Scheich Al Maktoum mit seiner eigenen Leidenschaft für Pferde ganz in der Tradition seiner beduinischen Vorgänger steht, die er in seinen eigenen Texten zugleich dichterisch überhöht. Die Liebe zu Pferden findet im zweiten Teil des Gedichtbandes in der Liebe zu Frauen ihr Äquivalent. Beide Beziehungsformen stehen häufig in einem Gedicht nebeneinander und erscheinen mitunter gar deckungsgleich. So beginnt das Gedicht „Sie schmolz dahin“ mit der Beschreibung eines lieblichen „Honigmädchens“, um im vorletzten Vers den Blick auf die „teuren“, „vorzüglichsten Stuten“ zu lenken und mit dem sehr tröstlichen Satz abzuschließen: „Und wer sich nicht auskennt mit Pferden und schönen Frauen, dem sei vergeben! “ (Al Maktoum 2009: 25). Die Liebe ist bei Scheich Al Maktoum oft mit Begriffen der Jagd umschrieben, so etwa in „Umlaufbahnen“, wo die Liebe mit einem „Fallnetz“ verglichen wird oder in „Kennet die Liebe“, wo das Auge der Geliebten dem „fuchsroten Jäger“ gleicht. Häufiger indessen wird sie als eine „Krankheit“ bezeichnet, für die es keine Arznei gibt und die häufig in den Wahnsinn führt („Meine Geliebte, versiegt ist die Rede“, „Deine Augen“). Der Liebende wird meist von einem Feuer verzehrt, das weniger durch Tränen der unerfüllten Leidenschaft („O Feuer, mögen meine Tränen deine Flammen löschen! “) als vielmehr durch die Angebetete selbst gelöscht werden kann, die mal als „Wasserträgerin“ („An die zuständigen Stellen“), mal als reinigende Wasserquelle umschrieben ist. Das Anrufen der Geliebten als „Wasserlauf“ oder „Wasserstelle“ („Ärgere dich nur“) verbindet sich dabei mit innovativen Metaphern, etwa wenn das lyrische Ich in „die Augen“ seiner Geliebten „tritt“ und Angst hat, in ihren Tränen zu ertrinken, wenn beide Liebende ihren Durst an den Tränen des jeweils Anderen stillen („Lass mich in deine Augen treten“) oder eben diese Tränen zu „Flussbooten“ werden, die gleichsam die Allgewalt der Liebe und die Vergänglichkeit alles Seins wiederspiegeln („Die Sonne geht unter“). Die „idealisierte Lebenswelt dieser Motive ist“, wie Claudia Ott herausstellt, „die des Beduinentums auf der arabischen Halbinsel. Es ist gewissermaßen ein arabisches Arkadien. Hier leben Gazelle, Löwe und Antilope“ (Ott 2009: 81) und das lyrische Ich wird selbst zur „Wasserstelle für Gazellen“, zum „Vogel, der die Blüten feiert“, zum „Jungen Hengst (…) unbändig und widerspenstig, ohne Zaum und Zügel“ („Das Kronjuwel“). Es ist gleichsam eine Welt des Traumgebildes und der Fantasie, in denen der Politiker Christopher Schliephake (Augsburg) 316 Scheich Al Maktoum ganz hinter den Schleier der Emotionen zurücktritt, den das lyrische Ich so wortreich evoziert. Ganz im Vordergrund steht er dagegen in den Gedichten des dritten Teils des Bandes, die „Von Politik und Dynastie“ - so der Untertitel - handeln. Diese politischen Gedichte weisen einen starken Appellcharakter auf, wie er bereits im Titel des Gedichts „Seid auf der Seite des Rechts! “ ersichtlich ist: Dunkel brach herein, über uns und über die Feinde Im Lager kennen die vielen Gesichter des Todes kein Erbarmen In unseren Ländern, Bruder, ist der Tod ganz normal - Wie Honig, der manchen so bitter schmeckt wie Bittermandel Schlimmer als der Tod ist’s, sein Heimatland zu verpfänden, die Aqsa-Moschee zu verhökern, Jerusalem zu verkaufen und sich zu ergeben Schlimmer als der Tod ist es, die eignen Kinder Schimpf und Schande zu überlassen - die Zeit wird’s ans Licht bringen! Ja! Ich leiste Widerstand, denn wichtiger ist mir die Ehre Doch Ehre kennt keiner, der Gold und Geld anbetet Und die Ehre kennt niemanden außer dem freien Mann, der, gestärkt im Glauben zum Opfer aufruft Wer den Sieg will und lieber ausruht auf seinem Lager, dem sag: ‚Schlaf nur weiter, träum schön! ‘ Der Sieg wird durch Opfer