eBooks

Erzählen als Argumentationsspiel

2014
978-3-7720-5528-7
A. Francke Verlag 
Dr. Coralie Rippl

Unerhörtes Erzählen situiert sich, das zeigen aktuell Ferdinand von Schirachs <<Verbrechen>>, zwischen Recht und Literatur. Die außergewöhnlichen <Fallverhandlungen> des Heinrich Kaufringer sind ein frühes Phänomen literarischer Kasuistik. Die vorliegende Arbeit beleuchtet die kontrovers diskutierte Frage nach dem <Sinn> seiner <grotesken> Texte neu. Sie nimmt die Erzählpoetik Kaufringers von zwei Seiten in den Blick: Komparatistische Modellanalysen präsentieren ausgewählte Mären im Feld europäischer Novellistik (lateinische Exemplarik bis Boccaccio), zugleich wird eine historische Kontextualisierung mit rhetorischen und juridischen Traditionen der Antike und des Mittelalters vorgenommen. Dabei zeigt sich, dass Zuspitzung und Irritation Effekte eines an Problempotentialen besonders interessierten Erzählens sind. Der kasuistische Zugriff auf die materiae lässt Kaufringers Erzählungen als Argumentationsspiele verständlich werden, die Meinungen und Standpunkte verhandeln, wobei der diskursive Vorgang eine Lust am Erzählen generiert, der es auf die Verbindlichkeit einer Aussage nicht mehr ankommt. Die Interferenzen zwischen juristischem und literarischem Diskurs sind es, die ein solches <Erzählen von Sonderfällen> charakterisieren und das Erzählen selbst als Sonderfall spezifisch machen.

Coralie Rippl Erzählen als Argumentationsspiel Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition Bibliotheca Germanica A. Francke Verlag Tübingen Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON BURKHARD HASEBRINK, SUSANNE KÖBELE UND URSULA PETERS 61 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN Coralie Rippl Erzählen als Argumentationsspiel Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Dissertationsschrift Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nü rnberg Gedruckt mit Unterstü tzung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tü bingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschü tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-8528-4 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI I Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 Heinrich Kaufringer als Sonderfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 ‹ Gattungsfreier Raum › ? - Forschungsstand und Zielsetzung . . . . . 7 3 Der Kasus als Erzählstruktur im Spannungsfeld von Recht und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 4 Zum europäischen Kontext: Komparatistische Perspektiven . . . . . 29 II Modellanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale als Struktur- und Erzählmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.1 Ein Sonderfall in jeglicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.2 Kasuistisches Erzählen - Ein Blick auf die Stofftradition . . . 39 1.3 Die Schlüsselrolle des Erzählers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1.4 Zu einer Forschungsdebatte: ‹ Modernität › oder ‹ Individualität › des Erzählens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1.4.1 Tabellarische Übersicht zum Vergleich der Paralleltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1.5 Von der Rechtslegende zum Kasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1.6 Rhetorische Grundlagen: Das Gerichtsredenschema . . . . . . . . 60 1.7 Die Unschuldige Mörderin im Kontext des fünfteiligen Gerichtsredenschemas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1.7.1 Ein strukturelles Spezifikum: Serialität . . . . . . . . . . . . . . 68 1.7.2 In Szene gesetzte argumentatio: Wechsel von probatio und refutatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 1.8 Konstruierte controversia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1.8.1 Die Perfektion der Details als Konstruktionsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1.8.2 Zum Problem der Komik in der Unschuldigen Mörderin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1.8.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente und die Parodie der controversia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.1 Kasus und Schwank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.2 Der Stoffkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2.2.1 Tabellarische Übersicht: Paralleltexte im Vergleich . . . . 90 2.3 Le Cocu armé aus den Cent Nouvelles nouvelles und Kaufringers Feiger Ehemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.3.1 Der doppelbödige Erzählerkommentar: Ehefrau im Zwielicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.3.2 Männlichkeitsdiskurs und Ständethematik: Die adlige Männerrunde als Rahmenfiktion der Cent Nouvelles nouvelles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.3.3 Raum- und Situationskomik im bürgerlichen Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.4 Komikeffekte im Kontext der Sammlung: Die 36. Novelle aus dem Porretane des Sabadino degli Arienti . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2.5 Heinrich Bebels Fazetie II,17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2.6 Der Erzähler klagt an: Juridifizierung des Stoffes bei Heinrich Kaufringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.7 Der feige Ehemann und das (Rechts-)Sprichwort vom kleinen Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2.8 Gerichtsrhetorik in der mittelalterlichen Kleinepik - Der Fall in Senecas Controversia 4,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2.9 Experimentierendes Argumentieren: Das Spiel mit dem Modell der Gerichtsrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2.9.1 Ritter vs. Ehepaar: Wie die Struktur von probatio und refutatio das Handlungsgeschehen aufbaut (Argumentatio I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2.9.2 Ehefrau vs. Ehemann: Thematisierung des Falles im Streitgespräch (Argumentatio II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2.9.3 Erzähler vs. Protagonist: Rahmenargumentation (Argumentatio III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2.9.4 Zur dialektischen Gesamtkonstruktion . . . . . . . . . . . . . . 138 2.9.5 Funktionsweisen der Komik bei Kaufringer: Parodie antiker Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 VI Inhalt 3 Exkurs - Wie aus dem juristischen der literarische Fall wird . . . . . 140 4 Die Rache des Ehemannes - Konstruktion und Perspektivierung des Kasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.1 Kaufringer und keine Parallelen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.1.1 Die lateinischen Exempel aus Jakobs von Vitry Sermones vulgares und aus der Compilatio Singularis Exemplorum sowie das Märe Der Zahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.1.2 Tabellenübersicht: Paralleltexte zur Rache des Ehemannes im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4.2 Das Exempel des Jakob von Vitry und Der Zahn (Gruppe A) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4.3 Gebundener Erzählfall des Exempels und offene Fallerzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.4 Das Exempel aus der Compilatio Singularis Exemplorum und Kaufringer (Gruppe B) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 4.5 Konstruktion einer offenen Fallerzählung . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4.5.1 Wenn Zähne zu Würfeln werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.5.2 Wenn ein Kastrierter seiner Geliebten die Zunge abbeißt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4.6 Disposition des verzwickten Falles: Das literarische Strukturmuster des Schwanks und das rhetorische Modell der argumentatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4.7 Sonderstellung der Schlußepisode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 4.7.1 peroratio - Die Rekapitulation des Falles als ‹ Erzählung in der Erzählung › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4.7.2 Kasuistische Erzählstrategien: Relativierung durch Perspektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 4.7.3 Rhetorik der Gewalt: Überlegungen zum Argumentationspotential sprechender Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4.7.4 läll läll läll - (K)eine komische Perspektive am Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 4.8 Warum die Erzählerkommentierung sich selbst ‹ neutralisiert › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4.9 Die Freilegung des Kasus bei Kaufringer . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 5 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern - kasuistisches als utopisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 5.1 Eine ‹ lebensvolle Dorfgeschichte › ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 5.2 Der Motivkreis (Parallelversionen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 VII Inhalt 5.2.1 Tabellarische Übersicht: Der Verklagte Bauer und seine Parallelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 5.3 Reduktion auf das facete dictum: Das Straßburger Rätselbuch und Bebels Historia (I,66) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 5.4 Transfer des Stoffes nach Frankreich: Die Novelle aus Les Comptes du Monde Adventureux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 5.5 Rätselbehauptungen - Kaufringer und die lateinische Predigtexemplarik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 5.6 Juridifizierter Kasus, oder: Wie aus dem Predigtexempel für rechten Glauben ein Streitfall über Gerechtigkeit wird . . . . . 244 5.7 Das Streitgespräch im Verklagten Bauern: Geschichte als auserzählte controversia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 5.7.1 Erster Teil: Verlagerung der argumentatio von der Figurenaktion in den Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 5.7.2 Zweiter Teil: Rhetorenkampf - Die status causae im Streitgespräch zwischen Bauer und Pfarrer . . . . . . . . . . 254 5.7.3 Dritter Teil: Zwischen Prozeßdrama und Rätselspiel - Gericht und Geselligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5.8 Das schwankhafte Erzählmuster vom Sieg des kleinen Mannes: Der Bauer als moralischer Held bei Kaufringer . . . . . . . . . . . 265 5.9 Streitgespräch des Erzählers mit sich selbst: Kasusform und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 III Conclusio: Kaufringers Erzählprofil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1 Poetologische Bedeutung der ‹ Erzählung in der Erzählung › . . . . . . 273 2 Die Publikumsadressierung der Gerichtsszene und die Selbstreferenz des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 3.1 Gerichtsgemeinschaft und Erzählgemeinschaft . . . . . . . . . . . . 280 3.2 Die Novelle als ‹ Kettenerzählung › und Kaufringers ‹ Kasusketten › . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3.3 Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar - Dialogstruktur und Perspektivenpluralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 4 Kasus und Schwank: Überlegungen zur Komik . . . . . . . . . . . . . . . . 296 5 Kasuistik in der Kaufringersammlung und das Spiel mit dem Autor-Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 VIII Inhalt IV Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 V Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 1. Schemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 1.1 Strukturschema Die unschuldige Mörderin . . . . . . . . . . . . . . . . 319 1.2 Strukturschema Der feige Ehemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 1.3 Strukturschema Die Rache des Ehemannes . . . . . . . . . . . . . . . 335 1.4 Strukturschema Der verklagte Bauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 2 Texte und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 2.1 Heinrich Kaufringers Der verklagte Bauer. Text und Übersetzung (mhd./ nhd.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 2.1.1 Stellenkommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 2.2 Das Predigtexempel Gott tut, was ich will. Text und Übersetzung (lat./ nhd.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 3 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 3.1 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 3.2 Textausgaben und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 3.3 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 IX Inhalt Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im WS 2010/ 11 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet, vor allem aktuelle Literatur berücksichtigt. Susanne Köbele gilt zuerst mein herzlicher Dank für ihre verständnisvolle und inspirierende Betreuung, die mir eine wichtige Unterstützung war, diese Arbeit zuwege zu bringen. Hartmut Kugler verdanke ich langjährige Förderung und nicht zuletzt die Bekanntschaft mit jenen Themen, aus welchen diese Studie entstanden ist. Hans Velten danke ich herzlich für die Übernahme des Korreferats und sein konstruktives Interesse. Vielmals danken möchte ich außerdem den Herausgebern der ‹ Bibliotheca Germanica › für die freundliche Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe, den Mitarbeitern des Verlags für die angenehme Zusammenarbeit und die stets zuvorkommende Betreuung und der VG-Wort für das großzügige Druckkosten-Stipendium. Vom Austausch mit Freunden und Kollegen konnte ich in der Zeit des Schreibens viel profitieren. Ich habe mich deshalb sehr gefreut, daß einige bereit waren, etwas ‹ aus der Werkstatt › zu lesen und sich die Zeit für Gespräch und Kritik genommen haben. Für Denkanstöße, ehrliche Kritik und rettende Aufmunterung bin ich vielen zu großem Dank verpflichtet, stellvertretend seien vor allem Nina Starost, Nadine Reinfelder, Linde Engelhardt, Jens Pfeiffer und Astrid Bußmann genannt. Meine Eltern haben mir immer die Freiheit gelassen, meinen Interessen nachzugehen, dafür und für ihre Unterstützung danke ich ihnen von Herzen. Schließlich fehlt noch der Mensch, ohne den alles nichts wäre: Danke, liebster Klaus, für Deine Geduld. Zürich, im Februar 2014 Coralie Rippl XI Vorwort I Problemstellung 1 Heinrich Kaufringer als Sonderfall Mord, Vergewaltigung, Verstümmelung, Verrat: In der Unschuldigen Mörderin wird erzählt, wie eine verlobte Gräfin drei Morde begeht, um den Schein ihrer Jungfräulichkeit wahren zu können und damit ihre Eheschließung mit dem König nicht zu gefährden. Der Protagonist im Feigen Ehemann sieht der Vergewaltigung seiner Frau durch einen Ritter tatenlos zu, weil er um die eigene Sicherheit besorgt ist. Ein wohlhabender Bauer wird ausgerechnet vom Pfarrer und vom Richter des Dorfes fälschlich der Ketzerei angeklagt, weil sie es auf sein Geld abgesehen haben, so die Geschichte des Verklagten Bauern. Und in der Rache des Ehemannes läßt die ehebrecherische Frau dem Ritter zwei Zähne ziehen, um sie ihrem Geliebten zu schenken. Der Ehemann kastriert daraufhin den Liebhaber und zwingt ihn, der Frau die Zunge abzubeißen. Nicht wenige von Heinrich Kaufringers Erzählungen lesen sich wie abstruse Strafrechtsfälle. Sie lassen den Rezipienten zurück mit zahlreichen ungeklärten Fragen, die sich verdichten zu der Frage nach dem ‹ Sinn › des Textes. Dieser kann auch nicht aus der Erzählerkommentierung des Pro- oder Epimythions erschlossen werden, denn Kaufringers «programmatische[n] wie seine De-facto-Lösungen werden den konflikthaft zugespitzten Konstellationen der Erzählwelt kaum mehr gerecht.» 1 Was bleibt, ist ein «unbewältigter Rest» 2 am Ende beinahe einer jeden von Kaufringers Erzählungen. Sie gehen nicht auf, ganz gleich, wie man sie dreht und wendet. Die Überlieferung Kaufringers in ostschwäbischer Mundart und die vermutliche Herkunft der Haupthandschrift weisen nach Landsberg am Lech 1 Jan-Dirk Müller : Noch einmal: Mære und Novelle. Zu den Versionen des Mære von den ‹ Drei listigen Frauen › . In: Alfred Ebenbauer : Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag (= Philologica Germanica 7), S. 289 - 311; S. 301. 2 Ebd. oder Augsburg. 3 Es sind 17 Texte Kaufringers unikal im cgm 270 der Bayerischen Staatsbibliothek München überliefert. 4 Sie bilden einen eigenständigen Faszikel, der von einem Schreiber stammt und laut der Nachschrift 1464 fertiggestellt wurde. 5 Mehreres ist hier bemerkenswert: Zunächst fällt die großzügige Gestaltung auf, denn die Blätter sind nur einspaltig beschrieben und jeder Text beginnt auf einer neuen Seite. Endet der Text im letzten Drittel der Seite, bleibt die folgende Seite leer. 6 Als Besonderheit ist auch die Ordnungsabsicht zu erwähnen, die aus der Reihenfolge der 17 Texte spricht. Von jeweils zwei geistlich-erbaulichen Stücken gerahmt, bilden 13 Mären mit weltlicher Thematik 7 den Hauptteil der Sammlung. 8 Vermutlich hat das 3 Vgl. Paul Sappler: Art. Kaufringer, Heinrich. In: VL² 4 (1983), Sp. 1076 - 1085. Für diese Lokalisierung spricht außerdem der Familienname Kaufringer als Herkunftsname nach dem Ort Kaufering bei Landsberg, vgl. ebd., Sp. 1077. 4 Einzig die geistliche Erzählung Der Einsiedler und der Engel ist noch einmal im cgm 1119 überliefert, die Fassung hängt jedoch vermutlich vom cgm 270 ab, vgl. Paul Sappler : Heinrich Kaufringer. Werke Bd. 1: Text. Tübingen 1972, S. IXf. - Weitere 10 redenartige Texte mit Kaufringers Schlußsignatur überliefert, eingelagert in eine Sammlung von Teichnerreden, die Handschrift mgf 564 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin), die 1472 von dem Berufsschreiber Konrad Bollstatter in Augsburg geschrieben wurde, vgl. Sappler (1972), S. X mit Abbildung (Bl. 292 v). Wenn nichts anderes angegeben ist, zitiere ich die Texte aus der Werkausgabe von Sappler (1972). 5 Die Foliohandschrift besteht aus zwei Faszikeln und der Kaufringerteil als der kleinere mit 155 Blättern (Bl. 234 - 388) schließt sie ab. Vgl. Karin Schneider : Cgm 201 - 350 (= Catalogus Codicum manu scriptorum Bibliothecae Regiae Monacensis. Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München 2). Wiesbaden 1970, S. 189 - 208. Beschreibungen der Handschrift bei Arend Mihm : Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter. Heidelberg 1967, S. 25 f; 111 f; 122 f und Rosmarie Leiderer : ‹ Wilhalm von Orlens › . Eine Reimpaarerzählung aus dem 15. Jahrhundert (= Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 21). Berlin 1969, S. 9 - 28. Siehe auch Sappler (1972), S. VIII - X mit einer Abbildung von Bl. 349 v. 6 Vgl. Jana Sander : Ohne Zweifel vom Verfasser des Vorherigen. Autorfiktion als Ordnungsprinzip des Kaufringerfaszikels im cgm 270. In: Beate Kellner , Ludger Lieb und Peter Strohschneider : Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Frankfurt a. M. 2001, S. 231 - 248; S. 236. 7 Hanns Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchges. u. erw. Aufl. besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983, S. 148 - 152 weist diese Texte dem von ihm erstellten Märenkorpus zu. 8 Vgl. Mihm (1967), S. 26, der die Sammlung eben wegen dieser absichtsvollen Anordnung direkt auf Kaufringer zurückgehen sieht. 2 Problemstellung Korpus zunächst als eigenständige Handschrift existiert, bevor es an den ersten Teil des cgm 270 angebunden wurde. 9 Dies geschah wohl im Auftrag eines gewissen Wilhelm von Zell, der im Vorderdeckel des cgm 270 als Besitzer genannt wird. 10 Die Kaufringersammlung scheint für die gesamte Handschrift, deren erster Teil hauptsächlich Minnereden, didaktische und pragmatische Texte aufweist, «die Funktion eines erzählenden, stofflich unterhaltenden Schlußteils» 11 gehabt zu haben. Auf besonderes persönliches Interesse und einen etwas ausgefallenen Geschmack des Sammlers weisen dabei die Tatsachen, daß ein Märe - Wilhelm und Amalia - und ein Prosastück über Das Leben des heiligen Wilhelm den Codex anführen, offenbar wegen der Namensverwandtschaft mit dem Auftraggeber. 12 Möglicherweise haben wir auch die Überlieferung der Kaufringer-Sammlung dem persönlichen Interesse oder literarischen Geschmack dieses Sammlers zu verdanken. Dieser Befund von den überlieferungsgeschichtlich als Besonderheit markierten Texten Kaufringers stimmt zusammen mit der Tatsache, daß sie keine literarische Nachfolge gefunden, literaturgeschichtlich offenbar keine Wirkung gezeitigt haben: «Alle Handschriften stammen aus dem engeren Umkreis seines Wirkens.» 13 Der cgm 270 verbleibt auch bis ins 16. Jahrhundert im regionalen Umkreis von Landsberg und in Landsberg selbst. 14 Jana Sander hat auf die Problematik aufmerksam gemacht, daß lediglich drei gegen Ende stehende Texte innerhalb des Kaufringer zugeschriebenen Fas- 9 Vgl. Sander (2001), S. 237. Hinweise geben unter anderem die unterschiedlichen Zählungen des ersten und zweiten Faszikels, außerdem die Übereinstimmung der Jahreszahlen der Nachschrift am Ende der Kaufringersammlung und des Besitzervermerks am Anfang des ersten Faszikels, beidesmal das Jahr 1464. 10 Siehe Mihm ( 1967), S. 26 und Leiderer (1969), S. 11. 11 Mihm ( 1967), S. 26. 12 Die Blätter 178 - 227 sind der Säuberungsaktion, welcher der cgm 270 im 16. Jh. unterzogen wurde, mit über der Hälfte zum Opfer gefallen. Trotzdem urteilt Mihm ( 1967), S. 122 f, die erhaltenen Reste ließen «eine der merkwürdigsten Textsammlungen jener Zeit vermuten» und darauf schließen, der Sammler habe sich «für alle grellen und extremen Dinge» interessiert. Das bunte Sammelsurium vereint unter anderem didaktische Reden, Obszönes, erotische Mären, ein ‹ Memento mori › und einen Totentanz, Freidanks Bescheidenheit sowie eine Anleitung zum Wahrsagen aus Würfeln und auch zwei Traumbücher. 13 Klaus Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau - Märe - Novelle. Tübingen 2006, S. 191. 14 Zur Geschichte der Handschrift vgl. Leiderer (1969), S. 9 - 11. Die Besitzer der Handschrift verbindet interessanterweise ihr Beruf, sie alle sind Pfleger, also rechtlich tätig, teilweise auch Bürgermeister von Landsberg. 3 Heinrich Kaufringer als Sonderfall zikels mit seinem Namen bezeichnet sind. 15 Sie beschreibt, wie aufgrund dieser Tatsache sowie aufgrund der inhaltlich-motivischen Übereinstimmungen innerhalb des Textkorpus im hermeneutischen Prozeß eine Autorfiktion entstehe, die sich in der Forschung zu einer realen «Autorbezeichnung» und damit einer Zuschreibung aller Texte an einen vermeintlichen Autor Heinrich Kaufringer stabilisiert habe. 16 Den überlieferungskritischen Erwägungen ist entgegenzuhalten, daß die Texte innerhalb des Korpus gerade über ihre vielfältigen Kohärenzen eine Identität stiften. Susanne Reichlin spricht plausibel von einer «paradigmatischen Reihe», einer «Textgruppe», zu der die Einzeltexte «verdichtet» würden. 17 Diese ‹ Verdichtung › ist nicht nur durch die Überlieferung hergestellt 18 , sie läßt sich auch als Hinweis auf einen identischen Verfasser ‹ vor › dem Überlieferungszusammenhang verstehen. Denn neben den inhaltlichen Übereinstimmungen, etwa der vorherrschenden Ehebruchsthematik, findet sich das Prinzip eines ‹ roten Fadens › auch auf der Ebene spezifischer Figurenbzw. Handlungskonfigurationen. Es läßt sich bis in die Sprache hinein verfolgen, insofern sich die Texte in der Art eines kreativen ‹ Recyclings › aus formelhaft wiederkehrenden Wendungen konstruiert zeigen. 19 Die Kohärenzen der Texte gehen so weit, daß von bewußten Bezügen, 15 Eine Autorsignatur tragen Die unschuldige Mörderin sowie die Rede Die drei Nachstellungen des Teufels und die legendarische Erzählung Die fromme Müllerin (nach Sapplers Zählung Nr. 14, 16 und 17). Die Autorsignatur der Unschuldigen Mörderin ist von den anderen beiden unterschieden, indem sie lediglich den Nachnamen nennt. Die Signatur der beiden Texte Nr. 16 und 17 stimmt mit der durchgehenden Signierung der Redentexte Kaufringers im mgf 564 überein. 16 Sander (2001), S. 247. 17 Susanne Reichlin : Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären (= Historische Semantik 12). Göttingen 2009, S. 188. 18 Überlegungen zu einer Sammlungsprogrammatik bei Rüdiger Krohn : Die Entdeckung der Moral oder: Ehebruch und Weisheit. Das Märe von der ‹ Suche nach dem glücklichen Ehepaar › und die Kaufringer-Sammlung im cgm 270. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 4 (1986/ 87), S. 257 - 272. Auf eine Autorprogrammatik hebt ab: Michaela Willers : Heinrich Kaufringer als Märenautor. Das Œ uvre des cgm 270. Berlin 2002. 19 Vgl. dazu die Analysen zu Wortschatz und Repertoire sprachlicher Formeln von Karl Euling : Heinrich Kaufringers Gedichte (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 182). Tübingen 1888, S. Vf; ders.: Studien über Heinrich Kaufringer (= Nachdruck der Ausgabe Breslau 1900). Hildesheim/ New York 1977, S. 33 - 36. Nützlich außerdem die Wortindices von Paul Sappler : Heinrich Kaufringer. Werke Bd. 2: Indices. Tübingen 1974. 4 Problemstellung von Intertextualität gesprochen werden kann. 20 Insofern ist es um so wahrscheinlicher - die Frage nach dem Verantwortlichen für die Zusammenstellung der Texte in der Überlieferung ausgeblendet - , daß die Texte von einem Verfasser stammen. Die Kohärenzmerkmale einer repetitiven Variation von spezifischen Erzählmotiven und lexikalischen Wendungen, die zum Teil formelhaft wiederkehren, verbinden diese Texte nicht zufällig. 21 Die Zuschreibung auch derjenigen Texte des Faszikels ohne Namensnennung an Heinrich Kaufringer durch Karl Euling und Paul Sappler gründete sich auf «gemeinsame[n] Stileigentümlichkeiten». 22 Eine erzählerische Ökonomie der Wiederverwendung innerhalb des eigenen Werkes scheint für Kaufringer gerade typisch. Datiert werden diese Texte ins späte 14. oder frühe 15. Jahrhundert, zum einen wegen der Erwähnung der Erfurter Universität in Bürgermeister und Königssohn, deren Gründung 1392 einen terminus post quem zumindest für 20 Beispielsweise kann man den Beginn von Der Zehnte von der Minne ( Sappler Nr. 12) als Anschluß an das vorhergehende Stück der Drei listigen Frauen B lesen, wenn der Erzähler mit den Worten Ich haun vor gesaget vil,/ wie die frawen manig spil/ mit gescheidkait vachen an (V. 1 - 3) wieder auf das Thema der weiblichen laichnei (V. 8) zu sprechen kommt, vgl. Sander (2001), S. 243. Für eine Korrespondenz der Texte über ‹ wiederverwendete › Motive sei als Beispiel nur der im Schlafzimmer versteckte Ehemann, der Frau und Liebhaber beobachtet, im Feigen Ehemann und in der Rache des Ehemannes genannt. Diese Szene ist als Variation der Versteckszene im Feigen Ehemann (V. 122 - 216) zu verstehen. Die Konstellation, daß der Ehemann in der Schlafkammer hinter einem Möbelstück versteckt sitzt (Rache des Ehemannes: der Mann hat sich haimlich (209) ins Haus geschlichen: er gieng ze der kamer ein/ und sas hinder ain hohen schrein, 211 f; Feiger Ehemann: der Mann hat sich haimlich hinder ain grosses vas/ gesetzet in der kamer sein, 124 f), während seine Frau Ehebruch begeht, gestaltet Kaufringer in den beiden Erzählungen völlig unterschiedlich. Der Scheidepunkt ist die Reaktion des Mannes (Passivität oder Aktion). Einen Hinweis auf die Korrespondenz der beiden Szenen gibt Kaufringer selbst, indem er seine für den Feigen Ehemann zentrale Formel etwie vil und doch nit gar (24) an eben dieser Stelle in der Rache des Ehemannes anzitiert. Der Ritter ist im Besitz der priesterlichen Geschlechtsteile und hat damit Teil 1 seiner Rache vollzogen: er gieng zehand oun underlaß aus der kamer vil stille. ervollet was sein wille etwie vil und doch nit gar. (248 - 251) 21 Sander (2001), S. 240, macht etwa selbst darauf aufmerksam, daß die in der Autorsignatur der Unschuldigen Mörderin enthaltene Schlußformel hiemit endet sich das mär (762) auch noch vier andere Texte beschließt, Nr. 7, 9, 12, 15 (teilweise in der Variante hiemit da endet sich das mär). 22 Sappler (1972), S. IX. 5 Heinrich Kaufringer als Sonderfall diesen Text vorgibt. 23 Zum anderen aufgrund der mutmaßlichen Schaffenszeit des Kaufringers: Urkundlich ließen sich zwei Heinrich Kaufringer, Vater und Sohn, im ostschwäbischen Landsberg am Lech nachweisen. 24 Der Ältere urkundet ab 1369 mehrfach als Siegelzeuge bei Kaufverträgen und Verhandlungen über Rechtsstreitigkeiten. 25 Außerdem geht aus den Urkunden hervor, daß er das öffentliche Amt des Pflegers und Kirchenpropstes 26 an der Stadtpfarrkirche Landsbergs versah, als deren Vertreter er Stiftungen entgegennahm und Kaufverträge tätigte. 27 Siegelt er nicht in seiner Funktion als Kirchenpfleger, so führt sein Name meistens den Zusatz «Bürger zu Landsberg». 28 In einer Urkunde vom 8. Dezember 1404 ist dann erstmals Heinrich Kaufringer der Jüngere zu unterscheiden: Zusammen mit seiner Frau vollzieht er eine von seinem Vater Heinrich Kaufringer und dessen Frau eingerichtete fromme 23 Vgl. ebd. , S. VIII. 24 Vgl. Fischer (1983), S. 150 f. 25 In den 1390er Jahren ist er fünfmal als Zeuge angeführt, davon dreimal im Jahr 1396, vgl. Heinrich Zintgraf : Regesten ungedruckter Urkunden zur bayerischen Orts-, Familien- und Landesgeschichte. 26. Reihe: Urkunden des städtischen Archives zu Landsberg am Lech. In: Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte 49, 1 (1895), S. 287 - 310; S. 304 - 308. Am 16. November 1393 ist Kaufringer Zeuge bei einem Gerichtsfall das Weiderecht betreffend, siehe ebd. S. 304 f. 26 Die Verwirrung, daß man Kaufringer unter dem Titel ‹ Propst › für einen Geistlichen halten müßte, liegt in der bayrisch-österreichischen Sonderverwendung dieses Begriffs begründet: Er wird in diesem Raum gleichbedeutend mit ‹ Kirchenpfleger › benutzt, vgl. Art. Kirch(en) ’ propst. In: DRW 7 (1983), Sp. 893 f; Sp. 893 III. Der «Kirch(en) ’ pfleger» ist «der ursprünglich für die bauliche Erhaltung des Kirchengebäudes, dann für das gesamte kirchliche Vermögen zuständige, meist weltliche und vom städtischen Rat gewählte, im ländlichen Bereich von der Gemeinde gewählte oder vom Grundherrn eingesetzte Verwalter des Kirchenguts, der schließlich auch Aufsichtsfunktionen über die Kirchendiener wahrnimmt.» Art. Kirch- (en) ’ pfleger. In: DRW 7 (1983), Sp. 890 f; Sp. 890. 27 Vgl. die Urkunden vom 15. 6. 1369: «Die Ratgeben der Stadt Landsberg und Heinrich der Kaufringer, der Zeit Pfleger und Kirchpropst unser Frauen Gotteshauses [. . .]», vom 4. 7. 1374: «[. . .] Kirchpröpste Hermann den Rieg und Heinrich den Kaufringer, Bürger zu Landsberg» und vom 25. 2. 1386 «[. . .] unser Frauen Pfleger und Kirchpröbste Chunrad der Leitgeb und Heinrich der Kaufringer», Zintgraf (1895), S. 297, 299, 303. 28 So beispielsweise in den Urkunden der 1390er Jahre, siehe Anm. 25. Nicht ganz klar ist jedoch, ob sich einige der urkundlichen Nennungen auch schon auf den Sohn beziehen, so die Vermutung von Hanns Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchges. u. erw. Aufl. besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983, S. 151 f. 6 Problemstellung Stiftung für deren Seelenheil. 29 Der ältere Kaufringer muß also zu diesem Zeitpunkt als bereits verstorben gelten, der jüngere taucht nach diesem Eintrag nicht mehr in den Urkunden auf. Wenn sich die Forschung mit unterschiedlichen Argumenten für Kaufringer den Älteren oder den Jüngeren als den Autor der überlieferten Texte ausgesprochen hat 30 , so wurden hier tatsächlich Wahrscheinlichkeiten verhandelt. Faktisch ist die Frage bei der jetzigen Quellenlage nicht zu entscheiden. 31 2 ‹ Gattungsfreier Raum › ? - Forschungsstand und Zielsetzung Die Sonderbarkeiten Kaufringerschen Erzählens und «seine Vorliebe für das Makabre und Grelle von besonderen Situationen» 32 hat man ihm in der älteren Forschung meist als Geschmacklosigkeit ausgelegt. 33 Symptomatisch ist das vorbehaltvolle Zögern, ihm erzählerisches Vermögen überhaupt zuzuerkennen: Er lasse «letzten Endes doch eine anspruchslose Freude am Stoff über die bescheidensten ästhetischen Erfordernisse den Sieg davontragen», urteilte Karl Stackmann in der ersten Auflage des Verfasserlexikons. 34 Nachdem Hanns 29 Vgl. Marga Stede : Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer (= Literatur, Imagination, Realität 5). Trier 1993, S. 226 f mit auszugsweisem Abdruck der Urkunde sowie weiteren Urkundenhinweisen zu Kaufringers Person und Lebensumständen, S. 235 - 237. 30 Vgl. den Forschungsbericht von Stede (1993), S. 220 f. Mehrheitlich tendiert man zu Heinrich Kaufringer dem Älteren, Fischer (1983) bevorzugte den jüngeren Kaufringer als den Autor, allerdings aus rein subjektiven Gründen, vgl. S. 152. 31 Vgl. Grubmüller (2006), S. 175, Anm. 1. 32 Sappler (1972), S. VII. 33 Von «grobe[n], wüste[n] Geschichten» spricht Max Wehrli : Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. 3., bibliographisch erneuerte Aufl. Stuttgart 1997, S. 803. 34 Karl Stackmann : Art. Kaufringer, Heinrich. In: VL 5 (1955), Sp. 506 - 510; Sp. 508. Vgl. auch Gustav Ehrismanns Kapitel über Kaufringer in seiner Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. 2. Teil: Die mittelhochdeutsche Literatur, Schlußband. München 1959, S. 481: «Über seine kulturelle 7 ‹ Gattungsfreier Raum › ? - Forschungsstand und Zielsetzung Fischers «Studien zur deutschen Märendichtung» 35 die Aufmerksamkeit auf das vielgestaltige Arsenal mittelalterlicher Kleinepik gelenkt hatten, legte erst Paul Sappler mit seiner Neuedition und dem Bemühen um ein unvoreingenommenes Urteil den Grundstein für eine differenziertere Betrachtung von Kaufringers Texten: Bei Heinrich Kaufringer, den Fischer unter die vier großen Märendichter zählt, läßt die genauere Fixierung hinter dem Eindruck starker Traditionsbedingtheit, wie er sich bei zu kleinem Maßstab leicht einstellt, die Umrisse einer eigentümlichen literarischen Leistung erkennbar werden. Hier sei nur andeutungsweise seine Fähigkeit hervorgehoben, in einigen seiner Erzählungen die für das literarische Genre typischen Situationen und Handlungsabläufe zu variieren, das ständische Personal in unerwarteten Rollen zu zeigen, ja manche Fabel wohl selbst erst zu erfinden. 36 Das Epitheton des Eigen-Artigen ist Kaufringer geblieben. Auf die Frage nach dem Sinnpotential seiner Texte existieren vielfältige Antworten, deren konträre Positionen zeigen, daß die Problematik nach wie vor aktuell und das Problem ungelöst ist. Zu nennen ist einerseits die Tendenz einer moraldidaktischen Kaufringer-Interpretation, die einhergeht mit der sozialhistorischen Analyse der Texte und ihren Sinn in der Vermittlung einer Lebenslehre oder Handlungsanweisung sieht. Dieses Erklärungsmodell für Kaufringers Texte vertreten die beiden Monographien zum Gesamtwerk: Einen sozialhistorischen Ansatz auf der Basis von Bourdieus Habitusmodell verfolgt Marga Stede 37 , die Kaufringer als Autor begreift, dessen Texte der «Krise des Spätmittelalters» eine «Alltagsethik» entgegensetzen würden. Die jüngere Monographie von Michaela Willers 38 möchte ihn im Sinne der Interpretation des Stricker durch Hedda Ragotzky 39 als Verfechter «weisen Handelns» 40 verstanden wissen. Eine Stellung kann man sagen, daß seine Haltung ganz unritterlich, über sein dichterisches Vermögen, daß es nur gering ist.» 35 Fischer (1983), die erste Auflage erschien Tübingen 1968. 36 Sappler (1972), S. VII. 37 Stede (1993). 38 Michaela Willers : Heinrich Kaufringer als Märenautor. Das Œ uvre des cgm 270. Berlin 2002. 39 Hedda Ragotzky : Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1). Tübingen 1981. Zu Kaufringer siehe dies.: Das Märe in der Stadt. Neue Aspekte der Handlungsethik in Mären des Kaufringers. In: Georg Stötzel : Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur. Berlin/ New York 1985, S. 110 - 122. 40 Willers (2002), S. 304. 8 Problemstellung solche Interpretation muß jedoch immer die für Kaufringer charakteristischen Brüche vernachlässigen, die durch das nicht mehr stimmige Verhältnis von Erzählerkommentar im Pro- und Epimythion und Geschichte oder durch die Erzähltechnik innerhalb der Geschichte entstehen. 41 Daß gerade in der «Nicht-Integration» Kaufringers ‹ Modernität › liege, hat Jan-Dirk Müller angemerkt. Das verschiedenartige Ausbrechen aus der Erzählkonvention belege «den experimentellen, gleichwohl oft noch unbeholfenen Übergang zu neuen Erzählformen.» 42 Auch die Deutung Klaus Grubmüllers spricht Kaufringer einen Sonderstatus zu, wobei diese Zuweisung aus einem nicht unproblematischen Gattungshorizont heraus erfolgt: Die Gattung Märe sei seit dem Stricker geprägt durch das exemplarische Erzählen, die Gattungserwartung auf das Lehrhafte gerichtet. Kaufringer entwickle sich vom traditionellen exemplarischen Märenerzählen weg, hin zum literarischen Freiraum der Gestaltung von Groteske und Chaos. 43 Mit der betonten Zurschaustellung von moralfreiem Chaos denunzierten, so Grubmüller, die Texte bewußt das traditionelle Konzept exemplarischen Erzählens und fänden ihren Sinn in der «zynischen Subversion» desselben. 44 In Grubmüllers Entwurf einer Gattungsgeschichte des Märe ist Heinrich Kaufringer damit nur als oppositionelles Element integrierbar - sein Erzählen lasse «die lehrhafte Gattungserwartung untergehen in einer Atmosphäre des Schreckens» 45 , er führe «typologisch die Gattung an ihr Ende». 46 An dieser Stelle wird es notwendig, den in der Märenforschung seit Walter Haug prominenten Begriff des ‹ Sinns › näher zu beleuchten: Was genau ist unter dem ‹ Sinn › zu verstehen, dessen Produktion den Texten entweder zu- oder abgesprochen wird? Obwohl der Sinn-Begriff immer wieder ins Zentrum der 41 Dies ist vor allem bei Willers (2002) der Fall, siehe auch Klaus Grubmüller : Rezension zu Michaela Willers: Heinrich Kaufringer als Märenautor. In: Fabula 45 (2004), S. 177 - 179. 42 Müller (1984), S. 310, Anm. 36. 43 Vgl. Klaus Grubmüller : Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Walter Haug und Burghart Wachinger : Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 37 - 54; und Grubmüller (2006), S. 175 - 191. Als Beispiele fungieren hauptsächlich die Rache des Ehemannes und die Drei listigen Frauen. 44 Grubmüller (2006), S. 185. 45 Ebd., S. 187. 46 Ebd . , S. 191. Zu hinterfragen ist, ob dieses in der Literatur- und Kunstgeschichte beinahe topische Narrativ vom Werden, Blühen und Vergehen einer Epoche oder Gattung hier nicht zu viel verdeckt, ob die Texte unter den Vorgaben eines solchen teleologischen Denkmusters nicht zu schnell systematisch erpreßt und ihre Spezifika auf wenige Aspekte reduziert werden. 9 ‹ Gattungsfreier Raum › ? - Forschungsstand und Zielsetzung Thesenbildung rückt, fällt auf, daß er selbst als relativ undifferenziert, seine Verwendung als wenig reflektiert erscheint. Bei genauerem Hinsehen hängt die Problematik des Sinn-Begriffs in der mediävistischen Novellistik- und Märenforschung zudem eng mit einem einseitigen Verständnis des Exemplarischen zusammen: Dieses wird seit Hans-Jörg Neuschäfer und Karlheinz Stierle nicht selten auf seine apodiktische Geltung reduziert 47 , woraus sich jene Opposition von ‹ mittelalterlich-exemplarisch › und ‹ neuzeitlich-novellistisch › erst ergeben hat, die in der Gattungsfrage zu Aporie und Stagnation führte. Haugs These vom «Erzählen im gattungsfreien Raum» läßt sich gewissermaßen als Reaktion auf die Überbetonung des Didaktischen im Bereich der mittelalterlichen Kleinepik begreifen; mit dem «programmatischen Verzicht» der mittelalterlichen Kurzerzählung «auf jede prägnante Sinnvorgabe» schlägt Haug die Gegenrichtung ein. 48 Indem er vor dem Hintergrund einer Konnotation von ‹ Textsinn › mit Didaxe textuelle ‹ Sinnfreiheit › mit der für mittelalterliches Erzählen problematischen Vorstellung einer literarischen Autonomie 49 verknüpft, dichotomisiert Haug nun «autonom-narrative[s] Potential» vs. «lehrhafte Funktion» und ‹ Reduktion › . 50 Die Wirkmächtigkeit dieser Vorgaben in der Forschung zur mittelalterlichen Novellistik zeigt sich anhand der Verwendung des Sinn-Begriffs: Auch bei Grubmüller bedeutet ‹ Sinn › immer zuerst einen lehrhaften Aspekt, die affirmative Referenz auf eine gesellschaftliche Ordnung, die letztlich auf die göttlich gelenkte Weltordnung (ordo) verweist. 51 Zwar bezieht Grubmüller Stellung für die Sinnstiftung im Märe (v. a. im Fall des Strickers), adaptiert mit den Haugschen Kategorien aber implizit auch die Dichotomie ‹ sinnhaft - sinnlos › , die sich übersetzen ließe 47 Hans-Jörg Neuschäfer : Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 8). München 1969. Karlheinz Stierle : Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel : Geschichte - Ereignis - Erzählung. München 1973, S. 347 - 375. 48 Walter Haug : Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: Walter Haug und Burghart Wachinger : Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 1 - 36; S. 6 f: «Damit ist konkret gesagt, daß dieses Erzählen mit keinerlei Vorgaben operiert, die es dem Dichter und dem Publikum ermöglichen würden, Sinn zu konstituieren bzw. zu erkennen, oder die zumindest auf einen Sinnhorizont verweisen würden.» 49 Vgl. kritisch dazu auch Gert Hübner : Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen. Plädoyer für eine praxeologische Narratologie. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 53 (2012), S. 175 - 206; S. 175 f, Anm. 2. 50 Haug (1993), S. 9. 51 Grubmüller (1993), S. 40 - 47. 10 Problemstellung als einerseits ordnungsstiftend bzw. den ordo bestätigend, andererseits diesen unterlaufend: Das Sinnlose (um Haug aufzugreifen) erhält [. . .] über die Exempelfunktion der Stricker-Mären einen präzise angebbaren Sinn: Es ist Illustrationsmaterial für die Schäden, die ein Verfehlen der gottgewollten Lebensordnung verursacht, und Demonstrationsmittel für den Nutzen ihrer Beachtung und Bewahrung. 52 Grubmüller modifiziert Haugs These vom ‹ Erzählen im gattungsfreien Raum › , das Sinnlosigkeit als sein wesentliches Merkmal ausstelle 53 , indem er sie einschränkt auf ein bestimmtes Stadium des entwicklungslogisch gedachten, historischen Ablaufs kleinepischen Erzählens im deutschen Sprachraum, das Kaufringer prominent repräsentiert. 54 Erst die Abwesenheit eines Verweiszusammenhangs markiere hier jene Selbstreferenz, die sich von ordnungsaffirmativer Didaxe und damit Funktionalität frei macht. 55 Daß narrative Raffinesse, spielerische Elemente und Funktionalität sich nicht ausschließen, ist indessen vielfach gezeigt worden, trotzdem wirkt die auf das apodiktische Verständnis des exemplarischen Erzählens als didaktisch zurückgehende Reduktion von Deutungsalternativen implizit weiter. 56 Wird ‹ Sinn › eindimensional als Forderung nach einer Referenz des Erzählens auf gesellschaftliche 52 Ebd., S. 45. 53 Vgl. Haug (1993), S. 6 f, 33. 54 Vgl. Grubmüller (1993), S. 51: «[. . .] daß seine Verselbständigung [des Sinnlosen, C. R.] in der Geschichte der Gattung den Moment bezeichnet, in dem sie vor der durch den Stricker geprägten Aufgabe versagt, die gerechte Ordnung der Welt zu demonstrieren, und stattdessen nur noch (oder endlich) deren krude Abstrusität vorzeigt.» Auch Grubmüller (2006), S. 264, Anm. 61. 55 Grubmüller (1993), S. 49: «Damit ist der Verweiszusammenhang auf die in objektiven Prinzipien und Mechanismen verbürgte Ordnung der Welt gelöst, Erzählen konstituiert Sinn aus sich, der Erzähler bannt das Chaos (das er zugleich anzeigt), und das macht die Modernität Heinrich Kaufringers aus.» Ebenfalls innerhalb dieser Vorgaben operiert Mareike von Müller : Schwarze Komik in Heinrich Kaufringers ‹ Drei listige Frauen B › . In: ZfdA 142 (2013), S. 194 - 216, die durch eine extreme Hyperbolik die Texte von jeglicher axiologischen Referenz befreit sieht und dies mit dem Konzept der ‹ Schwarzen Komik › als «Ästhetisierung» der «negativen Aspekte des Lächerlichen» zu verstehen vorschlägt (vgl. S. 201), womit eine ‹ systematische Verdunkelung des Textsinns › einhergehe (S. 215). 56 Dies setzt sich noch in der Forschung zu den frühneuzeitlichen Schwanksammlungen fort, für die Michael Waltenberger : Vom Zufall des Unglücks. Erzählerische Kontingenzexposition und exemplarischer Anspruch im › Nachtbüchlein ‹ des Valentin Schumann (1559). In: PBB 129, 2 (2007), S. 286 - 312; S. 287 die Reduktion semantischer Komplexität «auf eine relativ undifferenzierte - subversive oder affirmative - Tendenz» beklagt. Waltenberger nimmt dagegen eine überzeugende Neuperspektivierung vor, siehe auch ders.: › Einfachheit ‹ und Partikula- 11 ‹ Gattungsfreier Raum › ? - Forschungsstand und Zielsetzung Axiologien (Didaxe, Nutzanwendung) gedacht, rückt zwischen den Polen Ordnung und Chaos, Ordnungsaffirmation als Sinnkonstitution und Ordnungssubversion als Desavouierung von Sinn ein weites Feld möglicher Abstufungen aus dem Blick. 57 Mir scheint hier eine verstärkte Rückbesinnung auf den Begriff des Exemplarischen im Kontext eines aus der Antike tradierten topisch-rhetorischen Denkens nötig, das auf Vieldeutigkeit zielt: Manfred Fuhrmann weist bereits 1973 als Antwort auf Stierles Charakterisierung des historischen Exemplums als ‹ eindeutig › auf das Verständnis des Exemplarischen in der politischen Rhetorik der Antike hin, wo man schon immer gewußt habe, daß es «nicht nur Beispiele, sondern auch Gegenbeispiele gibt». 58 Peter von Moos begreift die Dialektik des Exemplarischen als intellektuelles Spiel, das Perspektivenpluralisierung und damit auch das Unterlaufen von Ordnung als einen Aspekt von Exemplarität ausstellt. 59 Viele je spezifisch akzentuierte Eindeutigkeiten, so könnte man sagen, erzeugen hier Vieldeutigkeit: Diese reflektierende Relativität des topischen Denkens kann zu einer intellektuellen Freiheit eigener Art führen. Denn die Topik besitzt einen spielerisch-ästhetischen Aspekt. So ist es möglich, das Widersprüchliche bewußt in fiktiven Extremfällen zu steigern: man findet Vergnügen an aporetischen Zuspitzungen, man liebt Gedankenspiele als Argumentationstraining und zielt dabei weniger auf Lösungen als auf die Präsentation von Problemen [. . .]. 60 Vor dieser Folie ist folglich der Sinn-Begriff zu differenzieren, weil deutlich wird, wie Texte semantische Komplexität produzieren gerade über die Gleichzeitigkeit, über den dialogischen Wechsel von Affirmation und Subversion. Der kommunikative Prozeß, das Hinterfragen der geltenden Ordnung kann rität. Zur textuellen und diskursiven Konstitution schwankhaften Erzählens. In: GRM 56 (2006), S. 265 - 287. 57 Instruktiv zur Frage nach textueller Sinn-Produktion vor dem Hintergrund ideeller Omnipräsenz von Sinn im sozialen Raum jetzt Albrecht Koschorke : Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main 2012, S. 148 - 166; S. 163: «Kulturelle Semiosis bewegt sich innerhalb der gesamten Bandbreite zwischen Semantisierung und Entsemantisierung.» 58 Manfred Fuhrmann : Das Exemplum in der antiken Rhetorik. In: Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte - Ereignis und Erzählung (= Poetik und Hermeneutik 5). München 1973, S. 449 - 452; S. 451. 59 Peter von Moos : Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im «Policraticus» Johanns von Salisbury. Hildesheim u. a. 1988, vgl. etwa S. 280, wo von Moos vom «im besten Sinne paradoxen ‹ Spielernst › mittelalterlicher Literatur» spricht. 60 Walter Haug : Kritik der topischen Vernunft. Zugleich keine Leseanleitung zu › Geschichte als Topik ‹ von Peter von Moos. In: PBB 114 (1992), S. 47 - 56; S. 51. 12 Problemstellung dabei als Verfahren selbst ‹ sinnhaltig › sein, genauso wie ein Zusammenspiel bzw. ein Gegenspiel verschiedener Perspektiven nicht ‹ sinnlos › ist, der dialektische Vorgang an sich sogar didaktisch wirksam werden kann (vgl. die Traditionen von Dialog, Gespräch, Maieutik). 61 Der Exkurs dürfte somit klargemacht haben, daß die für Kaufringers Erzählen konstitutiven Sinnvorgaben und Sinnpotentiale allererst neu zu bestimmen sind. Phänomenologisch kann Kaufringers Erzählen nicht innerhalb der Ränder einer Gattung Märe verortet werden, sondern franst sie aus. Gerade anhand des Sonderfalls Kaufringer wird damit, so meine ich, die ganze Problematik des Festhaltens an einer systematisierbaren Gattung Märe mit typologischer Entwicklung deutlich. 62 Müßte man hier also doch generell das ‹ Erzählen im gattungsfreien Raum › annehmen? Die schwierige Forschungsdiskussion der Gattungsfrage 63 ist nie zu einem befriedigenden Ende gelangt, 61 Vgl. Rüdiger Schnell : Erzählstrategie, Intertextualität und ‹ Erfahrungswissen › . Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 367 - 404, der auf die von Haug nicht berücksichtigte Sinnherstellung im hermeneutischen Prozeß zwischen Text und Rezipient hinweist. 62 Grubmüller (2006) unterscheidet in Rückgriff auf Fischer drei Grundtypen: das «exemplarische Märe» (Kap. 5), den «Fabliau-Typ» (Kap. 6) und das «demonstrative Märe» (Kap. 7). 63 Vgl . Fischer (1983), S. 62 f. Fischer hatte 1968 in der ersten Auflage seiner ‹ Studien zur deutschen Märendichtung › mittels Subtraktionsverfahren in Abgrenzung zu anderen kleinepischen Formen mittelalterlichen Erzählens das von ihm so benannte ‹ Märe › gattungstypologisch definiert als eine «in paarweise gereimten Viertaktern versifizierte[n], selbständige[n] und eigenzweckliche[n] Erzählung mittleren (d. h. durch die Verszahlen 150 und 2000 ungefähr umgrenzten) Umfangs, deren Gegenstand fiktive, diesseitig-profane und unter weltlichem Aspekt betrachtete, mit ausschließlich (oder vorwiegend) menschlichem Personal vorgestellte Vorgänge sind.» Die Bezeichnung ‹ Novelle › hatte er grundsätzlich als für die «moderne Kunstform» reserviert verstanden und sich gegen ihre Anwendung auf die mittelalterlichen Mären verwahrt, weil er deren Betrachtung nicht durch die Implikationen modernen Novellenerzählens vorbelastet wissen wollte, vgl. S. 31, 100. Kurz nach Fischer hob der Romanist Hans-Jörg Neuschäfer das Decameron Giovanni Boccaccios als Wegmarke neuzeitlichen novellistischen Erzählens von der mittelalterlichen Kleinepik ab, vgl. Neuschäfer (1969). Für eine historische Kontinuität der Gattung gegen die Definition Fischers trat dagegen Joachim Heinzle ein: Boccaccio und die Tradition der Novelle. Zur Strukturanalyse und Gattungsbestimmung kleinepischer Formen zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Wolfram- Studien 5 (1979), S. 41 - 62; außerdem ders.: Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik. In: Das Märe. Die mittelhochdeutsche Versnovelle des späteren Mittelalters (= Wege der Forschung 558). Darmstadt 1983, S. 91 - 110. Seine Kritik an Fischer und Neuschäfer sowie die daraus hervorgegangene Märendiskussion referiert (mit 13 ‹ Gattungsfreier Raum › ? - Forschungsstand und Zielsetzung stattdessen aufgrund der beschriebenen dichotomen Positionen in Aporien stagniert. Den außerordentlich verdienstvollen Schritt einer Revision der von Fischer eingeführten Gattung Märe über eine sorgfältige Bestimmung von deren spezifischer Erzählform in Abgrenzung zu den umgebenden Groß-und Kleinformen Minnerede, Bispel und Roman unternahm Hans-Joachim Ziegeler . 64 Ohne daß die grundlegend wichtigen Ergebnisse dieser Untersuchung dadurch geschmälert würden, zeigte sich jedoch auch hier, daß ein typisierendes Verfahren gerade für komplexere Texte wie diejenigen Kaufringers an seine Grenzen stößt und weiterer Differenzierungen bedürfte. 65 Nicht selten wird seitdem die Gattungsfrage ganz ausgeklammert. Die Vorstellung einer konsistenten Gattung Märe wirkt in der Forschung zunehmend dekonstruiert, wie schon die Uneinigkeit in puncto Terminologie illustriert, die sich zwischen ‹ Märe › (Fischer, Ziegeler), ‹ mittelhochdeutscher Versnovelle › (Schirmer 66 ) und ‹ mittelalterlicher Kurzerzählung › (Haug, Friedrich, Kiening) bewegt - für den internationalen Kontext spricht man gemeinhin von ‹ europäischer Novellistik › (Grubmüller, Reuvekamp-Felber). Udo Friedrich hat es treffend formuliert: «Man könnte sagen, der Versuch, das Märe als Gattung zu fassen, mündet letztlich in seiner Auflösung.» 67 Was also ist zu tun? Ich möchte eine Neuperspektivierung vornehmen, indem ich eine mittlere Ebene zwischen Gattungssystematik und Negation der Gattung anvisiere: Was bisher zu wenig berücksichtigt wurde, ist ein Aspekt, den Wolf-Dieter Stempel für das französische Pendant des Märe, das Fabliau, schon 1968 ins Spiel gebracht hat: Die Eigenschaft mittelhochdeutscher Novellistik als umfassender Literaturangabe) einführend Hans-Joachim Ziegeler : Art. Maere. In: RLW 2 (2000), S. 517 - 520. - Vgl. einschlägig zum Märe die beiden Forschungsberichte Karl-Heinz Schirmer : Das Märe. Die mittelhochdeutsche Versnovelle des späteren Mittelalters (= Wege der Forschung 558). Darmstadt 1983, sowie Mark Chinca , Timo Reuvekamp-Felber und Christopher Young : Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (= Beihefte zur ZfdPh 13). Berlin 2006. Zur poetologischen Dimension des Märenerzählens zuletzt Reichlin (2009); S. 13 - 16 zur Gattungsdiskussion. Vgl. jetzt auch den Forschungsüberblick bei Andrea Schallenberg : Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (= Deutsche Literatur. Studien und Quellen 7). Berlin 2012. 64 Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (= MTU 87). München [u. a.] 1985. 65 Vgl. Jan-Dirk Müller : Rezension zu Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. In: PBB 110, 3 (1988), S. 454 - 459. 66 Karl-Heinz Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle. Tübingen 1969. 67 Udo Friedrich : Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Chinca (2006), S. 48 - 75; S. 49. 14 Problemstellung ‹ Reflexgattung › , die nicht nur, aber in besonderem Maße die späteren Texte kennzeichnet. Für das Fabliau stellt Stempel fest, daß die altfranzösischen Schwänke insgesamt in mehrfacher Hinsicht nicht als einheitliche Gattung gelten können, eher wohl als › Reflexgattung ‹ zu bezeichnen sind, indem sie als Kurzgeschichten in ihrer formal-stilistischen Konzeption bald nach dem Lai, bald nach dem Roman, bald nach dem Streitgespräch, bald nach der Fabel usw. ausgerichtet, d. h. stilistisch auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. 68 Diese Charakterisierung ist m. E. auch für die als Mären kategorisierten Texte zutreffend, die nicht weniger vielfältig und flexibel in ihrer formal-stilistischen Ausrichtung sind: Von der paradoxalen Sinn-und Klangverschränkung im Stil des Gottfriedschen Tristan (Konrads von Würzburg Herzmære) oder der höfischen Entfaltung eines Minnekasus (Mauritius von Craûn) 69 über die dialogische Dramatik des Streitgesprächs (Strickers Ehescheidungsgespräch), Anleihen bei der Legendenform (Strickers Die eingemauerte Frau, Kaufringers Einsiedler und Engel, Die fromme Müllerin) oder der Ich-Erzählform der Minnerede (Das Liebesabenteuer in Konstanz) 70 , bis hin zur Fastnachtspiel- Nähe (Hans Folz, Hans Rosenplüt, Hans Sachs) - das Stil-Register der Mären erweist sich als anschlußfähig an sämtliche Bereiche 71 , wobei auch innerhalb eines Textes gerne damit gespielt wird, je nach Gegenstand die Sprache anzupassen und so etwa vom Höfischen geradewegs in einen derb direkten stilus humilis zu verfallen. 72 Da die formal-stilistische Ebene nicht zu trennen ist von der inhaltlichen, werden Mären zu Experimentierfeldern, auf denen sich Erzählformen und Diskurse kreuzen, Traditionelles aufgegriffen und neu kontextualisiert, damit neu verhandelt wird. Sie sind dabei gerade in ihrer 68 Wolf-Dieter Stempel : Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem. In: Hans Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968, S. 187 - 205; S. 200. 69 Vgl. Hubertus Fischer : Ritter, Schiff und Dame. Mauritius von Craûn: Text und Kontext. Heidelberg 2006, S. 176 - 200, 240 - 250. 70 Vgl. Ziegeler (1985), S. 49 - 94; S. 89 f zum Liebesabenteuer in Konstanz, dazu außerdem den Eintrag im VL von Kurt Illing : Art. Liebesabenteuer in Konstanz. In: VL 2 5 (1985), Sp. 785 f. 71 Vgl. Schirmer (1969), S. 1 - 133 zum Stil anhand ausgewählter Kompositionselemente. 72 Die Beobachtung dieses Phänomens bei Jan-Dirk Müller : Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ‹ Halber Birne › . In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 3 (1984/ 85), S. 281 - 311; S. 292 f. Vgl. auch Peter Strohschneider : Der tuorney von dem czers. Versuch über ein priapeiisches Märe. In: Jeffrey Ashcroft , Dietrich Huschenbett und William H. Jackson (Hg.): Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1987, S. 149 - 173. 15 ‹ Gattungsfreier Raum › ? - Forschungsstand und Zielsetzung kleinen Form besonders wendig, wenn es um Referenzsetzung geht, und daher auch, andersherum betrachtet, vielseitig einsetzbar: sei es in exemplarischer Funktion im religiösen Kontext der Predigt oder im juristischen des Rechtsspiegels, sei es in der Funktion «unaufhörliche[r] Erschütterung [der] Kategorien und diskursiven Gewissheiten» des Rezipienten. 73 Ein Merkmal der ‹ Reflexgattung › Märe in diesem Sinn ist, daß hier vor allem Erzähltechniken weiterentwickelt werden: Sprache, Sprechen, Erzählen sind nicht nur inhaltlich zentrale Themen, deren Bedingungen werden vielmehr auch narrativ reflektiert. Insofern ist für viele dieser Texte eine spezifische Poetik zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit charakteristisch, die sie zur «exklusive[n] Kunst» macht. 74 Neben der relativen Kürze gelten hier vor allem die Kriterien der Selbstreflexivität und Anschlußfähigkeit, also ist es eine poetologische Flexibilität über die Vorstellung von Gattungsgrenzen hinweg, die die Gemeinsamkeit der Texte stiftet. Ich möchte daher den Gattungsbegriff möglichst vorsichtig, im Wissen um seine rein heuristische, wissenschaftspragmatische Funktion benutzen. 75 73 Hans Jürgen Scheuer : Schwankende Formen. Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken. In: Peter Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/ New York 2009, S. 733 - 770; S. 763. Das reflexive Potential und damit die Grenzgängigkeit von Mären im Hinblick auf Diskurse und Erzählformen zeigen Wolfgang Achnitz : Ein mære als Bîspel. Strickers Verserzählung ‹ Der kluge Knecht › . In: Volker Honemann und Tomas Tomasek (Hg.): Germanistische Mediävistik. 2., durchges. Aufl. Münster 2000, S. 177 - 203, sowie Hans-Jochen Schiewer : Ein mære ist daz. Narrative Exempla in der frühen deutschen Predigt. In: Harald Haferland und Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19). München 1996, S. 199 - 219, und Romy Günthart : Mären als Exempla. Zum Kontext der sogenannten «Strickermären». In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 37 (1993), S. 113 - 129. Zur Anschlußfähigkeit an den juristischen Diskurs vgl. Norbert H. Ott : Bispel und Mären als juristische Exempla: Anmerkungen zur Stricker-Überlieferung im Rechtsspiegel-Kontext. In: Klaus Grubmüller , Peter L. Johnson und Hans-Hugo Steinhoff : Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Paderborn 1988, S. 243 - 252. 74 Mireille Schnyder : Schriftkunst und Verführung. Zu Johannes von Freiberg: Das Rädlein. In: DVjs 80 (2006), S. 517 - 531; S. 531. Zur genderspezifischen Medialität von ‹ Körperzeichen › jetzt die kulturhistorische Studie von Schallenberg (2012), S. 100 - 169. 75 Ich spreche in Hinsicht auf Kaufringer im Verlauf der Arbeit meist neutral von ‹ Texten › oder ‹ Erzählungen › . Wo - wie hier im Vorfeld - die Rede von der Gattung ist bzw. es um eine Differenzierung der Kaufringerstücke innerhalb seines Gesamtœ uvres in eher redenartige und eher erzählende Texte geht, wird mit dem Mären- 16 Problemstellung Die Rede von der Reflexgattung meint nun aber eben nicht eine Sinn- und Moralfreiheit (Haug). Es ist stattdessen die Gleichzeitigkeit von Selbst- und Weltreferenz, die spätmittelalterlichen Kurzerzählungen eine «doppelte Logik» 76 verleiht, wie Christian Kiening formuliert hat: Auch mag man in Zweifel ziehen, ob am Ende - selbst der Kaufringer-Texte - wirklich eine Atmosphäre des Schreckens herrscht oder nicht vielmehr eine eigentümliche Intensität erzeugt wird, entstehend daraus, dass Leser und Hörer in Erkenntnisprozesse verwickelt werden, die spielerischen und doch nicht einfach spielerisch-unverbindlichen Charakter haben. 77 Eine weitere Neuperspektivierung des Problems muß es daher sein, die mittelalterliche Kurzerzählung nicht gattungstheoretisch, sondern anhand ihrer spezifischen Poetik in den Blick zu nehmen. 78 Auch kleinepisches Erzählen soll hier konsequent als Wiedererzählen verstanden werden. 79 Zwar betont Franz Josef Worstbrock die Entwicklung seines Konzepts des Wiedererzählens anhand der Großepik, besonders des höfischen Romans, und grenzt es damit von der Kleinepik ab. 80 Inzwischen hat Friedrich jedoch gezeigt, daß der für das Wiedererzählen konstitutive «Befund der rhetorischen Signatur» 81 auch für die mittelalterliche Kurzerzählung gilt: Rhetorik steuert in nicht unerheblichem Ausmaß den Vorgang der Produktion und Rezeption mittelalterlicher Kurzerzählungen. Im Akt des Wiedererzählens stiftet Rhetorik ein komplexes Arsenal an Techniken und liefert den literaturtheoretischen Rahmen für die Neugestaltung des Werks. 82 begriff gearbeitet, allerdings rein heuristisch. Insofern der Terminus ‹ mittelalterliche Kurzerzählung › ebenfalls eine Ablösung von der Gattungsvorstellung und damit eine Neutralisierung bedeutet, übernehme ich ihn der besseren Verständlichkeit halber im Kontext der Diskussion entsprechender Forschung. 76 Christian Kiening : Verletzende Worte - verstümmelte Körper. Zur doppelten Logik spätmittelalterlicher Kurzerzählungen. In: ZfdPh 127, 3 (2008), S. 321 - 335; S. 321. 77 Ebd., S. 326. 78 Udo Friedrich : Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Beate Kellner , Peter Strohschneider und Franziska Wenzel : Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter (= Philologische Studien und Quellen 190). Berlin 2005, S. 227 - 249. 79 Franz Josef Worstbrock : Wiedererzählen und Übersetzen. In: Walter Haug : Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze (= Fortuna vitrea 16). Tübingen 1999, S. 128 - 142. 80 Ebd., S. 128. 81 Friedrich (2005), S. 229. 82 Ebd., S. 248. 17 ‹ Gattungsfreier Raum › ? - Forschungsstand und Zielsetzung Wie in der Großepik erklärt sich dann die Existenz mehrerer Fassungen eines Plots als Konkurrenz um das beste artificium als Ausarbeitung einer überlieferten materia, wobei das artificium hier im Finden anderer Argumente und der Neudisposition von Handlungsbezügen besteht. 83 Die spezifische Kunstfertigkeit der Kurzerzählungen liegt dabei in der Art, wie über das ‹ Stilmittel › der Wiederholung im Verbund mit Variation und Neukombination Texte entstehen: Wiederholung wird zum zentralen Instrument einer Kombinations- und Variationskunst, die von stereotypen Situationen über topische Muster bis hin zu analogen Erzähldispositionen reicht. Das Verhältnis von Beispieleidetik und Kunstanspruch, Exemplarik und Literarizität, ist hier nicht vorab gattungstheoretisch zu entscheiden, sondern wäre an jedem Einzelfall neu zu bestimmen. 84 Je am Einzelfall neu zu bestimmen ist damit auch die Profilbildung eines Erzählens, das als kleinräumiges äußerst flexibel und produktiv ist im Anschließen an Diskurse und Erzählformen. Was zunächst aussieht wie ein Erzählen nach dem Baukastenprinzip, ein Erzählen auf der Basis einfacher Regeln, widerspricht eben nicht der Ausbildung von Komplexität. 85 Gilt - wie bereits beschrieben - das Prinzip der ‹ Einfachheit › auf der einen Seite für das Textkorpus Kaufringers in besonderem Maße, wenn man seine erzählerische Ökonomie bedenkt, die von Motiven bis zu sprachlichen Formeln reicht, so ist auf der anderen Seite eben dieser Kaufringer schon des öfteren als ein Erzähler aufgefallen, dessen ‹ Kreativität › gerade bei der Variation und Neukombination des Typischen aus der Wiederholung etwas Spezifisches werden läßt. Die Forderung nach Einzelfallbetrachtung muß wegen des skizzierten Spannungsverhältnisses umso mehr für seine Texte gelten. Gerade für die Klärung der Grundsatzfrage nach einer generellen Interpretierbarkeit von Kaufringers Texten, auf die sich die dargelegte Positionenvielfalt der Forschung zuspitzen läßt, scheint mir dies nötig. Vor diesem Hintergrund formuliert die vorliegende Arbeit das Ziel, die Besonderheiten und Sinnpotentiale Kaufringerschen Erzählens besser in den Blick zu bekommen. Es soll eine erzählstrukturelle Untersuchung ausgewählter Texte geleistet werden, die sensibel bleibt für deren artifiziellen Charakter, 83 Vgl. ebd., S. 229 f. 84 Friedrich (2006), S. 58. 85 Vgl. zu diesem Konnex die strukturanalytischen Überlegungen zum ersten Teil des Nibelungenliedes anhand des Brautwerbungsschemas von Peter Strohschneider: Einfache Regeln - komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ‹ Nibelungenlied › . In: Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller (Hg.): Mediävistische Komparatistik. FS für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Stuttgart/ Leipzig 1997, S. 43 - 74. 18 Problemstellung jene «formalen, im engeren Sinn literarischen Aspekte, die nicht selten durch die Maschen der literarbzw. sozialhistorischen Interpretation fallen». 86 Dabei wird gerade die Problemstruktur der Texte als moralisch-juristische Sonderfälle ernstgenommen. Man sollte die Unentschiedenheit, die Uneindeutigkeit der Erzählungen nicht interpretatorisch auflösen, sondern sie als ihr wesentliches Merkmal bestehen lassen und sie darüber zu fassen versuchen. 87 Als hilfreich erweist sich dafür das Konzept des ‹ Kasus › . 3 Der Kasus als Erzählstruktur im Spannungsfeld von Recht und Rhetorik Unter einem ‹ Kasus › versteht man grundsätzlich einen «gar nicht oder nur partiell unter ein Allgemeines subsumierbaren Einzelfall». 88 Seine Eigenschaft ist es also, geltende Normen zu hinterfragen: «Das begriffliche Konzept des Kasus geht zurück auf die in Philosophie, Recht und Theologie ausgebildeten Methoden der Kasuistik als vom Einzelfall ausgehender Rechtsfindung.» 89 Vor allem der juristische Bereich antiker Kasuistik spielt dabei eine zentrale Rolle: Der lateinische casus ist im römischen Recht ein juristisch relevantes Fallbeispiel zur Erklärung von Sonderfällen und Gesetzeslücken. Hier setzt André Jolles an, der den Kasus als textpragmatische Erzählform in die Literaturwissenschaft einführt. 90 Er definiert ihn dementsprechend als eine Erzählstruktur der Frage: 86 Udo Friedrich : Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer. In: IASL 21, 1 (1996), S. 1 - 30; S. 3. 87 Die dezidierte Auseinandersetzung mit weiterer Forschungsliteratur erfolgt jeweils problembezogen im Verlauf der Modellanalysen. 88 Manfred Eikelmann : Art. Kasus. In: LexMA 2 (2000), S. 239 - 241; S. 240. 89 Ebd., S. 240. 90 Vgl. André Jolles : Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 8., unveränd. Aufl. (1. Aufl. 1930). Tübingen 1974, S. 171 - 199; S. 179: «Für eine solche Form möchte ich den Namen wählen, den sie in ihren Vergegenwärtigungen, in der Jurisprudenz, der Morallehre und auch noch anderswo, besitzt: ich möchte sie Kasus oder Fall nennen.» 19 Der Kasus als Erzählstruktur In dem Kasus ergibt sich die Form aus einem Maßstab bei der Bewertung von Handlungen, aber in der Verwirklichung liegt die Frage nach dem Werte der Norm. Bestehen, Gültigkeit und Ausdehnung verschiedener Normen werden erwogen, aber diese Erwägung enthält die Frage: wo liegt das Gewicht, nach welcher Norm ist zu werten? 91 Übertragen gilt dasselbe für kasuistische Erzählstrategien in der Literatur, die Kasusstruktur wird hier zur «Form des Problematischen selbst» 92 : Die ‹ unerhörte Begebenheit › markiert den neuen Fall, dessen Einordnung ins bestehende Wert- und Rechtssystem erst geleistet und diskutiert werden muß. Die Frage nach dem Urteil, einer Lösung des Kasus steht im Raum, der Kasus selbst enthält sie jedoch nicht: Das Eigentümliche der Form Kasus liegt nun aber darin, daß sie zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht geben kann, daß sie uns die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält - was sich in ihr verwirklicht, ist das Wägen, aber nicht das Resultat des Wägens. [. . .] Und so ist es dann auch die Eigentümlichkeit des Kasus, daß er dort aufhört, ganz er selbst zu sein, wo durch eine positive Entscheidung die Pflicht der Entscheidung aufgehoben wird. 93 Der Vorgang des Wertens und Beurteilens stellt also den «eigentlichen Sinn des Kasus» dar. 94 Die «kasuistische Denkgestalt» 95 ist sozusagen der narrative Reflex dieser «Geistesbeschäftigung» 96 des Urteilens in der Literatur. Zwar gilt Jolles ’ romantische Grundlegung eines geschlossenen Systems ‹ Einfacher Formen › , «die als eine Art Urformen sprachlichen Verhaltens den Urformen menschlicher Tätigkeit entsprechen sollen» als überholt. 97 Trotzdem betont Karlheinz Stierle gerade das ‹ Pragmatische › von Jolles ’ Ansatz einer Frage nach der ‹ Vergegenwärtigung › von ‹ Geistesbeschäftigungen › in der Literatur als Gewinn für die Erzählforschung: Das Faktum des Erzählens bestimmt noch nicht zureichend eine Sprechsituation. Diese selbst bestimmt vielmehr das Erzählen. Die Konstitution narrativer Texte ist 91 Ebd., S. 190. 92 Stierle (1973), S. 363. 93 Jolles (1974), S. 191. 94 Ebd., S. 179. Versinnbildlichen lasse sich die Erzählform des Kasus daher im Symbol der Waage: «Man kann hier das Bild der Wage [sic! ] gebrauchen: Wage hängt mit Wagen, mit bewegen zusammen. Auf der einen Schale ruht ein Gesetz; sobald etwas auf die andere Schale gelegt wird, bewegt dieses sich nach oben oder unten und wird, indem es sich bewegt, selbst gewogen.» Jolles (1974), S. 175. 95 Otto Görner : Vom Memorabile zur Schicksalstragödie. Berlin 1931, S. 63. 96 Jolles (1974), S. 184. 97 Stierle (1973), S. 350. 20 Problemstellung abhängig von ihrem Gebrauch, somit von ihrer Stelle im je umgreifenden sprachlichen oder außersprachlichen › Kontext ‹ . 98 Für mittelalterliches Erzählen, das noch nicht als literarisch autonom verstanden wird, da es «stets soziale Normierung und Literarizität aneinander [bindet]» 99 , liegt es noch näher als für moderne Literatur, «poetische Formen auf die ihnen zugrundeliegenden pragmatischen Formen zu befragen und das Verhältnis der poetischen Formen zu ihren pragmatischen Korrelaten zu bestimmen» 100 . Konkret für kasuistische Literatur formuliert lautet die Frage damit: Wie stellt sich das Verhältnis dar zwischen dem alltagssprachlichen Kommunikationsmodell eines ‹ Erzählens vor Gericht › und seiner Literarisierung? Abgegrenzt wird der Kasus als offener Fall von den strenger funktionalisierten und damit ‹ abgeschlosseneren › Erzählformen des Beispiels und des Exemplums. 101 Bedeutung erlangt hat er deshalb vor allem innerhalb der Diskussion um eine gattungsgeschichtliche Entwicklung von exemplarischdidaktischem Erzählen zu mehrsinnig-wertoffener Novellistik. 102 Für novellistisches Erzählen wird reklamiert, daß es seit Boccaccios Decameron «zunehmend in die Spannung von Exemplarität und Kasuistik gerät. Innerhalb des geselligen Kontextes, der textimmanent als Rahmenhandlung inszeniert wird, werden soziale Normen, kulturelle Muster und selbst rhetorische Strategien disponibel und reflektierbar.» 103 Der Kasus ist dabei aber keine ausschließliche Funktion novellistischen Erzählens, denn es ist gerade die «Öffnung auf eine kasuistische Form», die die mittelalterliche Kurzerzählung «bei aller weitertradierten Exemplarik» mit der Novelle teilt. 104 Friedrich sieht auf dem Feld 98 Ebd., S. 351. 99 Friedrich (2005), S. 229. 100 Stierle (1973), S. 361. 101 Vgl. Ruth Koch : Der Kasus und A. Jolles ’ Theorie von den ‹ Einfachen Formen › . In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 14, 3 (1973), S. 194 - 204; S. 201: «Zweifellos zeigen Beispiel und Exempel eine enge Verwandtschaft, während der Fall ihnen gegenüber eine Sonderstellung einnimmt. Beispiel und Exempel sind insofern verwandt, als sie dazu dienen, etwas Abstrakt-Allgemeines konkret darzustellen, d. h., sie werden auf ihre erklärende und verdeutlichende Funktion hin ausgewählt oder entworfen. Man kann wohl sagen: Sie müssen sich für einen bestimmten Zweck eignen, müssen tauglich sein, bestimmte Begrifflichkeiten, Regelhaftigkeiten, bestimmte Kausalverhältnisse und -wirkungen zu veranschaulichen. Fälle hingegen ereignen sich. Sie stellen ein Geschehen dar, das eingeordnet, das auf einen ‹ Begriff › gebracht werden muß. Gesetze und Normen z. B. werden herangezogen, damit Fälle beurteilt werden können.» 102 Siehe Neuschäfer (1969) und Stierle (1973), S. 347 - 375. 103 Friedrich (2005), S. 231. 104 Friedrich (2006), S. 57. 21 Der Kasus als Erzählstruktur mittelalterlicher Kurzerzählungen auch ohne die Rahmenhandlung der Novellistik einen «Raum für Kasuistik» sich öffnen, innerhalb dessen ebenfalls «Themen, Motive und Formen» diskursivierbar werden. 105 Die Formentypologie des Kasus bildet im Vergleich zum illustrativen Exemplum einen «problemorientierte[n] Gegenpol». 106 Als ein solches Gegenstück zum Exempel begreifen den Kasus auch Caroline Emmelius und Hartmut Bleumer. 107 Auf ihre produktiven Überlegungen kann ich mich stützen, möchte dabei jedoch etwas anders gewichten. In ihren Arbeiten verstehen Bleumer und Emmelius den Kasus - in strikter Differenzierung eines juristischen und eines literarischen Diskurses - als erzähltheoretisch defizitäre Struktur, die in Konkurrenz zum Exempel ohne axiologischen Sinn sei, weil ihr mit dem offenen Ende die Beurteilung fehle. Für den Kasus erfülle die narratio eine dienende Funktion, sie sei keine Geschichte, weil sie lediglich das Fallgeschehen referiere, das dann über seine juristisch-rationale Behandlung, im Vollzug der argumentatio, aufzulösen sei. 108 Insofern stehe der Hermeneutik des Exempels, «das im Nachvollzug der erzählten Geschichte Orientierung gibt», die Rhetorik gegenüber, die «den Kasus auf der Basis eines normativen Verfügungswissens ordnet und beurteilt». 109 Ich möchte den Fokus nun nicht auf eine Opposition von Erzähler und Orator, von (literarischer) Hermeneutik vs. (juristischer) Rhetorik legen. Vielmehr kommt es mir darauf an, zu zeigen, wie sich literarischer und juristischer Diskurs wechselseitig spielerisch komplexisieren können. Die narratio kann auch nach dem Strukturmuster der argumentatio gestaltet sein, wobei sich ein Wechselspiel von narrativem und diskursivem Zugriff ergibt. 110 105 Friedrich (2005), S. 231. 106 von Moos (1988), S. 27. Siehe außerdem Christoph Daxelmüller : Exemplum und Fallbericht. Zur Gewichtung von Erzählstruktur und Kontext religiöser Beispielgeschichten und wissenschaftlicher Diskursmaterialien. In: Jahrbuch für Volkskunde. N. F. 5 (1982), S. 149 - 159. 107 Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius : Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers ‹ Ring › . In: Wolfram-Studien 20 (2008), S. 175 - 204. 108 Vgl. ebd., S. 194 f. 109 Ebd., S. 195. 110 Hier setzt auch an Michael Richter : Das narrative Urteil. Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant (= Narratologia. Contributions to Narrative Theory/ Beiträge zur Erzähltheorie 13). Berlin/ New York 2008. Aus dezidiert kognitionswissenschaftlicher und narratologischer Perspektive beschreibt Richter jenes ‹ In Schwingung Versetzen › von Axiologien durch narrative Strategien, er nähert sich damit dem Phänomen, das Jolles mit dem Kasus als im Erzählen produktiv werdendes Denkmodell einer Geistesbeschäftigung des Wägens und Urteilens gefaßt hatte - wobei Richter von Jolles nichts weiß. Die Studie von Richter 22 Problemstellung Diese agonale Struktur kann über (Figuren- oder Erzähler-)Rede wie gleichermaßen über (Figuren-)Aktion realisiert sein: Die Textform des literarischen Streitgesprächs, des Kampfes mit Worten ist hier zu nennen. Das metaphorische Feld der Rede als Agon ist dem Mittelalter mehr als geläufig, auf Darstellungen im Kreis der Sieben Freien Künste trägt die ars Rhetorica Schwert und Kettenhemd. 111 Desweiteren ist an die dynamische narrative Struktur antagonistischer Figurenaktion zu denken, konkret etwa an das Motiv des Kampfes oder Turniers. 112 Die Kasusstruktur - das ist mir wichtig festzuhalten - kann semantische Komplexität generieren, weil sie nicht im luftleeren erzähltheoretischen Raum existiert, sondern jenseits einer strikt literarischen Bestimmung als ‹ Einfache Form › an pragmatische Kontexte anschließbar ist. Mit dem Postulat einer Kasusdefinition im Sinne von ‹ Kasus = axiologisch offen = nicht narrativ = sinnlos › 113 scheint mir das interessante Moment dieser Rückbindung ausgeklammert, das gerade beim Kasus greifbar werden kann. Als in diesem Sinne «protonarrative Struktur» 114 hat Caroline Emmelius den Kasusbegriff für die ergänzt den hier eingenommenen theoretischen Standpunkt in wünschenswerter Weise im Sinne einer abstrahierenden Beschreibung der ‹ Grundbausteine › von Narration und Argumentation und ihres Verhältnisses zueinander, neigt jedoch angesichts dieses Abstraktionsanspruchs narratologischer Theoriebildung mitunter zur Übertheoretisierung, was eine hermeneutische Erschließung der Texte, ihre Interpretation und historische Kontextualisierung in den Hintergrund treten läßt: Um die letzteren soll es mir vor allem gehen, weshalb auch mit der Rhetorik ein historisches Begriffsinstrumentarium, das zugleich einen wesentlichen Kontext des rechtlichen wie des literarischen Diskurses bildet, in den Mittelpunkt rückt. 111 Eine ausführliche Erklärung für die Funktionsweise des metaphorischen Feldes dialogischer Agonalität aus kognitionswissenschaftlich-narratologischer Perspektive liefert Richter (2008), S. 30, 272 - 275, 291 - 297. In mittelalterlicher Literatur ist dieses Bildfeld vielfältig verfügbar und wird auf unterschiedlichste Weise fruchtbar gemacht: So wird etwa in den Wartburgkriegen auch das Singen als Gerichtskampf inszeniert, wenn die Sänger in einen Ordalring treten, vgl. Peter Strohschneider : Dialogischer Agon. In: Klaus W. Hempfer und Anita Traninger (Hg.): Der Dialog im Diskursfeld seiner Zeit. Von der Antike bis zur Aufklärung. Stuttgart 2010, S. 95 - 117. 112 Zum Neidhart-Turnier in Wittenwilers Ring vgl. Bleumer/ Emmelius (2008), S. 200. Überlegungen zur Verbindung von Gerichtskampf und Ritterkampf bei R. Howard Bloch : Medieval French Literature and Law. Berkeley 1977. 113 Vgl. Caroline Emmelius : Kasus und Novelle. Beobachtungen zur Genese des Decameron (mit einem generischen Vorschlag zur mhd. Märendichtung). In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 51 (2010), S. 45 - 74; S. 70: «Ein Kasus wäre demnach basal zu bestimmen als eine protonarrative Struktur, die in aktantieller und/ oder in axiologischer Hinsicht defizitär ist.» 114 Ebd. 23 Der Kasus als Erzählstruktur festgefahrene Gattungsdiskussion zwischen Märe und Novelle fruchtbar gemacht. Ein sehr wichtiger Schritt, allerdings scheint es mir ebenso wichtig, will man die Diskussion nicht wieder in die alte Aporie manövrieren, von Anfang an die impliziten Wertungen eines ‹ noch nicht › oder ‹ schon novellistisch › zu verabschieden. Emmelius bestimmt - von Boccaccio und der italienischen Novellistik herkommend - den Kasus als ‹ Fallgeschehen › , das «als aktantiell und axiologisch offenes noch zu keinem Abschluss als Geschichte gefunden hat. Novelle wäre entsprechend ein Begriff, der die Ebene der Geschichte bezeichnet, auf der der Kasus mit einem Urteil oder einer Lösung versehen und das offene Geschehen somit abgeschlossen wird.» 115 Ich frage mich, ob die Kategorisierung von Unabgeschlossenheit als Defizienz aus der Warte einer ganzheitlichen narratologischen Idealvorstellung von ‹ Geschichte › nicht auf der Ebene narratologischer Analyse die alte Teleologie der Debatte weitertradiert 116 , und ob die Ebenentrennung so strikt sein muß. 117 Jolles selbst betont weniger eine Defizienz des Kasus gegenüber der Novelle, als vielmehr die Tatsache, daß der Kasus selbst - im Gegensatz zu den anderen ‹ Einfachen Formen › - schon auf der Schwelle stehe zur Kunstform: Denn der Kasus «kann, um sich selbst auszudrücken, Hilfe von außen annehmen.» 118 Diese ‹ Hilfe von außen › bestehe in - wie Jolles 115 Emmelius (2010 a), S. 60. 116 So bestätigt Caroline Emmelius : Der Fall des Märe. Rechtsdiskurs und Fallgeschehen bei Heinrich Kaufringer. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 163 (2011), S. 88 - 113, das Ergebnis Grubmüllers, daß bei Kaufringer keine «sinnstiftende[n] Geschichte» vorliege (S. 112). Emmelius argumentiert entlang des Bezahlten Anwalts, des Verklagten Bauern und der Rache des Ehemannes, Kaufringer könne ein (sinnloses) Fallgeschehen nur in eine (sinnvermittelnde) Fallgeschichte verwandeln, wenn die Diskursinstanz des Erzählers als personalisierter Sprecher auftrete und das Fallgeschehen für den juristischen Diskurs instrumentalisiere. Ich vertrete eine andere Position und möchte dagegen zeigen, wie sich bei Kaufringer gerade Diskursinterferenzen herstellen, die als literarisches Spiel sichtbar werden. 117 Emmelius (2011) wertet nicht explizit, Begriffe wie ‹ verfehlt › (S. 112) oder ‹ axiologisches Desiderat › (S. 113) verführen jedoch zu einer Bewertung der Texte, die dann auf eben jenen Kategorien narratologischer Opposition von sinnlosem Geschehen und sinnhafter Geschichte gründet (vgl. ebd., S. 90, Anm. 11; Emmelius bezieht sich v. a. auf Wolf Schmid : Elemente der Narratologie. 2., verbesserte Aufl. Berlin/ New York 2008, S. 251 - 254), deren Applikationsfähigkeit kritischer zu hinterfragen wäre. 118 Jolles (1974), S. 182. 24 Problemstellung sie nennt - «Hinzufügungen», die «auswechselbar» seien. 119 Es handelt sich um situative Ausschmückungen, die nicht anders als narrativ zu nennen sind. Insofern kann der Kasus selbst bereits eine Geschichte mit narrativer Struktur sein. 120 Das fehlende Urteil am Schluß verstehe ich als ein Differenzkriterium zur Novelle, das aber im Umkehrschluß den Kasus nicht zur defizitären Form macht im Sinne eines ‹ noch nicht narrativ › : Prinzipiell ist der Kasus nicht nur als Strukturelement, sondern auch als selbständige Erzählform im Sinne einer ‹ Gattung › denkbar. 121 Der ‹ Kasus › - oder ‹ kasuistisches Erzählen › - soll damit hier als Bezeichnung einer Erzählstruktur verstanden werden, welcher ein bestimmtes Denkmodell vorausliegt. Das Denkmodell des Kasus ist eines, das sich aus der antiken forensischen Rechtsprechung wie aus den Rede- und Debattierübungen der theoretischen Rhetorik (declamationes, controversiae) herleitet und im Mittelalter gerade mit der Rezeption der antiken Rhetorik vielfache Verwirklichungsformen findet - die in einigen Bereichen erst ansatzweise erforscht sind 122 : Es ist über die Dialektik und Rhetorik des mittelalterlichen Bildungswesens hinaus präsent durch die Scholastik, deren Universalisierung der 119 Ebd., S. 181. 120 Jolles (1974), S. 182, betont, daß im Kasus der Weg zur Kunstform bereits «bis zu einer gewissen Höhe [Hervorhebung C. R.] vorgezeichnet ist». 121 Vgl. Hermann Bausinger: Art. Kasus. In: EM 7 (1993), Sp. 1025 - 1027; Sp. 1027 und Eikelmann (2000), S. 241. Für minnekasuistische Texte wie den Mauritius von Craûn überdenkt Katharina Philipowski : Aporien von dienst und lôn in lyrischen und narrativen Texten am Beispiel von Mauritius von Craûn und Heidin. In: GRM 59, 2 (2009), S. 211 - 238, den Jollesschen Kasus-Begriff und stellt die Frage, ob «kasuistische Mären» (S. 215) nicht eine eigene Kategorie bilden könnten. 122 Vgl. R. Pichl : Art. Kasuistik. In: HWbRh (1998), Sp. 905 - 911; Sp. 905: «Das kasuistische Verfahren baut auf den zentralen Elementen der forensischen Rhetorik auf.» Zahlreiche grundlegende Hinweise und trotz des älteren Datums der Studie immernoch relevante Anregungen bei von Moos (1988), S. 274 - 279. Vgl. zur von der Forschung vernachlässigten mittelalterlichen Praxis mündlicher Redekultur den wichtigen Vorstoß von Thomas Haye : Oratio. Mittelalterliche Redekunst in lateinischer Sprache (= Mittellateinische Studien und Texte 27). Leiden/ Boston/ Köln 1999, der darauf aufmerksam macht, daß die gängige Forschungsposition, die christliche Predigt als mittelalterliche Nachfolgerin der paganen Rede zu verstehen (vgl. S. 6), und die damit behauptete semantische Einengung der antiken Begriffe sermo und oratio auf die Predigt, angesichts eines sehr weiten ‹ Sermones › -Begriffs der noch lange nicht zur Gänze aufgearbeiteten Quellen nicht grundsätzlich gelte, vgl. S. 7: «Die überwältigende Masse der uns unter dem Titel sermo überlieferten mittellateinischen Texte droht somit zu verdecken, daß auch vor dem 14. Jahrhundert einige nicht unbedeutende Aufführungsnischen für ‹ säkulare › Reden existiert haben.» 25 Der Kasus als Erzählstruktur Fragemöglichkeit die skurrilen quaestiones 123 ausbildet, die etwa dem phantastischen Charakter antiker controversiae nicht fern stehen, oder durch die gelehrte disputatio 124 , und es speist den «argumentative[n] Kasus genauso wie die hochmittelalterliche Liebeskasuistik, die bis ins Spätmittelalter praktizierten Formen höfischer Minnegeselligkeit (cours d ’ amours, Minneurteile u. a.) und auch die volkssprachliche Tradition des Streitgedichts». 125 Die Performativität forensischer Rechtsrhetorik, die sich bei Jolles als «Sprachgebärde» 126 des Verhandelns wiederfindet, ordnet kasuistisches Erzählen auch in eine Geschichte ‹ schriftlicher Modelle vormoderner Gesprächskultur › 127 bis hin zu Boccaccio und darüber hinaus ein. Kasuistisches Erzählen wird in dieser Arbeit gerade nicht als defizitär gegenüber dem Exempel oder der Novelle begriffen, stattdessen gehe ich davon aus, daß sich kasuistisches Erzählen durch spezifische Charakteristika konstituiert, die der Novelle oder dem Exempel nicht notwendig eignen müssen. Diese Charakteristika erklären sich aus der grundsätzlichen Überschneidung von Recht und Literatur: Sieht man die «Kulturformel» ‹ Recht und Literatur › und damit ihre ‹ Produkte › in einem Zwischenbereich zwischen Recht und Literatur angesiedelt 128 , muß gerade hier mit dem Auftreten eines Dritten gerechnet werden, das aus den Diskursverschränkungen von Recht und Literatur entsteht und nicht wieder restlos auseinanderdividiert werden kann. Als Kasus lassen sich nun Kaufringers Erzählungen ‹ unerhörter Begebenheiten › (Goethe) 129 im interdisziplinären Spannungsfeld von Rhetorik, Jurisprudenz und Literatur situieren. Dies ermöglicht nicht nur einen neuen Blick auf die Texte, sondern zeigt auch die vielfältigen Berührungspunkte von Erzählen in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten wie Rechtspre- 123 Vgl. Rolf Schönberger : Was ist Scholastik? Mit einem Geleitwort von Peter Koslowski. Hildesheim 1991, S. 54 f. 124 Marion Gindhart und Ursula Kundert : Disputatio 1200 - 1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin/ New York 2010. 125 Eikelmann (2000), S. 240. Vgl. Sebastian Neumeister : Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen. München 1969. 126 Jolles (1974), S. 45. 127 Meinolf Schumacher : Schriftliche Modelle vormoderner Gesprächskultur. Tischzuchten - Gesprächsspiele - Konversationsbüchlein. In: Der Deutschunterricht 6 (2001), S. 8 - 15. Siehe auch H. Geißner : Art. Gesprächsspiel. In: HWbRh 3 (1996), Sp. 964 - 969. 128 Hartmut Bleumer : Einleitung. In: LiLi 163 (2011), S. 5 - 14; S. 14. 129 «[. . .] denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit», Johann Wolfgang Goethe. In: Johann Peter Eckermann : Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von E. Beutler. Bd. 24. Zürich 1948, S. 225. 26 Problemstellung chung und Literatur. 130 Ein solcher Konnex ist im Bereich mittelalterlicher Kleinepik von größter Relevanz, stellt jedoch bisher weitestgehend ein Forschungsdesiderat dar. 131 Auch die auffällige Relevanz des Rechts für die italienische Novellistik ist noch kaum untersucht, auch hier können neue Perspektiven und Erkenntnisse für die festgefahrene Gattungsdiskussion zwischen Märe und Novelle gewonnen werden. 132 In den Modellanalysen der eingangs vorgestellten Texte verwende ich als grundlegendes Untersuchungsinstrument für die strukturelle Analyse die Rhetorik, speziell das genus iudiciale, die Gerichtsrede. Wo es eine präzisere Beschreibung der erzähltechnischen Gegebenheit ermöglicht, vor allem in Hinsicht auf das Phänomen eines die Perspektiven auf das Geschehen auffächernden Erzählens, arbeite ich stellenweise zusätzlich mit Begrifflichkeiten moderner Erzähltheorie wie der «Fokalisierung» und dem «unzuverlässigen 130 Vgl. die Artikel ‹ Recht › und ‹ Fallgeschichte › in: Roland Borgards u. a. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/ Weimar 2013, S. 142 - 151; 282 - 287. Einen aktuellen, interdisziplinär ausgerichteten Forschungsüberblick zur «Kulturformel» von ‹ Recht und Literatur › aus mediävistischer Perspektive gibt Bleumer (2011), S. 5 - 14, der konstatiert, daß «die rechtsgeschichtliche Fragestellung in der germanistischen Mediävistik in den letzten Jahren aus der Mode gekommen» sei (S. 11). Zur Verbindung von Recht und Literatur für das Mittelalter siehe Ruth Schmidt - Wiegand : Art. Dichtung und Recht. In: HRG 2 1 (2008), Sp. 1034 - 1043, deren Arbeiten einschlägig sind. Das Phänomen des Diskurs- und Medienwechsels von Erzählformen thematisieren in dieser Hinsicht außerdem die Rechtliche Volkskunde und die Erzählforschung im Rahmen der europäischen Ethnologie, siehe Herbert Schempf : Rechtliche Volkskunde. In: Rolf W. Brednich : Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 3., überarb. u. erw. Aufl. Berlin 2001, S. 423 - 443, und Lutz Röhrich : Erzählforschung. In: Ebd., S. 515 - 542. 131 Vgl. jüngst Hartmut Bleumer : Vom guten Recht des Teufels. Kasus, Tropus und die Macht der Sprache beim Stricker und im Erzählmotiv »The Devil and the Lawyer« (AT 1186; Mot M 215). In: LiLi 163 (2011), S. 149 - 173; sowie Emmelius (2011), ansonsten einzig die bereits ältere, überlieferungsbezogene Studie zum Märe von Ott (1988). 132 Vgl. Emmelius (2010 a); Literatur zur Bedeutung des Rechtsfalls für das Decameron ist jetzt bei Emmelius (2011), S. 88 f, Anm. 3 zusammengestellt. Zur Frage der etymologischen Beziehung des Begriffs ‹ Novelle › zum juristisch-politischen Fachwortschatz und der Verbindung der italienischen Novelle zur Jurisprudenz siehe Helmut C. Jacobs und Marcel Klugmann : Mittelalterliche Novellistik und Jurisprudenz - Zivilrechtsfälle und rechtsphilosophische Reflexion im Novellino. In: Mediaevistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung 16 (2003), S. 7 - 50. 27 Der Kasus als Erzählstruktur Erzähler». 133 Die Historisierung narratologischer Terminologie und Verfahrensweisen gewinnt im Zuge einer zunehmenden Attraktivität erzähltheoretischer Fragestellungen immer mehr an Aktualität 134 , man muß sich jedoch bewußt machen, daß diese Historisierung immer nur begrenzt möglich und auch nur begrenzt interpretatorisch ergiebig sein wird. 135 Disziplinenspezifisch trifft hier ein absoluter Abstraktionsanspruch der Narratologie auf die Bestrebungen der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung nach historischer Kontextualisierung und hermeneutischer Erschließung; dies muß jedoch keine Unvereinbarkeit bedeuten, anzustreben wäre vielmehr die Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen im Sinne der Verfügbarkeit eines narratologischen Beschreibungsinstrumentariums als Heuristik für die Erzählforschung einerseits und einer Verfeinerung und Revision dieses Instrumentariums durch die Prüfung im spezifischen historischen Fall für die Narratologie andererseits. 136 In diesem Sinne gilt es auch im Folgenden, das narratologische Instrumentarium genau auf seinen Ertrag für die Beschreibung mittelalterlichen Erzählens zu prüfen; sehr instruktiv sind in dieser 133 Die verschiedenen Typen der Fokalisierung nach Gérard Genette : Die Erzählung. München 1994, S. 134 - 138, als Nullfokalisierung, interne Fokalisierung und externe Fokalisierung, wobei es mir vor allem auf die Möglichkeiten perspektivierten Erzählens durch interne Fokalisierung ankommt; siehe zur theoretischen Übersicht Matías Martínez und Michael Scheffel : Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 63 - 67. Der unreliable narrator geht zurück auf Wayne C. Booth : Die Rhetorik der Erzählkunst. 2 Bde. Heidelberg 1974, S. 158 f; auch dazu Martinez / Scheffel (1999), S. 95 - 107. 134 Vgl. das Konzept des neuen Handbuchs zur Erzählliteratur: Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/ Weimar 2011. 135 Vgl. den perspektivenreichen Tagungsband von Harald Haferland und Matthias Meyer : Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven (= Trends in Medieval Philology 19). Berlin/ New York 2010. Darin stellt Gert Hübner : evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen (S. 119 - 147) Betrachtungen an über die Bedeutung der Rhetorik als Bezugssystem für mittelalterliche Erzähler, nicht nur als technische Größe, sondern auch in geistesgeschichtlicher Hinsicht. Er empfiehlt diese ‹ ältere Reflexionstradition › als historisch korrekte Herangehensweise an die Texte. Man solle sie mit den «heuristischen Potentiale[n] der modernen Erzählphänomenologien» verbinden, sich dabei der historischen Bedingtheit beider Systeme bewußt sein, vgl. S. 139. 136 Ein produktiver Versuch in diesem Sinne ist der demnächst erscheinende Tagungsband von Maximilian Benz und Katrin Dennerlein : Räume der Herkunft. Beiträge zu einer historischen Narratologie (= Narratologia). Berlin/ New York [in Vorb.], vgl. die Einleitung der Herausgeber. 28 Problemstellung Hinsicht die Arbeiten von Armin Schulz. 137 Der Zusammenhang einer kasuistischen Erzähltechnik mit der Theorie und Praxis juristischer Verfahrensweisen, der Situation des Gerichts insbesondere, erscheint mir für die vorliegenden Texte äußerst signifikant. In Anbetracht dessen werde ich mich zur Text- und Problemerschließung vor allem eines modifizierten Modells der Rhetorik bedienen. 138 Diese bildet für Recht und Literatur gleichermaßen einen historischen Reflexionshorizont, darüberhinaus ist sie im für beide Bereiche konstitutiven Medium der Sprache anthropologisch grundlegend. 139 In ihrer Doppelkompetenz als Lehr- und Beschreibungssystem bietet Rhetorik den Vorteil einer Universalität terminologischer Anwendbarkeit, gerade im Grenzbereich fiktionalen und faktualen Erzählens. 140 4 Zum europäischen Kontext: Komparatistische Perspektiven In seiner komparatistischen Gattungsgeschichte demonstriert Grubmüller die grundlegende Bedeutung des europäischen Kontextes für die Beschäftigung mit der mittelhochdeutschen Novellistik. Gleichwohl macht er die Traditionsbindung der deutschen Texte an den Stricker und das Paradigma exemplarischen Erzählens sehr stark. Die systematische Einteilung mittelhochdeutscher Mären in einen (auf den Stricker zurückgehenden) exemplarischen Typ und einen (an die französische Tradition anschließenden) Fabliau-Typ, bei 137 Vgl. jetzt Armin Schulz : Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller. Berlin/ Boston 2012. 138 Zur grundsätzlichen kognitiven Dimension der Rhetorik, die sie auch für die Narratologie äußerst interessant macht, siehe Richter (2008), S. 28 - 42. 139 Hans Blumenberg : Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 104 - 136. Vgl. dazu den Band von Josef Kopperschmidt (Hg.): Rhetorische Anthropologie. München 2000. 140 Vgl. Rüdiger Campe : Im Reden Handeln: Überreden und Figurenbilden. In: Heinrich Bosse und Ursula Renner : Literaturwissenschaft - Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg im Breisgau 1999, S. 123 - 138. 29 Zum europäischen Kontext: Komparatistische Perspektiven denen einmal Didaxe, einmal Komik das Erzählziel bildeten, suggeriert eine Trennschärfe, die die Texte in ihrer Komplexität nicht einhalten und die insofern sicherlich differenzierungsbedürftig ist. 141 Die ausgeprägte Anschlußfähigkeit der Gattung hatte ich oben bereits angesprochen. Das Märenerzählen im deutschen Sprachraum ist also nur eine Linie der Kontextualisierung, in die Kaufringer zu stellen ist. Ich möchte sie um weitere, zu dieser quer verlaufende Linien ergänzen, Kaufringer also nicht nur vor der Folie des Strickerschen Märenerzählens lesen, sondern seine Texte auch und vor allem im Kontext vielfältiger sich kreuzender nationaler und internationaler Erzählsowie Stoff- und Motivtraditionen betrachten. Hinzu kommt die lateinische Exemplarik, die sich für Kaufringer als wichtiger Bezugspunkt erweist, von der Forschung bisher jedoch vernachlässigt wurde. Die Frage nach der strukturellen ‹ Gemachtheit › von Kaufringers Texten ist nicht ohne die Berücksichtigung der Tradition jener Stoffe und Motive zu beantworten, die er aufgreift. Grundlegend stützt die bisherige komparatistische Märenlektüre den Vergleich auf die Basis der Stoff- und Motivverwandtschaft: Doch ist zu berücksichtigen, daß das Abstraktum ‹ Stoff › nicht realiter existiert, sondern immer nur in je spezifischer Darbietungsform anzutreffen ist und angetroffen werden konnte. Ein neues Erzählen eines ‹ Stoffes › setzt immer eine eigene Konzeption und damit auch Reflexion und Kenntnis der vorgefundenen Konzeption voraus. Der Vergleich verschiedener Versionen eines ihnen gemeinsamen ‹ Stoffs › läßt es also zu, die eigene Leistung einer Erzählung zu beurteilen. 142 Um der Frage näher zu kommen, warum Kaufringer so erzählt, wie er es tut, muß man somit bei den überlieferten Alternativen beginnen und vergleichend sehen, wo und bis zu welchem Grad hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verzeichnen, Tendenzen erzählerischer Ausformung zu formulieren sind. Die einzelnen Texte werden als Ausformungen einer materia in ihrer spezifischen narrativen ‹ Gemachtheit › begriffen. Mit ‹ Stoff › bezeichne ich daher für diese Arbeit die Verknüpfung einzelner Erzählmotive zu einer spezifischen Struktur, die in ihrer Eigenart wiedererkennbar ist und deshalb für die Ebene 141 Vgl. Helen Kurss : Die Anfänge der Novelle. (Rezension zu Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos). In: IASLonline [04. 06. 2008]. URL: <http: / / www.iaslonline.de/ index.php? vorgang_id=2594>. Datum des Zugriffs: 23. 03. 2012. 142 Hans-Joachim Ziegeler : Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: ‹ The Tale of the Cradle › . In: Klaus Grubmüller u. a.: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Paderborn 1988, S. 9 - 31; S. 16. 30 Problemstellung des erzählten Geschehens mit dem Begriff des ‹ Plots › belegt werden kann. 143 In der Summe entfaltet sich so das Bild der Tradition eines Stoffkomplexes in allen Facetten seiner Ausformung. Vor diesem Hintergrund gelingt die Profilierung des Kaufringerschen Erzählens, indem vergleichend sichtbar gemacht wird, welche formalen Möglichkeiten des Zugriffs auf den Stoff dieser nutzt oder nicht nutzt oder sogar kombiniert, und welche inhaltlichen Veränderungen er damit am Stoff vornimmt. Nicht nur der Inhalt der Erzählung bewahrt Erinnerung, sondern auch die Gestaltung des narrativen Zusammenhangs. Form und Struktur der Erzählung enthalten selbst schon eine Bewertung des erzählten Vorgangs, nicht nur als Symbolstruktur. 144 Die Entscheidung, einem tradierten Stoff, rhetorisch gesprochen: der materia eine gewisse forma, eine bestimmte narrative Struktur unter anderen möglichen zu geben, schafft damit vor dem Horizont eines traditionsverpflichteten mittelalterlichen Wiedererzählens einen Spielraum der Gestaltung für den jeweiligen Erzähler. 145 Diesen zunächst «bescheidene[n] Spiel- 143 Stoff und Motiv sind zu begreifen als zwei Konfigurationen der «konkrete[n], in bestimmten Figurenkonstellationen und Handlungszügen geprägte[n] Materialgrundlage für die Handlung erzählender und dramatischer Literatur», wobei der Stoff «das Werk global organisiert», während das Motiv einen Teil organisiert, vgl. Armin Schulz : Art. Stoff. In: RL 2 3 (2003), S. 521 - 522, hier S. 521. Das Motiv ist dementsprechend definiert als «kleinste selbständige Inhalts-Einheit» eines literarischen Werks, siehe Rudolf Drux : Art. Motiv. In: RL 2 2 (2000), S. 638 - 641, hier S. 638. Grundlegend zum Stoff- und Motivbegriff Elisabeth Frenzel : Stoff- und Motivgeschichte. Berlin ²1974, S. 24 ff. 144 Friedrich (2006), S. 56. 145 Wie Hartmann durch den Einsatz von dilatationes der Figur Enite in seinem Erec im Vergleich zu Chrétien erhöhte narrative Aufmerksamkeit schenkt und damit die formal quantitative Veränderung zu einer inhaltlich wirksamen, qualitativen wird, zeigt Franz Josef Worstbrock : Dilatatio materiae. Zur Poetik des ‹ Erec › Hartmanns von Aue. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Susanne Köbele und Andreas Kraß. Bd. 1: Schriften zur Literatur des Mittelalters. Stuttgart 2004, S. 197 - 228 [zuerst erschienen in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1 - 30]. Zudem diene Hartmann nach Worstbrock das Prinzip der dilatatio materiae zur «Vorführung und Einübung gewußter Fiktionalität» in der bekannten Passage der Pferdebeschreibung (vgl. ebd., S. 224). Daß Hartmann als erster deutscher Autor, der literarische Fiktionalität ausstellt und damit ein Bewußtsein derselben betont, dies gewissermaßen im Medium einer dilatatio materiae (der Pferdebeschreibung) und auch noch über die Thematisierung dieses seines Bearbeitungsschrittes realisiert (der fingierte Dialog des Erzählers Hartmann mit dem Publikum wird eben durch die rhetorische Aufgabe der descriptio des Sattelzeugs erst motiviert), ist gerade 31 Zum europäischen Kontext: Komparatistische Perspektiven raum» 146 gilt es auszuloten. Gemeint ist eine narrative ‹ Kreativität › , die im eigentlichen Wortsinne keine ist, weil sie nicht erfindet, nicht ohne die tradierten Vorgaben von materia auf der einen Seite und rhetorischem Handwerkszeug auf der anderen zu denken ist, die aber gleichzeitig gerade wegen dieser Vorgaben und in der Art ihrer Anwendung Spezifik und Souveränität entwickelt. 147 Ich möchte deshalb auch formale Aspekte wie die Komposition, die Funktionalisierung von Einzelelementen und damit die Erzähltechnik in meine Analysen einbeziehen, die in gewissen Fällen als Reaktion auf bestehende Ausformungen eines Stoffes erklärbar werden kann. Soweit möglich, wird auch der kulturhistorische Kontext der behandelten Texte berücksichtigt. Dies geschieht auf der Basis eines Begriffs von Literaturgeschichte nicht als bloßer ‹ Stoffgeschichte › , sondern als Geschichte einer Wandlung der narrativen Gestaltung eines Stoffes und damit seiner spezifischen Prägungen innerhalb des europäischen Kulturraumes. Gerade für die mittelalterliche Novellistik in ihrer europäischen Dimension ist eine solche Betrachtung literarischer und kultureller Muster sinnvoll. 148 Sie steckt jedoch auf diesem Feld noch in den Anfängen: Die Forschung zur mittelalterlichen Novellistik insgesamt hat die «komparatistische Zusammenschau» internationaler Textzeugen bisher meist mit dem Ziel der Gattungsdiskussion um Märe und Novelle 149 oder der Klärung von Abhängigkeiten betrieben. Um die genealogischen Zusammenhänge von Mären und Fabliaux zu erhellen, wählt etwa Frauke Frosch- Freiburg die Methode des Vergleichs stoffverwandter deutscher und französischer Texte, darunter Kaufringers Drei listige Frauen. 150 Die Stoff- und Motivverwandtschaft begreift sie dabei hauptsächlich auf inhaltlicher Ebene. kennzeichnend für eine mittelalterliche narrative ‹ Kreativität › im Rahmen tradierter Vorgaben. 146 Ebd., S. 197. 147 Zur «schwierige[n] Modernität» eines mittelalterlichen Erzählens, das durch «Spannungen zwischen Traditionsübernahmen, -erweiterungen und -brüchen» charakterisiert ist, vgl. Christian Kiening : Schwierige Modernität. Der › Ackermann ‹ des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels (= MTU 113). Tübingen 1998, S. 10. 148 Vgl. die Ausrichtung auf den europäischen Kontext sowie die Betonung der kulturwissenschaftlichen Perspektive des einschlägigen Forschungsberichts, Timo Reuvekamp-Felber : Einleitung: Mittelalterliche Novellistik im kulturwissenschaftlichen Kontext. Forschungsstand und Perspektiven der Germanistik. In: Chinca (2006), S. XI - XXXII. 149 Am Beispiel des Stoffes von den Drei listigen Frauen Müller (1984), S. 289 - 311. Siehe auch Ziegeler (1988). 150 Frauke Frosch-Freiburg : Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoff- und Motivvergleich (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 49). Göppingen 1971. 32 Problemstellung Um die «Analyse von Erzählformen» geht es dagegen Alwine Slenczka, deren wichtige komparatistische Studie mittelhochdeutsche Kurzerzählungen mit nicht-weltlichem Personal, darunter Kaufringers Einsiedler und Engel sowie Der bekehrte Jude, nicht nur den deutschen, sondern auch den lateinischen Parallelen gegenüberstellt. 151 Auch die Arbeiten von Kurt Ruh und Ralf- Henning Steinmetz zur Unschuldigen Mörderin 152 sind hier zu nennen. Vor allem Ruhs Sammlung sämtlicher Stoffparallelen zeigt, daß eine solche komparatistische Perspektive für die Interpretation von Kaufringers Texten sehr fruchtbar sein kann. Einiges ist zu Quellen und Motivik in den Anfängen der Kaufringer-Forschung von Karl Euling 153 und Artur L. Stiefel 154 zusammengetragen worden, die Verweise auf die einschlägigen Motiv-Indices finden sich bei Hans-Joachim Ziegeler. 155 Für ausgewählte Texte ist Klaus Grubmüller 156 diesen Hinweisen nachgegangen. Bis auf wenige Ausnahmen hat man jedoch für die Interpretation von Kaufringers Texten die Methode des Vergleichs mit international volkssprachlichen und lateinischen Stoff- und Motivparallelen ad acta gelegt. Zuletzt hat Grubmüller nachdrücklich für eine sich komparatistisch öffnende Erforschung der mittelalterlichen Novellistik plädiert, wobei er, von der üblichen Basis des Plots abstrahierend, andere Kriterien für die komparatistische Methode sucht (historischer Zeitpunkt, soziokulturelle Kontexte wie Stadt, Bürgertum etc.) und exemplarisch Kaufringer mit Antonfrancesco Grazzini vergleicht. 157 Ich möchte dagegen am Plot als Vergleichsbasis festhalten. Seine Verabschiedung scheint mir vorerst noch problematisch, da gerade durch den Vergleich der Ausformungen die ‹ Anlagerung › verschiedener kultureller Kontexte nachvollziehbar wird - man kommt also induktiv von den 151 Alwine Slenczka : Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle (= Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 5). Münster 2004. 152 Kurt Ruh : Kaufringers Erzählung von der ‹ Unschuldigen Mörderin › . In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 1: Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters. Hrsg. von Volker Mertens. Berlin/ New York 1984, S. 170 - 184. - Ralf-Henning Steinmetz : Heinrich Kaufringers selbstbewußte Laienmoral. In: PBB 121, 1 (1999), S. 47 - 74. 153 Karl Euling : Studien über Heinrich Kaufringer (= Nachdruck der Ausgabe Breslau 1900). Hildesheim/ New York 1977. 154 Artur L. Stiefel : Zu den Quellen Heinrich Kaufringers. In: ZfdPh 35 (1903), S. 492 - 506. 155 Ziegeler (1985). 156 Klaus Grubmüller : Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg., übers. u. komm. von Klaus Grubmüller (= Bibliothek des Mittelalters 23). Frankfurt am Main 1996. 157 Vgl. Klaus Grubmüller : Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Die komparatistische Perspektive. In: Chinca (2006), S. 1 - 23. 33 Zum europäischen Kontext: Komparatistische Perspektiven Texten zu den Kontexten. Bei der umgekehrten Methode, wie Grubmüller sie vorschlägt, müßte sichergestellt werden, daß nicht die Kontextualisierung zu Lasten von Differenzierungen in der erzählstrukturellen Analyse geht. Zumal es angesichts des komplexen Verhältnisses von Text und Kontext fraglich bleibt, bis zu welchem Grad kulturelle Kontexte überhaupt als Basis des Vergleichs dienen können, ohne Pauschalisierungen einzuführen, die dann methodisch zirkulär auf die Deutung der Texte durchschlagen. Das Ziel dieser Arbeit ist insofern ein doppeltes, nämlich einerseits komparatistisch angelegte narratologische Analysen zu liefern, andererseits eine kulturhistorische Kontextualisierung zu leisten. Dafür wird in Form von Modellanalysen der Fokus auf ausgewählte Texte gelegt. Die Modellanalysen beginnen jeweils mit einer Gegenüberstellung von Kaufringers Text mit den parallelen Ausformungen des Stoffes, wo solche zu greifen sind - tabellarische Übersichten bieten die Ergebnisse des Vergleichs auf einen Blick. Verändert man den Anspruch, ganzheitlich stoffparallele Texte zu vergleichen dahingehend, die nächstkleinere Einheit einzelner Motive zum Ausgangspunkt zu nehmen, die als Konfiguration durchaus aus einer Reihe von Handlungszügen bestehen können und sich damit in Teilen parallel zur Handlungsstruktur von Kaufringers Texten verhalten, kann man auch bei den Erzählungen, die auf den ersten Blick isoliert scheinen, sehr wohl fündig werden. Das Untersuchungsgebiet erweitert sich hier notwendig neben der europäischen Versnovellistik auch auf die bisher wenig beachtete lateinische Exempelliteratur. Für eine möglichst große Vollständigkeit bei der Sammlung und Betrachtung der Realisationen eines Stoffes habe ich alle mir erreichbaren Parallelen zu den hier behandelten Texten Kaufringers gesichtet und neben dem Kriterium der rein inhaltlichen Übereinstimmung auf Ähnlichkeiten der Erzählform und narrativen Strategie geachtet. Dabei wird gelegentlich auch auf mittelbare oder unmittelbare Abhängigkeitsverhältnisse zu sprechen zu kommen sein. Aus dem detaillierten Vergleich lassen sich hier Ergebnisse gewinnen zur Frage der Konstruktion, des strukturellen Zustandekommens von Kaufringers Texten. Die Anordnung der einzelnen Modellanalysen im Hauptteil der Arbeit ergibt sich aus der Korrespondenz jeweils zweier Texte im Hinblick auf eine implizite oder explizite narrative Ausgestaltung kasuistischer Strukturen. Verbunden zeigen sich hier die Unschuldige Mörderin und der Feige Ehemann, deren Stoff ganzheitlich in anderen Ausformungen überliefert ist. An die Untersuchung der Erzählungen anschließend, bündelt der Exkurs zum Thema Wie aus dem juristischen der literarische Fall wird weiterführende Beobachtungen, die sich aus den ersten beiden Modellanalysen ergeben haben. Die folgenden Erzählungen - die Rache des Ehemannes und der Verklagte Bauer - thematisieren eine Gerichtsverhandlung explizit auf der Geschehensebene; für beide Texte ist außerdem keine Stoffparallele zum gesamten Plot bekannt. 34 Problemstellung Nach den einzelnen Modellanalysen werden in der Conclusio alle vier Texte übergreifende Beobachtungen zu Kaufringers Erzählprofil dargestellt. Anhand dieser Ergebnisse wird abschließend unter dem Stichwort Kasus und Novelle die literarhistorische Situierung der Kaufringerschen narrativen Sonderfälle im Gattungshorizont des mittelhochdeutschen Märe und der Novellistik Boccaccios diskutiert. Die vergleichende exemplarische Analyse des novellistischen Erzählens Boccaccios mit der Erzählung von der Suche nach dem glücklichen Ehepaar im Blick auf die Struktur von Rahmenerzählung und Binnenkasus verfolgt das Ziel, das für Kaufringer erarbeitete Erzählprofil im Vergleich mit Boccaccio weiter zu schärfen. Unter der Überschrift Kasus und Schwank werden Beobachtungen zum Thema Komik bei Kaufringer gebündelt und in grundlegende strukturelle Überlegungen zum Verhältnis von Schwank und Kasus überführt. Der letzte Abschnitt gilt dem Gesamt œ uvre Kaufringers sowie dem Sammlungskontext des cgm 270: Hier geht es um die Frage der Generalisierbarkeit meiner Thesen einerseits, um das Verhältnis des erarbeiteten Erzählprofils zum Profil eines historischen Autors Heinrich Kaufringer andererseits. Ein Resümee und der Ausblick auf weiterführende Fragestellungen schließen die Arbeit ab. 35 Zum europäischen Kontext: Komparatistische Perspektiven II Modellanalysen 1 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale als Struktur- und Erzählmodell 1.1 Ein Sonderfall in jeglicher Hinsicht Mord als die größte menschliche Schuld zum einen und Unschuld zum anderen gelten als die beiden konträren Enden einer moralischen Skala. Sie können jedoch in besonderen Fällen nahe beieinander liegen, wie uns Kaufringer anhand der Unschuldigen Mörderin 1 vorführt. Es ist die Geschichte eines edlen fraweleins, die Kurt Ruh «in ihrem sowohl raffinierten wie makabren Verlauf» gar «eines Hitchcock» für würdig hielt. 2 Eine junge Gräfin soll mit dem benachbarten König verheiratet werden. In der Nacht vor der Hochzeit bleibt sie alleine, notdürftig bewacht lediglich von einem portner und einem wachter, in der Burg zurück, während ihr Bruder samt Gefolge zur Vorbereitung der Hochzeitsfeierlichkeiten beim Bräutigam nächtigt. Von seinem bösen Knecht angestiftet, ergreift ein Ritter des Königs die Gelegenheit beim Schopfe und gibt sich im Dunkel der Nacht als der zukünftige Ehemann aus. In dieser Maske drängt er die Gräfin zu einer vorgezogenen Liebesnacht, wobei er sich allerdings durch eine unbedachte Bemerkung verrät. Als der ‹ König › daraufhin eingeschlafen ist, zündet die Frau Licht an und erkennt den Verrat. Kurzerhand holt sie ein Messer aus der Küche und schneidet dem Betrüger das haubet von dem pottich dan (279). Zur Beseitigung der Leiche ist sie nun auf die Hilfe des herbeigeholten portners angewiesen, der jedoch für seine Dienste verlangt, daß sie sich auch ihm hingebe. Es bleibt der Gräfin nichts anderes übrig, sie muß die nun schon zweite Vergewaltigung über sich ergehen lassen. Als sich dann aber der 1 Hier zit. nach der Ausgabe Grubmüller (1996), S. 798 - 839. 2 Kurt Ruh : Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters. In: Klaus von See : Neues Handbuch der Literaturwissenschaft Bd. 8: Europäisches Spätmittelalter. Hrsg. von Willi Erzgräber. Wiesbaden 1978, S. 117 - 188; S. 169. Torwächter im Hof über den Brunnenrand beugt, um die Ritterleiche darin zu versenken, schubst ihn die Gräfin mit in die Tiefe. Auf diese Weise hat sie vorerst alle Widersacher beseitigt. Der Rest der Nacht vergeht mit dem Waschen blutiger Bettlaken. In der Zwischenzeit wird der Diener des Ritters vom heimkehrenden Grafen im Burgwald aufgegriffen, wo er mit den beiden Pferden am Zügel immernoch vergebens auf die Rückkehr seines Herrn wartet. Weil er weder seine Anwesenheit noch die Herkunft des überzähligen Pferdes glaubwürdig erklären kann, wird er von der gräflichen Mannschaft als Pferdedieb aufgeknüpft. Zuhause erzählt der Graf seiner Schwester die kuriose Geschichte und sie kann sich im Stillen sehr wohl einen Reim darauf machen. Das Hin und Her zwischen Gräfin und Gegenspielern hat damit einen vorläufigen Ruhepunkt erreicht, doch schon droht der Dame mit der anstehenden Hochzeitsnacht die Entdeckung ihrer verlorenen Jungfräulichkeit. Glücklicherweise kann sie dem König im Dunkeln ihr Edelfräulein unterschieben, das sich für Gold und Silber überreden ließ, sie zu vertreten. Als der Gemahl eingeschlafen ist, will die Dame ihren Platz im Ehebett einnehmen, doch jetzt weigert sich die Kammerzofe, wieder zu tauschen. Sie hat Geschmack an ihrer neuen Rolle gefunden und will selber küngin sein (557). Die echte Königin muß erneut zu radikaleren Mitteln greifen: Als das Fräulein ebenfalls eingeschlafen ist, legt sie Feuer im Schlafgemach, zieht sich nackt aus, weckt ihren Ehemann und flieht mit ihm aus dem brennenden Zimmer, dessen Tür sie vorsorglich verriegelt. Die Zofe verbrennt ze pulver schon (613). Nach 32 glücklichen Ehejahren wird die Dame eines Tages von Reue überwältigt ob all ihrer begangenen Morde und sie beichtet die ganze Geschichte dem König. Dieser ist sofort bereit, ihr zu verzeihen, da sie für ihn so viel durchlitten habe. Der Erzähler schließt sich in seinem Epilog dem Urteil des edel küng (703) an und betont noch einmal, daß die Königin unschuldig und allen Bösewichten recht geschehen (739) sei. Kaufringers Erzählung behandelt einen besonderen Fall und auch der Text selbst galt der älteren Forschung unbestimmt als «Sonderfall» 3 . Karl Stackmann war der Meinung, dort sei «das Bloß-Pikante eine enge Bindung mit dem (freilich grotesk vereinfachten) Tragischen eingegangen». Etwas weiter heißt es: «Wir befinden uns hier schon fast in der Welt der späteren Moritat oder des volkstümlichen Schauerdramas.» 4 Was Stackmann als ‹ grotesk vereinfachtes Tragisches › ausmachte, verdankt die Erzählung dem besonderen Wendepunkt, der das unschuldige Opfer zur Mörderin werden läßt, verstärkt noch durch die sozusagen auserzählte Weisheit, daß ein Übel stets weitere nach sich zieht, die einmal zur Täterin Gewordene also immer weiter morden muß. Sogar die später von Johann Christoph Gottsched für das Trauerspiel geforderte Ständeklausel, die eine entsprechende Fallhöhe der Hauptperson gewähr- 3 Sappler (1983), Sp. 1080. 4 Vgl. Stackmann (1955), Sp. 506 - 510. 37 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale leistet, ließe sich hier mit der Wandlung der Gräfin, besser: Königin in spe, zur mehrfachen Mörderin als gegeben konstatieren. 5 Bereits Karl Euling hatte «wunderbare Verwickelungen und Peripetieen» in ebendieser «volksmässige[n] Erzählung einer ernsthaften merkwürdigen Begebenheit» entdeckt und sie als «beste Novelle dieser Art» bezeichnet. 6 Bei Ruh ist zu lesen, die Unschuldige Mörderin sei «zweifelsohne ein einzigartiger Fall in der Geschichte der mittelalterlichen Kleinepik, mit FISCHER eine ‹ experimentelle Sonderfertigung › , zwar nicht als «Konflikt-Novelle», aber als ‹ Novelle › im Sinne einer «unerhörten Begebenheit» (Goethe).» 7 Der Tenor der älteren Forschung bescheinigt unserer Erzählung also einen stark novellistischen Charakter, auffällige dramatische Tendenzen der Geschehensstruktur sind beschrieben worden. Daß die Unschuldige Mörderin ein exzeptioneller Text ist, steht fest, auch wenn die neuere Forschung bisher kaum einen Blick für die ästhetische Seite, die Konstruktion des Textes und seine spezifische Poetizität hatte. 8 5 Kurioserweise ist Kaufringers Erzählung bereits für die Bühne adaptiert worden: Hans Heinrich : Ende gut macht alles gut. Heinrich Kaufringers «Unschuldige Mörderin» gerahmt und in Szene gesetzt. Augsburg 1997. Auch wenn es sich offenbar um das Werk eines Hobby-Autors handelt und das Stück an sich in unserem Zusammenhang nicht von Interesse ist, mag dieser Rezeptionsbefund als Bestätigung des dramatischen Potentials der Unschuldigen Mörderin dienen. 6 Euling (1977), S. 113. 7 Ruh (1984), S. 184. Bei Fischer, den Ruh hier zitiert, läuft die Unschuldige Mörderin als «Konflikt-Novelle» mit dem Verweis «hier scheint diese Bezeichnung tatsächlich zu passen», obwohl er grundsätzlich den Begriff ‹ Novelle › als für die «moderne Kunstform» reserviert versteht und sich gegen seine Anwendung auf die mittelalterlichen Mären verwahrt, vgl. Fischer (1983), S. 31, 100. 8 Eine Exzeptionalität der Unschuldigen Mörderin bestätigt zuletzt Johannes Keller : Mittelalterliche Kurzgeschichten zwischen Kanon und Ausgrenzung. In: Jürgen Struger : Der Kanon - Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Wien 2008, S. 335 - 345; S. 345, der sie dem fachwissenschaftlichen Umstand abliest, daß die Unschuldige Mörderin «so offensichtlich nicht zum literarischen Kanon gehört». Seine mögliche Antwort: «Der Kanon irrt, denn gerade was nicht zum Kanon gehört, ist insofern interessant, als es abseits vom literaturwissenschaftlichen mainstream literarisch Neues und Überraschendes bietet.» Dieses Überraschungsmoment der Unschuldigen Mörderin vermutet Keller «in den komischen Strukturen des Textes verborgen, gerade weil diese nicht evident sind.» (S. 344) Auf das Problem der Komik in der Unschuldigen Mörderin komme ich an späterer Stelle zurück, siehe Abschnitt 1.8.2. Stede (1993), S. 108 - 116 und Willers (2002), S. 176 - 203 interpretieren vorwiegend inhaltlich und auf eine moraldidaktische Intention hin. 38 Modellanalysen 1.2 Kasuistisches Erzählen - Ein Blick auf die Stofftradition Das Problem, vor das dieser Text jeden Interpreten stellt, ist für Kaufringers Erzählen symptomatisch: Die Aussage des Erzählers im Pro- und Epimythion verhält sich widerständig zum Geschehen innerhalb der Geschichte. In der Unschuldigen Mörderin - und Euling hätte bei seiner Erstedition den Titel nicht treffender wählen können 9 - ergibt sich daraus eben jenes Paradox einer Protagonistin, die mordet und trotzdem als unschuldig gilt. So die eigenwillige Position des Erzählers zum Geschehen, die den sowohl juristischen wie moraltheologischen Präzedenzfall konturiert. Der Erzähler nimmt sich ausgesprochen breiten Raum, um diesen seinen Standpunkt zu vertreten, was sich vor allem in einem langen, resümierenden Epimythion zeigt. Entsprechend macht der Erzählbericht mit 71 Prozent den Hauptpart des Textes aus, während sich der Dialoganteil der Figuren auf nur 29 Prozent beläuft. 10 Mit der Beichte der Gräfin und dem Freispruch ihres Gatten wäre das ‹ Stück › zu Ende, doch nun meldet sich der Erzähler mit einem 61 Verse langen Epimythion noch einmal zu Wort. Er heißt die Entscheidung des Ehemanns ausdrücklich rechtens: der edel küng det recht daran (703), und handelt in einer Art moralisierenden ‹ strafrechtlichen › Litanei die Fälle der drei ermordeten Gegenspieler der Gräfin noch einmal ab. Man fragt sich nach dem Grund der Wiederholung, hat es sich doch der Erzähler schon aktuell bei der Schilderung einer jeden Tat nicht nehmen lassen, in einseitiger Schwarzweiß-Malerei die mordende Protagonistin als gut und untadelig und das Schicksal der Ermordeten als verdient hinzustellen. Ein besonders schönes Beispiel ist die Beseitigung des Torwächters. Für ihr kluges Vorgehen wird die Mörderin gar vom Erzähler gelobt: die fraw was cluog und weise und begraif in bei den füessen sein und sturzt in in den waug hinein, den valschen portner, vil schon. also ward im der minne lon. (356 - 360) Und als beeindruckend unvermeidliches Urteil gefaßt: er muost verderben ze der stund in des diefen wassers grund. (361 f) 9 Karl Euling : Heinrich Kaufringers Gedichte (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 182). Tübingen 1888. 10 Bei einer Gesamtlänge der Unschuldigen Mörderin von 763 Versen stehen 543 Erzählversen 220 Verse direkter Rede (wobei die inquit-Formeln mitgezählt wurden) gegenüber. (Berechnung C. R.) 39 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale Hinzu kommt das Promythion, wo das ganze Geschehen auffällig eingebettet wird in die huld (16) Gottes, der den gerechten menschen nicht/ auß seiner väterlichen pflicht (1 f) lasse. Soweit die These, mit der anschließenden Erzählung von der unschuldig mordenden junkfraw (12) wird sie belegt. Das ist geschickt gemacht, denn es heißt im Umkehrschluß, daß die Gräfin unschuldig sein muß, sie ist gerecht, weil Gott ihr sonst nicht geholfen hätte, denn er hilft ja nur gerechten menschen. Dieses Argument ist eine self fulfilling prophecy. Gottes Gnade und der Ausgang der Geschichte stehen also schon von Beginn an fest. Das Epimythion braucht nur in diesem Muster zu bleiben, die These noch einmal bestätigend aufzugreifen und sie ins Allgemeine zu erweitern: aber die fraw oun argen list, ich main die edel küngin vein, die hat gelitten große pein und darzuo vil manig swär. darumb das si oun gevär ist gewesen und auch guot, so hat si got gehept in huot. er half ir aus aller not. si wär oft von sorgen tot, wär ir got nit beigesten. also tuot got allen den, die unverschuldt komen in swär. hiemit endet sich das mär. also sprach der Kaufringer. (750 - 763) Mit dem Beweis göttlichen Beistands für alle, die unverschuldt in Schwierigkeiten geraten, wird die Erzählung beendet. Das läßt vermuten, Gott habe in ihrem Verlauf eine wichtige Rolle zu spielen. Wo aber ist während der ganzen Geschichte eigentlich von Gott die Rede? Wo leistet er Hilfe? Lediglich ein einziges Mal (! ), vor der Hochzeitsnacht, wendet sich die Gräfin an Gott. Und auch hier betet sie nicht etwa in direkter Rede, sondern der Erzähler berichtet: si claget ser got dem reichen/ iren kummer und auch schmerzen (448 f). Als «Hilfeschrei» an zentraler Stelle versteht Willers die Verse. 11 Achtet man jedoch auf den weiteren Kontext, wo es heißt: si was gar betrüebt von herzen/ und det 11 Ohne jedoch auf die Tatsache einzugehen, daß es sich um Erzähler- und nicht um Figurenrede handelt, vgl. Michaela Willers : Schwankmuster und deren Funktionalisierung in den Texten Heinrich Kaufringers (unter besonderer Berücksichtigung des Märes ‹ Die unschuldige Mörderin › ). In: Anja Grebe und Nikolaus Staubach : Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit. Frankfurt am Main 2005, S. 129 - 140; S. 134 f. Auch über die Zentralstellung der Szene ließe sich diskutieren, durchläuft die Gräfin doch eine 40 Modellanalysen mit den gepärden nicht,/ sam si hette jamers pflicht (450 - 452), so wird deutlich, daß hier weniger ein Verhältnis der Protagonistin zu Gott thematisiert werden soll. Im Mittelpunkt steht vielmehr das Ausmaß ihrer Verzweiflung, das der Erzähler angelegentlich betont, indem er es wirkungsvoll in Szene setzt. Die Diskrepanz zwischen der äußerlich von den anderen Festgästen wahrnehmbaren Erscheinung und dem tatsächlichen emotionalen Zustand der Gräfin wird als Bild aufgerufen, dem Rezipienten vor Augen gestellt. Und auch wenn an dieser Stelle der Geschichte von Gott die Rede ist, helfen muß sich die Frau immer selbst. Ein konkretes Eingreifen Gottes wird nicht erzählt. 12 Die moraltheologischen Stellungnahmen an Anfang und Ende machen auf den ersten Blick den Eindruck, als seien wir damit bei einem zwar in eine seltsame Richtung, aber doch moralisierenden Erzähler angekommen, der in exempelhafter Art und Weise die eigene Maxime wärlich es gevelt mir wol und dunkt mich sein guot und recht, wenn untrew iren herren slecht, als den vieren geschehen ist. (746 - 749) möglichst drastisch vorführen will. 13 Aber ist Kaufringers Anliegen wirklich ein didaktisches? Wird hier gezeigt, «wie sehr tugendhafte Frauen zu Opfern von Gewalt werden können und diese dann mit gleicher Münze zurückzuzahlen gezwungen sind»? 14 Ruh hat bereits die Stofftradition in seine Betrachtung einbezogen und das Verhältnis der Unschuldigen Mörderin zu den zahlreichen überlieferten Paralleltexten aufgearbeitet: Das Ergebnis ist, daß Kaufringer mit seiner Auflösung der Geschichte einen Sonderweg geht. Die abendländische Grundversion 15 ist überliefert in zwei lateinischen und französischen Fassungen, Reihe solcher ‹ brenzliger Situationen › und in keiner von ihnen ist sonst die Rede davon, daß sie sich an Gott wende. 12 Vgl. Ralf-Henning Steinmetz : Heinrich Kaufringers selbstbewußte Laienmoral. In: PBB 121 (1999), S. 47 - 74; S. 54. 13 Grubmüller (2006), S. 176 - 179 sieht die Unschuldige Mörderin als «radikales Exempel». 14 Albrecht Classen : Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Unterdrückung und Sexualität. Liebe und Gewalt in der Welt von Heinrich Kaufringer. In: Daphnis 29, 1 - 2 (2000), S. 3 - 36; S. 23. Classen beschäftigt sich mit der Unschuldigen Mörderin unter dem Gesichtspunkt, eine alltagsethische Aussage des Autors Kaufringer, seine Einstellung zur Gewalt herauszufiltern: «Ungerechte Gewaltanwendung zerstört Gemeinschaft und ist ein Verbrechen gegen Gott.» (S. 36) 15 Der Begriff ‹ Version › bezeichnet einen ganzen Motivstrang, ‹ Fassung › ist der einzelne Text, der eine Version erzählt. Ich orientiere mich in der Definition dieser Begriffe an Steinmetz (1999), S. 50, Anm. 8. 41 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale außerdem einer englischen. 16 Die Frau wird durch Täuschung (wie bei Kaufringer) oder durch Gewalt zu der Liebesnacht gezwungen und tötet den Vergewaltiger danach, womit die Mordserie ihren Lauf nimmt. Letztendlich beichtet die Königin bei einem Priester, woraufhin dieser sie für die Wahrung des Beichtgeheimnisses wiederum zu Liebesdiensten zwingen will. Die Königin widersteht, gewinnt damit ihre «moralische Integrität» zurück 17 und wird durch ein Wunderzeichen des Himmels rehabilitiert. Die abendländische Grundversion funktioniert also durchweg nach dem Prinzip deus ex machina: In der Erzählform der Legende kann nach Reue und geleisteter Buße durch ein Wunder der paradoxale Konflikt um die unschuldig schuldige Protagonistin im Einklang mit christlichen Moralvorstellungen gelöst werden. Im Falle dieses Mirakelschlusses kann mit gutem Recht von göttlicher Hilfe gesprochen werden. Kaufringer jedoch säkularisiert den Stoff gewissermaßen, er inszeniert die Lösung seiner Erzählung in einer privaten Beichte vor dem königlichen Ehemann, der seiner Frau sogleich verzeiht. 1.3 Die Schlüsselrolle des Erzählers Die entscheidende Frage ist, warum der Erzähler so erzählt wie er erzählt. Ruh hat die scheinbare Diskrepanz zwischen religiös-moralischer Rahmenintention (Pro- und Epimythion) und Geschichte ebenfalls gesehen und es dem Erzähler als «argen theologischen Mißgriff» angekreidet, daß er auf die Unschuld der Gräfin, anstatt auf die «unbegreifliche Barmherzigkeit Gottes» abhebe. 18 Er hält es nicht für möglich, daß Kaufringer eine der überlieferten Fassungen der abendländischen Grundversion vorlag, und so wird erklärend die These aufgestellt, er habe den Schluß nicht selbst erfunden, sondern auf eine dementsprechende verlorene Quelle zurückgegriffen. Kaufringer hätte nun die Möglichkeit gehabt, «mit gutem theologischen Sachverstand», den er, geht man 16 Vgl. für eine genaue Übersicht Ruh (1984), außerdem die Zusammenstellung bei Grubmüller (1996), S. 1286 f mit der zweiten lateinischen Fassung, die Ruh nicht kannte. Es gibt noch eine zweite Version des stofflichen Grundrisses, die jedoch durch das auslösende Moment der Mordserie weiter von Kaufringer entfernt ist: Durch einen Unfall kommt es zu dem ersten Toten, dieser ist ein Liebhaber der Frau, der sich verstecken muß und in seinem Versteck erstickt. Der Helfer ist es sodann, der für seine Dienste zur Beseitigung der Leiche als Entlohnung die Hingabe der Frau fordert. Diese Version ist in zwei Fassungen, einer persischen und einer altirischen, überliefert, «deren historischer Zusammenhang völlig ungeklärt ist», siehe Grubmüller (1996), S. 1286. 17 Vgl. Ruh (1984), S. 177. 18 Vgl. ebd., S. 178 f. 42 Modellanalysen von seinen geistlichen Erzählungen und Reden aus, offensichtlich besaß, «die Lösung seiner Geschichte als fragwürdig hinzustellen». 19 Aber er habe sich im Gegenteil entschieden, den Stoff zu übernehmen und «mit Scheingründen zu rechtfertigen». Und zwar allein wegen des narrativen Reizes des Geschehens, der novellistischen Faszination dieser «Mordgeschichte»: Kaufringers Erzählung will keine letzten Endes erbaulich-mirakelhafte Geschichte sein, die die unergründliche Gnade Gottes [. . .] zu demonstrieren hat, sondern eine spektakuläre Mordgeschichte mit spezifisch erzählerischen Reizwerten. [. . .] Die moraltheologische Beurteilung war eine konventionelle Zugabe ohne eigentliche Verbindlichkeit, wenn auch sicher nicht im Unernst oder gar in parodistischer Absicht vorgetragen. 20 In diesem Sinne beschreibt Ruh die Verteidigungsstrategie des Erzählers: Durch die «konzentriert-genaue Erzählweise», die äußerst realistisch auch noch das kleinste Detail motiviert 21 , werde der Leser von der eigentlichen moraltheologischen Verwerflichkeit der Geschichte abgelenkt. Diese sachlich-objektive Schilderung erlaube es, das Handeln der Gräfin als das einzig mögliche, als erzwungene Notwehr darzustellen. Damit sei ihr die Sympathie des Lesers gesichert: «Kann sie denn anders handeln, und verdienen die schurkischen Veranlasser ihrer Verzweiflungstaten nicht ihr Schicksal? » 22 Mit der Novellenthese wird Kaufringer die Modernität des Erzählens einer literarisch autonomen Geschichte bescheinigt, aber nur mit der Begründung, es handle sich um die Ausnahmeerscheinung einer reißerischen ‹ Mörderstory › . Bei dieser Infragestellung der literarischen Qualität des Textes bleibt Ruh stehen, argumentiert also erzähllogisch mit einem Kohärenzbruch zwischen vorderhand legitimierendem Erzählerkommentar und Binnengeschichte mit «erzählerischen Reizwerten». Die Stoffbetrachtung Ruhs revidiert Steinmetz 23 und führt sie weiter mit der Parallele eines lateinischen Exempels aus der Compilatio Singularis Exemplorum, die Ruh noch nicht bekannt war. 24 Ruh hatte gezeigt, daß 19 Vgl. ebd., S. 179 f. 20 Ebd., S. 182. 21 Es wird kurioserweise sogar erzählt, wie die Gräfin dafür sorgt, den Plan zum Brautunterschub mit ihrer Kammerzofe unter vier Augen besprechen zu können: Sie schützt einen Gang zur Toilette vor (V. 485 ff). 22 Ruh (1984), S. 183. 23 Steinmetz (1999), S. 47 - 74. 24 Grubmüller (1996), S. 1286 f. Der Text ist mit Kommentar zur Stoffgeschichte abgedruckt bei Alfons Hilka : Neue Beiträge zur Erzählungsliteratur des Mittelalters. Die Compilatio singularis exemplorum der Hs. Tours 468, ergänzt durch eine Schwesterhandschrift Bern 679. In: Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. IV. Abteilung c. Sektion für neuere Philologie Bd. 90, 1 43 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale der Plot von Kaufringers Unschuldiger Mörderin dem Exempel einer englischen Gesta Romanorum-Übersetzung 25 am nächsten stehe. Dieses ist jedoch (1912), S. 1 - 24; S. 15 f. Überliefert ist die Compilatio in zwei Handschriften, Cod. 679 Burgerbibliothek Bern und Cod. 468 (ehem. 212) Bibliothèque Municipale Tours, für weitere Literatur siehe Francis Raas : Die Wette der drei Frauen. Beiträge zur Motivgeschichte und zur literarischen Interpretation der Schwankdichtung (= Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 58). Bern 1983, S. 234 f. Eine Gesamtedition dieser äußerst interessanten Exempelsammlung plante 1912 schon Alfons Hilka, leider blieb es aber bis heute bei seiner Vorabmitteilung einiger ausgewählter Texte, siehe Hilka (1912), S. 1 - 24. Die für seine Untersuchung relevanten Exempel druckte ergänzend Raas (1983), S. 235 u. 237 f. Eine vollständige Abschrift des Tourser Textzeugen besitzt die SUB Göttingen unter den nachgelassenen Papieren Hilkas. Geplant ist eine erste vollständige Edition mit Übersetzung von Prof. Dr. Thomas Klein (Halle): «Compilatio singularis exemplorum»: Eine spätmittelalterliche Exempelsammlung. Hg., übers. und komm. von Thomas Klein (= Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis). Turnhout i. Vorb. Zur Compilatio allgemein siehe auch Jean Th. Welter : L ’ exemplum dans la littérature religieuse et didactique du Moyen Age. Paris 1927, S. 236 - 244. Das besondere an der Compilatio im Vergleich zu sonstigen Predigtsammlungen, die zum Zwecke praktischer Benutzbarkeit nach geistlichen Stichworten alphabetisch geordnet sind, ist ihre Einteilung nach Standes- und Berufsgruppen. Diese übernimmt mit zahlreichen Exempeln auch der vierte Teil der Mensa philosophica, eine Schwänkesammlung, die die Mensa als eine Art Unterhaltungsteil abschließt, vgl. Erwin Rauner und Burghart Wachinger : Mensa philosophica. Faksimile und Kommentar (= Fortuna vitrea 13). Tübingen 1995, S. 211 - 313. Hier wird der Einfluß der Compilatio Singularis Exemplorum im 15. Jahrhundert sichtbar, vgl. Welter (1927), S. 244. Im Speziellen für Kaufringers Erzählen wird sich die Bedeutung der Compilatio im Verlauf dieser Arbeit immer wieder zeigen (vgl. auch das Kapitel zur Rache des Ehemannes). Evident wird hier der m. E. in der Forschung immernoch zu wenig berücksichtigte Stellenwert der lateinischen Exemplarik - abseits von bloßer Stoff- und Motivgeschichte - insbesondere für mittelalterliches Märenerzählen. Die eingehendere Beschäftigung mit der Compilatio dürfte dabei sehr aufschlußreich sein, wie auch generell für die Frage nach dem Verhältnis von mittellateinischer Exemplarik und mittelalterlicher Novellistik hier noch einiges zu holen sein dürfte, vgl. die Betonung eines «bewußten Interesse[s] des Kompilators an erzählerischer Kunst um ihrer selbst willen» bei Michael Chesnutt : Art. Exempelsammlungen (im Mittelalter). In: EM 4 (1984), Sp. 592 - 604; Sp. 599, außerdem Reinhold Wolff : Unterwegs vom mittelalterlichen Predigtmärlein zur Novelle der Frühen Neuzeit: die Erzählsammlung ‹ Compilatio singularis exemplorum › . In: Mittellateinisches Jahrbuch 41,1 (2006), S. 53 - 76, sowie den Hinweis auf eine noch zu erschließende Parallele zu Strickers Klugem Knecht in der Compilatio bei Achnitz (2000), S. 199. 25 Ruh (1984), S. 176. Es handelt sich um eine englische Übersetzung der Gesta Romanorum aus dem 14./ 15. Jahrhundert; der Text ist überliefert in der Handschrift Addit. 9066 (British Museum), ediert von Sidney John Hervon Herrtage und 44 Modellanalysen in keiner anderen englischen, lateinischen oder deutschen Gesta-Handschrift überliefert. Insgesamt scheint die englische Handschrift eine Ausnahmeerscheinung zu sein, da sie viele Exempel enthält, die die sonstige Überlieferung der Gesta Romanorum nicht kennt. 26 Die Fassung aus der Compilatio Singularis Exemplorum stimmt nun aber mit dem englischen Exempel weitestgehend überein. 27 Eine Verbindung dieses Textes zu Kaufringer ist denkbar. In der › Compilatio ‹ liegt nun aber eine lateinische und damit für einen süddeutschen Autor um 1400 erheblich leichter rezipierbare Fassung vor, die sich nur geringfügig von der englischen Fassung unterscheidet. 28 Daß Kaufringer die Compilatio Singularis Exemplorum rezipiert hat, wird um so wahrscheinlicher, bedenkt man, daß er neben der Parallele der Unschuldigen Mörderin aus dem Abschnitt Exempla de domicellis (über junge Frauen) noch weitere Exempelerzählungen verarbeitet hat, die sich dort finden. 29 Steinmetz Frederic Madden : The Early English versions of the Gesta Romanorum. London 1879, S. 394 - 396 (Nr. 77) unter dem Titel Of the Penitence of a Woman who had committed three Murders. Zur Handschrift siehe ebd., S. xixf. 26 Vgl. Stiefel (1903), S. 493 f, zit. nach Steinmetz (1999), S. 51, Anm. 13. 27 Steinmetz (1999), S. 51, Anm. 13. Der Hauptunterschied besteht darin, daß in der englischen wie in Kaufringers Fassung der Beischlaf mit der Dame durch einen Trick erschlichen wird. Im englischen Text ist ein Rendezvous zwischen den Verlobten vereinbart, auf das der Bräutigam verzichtet, woraufhin dessen Vertrauter die Situation ausnützt. In der Compilatio Singularis Exemplorum dagegen wird die Frau vom Seneschall ihres Gatten während seiner Abwesenheit vergewaltigt. Steinmetz (ebd.) weist darauf hin, das gemeinsame Motiv der englischen und Kaufringers Fassung sei so verschieden gestaltet, daß es unabhängig voneinander eingeführt worden sein dürfte. Immerhin handelt es sich um das als eigenständig zu betrachtende Motiv aus dem antiken Amphitryon-Alkmene-Stoff. Die Konstellation von Ritter und Knecht als listiges Team, das den Plan zur Verführung der Gräfin ausheckt, wie dies auch in der Plautus-Komödie Zeus und Hermes alias Amphitryon und Sosias tun, ist allerdings erst bei Kaufringer gestaltet. Plautus wurde im Mittelalter nur spärlich überliefert, immerhin vornehmlich im süddeutschen Raum. Vgl. H. J. Diller : Art. Drama. In: LLM 1 (2002), S. 179 - 188; S. 180. 28 Steinmetz (1999), S. 51, Anm. 13. Dabei komme der Text der Compilatio als Quelle für die englische Version aus den Gesta Romanorum in Betracht, urteilt Hilka (1912), S. 16. 29 Zunächst das Motiv aus den Drei listigen Frauen, die Frau redet dem Mann ein, er sei Geistlicher. Das Exempel (ohne Übersetzung) steht bei Raas (1983), S. 235. Hinzu kommt das Motiv vom angeblich faulen Zahn im Mund des Ehemannes, der gezogen wird, welches ebenfalls Raas (1983), S. 237 mitteilt. Kaufringer verwendet es gleich zweimal, in den Drei listigen Frauen und in der Rache des Ehemannes. Vor allem die Rache des Ehemannes zeigt dabei eine direkte Verbindung Kaufringers mit dem Exempel der Compilatio Singularis Exemplorum, da hier eine exklusive 45 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale versteht also Kaufringers Unschuldige Mörderin als dessen individuelle Antwort auf die Mirakellösung des Stoffes: Kaufringer verhandle innerhalb der traditionellen Erzählform des geistlichen Exempels seine laientheologisch von der geltenden kirchlichen Moral emanzipierte «Autordeutung» 30 , nach der die Gräfin unschuldig sei. Ich schlage vor, die › Mörderin ‹ als ein verkapptes und überdimensionales geistliches Exempel aufzufassen, das die Stofftradition erst da verläßt, wo sein Bearbeiter eigenwillig Stellung bezieht. 31 Damit ist die Autonomie des Erzählens, die Ruh mit seiner These von der Unschuldigen Mörderin als Novelle konstatiert hatte, wieder zurückgenommen. Betont wird dagegen eine nicht weniger erstaunliche Autonomie, diejenige der individuellen Meinung: «Der in früheren Jahrhunderten äußerliche Konflikt zwischen christlichem Anspruch und überkommener Moral wird jetzt im Individuum ausgetragen.» 32 Steinmetz plädiert also dafür, die Unschuldige Mörderin als Erzählung mit formal traditionellem Gestus aufzufassen, innerhalb dessen eine Erzählerpersönlichkeit ihre individuelle Meinung artikuliere. 1.4 Zu einer Forschungsdebatte: ‹ Modernität › oder ‹ Individualität › des Erzählens? Ich möchte mit meiner These nun einen Weg gehen, der zwischen Ruh und Steinmetz liegt und damit eine Polarisierung zwischen den für mittelalterliche Literatur im Lichte ihrer Bedingungen generell schwierigen Behauptungen von Modernität und Individualität zu vermeiden sucht. 33 Die Vermutung, Kauf- Motivübereinstimmung besteht (siehe dazu ausführlich das Kapitel zur Rache des Ehemannes in dieser Arbeit). Interessant ist weiterhin, daß alle drei bei Kaufringer verarbeiteten Exempel der Compilatio in deren handschriftlicher Überlieferung nah zusammenstehen. Auf den Abschnitt Exempla de domicellis, wo sich die Parallele zur Unschuldigen Mörderin findet, folgt das Kapitel Exempla de mulieribus ignobilibus (über den Stand der einfachen Frauen), wo die beiden in den Drei listigen Frauen und der Rache des Ehemannes verarbeiteten Exempel direkt nacheinander stehen. In Hilkas Abschrift (siehe Anm. 24) in der SUB Göttingen handelt es sich um die Nummern 764, 787 und 788. 30 Steinmetz (1999), S. 53. 31 Ebd., S. 60. 32 Ebd., S. 68. 33 Vgl. die Revision der Forschung zu ‹ Individualität › in mittelalterlicher Literatur sowie die Studie selbst von Annette Gerok - Reiter : Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik (= Bibliotheca Germa- 46 Modellanalysen ringers Geschichte von der Unschuldigen Mörderin sei eine Reaktion auf die legendarische Ausformung des Stoffes, scheint mir sehr überzeugend. Was Ruh mit seiner Behauptung einer Modernität des Erzählens im Blick hatte, sind die erzählstrategischen Besonderheiten der Unschuldigen Mörderin. Wenn der Begriff der ‹ Modernität › auch im Hinblick auf mittelalterliches Wiedererzählen schwierig ist, so ist hier doch zunächst einmal die Stoffauswahl und dann die spezifische Differenz des erzählerischen Zugriffs Kaufringers zu bemerken. Ein Erzählen, das mittels kleinteiliger Motivierungen den Eindruck von ‹ Realismus › vermittelt und dessen argumentativer Grundgestus so offensichtlich zutage tritt, läßt sich nicht mehr überzeugend in eine Tradition geistlicher Exemplarik stellen. Meines Erachtens wird nicht kenntlich, daß es dem Text um eine Kritik an den herrschenden moraltheologischen Auffassungen der Kirche geht, es geht ihm aber auch nicht rein darum, Gewalt und Mord schildern zu können. Vielmehr sind es eben jene argumentativen Strategien des Erzählers, ist es insgesamt die Erzählstruktur und damit die Konstruktion des Textes, die sich bei genauer Lektüre in den Vordergrund drängt. Naheliegend ist die Assoziation der gerichtlichen Verteidigung: Wäre diese spektakuläre Geschichte tatsächlich ein exzeptioneller Fall vor Gericht, wäre die Gräfin angeklagt des dreifachen Mordes, könnte sie sich keine bessere Verteidigung wünschen. Die Forderung des Freispruchs ist im Epimythion unmißverständlich formuliert: wann die fraw übels nie began und kom doch in große swär unverschult und oun gevär. (704ff, Hervorhebung C. R.) 34 Dieser Freispruch soll herbeigeführt werden durch die überzeugende Argumentation des Plädoyers, zu welcher auch Pro- und Epimythion mit einer - oben erläuterten - moraltheologischen Finte gehören: Könnte es denn von Anfang an einen größeren Beweis für die völlige Unschuld der Gräfin geben, als die göttliche Gnade, die sie auf Schritt und Tritt unterstützt: si wär oft von sorgen tot/ wär ir got nit beigesten (758 f). Kaufringer rechtfertigt also mit seinem Erzählprinzip keineswegs nur «die Geschichte als erzählenswerte Geschichte» gegen die zeitgenössische Moral, wie Ruh es annimmt 35 . Der Rahmenteil des Pro- und Epimythions ist kein von der eigentlichen Erzählung unabhängiger, der Konvention verpflichteter Versuch der Entschuldigung für den Vortrag einer solchen Geschichte und damit als fragwürdig zu beurteilen. nica 51). Tübingen/ Basel 2006. Zur Problematik einer ‹ Modernität › des Erzählens Kiening (1998). 34 Mit Vers 15: unverdient und gar oun schuld ist der angestrebte Freispruch auch schon im Promythion angedeutet. 35 Ruh (1984), S. 184. 47 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale Die ganze Erzählung dient im Gegenteil der Verteidigung ihrer Protagonistin. 36 Ich möchte deshalb noch einmal die Erzählstruktur des Textes im Vergleich mit den beiden Paralleltexten betrachten, deren Plot der Unschuldigen Mörderin am nächsten steht. Zur besseren Übersichtlichkeit vorweg die Präsentation der Ergebnisse in Tabellenform: 36 Offen bleibt vorerst die Frage, ob mit Steinmetz der Standpunkt des Erzählers als Selbstdeutung des Autors aufzufassen sei, vgl. dazu Abschnitt III.5 dieser Arbeit. 48 Modellanalysen 1.4.1 Tabellarische Übersicht zum Vergleich der Paralleltexte Motivik/ Erzählstruktur Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel Nr. 10 aus den Exempla de domicellis) Exempel aus der englischen Gesta Romanorum-Übersetzung (Of the penitence of a woman who had committed three murders) Heinrich Kaufringer: Die unschuldige Mörderin - lateinisch - mittelenglisch - mhd./ frühnhd. - Prosa - Prosa - 763 Verse - 2. Hälfte 13. Jh. zusammengestellt, aufgezeichnet Anfang 15. Jh. - 14./ 15. Jh. - entstanden um 1400, aufgeschrieben 1464 Personal - Bräutigam ist ein Ritter - Braut nicht spezifiziert - Vergewaltiger ist der Seneschall des Ritters - Bräutigam ist ein Prinz - Braut ist die Tochter eines Barons - Vergewaltiger ist ein Ritter, der ebenfalls um sie geworben hatte, aber abgewiesen wurde - Bräutigam ist ein König - Braut ist eine Gräfin - Vergewaltiger ist ein Ritter des Königs Konflikt Vergewaltigung keine Entdeckung nötig der Ritter erschleicht sich den Beischlaf in der Maske des Bräutigams Entdeckung: der Ritter gibt sich selbst zu erkennen der Ritter erschleicht sich den Beischlaf in der Maske des Bräutigams (schützende Dunkelheit) Entdeckung: unbedachte Bemerkung des Ritters (Hinweis auf Verleumdung durch den Knecht) 49 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale Motivik/ Erzählstruktur Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel Nr. 10 aus den Exempla de domicellis) Exempel aus der englischen Gesta Romanorum-Übersetzung (Of the penitence of a woman who had committed three murders) Heinrich Kaufringer: Die unschuldige Mörderin Mord am Vergewaltiger sie erwürgt/ ersticht den schlafenden Seneschall: Que summe dolens ipsum dormientem iugulavit. 37 sie schneidet dem schlafenden Ritter die Kehle durch: and when the knyght slepte by here, she toke his knyfe, and Cutte his throte asondre sie schneidet dem schlafenden Ritter den Kopf ab Weitere Morde noch 2: Knappe (armiger, der Waffenträger) und Kammerfräulein (domicella) Bewertung der Vergehen der Frau als Sünden (Beichte bei einem Kaplan): Tandem remordente consciencia sua cuidam cappellano, confessori domini sui qui videbatur deuotus et sanctus, omnia confessa est et penitenciam accepit [. . .] noch 2: Diener (Ribalde) und Kammerfräulein (maydyn) recapitulatio: and so this lady did thre grevouse synnes; she slowe the knight, and drownyd the Ribalde, and brente the damysell. Die recapitulatio bildet die Überleitung zum Mirakelschluß und zur moralisatio. noch 3: Torwächter (portner), Diener des Ritters (knecht) und Kammerfräulein (junkfraw) recapitulatio (702 - 739) dient der Verteidigung der Dame 37 Das lateinische iugulare läßt hier interpretatorische Freiräume, da es sowohl ‹ erwürgen, erdrosseln › als auch ‹ erstechen › oder ganz allgemein ‹ umbringen › bedeuten kann, vgl. den Hinweis bei Steinmetz (1999), S. 60. 50 Modellanalysen Motivik/ Erzählstruktur Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel Nr. 10 aus den Exempla de domicellis) Exempel aus der englischen Gesta Romanorum-Übersetzung (Of the penitence of a woman who had committed three murders) Heinrich Kaufringer: Die unschuldige Mörderin Legende/ Mirakelschluß nimmt ca. die Hälfte des Textes ein Frau bekommt vom Kaplan ihres Gatten die Buße auferlegt, jeden Freitag im härenen Hemd bei Wasser und Brot zu fasten; er will ihre Hingabe mit der Drohung erpressen, den Ehemann einzuweihen; auf ihre Weigerung hin tut er dies, als der Ehemann das Wasser kostet, das sie trinkt, ist es Wein, die härene Kutte hat sich in ein feines Leinengewand verwandelt Wunderschilderung: Gang zum Beichtvater - doppelte Buße (Wasser und Brot; härene Kutte) - Versuchung des Beichtnimmt ca. ein Drittel des Textes ein Frau bekommt von einem holy man die Buße auferlegt, jeden Freitag im härenen Hemd zu fasten (Brot und Wasser) und Arme zu speisen; danach beichtet sie einem wicked preste, der ihre Hingabe erpressen will mit der Drohung, er werde alles ihrem Ehemann erzählen; auf die Weigerung der Frau tut er dies und vor den Augen des Ehemannes verwandelt sich das Wasser in Wein, das Brot, das er kostet, ist außergewöhnlich wohlschmeckend und die Armen verwandeln sich in Engel ausgeprägtere Wunderschilderung, Steigerungsstruktur: Gang zu einem holy man - dreifache Buße (freitags härenes Hemd, Wasser 51 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale Motivik/ Erzählstruktur Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel Nr. 10 aus den Exempla de domicellis) Exempel aus der englischen Gesta Romanorum-Übersetzung (Of the penitence of a woman who had committed three murders) Heinrich Kaufringer: Die unschuldige Mörderin vaters (Teufel) - doppeltes Wunder 1) Wasser in Wein 2) härene Kutte in Seidenkleid und Brot, 13 arme Männer speisen) - Wunsch nach mehr Buße, Gang zu einem wicked preste - Versuchung durch diesen - vierfaches Wunder 1) härenes Hemd wird zu schönem weißen Hemd 2) Brot schmeckt außergewöhnlich gut 3) Wasser schmeckt wie bester Wein 4) 13 arme Männer scheinen dem Ehemann 13 Engel zu sein → Protagonistin ist imstande, die himmlischen Zeichen zu deuten (Zeichen ihrer Heiligkeit) Abschließende Erzählerkommentierung/ Epimythion - Bestrafung des Beichtvaters durch den Ehemann - Erzählerkommentar am Schluß weist auf die Reue und Entsagung der Frau und auf die Barmherzigkeit Gottes: Et sic deus dominam penitentem et - Erzählerkommentierung weist auf die Güte und Exemplarität der Geschichte hin - Legende: Heiligkeit der Protagonisten betont: and afterwarde they lyvedyn to-gedre holylye. - bei Kaufringer scheint der Erzähler den Schlußkommentar, wie ihn die Compilatio Singularis Exemplorum aufweist, mit der Barmherzigkeit Gottes (misericordia sua) und seinem Beistand für 52 Modellanalysen Motivik/ Erzählstruktur Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel Nr. 10 aus den Exempla de domicellis) Exempel aus der englischen Gesta Romanorum-Übersetzung (Of the penitence of a woman who had committed three murders) Heinrich Kaufringer: Die unschuldige Mörderin peccatum renuentem innocentem custodiuit et misericordia sua liberauit. → innocentia bezieht sich auf die bußfertige Frau, die nun der Versuchung in Form der Erpressung des Beichtvaters widersteht 38 - Erzählerkommentar am Schluß: it is a good tale, and a meracle for hem that han ben synners, that deuoutly taken penaunce, and done it in dede. - Reue und Buße im Mittelpunkt die Frau (custodiuit, liberauit) gleich für das Promythion aufgegriffen zu haben (im Epimythion kommt er noch einmal darauf zurück) 38 Steinmetz (1999), S. 47 - 74. 53 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale 1.5 Von der Rechtslegende zum Kasus Das Spannende im Vergleich mit den beiden Parallelen ist, daß Kaufringer alle religiösen Argumente zur Unschuld und zum letztendlichen Freispruch der Dame beseitigt: Der Mirakelschluß ist vielfach vorgeprägt und vorhanden, der Stoff kennt anscheinend nur diese Lösung. 39 Kaufringer hätte sie also mit Leichtigkeit ergreifen können. Stattdessen streicht er sie und fügt sogar noch einen vierten Toten hinzu - den erhängten Diener des Ritters - , der zumindest indirekt mit der Protagonistin zu tun hat. Damit läßt er die ‹ unerhörte Begebenheit › der weiblichen Gewaltanwendung, den Punkt der dramatischen Peripetie, das, was die Unschuldige Mörderin zu einem echten Kasus macht, bestehen. Er hebt diese Anomalie nicht durch ein Wunder auf, was seine Version der Erzählung wieder den Exempeln eingereiht hätte. Die überlistete und unschuldig entehrte Gräfin erträgt eben nicht weiblich passiv ihr Schicksal, das, wie Ruh vermutet, im Kloster geendet hätte. 40 Dies ist jedoch eine sehr milde Beurteilung, blättert man in den nämlichen rechtlichen Bestimmungen des Schwabenspiegels, stellt sich die Situation der Protagonistin als weitaus brenzliger dar. 41 Vergewaltigung, im Mittelalter als ‹ Notzucht › bekannt, wird dort - wie allgemein im mittelalterlichen Recht - an der Tatsache festgemacht, ob das Opfer bei der Tat geschrien habe oder nicht. 42 Die Beschreibung des folgenden Tatbestandes paßt verblüffend gut auf die Ausgangssituation in der Unschuldigen Mörderin: Ist eine Jungfrau einem Mann versprochen, und sie ist noch nicht mit ihm vermählt, und es kommt ein anderer dazu an einem Ort, wo sich Leute befinden, und er liegt 39 Auch die anderen Ausprägungen der abendländischen Grundfassung, die Kaufringer ferner stehen, zeigen alle diese legendarische Form mit Mirakelschluß, vgl. die Übersicht bei Ruh (1984), S. 174 f. 40 Vgl. Ruh (1984), S. 183: «[. . .], gab es doch nach den Vorstellungen jener Zeit nach einem solchen ‹ Fall › als einzig ehrenhafte Lösung das Kloster.» 41 Der an den Sachsenspiegel angelehnte Schwabenspiegel, aufgeschrieben um 1275 in Augsburg, steht Kaufringer sowohl zeitlich als auch räumlich nahe. Vgl. Karl August Eckhardt : Schwabenspiegel. Kurzform. 2 Bde (= Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris germanici antiqui 4). Marburg/ Lahn 1960; sowie die nhd. Übersetzung von Harald Rainer Derschka : Der Schwabenspiegel. Übertragen in heutiges Deutsch mit Illustrationen aus alten Handschriften. München 2002. 42 Vgl. dazu Rudolf His : Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. Bd. 2: Die einzelnen Verbrechen. Weimar 1935, S. 153. Noch bis ins 16. Jahrhundert hielten sich konstant die gesetzlich definierten Tatbestandsmerkmale einer Vergewaltigung als Schreien der Frau, weinende Augen und zerrissene Kleider, siehe Gerd Schwerhoff : Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt. Bonn [u. a.] 1991, S. 394 - 397. 54 Modellanalysen bei ihr, und sie schweigt und ruft nicht, so soll man beide fangen und soll sie vor den Richter führen. Dort soll man urteilen, daß man sie aus der Stadt führe und beide übereinander steinige. Das tut man deswegen, weil sie nicht rief, als Leute in der Nähe waren. 43 Nun hatte die Gräfin aufgrund der List des Ritters überhaupt keine Veranlassung zu rufen, sodaß ihr nach strenger Auslegung des öffentlichen Rechts die Todesstrafe bevorsteht. Hinzu kommt, daß sie sich unwissentlich des Ehebruchs schuldig gemacht hat. 44 Auch dieser wird mit dem Tod gesühnt: Wenn jemand beim Weib eines Mannes liegt, sind der Ehebrecher und die Ehebrecherin beide des Todes schuldig. Wenn sie vor das weltliche Gericht kommen, soll man ihnen das Haupt abschlagen. 45 Mit seinem Täuschungsmanöver hat der Ritter die Gräfin in jedem Fall zur Komplizin seiner Straftaten gemacht. Er hat die Situation so verdreht, daß die Unschuldige von der äußeren Rechtsprechung immer mitverurteilt werden würde. Daher nimmt sie nun den einzig möglichen Ausweg: Ihre weiblich duldende Rolle zu verlassen und handelnd die Initiative zu ergreifen, indem sie sich in ganz männlich brutaler Art zur Wehr setzt. Classen betont, «mit welcher verzweifelten Rücksichtslosigkeit die Gräfin sich zu verteidigen versteht», und daß dadurch «der Frau überhaupt hohe Anerkennung gezollt» werde in dieser Erzählung. 46 Das erinnert an Hannelore Schlaffers Diktum von der Novelle als weiblicher Gattung. 47 Die Gräfin nimmt die Regie ihres Schicksals selbst in die Hand, führt dabei aber nicht «als Geschlechtswesen» das «sexuelle Regiment», wie es Schlaffer für die Boccaccio-Novellen konstatiert hat 48 , sondern bestimmt die Handlung viel radikaler, indem sie Gewalt anwendet. Somit stellt eben nicht «das sexuelle Faktum» 49 das unerhörte Ereignis unserer Geschichte dar, sondern die Rollen-Transgression der Frau hin zu aktiver Gewaltanwendung. Währenddessen begreifen sich die ‹ guten › Männer dieser Geschichte - Bruder und Bräutigam der Gräfin - zwar als Beschützer 50 , sind aber nie zur 43 Derschka , Schwabenspiegel (2002), S. 137 (LandR II 201 l). 44 Ein Verlöbnis hatte Vertragscharakter, daher wurde Untreue der Braut vor der Hochzeit wie Ehebruch angesehen. Vgl. P. Mikat : Art. Ehe. In: HRG 1 (1971), Sp. 809 - 833. 45 Derschka , Schwabenspiegel (2002), S. 137 (LandR II 201 k). 46 Classen (2000), S. 9. 47 Vgl. Hannelore Schlaffer : Poetik der Novelle. Stuttgart 1993, S. 30. 48 Vgl. ebd., S. 29 - 32. 49 Vgl. ebd., S. 26 - 28. 50 Ein Indiz für den falschgelagerten Beschützerinstinkt des jungen Grafen ist die Tagesszene, in der er heimkehrend den Knecht unweit seiner Burg entdeckt und sogleich von seinen Leuten als eventuellen Pferdedieb aufknüpfen läßt. Der Aufwand, mit dem hier auf eine vermeintliche Bedrohung durch einen streunenden 55 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale Stelle, wenn die Frau des Schutzes tatsächlich bedarf. Schon zu Anfang wird ein männliches Defizit überdeutlich, als die jungfräuliche Gräfin von ihrem Bruder unbekümmert über Nacht alleingelassen wird. Mit dem gesamten Gefolge (mit aller seiner samenung/ und mit seinen undertan, 84 f) reitet er zum König, um die Hochzeitsvorbereitungen zu treffen. 51 Kennzeichnend ist die Feststellung des Ritterknechtes: die hat niemant heint in huot (94). So schwere Verbrechen wie Mord oder Inzest können normalerweise nur in der geistlichen Literatur, in der Legende oder dem geistlichen Exempel legitimiert werden. 52 In der Form der Rechtslegende zeigt sich dann die Unzulänglichkeit weltlicher Gerechtigkeit gegenüber göttlicher Gnade. Einem erzieherischen Zweck, nämlich der Vermittlung sozialer Leitbilder, dient auch die Rechtslegende, die mehr noch als das Märchen das Wunder in den Mittelpunkt des Geschehens stellt und sich von den anderen Einfachen Formen zunächst durch ihre Verfasser unterscheidet. Legenden wurden von Klerikern geschaffen, die sie in den Dienst der kirchlichen Propaganda stellten. Soweit sie also rechtliche Themen berühren, vermitteln sie kirchliche Rechtsvorstellungen und Rechtspositionen. 53 In ihrer Exemplarität fungiert die Rechtslegende als Mahnung: [. . .] Mahnung vor allem vor Verbrechen und Ungerechtigkeiten, die vor Gottes Gericht abgeurteilt werden, wenn nicht «ein Wunder geschieht», d. h. wenn nicht durch Fürbitte der Heiligen Bewahrung oder Begnadigung eintraten. Die Anbetung oder Anrufung der Heiligen zur Fürbitte und Erlösung ist ein häufig anzutreffendes Motiv der Rechtslegenden, die in den mittelalterlichen Kunstwerken, Plastiken und Bildteppichen ihre sinnfällige Entsprechung fanden. 54 Sowohl die Fassung der Compilatio Singularis Exemplorum wie auch der englische Text sind als Rechtslegenden zu bezeichnen: Der Mirakelschluß nimmt hier die Hälfte (Compilatio) beziehungsweise ein Drittel (englische Gesta Romanorum) des Textes ein. Die Schuld der Protagonistin steht außer Zweifel, sie muß bereuen und Buße tun, bevor ihr vergeben werden kann. So Knecht geradezu überreagiert wird, widerspricht völlig seiner Unaufmerksamkeit, wenn es um den Schutz der eigenen Schwester geht. 51 Lediglich ein nutzloser wachter und der hinterhältige portner bleiben zurück - ein ziemlich kleiner Aufwand, den der sonst so ehrrührige Bruder hier betreibt. Da wirkt es fast lächerlich, wenn er am nächsten Morgen die Schwester im offiziellen Protokollton an ihre bräutliche Jungfräulichkeit mahnt: der küng hat verheiratt sich; / der hat ze weib genommen dich./ du muost heint ain praut sein (429 - 431). 