errungen, und oftmals fließt Blut, denn es gibt keinen Sieg ohne Blut! Mit Geld und Geist opfert sich der, der für die Heimat ist Wer nicht bereit dazu ist, wird es bereuen! O mein freies Volk, meine Leute, mein Land! Seid auf der Seite des Rechts, denn das Recht wird nie besiegt! (Al Maktoum 2009: 60) Klassische Motive wie die des Beduinenlagers und des Krieges verbinden sich hier mit dem Appell des politischen Agitationsgedichtes, das nicht nur die eigene arabisch-islamische Identität klar in Abgrenzung zu Israel stellt, sondern auch Widerstand gegen den gemeinsamen Feind einfordert, was unter Verweis auf normative, moralische Kategorien wie „Ehre, Freiheit und Recht“ geschieht. Das lyrische Ich erscheint dabei durchgehend als ein Vorreiter, ja gewissermaßen als ein Vorbild für diesen Widerstand, da es sich nicht nur auf Seiten des Rechts sieht und sein Volk als „frei“ anspricht, sondern zugleich seinen eigenen Einsatz, seine ideologischen wie materiellen „Opfer“ für die religiös und geographisch umschriebene Heimat herausstellt. Dass das Emirat Dubai selbst zu einem Zentrum des Kapitalismus geworden ist und sich stärker als andere arabische Staaten gegenüber der Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 317 westlichen Welt, was Lebenswandel und Gesetze angeht, geöffnet hat, wird verschwiegen, ja geradezu überspielt. Die Dichtung Scheich Al Maktoums mag in diesem Zusammenhang auch als ein Propagandainstrument gesehen werden, das deutlich machen soll, dass er sehr wohl „auf Seiten des Rechts“ steht und selbst eben nicht „Gold und Geld anbetet.“ Im Gegenteil: In „Ich bin Araber“ (Al Maktoum 2009: 56) erscheint das lyrische Ich gar als von der arabischen Welt in seinem eigenen aufopferungsvollen Kampf gegen die „Kinder Zions“ im Stich gelassen, was ihm Anlass gibt die „Araber“, seine „Brüder“ zu „tadeln“, um ihre Einheit zu beschwören, wobei die gemeinsame ideologische und identitätsstiftende Klammer die Religion und der Koran sind. Die emphatische Bekräftigung seiner eigenen Identität („Araber bin ich, schreib’s auf: ich bin Araber/ Ein Araber, und ihr seid meine Leute und Freunde“) mag wiederum ein Mittel sein, das eigene Selbstverständnis herauszustellen und sich vor der arabischen Welt, dem Adressaten des Gedichts, als einer ihrer strahlendsten und vorbildlichsten Vertreter zu repräsentieren. Die Ablehnung Israels, wie sie in diesem und auch anderen Gedichten durchscheint, wird dabei freilich weder in den literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zu den Gedichten des Scheichs auf seiner Homepage behandelt, noch in der deutschen Ausgabe in den insgesamt drei Nachworten kritisch reflektiert, die eher die zahlreicheren Liebes- und Pferdegedichte des Scheichs in den Mittelpunkt rücken. Tatsächlich sind aber das Aufgreifen der tradierten Formen und Motive und die jeweilige politische Instrumentalisierung nicht voneinander zu trennen, gerade weil diese Dichtung traditionell einen hohen Grad der politischen Funktionalisierung aufweist (vgl. Walther 2004: 28; Holes/ Athera 2009). Das lyrische Ich gibt sich des Weiteren durchgehend nicht nur als ein Vorkämpfer für Recht und Freiheit, sondern auch als fürsorglicher Landesvater, der sein Emirat und seine Leute nicht nur gegen alle äußeren Feinde verteidigen wird (so im Gedicht „Allen, die gegen den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt der Emirate kämpfen“), sondern selbst Visionär ist und diese Entwicklung weiter vorantreiben wird. So heißt es in „Seltene Sprichwörter“: „(…) Ich und mein Hirn - und verlangt es nach schwer zu erringenden Zielen/ Ich spreche es aus, ich trage die Last/ Ach, wie oft wurde die Sonne in meinem Schatten zu Schatten“ (Al Maktoum 2009: 54). Das lyrische Ich stilisiert sich hier wiederum aufopferungsvoll und (all)mächtig zugleich, umrahmt von einem Land, dem es an nichts fehlt: „Abends gehe ich in Gärten mit ausladenden Bäumen und tiefem Dickicht/ zu üppigen Wiesen und immerdar fruchtbaren Weiden (…).“ In Passagen wie diesen sind der Dichter Al Maktoum und der Lenker Al Maktoum wieder ganz nahe beieinander, wobei der Dichter den Lenker geradezu erschreiben kann und das führende politische Amt zum Urgrund der Dichtung selbst wird, in der sich der Staatsführer in Volkssprache an sein Christopher Schliephake (Augsburg) 318 Volk und die arabische Welt gleichermaßen wenden kann, um Einigkeit einzufordern oder seine eigene Stellung deutlich herauszustellen. Das letzte Gedicht des Bandes, „Gemälde“ (Al Maktoum 2009: 63-69), bringt all diese Aspekte voll zur Geltung und kann als eine Fortsetzung, ja als eine Ausarbeitung der in „Beduinenbild“ skizzierten Grundlinien der Nabati-Dichtung des Scheichs gelesen werden. Es ist eine mehrseitige Meditation über gute und gerechte Herrschaft, die in einer „Phantasie“ von „Wüstenwinden“ und „Sandmeeren“ ihren Ausgang nimmt und in „Trugbildern“ vom „Kampf meines Volkes“ erzählt, ein Volk zu dem die Liebe so groß ist wie die „zwischen Mutter und Kind“. Vom unruhigen Meer der „Tauchsaison“ spricht das lyrische Ich, um dann die „Liebe“ zu einer „Gazelle“, einer „Antilope“ zu beschreiben, die „unter den Beduinen Familie hat“, die in „Zelten wohnen“, „frei und großzügig leben“, „kühn und edel“ und „unverfälscht.“ Auf einer Metaebene wird dabei erneut die Bedeutung der Nabati-Dichtung des Scheichs herausgestellt, wenn es heißt: „Zwischen damals und heute/ blieb der Zauber, der Charme/ voll von Bedeutungen/ die er uns anschaulich vorgab.“ Als ein bedeutungs- und anspielungsreiches Medium steht die Dichtung selbst zwischen den Zeitebenen und bindet die Gegenwart an die Vergangenheit, die nicht im Wüstensand verloren ist, sondern nunmehr in der Sprache und der Imagination ihre Heimstatt hat und noch eine ganz lebendige ist. Das Weiterleben der Vergangenheit ist ein Grundthema, das auch im letzten Drittel des Gedichtes wiederholt beschworen wird, das Scheich Zayed von Abu Dhabi als eine geschichtsbildende und -prägende Kraft darstellt, der durch „Ehrbarkeit und Würde“, „Edelmut und Tapferkeit“, „Erhabenheit“ das Land „begründete“ und „bis hoch in den Himmel empor (baute)“. Ihm an die Seite gestellt wird die Familie Maktoum, die Vorgänger des Scheichs, Rashid und Maktoum, die das Volk „vor Schaden bewahrt“ und seine „Last“ getragen haben. Die Dichtung Scheich Al Maktoums wird hier wiederum zu einer Panegyrik, in die er selbst, als Teil der Herrscherabfolge und der ruhmreichen Dynastie, implizit mit eingeschrieben ist - so lösen sich die Namen von einer konkreten, individuellen Gestalt und lassen sich auch überzeitlich bzw. je gegenwärtig aktualisiert lesen. Maktoum - das ist der Bruder und Vorgänger des Scheichs, aber er, Mohammed bin Rashid Al Makotum, ist es eben auch selbst: „So großmütig wie Maktoum, heißt es,/ gib’s keinen zweiten/ seine guten Taten/ gereichen ihm zu höchsten Ehren! “ Zayed, der dieser dichterisch evozierten Genealogie in Beispiel voransteht, ist dabei noch immer Begründer der Einigkeit der Vereinigten Arabischen Emirate, wobei deren Erhalt, besonders der durch sie beförderte Wohlstand hochgepriesen wird: Heute steht unser Volk vereint, was auch geschieht, wir sind einig, Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 319 kennen den Weg, das Ziel, während die andern Araber noch zögern und warten O mein Land, freue dich deines Wohlstands, genieße ihn! Noch immer wird dein Volk geführt von Zayed, der darüber wacht Wie gestern und heute wird Zayed auch morgen und immer der Präsident sein, ihm sind wir ergeben! So sei es, bezeugt das, meine Brüder! Lang