52 Vgl. etwa das prominente Beispiel der Gregorius-Legende, siehe H. Sauer: Art. Gregorius-Legende. In: LexMA 4 (1989), Sp. 1691 - 1693. 53 Schempf (2001), S. 429. 54 Ebd. 56 Modellanalysen sind in der englischen Fassung die Aktionen, mit denen sich die Dame zur Wehr setzt, etwa gleich als Sünden markiert, das heißt, sie werden von vornherein nach dem religiösen System bewertet: and so this lady did thre grevouse synnes; she slowe the knight, and drownyd the Ribalde, and brente the damysell. Dem abschließenden Wunder geht ein aufwendiger, in sich gesteigerter Weg der Buße und Heiligung dieser Protagonistin voraus. Sie beichtet zunächst einem holy man, der ihr die dreifache Buße auferlegt, jeden Freitag ein härenes Hemd zu tragen, bei Wasser und Brot zu fasten und 13 arme Männer zu speisen. Der Wunsch nach härterer Buße 55 läßt sie an einen wicked preste geraten. Nachdem sie der Versuchung durch diesen widersteht und der Priester sie bei ihrem Ehemann anzeigt, ereignet sich vor dessen Augen ein vierfaches Wunder, indem alle Büßerinsignien sich in das Gegenteil verwandeln, als krönender Abschluß die 13 armen Männer dem Ehemann 13 Engel zu sein scheinen: He asked of his wyfe how this was? She answered, and seide, «it is goddis wille.» Als Zeichen ihrer erworbenen Heiligkeit kann die Frau nun den Willen Gottes verkünden und sie überträgt diese Heiligkeit auch auf ihre Ehe: and afterwarde they lyvedyn to-gedre holylye. Die schicksalhafte Verkettung der Umstände dient in der Form der Legende dazu, das Ausmaß der Barmherzigkeit Gottes zu illustrieren, der die bereuende Sünderin erlöst. Dies betont die abschließende Erzählerkommentierung des lateinischen Exempels aus der Compilatio Singularis Exemplorum: Et sic deus dominam penitentem et peccatum renuentem innocentem custodiuit et misericordia sua liberauit. 56 Kaufringer dagegen fand allem Anschein nach die Herausforderung interessanter, den Stoff als Kasus zu gestalten und für die Unschuld der Dame zu argumentieren. Denn ohne das legitimierende Wunder am Schluß konstituiert die schicksalhafte Verkettung der Umstände den Kasus, dessen Lösung nun gemäß weltlich-rechtlicher und moralischer Maßstäbe zur Diskussion steht - ist die Protagonistin schuldig oder unschuldig? Was hier passiert, ist eine Öffnung des bislang exemplarisch ausgeformten Stoffes zum Kasus. Es wird nun möglich, den Fall aus verschiedenen Perspektiven zu bewerten, für die eine oder die andere Sichtweise zu argumentieren. Genau das ist es, was Kaufringer mit seiner Bearbeitung vorführt: Intradiegetisch ist erstens schon die Beurteilung des Falles durch den königlichen Ehemann am Schluß als individuelle Perspektive bemerkenswert. In den legendarischen Parallelen tritt der Ehemann immer in seiner öffentlichen Funktion als Rechtsvormund der Frau auf. Die Anklage durch den 55 Aftyrwarde she wolde haue more sharpe penaunce, [. . .]. 56 Die Übersetzung hier und im Folgenden nach Albert Wesselski : Märchen des Mittelalters. Berlin 1925, S. 46 f: So hatte Gott die bereuende und der Sünde entsagende Frau gerettet und sie in seiner Barmherzigkeit ihrer Schuld entledigt. 57 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale korrupten Geistlichen stellt Öffentlichkeit her. In einer weiteren lateinischen und einer französischen Ausformung der abendländischen Grundversion wird die Herstellung von Öffentlichkeit zur Beurteilung des Falles sogar noch weiter getrieben, wenn der königliche Gemahl eine Gerichtsversammlung einberuft und die Angeklagte sich einem Gerichtskampf gegen den anklagenden Geistlichen unterziehen muß oder erst kurz vor dem Scheiterhaufen gerettet wird. 57 Stets ist damit die Rolle des Ehemannes funktionalisiert als Vertreter der öffentlichen Meinung und Anklage - erst das himmlische Wunder überzeugt ihn vom Gegenteil. Auch bei Kaufringer wird der Vorfall vom Ehemann beurteilt, doch die Gerichtssituation weicht einer Szene völliger Privatheit. Voraus gehen ihr 32 glückliche Ehejahre, wie der Erzähler betont (617 - 625). In einer idyllisch beschaulichen Tageliedszenerie 58 - der König hat den Kopf in den Schoß seiner Frau gebettet und schläft (627 - 629) - wird die Dame eines Tages von ihren Schuldgefühlen überwältigt. Noch erstaunlicher ist sein Urteil, als er die Beichte der Königin gehört hat: da die red also ergieng, der küng die frawen schon umbfieng; er truckt die lieplich an sich. «du hast gar hart erarnet mich», sprach er zuo der frawen do, «ich will mit dir leben so, das ich dir immer dienen will, wann du haust erlitten vil durch meinen willen, das ist war. weder haimlich noch offenbar soltu von mir der geschicht 57 Es handelt sich um ein lateinisches Exempel aus der Breslauer Handschrift J. F. 115, Bl. 195va - 196ra, De confessione et penitencia mirum, ediert von Joseph Klapper : Erzählungen des Mittelalters. In deutscher Übersetzung und lateinischem Urtext (= Volkskundliche Quellen. Neudrucke europäischer Texte und Untersuchungen. Hrsg. von Hermann Bausinger, Mathilde Hain u. a. Bd. 4: Sage). Nachdruck der Ausgabe Breslau 1914. Hildesheim/ New York 1978, S. 330 f; Übersetzung S. 128 f. Die altfranzösische Verserzählung De la royne qui ocist son seneschal bei Dominique Martin Méon : Nouveau recueil de fabliaux et contes inédits des poètes francais des XIIe, XIIIe, XIVe et XVe siècles. 2 Bde (= Nachdruck der Originalausgabe Paris 1823). Genève 1976, Bd. 2, S. 256 - 278; die Übersetzung von Ernst Tegethoff : Französische Volksmärchen. Aus älteren Quellen übersetzt von Ernst Tegethoff. Jena 1923, S. 109 - 113. 58 Die Situation erinnert auffällig an die Umschlagsszene in Hartmanns Erec, als Enite über das verligen klagt (V. 3013 ff). Hier wie dort beichtet die Frau ihre geheimen Sorgen. Im Erec hat das von männlicher Seite negative Konsequenzen zur Folge, hier positive. 58 Modellanalysen fürbas doch engelten nicht weder an eren noch an muot.» (687 - 699) Wie Willers zeigt, bleibt die Gestaltung der Szene im literarischen Muster der intimen Minnebeziehung und damit abseits öffentlich-rechtlicher Moralvorstellungen. 59 Der König erkennt im gegenseitigen Liebesverhältnis die Minnetrewe seiner Frau an, die alles nur um seinetwillen erduldet hat: du hast gar hart erarnet mich (690). Auf diese Weise ist in Kaufringers Unschuldiger Mörderin bereits intradiegetisch eine ganz und gar individuelle Beurteilung des Falles vorgeführt - die Subjektivität des Ehemannes als Liebender bedingt hier die Entscheidung und aus seiner Perspektive wird diese Lösung argumentativ als die gerechte dargestellt. Schon die erste Reaktion des erwachenden Königs beim Anblick seiner weinenden Frau scheint argumentatorisch instrumentalisiert: lauß mich wissen, frawe guot,/ wer dir nun laid hab getaun! / es muos im an das leben gaun (644 - 646). Bedenkt man, daß der Rezipient schon weiß, was die Dame gleich beichten wird, wirkt die ‹ Aussage › des Ehemannes wie eine vorauseilende Legitimation der begangenen Taten: Der König hätte genauso geurteilt, das entlastet die Protagonistin. Damit kommen wir zweitens zur extradiegetischen Perspektivierung dieses Falles: Der Erzähler nimmt den Standpunkt des Verteidigers seiner Protagonistin ein und plädiert auf Notwehr. Dafür bedient er sich auch aus den vorgängigen Ausformungen des Stoffes. Auf diese Weise läßt sich schlüssig erklären, warum in der Unschuldigen Mörderin der in der Rahmenkommentierung behauptete Beistand Gottes für die Dame ‹ stehengeblieben › ist, obwohl er nicht mehr zum Gang der eigentlichen Geschichte paßt, wo Gott keinen Auftritt bekommt. Kaufringers Erzähler dreht den Argumentationsweg um und instrumentalisiert das ursprünglich religiöse Leitmotiv als Haupt- und Eingangsargument seiner Verteidigungsrede für eine unschuldige Mörderin. Was sich in der legendarischen Ausformung des Stoffes durch das Wunder erst zeigt, setzt Kaufringer einfach als allgemeingültige Sentenz an den Beginn seines Textes, Gott wird zum Argument: Got lat den gerechten menschen nicht auß seiner väterlichen pflicht. (1 f) Vor dem Hintergrund der Stoffgeschichte ist der Text damit von Anfang an als Konstruktions- und Argumentationsspiel zu erkennen, das sich der vorgängigen Erzählformen und -motive bedient. 60 59 Willers (2002), S. 195 und ebenso Willers (2005), S. 136. 60 Anders Steinmetz (1999), S. 47 - 74. 59 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale 1.6 Rhetorische Grundlagen: Das Gerichtsredenschema Tatsächlich wird das kasuistische Erzählen vom problematischen Fall, dem novellistischen spätestens seit Boccaccio wesensverwandt 61 , in Kaufringers Unschuldiger Mörderin besonders deutlich erst durch die Verteidigungsstrategie des Erzählers. Ich möchte hier eine Bemerkung Ruhs wieder aufgreifen, der die argumentativ geprägte Erzählstrategie der Unschuldigen Mörderin bereits mit der antiken Tradition juristischer Rhetorik in Verbindung gebracht hat: Es sieht indes so aus, als handle es sich um die novellistische Ausformung eines Kontroversfalles. Der casus warf die Schuldfrage auf und stellte entsprechende Argumente bereit. Davon weiß der Kaufringer nichts mehr oder will es nicht wissen. 62 Ich behaupte im Gegenteil, genau das interessiert den Kaufringer. Er erkennt das kasuistische Potential, das diesem Stoff innewohnt und präpariert es zur Hauptsache seiner Erzählung. Damit führt Kaufringer das kasuistische Erzählen wieder weitgehend zurück in den gerichtlichen Rahmen, aus dem es entstanden ist. Sein Erzählziel ist eben die Darstellung und Diskussion des juristischen Kasus, den er entsprechend inszeniert. Als Grundlage dafür kann ihm die passende rhetorische Form gedient haben, die, aus der Antike überliefert, zum Bildungskanon des Mittelalters gehört: die Gerichtsrede. Als genus iudiciale bildet die Gerichtsrede mit dem Zweck der Anklage oder Verteidigung seit der Antike eine der drei großen rhetorischen Funktionalgattungen. Ihre theoretische Erfassung ist «ein Hauptanliegen der rednerischen Erfindungskunst (inventio)». 63 Daher ist sie von allen Redegattungen am besten bearbeitet, für sie existieren die ausführlichsten Regeln. Die antike Theorie der Rede handelt in der Hauptsache vom Argumentieren vor Gericht: Hierbei wird [. . .] vor allem auf die jeweils einschlägige, besonders reiche Topik der Gerichtsrede eingegangen; die Besonderheiten der beiden anderen Gattungen waren kaum mehr als Annexe. 64 Das schulrhetorische Grundschema der Gerichtsrede besteht aus folgenden partes orationis: Einleitung (prooemium/ exordium/ principium) - Sachverhalts- 61 Vgl. dazu besonders Neuschäfer (1969), S. 33 - 51. 62 Ruh (1978), S. 169. 63 H. Hohmann : Art. Gerichtsrede. In: HWbRh 3 (1996), Sp. 770 - 815; Sp. 771. 64 Manfred Fuhrmann : Die antike Rhetorik. Eine Einführung. Düsseldorf 2008, S. 83. Grundlegend außerdem Franz Josef Worstbrock : Art. Rhetorik I. Geschichte und System. In: Der neue Pauly (DNP). Enzyklopädie der Antike. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 15/ 2 (2002), Sp. 770 - 791. 60 Modellanalysen schilderung (narratio) - Beweisführung (argumentatio/ confirmatio/ probatio) - Schluß (peroratio). 65 Die argumentatio «ist der wichtigste, der schlechthin unentbehrliche Teil der Gerichtsrede, der Teil, um dessentwillen das ganze Plädoyer stattfindet.» 66 Zu ihr gehört die Widerlegung gegnerischer Argumente (refutatio/ confutatio/ reprehensio), Quintilian nimmt deshalb eine logische Zweiteilung der argumentatio in probatio und refutatio vor. 67 Im Rahmen des Triviums gehört die Rhetorik zum mittelalterlichen Grundstudium an den Lateinschulen wie an den Universitäten. Die Redegattungen, unter ihnen die Gerichtsrede, waren «bis in die Neuzeit hinein Gegenstand schulischer Deklamationsübungen und wurden in der Literatur fingiert». 68 Das Mittelalter rezipierte an antiken Rhetoriken vornehmlich die Rhetorica ad Herennium 69 , welche man fälschlicherweise Cicero zuschrieb, weiterhin Ciceros De inventione 70 und Quintilians Institutio oratoria. 71 Sie spielten eine maßgebliche Rolle im Schulbetrieb; vor allem die Herenniumsrhetorik wird «durch eine ebenso reiche wie weitverzweigte Überlieferung als vielgelesenes Schulbuch erwiesen». 72 Quintilians Lehrbuch gerät den mittelalterlichen Überlieferungszeugnissen zufolge den anderen beiden Werken gegenüber ins Hintertreffen: «[. . .] im Rhetorikunterricht spielte die Institutio offenbar, trotz einzelner Rezeptionsspuren vor allem im Umfeld von Chartres und bei Ulrich von Bamberg, so gut wie keine Rolle, bevor Poggio 65 Vgl. Fuhrmann (2008), S. 81 - 98. Für den Übergang zwischen Erzählung und Beweisführung geben die Handbücher «zwei fakultative Elemente von geringerer Länge und Bedeutung» an, den Exkurs (egressio) und die Ankündigung des Beweisziels (propositio/ partitio/ divisio), vgl. S. 89. Zur divisio siehe die Rhetorica ad Herennium I, 4, zit. nach Theodor Nüßlein : Rhetorica ad Herennium. Lat.-dt. Düsseldorf/ Zürich ²1998. 66 Fuhrmann (2008), S. 89 f. 67 Quintilian , Institutio oratoria: zur probatio V 1, 1ff, zur refutatio V 13, 1 ff. Zit. nach der Ausgabe: Marcus Fabius Quintilianus : Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. u. übers. von Helmut Rahn. Teil 1: Buch I - VI. 3., gegenüber der 2. unveränd. Aufl. Darmstadt 1995. 68 Vgl. Joachim Knape : Art. Rede 2 , Redegattungen. In: RLW 3 (2003), S. 233 - 235; S. 233, sowie Hohmann (1996), Sp. 790. 69 Vgl. Franz Josef Worstbrock : Art. Rhetorica ad Herennium. In: VL² (2004), Sp. 1300 - 1309. 70 Vgl. Peter Kesting : Art. Cicero, Marcus Tullius. In: VL² 1 (1978), Sp. 1274 - 1282; Sp. 1275 f zur Schrift De inventione. 71 Einen kurzen Überblick, klärend zur Frage des Verhältnisses von Rhetorik und Poetik, gibt Joachim Knape : Poetik und Rhetorik in Deutschland 1300 - 1700. Wiesbaden 2006, S. 3 - 17. 72 Karl Heinz Borck : Juristisches und Rhetorisches im ‹ ackerman › . In: Zeitschrift für Ostforschung 12,3 (1963), S. 401 - 420; S. 407. 61 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale 1415 die St. Galler Handschrift fand.» 73 In methodischer Hinsicht ist jedoch anzumerken, daß das rhetorische Schema der Gerichtsrede, um das es mir hier geht, durch seine relativ konstante Systematik gekennzeichnet ist. 1.7 Die Unschuldige Mörderin im Kontext des fünfteiligen Gerichtsredenschemas 74 In seinen «Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle» geht Karl-Heinz Schirmer dem stilistischen und kompositorischen Verhältnis der Mären zu Poetik und Rhetorik nach. Er konstatiert, daß «entscheidende Anregungen für eine ‹ kompositorische › Anordnung der Bauteile und ihre Ausgestaltung aus der alten Rhetorik stammen» 75 und demgemäß «die bedeutenderen» der Märendichter mit verschiedenen Grundbegriffen der Theorie vertraut sind, wie sie ein gewöhnlicher Schulbesuch dem Laien mit der Lehre der artes vermittelte. Dies darf man wohl bei all den Autoren voraussetzen, die überhaupt mit irgendeiner Quelle geistlicher oder weltlicher Bildung in Berührung gekommen sind. 76 Die Relevanz antiker Rhetorik auch für die Textproduktion der Märendichter - vor allem für den Stricker hat Schirmer das eingehend belegt - ist also nicht von der Hand zu weisen. Kaufringer steht mit seiner rhetorischen Gliederung der Unschuldigen Mörderin in dieser Tradition. Allerdings läßt Kaufringer in der Art der durchgehend konsequenten Anwendung des rhetorischen Schemas seine Vorgänger weit hinter sich. Denn Schirmer stellt bei den von ihm behandelten Werken nur für manche Bauteile des Märes eine Kongruenz mit Teilen des Redeaufbaus fest, etwa für das Promythion. 77 Zudem konstatiert er, daß sich im Märe «für den Inhalt der rhetorischen peroratio, des Schlußteils der Rede, keine eigentliche Entsprechung findet». 78 Das sei darauf zurückzuführen, «daß sich die andersartigen Funktionen der rhetorischen peroratio, die vor allem in der recapitulatio und in der Erregung von Affekten bestand, auf die Märendichtung schlecht übertragen ließen», die affektwirksamen Stilmittel der indignatio (Erregung von Abscheu für die Gegenseite) und conquestio 73 Hübner (2010), S. 125, Anm. 19. 74 Vgl. zu den weiteren Ausführungen das Strukturschema zur Unschuldigen Mörderin im Anhang. 75 Vgl. Schirmer (1969), S. 121 f, der sich aber auf das 13. und die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts beschränkt, Heinrich Kaufringer daher kaum berücksichtigt. 76 Vgl. ebd., S. 124. 77 Vgl. ebd., S. 59 - 73. 78 Ebd., S. 122. 62 Modellanalysen (Erregung von Mitleid für die eigene Seite) seien für das Märe nicht verwendet. 79 Dem kann man im Hinblick auf Kaufringers Unschuldige Mörderin widersprechen, wo der Epilog in auffallender Weise einer rhetorischen peroratio 80 ähnelt: Die Zusammenfassung der Hauptpunkte der Rede beginnt mit dem geforderten Freispruch und beinhaltet gleichzeitig einen ‹ Aufruf › zur conquestio mit der Frau, die übels nie began/ und kom doch in grosse swär (705). Darauf folgt eine Rekapitulation der Hauptanklagepunkte gegen die Bösewichter. 81 Die Rechtmäßigkeit, mit der allen Tätern ihre verdiente Strafe zugekommen ist, wird in einem ersten Schritt für jeden Fall einzeln begründet. Ziel ist dabei auch, die indignatio für die Übeltäter zu steigern, denn das Vergehen eines jeden wird in drastischer Weise noch einmal auf den Punkt, und die anschließende Ermordung in einen Kausalzusammenhang (umb, des, darumb) damit gebracht. Die Morde erscheinen so nicht mehr als Morde im Sinne eines Verbrechens, sondern als völlig verdiente, juristisch angemessene Bestrafungen, die die Gerechtigkeit wiederherstellen. 82 Ein Beispiel hierfür ist die Behandlung des Ritters: der ritter muost auch leiden pein umb die grossen poßhait sein, die er an der künigin dett, da er si valschlich überrett und si irer er beraubt darumb schnaid si im das haubt von seinem pottich vil schon. (717 - 723, Hervorhebungen C. R.) 79 Ebd. 80 Vgl. Hohmann (1996), Sp. 771: «In der peroratio treten dann zur Zusammenfassung der Hauptpunkte der Rede oft noch verstärkte Appelle an das Gefühl des Urteilenden (páthos) hinzu, insbesondere die Aufforderung zum Mitleid mit der eigenen Seite (conquestio) und zur Abscheu vor der des Gegners (indignatio).» Dazu Lausberg § 436, S. 238: «Die peroratio ist die letzte Gelegenheit, die Richter (das Publikum) für die eigene Partei günstig zu stimmen und gegen die Partei des Gegners zu beeinflussen.» 81 Auch die Rhetorica ad Herennium empfiehlt eine kurze Wiederholung der Punkte, «die in der Bekräftigung und Widerlegung behandelt wurden», unter Einhaltung der Reihenfolge, die die Rede vorher genommen hat, vgl. Rhet . Her . II, 47. 82 Hinweise, daß die Bestrafungen nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich rechtsgeschichtlich angemessen sind, gibt Willers (2002), S. 176 - 200, noch einmal in Willers (2005), S. 133. Die Todesarten entsprechen nach mittelalterlichem Recht den offiziellen Bestrafungen für die jeweiligen Verbrechen. Damit wird den Bösewichtern indirekt doch noch ihre gerechte Strafe verabreicht, eine juristisch wasserdichte Konstruktion. Der Gräfin ist in dieser Darstellung nichts vorzuwerfen, sie tritt als verlängerter Arm des öffentlichen Rechts auf. 63 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale Im 1275 in Augsburg entstandenen Schwabenspiegel steht auf Vergewaltigung - denn der hier erschlichene Beischlaf ist im Grunde eine solche - , genau wie auf Ehebruch, ausdrücklich das Hauptabschlagen. 83 Man könnte an dieser Stelle einwenden, daß die von der Protagonistin verübten Mordarten keine individuellen Zutaten Kaufringers sind, sondern zur materia gehören. Das stimmt, jedoch ist eben Kaufringer der Einzige, der den Vorgang der Morde jeweils ausführlich schildert und ihn zur gerecht verabreichten Strafe semantisiert. Wie Steinmetz gezeigt hat, läßt sich im Falle des Mordes an dem Ritter zudem feststellen, daß Kaufringer die Szene modifiziert. Bei ihm wird zur Enthauptung, was im lateinischen Exempel der Compilatio Singularis Exemplorum unspezifisch zwischen ‹ erwürgen › , ‹ erstechen › oder ‹ umbringen › bleibt: Que summe dolens ipsum dormientem iugulavit. Im englischen Text schneidet die Frau ihrem Vergewaltiger zwar die Kehle durch 84 , von einer symbolträchtigen Enthauptung ist jedoch auch dies entfernt. 85 Neben einer Absicherung der Handlungen der Gräfin als juristisch gerechtfertigt ist ein weiterer erwünschter Nebeneffekt dieser recapitulatio natürlich wieder die Steigerung des Mitleids für dieselbe. Dies geschieht durch die nochmalige Wiederholung alles dessen, was sie ertragen mußte. 86 Jene Wiederholungen, die uns aus moderner Sicht redundant erscheinen mögen - hatte doch erst wenige 20 Verse zuvor die Gräfin selbst in ihrer Beichte alles dezidiert nacherzählt - , sind damit keinesfalls als dichterisches Unvermögen zu beurteilen. Sie haben im Format der Gerichtsrede ihren expliziten Sinn, indem sie der Bekräftigung, und damit gerade in der peroratio als ein Stilmittel der Überzeugung dienen. Im Anschluß betont der Verteidiger sein bereits konstatiertes Fazit (den ist allen recht geschehen, 739) durch einen allgemeingültig formulierten Wunsch, der die Betroffenheit jedes Einzelnen geschickt in den 83 Derschka , Schwabenspiegel (2002), S. 123 (LandR II 174 a), S. 164 (LandR II 254) und S. 137 (LandR II 201 k, l). Vgl. auch im Sachsenspiegel II 13 § 5, hier zit. nach der Ausgabe: Friedrich Ebel : Sachsenspiegel. Landrecht und Lehnrecht. Durchges. u. erg. Ausgabe. Stuttgart 1999, S. 81. 84 [. . .] she toke his knyfe, and Cutte his throte asondre. 85 Vgl. Steinmetz (1999), S. 60, der diese Modifikation jedoch anders, nämlich im Sinne seiner These der Unschuldigen Mörderin als eines eigenwilligen geistlichen Exempels deutet: Es handle sich hier um eine Paraphrase der biblischen Szene von Judiths Mord an Holofernes. 86 Vgl. Lausberg § 434, S. 238: «Sie [die recapitulatio, C. R.] hat zunächst die Funktion der Gedächtnisauffrischung, wirkt aber durch die in der Kürze liegende Häufung auch auf die Affekte.» Siehe Quint . VI 1, 1. 64 Modellanalysen Blick rückt und dadurch eine für die eigene Sache günstige Gefühlswirkung beim Publikum auslösen soll 87 : Ich wolt das vil gern sehen, das allen den also geschäch, von den man sich des versäch one zweifel und fürwar, das si lebent mit gevar und aller untrew sind vol. (740 - 745) Was hier wünschend vorwegformuliert wird, ist ein Urteil. Alle bösen und untreuen Menschen werden zu Recht derart bestraft. Gleich im Anschluß folgt die bereits zitierte Maxime, eine bekräftigende Sentenz: wärlich es gevelt mir wol und dunkt mich sein guot und recht, wenn untrew iren herren slecht, als den vieren geschehen ist. (746 - 749, Hervorhebung C. R.) Das nach dem Schema ‹ Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein › komponierte Motto mag auf den ersten Blick wirken wie ‹ die Moral von der Geschicht › . Zudem sind Sentenzen in Pro- und Epimythion des Märes keine Seltenheit. 88 Sentenz (Wahrgenommenes) oder Sprichwort drücken also eine allgemeine Erfahrungsweisheit aus, die vor allem deshalb als unverbrüchlich wahr erachtet wird, weil sie mit der opinio communis übereinstimmt. 89 Aber auch in der Gerichtsrede hat die Sentenz eine bestimmte Funktion, nämlich als Beweismittel von sogar sehr hohem Rang: Sie gilt nach Lausbergs «Handbuch der literarischen Rhetorik» als «einem Richterspruch oder einem Gesetzestext ähnliche autoritätshaltige und auf viele konkrete [. . .] Fälle anwendbare Weisheit». 90 Damit bringt der Verteidiger also den besten Beweis, daß sein Vorschlag für eine Urteilsfindung angenommen werden sollte: Die opinio communis laute auch schon immer dahingehend, daß böse Menschen keine Gnade verdienten. Die Gräfin dagegen sei oun argen list, oun gevär und guot (750 - 755) und habe trotzdem so viel erleiden müssen. Dies ist eine letzte Steigerung der conquestio, die schließlich im alles übertrumpfenden Argument 87 Diese Vorgehensweise einer «Anstachelung der Zuhörer» durch das Mittel gedanklicher Steigerung (amplificatio) zum Zweck einer Vergrößerung der Anschuldigungen wird etwa in der Rhetorica ad Herennium für den Schluß empfohlen, vgl. Rhet.Her . II 47 - 49. Vgl. zu diesem Aspekt der peroratio auch Quint . VI 1, 2. 88 Vgl. das Kapitel zur Sentenz bei Schirmer (1969), S. 29 ff. 89 Ebd., S. 30. 90 Lausberg § 872, S. 431. 65 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale des Gottesbeistands gipfelt, womit der Bogen zurück zum Anfang geschlagen wird. Das Argument der ‹ Gotteskindschaft › rahmt, wie schon gezeigt, die Verteidigungsrede ein. Um der Vollständigkeit halber noch kurz einen Abriß über die restlichen Teile der Gerichtsrede zu geben, so läßt sich feststellen, daß auch der Prolog typische Merkmale des exordiums aufweist 91 : In Vers 11 - 17 wird eine affektreich formulierte Ankündigung der Geschichte von der junkfraw gegeben, die kumers vil/ gelitten hat und aribait,/ davon si kam in herzenlait. Die ständig mitzudenkende conquestio braucht inzwischen kaum mehr erwähnt zu werden. 92 Besonders interessant ist die darauf folgende narratio, die als Sachverhaltsschilderung mit der Einführung und Beschreibung der Personen beginnt. 93 Sie gehört noch zum einleitenden Teil vor dem Hauptstück der argumentatio, welche bei Kaufringer eine besondere Ausformulierung erhalten hat, die später eingehend beschrieben und deswegen jetzt nur kurz erwähnt wird. Die narratio der Unschuldigen Mörderin schildert vorerst lediglich die 91 Vgl. dazu Hohmann (1996), Sp. 771: «Dabei liegen regelmäßig im exordium und in der peroratio Schwerpunkte auf der Erregung von Affekten: in der Einleitung stellt der Redner nicht nur den Fall vor, sondern rückt auch das éthos der eigenen Seite [. . .] in ein gutes Licht, während Schatten auf das Bild der gegnerischen Seite geworfen werden.» Siehe Quint . IV 1, 13: «Die Person des Prozessierenden selbst aber ist auf verschiedene Art zu behandeln: bald nämlich macht man seinen Rang geltend, bald wieder dient seine Hilflosigkeit als Empfehlung. Bisweilen paßt die Aufzählung von Verdiensten [. . .]. Eine große Rolle spielen Geschlecht, Alter und Lebensumstände, z. B. bei Frauen, alten Leuten und Waisenkindern, wenn sie auf Kinder, Eltern und Gatten verweisen; denn einzig das Mitleid bringt auch einen aufrechten Richter zum Wanken. [. . .] Die Person des Gegners nun wird gewöhnlich ebenfalls mit fast allen diesen Gesichtspunkten bekämpft, aus denen nur die entgegengesetzte Anwendung entnommen wird.» 92 Vgl. ebd. Affekte wie conquestio und indignatio sind nicht auf die peroratio beschränkt, sondern können in allen Teilen der Rede eine Rolle spielen. Vgl. Quint . VI 2, 2ff, der die Erregung von Gefühlswirkungen als wichtigste Aufgabe des Redners sieht. Sie ist für ihn sogar wichtiger und hat mehr Überzeugungskraft als die Beweisgründe selbst: «Denn die Beweisgründe ergeben sich meist aus der Natur des Falles, und für die bessere Sache sind sie immer in größerer Zahl vorhanden, so daß, wer durch sie zum Sieg gelangt ist, nur weiß, daß sein Anwalt nicht versagt hat. Wo es aber gilt, dem Gefühl der Richter Gewalt anzutun und den Geist selbst von dem Blick auf die Wahrheit abzubringen, da liegt die eigentliche Aufgabe des Redners. [. . .] Denn Beweise bringen es ja freilich zustande, daß die Richter unsere Sache für die bessere halten, die Gefühlswirkungen leisten es, daß sie das auch wollen; doch das, was sie wollen, glauben sie auch.» ( Quint . VI 2, 4 - 5) 93 Vgl. Schirmer (1969), S. 80, der ebenfalls analoge Bezüge von Märenexposition und rhetorischer narratio beschreibt. 66 Modellanalysen Ausgangsbedingungen des Falles, dessen Entwicklung in die argumentatio verlegt ist, auch dazu komme ich noch. Mit dem Knecht, der seinem Ritter den Plan zum Gewinn der Gräfin erklärt, sind die Weichen gestellt: Die beiden reiten los zur gräflichen Burg, und dieser Ortswechsel markiert den Beginn der Handlung als argumentatio. Zuvor ist aber während der narratio mit den ausführlichen Personen- und Milieubeschreibungen zu bemerken, wie deutlich die eigene Partei, also die zu verteidigende Gräfin mit Bruder und königlichem Bräutigam in positives Licht gerückt wird. 94 Die Beschreibung der ‹ guten Seite › endet mit dem Bericht der Heiratspläne von Gräfin und König und der märchenhaften Schlußformel von ir baider wirdikait/ ward in den landen vil gesait (43 f). Es hätte alles so schön sein können, doch: Nun het der küng ain diener; der was ain ritter mit gevär. der hett ain knecht, der was bös. der sprach gar mit valschem kös diß red zuo dem herren sein: [. . .] (45 - 49, Hervorhebung C. R.) Wirkungsvoller könnte wohl der Kontrast zwischen Gut und Böse nicht markiert sein. Wer jetzt kommt, das sind die Gegner, deren schwarzer Charakter nicht erst bewiesen zu werden braucht, er steht schon von Anfang an fest. Gespiegelt wird er übrigens sehr kunstvoll wenig später sogar in der Natur. Der Verteidiger läßt es sich nicht nehmen, den Zeitpunkt des ‹ Angriffs › von Knecht und Ritter mit einer vielsagenden Kulisse anzureichern. Sogar die Sonne verbirgt ihr Antlitz vor so viel Bösartigkeit: Nun hett sich der sunnen schein verborgen und genaiget ser. die nacht was nun komen her, darin man gern greifet an, das man nicht ze recht sol han. (144 - 148) Ein Muster an inszenierter indignatio, bedenkt man zusätzlich, daß in der öffentlichen Rechtspraxis das Verüben eines Verbrechens bei Nacht aufgrund 94 Vgl. zur narratio Quint . IV 2, 129ff, wo er, ganz ähnlich dem Vorgehen in der peroratio, folgendes angibt: «Manche Gelehrte sind der Meinung, der Anfang der Erzählung müsse unbedingt mit einer Person gemacht werden, und zwar müsse man sie, wenn sie zu uns gehöre, lobend erwähnen, wenn sie feind sei, gleich herabsetzen. [. . .] Doch hat man zuweilen, wenn das Nutzen verspricht, die Personen zusammen mit ihren Begleitumständen zu bringen [. . .].» Noch deutlicher empfiehlt die Rhetorica ad Herennium für die Gerichtsrede, bei der narratio jeden einzelnen Punkt zum eigenen Vorteil heranzuziehen, um der eigenen Sache zum Sieg zu verhelfen ( Rhet. Her. I, 12). 67 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale der größeren Heimlichkeit als schwereres Vergehen eingestuft wurde als dieselbe Tat bei Tageslicht. 95 Bei der Referenz auf Rhetorik handelt es sich nicht bloß um einzelne, strukturell kompositorisch übernommene Elemente, wie das Schirmer für die frühen Mären beschrieben hat. Kaufringer macht sich das gesamte Schema der Gerichtsrede für die Darstellung seiner Erzählung zunutze. Er verwendet spielerisch die Verteidigungsrede vor Gericht als Vorlage, in die er seine Geschichte einpaßt. Das ermöglicht ihm eine neue, offene Inszenierung des Geschehens. Ruh geht mit seiner Deutung in diese Richtung und betont mit gutem Grund eine (freilich im Problemhorizont mittelalterlichen Wiedererzählens differenzierungsbedürftige) Eigenständigkeit der Erzählung, er übersieht jedoch das Format, über das Kaufringer seine Version der Unschuldigen Mörderin transportiert - eigentlicher wohl, er traut es dem Kaufringer nicht zu. Dieses Format scheint in Gliederung und Erzählweise so deutlich durch die Geschichte hindurch, daß das Publikum sie als eine fingierte Gerichtsrede erkennen konnte. Auch wenn die Unschuldige Mörderin zweifellos Literatur und keine echte Gerichtsrede ist, wußte der mittelalterliche Rezipient doch von der Rechtspraxis und - theorie der Kasuistik und Gerichtsrede. Er erkannte die Erzählung als Darstellung eines einmaligen Falles, eines Kasus, der mit den herkömmlichen Normen nicht zu fassen ist. Gerade die Rolle, die der Erzähler als Verteidiger einnimmt, sein vehementes und kompromißloses Plädoyer für die Unschuld der Gräfin ist es ja, was aufmerksam macht und zur Diskussion reizt. 96 1.7.1 Ein strukturelles Spezifikum: Serialität Euling hatte ganz recht, in Bezug auf die strukturellen Merkmale der Unschuldigen Mörderin von «Peripetieen» im Plural zu sprechen 97 , denn mit jedem Mord verwickelt sich die Gräfin unweigerlich weiter in ihr verbrecherisches Schicksal und es wird immer schwerer für sie, zu ihrer alten Identität zurückzukehren. Durch den ersten Mord und den anschließenden Versuch, diesen zu vertuschen, wird eine Kettenreaktion weiterer Morde ausgelöst. Erst der Freispruch des Königs bringt den Ausweg aus dem «grausig-blutige[n] Mechanismus von Schuld und Sühne». 98 95 Vgl. A. Erler : Art. Tag und Nacht. In: HRG 5 (1998), Sp. 111 f. 96 Eine entsprechende Inszenierung durch den Sprecher könnte man sich im Falle eines mündlichen Vortrags vorstellen. Vgl. zur Vortragsweise und -situation der Mären Fischer (1983), S. 267 - 274, der eine «monodramatisch-mimische Vortragsart» für naheliegend hält (S. 268 f). 97 Euling (1900), S. 113. 98 Stackmann (1955), Sp. 509. 68 Modellanalysen Wir haben es hier mit einer Art serieller Reihung des Geschehens zu tun. Jede Episode - damit soll immer die Entwicklung von der Konfrontation der Gräfin mit einem bedrohlichen Konflikt (erregendes Moment) bis zur vermeintlichen Lösung des Problems (Katastasis - retardierendes Moment) bezeichnet sein - zeigt eine neue Handlungskurve. 99 Die Exposition stellt die Weichen für die tückische List des Ritters und seines Knechts, und das Geschehen spielt sich ab bis zu dem Punkt, als die Dame die Ritterleiche mit Hilfe des portners entsorgen will - die in Aussicht stehende Lösung des Konflikts wird jedoch durch das unvorhergesehene Verhalten desselben unterbunden. Die endgültige Katastrophe als Lösung des Konflikts, jene Geständnisszene nach 32 Jahren, wird zweimal hinausgezögert, indem sich genau im Punkt der Katastasis, also jenem Punkt, der eine scheinbare Problemlösung vermitteln soll, ein neues erregendes Moment ergibt und damit die Konfliktlösung neu durchgespielt werden muß. Das passiert bei Katastasis I, wenn sich der Torwächter, der eigentlich helfen sollte, die Ritterleiche zu beseitigen und damit alle Spuren zu verwischen, als Gegenspieler entpuppt und die Gräfin zwingt, für seine Dienste auch ihm zu Willen zu sein. Die positive Erwartungshaltung des Rezipienten, der glaubte, die Gräfin habe sich glücklich aus der mißlichen Lage retten und ‹ alles ungeschehen machen › können, wird enttäuscht. Die Hauptfigur sieht sich noch mehr in ungünstige Schicksalsfäden verheddert, und der Ausgang der Geschichte ist wieder ungewiß. Das gleiche Spiel für Katastasis II: An dieser Stelle wird der Knecht des Ritters Opfer einer höheren Gerechtigkeit. Der Graf und sein Gefolge halten ihn für einen Dieb und er wird am nächstbesten Baum aufgehängt. Diese Tagesszene in der Mitte des Textes läßt die Hauptperson und mit ihr den Rezipienten wiederum auf eine glimpfliche Lösung des Konflikts hoffen. Die blutigen Laken sind gewaschen und der Bruder überbringt die Nachricht vom gerichteten Dieb, in welchem die hellhörige Gräfin sofort den beseitigten letzten Mitwisser erkennt: si gedacht 99 Vgl. das Schema im Anhang. Ich bediene mich für die strukturelle Gliederung des Textes dramentechnischer Begrifflichkeiten, möchte jedoch ihre heuristisch funktionale Verwendung betonen. Im Anschluß an den von der Forschung bereits bemerkten novellistisch-dramatischen Charakter der Unschuldigen Mörderin haben sie sich als besonders geeignet erwiesen, um die spezifischen Handlungsstrukturen und Ereignismomente des Textes zu beschreiben. Zum Wert des Dramenschemas als universell heuristischem Beschreibungsinstrument für die Geschehensdisposition eines Textes Heinrich Bosse : Geschichten. In: Heinrich Bosse und Ursula Renner : Literaturwissenschaft - Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg im Breisgau 1999, S. 299 - 320; S. 302. Ich verweise außerdem auf Schirmer (1969), S. 104ff, der unter Verwendung von Scaligers vierteiligem Dramenschema die dem Drama ähnlichen Aufbauelemente des Märe betrachtet. Grundlegend zur Dramentheorie Manfred Pfister : Das Drama. Theorie und Analyse. München 2001. 69 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale und redet nicht/ und verstuond gar wol die mär,/ wie den sachen allen wär (422 ff). Doch im gleichen Atemzug erinnert der Graf an die bevorstehende Hochzeit und Brautnacht, womit sich für die praut der Konflikt ihrer verlorenen Jungfräulichkeit als neues erregendes Moment III auftut: si erschrack der red vil ser,/ wann si verlorn hett ir eer; / si was betrogen schalklich (433 ff). Die Protagonistin behilft sich mit der listigen Einwechselung ihrer Kammerzofe, ein Motiv, das bereits aus Gottfrieds Tristan bekannt ist, schon dort schiebt Isôt dem König Marke für den Ehevollzug ihre Dienerin Brangäne unter. 100 Nachdem auch diese Episode bis zur Katastasis III gediehen ist, wo sich die Verse Der küng und auch die frawe rain/ waren baide überain/ und lebten mit ainander wol (617 ff) schon sehr nach einem abschließenden Happy End anhören, wird die eigentliche Katastrophe, also die Auflösung des immer weiter erhöhten Konfliktgehalts der Erzählung sozusagen nachgereicht. 1.7.2 In Szene gesetzte argumentatio: Wechsel von probatio und refutatio «Im Mittelpunkt der Gerichtsrede steht die argumentatio, in der es um die rechtliche Beurteilung des relevanten Sachverhaltes geht.» 101 Diese argumentatio bildet auch den Hauptteil der Unschuldigen Mörderin, oder besser formuliert: Der erzählerische Hauptteil, die Handlung, ist argumentativ gegliedert. 102 Die drei Episoden, die durch eine vorläufige Gliederung der Handlungsstruktur des Textes bestimmt wurden, entsprechen den drei aktiv verübten Morden der Angeklagten. Wie das Schema zeigt, wird jeder dieser Morde vom Verteidiger als eigene, in sich Spannung aufbauende Argumentationskette geschildert, indem er Höhepunkt und Peripetie als probatio und darauffolgende refutatio inszeniert. Der Höhepunkt bedeutet jeweils einen Sieg der Gegenseite, den der Verteidiger mit Hilfe von conquestio und indignatio geschickt als ‹ nachträgliches › Anklageargument gegen die bereits beseitigten Bösewichter zu formulieren weiß. Die refutatio hat immer den Gegenschlag der Gräfin zum Thema, die Beschreibung des verübten Mordes, der einen für die Angeklagte eigentlich belastenden Punkt darstellt. Aber auch 100 Vgl. Gottfried von Straßburg : Tristan. Hrsg. von Karl Marold. Bd. 1. Berlin/ New York 2004, V. 12580 ff. Zu diesem in der internationalen Literatur des Mittelalters verbreiteten Motiv der ‹ vertauschten Braut › vgl. Kurt Ranke : Art. Braut, Bräutigam. In: EM 2 (1979), Sp. 700 - 726; 719 f, desweiteren Paul Arfert : Das Motiv von der unterschobenen Braut in der internationalen Erzählungslitteratur. Rostock 1897 (zugl. Diss. Rostock 1896). 101 Hohmann (1996), Sp. 771. 102 Auf die argumentatio entfallen nach meiner Zählung 636 Verse, sie wird eingerahmt von etwa gleich langen Textstücken: Dem Einleitungsteil des exordiums und der narratio, die zusammen 63 Verse zählen, und der peroratio mit 61 Versen. 70 Modellanalysen hier dreht der Verteidiger den Spieß um und benutzt jeden Mord zum Beweis der völligen Unschuld seiner Mandantin, indem er sie konsequent in der Opferrolle präsentiert und ihr Handeln als Notwehr darstellt, die überdies juristisch vollkommen gerecht ist. Durch dieses Manöver integriert er in seine Verteidigung der Gräfin auch noch die Anklage ihrer Gegner. Was hier als dialektisches Spiel entsteht, zerfällt in der juristischen Praxis eigentlich in die zwei rednerischen Aufgaben der Anklage und Verteidigung: Die rednerische Aufgabe (officium) der Anklage (Klage) ist die kate¯ goría/ intentio/ accusatio: die Darstellung des Verhaltens des Angeklagten (Beklagten) als unrecht (ádikon/ iniustum) und rechtswidrig, während der Verteidigung die apología/ depulsio/ defensio obliegt: die Charakterisierung desselben Verhaltens als gerecht (díkaion/ iustum) und rechtmäßig oder zumindest entschuldbar. 103 Wenn in der Unschuldigen Mörderin die probatio als Ursache und die refutatio als unvermeidliche Wirkung aneinandergereiht werden, so gleicht das ganze einem Schachspiel, bestehend aus Zug und Gegenzug. Dabei wird ein einziges Mal das Hin und Her von probatio und refutatio unterbrochen: An die Peripetie II, die Beseitigung des portners, schließt sich als Katastasis II eine weitere refutatio an, die Beseitigung des Knechtes. Die Gräfin hat somit einen entscheidenden Zug mehr im Spiel der Argumente. Denn der Verteidiger erklärt den Knecht, für dessen Tod man die Protagonistin nicht verantwortlich machen kann, zum Hauptschuldigen: den tod er wol verdient hat, wann er hätt bösen rat geben, davon der ritter hat sein leben verlorn und der portner. die junkfraw ist in große swär auch von seinem rat nun komen; die gröste eer ist ir genommen, die ir got ie geben hat. das kompt von dem valschen rat, den der bößwicht hat getan. wir süllen in da hangen lan. (408 - 418) Zahlenkompositorisch befindet sich diese Szene genau im arithmetischen Mittel des Textes, sie ist außerdem gekennzeichnet durch ein für die durchschnittlich kurzen Versumfänge der Einzelteile von Episode II ungewöhnliches Ausmaß. Die Folie der Gerichtsrede gibt nun eine plausible Erklärung für diese Auffälligkeit. Der Erzähler alias Verteidiger benutzt den Knecht als Entlastungsargument, um zu beweisen, daß die Angeklagte nur von außen, nämlich durch ihn in diese widrigen Umstände verstrickt wurde. Als ‹ falscher 103 Hohmann (1996), Sp. 770. 71 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale Ratgeber › (409) hat er wissentlich die Sache in Gang gebracht und ist damit allein für den Tod des Ritters und des Torwächters verantwortlich zu machen. Wohlgemerkt ist er der einzige Übeltäter, der ohne jegliche Motivation handelt, es heißt über ihn nur, daß der Ritter einen Knecht hatte, der was bös (47). Eine Art Mephistopheles, der aus purer Hinterhältigkeit den Stein ins Rollen bringt. Doch ereilt ihn durch Zufall sogleich die gerechte Strafe, für den Anwalt eine weitere Bestätigung seiner Schuld. Juristisch betrachtet ist das Hängen nach mittelalterlichem Recht «die bezeichnende Diebesstrafe», es gilt als «besonders schimpfliche und ehrlose Todesart» und ist deswegen auch häufig die Strafe der Verräter. 104 Pferde gestohlen, wofür er aufgeknüpft wird, hat der Knecht zwar wirklich nicht, insofern scheint hier ein Justizirrtum vorzuliegen. Doch es zeigt sich, daß sein erniedrigender Tod die angemessene Buße für das begangene Verbrechen des Verrats ist, der in der Folge so viele Opfer fordert. Als ‹ Wurzel allen Übels › scheint er gar den Anspruch auf eine Beerdigung verwirkt zu haben: wir süllen in da hangen lan (418). 105 Die Konstruktion dieser Szene ist in mancher Hinsicht kunstvoll. Es ist rechtlich gesehen die Art der Strafe, die den Knecht vollends zum Hauptschuldigen stempelt, er erfährt die schlimmste Behandlung von allen Bösewichtern. 106 Im rhetorischen Kontext der Gerichtsrede kommt dieses wich- 104 D. Marschall : Art. Hängen. In: HRG 1 (1971), Sp. 1988 - 1990; Sp. 1989. Vgl. auch W. Schild : Art. Verrat. In: HRG 5 (1998), Sp. 793 - 795. 105 In der Tat nutzte man wohl vor allem bei Gehängten die Zurschaustellung des Gerichteten zu Abschreckungszwecken, in einer Glosse zum Sachsenspiegel II 13 heißt es, man solle Diebe nicht begraben, sondern hängen lassen, um vom Verbrechen abzuschrecken, siehe Rudolf His : Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. Bd. 1: Die Verbrechen und ihre Folgen im allgemeinen. Leipzig 1920, S. 374, Anm. 6. Nach F. Merzbacher : Art. Begräbnis. In: HRG 1 (1971), Sp. 349 - 352, blieb hingerichteten Verbrechern, die vor ihrem Ende keine Reue gezeigt hatten, im Mittelalter das kirchliche Begräbnis versagt, dies mag der weitere Hintergrund einer solchen Formulierung sein. 106 Ein anschauliches Beispiel dafür, welche Aussagekraft den unterschiedlichen Arten der Todesstrafe tatsächlich zukam, gibt Kaufringer selbst im Prolog zum Feigen Ehemann, hier zit. nach Grubmüller (1996), S. 720 - 737. Der Erzähler rät, daß man sich bei der Wahl zwischen zwei Übeln immer für das kleinere entscheiden solle, und diesen Ratschlag illustriert er mit Beispielen, etwa: ain ieglich dieb tuot auch das kant, der verliesen muos das leben und dem galgen wirt gegeben, der pitt durch der eren schein, das man im näm das haubet sein. (16 - 20) Durch das Hängen zu sterben zeugt von so großer Unwürdigkeit, daß diese Todesart selbst dem Verurteilten in seiner ohnehin hoffnungslosen Situation nicht 72 Modellanalysen tigste Verteidigungsargument, die entscheidende refutatio, genau in der Mitte des Ganzen. Übrigens spiegelt sich die proportional exponierte Stellung der Szene auch auf der inhaltlichen Ebene der Erzählung wider, die Hinrichtung des Knechts ist die entscheidende Tagesszene zwischen zwei Nächten. Um so interessanter die Tatsache, daß dieses Arrangement, sagen wir ruhig: dieses Argument eine eigenständige Zutat Kaufringers darstellt. Wie bereits erwähnt, taucht die Figur des Dieners als Anstifter in den anderen überlieferten Fassungen der Erzählung nicht auf. 107 Die Szene zeigt, wie exakt und überlegt Kaufringer seine Geschichte komponiert hat. Die inhaltliche Bedeutung der Knechtsfigur entspricht genau ihrer formalen Position, nur aufgrund dieses geschickten Schachzugs ist die Verteidigung der Gräfin überzeugend. Die Funktion dieser Hinzufügung Kaufringers zur tradierten materia geht also über den Zweck «eine[r] Verstärkung des durch das Böse ausgelösten unausweichlichen Zuges in die Zerstörung» 108 hinaus. Ohnehin ist der Gräfin keine eindeutige Schuld am Tod des Knechts zuzusprechen, und auf die Idee, sich eine Liebesnacht zu erschleichen, hätte der Ritter auch selbst kommen können, dafür wären die Einflüsterungen eines Dieners erzähltechnisch nicht vonnöten gewesen. 109 Die Logik der Geschichte gibt aber weiterhin vor, daß die Dame am Tod des Ritters eben nicht unschuldig sein kann, und damit hätte ohne den Knecht der eigentliche Verantwortliche, das Hauptentlastungsargument gefehlt. 1.8 Konstruierte controversia Accusatio und defensio, deren gegensätzliches Zusammenspiel in der Gerichtspraxis im Wesentlichen den Prozeß (actio) ausmacht 110 , scheinen in der Unschuldigen Mörderin zu einer controversia 111 zusammengelegt zu sein. gleichgültig ist. Das Enthaupten wiederum «galt als die leichteste und ehrlichste Todesstrafe», darum war es eine Gnadenhandlung, dem zu schwererer Strafe Verurteilten den Tod durch Enthauptung zu gewähren, vgl. His (1920), S. 494. 107 Vgl. dazu Grubmüller (1996), S. 1285 - 1288. 108 Ebd., S. 1287. 109 So gestalten sich etwa die altfranzösische Parallelfassung De la royne qui ocist son seneschal und die mittelenglische Gesta Romanorum-Übersetzung Of the Penitenz of a Woman who had committed three Murders, vgl. Grubmüller (1996), S. 1286, sowie Ruh (1984), S. 172 f. Wie bereits bekannt, ist die Dame hier nicht unschuldig, sie beichtet ihre Vergehen und tut Buße, daraufhin wird sie durch ein himmlisches Wunder rehabilitiert. 110 Vgl. Hohmann (1996), Sp. 770. 111 Vgl. ebd. 73 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale Die kunstvolle Konstruiertheit des Ganzen konnte gezeigt werden, eine ‹ Juridifizierung › der literarischen materia im Sinne der Erzählintention läßt zuletzt auch noch die umständlich genaue Zeitangabe der 32 Jahre erkennen, nach welchen die Königin erst ihre Verbrechen beichtet 112 : Der Zeitraum von 30 Jahren galt als Verjährungsfrist bereits im römischen Recht, von den Franken wurde diese Frist übernommen, allerdings auf 31 Jahre erhöht. Die merkwürdige Zeitangabe taucht dann im späteren Mittelalter wieder auf, man erklärt sie sich «aus der Verschmelzung der römisch-rechtlichen 30- Jahre-Frist mit der deutschrechtlichen Frist von Jahr und Tag». 113 Nimmt man den Zeitraum von «Jahr und Tag» aber genau, so bedeutet er «nach mittelalterlichem Recht die Frist von einem Jahr, sechs Wochen und drei Tagen» 114 , 30 Jahre plus «Jahr und Tag» wären also grob 32 Jahre, damit ist die Strafverfolgung der Königin auf jeden Fall verjährt, sie kann gerichtlich nicht mehr für ihre Morde belangt werden. 115 Die schön inszenierte Reue tritt eben nicht zufällig erst nach den wol zwai und dreissig jar (624) auf. 1.8.1 Die Perfektion der Details als Konstruktionsgrundlage Ich möchte beinahe so weit gehen, zu behaupten, daß man in der Unschuldigen Mörderin kaum einen Handlungsvorgang finden wird, der nicht sorgfältig motiviert ist. Gerade weil diese Motivierungen aber auf minimalem Raum umgesetzt werden, oft nur in einem einzigen Vers, überliest man sie sehr leicht. Warum etwa kann die Gräfin, als ihr der Bruder von dem gehängten Pferdedieb erzählt, sofort wissen, daß es sich dabei um die Begleitung des Ritters gehandelt haben muß, ihr das Schicksal also einen Vorteil verschafft hat? Liest man genau nach, gibt es keine Unstimmigkeiten, der Erzähler hat auch daran gedacht. Als in der vorhergehenden Nacht das fräudenspil (237) auch der Dame Spaß zu machen beginnt, läßt sich der siegessichere Ritter aus dorothem muot (248) zu folgender Bemerkung hinreißen: 112 In den Parallelversionen gibt es solch eine deutliche zeitliche Zäsur vor der Beichte der Protagonistin bei einem Geistlichen nicht. Sowohl die englische Gesta Romanorum-Fassung als auch das Exempel aus der Compilatio Singularis Exemplorum bleiben hier unbestimmt. Im englischen Text heißt es: Afterwarde she was sorye für here synnes, and wente, and was shreuyn to a holy man, [. . .]. Im lateinischen: Tandem remordente consciencia sua cuidam cappellano [. . .] omnia confessa est [. . .]. 113 Vgl. E. Kaufmann : Art. Verjährung. In: HRG 5 (1998), Sp. 734 - 737; Sp. 734 f. 114 Ruth Schmidt - Wiegand (Hg.): Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Ein Lexikon. München 2002, S. 182. 115 Vgl. Kaufmann (1998), Sp. 735. 74 Modellanalysen mein knecht hat gesagt vil war, der küng hab genommen zwar ain böses weib gar verschant. (269 - 251) Dieser Ausspruch besiegelt sein Schicksal und außerdem weiß die Frau nun, daß es noch einen Knecht gibt, der die Sache angezettelt hat. Als ihr dann der Graf von einem vor der Burg herumlungernden Mann mit zwei Pferden berichtet, braucht sie nur eins und eins zusammenzuzählen: Der grauf rait mit hohem muot darnach in sein veste guot und sagt der swester diß geschicht. si gedacht und redet nicht und verstuond gar wol die mär, wie den sachen allen wär. (419 - 424) Dieselbe Gewissenhaftigkeit der Konstruktion gilt übrigens auch in Hinsicht auf die Darstellung aller Personen. Keine Figur taucht plötzlich auf und wird nie wieder erwähnt oder tritt unmotiviert ab, begonnene Handlungsfäden laufen nicht ins Leere. Selbst jener wachter (96), der vom Knecht des Ritters in seinen Erklärungen, wie dieser sich am besten unerkannt in die Burg einschleichen könne, nur ganz am Rande erwähnt wird, hat seine Funktion. Zunächst ist er es, bei welchem der Ritter in der Maske des Königs Einlaß begehrt (154 - 166), doch hätte man dafür nicht eigens eine zusätzliche Person ins Geschehen einführen müssen, der portner, der anschließend mit der Gräfin zusammen das Burgtor öffnet 116 , hätte auch diese Rolle übernehmen können. Wichtig wird der Wächter aber indirekt in jener Szene, wo der portner den Ritterleichnam in die Zisterne werfen will. Seine vom Rezipienten inzwischen wieder vergessene Anwesenheit in der Burg benutzt die Gräfin, um die Beseitigung des portners bewerkstelligen zu können. Sie hat, taktisch geschickt, schon einen Spielzug vorausgedacht, als sie folgende Anweisung gibt: nun puck dich hie gar gewär und las nun mit guotem fleis 116 Kaufringers realistisch motiviertes Erzählen hält auch dafür eine Begründung bereit: Zu einer echten Burg gehört eine Zugbrücke, und dieser Umstand ist der Grund, warum die Dame nicht allein öffnen kann: Zuo dem portner si da gieng. die slüssel si von im empfieng. si patt in haimlich mit ir gan. die slagprugg muost er niderlan. (189 - 192) Außerdem ist auf diese Weise gewährleistet, daß der Torwächter von dem Eingelassenen weiß und damit später, als seine Herrin ihn um Hilfe bittet, die Situation richtig einschätzen und zu seinem Vorteil ausnutzen kann. 75 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale den pottich vallen vil leis in das wasser hin zetal, das der wachter disen val nicht von uns müg hören hie. (346 - 351) Der Torwächter gehorcht diesem gut begründeten Rat und beugt sich so weit es geht in den Brunnen hinab, um die Leiche möglichst lautlos im Wasser versenken zu können. Die Dame ihrerseits hat nun leichtes Spiel. Wäre es realistisch kaum vorstellbar gewesen, daß sie den viel stärkeren Mann einfach so in den Abgrund stürzt, ist der Vorgang jetzt problemlos nachvollziehbar: sie begraif in bei den füessen sein/ und sturzt in in den waug hinein (357 f). Diese Aufzählung genau motivierter Szenen wäre fortsetzbar, sie mag jedoch genügen um zu verdeutlichen, wie jedes Detail dieser Erzählung seine Funktion für den plot erfüllt. Jene Stringenz der strukturellen Konstruktion, die auf der Makroebene des Textes herrscht, wo sich einzelne Handlungsteile als Aktion und Reaktion wie in einem Gerichtsprozeß oder wie in einem Spiel gegenseitig bedingen, setzt sich ungebrochen bis in den stimmigen Aufbau der kleinsten Teile fort, die wiederum als Motivierungen voneinander abhängen. Damit zeigt sich Kaufringers «lakonisches» Erzählen 117 als ein formal äußerst artifizieller Vorgang, durchdacht bis ins Detail, dessen Umsetzung auf kleinstem Raum bis ins Große hineinwirkt. Das Knüpfen eines Gewebes aus kleinen Motivierungen ist gerade das besondere Merkmal seines Stils, es macht aufs Ganze gesehen jene radikale Argumentation zugunsten der unschuldigen Mörderin erst möglich. 1.8.2 Zum Problem der Komik in der Unschuldigen Mörderin In letzter Zeit wurde von der Forschung auf die «komischen Strukturen» der Unschuldigen Mörderin hingewiesen. 118 Ich möchte daher kurz auf die Frage nach der Komik dieses Textes zu sprechen kommen, auch wenn die Thematik einer Inszenierung von Komik in der mittelalterlichen Literatur 119 und speziell im Bereich der mittelalterlichen Kurzerzählung 120 ein eigenes Forschungsfeld 117 Grubmüller (2006), S. 179. 118 Keller (2008), S. 344. 119 Vgl. Werner Röcke und Hans Rudolf Velten : Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Berlin/ New York 2005. 120 Vgl. die demnächst erscheinende Habilitationsschrift von Johannes Keller zum Thema ‹ Komik und Lachen in Kurzgeschichten des hohen und späten Mittelalters › , dem ich für die Einsicht in das Manuskript seiner Einleitung herzlich danke. Zur spezifischen Verbindung von Komik und Gewalt in Kaufringers Drei listigen Frauen Johannes Keller : Comique et violence. «Les trois femmes rusées» de 76 Modellanalysen ist, auf dessen vielfältige Differenzierungen hier nicht eingegangen werden kann. Trotzdem scheint es mir in Anbetracht der Bedeutung, die dem argumentierenden Erzähler in der Unschuldigen Mörderin zukommt, um so wichtiger, an jeder für den heutigen Rezipienten komisch wirkenden Stelle zu hinterfragen, wodurch diese Wirkung erzeugt wird. Eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Moral und Komik in der Unschuldigen Mörderin hat Nicola Zotz beschrieben. 121 Sie sieht durch die Gestaltung von Sprach- und Situationskomik innerhalb der Erzählerrede beim Rezipienten eine «Überraschung» über das ‹ außer-ordentliche › , nämlich mordlüsterne Verhalten einer vom Erzähler als untadelig angepriesenen Protagonistin hervorgerufen, die zum Lachen führe. 122 Im Laufe der Erzählung werde so das «schwarz-weiße Raster, das der Erzähler in Promythion und Exposition angelegt hat [. . .] zu uneindeutigen Grautönen verwaschen.» 123 Die Geschichte unterwandere also schon durch die Art, wie sie erzählt sei, Eindeutigkeit. Indem sie Lachen erzeuge, verweise diese Kompensationsreaktion den Rezipienten auf sich selbst. Diese Überlegungen scheinen mir sehr interessant, bedürfen jedoch vor dem Hintergrund der kasuistischen Erzählstruktur einer weiteren Differenzierung. Zotz argumentiert im Wesentlichen entlang der Morde als Gelenk- oder Umschlagsstellen der Handlung. Der Vergleich mit den Parallelen erlaubt hier, die Frage der Komik kontextualisierend zu überdenken: Die oben anhand des Schemas aufgezeigte ‹ Hebelmechanik › , in der sich das Geschehen als serielle Reihung vollzieht, eignet bereits den exemplarischen Ausformungen des Stoffes. 124 Die Struktur ist dort jedoch finalisiert, was ihr die legendarische Heinrich Kaufringer. In: Luciano Rossi : La circulation des nouvelles au Moyen Âge. Actes de la journée d ’ études (Université de Zurich, 24 janvier 2002). Alessandria 2005, S. 201 - 222. In seiner «fundierenden Heuristik» (S. 112) des in Märentexten erzählten Lachens bemerkt Klaus Grubmüller : Wer lacht im Märe - und wozu? In: Röcke (2005), S. 111 - 124; S. 120, «die lakonischen Schlagsequenzen Kaufringers» gäben «dem Lachen keinen Raum». 121 Nicola Zotz : Grauzonen. Moral und Lachen bei Heinrich Kaufringer. In: Christiane Ackermann und Ulrich Barton : «Texte zum Sprechen bringen». Philologie und Interpretation. FS für Paul Sappler. Tübingen 2009, S. 195 - 207. 122 Vgl. Zotz (2009), S. 201. 123 Ebd., S. 204. 124 Wenn Willers (2002) über Schwankmuster in der Unschuldigen Mörderin nachdenkt, so tut sie das nicht im Hinblick auf Komik, sondern sieht solche Muster «in einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang legitimiert» (S. 129), liest damit den Text letztlich als legendarisch, ohne sich jedoch den Brüchen zu stellen, die einer solchen Deutung entgegenstehen: Mit dem Wunder kappt Kaufringer schließlich das für die Legende konstitutive Element, womit eine transzendent verbürgte Legendenlogik umschlägt in eine rhetorisch herzustellende Argumentationslogik. 77 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale Spezifik menschlicher Verstrickung in ein Schicksal gibt, die erst durch göttliche Rettung gelöst werden kann. Mit der Auflösung dieser theologischen Finalisierung bei Kaufringer wird auch die Geschehensstruktur frei für die Anlagerung komischer Wirkungen. Dies mag eine Erklärung sein, warum dem heutigen Rezipienten die Häufung besonderer Umstände und die unwiderrufliche Verstrickung der Protagonistin in diese ‹ komisch › erscheinen kann und Lachen - als Kompensationsreaktion für nicht Einzuordnendes - hervorruft. Es stellt sich damit die Frage, ob wir es hier mit einer intendierten komischen Wirkung zu tun haben oder mit einer Reaktion auf das ‹ Andere › der tradierten Erzählstruktur. Ich meine, mit Letzterem, denn den Eindruck von Mordlüsternheit der Protagonistin zu erwecken, ist die tradierte Handlungsstruktur per se geeignet. Im Vergleich mit den Parallelen hat sich gezeigt, daß Kaufringer in seiner Zeichnung der Figur darauf bedacht ist, diesen Eindruck möglichst zu vermeiden und durch den von der Notwehr eines unschuldigen Opfers zu ersetzen. Serialität und Kontingenz werden hier m. E. nicht wie in einigen anderen Mären - etwa Rosenplüts Fünfmal getötetem Pfarrer oder den Drei Mönchen zu Kolmar des Niemand - genutzt, um Komik zu erzeugen. 125 Sie versinnbildlichen eher eine catena fatalis, die Verkettung unglücklicher Umstände für die Protagonistin. Es gibt jedoch eine von der Erzählerrede intendierte Komik an auffällig gut erzählten Stellen, die jeweils auf eine bestimmte Wirkung zielt. Als Argumentationsmittel für den Standpunkt des Erzählers erscheint etwa «die Ironie des schon Sterbens, um dafür den (im Reim stehenden) lon zu erhalten» 126 , wie sie nach dem Tod des portners auch auf den der Kammerjungfer kommentierend angewandt wird: in der kamer da verpran/ die junkfraw ze pulver schon./ also ward ir der recht lon (612 - 614). Der schwarze Humor oder die Schadenfreude, die man dieser gewissenhaften Akribie des Erzählers in Bezug auf die Schilderung der Todesarten ablesen kann, steht ganz im Zeichen des Beweisziels: Das schwarze Lachen legitimiert das Handeln der Protagonistin. 127 Ein solcher Erzählgestus instrumentalisiert damit Komik für die 125 Vgl. Volker Schupp : Die Mönche von Kolmar: Ein Beitrag zur Phänomenologie und zum Begriff des schwarzen Humors. In: Werner Besch u. a. (Hg.): Festschrift für Friedrich Maurer. Düsseldorf 1968, S. 199 - 222; sowie Michael Waltenberger : Der vierte Mönch zu Kolmar. Annäherungen an die paradoxe Geltung von Kontingenz. In: Cornelia Herberichs und Susanne Reichlin (Hg.): Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur (= Historische Semantik 13). Göttingen 2010, S. 226 - 244. 126 Zotz (2009), S. 205. 127 In diesem Sinne differenzierungsbedürftig wären auch die Überlegungen zur Unschuldigen Mörderin von Walter Haug : VI. Der Widersinn, das Gelächter und die Moral. In: Ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und 78 Modellanalysen rhetorischen Zwecke des Erzählers. Er wird folgerichtig auch nicht auf die Hauptfigur angewandt, sondern nur auf ihre Gegner. Andere Szenen scheinen mir noch deutlicher Grenzfälle zu sein, bei denen die in unseren Augen komische Wirkung untrennbar an eine besondere Bildlichkeit von Kaufringers narrativem Stil gekoppelt ist, die sich, wie oben bereits gezeigt, gerne im Detail artikuliert. Etwa, wenn der Torwächter und die Dame die sterblichen Reste des Ritters hinunter zur Zisterne tragen: den toten körpel nam er trat und swang in über den hals sein; das haubt truog das frawelein. (340 - 342) Zotz sieht hier eine deutliche «Sprach- und Situationskomik» vorliegen, die den Rezipienten schmunzeln lasse über die diminutivische Bezeichnung der kaltblütigen Mörderin oder lachen mache über die Tatsache, daß ein so brutaler Mord von einer zarten Frau verübt wurde. 128 Unterwandert die Komik dieser Szene den Standpunkt des Erzählers, der ansonsten keinen Zweifel an seiner positiven Haltung der Dame gegenüber läßt? Oder ist diese Komik eher als ‹ Nebenprodukt › eben jener Bemühungen des Erzählers um eine positive Darstellung der Frau zu begreifen? Denkt man pragmatisch von der Seite der Handlungsmotivierung her, so wird hier dem Umstand, daß wenige Zeit vorher die Gräfin dem schlafenden Ritter das haubet von dem pottich (279) geschnitten hat, mit der erzählerisch genauen Auskunft Rechnung getragen, daß selbiger nun auch in zwei Teilen zum Brunnen geschafft werden muß. Dabei übernimmt der stärkere portner den Transport des toten Körpers. Die Szene ist insofern die wörtliche Einlösung dessen, was vorher die Dame dem Gehilfen sagte: in trewen will ich dich nun pitten, das du mich des wölst gewern, den pottich würf in die cistern. der pottich ist ze sware mir; so will ich auch gaun mit dir und will das habt darein tragen. (296 - 301) Die diminutivische Betonung ihrer weiblichen Konstitution motiviert sich logisch also auch aus dem Handlungsgeschehen und könnte mit dem Bemühen um Nachvollziehbarkeit begründet werden. Trotzdem entbehrt die Stelle nicht geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 2003, S. 343 - 409; S. 368. Haug sieht in der Kette der Morde ein rein «intellektuelles Spiel». Wie oben ausgeführt, steht die engagierte Stellungnahme des Erzählers jedoch solch einer Rezeption der Serialität entgegen. 128 Vgl. Zotz (2009), S. 202. 79 Die unschuldige Mörderin - Das genus iudiciale einer assoziativen Komik, die sich auch aus dem Reim und der sprachlichen Rhythmik der Verse speist: Wie dieser kleine Nachsatz den beschwerten Versen zierlich leichten Schrittes hinterher eilt (342), kann man sich Fräulein und portner hier vorstellen. Dabei evoziert vor allem das gestelzt höfliche Diminutiv eine feinsinnige Zartheit, die im krassen Kontrast zu jenen die Szene bestimmenden grausig abgetrennten Körperteilen steht. Wohlgemerkt steckt dieses assoziativ so reiche Bild in drei Verszeilen, perfekte Konstruktion also auch auf kleinstem Raum. 1.8.3 Fazit Über die strukturelle Analyse der Textdisposition gibt sich Kaufringers Erzählung von der Unschuldigen Mörderin damit als spielerisch konstruierte controversia zu erkennen: Narrativ ausgeformt, wird die argumentatio zum Strukturmodell für widerstreitende Vorgänge sowohl auf der Ebene der Figurenaktion als auch auf der des Figurendialogs. Schließlich läßt sich auf der Diskursebene der Erzähler als ‹ Verteidigungsanwalt › seiner Protagonistin erkennen, der selbst rhetorische Argumentationsmuster einsetzt, um den Rezipienten von der Unschuld seiner Figur zu überzeugen. Noch eine Ebene weiter gedacht im literarischen Kommunikationsmodell - also nun auf der Ebene der Textproduktion - befindet sich der Autor Kaufringer, der nachweislich Veränderungen an der materia vornimmt, die sich im Rahmen geltender Bestimmungen rechtshistorischer Codices als Juridifizierungen des Stoffes identifizieren lassen. Diese juridifizierenden Eingriffe in den Stoff dienen ebenfalls dazu, die Protagonistin von Schuld zu entlasten. Kaufringers Erzählen stellt sich hier als eines dar, das auf die Wirkung des Überzeugens berechnet ist. Um diesen argumentativen Grundgestus der Narration zu profilieren, erwies sich das System der Rhetorik als das adäquate Untersuchungsinstrument. Kaufringers spielerische Inszenierung des Stoffes als Kasus distanziert seinen Text nicht nur von einer eindeutigen moralischen Auslegung, weil klar wird, daß auch der Erzähler hier eine Rolle spielt; er installiert damit ein neues narratives ‹ Format › : die Fallerzählung als Konstruktions- und Argumentationsspiel. 80 Modellanalysen 2 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente und die Parodie der controversia 2.1 Kasus und Schwank Kaufringers Erzählung vom Feigen Ehemann zeichnet sich durch eine überdurchschnittliche Präsenz des Erzählers in einem breiten Pro- und Epimythion aus. 129 Ain schädlin wärlich pesser ist dann ain schad ze aller frist. (1 f) Man solle von zwei Übeln immer das kleinere wählen, rät der Erzähler im Promythion dieses Textes und bringt sogleich drei Beispiele, die den sprichwörtlichen Ratschlag veranschaulichen: Hände und Füße zu verlieren ist besser als lebendig begraben zu werden. Um einen Stadtbrand zu verhindern, sei es besser, ein brennendes Haus niederzureißen. Und schließlich bitte der Dieb darum, geköpft anstatt gehängt zu werden, um seine Ehre zu behalten. Eine aubentür (21) werde nun erzählt, die triffet dise red an zwar/ etwie vil und doch nit gar (23 f): In Straßburg hat ein reicher Mann eine Frau, die so frumm, schön und rain (42) ist, daß man nirgends auf der Welt eine bessere findet. Superlative provozieren, und so lockt ihre Tadellosigkeit einen Ritter an, der ihr deutliche Avancen macht. Weil die Frau sich durch solches Verhalten gekränkt fühlt und fürchtet, ihr Ansehen könne Schaden nehmen, erzählt sie ihrem Mann davon. Dieser hat sogleich einen Plan bei der Hand: Die Frau solle auf den nächsten Annäherungsversuch des Ritters zum Schein eingehen und ihn zu sich in ihre Schlafkammer bestellen. Dort wolle er versteckt warten und dem Verehrer seine Frechheit auf eine Weise heimzahlen, «das er fürbas ewiclich/ mit guotem frid muoß lassen dich» (79 f). Beim nächsten Zusammentreffen führt die Ehefrau gehorsam den Plan aus und bestellt ihren Verehrer noch für denselben Tag zu sich nachhause. Im panzer stark und vein (126) 129 Das Verhältnis von Erzählerrahmen und Binnengeschichte beträgt 49 zu 247 Versen. In Anbetracht der relativen Kürze des Feigen Ehemannes von insgesamt 296 Versen wird ein doch beträchtlicher Anteil der ‹ Sprechzeit › für die Kommentierung verwendet. Der Text wird zitiert nach der Ausgabe Grubmüller (1996), S. 720 - 737. 81 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente hat sich der Ehemann hinter einer Truhe versteckt, der eintretende Ritter dagegen kommt im zivilen Rock, er trägt keinen Harnisch und statt des Schwertes nur einen kleinen Dolch. Als die Frau, in der Absicht, ihrem Mann in seinem Versteck Mut zu machen, diese mangelhafte Ausrüstung lautstark bemerkt, veranlaßt das den Ritter zu einer Demonstration seiner Stärke und der Güte seines Messers: Er nimmt eine sechsfache Panzerplatte, die im Zimmer hängt, und durchsticht sie mit seinem Dolch. Die Vorführung tut ihre Wirkung, wenn auch nicht so, wie vom Ritter beabsichtigt. Hinter der Truhe bekommt es der stille Beobachter der Szene mit der Angst zu tun und verwirft kurzerhand seinen Plan. Um sein eigenes Leben zu schützen beschließt der Ehemann, in seinem Versteck zu bleiben, wie es halt dem weib erge (192). Der entflammte Verehrer nimmt sich nun trotz ihres Widerstandes, weshalb er gekommen ist: Die Situation endet in einer Vergewaltigung, der der Ehemann tatenlos zusieht. Als danach der Ritter gegangen ist, findet die Frau ihren Gatten im Harnisch mit gezücktem Schwert noch immer hinter der Truhe sitzend und macht ihm bittere Vorwürfe, weil er ihr nicht zu Hilfe gekommen sei. Darauf hat er nun eine spitzfindige Antwort parat, die argumentativ auf eben jener Sentenz aufbaut, mit welcher der Erzähler die Geschichte im Promythion eingeführt hatte: ain schädlin ist doch pesser zwar/ dann ain schad, das wiß fürwar! (259 f) Zwar habe sie gelitten, das sei aber nur ein schädlein (272) im Vergleich zu dem großen Schaden, daß der Ritter ihn mit seinem scharfen Messer, das erwiesenermaßen Panzer durchstechen könne, umgebracht hätte, wäre er aus seinem Versteck hervorgekommen. An dieser Stelle schaltet sich der Erzähler mit einem Epimythion ein: Für war ich nun sprechen sol: / er hat war und doch nit gar. (274 f) Er skizziert eine dritte Lösung, mit der jeglicher Schaden hätte vermieden werden können, wenn nämlich der Ehemann aufgetreten wäre, bevor sich die Situation zugespitzt hätte und ohne den Ritter angreifen zu wollen. Weil er aber vorsätzlich seine Frau im Stich gelassen habe, seien schand und laster (287) sein gerechter Lohn und der zornige Erzähler wünscht ihm bis an sein Lebensende das Unglück an den Hals. Ein Spezifikum des Kaufringerschen Textes ist nach Grubmüller das «ungerührt einsinnige Fazit», das der Ehemann zieht: «Wie häufig führt Kaufringer die Exempel-Perspektive des Märe konsequent zu Ende: hier endet sie im Zynismus.» 130 Dies gilt jedoch nur, wenn man das Epimythion ausspart, denn dort wendet sich der Erzähler ausdrücklich gegen den Standpunkt des Ehemannes, indem er dessen Argumentation mit der Weisheit vom kleineren und größeren Schaden als bloße Feigheit entlarvt. Zynismus wäre daher allenfalls der Figur des Ehemannes zu unterstellen, nicht jedoch als eindeutige Erzählintention des gesamten Textes zu destillieren. 131 130 Grubmüller (1996), S. 1272; und ebenso Grubmüller (2006), S. 184: «Der Kasus bestätigt den Satz nicht (wie der exempelhafte Eingang erwarten läßt), er denunziert ihn. Und damit führt er auch das exempelhafte Erzählen ad absurdum.» Kritisch dazu auch Steinmetz (1999), S. 71 f. 131 Zu dem Ergebnis, der Feige Ehemann propagiere mit dem nüchternen Kalkulieren des Ehemannes eine unnachsichtige Durchsetzung des eigenen Vorteils, kommt die 82 Modellanalysen Bereits der Eindruck der «Unzuverlässigkeit» des Erzählers im Promythion problematisiert freilich das herkömmliche Konzept exemplarischen Erzählens. 132 Welchen Wert hätte ein Exempel, das auf den zu veranschaulichenden Satz ‹ ein Stück weit, aber doch nicht ganz › zutrifft? Der Befund erhärtet sich mit einem Blick auf das Epimythion, denn auch der hier formulierte Widerspruch des Erzählers gegen seine eingangs selbst aufgestellte Sentenz ist als «theoretisch unzuverlässiges Erzählen» zu fassen. 133 Wie ist das zu verstehen? Das Erklärungsmodell eines ‹ schizophrenen › Erzählers dürfte wohl nicht in Frage kommen, genau diesen Eindruck vermittelt jedoch bei einer ersten Lektüre das Erzählverhalten. Stede legt diese Uneindeutigkeit als Hilflosigkeit des Erzählers aus angesichts eines unauflöslichen Interessenkonflikts der Ehepartner: «der moralische Anspruch der Frau auf solidarische Unterstützung durch ihren Mann vs. das Eigeninteresse des Mannes» vor dem Hintergrund christlicher Idealauffassung ehelicher Einheit. 134 Die Relevanz eines ehemoralischen Diskurses für die Interpretation dieses Textes sei dahingestellt 135 , als Hilflosigkeit wird man aber gerade einem seine Geschichten sorgfältig konstruierenden Autor wie Kaufringer die Widersprüchlichkeiten des Textes nicht auslegen wollen. 136 Der offensichtlichere Befund scheint zu sein, daß Eindeutigkeit hier gar nicht intendiert ist. Die Crux dieses Textes ist gerade im dialektischen Verhältnis von Rahmenkommentierung und Binnengeschichte zu suchen: In der vom Erzähler offen zur Schau gestellten Diskrepanz zwischen einleitender Sentenz und Geschichte (die triffet dise red an zwar/ etwie vil und doch nit gar, mentalitätsgeschichtliche Studie von Werner Röcke : schade und market. Zum Wandel feudaler Selbstverständigung im höfischen und schwankhaften Märe des Spätmittelalters. In: Danielle Buschinger : Sammlung - Deutung - Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. Festschrift für Wolfgang Spiewok zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1988, S. 301 - 313. Röckes Interpretation läßt dabei jedoch das Pro- und Epimythion unberücksichtigt. 132 Ingrid Kasten : Erzählen an einer Epochenschwelle. Boccaccio und die deutsche Novellistik im 15. Jahrhundert. In: Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer : Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Tübingen 1999, S. 164 - 186; S. 184. 133 Martínez / Scheffel (1999), S. 101. 134 Stede (1993), S. 65. 135 Der Text thematisiert diesen Aspekt nicht ausdrücklich im Gegensatz etwa zu Kaufringers Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar, in welcher das an Mk 10,8 anschließende Bibelwort ain man und auch sein eweib/ zwuo sel und ainen leib/ süllen mit ainander haun (3 - 5) einleitend zitiert wird und für die folgende Geschichte den zentralen Diskussionspunkt darstellt. 136 Dies bezweifelt auch Kasten (1999), S. 184. 83 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente 23 f) öffnet sich ein «Spielraum der Bewertung». 137 Er öffnet sich gleichfalls im streitbaren Verhältnis des Erzählers zu seinem eigenen Protagonisten. Steinmetz hat darauf hingewiesen, daß hier die «kasuistisch genaue Unterscheidung zwischen dem pragmatischen und dem moralischen Gesichtspunkt der Handlung» charakteristisch sei: Als Kriterium für die Verwerflichkeit und Strafbarkeit einer Handlung tritt das Prinzip der Intentionalität neben die für die Gattung typische Schwankmoral, wenn nicht sogar an ihre Stelle. 138 Ein Interesse am juristischen Gehalt des Falles scheint also bei Kaufringer im Vordergrund der Bearbeitung zu stehen. Wie in der Unschuldigen Mörderin geht es wieder um die Frage der Schuld, um die Frage nach einer Lösung des Kasus. Trotzdem aber sind schwankhafte Elemente des Stoffes nicht zu übersehen. Wie paßt das zusammen? Wie verhält es sich mit der Komik, die anfangs durch die räumlich ausagierte Dreieckskonstellation erzeugt, dann aber mit der Vergewaltigung abrupt gebrochen und schlußendlich mit dem Erzählerkommentar sogar verneint wird? Um diesen Fragen nachzugehen, die Spezifik des Kaufringerschen Textes genauer in den Blick zu bekommen, führt der Weg wieder über die vergleichende Analyse von motivlich verwandten Texten. Verschaffen wir uns dafür zunächst eine Orientierung über das Material. 2.2 Der Stoffkreis Die weitgehende Ähnlichkeit der Handlungsstruktur von Kaufringers Feigem Ehemann mit der vierten Novelle Le Cocu armé aus den Cent Nouvelles nouvelles 139 ist bekannt. 140 Es gibt nur einen einzigen größeren Unterschied, der darin besteht, daß der Vorfall des Ehebruchs vor den Augen des Gatten im 137 Vgl. Friedrich (2005), S. 231. 138 Steinmetz (1999), S. 72. 139 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe Pierre Champion : Les cent nouvelles nouvelles. Genf 1977, Nr. 4; S. 26 - 29. Le Cocu armé ist ein Forschungstitel, im Original ist der Text titellos. Deutsche Übersetzungen unter dem Titel Der Hahnrei in Waffen von Walter Widmer : Ein französisches Hexameron. Sechzig alte französische Novellen und Schwänke ausgewählt, übertragen und mit einem Nachwort versehen von Walter Widmer. Zürich 1986, S. 247 - 251, sowie Alfred Semerau und Peter Amelung : Die hundert neuen Novellen. München 1965, S. 62 - 67. 140 Zum ersten Mal weist Artur L. Stiefel : Zu den Quellen Heinrich Kaufringers. In: ZfdPh 35 (1903), S. 492 - 506 darauf hin. 84 Modellanalysen französischen Text gedoppelt wird, indem der Verehrer noch einmal zurückkehrt, der Ehemann daraufhin wieder in sein Versteck verschwinden muß. Es läßt sich hier von einer Parallelfassung zum Feigen Ehemann Kaufringers sprechen. Eine Basis für den detaillierten Vergleich der beiden Texte ist damit gegeben. 141 Ihre Ähnlichkeit kann sogar noch auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks nachverfolgt werden, da sich einige Stellen mit den gleichen Formulierungen finden. 142 Die Cent Nouvelles nouvelles entstanden am Hof des burgundischen Herzogs Philipp des Guten, ihm sind sie gewidmet, so daß sich mit seinem Todesjahr 1467 für ihre Entstehung ein terminus ante quem ergibt. Die Hinweise auf historische Ereignisse in den Novellen selbst setzen als frühesten Entstehungszeitpunkt 1456, damit läßt sich als Datierung für die Cent Nouvelles nouvelles der Zeitraum 1456 - 1467 festlegen. 143 Es existiert der Hinweis, daß sie bereits vor 1467 aufgeschrieben wurden, die einzige überlieferte Handschrift wird jedoch zwischen 1480 und 1490 datiert 144 , aus diesem Zeitraum stammt auch die erste Pariser Druckfassung (1486). 145 Die Entstehung von Kaufringers Feigem Ehemann um 1400 und die Niederschrift im Augsburger cgm 270 aus dem Jahr 1464 sind daher als primär anzunehmen. Eine direkte Abhängigkeit schließt Grubmüller aus diesen chronologischen wie überlieferungsgeschichtlichen Gründen aus, vielmehr könnten beide Texte auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. 146 Als Argument für eine solche Vorlage sieht schon Stiefel die wörtlich übereinstimmenden Stellen zwischen Feigem Ehemann und Cocu armé. Er spricht sich dafür aus, «ein altfranzösisches Fablel» als Quelle anzunehmen, das Kaufringer in deutscher Über- 141 Einen solchen unternehmen Stede (1993), S. 58 - 65 und Willers (2002), S. 80 - 92, zum Zwecke der Profilierung des Kaufringerschen Textes. 142 Stiefel (1903), S. 503 führt sie auf. 143 Siehe Roger Dubuis: Art. Cent Nouvelles nouvelles. In: LexMA 2 (1983), Sp. 1618 f; Sp. 1618 und Hermann H . Wetzel: Art. Cent nouvelles nouvelles. In: EM 2 (1979), Sp. 1182 - 1189; Sp. 1182. 144 Im Bibliotheksinventar der burgundischen Herzöge, das 1467, im Todesjahr Philipps des Guten angefertigt wurde, ist eine Handschrift der Cent Nouvelles nouvelles erwähnt, den Wortlaut der Urkunde notiert Champion (1977), S. LVII. Diese Handschrift ist jedoch nicht überliefert und stimmt wahrscheinlich nicht mit dem einzigen erhaltenen Manuskript (Glasgow, Fonds Hunter, num. 252) überein, das nach Champion (1977), S. LVI durch einen Fehler beim Abschreiben der Zahlen fälschlich auf 1432 datiert ist (Hauptgründe sind die historischen Referenzen in den Texten, die auf eine Entstehung zwischen 1456 - 1461 weisen), wohingegen er eine Datierung zwischen 1480 und 1490 vertritt, vgl. Wetzel (1979), Sp. 1182. 145 Vgl. Wetzel (1979), Sp. 1182. 146 Grubmüller (1996), S. 1271. 85 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente setzung rezipierte. 147 Die These von der unbekannten Vorlage muß jedoch auch in diesem Fall vorerst ein Konstrukt bleiben. Mit Sicherheit läßt sich aber aus der inhaltlichen und an einigen Stellen sogar sprachlichen Stimmigkeit des deutschen und des französischen Textes folgern, daß Kaufringer mit dem Feigen Ehemann eine schriftliche Quelle bearbeitet hat. 148 Diese Vermutung wird durch eine Quellenberufung im Promythion unterstrichen: ain aubentür beschehen ist/ vor zeiten, als man davon list (21 f). 149 Vielleicht wäre die auffällige Situierung des Feigen Ehemanns in Straßburg als Hinweis auf die französischen Wurzeln des Stoffes zu werten, denn Kaufringer wählt bei Angabe des ‹ Aufführungsortes › seiner Erzählungen ansonsten meist das regional nahe gelegene Augsburg. 