lebe Zayed! Und lang lebe mein Land unter seiner milden Obhut, wohlhabend, ehrbar und ruhmreich, und reich auf immer an guten Gaben! (Al Maktoum 2009: 69). Diese letzten Verse des Gedichts verbinden die Panegyrik mit den besten Wünschen für das eigene Land und Volk, dessen Wohl auf das Engste mit den Herrscherhäusern und deren Zusammenhalt verknüpft wird. In dieser Dichtung wird der Mechanismus der Macht und Herrschaft zu einem utilitaristischen Moment, insofern er nicht nur den Ruhm der Emire mehrt, sondern auch den Wohlstand des Volkes. Es ist die Dichtung eines Herrschers für sein Volk, der, ganz Ästhet und Wohltäter, Dienst an Kunst und Volk gleichermaßen tut und diesen freilich im Gegenzug für die Herrscher der Emirate, für sich selbst einfordern kann. In diesen Zeilen gehen Herrschaft und Autorschaft, Gefolgschaft und Rezeption eine eigenwillige Symbiose ein, die nicht mehr nur rein ästhetisch geformt ist, sondern bereits in den realpolitischen Raum weist. V. Wie ist die Nabati-Dichtung Scheich Al Maktoums zu bewerten? Einerseits kann sie, mit Sartorius, vor „dem Hintergrund der Initiativen des Politikers Scheich Al Maktoum“ gelesen werden, „der (…) eine gewaltige Stiftung gegründet hat, um Bildung und Wissen gerade unter jungen Leuten im Nahen Osten zu fördern“ (Sartorius 2009: 72) Sie ist dementsprechend in den Rahmen einer Kulturpolitik eingefügt, die mehrere Aspekte mit einbezieht und innerhalb derer sie unterschiedliche Funktionen erfüllt: So wird sie als integraler Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses und der kollektiven Identität der Emiratis präsentiert, als deren Bewahrer, Förderer und Mitautor Scheich Al Maktoum sich stilisiert. Dies tut er nicht nur im Internet, sondern auch auf öffentlichen Veranstaltungen in seiner Heimat - besonders bei gemeinsamen Treffen der Emire, wo seinen panegyrischen Gedichten eine große Rolle zukommt. Diese sollen dabei nicht nur zur Geschlossenheit auf- Christopher Schliephake (Augsburg) 320 rufen, sondern Scheich Al Maktoum, dessen Politik sonst auf visionäre städtebauliche und infrastrukturelle Projekte gerichtet ist, auch als einen Förderer der indigenen Kultur darstellen. Dass Scheich Al Maktoum ausgerechnet die Dichtung zu einem zentralen Vehikel der Kulturpolitk macht, hat kulturgeschichtliche Gründe: Die Nabati-Dichtung bildet seit Jahrhunderten einen integralen Bestandteil des kommunikativen Gedächtnisses der Beduinenstämme, mit einer dezidiert politischen, identitätsstiftenden Stoßrichtung - eine Funktion, die die Dichtung in der Moderne zunehmend eingebüßt hat. Heute ist sie v.a. ‚Erinnerungsort‘, da sich die historisch geformten Traditionen der Beduinen in den Prozessen des Sesshaft-Werdens und der Urbanisation zunehmend von ihrem geschichtlichen Kontext gelöst haben und nur mehr Relikte der Vergangenheit darstellen, die ihren einstmals praktischen lebensweltlichen Bezug verloren haben (vgl. Sowayan 1982: 3-4). Sie werden dabei vielmehr zu „kulturellen Texten“, die innerhalb des „sozialen Diskurses“, der „bereits mit ästhetischer Kraft aufgeladen“ ist (Greenblatt 2008: 277), zu Identitäts- und „überzeitlicher Bedeutungsstiftung“ beitragen und damit zu jenen „diskursiven Strategien“ gehören, über die Kulturen ihren Zusammenhalt, ihre community imaginieren (Neumann 2003: 62). Im Emirat Dubai, das stetig seine Zukunft modelliert, wird diese Form des Vergangenheitsbezugs umso wichtiger, zumal die Beduinenstämme als Nomadenvölker kaum materielle Hinterlassenschaften vererbt haben und die Geschichtskultur weniger im Raum als im Wort, der Sprache und der Imagination verhaftet ist. Die Nabati- Dichtung ist dabei insgesamt zwar keine „invented tradition“ (Hobsbawm 1983), sehr wohl aber eine gegenwärtig aktualisierte, mit dezidiert performativen Aspekten. Diese werden nicht nur in den öffentlichen Dichterlesungen des Scheichs deutlich, sondern auch in den vielfältigen Dichterwettbewerben, die er alljährlich ausrichtet. Im Nachbaremirat Abu Dhabi wurde zudem kürzlich eine außerordentlich populäre Fernsehsendung mit dem Titel „Dichter der Million“ initiiert, in dem der beste Nabati-Dichter ermittelt wird (vgl. Tramontini 2009: 84) - eine Form der abendlichen Fernsehunterhaltung, die sich in anderen arabischen Ländern, teils seit Jahrzehnten, ebenfalls großer Beliebtheit erfreut. 23 Dass die Dichtung dabei im Dialekt der Beduinen bzw. der Volkssprache wie sie im Emirat Dubai üblich ist, verfasst ist, ist für die- 23 Vgl. Sowayan 1982: 206, der die Studiokulisse einer saudischen Nabati-Dichtung- Fernsehsendung aus den 1980er Jahren beschreibt: „a large tent completely furnished with rugs and pillows and a fire hearth with all the necessary utensils for making coffee and tea. The host of the program sits by the hearth, while the contributors sit on the floor and line themselves up as they would in a coffee-chamber or a bedouin tent. The program is interspersed with the showing of various scenes from the desert, such as camel herds and droves of sheep grazing lush desert pastures, or nomads drawing water from deep wells for their thirsty animals.“ Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 321 sen identitätsprägenden Aspekt sicher ebenfalls von entscheidender Bedeutung, zumal Dubai einen Ausländeranteil von über 80% aufweist (vgl. Scharfenort 2009: 44). Der geringe Anteil von indigenen Bevölkerungsschichten deutet wiederum auf das inhärente Spannungsverhältnis, dass diese Kulturpolitik ausmacht, da sie in ihrem Kern nur auf einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung ausgerichtet ist, zugleich aber quer zu der Stoßrichtung der realpolitischen Initiativen des Scheichs steht, der sein Emirat in einen hochentwickelten Industriestandort sowie einen attraktiven Urlaubsort für die globalisierte Welt machen und von außen her neues Kapital generieren will. Dementsprechend weist die Nabati-Dichtung neben dem kulturpolitischen, identitätsbildenden Appell nach Innen auch eine Stoßrichtung nach außen auf und bildet den Kernbestand der Herrscherrepräsentation. Ein Staatslenker „muss sich inszenieren, um in Erscheinung treten zu können“ (Fischer-Lichte 2007: 20), erst in der „Inszenierung findet Macht einen sinnlichen Ausdruck“ (Arnold/ Fuhrmeister/ Schiller 1998: 10) - was bietet sich in diesem Zusammenhang besser an als die Tradition einer jahrhundertealten Volksdichtung, die Scheich Al Maktoum bei öffentlichen Auftritten und in intermedialen Formen propagiert? Das „Selbstverständnis“, das seine Herrschaft auszeichnet, ist dabei nicht nur in seiner Dichtung explizit „formuliert“, sondern verbindet sich mit einer „Theatralität“ und Performativität, die sie zu einem „kulturellen Ereignis“ macht (Fischer-Lichte 2007: 9): Der Staatslenker ist nicht mehr nur visionärer Machtmensch, sondern zugleich gebildeter Förderer des eigenen kulturellen Erbes, ein Ästhet, der, obwohl umgeben von klimatisierten Glaspalästen, immer noch ganz Beduine ist. Diese dezidiert gesetzten Evokationen eines traditionellen Beduinentums sind auch insofern von Bedeutung, da Dubai durch seine Politik und Gesetzgebung innerhalb der Vereinigten Arabischen Emirate wie der arabischen Welt insgesamt als ein stark gegenüber dem Westen geöffneter Staat gilt. Die Nabati-Dichtung, die Scheich Al Maktoum wiederholt emphatisch als Beduinen, als Araber präsentiert und die wieder und wieder die Einheit der Araber fordert, ist eine diskursive Strategie der Verschleierung des realen Herrschaftshandelns auf der einen und ein Zur-Schau-Stellen der vermeintlichen Ziele und Überzeugungen des