150 Doch auch die Frage nach der stofflichen Quelle der vierten Novelle aus den Cent Nouvelles nouvelles, «qui est l ’ aventure d ’ un archer écossais», hat noch keine Antwort erhalten. Champion hält die Novelle interessanterweise für die Verarbeitung einer historischen Begebenheit aus der Zeit des Hundertjährigen Krieges zwischen Frankreich und England (1337 - 1453). 151 Er kann auf das Dokument einer gerichtlichen Audienz Philipps des Guten verweisen, das von einem Fall berichtet, dessen Ausgangssituation tatsächlich erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Cocu armé aufweist: Verhandelt wird auf die Eingabe eines 147 Vgl. Stiefel (1903), S. 503. 148 Vgl. ebd., S. 504. 149 Die allgemeine Formulierung, man könne davon (= von dieser Geschichte) lesen, legt nahe, daß die Quelle weit verbreitet und allgemein zugänglich war. Daß es sich bei den Quellenberufungen Kaufringers nicht um stehende Floskeln, sondern um authentische Angaben handeln könnte, dafür spricht etwa der sparsame Einsatz solcher Hinweise auf die Tradition eines Stoffes in seinem gesamten Textcorpus. Außerdem unterscheidet er bei Quellennennungen zwischen schriftlich und mündlich, so heißt es etwa in der Frommen Müllerin: Ain müllerin vor zeiten was; / von der vind ich geschriben das, dagegen in der Suche nach dem glücklichen Ehepaar: Es ist ein altes sprichwort; / das haun ich vil oft gehort (1 f) oder davon haun ich fürgenommen/ ain aubentür pin ich ankomen,/ die vor zeiten beschehen ist (9 - 11) im Zurückgegebenen Minnelohn; auch scheint Kaufringer selbstbewußt seine Eigenleistung herauszustellen, wenn es im Promythion zu den Drei listigen Frauen B heißt: ain aubentür ich davon schreib; / die ist mir gevallen ein (6 f). 150 Der Mönch als Liebesbote B und Chorherr und Schusterin etwa spielen in Augsburg, in Chorherr und Schusterin wird aus den regional benachbarten schwäbischen Orten Widergeltlingen (Wiedergeltingen) und Dürkain (Türkheim) ein Wortspiel konstruiert (V. 116 f), siehe Sappler (1972), S. 289. Der überregionale Schauplatz Erfurt für die Geschichte von Bürgermeister und Königssohn erklärt sich aus der dort ansässigen Universität, die den Auftritt der Studentenfigur motiviert. 151 Champion (1977), S. XVII: «Une histoire réelle, sans doute, arrivée pendant la guerre de Cent ans.» 86 Modellanalysen gewissen Jacot Barcueille hin, dessen Frau von einem gewissen Estevenin d ’ Escoste, also einem, der den ‹ Schotten › zumindest im Namen trägt, der Hof gemacht wird. Als Jacot die beiden eines Nachts bei seiner überraschenden Heimkehr miteinander im Bett antrifft, ermordet er in blinder Wut den Estevenin. 152 Allerdings ergeben sich hier Datierungsschwierigkeiten, macht man den konkreten Versuch, die Quelle des Cocu armé tatsächlich in diesem realen Gerichtsfall zu sehen, dem der Verfasser der Cent Nouvelles nouvelles dann für seine Sammlung die schwankhafte Wendung gegeben, ihn damit literarisiert hätte. Der Fall datiert auf das Jahr 1455, hält man an einer Datierung für Kaufringers Schaffen um 1400 fest, muß man also auch bei der Hypothese einer bereits früher existenten Quelle für den Stoff bleiben. 153 All diese Hinweise lassen sich damit, so vielversprechende Anhaltspunkte sie auch bieten, (noch) nicht zu einem vollständigen Bild zusammensetzen, was die Herkunft des Stoffes wie die Abhängigkeit der Erzählungen voneinander betrifft. Wenden wir uns den Texten zu, deren vergleichende Betrachtung sichere Aussagen zuläßt. Bei aller Parallelität des Plots dieser beiden Fassungen sind sie doch auf völlig unterschiedliche Art und Weise erzählt. Ein differierender Umgang mit der materia zeigt sich besonders auf dem Gebiet der Komik: Das Erzählgelände, auf dem eine rückhaltlose Komik sich entfalten kann, ist in der französischen Version zweifellos größer als in der deutschen. [. . .] Die französische Version arbeitet mit dem grelleren Witz und läßt burleske Konstellationen ausagieren. Die deutsche Version bietet denselben Kasus keineswegs versöhnlicher, nur 152 Ebd., S. LXXVIII. Aufgrund vielfältiger Übereinstimmungen der Geschichten aus den Cent Nouvelles nouvelles mit dokumentierten Gerichtsfällen aus den Audienzenregistern Philipps des Guten stellt Champion die These auf, daß die Erzähler der Cent Nouvelles nouvelles sich von solchen Kasus hätten inspirieren lassen. Champion weist darauf hin, daß in den historischen Quellen Philipps des Guten das gleiche Wort, «l ’ audience» sowohl die Gerichtssitzungen als auch die Versammlungen bezeichnete, bei denen man Geschichten wie die Cent Nouvelles nouvelles hörte, vgl. S. LXIIf. Eine solche Nähe von Rechtsprechung und Unterhaltung, das Changieren von Kasus zwischen Realität und Fiktion, die Tatsache, daß man sie erzählen kann, um sie ernsthaft zu beurteilen oder nur zur Unterhaltung, wobei man sie, um das Vergnügen zu erhöhen, zu einer komischen Pointe zuspitzt, zeigt die Nähe von Recht und Literatur gerade im Bereich der kleinen Erzählformen des Mittelalters, v. a. der Novellistik. 153 Zur biographischen Identität Heinrich Kaufringers siehe die Einleitung der Arbeit. Auf eine - direkte oder indirekte - Kenntnis des französischen Textes durch Kaufringer weisen die Übereinstimmungen von sprachlichen Wendungen hin. Auch die Unterschiede des Feigen Ehemannes im Vergleich zum Cocu armé könnten als Bearbeitungstendenzen Kaufringers sinnfällig gemacht werden, der die französische Version mit veränderter Intention wiedererzählt hätte. 87 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente bedächtiger und behutsamer motivierend, gleichsam in einem Zeitlupentempo, das dem Interesse von Bastlern und Tüftlern entgegenzukommen scheint. 154 Warum nimmt Kaufringer den Fall ernster als es die französische Ausarbeitung der materia tut? 155 Ich möchte an dieser Stelle den Blick etwas weiten und zusätzlich einige Texte vergleichend einbeziehen, die mit stärker differierendem Plot denselben ‹ Kern › ausarbeiten. Er ist zu definieren als die Geschichte vom «sich selbst betrügenden Ehemann [. . .], der seine Frau (aus Geiz, aus Habgier, aus Rache) einem Liebhaber in der sicheren Hoffnung zur Verfügung stellt, daß dieser nicht zum Ziele kommt, sich darin aber getäuscht sehen muß». 156 Dieses Grundgerüst ist sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner aller angeführten Texte, man kann es als Rekonstruktion des durch mündliche oder schriftliche Tradierung kursierenden Falles verstehen, den sie alle aufgreifen. Was machen also andere Bearbeiter aus dieser Fallkonstellation? Ich betrachte zusätzlich die italienische Novelle Nr. 36 aus der Sammlung Le Porretane des Sabadino degli Arienti (1478) 157 , die die gleiche Exposition wie 154 Hartmut Kugler : Grenzen des Komischen in der deutschen und französischen Novellistik des Spätmittelalters. In: Ingrid Kasten , Werner Paravicini und Réne Pérennec : Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Sigmaringen 1998, S. 359 - 371; S. 367. 155 Fast verfällt man bei diesem Befund in das Denkmuster nationaler Klischees, wie Kugler (1998), S. 359 - 371 ausführt: die gedankenschweren Deutschen und die lebenslustigen Franzosen. Weil solche Argumentation jedoch schnell in eine bedenklich nationalistische Sackgasse führt, ist hier nicht weiterzukommen. Kugler (1998), S. 370 setzt dagegen die These einer Affinität spätmittelalterlicher Schwanknovellistik, insbesondere ihrer räumlich erzeugten Komik, zum Phänomen der Urbanisierung, weist also darauf hin, daß für eine vergleichende Betrachtung von Texten auch deren kulturspezifische Kontexte einbezogen werden sollten. Zur Verbindung von Räumlichkeit und Komik speziell bei Kaufringer jetzt Sebastian Coxon : Keller, Schlafkammer, Badewanne. Innenräume und komische Räumlichkeit bei Heinrich Kaufringer. In: Burkhard Hasebrink , Hans-Jochen Schiewer , Almut Suerbaum und Annette Volfing : Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. 19. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Tübingen 2008, S. 179 - 196. Ich komme in Abschnitt 2.3.3. auf dieses Thema zurück. 156 Grubmüller (1996), S. 1271. 157 S. B. Chandler : Art. Arienti, Giovanni Sabadino degli. In: Dizionario critico della Letteratura Italiana 1 (1974), S. 112 f. Die Sammlung Le Porretane entstand damit deutlich später als Kaufringers Feiger Ehemann und die Cent Nouvelles nouvelles. Ihr Autor, der Bologneser Notar und Chronist Sabadino degli Arienti lebte ca. 1445 - 1510, er war Sekretär des Grafen Andrea Bentivoglio, der im Rahmen des Porretane auch selbst als Erzähler auftritt. Der Text wird zitiert nach der Ausgabe Bruno Basile : Giovanni Sabadino degli Arienti, Le Porretane. Rom 1981, S. 314 - 318 (Nr. 36); die deutsche Übersetzung der zitierten Stellen stammt von mir, C. R. 88 Modellanalysen der Feige Ehemann und der Cocu armé aufweist. 158 Die Frage einer Abhängigkeit von der Version der Cent Nouvelles nouvelles bleibt noch zu klären. 159 Außerdem existiert die Fallkonstellation sehr verknappt und deutlich auf eine Pointe zugespitzt als Bebelsche Fazetie. 160 Obwohl das 17. Stück aus Bebels zweitem Fazetien-Band 161 nicht mit Kaufringer in engere Verbindung zu bringen ist, was die Ausgestaltung des Plots betrifft, wird es kontrastiv einbezogen, da hier wie bei Kaufringer eine Problematisierung des Vorfalls als Vergewaltigung der Frau vorliegt. Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht der Ergebnisse des Textvergleichs: 158 Grubmüller (1996), S. 1271 nennt zusätzlich die 52. Novelle dieser Sammlung, vgl. Basile (1981), S. 436 - 445 (Nr. 52). Diese Novelle gehört m. E. nicht mehr zum Stoffkreis des Feigen Ehemannes. Sie enthält zwar das Motiv, daß der Ehemann sich im Schlafzimmer (genauer: unter dem Bett) versteckt, allerdings ist die Ausgangskonstellation eine völlig andere: Er tut dies mit der Intention, seine Frau, gegen die er einen Verdacht hegt, beim Ehebruch zu ertappen. Der Ehebruch ist damit schon Prämisse des Geschehens überhaupt, während unser Motiv sein Zustandekommen erzählt. 159 Für eine Abhängigkeit sprechen sich aus Stiefel (1903), S. 502, und Sebastian Neumeister : Geschichten vor und nach dem Sprichwort. In: Walter Haug und Burghart Wachinger : Kleinstformen der Literatur (= Fortuna vitrea 14). Tübingen 1994, S. 205 - 215; S. 211. Grubmüller (1996), S. 1271 plädiert gegen eine Abhängigkeit mit dem Argument des unterschiedlichen Erzählziels, da die Frau bei Sabadino aus heimlicher Zuneigung zum Priester nicht mit dem Plan ihres Mannes einverstanden ist und letzteren sodann versehentlich in eine Truhe einschließt, was die Ausführung seines Plans verhindert. 160 Die Fazetie (lat. facetia, Pl. facetiae: Witz, Scherz, Spaß) ist eine im Humanismus des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit beliebte literarische Kleingattung, definierbar zunächst als «schwankhaft-anekdotische Kurzerzählung (ursprünglich) in lateinischer Sprache», siehe Wilfried Barner : Art. Fazetie. In: RL² 1 (1997), S. 572 - 575. Ein Überblick über die Wort- und Begriffsgeschichte von facetia sowie eine detaillierte texttypologische Definition der Fazetie jetzt bei Johannes Klaus Kipf , der eine Gattungsgeschichte der Fazetie in Deutschland vorlegt: Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum (= Literaturen und Künste der Vormoderne 2). Stuttgart 2010, S. 19 - 32. 161 Gustav Bebermeyer (Hg.): Heinrich Bebel: Facetien. Drei Bücher. Historischkritische Ausgabe von Gustav Bebermeyer (= Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1931). Hildesheim 1967, S. 52; Übersetzung von Albert Wesselski : Heinrich Bebels Schwänke. Zum ersten Male in vollst. Übertragung hrsg. von Albert Wesselski. 2 Bde. München/ Leipzig 1907, S. 56 f. Zu Entstehung, Poetik und zeitgenössischer Rezeption dieser Fazetiensammlung des südwestdeutschen Humanismus vgl. Kipf (2010), S. 224 - 294. 89 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente 2.2.1 Tabellarische Übersicht: Paralleltexte im Vergleich Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der feige Ehemann Die vierte Novelle aus der Sammlung Cent Nouvelles nouvelles (Le Cocu armé, Der bewaffnete Hahnrei) Nr. 36 aus Le Porretane des Sabadino degli Arienti Heinrich Bebel Fazetien II,17 - mhd./ frühnhd. - afrz. - italienisch - neulateinisch - 296 Verse - Prosa - Prosa - Prosa - entstanden um 1400, aufgezeichnet 1464 (cgm 270) - 1456 - 1467 - 1478 162 - 1508 (Druck) 163 Erzählerkommentierung und Erzählhaltung ausgeprägte Kommentierung im Pro- und Epimythion; Geschichte wird unter das Motto des Sprichworts vom kleinen und großen Schaden gestellt; die Kommentierung zeigt Anteilnahme des Erzählers am Schicksal der Frau und am Verhalten des Ehemannes: wütende Eyimythion des Erzählers → dient der ironischen Distanzierung vom Ehemann als Hahnrei: der Verlierer der Geschichte, auf dessen Kosten vor allem gelacht wird; ironische Grundhaltung des Erzählers allen Figuren gegenüber während des gesamten Textes (Misogynieverdacht) neutrale Erzählhaltung, ironisch distanziert, nur einmalige wertende Erzählerkommentierung zu Lasten der Ehefrau (Misogynieverdacht, der durch die Reaktion der Zuhörer aus der Rahmenhandlung distanzierte Erzählhaltung, die den Ehemann ironisiert: zynische Pointe 162 Chandler (1974), S. 112. 163 Heike Bismark : Rätselbücher. Entstehung und Entwicklung eines frühneuzeitlichen Buchtyps im deutschsprachigen Raum. Mit einer Bibliographie der Rätselbücher bis 1800. Tübingen 2007, S. 86. 90 Modellanalysen Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der feige Ehemann Die vierte Novelle aus der Sammlung Cent Nouvelles nouvelles (Le Cocu armé, Der bewaffnete Hahnrei) Nr. 36 aus Le Porretane des Sabadino degli Arienti Heinrich Bebel Fazetien II,17 Reaktion des Erzählers im Epimythion Erzähler deutlich auf Seiten der Frau; Erzählerironie trifft nur den Ehemann als küenen weigant (237) Thema der Konkurrenz zwischen bürgerlichem und ritterlichem Stand wird schwankhaft verarbeitet und erzeugt Komik: Verlachen des Bürgers → konservative Grundaussage: bestehende Standesunterschiede und Vorurteile gegenüber der Frau bestätigt bestätigt wird) Betonung liegt wie in den Cent Nouvelles nouvelles auf der Leichtigkeit und Unterhaltsamkeit der Erzählung Form des Witzes ist bestimmend: Schlußpointe der unangemessenen Rachehandlung des Ehemannes (Mantel des Ritters zerschnitten) Situation des ‹ Ehebruchs › ° Problematisierung des Vorfalls: strafrechtlich als Vergewaltigung gekennzeichnet, Hinweis des Erzählers auf unterlassene Hilfeleistung seitens des * keine Problematisierung des Vorfalls: keine Anzeichen für Vergewaltigung, eher als Liebesspiel zwischen Ritter und Dame beschrieben * keine Problematisierung des Vorfalls: Dummheit (oder List? ) der Frau ermöglicht den ungestörten Ehebruch ° Problematisierung des Vorfalls: Vergewaltigung 91 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der feige Ehemann Die vierte Novelle aus der Sammlung Cent Nouvelles nouvelles (Le Cocu armé, Der bewaffnete Hahnrei) Nr. 36 aus Le Porretane des Sabadino degli Arienti Heinrich Bebel Fazetien II,17 Ehemannes Motivdoppelung: der Ritter kommt noch einmal zurück → komische Steigerung Figur der Ehefrau ° Frau als Opfer; positive Darstellung und Psychologisierung der Figur * Frau ist nicht Opfer, sondern nutzt listig die Situation zu ihrem Vorteil → doppelbödige Kommentierung; Komikerzeugung über ‹ verkehrten › Ehebruchsschwank * Frau nicht als Opfer beschrieben, ihre anfängliche Gegenwehr wird unter den Verdacht der Inszenierung gestellt; dann keine Reaktion ihrerseits mehr erzählt → wie in den Cent Nouvelles nouvelles lebt der Text von der ironisch-doppeldeutigen Kommentierung: das Beharren auf der Dummheit der Frau suggeriert das Gegenteil ° Opfer, aber keine Attribuierung oder Psychologisierung der Frau 92 Modellanalysen Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der feige Ehemann Die vierte Novelle aus der Sammlung Cent Nouvelles nouvelles (Le Cocu armé, Der bewaffnete Hahnrei) Nr. 36 aus Le Porretane des Sabadino degli Arienti Heinrich Bebel Fazetien II,17 Figur des Verehrers * Ritter (aus der Fremde); Ritter ist ein zwielichtiger Vertreter seines Standes: lantfarer, Einzelgänger, der keiner legitimierenden Gemeinschaft mehr angehört; fungiert als provozierender Akteur, es geht jedoch nicht um die Thematisierung des Standesunterschieds Bürger/ Ritter in komischer Manier * Ritter (aus der Fremde); ehrenhafte Existenz als Bogenschütze im königlichen Heer: Angehöriger der Kriegerkaste, Legitimation als Ritter → positive Zeichnung ° der Pfarrer der Gemeinde, Don Pedruzo, un prete d ’ amorosa vita, prädestiniert für die Rolle des Liebhabers: giovene, colorito, tondo e gagliardo (jung, von gesunder Farbe, kräftig und temperamentvoll) * eques, ein Reitender (Ritter); keine weitere Charakterisierung → situative Ungebundenheit der Form des Witzes Figur des Ehemannes Bürger; Feigling, Egoist → die Schuld an der Straftat liegt bei ihm; Bürger; Hahnrei, Feigling → es geht nicht um Schuld an einer Straftat, sondern um die Schuld, sich eine fremde Rolle angemaßt zu haben, woraus Situationskomik entsteht Bürger versucht sich in der Ritterrolle, aber versagt Bürger; Hahnrei → kein Feigling, sondern tapferer, selbstbewußt auf seinem Recht beharrender Bürger; Ständethematik hier nicht mehr relevant, da Verehrerrolle von durch Erzählerkommentar als Feigling charakterisiert, allerdings läßt die beschriebene Situation kein eindeutiges Urteil zu 93 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der feige Ehemann Die vierte Novelle aus der Sammlung Cent Nouvelles nouvelles (Le Cocu armé, Der bewaffnete Hahnrei) Nr. 36 aus Le Porretane des Sabadino degli Arienti Heinrich Bebel Fazetien II,17 → es geht um die Frau: der Mann ist unfähig zur huote, das trifft die Frau kläglich; Ritter geht als Sieger aus der Geschichte hervor → es geht um den Mann, nicht um die Frau einer in der Gemeinschaft der erzählten Welt bekannten Figur besetzt wird: Priester → nicht aus eigener Dummheit mißlingt der Plan des Ehemannes, sondern wegen der Dummheit (oder List? ) der Frau → es geht nicht um Schuld und nicht um die Frau, sie ist nur Objekt zur Demonstration der leeren Prahlerei des Mannes: Mann ist unfähig zur huote, das trifft aber den Mann Argumentationen Frau klagt an: Erzähler führt die Anklage der Ehefrau fort, mündliche Auseinandersetzung läuft schließlich zwischen Ehemann und Erzähler ab Mann klagt an: zwei eheliche Streitgespräche, die eine auch noch rhetorische Überlegenheit der Frau über den Mann zeigen; sie führen ins Leere Mann klagt an: E la donna aperse la cassa al marito, el quale uscí fuori questionando cum lei, ché l ’ aveva Frau klagt an: kein Anschluß einer argumentatio, die eigentliche Verhandlung des Falles ist unwichtig, ledig- 94 Modellanalysen Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der feige Ehemann Die vierte Novelle aus der Sammlung Cent Nouvelles nouvelles (Le Cocu armé, Der bewaffnete Hahnrei) Nr. 36 aus Le Porretane des Sabadino degli Arienti Heinrich Bebel Fazetien II,17 → argumentatio beschäftigt sich in juristisch ernstem Sinne mit der Anklage des Ehemannes (Schuldfrage) → komische Funktion der Streitgesprächsstruktur durch Schlußkommentar des Erzählers betont chiavato in cassa. 164 Erzähler bricht hier ab, indem er mitteilt, die Frau habe sich so gut sie konnte entschuldigt und er wisse nicht, wie es dann weiterging: De che escusandose ella al meglio poteva, non so quello ne seguisse poi; → eigentliche Fallverhandlung ist unwichtig lich Motivation für die Antwort des Ehemannes: Pointe der Geschichte → Nähe zur Form des Witzes 164 Und die Frau öffnete die Truhe für den Mann, der herauskam und sie beschimpfte, weil sie ihn in der Truhe eingesperrt hatte. 95 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente 2.3 Le Cocu armé aus den Cent Nouvelles nouvelles und Kaufringers Feiger Ehemann Bei vergleichender Betrachtung der Texte fällt bereits vorab eine Gemeinsamkeit der Erzählintention hinsichtlich der handlungsstrukturell so verschiedenartigen Ausformungen des Motivs vom sich selbst betrügenden Ehemann auf: Eine Problematisierung des Falles im moralischen oder juristischen Sinne, indem die Rolle der Frau verändert und der Zwischenfall des ‹ ungeplanten Ehebruchs › als Vergewaltigung dargestellt wird, vereint Kaufringers Feigen Ehemann mit der Fazetie Bebels. Dem italienischen und dem französischen Text ist eine solche Einschränkung des schwankhaften Komikpotentials fremd. Gerade deshalb wird in der weiteren Analyse der handlungsstrukturell ähnlichen Texte ein Hauptaugenmerk auf das Verhältnis von Komikentwicklung und Erzählstruktur gelegt. Dies soll unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen Entstehungs- und Überlieferungskontextes geschehen, denn die romanischen Texte sind sämtlich in den Rahmen eines Novellenzyklus eingebunden. 2.3.1 Der doppelbödige Erzählerkommentar: Ehefrau im Zwielicht Zunächst zur Modellierung der weiblichen Figur, von der die Darstellung des ‹ Ehebruchs › wesentlich abhängt. Im französischen Cocu armé wird die Frau bereits bei ihrer Einführung in die Geschichte vom Erzähler ironisiert. Dies geschieht, wenn gleich zu Beginn der soziale Standort der weiblichen Hauptfigur als zweitwichtigste Information nach der Mitteilung ihrer ehelichen Gebundenheit vermerkt wird. Als demoiselle mariée et merciere (verheiratete Dame und Krämerin) steht sie deutlich am Ende der Hierarchiekette, die der Geschichte mit folgendem Einleitungssatz angelegt wird: Le roy estant nagueres en sa ville de Tours, ung gentil compaignon escossois, archier de son corps et de sa grand garde, s ’ enamoura tresfort d ’ une tresbelle et gente demoiselle mariée et merciere. 165 Mit dem König beginnt der Satz, und von hier aus ist ein soziales Gefälle zu beobachten, das mit dem Aufruf des Krämerstandes am Satzende dessen Gegenstück benennt. Der schottische Ritter steht in der ‹ Sozialgrammatik › zwischen diesen beiden Polen, er ist jedoch eindeutig näher beim König zu verorten, seine Kriegeridentität wird legitimiert durch die ehrenvolle Zugehörigkeit zum königlichen Heer. Und hier finden wir ex- 165 Die Übersetzung von Semerau (1965), S. 62: Als der König unlängst in seiner Stadt Tours weilte, verliebte sich ein schmucker Geselle, ein Schotte, Büchsenschütze in seinem Korps und seiner großen Wache, leidenschaftlich in eine schöne, schmucke, verheiratete Demoiselle, eine Krämerin. 96 Modellanalysen positorisch bereits das Thema des französischen Textes angespielt: Es geht um den Ständekonflikt zwischen Adel und Bürgertum, durchexerziert anhand eines Ehebruchschwanks, den der Ritter erfolgreich besteht, während sich der Krämer überlistet sehen muß. Inszeniert ist eine Männerkonkurrenz, auch wenn der Mann der Krämerin zu Beginn des Textes keine Erwähnung findet. Seine Präsenz wird jedoch indirekt gewährleistet: Als ‹ Anhängsel › der Dame ist er durch die Information, sie sei verheiratet (mariée), mit von der Partie; und auch die berufsständische Kennzeichnung, die ihr so seltsam nachgeschoben wird (merciere), zielt eigentlich auf seinen Beruf, auf seine Person. Er ist es, der hier bereits im Eingangssatz auf seinen Platz verwiesen wird, nämlich auf den letzten, den Verliererplatz. Dabei ist seine expositionelle Aussparung selbst bezeichnend. Obwohl diese Geschichte sich als ménage à trois vorstellt, spielt der Ehemann darin zunächst überhaupt keine Rolle und wird erst von seiner Frau für das Geschehen ‹ aktiviert › , indem sie ihm von den Nachstellungen des Schotten berichtet. Es ist diese typische Defizienz der Figur, die ihn bereits vorab als Hahnrei markiert. 166 Der ironisch vorgreifende Hinweis des Erzählers folgt auf dem Fuße: Le mary, bon et sage, preu et vaillant, comme après vous sera compté, [. . .]. 167 Die Frauenfigur im Cocu armé erfährt eine sehr rudimentäre Charakterisierung, die ihrer Funktion als Medium, über das die Konkurrenz der Männer und Stände ausgetragen werden kann, entspricht. Und so ist auch ihre Sicht auf die Geschehnisse nicht relevant, den ‹ Ehebruch › bekommen wir nur aus der männlichen Perspektive des Ritters erzählt: Et ce fait, vistement baise et accole, et le surplus qu ’ après s ’ ensuyt tout a son bel aise et loisir acheva [. . .] Nostre Escossois, après ceste haulte adventure, prend de sa dame congé jusques une aultre foiz, et la mercye comme il scet de sa grand courtoisie [. . .]. 168 166 Daß den schwankhaften Ehebruchs-Erzählungen meist das Denkmodell des Defizits zugrundeliegt, das den Ehemann zum Hahnrei macht, zeigt Hans-Jürgen Bachorski : Ehe und Trieb, Gewalt, Besitz. Diskursinterferenzen in Mären und Schwänken. In: Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok : Der Hahnrei im Mittelalter. Le Cocu au Moyen Age. Greifswald 1994, S. 1 - 23; S. 7 zum Feigen Ehemann. 167 Semerau (1965), S. 63: Der Mann, so gut und klug, tapfer und kühn, wie nachher erzählt werden wird, [. . .]. 168 Ebd., S. 67: Danach küßte er sie unverzüglich, umhalste sie und vollendete alles übrige, was dann folgt, nach Herzenslust [. . .]. Nach diesem stolzen Abenteuer nimmt der [unser, C. R.] Schotte von seiner Dame Abschied bis zu einem andern Mal und dankt ihr mit großer Höflichkeit [. . .]. 97 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Die Wortwahl des Erzählers und das Fehlen jeglicher Reaktion der Frau suggerieren, sie habe sich nicht besonders widerspenstig in ihr Schicksal gefügt. 169 Ausgesprochen wird dieser Verdacht sodann durch den Ehemann, der sich nach dem Verschwinden des Schotten wieder aus seinem Versteck hervorwagt. «Je ne vous commenday pas, dist il, de luy laisser faire sa volunté. - Comment, dit elle, le povois je refuser, voyant sa grand espée, dont il m ’ eust tuée en cas de refus? » 170 Die Antwort der Dame sät mehr Zweifel an ihrer Integrität als sie zerstreut, stellt man in Rechnung, daß das überdimensionierte grande, forte et bonne espée a deux mains (große, starke und gute Zweihänderschwert) des kriegerischen Schotten von Anfang an nicht nur eine Waffe ist, sondern auch «a hyperbolic symbol of his gender» 171 , und dieses Männlichkeitssymbol signalisiert damit die soziale wie die erotische Potenz des Herausforderers. Die Annäherung zwischen dem Schotten und der Dame geht sogar so weit, daß beim zweiten Stelldichein, als der Krieger überraschend zurückkehrt, von einer ausgedehnten Unterhaltung der beiden berichtet wird: Après ceste rencharge et pluseurs aultres devises entre l ’ Escossois et la dame, l ’ heure vint de partir; si luy donna bonne nuyt et picque et s ’ en va. 172 Der französische Text weiß nichts von einer Vergewaltigung. Im Gegenteil, der Umstand, ob der Ehebruch mit oder gegen den Willen der Dame geschehen ist, wird in einer ironischen Schwebe gelassen, der anspielungsreiche Kommentar am Ende läuft auf die pikante Pointe hinaus, die Ehefrau habe die Feigheit ihres Mannes zum Ehebruch genutzt: Il fait assez a croire et penser qu ’ elle ne souffrit pas la volunté de l ’ Escossois pour plaisir qu ’ elle y prensist, mais elle fut ad ce contraincte et forcée par non resister, laissant la resistance en la proesse de son mary, qui s ’ en estoit tres bien chargé. 173 169 Zu diesem Urteil kommt auch Stede (1993), S. 61. 170 Semerau (1965), S. 68: «Ich trug euch nicht auf», rief er, «ihm seinen Willen zu lassen! » «Wie hätte ich», erwiderte sie, «ihn zurückweisen können, angesichts seines großen Degens, mit dem er mich, falls ich ihn abgewiesen, getötet hätte? » 171 David P. LaGuardia : Intertextual masculinity in French Renaissance Literature. Rabelais, Brantôme, and the «Cent nouvelles nouvelles». Aldershot/ Hampshire [u. a.] 2008, S. 68. 172 Semerau (1965), S. 68: Nach dieser wiederholten Ladung und vielen Reden zwischen dem Schotten und der Dame kam die Abschiedsstunde; daher bot er ihr gute Nacht und schied. 173 Ebd., S. 69: Man darf ziemlich bestimmt glauben und annehmen, daß sie dem Willen des Schotten nicht ob des von ihr dabei empfundenen Vergnügens nachgab, sondern dazu genötigt und gezwungen ward, weil sie ihm nicht widerstehen konnte; sie überließ den Widerstand ihrem tapferen wagemutigen Mann. 98 Modellanalysen Allein die beiläufige Erwähnung eines Vergnügens der Dame läßt die Doppelbödigkeit des Erzählerkommentars durch die moralische Verkleidung hindurch sichtbar werden. Ein für den Erzählgestus der gesamten Cent Nouvelles nouvelles typischer Zug, «beim Pikanten in schelmischer Weise zu verweilen» 174 , zeigt sich im Spiel mit der zweifachen semantischen Konnotation des resister als ‹ eine Gefahr abwehren › und ‹ etwas Verführerischem widerstehen › : Der Verdacht des Ehemannes, seine Frau habe die Situation zu ihrem Vorteil ausgenutzt, wird hier abschließend bestätigt. Sie geht aus dieser Geschichte hervor als die listige Frauenfigur des Schwanks, die die gegebenen Umstände zu nutzen wußte. Die Forschung hat oft negativ über das Menschenbild der Cent Nouvelles nouvelles geurteilt, an welchem sich vor allem «das Mittelalterlich-Ständische dieser Novellensammlung» 175 ablesen lasse. Komik und Schlüpfrigkeit oder gar Obszönität einhergehend mit einer misogynen Haltung des Autors 176 als bestimmende Erzählmomente in den Mittelpunkt zu rücken, hält Dubuis dagegen für eine zu einseitige Betrachtungsweise, die den Charakter der Sammlung insgesamt verzeichne; er macht die Gegenbeispiele stark. 177 Sicherlich ist es daher ein Pauschalurteil, der gesamten Sammlung Misogynität zu unterstellen, für die Betrachtung des Cocu armé im Besonderen läßt sich aber nicht leugnen, daß auch in der leichtfüßig tänzelnden Verpackung des ironischen Erzählgestus die Frauenfigur letzten Endes den Eindruck einer «raffinierte[n], nur auf sexuellen Genuß erpichte[n] Tochter Evas» hinterläßt. 178 Der deutliche Kontrast zu diesem Frauenbild begegnet bei Kaufringer: Seine weibliche Hauptfigur ist über jeden Zweifel erhaben. Ersichtlich wird dies bereits wieder zu Beginn des Textes bei der Personeneinführung. Mit lediglich einem einzigen Vers wird der Mann als der vermeintliche Protagonist genannt: Ze Straßpurg sas ain reicher man (27). Danach wird die Aufmerksamkeit sogleich auf seine Frau gelenkt: der hett ain frawen wolgetan/ die was das allerschönste weib,/ die ie kom zuo manes leib (28 - 30). Über weitere 14 Verse zieht sich ihre Beschreibung hin. Der Katalog ihrer Vorzüge wäre durchaus eines Ritters würdig, und wir scheinen mit einem solchen Register außerordentlicher Qualitäten auf das Feld des höfischen Romans geführt zu werden. Diese Sphäre wird jedoch nur für die Frau reklamiert, der Mann bleibt daraus ausgespart. Neben frümkait (31), zucht und grosser tuget vil (33) ist von 174 Werner Bahner : Französische Geschichten aus Mittelalter und Renaissance. München 1962, S. 605. 175 Bahner (1962), S. 607. 176 Vgl. Wetzel (1979), Sp. 1185. 177 Roger Dubuis : Les cent nouvelles nouvelles et la tradition de la nouvelle en France au moyen age. Grenoble 1973, S. 60 - 73 und Dubuis (1983), S. 1618 f. 178 Wetzel (1979), Sp. 1185. 99 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente ihrer tadellosen ere die Rede (35 f), und der Lobpreis des Erzählers mündet schließlich in eine zeit- und raumübergreifende Figurencharakterisierung, die Anklänge an Märchen oder Legende zeigt: in den landen überal die red gemainclich da erhal, das man niendert vinden künde under allen roten münde in der weiten welt gemain ain weib als frumm, schön und rain, die zucht und grosse tuget hat, als ze Straßpurg in der statt. (37 - 44) Die Passage beginnt sozusagen mit der Banalität des männlichen Protagonisten im scheinbar zeitgenössischen Straßpurg (27), begibt sich dann mit der Außergewöhnlichkeit der Frau in höfische Gefilde und hebt schließlich ab, indem die Erzählung auf den Spuren des märchenhaften Rufs der Dame mit heroischen Ausdrücken wie erhal, Absolutheitsvokabeln wie gemainclich, niendert, under allen, in der weiten welt gemain arbeitet und landet am Ende ihres Rundflugs wieder am Boden der Tatsachen, ze Straßpurg in der statt (44). Dieser fliegende Ruf der Dame, den der Erzähler ihr vorauseilen läßt, evoziert mit der Verwendung des Ausdrucks von den roten münden Minnesang- Atmosphäre 179 , und auch der höfische Topos der Fernliebe begegnet hier, mit welchem die Erzählung das Erscheinen des Ritters motiviert: Ain stolzer ritter hort die mär; / [. . .] er kom geritten in die statt (45 - 50). Wer ist also der ‹ Held › dieser Erzählung? Die Aufmerksamkeitsverteilung zu Beginn spricht eine deutliche Sprache. Der Schein, wir würden im ersten Vers mit dem Protagonisten bekannt gemacht, trügt. Den Mann bekommen wir vom Erzähler nur vorgestellt, um uns gleich darauf mit seiner Frau und ihren außergewöhnlichen Eigenschaften bekannt zu machen. Mit der Betonung ihrer Tugendhaftigkeit wird die Möglichkeit, daß die Frau Gefallen an der Verehrung des Ritters finden könnte, von vornherein ausgeschlossen. Dementsprechend ihre Reaktion auf die Avancen des Ritters: Sie ist gekränkt und besorgt um ihr öffentliches Ansehen, das durch ein Gerede der Leute Schaden nehmen könnte. das was der rainen frawen lait, wann si wol erkante das, das es wider ir ere was, des er an si begert; des wart ir herz gar versert. 179 Ein Ausdruck, der wörtlich oder als pars pro toto für die Dame verwendet, zum standardisierten Formelrepertoire des Minnesangs gehört, vgl. etwa Gottfried von Neifen. 100 Modellanalysen des wolt si im gestatten nicht. [. . .] si vorcht, ir ere wurd geswacht von der bösen lüte red. (58 - 67) 2.3.2 Männlichkeitsdiskurs und Ständethematik: Die adlige Männerrunde als Rahmenfiktion der Cent Nouvelles nouvelles Der Ehemann führt im französischen Cocu armé anschaulich den Standesunterschied zwischen Ritter und Bürger vor Augen. Das kommt davon, wenn der Bürger den Helden spielen will. Zum Rittertum fehlt es ihm zwar nicht an der entsprechenden materiellen Ausrüstung, wohl aber an der moralischen: Er besitzt eben nicht die ritterliche Kardinaltugend der proesse (Tapferkeit) 180 , die ihm vom Erzähler im Schlußkommentar höhnisch zugeschrieben wird, wenn es heißt, die Frau habe den Widerstand und die Tapferkeit ihrem Ehemann überlassen, der damit gut ausgestattet gewesen sei (laissant la resistance en la proesse de son mary, qui s ’ en estoit tres bien chargé). Er wird für seine Anmaßung mit dem Los des Hahnreis gehörig bestraft und erntet die Häme des Erzählers und des Publikums. Die Aussage des Ganzen ist damit im Grunde konservativ: Bestehende Standesunterschiede sowie Vorurteile gegenüber der Frau werden bestätigt. 181 Daß man für das Verständnis der Novelle vom Cocu armé den Überlieferungskontext der Cent Nouvelles nouvelles als ganzer Sammlung berücksichtigen muß, hat LaGuardia gezeigt. 182 Die Bedeutungsdimension der Konkurrenz und der ironischen Komik, die aus dem Standesunterschied der beiden männlichen Akteure entwickelt wird, erschließt sich vor dem Hintergrund des spezifischen Männlichkeitsdiskurses, der eine intertextuelle Wechselwirkung zwischen dem Erzählrahmen der Sammlung und den einzelnen Novellen herstellt. 36 verschiedene Erzähler gibt es in den Cent Nouvelles nouvelles, darunter drei Haupterzähler, die die meisten Texte präsentieren. Die vierte Novelle wird von dem zweiten Haupterzähler «Monseigneur» erzählt, bei dem es sich um Philipp den Guten selbst handelt. 183 Man geht davon aus, daß der 180 Die proesse ist ein Charakteristikum des Helden in den Chansons de geste wie im höfischen Roman, für eine Übersicht der Belegstellen siehe Adolf Tobler und Erhard Lommatzsch : Altfranzösisches Wörterbuch. Wiesbaden 1925 - 1954, Bd. 7, Sp. 1946 - 1949; s. v. pröece. 181 Vgl. zur konservativen Grundhaltung, die trotz der in manchen Erzählungen gelockerten Standesgrenzen die Sammlung dominiert, auch Wetzel (1979), Sp. 1184. 182 LaGuardia (2008), S. 58 - 105. 183 Champion (1977), S. XVIf. Champion hält ihn für einen der hauptsächlichen Mitarbeiter an diesem Werk, dessen Entstehung er in direktem Zusammenhang mit 101 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Rahmen ein fiktiver und die 36 verschiedenen Erzähler ebenso von einem Autor imaginiert sind wie die zehn Erzähler des Decameron, um die gesellige Erzählsituation zu schaffen, die mit der «Einheit von Erzähler und Zuhörer» 184 gegeben ist. Ganz im Gegensatz zum Decameron handelt es sich hier aber um einen Erzählkreis als reine Herrenrunde: Diese Herren, obwohl höfischen und hochfeudalen, zum Teil fürstlichen Standes, fühlen sich durchaus behaglich in der Atmosphäre des volkstümlichen Schwankstils. 185 Zum «Träger der Novelle» 186 geworden, prägen die männlichen Erzähler sie mit ihrem Blick. Ein Vorherrschen «derbkomische[r] Verwicklungen um sexuelle Bedürfnisse» ist kennzeichnend für die erste französische Novellensammlung: In dieser Betonung der «joies du corps» aus männlicher Perspektive kann man sowohl einen Reflex von Tendenzen am burgundischen Hof als auch den literarischen Ausdruck einer zeittypischen «rage de vivre» sehen. 187 In diesem Zusammenhang erklärt sich aus dem Kontext des Erzählrahmens als eines männlich geprägten, der eventuell auch die herrschende männliche Klasse am burgundischen Fürstenhof abbildet, der sich aber in jedem Fall aus männlichen adeligen Erzählern zusammensetzt, auch die vorherrschende Ständethematik in der vierten Novelle: Thus the masculine «subjectivity» or «identity» that is figured here is predicated on the idea of one man ’ s possible and real relationships to other men, which develop via women ’ s bodies as mediums of exchange. 188 Als «leeres» Männlichkeitssignal, weil sie seinem Stand nicht angemessen ist - und folgerichtig dann auch nicht zum Einsatz kommt - , markiert die ritterliche Philipps literarischem Geschmack und seinem Vergnügen an fröhlichen Tischgesellschaften und Unterhaltung sieht, Champion (1977), S. XVII: «Les Cent Nouvelles nouvelles, rédigées sur l ’ ordre de Philippe le Bon, sur le type du Décameron, ne sont pas autre chose que des plaisantes histoires secrètes, racontées par le duc et par ses serviteurs, à la suite des longs repas où Philippe le Bon, sur la soixantaine, trouvait un plaisir particulier.» 184 Bahner (1962), S. 604. 185 Erich Auerbach : Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich. Zweite, durchges. Aufl. Mit einem Vorwort von Fritz Schalk. Heidelberg 1971, zit. nach Bahner (1962), S. 603. 186 Auerbach (1971), S. 34. 187 Jürgen Grimm und Elisabeth Arend : Französische Literaturgeschichte. 5., überarb. u. akt. Aufl. Stuttgart/ Weimar 2006, S. 107. 188 LaGuardia (2008), S. 67. 102 Modellanalysen Ausrüstung des Ehemannes bereits vorab seine Opferrolle, wohingegen der Herausforderer, der am Ende der Gewinner sein wird, sich durch eine überdimensionierte Bewaffnung auszeichnet. 189 Mit dem Ritter als Identifikationsfigur wird dem adligen männlichen Publikum die unterhaltende Möglichkeit verschafft, sich von dem Hahnrei als männlicher Verliererfigur abzugrenzen. 190 Deshalb wird auch meist auf Kosten des bürgerlichen Ehemannes gelacht, wobei zu bemerken ist, daß die implizite Position des Erzählers und mit ihm seines Publikums eine ironisch distanzierte bleibt 191 , weshalb auch der als Sieger der Geschichte positiv dargestellte Schotte nicht einer Desavouierung als l ’ amoureux malade (der verliebte Kranke) entgeht - sie fällt jedoch vergleichsweise milde aus. Von einer Konkurrenz der männlichen Protagonisten, die in der französischen Version über die Frau als Medium ausagiert wird, fällt bei Kaufringer nichts auf. Dafür bräuchte es eine deutliche Ausarbeitung des Standesunterschiedes zwischen Ehemann und Provokateur und eine deutliche Sympathiesteuerung, wie sie in der französischen Version von Anfang an zugunsten des ritterlichen Herausforderers gegen den bürgerlichen Gatten vorgenommen wird. Die zwielichtige Gestalt des Ritters bei Kaufringer taugt für solch eine Konstellation gerade nicht: Ain stolzer ritter hort die mär; der was ain rechter lantfarer. (45 f) Zwar ist der Standesunterschied durch die Figurentypisierung formal durchaus gegeben, wird jedoch nivelliert mit der Charakterisierung des Ritters als lantfarer 192 . Dieser Begriff für den Reisenden oder den Pilger erhält im mittelalterlichen Sprachgebrauch zunehmend pejorative Bedeutung im Sinne von ‹ Landstreicher › und ‹ Bettler › . 193 Ein Kontrast, der das Bild des stolzen ritters (45) sogleich wieder bröckeln läßt. Dieser Ritter tritt nicht (mehr? ) als Idealvertreter seiner Gattung auf, ist nicht wie sein französisches Pendant durch die Zugehörigkeit zu einer königlichen Garde in seinem Stand legitimiert, dieser Ritter ist eher ein zwielichtiger Individualist. Die ambivalente Formulierung, er pruchet seinen werden leib/ oft und vil durch schöne weib/ den er dienet fruo und spat (47 - 49) läßt hinter der höfischen Interpretation, er 189 Vgl. ebd., S. 67 f. 190 Vgl. ebd., S. 68. 191 Ebd. 192 Lexer Bd. 1, Sp. 1831; s. v. lantvarære, lantvarer. Einer, der durch die Lande zieht, Reisender, Pilger, Landstreicher, siehe auch mhd. lantlöufer, -strîcher. 193 Belege für die pejorative Bedeutung von lantfarer als Landstreicher, Bettler sind verzeichnet im DRW 8 (1991), Sp. 373 - 375; s. v. landfahrer. Siehe außerdem DW 12, Sp. 114; s. v. landfahrer 3). 103 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente setze seine körperliche Kraft etwa im Turnier zur Ehre schöner Damen ein, auch die Lesart zu, er sei ein rechter Weiberheld. 194 Der Verdacht erhärtet sich in der Folge. «Denn dieser Ritter dient nicht mehr um Minne, sondern sucht die Angebetete nurmehr mit allen Mitteln der schalkait (57) zum Nachgeben zu überreden.» 195 Von der anderen Seite betrachtet, kommt auch das Wort burgære im Feigen Ehemann überhaupt nicht vor. Eine Komik des Standesunterschiedes ist bei Kaufringer nicht zu bemerken, auf die Ständeproblematik, deren Vorherrschen sich in der französischen Novelle durch die Rahmenfiktion und den Entstehungskontext der Sammlung erschließt, kommt es ihm nicht an. Damit sind wir beim Thema der Raum- und Situationskomik, deren Entwicklung in den romanischen Texten direkt verknüpft ist mit dem zentralen Zwischenfall des ‹ Ehebruchs › . Der Ehebruchschwank ist es tatsächlich, der im Mittelpunkt dieser Ausgestaltung des Stoffes steht. 2.3.3 Raum- und Situationskomik im bürgerlichen Haushalt Die Feststellung Coxons, auch bei Kaufringer werde «Innenraum komisch konfiguriert, wenn eine architektonische Struktur, ein häuslicher Teilraum oder ein für Innenraum repräsentativer Gegenstand menschlicher › Fremdbestimmung ‹ » unterliege 196 , erfährt für den Feigen Ehemann vor dem Hintergrund der romanischen Paralleltexte eine Relativierung. So sind es letztere viel mehr als Kaufringer, die der zentralen Thematik des männlichen Ständekonflikts eine intensive räumlich ausagierte Situationskomik an die Seite 194 Bei Grubmüller (1996), S. 723, ist die Zweideutigkeit in der Übersetzung bewahrt: Er hatte seine ganze Kraft/ viele Male für schöne Frauen eingesetzt,/ denen er früh und spät zu Diensten war. 195 Röcke (1988), S. 309 f. Röcke gewinnt seine Erkenntnisse vor der Folie des höfisch situierten Mauritius von Craûn. Er sieht die «rohe[n] Vergewaltigung der Bürgersfrau» im Feigen Ehemann als folgerichtigen Schlußpunkt einer «höhnische[n] Karikatur auf ritterschefte und Minnedienst», vgl. S. 310. Ein solcher - auch nur bedingt komischer - Reflex auf den Ritterstand scheint jedoch nicht wesentliche Intention des Textes zu sein, denn das Verhalten des Ritters wird überhaupt nicht als negativ kommentiert, in seiner Variation dient das höfische Erzählmuster vom Frauendienst vielmehr als Ausgangskonstellation der Konstitution des Falles. Es spielt in der Folge eine nurmehr untergeordnete Rolle. Auch Fischer (2006), S. 272 - 279, hebt im Rückbezug auf den Mauritius von Craûn auf eine Kontrastierung von ritterlichen und bürgerlichen Werten im Feigen Ehemann ab, die mir für das Verständnis des Textes nicht so zentral zu sein scheint. Fischers Ausgreifen auf ein «bürgerliche[s] Denken» (S. 278) im Sinne von Hobbes und Hegel bis hin zur «Wirkungsästhetik der Aufklärung» (S. 279) geht zudem am Text vorbei. 196 Coxon (2008), S. 188. 104 Modellanalysen stellen, die «den dafür in Anspruch genommenen Raum unerwartet zur Bühne, die dafür instrumentalisierten Möbelstücke gleichsam zur Bühnenausstattung» 197 werden läßt. Hat die Wiederholung der Ehebruchsszene im Cocu armé an sich schon das Potential einer situationskomischen Mechanik, indem sich der hochgerüstete Gatte zweimal verstecken muß und jedesmal wieder als wütender «Springteufel» hervorkommt, um seine Frau zu beschimpfen - natürlich erst, nachdem die Luft rein ist 198 , so reichert der Text dieses Geschehen zusätzlich mit vielsagenden Positionswechseln der Figuren innerhalb des Schlafzimmers an. Die erste komische Situation einer inadäquaten Positionierung des Ehemanns hinter dem Bett und des Nebenbuhlers im Bett wird noch gesteigert durch die zweite: In der falschen Annahme, die Gefahr sei mit dem Verschwinden des Widersachers überstanden, hat sich der Ehemann aus dem sicheren Versteck gewagt und ist gerade dabei, die Reste seiner männlichen Ehre zu verteidigen, indem er wenigstens die untreue Frau zur Rechenschaft zieht: Et a cest cop veez cy bon Escossois qui retourne et monte arriere les degrez de la chambre, et sault dedans et dit tout hault: «Qu ’ est cecy! » Et bon homme de se sauver, et dessoubz le lit se boute pour estre plus seurement, beaucop plus esbahy que paravant. 199 Jetzt befindet sich der Ehemann gar unter dem Bett, auf welchem sich der Nebenbuhler mit seiner Frau vergnügt. Eine besondere Fähigkeit des unbekannten Verfassers der Cent Nouvelles nouvelles, «aus der komischen Situation möglichst viel herauszuholen», betont schon Auerbach. 200 Die Kulisse des bürgerlichen Wohnraums ist dafür ausgiebig genutzt. 201 Diese Kunst wohnräumlicher Inszenierung des Ehebruchschwanks beherrscht auch die italie- 197 Ebd., S. 189. 198 Die komische Wirkungsmechanik des französischen Cocu armé hat Kugler (1998), S. 364 f, mit dem von Henri Bergson (Le rire) für die Inszenierung von Situationskomik als zentral betrachteten ‹ Springteufel › -Effekt beschrieben: Das Spielzeug des Springteufels, der, auf eine Feder montiert, aus seiner Schachtel herausschnellt, sobald man ihn hineingedrückt hat, erzeugt einen komischen Moment, der durch die Wiederholung des Vorgangs gesteigert wird. 199 Semerau (1965), S. 68: Und jetzt, seht, kommt der gute Schotte zurück, geht wieder die Stufen zum Zimmer hinauf, tritt hinein und sagt ganz laut: «Was gibt ’ s? » Und der gute Mann, noch viel erschrockener als vorher, rettet sich vor ihm und kriecht unters Bett, um noch sicherer zu sein. 200 Auerbach (1971), S. 62. 201 Die spezifisch über räumliche Positionierung der Figuren erzeugte Situationskomik, die gesellschaftliche Normen wie das Hausrecht des Ehemannes in der eigenen Schlafkammer unterwandert, wurde auch von den Illustratoren späterer Druckausgaben der Cent Nouvelles nouvelles als wesentlicher Moment des Cocu 105 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente nische Porretane-Novelle. Hier kommt gar ein typisch italienisches Renaissancemöbel im Haus des Bürgers zum Einsatz, nämlich eine Truhe (cassa) 202 , in die sich der Ehemann begibt, um dem Konkurrenten aufzulauern. So wird die aus den Cent Nouvelles nouvelles bekannte Konstellation sogar noch durch unmittelbarere Nähe komprimiert: Den unterlegenen, räumlich ‹ unterhalb › situierten Ehemann trennt nur der Truhendeckel von seinem Widersacher, denn auf der Truhe vergnügt dieser sich mit der Ehefrau. Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, daß Kaufringer die vorgeführten Möglichkeiten, durch die Bearbeitung dieses Stoffes Situationskomik zu erzeugen, vergleichsweise wenig nutzt. Zwar spielt sich der Vorfall bei ihm ebenfalls in der Wohnkulisse eines städtischen Haushalts ab, die räumliche Konstellation der Beziehung von Ehemann im Versteck und Verehrer im Ehebett wird jedoch kaum ausgekostet, sie ist nicht einmal eigens betont. Ritter und Frau sitzen zunächst auf einer neutralen sideln (120). Die komische Inszenierung des Möbelstücks Ehebett und der Tatsache, daß sich der Verehrer anschließend statt des Ehemannes mit der Frau darin befindet, treten hinter der Vergewaltigung als schockierendem Ereignis und der ernstgenommenen Opferperspektive der Frau zurück: er truog si auf das pete hin/ wider ir gunst und iren sin (203 f). Aus dem traditionellen ‹ Schlafzimmerschwank › scheint allerdings die abschließende Szene bei Kaufringer stehengeblieben zu sein: Da die fraw des wart gewar, das der edel ritter gar auß dem haus gegangen was, si gieng vil pald zuo dem vas. si vand den küenen weigant; der hett sein swert in der hant, das panzer an dem halse sein. (233 - 239) Dies ist wohl die einzige Stelle, an der man von einer ironischen Ausarbeitung der Situationskomik dieses Stoffes durch den Erzähler sprechen kann. 203 Im französischen Text ist es an der Tagesordnung, sich über die Anmaßung des bürgerlichen Ehemannes lustig zu machen, die Rolle des Helden spielen zu wollen. Indem er mit den Begrifflichkeiten kämpferischen Rittertums belegt wird, die zu seiner tatsächlichen Situation in ironischem Kontrast stehen, markiert der Erzähler fortwährend seine ständische Unterlegenheit. Besonders vergnüglich geraten ist die Schilderung der Vorbereitungen des Krämers zur ‹ großen Schlacht › : Nachdem er sich von seiner Frau mit einem grand, lourd et armé erkannt: Sie läßt sich wunderbar bildlich darstellen, wie der Holzschnitt aus der 1486 gedruckten Pariser Ausgabe zeigt, Abbildung bei Semerau (1965), S. 65. 202 Vgl. Basile (1981), S. 316; Anm. 2. 203 Schon Euling (1977), S. 40, vermerkt diese Stelle als «volkstümlichen Humor». 106 Modellanalysen vieil harnois (großen, schweren und alten Harnisch) hat rüsten lassen und une grand hache (ein großes Beil) in die Hand genommen hat, heißt es: Or est il bien en point, Dieu le set, et semble bien que aultresfoiz il ait veu hutin. Comme ung champion venu sur les rencs de bonne heure et attendant son ennemy, en lieu de pavillon se va mectre derriere ung tapis en la ruelle de son lit, et si tresbien se caicha qu ’ il ne povoit estre apperceu. 204 Die Stelle erzeugt Komik auch über die Aktion innerhalb der Räumlichkeiten einer bürgerlichen Schlafkammer, der zündende Witz liegt jedoch in jener auf die Ständethematik abzielenden ironischen Überblendung mit dem Bild des Schlachtfeldes. Und so ist auch bei Kaufringer ein Verlachen des Ehemannes nicht durch die bloße schwankhafte Pervertierung seines Aufenthaltsortes im eigenen Schlafzimmer bedingt, wo er «hocken bleibt, auch als der fremde Ritter das Haus wieder verlassen hat». 205 Entscheidende Zutat ist die Erzählerironie, die den hochgerüsteten Feigling im Versteck als küenen weigant (237), als Inbegriff des Kämpfers verhöhnt. 206 Komik wird an dieser Gelenkstelle, die mit dem nun einsetzenden Streitgespräch der Ehepartner zur Erörterung des Falles überleitet, vom Erzähler gezielt als Mittel eingesetzt, um den Ehemann zu desavouieren, seine Feigheit offen bloßzustellen und damit seine argumentative Position zu schwächen. 207 204 Semerau (1965), S. 64: Nun ist er wohlgerüstet, weiß Gott, und schaut drein, als hätte er schon manchen Strauß ausgefochten. Wie ein Kämpe zum Turnier zu guter Stunde ausreitet und seinen Feind erwartet, schaute er aus, und anstatt ins Zelt setzte er sich hinter eine Decke in den Raum zwischen seinem Bett und der Wand und verbarg sich so gut, daß er nicht bemerkt werden konnte. 205 So identifiziert Coxon (2008), S. 189 die Komik dieser Stelle. 206 Das Wort weigant ist in diesem Zusammenhang ganz bewußt gewählt, es evoziert einen heldenepischen Kontext. Im Ahd. ist der wigant der Kämpfer, der Krieger, nicht nur als Tätigkeitsbeschreibung, sondern als Existenzform, und so steht der Begriff noch im Mhd. für außerordentliches Heldentum. Vgl. Rudolf Schützeichel : Althochdeutsches Wörterbuch. 5., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 1995, S. 323; s. v. wigant. Lexer Bd. 3, Sp. 879; s. v. wigant. 207 Die Ähnlichkeit dieser Stelle und der ironischen Formulierung mit dem französischen Cocu armé ist bemerkenswert: Nachdem der Schotte zum ersten Mal gegangen ist, wird der ängstliche Ehemann als vaillant homme betitelt, nach dem zweiten Weggang des Schotten bleibt er wie sein Kompagnon im deutschen Text in seinem Versteck sitzen (weil er sich vor Angst nicht bewegen kann). Fast wirkt es, als habe Kaufringer beides kombiniert. Solche Übereinstimmungen werfen die Frage nach der Abhängigkeit der Texte auf, die jedoch vorläufig nicht zu klären ist. Schließlich wirkt die Stelle bei Kaufringer wie der Rest des ursprünglich auf Komik angelegten Ehebruchschwanks, der zum Rechtskasus verändert wurde. Weil die Situationskomik in die Argumentationsstrategie des Erzählers paßt, könnte sie stehengeblieben sein. 107 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Insgesamt ist also die räumliche Situationskomik, die Coxon auch am Feigen Ehemann festmacht, in diesem Fall weniger spezifisch für Kaufringer, als vielmehr für den Stoff, den er verarbeitet. Die unbeschwerte Komik der romanischen Texte mit dem fulminanten Tempo von Auf- und Abtritten auf der Bühne des bürgerlichen Schlafzimmers, von Drüber und Drunter der Figuren, fällt bei Kaufringer einem «Zug ins moderat Nachvollziehbare» 208 , einer detaillierten Problematisierung des Kasus zum Opfer. 2.4 Komikeffekte im Kontext der Sammlung: Die 36. Novelle aus dem Porretane des Sabadino degli Arienti Auch die italienische Novelle des Sabadino degli Arienti, auf die die Sprache schon kurz kam, ist im Kontext einer Sammlung überliefert, deren Rahmenfiktion bei der Interpretation nicht unberücksichtigt gelassen werden soll. Ähnlich wie in den Cent Nouvelles nouvelles handelt es sich bei den Erzählern dieser Sammlung zumeist um historisch verifizierbare Persönlichkeiten 209 : Graf Bentivoglio, der Arbeitgeber des Autors Sabadino degli Arienti, unternimmt mit seiner Familie einen Kuraufenthalt in den Bädern von Porretta, während welcher fünf Tage sich um den Grafen eine vornehme Badegesellschaft aus Kurgästen formiert, deren Zusammensetzung durch An- und Abreise wechselt. Jeder erzählt eine Geschichte, sodaß 61 Novellen von 61 Personen - 49 Männern und 11 Frauen - erzählt werden, wobei die Thematiken der Novellen jeweils zur Persönlichkeit des Erzählers passen. 210 Der Erzählrahmen ist damit bei Sabadino wie in den Cent Nouvelles nouvelles realhistorisch situiert, beide zeigen nicht nur darin einen klaren Bezug zu Boccaccios Decameron. Doch sind diese jüngeren Novellenzyklen innerhalb ihrer Rahmenfiktion eindeutiger auf Unterhaltung angelegt. Jeder äußere Zwang eines Zusammenseins der erzählenden Gesellschaft entfällt im Porretane wie in den Cent Nouvelles nouvelles, und damit auch eine Funktion der Novellen, die über leichte und witzige Unterhaltung hinausgehen müßte. Das Novellenerzählen dient ausdrücklich dazu, der Langeweile und Müdigkeit, die eine Badekur mit sich bringt, zu entfliehen: per fugire l ’ ozio e il dormire diurno. 211 208 Kugler (1998), S. 367. 209 Siehe dazu im Einzelnen die Kommentare von Basile (1981). 210 Vgl. Erhard Lommatzsch : Ein italienisches Novellenbuch des Quattrocento. Giovanni Sabadino degli Arientis «Porrettane». Halle an der Saale 1913, S. 14. 211 Zit. nach Basile (1981), S. 7. 108 Modellanalysen Insofern ist zu erklären, daß auch hier vor allem der komische Aspekt des Stoffes interessant ist, erzählt wird in erster Linie ein Ehebruchschwank. 212 Die 36. Novelle des Porretane kleidet ihn wie die Version aus den Cent Nouvelles nouvelles in ein dünnes Gewand moralischer Entrüstung ob des sexuellen Übergriffs auf die Ehefrau. Während der französische Text jedoch seine Pikanterie daraus zieht, in den Streitgesprächen des Ehepaars und in den Aussagen des Erzählers ein ständiges Spiel mit der moralischen Frage zu treiben, ob die Frau dem Ritter aus Hilflosigkeit oder aus Vergnügen nachgegeben habe, reißt der italienische Bearbeiter dem moralischen Gewand von vornherein deutlichere Löcher: Die Ehefrau sträubt sich gegen den Plan des Mannes und der Erzähler dieser Novelle vermerkt, er glaube, sie habe das getan, weil sie heimlich sehr in den Pfarrer verliebt gewesen sei. Genau hier ist sodann eine Charakterisierung des letzteren eingefügt, die ihn wie zur Bestätigung auch noch als den im Schwank typischen siegreichen Liebhaber kategorisiert: La moglie, audendo la commissione del marito e non li parendo buona, perché credo nel secreto amasse molto el prete, il quale era giovene, colorito, tondo e gagliardo [. . .] (Die Frau hörte den Auftrag des Gatten und gehorchte ihm nicht richtig, denn ich glaube, insgeheim war sie sehr verliebt in den Pfarrer, der war jung, von rosiger Hautfarbe, stark und kühn [. . .]). 213 Nachdem die Erzählstrategie den Rezipienten auf diese Art geschickt für ein mögliches bevorstehendes Kippen der Handlung sensibilisiert hat - und auch dafür, daß dieser Umschwung etwas mit ehelicher Untreue zu tun haben könnte - , ist es keine Überraschung, daß der Frau im entscheidenden Moment ein Fehler unterläuft. Als sich ihr Mann bei der Ankunft des Pfarrers in einer Truhe versteckt, dreht sie versehentlich den Schlüssel um, sodaß der Eingeschlossene nichts gegen das weitere Geschehen ausrichten kann: E, questo decto, subito entrò in la cassa, a cui la donna disavedutamente volse la chiave. [Hervorhebung von mir, C. R.] (Und nachdem er das gesagt hatte, setzte er sich schnell in die Truhe, von der die Frau unbedacht den Schlüssel (im Schloß) herumdrehte.) Im wahrsten Sinne des Wortes ist dies eine Schlüsselstelle des Textes. Dessen ironische Grundhaltung wird offensichtlich, schließlich war es der Erzähler, der kurz zuvor selbst das Bild der treuen Ehefrau desavouiert hatte. Daß er nun darauf beharrt, sie hätte den Ehebruch aus Dummheit ermöglicht, erhärtet beim Publikum nur den Verdacht, genau das Gegenteil 212 Vollends zum Ehebruchschwank gediehen ist das Motiv dann in Novelle 52, die ich, wie oben begründet, hier nicht einbeziehe, weil sie - sozusagen als Schlußpunkt einer morphologischen Entwicklung - den Ehebruch, der im eigentlichen Motiv erst durch das Verhalten des Ehemannes zustande kommt und damit das Faszinosum, die unerhörte Begebenheit ausmacht, bereits voraussetzt. 213 Die Übersetzung dieses Textes hier und im Folgenden von mir, C. R. 109 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente könnte der Fall sein. Ein solches Augenzwinkern des Textes ist auch weiterhin nicht zu übersehen, wenn der Erzähler wie ahnungslos an der moralisch integren Version der Geschichte festhält und mitteilt, die Frau habe ihren anfänglichen Widerstand gegen den aufdringlichen Pfarrer schließlich aufgegeben: La quale, vedendo ch ’ el marito non la soccorreva, né sapendo che lui non poteva, per essere chiavato, uscire de la cassa, alfin se lassò vincere; [. . .] (Die Frau, als sie merkte, daß der Ehemann ihr nicht zu Hilfe kam, nicht wissend, daß er nicht aus der Truhe herauskommen konnte, weil er eingeschlossen war, ließ sich schließlich besiegen; [. . .]). Daß die italienische Version tatsächlich wenig Zweifel an der Illoyalität der Ehefrau läßt, bestätigt schließlich die Art und Weise, wie diese Geschichte in den Kontext der Rahmenerzählung eingebunden ist: Sie ist bereits vorweg typisiert nach dem oben erwähnten Schema des Porretane, die Erzähler jeweils zu ihrer Wesensart passende Geschichten vortragen zu lassen. Denn der Erzähler dieser Novelle ist von der vornehmen Badegesellschaft deutlich abgegrenzt. Es handelt sich um den Wirt, bei dem der Graf nächtigt. Er hat zufällig einen Boten zum Aufenthaltsort der Badegesellschaft begleitet. Deren aktuelles Gesprächsthema gibt ihm Gelegenheit, eine Geschichte vorzutragen, wobei seine soziale Charakterisierung bereits auf die Art der Geschichte schließen läßt, die hier zu erwarten ist: l ’ osto [. . .] essendo vichiardo, cum la barba bianca, corpulento e molto solacevole, traendose la beretta de capo, che certo era de una grandissima peccora, dixe: [. . .] (Der Wirt [. . .] war alt, hatte einen weißen Bart, war beleibt und sehr vergnügt, und indem er sich die Kappe vom Haupt zog, das sicherlich von großem Leichtsinn beherrscht war, sagte er: [. . .]). Durch den Mund dieser entsprechend modellierten Figur darf nun auch der pikante Ehebruchschwank erzählt werden, dessen Protagonistin so zwielichtig erscheint. Lauthals lachend läßt der Wirt seine Zuhörer zurück, als er sich nach dem Ende seines Stücks wieder zu seinem Gasthaus aufmacht: E, lassando cum rise grande la generosa brigata, se ne tornò a l ’ ospicio suo. Das schwankhaft-ordinäre Intermezzo kann dem Bild der generosa brigata, der edlen Gesellschaft nichts anhaben, sie distanziert sich in ironischem Lachen. Die eigentliche misogyne Pointe wird dabei unzweifelhaft durch die Reaktion der anwesenden Damen bestätigt, die sich durch diese Geschichte beschämt fühlen: [. . .] questo piacevole oste fece ridere molto la degna compagnia e vergognare alquanto l ’ onestissime donne, le quale cum piacevole maniera dixeno: - Costui ha bene propriamente parlato da oste vechio, pazzo e menicato come l ’ è: che li possa venire la tigna! ([. . .] dieser lustige Wirt brachte die würdige Gesellschaft sehr zum Lachen und beschämte beträchtlich die sehr anständigen Damen, die mit fröhlicher Miene sagten: - Er hat sehr passend gesprochen für einen alten Wirt, verrückt und schwachsinnig wie er ist: der Teufel soll ihn holen! ) In der Distanzierung von dem alten wunderlichen Erzähler gelingt 110 Modellanalysen ihnen auch die Distanzierung von der Erzählung und ihrem impliziten Vorwurf an die Untreue des weiblichen Geschlechts. Durch den detaillierten Textvergleich zeigt sich, daß Kaufringer mit seiner Behandlung des Motivs tatsächlich einer in der romanischen Novellistik verbreiteten Tradition der schwankhaften Ausgestaltung mit der hauptsächlichen Erzählintention der Komikerzeugung gegenübersteht. Der (verkehrte) Ehebruchschwank des italienischen und des französischen Paralleltextes endet im Lachen auf Kosten des betrogenen Ehemannes, dessen offensichtliches Defizit an Mut, Stärke oder Intelligenz ihn zum Hahnrei macht. Aus dem Umstand, daß der Verehrer zum Zuge kommt, schlägt auch die Ehefrau Nutzen, im französischen Cocu armé sogar ausdrückliches plaisir, und so steht sie letzten Endes mit diesem auf der Gewinnerseite. Der Befund wird weiterhin bestätigt bei einer kursorischen Durchsicht aller zu greifenden Texte, die Ausformungen des genannten Motivs bilden, hier jedoch aufgrund einer differierenden Ausgangssituation und Entwicklung des Plots sowie aus Gründen der Materialbeschränkung nicht in den detaillierten Vergleich einbezogen werden konnten. Eine Konzentration auf die semantisch eindeutige Form des Ehebruchschwanks ist ausnahmslos festzustellen. Die Frau steht auf Seiten des Liebhabers, der Ehebruch geschieht mit Zustimmung der Frau, das heißt, letzten Endes profitieren Verehrer und Frau von der Situation, die der Ehemann eingefädelt hat eben in dem Sinne, den der Ehemann vermeiden wollte. Hierher gehört die fünfte Novelle des dritten Tages aus Boccaccios Decameron, die als prominenteste Ausgestaltung des vorliegenden Motivs zu nennen ist. 214 Die zweite Sprichwortnovelle aus der Sammlung des Antonio Cornazzano (1523) 215 bietet eine sogar in fazetischer Pointierung auf den Ehebruchschwank konzentrierte Formulierung des Motivs: Der durch den eigenen Ehemann initiierte Ehebruch der Frau vor dessen Augen wird vollauf zum Witz. Eingeschmolzen auf die Essenz des facete dictum, der sprichwörtlichen Pointe Chi così vuole così abbia (Du hast es gewollt, du hast es), läßt er sich mit dieser nun beliebig oft aufrufen. 216 214 Vgl. dazu Ingrid Kasten : Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts. Hamburg 1973. 215 Proverbio secondo: Perche si dice: Chi così vuole così abbia, vgl. G. Romagnoli (Hg.): Proverbii di Messer Antonio Cornazano in Facetie. Bologna 1865, S. 14 - 17; Übersetzung von Albert Wesselski : Die Sprichwortnovellen des Placentiners Antonio Cornazano. München 1906, S. 15 - 20. 216 Ich gehe auf diesen Text hier nicht im Detail ein, da es sich um eine Rezeption der Novelle 36 aus Sabadino degli Arientis Porretane handelt, so Grubmüller (1996), S. 1271, bzw. um eine Rezeption des Cocu armé aus den Cent Nouvelles nouvelles, so Neumeister (1994), S. 211. Inhaltlich steht Cornazzanos Text dem Cocu armé nahe, der in Cornazzanos «Sprichwortnovelle» als Aufhänger benutzte Spruch Chi 111 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente 2.5 Heinrich Bebels Fazetie II,17 Einzubeziehen bleibt noch die Fazetie Heinrich Bebels (Buch II, Nr. 17), die als einziger Text deutlich aus der Tradition ausscheidet, das Motiv als Ehebruchschwank zu formulieren. Der Texttyp ‹ Fazetie › , wie er in den lateinischen Fazetiensammlungen des deutschen Humanismus auftritt, ist vorab folgendermaßen zu definieren: Eine Fazetie ist eine kurze Prosaerzählung von wenigen Sätzen Umfang ohne Rahmen- oder Nebenhandlungen, deren narrativer Kern in einer Pointe besteht, d. h. in einer durch einen plötzlich erkannten Zusammenhang zweier semantisch inkongruenter Konzepte erzeugten komischen Wendung. Die Pointe besteht zumeist aus einer kurzen, charakteristischen Äußerung (einem Dictum), das entweder in direkter oder - seltener - indirekter Rede wiedergegeben wird. Statt in einer witzigen Äußerung kann die Pointe auch in einer komischen Handlung bestehen, für die sich der Ausdruck ‹ Facete factum › eingebürgert hat. 217 Beim vorliegenden Text handelt es sich eindeutig um ein Beispiel des Dictum- Typs: Ein Mann - die Verknappung der Witzform ist so weit fortgeschritten, daß die Figuren nicht einmal ständisch charakterisiert werden, aus dem weiteren Kontext läßt sich erschließen, daß es sich offenbar um einen Bauern oder Bürger handelt - liebt seine Frau so sehr, uti diceret: se vivum non posse videre, ut ab altero tractaretur (daß er saget, er möcht nicht leiden, daß ihms così vuole così abbia stammt jedoch aus der zentralen Szene der Porretane-Novelle Sabadinos, vgl. Basile (1981), S. 317. Dies berücksichtigt Neumeister nicht bei seiner These, die Geschichte werde hier aus dem Sprichwort entfaltet. Ein mögliches Abhängigkeitsverhältnis der Texte untereinander wäre also genauer zu prüfen, offenbar rezipierte Cornazzano sowohl den französischen wie den italienischen Text und amalgamierte sie. Misogynität und schwankhafte Pointierung werden dabei im Vergleich zu den Vorlagen noch gesteigert, ihren Höhepunkt erreicht diese Konstellation schließlich mit dem auf Cornazzano beruhenden Proverbio 28 aus dem Libro della origine delli volgari proverbi des Cynthio degli Fabritii (1526), siehe Francesco Saba Sardi : Aloyse Cynthio de gli Fabritii. Libro della origine delli volgari proverbi. Con manoscritti dell ’ autore. Mailand 2007, S. 335 - 343. Dazu auch Stiefel (1903), S. 505 f. Die spätere Sammlung Ducento Novelle des Celio Malespini (1609) greift dagegen wieder auf den französischen Cocu armé zurück und liefert mit der 15. Novelle eine weitestgehend wörtliche Übersetzung, siehe Celio Malespini : Ducento Novelle del Signor Celio Malespini. 2 Bde. Venedig 1609, S. 42 f. 217 Kipf (2010), S. 29 f. Beide Fazetien-Typen sind in ihrer Zuspitzung auf die Pointe dem Texttyp ‹ Witz › an die Seite zu stellen. 112 Modellanalysen einer anrühret, weil er lebet). 218 Als sie gemeinsam durch einen Wald laufen, vergewaltigt ein Reiter die Frau und zwingt den Ehemann, derweil auf Pferd und Kleider aufzupassen: Post pauco tempore cum faceret iter illa comite per silvam, coactus est ab equite quodam, ut traderet ei uxorem cognoscendam, ipseque equum cum vestibus custodiret. (Aber über ein kleine Zeit, als er mit ihr durch einen Wald ginge, zwang ihn ein Reiter, ihm das Weib zum Erkennen zu überlassen und selbst dieweil des Rosses und der Kleider zu hüten.) Der reitende eques ist wohl ständisch als gesellschaftlich Höhergestellter im Vergleich zu dem zu Fuß gehenden Ehepaar zu verstehen, ein Standesunterschied und damit auch ein Unterschied der Bewaffnung und Wehrfähigkeit ist impliziert. Die Frau macht dem Mann danach Vorwürfe, warum er ihr nicht geholfen habe, seine Rechtfertigung: ‹ Tace, inquit: nam et ego clam tunicam eius in partes discidi › ( ‹ Schweig › , sprach er, ‹ dann [sic! ] auch ich hab seinen Mantel heimlich zu Stücken verschnitten › ). Der Erzähler kommentiert abschließend: Hanc ille vindictam cum uxoris pudicitia compensavit (Diese Rache war ihm genug für die Keuschheit seines Weibes). 219 Ein wesentlicher Unterschied in Bezug auf die Ausgangssituation besteht hier darin, daß die Intention des Mannes fehlt, seine Frau einem anderen freiwillig zur Verfügung zu stellen. Bei Bebel ist es ein Zufall, der zur Vergewaltigung der Frau führt, der Mann ist an der Situation unschuldig, insofern verschiebt sich die oben formulierte Motivkonstellation. Deshalb kann man auch Bebels Fazetie nicht mehr im engeren Sinne zum Motivkreis des Feigen Ehemannes rechnen. Die Nähe zu Kaufringer besteht jedoch in der Ernsthaftigkeit des Vorfalls, der nicht in einen Ehebruchschwank mündet, sondern als Vergewaltigung dargestellt ist. Die Frau ist eindeutig ein Opfer und macht dem Ehemann wie bei Kaufringer Vorwürfe, dessen Rechtfertigung führt jedoch nicht in eine Auseinandersetzung über den Vorfall als Straftat, sondern stellt die absichtlich zu kurz greifende ‹ Lösung › des Falles dar: Der Ehemann hat eine Alibi-Rache ausgeführt, die er als Legitimation für sein Nichteingreifen benutzt. Mit der Reaktion des Ehemannes und der epimythischen Pointe des Erzählers wird klar, daß die Problematisierung sodann wieder dazu dient, Komik zu erzeugen, die hier eine zynische, die Grenzen moralischer Handlungsmaximen angesichts determinierender sozialer Möglichkeiten boshaft vorführende ist. Das zynische Lachen des Rezipienten ist ein 218 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe Bebel (1967), 2. Buch, S. 52 (Nr. 17); die deutsche Übersetzung stammt von Wesselski (1907), S. 56. Beim Zitieren der Übersetzung ersetze ich die Ligaturen ae, oe, ue durch die geläufigen Umlaute. 219 Grubmüller (1996), S. 1272, sieht hier einen vergleichbaren Zynismus, wie er ihn für den Feigen Ehemann konstatiert. 113 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Verlachen des Ehemannes, der sein Versprechen unter den gegebenen Umständen nicht in der vorgesehenen Weise hat einlösen können. Eine Schuldfrage wird überhaupt nicht gestellt, die Schwärze dieses Humors erklärt sich eben im Lachen über die scheinbar unausweichlich ins Groteske sich verzerrende Tragik, die entsteht, wenn Idealvorstellungen mit der Realität kollidieren. Auch hier werden der Vorfall und das Schicksal der Frau also nur bedingt ernst genommen, sie sind nach der Funktionslogik der Fazetie zu Konstituenten der Occasio und Provocatio geworden, die den Anlaß geben für das facete dictum. 220 Darüberhinaus interessieren sie nicht. Die moralische Fragwürdigkeit des Vorfalls wird absorbiert im Dienste der wirkungsvollen Präsentation einer Schlußpointe, auf die bereits die Überschrift der Fazetie De quodam pulcherrimo vindictae genere (Von einer gar schönen Art der Rache) hinweist. Mit dem primären Erzählziel der Erzeugung von Komik ist damit die Bebelsche Fazetie der hier vorgestellten romanischen Tradition des Motivs an die Seite zu stellen, auch wenn bei Bebel aus der schwankhaft misogynen Pointe eine zynische Pointe geworden ist. 2.6 Der Erzähler klagt an: Juridifizierung des Stoffes bei Heinrich Kaufringer Die Problematisierung, die aus dem Kern des Schwankstoffes - ein Ehebruch der Frau mit dem Liebhaber vor den Augen des Ehemannes 221 - eine Vergewaltigung macht, ist bei Kaufringer am konsequentesten auserzählt. Zweideutigkeiten sind hier nicht zu finden. Der Ritter vergewaltigt die Ehefrau trotz ihrer heftigen Gegenwehr: er truog si auf das pette hin wider ir gunst und iren sin. si schrai vil ser und auch vast. der ritter was ir überlast. (203 - 206) Im mittelalterlichen Recht und noch bis ins 16. Jahrhundert gilt das Schreien der Frau als unabdingbares Indiz für den Tatbestand der Vergewaltigung, es ist der wahrnehmbare Beweis ihres Nicht-Einverständnisses. 222 Insofern ist die 220 Zu den strukturalen Bestandteilen der Fazetie vgl. Kipf (2010), S. 30. 221 Kaufringer verwendet dieses Motiv gern, in immer neuer Konstellation taucht es auf in der ersten Binnenepisode der Drei listigen Frauen, in der Rache des Ehemannes oder im Zurückgegebenen Minnelohn. 222 Vgl. Schwerhoff (1991), S. 395. Im Schwabenspiegel findet sich das Schreien des Opfers als Indiz für das Verbrechen der Vergewaltigung etwa in Art. LandR II 201 l, siehe Derschka (2002), S. 137. Zur Notzucht/ Vergewaltigung in zeitgenössischen 114 Modellanalysen Betonung des anhaltenden und lauten Schreiens der Frau durch den Erzähler eine bewußte Juridifizierung des Geschehens. Der Stoff erhält dadurch die realistische Ernsthaftigkeit einer absurden Straftat. Nicht nur ist eine solche detaillierte Darstellung des Vorfalls in den parallelen Texten nicht zu finden, einzigartig ist auch dessen Schilderung aus dem Blickwinkel der Frau als Opfer: ir kom niemant ze hilfe do; des ward die erber fraw unfro. der ir ze hilf solt sein berait, der lies si staun in herzenlait. mit seiner sterk er si da zwang, das er si da überrang, das sein will da ward volbracht. (207 - 213) Auch nach der Vergewaltigung bleibt die Erzählung bei Kaufringer auf die Figur der Frau fokalisiert: Da dem weib der ungemach von dem ritter so geschach, si wainet gar von herzen ser, wann si verlorn hett ir er als schämlich gar oun argen list. der ritter wolt si ze der frist mit süesser red getröstet haun; das was ir zuo dem tod getaun. si mocht gen im nit fraintlich tuon und gab im weder frid noch suon. (217 - 226) Eine solche conquestio heischende Erzähltechnik stellt sie eindeutig als unschuldiges Opfer dar - das Geschehen und das vermittelte Frauenbild ist ganz aus der Form des Ehebruchschwanks herausgekippt. Dementsprechend ist bei Kaufringer keine Spur einer misogynen, ironisch sich distanzierenden Haltung des Erzählers zu finden. Im Gegenteil, die höfische Vorstellung der Protagonistin in der Exposition wird hier wieder aufgenommen, indem die dort geäußerten positiven Zuschreibungen im Zuge einer «insgesamt psychologisierenden Darstellung» eingelöst werden. 223 Die positive Modellierung der weiblichen Figur und die eindeutig zu ihren Gunsten die Sympathie lenkenden Attribute des Erzählers im Verbund mit der Konzentration auf den juridifizierten ‹ Tathergang › lassen die ersten Schritte zur Rechtscodices siehe His (1935), S. 153. Zur Vergewaltigung als literarischem Motiv Wolfgang Spiewok : Die Vergewaltigung in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok : Sexuelle Perversionen im Mittelalter. Les Perversions Sexuelles au Moyen Age. Greifswald 1994, S. 193 - 206. 223 Stede (1993), S. 60. 115 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Formulierung eines Kasus erkennen: eine Vergewaltigung und ein unschuldiges Opfer. Wen aber trifft nun die Schuld daran? Den Ritter entbindet die Erzählstrategie von jeglicher Verantwortung, er ist sich keiner Schuld bewußt und versteht nicht, warum die Frau ihn beschimpft: si redt mit im gar scharpflich, das er von dannen machet sich gar mit trurigem muot zwar. er wisset das nicht fürwar, wie er es geschaffet hett, wol oder übel, an der stet. (227 - 232) Die Figurenperspektive ist in sich stimmig, weiß er doch nicht, daß die Einladung der Frau in ihr Haus, die sie auch noch mit dem Versprechen verknüpft hatte, sie wolle dafür sorgen, das uns niemant tuot unruo (102), eine Vorspiegelung, eine Falle war. Sein Verhalten ist sozusagen nach minnegesteuertem Programm abgelaufen, seit dem Moment einer positiven Reaktion der begehrten Frau, die ihn topisch ‹ liebeskrank › werden läßt: entzündet ward das herze sein. der minne straul ward auch darein geschossen ze der selben stunt, das er ward vil sere wunt. (107 - 110) Daß die Gegenwehr der Frau dieses einmal aufgerufene Verhaltensprogramm nicht unterbrechen kann, mag zusätzlich die unorthodoxe Auffassung von Frauendienst illustrieren, die der lantfarer (46) an den Tag legt, und kann als Pervertierung des literarischen Ideals hoher minne gelesen werden. Ausschlaggebend ist aber, daß ihm dies nicht als Schuld angelastet wird, seine Charakterisierung vielmehr dazu dient, sein Verhalten stringent zu motivieren. Der Ritter bei Kaufringer ist nur ein Rädchen in der Mechanik der Ereignisse, die ineinandergreifend den Kasus konstituieren. Er hat die rein funktional bestimmte Rolle des Aggressors erfüllt. Mit seinem Abtritt von der Bühne des Geschehens ist er auch aus der Argumentation ausgeschieden. Hier ist auf die zweite juristische Modifikation des Stoffes zu sprechen zu kommen. Sie wird bewerkstelligt über den Begriff der huote 224 : Juristisch meint huote im Sinne von lateinisch tutela speziell die Vormundschaft des Ehemannes, die zum Schutz der Ehefrau verpflichtet, allgemein den Schutz einer Person. 225 Bei genauem Hinsehen ist davon bereits im Vorfeld der zentralen 224 Lexer Bd. 1, Sp. 1394, s. v. huote. 225 Art. ²Hut. In: DRW Bd. 6 (1972), Sp. 131 - 139; bes. Sp. 132 f: urkundliche Zeugnisse für huote bei Vormundschaft des Ehemannes und in der allgemeinen Bedeutung des Schutzes einer Person. 116 Modellanalysen Situation die Rede. Auf die Klagen der Frau, sie werde von dem unbekannten Ritter belästigt, macht der Ehemann sogleich Anstalten, seiner Schutzverpflichtung nachzukommen: er sprach: «liebe frawe mein, ich will dir wenden dise pein. wenn er mit dir redet mer, so haiß in pald kommen her zuo dir in dein kamer guot, so will ich in stiller huot mich enthalten auch darin. ich sol im lonen seiner minn, das er fürbas ewiclich mit guotem frid muoß lassen dich.» (71 - 80) In diesem huote-Versprechen ist bezeichnenderweise aber von huot (76) nur für den Mann die Rede. Natürlich bedeutet sie hier zunächst das Versteck, in dem er sich verbergen will. Trotzdem findet bereits eine subtile Sensibilisierung statt, die erahnen läßt, daß die Rollen vielleicht nicht wie vorgesehen verteilt bleiben werden, daß die Gewährleistung von huote für die Frau zum Problem werden könnte. Schließlich ist schon die Konstellation an sich eine seltsame Verkehrung: Der Mann geborgen im sicheren Versteck, die Frau als hilflos ausgelieferter Köder. Noch aber ist es die bekannte Konstellation des Schwankstoffes. Die Zeichen verdichten sich allerdings weiter, wenn in der Folge auch die Kraftdemonstration des Ritters das Wortspiel mit dem Begriff der huote fortsetzt. Der Wendepunkt der Handlung wird eingeleitet durch dessen Verkündigung: ich haun hie ain messer guot/ darvor kain harnasch ist behuot (161 f). Zum Beweis durchsticht er die sechsfache Panzerplatte, die im Zimmer hängt. Der latent von Anfang an eingewobene huote-Diskurs entwickelt dabei mit dem ausschließlichen Bezug auf die Sicherheit des Mannes und auf die Qualität der Panzerung, die seine Sicherheit gewährleisten soll, verläßt er den Schutz des Verstecks, durchaus eine eigene Komik. 226 226 In diese Richtung geht auch Ziegeler (1985). Er ordnet den Feigen Ehemann unter die Mären ein, die die Struktur der Werbungserzählung variierten, wobei die Figur des Ehemannes strukturell als «oppositionelles Moment» fungiere und die Dame zum ‹ Helden › avanciere. Kaufringer gelinge es dabei, das obligate Schema durch das unerwartete Verhalten des Ehemannes zu nuancieren, vgl. Ziegeler (1985), S. 334. Die Folie eines sehr weit gefaßten und damit wenig griffigen Brautwerbungsschemas führt hier m. E. jedoch nicht weiter, um die Komplexität des Textes zu erfassen. So hat das, was bei Ziegeler lediglich als Nuance des Schemas erscheint, für Kaufringers Verständnis des Stoffes große Bedeutung, denn hier wird die Wendung der Handlung zur Straftat der Vergewaltigung veranlaßt und in der Folge die Dame, die der Erzähler eingangs tatsächlich als die ‹ Heldenfigur › der Geschichte aufgebaut 117 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Vor allem aber markiert er kontrastierend die Schutzlosigkeit der Frau und bereitet so das Kippen der Handlung aus der bekannten Schwankkonstellation in die plötzlich eintretende seltsam ernsthafte Betrachtung eines abstrusen Falles vor. Im Moment dieses Kippens wird er wieder aufgegriffen. Der Stelle ist auch im Handlungsverlauf durch die interne Fokalisierung der Figur des Ehemannes entsprechendes Gewicht verliehen: Während der Fokus der Erzählung die ganze Zeit auf die sich im Vordergrund der Szene abspielende Unterhaltung zwischen Frau und Ritter gerichtet war, visiert die ‹ Kamera › nun den im Plafond versteckten Beobachter an. Sie fängt seine Reaktion aber nicht nur von außen ein: Der man lag dört in stiller huot./ er erschrack der rede ser (174 f). Wir sehen die Situation jetzt aus der Perspektive des Ehemannes, seine Gedanken werden mitgeteilt. er gedacht im in dem sinn sein: «ich muos leiden jamers pein, villeicht er mein wirt hie gewar.» auch vorcht er die sterke gar, die an dem werden ritter lag. «niemant mich gefristen mag vor dem messer; das ist guot», gedacht er im in seinem muot. «das panzer hilfet wenig mich, seit das er in ainem stich durchstochen hat die platen guot. ich will verhalten in der huot; mir mocht von im geschehen we. wie es halt dem weib erge.» (179 - 192) Gegenüber den Vergleichstexten hat Kaufringer an dieser Stelle deutlich mehr Erzählaufwand getrieben und genau hier ist zu sehen, wie er den Fall zugespitzt hat. Denn die bloße Nicht-Aktion des Ehemannes im entscheidenden Moment ist ein Element auch des französischen Cocu armé, der Bebelschen Fazetie und von Sabadinos Porretane-Novelle. Sie gehört zum Motiv und kann deutlich den Ehebruchschwank konstituieren, wie im Falle Sabadinos, weil dort die Frau diejenige ist, die durch das Absperren der Truhe dafür sorgt, daß der Ehemann nicht agieren kann. Oder sie kann die Pointe eines zynischen Witzes einleiten, wenn bei Bebel der Ehemann als hilflose Übersprungshandlung eine hatte, zum unschuldigen Opfer gemacht. Durch ebendiese Nuance wird also der Stoff als Kasus konturiert. Auch ohne die Folie des Brautwerbungsschemas ist zu bemerken, daß der im Text lancierte huote-Diskurs eine ironische Signalfunktion erhält, da er ausschließlich auf den Mann bezogen bleibt: Durch die Überbetonung der Tatsache, wie gut der Mann behuot ist, wird deutlich, wie sehr er diese seine Aufgabe der Frau gegenüber vernachlässigt. 118 Modellanalysen unangemessen lächerliche ‹ Ersatz-Rache › für die Vergewaltigung seiner Frau übt. Die Beweggründe für die Passivität des Mannes liegen hier entweder klar auf der Hand oder bleiben vage im Dunkeln, weil eben das pointierte Ergebnis interessiert, sie werden jedoch nicht eigens thematisiert. Auch im Cocu armé als dem Hauptvergleichstext mit weitgehend paralleler Handlungsführung wird das Nicht-Agieren des Gatten nicht als herausragendes Moment markiert. Im Vordergrund wird berichtet, wie der Schotte sich mit der Ehefrau vergnügt, resümierend wird dann noch nachgeschoben [. . .], sans ce que le pouvre coux de la ruelle s ’ osast oncques monstrer, mais si grand paour avoir que a pou qu ’ il ne mouroit. [. . .] 227 Der überforderte Gatte reflektiert nicht und trifft keine bewußte Entscheidung, er befindet sich offenbar in einer Schockstarre, die jede Reaktion verhindert. Erst als der Widersacher gegangen ist, erwacht er daraus und erscheint wieder auf der Bildfläche: Quand le vaillant homme d ’ armes sceut l ’ Escossois [yssu hors de l ’ uys], ainsi effrayé qu ’ il estoit, sans a peine savoir parler, sault de son pavillon, et commence a tenser sa femme de ce qu ’ elle avoit souffert le plaisir de l ’ archier. 228 Diese Figur wird nur von außen gezeigt, sie ‹ funktioniert › nach den mechanischen Gesetzmäßigkeiten des Schwanks, die sich im französischen Text noch ein weiteres Mal wiederholen und damit die komische Wirkung der Situation steigern. Kaufringers Figur des Ehemannes erhält dagegen ein psychologisierendes Moment der Selbstbestimmtheit, wenn wir ihm dabei zusehen können, wie er pragmatisch abwägt zwischen den beiden Handlungsoptionen, die ihm möglich scheinen und schließlich die huote für sich reklamiert, die er der Frau gewährleisten müßte. Produktionsästhetisch betrachtet wird hier nicht nur Figurenverhalten motiviert, es wird das für die Anklage belastende Moment eingefügt. Denn genau diese Motivation ist es, die der Erzähler im Epimythion als Tatbestand formuliert, um den Ehemann als Schuldigen zu überführen: da er aber das gedacht, das er also verhalten wolt, darumb im pillich wirt ze solt, das er muos schand und laster han. (284 - 287) 227 Übersetzung von Semerau (1965), S. 67: [. . .], ohne daß der arme Hahnrei, der vor übergroßer Furcht beinahe gestorben wäre, aus seinem Versteck aufzutauchen wagte. 228 Ebd., S. 67: Als der tapfere Kriegsmann den Schotten fern von sich wußte, sprang er, so erschreckt, daß er kaum sprechen konnte, aus seinem Zelt, und begann seine Frau darob zu schelten, daß sie dem Büchsenschützen das Vergnügen gegönnt habe. 119 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Nicht die tatsächliche Handlung, die Tat, jegliche Hilfe zu unterlassen, ist das Hauptvergehen, das der Erzähler dem Protagonisten vorwirft, sondern deren Vorsätzlichkeit. 229 Diesmal wird die Verpflichtung zur huote explizit aufgerufen, die gegenüber Familienmitgliedern besteht. Sie kristallisiert sich im Bild des Wächters: er ist ein böser wartman, der es also sicht und hört, das man sein guot fraind 230 betört, und den nit hilft aus der not. (288 - 291) Die Vokabel wartman 231 bezieht sich dabei auf die spezielle Aufgabe des Ehemannes in der von ihm eingefädelten Situation. Ein wartman hält auf der Warte Aussicht, er ist also ein Wächter, seine erste Aufgabe ist das Sehen und Hören, das Beobachten (V. 289). Dies allein jedoch genügt nicht, das Beobachten muß bei drohender Gefahr (V. 290) in Aktion umschlagen, um diese abzuwenden. Der wartman steht damit auch für den Aufpasser, den Beschützer. Genau diesen zweiten Teil seiner Aufgabe hat der Ehemann im erzählten Fall mutwillig unterlassen (V. 291). Er hat die schützende huote seines versteckten Spähpostens nicht genutzt, um andere, hier: seine Frau zu beschützen, sondern um sich selbst zu schützen. Vom Epimythion aus wird deutlich, daß eben die vorsätzliche Nicht-Aktion des Protagonisten, wo er aktives Handeln geplant und versprochen hatte, jene ‹ unerhörte Begebenheit › ist, die diesen Fall zu einem ungewöhnlichen, zu einem juristischen Präzedenzfall macht. Es wurde bisher Kaufringers Feiger Ehemann vor dem Hintergrund paralleler Texte in seiner Spezifik situiert und es wurden die inhaltlichen Veränderungen vorgeführt, die im Feigen Ehemann das Motiv vom sich selbst betrügenden Ehemann juridifizieren und damit vom Schwank zum Kasus umgestalten, der sich um vorsätzlich unterlassene Hilfeleistung dreht. Die Bedeutung der ausgeprägten Erzählerkommentierung im Epimythion wird damit klar: Hier spricht der Ankläger und begründet seine Verurteilung des Ehemannes. Bleibt noch zu fragen, wie das Promythion in diese Interpretation paßt. 229 Dabei fällt die Modernität der strafrechtlichen Beurteilung ins Auge. 230 Der vriunt, hier im ostschwäbischen Dialekt der Überlieferung fraind, meint als Spezifizierung der allgemeinen Bedeutung ‹ Freund › auch den nahestehenden ‹ Geliebten › und im Plural die ‹ Verwandten › , also die Menschen, die einem durch familiäre Bindung nahestehen, vgl. Lexer Bd. 3, Sp. 526. Grubmüller (1996), S. 735, übersetzt in diesem Sinne «seine Liebsten». In Vers 143 begegnet die Paarformel frainde und magen und auch in der Rache des Ehemannes verwendet Kaufringer frainde zur Bezeichnung der Verwandten (vgl. V. 414 und 416). 231 Lexer Bd. 3, Sp. 699. 120 Modellanalysen 2.7 Der feige Ehemann und das (Rechts-)Sprichwort vom kleinen Schaden Auch das Promythion des Kaufringerschen Textes gibt sich als Spezifikum zu erkennen. Die Geschichte wird hier an einem moralischen Satz aufgehängt, der sich in den parallelen Texten des Stoffkreises sonst nirgends findet: Ain schädlin wärlich pesser ist dann ain schad ze aller frist. under zwaien übeltat ist das allweg wol mein rat, ob man aintweders müeste han, das merer übel sol man lan und sol das minder übel haben. (1 - 7) Der Satz vom größeren und kleineren Übel hat als Gemeinplatz eine lange Tradition, die aus der Antike bis in die heutige Zeit reicht. 232 Er findet sich bereits bei Platon und Aristoteles, im Lateinischen dann bei Cicero. 233 In der mittelalterlichen Rezeption begegnet er in lateinischer Form analog formuliert in der Historia septem sapientum 234 und in dem verbreiteten Werk De imitatione Christi des niederländischen Mystikers Thomas a Kempis 235 : De 232 Zur Dokumentation des Sprichworts siehe Karl Simrock : Die deutschen Sprichwörter. Gesammelt von Karl Simrock. Einleitung von Wolfgang Mieder. Stuttgart 1995, S. 448, Nr. 8790: «Besser ein Schädel als ein Schaden», außerdem Karl Friedrich Wilhelm Wander : Deutsches Sprichwörterlexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. 5 Bde. Unveränd. fotomechan. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1867. Augsburg 1987, Bd. 4, Sp. 53, s. v. Schädlein, Nr. 5: «Besser ein Schädlein dann ein Schaden.» Der Satz ist noch in vielen weiteren Sprichwortsammlungen seit dem 16. Jh. verzeichnet und existiert auch in der Schweiz in der Form «Es ist besser e Schädli als e Schade.» 233 Vgl. Platons Dialog «Protagoras» 358 d, Aristoteles ’ Nikomachische Ethik 5,3,16 und Cicero «De officiis» 3,1,3. 234 Georg Buchner : Die Historia Septem Sapientum nach der Innsbrucker Handschrift v. J. 1342 (= Erlanger Beiträge zur englischen Philologie 5). Erlangen/ Leipzig 1889, S. 10: De duobus malis minus malum est eligendum. Der Hinweis darauf bei Steinmetz (1999), S. 71. Die Stelle zeigt die Auslegung des Spruches sozusagen nach vorbildlichem moralischen Maßstab, denn einer der sieben Meister argumentiert damit für die Entscheidung, das Leben ihres Schülers zu retten, auch wenn sie alle sieben dafür sterben müssten: Der Tod des Einen ist also gegenüber dem Tod der sieben Weisen als das größere Übel bezeichnet. 235 Paul van Geest, Erika Bauer und Burkhart Wachinger: Art. Thomas Hemerken von Kempen. In: VL² 9 (1995), Sp. 862 - 882. 121 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente duobus malis minus est semper eligendum. 236 Am interessantesten in unserem Zusammenhang ist aber das 134. Stück der Gesta Romanorum, denn hier stellt sich eine Verbindung zu Kaufringer nicht nur über ein Zitat jenes Spruches her, hier zeigt sich auch eine Analogie seiner funktionalen Einbindung in den Handlungskontext eines Kasus: Der Protagonist, ein Ritter, argumentiert vor Gericht mit der Sentenz de duobus malis majus malum est vitandum, um sich gegen eine Anklage seines Handelns zu verteidigen, genau wie dies im Feigen Ehemann der Protagonist seiner Frau gegenüber tut. 237 Eben diese Geschichte aus den Gesta Romanorum rückt nun sogar sprachlich, räumlich und zeitlich noch ein Stück näher an Kaufringer heran, denn es gibt eine ostschwäbische Versbearbeitung, die ein Handschriftenfragment vom Ende des 15. Jahrhunderts überliefert: Keinz hat dem Stück den Titel Der Harnisch des toten Ritters gegeben. 238 Die Formulierung, die der Ritter dort benutzt, ist derjenigen des Erzählers in den Eingangsversen des Feigen Ehemannes erstaunlich ähnlich - zum Vergleich hier beide nebeneinander, links der Text des Harnisch: 236 Michael Joseph Pohl : Thomas Hemerken a Kempis: De Imitatione Christi. Freiburg i. Br. 1904, S. 166. Für die Hinweise zur Tradition des Spruchs danke ich Frau Dr. Nicola Hömke, Rostock. 237 Hermann Oesterley : Gesta Romanorum. Berlin 1872, S. 488 f, Nr. 134; die deutsche Übersetzung bei Johann Theodor Grässe : Gesta Romanorum. Das älteste Mährchen- und Legendenbuch des Mittelalters. 2 Bde. Leipzig 1905, S. 259 f, der allerdings die Auslegung wegläßt. Eine vollständige, wenn auch altertümelnde Übersetzung bei Adelbert von Keller : Gesta Romanorum. Das ist der Roemer Tat (= Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 23). Quedlinburg/ Leipzig 1841, S. 148 - 150. 238 Friedrich Keinz : Altdeutsche Kleinigkeiten. In: ZfdA 38 (1894), S. 145 - 153; ich zitiere im Folgenden den Text nach diesem Abdruck. Es handelt sich um das Handschriftenfragment cgm 5249/ 45, datiert Ende des 15. Jahrhunderts, es überliefert eine ostschwäbische Übertragung von Gesta Romanorum Nr. 134, die sich ziemlich genau an die lateinische Vorlage hält. Es handelt sich hierbei um eines der wenigen bisher aufgefundenen Zeugnisse einer volkssprachlichen Übertragung von Einzelstücken der Gesta Romanorum in Verse, weitere Beispiele bei Fischer (1983), S. 62, Anm. 137; zur Handschrift siehe Karin Schneider und Elisabeth Wunderle : Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Fragmente Cgm 5249 - 5250 (= Catalogus Codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis 8). Wiesbaden 2005, S. 83 f. 122 Modellanalysen do sprach der ritter hochgeborn zuo dem richter gar waisslich in meinem sin so dunckt mich, under zwaien übel tat ist das alwegen mein rat, ob man ain ietweders muoss bestaun, man sol das merer übel laun, da von sol man alzeit fliehen und sich von dem mindern ziehen. (75 - 83) 239 under zwaien übeltat ist das allweg wol mein rat, ob man aintweders müeste han, das merer übel sol man lan und sol das minder übel haben. (FE 3 - 7) Die Verbindung zu Kaufringer stellte schon Euling her, er wollte aber im Verfasser der Gesta-Übertragung einen Epigonen sehen, der Kaufringers Stil imitiert hätte. 240 Es könnte sich jedoch ebensogut um ein von Kaufringer selbst verfaßtes Stück handeln. 241 Denn es gibt noch eine weitere Übereinstimmung 239 Das von ist wohl ein Schreiberfehler, es muß sinngemäß zuo heißen, wie Euling (1977), S. 115 vermerkt. 240 Euling (1977), S. 115 f, der eine Übersicht der parallelen Stellen angefertigt hat und betont, «Stil, Technik und Wortmaterial decken sich in manchen Punkten» (S. 116). 241 Dafür sprechen die von Euling angeführten Argumente der stilistischen Ähnlichkeit (siehe ebd., Anm. 109), und die dialektale, damit räumliche Übereinstimmung (ostschwäbisch), sowie die zeitliche Nähe zur Kaufringer-Haupthandschrift cgm 270, die durch den Besitzvermerk im Vorderdeckel des Kaufringer-Faszikels Es ist an dem Wilhelm von Zell 1464 datiert ist; Wilhelm von Zell verkaufte 1480 die Hofmark Eppach am Lech (heutiger Ort Epfach) in der Nähe Landsbergs am Lech und war Augsburger Bürger, siehe Schneider (1970), S. 189. Das Fragment cgm 5249/ 45 wurde ausgelöst aus dem Einband eines auf das Jahr 1500 datierten Evangelienbuchs des Augsburger Bürgers Hans Schönsperger, siehe Schneider / Wunderle (2005), S. 84. Fischer (1983), S. 62, Anm. 137, hält das Fragment für den Bestandteil einer deutschen Gesamtbearbeitung der Gesta Romanorum in Versen, es wäre die bisher einzig bekannte. Diese vorsichtige Vermutung auch bei Udo Gerdes: Art. Gesta Romanorum. In: VL² 3 (1981), Sp. 25 - 34; Sp. 32. M. E. könnte es sich hier auch aus werkpoetischen Gesichtspunkten um ein Kaufringer-Stück handeln, die Thematik der Erörterung eines delikaten Falles könnte Kaufringer an diesem Stück angesprochen haben. Die allegorische Auslegung am Schluß paßt nicht zum Erzählgestus der anderen hier als kasuistisch behandelten Kaufringer- Texte. Aber von Kaufringer sind im cgm 270 und im mgf 564 auch moraltheologische redenartige Texte überliefert. Seine - ebenfalls ziemlich vorlagengetreue - Bearbeitung einer Predigt Bertholds von Regensburg in Die drei Nachstellungen des Teufels weist darauf hin, daß ihn auch solche Themen interessierten und er vorlagengetreu arbeitete. Außerdem beweisen Texte wie Die sieben Hauptsünden oder Die vier Töchter Gottes, daß Kaufringer die Kunst des geistlichen Allegorisierens beherrschte. Diese Vermutung wäre zu prüfen. 123 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente mit Kaufringers Feigem Ehemann: Im Laufe seiner Verteidigung bekräftigt der Ritter seine Argumentation mit dem Satz vom kleineren und größeren Übel durch ein Fallbeispiel: ich hoff ich woel da mit bestaun, das ich nichcz unrecht hab gitaun; wan der ain hauss brinen sech, der es zuo stund den nider brech und liess das füir nit fürbas gaun, der hette dar an wolgitaun, ob das haus wurd vernichtet gar, das wer dann vil boesser zwar wan dz die ganz stat schaden enpfieng, do das fuir den über gieng. also haun ich ach getaun, [. . .] (116 - 126) Dieses Beispiel, ein Haus zu opfern, um damit einen ganzen Stadtbrand zu verhindern, gebraucht auch der Erzähler im Promythion des Feigen Ehemannes zur Veranschaulichung der Sentenz vom größeren und kleineren Schaden: ainer sol auch lieber kiesen, ob ain statt verprinen wolt, und das er niderwerfen solt sein haus und auch erzerren gar, das das fewr nicht fürbas far, e das die statt wurd gar verprant. (10 - 15) Interessanterweise ist dieser ‹ Fall › vom brennenden Haus im Thesaurus mittelalterlicher Sprichwörter verzeichnet, die Quellenangaben bestehen jedoch ausschließlich aus den hier aufgeführten Texten, die erwiesenermaßen miteinander in Verbindung stehen. 242 Es dürfte sich also weniger um ein weitverbreitetes Sprichwort handeln, als vielmehr um eine singuläre Stelle aus den Gesta Romanorum, die auch ihre dortige Funktion des veranschaulichenden Beispiels in der deutschen Tradition beibehalten hat. Aus den einschlägigen Übereinstimmungen des Textvergleichs erhellt, daß Kaufringer entweder den lateinischen Text GR 134 oder eine deutsche Bearbeitung wie den Harnisch gekannt hat. Eine Abhängigkeit des Harnisch von Kaufringers Feigem Ehemann, wie Euling sie mit seiner Epigonenthese vertritt, ist nicht anzunehmen, denn der Harnisch ist eine sehr vorlagengetreue Übertragung des lateinischen Gesta-Textes, insofern erklären sich auch die beiden hier vorgeführten Text- 242 Samuel Singer und Ricarda Liver : Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. 13 Bde. Berlin [u. a.] 1995 - 2002, Bd. 2, S. 91; s. v. brennen 2.2. 124 Modellanalysen stellen der Sentenz vom Schaden und des Beispiels vom brennenden Haus als Übernahmen aus der lateinischen Quelle. Hinzu kommt, daß gerade die ausführliche Formulierung der Sentenz als persönlicher Ratschlag eines Sprecher-Ichs im Harnisch, die so verblüffend wörtlich mit derjenigen Kaufringers im Feigen Ehemann übereinstimmt, eine Erweiterung gegenüber der lateinischen Vorlage der Gesta Romanorum darstellt. Es bestehen meiner Ansicht nach die beiden Möglichkeiten, daß Kaufringer den Harnisch kannte, oder daß er selbst dessen Verfasser ist. 2.8 Gerichtsrhetorik in der mittelalterlichen Kleinepik - Der Fall in Senecas Controversia 4,4 Der juristische Handlungsrahmen des Textes aus den Gesta Romanorum - und damit auch des Harnisch als dessen Übertragung in die Volkssprache - ist kein Zufall. Er erklärt sich durch die Rezeption antiker Deklamationsliteratur: Die Controversiae Senecas des Älteren sind nachweislich mit mindestens 15 Stücken in den Gesta Romanorum rezipiert, die Controversia 4,4 bei Seneca ist die Vorlage für GR 134. 243 Angeklagt ist hier (Con 4,4) ein siegreicher Held wegen Grabschändung. Im Krieg um eine Stadt verliert der Kämpfer seine Waffen und nimmt sich die Waffen aus dem Grab eines toten Kriegers. Er besteht den Kampf und legt die Waffen zurück. Nachdem er seine Belohnung erhalten hat, wird er wegen Grabschändung angeklagt. 244 Zu seiner Verteidigung führt der Held unter anderen Argumenten die den Umständen geschuldete Notwendigkeit seines Handelns an: Necessitas est quae navigia iactu exonerat, necessitas quae ruinis incendia opprimit: necessitas est lex temporis. Quicquam non fit legitime pro legibus? 245 243 Zur Rezeption senecanischer Kasus durch die mittelalterlichen Gesta Romanorum siehe Nicola Hömke : Seneca Moralizatus - Die Rezeption der Controversiae Senecas d. Ä. in den Gesta Romanorum. In: Wolfgang Kofler und Karlheinz Töchterle : Pontes III - Die antike Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte. Innsbruck/ Wien/ Bozen 2005, S. 157 - 174. Seneca ist hier in GR 134 explizit als Quelle genannt: Seneca narrat, quod [. . .] (Der lateinische Text wird zitiert nach der Ausgabe Oesterley (1872), hier S. 488.) 244 Lateinischer Text mit englischer Übersetzung in der Ausgabe M. Winterbottom ( Hg.) : Seneca the Elder. Declamations in two volumes. Translated by M. Winterbottom. Cambridge/ London 1974, Bd. 1, S. 446 - 449. 245 Winterbottom (1974), Bd. 1, S. 446 f: It is necessity that lightens a ship by casting out cargo, necessity that stops fires by pulling down houses. Necessity is the law of the moment. - Is anything illegal which is done on the law ’ s behalf? 125 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Die Fügung aus Satz und veranschaulichenden Beispielen gibt sich in Senecas Controversiae als rhetorische Konstruktion zu erkennen: Die sententia dient dem Angeklagten als Verteidigungsargument, ihre Gültigkeit belegen die einschlägigen Fallbeispiele. Es handelt sich hier um den innerhalb der rhetorischen Statuslehre definierten Argumentationsschritt der compensatio: «eine von zwei Handlungen mußte man vollbringen, und man hat das geringere Übel gewählt». 246 Zwar bringt der Text der Gesta Romanorum den Wortlaut der Sentenz verändert, sie ist jedoch sinngemäß beibehalten. Auch Ort und Funktion als Rechtfertigung des Angeklagten sowie der Konnex mit dem Beispiel vom brennenden Haus sind gleich geblieben: Qui respondit dicens: Domine, de duobus malis majus malum est vitandum, [. . .] Item in civitate aliqua si domus accenditur, nonne melius est, ut domus illa sine dilacione totaliter destruatur, antequam cetere domus incendantur et civitas tota destruatur? 247 Insgesamt tritt die forensisch-rhetorische, damit juristische Bedeutung des Kasus in der mittelalterlichen Rezeption natürlich zurück. 248 In den Gesta Romanorum wird der Geschichte eine moraltheologische Auslegung angefügt, die dem Geschehen einen allegorischen Sinn unterlegt: Der Ritter ist Christus, der die Menschheit gegen das Böse verteidigt und schließlich durch sie zum Tode verurteilt wird. Nicht mehr die Redestrategien der Parteien oder die Anwendung bestimmter Gesetze auf den individuellen Kasus stehen im Vordergrund, dieser ist nun von Interesse, weil ihm ein geistlicher Sinn appliziert werden kann. Wie Hömke zeigt, zielen auch die Modifikationen des vorliegenden Falles in den Gesta Romanorum auf die Absicht christlicher Unterweisung und Erbauung. 249 Die inhaltlichen Veränderungen sind dabei aber nicht so gravierend, daß nicht die ursprüngliche gerichtsrhetorische Durchformung der Fälle auch in ihrem neuen geistlichen Gewand erhalten bliebe: In den GR finden sich die argumenta aus Senecas Controversiae als ausgearbeitete Erzählungen wieder. Entweder wird die Gerichtssituation beibehalten, oder aber die streitenden Parteien - Vater und Sohn, Untertan und König etc. - werden in 246 Fuhrmann (2008), S. 108. 247 Oesterley (1872), S. 488. Übersetzung von Grässe (1905), S. 260: Jener antwortete aber: Herr von zwei Uebeln muß man das größere vermeiden, [. . .] Ebenso wenn in einer Stadt ein Haus brennt, ist es nicht besser, daß das Haus ohne Verzug ganz niedergerissen wird, bevor die andern Häuser Feuer fangen und die ganze Stadt zerstört wird? 248 Siehe dazu allgemein Ernst Robert Curtius : Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 164, sowie Worstbrock (2002), Sp. 773. 249 Vgl. Hömke (2005), S. 167 f. 126 Modellanalysen außergerichtlicher Konfrontation dargestellt. Die Dialogpartien entsprechen formal der Abwägung der Pro- und Contra-Argumente in den Controversiae, die ein Deklamator insbesondere in der probatio und der refutatio seines Plädoyers zu leisten hatte. 250 Obwohl die Erzählintention und die Funktion des Textes sich verändern, bleibt also die rhetorische Signatur in der Disposition des Kasus erhalten. Die Zweiteilung der controversia in die Falldarstellung (narratio - die Erzählung vom Ritter, der die Stadt mit den Waffen des toten Kämpfers rettet) und die Falldiskussion (argumentatio - Anklage, Verteidigung und Verurteilung des Ritters vor Gericht) kennzeichnet auch noch den mittelhochdeutschen Harnisch. Damit erklärte sich schließlich auch bei Kaufringer die Tradierung nicht nur des Spruches vom größeren und kleineren Übel als loses moralisches Zitat, wie er in vielerlei Zusammenhang sonst überliefert ist, sondern das spezifische Mittradieren seiner argumentativen Funktion in juristischem Geschehenskontext. Im Feigen Ehemann ist der semantische Konnex der Elemente Sentenz und Beispiel beibehalten. 251 Er wird aber versuchsweise in den neuen Kontext einer anderen Geschichte, eines anderen Falles gesetzt: Zur Diskussion steht jetzt die aubentür (21) vom sich selbst betrügenden Ehemann, die Kaufringer für seine Zwecke modifiziert hat. Heraus kommt ein ‹ Kriminalfall › und seine Verhandlung durch den Erzähler, Opfer ist die Frau, die Schuld trägt der Ehemann. Vor der Folie des antiken Gerichtsredenmodells, das - wie gezeigt - in der Textdisposition der Gesta Romanorum und des deutschen Harnisch noch immer präsent ist, lassen sich nun weitere Erkenntnisse zur Erzählstruktur des Kaufringerschen Textes gewinnen. 2.9 Experimentierendes Argumentieren: Das Spiel mit dem Modell der Gerichtsrede Indem Kaufringer die sententia dem zu erzählenden Fall voranstellt, interessiert ihn deren argumentative Applikationsfähigkeit und damit Überzeugungskraft, angewandt auf einen neuen Kasus: Die Aussage die triffet dise red an zwar/ etwie vil und doch nit gar (23 f) öffnet tatsächlich ein literarisches Spielfeld, auf dem experimentierend Fall und Sprichwort, die zu beurteilende Situation und die 250 Ebd., S. 160. 251 Geht man davon aus, es handle sich bei dem Verfasser des Harnisch ebenfalls um Kaufringer, so wäre eine solche erzählerische Ökonomie der Wiederverwendung von Motiven, Sentenzen, Sprachformeln innerhalb des eigenen Werkes für ihn gerade typisch. 127 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente normierte, konventionell anerkannte Beurteilungsvorgabe aufeinander bezogen, aneinander gemessen werden. Dieses Vorgehen erzeugt Dialektik, bringt eine Auffächerung der Perspektiven statt Eindeutigkeit. Das Hauptinteresse des Textes liegt nun auf dem Vorgang des Argumentierens. Dieser Vorgang wird durchgespielt auf verschiedenen Textebenen, indem Oppositionspaare aufgestellt werden, die nach dem Modell des ‹ argumentativen Gegeneinanders › von probatio und refutatio agieren und reagieren - mit Wort oder Tat. 2.9.1 Ritter vs. Ehepaar: Wie die Struktur von probatio und refutatio das Handlungsgeschehen aufbaut (Argumentatio I) Der Eintritt in das diskursive Handlungsgeschehen wird vorbereitet durch die nun einsetzende ‹ Unmittelbarkeit › der Handlung, indem die Figuren zunehmend in direkter Rede interagieren. So ist es zunächst noch der Erzähler, der gemäß einer gerichtsrhetorischen narratio den Ort des Geschehens und die beteiligten Personen vorstellt (27 - 44) und die Ausgangssituation des Falles referiert (45 - 70). 252 Die Provokation des Ritters führt zu einer offensiven Reaktion der Frau, sie fürchtet um den Verlust ihrer öffentlichen Ehre, was rückblickend durch die Charakterisierung ihrer Person plausibel motiviert ist. Durch sie tritt der Ehemann auf die Bühne des Geschehens und trifft mit dem nun in direkter Rede mitgeteilten Plan die Entscheidung, dieser Provokation seinerseits mit Konfrontation zu begegnen. Es haben sich zwei gegnerische Parteien formiert, das Ehepaar setzt sein Vorhaben, den Plan des Ritters zu vereiteln, gegen dessen Vorhaben. Ein Experiment beginnt: Das weitere Handlungsgeschehen wird nun formal durch das Hin und Wider dieser gegnerischen Parteien Ritter und Ehepaar konstituiert. Nimmt man den Erzähler als Rhetor, so läßt dieser also den zu erzählenden Fall bereits als argumentatio ablaufen, deren probationes und refutationes aus wörtlichen wie tätlichen ‹ Argumenten › der Figuren bestehen, sich damit auf der Ebene des Figurendialogs und der Figurenaktion abspielen. Das Ende des vorbereitenden Experimentaufbaus des Erzählers und der Beginn des tatsächlichen Konfrontationsablaufs argumentatio I ist dementsprechend durch eine zeitliche Zäsur von drei Tagen markiert: Darnach an dem tritten tag (81) wird im Dialog Ritter-Frau ersterem auf seine wiederholte probatio, er leide aus Liebe zu ihr großen Kummer, von dem sie ihn nur mit der Zusage eines Stelldicheins erlösen könne (88 - 96), positiv geantwortet. Die Direktheit des Geschehens verdichtet sich sodann durch die äußere Einheit von Zeit, Ort und Handlung zu einer Szene: Im Haus, genauer, in der kamer (119) des Ehepaares treffen die gegnerischen Parteien aufeinander. Ritter und Frau sitzen zusammen auf 252 Vgl. das Schema im Anhang. 128 Modellanalysen ainer schönen sideln (120) und der Ehemann befindet sich versteckt hinter einer großen Truhe (124): er hett ain panzer stark und vein angelegt und was berait, dem ritter füegen grosses lait. (126 - 128) Das Geschehen hat einen vorläufigen Stillstand erreicht. Die Argumentation muß neu angestoßen werden, damit wie geplant der Ehemann auftreten und seine versprochene refutatio, den Ritter zu bestrafen, einlösen kann. Die Frau ist es deshalb, die mit rhetorischem Geschick ihren Gatten zum Handeln zu überreden sucht. 253 Weil dieser ja in seinem Versteck nur eingeschränkt sehen kann, was vor sich geht, läßt sie ihm mit einer lautstarken Feststellung - und dieser Kniff erinnert an das dramatische Mittel der Mauerschau - die Information zukommen, der Ritter sei in sehr zivilem Aufzug nur mit einem Messer bewaffnet erschienen: das wär ewch unhilflich gar,/ ob ewch iemant tätte lait sagt sie zum Ritter, und der Erzähler erklärt: die fraw die red darumb sait in lutem pracht mit gefär, das ir man dest käcker wär (150 - 152) Der eigentliche Adressat dieser probatio versteht sein ‹ Stichwort › nicht, dafür fühlt sich der Ritter provoziert und setzt eine eindrucksvolle refutatio dagegen. Er entkräftet ihr Argument als oberflächlichen Eindruck durch Betonung seiner Stärke und seines Mutes (154 - 160). Außerdem beteuert er die Güte seines Messers: ich haun hie ain messer guot,/ darvor kain harnasch ist behuot (161 f). Und nun ereignet sich der Umschlagspunkt von mündlicher Argumentation, also Sprachhandlung in Handlung. Nicht der Ehemann bestimmt ihn, sondern der Ritter. Er demonstriert sein scharfes Messer an einer Eisenplatte und erbringt so den Augenscheinbeweis seiner Behauptungen. 253 Aus der Textdisposition erklärt sich damit auch dieser Unterschied im Vergleich zum französischen Cocu armé. Dort fragt der Schotte die Frau bei seiner Ankunft, ob auch wirklich nicht ihr Mann im Haus sei, und weil ihn ihre zögerliche Antwort stutzig macht, demonstriert er vor allem mit drohenden Kraftausdrücken und indem er sein Schwert ein paarmal durch die Luft sausen läßt, seine Stärke, die ohnehin schon von vornherein betont worden ist. Diese Demonstration, die den Umschwung der Handlung einleitet, ist damit als Zufall motiviert und nur ein weiterer Baustein, um das bereits feststehende Unterliegen des Ehemannes erzählerisch umzusetzen. Bei Kaufringer dagegen werden in diesem Moment tatsächlich zwei Vorhaben zweier gegnerischer Parteien konfrontiert, das Geschehen ist völlig offen. 129 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente «fraw, nun secht die sterke mein! » auß zuckt er den tegen sein. in ainem stich er gar durchstach die guoten platten sechsflach. er sprach: «mein tegen ist vil guot.» (169 - 173; Hervorhebungen C. R.) Eine überzeugende Argumentation: Der Ritter kann sogar die Wahrheit seiner Behauptungen sichtbar beweisen, und der Erzähler unterstützt ihn dabei mit der kunstvollen Zahlenspielerei, die den nur ‹ einfachen › Stich der sechsfachen Platte kontrastiert. Ihre Wirkung verfehlt diese refutatio nicht - allerdings wieder beim falschen Adressaten. Der Ehemann ist gänzlich überzeugt, und so hat der Ritter unwissentlich den Plan des Ehepaares durchkreuzt. Der Argumentationsverlauf kippt - und dies markiert den Wendepunkt des Geschehens 254 - zurück in den Modus sprachlicher Handlung: Der Gatte tut nichts, stattdessen denkt er nach. Ergebnis dieser in wörtlicher Rede mitgeteilten Gedanken ist der ausdrückliche Beschluß, jede weitere Handlung (probatio) zu unterlassen. Damit ist das Schicksal der Frau besiegelt. 255 Der Ritter setzt nun sein Vorhaben in die Tat um: lieplichen er si umbefie (195). Die Frau versucht es daraufhin noch einmal mit einer mündlichen refutatio, in der sie unmißverständlich ihren Standpunkt formuliert. Ihre direkte Rede ist - im wahrsten Sinne - wieder als ‹ Stichwort › für den Ehemann gemeint, extra wird vom Erzähler vermerkt, daß sie laut spricht: 256 si sprach lut: «was maint ir hie? ich gestatt ew kainer minn. mein man ist in dem haus hinn. wirt er gewar diser geschicht, er lat es ungerochen nicht.» (196 - 200) 254 Auf diese Peripetie wird im Text noch einmal durch den Erzählerkommentar hingewiesen: es was vorher nit erdacht von dem weib und irem man das es also sölt ergan (214 - 216) 255 Die Frau hat mit ihrem Vorstoß selbst den Ausschlag für diese Entwicklung gegeben. Doch besteht für den Rezipienten kein Zweifel an der Untadeligkeit der Figur und daran, daß ihre Aktion das Gegenteil bewirken, nämlich ihren Mann zum Handeln bewegen sollte (vgl. V. 150 - 152). Deshalb greift hier m. E. nicht die Komik erzeugende Logik des Schwanks, nach der die Frau nun die zu Verlachende wäre, vielmehr ist sie als Opfer eigenartiger Umstände profiliert. Ein Lachen aus Schadenfreude über diese Figur wird außerdem durch ihr drastisches Schicksal der Vergewaltigung verhindert. 256 Womit die inquit-Formel gewissermaßen zur Regieanweisung wird. 130 Modellanalysen Der Ritter geht jedoch auf ein Gespräch nicht ein, er übergeht den Widerstand der Frau, indem er den eigenen Plan konsequent verfolgt. Ein resignatives was sol ich nun sagen mer? (201) des Erzählers markiert wie in der Unschuldigen Mörderin die Aussichtslosigkeit mündlichen Argumentierens gegenüber eines an körperlicher Stärke überlegenen Gegners, der diese Überlegenheit benutzt, um sich durchzusetzen: mit seiner sterk er si da zwang,/ das er si da überrang,/ das sein will da ward volbracht (211 - 213). Die Vorsätzlichkeit, mit der der Ehemann sein huote-Versprechen evident bricht und jegliche Hilfeleistung unterläßt, betont der Erzähler noch einmal und erzeugt dabei Mitleid mit der Frau als Opfer (conquestio), was seine später formulierte Anklage unterstützt: der ir ze hilf solt sein berait,/ der lies si staun in herzenlait (209 f). Mit dem Abtritt des Ritters ist denn auch das Ende des konfrontativen Fallgeschehens markiert und es beginnt eine neue argumentatio, diesmal in ihrer tatsächlichen Form, nämlich der des Streitgesprächs, das den zurückliegenden Fall erörtert. In der nun folgenden ‹ Gerichtsszene › der argumentatio II wird das Fallgeschehen zwischen Ehemann und Ehefrau erneut thematisiert. 257 2.9.2 Ehefrau vs. Ehemann: Thematisierung des Falles im Streitgespräch (Argumentatio II) Die Gerichtssituation ist nicht inhaltlich übernommen, sondern beginnt als Dialog zwischen den Ehepartnern, trotzdem ist wie im Gerichtsprozeß eine Auffächerung der Perspektiven zu beobachten. Die Frau als Opfer erhebt Anklage: si sprach zuo im mit jamers pein: «wie leistu hie, du böser hunt! wie hastu zuo dieser stunt mich gelassen in grosser not! mir wär wäger vil der tot, wann ich erlos worden pin. wau hastu nur gedacht hin, das du nit woltest helfen mir? » (240 - 247) Der angeklagte Gatte argumentiert nun «wie ein Rechtsanwalt». 258 Hatte er schon im entscheidenden Moment des höchsten Handlungsbedarfs kasuistischen Betrachtungen über die Vor- und Nachteile verschiedener Handlungsmöglichkeiten den Vorzug gegeben, so hält er jetzt ein wohlgefügtes Verteidigungsplädoyer. Zunächst weist er mit seiner refutatio die Anklage der Frau 257 Siehe das Schema im Anhang. 258 Kugler (1998), S. 367. 131 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente zurück, sie habe durch seine Schuld ihre Ehre verloren und schlägt eine gütliche Einigung vor: er sprach güetlich da zuo ir: «schweig still, liebe frawe mein, und lauß die sach auch guot sein, die geschehen ist an dir. du solt das gelauben mir, ich will ze arg nimer mer gedenken deiner wird und er; und sag auch nicht von mir das, das ich gewesen pin so las. (248 - 256) Sodann geht er auf ihren Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung ein und widerlegt ihn mit der probatio, sein Verhalten sei durch die opinio communis einer Weisheit legitimiert, die auf diesen Fall zutreffe: das ich also verhalten haun, das haun ich darumb getaun: ain schädlin ist doch pesser zwar dann ain schad, das wiß fürwar! wann hett ich im icht laid getan, er hett mich auch des nit erlan mit seiner sterke, die er hat, er hett mich durchstochen trat in meinem panzer vil guot. das ist nicht so wol behuot, als die platten gewesen ist. so wär ich ze diser frist des todes aigen gewesen gar; das wär ain grosser schade zwar. sunst hast du gelitten pein. das haist und ist ain schädlein; des machtu genesen wol.» (257 - 273) Ein solcher Pragmatismus scheint aus heutiger Sicht schlichtweg unverschämt, und die groteske Lächerlichkeit der advokatischen Winkelzüge des Ehemannes angesichts dieser Situation ist wohl auch erzählerisch intendiert. Trotzdem darf nicht vergessen werden, daß die Argumentation aus der Figurenperspektive in sich schlüssig motiviert ist, dafür hat der Erzähler mit dem gezielten Einsatz detaillierter Informationen gesorgt: Erwiesenermaßen, so der Ehemann, hätte das Messer des Ritters seinen Panzer durchstechen und ihn töten können, und er verweist auf die induktive Logik seiner vorher (170 - 189) angestellten Berechnung: Hält die sechsfach geschichtete Panzerplatte dem Messer des Ritters nicht stand, tut es seine aus weniger Schichten gefertigte Panzerung erst recht nicht. 132 Modellanalysen Vor der Folie der französischen Version wird die Verschiebung der Erzählintention bei Kaufringer noch deutlicher: Denn auch hier gibt es zwei Streitgespräche zwischen den Ehepartnern. Sie dienen jedoch weniger der Erörterung des Falles, stehen vielmehr im Dienste der bereits vorgeführten wiederholten Schwankmechanik. Auch ihre Komik funktioniert über das Prinzip der gesteigerten Doppelung. Zweimal wird die grelle Pointe des Vorfalls ausgekostet, indem der Mann, aus seinem Versteck hervorgekommen, wütend anklagt und die Frau sich zungenfertig mit doppelbödigen Argumenten entschuldigt, die einerseits den Verdacht des listig-untreuen Frauenzimmers nur erhärten, andererseits dazu dienen, den Ehemann gehörig als Hahnrei zu düpieren. Wer hier anklagt und wer sich verteidigen muß, ist weniger ein Indikator für die ernsthafte Erörterung von Schuld als vielmehr der formale Rahmen für das Zelebrieren schwankhafter Komik. Daß der Streit vor allem dazu dient, pikante Details unter einem moralischen Deckmantel zu reaktualisieren, zeigt auch sein ergebnisloses Kreisen: Chacun d ’ eulx cessa son dire et sa querelle, après pluseurs argumens et repliques d ’ un costé et d ’ aultre 259 kommentiert der Erzähler lakonisch den inhaltlichen Leerlauf des Streitgesprächs. 260 Im Feigen Ehemann fängt dagegen mit dem Streitgespräch der Eheleute die Verhandlung des Kasus erst richtig an. Es geht hier tatsächlich um die Erörterung von Schuld, um das Problem, wie der vorliegende Fall zu beurteilen sei. Die Frau erhebt die Anklage, auf die ausgeklügelte Erwiderung des Ehemannes hin schaltet sich aber nun der Erzähler ein. Auf diesen Moment scheint er nur gewartet zu haben, er löst die Frau ab und übernimmt in der argumentatio III selbst die Rolle des Anklägers. 2.9.3 Erzähler vs. Protagonist: Rahmenargumentation (Argumentatio III) Blickt man auf den mittelhochdeutschen Harnisch als Kaufringers Vorlage für die Verhandlung eines Kasus in der Form gerichtsrhetorischer Argumentation, so läßt sich konstatieren, daß der Feige Ehemann spielerisch wieder den Weg zurück zum Modell der antiken controversiae findet. Bei Seneca gibt es auf die Verteidigung des Angeklagten eine Erwiderung der Anklage, die sich mit dessen Argumenten auseinandersetzt (refutatio) und eigene Argumente für die rechtmäßige Verurteilung des Angeklagten vorbringt (probatio). In den Gesta 259 Semerau (1965), S. 69: Nach vielen Gründen und Erwiderungen von beiden Seiten gaben sie sich zufrieden, [. . .]. 260 Im Porretane und bei Bebel spielt eine ernsthafte Auseinandersetzung der Ehepartner im Streitgespräch ebenfalls keine Rolle, siehe die Position «Argumentationen» in der tabellarischen Übersicht des Vergleichs. 133 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente Romanorum und im Harnisch ist hier gekürzt worden: Die Anklage reagiert überhaupt nicht auf die Argumente des Ritters, im Dienste der heilsgeschichtlichen Erzählintention werden die Ankläger vom Neid auf den siegreichen Ritter getrieben und fordern dessen Tod ohne Angabe eines Grundes und obwohl der Richter ihn für unschuldig hält. 261 Die heilsgeschichtliche Szene von Jesu Verhör vor Pontius Pilatus gibt hier den Verlauf der Verhandlung vor. 262 Nun ist bei Kaufringer zu bemerken, daß die Anklage, nämlich der Erzähler im Epimythion, sich sehr wohl und ganz detailliert auf die Argumentation des Angeklagten bezieht. Mit seiner refutatio widerlegt er zunächst dessen Auslegung der Sentenz vom kleinen und großen Schaden: er hat war und doch nit gar. wann wär er palde komen dar, e der frawen laid geschach, und hett kainen ungemach dem ritter gefüeget do, so wär es nicht ergen also und war auch da kain schädelein an der lieben frawen sein noch kain schad an im volbracht. (275 - 283) Hier erklärt sich nun endlich der Aufwand einer so ausführlichen Begründung und Veranschaulichung der Sentenz im Promythion. Wir haben bereits gesehen, daß die sententia vom größeren und kleineren Schaden in der antiken Tradition der senecanischen Controversia 4,4 als Argument der Verteidigung gebracht wird: Der Ritter im Harnisch macht deutlich, er habe nach diesem Prinzip gehandelt und nennt zur Exemplifikation den parallelen Beispielfall des brennenden Hauses, das abzureißen besser sei als einen Stadtbrand zu verursachen. Der Konnex mit dem Beispiel vom brennenden Haus, das die Gültigkeit des Satzes veranschaulicht, ist beibehalten, allerdings ist das Prinzip erheblich ausgeweitet, denn nun sind es gleich drei Beispielfälle, die zeigen, wie die abstrakte Allgemeingültigkeit des Sprichworts in der konkreten Begebenheit ihre Berechtigung findet, nachvollziehbar wird. Das ursprünglich zur Sentenz gehörende Beispiel des brennenden Hauses rückt nun in die Mitte, es wird eingerahmt von zwei Beispielen, die sich mit der Bestrafung von Verbrechern beschäftigen. Alle drei Fälle sind jedoch nicht als bloße konstruierte Argumente aufzufassen, sondern besitzen durchaus sozial- und rechtshis- 261 Vgl. V. 58 - 67 und V. 136 - 148 des Harnisch, Keinz (1894), S. 148 u. 150; vgl. dazu Hömke (2005), S. 167 f. 262 Vgl. etwa Joh 18, 28 - 40. 134 Modellanalysen torische Gültigkeit. 263 Die Belegkraft der vorgeführten Einzelbeispiele steht damit außer Frage. 264 In seiner Rolle als Ankläger benutzt der Erzähler das Promythion bereits für seine Argumentation gegen den Protagonisten im Epimythion. Die Auslegung der Sentenz als Argument aus der Figurenperspektive des Protagonisten steht der Auslegung der Sentenz aus seiner eigenen Perspektive gegenüber. Indem er im Promythion die rhetorische Beweiskraft der Sentenz und des Exempels überzeugend demonstriert und diese Wirkung für den nun zu erzählenden Fall prophylaktisch in Zweifel zieht, bereitet er seine im Epimythion durchgeführte refutatio, die Widerlegung der Argumente des Ehemannes, vor. 265 Was im Harnisch in der Tradition des 263 Das erste Exempel, gegenüber der Todesstrafe lebendig begraben zu werden, sei die Verstümmelungsstrafe des Hand- und Fußabschlagens das kleinere Übel, bezieht sich auf die besondere Grausamkeit dieser selten angewandten Todesstrafe, vgl. Willers (2002), S. 80, Anm. 142, mit weiteren Hinweisen. Die Herkunft des zweiten Exempels, das das Einreißen des eigenen Hauses empfiehlt, um das Ausbreiten des Feuers auf die ganze Stadt zu verhindern, aus der antiken Kontroversenliteratur wurde oben gezeigt. Kaufringer dürfte die Schlüssigkeit des Beispiels jedoch auch aus eigener Kenntnis besonders eingeleuchtet haben, denn es findet sich eine ebensolche Verordnung auch im Stadtrechtsbuch Landsbergs am Lech, wo Art. II 133 dem Richter und dem Stadtredner die besondere Befugnis einräumte, Gebäude abreißen zu lassen, um den Brand zum Wohl der Gemeinschaft einzudämmen, siehe Alfred Scherpf : Das Rechtsbuch der Stadt Landsberg am Lech. Diss. Erlangen 1950, S. 57. Auch das dritte Exempel leuchtet vor dem sozialhistorischen Hintergrund einer Ehrenhierarchie der Todesstrafen, in der die Diebesstrafe des Hängens ganz unten steht (siehe dazu D. Marschall: Art. Hängen. In: HRG 1 (1971), Sp. 1988 - 1990), unmittelbar ein: Der Dieb zieht das Köpfen als ehrenvollere Todesstrafe und damit kleineres Übel dem Hängen vor. 264 Kasten (1999), S. 184, hält die Beispiele für «fragwürdig» und sieht dies als Teil einer Strategie des Erzählers an, sich im Promythion als unreliable narrator und damit das exemplarische Erzählen an sich als Problem zu markieren. Beachtet man jedoch die Referenz auf den rechtshistorischen Diskurs sowie die deutlich in die antike Kontroversenliteratur zurückreichende Traditionslinie dieser Sentenz und ihrer Illustration durch Beispiele aus dem Rechts- und Sozialbereich, so wird deutlich, daß die Beispiele nur dem modernen Rezipienten fragwürdig scheinen. 265 Gegen Grubmüllers Annahme (siehe Grubmüller (2006), S. 183 f), Kaufringer setze im Feigen Ehemann Zynismus ein, um exemplarisches Erzählen ad absurdum zu führen, ist hier noch zu bemerken: Der Erzähler ruiniert mit seiner Argumentationsstrategie auch die zynische Pointe, die Geschichte auf das Bonmot, das facete dictum des Sprichworts hinauslaufen zu lassen. Bei Bebel funktioniert diese Konstruktion, die Geschichte endet in der Pointe der Aussage des Ehemannes; der Erzähler bei Kaufringer nimmt die Pointe aber schon vorweg, indem er im Promythion das spätere dictum des Ehemannes ausführlich und haarklein exemplifiziert. Es geht also nicht um die Pointe, diese wird sozusagen geopfert für die Inszenierung diskursiver Auseinandersetzung. 135 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente antiken Kasus noch als Argument der Verteidigung funktioniert hat, ist bei Kaufringer ein Argument der Anklage geworden. Erst mit diesem Epimythion wird deutlich, daß der Erzähler bereits im Promythion die Diskussion mit seinem Protagonisten begonnen hat. Das Promythion erhält damit eine neuartige Funktion. Es liefert nicht nur den losen Aufhänger für ein schwankhaftes Märe, dessen Erzählfall dann den eigentlichen Anlaß des Erzählens darstellt. Es ist aber auch nicht die moraldidaktische Einleitung zu einem exemplarischen Märe, wo es die Aufgabe des Erzählfalles wäre, die Gültigkeit einer konstatierten opinio communis zu belegen. Stattdessen verfolgt der kasuistische Erzählstil Kaufringers schon mit der Gestaltung des Promythions ein spezifisch rhetorisches Ziel: die Argumentation des Protagonisten zu widerlegen. 266 Ein Stück weit (er hat war und doch nit gar, 275) gibt der Erzähler seinem Protagonisten zu, daß seine Anwendung der Sentenz auf die vorliegende Situation rein logisch stimmig ist. Der Anspruch, die Wahrheit zu verkünden (für war ich nun sprechen sol, 274) markiert jedoch die auktorial dominierende Position in dieser Auseinandersetzung. Mit der probatio einer alternativen Lösung zeigt der Erzähler, wo der 266 Die Funktionsweise des Exempels im Promythion läßt sich mit der Idee der dramaturgischen Wirkung von Berthold Brechts Verfremdungseffekten (V-Effekten) veranschaulichen. Um das Publikum aus der unkritischen Versunkenheit in die vorgeführte ‹ Wirklichkeit › des Stückes zu reißen, zu der nach seiner Theorie die Perfektionierung der Illusion durch die direkte theatrale Darstellung führt, baut er illusionszerstörende Elemente ein, die statt Logik Widersprüche erzeugen und damit den Rezipienten zur Reflexion zwingen. Ein Instrument solcher Erzeugung von Brüchen ist etwa die Benutzung von Spruchbändern, die die Aussagen der Figuren durch eine gegenteilige Information relativieren, vgl. Pfister (2001), S. 105 f. Derselbe Effekt wird im Feigen Ehemann erzähltechnisch erzeugt, indem dem Ganzen das Motto der sententia vorangeschickt wird. Diese wird auch bereits ausgelegt und der Kasus läuft nun vor dem Hintergrund dieses Vorwissens des Rezipienten ab. Sensibilisiert durch die vorausgehende Bemerkung, Sentenz und erzählte Geschichte paßten nicht ganz zusammen, stellt der Rezipient nun die drei den Satz exemplifizierenden Beispiele aus dem Prolog der Geschichte gegenüber, und sofort fällt der Unterschied auf: Die Entscheidung, die der Ehemann gemäß der Maxime großer Schaden/ kleiner Schaden trifft, hat die härtesten Konsequenzen nicht für ihn selbst, sondern für seine Frau. Indem er selbst in der huote des Verstecks bleibt, verweigert er ihr genau diesen Schutz, zu dem er aber eherechtlich und moralisch verpflichtet wäre. In den drei Beispielen des Prologs dagegen trifft die jeweilige Person die Entscheidung für sich selbst und trägt auch selbst die Konsequenzen daraus: Der Verurteilte verliert seine eigenen Hände und Füße, der Hausbesitzer reißt sein eigenes Haus ab und der Dieb entscheidet sich dafür, geköpft anstatt gehängt zu werden. Insofern unterwandert der Erzähler bereits vorab die Argumentation seines eigenen Protagonisten, indem die Inadäquatheit der Sentenz schon auf der Hand liegt. 136 Modellanalysen Fehler im Verhalten des Ehemannes tatsächlich lag: Handlung wäre in dieser Situation vonnöten gewesen, und zwar bevor die ganze Sache eskaliert wäre (276 - 279). Die argumentativen Anstrengungen des Ehemannes, der besagte sententia für seine Interessen instrumentalisiert, entbehren nicht rhetorischer Geschicklichkeit. Sie sind jedoch ein moralisch unzulässiger Versuch, eigenes Fehlverhalten zu kaschieren. Dieser ersten probatio läßt der Erzähler das eigene Anklageargument für eine Verurteilung des Ehemannes aufgrund vorsätzlich unterlassener Hilfeleistung folgen (284 - 291) und endet mit einem Wutausbruch, der als beeindruckende Demonstration von indignatio gewertet werden kann: ich wünsch im bis an seinen tot als ungelück ze leipgeding. got geb, das im nicht geling, was er immer greifet an! nit bösers ich im wünschen kan. (292 - 296) Die emotionale Betroffenheit des Anklägers ob einer solchen Tat rückt den zu Verurteilenden in ein schlechtes Licht und gewinnt die Sympathie des Richters. Der dritte Lösungsvorschlag für den Kasus, den der Erzähler bringt, obwohl er die Geschichte zuvor anders erzählt hat, belegt einmal mehr, daß die Nicht- Aktion des Ehemannes als Handlungsumschwung zur ursprünglichen Form des Motivs gehört. Während den parallelen Texten aber nicht daran gelegen ist, dieses Verhalten juristisch zu beurteilen und daraus eine Schuld des Ehemannes abzuleiten, ist dies eben das Moment, das Kaufringer vor allem interessiert. Deshalb gibt er dem Verhalten des Ehemannes in solch einer Situation eine Motivation: Selbstsucht, und sorgt dafür, daß dieses Motiv aus der situativen Figurenperspektive heraus ‹ nachvollziehbar › wird. Bei Kaufringer wird also das Verhalten des Ehemannes motiviert. Anschließend werden der Figur Argumente bereitgestellt, um sich zu verteidigen. Daß diese Verteidigung wiederum vom Erzähler widerlegt wird und vor allem, wie spezifisch auf die detailliert vorher erzählte Situation bezogen dies geschieht, indem der Erzähler nun nämlich bei der Vorsätzlichkeit der Handlung des Ehemannes einhakt und diese zum Hauptbelastungspunkt macht, zeigt den hohen Konstruktionsgrad des Ganzen. Aus dem Text spricht ein Vergnügen an der Vorführung spitzfindigen Disputierens. Dafür wird innerhalb der Geschichte ein Gegner aufgebaut und es werden ihm Argumente in den Mund gelegt, nur damit der Erzähler am Schluß durch die eigene von Anfang an besser vorbereitete Argumentation trumpfen kann. 137 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente 2.9.4 Zur dialektischen Gesamtkonstruktion So erklärt sich auch die verzwickt widerständige Dialektik des Textes, die durch keine bisherige Lesart schlüssig aufzulösen war. Der erzählte Fall will gar nicht dazu taugen, exemplarisch die Gültigkeit der prologischen Sentenz zu belegen, wie der Erzähler selbst betont und wie schon die Bauweise des vorweggeschickten Promythions zeigt: Hier liegt nämlich bereits ein in sich schlüssiges und abgeschlossenes Exempel vor. Der literarisch konstruierte Fall wird nun nach dem Prinzip einer makrostrukturellen Dialektik als dessen Gegenstück gesetzt. Auf diese Weise kann die Gültigkeit der Sentenz als Argument im besonderen Fall und aus einer besonderen Perspektive ausprobiert werden. Immer wieder werden dabei Brüche in der Konsistenz der erzählten Welt sichtbar und die Personen erscheinen als von außen gesteuerte Spielfiguren. Besonders evident wird dies in dem Moment, als der Protagonist seiner Frau gegenüber plötzlich mit eben dem vom Erzähler ausgelegten Sprichwort vom größeren und kleineren Übel argumentiert. Woher hat die Figur dieses Wissen um die Metaebene des Textes? Es ist dies ein Schachzug, der nicht die Figur als eine besondere charakterisiert, sondern mit der besonderen Position des Erzählers im Feigen Ehemann zusammenhängt. Er nimmt eine Doppelrolle ein als Figur des argumentierenden Anklägers einerseits, der scheinbar selbst den Gesetzen der erzählten Welt unterliegt und deshalb keinen Einfluß auf das Verhalten der Figuren hat, weswegen er nur abschließend kommentieren und die seiner Meinung nach beste Lösung des Falles präsentieren kann. Auf der anderen Seite nutzt er aber auch ganz klar seine Macht als extradiegetische Instanz, um die Überzeugungskraft seiner Argumentation am Schluß von Anfang an vorzubereiten. Schließlich erkennt man den wahren ‹ Spielleiter › auch wie in der Unschuldigen Mörderin an der parteiischen Darstellung des Falles. Die auktoriale Kommentierung lenkt Sympathien bereits in die Richtung der abschließenden Stellungnahme des Erzählers. Nicht der Ehemann ist eine Figur, die Zugriff auf die extradiegetische Ebene der Erzählerkommentierung hat und deshalb das Sprichwort des Promythions für seine Verteidigung aufgreift, sondern genau andersherum: Der Erzähler opfert die erzähllogische Trennung von Geschichts- und Diskursebene, um seine eigene Argumentation in der Rolle des Anklägers bestmöglich vorzubereiten. Schon der Grad an artifizieller Durchformung des Stoffes zum fingierten Präzedenzfall zeigt, daß keine ernsthaft auf die Realität anzuwendende ‹ Handlungsanweisung › aus dieser Situation extrahiert werden kann. 138 Modellanalysen 2.9.5 Funktionsweisen der Komik bei Kaufringer: Parodie antiker Modelle Der Verdacht entsteht, daß es bei alledem nicht mehr um eine didaktisch zu vermittelnde Moral oder um die Unterhaltung des Publikums mit einer schwankhaften Pointe des Handlungsgeschehens geht, sondern um die Präsentation der rhetorisch-argumentativen Fähigkeiten des Autors selbst, die er anhand einer in ihrem Eklektizismus durchaus kreativen Neukonstruktion von tradierten literarischen Stoffen und Motiven zeigt. Hier ist meiner Meinung nach auch die Komik des Textes zu lokalisieren. Es handelt sich um eine indirektere Komik als diejenige des Schwanks, die Kaufringer im Vergleich zu den Paralleltexten ganz offensichtlich zurücknimmt. Im intertextuellen Bezug auf vorausliegende Modelle ist die spezifische Komik des Feigen Ehemannes eher als parodistisch zu begreifen. Sie entsteht als Parodie des Modells der Gerichtsrede, genauer, als Parodie auf dessen Ausformung in Falldarstellung und Falldiskussion anhand eines konkreten Kasus. An Konstruiertheit steht Kaufringers Kasus demjenigen aus den Controversiae nicht nach. Ist es bei Seneca in Con 4,4 der Held, der umständehalber in die sittliche Konfliktsituation gerät, zwischen zwei Handlungsalternativen wählen zu müssen und seine Wahl anschließend argumentierend durch die Sentenz und weitere veranschaulichende Beispiele als die moralisch vertretbarere Alternative darstellt, so ist es bei Kaufringer der Ehemann, der sich durch nicht weniger gezielte Zuspitzung des Geschehens in einer ebensolchen Entscheidungssituation sieht und auch genauso verfährt. Schon die Art des Falles als literarische aubentür mit der Tradition des Ehebruchschwanks füllt jedoch das Modell mit ungewohntem Inhalt. ‹ Verkehrt › scheint auch der Unterschied, daß die Entscheidung des Ritters, in dieser Situation zu handeln, mit den allgemeinen Moralvorstellungen, dem menschlichen Begriff des sittlichen Handelns in drohender Gefahr übereinstimmt, während die Entscheidung des Ehemannes diesen Werten in krasser, im eigentlichen Sinne asozialer Weise widerspricht. Die Logik der Argumentation des Angeklagten ist in sich ungebrochen, nur ist die Relation verändert: Die Stoßrichtung der Argumentation paßt nicht mehr auf die Situation, denn schon das Verhalten des Angeklagten im Vorfeld war moralisch als falsch zu beurteilen. Die sture Anwendung des formalen Schemas, nämlich die Verteidigung zu führen mittels des argumentativen Gebrauchs der sententia vom größeren und kleineren Schaden, die das eigene Verhalten als übereinstimmend mit der opinio communis darstellen soll, läuft ins Leere. Der Ehemann ‹ argumentiert › im Gegensatz zum rhetorisch glänzenden Erzähler völlig falsch. Während also auf der inhaltlichen Geschehensebene des Textes komische Momente eher zurückgenommen werden, auf die Ausformung eines Ehe- 139 Der feige Ehemann - Argumentationsexperimente bruchschwanks verzichtet wird, die mit dem Schwankstoff verbundenen Kippmomente von Provokation und Replik nicht Lachen, sondern durch spezifische Modifikation eher Entsetzen erzeugen, wird auf der formalen Ebene der Textdisposition Komik generiert durch das vielfältige Spiel mit der Struktur der rhetorischen argumentatio. 3 Exkurs - Wie aus dem juristischen der literarische Fall wird Der Feige Ehemann wäre damit zu lesen als eine kasuistische Perspektivierung einer traditionsreichen sententia, die aus der lateinischen Literatur stammt. Ihr ursprünglicher Kontext einer antiken controversia und damit ihre argumentative Funktion sind in den Gesta Romanorum trotz einer geistlich-allegorischen Auslegung des ‹ Falles › beibehalten. Und von hier nimmt auch Kaufringer die argumentativen Elemente seines Feigen Ehemannes und verbindet sie mit einem neuen Erzählfall, dem vermutlich aus Frankreich tradierten literarischen Schwankstoff vom sich selbst betrügenden Ehemann. Dieser wird nun kasuistisch traktiert, wobei Komik und Pointierung auf der Handlungsebene in den Hintergrund rücken: Kaufringer interessiert offenbar weniger die Typisierung der Figuren und das komische Potential, das sich daraus im Handlungsverlauf schlagen ließe. Der Kasus selbst und der Prozeß seiner Vorführung und Verhandlung tritt in den Vordergrund. Im Sinne einer solchen Fallkonstruktion findet man den Stoff und die Figurencharakterisierung modifiziert. Die sympathiesteuernde Funktion von Komik wird dabei durchaus für die Argumentationsabläufe rund um die juristisch markierte Straftat der Vergewaltigung und der unterlassenen Hilfeleistung genutzt: Aus dem Ehebruchschwank wird ein Rechtsfall. Für den Feigen Ehemann gelingt damit der Nachweis, daß Kaufringer sich auf die Form des antiken Kontroversfalles bezieht, die über die Tradierung solcher rhetorisch geformter Fälle als Erzählstoffe ins europäische Mittelalter gelangt. Ursprünglich funktionalisiert mittelalterliches Erzählen die antiken Kasus als Exempel für die christliche Predigt. Den Übergang vom rhetorischen Diskurs des gerichtlichen Vortrags, der Gerichtsrede, in einen poetischen beschreibt Ernst Robert Curtius 267 : 267 Ernst Robert Curtius : Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 164. 140 Modellanalysen Nun war aber schon im Rom der Kaiserzeit die Gerichtsrede zu einer rhetorischen Übung herabgesunken. Es wurden fiktive Streitfälle konstruiert, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hatten (controversiae). Ein erdichtetes Recht, ja erdichtete Gesetze wurden vorausgesetzt. Die Einführung von Seeräubern und Zauberern sollte den Reiz der Phantastik erhöhen. Auf der Schule wurde die Behandlung solcher Themen auch in poetischer Form geübt. Einige solcher Stücke sind auf uns gekommen. 268 Im Mittelalter hat man solche fiktiven Rechtsfälle als Novellen aufgefaßt. Die Controversiae des älteren Seneca sind eine Hauptquelle für die im Mittelalter so beliebte Sammlung Gesta Romanorum. Was ursprünglich der Stoff rhetorischer Übung war, wird Erzählstoff. Es geht dabei nicht mehr so sehr um Moral oder Gerechtigkeit, von der rechtshistorischen Realität sind die controversiae abgehoben. 269 Es geht um das kreative Spiel mit der Vorlage. Das Üben des Gerichtsredenschemas an fiktiven Rechtsfällen wandelt sich in ein möglichst abstruses Konstruieren eines neuen Falles, der möglichst wirkungsvoll inszeniert und von verschiedenen Standpunkten aus argumentierend diskutiert wird. Man hat sich bisher bei der Erforschung des Stellenwerts der Rhetorik für die mittelalterliche Literatur vor allem auf das Verhältnis von Rhetorik und Poetik konzentriert. 270 Der spezielle Traditionsweg der Rhetorik ins Mittelalter über die Rezeption der Deklamationsliteratur im Bereich christlicher Exemplarik ist daneben sehr spannend und scheint mir weiterer Untersuchung wert, da hier offenbar dezidiert die ‹ Geschichten › der ursprünglichen Übungs- Gerichtsfälle in den Vordergrund treten. Sie werden vom Mittel zum eigentlichen Zweck, denn nun interessiert die Handlung, der ‹ unerhörte Fall › an sich, die rhetorische ‹ Durchformung › der Stücke - Rhetorik als ars - tritt in den Hintergrund. Und dennoch verschwindet sie nicht: Die Stoffe und Motive werden zwar im christlichen Mittelalter narrativ umcodiert, ihre kasuistische 268 Ebd. Als Beispiele nennt Curtius Nr. 21 und 198 der Anthologia latina, sowie Dracontius, Romulea 5. 269 In der älteren Forschung sah man die Existenzberechtigung der ‹ abstrusen › Deklamationen Senecas und Ps-Quintilians in ihrem Bezug zur juristischen Realität und versuchte deshalb nachzuweisen, daß die ihnen zugrundegelegten Gesetze tatsächlich in der römischen oder klassisch-griechischen Rechtsprechung existierten, vgl. Stanley F. Bonner : Roman Declamation in the Late Republic and Early Empire. Liverpool 1949. Die neuere Forschung zur antiken Deklamation fragt stattdessen nach der soziokulturellen Funktion der Controversiae, vgl. Hömke (2005), S. 170. 270 Siehe Worstbrock (2002), Sp. 773: «Ohne erkennbaren Einfluß auf die rhet. Lehre war dagegen die Lit. der Declamationes (Quintilian), der Controversiae und Suasoriae (Seneca d. Ä.); sie bot eher Lesestoffe, die in Kurzbearbeitungen mit beigefügten Moralisationen in Erzählsammlungen wie die Gesta Romanorum eingehen konnten.» 141 Exkurs - Wie aus dem juristischen der literarische Fall wird Grundform bleibt aber trotzdem erhalten - wie die diskursive Form der Controversiae Senecas in den Gesta Romanorum narrativ entfaltet wird, zeigt Hömke. 271 Neben einer direkten Vermittlung und Rezeption rhetorischer Formen scheint eine solche also auch über das Arsenal an Stoffen und Motiven stattgefunden zu haben. Anhand von Kaufringers Unschuldiger Mörderin konnte gezeigt werden, wie rhetorische Formung im Sinne der ars nun auf verschiedenen Ebenen der Erzählung spielerisch wieder auflebt. Die Untersuchung zum Feigen Ehemann machte deutlich, wie Kaufringer das diskursive Prinzip der controversiae als Disputationsspiel anhand eines eigentlich ganz und gar unernsten, nämlich des schwankhaften Stoffes von dem in seinem Beisein gehörnten Ehemann durchdekliniert. Der Reiz scheint im Experimentieren mit und in der Vorführung von dialektisch argumentativen Vorgängen zu liegen, die umso interessanter gestaltet werden können, je verzwickter der zu traktierende Fall und die vorausgesetzten Normen oder Gesetze konstruiert sind. Die Unerhörtheit des Falles garantiert eine spannende Kontroverse und den Reiz der Narration. Damit ist - auf spezifisch mittelalterliche Art - eben jene Zweigesichtigkeit wieder erreicht, die auch schon den antiken controversiae eignet: Die Vorführung rhetorischen Könnens im Traktieren des Kasus einerseits und die Präsentation spektakulärer Fälle auf der Grenze gesellschaftlicher Moralvorstellungen andererseits. 272 Die funktionale Ähnlichkeit zu den antiken controversiae ließe sich vielleicht noch weiter ergänzen durch die Beobachtung, daß auch diese Texte gekennzeichnet sind durch jenen Kohärenztypus auf der Basis von Serialität und Kombinatorik 273 , der - vor dem Horizont einer 271 Hömke (2005), S. 157 - 174. 272 Eine vergleichbare Konstellation finden wir im Bereich der mittelalterlichen oratio latina vor: In seiner Rhetorimachia (11. Jh.) veranschaulicht Anselm von Besate die Vorschriften der rhetorischen Kunstlehre anhand eines fingierten Redestreits zwischen ihm und seinem Verwandten Rotiland, der voll ist von haarsträubenden Anschuldigungen - von Hurerei über sexuelle Perversionen bis hin zur Zauberei; vgl. die Auszüge mit Übersetzung und Erläuterungen bei Haye (1999), S. 42 - 66. 273 Dazu Nicola Hömke : Gesetzt den Fall, ein Geist erscheint. Komposition und Motivik der ps-quintilianischen Declamationes maiores X, XIV und XV. Heidelberg 2002, S. 29: «Erst kürzlich hat IMBER angemahnt, die erhaltenen Deklamationen in ihrer Eigenheit stärker als bisher unter dem Aspekt ihrer Funktion als Schaurede zu betrachten. So zeige sich der mündliche Charakter der senecanischen Controversiae an ihrer begrenzten Themenzahl. Insgesamt bildeten gerade die nach Belieben kombinierbaren Themenbausteine und die Verwendung schriller, aber standardisierter Figuren wie Piraten, böser Stiefmütter und enterbter Söhne den nötigen stabilen Hintergrund, vor dem Spontaneität und Innovation in der Ausgestaltung überhaupt erst möglich seien. Ein derartiges Repertoire war zudem kulturkreisunabhängig einsetzbar, was insbesondere für die Wanderredner der 142 Modellanalysen Gattung Märe - für die Texte Kaufringers im Überlieferungskontext des cgm 270 in besonderer Weise gilt. Zudem scheinen mir die mittellateinischen comediae 274 in diesem Zusammenhang relevant: Schirmer hat hier interessante Parallelen sowohl im Hinblick auf Motivik und Figurenpersonal als auch auf die Struktur und besonders das Verhältnis von Dialoganteil und epischen Partien herausgearbeitet, womit «die Comedia ihrer Form nach das mittellateinische Analogon zum mittelhochdeutschen Schwank und altfranzösischen Fabliau dar[stellt]». 275 In der germanistischen Mediävistik ist sein Ansatz jedoch meines Wissens bisher nicht weiter verfolgt worden. Gerade im Zusammenhang mit Fragen nach der pragmatischen Dimension märenhaften Erzählens sowie dem Wahrheitsanspruch der Texte scheint die Verbindung von mittellateinischen comediae und volkssprachlicher Versnovellistik weiterer Untersuchung wert, denn die comedia gilt in der lateinischen Poetik als tertia species narrationis 276 , womit das argumentum gemeint ist, jene mittlere Kategorie in einer aus der antiken Rhetorik übernommenen mittelalterlichen «Taxonomie des narrativen Wirklichkeitsbezugs», dem Dreischritt von historia, argumentum und fabula. 277 Es läßt sich eine direkte Verbindung zwischen comedia-Theorie und mittellateinischen Schwankerzählungen aufzeigen. 278 Auf eine mögliche generische Verbindung von Fabliaux und comediae, aus der dann auch die Relevanz der comedia-Theorie für die mittelhochdeutsche Versnovellistik erhellen würde, haben Joachim Suchomski 279 und Ingrid Strasser 280 hingewiesen. Fritz Peter Zweiten Sophistik relevant gewesen sein dürfte.» Siehe Margaret Imber : Practised Speech: Oral and Written Conventions in Roman Declamation. Speaking Volumes. Orality and Literacy in the Greek and Roman World. Leiden/ Boston/ Köln 2001. 274 Vgl. Joachim Suchomski : Lateinische Comediae des 12. Jahrhunderts. Ausgew. u. übers. mit einer Einleitung u. Erläuterungen von Joachim Suchomski unter Mitarbeit von Michael Willumat. Darmstadt 1979. 275 Schirmer (1969), S. 323. 276 Ebd., S. 322. Zitat aus der ‹ Parisiana Poetria › des Johannes de Garlandia, vgl. Giovanni Mari (Hg.): Poetria magistri Johannis anglici de arte prosayca metrica et rithmica. In: Romanische Forschungen 13 (1902), S. 883 - 965; S. 927. 277 Armin Schulz und Gert Hübner : C.2. Mittelalter. In: Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/ Weimar 2011, S. 184 - 205, S. 198. 278 Joachim Suchomski : ‹ Delectatio › und ‹ utilitas › . Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur (= Bibliotheca Germanica 18). Bern/ München 1975, S. 85, 87 f. 279 Suchomski (1979), S. 26. 280 Ingrid Strasser : Fabliaux, Mären, die Lehre des argumentum und der moderne Roman. In: Klaus Grubmüller , L. Peter Johnson und Hans-Hugo Steinhoff (Hg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter (= Paderborner Colloquium 1987). 143 Exkurs - Wie aus dem juristischen der literarische Fall wird Knapp urteilt, daß, abgesehen von einer Klärung der Genese, «die Möglichkeit einer Symbiose der lateinischen mit ihren volkssprachlichen Schwestergattungen [. . .] ernstlich zu erwägen» sei. 281 Ein mittlerer Grad an Realität kommt auch den in dieser Arbeit behandelten Texten Kaufringers zu, denn ihre ‹ Machart › läßt sie gerade durch die spezielle Inszenierung auf einer Schwelle zwischen Fiktion 282 und Realität zu stehen kommen, leben sie doch von einem Changieren zwischen literarisch konstruiertem und real ernstgenommenem ‹ Fall › . 283 Das Charakteristikum der Fälle ist ja gerade ihre realitätsferne Fingiertheit - sie sind darin tatsächlich den antiken controversiae vergleichbar. Zwar speist sich ihre ‹ realistische › Wirkung aus einer sorgfältigen narrativen Konstruktion kleinster Details, insgesamt aber sind sie seltsame, geradezu ‹ unerhörte › Sonderfälle, die keinerlei Alltagsrelevanz besitzen. Man könnte sagen, das Eintreffen eines solchen Falles ist zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich. Die Sonderfälle besetzen damit im Sinne der rhetorischen Lehre des argumentum, wie sie für die mittellateinischen comediae etwa von Johannes de Garlandia formuliert wurde, eine Paderborn 1988, S. 33 - 44, sieht über die argumentum-Lehre Beziehungen zwischen Fabliau, Märe und Novelle hergestellt, sie zeigt außerdem die Bedeutung der argumentum-Lehre und comedia-Theorie bis ins 17. Jahrhundert. 281 Fritz Peter Knapp : Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort. Heidelberg 1997, S. 40. 282 Siehe grundlegend Gottfried Gabriel : Art. Fiktion. In: RL 2 1 (1997), S. 594 - 598, sowie Friedrich Vollhardt : Art. Autonomie. In: RL 2 (1997), S. 173 - 176. Zum vielfältig diskutierten Problem der Fiktion und Fiktionalität in mittelalterlicher Literatur Ursula Peters und Rainer Warning (Hg.): Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. München 2009. 283 Bedenkt man, daß Fiktionalität für einen Text kein statischer Befund ist, sondern als eine Vereinbarung, als ‹ fiktionaler Pakt › zwischen Autor und Rezipient immer neu verhandelt wird, vgl. dazu Brigitte Burrichter : Fiktionalität in französischen Artustexten. In: Haferland (2010), S. 263 - 280, so rückt zweierlei in den Blick: Einerseits die paratextuellen Kommentare des Erzählers etwa zum Wahrheitsstatus seiner erzählten Geschichten im Promythion, andererseits die Überlieferungsgeschichte der Handschrift cgm 270. Es ergibt sich hier jedoch ein Bild, das in sich widersprüchlich ist: Auf der einen Seite fällt auf, daß Kaufringer in den Promythien der Mären kaum auf den Realitäts- oder Wahrheitsstatus seiner Geschichten zu sprechen kommt - im Gegenteil, zu Beginn der Drei listigen Frauen heißt es: ain aubentür ich davon schreib; / die ist mir gevallen ein (6 f) - , auf der anderen Seite ist der cgm 270 im Laufe seiner Überlieferung vor allem im Besitz von Pflegern und Bürgermeistern, also im weiteren Sinne rechtlich oder politisch tätigen Stadtbürgern. Für Aussagen über den Fiktionalitätsstatus der Texte (fabula, historia oder argumentum? ) aus dem Blickwinkel historischer Rezipienten könnte eine differenziertere Forschung zur Überlieferungsgeschichte fruchtbar sein. 144 Modellanalysen mittlere Ebene zwischen der Faktizität der historia und der Fiktionalität der fabula. Bei Johannes de Garlandia heißt es: argumentum est ficta res que tamen fieri potuit. 284 Das Phänomen einer «(literarischen) delectatio durch genußvolle Gedankenspiele und Spitzfindigkeiten in der Jurisprudenz des Mittelalters», auf das von Moos bereits 1988 hinweist 285 , wird in diesem Kontext umso interessanter: Auch in der Jurisprudenz hatte das Verfahren spielerischer und notwendig fiktiver Pro- und Contra-Argumentation eine quasi-ästhetische Seite - man könnte sie in heutiger Metaphorik als eine Kombination von Schach- und Schauspielvergnügen umschreiben - und war doch keineswegs nur akademisch-artistisch ausgerichtet: Bedenkenswerterweise sind die wichtigsten Fortschritte des gelehrten Rechts im Mittelalter - sowohl in der Rechtslogik als auch in der Gesetzgebung - nicht von der Gerichtspraxis, sondern von den Schulen beider Rechte ausgegangen. 286 Das «Schach- und Schauspielvergnügen» der hier beschriebenen juristischen Fiktion lebt also von seiner Wirklichkeitsreferenz, deren ‹ ernsthaftem, pragmatischem › Aspekt es wiederum durch eine Weiterentwicklung der aktuellen Rechtsgewohnheiten, -normen und -regeln gerecht wird, welche sozusagen das Ergebnis ihrer Einübung und Hinterfragung, des spielerisch-schulmäßigen Trainings ist. Bezieht man zudem den Fiktionsbegriff des antiken römischen Rechts mit in seine Überlegungen ein 287 , in dem Rechtsfiktion per Analogiebildung als «Vehikel der vorsichtigen Rechtsfortbildung» diente 288 , wird umso deutlicher, daß der historische Horizont für eine Bestimmung nicht nur des Fiktionalitätsstatus kasuistischer Texte und kasuistischen Erzählens notwendig interdisziplinär «zwischen Rechtsgeschichte und Literaturwissenschaft» 289 zu erkunden ist. Bleumer hat die Kategorien von ‹ Recht › und ‹ Billigkeit › als wesentliche Aspekte des juridischen Urteils herausgestellt, an welches insofern nicht nur der Anspruch der Normerfüllung, sondern auch der einer 284 Zit. nach Strasser (1988), S. 37. 285 von Moos (1988), S. 276, Anm. 567 a. 286 Ebd., S. 275 f. 287 So Hartmut Bleumer : Teuflische Rhetorik vor dem Gericht des Herrn. Verhandlungen zwischen Recht und Literatur am Beispiel von Ulrich Tenglers «Laienspiegel». In: Björn Reich , Frank Rexroth und Matthias Roick (Hg.): Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. München 2012, S. 155 - 181; S. 169. 288 Manfred Fuhrmann : Die Fiktion im Römischen Recht. In: Dieter Henrich und Wolfgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven (= Poetik und Hermeneutik 10). München 1983, S. 413 - 415; S. 415. 289 Bleumer (2012), S. 157, der dafür plädiert, im «transdisziplinären Austausch nach den literarischen Epistemologien im juristischen und den juristischen Epistemologien im literarischen Diskurs» zu fragen. 145 Exkurs - Wie aus dem juristischen der literarische Fall wird ‹ wertgemäß guten Entscheidung › gestellt werde. 290 Die Zuspitzung der hier zur Debatte stehenden ‹ unerhörten › Fälle sorgt nun gerade dafür, daß der gewissermaßen allgemein-ethische Aspekt des Urteilens mit dem normativen derart kollidiert, daß die Entscheidung vehement erschwert wird. Es ist diese Konstellation, die den Prozeß der Verhandlung des Falles respektive den des Urteilfindens zur Herausforderung macht, und zwar nicht nur im juristischen Diskurs, denn die Grenzen von (literarischer) delectatio und (juristischer) utilitas verschwimmen hier: Als Prozeß des Aufeinanderfolgens und wechselseitigen Zusammenspiels der Bewertungsperspektiven entwickelt die Fallverhandlung selbst einen spezifisch narrativen Reiz, der sie einer ‹ literarischen › Rezeption öffnet. Diese Beobachtung läßt sich anhand eines Aktualitätsbezugs belegen und zugleich schärfen: Die beiden lange in den Bestsellerlisten rangierenden Bände Ferdinand von Schirachs 291 stellen Sammlungen von Fallgeschichten dar, in denen die «Konstellation von Verbrechen und Schuld mit der Konfiguration von Staatsanwalt und Verteidiger voll ausgebildet ist». 292 Mit der Ich-Erzählinstanz des Strafverteidigers läßt von Schirach die unterschiedlichen Bewertungssysteme kollidieren, sodaß sie im Rezipienten «ein starkes affektives Potential [entbinden], das am Gesetz und dessen normativem Postulat von Gerechtigkeit vorbeiarbeitet: in der Zustimmung zu ‹ tänzerischer › Selbsthilfe hier; mit dem Abscheu peinigender Machtlosigkeit dort.» 293 Bei aller historischen Differenz der spezifischen Entstehungskontexte sind es also die dilemmatische Zuspitzung der Fälle durch die Reibungskonflikte differenter Bewertungsstrukturen sowie die markierte Perspektivenstruktur bei der Aushandlung dieser Konflikte, aus denen bereits Kaufringer wie später von Schirach narrativen Gewinn schlägt. 294 290 Vgl. ebd., S. 175 - 181. 291 Ferdinand von Schirach : Verbrechen. Stories. München 2009, und ders.: Schuld. Stories. München 2010. 292 Gerhard Neumann : Rez. Ferdinand von Schirach, Verbrechen und Ferdinand von Schirach, Schuld. In: Arbitrium 30 (2012), S. 118 - 127; S. 118. 293 Ebd., S. 121. 294 Im weiteren Kontext wäre außerdem auf das Unterhaltungsformat der Gerichtsshows im Fernsehen hinzuweisen, die im Sinne der ‹ Unerhörtheit › ausgewählte und zugespitzte Fälle präsentieren und verhandeln. Der Grund für die Beliebtheit dieses Formats ist sicherlich eine Mischung aus voyeuristischem Interesse an der Spektakularität der Fälle und eben jener für den Rezipienten attraktiven Perspektivenstruktur, die es ihm erlaubt, sich probeweise mit den Rollen aller Beteiligten zu identifizieren, letztlich Richter zu sein, indem er gleichzeitig zur Reflexion der Voraussetzungen seines Urteilens animiert wird. 146 Modellanalysen 4 Die Rache des Ehemannes - Konstruktion und Perspektivierung des Kasus 4.1 Kaufringer und keine Parallelen? Die Rache des Ehemannes 295 gehört zu den brutalsten Texten Heinrich Kaufringers. An aggressiver Drastik kommt das Geschehen dem der Unschuldigen Mörderin gleich, wie dort wandelt sich auch hier die Hauptfigur vom Opfer zum Täter, jedoch nicht aus Notwehr. Aufgrund ebendieser Vermischung von Groteske und unvorhersehbaren Schicksalswendungen hat man auch der Rache des Ehemannes bereits einen «Sonderstatus» unter Kaufringers Mären bescheinigt. 296 Die Ausgangssituation des vorliegenden Falles ist ein Ehebruch, abgebildet im klassischen Dreiecksverhältnis 297 folgender Konstellation: Ein engagierter Ritter ist mit Turnieren bei Hofe viel beschäftigt; er hat zuhause eine schöne Frau, die minnet im der pfarrer (11). Eines Nachts, der Ritter ist wieder ausgeritten, bittet der Pfarrer die Frau um einen Liebesbeweis: Zwei Backenzähne aus ihres Mannes Mund solle sie ihm besorgen. Als nun der Ritter wieder nachhause kommt, begegnet ihm seine Frau abweisend unter dem Vorwand, er habe einen stinkenden Zahn im Mund und sie könne den Geruch nicht mehr aushalten. Aus Liebe geht der Ritter auf die Forderung der Frau ein, einen pader (68) den vermeintlich faulen Zahn ziehen zu lassen. Auf diese Weise mit dem ersten Zahn versorgt, behauptet sie, es wäre der falsche, und der Bader zieht dem blutüberströmten Ritter einen weiteren Zahn aus der anderen Backe. Der Pfaffe erhält darauf glücklich die Backenzähne und läßt sie von Würfelmacher und Goldschmied zu kunstvollen Würfeln verarbeiten. Als beim gemeinsamen Spiel 295 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe Grubmüller (1996), S. 738 - 767. 