Scheichs auf der anderen Seite. Dabei handelt es sich um eine „fiktive Dimension der Herrschaftsinszenierung“ (Wenzel 2001: 53), allerdings nicht „um Fiktion in einem Freiraum des Ästhetischen, sondern um Sinnkonstitution und -vergegenwärtigung“ (63), die auf den realpolitischen Raum zielt. Das Konkurrenzverhältnis der Scheichtümer der Emirate zeigt sich nämlich auch auf Feldern der Kulturpolitik: Schardschah, das Nachbaremirat Dubais, wurde 1998 von der UNE- SCO zur Kulturhauptstadt Arabiens gemacht und beheimatet nicht nur die beiden wichtigsten Universitäten der Region, sondern hat im Regenten Scheich Al-Qasimi den einzigen regierenden Scheich mit Doktortitel, der weniger von urbanen Visionen geleitet ist und sich aktiv um den Erhalt und Christopher Schliephake (Augsburg) 322 die Restauration des alten Stadtbildes und eine Förderung des kulturellen Erbes bemüht (vgl. Konzelmann 2005: 18-19). Die Nabati-Dichtung Scheich Al Maktoums mag hier der Versuch sein, diesem Kulturprogramm etwas Vergleichbares an die Seite zu stellen. Dass gerade diese Außenwahrnehmung intendiert ist, zeigen auch die englischen und deutschen Übersetzungen der Gedichte des Scheichs, die den Handels- und Kooperationspartner von einer Seite präsentieren, welche seine Liebe zur Heimat, zu den Traditionen der eigenen Kultur widerspiegelt. Dass dies durchaus Eindruck machen kann, zeigt die Verleihung der Ehrenmedaille der FU Berlin an Scheich Al Maktoum im Jahre 2008, die ihm aufgrund der „wegweisenden Förderung von Wissenschaft, Bildung und Kultur in seiner Heimat und der arabischen Welt“ 24 verliehen wurde - eine Ehrung, die ihm 2011 wegen der Beschuldigung und des Verdachts vielfältiger Menschenrechtsverletzungen wieder aberkannt wurde. 25 Insgesamt kann die umsichtige Pflege der Dichtkunst vielleicht als Teil jenes „Paradoxons“ begriffen werden, das der Geograph Herbert Popp allgemein für die VAE ausgemacht hat, „dass im selben Maß, in dem Gesellschaften ihre historischen Traditionen eines Beduinen-Nomadismus aufgegeben haben, sie sich in ihrer Identität verstärkt als Nomandenvölker definieren“ (Popp 2004: 20). Dies ist freilich, ganz wie dieser Aufsatz, die Interpretation eines Europäers. Ein echtes, ehrliches, ganz subjektives Interesse an und auch Liebe zu der Dichtung seiner Ahnen kann und soll an dieser Stelle Scheich Al Maktoum keineswegs in Abrede gestellt werden. Wie heißt es in dem philosophischen Gedicht „Umlaufbahnen“ des Scheichs? „Die Wüste, mein Freund, kennt dich nicht/ In der Wüste findet nur der Kluge den Weg (…) Erfahrung lehrt den Sinn des Lebens/ Manch einer ist reich daran, manch anderer arm (…) Wenn dein Nichtwissen dich in die Irre führte/ so ist’s unter Arabern keine Schande, um Rat zu fragen“ (Al Maktoum 2009: 27-28). 24 http: / / www.fu-berlin.de/ presse/ informationen/ fup/ 2008/ fup_08_031/ index.html (Zugriff vom 20.07.2014). 25 http: / / fsi.spline.de/ blog/ 2011/ 04/ 14/ akademischer-senat-entzieht-sheikh-von-dubaidie-ehrenmedaille-der-fu/ (Zugriff vom 20.07.2014). Der Beduine im Glaspalast und das Gedächtnis der Wüste. 323 Literaturverzeichnis Abu-Lughod, Lila: Veiled sentiments. Honor and Poetry in a Bedouin Society. Berkeley 1986. 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Dagegen nähert sich diese Aufsatzsammlung der Literaturproduktion von Potentaten kultur- und funktionsgeschichtlich und stellt dabei aus interdisziplinärer Sicht den Literaturbegriff der Herrschaftsdichtung selbst zur Diskussion. Exemplarische Machthaber der Neuzeit und deren Literatur werden vor der Folie ihrer politischen Handlungen, ihren psychohistorischen Dispositionen und in Auseinandersetzung mit dem literarischen Feld ihrer Zeit beleuchtet. Dabei zeigt sich der Anteil des Fiktionalen und Imaginären an der Politik.