296 Friedrich (1996), S. 6. 297 Daß der Ehemann dem Verhältnis der verheirateten Frau und ihrem Liebhaber mit seinen Interessen im Wege steht, ist eine für das Märe klassische Konstellation, die nach Schirmer (1969), S. 142, jene für die höfische Literatur prägende Grundspannung zwischen Liebe und Ehe spiegelt. Aus der komischen Auflösung dieser Konfliktsituation speist sich das «unerschöpfliche Thema des überlisteten, betrogenen Ehegatten» (Gerhard Köpf : Märendichtung. Stuttgart 1978, S. 47). In der Tat kann man feststellen, daß auch die meisten Märentexte Kaufringers von diesem Grundkonflikt des Ehebruchs aus entwickelt sind. 147 Die Rache des Ehemannes der Ritter die Würfel bewundert, verrät sich der betrunkene Pfarrer, indem er prahlt, das gepain der würfel guot (181) stamme aus dem Mund eines vornehmen Ritters. Der Genarrte erkennt die Zusammenhänge, läßt sich jedoch nichts anmerken und entwirft einen geheimen Racheplan: Unter dem Vorwand, ausreiten zu müssen, bittet er wenig später den Pfarrer, auf Frau und Haus aufzupassen. Heimlich schleicht er sich nach dem offiziellen Abschied wieder hinein und versteckt sich in der Schlafkammer, wo wenig später Frau und Pfaffe zum Schäferstündchen zusammenkommen. Als es dunkel wird und die beiden eingeschlafen sind, kastriert der Ritter den Pfarrer kurzerhand mit einem Messer. Aus den auf diese Weise errungenen Trophäen, dem Skrotum und den Hoden, läßt nun der Ritter seinerseits in einer parallel gestalteten zweiten Kunsthandwerksszene von Weißgerber, Kramersfrau und Goldschmied ein Beutelchen mit vergoldeten Knöpfen herstellen. Damit besucht er den an seiner schweren Verwundung laborierenden Pfarrer und eröffnet ihm die Herkunft der Materialien für dieses Kunstwerk, woraufhin er den Ehebrecher zwingt, auch noch die Rache an seiner Frau zu vollziehen: Er soll sie küssen und ihr dabei die Zunge abbeißen. Unter Androhung des Todes gehorcht der Pfaffe. Die Frau wird mit dem Verlust ihrer Sprache bestraft und kann fortan nur noch «läll läll» und anders nicht (397) sagen. Dieses finale Rachetableau ist nun jedoch nicht das Ende des Textes. Im zeitlichen Abstand eines halben Jahres lädt der Ritter Familie und Freunde zu einem Fest ein. Man trägt zur Unterhaltung allerlei hüpsch tagalt (436) vor und schließlich erzählt auch der Hausherr - anonymisiert - die Geschichte seiner Verspottung durch Frau und Liebhaber. Die Zuhörer urteilen einmütig, eine solche Frau habe den Tod verdient, woraufhin der Ritter die Situation aufklärt und seine bereits ausgeführte persönliche Rache erläutert. Er erklärt die Ehe für geschieden, die Verwandten nehmen sich der lallenden Ehefrau an. Es existiert zu dieser Geschichte in ihrer Gänze kein bekannter stofflich paralleler Text, weshalb Grubmüller annimmt, Kaufringer habe sie in der vorliegenden Form selbst konstruiert unter Verwendung zweier verbreiteter Motivbausteine: zum einen der Forderung an die ehebrecherische Frau nach einem Zahn Ihres Mannes als Liebesbeweis und zum anderen der mutwilligen oder als Strafe gedachten Kastration. 298 Die eigentliche Leistung Kaufringers besteht in der Art und Weise, wie er die Verbindung der beiden Motive bewerkstelligt. Sie werden als Aktion und Reaktion in einem logischen Handlungszusammenhang aufeinander bezogen und fungieren nun als Kern eines Gesamtbildes, dessen symmetrischer Entwurf etwa am Beispiel der beiden ‹ Kunsthandwerksszenen › 299 sichtbar wird. Der inhaltlich thematisierten handwerklichen Kunstfertigkeit korrespondiert damit auch die äußere Form und Machart des Textes. Strukturell besonders reizvoll wird die 298 Vgl. Grubmüller (1996), S. 1274 - 1277. 299 Ich bezeichne mit diesem Begriff die beiden Szenen der Verarbeitung einmal der Zähne zu Würfeln und das andere Mal des Skrotums und der Hoden zum Beutel mit Knöpfen. 148 Modellanalysen Erzählung aufgrund ihres abschließenden Teils, der festlichen Inszenierung eines Familiengerichts durch den Ehemann, dessen zentrale Bedeutung für die Interpretation des Gesamttextes ein Thema des vorliegenden Kapitels sein wird. Die Frage nach dem ‹ Sinn › dieses «sonderbare[n] Märe[s]» 300 , das «gewalttätig, grotesk und von kaum nachvollziehbarer Erzähllogik» ist 301 , steht seit geraumer Zeit zur Debatte und hat unterschiedlichste Antworten erhalten. 302 Der Erzähler gibt keinerlei Hinweise, wie seine Erzählung zu verstehen wäre, ein Pro- und Epimythion gibt es nicht. 300 Friedrich (1996), S. 8. 301 Ebd., S. 6. 302 Dabei hängen die Antworten vor allem davon ab, welche Zuschreibungen an den Sinn-Begriff gemacht werden. Emmelius (2011), S. 112, rekurriert mit ihrem Urteil des ‹ Verfehlens einer sinnstiftenden Geschichte › auf die Tradition eines ordnungsaffirmativen Verständnisses exemplarischen Erzählens und begreift Sinnhaftigkeit vor allem als Referenz auf gesellschaftliche Axiologien - sie bestätigt damit den Standpunkt Grubmüllers. Grubmüller (1993), S. 37 - 54, und Grubmüller (1996) betont die erzählerische Lust an der artifiziellen Gestaltung des Grotesken und interpretiert diese Schaffung von Freiräumen jenseits moralisch-exemplarischer Funktionalisierung als Desavouierung des traditionellen Konzepts von Märenerzählen. Kaufringers Texte sind für Grubmüller (2006), S. 187, 191, daher ein Phänomen der von Auflösungserscheinungen bestimmten Spätphase in seiner Gattungsgeschichte des Märe. Kiening (2008), S. 321 - 335, möchte dagegen die schillernde Gleichzeitigkeit von Selbst- und Weltreferenz gewisser auf den ersten Blick als grotesk wahrgenommener spätmittelalterlicher Kurzerzählungen wie der Rache des Ehemannes nicht auflösen, sondern als ihr eigentliches Faszinosum sehen. Aglaja Hildenbrock : Heinrich Kaufringers › Die Rache des Ehemannes ‹ in psychoanalytischer Betrachtung. In: Schirmer (1983), S. 281 - 291, nähert sich dem kruden Reigen abgetrennter Körperteile mit Freuds Theorie der Traumdeutung. Ralph Tanner : Sex, Sünde, Seelenheil. Die Figur des Pfaffen in der Märenliteratur und ihr historischer Hintergrund (1200 - 1600). Würzburg 2005, S. 365 - 376, beleuchtet die Figur des Pfaffen vor realhistorischem Hintergrund, wobei die literarischen Implikationen des Textes etwas ins Hintertreffen geraten. Die Interpretation von Stede (1993), S. 100 - 108, zeichnet sich durch genaue Textbeobachtung aus, ihr Ergebnis ist jedoch kritisch zu sehen, da eine Deutung des Textes als «Diskurs über die Ehe, der die Unmöglichkeit einer funktionierenden, auf gegenseitiger ‹ trewe › der Ehepartner basierenden Ehe» zeige (S. 108), gegen die widerständigen Textsignale einen moralisierenden Diskurs zum eigentlichen Erzählziel erhebt. Das gilt auch für Willers (2002), S. 160 - 175, die der Rache des Ehemannes in dem von ihr sehr pauschal postulierten «Weisheitskonzept» Kaufringers, das die Märentexte des cgm 270 als Autor œ uvre kenntlich mache, den Status eines Negativbeispiels zuweist, da der Ritter den Konflikt nicht friedlich löse. 149 Die Rache des Ehemannes Warum also erfindet oder wo findet Kaufringer eine derart seltsam konstruierte Geschichte? Ich möchte mich dem Problem nähern, indem ich zunächst einen Schritt zurücktrete und die motivverwandten Texte vergleichend in die Interpretation einbeziehe. Konzentrieren werde ich mich dabei auf diejenigen drei Texte, die Kaufringers Ausgangsmotiv der Zahnforderung als eigenständige Erzählung überliefern, insofern einen zum ersten Teil der Rache des Ehemannes - bis zum Einsetzen der Revanchehandlung des Ritters - parallel verlaufenden Plot aufweisen. 303 Eine Beschränkung dieser Art ist sinnvoll, da es sich hierbei sozusagen um die Exposition von Kaufringers Rache des Ehemannes und damit den Ausgangspunkt der Konstruktion handelt, die aufgrund des übereinstimmenden Plots sehr gut in ihren einzelnen Ausführungen verglichen werden kann. Man hat von den drei angesprochenen Texten bisher ausschließlich das mittelhochdeutsche Märe Der Zahn 304 wahrgenommen. Die zwei lateinischen Exempel aus den Sammlungen des Jakob von Vitry 305 und der 303 Das Motiv existiert außerdem als nicht selbständiges Element einer komplexeren Geschichte. Eingebunden in eine mehrteilige Überlistungsstrategie der Ehefrau dem Mann gegenüber im Rahmen des Wettstreits der Drei listigen Frauen ist es zu finden bei Kaufringer selbst, die gezogenen Zähne spielen hier keine Rolle mehr. Grubmüller verzeichnet zusätzlich drei Fundstellen aus der italienischen Novellistik: bei Boccaccio in Decameron VII,9, im Mambriano des Cieco da Ferrara und in den Ducento novelle des Celio Malespini, Nr. II,5, siehe Grubmüller 1996, S. 1275, dort auch die Ausgaben. Für die Rache des Ehemannes ist dieser Überlieferungszweig des Motivs m. E. jedoch zu vernachlässigen, da wir es mit einer komplett anderen Funktionalisierung zu tun haben. Eine detaillierte Übersicht aller Texte, die das Motiv «Die Frau täuscht eine Krankheit vor. Als Ursache gibt sie einen faulen Zahn im Munde des Mannes an. Der Mann läßt sich diesen Zahn (Var.: mehrere Zähne) ziehen» bei Raas (1983), S. 236 - 238. 304 Heinrich Niewöhner , Werner Simon und Max Boeters : Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. 1. Hrsg. von Heinrich Niewöhner. Zweite Aufl. hrsg. von Werner Simon mit den Lesarten besorgt von Max Boeters u. Kurt Schacks. Dublin/ Zürich 1967, S. 134f (Nr. 20). Der Zahn ist in Laßbergs Liedersaal-Handschrift überliefert, Cod. 104 der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen, Nr. 37 Bl. 37ra - 37vb neuer (= 46 ra - 46vb alter) Zählung. Datiert wird die alemannische, wahrscheinlich aus Konstanz stammende Handschrift um 1433, die Entstehungszeit des Zahns ist nach Johannes Janota : Art. Der Zahn. In: VL² 10 (1999), Sp. 1475 f; Sp. 1475, vermutlich das 14. Jh., für weitere Literatur siehe ebd. 305 Thomas F. Crane : The Exempla or Illustrative Stories from the Sermones vulgares of Jacques de Vitry. London 1890, S. 104 f (Nr. 248), engl. Inhaltsangabe und Komm. S. 238 f. Eine deutsche Übersetzung bei Albert Wesselski : Mönchslatein. Erzählungen aus geistlichen Schriften des XIII. Jahrhunderts. Leipzig 1909, S. 135 f 150 Modellanalysen Compilatio Singularis Exemplorum 306 wurden dagegen vernachlässigt. Will man jedoch nach der Konstruktion, nach dem strukturellen Zustandekommen von Kaufringers Text fragen, muß man bei den überlieferten Alternativen beginnen und vergleichend sehen, wo und bis zu welchem Grad hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verzeichnen sind. von der Forschung obwohl nur das Exempel Jakobs von Vitry deutlich vor Kaufringers Wirkungszeit um 1400 aufgeschrieben ist. Die Textzeugen aller drei Parallelversionen datieren jedoch vor dem cgm 270, der Augsburger Handschrift mit der unikalen Überlieferung von Kaufringers Märenkorpus. Sicher ist, daß man eine mündliche Tradierung der Texte lange vor dem Zeitpunkt ihrer Niederschrift annehmen kann. Ich möchte sie deshalb als schriftlich fixierte Vertreter möglicher erzählerischer Ausformungen eines Motivs begreifen, das zu jenem «unterliterarischen, national nicht festlegbaren Erzählplankton des Mittelalters» 307 gehört, aus welchem die Dichter der Kleinepik ihren Stoff beziehen. 4.1.1 Die lateinischen Exempel aus Jakobs von Vitry Sermones vulgares und aus der Compilatio Singularis Exemplorum sowie das Märe Der Zahn Als Ausgangspunkt der Überlieferung des Zahnmotivs, jedenfalls nach unserem heutigen Erkenntnisstand, darf man die lateinische Exempeltradition annehmen. 308 Beide Textbeispiele entstammen größeren Sammlungen, wobei es sich bei der Compilatio Singularis Exemplorum um ein Promptuarium handelt, ein Handbuch für Prediger, das Exempel verzeichnet. 309 Am Beispiel Jakobs von Vitry (1160/ 70 - 1240), dessen vorliegendes Exempel aus seinem Predigtzyklus der Sermones vulgares stammt 310 , kann die Entwicklung nach- (Nr. 115), die allerdings den letzten Satz, eine Art didaktisches Fazit, einfach wegläßt. Aufgezeichnet wurde das Exempel im 13. Jh., siehe Raas (1983), S. 237. 306 Raas (1983), S. 237 f. Überliefert ist die Compilatio in zwei Handschriften, Cod. 679 Burgerbibliothek Bern und Cod. 468 (ehem. 212) Bibliothèque Municipale Tours. Die Sammlung wurde nach Léopold Delisle : Notes sur quelques manuscrits de la Bibliothèque de Tours. Paris 1868, S. 603, in der zweiten Hälfte des 13. Jh. zusammengestellt, aufgezeichnet Anfang des 15. Jh. Für Genaueres zur Compilatio Singularis Exemplorum siehe das Kapitel zur Unschuldigen Mörderin (II.1.3). 307 Hanns Fischer : Art. Novellistik, mittelhochdeutsche. In: RL² 2 (1965), S. 701 - 705; S. 703. 308 Grubmüller (1996), S. 1275. 309 Vgl. dazu Klaus Grubmüller : Art. Predigtmärlein. In: RL² 3 (2003), S. 156 f. 310 Zu Werk und Überlieferung siehe Crane (1890), S. xl - xlvi. Ein umfassender Forschungsüberblick zu den Sermones vulgares findet sich bei Alberto Forni : Giacomo de Vitry, predicatore e «sociologo». In: La Cultura. Rivista di Filosofia Letteratura e Storia 18 (1980), S. 34 - 89; S. 35 f. 151 Die Rache des Ehemannes vollzogen werden, die wahrscheinlich der Entstehung von reinen Exempel- Sammlungen wie der Compilatio vorausging. Seinen Platz hatte das mittelalterliche Exempel in der Predigt. Vor allem die an Laien gerichteten Predigten reicherte Jakob von Vitry mit Exempeln an, um die Aussage zu illustrieren oder didaktisch zu unterstreichen, was den angesehenen Prediger zum «Klassiker der Exempelliteratur» werden ließ. 311 The fame of Jacques de Vitry as a preacher, and the attractive character of the illustrative stories employed in his sermons, must soon have led to a demand for some convenient edition of the exempla alone. 312 Aus ihrem ursprünglichen Predigtkontext gelöst und gesammelt, war Jakobs Exempeln schon zu seinen Lebzeiten ein exklusives Fortleben beschert. 313 Dieses von den Zeitgenossen bekundete Interesse an den Exempla zeigt einerseits den Stellenwert, der ihnen innerhalb der ars praedicandi als didaktisches Mittel der Auflockerung, Veranschaulichung und Erbauung zukam, andererseits ist der erzählerisch reizvolle Charakter der Geschichten als solcher in Anschlag zu bringen. Mir scheint die Tatsache einer so raschen Emanzipation im Hinblick auf den Charakter der Exempla als ‹ eigenständige Erzählungen › bemerkenswert und ein Grund, sie als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Betrachtung auch in ihren narrativen Ausformungen ernst zu nehmen. Ist doch der Verwendungszweck der Exempelsammlungen noch lange nicht erschöpfend geklärt: Mit ihren unterschiedlichen, oftmals «subtile [n] Ordnungsschemata» nach moraltheologischen Stichwörtern, gesellschaftlichen Gruppen oder auch einer dialogischen Organisation im Sinne eines philosophischen Lehrwerks stellen sie einen besonderen Literaturtyp dar, der als eigene Gattung bezeichnet werden kann. 314 Neben der Funktion und Rezeption als «Stoffreservoir für illustrative Predigteinlagen», die bisher am meisten untersucht ist, kann den Sammlungen je nach Ordnungsspezifik auch andere Bedeutung zukommen, im Sinne der rhetorisch-argumentativen Funktion des Exempels etwa die Rezeption als Lehrbücher mittelalterlicher Konversationstheorie. 315 Von hier aus wird ein Gebrauch der Exempelsammlungen 311 P. Bourgain: Art. Jakob von Vitry. In: LexMA 5 (1991), Sp. 294 f; Sp. 295. 312 Crane (1890), S. xlvii. 313 Vgl. Philipp Funk : Jakob von Vitry. Leben und Werke (= Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance Heft 3). Leipzig/ Berlin 1909, S. 182. 314 Vgl. Gerd Dicke : Art. Exempel. In: RLW 1 (1997), S. 534 - 537; S. 536. 315 Peter von Moos : Die Kunst der Antwort. Exempla und dicta im lateinischen Mittelalter. In: Walter Haug und Burghart Wachinger : Exempel und Exempelsammlungen (= Fortuna vitrea 2). Tübingen 1991, S. 23 - 57. 152 Modellanalysen außerhalb des Predigtkontextes denkbar. 316 Sind sie nicht ebenso als Stoffhandbücher für Dichter oder als Sammlung ausgefallener Geschichten für jedermann vorstellbar? 317 Dabei würde gerade eine Neutralisierung durch das Einschmelzen auf ein bloßes Handlungsgerüst des Falles diesen für kasuistische Betrachtung frei machen. Eine Definition des Exempels als unselbständig scheint mir deshalb zu eng gefaßt: Das Exempel hat für sich genommen keine Struktur. Es ist, zumeist erzählend aufgebautes, episodisches Material, das zur Illustration von Aussagen geeignet ist. Überliefert ist es entweder in dieser unselbständigen, dienend-illustrierenden Funktion (z. B. in der Predigt) oder - in den Sammlungen - als zur Verwendung bereitgestelltes Material, als potentieller Textbaustein, der der Form seines Trägertextes mühelos eingepaßt werden kann. Das Exempel ist ein unselbständiger Text ohne formale Prägung. Es konstituiert seinen Sinn nicht aus sich, sondern mit Hilfe des Kontextes, den es illustriert. 318 Die Frage nach dem literarischen Stellenwert eines Exempels muß sicherlich am einzelnen Text entschieden werden. Eine gewisse Selbständigkeit kann sich 316 Zur Vielfalt der Anschlußmöglichkeiten am Beispiel des Policraticus Johanns von Salisbury siehe von Moos (1988). Erzählerische Kleinformen im Kontext des juristischen Diskurses zeigt Ott (1988). 317 Ein Oszillieren zwischen Faszinosum der Fallgeschichte und didaktischer Funktion belegt später etwa eine Sammlung wie Johannes Paulis Schimpf und Ernst (1522). 318 Grubmüller (2006), S. 106, gibt diese Charakterisierung im Rahmen seiner Gattungstypologie des Märe. Zur Bedeutung vor allem der Predigtexempel für die Entstehung des Märe bereits Grubmüller (1993), S. 45: Diese könnten aufgrund ihrer «dienende[n] und zuordnende[n] Funktion» im Kontext der Exempelsammlungen oder Predigtzyklen etwa Jakobs von Vitry, Odos von Cheriton oder des Petrus Alfonsi «als Orientierungsgröße» für das Strickersche Märe gedient haben. Die These wird konkretisiert in Grubmüller (2006), S. 106 f: «Der Stricker formt das Exempel zum selbständigen, in seiner Handlung Erkenntnis vermittelnden Text, also zum Märe, indem er ihm Struktur verleiht nach dem Beispiel der Fabel». Auch die typischen Erzähleingänge des Strickers, in denen sich Mann und Frau ort- und zeitlos gegenüberstehen, finden sich m. E. in den Predigtexempeln vorgebildet, so in den vorliegenden Textbeispielen Jakobs und der Compilatio Singularis Exemplorum (vgl. die Tabelle Abschnitt 4.1.2). Für einen Einfluß des französischen Fabliau auf den Stricker und damit einen Transfer französischer Erzählform nach Deutschland plädiert dagegen Ingrid Strasser : Vornovellistisches Erzählen. Mittelhochdeutsche Mären bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und altfranzösische Fabliaux (= Philologica Germanica 10). Wien 1989, sowie dies.: Übernahme von Literatur. Zwei Fallbeispiele: Hartmanns «Erec» und «Der kluge Knecht» des Strickers. In: Ingrid Kasten , Werner Paravicini und Réne Pérennec : Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Sigmaringen 1998, S. 185 - 199. Diskussion und Kritik bei Grubmüller (2006), S. 94 - 107. 153 Die Rache des Ehemannes auch bei einem kontextgebundenen Exempel entwickeln, nämlich über die Art der Darbietung, die erzählerische Inszenierung. Gegenüber dem reinen Lehrzweck bieten auch diese Erzählungen einen gewissen Überschuß, der die Lehre einerseits intensiviert, andererseits über die Erregung von Grauen, Mitleid, Belustigung, Faszination etc. auch von ihr ablenken kann. Gemessen an diskursiv vorgetragener Lehre enthalten erzählende Exempla also immer schon ein Körnchen Unkalkulierbarkeit. 319 Die literaturwissenschaftliche Exempelforschung hat sich wegbewegt von einer gattungstypologischen Fixierung und definiert das Exempel stattdessen über «Funktionen, Erzeugungsweisen und Sinnbildungsleistungen sprachlich verfaßter ‹ Exemplarität › .» 320 Heuristisch möchte ich das Exempel hier als im Vergleich zu den breiter ausgearbeiteten Märentexten kleinräumiger ausgeführtes Erzählen eines Plots begreifen. 321 Narrative Organisation im Sinne der Anordnung und Verknüpfung von Ereignissen macht sie zu Geschichten, die gestalterischen Vorgaben folgen. 322 Für die Exempla Jakobs von Vitry betonte bereits Funk, diese seien «nicht bloß kulturgeschichtlich, sondern auch literargeschichtlich» bedeutend. 323 «Sie bilden ein interessantes Glied in der Entwicklung der mittelalterlichen Novellistik und das erste merkwürdige Zeugnis von dem Eindringen der Novellistik, des Schwanks, der Fabel in die Predigt.» 324 In einem gesonderten Prolog Jakobs zu den Sermones vulgares äußert er selbst sich programmatisch über den Unterhaltungswert der Exempel für die Zuhörer: «Wir müssen also in unsere Predigt Beispiele für die Laien einstreuen, zur Aufmunterung und Abspannung [. . .]». 325 Dazu paßt auch Funks Befund zu den Exempeln mit alltäglich-schwankhaften Themen: 319 Slenczka (2004), S. 13. 320 Dicke (1997), S. 537. Zur Diskussion des Begriffs ‹ Exempel › und den Funktionen exemplarischen Erzählens vgl. den Tagungsband von Walter Haug und Burghart Wachinger : Exempel und Exempelsammlungen (= Fortuna vitrea 2). Tübingen 1991. 321 In Anlehnung an Slenczka (2004), S. 14. 322 Zum Begriff der ‹ Geschichte › vgl. Bosse (1999), S. 299 - 320. 323 Funk (1909), vgl. S. 182. Ein Interesse der Literaturwissenschaft an den Exempeln Jakobs läßt sich Anfang des 20. Jahrhunderts nach Cranes Edition einer großen Anzahl der Exempel aus den Sermones vulgares verzeichnen. Siehe außerdem Goswin Frenken : Die Exempla des Jacob von Vitry. Ein Beitrag zur Geschichte der Erzählungsliteratur des Mittelalters (= Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 5, 1). München 1914; weiterhin Welter (1927). 324 Funk (1909), S. 182. 325 Johannes Baptista Pitra : Analecta novissima Spicilegii Solesmensis altera continuatio. Bd. 2: Tusculana. Paris 1888, S. 192; Übersetzung zit. nach Funk (1909), S. 183. 154 Modellanalysen Die Anekdoten aus dem Volksleben sind oft nur knappe Schalen um einen Satz der Lebensweisheit, einen Denkspruch; dann sind sie aber auch oft Geschichten, die sichtlich mit höchster Lust am Fabulieren möglichst breit erzählt sind. [. . .] An den Anekdoten ist zweierlei verblüffend: erstens daß sie mit unglaublicher Schärfe, mit beißendem Spott die Schäden einzelner schonungslos aufdecken, und zweitens, daß das Laster, besonders auch erotische Gegenstände mit Liebe und Humor gezeichnet werden. 326 Da Jakob von Vitry selbst seinen Exempeln einen hohen Stellenwert für die Predigt zuschrieb, können wir also auch von einer bewußten und - gerade in der Predigt - auf Wirkung angelegten Gestaltung der Geschichte ausgehen. In der Interpretation die Komposition und Erzählstrategie zu berücksichtigen, ist deshalb nicht nur legitim, sondern notwendig. Aus dem genauen Abgleich der zwei lateinischen Texte, des Zahns und Kaufringers Rache des Ehemannes ergibt sich zunächst die hier folgende tabellarische Übersicht. Es zeichnen sich zwei Gruppen ab: Im Hinblick auf Motivierungen und Motivik stimmen das lateinische Exempel Jakobs und der Zahn in den meisten Punkten überein, während sich beide von dem Exempel aus der Compilatio Singularis Exemplorum und Kaufringers Rache des Ehemannes an vielen Stellen des Plots unterscheiden. Die Rache des Ehemannes und das Exempel der Compilatio werden dagegen untereinander durch auffällige Gemeinsamkeiten verbunden. Um bei den im Anschluß folgenden detaillierten Textvergleichen die Übersichtlichkeit zu gewährleisten, möchte ich daher die beiden heuristischen Gruppen A und B einführen. 327 326 Funk (1909), S. 183. 327 Gruppe A faßt das Exempel des Jakob von Vitry und den Zahn, Gruppe B das Exempel der Compilatio Singularis Exemplorum und die Rache des Ehemannes. In der Tabelle sind die Übereinstimmungen der Gruppe A mit *, diejenigen der Gruppe B mit ° gekennzeichnet. 155 Die Rache des Ehemannes 4.1.2 Tabellenübersicht: Paralleltexte zur Rache des Ehemannes im Vergleich Gruppe A Gruppe B Motivik/ Erzählstruktur Jakob von Vitry (Exempel aus dem Predigtzyklus Sermones vulgares) Der Zahn Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel/ «Predigtmärlein» aus der Sammlung) Heinrich Kaufringer: Die Rache des Ehemannes - lateinisch - mhd. - lateinisch - mhd./ frühnhd. - Prosa - 104 Verse - Prosa - 516 Verse - aufgezeichnet 13. Jh. - entstanden 14. Jh.; aufgezeichnet 1433 - 2. Hälfte 13. Jh. zusammengestellt, aufgezeichnet Anfang 15. Jh. - entstanden um 1400; aufgezeichnet 1464 (cgm 270) Erzählerkommentar/ Misogynie * programmatische Einführung des Erzählers: Audivi de quadam mala muliere cui maritus ejus per omnia credebat [. . .] → vgl. Typologie des Stricker-Märes: Mann und Frau stehen sich ort- und zeitlos gegenüber * ausgeprägte Erzähldidaxe mittels Pro- und Epimythion sowie fortlaufender Kommentierung ° Pro- und Epimythion fehlen, neutrale Erzählhaltung ° Pro- und Epimythion fehlen, neutrale Erzählhaltung bis auf Figuren- Attribuierungen; die Meinung des Erzählers scheint unentschieden, ein didaktischer Impetus fraglich * misogyne Tendenz nur im jeweils einen Satz umfassenden Pro- und * deutlich misogyner Ton, im Promythion (1 - 4) formuliert der Er- * misogyne Tendenz nur in der HS Tours, dort epilogartiger Kommen- ° keine misogyne Tendenz 156 Modellanalysen Gruppe A Gruppe B Motivik/ Erzählstruktur Jakob von Vitry (Exempel aus dem Predigtzyklus Sermones vulgares) Der Zahn Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel/ «Predigtmärlein» aus der Sammlung) Heinrich Kaufringer: Die Rache des Ehemannes Epimythion des Erzählers, ansonsten neutraler Erzählerbericht, meist reduziert auf Inquit- Formeln; dramatischer Charakter durch hohen Dialoganteil in direkter Rede zähler das Thema: Idealisierung der guten Frau und Verdammung ihres Gegenstücks, des unwip vol von meine (4); dann kurze Vorstellung des Ehepaares - die Frau ist charakterisiert als ein Exemplar der Gattung unwip - , gefolgt von einem Erzählerkommentar (10 - 18), der sich durch die «heutigen Zeiten» zu einer allgemeinen vituperatio schlechter Frauen veranlaßt sieht tar: et valet circa fraudulanciam mulierum 157 Die Rache des Ehemannes Gruppe A Gruppe B Motivik/ Erzählstruktur Jakob von Vitry (Exempel aus dem Predigtzyklus Sermones vulgares) Der Zahn Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel/ «Predigtmärlein» aus der Sammlung) Heinrich Kaufringer: Die Rache des Ehemannes Handlungseinstieg/ Figur des Liebhabers * Vorgeschichte: Frau redet Mann ein, er sei krank und müsse im Bett bleiben, bis sie ihm erlaube, aufzustehen; in dieser Zeit besucht sie ihren Liebhaber ° in medias res mit Zahnforderung des Liebhabers Liebhaber typisiert: adulter, der Ehebrecher/ Geliebte; leccator, Schmeichler/ Liebhaber → abwertende Konnotierung Liebhaber typisiert: amis (33) Liebhaber typisiert: amasius, der Geliebte pfarrer (11); pfaff (13) Würfelmotivik * keine Würfelmotivik: Die Handlung bricht ab bei der Zahnübergabe an den Liebhaber * keine Würfelmotivik: Die Handlung bricht ab bei der Zahnübergabe an den Liebhaber mit entsetzter Reaktion desselben und Aufkündigung des Verhältnisses ° Verarbeitung der Zähne zu Spielwürfeln als Motivation der Zahnforderung: tres dentes mariti ad faciendum tallos ad ludendum (Tourser HS: traderet ei tres dentes/ mariti/ ad ludendum/ ad talos/ cum/ eo) → Würfel sind explizit ° auserzählte Würfelmotivik: Die Herstellung von Spielwürfeln ist offenbar auch die Motivation für die Forderung von Kaufringers Pfarrer, obwohl er dies nicht formuliert → die Verarbeitung der Zähne zu Würfeln wird 158 Modellanalysen Gruppe A Gruppe B Motivik/ Erzählstruktur Jakob von Vitry (Exempel aus dem Predigtzyklus Sermones vulgares) Der Zahn Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel/ «Predigtmärlein» aus der Sammlung) Heinrich Kaufringer: Die Rache des Ehemannes vom Liebhaber für das Spiel mit der Geliebten bestimmt (galante Geste wird pervertiert) → die Verarbeitung der Zähne zu Spielwürfeln ist als Motivation der Forderung und damit Bestimmung der Zähne mitgeteilt, die tatsächliche Umsetzung aber wird nicht erzählt, die Handlung bricht ab bei der Zahnübergabe an den Liebhaber dafür breit geschildert (dilatatio materiae): Kaufringer setzt die Erzählung der Handlung fort, wo die anderen abgebrochen haben Figur des Ehemannes * ein Prototyp des liebenden unbedarften Hahnreis, glaubt der Ehemann seiner Frau alles: Audivi de quadam mala muliere cui maritus ejus per omnia credebat; * ein einvaltiger richer man (5), der seine schöne Frau als sin selbes lip (7) liebt; wie Jakobs Ehemann läßt sich auch dieser von seiner Frau alles weismachen; er läßt wird von seiner Frau geihrzt, man könnte also indirekt schließen, es handle sich um einen Adligen; ansonsten bleibt die Figur blaß und rein funktional: keine direkte ain ritter küen und hochgemuot (1), den vornehmlich seine ritterschaft (5) beschäftigt, während sich zuhause der Pfarrer um sein gar schönes weib (10) küm- 159 Die Rache des Ehemannes Gruppe A Gruppe B Motivik/ Erzählstruktur Jakob von Vitry (Exempel aus dem Predigtzyklus Sermones vulgares) Der Zahn Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel/ «Predigtmärlein» aus der Sammlung) Heinrich Kaufringer: Die Rache des Ehemannes er vertraut dem Rat seiner Frau, die ihm auf seine Frage nach einem Heilmittel sagt, es gebe kein anderes, als den angeblich stinkenden Zahn ziehen zu lassen: Et ita ad hortationem uxoris fecit extrahi bonum et sanum dentem quem illa ostendit illi [. . .]. sich von den Klagen der Frau so sehr erschrecken, daß er sofort bereit ist, lip und guot (60) für die vil guote (62) einzusetzen; wie bei Jakob begnügt sich der Ehemann auf seine Frage nach Arznei gegen sein Leiden mit dem abschlägigen Bescheid der Frau und folgt ihrem Rat, den Zahn ziehen zu lassen Rede, keine seiner Reaktionen wird berichtet mert; im Gegensatz zu seinen Leidensgenossen in den anderen Texten ist er kein Dummkopf und wird zum Opfer, weil er aus Liebe und Vertrauen zu seiner Frau in die Zahnentfernung einwilligt, offenbar, um ihr ihren Wunsch zu erfüllen: zelieb dett er dem weib das/ wann er si mit trewen maint./ er wond, si wär mit im veraint/ in ganzen trewen, als si solt./ da was si dem pfaffen holt (70 - 74) 160 Modellanalysen Gruppe A Gruppe B Motivik/ Erzählstruktur Jakob von Vitry (Exempel aus dem Predigtzyklus Sermones vulgares) Der Zahn Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel/ «Predigtmärlein» aus der Sammlung) Heinrich Kaufringer: Die Rache des Ehemannes Ausführung des Zahnraubs durch die Frau: * Selbstinszenierung der Frau als leidende Liebende veranlaßt Dialog der Eheleute, dessen Ablauf nur gering variiert: Mann will Grund ihrer Traurigkeit wissen, Frau weigert sich, . . . ° Kußverweigerung und Hinweis auf üblen Geruch des faulen Zahns; sie läßt einen Bader kommen (der Mann äußert sich nicht dazu, überhaupt spricht nur die Frau) ° Frau verweigert den Körperkontakt (Motiv ist das gleiche wie in der Compilatio, nur auserzählt, mit Dialog); Mann fragt nach dem Grund für das seltsame Verhalten, höfisch bietet er Schutz und Tatbereitschaft an (Blankoversprechen); Frau sagt, sie könne den Gestank des faulen Zahns nicht mehr ertragen und müsse sterben, lasse der Mann ihn sich nicht entfernen . . . sie gibt vor, sie traue sich nicht, es zu sagen, Mann besteht darauf, Hinweis der Frau auf Gestank aus dem Mund des Mannes, Mann ist betrübt und fragt nach Arznei (= alternative Lösung zum Zahnziehen), Frau bestimmt, der Gestank gehe von einem Zahn aus, der gezogen werden müsse, Mann läßt sich Zahn ziehen . . . Mann ermutigt sie und versichert seine Bereitschaft, alles zu tun, um ihren Kummer zu lindern (Ideal christlicher Ehe, Blankoversprechen), Hinweis der Frau auf faulen Zahn und Handlungsbedarf, Frage des Mannes nach Arznei, Frau bestimmt das Ziehen des Zahns, Mann ist einverstanden List, um weitere Zähne zu bekommen: die Frau behauptet zweimal, der List, um den zweiten Zahn zu erhalten: die Frau behauptet, der ge- 161 Die Rache des Ehemannes Gruppe A Gruppe B Motivik/ Erzählstruktur Jakob von Vitry (Exempel aus dem Predigtzyklus Sermones vulgares) Der Zahn Compilatio Singularis Exemplorum (Exempel/ «Predigtmärlein» aus der Sammlung) Heinrich Kaufringer: Die Rache des Ehemannes gezogene Zahn sei der falsche: post ait. illa. non est ille dens et sic decipiendo tres fecit extrahi zogene Zahn sei nicht der richtige, dieser stehe in der anderen Wange Anzahl der gezogenen Zähne * 1 Zahn * 1 Zahn ° 3 Zähne (für 3 Spielwürfel) ° 2 Zähne (für 2 Spielwürfel) 162 Modellanalysen 4.2 Das Exempel des Jakob von Vitry und Der Zahn (Gruppe A) Setzen wir nun an bei der Zahnforderung des Liebhabers, die in allen vier Texten das handlungsauslösende Moment darstellt, so zeigt sich hier bereits ein entscheidender Unterschied zwischen Textgruppe A und B. Gruppe A legt den thematischen Schwerpunkt auf die Demonstration weiblicher Boshaftigkeit. Die Übereinstimmung der beiden Texte reicht dabei von der Makroebene des Plots bis hin zu einzelnen Formulierungen auf der Mikroebene, so daß sich der Zahn wie die deutsche Übertragung des lateinischen Exempels liest, die jedoch ein anderes Mittel einsetzt, um das Erzählziel zu erreichen: Das Exempel wird organisiert über kleine dialogische Szenen zwischen Mann und Frau, deren Dramatik eine unmittelbare Komik erzeugt, während dem Märe über den jegliche Situationskomik unterwandernden Erzählerkommentar ein überdimensionaler moralischer Zeigefinger wächst. Sowohl bei Jakob von Vitry als auch im Zahn bekommt der Rezipient eine Art Vorgeschichte erzählt, die einen Einblick in den Ehealltag vermittelt und die Eheleute charakterisiert. Die mala muliere 328 , von der Jakob gehört hat 329 , daß der Mann ihr alles glaube (maritus ejus per omnia credebat), nutzt diesen Umstand für sich, wenn sie ihren Liebhaber sehen will: [. . .] quod cum ire vellet ad adulterum dicebat viro suo: «Infirmus es, intra in lectum meum et sudabis et vide ne surgas donec dixero tibi.» 330 Dann verschließt sie die Kammer, nimmt den Schlüssel mit und kehrt vor dem Abend nicht wieder. Die Reaktion des Gatten entlarvt nun seine eingangs erwähnte gutmütige Disposition vollends als hilflose Dummheit: Ille vero credens se esse infirmum non audebat de lecto surgere donec rediret ejus uxor et diceret: «Amice, potes surgere, video enim 328 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe Crane (1890), S. 104 f. 329 Nehmen wir die von Jakob für seine Exempel auffällig häufig verwendete Eingangsformel Audivi de [. . .] als Rezeptionsmodus ernst, so handelt es sich um einen mündlich tradierten Stoff, den er hier aufgreift. Frenken (1914), S. 24 f zeigt, daß es sich bei Jakobs Eingangsformeln nicht um willkürliche Floskeln handelt. Zwar ist die Herkunft seiner Exempla nur selten genau bezeichnet, Jakob von Vitry unterscheidet aber gewissenhaft seinen Rezeptionsmodus, indem er schriftliche Quellen mit legimus oder legitur einführt und mündliche mit audivi. Außerdem kennzeichnet er kulturelles Allgemeinwissen wie Fabeln oder naturwissenschaftliche Anekdoten mit dicitur oder dici solet. Eine schriftliche Quelle läßt sich für fast alle Fälle, wo sie mit der einleitenden Formulierung behauptet wird, auch nachweisen. 330 Weil sie zu ihrem Buhlen gehen wollte, sagte sie zu ihrem Manne: «Du bist krank, lege dich in mein Bett und schwitze und sieh zu, daß du nicht früher aufstehest, als bis ich dirs sage.» Übersetzung Wesselski (1909), S. 135. 163 Die Rache des Ehemannes quod curatus es ab infirmitate.» 331 Das Gelächter des Publikums geht auf Kosten des Mannes, wobei die Komik der Inszenierung gesteigert wird durch den Kontrast von lakonisch knappem Erzählerbericht, der den Mann nicht selbst zu Wort kommen läßt, und detailliert ausgeschmückter direkter Rede der scheinbar besorgten Ehefrau. Auch das Spiel mit der Verkehrung der Rollen, wenn die gerade von ihrem Liebhaber zurückgekehrte Frau den gehörnten Gatten als amicus, den Geliebten, betitelt, ist für den Rezipienten gedacht. Nur er kann es durchschauen und mit der Ehebrecherin über den ahnungslosen Dummkopf lachen. Der Zahn definiert in einem vierversigen Prolog von Anfang an die listige Frau, das unwip vol von meine (4) 332 als Feindbild und versteht sich als Kampfansage an diesen Typ Frau, die mit ir valschen b œ sen list (18) den Mann hinters Licht führe. 333 Der didaktische Impetus des Textes wird bereits überdeutlich, besieht man sich die im Prolog betriebene Strategie der Kontrastierung: Ein zühtic erbær reine wip/ das ist ein übersælic lip (1 f) lauten die ersten beiden Verse, die als Motto die Geschichte überstrahlen. Schnell wird dem Leser klar, daß die folgende Erzählung eben nicht von dieser Art Frau, sondern von dem unwip (4) als ihrem genauen Gegenteil handelt. Sie spielt sich aber nun ab vor dem allzeit präsenten Ideal, das durch sein mahnend vorangestelltes ‹ So sollte es eigentlich sein › keinerlei Diskussion über die Rolle der Frau in diesem Text zuläßt. Der Zahn kennt nur die beiden Kategorien schwarz oder weiß. Für die Entwicklung von Zwischentönen wie jener Komik, die ein sympathisierendes Lachen des Publikums mit der Frau über den Ehemann zur Folge hätte, ist hier kaum Platz. In diesem Sinne wird auch die Figur des Ehemannes rehabilitiert, soweit es die Umstände zulassen. Aus dem gutgläubig-dummen Hahnrei bei Jakob von Vitry wird im Zahn ein Minnetor, dessen im Sinne der christlichen Eheauffassung vorbildliche Liebe zu seiner Frau betont ist: 334 331 Er aber, im Glauben, er sei krank, wagte nicht früher aufzustehn, als bis sie zurückkam und sagte: «Freund, du kannst aufstehn; ich sehe, daß du von deiner Krankheit genesen bist.» Übersetzung Wesselski (1909), S. 135. 332 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe von Niewöhner (1967), S. 134 f. Es werden im Folgenden die Versangaben direkt hinter dem Zitat in Klammern vermerkt. 333 Fischer (1983), S. 96, ordnet den Zahn dem vierten schwankhaften Themenkreis «Eheliche Kraft- und Treueproben» zu, die Thematik verlagere sich jedoch, «der Angelpunkt des Geschehens ist der Kampf um die Vorherrschaft im Hause, oder anders ausgedrückt, die Rebellion listiger oder streitbarer Ehefrauen gegen die traditionelle Gehorsamspflicht des Weibes.» 334 Stede (1993), S. 104. 164 Modellanalysen Ein einvaltiger richer man ein sch œ ne wip zer e gewan; die minnt er als sin selbes lip. (5 - 7) Die Bemühungen des Erzählers, den Mann als Sympathieträger für das Publikum aufzuwerten, zeigen sich deutlich bereits mit der Verwendung des Adjektivs rich, das für den gesamten weiteren Text keinerlei Funktion hat. Es wirkt an dieser Stelle wie der Versuch, seine Unterlegenheit, die nun einmal für das Gelingen der Schwankhandlung unverzichtbar konstatiert werden muß, durch positive Attribuierung auszugleichen. Das Adjektiv einvaltig im Sinne von ‹ leichtgläubig › ist dabei zunächst die wörtliche Übersetzung des cui maritus ejus per omnia credebat des Exempels. Was dort situative Beschreibung des Ehelebens ist, die sich zur Szene ausweitet, um die Figur des Gatten zu konturieren, faßt das Märe als prävalentes Charakteristikum des Mannes, das aber keineswegs Anlaß gibt, ihn zu verspotten. Denn nicht Dummheit ist der Grund für seine Unterlegenheit, sondern seine Liebe und die valsche b œ se list (18) der Frau, mit der sie ihn bet œ rt (17): so si gan minnen solde, so überredt si swaz si wolde mit ir zarten kosen ir man, den gar unlosen. (19 - 22) Eine Euphemisierung der Tatsache, daß der Mann der Frau nicht gewachsen ist, läßt sich durchgehend anhand der Wortwahl für seine Beschreibung ablesen. Bereits das einvaltig (5) beinhaltet ebensogut eine positive sittliche Komponente argloser Unvoreingenommenheit 335 wie die Beschreibung der gar unlose (22) es hier im Kontext nahelegt 336 : Der Mann, dem jegliche Heuchelei fremd ist - vielleicht aus Liebe - erkennt die List der Frau nicht. Ihren Höhepunkt erreicht die positive Darstellung des Ehemannes im Kontrast mit der Diffamierung der Frau, als sie ihm einredet, er sei krank und müsse das Bett hüten. Das quod cum ire vellet ad adulterum, das die komische Bettbefehlsszene im lateinischen Exempel einleitet, wird dabei im Zahn wörtlich übersetzt, unter Rückbezug auf eine Vorlage: 337 335 Unsere heutige Assoziation von Einfalt mit ‹ Dummheit › grenzt das semantische Feld des mhd. einvaltec stark ein, das sowohl die sittliche Einfachheit im Sinne von ‹ schlicht, arglos, kein Böses verbergend › als auch die Einfachheit des Verstandes als ‹ leichtgläubig, einfältig › meint. Vgl. Lexer Bd. 1, Sp. 530 s. v. «einvalt», «einvaltec», sowie BMZ Bd. 4, S. 232, s. v. «einvalt». 336 Das mhd. Verb lôsen bedeutet in den meisten Fällen die Vortäuschung freundlichen Benehmens, also ‹ schmeicheln, heucheln › , vgl. Lexer Bd. 1, Sp. 1957 s. v. «lôsen». 337 Dies scheint mir ein weiterer Hinweis auf eine enge Verbindung zwischen dem Exempel Jakobs von Vitry und dem Zahn. Es lassen sich darüberhinaus noch 165 Die Rache des Ehemannes Nu als ich gelesen han, do si eines minnen wolde gan, do brahte si den guoten man mit ir bosheit daran daz er wande wesen ungesunt. zuo im sprach ir b œ ser munt: ‹ du solt ze bette ligen nider biz daz ich komen mac her wider. › (23 - 30, Hervorhebungen C. R.) 338 In beiden Texten hat die Vorgeschichte bereits deutlich die Funktion, die Listigkeit der Frau zu beweisen, sie vorab zum übelen wîp zu typisieren. Hinzu kommt nun, daß auch die Forderung des Liebhabers nach dem Zahn des Gatten 339 in Gruppe A eine Motivation erhält: Sie wird überhaupt erst ausgelöst durch das Verhalten der Frau. Ihre überschwengliche Liebesbeteuerung ist es, die den Liebhaber mit seiner Forderung reagieren läßt. 340 Dabei erklärt sich zwar nicht, warum der Geliebte ausgerechnet einen Zahn fordert, wohl aber wird die Logik seiner Reaktion deutlich, wenn man bedenkt, daß die Frau eine zahlreiche Stellen wörtlicher Übernahmen finden, etwa die List der Frau, als sie - von ihrem Geliebten zurückgekehrt - die trauernde Liebende vortäuscht, um an den Zahn zu kommen: At illa ad maritum reversa cepit plorare et tristiciam simulare heißt es da im Exempeltext und, kommentierend verdeutlicht, im Zahn: Do kertes an der stunde heim vür daz bette sitzen und pflac vil b œ ser witze: gar bitterlich si weinde. vil kumbers si erscheinde (46 - 50) Der anschließende Dialog, in dem sie dem Ehemann nach reichlicher Ziererei eröffnet, er habe einen faulen Zahn, dessen Gestank unerträglich sei, verläuft dann in beiden Texten genau parallel, nur sind im Zahn die Redebeiträge durch Ausschmückungen amplifiziert, vielleicht, um die Situation eindrücklicher zu schildern. Auf der semantischen Ebene kommt jedoch nichts hinzu, das Grundgerüst des Dialogverlaufs ist das bei Jakob zu lesende. Wörtlich ist wieder die Frage des Mannes nach einem Heilmittel übernommen: ‹ [. . .] possemne aliquid remedium adhibere? › lautet im Märe ‹ hilft mir niht arzenie? › . 338 Hervorhebungen hier und im Folgenden von mir, C. R. 339 Es ist in beiden Texten nur ein Zahn, der vom Liebhaber gefordert wird. 340 Als erregendes Moment, das den Schwankvorgang erst auslöst, wird der Liebesschwur auch in Strickers Begrabenem Ehemann genutzt. Dort wird dem Mann zum Verhängnis, daß er behauptet hatte, seine Frau mehr zu lieben als sie ihn. Sie fordert nun eine Reihe immer drastischer werdender Beweise, die seine männliche Rolle als Ehe- und Hausherr dekonstruieren bis hin zur Selbstvernichtung. Vgl. dazu Johannes Keller : Dekonstruierte Männlichkeit: von scheintoten und begrabenen Ehemännern. In: Martin Baisch u. a.: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2003, S. 123 - 148. 166 Modellanalysen Behauptung aufstellt, die in ihrer Übersteigerung eines in gleicher Weise ‹ außer-ordentlichen › Beweises bedarf. Jakobs Exempel zeigt hier eine deutlichere Stringenz der Motivation. Im Zahn behauptet die Frau dem Geliebten gegenüber si minnt in vür alle man (37), wodurch der Bezug zu dessen Forderung eines Zahnes aus dem Mund ihres Ehemannes nicht sofort herzustellen ist. Im lateinischen Exempel dagegen sagt die Frau ihrem Liebhaber noch, sie liebe ihn mehr als ihren Mann, woraufhin dieser als Wahrheitsbeleg den besten Zahn eben desselben fordert: ‹ In hoc probabo quod verum est quod dicis si meliorem dentem quem habet maritus tuus dederis mihi. › Das heißt, es handelt sich zwar bei Jakob von Vitry auch um einen in seiner Aggressivität pervertierten Liebesbeweis, jedoch ist der Zusammenhang von Behauptung der Frau und Forderung des Liebhabers als Beweis dieser Behauptung rein logisch nachvollziehbar. Das Exempel motiviert hier also gewissenhafter, auf dem Weg zum Zahn scheint dieses für die Erzähllogik wesentliche Detail verlorengegangen zu sein. Dafür entwickelt der Zahn die Figur des Liebhabers in eine neue Richtung. Seine Forderung klingt willkürlich und überzogen, steigert er doch auch den bei Jakob schon vorhandenen Komparativ meliorem dentem quem habet maritus tuus mit dem hyperbolischen Verlangen nach dem aller besten kinnezan/ den ieman ihtes vinden kan/ in dines mannes munde (43 - 45). Stede zeigt, daß er sich mit dieser Hyperbolik eines «höfischen Überbietungstopos» bedient. 341 Die ‹ fremde Rede › reagiert ironisch auf den ebenfalls dem Bereich höfischer Minne entlehnten und überzogenen Liebespreis der Frau: nu daz si kam an die stat da si vant ir amisen, si begund in vaste prisen: er wære stolz unde guot, endehaft und wol gemuot und si minnt in vür alle man. (32 - 37) Der amîs nimmt diese Lobhudelei nicht ernst: des er geriet si lüg in an (38). In diesem Sinne ist auch seine Forderung, gekleidet in uneigentliches Sprechen, nicht ernstgemeint. Eine solche Annahme ironischer Sprechweise deckt sich mit der weiteren Reaktion der Liebhaberfigur im Zahn, der sich ob der Tatsache, daß die Ehefrau seinen offenbar scherzhaft gemeinten Wunsch sofort ausgeführt hat, erschrocken (79) von ihr abwendet: mitalle zoch er sich von ir (85). Dementsprechend ist der Geliebte am Ende als Identifikationsfigur für den Rezipienten rehabilitiert und darf - didaktisch wertvoll - alle an seiner Erkenntnis teilhaben lassen: 341 Vgl. Stede (1993), S. 103. 167 Die Rache des Ehemannes ‹ owe › , [daht er,] aller miner ere! Do si den mein hat getan, so getar si wol ein mort began, ob si morn an minem dinge enpfünd iht misselinge. › (80 - 84) Auch er ist damit ein Opfer. Ein Opfer weiblicher Bösartigkeit, die der Erzähler nun im Epilog ausführlich geißelt. Enden läßt er seine wütende Litanei effektvoll im apokalyptischen Bild des Jüngsten Gerichts. Ohne weiteres leuchtet die schlagende Argumentationskraft dieses Bildes ein, in welchem der Erzähler listigen Frauen deutlich ihren Platz zuweist: daz si der tiuvel drate binde in der helle grunt und si erwisch in sinen slunt. daz merke swer nu welle: got die veigen velle von den guoten alle zit, wan b œ se bi guotem schaffet nit; und alle zit die guoten habe got in siner huote. (96 - 104) Während also Jakobs Exempel mit der Zahnübergabe endet und damit der Status bestehenbleibt, daß Liebhaber und Ehefrau als Gegenspieler des Mannes Komplizen sind, erweitert der Zahn die Handlung um die Reaktion des Geliebten, weil sich diese Figur für die moraldidaktischen Zwecke des Textes instrumentalisieren läßt. 342 Mit dessen eindeutigem Erzählerstandpunkt kontrastiert insofern ein reichlich allgemein gehaltenes Fazit am Ende des lateinischen Exempels, das sich durch eine offene didaktische Pragmatik auszeichnet: Non est facile credendi uxori nec consiliis adultere acquiescendi. 343 Für eine adäquate Bewertung des moraldidaktischen Impetus muß im Falle des Exempels der Überlieferungszusammenhang berücksichtigt werden. Der Predigtzyklus der Sermones vulgares war nach den gesellschaftlichen Ständen der Zuhörer geordnet (deshalb auch Sermones ad status genannt). Aus Cranes sorgfältiger mit Folio-Angaben verzeichneter Edition und seiner Inhaltsübersicht der benutzten Handschrift ist zu erschließen, daß sich das vorliegende Exempel in der Predigt Nr. 68 ad coniugatos fand, also adressiert war an 342 Zudem wird durch diese Handlungsführung die Frau als bösartige, ja asoziale Figur isoliert. Stede (1993), S. 107, sieht damit «die Ordnung der christlichen Ehe ex negativo legitimiert.» 343 Es ist nicht einfach, der Ehefrau zu glauben, noch, sich von den Listen der Betrügerin zu erholen. (Übersetzung C. R.) 168 Modellanalysen Verheiratete. 344 Nun wäre die genaue Kontextualisierung innerhalb der Predigt interessant, diese Arbeit kann sie jedoch vorerst nicht leisten, da die einzige Teiledition der Sermones vulgares die Predigt Nr. 68 nicht aufführt 345 , eine vollständige Ausgabe ist bis heute Desiderat geblieben. 4.3 Gebundener Erzählfall des Exempels und offene Fallerzählung Die detaillierte Textanalyse hat gezeigt, daß das Erzählziel der Gruppe A die vituperatio mulierum ist. Die vorgetragene Geschichte dient als Beweis dieser moraldidaktischen Botschaft und hat damit exemplarische Funktion. Betrachtet man den Status der Geschichte, so kann man innerhalb der Gruppe A von geschlossenen Erzählstrukturen sprechen, der vorgestellte Fall bedarf keiner Beurteilung, er ist im Gegenteil von Anfang an entschieden und wird selbst funktionalisiert als Exempel, das ein «Abstrakt-Allgemeines» 346 - eine Moral, eine Lehre, eine Botschaft - zu verdeutlichen hat. Dies wird anhand des lateinischen Exempels durch seine ursprüngliche Kontextgebundenheit in der Predigt um so klarer. Entsprechend ist auch die Handlungsführung entwickelt, denn sobald die Übergabe des geraubten Zahns an den Liebhaber erfolgt, mithin der Beweis für die skrupellose Bösartigkeit der Frau erbracht ist, endet die Erzählung. Daß im Zahn noch weitererzählt wird und das Publikum die Reaktion des Liebhabers erfährt, erwies sich als geschickter Trick zur Steigerung der didaktischen Wirkung, wie ja auch sonst der Zahn auf ernsthafte Kommentierung setzt, während Jakobs Exempel über lakonische Situationskomik funktioniert. Die schwankhafte Ausgangssituation des listigen Ehebruchs ist im Zahn «sehr entschieden für eine moralisch-didaktische Zielsetzung genutzt» 347 , die Erzählung nicht auf eine komische Wirkung hin angelegt. 348 Doch auch bei Jakob 344 Crane (1890) benutzt die vollständige Handschrift Paris, Bib. Nat. MSS., Lat. 17,509, 13. Jh., Pergament, auf die sich auch Forni (1980), S. 34 - 89 bezieht. Die Inhaltsübersicht bei Crane (1890), S. xlii - xlvi. 345 Pitra (1888), S. 189 - 193 (Prolog zu den Sermones vulgares); S. 344 - 461 (Sermones und Speculum Exemplorum). Pitra macht keine Angaben zu der Handschrift, auf der seine Edition beruht, es handelt sich wahrscheinlich ebenfalls um das Pariser Manuskript. 346 Koch (1973), S. 201. 347 Janota (1999), Sp. 1476. 348 Stede (1993), S. 104, entdeckt Komik im Dialog zwischen Ehefrau und Mann, als er ihr aufgrund ihres Zögerns, mit ihrem Anliegen herauszurücken, ein überschwengliches ‹ Blankoversprechen › gibt: er sprach: ‹ du siest wol gemuot! 169 Die Rache des Ehemannes von Vitry, dessen Exempel eine komische Entfaltung der Schwankkonstellation ermöglicht, dient ihre Wirkung letzten Endes dem Beweis der allgemeingültigen Regel: Eine gute Frau ordnet sich ihrem Ehemann unter. 349 Betrachten wir nun kontrastiv die Gruppe B, so läßt sich hier ein anderes, offeneres Arrangement der Fallgeschichte beobachten, ausgelöst durch das Hinzutreten eines neuen Handlungselements, das im Erzählganzen nicht vollständig funktionalisiert ist: der Weiterverarbeitung der geraubten Zähne zu Würfeln. 4.4 Das Exempel aus der Compilatio Singularis Exemplorum und Kaufringer (Gruppe B) Friedrich nimmt als Ausgangspunkt für seine Interpretation der Rache des Ehemannes eben diese bisher nicht zufriedenstellend zu klärende Frage nach der Funktionalität der Körperteile, die in Kaufringers Text eine auffällig zentrale Position einnehmen. Ihre Bedeutung stellt sich weniger auf der moralisch-exemplarischen Ebene ein, auch nicht vor dem Hintergrund sozialhistorischer Konstellationen. Erst recht aber läßt sich die Funktion der zu Schmuckstücken verarbeiteten Körperteile nicht aus einer irgend gearteten Psychologie der Akteure ableiten. 350 und sold ez kosten lip und guot, ich wold ez legen vür dich dar. des nim du vil guote war! › (59 - 62) Die parodistische Aufnahme eines höfischen Redegestus verstärke hier die dem schwankhaften Handlungsmuster der Überlistung des Ehemannes inhärente komische Dimension. Da das schwankhafte Potential des Stoffes im Zahn jedoch kaum zur Wirkung kommt, scheinen mir diese Beteuerungen des Ehemannes eher - im Sinne der Aufwertung seiner Figur als einfältig, jedoch aufrecht liebend durch den moralisierenden Erzähler - sein vorbildliches Verständnis christlicher Ehe zu beweisen, das die Frau, ein ebensolches simulierend, schamlos ausnutzt. Das betont die Opferrolle des Ehemannes. 349 In einer Predigt zum Thema Ehe könnte man sich dieses Exempel vorstellen als Negativbeispiel, wobei zu klären wäre, ob die seltsame Pragmatik des unmittelbaren Fazits ernst gemeint und damit als Handlungsanweisung etwa an Ehemänner zu verstehen wäre, den Frauen niemals ganz zu vertrauen, oder ob diese ‹ Moral › vielmehr eine ironische Kommentierung des Geschehens darstellt und damit die komische Wirkung des Schwanks unterstützt. 350 Friedrich (1996), S. 9. 170 Modellanalysen Der Rezipient werde gleich zu Beginn «mit einer Kohärenzzumutung konfrontiert» 351 , da der Pfarrer ohne Grund von der Geliebten die Zähne fordere. In der Handlung des Pfaffen, die erhaltenen Zähne zu Würfeln umarbeiten zu lassen, setzt sich diese Kohärenzzumutung fort. Friedrich sieht die Begründung dafür im Entwurf einer Spielmetaphorik durch den Text: «Mit der Herstellung der Würfel überführt Kaufringer das die Ehe (zer-)störende Minne-Spiel, das der Pfaffe mit der Frau real spielt, auf eine metaphorische Ebene.» 352 Durch diese metaphorische Konnotation des Würfelspiels, das für das Dreiecksverhältnis zwischen Gatte, Liebhaber und Ehefrau steht, sieht Friedrich die Rache des Ehemannes mit Kaufringers Märe vom Zurückgegebenen Minnelohn verknüpft. 353 Im Zurückgegebenen Minnelohn wird die Metaphorik auf der Ebene des Figurendialogs durchgespielt, indem der Ehemann die Parallelisierung von Ehebruch und Brettspiel vornimmt und dabei dem Liebhaber die Bereitstellung der Würfel, der Frau die des Spielbretts und sich selbst die des zum Spielen gehaltenen Lichts vergütet. Seine brutale Realisierung erfährt das sprachliche Bild dagegen in der Rache des Ehemannes, indem die Zähne des Ehemannes zu Würfeln verarbeitet werden, die dann ihren Aufbewahrungsort in einem Beutel finden, der aus dem Skrotum des Liebhabers gefertigt wurde. 354 Das literarische Metaphernspiel in der Rache des 351 Ebd. 352 Ebd., S. 10. 353 Vgl. ebd., S. 11. 354 Siehe zur Verbindung von Zurückgegebenem Minnelohn und Rache des Ehemannes auch Klaus Grubmüller : Wolgetan an leibes kraft. Zur Fragmentierung des Ritters im Märe. In: Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer : Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 193 - 207, wo es S. 202 allerdings irrtümlich heißt, in der Rache des Ehemannes würden die Hoden des Liebhabers zu Würfeln verarbeitet. Sie werden tatsächlich - als Höhepunkt des schwarzen Humors - zu zwei Knöpfen gedörrt, die, mit Gold überzogen, den Beutel zieren. Insofern läßt sich nur in eingeschränktem Maße von einer parallelen Auflösung der im Zurückgegebenen Minnelohn entwickelten Metaphorik in der Rache des Ehemannes sprechen, denn dort sind die Spielwürfel die ehemaligen Zähne des Ehemannes, stehen insofern pars pro toto für diesen, im Zurückgegebenen Minnelohn dagegen wird die explizite Rolle des Liebhabers beim Ehebruch in die erotische Metapher des ‹ Würfel in das Spielbrett Werfens › gekleidet. Der Ehemann kommentiert die Bezahlung des Liebhabers mit den Worten [. . .] ‹ nun nement hin/ in die würfel den gewin,/ die ir gesprengt habt in das pret. › (709 - 711). Eine instruktive Strukturanalyse des Zurückgegebenen Minnelohns auf der theoretischen Basis des Tauschens von minne gegen Geld bei Reichlin (2009), S. 163 - 185. Aus gendertheoretischer Perspektive rückt jetzt Schallenberg (2012), S. 261 - 270, die Aspekte ‹ Geschlecht und Ökonomie › zusammen. 171 Die Rache des Ehemannes Ehemannes stelle somit laut Friedrich eine Kontinuität her, die die fehlende Stringenz auf der Handlungsebene ersetze. Die Forderung des Pfaffen werde «von hinten» motiviert, «weil die Metaphorik des (Minne-)Spiels entsprechende Requisiten erfordert». 355 Das Bild läßt sich nun vervollständigen, wenn man das Exempel aus der Compilatio Singularis Exemplorum in die Interpretation einbezieht, denn hier findet sich sowohl die Forderung des Liebhabers bereits durch die Spielmetaphorik motiviert als auch die Idee der Verarbeitung der geraubten Zähne zu Würfeln angelegt. Beginnen wir den detaillierten Textvergleich wieder bei der Zahnforderung des Liebhabers. In Gruppe B erfolgt sie unvermittelt nach der kurzen expositionellen Einführung der handelnden Figuren. 356 Sie ist nicht als Reaktion der Aussage der Frau geschuldet, wie das in Gruppe A der Fall war. Es ist also zunächst zu bemerken, daß das erzählerische Gewicht, das Gruppe A auf die Vorgeschichte zur Charakterisierung der bösen Frau und ihren Liebesschwur als erregendes Moment legte, hier auf die Figur des Geliebten verschoben ist; die Frau rückt etwas aus der Schußlinie. Der nun formulierte Wunsch des Liebhabers mutet in der Compilatio genauso grotesk an wie in den anderen Texten, aber es wird eine zusätzliche Information gegeben: Der Liebhaber sagt, was er mit den Zähnen vorhat. Mulierem uxorem cuiusdam diligens quidam: ait ei se (se fehlt) amplius non frequentare eam nisi ei tres dentes mariti ad faciendum tallos ad ludendum cum eo procuraret (n. traderet ei tres dentes/ mariti/ ad ludendum/ ad talos/ cum/ eo). 357 Ein Mann, der eine Frau, Gattin eines anderen Mannes, liebt, sagt zu ihr, daß er sie nicht weiterhin aufsuchen werde, wenn sie ihm nicht drei Zähne des Ehemannes brächte, um daraus Würfel zu machen, um mit ihm zu spielen (wenn sie ihm nicht drei Zähne des Ehemannes bringen würde, zum Würfelspielen mit ihm). (Übersetzung C. R.) Die Frau verschafft sich das Gewünschte, indem sie sich weigert, ihren Mann zu küssen, mit dem Hinweis auf den üblen Geruch eines angeblich faulen Zahns in seinem Mund, und die Handlung endet mit der Übergabe der drei Zähne an den Liebhaber. Das Element ‹ Zähne zu Würfeln › wird also nicht noch einmal aufgegriffen. Was aber geschieht, nachdem der amasius die Gattenzähne erhalten hat, ist für das Publikum aufgrund seines zukunftsweisend formulierten Vorhabens leicht zu imaginieren: Die Frau und er werden damit würfeln. Tatsächlich gewährleistet dieses im Vergleich zur Gruppe A neue Element also die Pointe der Geschichte: Das Dreiecksverhältnis ist im Würfelspiel meta- 355 Friedrich (1996), S. 14. 356 Zur besseren Übersicht siehe die Tabelle in Abschnitt 4.1.2. 357 Zit. nach Raas (1983), S. 237 f; zitiert ist nach der Berner HS, wobei die Abweichungen der Tourser HS in Klammern angegeben sind. 172 Modellanalysen phorisiert, in eben der Konstellation, die sich auch in Kaufringers Zurückgegebenem Minnelohn findet. Nur zielt das hier inszenierte Bild - im Gegensatz zum Minnelohn - auf die Demütigung des Ehemannes, und in dieser Funktion übernimmt es Kaufringer auch für die Rache des Ehemannes. 358 Das Würfeln steht als Metapher für das Liebesspiel zwischen Ehefrau und Liebhaber, symbolisch drückt sich die Überlegenheit der Ehebrecher über den nichtsahnenden Hahnrei in den Würfeln aus, die letzteren als pars pro toto repräsentieren. Das Liebespaar hält die Würfel in der Hand: Es kontrolliert den Ehemann. Daß er nicht nur bedeutungslos geworden ist, sondern auch noch als Materiallieferant für die gewünschten Spielwürfel ausgebeutet wird, zeigt den Übermut des Liebhabers, der sich in absoluter Sicherheit wähnt und daher die Situation mit dieser perversen Handlung überstrapaziert. Didaktisch instrumentalisiert beweist es die fraudulanciam mulierum, wie es in der Tourser Handschrift der Compilatio heißt, die Boshaftigkeit der Frau, welche sogar ein solcherart außer-ordentliches Ansinnen erfüllt. Die Überlieferung der Compilatio durch die Berner Handschrift läßt diesen moralisierenden Zusatz am Ende weg und weist damit einen neutral berichtenden Charakter auf, der sich auf die Unerhörtheit des Ereignisses konzentriert. Beschränkt man sich auf diesen Text, macht die Geschichte hier also einen Schritt weg vom gebundenen, weil veranschaulichenden Einzelfall hin zum selbständigen Präzedenzfall. Die Argumentation über eine Überlieferungsvariante der Compilatio Singularis Exemplorum bleibt freilich angreifbar; läßt man den wahrscheinlich auf eine ursprünglich didaktische Kontextualisierung weisenden stehengebliebenen Rand der Handschrift Tours zu seinem Recht kommen, scheint sich der exemplarische Charakter des Compilatio-Textes nicht von der Gruppe A zu unterscheiden. 359 358 Mit dem Unterschied, daß in der Rache des Ehemannes Pfarrer und Ritter würfelspielend zusammensitzen, die Frau ist nicht beteiligt an dieser Szene, wird also von Kaufringer noch weiter aus der Schußlinie genommen. 359 Auch die Einordnung der Exempla in der Compilatio Singularis Exemplorum nach inhaltlichen Kriterien, also dem Stand/ Beruf der maßgeblichen Figur des jeweiligen Exempels, scheint mir jedoch keine spezifische didaktische Intention zu verraten. Unser vorliegendes Exempel findet sich in dem Ordinacio tractatus istius libri des Kompilators unter den exempla de mulieribus ignobilibus des achten Teils der Sammlung, innerhalb dessen «ca. 410 solche Geschichten über die weltliche und bürgerliche Gesellschaft versammelt» sind, vgl. Hilka (1912), S. 2. - Die entscheidende Frage ist, ob solche Sammlungen tatsächlich ausschließlich für die Anfertigung von Predigten benutzt wurden, die Fallgeschichten also immer exemplarisch funktionalisiert waren, oder ob es auch eine ‹ literarische › Rezeption der Fallgeschichten als Fälle gab, das Faszinosum also auch in der Unerhörtheit der Geschichte liegen konnte. Damit zusammenhängend wäre die Überlieferungsgeschichte der Exempelsammlungen zu betrachten. Rezipierten tatsächlich nur 173 Die Rache des Ehemannes 4.5 Konstruktion einer offenen Fallerzählung Trotzdem erschöpft sich die Funktion der Idee ‹ Zähne zu Würfeln › nicht in einer didaktischen Motivierung, ja mehr noch, sie wird für die Exemplarik vom übelen wîp eigentlich gar nicht gebraucht, das hat die Analyse der Gruppe A- Texte gezeigt. Vielmehr erzeugt dieses neue Element einen zusätzlichen literarischen Reiz durch die Schaffung jener zweiten Bedeutungsebene der Spielmetaphorik. Und es stellt einen An-knüpfungspunkt dar, es ist fast eine Aufforderung zum Weitererzählen, zum Wiedererzählen. Genau an der Stelle, wo das Exempel der Compilatio aufhört, setzt Kaufringer an. Im Text findet sich hier ein Erzählerkommentar als Zäsur. Die Frau hat eben den zweiten Zahn an sich genommen, im Hintergrund sitzt der blutüberströmte Ritter: si gieng, da si den pfaffen vand. dem gab si die stockzän baid. des daucht sich der pfaff gemait. (116 - 118) Die Erzählstruktur scheint dem Zahn zu ähneln, da wir noch eine Reaktion des Liebhabers bekommen. Der Figurenpsychologie nach ist die Art dieser Reaktion jedoch dem Verhältnis ungetrübter Komplizenschaft geschuldet, wie es in den Exempeln Jakobs von Vitry und der Compilatio gestaltet ist. Jedenfalls gibt es bis zu dieser Stelle mögliche Vorlagen, die wohl auch dem Publikum bekannt waren, was aber jetzt kommt, ist neu: Nun merkent, wie es darnach gieng. da der pfaff die zen empfieng von dem weib, gieng er zehant, da er ain würfelmacher vand. (119 - 122) Zum ersten Mal in der Rache des Ehemannes wendet sich der Erzähler direkt an seine Rezipienten, vorher gibt es weder ein Promythion noch eine Kommentierung. Bis hierher wurde Bekanntes erzählt, nun aber markiert die Apostrophe an das ‹ Auditorium › , daß für das Folgende gesteigerte Aufmerksamkeit vonnöten ist. Diese verstärkte Interaktion des Erzählers mit seinem Publikum hält auch weiterhin an. Kommentare und Apostrophen an die Leser bzw. Hörer begegnen immer an solchen für den Handlungsfortgang wesentlichen Gelenkstellen. Sie haben oft die Funktion, die Existenz der einzelnen Szene im Gesamtgeschehen zu rechtfertigen und damit, die verfolgte Erzählstruktur zu steuern. Als beispielsweise das Zusammentreffen von Pfaffe und Geistliche diese Sammlungen vornehmlich zu Predigtzwecken, oder wurden sie auch von Laien gelesen? Schließlich legt die Verwandtschaft der Texte nahe, daß der Verfasser des Zahns, der freilich auch ein Geistlicher gewesen sein kann, auf Jakobs Exempel referiert. 174 Modellanalysen Ritter arrangiert werden muß, damit über das (Wieder)-Erkennen der Zahnwürfel die Revanchehandlung des Ritters in Gang gesetzt werden kann, greift der Erzähler zur Sprechhaltung der Sentenz, um diese für die bekannte Tradition des Stoffes neuartige Wendung zu legitimieren: Darnach unlang fuogt sich das, das der pfarrer komen was zum ritter in gesellschaft guot, als noch ain ieglich minner tuot: will er die frawen lieb han, er sol erwerben iren man. so mag es sich dann schicken wol, das im wirt der minne zol. (141 - 148) Die Frage nach der zunächst paradox anmutenden Entwicklung, daß der Pfarrer die Gesellschaft des Ritters sucht, wird beantwortet mit der Suggestion, er befolge eine allgemeingültige Konvention, nach welcher Liebhaber in dieser Weise handeln würden. 360 Offensichtlich löst Kaufringer auf jene Art die entstandene Motivationslücke, denn das angebliche Sprichwort ist rein aus der Erzählsituation abstrahiert und zwar nachträglich. Der Duktus der Spruchweisheit wird dabei parodiert mit Hilfe des verwendeten Vokabulars: Indem die Liebesbeziehung zwischen Frau und Pfarrer über den in amouröser Weise konnotierten Begriff erwerben aufgerufen wird, nun aber die Frau durch ihren Ehemann substituiert ist, wirbt der Liebhaber um den Ehemann, nicht um die Frau. Der scheinbar ‹ gutgemeinte Ratschlag für erfolgreichen Ehebruch › , der Liebhaber sei am sichersten in der Höhle des Löwen, ist damit als ironische Referenz auf das weitere Geschehen zu verstehen. Nachdem der Ritter - in seinem Versteck Zeuge des Ehebruchs seiner Gattin mit dem Pfaffen geworden 361 - letzteren kastriert hat, läßt uns der Erzähler noch einen kurzen Blick 360 Die suggestiv-argumentative Kraft der im Sprichwort formulierten opinio communis setzt Kaufringer in vielen seiner Texte gezielt ein. Sie wird schon von den antiken Rhetorikern geschätzt und ist als Beweis oder als ornatus einsetzbar in prooemium, narratio und argumentatio, vgl. Lausberg § 872, 876. Die spezifische, von jeder weiteren Diskussion entbindende Wirkungsweise des Sprichworts beschreibt sehr treffend Jolles (1974), S. 168: «[. . .] wir gebrauchen es in buchstäblichem Sinne, sooft wir eine Erfahrung, ohne sie in sich selbst aufzuheben, sozusagen ad acta legen - aber auch, wenn es von anderen ausgesprochen wird, fühlen wir uns jedesmal der Mühe enthoben, Erlebnisse und Wahrnehmungen zu erarbeiten: Ende gut, alles gut! » 361 Diese Szene ist als Variation der Versteckszene im Feigen Ehemann (122 - 216) zu verstehen (siehe das entsprechende Kapitel dieser Arbeit). Ich habe sie bereits in der Einleitung herausgegriffen als Beispiel für Kaufringers Verständnis für Intertextua- 175 Die Rache des Ehemannes auf das Bild eines fast verblutenden Pfarrers und einer verzweifelten Frau erhaschen (242 - 244). Dann spricht der ‹ Regisseur › : Nun will ichs in den nöten lan und von dem ritter lobesan will ich nun sagen fürebas. (245 - 247) Immer deutlicher tritt der Ich-Erzähler als gestaltende Instanz hervor. 362 Nur einige Verse später eine weitere Direktive ans Publikum: nun sült ir werden des gewar,/ wie er es handelt darnach. (252 f) Anders als etwa innerhalb der Gruppe A, hat die Erzählerkommentierung bei Kaufringer also keine moraldidaktische Funktion. Sie bildet dagegen ganz deutlich das Baugerüst der Narration. Die Rache des Ehemannes könnte - salopp gesagt - als Antwort auf die Fragen verstanden werden, die nach dem Exempel der Compilatio Singularis Exemplorum offen bleiben. Wie werden aus den Zähnen des Mannes Spielwürfel? Was passiert, wenn der Ehemann davon erfährt? Kaufringer dekliniert die logischen Möglichkeiten durch, die im Versuchsaufbau dieser Geschichte stecken und erzählt sie konsequent zu Ende. 4.5.1 Wenn Zähne zu Würfeln werden Das meint zunächst den Vorgang des Auserzählens der Würfelfertigung. Die Idee ‹ Zähne zu Würfeln › war, wie oben gezeigt, im Exempel der Compilatio als handlungsauslösendes Moment bereits angelegt, aber nicht erzählerisch realisiert. Kaufringer jedoch greift sich genau dieses Moment heraus, um darauf seine weitere Geschichte aufzubauen. Für die Forderung des Pfaffen am Anfang verzichtet Kaufringer auf das Motiv, es wird erst nach dem Zahnraub am Ehemann eingeführt, indem direkt der Vorgang der Würfelanfertigung erzählt wird. Dieser läßt sich im Sinne einer mittelalterlichen Poetik des Wiedererzählens nach rhetorischen Vorgaben als Paradefall der dilatatio materiae beschreiben. 363 Die Ausbreitung des Stoffes an Stellen, wo sich die Vorlage kurz faßt, empfiehlt die Ars dictandi - unter anderen Galfrid von Vinsauf in seiner Poetria nova. 364 Sie wird von den mittelalterlichen lität und sein bewußtes Einsetzen derselben zur Schaffung zusätzlicher Bedeutungsebenen. In diese Richtung weist auch Friedrich (1996). 362 Zur kunstvoll integrativen Erzählregie Kaufringers in den Drei listigen Frauen, welche die Einzelkasus narrativ verflicht, siehe Coralie Rippl : Geld und âventiure. Narrative Aspekte der Zeit-Raum-Erfahrung bei Heinrich Kaufringer. In: PBB 134 (2012), S. 540 - 569; S. 560 - 566. 363 Siehe Worstbrock (1985), außerdem Worstbrock (1999). 364 Vgl. Ernest Gallo : The Poetria Nova and its sources in early rhetorical doctrine. The Hague/ Paris 1971, S. 48 f; V. 672. Eine entsprechende Empfehlung gibt der 176 Modellanalysen Dichtern gerne dort praktiziert, wo es um ekphrasis (lat. descriptio), die Kunst der Beschreibung geht. 365 Aus den tres dentes mariti, die sich der Liebhaber im Compilatio-Exempel ad faciendum tallos ad ludendum von der Frau wünscht, werden bei Kaufringer zwei Würfel. Friedrich sieht, vom Zahn ausgehend, die Erklärung in der Konstruktion des metaphorischen Spielhintergrundes durch Kaufringer: Eine Verdoppelung der Forderung gegenüber dem Märe vom Zahn sei nötig, weil das Bild des Würfelspiels nur mit zwei Zähnen funktioniere. 366 Der Schritt läßt sich nun wesentlich verkleinern, weil Metaphorik und dafür nötige Mehrzahl Zähne nicht kontrastiv zum Zahn erfunden (inventio), sondern in der Compilatio bereits angelegt sind und damit von Kaufringer gefunden und über rhetorische Bearbeitungstechniken im Sinne mittelalterlicher Erzählpraxis bearbeitet werden konnten (dispositio und elocutio). Zum mittelalterlichen Spiel braucht man mehr als einen Würfel, es können jedoch zwei oder drei sein. 367 Die Zweizahl bei Kaufringer steht ganz im Zeichen einer stimmigen Episoden-Parallelität (zwei Zähne - zwei Hoden). Außerdem hätte ein dritter Zahn eine nochmalige Wiederholung der List der Frau erfordert und diese erzähllogisch wohl unglaubwürdig werden lassen müssen. 368 Im Sinne eines kleinepischen Wiedererzählens läßt sich an dieser Stelle nachvollziehen, wie Kaufringer im Umgang mit der überlieferten materia über formale Bearbeitungsschritte ein entscheidendes neues Handlungselement gewinnt. Das Element ‹ Zähne zu Würfeln › wird im Geschehen neu positio- Autor des die Poetria nova kommentierenden Documentum de arte dictandi et versificandi: «Als den ersten modus aneignender Bearbeitung - materiam communem proprie dicere - aber empfiehlt er, sich kurz zu geben, wo andere verweilten, und dort, wo sie vorübereilten, einzuhalten, empfiehlt, die Möglichkeiten der Dilatatio, digressiones und descriptiones, zu nutzen (II 3.133).» Worstbrock (1985), S. 10. In diesem Sinne auch die Bemerkungen Berns von Reichenau über das Verhältnis seiner Bearbeitung der Ulrichsvita zur Vorlage, siehe Worstbrock (1999), S. 136. 365 Die ausgiebige Beschreibung von Enites zweitem Pferdegeschenk bei Hartmann von Aue ist ein berühmtes Beispiel dafür, siehe Worstbrock (1985), S. 20 - 27. Grundlegend zur Ekphrasis Haiko Wandhoff : Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin/ New York 2003. 366 Friedrich (1996), S. 14. 367 Zum Würfelspiel im Mittelalter siehe W. Endrei: Art. Spiele (Vergnügen, «Freizeit»). A. III. Spiele im privaten Bereich. In: LexMA 7 (1995), Sp. 2108 - 2111; Sp. 2110. 368 Im Exempel der Compilatio Singularis Exemplorum erhält die Frau alle drei Zähne durch fortgesetztes Behaupten, der Bader habe den falschen Zahn gezogen. Eine Schwäche in der Motivierung fällt hier jedoch nicht auf, weil die Szene nur knapp berichtet, nicht auserzählt wird. 177 Die Rache des Ehemannes niert; über sein Auserzählen wird der Handlungsfortgang motiviert, für den die im Exempel der Compilatio nur imaginär vorhandenen Würfel als reale Gegenstände verfügbar sein müssen. Die über eine dilatatio geschaffene Kunsthandwerksszene wird hier also auf der strukturellen Ebene zum Argument, das den Racheplan des Ritters motiviert und darüber die Gegenreaktion einläutet. Der Effekt einer solchen nachträglichen Einführung des Motivs ‹ Zähne zu Würfeln › und die dilatatio im Sinne der genauen descriptio des metamorphotischen Vorgangs ist die überraschende Wirkung dieser Szene als eine Art unerhörter Begebenheit. Detailgetreu werden die Verarbeitungsschritte erzählt und damit selbst zum Ereignis erhoben; vom Würfelmacher, der den Auftrag erhält, das er aus dem selben pain/ zwen würfel gefüeg und clain/ unverzogenlichen macht,/ wol gefiert und unbeswacht (125 - 128), bis zum Goldschmied, der die Verzierung vornimmt: mit rotem gold vein und zart ward ergraben oben aus ses, zingg, drei, es, kotter, daus; das stond in den würflen reich auf allen eggen werkleich. (136 - 140) Das bereits bekannte Motiv der Zahnforderung durch das ehebrecherische Liebespaar wird so bei Kaufringer noch übertroffen, indem hier jemand - analog den Jagdgebräuchen - menschliche Körperteile zu kunstvollen Trophäen umarbeiten läßt. Aus der initiierenden Motivierung im Exempel der Compilatio wird ein selbständiges Erzählereignis, das weitere Ereignisse auslöst, Handlung anstößt. Dabei überlagert die Kontingenzmetaphorik des Würfelspiels auf der Handlungsebene (die Entdeckung des Ehebruchs wird als Zufall inszeniert, weil der Pfarrer sich beim Spiel nicht unter Kontrolle hat) gerade jene akkurat arrangierte darunterliegende Struktur, reflektiert also, daß das Erzählen vom Zufall, der den unerhörten Fall konstituiert, genauer Planung bedarf. 369 Damit gibt sich Kaufringers Text deutlich als Fallerzählung zu erkennen. Erinnern wir uns an das Verhältnis von Exempel und Fall als Erzählformen: Heuristisch gefaßt ist das literarische Exempel die Veranschaulichung allgemeingültiger Werte und Normen anhand des Einzelfalles, der erzählte Vorfall im Exempel ist ein ‹ Paradefall › , er bestätigt, er exemplifiziert ein Allgemeingültiges. Exemplarisches Erzählen definiert sich also über die abgeschlossene, die dienende Funktion des Erzählfalles. Der literarische Fall 369 Die poetologische Dimension des Würfelspiels als Kontingenzmetapher in mittelalterlicher Literatur untersucht Mireille Schnyder : Glücksspiel und Vorsehung. Die Würfelspielmetaphorik im › Parzival ‹ Wolframs von Eschenbach. In: ZfdA 131 (2002), S. 308 - 325. 178 Modellanalysen dagegen ereignet sich. 370 Entsprechend steht bei seiner Darstellung die Handlung, das Geschehen im Vordergrund. Wichtig ist, was die Figuren machen, wie sie reagieren. Als Sonderfall, juristisch ausgedrückt, als casus (Präzedenzfall), muß er erst beurteilt werden. In diesem Sinne entwickelt sich der in den Parallelversionen als exemplarisch geschlossener Fall behandelte Stoff nun bei Kaufringer weiter zur Ereignisgeschichte. Ihn interessiert nicht in erster Linie die Möglichkeit, mittels des Stoffes eine Lehre zu exemplifizieren, es sind die unerhörten Geschehnisse des Falles selbst, die Geschichte ist es, die er freisetzt. Sie bietet die Gelegenheit, weiter zu konstruieren an diesem Fall, der mit der Forderung eines Liebhabers nach den Zähnen des Ehemannes seiner Geliebten schon aufsehenerregend begonnen hat. 4.5.2 Wenn ein Kastrierter seiner Geliebten die Zunge abbeißt Für die Fortsetzung seiner Erzählung greift Kaufringer nun auf ein Motiv zurück, das in der Ausformung als derber Schwank weite Verbreitung gefunden hat: die Kastration des ehebrecherischen Pfaffen. 371 Hieraus erklärt 370 Vgl. Koch (1973), S. 201 f. 371 Von den zahlreichen Texten, in denen das Motiv der Kastration eine Rolle spielt, siehe Klaus Roth: Art. Kastration. In: EM 7 (1993), Sp. 1019 - 1025, stehen Kaufringer am nächsten die dritte Erzählung in Valentin Schumanns Nachtbüchlein: Von einem bawren, dessen weyb mit einem pfaffen buolet unnd zuletst sie weder teütsch noch welsch kundt. In: Johannes Bolte : Valentin Schumanns Nachtbüchlein (1559) (= Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 197). Neudruck der Ausgabe Tübingen 1893. Hildesheim/ New York 1976, S. 14 - 16 (Nr. 3), und der Schwank Nr. 106 von Martin Montanus: Ein pfaff verleurt sein buppenhan, siehe Johannes Bolte : Martin Montanus Schwankbücher (1557 - 1566) (= Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 217). Tübingen 1899, S. 408 - 411, der mit Sicherheit von Schumanns Version abhängig ist, da hier bei auffälliger Treue der materia gegenüber einzelne Elemente gesteigert und Kohärenzlücken in der Handlungslogik, die Schumanns Version aufweist, erzählerisch gefüllt werden. Beide gehen laut Johannes Bolte : Jakob Freys Gartengesellschaft (1556) (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 209). Tübingen 1896, S. 277, auf ein Meisterlied des Hans Sachs zurück: Der schmid knecht mits pfaffen gschleuder, ed. Johannes Bolte : Märchen- und Schwankstoffe im deutschen Meisterliede. In: Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 7 (1894), S. 449 - 472; S. 464 f. Wobei zu bemerken ist, daß Sachs das Motiv der abgebissenen Zunge nicht kennt, bei ihm wird die ehebrecherische Frau von Pfarrer und Ehemann verprügelt. Zu nennen ist außerdem eine italienische Novelle aus Giovanni Sercambis Novelliere (Nr. 149), siehe Giovanni Sercambi : Il Novelliere. A cura di Luciano Rossi. 3 Bde. Rom 1974, Bd. 3, S. 189 - 195. Die von Grubmüller (1996), S. 1275, für die französische Novellistik angeführten zwei Stücke aus den Cent nouvelles nouvelles (Nr. 64 und 85) sind für die Rache des Ehemannes unerheblich, sie stellen jeweils die 179 Die Rache des Ehemannes sich die Besetzung der Liebhaberrolle, die bei Jakob von Vitry, in der Compilatio und im Zahn nicht weiter spezifiziert ist, mit einem Pfarrer in der Rache des Ehemannes. Anhand dreier textlicher Parallelen läßt sich ersehen, daß es eine Tradition dieses Motivs gibt, die eine Rache des kastrierten Pfarrers an seiner Geliebten erzählt, indem er ihr bei einem vorgetäuschten Kuß die Zunge abbeißt. Diese strukturelle Konstellation von ‹ Zungeabbeißen in einer Als ob-Liebesszene als Replik auf die Kastration › findet sich bei Kaufringer und sie findet sich ebenso in den frühneuhochdeutschen Schwankbüchern des Valentin Schumann, des Martin Montanus sowie in der italienischen Sammlung Il Novelliere des Giovanni Sercambi. Die Gruppe dieser drei Texte zeigt sich zusammengehörig, indem sie ohne nennenswerte Abweichungen die gleiche materia erzählt. Sie definiert sich dadurch, daß die Kastration eigenständig und nicht als Replik auf eine vorher ausgeführte Aktion des Pfarrers erzählt wird, wie Kaufringer das mittels strukturell detaillierter Verknüpfung tut. Was bei Sercambi und in den deutschen Schwankbüchern als direkter Racheakt des Geschädigten einer einfachen Schwanklogik gehorcht, wird bei ihm zu einem Element eines kühl kalkulierten Rachemechanismus: der Pfarrer rächt nicht sich selbst, sondern wird gezwungen, die Rache dessen zu vollziehen, an dem er sich eigentlich (und herkömmlich) zu rächen hätte [. . .]. 372 Hier ist im Vergleich noch mehr zu sehen: Die schwankhafte Gegenaktion bei Schumann, Montanus und Sercambi - und auch bei Hans Sachs 373 - wird nicht vom Ehemann selbst ausgeführt, sondern auf dessen Knecht verschoben. Dieser bringt durch seine Beobachtung des Ehebruchs die Geschichte überhaupt erst in Gang, indem entweder der Herr ihn mit der Bestrafung von Pfarrer und Frau beauftragt, oder er die Aufdeckung des Ehebruchs ganz eigenständig vorantreibt. Der Erzählstruktur und Rollenverteilung nach wäre diese Textgruppe also eher dem Klugen Knecht des Stricker an die Seite zu stellen: Auch hier sorgt der Knecht dafür, daß der Ehebruch der Frau seines Herrn mit dem Pfaffen entdeckt wird. 374 Es geht nicht eigentlich um den Ehemann und auch nicht um die Verwicklung einer Fallkonstellation, vielmehr demonstriert eine außen-, in gewissem Sinne über dem Geschehen stehende Kastration eines lüsternen Pfaffen als Ereignis in den Mittelpunkt; Bewerkstelligung und Ausführung derselben bilden somit die Geschichte, während dies bei Kaufringer nur ein Element der Handlung ist. Mit erfolgreicher Kastration endet die Erzählung, die abgetrennten Geschlechtsteile spielen keine weitere Rolle, auch eine Rache an der Frau gibt es nicht. 372 Grubmüller (1996), S. 1275. 373 Vgl. Anm. 371. 374 Text siehe Grubmüller (1996), S. 10 - 29. 180 Modellanalysen Figur ihre List. Diese beschränkt sich in den vorliegenden vier Texten jedoch wiederum nicht auf die gevüege kündikeit 375 , also genau das in der Situation erforderliche Maß an Listhandeln, das der Strickersche Knecht taktvoll anwendet, um seinen nichtsahnenden Herrn schrittweise ins Bild zu setzen. 376 Vielmehr hat sich diese List verselbständigt und ist ins Boshafte gekippt, sie erzeugt eine obszöne Komik, die durch eine Überlagerung der Lebensbereiche Sexualität und Ernährung hergestellt wird: Der Knecht bringt unbemerkt die Kastration des Pfaffen zuwege, anschließend praktiziert er dessen abgeschnittenes Gemächt in den Kochtopf der Frau, während er das Hühnchen, das sie für den Pfarrer darin kocht, verspeist. So zeigt sich dann auch die Rache des Pfaffen an der Frau eigentlich vom Knecht inszeniert, denn als diese nichtsahnend mit dem ‹ Hühnchen › im Tiegel beim inzwischen bettlägerigen Pfarrer vorspricht, hält dieser sie für die Täterin und rächt sich in der beschriebenen Weise. Einmal von der überlegenen Figur des Knechts in Gang gesetzt, verselbständigen sich der Streich und die damit erzeugte Schwankkomik. Strukturell sind hier Anklänge an die beliebte Volksbuchfigur des Til Eulenspiegel und dessen Streiche zu bemerken. Sercambi schließlich hat durch eine kleine Zutat den Witz, aber auch betontermaßen die Funktion der Geschichte als warnendes Exempel an die ehebrecherische Frau gesteigert 377 : Die derben Zoten erhalten einen legendarischen Anstrich, indem sich der Knecht als Heiliger Martin entpuppt, der in seiner Funktion als Patron betrogener Ehemänner ins Geschehen eingreift. Während der Ehemann dem san Martino für seinen hilfreichen Dienst sehr dankbar ist, wird berichtet, wie der Pfaffe bald darauf stirbt und die Frau ihr Leben traurig im Elend beschließt. Weder Schwankkomik noch Misogynität, die in der vorgestellten Textgruppe als Erzählintention im Vordergrund stehen, sind bei Kaufringer als primäres Erzählziel zu bestimmen. Der Fokus scheint hier vielmehr auf der Verwicklung des spektakulären Falles selbst zu liegen. Es überrascht insofern nicht, daß das Zahnmotiv in den deutschen Schwankbüchern und bei Sercambi völlig fehlt, auch die Weiterverarbeitung der abgeschnittenen Geschlechtsteile. 375 Grubmüller (1996), S. 29, übersetzt «schickliche Klugheit». 376 Vgl. dazu Hedda Ragotzky : Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1). Tübingen 1981. 377 In der Rahmenhandlung voran geht der Novelle ein Appell des Erzählers, diese Geschichte sei an die Männer gerichtet, die von ihren Frauen hintergangen würden und an die Frauen, die bei jeder Gelegenheit vorhätten, ihre Männer zum Narren zu halten: A voi, omini sí da pogo che dalle vostre donne sete beffati, e a voi, donne che pensate ogni volta beffare i vostri mariti, Sercambi (1974), S. 190. 181 Die Rache des Ehemannes Diese ergibt sich erst aus Kaufringers Kombination des Zahnmotivs mit dem vom kastrierten Pfaffen: ‹ Kastration und Zungeabbeißen › sind die beiden Momente, die es an Unerhörtheit mit dem Zahnraub aufnehmen können. Kaufringer hat das Prinzip des swanc 378 , daß sich der betrogene Ehemann für den Ehebruch an seiner Frau und ihrem pfäffischen Liebhaber rächt, für die Organisation seiner Geschichte übernommen: Das ist der strukturelle Anschluß an das Ende des Motivs vom Zahnraub, das zwar mit der Verkehrung ehelicher Ordnung durch das Dreiecksverhältnis beginnt, aber keine Reaktion des geschädigten Ehemannes erzählt. Er verlängert zunächst die actio (Episode 1) von Frau und Pfarrer, wobei ihm die dilatatio des Motivs ‹ Zähne zu Würfeln › als Anstoß für den peripetischen «Glückswechsel des Helden» 379 dient, der die weitere Handlung auslöst. Dann konstruiert er auf der Strukturgrundlage dieser ersten Episode eine reactio (Episode 2) des Ritters 380 : Seine individuelle Komposition parallelisiert die Verarbeitung der Geschlechtsteile des Pfarrers durch den Ehemann mit der Verarbeitung der Zähne des Ehemannes durch den Pfarrer. Während sich die Ausformungen von Schumann, Montanus und Sercambi auf die Figur des Knechts konzentrieren, den auch schon Hans Sachs in seinem Titel für das Stück zum Protagonisten kürt: Der schmid knecht mits pfaffen gschleuder 381 , kennt Kaufringer eine solche zusätzliche Figur überhaupt nicht. Er funktionalisiert das Motiv vom kastrierten Pfaffen, verglichen mit den überlieferten parallelen Ausformungen, die sich alle relativ eng an die materia halten, eigenständig für die Disposition seiner Geschichte und steigert damit die Ereignisfolge unerhörter Vorfälle von den ‹ Zahnwürfeln › über die ‹ Hodenknöpfe › bis hin zu einer pervertierten Liebesszene, in der der Ehefrau die Zunge abgebissen wird. 378 Mhd. swanc von swingen bedeutet «schwingende Bewegung, Schwingen, Schwung» sowie «Schlag, Hieb, Streich», siehe Lexer Bd. 2, Sp. 1334. Zur Wortgeschichte siehe außerdem Hans-Joachim Ziegeler : Art. Schwank². In: RL² (2003), S. 407 - 410; S. 408: «Erste Belege für ‹ (komische) Erzählung › in Verbindung mit Verben des Hörens oder Sprechens begegnen ab der Mitte des 15. Jhs.» 379 Vgl. Bosse (1999), S. 309. 380 Zu den Gesetzmäßigkeiten schwankhaften Erzählens mit actio und reactio siehe Hermann Bausinger : Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967), S. 118 - 136. 381 Vgl. Bolte (1894), S. 464. 182 Modellanalysen 4.6 Disposition des verzwickten Falles: Das literarische Strukturmuster des Schwanks und das rhetorische Modell der argumentatio Veranschaulichen läßt sich diese Disposition der Geschichte anhand einer schematischen Gliederung der Rache des Ehemannes. 382 Das Schema verdeutlicht den einfachen schwanktypischen Vorgang von Provokation und Reaktion, letztere werden jedoch über einen längeren Zeitraum - sowohl was die erzählte Zeit als auch was die Erzählzeit angeht - vorbereitet und realisiert. Die beiden Episoden lassen sich dadurch voneinander trennen, daß sie jeweils die Zeitspanne kennzeichnen, in welcher die Handlung und damit das Schicksal des Gegners von einer Partei gelenkt wird, der Wechsel der Handlungsführung in die Hände des Gegners markiert den Beginn der neuen Episode. Dieses Strukturphänomen ist nun im Grunde nichts anderes als der aus dem rhetorischen Gerichtsredenschema bekannte Widerstreit der gegnerischen Parteien innerhalb der argumentatio, bezeichnet als probatio und refutatio. Für die Schwankstruktur läßt sich so gesehen eine rhetorische Vorlage im Gerichtsprozeß oder in seiner theoretischen Bearbeitung durch die Lehre der Gerichtsrede finden. Was als ernsthaftes Hin und Wider zweier Gegner den Verlauf des Prozesses vor Gericht prägt, ist im Grundprinzip des schwankhaften Erzählens meist komikträchtig als listenreicher Überbietungswettkampf inszeniert. An die Stelle mündlicher, rhetorisch konstruierter Argumente treten im literarischen Schwank listige Handlungen oder Scheinargumente. So auch im Falle der ersten beiden Episoden der Rache des Ehemannes. Die argumentatio zeigt hier kein mit jedem neuen Handlungsschritt die ausführende Partei wechselndes Hin und Wider, das die Struktur der Unschuldigen Mörderin prägt. Der Schlagabtausch beschränkt sich schwanktypisch auf eine Aktion pro Partei, also eine probatio und eine refutatio, die aber jeweils in parallelisierte kleinere Argumentationsschritte unterteilt sind. Dabei hat der Ritter auf der Ebene des aggressiven List-Handelns die nachhaltigeren ‹ Argumente › : Indem er sich mit der Kastration des Pfaffen und der Verarbeitung der entwendeten Körperteile zu Artefakten in seiner Erwiderung genau an die rhetorischen Vorgaben der probatio seines Gegners hält, dessen Argumentationsmuster aber mit der aggressiven Steigerung von Zähnen zu Hoden sozusagen übererfüllt, gelingt es ihm, die gegnerischen Argumente vollständig zu widerlegen. Nachverfolgen läßt sich dies in sämtlichen Einzelschritten, wenn etwa die Kunsthandwerksszene 2 allein proportional mit 40 zu 22 Versen den doppelten Umfang der ersten Kunsthandwerksszene hat und auf der Handlungsebene betont wird, der Ritter was wol ain monat aus,/ bis er sein 382 Das Schema findet sich im Anhang. 183 Die Rache des Ehemannes sach pracht ze end (256 f). Schließlich braucht er im Vergleich zum Pfaffen auch mehr Handwerker: einen Weißgerber, eine Kramersfrau, die sich als Näherin betätigt, und einen Goldschmied, der die zwen knöpfe vein/ und darzuo das peutelein/ mit gold und silber zierte schon (281 - 283). In der Erkennungsszene 2 reaktualisiert der Ritter dann sogar sprachlich die probatio des Pfaffen, indem er die gleiche Formulierung benutzt, mit der dieser ihm das Geheimnis des Innenlebens seiner Würfel entdeckt hatte. 383 Gleichzeitig überbietet er dessen Angriff mit dem direkten Anschluß einer Drohung 384 : Sie markiert den Übertritt in die zweite Phase der ritterlichen Revanchehandlung, die Rache an der Frau. Diesem seinem letzten Gegenschlag (refutatio) verleiht der Ritter besondere Härte, indem er ihm mit der Inszenierung der Liebesszene das Aussehen einer geglückten Aktion seiner Gegner (probatio) gibt. Der zweiphasige Schwank endet mit der Liebesszene 2, die als Pervertierung die konfliktauslösende Liebesszene 1 zwischen Pfaffe und Frau aufhebt, strukturanalytisch damit als Inversion bezeichnet werden kann. Als grausamer Regisseur dieser Szene läßt der Ritter ausdrücklich die Ehebruchssituation nachstellen, er droht, er werde den Pfarrer töten, es sei dann, das ir ietz herein mein weib besenden wölt zuo ew; die ist ew ie gewesen trew, die hat ew gehalsen vil, küßt und züngelt oun endes zil. das haist ewch ietzo mer tuon, oder ir habt von mir nicht suon. und wenn si ew dann in den mund ir zungen reckt, sa zestund sült ir die zungen beissen auß behendiclich aun allen grauß. (340 - 350) 383 Vgl. V. 174 - 184 die probatio des Pfaffen mit der Pointe: wann des gepain der würfel guot ainem ritter hochgemuot, edel und küen in kurzer frist in seinem hals gestanden ist. (181 - 184) . . . und V. 325 - 333 die refutatio des Ritters mit der Pointe: wann die knöpf, die daran sein, und darzuo das pütelein, daran gros zier ietzo leit, sind gehangen in kurzer zeit ainem pfaffen vor dem ars. (329 - 333) 384 Kiening (2008), S. 333. 184 Modellanalysen Die einleitende Liebesszene 1 zwischen Pfarrer und Frau stand - schwanktechnisch gelesen - für die Verkehrung des ordo: Der Ehemann war abwesend und der Pfaffe als Liebhaber hatte seinen Platz eingenommen. Indem der Pfarrer zum Instrument der Rache gemacht wird, zerstört der Ritter nun die Liebesbeziehung zwischen Frau und Pfarrer nachhaltig, sorgt also für die Rekonstitution des gesellschaftlich anerkannten ordo, der Rahmen der Schwankhandlung schließt sich, die Welt ist wieder im Lot. Werfen wir an dieser Stelle zur Verdeutlichung einen kurzen Seitenblick auf das Strickersche Märe Das heiße Eisen. 385 Durch dessen typisch minimalistische Darstellung wird das Schwankschema in seiner Grundform deutlich: Es stehen sich ein Ehemann und seine Frau gegenüber, sie verlangt, er solle sich der Probe mit dem heißen Eisen unterziehen. Wenn er es unversehrt in der Hand tragen könne, habe er seine Treue bewiesen. Der Mann benutzt einen Holzspan, besteht auf diese Weise die Gottesprobe ohne Verbrennungen und dreht nun den Spieß um: Die Frau solle die Probe ebenfalls ablegen. Dies ist das klassische Schwankmoment, auf die Provokation folgt die Reaktion des Provozierten, die Handlung schwingt um, noch ist jedoch alles offen. Die Frau nun erweist sich als dem Mann an List unterlegen, sie beichtet aus Furcht vor dem glühenden Eisen zunächst zahlreiche Liebschaften und verbrennt sich schlußendlich beim Tragen des Eisens naturgemäß die Hand trotzdem. Der Mann geht so als intellektuell Überlegener aus dem List-Wettstreit hervor, die Sache ist eindeutig entschieden, und die Erzählung endet mit einer aus der Perspektive des Ehemannes formulierten Moral: hie ist dîn triuwe worden schîn. nu solt du des vil gewis sîn, daz mir hiute dehein wîp unmaerer ist denne dîn lîp; und allez, daz dir leit ist, daz will ich tuon nâch dirre vrist. [. . .] rehte als du dîner êren unz her hâst geschônet, alsô wirt dir von mir gelônet. (187 - 198) Eine solche Eindeutigkeit fehlt im Falle der Rache des Ehemannes, obwohl die Schwankhandlung der Geschichte mit dem Gegenschlag des Ritters als provozierter Partei beendet ist. Die Rückkehr der lallenden Frau nach Hause zu ihrem Mann würde sich - analog zum Heißen Eisen - vorzüglich eignen, um den Ritter ein ebensolches moralisches Fazit formulieren zu lassen und damit dem Fall eine eindeutige Lösung zu geben. Man könnte ihm dann - ähnlich den eingangs vorgestellten Paralleltexten der Gruppe A - Sinn zusprechen in Form 385 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe Grubmüller (1996), S. 44 - 55. 185 Die Rache des Ehemannes einer affirmativen Referenz auf soziale Ordnungsvorstellungen, einer Warnung vor dem übelen wîp. Doch wir erfahren lediglich, daß der Ritter so tut, als wisse er von nichts und die Frau in Zukunft meidet: doch die frawen er nun mait und het fürbas nimer me mit ir kain geschäft als ee. (410 - 412). 386 Das hört sich nach Ende an, ist aber keines. Die Erzählung geht weiter. Deutlich wird, daß die Sachlage hier eine kompliziertere, die Erzählintention eine andere ist als die des Heißen Eisens. Kaufringer läßt den Schwank enden, ohne damit eine endgültige Lösung des Falles zu markieren, weil es ihm auf den unlösbaren, den aufsehenerregenden Charakter der Geschichte gerade ankommt. Die Erzählform des Schwanks ist ein Durchgangsstadium, das nicht den gesamten Text beherrscht: Mit dem Stillstand der Schwankbewegung ist lediglich das Ende einer argumentatio zweier gegnerischer Parteien mittels gewaltsamer Handlungen markiert. Es folgt eine Szene, die den bis hierhin kunstvoll konstruierten Fall neu beleuchtet: Was die Erzählung nun über den bloßen Schwank hinaushebt, ist eine strukturelle Variation auf erzähltechnischer Ebene und eine Neuerung in Hinsicht auf das inhaltliche Geschehen, indem Kaufringer genau an dieser Stelle eine dritte Episode anhängt. 4.7 Sonderstellung der Schlußepisode Die dritte Episode ist als Ende der Erzählung in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Sie paßt nicht mehr in das durch die Prinzipien der Spiegelung und Steigerung bestimmte Schwankschema. 387 Sie ist durch die temporale 386 Laut Friedrich (1996), S. 14, Anm. 40, ist hier die Trennung von Tisch und Bett angedeutet, die der Scheidung vorausgeht, welche der Ritter in der Schlußepisode beschließt. 387 Tanner (2005), S. 376, weist für die Schlußszene auf das in drei Fassungen überlieferte Märe Der Pfaffe mit der Schnur hin, das ebenfalls in einem Familiengericht endet - die Fassungen B und C bei Thomas Cramer : Maeren-Dichtung. 2 Bde. München 1979, Bd. 2, S. 144 - 152. Es besteht m. E. jedoch ein grundlegender Unterschied, nämlich eben der, daß dort die Schwankhandlung fortgesetzt wird: Ein weiteres Mal übertrumpft die Frau als Überlegene die Gegenaktion ihres Mannes und benutzt das von ihm einberufene Familiengericht zu seiner Verurteilung durch die Verwandten: Sie dreht es so, daß er von den anderen als verrückt erklärt wird und sich einer Teufelsaustreibung unterziehen muß. Die Szene dient also nicht wie in der Rache des Ehemannes zur Rethematisierung des Falles. Das wird auch daran kenntlich, daß sie nicht durch die Figuren direkt gestaltet ist: In der Fassung B erzählt der Ehemann lediglich, wie er an sein Beweismittel für die Schuld 186 Modellanalysen Zäsur Darnach über ain halbes jar (413) deutlich vom vorhergehenden Geschehen gesondert - eine Zeitangabe, deren handlungsretardierende Wirkung bewußt gesetzt ist. Die formale und strukturelle Sonderstellung 388 korrespondiert mit einer geringen Aussagekraft auf der Handlungsebene: In dieser Schlußszene passiert nichts mehr, was von entscheidender Bedeutung für den Fall wäre. Sie erzählt keine neue Handlung im eigentlichen Sinne von Aktion und Ereignis. Vielmehr wechselt der Text mit Beginn dieser letzten Episode seinen Charakter von der Ereigniszur Situationsgeschichte. 389 Das Geschehen spielt sich nun ausschließlich innerhalb einer Kommunikationssituation, dem Familiengericht im Hause des Ritters ab. Die Gerichtssituation bringt es mit sich, daß nichts Neues besprochen wird, Gegenstand des genus iudiciale kann nur Vergangenes sein, ein Vorfall, der sich bereits ereignet hat und in der Gegenwart beurteilt wird. 390 Außerhalb der erzählten Welt, also auf Rezipientenebene heißt das für die Rache des Ehemannes, daß die von jetzt an erzählten Sprechhandlungen auf bereits Bekanntes, nämlich auf die Ereignisse des kurz zuvor erzählten Falles rekurrieren - textstrukturell eine Wiederholung mit retardierender Wirkung, die Zeit zur Reflexion gibt. Was vorher ausagiert wurde, wird jetzt besprochen: Der Schwank wird zum Kasus. der Frau gekommen ist, in der Fassung C wird die Klage des Ehemannes vor den Verwandten nurmehr vom Erzähler berichtet, auch hier geht es in erster Linie um das Vorzeigen der Beweismittel, deren Funktion von der listigen Ehefrau gegen den Ehemann verkêrt wurde. 388 Bedenkt man, daß die zweite Episode (Revanchehandlung des Ritters) in zwei Teile zerfällt, wo der Handlungsablauf nach bekanntem Schema jedesmal neu einsetzt, ist die Schlußepisode mit 102 Versen Länge rein proportional der größte Teil des Textes. Doch auch wenn man diese Einteilung nicht gelten lassen möchte, fällt auf, daß die dritte Episode im Vergleich zu den vorhergehenden aus nur einer einzigen Szene besteht, sie wahrt eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Dramentechnisch gesprochen könnte man den Schlußteil deshalb auch als eine Art Nachspiel bezeichnen, eine als autonomes Stück gestaltete nachgereichte ‹ Katastrophe › . 389 In der modernen Literatur ist für Novelle und Kurzgeschichte die Unterscheidung von Ereignis- und Situationsgeschichte eingeführt worden, vgl. Bosse (1999), S. 307: «In Situationsgeschichten ist das Geschehen vorwiegend auf Sprechhandlungen konzentriert, die keine Auseinandersetzungen oder Krisen mehr hervorbringen, allenfalls Dissonanzen.» Es ist nicht meine Absicht, durch die Verwendung dieser Begrifflichkeiten die Rache des Ehemannes modernen Novellen oder Kurzgeschichten gleichzusetzen, ich betone deshalb, daß ich für meine Zwecke lediglich die Basisdefinition der Ereignisgeschichte als von Ereignissen und der Situationsgeschichte als von Sprechhandlungen gesteuert übernehmen möchte. 390 Lausberg § 144, S. 88. 187 Die Rache des Ehemannes Der Ritter hat, nachdem ein halbes Jahr seit dem Vorfall vergangen ist, sein frainde gar (414) und seins weibes fraind all gemain (416) zuo wirtschaft geladen hain (415): das det der ritter auf den sin, das er den frainden kund tät, wie die frau gefaren het, damit er ir wurd entladen, wann er hett des weibs nur schaden, schand und laster und gar kain er; das betruobt den ritter ser. wie doch die sach nit offenbar wär, dannocht laid er darumb swär. (418 - 426) Die umständlich vorgreifende Erzählerkommentierung macht deutlich, daß auf der Handlungsebene kein unmittelbarer Anlaß für eine Fortführung der Erzählung besteht. Schließlich ist der Erzähler gezwungen, nach Gründen zu suchen: Die bestrafte Frau macht dem Ritter keine Ehre mehr. Die Beeinträchtigung der öffentlichen Ehre wäre eine hinreichende Begründung für die Fortsetzung der Handlung auch nach dem Schwankfinale, doch ist die sach nit offenbar (425), wie der Erzähler selbst konstatiert. 391 Individuell ‹ psychische › Gründe des Ehemannes sind es schließlich, auf die der Erzähler zurückgreift, indem er uns eine zwar kurze, aber deutlich als Handlungsmotivation markierte Innensicht der Figur liefert. Der Ritter leide unter der Situation, obwohl sie nicht öffentlich bekannt sei; er will sich der Frau entladen (421), sich von der Belastung befreien, zu der sie geworden ist. Damit gibt sich die Thematisierung der Scheidung als Konsequenz aus dem vorherigen Geschehen als nicht unmittelbar einleuchtend, sondern als konstruierte Motivation für das Weitererzählen zu erkennen. 392 Was sich bereits im strukturellen Vergleich mit den Paralleltexten gezeigt hat, wird hier bestätigt: Kaufringers Erzählerkommentierung steht nicht im Dienste einer didaktisch-moralischen Bewertung 391 Anders Friedrich (1996), S. 14: «Das Problem der öffentlichen Reputation, der Ehre, setzt die Handlung erneut in Gang. Die Bestrafung erfolgt hier nicht gewaltsam oder metaphorisch, sondern als Rechtsakt.» Für eine Motivation des Handlungsfortgangs auf metaphorischer Ebene, indem die Frau nach Gen 1, 2 den in Kaufringers Suche nach dem glücklichen Ehepaar thematisierten ‹ Leib der Ehe › verletzt habe, die Ehe deshalb aufgelöst werden müßte (vgl. ebenfalls S. 14), sehe ich im Text der Rache des Ehemannes keinen Anhaltspunkt. 392 Auch Klaus Grubmüller : Schein und Sein. Über Geschichten in Mären. In: Harald Haferland und Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. München 1996, S. 243 - 257; S. 255, weist auf einen Bruch in der Handlungslogik hin, allein aufgrund der Tatsache, daß der Ritter seine Frau auch einfacher hätte loswerden können. 188 Modellanalysen des Geschehens, sondern sorgt in erster Linie für die Motivierung des Handlungsfortgangs, ist Legitimationsmittel für die Disposition des Textes. Dafür spricht auch, daß sich der Erzähler in der Folge, und das betrifft den gesamten restlichen Text, auf seine rein berichtende Funktion zurückzieht, aus der er mit einer erkennbaren Meinung nicht mehr auftaucht, nicht einmal für ein finales Epimythion, der traditionellen Stelle ausführlicher Kommentierung. 393 Warum also eine dritte Episode? Die Funktion dieses ‹ realistischen › , aus dem schwankhaften Rachetableau scheinbar ins Lebensweltliche zurückkehrenden Annexes, in dem jetzt ausführlich die Formalia der bereits beendeten Beziehung geregelt werden, liegt offensichtlich auf einer anderen Ebene. Auch für die in der ersten und zweiten Episode entwickelte Spielmetaphorik hat die dritte Episode jedoch keine Relevanz mehr. Der bildsprachliche Überschuß fällt weg, auf die vorher arrangierte Verbindung von Minne- und Würfelspiel, mithin die dafür nötigen Utensilien wird nicht mehr rekurriert: Sie dienten dazu, den außergewöhnlichen Fall als erzähltes Ereignis zu gestalten, interessieren aber offenbar nicht mehr bei seiner Rethematisierung im Modus der gerichtlichen Verhandlung. In der Selbstreferentialität liegt gleichwohl ein Schlüssel zur poetologischen Dimension der Szene: Die Inszenierung des Falles als Rechtskasus wird hier kontrastiert mit der literarisch signierten Fiktion, um so mehr, als auch die dritte Episode selbst doppelbödig inszeniert ist als Veranstaltung zwischen Fest und Strafgericht. Kaufringer markiert mit der doppelten Gegenüberstellung von Unterhaltungsspiel und Rechtskasus (innerhalb der Binnenerzählung und im Verhältnis Binnenerzählung - Rahmenerzählung) die Differenz von unterschiedlichen Erzählformen: hier das Exempel, der Rechtskasus, dort die freiere, metaphorisch ausgedehnte Fiktion. 394 Die Rache des Ehemannes wird damit in erster Linie zu einer «Geschichte über das Geschichtenerzählen». 395 Ein poetologischer Metatext der erzählerischen Kleinformen. Doch es geht diesem Text nicht nur poetologisch um die verschiedenen Modi von Geschichtenerzählen, es geht auch darum, daß jeder Modus auf der semantischen Ebene eine andere Lösung des Falles mit sich bringt. Diese Lösungen werden in der Schlußepisode zueinander in Kontrast gesetzt. Man kann die letzte Episode als handlungslogischen Anschluß lesen, der eine Legitimation der Strafen bringe, die der Ritter zuvor bereits verabreicht 393 Daß die beiden Schlußverse ebenfalls nurmehr im Berichtstil abgefaßt sind und keine positionierte Erzählerkommentierung erkennen lassen, wurde bereits betont. 394 Friedrich (1996), S. 15 f. 395 Ebd., S. 16. 189 Die Rache des Ehemannes hat 396 , oder als eine nachträgliche Herstellung von Rechtsförmigkeit, die poetologisch «das Wuchern der Grausamkeiten der (Binnen-)Geschichte» rahmend begrenzt und damit das Experimentieren des Textes mit «Kippfiguren zwischen Setzung und Aufhebung von Referenz» vorführt.» 397 Wie aber sieht die narrative Inszenierung einer ‹ öffentlichen › Rechtsfindung im Rahmen des Familiengerichts genau aus? Faktisch ist keinerlei Bestätigung erzählt, weder die Verwandten noch der Erzähler kommentieren die Handlungen und das abschließende Urteil des Ritters. Der Bruch, der durch die formale Sonderstellung der Schlußepisode erzeugt wird, wäre somit auch als Markierung eines funktionalen Kontrastes denkbar: Die Handlungen des Ritters werden nicht legitimiert, sondern in Frage gestellt. So erklärte sich denn auch der «Mangel an axiologischer Eindeutigkeit», den Kiening für die Rache des Ehemannes konstatiert, als absichtlich erzeugt, und daß dieser «durch die Inszenierung der Urteilsfindung nicht aufgehoben» wird, wäre ebenfalls intendiert. 4.7.1 peroratio - Die Rekapitulation des Falles als ‹ Erzählung in der Erzählung › Blicken wir wieder auf das Dispositionsprinzip der Gerichtsrede, so entspräche die dritte Episode der peroratio oder conclusio, die auf die abgeschlossene argumentatio, die in unserem Fall die beendete Schwankhandlung 396 So Grubmüller (1993), S. 37 - 54, der vor dem Hintergrund des frainde-Urteils das Handeln des Ritters positiv hervorgehoben sieht, womit der Text letztendlich eine groteske, von der Realität deutlich gelöste Erzählwelt präsentiere: «Angezeigt ist dies zuletzt in der Selbstherrlichkeit, mit der das Urteil der ‹ Gesellschaft › aufgerufen und dann doch nur als Folie für das so sehr viel klügere und - auch dies ist grotesk - menschlichere Handeln des Ritters mißbraucht wird. Ordnung der Welt stellt sich so als intelligente Inszenierung eines souveränen Einzelnen her.» (S. 49) Auch im Rahmen seiner Deutung der Funktion von Binnenerzählungen in Mären als erkenntnisstiftend hebt Grubmüller (1996 a), S. 255, die Bedeutung der Szene als Verständigung des Ritters mit den Verwandten über einen gemeinsamen Wertehorizont hervor. Seine Deutung läuft damit auch hier auf eine legitimierende Funktion der Schlußepisode für das Handeln des Protagonisten hinaus. - Zuletzt hat Jens Haustein : Zum Verhältnis von exemplarischer Erzählung und Exempel an drei Beispielen aus der deutschen Literatur des Mittelalters (= Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 139,6). Stuttgart/ Leipzig 2006, die These vertreten, die Kontrastierung der Urteile von Ritter und frainden verweise auf den rechtshistorischen Prozeß einer Ablösung der Blutrache durch die Talion, letzterer sei die vom Ritter gewählte Strafe verpflichtet und könne deshalb der von den Verwandten geforderten Todesstrafe gegenüber als die ‹ fortschrittlichere › Bestrafung gelten. 397 Kiening (2008), S. 334. 190 Modellanalysen markiert, folgt. 398 Ihre Funktion ist die Zusammenfassung der Hauptpunkte der Rede (recapitulatio) sowie die Erregung von Mitleid mit der eigenen Partei (conquestio) und andererseits die Erregung von Abscheu vor der Partei des Gegners (indignatio), wobei sich die Verbindung der drei Funktionen anbietet. 399 Der Redner versucht also, durch die meinungsgefärbte recapitulatio die Urteilenden in seiner Richtung zu beeinflussen: In diesem Sinne ist das Epimythion in der Unschuldigen Mörderin gestaltet, der anwaltliche Erzähler wiederholt alle vier Morde und verstärkt mittels conquestio und indignatio sein Plädoyer für die Unschuld der Protagonistin. Die peroratio ist damit in der Rede der bevorzugte Ort für starke Perspektivierung, die in der Unschuldigen Mörderin den Standpunkt des Erzählers als Anwalt der unschuldigen Mörderin deutlich macht. Auch die Abschlußszene der Rache des Ehemannes weist die für die peroratio typischen Funktionen auf, allerdings mit zwei wesentlichen Abweichungen: Der Fall wird noch einmal rekapituliert, indem der Ritter ihn den eingeladenen Freunden und Verwandten vorträgt. Dies geschieht in direkter Rede, die rhetorische Gestaltung der recapitulatio obliegt also einer neuen Instanz. Der eigentliche Rhetor, der Erzähler, verzichtet auf eine eigene Meinung, er beschränkt sich auf seine rein berichtende Funktion und überläßt die Darstellung des Falles einer Figur. Dazu kommt, daß nach der recapitulatio eine Beurteilung des Kasus durch die anwesenden frainde (414) stattfindet, es wird also der im juristischen Prozeß nächste Schritt - das Urteil der Schöffen, das sich an die Anhörung der Parteien anschließt 400 - im Text erzählstrukturell umgesetzt. Die von den Freunden und Verwandten vertretene Entscheidung wird dann wiederum vom Ritter kommentiert und seiner bereits vollzogenen Lösung kontrastiert. Die rhetorische Funktion des Schlußteils der Gerichtsrede, eine perspektivierte Rekapitulation der Hauptpunkte des Falles, finden wir also in der letzten Episode der Rache des Ehemannes umgesetzt, sie wird jedoch narrativ erweitert. Weil intradiegetisch mit den frainden neue Figuren eingeführt werden, die nicht in den Fall verwickelt, die objektiv sind, insofern 398 Vgl. das Schema im Anhang. 399 Vgl. Rhet. Her . II.47 und Ciceros De inventione ( De Inv .) I.98; die Werke werden zitiert nach den Ausgaben Nüßlein (²1998) und Theodor Nüßlein : Marcus Tullius Cicero: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern. Lat.-dt. Düsseldorf/ Zürich 1998. Hier begegnet der Terminus der amplificatio in seiner klassischen Bedeutung, über das Mittel der amplificatio wird die indignatio an Punkte der recapitulatio angeschlossen bzw. aus ihnen heraus entwickelt, diese Verbindung betont v. a. De Inv . I.100; vgl. dazu auch Gallo (1971), S. 152. 400 Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand und Ulrike Schowe : Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Ein Lexikon. München 1996, S. 129; s. v. Gericht. 191 Die Rache des Ehemannes sie noch nicht einmal von ihm wissen, nimmt, was für den Rezipienten eine recapitulatio ist, innerhalb der erzählten Welt gleichzeitig den Charakter der Falldarstellung, der narratio an. Auf diese Weise wird am Ende der Rache des Ehemannes die ganze Angelegenheit noch einmal aufgerollt: Eine eigene Prozeßszene zur Urteilsfindung für den zuvor erzählten Fall wird im Text als ‹ Erzählung in der Erzählung › 401 inszeniert, mit Ritter und Ehefrau sind die gegnerischen Parteien vertreten und die Verwandten stellen die richtende Instanz dar. Erzählstrategisch dient damit die Gestaltung der Szene als Gerichtsprozeß der Möglichkeit perspektivierten Erzählens. Wiederholtes Erzählen ein und derselben Geschichte, nämlich des Falles, ist eine Handlung, die den juristischen Prozeß wesentlich konstituiert 402 : Karin Becker macht diese Erzählweise als juristisch beeinflußte deutlich anhand ihrer Untersuchung der französischen Arrêts d ’ Amour, einer Sammlung minnekasuistischer Texte, die als Gerichtsfälle vor einem allegorischen Liebesgerichtshof verhandelt werden. 403 Lange Zeit sprach man den Texten narrative Kompetenz ab, weil das Erzählen desselben Ereignisses aus verschiedenen Figurenperspektiven als redundant gewertet wurde. Erst vor dem juristischen Hintergrund wird deutlich, daß es sich dabei wie im Gerichtsprozeß um das Auffächern der verschiedenen Perspektiven auf den Tathergang durch die beteiligten Personen handelt. Dem Erzähler ist laut Becker nicht erzählerisches Unvermögen zu unterstellen, sondern im Gegenteil ein sehr modernes Erzählverhalten, das sich einer eindeutigen Wertung und moralischen Kommentierung enthält und die verschiedenen Sichten auf eine Wirklichkeit gleichberechtigt nebeneinanderstellt. 404 401 Mit dieser Technik, die sich als wesentlich für Kaufringers Erzählpoetik erweist, beschäftige ich mich ausführlich in Abschnitt III.1 dieser Arbeit. 402 Im Verklagten Bauern gliedert dieses Prinzip ebenfalls deutlich die Erzählung: Die verschiedenen Perspektiven der Figuren, in welchen den strittigen Aussagen jeweils eine andere Bedeutung beigemessen wird, diese jeweils anders ausgelegt werden, bilden sozusagen das Fundament der Erzählung. Ihre Auflösung findet diese als Streitfall inszenierte Geschichte demgemäß in einem offiziellen Gerichtsprozeß, in dem die Parteien ihre unterschiedlichen Perspektiven darlegen und diese dann vom Bischof als richtender Instanz beurteilt werden. 403 Karin Becker : Amors Urteilssprüche. Recht und Liebe in der französischen Literatur des Spätmittelalters (= Abhandlungen zur Sprache und Literatur 42). Bonn 1991. 404 Vgl. Becker (1991), S. 374 - 376. Die moderne Erzähltheorie faßt eine Erzähltechnik, welche die Betrachtung eines Ereignisses aus verschiedenen Perspektiven ermöglicht, nach Gérard Genette : Die Erzählung. München 1994, S. 135, als «multiple interne Fokalisierung», mit Franz K. Stanzel : Typische Formen des Romans. 10., durchges. Aufl. mit einem Nachwort. Göttingen 1981, S. 38, als 192 Modellanalysen 4.7.2 Kasuistische Erzählstrategien: Relativierung durch Perspektivierung Auch in der Schlußepisode der Rache des Ehemannes gibt es nicht mehr nur eine gültige Sicht des Falles, die durch den kommentierenden Erzähler vermittelt würde, die Perspektiven auf den Fall vervielfältigen sich und stehen nebeneinander. Es entsteht ein ähnliches Szenario wie im dramatischen Text: Durch das Zurücktreten der Erzählersteuerung rückt die Figurenperspektive in den Vordergrund und die Beeinflussung des Rezipienten funktioniert nicht mehr explizit durch die vermittelnde Instanz des Erzählers, sondern implizit durch das Zusammenspiel der Perspektiven, das von Stellung, Zuverlässigkeit und Informiertheit der einzelnen Figuren geprägt ist. 405 Das Spiel mit der Vorführung der verschiedenen Figurenperspektiven beginnt bereits mit dem Trick des Ritters, seine parteiisch gefärbte recapitulatio - die nur für den Rezipienten als solche erkennbar ist - dem intradiegetischen Publikum gegenüber als anonymisierte, damit scheinbar objektive narratio zu tarnen. Die Schlußepisode beginnt mit einem Fest, das der Ritter ausrichtet. Und was gehört zu einem richtigen Fest? Essen, trinken und Unterhaltung, also Geschichten erzählen: Man denke etwa nur an Hartmanns Iwein 406 , wo die topische Pfingstfestsituation am Artushof durch Kalogreants Erzählung von der Brunnenaventiure erst in die vorliegende Aventiure Iweins hineinführt, sie erst ermöglicht: Der ganze Roman entsteht aus der Aktualisierung einer bereits erzählten Geschichte 407 , die nun wiederholt wird mit einem neuen Helden und deshalb einen anderen Verlauf nimmt: Ein Wiedererzählen auf histoire-Ebene sozusagen. Die Verschachtelungstechnik führt den Rezipienten durch eine «multiperspektivisch», siehe Martinez / Scheffel (1999), S. 66. Sie zieht für diese Technik keine Verbindung zur Praxis juristischer Sprechakte, als Musterbeispiele gelten der Briefroman, wo ein Ereignis von verschiedenen Briefschreibern mit je eigenem point of view geschildert werden kann, außerdem die Kriminalerzählung - und hier klingt nun doch die Verbindung zum juristischen Bereich an - , in der der Kriminalfall nacheinander aus den Blickwinkeln des Täters, des Opfers, der Verteidigung etc. erzählt wird, vgl. Genette (1994), S. 135. 405 Für die Perspektivenstruktur dramatischer Texte spricht Pfister (2001), S. 90 - 92, hier von «auktorial intendierte[r] Rezeptionsperspektive». 406 Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hrsg. und übers. von Volker Mertens (= Bibliothek des Mittelalters 6). Frankfurt am Main 2004. 407 Zur grundlegenden Doppelsemantik des Begriffs âventiure als ‹ Ereignis › und ‹ Erzählung/ Quelle › sowie dem Umschlagen des Einen ins Andere siehe Peter Strohschneider : âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze. In: Gerd Dicke , Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink (Hg.): Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Berlin/ New York 2006, S. 377 - 383. 193 Die Rache des Ehemannes Vorabprojektion der Geschichte in die Geschichte. Ähnlich funktioniert die Erzählstrategie auch hier, der Vorgang ist jedoch umgekehrt: Mittels narrativer Intarsienbildung wird der Rezipient durch eine nachträgliche Projektion der Geschichte aus der Geschichte herausgeführt, der Schwerpunkt liegt auf der Reflexion der eigentlichen Fallerzählung, die nicht für sich stehenbleibt. Folgendermaßen wird also das Fest in der Rache des Ehemannes erzählt: da si nun ze tisch gesassen, all getrunken und auch gassen, da wurden si all wolgemuot, als man ze wirtscheften tuot. da hat man oft kürzweil vil mit mangerlai fraudenspil. also ward da vil gesait von manger frawen gemait und von mangem manne cluog hüpsch tagalt mit guotem fuog. (427 - 436) Der Begriff tagalt (Spiel, Zeitvertreib, Scherz) 408 beschreibt den Charakter der erzählten Geschichten als in erster Linie unterhaltend, sie werden als Beispiel freudebringender Beschäftigung kategorisiert (fraudenspil), welche die Zeit kurzweilig macht. Der Gastgeber trägt nun, explizit im Modus der gerade beschriebenen Kommunikationssituation, seine ebenfalls als unterhaltsam qualifizierte Geschichte vor: Der haußwirt zelest began auch in schimpf weis vahen an, in ze sagen ain tagalt. (437 - 439, Hervorhebungen C. R.) Sie erstreckt sich über 42 Verse und beginnt folgendermaßen: er sprach: «merkent, jung und alt, was ich ietzo haun erfaren; das ist geschehen in kurzen jaren. es was ain ritter wolgeborn; der hett ain weib auserkorn; die was im lieber dann sein leib. nun het das selbig vaig weib ainen pfaffen lieber vil mit der cluogen minne spil dann den werden ritter vest, wann frawen selten tuond das pest, als die alten haund gesait. (440 - 451) 408 Vgl. Lexer Bd. 2, Sp. 1386, s. v. tagalt. 194 Modellanalysen Der Ritter tarnt seine Erzählung des Falles als Fiktion. Im Rahmen festlicher Unterhaltung stellt er ihn vor als eine Geschichte, die er gehört haben will 409 und deren aktuelle Relevanz er durch die Betonung einer zeitlichen Zäsur (das ist geschehen in kurzen jaren, 442) zusätzlich kaschiert. Dies gibt ihm die Möglichkeit, seine Strategien insinuierender Rhetorik hinter traditionellen Erzählformen zu verstecken. Das Tempus der Vergangenheit deckt sowohl den Gegenstand des Erzählens wie den des Verhandelns im genus iudiciale: Die Unverbindlichkeit einer Kommunikationssituation ‹ Fest › überlagert die Verbindlichkeit der Kommunikationssituation ‹ Prozeß › . Vordergründig suggerieren die Merkmale eindeutige Kommentierung 410 , misogyne Erzählhaltung und Einsatz der Sentenz zur Legitimation der Misogynität, der Ritter erzähle ein Exempel: Im geselligen Kreis der vriunde entsteht offenbar eine konventionelle Situation exemplarischen Erzählens. [. . .] Im Sinne klassischer Exemplarik scheinen die Protagonisten des Exempels anonym und das Geschehen ohne besondere Referenz zu sein. 411 In Wirklichkeit aber handelt es sich hier um eine Anklagerede. Der Ritter inszeniert sich als neutraler Geschichtenerzähler, wir haben es jedoch mit einem Rhetor zu tun, dessen Rede nicht unterhalten will, sondern auf die Beeinflussung des urteilenden Publikums zielt: Das Geschehene wird aus der Figurenperspektive des Anklage Erhebenden kommentiert. Von hier aus ist auch die undifferenzierte Charakterisierung der Frau als vaig weib (446) als indignatio zu erkennen, die mit der Autoritätshaltigkeit einer tradierten misogynen sententia argumentiert 412 : wann frawen selten tuond das pest,/ als die alten haund gesait. (450 f) 413 Im Gegenzug dient die überbetonte Bonität des werden ritter lobesan (462) der conquestio, wobei eine Idealisierung der 409 Die Fingierung einer mündlichen Quelle seiner Geschichte wiederholt er in Vers 454: als ich das nun haun vernomen. 410 Eine deutliche Schwarz-Weiß-Malerei fällt schon zu Beginn der Erzählung ins Auge, die den Ehemann als ritter wolgeborn einem vaig weib kontrastiert und sich zur misogyn verallgemeinernden Sentenz steigert (450 f). 411 Friedrich (1996), S. 15. 412 Vgl. Lausberg § 872, S. 431. 413 Mit den alten wird Bezug genommen auf die seit der Antike existierende misogyne Erzähltradition, siehe Claudia Brinker-von der Heyde : Weiber-Herrschaft oder: Wer reitet wen? Zur Konstruktion und Symbolik der Geschlechterbeziehung. In: Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren (Hg.): Manlîchiu wîp, wîplich man. Zur Konstruktion der Kategorien ‹ Körper › und ‹ Geschlecht › in der deutschen Literatur des Mittelalters (= Beihefte zur ZfdPh 9). Berlin 1996, S. 47 - 66. 195 Die Rache des Ehemannes Liebe des Ehemannes zu seiner Frau zusätzlich Mitleid mit dem Betrogenen erzeugt: es was ain ritter wolgeborn; der hett ain weib auserkorn; die was im lieber dann sein leib. (443 - 445) Der Ritter reichert seine anonymisierte Falldarstellung also in einem Grade mit beeinflussenden Maßnahmen an, wie es die antiken Rhetoriker bevorzugt für die recapitulatio am Schluß der Rede empfehlen, wenn das Publikum den Fall bereits kennt. 414 Dieser Umstand gilt für den Rezipienten, für die frainde ist es jedoch die erste Begegnung mit dem Fall, was der Rezipient wiederum weiß. Er kann die insinuierende Rhetorik des Ritters also vor diesem Hintergrund kritisch beurteilen - es ist deshalb wichtig, sich das narrative Vexierspiel mit der intra- und extradiegetischen Ebene während dieser Szene präsent zu halten und zu hinterfragen, wer hier letztlich rhetorisch beeinflußt wird: die frainde durch den Ritter, der Rezipient durch den Ritter, oder zielt etwa der Text auf eine ‹ Aktivierung › des Rezipienten durch die Erzählstrategie vorgeführter Figurenperspektiven? Weiterhin ist zu beobachten, daß der Ritter in seiner Darstellung Erweiterungen (amplificationes) des Falles vornimmt, die dazu dienen, indignatio für die gegnerische Partei zu erzeugen und die Urteilenden dadurch zu beeinflussen. Hier trifft die originäre Bedeutung des Terminus amplificatio im genus iudiciale zu. Die amplificatio hat ihren Sitz vor allem am Schluß der Rede, in der peroratio, wo neben der recapitulatio als Wiederholung und Bekräftigung der Hauptpunkte der Rede, oder verbunden mit dieser 415 , durch indignatio und conquestio im Sinne gedanklicher Ausweitung oder Steigerung das Urteil gelenkt werden soll. 416 Das heißt, daß der Fall abschließend so dargestellt wird, 414 Vgl. Rhet. Her . II.47 und De Inv . I.98. 415 Die Verbindung betont v. a. De Inv . I.100. 416 «Amplification, therefore, is most appropriate to the Conclusion of a speech, for after we have proven our point, we must use Amplification to stir the audience emotionally so that its members will act as we wish.» (Rhetores Latini Minores. Hrsg. von Karl Felix von Halm. Leipzig 1863, 1419 b. 10 - 14, zit. nach Gallo (1971), S. 152.) - Zum Problem des Verhältnisses von antiker und mittelalterlicher amplificatio siehe Gallo (1971), S. 154 - 166, der eine Herleitung der einen Technik aus der anderen untersucht und zu einem positiven Ergebnis kommt. Dagegen Worstbrock (1985), S. 27 - 30, der die in erster Linie qualitative Technik der Steigerung antiker Rhetorik gegen das quantitativ verstandene Erweitern mittelalterlichen Erzählens streng abgrenzt, indem er - historisch korrekt - für letzteres nach Maßgabe mittellateinischer Poetiken den Begriff dilatatio verwendet. Daß die formale Quantität des mittelalterlichen Erweiterns inhaltlich wirksam wird und eine aufmerksamkeitssteuernde Qualität entwickelt, zeigt die Untersuchung Worst- 196 Modellanalysen daß es der eigenen Partei zum Vorteil gereicht, amplificationes ermöglichen die perspektivierte, auf eine ganz bestimmte Wirkung hin inszenierte Darstellung des Falles. Nichts anderes führt der Ritter im Schlußteil der Rache des Ehemannes mit seiner Erzählung vor. Die narrative Ausgestaltung der recapitulatio zur Gerichtsszene bei Kaufringer kann in diesem Sinne ebenfalls als amplificatio verstanden werden, da durch das Urteil der Verwandten und Freunde neben der Perspektive des Erzählers und des Ritters noch eine weitere Sichtweise auf den Kasus hinzukommt, Multiperspektivität entsteht. Von den zur Gestaltung einer amplificatio empfohlenen Gemeinplätzen bedient sich der Ritter vor allem eines bestimmten: Der zehnte Gemeinplatz ist der, durch den wir alles, was bei der Durchführung der Tat geschah, und was gewöhnlich auf die Sache folgt, scharfsinnig, vorwurfsvoll und gewissenhaft darlegen, so daß man sieht, wie die Sache betrieben und die Tat durchgeführt wurde, wobei man die daraus folgenden Ereignisse aufzählt. 417 Erklärbar werden damit die zahlreichen Motivierungen, die sich im Vortrag des Ritters finden und die für ein exemplarisches Erzählen in der Regel keine vorrangige Bedeutung haben. Hier jedoch dienen sie tatsächlich zur genauen und damit gesteigert vorwurfsvollen Darstellung des Tathergangs. Die Gewissenhaftigkeit, die der Ritter auf dessen Wiedergabe verwendet, scheint dabei sogar über sein begrenztes Figurenwissen hinauszugehen. So berichtet er auch von dem Grund für das treulose Verhalten der Frau: der pfaff das weib hett behaft,/ das si det nun, was er wolt (456 f). Bedenkt man aber, daß hier strikt aus der Figurenperspektive erzählt ist, erkennt man, daß es sich um die Interpretation des Geschehenen durch den Ritter handelt. 418 Man kann nachvollziehen, wie er sich die Mosaiksteinchen zu einem Fall ergänzt und durch die Betonung der Umstände bei den Zuhörern Abscheu gegen die Täter erregt: Wenn er etwa das böse gespächt (476) hervorhebt, mit dem die Frau erreicht habe, daß dem Ritter ein zweiter Zahn gezogen wurde. Oder die Mitteilung der als Unverschämtheit zu empfindenden Reaktion des Pfaffen auf den Erhalt der brocks zu Hartmanns dilatationes im Erec zu gleicher Zeit. Vgl. zum Verhältnis von Quantität und Qualität und der damit verbundenen Sinnstiftung im Prozeß der Retextualisierung Nikolaus Henkel : ‹ Fortschritt › in der Poetik des höfischen Romans. Das Verfahren der Descriptio im «Roman d ’ Eneas» und in Heinrichs von Veldeke «Eneasroman». In: ZfdPh Sonderheft 124 (2005), S. 96 - 116. 417 Rhet. Her . II.49. 418 Kiening (2008), S. 334, sieht die Tatsache, daß der Ritter Kenntnisse besitzt, die er erzähllogisch nicht haben kann, als Beweis für den auktorialen Modus, in dem diese Figur hier erzählt, «jenem Modus, in dem ein Wissen um Geschehnisse vorherrscht, dessen Herkunft unklar bleibt.» Aus Figurenperspektive muß es sich jedoch nicht um Wissen handeln, die Informationen sind einleuchtend auch als Interpretation des Ritters und insinuierende Argumentation, die er sich für seine Zwecke zurechtlegt. 197 Die Rache des Ehemannes Zähne: die zän gab si dem pfaffen baid; / der ducht sich des gar gemait (479 f). Fortgesetzt wird diese indignatio gegen den Pfaffen durch die Mitteilung dessen, was auf die Tat folgt und was dabei die Intention des Täters ist: er macht daraus zwen würfel guot/ ze spot dem ritter hochgemuot. (481 f) Dabei konzentriert sich der Schlußkommentar auch noch einmal auf die Person des Opfers, ein weiterer Gemeinplatz für die amplificatio 419 : In der kontrapunktischen Minimalkonstruktion spot - hochgemuot (482) klingt die Mitleid erregende Fallhöhe 420 des Ritters als eines gesellschaftlich Höhergestellten an. Die beeinflussende Parteilichkeit der harmlos als tagalt daherkommenden Erzählung wird jedoch am deutlichsten mit der folgenreichsten Manipulation, der Unterschlagung von Information, die der Ritter vornimmt, indem sein Fall an diesem Punkt beendet ist. Da die red also geschach, ir ieglicher besunder sprach und wart ain gemain urtail, das weib verdienet het unhail; den leib sölt si verlorn han. (483 - 487) Dieses Urteil der Anwesenden gründet sich damit auf die nur halbe Kenntnis des Falles, die noch dazu über eine vom Ritter insinuierte Darstellung erworben wurde. Der Ehemann inszeniert sich einseitig als (noch anonymes) Opfer - daß er zu gleichen Teilen auch Täter ist, verheimlicht er. Dem Rezipienten wird die Wirkung solch manipulativer Rhetorik anhand der Reaktion der frainde sozusagen ‹ live › vorgeführt, damit wird ganz grundlegend die Abhängigkeit eines Urteils vom Informationsstand und der Perspektive des Urteilenden deutlich. Wichtig ist hier der Umschlagspunkt der Szene. Erst nachdem die frainde geurteilt haben, gibt der Ritter die Authentizität des 419 Vgl. Rhet. Her . II.48: Der zweite Gemeinplatz ist, wenn wir in Betracht ziehen, gegen wen sich die Taten richten, deretwegen wir Anklage erheben; ob gegen alle, was das Furchtbarste ist; ob gegen Höhergestellte, wozu die gehören, von denen man die Gemeinplätze des Vorbildes hernimmt; [. . .]. 420 Die Besetzung der Rolle des Ehemannes mit einem Ritter und die des Liebhabers mit einem Pfaffen ist deshalb sicherlich als Referenz auf den sozialhistorischen Hintergrund der mittelalterlichen Ständegesellschaft und die Konkurrenz des weltlichen und geistlichen Standes zu lesen. Bei Kaufringer wird die Erzähltradition dieser Figurentypen benutzt, um die Figuren und den Fall individuell zu profilieren, die Figuren bleiben nicht in ihrer Typik stecken. Vgl. zu diesem Thema auch die Konventionalität der Ausgangssituation mit der Vorstellung des Ritters als typischem Vertreter seiner Zunft, dem programmatischen Streben nach ritterschaft (5) etc.; alles das wird in wenigen Versen minimalistisch skizziert, vgl. Grubmüller (1993), S. 37. 198 Modellanalysen erzählten Falles zu erkennen, ergänzt die fehlenden Informationen und enthüllt den Rechtscharakter der Situation: da sprach der ritter wolgetan: «ich sag ew nun meinen sin, das ich der selb ritter pin, dem die zän sind außgeprochen. doch ist es nit ungerochen, wann darumb das weib verschant ir zungen hat gelaun ze pfant, die ir der pfaff hat außgepissen. auch ist der pfaff ser beschissen. dem haun ich mit cluogem sitten baid sein hoden ausgeschnitten. nun habt ir die urtail geben, das weib süll darumb ir leben aun genad verlorn haben. (488 - 501) Das ‹ Fest › wird endgültig als ‹ Gerichtsprozeß › erkennbar. Das Urteil der Zuhörer wandelt sich damit zum Sprechakt der Verurteilung, obwohl sie es - noch im Kontext des Festes und des ‹ als ob › der Unterhaltung (tagalt) befindlich - nicht in dieser Absicht ausgesprochen haben müssen. Diesem Urteil 421 kontrastiert der Ritter nun seine bereits vollzogene Lösung des Falles, die er geradezu selbstherrlich zelebriert. Er schenkt der Frau das Leben, verspricht ihr eine Unterhaltszahlung und erklärt die Ehe für aufgelöst. Faktisch hat er damit die eigentliche Reihenfolge des Prozeßablaufs umgekehrt: Anklage und ‹ öffentliche › Beurteilung kommen nach der Bestrafung, die er bereits als persönliche Rache vorgenommen hat. 4.7.3 Rhetorik der Gewalt: Überlegungen zum Argumentationspotential sprechender Strafen Die spiegelnden Strafen des Ritters an Frau und Pfarrer sind als private Strafen zu verstehen, der Ehemann verteilt sie in einer Aktion der Selbstjustiz. Ihre Zeichenhaftigkeit läßt sie zurückverweisen auf das, was er selbst als Opfer hat erleiden müssen. So ist die Entmannung noch aus dem germanischen Recht im Mittelalter als spiegelnde Strafe bei Sittlichkeitsverbrechen wie Ehebruch und 421 Zieht man einen zeitgenössischen Rechtskodex wie den Schwabenspiegel zu Rate, so ist das Urteil der Verwandten keineswegs willkürlich, sondern für den Ehebruch der Frau ein festgesetztes Strafmaß. Derschka Schwabenspiegel (2002), S. 137 (LandR II 201 k): «Wenn jemand beim Weib eines Mannes liegt, sind der Ehebrecher und die Ehebrecherin beide des Todes schuldig. Wenn sie vor das weltliche Gericht kommen, soll man ihnen das Haupt abschlagen.» 199 Die Rache des Ehemannes vorehelichem Geschlechtsverkehr bekannt und begegnet als Privatrache, was etwa der berühmte Fall Abaelards zeigt. 422 Es ist eine Überschreibung der rechtshistorischen Bedeutungsebene mit der literarischer Schwankkomik festzustellen: Die Komik, die entsteht, wenn der allzu weltgewandte Geistliche gewaltsam auf den ihm qua Stand verordneten Status des Zölibats reduziert wird, eignet bereits der materia vom kastrierten Pfaffen, die Kaufringer hier verarbeitet. Mit dem derben Hinweis des Ritters an das versammelte (Gerichts-)Publikum auch ist der pfaff ser beschissen dem haun ich mit cluogem sitten baid sein hoden ausgeschnitten (496 - 498) wird dieser komische Effekt schwankhafter Ausformung des Stoffes in der Figurenperspektive des Ritters verortet - ähnliches war bereits am Beispiel einer misogynen Erzählhaltung der Erzählform Exempel zu beobachten ( ‹ Anklagerede › des Ritters). Bei Kaufringer läßt sich damit auch in diesem Sinne eine Aufladung des Stoffes mit juristisch-symbolischem Gehalt feststellen. Der Ritter verabreicht die rechtshistorisch genau passenden Strafen für die begangenen Vergehen von Pfaffe und Frau, wie die Dame in der Unschuldigen Mörderin, und wie in der Unschuldigen Mörderin schwankt die Handlungsweise der Hauptfigur zwischen Rache und Gerechtigkeit, ist moralisch fragwürdig. In der Unschuldigen Mörderin verteidigt der Erzähler diese Vorgehensweise seiner ‹ Mandantin › , in der Rache des Ehemannes sagt er nichts dazu. Während dort also die eingezogene Bedeutungsebene eines symbolisch bestimmten mittelalterlichen Rechtsdenkens die Gerechtigkeit der Protagonistin beweist, verselbständigt sich hier das literarische Spiel mit der Zeichenhaftigkeit der Strafen: Die Gerechtigkeit, die der Ritter herstellt, ist in erster Linie die equitas des Schwanks, ausgerichtet auf seine Figur und erzählerisch vermittelt durch seine Perspektive. Noch deutlicher aber wird diese These, wenn wir uns der in der Gerichtsszene hauptsächlich Angeklagten, der Ehefrau zuwenden. 4.7.4 läll läll läll - (K)eine komische Perspektive am Ende Was das Schicksal der Frau betrifft, so scheint das Abschneiden der Zunge eine Strafe gewesen zu sein, die als spiegelnde besonders auf das Vergehen des 422 Siehe dazu Roth (1993), Sp. 1019 - 1025; W. Schild: Art. Verstümmelungsstrafe. In: HRG 5 (1998), Sp. 833 - 836, sowie Rudolf His : Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina. München/ Berlin 1928, S. 87. 200 Modellanalysen Verrats hinwies. 423 In diesem Sinne wird sie als Vergeltung der «illokutionäre[n] Selbstermächtigung» 424 der Frau vom Ritter selbst dargestellt. 425 Innerhalb der Textgruppe von Sercambi, Schumann und Montanus, die das Motiv des kastrierten Pfaffen autonom ausformen, ist das Lallen der Frau die komische Schlußpointe, in der der Text aufgeht. Hier haben wir die im Vergleich zu Kaufringer logischere Einbindung des Handlungsschritts ‹ Der Frau wird die Zunge abgebissen › : In Schumanns Nachtbüchlein 426 verdingt sich ein Knecht bei dem betrogenen Ehemann, deß weyb mit dem pfaffen buohlet unter der Voraussetzung, wann sein weyb kündt nymmer teütsch reden, so solt er ihm sein besten ochsen geben zusampt dem lohn. Die Erzählung hat nun die Erfüllung dieser Vorausdeutung zum Inhalt. Weil der Pfaffe glaubt, die Frau habe ihn unter Vortäuschung eines Liebesdienstes kastriert, gestaltet er seine Replik analog und ‹ kastriert › sie unter Vortäuschung eines Kusses. 423 Vgl. dazu die religiöse Bedeutung der Zunge und des Mundes als Tor für die Sprache und damit auch die Lüge in die Welt. Die mentalitätsgeschichtliche Rigorosität den ‹ Zungensünden › gegenüber sowie die Idee, einzelne Glieder für ihr Vergehen zu strafen, um damit die Reinheit des ganzen Leibes zu retten (Matth. 5,29) demonstriert auch ein Sprichwort, das das mittelalterliche Schulbuch Facetus überliefert: Hais du eyne zunge die sij lois,/ Eyne hant die ouch sij truwen bloiß,/ Die hau af beyde und vlie,/ Ee dir schade da van geschie (Hast du eine Zunge, die leichtfertig ist, eine Hand, die treulos ist, dann haue beide ab und mach dich davon, ehe dir davon Schaden widerfährt! ), zit. nach Thesaurus , S. 381, 18. 1. 177. Über die verschiedenen Bedeutungsdimensionen der Zunge aus der Sicht mittelalterlicher Enzyklopädik denkt unter dem Vorzeichen der Geschlechterdifferenz nach: André Schnyder : Frauen und Männer in den Mären Heinrich Kaufringers. Zur Darstellung des Körperlichen und zur Konstruktion des Geschlechterunterschiedes. In: Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren (Hg.): Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‹ Körper › und ‹ Geschlecht › in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 1999, S. 110 - 130; S. 125 f. 424 Maria E. Müller : Böses Blut. Sprachgewalt und Gewaltsprache in mittelalterlichen Mären. In: Jutta Eming und Claudia Jarzebowski (Hg.): Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2008, S. 145 - 161; S. 145. 425 Vgl. die oben bereits zitierte Stelle (V. 490 - 494): das ich der selb ritter pin, dem die zän sind außgeprochen. doch ist es nit ungerochen, wann darumb das weib verschant ir zungen hat gelaun ze pfant,[. . .] 426 Bolte (1976), S. 14 - 16; und genauso im Schwank von Martin Montanus, siehe Bolte (1899), S. 408 - 411. 201 Die Rache des Ehemannes Da fieng die fraw an zu schreyen lal, lal, lal. Da schry der knecht: ‹ Herr, jetzt gib mir mein ochssen, den du mir hast zusampt dem lohn verheissen; dann dein weyb kann nicht mehr teütsch noch welsch. › Die schwankhafte Pointe wurde als facete dictum bereits zu Beginn gesetzt und ihr Sinn erfüllt sich nun durch das Arrangement des Knechts, sodaß wie beim Witz die Komik der Formulierung dein weyb kann nicht mehr teütsch noch welsch erst hier am Schluß ‹ zündet › . Auch Kaufringer läßt die zweite Episode seines Textes vor Beginn der Gerichtsszene mit dem Auftritt der lallenden Ehefrau enden. Es geht ihm aber ein Erzählerkommentar voraus, der die Tat des Pfaffen aus der Perspektive der Liebesbeziehung zwischen den beiden beleuchtet: bösen lon er ir da gab. si ward irer red beraubt. also ward die lieb betaubt gar cläglich zwischen in baiden mit schaden und herzenlaide und mit aim bösen ende gar. die fraw was in der stumen schar. (390 - 396) Die vormaligen Täter werden hier zu Opfern stilisiert. Typisch für Kaufringers Erzähltalent ist dabei, daß der Text es innerhalb dieser minimalistischen Konstruktion schafft, nur über den Aufruf minnesanglicher Wortformeln und ihrer geschickten Kombination eine ‹ andere Sicht › zu erzeugen, die clage und herzenlaid einer zerstörten, weil ‹ betäubten › Liebe betont, der mit dem ‹ Raub der Rede › Vertrauens- und Kommunikationsgrundlage entzogen ist. 427 Der Erzähler ist es, der auf diese Weise auf die grausame Funktionalisierung der ritterlichen Verstümmelungsstrafen aufmerksam macht, insofern sie den beiden Ehebrechern nicht nur die körperlichen Voraussetzungen für den Ehebruch nehmen, sondern auch die geistige Komponente, das Vertrauensverhältnis der Liebenden zerstören, das die Liebesszene 1 - rückblickend wird dies um so deutlicher - thematisiert hatte: Die Betonung gegenseitiger trewe der beiden dort 428 verleiht dem vom Ritter erzwungenen bösen lon des Pfaffen 427 Die Wortwahl betaubt verweist dabei einerseits auf den Verlust der sinnlichen Grundlage der Liebe, gleichzeitig aber deutet sich auch in der Wörtlichkeit des Verbs betouben als ‹ die Wahrnehmung, speziell den Hörsinn nehmen › die Verbindung zur Sprache an: Die Liebe ist taub, weil die Liebenden nicht mehr miteinander sprechen können. Vgl. BMZ Bd. 4, S. 61; s. v. betoube. 428 Vgl. V. 22, 34 f; außerdem den dienst der Frau V. 30. Diese und eine Reihe weiterer Signalwörter sind nicht nur als leere Worthülsen zu verstehen, die das Minneideal höfischer Literatur ironisieren, sondern sie erzeugen ein konstantes Bedeutungsfeld von Motivierungen, innerhalb dessen die beiden Figuren agieren. 202 Modellanalysen hier eine ‹ tiefere Bedeutungsdimension › . Das Ganze gibt sich als sorgfältig konstruiert zu erkennen, indem der Erzähler die anfangs gesetzten ‹ Markierungen › nun aktualisiert. Über den gezielten Einsatz von Signalwörtern aus dem Minnesang - innerhalb der Erzählerrede und in der ersten Liebesszene zusätzlich als Dialog der Liebenden szenographiert - wird die persönliche Perspektive von Frau und Pfarrer als Liebespaar in den Text integriert. Gleich darauf ein krasser Bruch: Der Erzähler verkündet zwar, die Frau gehöre nun zu den Stummen, sie bleibt jedoch ganz und gar nicht stumm, si sprach: «läll läll» und anders nicht; das was irer sprache pflicht. «läll läll läll läll» schrai si ser. anders kunt si nit reden mer. si lief hain in grimigem muot. zuo ir sprach der ritter guot: «wannen laufest her so schnäll? » zuo im sprach si: «läll läll läll läll.» er sprach: «wie ist dir geschehen? » si kund gen im nicht anders jehen dann: «läll läll» ze aller stund. (397 - 407, Hervorhebungen C. R.) Vorgeführt wird hier gleichzeitig mit der Frau als komischer Figur, die unversehens von der Retourkutsche des Schwanks überfahren wurde, die Grausamkeit der Strafe. Die lautmalerische Wirkung der steten Wiederholung erzeugt sicherlich zunächst Lachen, aber gerade die penetrante Häufigkeit des vom Erzähler zelebrierten ohnmächtigen läll läll 429 , das einer inflationären Verwendung von Verben des Sprechens kontrastiert, läßt die Szene dabei kippen: Die Frau wird zur tragikomischen Figur. 430 Mit ihrer defizitären Lautäußerung wird jedesmal die Gewalttat aufgerufen, die dazu geführt hat. Die Komik ist eine schiefe, das Lachen kein befreites. Es sind also die Inszenierungsstrategien des Textes selbst, die hier verschiedene Perspektiven auf den Fall gleichberechtigt nebeneinanderstellen. Die unentschlossene Erzählerinstanz kann als bewußtes Spiel mit Standpunkten interpretiert werden oder man kann einen in diesem speziellen Fall positions- 429 Schnyder (1999), S. 124, betont, der Erzähler gehe «fast an die Grenze des Erträglichen», seiner Meinung nach aber «leistet der Erzähler dem Mann gleichsam Sukkurs». Auch Haustein (2006), S. 15, bemerkt, der Autor betone «etwas penetrant häufig» die Tatsache, daß die Frau nur noch lallen könne. Man kann die Wiederholung jedoch auch als gezielte Markierung lesen, bereits hier wird die Ohnmacht der Frau ausgestellt, ihre Perspektive klar zu machen. 430 Auch Stede (1993), S. 108, sieht hier eine «sympathetische Haltung des Verfassers zu dieser Figur». 203 Die Rache des Ehemannes scheuen Autor dahinter vermuten. Die offenliegende Brüchigkeit, die bei dieser Herstellung der Perspektiven mittels Überblendung tradierter Erzählformen entsteht, möchte ich als eigentliches Merkmal der kasuistischen Textgestalt verstehen. Auf den Umstand, daß Sprache und Gewalt in der Rache des Ehemannes in besonderer Weise enggeführt werden, indem Sprechakte in Gewaltakte umkippen und die ausagierte Gewalt hinterher besprochen beziehungsweise versprachlicht wird, ist in letzter Zeit verstärkt hingewiesen worden. 431 Vor diesem Hintergrund ist der nochmalige Auftritt der lallenden Frau am Ende zu sehen, wenn sie in der Gerichtsszene nach der Verurteilung durch den Ehemann abgeführt wird: [. . .] die ee ist zwischen unser ab; das hat si nun wol verschuld. ich verleich ir zwar mein huld nimer fürbas ewiclich.» Die fraind underwunden sich des armen weibes da vil schnäll. die sprach nichtz dann: «läll läll läll.» (508 - 513) Nachdem die Frau vom bisher schweigsamen Erzähler mitleidig als arm betitelt wurde, kommt sie zu Wort. Es ist die letzte Figurenrede des Textes. «Die Frau lallt nicht einfach. Sie artikuliert das Lallen als Unmöglichkeit, anderes zu sagen als das, was auf die Unmöglichkeit einer anderen Rede hinweist.» 432 Berücksichtigt man die juristisch aufgeladene Situation, die hier inszeniert ist, so erhält diese auffällige Markierung weitere Bedeutung: Im Vorführspiel der Perspektiven auf den Fall innerhalb einer abschließenden Verhandlung wird das Lallen zur uneingelösten Aussage der Angeklagten. Das läll läll läll steht für die fehlende Verteidigungsrede der Ehefrau, die den sozusagen verkürzten Prozeßgang deutlich macht, der nach der Anklage sogleich das Urteil folgen ließ. 433 Die Perspektive der Gegenpartei, die der Erzähler vorher dezidiert ausgestaltet hat, wird in der durch den Ritter beherrschten Gerichtsszene ausgeschaltet. In der abschließenden mündlichen 431 Vgl. Müller (2008) und Kiening (2008). 432 Kiening (2008), S. 334. 433 Vgl. die schematische Aufschlüsselung der Szene im Anhang. Reichlin (2009), S. 210 f, weist für Kaufringers Bürgermeister und Königssohn auf ein Spiel mit der Figurenperspektive hin, das über die «Kontrastierung unterschiedlicher Perspektiven» sowie das gezielte Aussparen einer Perspektive laufe, womit Spannung erzeugt werden könne. Im Rahmen der Gerichtssituation wird mit der Aussparung der Perspektive der Ehefrau nicht nur Spannung erzeugt, sie gewinnt auch verfahrenstechnisch an Bedeutung, da hier die Aussage des Angeklagten unterbunden wird - die Komik des läll läll läll wird damit gebrochen. 204 Modellanalysen Verhandlung des Falles nutzt der Ritter nicht nur eine insinuierende Rhetorik, um seine Rolle als Opfer und seinen Standpunkt der Selbstjustiz zu legitimieren, er nutzt auch die Sprachkraft der spiegelnden Strafe, die eine refutatio der Gegenpartei unmöglich macht. Da jegliche eindeutige Erzählerkommentierung unterbleibt, markiert die verstümmelte Lautäußerung gleichermaßen die Niederlage der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann im Erzählgestus des Schwanks und die Bedenklichkeit dieser Gerichtsverhandlung als Lösung des Falles in der Erzählform des Kasus. 4.8 Warum die Erzählerkommentierung sich selbst ‹ neutralisiert › Die auf der Handlungsebene präsentierte Lösung des Falles wird damit fragwürdig. Am deutlichsten läßt sich diese Problematisierung des Kasus aber am Verhalten des Ich-Erzählers ablesen: Seine Perspektive ist es, die am Schluß fehlt. also puost si ir missitat. damit die red ain ende hat. (515 f) Die beiden Verse sind zwar Erzählerrede und können insofern als Epimythion gelesen werden, sie beschränken sich jedoch lediglich auf eine resümierende Beschreibung der Tatsachen, die soeben erzählt wurden und auf die performative Schlußformel. Eine Meinung formulieren sie nicht. Der Erzähler zieht sich damit auch im Schlußwort zurück auf seine erste und neutralste Funktion: den Berichterstatter. Wie der Ritter den Fall darstellt, als er die Erzählerrolle übernommen hat, einseitig perspektiviert bis hin zur Manipulation, macht ex negativo auf die Haltung des eigentlichen Erzählers aufmerksam. Wo genau steht dieser Erzähler? Fragen wir uns das, so ist festzustellen, daß er keinen Eindruck hinterläßt, eher die Vorstellung eines Schemen erzeugt. Im Gegensatz zum Erzähler der Unschuldigen Mörderin, der als Anwalt einen deutlichen Standpunkt vertritt und mit seinen wütenden Argumentationen als fest konturierte Person vor unserem geistigen Leserauge steht, ist in der Rache des Ehemannes kaum von einer Erzählerfigur zu sprechen. Wo in den ersten beiden Episoden das Erzähler-Ich auf den Plan trat, war bereits festzustellen, daß es sich mehr um die Stimme des Regisseurs handelte, der das Fallgeschehen vermittelnd dirigierte, als um den wertenden Kommentar einer moralischen Instanz. Hinzu kommt, daß auch das Ende des Textes als ‹ alleinverantwortliche › Argumentation des Ritters präsentiert wird: ich sag ew nun meinen sin (489) beginnt er seine Entgegnung auf das Urteil der Anwesenden. Den sin ( ‹ die Bedeutung › ) der Geschichte, die moralisatio zu verkünden, ist in der Regel 205 Die Rache des Ehemannes Aufgabe und Kompetenz des auktorialen Erzählers im Epimythion. Wir empfinden das Übergewicht der Macht dieser einen Figur, die totale Figurenperspektive in der letzten Episode noch deutlicher durch die dramatische Wirkung der direkten Rede. Man könnte die Rede des Ehemannes am Schluß als «logisch privilegierte Figurenrede» 434 bezeichnen: Es scheint keine Instanz über der Figur des Ehemannes mehr zu geben, und deren Behauptungen erhalten so jene unbedingte Gültigkeit, die «das logische Privileg des Erzählers» 435 ist. Gerade aber weil damit das vom Rezipienten als verbindlich betrachtete Privileg des Erzählers an eine Figur abgegeben wird, die es auch noch in der beschriebenen Weise unredlich gebraucht, mag man sich mit dem Ritter nicht identifizieren. Ziegelers Befund, das Erzählen im Märe ziele «in der Regel» auf eine Identifikation des Rezipienten mit dem Protagonisten, trifft damit für Kaufringers Rache des Ehemannes nicht zu. 436 Hier verunmöglicht gerade die Erzähltechnik eine Identifikation, wie es letztlich keine zentrale Figur gibt, mit der der Rezipient sich in diesem Text identifizieren kann - eine Ausnahme bilden die Nebenfiguren der urteilenden frainde, doch dazu komme ich in der Conclusio nach den Modellanalysen. Fiel in der Schlußepisode die misogyne Kommentierung des Falles als Figurenperspektive des Ritters auf, so findet sich tatsächlich während der ‹ Falldarstellung › von seiten des Erzählers keine in irgendeiner Art negative Konnotierung der Frauenfigur. Eher neutral ist der Ton zu nennen, in dem der listige Anschlag der Frau auf die Backenzähne ihres Mannes berichtet wird. Wäre doch hier eine passende Stelle gewesen, um durch entsprechende Attribute die Falschheit ihres Handelns und sie selbst als übel wîp zu markieren. Doch nichts davon, im Gegenteil, beim Erhalt des ersten Zahns wird ihre Klugheit betont: Der pader sich des underwant, er zucket aus dem glinggen wang ainen stockzan mit der zang; der was frisch und stark genuog. den nam zuo ir die frawe cluog und behielt in schon und wol. (86 - 91, Hervorhebung C. R.) 434 Vgl. dazu Martinez / Scheffel (1999), S. 97 f. 435 Ebd., S. 97. 436 Vgl. Ziegeler (1985), S. 457: «Bei Kaufringer und Rosenplüt wird das Handeln des Helden, mit dem sich der Leser in der Regel identifiziert, in ein Gerechtigkeits- Ungerechtigkeits-Schema eingebunden, so daß das Handeln auch dann noch legitimiert ist, wenn es von der offiziösen Norm abweicht.» Ich sehe die Koordinaten dieses «Gerechtigkeits-Ungerechtigkeits-Schemas» durch die beschriebenen kasuistischen Erzählstrategien in der Rache des Ehemannes in Schwingung versetzt, insofern wird auch die Legitimation der Handlungen des Ritters fraglich. 206 Modellanalysen Auch als sie den pader dazu bringt, aus der anderen Wange noch einen Zahn zu ziehen, wird sie wieder als weib gescheit (107) bezeichnet. Fast scheint eine gewisse heitere Bewunderung für das Arrangement der listigen Täterin aus der Erzählerkommentierung zu sprechen. Andererseits wird der Ehemann nicht als zu recht geschundener Dummkopf, sondern als ernstzunehmendes Opfer in allen Stadien der Prozedur gezeigt: Die pragmatische Kommentierung nach dem Verlust des ersten Zahnes der herr lag in jamers dol,/ wann im zemal wee geschach (92 f) steigert sich in der zweiten Runde zum Leidensbild. Dem werden ritter (111) ist übel mitgespielt worden: von pluot ran ain grosser pach/ über sein antlutz vil clar (112 f). Die Rollen sind klar definiert, Schuldzuweisungen oder Wertungen in Gut und Böse werden vom kommentierenden Erzähler jedoch nicht vorgenommen. So ist es wenig später, als der Pfaffe sich beim Würfelspiel verplappert und der Ritter die Zusammenhänge durchschaut, auch schon die Figurenperspektive des letzteren, wenn eine Wertung über die Frau ausgesprochen wird. Mit er swaig darzuo und gedacht (187) wird das nun Folgende als Gedankenbericht, als Innensicht gekennzeichnet: 437 wie in sein weib hett darzuo bracht mit irer bösen gscheidikait, das er sölich aribait an den zänen hett geliten. (188 - 191) Die von Situation zu Situation wechselnden Attribuierungen seiner Figuren durch den Erzähler und die Tendenz, eindeutige Wertungen des Falles als Rede oder Gedanken der Figuren zu kennzeichnen, liefern keine eindeutige Bewertung des Geschehens, an das sich der Rezipient halten könnte. Die Opferrolle der Täter Frau und Pfaffe wird genauso mitleidig beklagt wie diejenige des Ritters als um der Liebe Willen leidender Held. Nehmen wir noch den Befund eines Fehlens von Pro- und Epimythion dazu, der für Kaufringers Texte insgesamt übrigens ungewöhnlich ist 438 , so scheint in der Rache des Ehemannes das Fehlen eines eindeutigen Erzählerstandpunktes intendiert zu sein. Die «kasuistische Denkgestalt» 439 ist damit nicht nur formal umgesetzt als Strukturprinzip des Textes, sondern auch über das Erzählverhalten, also auf der 437 Zur speziellen, weitgehend unerforschten Bedeutung des Gedankenberichts (psychonarration) für mittelalterliches Erzählen vgl. Monika Fludernik : «Durch einen dunkel verzerrten Spiegel» (1 Kor 13: 12). Die Entstehung des Bewusstseins in der englischen Literatur, 1050 - 1500. In: Haferland (2010), S. 281 - 305, die anhand mittelenglischer Texte dessen verstärkten Einsatz zur Profilierung von Figurenidentität und damit die Bedeutung dieser Erzähltechnik für die Darstellung von Bewußtsein und Subjektivität untersucht. 438 So auch Stede (1993), S. 108. 439 Nach Görner (1931), S. 63. Siehe auch Bausinger (1993), Sp. 1027. 207 Die Rache des Ehemannes Diskursebene. Der Erzähler übt die Technik des kasuistischen Erzählens, wenn man so will, weil er seine Wertungen der jeweiligen Situation anpaßt und damit in der Balance hält, sie fallen einmal zugunsten des Ritters und einmal zugunsten seiner Gegenspieler Frau und Pfarrer aus, jedoch ist letztendlich nicht zu entscheiden, was schwerer wiegt. In der Summe errechnen wir für seine Haltung die Bilanz ‹ unentschieden › . 4.9 Die Freilegung des Kasus bei Kaufringer Der Kasus ist bei Kaufringer freigelegt: Hatten exemplarischer oder schwankhafter Erzählgestus ihn in anderen Versionen ‹ vorbeurteilt › und damit abgeschlossen, die Rollen der Figuren klar definiert in Hinsicht auf bestimmte Funktionen etwa der Belehrung oder der Belustigung, öffnet sich in der Rache des Ehemannes spielerisch ein Feld der Neubewertung. Die Leitfrage, um die es geht, lautet: Wie ist zu urteilen? Es scheint nicht nur die Humanität der beiden Alternativlösungen des Falles zur Diskussion zu stehen, sondern schon ganz grundlegend die Definition und Gewichtung der Rollen von Opfer und Täter: Jede Figur in diesem Stück ist beides zu gleichen Teilen. 440 Die Entwicklung der Figuren gibt sich als strukturell gegenläufig zu erkennen: Während der Ritter vom Opfer zum Täter wird, werden seine Gegenspieler von Tätern zu Opfern. Alles in dieser Erzählung ist in Bewegung; parallel vollzieht sich die Metamorphose der Körperteile zu Kunstgegenständen und die Verwandlung der Festszene in eine Gerichtsszene.Wenn Kiening betont, daß die «doppelte Logik» einer Gleichzeitigkeit von Selbst- und Weltreferenz der Rache des Ehemannes unauflösbar eingeschrieben sei 441 , so ist dieser Befund eben durch die Beobachtung eines kasuistischen Erzähl- und Konstruktionsverfahrens zu erklären, das alle Mittel nutzt, um einen abstrusen Präzedenzfall zu schaffen und kontrovers zu präsentieren. Die mit dem Stoff tradierten Erzählformen wie Exempel und Schwank werden dabei integriert, doch deutlich als überholt, als nicht letztlich gültige Darstellungsmodi für den erzählten Fall gekennzeichnet. Die Lehre, die aus der materia zu ziehen ist, oder die Komik, die sie erzeugt, rücken in den Hintergrund. In den Vordergrund tritt der neu konstruierte Kasus selbst und seine Verhandlung, das Problem seiner Beurteilung. 440 Man beachte in diesem Zusammenhang auch die ‹ proportionale › Ausgewogenheit der in Umlauf gebrachten Körperteile: Alle Hauptpersonen dieses Textes verlieren ein Teil, insofern wird eine mögliche Schwankkomik, die zu Lasten der Verliererfigur ginge, durch den herrschenden Gleichstand unterwandert. Zum Thema Komik und dem Verhältnis von Kasus und Schwank vgl. den Abschnitt III.4 in der Conclusio dieser Arbeit. 441 Vgl. Kiening (2008), S. 332 - 335. 208 Modellanalysen Die kasuistischen Erzählstrategien (Perspektivierung der Falldarstellung, Relativierung der Lösung des Falles, Modus der Gerichtsszene) werfen dieses Problem erst auf. Bausinger stellt fest, daß wie für den Kasus auch für Schwank und Witz «oft die Gegensätze und Überschneidungen verschiedener Normbereiche konstitutiv [sind]; nur liegt der Akzent hier nicht auf dem Postulat balancierenden Abwägens, sondern auf der aus der Diskrepanz entstehenden Komik.» 442 Der Unterschied liegt also im Erzählziel. Während der Schwank die Diskrepanz konkurrierender Wertmaßstäbe und Normbereiche zur Erzeugung von Komik nutzt und mittels eines eindeutigen ‹ Ergebnisses › die Problematik in den Hintergrund treten läßt - das Beispiel des schwankhaften Märes zeigt, daß oft gerade die Komik als Didaktisierungsfunktion für die moralische Botschaft des Epimythions eingesetzt wird - , transportiert der Kasus durch seine Form, deren dauerhaftes Balancieren im ‹ Unentschieden › endet, die unbeantwortete Frage nach dem richtigen, dem gerechten Urteil sogar noch über sein eigenes Ende, über sich selbst hinaus. Ein echter Kasus ist unendlich: Und so ist es dann auch die Eigentümlichkeit des Kasus, daß er dort aufhört, ganz er selbst zu sein, wo durch eine positive Entscheidung die Pflicht der Entscheidung aufgehoben wird. 443 Für Kaufringers Rache des Ehemannes gilt diese Eigenart des Kasus im Sinne seiner balancierenden Dialektik nicht nur für die Textebene einer Beurteilung des geschilderten Falles, sondern um so mehr für die Metaebene der Hermeneutik. Vom hermeneutischen Standpunkt des heutigen Interpreten aus ist die rechts- und sozialhistorische Andersartigkeit 444 der Zeit Kaufringers 442 Bausinger (1993), Sp. 1027. 443 Jolles (1974), S. 191. 444 Zum Begriff der Alterität siehe Peter Strohschneider : Art. ‹ Alterität › . In: RL 1 (1997), S. 58 f. Ausgehend von Hans Robert Jauß : Alterität und Modernität in der mittelalterlichen Literatur. In: Ders.: Alterität und Modernität in der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956 - 1976. München 1977, S. 9 - 47, hat sich Alterität für die Mediävistik zu einem einerseits fachliche Identität stiftenden, andererseits nicht unproblematischen Forschungsparadigma entwickelt, siehe Ursula Peters : ‹ Texte vor der Literatur › ? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie. In: Poetica 39 (2007), S. 59 - 88, sowie Christian Kiening : Alterität und Methode. Begründungsmöglichkeiten fachlicher Identität. In: Peter Strohschneider (Hg.): Germanistische Mediävistik und, Bologna-Prozess › . Bielefeld 2005, S. 150 - 166. Eine grundlegende Revision nehmen vor: Anja Becker und Jan Mohr (Hg.): Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren (= Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8). Berlin 2012, sowie der Band von Manuel Braun (Hg.): Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität (= Aventiuren 9). Göttingen 2013. 209 Die Rache des Ehemannes evident. Zwar können wir versuchen, uns mittels Rekonstruktion einer Antwort auf die Frage, wie Zeitgenossen Kaufringers solch einen Text verstanden und bewertet haben, anzunähern, doch läßt die Quellenlage oft nicht mehr als Annahmen und Hinweise zu. Eine Beurteilung des Falles im Sinne authentischen Verständnisses ist also heute schwer möglich. Was der Text jedoch durch alle Zeiten hindurch bewahrt hat und was ihn deshalb für heutige Leser genauso attraktiv macht wie für den mittelalterlichen Zeitgenossen, ist jene ihm inhärente «Pflicht der Entscheidung» 445 , die generiert wird durch die narrativ inszenierte kasuistische Struktur. Diese setzt Sinnpotentiale gerade nicht in der Vermittlung von eindeutigen, sondern von differierenden, weil unterschiedlich perspektivierten Bewertungsstrukturen frei. Sie funktioniert nicht axiologisch, sondern hinterfragt die Axiologien tradierter Erzählformen, womit der Schwerpunkt auch nicht auf einem Ergebnis, einem Urteil liegt, sondern auf dem Prozeß eines Miteinanders widersprüchlicher Sichtweisen einerseits und dem Sichtbarmachen von Bewertungsvorgängen andererseits. Diese, der Konstruktion immanente Unentschiedenheit macht die Aktualisierbarkeit und das Faszinosum dieses Textes aus. 5 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern - kasuistisches als utopisches Erzählen 5.1 Eine ‹ lebensvolle Dorfgeschichte › ? Kaufringers Verklagter Bauer 446 wurde von der Forschung bisher weniger beachtet. Wenn man ihn interpretierte, schien sich der Text für eine sozialhistorische Lektüre anzubieten, die die moraldidaktischen Implikationen in den Vordergrund rückte. 447 Der ausgeprägte Redegestus des Pro- und Epi- 445 Jolles (1974), S. 191. 446 Der mhd. Text wird zitiert nach Sappler (1972), S. 22 - 40. 447 Vgl. Rüdiger Krohn : Die Entdeckung der Moral oder: Ehebruch und Weisheit. Das Märe von der ‹ Suche nach dem glücklichen Ehepaar › und die Kaufringer-Sammlung im cgm 270. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 4 (1986/ 87), S. 257 - 272; Stede (1993), S. 34 - 41, und Willers (2002), S. 17 - 37. Besonders Willers sieht dem Verklagten Bauern eine Kaufringersche Poetik des didaktischen 210 Modellanalysen mythions trägt sicherlich zum Eindruck exemplarischen Erzählens bei. 448 Als räsonierender Ratgeber kritisiert der Erzähler die herrschenden Verhältnisse. Eine «vom Dichter durchaus nicht schwankhaft, sondern mit Ernst und Nachdruck vorgetragene Erzählung, ein Protest gegen die Missstände im Klerus und im Gerichtswesen.» 449 Der Verklagte Bauer rückt in die Nähe jener im Redegestus vorgetragenen Texte von situativ-lebensweltlichem Charakter zu politischen, theologischen oder sozialen Themen, die den zweitgrößten Teil von Kaufringers Werk ausmachen. 450 Andererseits ist dieser argumentierende ‹ Stammtischton › auch für die Mären Kaufringers nicht ungewöhnlich, er findet sich etwa in der weitschweifigeren Rahmenkommentierung der Unschuldigen Mörderin oder des Feigen Ehemannes. Die proportionale Betrachtung des Verklagten Bauern zeigt ebenfalls ein deutliches Übergewicht für die (Binnen-)Geschichte, die 640 von 722 Versen einnimmt, der kommentierende Erzählerrahmen bemißt sich auf 82 Verse. Auch sperrt sich die seltsam verkomplizierte Formulierung des Pro- und Epimythions gegen eine einsinnig exemplarische Lesart. Wie im Falle des Feigen Ehemannes widerspricht sich der Erzähler selbst, indem er im Epimythion eine gegenteilige Position zu der im Promythion vertretenen einnimmt und damit die soeben erzählte Geschichte nicht als exemplarisches Vorbild, sondern als utopisches Wunschbild erscheint. 451 Es entsteht eine erklärungsbedürftige Spannung zwischen Geschichte und Erzählerkommentierung, die durch den komplizierten Aufbau der Geschichte selbst noch erhöht wird. Ein pfarrer und ein richter wollen sich an einem wohlhabenden Bauern bereichern, dessen karkait (41) sie ärgert. Das probate Mittel, um dem Bauern eine Lektion zu erteilen und an seine vil pfenning (68) heranzukommen, wäre eine drohende Erzählens eingeschrieben, welche dann in immer anderer Form in den weiteren Mären des Kaufringerfaszikels im cgm 270 wiederkehre. Kaufringer entwerfe hier ein «Weisheitskonzept», indem er am Beispiel des Bauern «weise Handlungsstrategien» vorstelle (vgl. S. 37). 448 Grubmüller (2006), S. 176, rechnet den Text unter die reinen Exempel und bezieht ihn damit in seine weiteren Überlegungen nicht mit ein. 449 Euling (1977), S. 57 f. 450 Die dezidierte Ausrichtung des Verklagten Bauern auf das Thema der Gerichtsbarkeit und der zeitkritische Ton des Promythions macht ihn etwa dem Bezahlten Anwalt vergleichbar. 451 Vgl. Stede (1993), S. 41. Stede macht den Deutungsvorschlag, daß die Handlungsmöglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, auf die im Prolog verwiesen wird (V. 28 - 30), in der literarischen Fiktion durch den Protagonisten erprobt werden solle. Der fiktive Charakter dieses Wunschbildes trete dann mit «der resignativen Absage an die Durchsetzbarkeit von Gerechtigkeit» im Epimythion zutage. 211 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern Vorladung vor Gericht, die der Bauer dann nur durch eine teure außergerichtliche Einigung abwenden könnte. Man wartet also auf eine passende Gelegenheit. Prompt vernichtet ein Unwetter die gesamte Ernte, worüber die allgemeine Klage groß ist. Lediglich der Bauer ist anderer Ansicht, er spricht von ain guot weter (114), weil es got selb getaun hat (118). Der Pfarrer sieht den Vorfall als erstes Argument für seinen Plan, den Bauern wegen Ketzerei anzuklagen. Letzterer wiederum begeht gleich den nächsten Fauxpas: Während in der Kirche Messe gehalten wird, versucht er draußen auf dem Kirchhof lautstark, Geschäfte zu machen. Nun sieht der verärgerte Pfarrer den passenden Moment zum Gegenschlag gekommen. Mitten im Gottesdienst droht er dem übeltätigen man (150) in seiner Gemeinde mit einer öffentlichen Namensnennung und Anklage, bessere er sich nicht. Dabei gibt er so eindeutige Hinweise auf den Unbekannten, daß den Kirchgängern auch ohne direkte Nennung schnell klar wird, wer gemeint ist. Von der anonymisierten Rüge des Pfarrers durch Freunde informiert, läßt sich der Bauer trotzdem nicht zum Handeln bewegen. Er ist sich keiner Schuld bewußt und geht deshalb davon aus, daß ein anderer gemeint gewesen sei, ein Name wurde schließlich nicht genannt. Das bringt den pfaff in Zugzwang: Am Sonntag in der Kirche ‹ überführt › er den Bauern durch einen listig inszenierten Augenscheinbeweis 452 der Ketzerei, worauf er vom Richter verhaftet wird. Obwohl dem Bauern nun die Todesstrafe droht, besteht er weiterhin auf seiner Unschuld und seinem Recht. Die vom Pfarrer angestrebte außergerichtliche Einigung schlägt er aus, dazu sagt er zwei Dinge, die der Pfaffe als weitere Anklagepunkte der Ketzerei und der Beleidigung vermerkt: einmal, er habe in seinem Haus das himelreich und der helle pein (280), und zum anderen, sein Pferd sei klüger als der Pfarrer. Wütend reitet der solchermaßen Beleidigte zum Bischof, um den Bauern dort anzuklagen. Der bis zur Gerichtsverhandlung auf freien Fuß gesetzte Bauer zögert seinerseits auch nicht, sofort zum Bischof zu reiten, in dessen Diensten er steht. Er bittet darum, die Gerichtsverhandlung auf seinem Gut abzuhalten. Weil der Bischof dem Bauern gewogen ist, willigt er ein. Im Verlauf des Prozesses kann der Bauer alle Anklagepunkte widerlegen, indem er seine verfänglichen Behauptungen folgendermaßen erläutert: Das Unwetter habe er als gut bezeichnet, weil es eine Ermahnung Gottes an die sündigen Menschen gewesen sei, sich zu bessern. Himmel und Hölle habe er in Form seiner seit 28 Jahren bettlägerigen Mutter im Haus, die er der Gerichtsversammlung zum Beweis zeigt. Durch ihre Pflege könne er sich das Himmelreich verdienen, andererseits stünde ihm die Hölle bevor, würde er sich nicht um sie kümmern. Schließlich sei sein Pferd klüger als der Pfaffe, weil es nicht zweimal denselben Fehler mache. Belegen kann dies der Bauer mit einer Geschichte: Wie das Pferd über einen Graben, in welchen es beim ersten Mal hineingefallen war, nicht noch einmal gesprungen sei. Der Pfarrer 452 Der Pfarrer wiederholt seine Anschuldigungen gegen den unbekannten Übeltäter und verkündet, er werde denjenigen, der gemeint sei, mit einem Steinwurf identifizieren. Als er dann auf den Bauern zielt, duckt sich dieser natürlich instinktiv, obwohl der Pfaffe listigerweise den Stein gar nicht wirft. Der Richter kann nun dieses Verhalten des Bauern als öffentliches Schuldeingeständnis auslegen und ihn gefangennehmen (vgl. V. 223 - 235). 212 Modellanalysen dagegen habe für sein Liebesverhältnis mit der Frau des Richters schon mehrmals Prügel bezogen, könne es aber trotzdem nicht lassen. Der Bischof gibt dem Bauern in allen Punkten recht, Richter und Pfarrer dagegen werden mit Geldbußen belegt. Als «lebensvolle Dorfgeschichte, die in manchen Zügen an Michael Kohlhaas erinnert» 453 , las Euling den Verklagten Bauern, den er - auch wegen fehlender Quellen des Stoffes - als Genrebild aus dem Umfeld des Autors betrachtete. 454 Genau diese vermeintliche Lebensweltlichkeit, durch die sich der Stoff des Verklagten Bauern von den anderen Mären Kaufringers abhebt, mag wohl auch für die stiefmütterliche Behandlung des Textes verantwortlich sein, da sie literarische Implikationen weniger erwarten läßt. Solche zeigen sich jedoch in der auffälligen Konstruiertheit des novellistischen Falles 455 , der durch eine Reihe ‹ besonderer Umstände › beeinflußt wird, um schließlich in einer Art Rätselspiel mit der literarischen Pointe eines Ehebruchschwanks der Kategorie ‹ Pfarrer als Liebhaber › zu enden. Vor dem Hintergrund des Befunds einer lebensweltlichen Erzählkulisse, die sich mit dem realistischen Ton der Rahmenkommentierung zu decken scheint, stellt sich also die Frage nach der Interpretierbarkeit eines derart hybriden Textes. 456 Die inhaltlich orientierte Interpretation stößt hier schnell an ihre Grenzen. Ich möchte deshalb gerade die Literarizität des Textes ernstnehmen und sowohl seinen artifiziellen Konstruktcharakter über eine detaillierte erzählstrukturelle Analyse beleuchten als auch seine Verortung im Feld literarischer Traditionen über eine Betrachtung der bisher vernachlässigten Stoff- und Motivgeschichte hinterfragen. 453 Euling (1977), S. 61. 454 Ebd., S. 60: «Für solche Darstellungen brauchte Heinrich Kaufringer natürlich keine andere Quelle als das ihn umgebende tägliche Leben.» 455 Die geschickte Authentizitätskonstruktion dieses Erzählens gründet auf der Basis literarisch verbreiteter Motive: So findet sich etwa das Motiv eines Amtsmißbrauchs rechtlicher Würdenträger durch die willkürliche Vorladung von Laien unter Androhung der Exkommunikation auch in Chaucers Canterbury Tales, wo der Bettelmönch von einem Büttel erzählt, der diese Methode als Einnahmequelle entdeckt hat: Er läßt sich von den Vorgeladenen, die die Exkommunikation fürchten, auszahlen, siehe Geoffrey Chaucer : Die Canterbury-Erzählungen. Zweispr. Ausg. Mit der ersten deutschen Prosaübers. Aus dem Englischen übers. von Fritz Kemmler. Mit Erläuterungen von Jörg O. Fichte. 3 Bde. München 2 2000, Bd. 1, S. 426; Fragment III (D), V. 1301 - 1664; 1346 - 1349. 456 Stede (1993), S. 40, spricht von «konkurrierende[n] Konzepte[n]», die in den verschiedenen Abschnitten des Textes artikuliert, jedoch nicht miteinander vermittelt seien. 213 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern 5.2 Der Motivkreis (Parallelversionen) Die Frage der Stofftradition des Verklagten Bauern ist seit Eulings Diktum von der «lebensvollen Dorfgeschichte» nicht mehr weiter bearbeitet worden, Kaufringers Erzählung steht auch in dieser Hinsicht isoliert. Die beiden literarischen Motive, die Euling im Verklagten Bauern ausgeformt sieht, «der Schuldige verrät sich in der Kirche selbst» und «eine Begründung von rätselhaften Behauptungen», kann er vor Kaufringer nicht belegen. 457 Ihre Überlieferung, vor allem die des zweiten Motivs, konzentriert sich auf die schwankhafte Literatur des 16. Jahrhunderts. 458 Zwar weist Euling bei der Feststellung, daß ältere Zeugnisse über den Stoff fehlen würden, auf die Ausnahme von «Spuren» hin, «die Bolte ermittelt hat». 459 Diesen Spuren hat er aber offenbar keine Bedeutung beigemessen, wie seine nur beiläufige Erwähnung zeigt. In diesem Sinne beurteilt auch Stede die Stofftradition und konstatiert: «Weder aus früherer noch aus späterer Zeit aber ist eine Fassung bekannt, die dem Text Kaufringers so nahe steht, daß ein Vergleich sinnvoll wäre.» 460 Es stellt sich hier meines Erachtens das Problem eines zu grobmaschigen ‹ Suchrasters › , durch das vieles hindurchfällt, was auch bei nur partieller Übereinstimmung mit Kaufringers Text für diesen aufschlußreich sein kann. Anhand der Rache des Ehemannes wurde bereits deutlich, daß sich einzelne Motiv-Komponenten der Kaufringerschen Erzählungen als vor ihm eigenständig überlieferte Geschichten ausmachen lassen - ein Befund, der nahelegt, daß Kaufringer sich nicht an die semantische Begrenzung einer existenten materia hielt, sondern auch verschiedene voneinander unabhängige Stoffe zu einer neuen Erzählung kombinierte. 461 Wie die Makrostruktur der Suche nach 457 Euling (1977), S. 58. 458 Ebd., S. 58 f. 459 Ebd., S. 60. Gemeint ist Johannes Bolte : Jakob Freys Gartengesellschaft (1556). Tübingen 1896, S. 228 f, Anm. zu Nr. 35. 460 Stede (1993), S. 34. 461 Siehe dazu das entsprechende Kapitel dieser Arbeit. Am Beispiel der Rache des Ehemannes lassen sich mit der Betrachtung der parallelen Ausformungen die beiden Motive klar herausdestillieren, die Kaufringer zu seiner Erzählung verbunden hat, und es läßt sich sogar aufgrund der Singularität des Motivs ‹ Zähne zu Würfeln › die lateinische Quelle Kaufringers bestimmen. Gerade die detaillierte Beschäftigung mit den parallelen Überlieferungen auch einzelner Motive aus Kaufringers Texten führt also zu Erkenntnissen über seine Quellen und seine narrative ‹ Konstruktionstechnik › . Tatsächlich ist überlieferungsgeschichtlich erkennbar, wo Kaufringer selbst konstruiert hat und wo er verbreitete Stoffe aufgriff: Kaufringers Texte blieben regional isoliert, die Mären sind bis auf die Ausnahme von Einsiedler und Engel unikal im Augsburger cgm 270 überliefert. Dieser Befund stimmt damit überein, daß für Kaufringers Bearbeitungen von 214 Modellanalysen dem glücklichen Ehepaar, wo innerhalb einer Rahmenerzählung verschiedene einzelne Kasus aneinandergereiht werden, funktioniert auch der Verklagte Bauer rein textstrukturell betrachtet über eine solche Reihung von Einzelgeschichten innerhalb eines Rahmens. Hier ist es das Generalthema einer gerichtlichen Gegnerschaft zwischen Pfarrer und Bauer, das sozusagen den Erzählanlaß liefert für die drei Behauptungen des Bauern, die jede für sich eine eigene Geschichte kodieren - die Auflösung der dritten Behauptung wird auch vom Bauern in direkter Rede als ‹ Erzählung in der Erzählung › vorgetragen. Zur Ergründung der Kaufringerschen Textorganisation scheint es also lohnenswert, gerade auch jenen bisher vernachlässigten Hinweisen auf einzelne Motive nachzugehen, um sehen zu können, worin genau die «nicht zu unterschätzende Selbständigkeit» 462 Kaufringers besteht, die Euling ihm für diesen Text zusprechen möchte. Interessant ist hier zunächst das Motiv der mißverständlichen Behauptungen und ihrer Auflösung, auf dessen Verbindung zur literarischen Tradition des Rätsels Euling selbst hinweist: Die Gerichtsverhandlung, bei welcher die drei verfänglichen Äusserungen des Bauern gerechtfertigt werden, stellt nur eine andere Form jener Rätselfragen dar, durch deren Lösung sich ein in Gefahr schwebender zu helfen weiss. 463 Stoffen, die auch sonst überliefert sind, keine Nachahmungen zu finden sind, obwohl es sich bei Kaufringers Version oft um die am besten erzählte handelt - eindrückliches Beispiel ist die Geschichte von den Drei listigen Frauen, die völlig ohne Nachwirkung blieb, die spätere Tradition des Stoffes knüpft an die um 1479 gedruckte Bearbeitung des Hans Folz an, die ihrerseits an Komplexität und ‹ Erzählkunst › in Hinsicht auf Motivierung und Verknüpfung der einzelnen Erzählstränge hinter Kaufringer zurückbleibt, vgl. Grubmüller (1996), S. 1296 sowie Müller (1984), S. 289 - 311. Wo Kaufringer also verbreitete Stoffe bearbeitet hat, sehen wir das anhand der anderen (früheren oder späteren) Überlieferungszeugnisse des jeweiligen Stoffes: Im Abgleich mit diesen Parallelen wird Kaufringers individuelle Bearbeitungspraxis deutlich. Wo es aber vor und nach Kaufringer keinerlei Belege für einen Stoff gibt, können wir schließen, daß Kaufringer hier seine Geschichte selbst konstruiert hat - in einigen Fällen wie etwa bei der Erzählung von der Rache des Ehemannes oder der Suche nach dem glücklichen Ehepaar lassen sich seine Vorlagen nachweisen, es sind immer nur Elemente des Kaufringerschen Textes, die als unabhängiger Stoff vor Kaufringer existiert haben und auch nach ihm wieder auftauchen. Damit ist klar, daß Kaufringer hier eigenständig Geschichten zusammensetzte, Stoffelemente kombinierte. Daß eben diese ‹ neuen › , zusammengesetzten Stoffe nach Kaufringer nicht mehr begegnen, ist ein Beweis für die These über seine Arbeitstechnik. Grubmüller (1996), S. 1274 äußert zur Rache des Ehemannes ebenfalls die These, die Geschichte sei «wohl erst vom Kaufringer konstruiert worden». 462 Euling (1977), S. 61. 463 Ebd., S. 59. 215 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern Es findet sich eine parallele Ausformung des Stoffes tatsächlich im 1509/ 10 gedruckten Straßburger Rätselbuch 464 überliefert. 465 Im gleichen Zeitraum in Straßburg gedruckt wurden Heinrich Bebels neulateinische Facetiae, in denen uns ebenfalls eine Parallele zum Rätsel Nr. 297 466 des Straßburger Rätselbuchs begegnet. Es handelt sich um das Historia betitelte Stück Nr. 66 aus dem ersten Buch des dreibändigen Werks. 467 Diese beiden Texte bilden eine Gruppe 468 , die im Vergleich mit Kaufringers Verklagtem Bauern und allen hier im Folgenden vorgestellten Texten den Stoff auf das minimal nötige narrative Gerüst komprimiert. Es handelt sich dabei um ein «Erzählkonzept» 469 , das sich als ‹ kleinster gemeinsamer Nenner › aller bekannten Ausformungen in jeder von ihnen wiederfinden läßt: Ein Laie steht wegen verfänglicher Äußerungen vor Gericht - meist ist sein Gegner ein Pfarrer - und rechtfertigt sich mit der geschickten Auslegung seiner Behauptungen. Dabei sind es mit kleineren Varianzen immer die gleichen drei rätselhaften Aussagen, die hier wiederkehren: zum einen das Motiv ‹ Der Esel weiß, wenn er genug hat, der Pfarrer nicht › , zum anderen ‹ Gott tut, was ich will › , und schließlich ‹ Ich habe zuhause Himmel und Hölle › . 470 Wir haben es also - zum ersten Mal bei Kaufringer und danach in konstanter Überlieferung - mit einem zweiteiligen Erzählgrundriß zu tun: einem übergeordneten konfrontativen oder gerichtlichen Rahmenelement und den gleichgeordneten Binnenelementen der Rätselbehauptungen. Ähnlich wie der ‹ Drei Frauen-Stoff › , der ein «Erzählkonzept» ist, das «sich als Grundriß vererbt und (in Grenzen) variabel gefüllt werden kann» 471 , kennzeichnet den Stoff vom verklagten Bauern diese Wechselwirkung von Kon- 464 Die Ausgabe *Or ist verschollen, ihre Existenz jedoch durch einen Vermerk in einem Verzeichnis alter Drucke von 1790 bezeugt, sie wurde in Straßburg vermutlich vor 1510 gedruckt, vgl. Bismark (2007), S. 51. Die älteste überlieferte Ausgabe wurde 1510/ 11 in Straßburg gedruckt, vgl. ebd., S. 16 f. 465 Hinweis bei Bolte (1896), S. 228. 466 Die Numerierung geht zurück auf die Ausgabe von A. F. Butsch : Strassburger Räthselbuch. Die erste zu Strassburg ums Jahr 1505 gedruckte deutsche Räthselsammlung. Straßburg 1876, S. 26 f. Ich zitiere nach dem Abdruck in den Anmerkungen von Wesselski (1907), Bd. 2, S. 146. 467 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe Bebermeyer (1967), Buch 1, S. 28 (Nr. I,66). Ich benutze dazu die Übersetzung von Wesselski (1907), Bd. 2, S. 32 f (Nr. I,66). Beim Zitieren der Übersetzung ersetze ich die Ligaturen ae, oe, ue durch unsere geläufigen Umlaute. 468 Zum Abhängigkeitsverhältnis der beiden Texte siehe die Ausführungen in Abschnitt 5.3. 469 Grubmüller (1996), S. 1293. 470 Die Benennungen der einzelnen Rätsel übernehme ich von Wesselski (1907), Bd. 2, S. 146 - 148. 471 Grubmüller (1996), S. 1293. 216 Modellanalysen stanz und Variation. Es hat den Anschein, als sei dieses Strukturprinzip - eine Art Baukastensystem für die ‹ Konstruktion › von Erzählungen - im Bereich der Kleinepik sehr beliebt gewesen. Anders als beim ‹ Drei Frauen-Stoff › aber, dessen Schwerpunkt auf den Binnenepisoden liegt, die erzählen, wie die jeweilige Frau ihren Ehemann überlistet, und der sich dementsprechend auch innerhalb der vielen Parallelen durch die größere Variation dieser Binnenepisoden auszeichnet, ist es in diesem Fall vor allem der Rahmen, der in seiner Ausformung variiert wird. Obwohl für die Paralleltexte zum Verklagten Bauern die Anordnung der Rätselbehauptungen meist variabel ist, bleiben sie durch die Zeiten thematisch konstant. Dies zeigt ein Bewußtsein für die Freiheit der Disposition bei gleichzeitiger Treue den einzelnen Elementen gegenüber, aus denen sich die materia konstituiert. Dabei ändert sich auch die Gewichtung zwischen dem gerichtlichen Rahmenteil und den Rätseln als Binnenelementen. Je nach Erzählform und -intention, in welche der Stoff gegossen und mit welcher er bearbeitet wird, gewinnt der Rahmenteil an Bedeutung den Binnenelementen der Rätsel und ihrer Auflösungen gegenüber, oder andersherum, wird er narrativ auf das Nötigste reduziert und tritt in den Hintergrund. Heinrich Bebels Fazetie I,66 ist der Ausgangspunkt für die bereits angesprochene breite Rezeption des Stoffes in der deutschen Schwankliteratur, deren Beispiele ich hier nur am Rande einbeziehen möchte. Zu nennen ist unter anderem eine Bearbeitung durch Hans Sachs 472 und die Erzählung Nr. 35 Von einem bauren, der seinen pfarrherrn über studiert in Jakob Freys Gartengesellschaft 473 . Als Parallele äußerst aufschlußreich ist jedoch die Rezeption der Bebelschen Fazetie in der bei uns weitgehend unbekannten französischen Novellensammlung Les Comptes du Monde Adventureux 474 aus dem Jahr 1555. Hier 472 Adelbert von Keller : Hans Sachs. Bd. 5 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 106). Tübingen 1870, S. 135 f: Schwanck. Der pawer mit dem himel und höll unnd seynem esel vom 4. Mai 1557. 473 Bolte (1896), S. 50 f. Der Anfang stimmt ziemlich genau mit dem Bebel-Text überein, offenbar ist der Text eine Übersetzung mit ‹ novellistisch › aktualisierenden Orts- und Personenangaben, eine Art der Übernahme, die für die deutschen Schwankbücher sehr geläufig ist: So ist aus dem Bauern ein Bürger geworden (ein grosser speyvogel), die Geschichte spielt jetzt im Westereich zuo Sarbrucken, und schließlich ist die Instanz personalisiert, vor der der pfarrherr oder kirchherr daselbst den burger verklagt, es handelt sich um des grafen von Nassawens rhäte. Die Geschichte ist also in der Grafschaft Nassau situiert. 474 Es handelt sich um die fünfte Novelle der Sammlung, zitiert nach der Ausgabe Félix Frank : Les Comptes du Monde Adventureux. Texte Original avec Notice, Notes et Index. 2 Bde (= Neudruck der Ausgabe Paris 1878). Genf 1969, S. 37 - 40. Dies ist die 217 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern kann die Wanderung des Stoffes von Deutschland nach Frankreich verfolgt werden. Das Verhältnis des französischen Textes zu dem Bebels wird unten genauer beleuchtet. Im Gegensatz zu den deutschen Ausformungen des Stoffes in den verschiedenen Schwankbüchern und bei Sachs, die sich wie Bebel anekdotisch auf das facete dictum der drei provokanten Äußerungen und die Pointe ihrer Auflösung konzentrieren 475 , betreibt die fünfte Novelle der französischen Comptes du Monde Adventureux einen größeren narrativen Aufwand und fügt auch einen ausführlichen Erzählerkommentar hinzu. Diese Gestaltung macht sie als Vergleichstext für Kaufringers Verklagten Bauern interessant. Damit habe ich drei Paralleltexte zum Verklagten Bauern ausgewählt, deren übereinstimmendes narratives Grundgerüst den Vergleich erlaubt. Die komparatistische Methode unter Berücksichtigung der Überlieferungskontexte läßt nun sehr schön die Besonderheiten der Ausformung eines jeden Textes sehen. Vor diesem Hintergrund wird auch eine Profilierung der Kaufringerschen Bearbeitung dieses Stoffes und damit eine interpretierende Edition der Erstausgabe der Comptes du Monde Adventureux, 1555 in Paris gedruckt. Frank ediert das ihm damals einzig bekannte Exemplar (A), das sich in der Pariser Bibliothèque Nationale (Rés. Y² 1985) befindet. Es existiert jedoch noch ein Exemplar (B) in der Bibliothèque de l ’ Arsenal (8°, B - L 8736), das zwar das gleiche Datum des Drucks trägt, sich jedoch von A unterscheidet, indem es eine redigierte Fassung vorstellt, vgl. Michel Simonin : Bebel en France au XVIe siècle: le cas des Comptes du monde adventureux. In: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 13 (1983), S. 269 - 291; S. 274, Anm. 22. Eine Übersetzung der fünften Novelle der Comptes du Monde Adventureux findet sich bei Widmer (1986), S. 286 - 288. Sie bietet allerdings eine stark hierarchisierte Rezeption, die den narrativen Teil des Textes, also nur die eigentliche Geschichte in den Vordergrund stellt. Die längeren, auch graphisch von der Geschichte abgesetzten ‹ Inhaltsangaben › , die den Erzählungen jeweils statt einer Überschrift voranstehen - im Falle des vorliegenden Textes handelt es sich eher um einen Prolog des Autors der Novellensammlung, in dem er zur klerikerfeindlichen Thematik der Geschichte Stellung nimmt - druckt Widmer zwar in seinen Anmerkungen ab (siehe S. 364), allerdings ohne Übersetzung; der direkt an jede Geschichte anschließende Schlußkommentar wird nur kurz erwähnt, nicht abgedruckt. Ich habe mir deshalb mit einer eigenen Übersetzung beholfen, wo dies nötig war; die Zitate sind entsprechend gekennzeichnet. 475 Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist das Auftauchen des Stoffes in einer der Sprichwortsammlungen (Sybenhundertundfunffzig Teutscher Sprichwörter/ verneuwert und gebessert; 1534) des Reformators Johannes Agricola, siehe Sander L. Gilman : Johannes Agricola. Die Sprichwörtersammlungen. Bd. 1. Berlin/ New York 1971, S. 425 (Nr. 576). Die Aussage «Es regnet wenn ich will» wird hier als Sprichwort erklärt: Diß wort ist auß der that erwachssen. Man sagt, daß eyn pawer gewesen sey / der hab sich hören lassen bei seinen nachbawren [. . .]. 218 Modellanalysen Lektüre des Verklagten Bauern unter neuen Vorzeichen möglich. Die allgemeinen Erkenntnisse über das Stoffgerüst und seine unterschiedliche Ausformung durch den Lauf der Zeiten erlauben außerdem die Einordnung des Stoffes in die Tradition europäischer Novellistik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. 219 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern 5.2.1 Tabellarische Übersicht: Der Verklagte Bauer und seine Parallelen Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der verklagte Bauer Heinrich Bebel Facetien I,66 Straßburger Rätselbuch Les Comptes du Monde Adventureux Nr. 5 - entstanden um 1400, aufgezeichnet 1464 (cgm 270) - Bd. I+II: 1507/ 08 (Druck Straßburg) - Bd. III: 1512 (Druck Straßburg) 476 - 1509/ 10 (Druck Straßburg) - 1555 (Druck Paris) - mhd./ frühnhd. - neulateinisch - frühnhd. - mittelfrz. - 722 Verse - Prosa - Prosa - Prosa Anzahl der Argumente 3 4 4 3 Art und Reihenfolge der Argumente bei der Äußerung durch den Bauern 1) Unwetter als gutes Wetter (112 - 118) 2) Himmel und Hölle zuhause (279 f) 3) Pferd hat vil mer witz als der Pfaffe (312 f) 1) Esel verständiger als Pfarrer 2) Himmel und Hölle zuhause 3) Gott tut alles, was er will 4) 100 Gulden, die ihm nicht genommen werden können 1) Pferd vernünftiger als der Pfarrer 2) 100 Gulden [3)Himmel und Hölle; fehlt in der Aufstellung] 4) Gott macht das Wetter nach 1) Esel klüger als der Pfarrer 2) Paradies und Hölle zuhause 3) Gott tut alles nach seinem Willen 476 Die Bände I und II der Bebelschen Facetien werden erstmals 1508 in Straßburg von Johann Grüninger gedruckt, die Datierung von Bebels Widmungsbrief zum ersten Band auf den 10. Mai 1506 gab der Forschung jedoch Anlaß zu der Vermutung, der Druck könnte vordatiert auch schon 1507 erschienen sein, vgl. Wesselski (1907), Bd. 1, S. XX sowie Bebermeyer (1967), S. XXVIII. Der dritte Band erscheint erstmals in der kompletten Ausgabe der Facetien von 1512. 220 Modellanalysen Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der verklagte Bauer Heinrich Bebel Facetien I,66 Straßburger Rätselbuch Les Comptes du Monde Adventureux Nr. 5 dem Willen des Bauern Reihenfolge der Auslegung durch den Bauern = Reihenfolge Äußerung 1) Esel 3) Gott tut seinen Willen 2) Himmel und Hölle 4) 100 Gulden → 2) und 3) vertauscht = Reihenfolge Äußerung = Reihenfolge Äußerung Gott tut, was ich will Verbindung des Motivs mit dem Wetter: Unwetter ist Auslöser für Äußerung des Bauern, es sei ein gutes Wetter Verknappung; Gewitter als Aufhänger der Äußerung ist weggefallen, Behauptung: [. . .] item deum facere, quicquid vellet ipse [. . .], Auflösung als Wortspiel: Secundo deus facit, quicquid ego volo; nam quicquid deus facit, hoc ego volo Sonderweg: Verbindung des Motivs mit dem Wetter ist in die Aussage übergegangen, keine Vorgeschichte: Zu dem vierden. Das unser hergot wittert wie er wolt sprach er, wie unser hergot dz wetter mecht naß trucken kalt oder warm, wie Bebel, nur etwas breiter auserzählt: Behauptung des Bauern, que Dieu faisoit tout à son vouloir; Auflösung als Wortspiel mit Bezug auf das Vaterunser: Quant au troisiesme point, que le seigneur fait ce qu ’ il me plaist, cela est suyuant l ’ oraison quotidiane, que tout ce que Dieu fait & dispose bien me plaist, & par raison 221 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der verklagte Bauer Heinrich Bebel Facetien I,66 Straßburger Rätselbuch Les Comptes du Monde Adventureux Nr. 5 et debeo velle et optimum iudico. 477 also wolt erß auch haben. dois ainsi vouloir, & pense faire son commandement de conformer mes voluntez aux siennes. 478 Himmel und Hölle zuhause auserzählte Szene: Bauer zeigt seine bettlägerige Mutter, dann direkte Rede: er sprach: »da ist hell und himelreich, das wissent all sicherleich. wann tuon ich meiner muoter wol, den himel ich besitzen sol; tätt ich aber des nicht zwar, ich wurd tailhaft der helle schar.« [. . .] des antwurt ain jurist gar schlecht: »herr, es stat geschriben eben, got fristet dem sein lankleben, ähnlich Kaufringer, aber ohne Beweisvorführung: Bauer behauptet lediglich, er habe pflegebedürftige Eltern (statt nur Mutter, verstärkt den Bezug zum vierten Gebot, das bei Kaufringer von dem Juristen zitiert wird, Pointe); das Rätsel fehlt in der Aufzählung, es gibt dann nur eine kurze Auflösung wörtliche Übereinstimmung mit Bebel: «[. . .] C ’ est que mon pere & ma mere ia vieilz & caducques, ne puuans gaigner leur vie, outre l ’ honneur que ie leurs dois, si auec vne reuerence ie les nourriz & estime, i ’ espere paradis, comme l ’ escriture me promet. Mais au contraire, si ie les traite mal 477 Die Übersetzung von Wesselski (1907), Bd. 2, S. 32: Behauptung: [. . .] item, Gott tät alles, was er wollet. Auflösung: Zum andern, so tut Gott alles, was ich will, dann was Gott tut, das will ich und sollts auch wollen und achts als das best. 478 Übersetzung nach Widmer (1986), S. 287: Behauptung: [. . .] Gott tue alles nach seinem Willen. Auflösung: Was den dritten Punkt anbetrifft, daß ich nämlich gesagt haben soll, der Herrgott tue, was ich wolle, so meine ich, das sei genau entsprechend dem täglichen Gebet, das da sagt, alles, was Gott tue und füge, sei mir recht, und daher müsse ich es auch so wollen, und ich denke, ich handle nach seinem Gebot, wenn ich meinen Willen dem seinen gleichsetze. 222 Modellanalysen Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der verklagte Bauer Heinrich Bebel Facetien I,66 Straßburger Rätselbuch Les Comptes du Monde Adventureux Nr. 5 der vatter und muoter eret schon; darumb wirt im der ewig lon. so verwürket der gar trat alle seine guote tat, der vater und muoter übel tuot, und besitzt der helle gluot.« (553 - 570) 479 Rede des Bauern sehr ähnlich der Argumentation bei Kaufringer: «[. . .]Ultimo parentes ego habeo aetate confectos; quos si pie et liberaliter foveo observoque plurimum, sine dubio mihi regnum caelorum iuxta sanctorum patrum traditionem polliceor. Si vero male tractavero, inferme monstrant ingrat du bien qu ’ ay d ’ eux receu, ie ne doute qu ’ enfer sera ma maison.» 479 Vgl. meine Übersetzung des Verklagten Bauern im Anhang dieser Arbeit. Der Bezug des Juristen auf die Bibel ist hier eindeutig: Das vierte Gebot verspricht langes Leben demjenigen, der Vater und Mutter ehre (5. Buch Mose 5,16). Dasselbe Argument verwendet Kaufringer für die Einleitung in die Geschichte von der Halben Decke, Sappler Nr. 21. 223 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der verklagte Bauer Heinrich Bebel Facetien I,66 Straßburger Rätselbuch Les Comptes du Monde Adventureux Nr. 5 num domus mea erit.» 480 Der Esel weiß, wann er genug hat, der Pfarrer nicht Pferd Motiv eigenständig ausgearbeitet: Erzählung des Bauern, sein Pferd sei klüger als der Pfarrer, weil es aus seinen Fehlern lerne: kein wiederholtes Springen über einen Graben, in den das Pferd einmal hineingefallen war vs. wiederholter Ehebruch des Pfarrers mit der Frau des Richters Esel Esel trinkt immer nur soviel, daß er allein wieder nach Hause laufen kann vs. Pfarrer trinkt soviel Wein, daß er weder allein gehen kann, noch sein Haus findet; die Richter werden zu Augenzeugen für das Verhalten des Pfarrers angerufen Pferd Pferd kann von der Tränke alleine wieder heimlaufen vs. Pfarrer läßt sich im Wirtshaus vom Wein benebeln und muß heimgeführt werden Esel wie Bebel: Esel trinkt nur soviel, daß er alleine wieder in seinen Stall zurückfindet vs. Pfarrer trinkt im Wirtshaus soviel Wein, daß er nur mit Mühe sein Haus findet; die Anwesenden werden zu Zeugen angerufen, da sie ihn alle schon einmal hätten heimführen müssen 100 Gulden Pfarrer muß dem Bischof als Strafe für sein begangenes Unrecht 100 Pfund (Pfennige) bezahlen (667 f) vierte Rätselbehauptung, der Bauer habe 100 Gulden, die ihm weist diese zusätzliche Rätselbehauptung ebenfalls auf, hier wird vierte Rätselbehauptung fehlt, obwohl der französische Kompilator die komplette dreibändige 480 Übersetzung nach Wesselski (1907), Bd. 2, S. 32: «[. . .] Zum letzten hab ich Vater und Mutter, die nun alt sind; so ich sie gottseliglich und wohl halte, auch fleißig ernähre, kann ich mich ohn allen Zweifel des Himmels trösten, wie mich dann solches die heiligen Väter lehren. Wo ich sie aber übel halte, so hab ich entgegen gewiß die Höllen.» 224 Modellanalysen Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der verklagte Bauer Heinrich Bebel Facetien I,66 Straßburger Rätselbuch Les Comptes du Monde Adventureux Nr. 5 niemand nehmen könne, ist hier nachträglich in das Stoffgerüst eingefügt: sie fehlt als Statement am Anfang sie regulär in den Behauptungen mit aufgeführt Ausgabe der Bebelschen Facetiae rezipiert Figur des Rätselstellers und Anklage Bauer - deutlich positive Einführung bereits durch den Erzählerkommentar im Promythion - ‹ individualisiert › : zwar ohne Namen, aber die Profilierung läuft über die Erzählstrategie: Bauer als Held mit rhetorischen Fähigkeiten, triumphiert über Pfarrer und Richter (Rätsel funktionalisiert als Argumente) - Anklage durch den Pfarrer beim Richter wegen Ketzerei und Beleidigung aufgrund seiner Aussage, die sich vor dem Bischof als wahr und rechtgläubig erweist Bauer - keine Charakterisierung; Figuren sind eindimensionale Typen - Anklage durch den Pfarrer vor dem Richter wegen Ketzerei Bauer - keine Charakterisierung; Figuren dienen nur als Sprachrohre; eindimensionale Typen - Anklage durch den Nachbarn: drohender Ketzereiverdacht Bauer - positive Charakterisierung als Ausnahmeerscheinung im Dorf (reich, weit herumgekommen, deshalb klüger als die anderen) Profilierung als Oppositionsfigur zum Pfarrer, um den es hier eigentlich geht; Einführung an zweiter Stelle - wie Bebel: Anklage durch den Pfarrer vor dem Richter wegen Ketzerei und Forderung von Schaden- 225 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der verklagte Bauer Heinrich Bebel Facetien I,66 Straßburger Rätselbuch Les Comptes du Monde Adventureux Nr. 5 ersatz wegen Verletzung der Ehre des Pfarrers Erzählerkommentierung und Erzählhaltung/ Schwerpunktlegung ausführliches Pro- und Epimythion des Erzählers: Redegestus, Erzähler als Ratgeber (Nun haun ich mir des gedacht, 28; Darumb ist das wol mein rat, 715), der sich jedoch in seiner Aussage widerspricht: Promythion optimistisch, Epimythion pessimistisch insgesamt neutrale, berichtende Erzählhaltung ohne erkennbare Kommentierung; Ich-Erzähler (Audivi nuper [. . .]) präsentiert Neuigkeit, Titel: Historia (Eine Histori) Schwerpunkt liegt auf Rätseln und ihrer Auflösung als witzige Pointe (zusätzliches 4. Rätsel) keine Erzählerkommentierung; deutliche Rätselform: Fragen- und Antwortteil auch formal markiert; insgesamt dokumentierender Charakter, wenig Interesse an narrativer Gestaltung Pro- und Epimythion im Rahmen der Novellensammlung: Kommentar zielt auf Kritik am geistlichen Stand: superbia des Geistlichen (gens d ’ eglise) wird angeprangert Figur des Adressaten der Rätsel (Gegner) Pfarrer mit Richter Pfarrer Nachbar → kein Ständekonflikt Pfarrer 226 Modellanalysen Motivik/ Erzählstruktur Heinrich Kaufringer: Der verklagte Bauer Heinrich Bebel Facetien I,66 Straßburger Rätselbuch Les Comptes du Monde Adventureux Nr. 5 Darstellung der Verteidigungsszene/ Rätsellösung - direkte Rede der Parteien und des urteilenden Bischofs (Auffächerung der Perspektiven), Verteidigung des Bauern nimmt den meisten Raum ein - narrative Ausgestaltung der Gerichtsszene, ausdifferenzierter Vorgang der Urteilsfindung, Urteil durch Juristen und Bischof zugunsten des Bauern, Strafen für Pfarrer und Richter → Ernsthaftigkeit der Prozeßsituation und Komik der Rätselargumentation des Bauern halten sich die Waage: die Komik wird durch den Rahmen der ernsten gerichtlichen Situation wieder eingeholt - direkte Rede des Bauern; 4. Rätsellösung in indirekter Rede durch den Erzähler mitgeteilt; - keine Gestaltung der Gerichtssituation, kein Urteil - Auslegungsteil rein stichpunktartig als Antworten auf die Rätselfragen; - keine Gerichtssituation, kein Urteil - direkte Rede des Bauern - Gestaltung der Gerichtsszene mit Anklage, Verteidigung und Urteil zugunsten des Bauern, der Pfarrer erhält aber keine Strafe; der Richter schickt die Streithähne nach Hause → Pfarrer als schwarzes Schaf seines Standes (Erzählerkommentierung) 227 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern 5.3 Reduktion auf das facete dictum: Das Straßburger Rätselbuch und Bebels Historia (I,66) Bereits bei der ersten Sichtung fällt auf, daß Kaufringer im Vergleich mit den nach ihm entstandenen Paralleltexten den Stoff am komplexesten narrativ ausgeformt hat. Von der Profilierung der Figuren und dem Gewicht, das bei Kaufringer auf dem Erzählen der juristischen Vorgänge und Verfahrensweisen liegt, ist bei Bebel und im Straßburger Rätselbuch nichts zu sehen. Die Tradition verläßt mit dem Text des Rätselbuchs, dem einzigen Beleg, der den Stoff deutlich als Rätsel ausformt und im Kontext einer auf diese Gattung spezialisierten Sammlung überliefert, auch formal weitgehend den Bereich des Narrativen. 481 Die Figuren sind Typen ohne Charakterisierung. Auf Motivierungen wird verzichtet. So beruht etwa die Äußerung der Behauptungen durch den Bauern, deren Zustandekommen Kaufringer einzeln motiviert, hier auf einer reinen Setzung. Bebel startet medias in res, ohne die Umstände der Situation mitzuteilen: Audivi nuper quandam fuisse controversiam inter sacerdotem et rusticum. 482 Als Gruppe grenzen sich Bebel und das Rätselbuch von den anderen Texten auch durch ein inhaltliches Kriterium ab. Sie führen beide ein zusätzliches Rätsel des Bauern auf: Er habe 100 Gulden, die ihm niemand nehmen könne. Bei Bebel aber ist dieses vierte Rätsel erst nachträglich in das Stoffgerüst eingefügt, es ist nicht am Anfang als Behauptung aufgeführt, als referiert wird, was der Bauer zum Pfarrer gesagt habe; erst am Ende der Auflösung, die als direkte Rede des Bauern wiedergegeben ist, erscheint plötzlich ein Dixit item quarto: centum aureos se alicubi reposuisse, quos nemo invenire vel sibi furari 481 Nach einer kurzen Einführung in die Situation und der Nennung der drei Rätselbehauptungen sind die Auflösungen nurmehr unter der Überschrift Ant[wort] skizziert: von dem pferdt [. . .] Zu dem andern [. . .] Zu dem dritten [. . .] Zu dem vierden [. . .]. Die Rätselform an sich legt üblicherweise keinen Wert auf narrative Gestaltung, im Vordergrund stehen Rätselfragen und -antworten, vgl. etwa auch die Rätsel der Weimarer Handschrift 565, ediert von Elisabeth Kully : Codex Weimar Q 565. Bern/ München 1982. Die für Rätselbücher typische formale Darbietungsweise zeigt die Konzentration auf die performative Darbietung der Stücke; auf diese zielt auch die Formulierung, die den Frageteil abschließt und eine Antwort fordert: nun ist die frag wie er sollichs auß geleyit und zu versehen [sic! ] geben hab. Die Aufzeichnung an sich scheint damit eher der Sammlung und Memorierung der Stücke gedient zu haben, die vor allem in der Mündlichkeit lebten, vgl. grundlegend Mathilde Hain : Rätsel. Stuttgart 1966, sowie Heike Bismark und Tomas Tomasek : Art. Rätsel. In: RL² 3 (2003), S. 212 - 214; zur Strukturform des Rätsels auch Jolles (1974), S. 126 - 149. 482 Übersetzung nach Wesselski (1907), Bd. 2, S. 32: Ich hab gehört, wie neulich zwischen einem Pfarrer und einem Bauern sei ein Zank gewesen. 228 Modellanalysen posset, intelligens pauperibus largitos esse. 483 Dieser vierte Punkt ist als Erzählerbericht nachträglich angefügt - bereits die Auslegung der dritten Behauptung wird eingeleitet mit ultimo (zum letzten)! - und die dazugehörige Lösung wird nur noch stichwortartig notiert. Die Überlieferungsgeschichte bietet eine Erklärung: Offenbar hat Bebel nach erfolgter Drucklegung beständig an den Facetiae weitergearbeitet und so auch diesen Text für die Ausgabe von 1512 redigiert. Bebermeyer legte seiner Edition die 1514 gedruckte Ausgabe letzter Hand zugrunde, da sie aufgrund der angesprochenen unermüdlichen Tätigkeit Bebels Zusätze zu den alten Stücken sowie einige ganz neue Stücke enthält. Die Abweichungen zu den älteren Drucken werden jedoch in einem kritischen Apparat verzeichnet. 484 Auf diese Weise ist sehr gut nachvollziehbar, daß unser Text in der ersten Ausgabe der Facetiae von 1508 sowie in der von ihr abhängigen Ausgabe 1509 (bei Bebermeyer die Siglen A und B) 485 noch ein anderes Gesicht hat. Er endet hier nach des Bauers Auslegung seiner dritten rätselhaften Behauptung, er habe das Himmelreich zuhause, mit folgendem Schlußsatz: haec autem contraversia (sic! ) an sedata sit, nunc nescio. 486 Mit dieser abschließenden Bemerkung, der Sprecher wisse nicht, ob die Streitsache damit gelöst worden sei, wird der Fall völlig offen gelassen. Ein derart offener Schluß unterstreicht das Desinteresse an der eigentlichen Geschichte, die nur erzählt wird, weil sie gewissermaßen den Kokon für die drei Rätselsprüche und ihre Auflösungspointen darstellt. Das völlige Wegfallen des offenhaltenden Schlußsatzes in der Fazetien-Ausgabe von 1512 widerspricht dem nicht, es bestätigt und verschärft die beobachtete Tendenz vielmehr. Denn der Satz wird getilgt zugunsten eines weiteren Rätsels, das die Pointenreihe schlicht verlängert - sogar ohne Rücksicht auf die narrative Diskontinuität, die entsteht, da die vierte Behauptung vorher gar nicht als vom Bauern aufgestellt erzählt wurde. Bebel hat die Priorität der Rätsel innerhalb dieses Textes also im Nachhinein noch gestärkt. Nach der Herkunft des vierten Rätsels muß man nicht lange suchen, im Straßburger Rätselbuch ist es an zweiter Stelle in die reguläre Aufzählung der seltsamen vier ding oder gnaden integriert, in deren Besitz der Bauer zu sein vorgibt: Zum andern sprach er hot hundert gulden an ein ort geleit die man im nit stelen möcht. Die Antwort lautet: Zu dem andern, die hundert betreffen die hett er umb gots willen geben die 483 Übersetzung nach Wesselski (1907), Bd. 2, S. 32: Für das vierte, saget er, er hätte hundert Gulden hinter sich gelegt, die niemand könnet finden, noch ihm stehlen; gab damit zu verstehn, er hätts unter arme Leut austeilt. 484 Vgl. Bebermeyer (1967), S. XXVIIIf. 485 Siehe ebd., S. XXIX. 486 Zit. nach ebd., S. 29, Anm. 66, 19 ff. 229 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern möcht im nyemant nemmen. Bebel hat die Formulierungen des Rätselbuchs beinahe wörtlich ins Lateinische übertragen. 487 Diese Beobachtung wirft ein interessantes Licht auf die Wechselwirkungen zwischen Bebels Facetiae und dem Straßburger Rätselbuch. Bismark stellt sie folgendermaßen dar: Eine direkte Quelle des Straßburger Rätselbuchs sind wahrscheinlich auch die neulateinischen Facetiae Heinrich Bebels gewesen, deren ersten beiden Bücher erstmals 1508 von Johann Grüninger, also kurz vor der ersten Ausgabe des Straßburger Rätselbuchs, gedruckt werden. Beide Bücher enthalten insgesamt fünf Texte, die mit Rätseln des Straßburger Rätselbuchs inhaltlich übereinstimmen. Da die Facetiae ebenfalls in Straßburg erscheinen und sich dort schnell großer Beliebtheit erfreuen, ist ihre Kenntnis durch den Kompilator des Rätselbuchs höchst wahrscheinlich. 488 Nun hätte es den Rahmen dieser Arbeit überschritten, die Abhängigkeitsverhältnisse aller hier genannten fünf Stücke am Text nachzuverfolgen, für das Rätsel Nr. 297 des Straßburger Rätselbuchs und Bebels Fazetie I,66 aber läßt sich feststellen, daß sie offenbar zunächst unabhängig voneinander entstanden sind. 489 Gegen eine Abhängigkeit des Rätsels aus dem Straßburger Rätselbuch von Bebels Fazetie scheint mir neben der Abweichung der Zahl der einzelnen Behauptungen, die ja in Bebels erster Fassung von 1507/ 08 noch drei beträgt, auch das Fehlen des ständischen Konflikts zwischen Laie und Geistlichem zu sprechen, indem es im Rätselbuch einfach ein nochbawr ist, der den Bauern anzuzeigen droht - bei Bebel stehen sich sacerdos und rusticus gegenüber. Es fehlt dem Rätselbuch damit auch der explizit formulierte narrative Rahmen des Gerichtsprozesses, den Bebel mit den folgenden juristischen Schritten mitteilt: rusticus accusatus est a sacerdote apud praefectum villae tamquam impius et de fide suspectus et contumeliosus [. . .]. Rusticus publice accusatus et ad excusationem admissus ita defendebat se: [. . .]. 490 Das Rätselbuch gibt zum Gesche- 487 Nur die Angabe des Straßburger Rätselbuchs, der Bauer habe das Geld umb gots willen geben schien ihm als Auflösung des Rätsels wohl unverständlich und er präzisierte sie als Armenspende (intelligens pauperibus largitos esse). 488 Bismark (2007), S. 86. 489 Auch Kipf (2010), S. 260, erklärt mit Bezug auf Bismark (2007), daß Bebel die fünf Fazetien seiner ersten beiden Bände (I 66, 75, 88, II 3, 111) nicht aus dem Straßburger Rätselbuch übernommen haben könne, die umgekehrte Entlehnungsrichtung sei vielmehr wahrscheinlich. 490 Übersetzung nach Wesselski (1907), Bd. 2, S. 32: Über solcher Red ist der Bauer von dem Pfarrer verklagt worden vor dem Schultheiß des Dorfs als ein Gottloser, der von dem Glauben nicht recht hielte, ihn schmähete [. . .]. Und wie der Bauer also öffentlich verklagt war, ist er auch sich zu entschuldigen zugelassen worden und hat sich also beschützt: [. . .]. 230 Modellanalysen henskontext nur einen einzigen einführenden Satz: Ein Bawer berümpt sich vier ding oder gnaden so er hett, wölchs von seinem nochbawrn fast hochverkert wardt, wölchs er doch bewert. Als 1509/ 10 das Straßburger Rätselbuch erscheint, benutzt Bebel dieses für seinen dritten Band der Facetiae als Quelle. 491 Darüberhinaus scheint er auf Anregung des Rätselbuchs aber auch Ergänzungen an Stücken der bereits gedruckten ersten beiden Bände seiner Facetiae vorgenommen zu haben, wie sich anhand unseres Textes nachvollziehen läßt. 492 Für die Ausgabe von 1512 fügt Bebel die vierte Rätselbehauptung von den 100 Gulden an, die niemand stehlen könne (centum aureos), außerdem - und das ist m. E. ein weiterer einschlägiger Beweis für die direkte Abhängigkeit vom Straßburger Rätselbuch - ergänzt Bebel das Argument des Bauern, das Himmelreich zuhause zu haben, um die Hölle. 493 Im Rätselbuch ist von dieser Paarformel aus hymelreich und der hell die Rede, während es in Bebels erster Ausgabe lediglich heißt, der Bauer behaupte, item regnum caelorum in sua domo tenere. In der Ausgabe von 1512 ist hier angefügt: vel infernum, utrum ipse velit. Das ist eine wörtliche Übernahme aus dem Rätselbuch, wo es in der Auflösung zu dieser Behauptung heißt: Zu dem dritten, von dem hymelreich und der hell, das was sein alter blinder vatter an dem mocht er verdienen oder verschulden welchs er wolt. (Hervorhebung C. R.) Es läßt sich hier sehen, wie in diesem Stadium der Stoff durch die differente Gewichtung der einzelnen Komponenten eine völlig andere Richtung erhält als in Kaufringers Verklagtem Bauern. Diese Richtung ist eindeutig zu bestimmen: Im Vordergrund des Interesses stehen die Rätsel, steht die Unerhörtheit der Behauptungen an sich und das überraschende und witzige Moment ihrer Auflösung. In dieser Intention stimmen die beiden Texte des Straßburger Rätselbuchs und Bebels überein; Bebel nähert sich sogar mit seiner Anfügung der Behauptung von den 100 Gulden dem reduktiven, schlicht die Rätsel 491 Vgl. Bismark (2007), S. 86. 492 Die vorliegende Untersuchung kann in diesem Punkt einen Beitrag zur Klärung des nach Kipf (2010), S. 259, problematischen Quellenverhältnisses zwischen dem Straßburger Rätselbuch und Bebels Facetiae leisten: Bebel hat das Straßburger Rätselbuch offenbar nicht nur für den dritten Band der Facetiae, nämlich für die beiden Stücke III 110 und 175, als Quelle benutzt, sondern umfassender, auch für Veränderungen an den beiden ersten Büchern, wo seine Fazetien mit den Stücken des Rätselbuchs übereinstimmten. Das hieße in der Konseqenz, daß das Straßburger Rätselbuch unabhängig von Bebels Facetiae entstanden wäre. Diese Annahme wäre anhand der übrigen vier Fazetien, die Bebels erste beide Fazetien-Bände mit dem Straßburger Rätselbuch teilen, zu überprüfen. 493 Vgl. die Anmerkungen im kritischen Apparat bei Bebermeyer (1967), S. 28. 231 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern numerisch aufzählenden Gestus des Rätselbuchs an. 494 Der Witz des facete dictum einer jeden einzelnen Auflösung läßt die Frage nach dem Ausgang des Prozesses, nach dem Schicksal des angeklagten Bauern in Vergessenheit geraten. 5.4 Transfer des Stoffes nach Frankreich: Die Novelle aus Les Comptes du Monde Adventureux Was bei Bebel und im Straßburger Rätselbuch reduziert war, gestaltet die fünfte Novelle der französischen Sammlung Les Comptes du Monde Adventureux 495 wieder breiter narrativ aus. Bebels Historia (I,66) diente dabei als Vorlage. 496 Ein Großteil der 54 Geschichten der Comptes finden sich in italienischen oder französischen Novellensammlungen, genau 30 davon im Novellino des Masuccio Salernitano. 497 Für 13 Stücke weist Simonin einen Zusammenhang mit Bebels Facetiae nach, dem bis dato keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. 498 Damit sind die Comptes du Monde Adventureux das erste Werk, das eine Rezeption der Bebelschen Fazetiensammlung in Frankreich dokumentiert. 499 Nachvollziehbar wird hier, wie der Verfasser der Comptes - auf die Autorfrage komme ich im Anschluß zu sprechen - die Bebelsche Vorlage bearbeitete. Er stand vor dem Problem, daß sie die Einzeltexte in einer Erzählform bot, die durch ihre auf die Essenz ‹ eingedickte › Kürze und Pointiertheit jener Poetik der 494 Da sich somit zeigt, daß das Straßburger Rätselbuch im Rahmen der Stofftradition unikal die zusätzliche Rätselbehauptung der 100 Gulden aufweist, in den gängigen drei Behauptungen aber mit den übrigen Paralleltexten übereinstimmt, ist denkbar, daß der Kompilator des Rätselbuchs in Eigenregie die Reihe im Sinne der Rätselform verlängert - zumal diese Behauptung im Gegensatz zu den anderen nicht als Ketzerei mißverstanden werden kann und insofern dem Programm widerspricht. Der französische Verfasser der Comptes du Monde Adventureux wird sie auch nicht übernehmen, vgl. dazu die tabellarische Übersicht und die Ausführungen des folgenden Abschnitts. 495 Die Novellen der Sammlung führen keinen Titel, Simonin (1983), S. 278 gibt der hier behandelten den Titel L ’ âne du curé normand. 496 Simonin (1983), S. 278. 497 Die Comptes du Monde Adventureux sind eine jener zahlreichen Novellensammlungen, die im Zuge der Boccaccio-Rezeption in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Frankreich entstanden. Bereits der Titelzusatz transportiert die gängigen Topoi des novellare: Les Comptes du Monde Adventureux. Ou sont recitées plusieurs belles Histoires memorables, & propres pour resiouir la compagnie, & éviter melancholie. Par A. D. S. D. 498 Simonin (1983), S. 277 - 282. 499 Vgl. Simonin (1983), S. 273. 232 Modellanalysen Novelle widersprach, die er seiner Sammlung mit der Hauptquelle des Novellino Masuccios zugrundegelegt hatte. 500 Die amplificatio identifiziert Simonin dementsprechend als wesentlichen Arbeitsschritt des Franzosen für alle übernommenen Bebel-Stücke: Den Grundzügen der Handlung bleibt er treu, erweitert jedoch um Passagen, die die Umstände des Plots motivieren; dasselbe Verfahren gilt für die Bebelsche Pointe, auch diese wird adaptiert, jedoch kommentierend erklärt. 501 Werfen wir nun einen konkreten Blick auf die fünfte Novelle, so bestätigt sich der beschriebene Befund. Bereits der rein quantitativ betrachtet mehrfache Umfang des französischen Textes verrät die Tendenz, das bei Bebel gegebene ‹ magere › Gerüst narrativ auszubauen: Beginnt Bebels Fazetie mit dem kurzen Statusbericht von der controversia[m] inter sacerdotem et rusticum, so beginnt der französische Text in ebendieser Reihenfolge mit den beiden Hauptpersonen curé und païsant, nur nimmt er sich erst die Zeit, diese charakterisierend vorzustellen. Dabei steht der Pfarrer als negative Figur im Mittelpunkt, denn wir erfahren sogleich, er sei so hochmütig, daß er sich für vn second Salomon (einen zweiten Salomo) halte, tenant en si grande crainte tous ses parroissiens que le plus humble d ’ eux estoit bien empesché de luy complaire. 502 Die Erzählerironie funktioniert hier über den intertextuellen Verweis auf den biblischen König Salomon, Symbolfigur der Weisheit und des menschlichen Handelns in Übereinstimmung mit Gott. 503 Der Aufruf dieses ehrenwerten Vorbilds, in dessen Nachfolge der Pfarrer sich selbst sieht, evoziert genau jenen Kontext der Rechtsprechung und des weisen Urteils, auf den die Geschichte hinausläuft: Der Pfarrer wird am Schluß eben nicht die salomonische Rolle des weisen Richters spielen, sondern genau im Gegenteil, sein Verhalten bringt ihm diejenige des mit ignorance geschlagenen Verlierers ein. Der Bauer wird in diesem Sinne als Gegenspieler des falschen Pfaffen aufgebaut. Seine Charakterisierung, die das knapp ausgewiesene Nam cum 500 Vgl. Simonin (1983), S. 282. Simonin zeigt, daß der Franzose sich bei den Quellentexten aus dem Novellino Masuccios nah an die Vorlage hält: «A. D. S. D. gomme quelques noms propres, transpose ici ou là quelques lignes mais peut se laisser porter par le mouvement du texte italien, ce que ne permet pas la dicacitas de l ’ humaniste allemand.» (S. 282, Anm. 53) 501 Vgl. Simonin (1983), S. 283 f. «C ’ est au prix de cet ajustement que le fonctionnement facétieux est transposable dans l ’ univers narratif de 1550.» (S. 284) 502 Übersetzung von Widmer (1986), S. 286: [. . .] und alle seine Gemeindemitglieder in so großem Respekt und in solcher Furcht vor seiner geweihten Person erhielt, daß sie alle eifrig nur darauf bedacht waren, ihm zu Gefallen zu sein. 503 Das «salomonische Urteil» zeigt, «daß die Weisheit Gottes in ihm war, wenn er Recht sprach», 1 Kön 3, 28. 233 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern rusticus [. . .] sacerdoti infestus [. . .] 504 Bebels als Geschichte entfaltet, bereitet diese Rolle entsprechend vor: Vn païsant entre les autres homme (riche) & qui auoit assez frequenté le monde pour n ’ estre estimé des plus sotz, voyant la gloire de son curé qui souuent frequentoit les tauernes, n ’ en saisoit pas grand compte: [. . .]. 505 Weil er an Erfahrung reicher und deshalb klüger ist als die anderen Dorfbewohner, erkennt er den wahren Charakter des Pfarrers, der zu oft im Wirtshaus sitzt, und versagt ihm seine Anerkennung. Die Gegnerschaft des Bauern erhält eine plausible Motivierung; seine Charakterisierung führt damit aber nicht zur Konturierung einer individuellen Figur und ihres Schicksals, wie wir dies bei Kaufringer verfolgen können. Als Oppositionsfigur macht er lediglich die Schwächen des Pfarrers sichtbar, um den es hier als Negativ- Beispiel eigentlich geht. Dieser, verärgert über das Verhalten des Bauern, kommt - auf dem Nachhauseweg von seinem allabendlichen Wirtshausbesuch - betrunken bei letzterem vorbei. Es entwickelt sich ein Streit zwischen den beiden, von dem uns der Erzähler berichtet, es seien vne infinité d ’ iniures dites des deux costez (auf beiden Seiten eine Unmenge von Beleidigungen gefallen). Zu verfolgen ist auch hier der von Simonin betonte Effekt, daß die Plausibilisierungsbestrebungen des französischen Bearbeiters den Witz zerstören: Das Publikum weiß nun schon, daß der Pfarrer gerne ‹ einen über den Durst trinkt › und dann nicht mehr ganz Herr seiner selbst ist. Die Pointe der Rätselbehauptung, des Bauers Esel sei klüger als der Pfaffe, deren Auflösung bei Bebel über das tertium comparationis des tierischen und menschlichen ‹ Saufens › organisiert ist, hat der französische Text damit wegerzählt. Die Demonstration eines krassen Fehlverhaltens des Geistlichen ist ihm wichtiger. Dieser hat der bereits präludierten superbia nun auch noch die christlichen Todsünden der Maßlosigkeit (gula) und der Wut (ira) hinzugefügt. Auch mit dem nächsten Schritt, der Anklage des Bauern vor dem Richter, hält sich der französische Text an die Vorgaben der Bebelschen Fazetie, gestaltet diese jedoch als Szene. Während Bebel die drei Behauptungen des Bauern im Stil des Erzählerberichts schlicht auflistet und resümiert: rusticus accusatus est a sacerdote apud praefectum villae tamquam impius et de fide suspectus et contumeliosus, quod asinum prudentiorum se dixisset 506 , läßt der französische 504 Wesselski (1907), Bd. 2, S. 32: [. . .]; dann der Bauer war dem Pfarrer abhold [. . .]. 505 Widmer (1986), S. 286: Nur ein reicher Bauer, der weit genug in der Welt herumgekommen war und darum für gescheiter als die andern Dorfleute galt, teilte diese Ehrfurcht und Ängstlichkeit seiner Gemeindegenossen nicht, denn er sah, wie der Pfarrer gar zu oft im Wirtshaus saß. 506 Wesselski (1907), Bd. 2, S. 32: Über solcher Red ist der Bauer von dem Pfarrer verklagt worden vor dem Schultheiß des Dorfs als ein Gottloser, der von dem 234 Modellanalysen Text den curé seine Anklagepunkte 507 direkt dem iuge vortragen, vor den auch der Bauer geladen worden ist. Partant concluoit à l ’ acusation que comme meschant suspect de la foy & iniurieux heretique d ’ auoir fait comparaison d ’ vn asne à vn homme d ’ eglise [. . .]. 508 Wie bei Bebel folgt nun die Verteidigung in direkter Rede. 509 In ihrem Verlauf aber verwandeln sich die knappen Pointen Bebels in spitzfindig explizierte Argumente, die beweisen, daß der Pfarrer sich nicht auf die Auslegung des Gotteswortes versteht. Die Argumentation des Bauern gipfelt in seiner Erklärung der dritten Behauptung, Gott tue alles, was er wolle; mit Referenz auf das Vaterunser zeigt der Bauer endgültig, daß er das Geschäft der christlichen Hermeneutik besser versteht als derjenige, der sich anmaßt, dafür zuständig zu sein: Quant au troisiesme point, que le seigneur sait ce qu ’ il me plaist, cela est suyuant l ’ oraison quotidiane, que tout ce que Dieu fait & dispose bien me plaist, & par raison dois ainsi vouloir, & pense faire son commandement de conformer mes voluntez aux siennes. 510 Und so urteilt auch der Richter zugunsten des Bauern. Froh über dessen weise Worte und cognoissant l ’ ignorance du curé plus grande que l ’ iniure du rustique 511 , schickt er die Parteien nach Hause. In einem abschließenden Kommentar an die Adresse der tugendhaften Damen, welche die Comptes Glauben nicht recht hielte, ihn schmähete und sonderlich, daß er sein Esel weiser und vernünftiger schätzete denn ihn. 507 Ihre Reihenfolge entspricht wieder exakt derjenigen bei Bebel, siehe dazu den tabellarischen Vergleich. 508 Widmer (1986), S. 287: Und darum, schloß der Pfarrer seine Anklage, sei er ein ungläubiger Bösewicht und der Ketzerei verdächtig, weil er seinen Pfarrer mit einem Esel habe verglichen, [. . .]. 509 Die vierte Rätselbehauptung von den 100 Gulden fehlt in den Comptes du Monde Adventureux: Da der französische Kompilator auch Texte aus dem dritten Fazetienband bearbeitet hat, woraus zu schließen ist, daß er die vollständige Ausgabe von 1512 benutzte, hat er sie wohl absichtlich nicht übernommen. Vielleicht wegen ihrer auffälligen nachträglichen Anstückelung bei Bebel, und weil sie im Gegensatz zu den anderen weder geeignet ist, den Pfarrer zu desavouieren, noch eine als Ketzerei mißzuverstehende Glaubensfrage betrifft. 510 Widmer (1986), S. 288: Was den dritten Punkt anbetrifft, daß ich nämlich gesagt haben soll, der Herrgott tue, was ich wolle, so mein ich, das sei genau entsprechend dem täglichen Gebet, das da sagt, alles, was Gott tue und füge, sei mir recht, und daher müsse ich es auch so wollen, und ich denke, ich handle nach seinem Gebot, wenn ich meinen Willen dem seinen gleichsetze. 511 Widmer (1986), S. 288: [. . .] da er des Pfarrers Unwissenheit und Hochmut wohl kannte und meinte, sie seien viel schlimmer und unerträglicher als des Bauers Beleidigung, [. . .]. 235 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern du Monde Adventureux im Titel und im Vorwort als ihr Publikum ansprechen 512 , formuliert der Erzähler mit deutlichen Worten die Essenz dieser Geschichte. Die superbia wird zum Generalvorwurf an den geistlichen Stand verschärft: Vovs voyez, mes Dames, la gloire de telz sotz, qui voulans trop estimer d ’ eux, en fin se font declarer estre la mesme ignorance: & toutesfoys n ’ ont point de honte de soy presenter pour ministres de la parolle de Dieu, laquelle certainement leur est si peu familiere que nous en deuons plaindre le mal pour eux, [. . .]. 513 Das sind sehr deutliche Worte: Ironisch zeigt der Erzähler auf den Ruhm der ‹ Narren › , die der Priester hier repräsentiert. Die Unwissenheit in Person, gäben sie vor, sie verstünden la parolle de Dieu. Nimmt man Bebels einführende Schlagwortkette von der controversia inter sacerdotem et rusticum als Wegweiser, so kodiert sie alle Möglichkeiten einer Ausgestaltung, die in diesem Stoff stecken: Der Franzose legt nun den Schwerpunkt auf den sozialen, den ständischen Aspekt dieser Konfrontation - mit dessen unspezifischem Aufruf sich Bebel als Assoziationsrahmen für seine Anekdote begnügt hatte - und macht das inter sacerdotem et rusticum zu seinem Hauptanliegen. Die Figuren werden als exemplarische Typen gezeichnet: Gegen den hochmütigen und trunksüchtigen Pfaffen als Vertreter der gens d ’ eglise steht die Schar der Laien, deren Repräsentant der Bauer als Prototyp des illitteratus ist. Die rätselhaften Behauptungen werden zu Prüfsteinen für die Problematik der richtigen Auslegung des Gotteswortes und die Anmaßung (superbia), die sich der geistliche Stand durch das Privileg der Befähigung zu dieser Auslegung zuschulden kommen läßt. Die Binnenelemente der Rätsel und die Pointe ihrer Auflösung werden für diesen Diskurs der Pfaffenschelte funktionalisiert, im Vergleich zu Bebel und ganz deutlich im Kontrast zum Straßburger Rätselbuch treten sie in den Hintergrund. Die Einführung einer starken Erzählerstimme, die die Geschichte abschließend interpretiert und ihren Sinn damit eindeutig festlegt, ist die auffälligste erweiternde Veränderung des Franzosen an Bebels neutral be- 512 Die Epistre des Verfassers beginnt mit einer Widmung avx sages et vertvevse dames de France, an die sittsamen und tugendhaften Damen Frankreichs. 513 Ihr seht, meine Damen, den Ruhm solcher Dummköpfe, die zu viel auf sich halten wollen, zu guter Letzt bringen sie sich selbst dazu, zuzugeben, daß sie die Unwissenheit in Person sind: Indessen schämen sie sich nicht, sich als Verwalter des Wortes Gottes auszugeben, das ihnen mit Sicherheit so wenig verständlich ist, daß wir sie wegen dieses Unglücks bedauern müssen [. . .]. (Übersetzung hier und im Folgenden von mir, C. R.) 236 Modellanalysen richtetem Text. 514 Bei ihm wird die Geschichte mit einem Leitmotiv versehen, das letztlich dazu dient, den Stellenwert und Anspruch des Textes selbst zu thematisieren: die Dichotomie von Wahrheit und Lüge. Der Vorwurf der Lüge trifft den Bauern, insofern er drei falsche Behauptungen aufgestellt haben soll. Es bleibt nun ihm überlassen, in der vom Pfarrer angestoßenen Gerichtsverhandlung zu beweisen, daß er die Wahrheit gesprochen hat. 515 Diese thematische Leitmotivik wird bereits im Verfasserprolog ironisch präludiert, indem uns der Vortragende zu verstehen gibt, es sei ihm sehr unangenehm, eine für den geistlichen Stand nachteilige Geschichte zu erzählen, es sei ihm aber nun einmal diese zu Ohren gekommen - sobald sich irgendwo eine für die Kirchenleute vorteilhafte Geschichte finden ließe, würde es ihm ein noch viel größeres Vergnügen bereiten, sie zu erzählen - , und die Wahrheit ließe sich bekanntlich auf die Dauer sowieso nicht verheimlichen. 516 Diese Wahrheit scheint ganz offensichtlich darin zu bestehen, wie uns der Verfasser mit dem vielfachen Augenzwinkern seiner höflich-umständlichen Formulierungskunst zu verstehen gibt, daß die Majorität negativer Geschichten über Geistliche kein Zufall ist, sondern ganz einfach die Realität beziehungsweise die Meinung des Autors abbildet. Die vorgeschobene Entschuldigung voll ausgestellter Naivität, seine Erinnerung an diese Geschichte sei nun ganz frisch und er müsse 514 Auch Simonin (1983), S. 283 weist am Beispiel eines anderen Textes darauf hin, der französische Bearbeiter habe der Geschichte eine ausführliche kommentierende Invektive hinzugefügt. 515 Der Bauer beginnt seine Verteidigung mit den Worten I ’ ay esté acusé de trois choses que ma partie a presentement bien deduites, mais ie soustiens auoir veritablement parlé [. . .]. [ Widmer , S. 287: Ich bin dreier Dinge angeklagt, die meine Gegenpartei nunmehr richtig aufgeführt hat; aber ich behaupte, die Wahrheit gesprochen zu haben.] (Hervorhebungen C. R.) 516 Encores qu ’ il me fasche beaucoup de raconter chose qui soit au desauantage des gens d ’ eglise, si est ce qu ’ estant l ’ occasion si grande & memoire recente d ’ vn conte plaisant qui m ’ a esté fait, craignant de l ’ oublier il fault qu ’ on le sçache: & que la verité (qui ne se peult cacher) à la longue soit descouuerte, sans toutesfoys en rien vouloir toucher les sages, vous asseurant que ou il se trouuera quelque compte à leur auantage ce me sera trop plus grand plaisir de le dire. [Obwohl es mir sehr unangenehm ist, etwas zu erzählen, das zum Nachteil der Kirchenleute gereichen könnte, ist es doch so, daß es eine so große Gelegenheit und eine frische Erinnerung an eine vergnügliche Erzählung gibt, die mir zugetragen wurde; in der Befürchtung, sie zu vergessen, muß es sein, daß man sie erzählt: Und weil die Wahrheit (die sich nicht verstecken kann) mit der Zeit entdeckt würde, versichere ich Euch, ohne damit im mindesten die Sittsamen beleidigen zu wollen, daß, wo auch immer sich eine Erzählung zu ihrem [= der Kirchenleute] Vorteil finden wird, es mir unaussprechliches Vergnügen machen wird, sie zu erzählen. 237 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern fürchten, sie zu vergessen, würde er sie nicht erzählen, verstärkt noch den spöttelnden Tonfall. Der erste Teil des Schlußkommentars identifiziert sodann die Geistlichen als Gruppe von Täuschern, die das Wort Gottes in Wahrheit nicht verstünden. Und das Erzähler-Ich formuliert für sich und seine Rezipienten deutlich eine oppositionelle Haltung, wenn es ironisch dazu aufruft, die Geistlichen wegen ihrer Unwissenheit zu bejammern (que nous en deuons plaindre le mal pour eux, Hervorhebung C. R.). Danach thematisiert der Erzähler im zweiten Teil des Epilogs wieder in der Geste jenes spöttischen sich Entschuldigens den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte: [. . .] & suis marry qu ’ il ne s ’ offre quelque beau discours duquel ie les peusse louër, & ie vous asseure que le sens & le pouuoir ne seroit espergné à le faire trouuer beaucoup plus grand & bon que ie n ’ ay fait à raconter leurs veritez. 517 Die veritez bleibt das letzte Wort des Textes. Die Wahrheit über die gens d ’ eglise ist hier erzählt worden. Das Erzähler-Ich formuliert ein Feindbild, das sich entfernt hat von der unverbindlichen Pfaffenschelte, die dem Stoff durch den schwankhaften Triumph des Bauern über den Pfarrer inhärent ist. Das Spiel mit dem literarischen Charakter der erzählten Geschichte und der Frage nach ihrer Verbindlichkeit in Anfangs- und Schlußkommentar enthüllt eine fundamentale Kritik an der Geistlichkeit. Die eindeutige Erzählintention, die aus der Exemplarisierung der Geschichte als Invektive gegen die Geistlichkeit erhellt, wird bestätigt bei der Betrachtung des Überlieferungskontextes der gesamten Sammlung. Die Comptes du Monde Adventureux sind geprägt von einer auffallend anti-klerikalen Haltung. 518 Ihre Überlieferungsgeschichte ist voller offener Fragen, die bereits bei dem unbekannten Verfasser beginnen, der nur mit den Initialen A. D. S. D. zeichnet. Die These von Felix Frank, Editor der bis heute einzigen modernen Ausgabe der Comptes, es handle sich um den Pfarrer von Champfleur, Antoine de Saint-Denis, scheint schon wegen der kirchenkritischen Grundhaltung der Sammlung nicht plausibel. 519 Simonin hat dagegen sehr überzeugend dargelegt, daß der Verfasser ein gebildeter Pariser Stadtbürger gewesen sein muß, der Zugang zu neuen ausländischen Drucken hatte und die Novellen seiner Comptes aus anderen Erzählsammlungen 517 [. . .] und ich bin untröstlich, daß keine positive Geschichte zur Verfügung steht, mit der ich sie [= die Kirchenleute] rühmen könnte. Ich versichere Euch, daß Wissen und Können nicht gespart werden würden, um diese Geschichte viel großartiger und besser gestalten zu können, was ich nicht gemacht habe, um die Wahrheit über sie [= die Kirchenleute] zu erzählen. 518 Simonin (1983), S. 285 spricht von der «coloration anti-ecclésiastique des Comptes du monde adventureux, si singulière a ce moment sous cette forme brutale». 519 Siehe Frank (1969), S. I - CXXXII. 238 Modellanalysen übersetzend kompilierte. Die Comptes du Monde Adventureux erweisen sich damit als ein Werk, das in seiner Bearbeitungspraxis den Geist der Zeit spiegelt, wenn sich der Verfasser auch neue, bisher unbekannte Quellen sucht. Sicherlich ist auch der anti-klerikale Ton der Sammlung im Spiegel ihrer Zeit zu sehen. 520 5.5 Rätselbehauptungen - Kaufringer und die lateinische Predigtexemplarik Die Spezifik von Kaufringers Ausformung des Stoffes im Verklagten Bauern wird vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Paralleltexte beschreibbar: Als strukturelle Besonderheiten kennzeichnen sie im Wesentlichen die Komplexisierung des Stoffgerüsts sowie die spezielle Gestaltung zweier Rätselbehauptungen; nur ‹ Himmel und Hölle zuhause › deckt sich weitgehend mit den Paralleltexten. 521 Die Aussage sowohl jener Gruppe der ‹ reduzierten › Ausformungen des Stoffes als Rätsel und Fazetie wie auch jener gegensätzlichen, ‹ amplifizierenden › Ausformung der französischen Novelle ist eindeutig zu bestimmen: Einmal eine Konzentration auf die situative Pointe ohne Interesse für den Fall an sich und die Schicksale der Beteiligten, eine neutrale Präsentation ausschließlich der ‹ Fakten › , die keinerlei kommentierende Einordnung liefert und damit auch die Selbstreferentialität der Geschichte garantiert. Das andere Mal die ausführlich explizierte Verankerung der Erzählung in einem klerikerfeindlichen Diskurs, wofür auch der fazete Witz der treffend formulierten Pointen geopfert wird, da sie nun als Belege für die Unfähigkeit des Pfarrers dienen, das Wort Gottes richtig auszulegen. Welche Position in diesem Gefüge ist nun Kaufringers Verklagtem Bauern zuzusprechen? Festzuhalten ist, daß der Stoff hier zum ersten Mal in der Form begegnet, die er als Grundriß durch die Zeiten beibehalten wird. Ob dies ein Zufall der Überlieferung ist, die uns (bisher) ein früheres Zeugnis des Stoffgerüsts vorenthält, oder ob man Kaufringer tatsächlich eine eigenständige Konstruktion seiner Erzählung vom Verklagten Bauern zusprechen kann, die dann die Tradition des Erzählkonzepts begründet hätte, diese beiden Möglichkeiten gilt es zu beleuchten. Eine direkte Abhängigkeit eines späteren Parallel- 520 Man könnte die 5. Novelle der Comptes im Kontext sehen von kirchenkritischer Literatur wie der wenig später, 1566 erschienenen Apologie pour Hérodote Henri Estiennes «einer Kompilation von Anekdoten, Fabeln und Legenden, die die katholische Kirche attackieren und zeigen sollen, dass die Gegenwart schlimmer ist als die Vergangenheit», siehe Grimm (2006), S. 146. 521 Siehe dazu die Vergleichsübersicht. 239 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern textes vom Verklagten Bauern ist nicht ersichtlich. Andererseits existieren vor Kaufringer nur voneinander unabhängige Zeugnisse einzelner Rätselbehauptungen. Wesselski hat in seiner Übersetzungsausgabe der Bebelschen Fazetien Anmerkungen zur Stofftradition der einzelnen Rätselbehauptungen gemacht, die in den Bereich der lateinischen Predigtliteratur führen. Von Interesse in unserem Zusammenhang ist vor allem eine der lateinischen Parallelen: Es handelt sich um ein Predigtexempel, das bei Étienne de Bourbon im Tractatus de diversis materiis praedicabilibus 522 und im Speculum morale des Vinzenz von Beauvais 523 beinahe wortgleich überliefert ist. 524 Vorgebildet findet sich hier die Rätselbehauptung ‹ Gott tut, was ich will › . Wesselski und Simonin halten das Exempel für die direkte Vorlage Bebels. 525 Da Kaufringers Verklagter Bauer aber zu einem viel früheren Zeitpunkt entstanden ist und damit die Existenz des Stoffgerüsts vor Bebel belegt, muß sich die Konstitution dieses Gerüsts aus den einzeln nachweisbaren Elementen bereits vor Bebel vollzogen haben. Wirklich scheint das lateinische Exempel Kaufringer näherzustehen als Bebel: Einiges, das für den Verklagten Bauern im Vergleich zu den Paralleltexten spezifisch ist, findet sich hier bereits angelegt. Hinzuweisen ist zunächst auf die Verortung des Stoffes im ländlichen Milieu einer parochia. Auch die Spezifizierung des Protagonisten als Bauer erklärt sich damit vom lateinischen Exempel aus, denn ganz offensichtlich ist der als homo bonus charakterisierte 522 Albert Lecoy de la Marche : Anecdotes Historiques, Légendes et Apologues tirés du Recueil inédit d ’ Étienne de Bourbon, Dominicain du XIIIe Siècle. Paris 1877, S. 253 f (Nr. 301). Der Tractatus gilt als Hauptwerk Étiennes, das er gegen Ende seines Lebens (1180 - 1261) verfaßte, vgl. Ch. Daxelmüller: Art. Stephanus 1. S. de Bellavilla. In: LexMA 8 (1997), Sp. 128 f. Wie sein Zeitgenosse Jakob von Vitry in den Sermones vulgares (vgl. dazu im Kapitel über die Rache des Ehemannes) versammelte Étienne hier Morallehren und passende Exempla als Handreichung für Prediger, der Tractatus umfaßt über 3000 Erzählungen. 523 Zit. nach Wesselski (1907), Bd. 2, S. 147 f. Vgl. Rudolf K. Weigand: Art. Vinzenz von Beauvais. In: VL² 10 (1999), Sp. 365 - 369; Sp. 365 f: Der Speculum morale ist der vierte Teil von Vinzenz von Beauvais ’ Hauptwerk Speculum maius, der nicht mehr zur Ausführung kam und nach Vinzenz ’ Tod anonym, möglicherweise von Ordensbrüdern verfaßt und zusammen mit den anderen Teilen in Umlauf gebracht wurde. Die handschriftliche Verbreitung des Speculum morale datiert damit ca. 1264. Im Wissen um die unklare Autorisierung spreche ich aber der Einfachheit halber hier von Vinzenz. 524 Beide Texte bei Wesselski (1907), Bd. 2, S. 147 f. Ich habe sie im Anhang dieser Arbeit abgedruckt und übersetzt. Die beiden Fassungen sind offenbar voneinander oder von derselben Vorlage abgeschrieben und unterscheiden sich wesentlich nur im längeren Einführungskommentar Étiennes de Bourbon. 525 Siehe Wesselski (1907), Bd. 2, S. 148, sowie Simonin (1983), S. 278. 240 Modellanalysen Protagonist ein Bauer wie die anderen parochiani, der bei einem Unwetter seine Ernte verliert (segetes suas videbat attritas). Damit ist jene bei Kaufringer spezielle Verbindung der ersten rätselhaften Behauptung ‹ Gott tut, was ich will › mit dem Wetter schon angeklungen. Der Plot des Exempels beginnt wie der Verklagte Bauer mit einem Gewitter, das die Gemeinde heimsucht, in der der Protagonist lebt. Als die Dorfbewohner in ihrem Unglück gegen Gott murren, weil sie durch das Gewitter Schaden erlitten haben, bleibt der Protagonist dagegen fröhlich und dankt Gott. 526 Es ist genau dieses Kontrast-Verhalten, das auch der Bauer bei Kaufringer zeigt: von diser jamerlich geschicht huob sich gemainclich grosse clag von den lüten nacht und tag, wie das ungewitter swär ir aller gros verderben wär. da sprach der bawr offenbar, [. . .] da er des volkes clage hort: «werlich ir seit all bedort, das ir clagt ze diser frist, wann es ain guot weter ist gewesen, auf die trewe mein. es sol niemant schwär noch pein darumb haun, das ist mein rat, wann es got selb getaun hat.» (104 - 118) Die Begründung, Gott selbst habe das Wetter gemacht, äußert der Protagonist in wörtlicher Übereinstimmung im lateinischen Text, als er nach dem Grund für sein Verhalten gefragt wird: ait quod hoc ideo faciebat, quia Deum in potestate sua ita redegerat, quod nil faceret Deus nisi quod ipse vellet. 527 Zwar fehlt die Aussage, Gott tue nichts anderes, als der Bauer wolle, bei Kaufringer. 528 Jedoch stimmt die Rechtfertigung seiner Bauernfigur wieder mit dem 526 [. . .] cum quaedam tempestas attrivisset quandam parochiam, et in dominica die convenissent in ecclesia parochiani maesti et afflicti de hoc quod amisissent bona sua, et contra Deum murmurarent: quidam eorum laetus persistebat, domino gratias agens. (Als ein Unwetter eine Pfarrgemeinde heimsuchte und als darauf am Sonntag die Gemeindemitglieder in der Kirche zusammenkamen, waren sie betrübt und unglücklich, weil sie ihre Güter verloren hatten, und murrten gegen Gott. Dieser eine von ihnen blieb fröhlich und sagte Gott Dank.) 527 Er sagte, er habe das deshalb gemacht, weil Gott in seiner Macht es [= das Wetter] so geschaffen habe, denn Gott täte nichts anderes als das, was er selbst wolle. 528 Ursprünglich war sicherlich die Verbindung des Unwetters mit der Aussage ‹ Gott tut, was ich will › , wie es hier in der lateinischen Predigtliteratur überliefert ist: In der Folge haben sich die beiden Komponenten jedoch verselbständigt. Schon bei Kaufringer fehlt die Aussage, Gott tue, was der Bauer wolle; im Straßburger 241 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern lateinischen Text überein. Dort folgert der Angeklagte aus der Übereinstimmung seines Wollens mit dem Willen Gottes am Schluß: et cum segetes suas videbat attritas, de hoc gaudebat, sciens quod hoc Deus ad ejus utilitatem volebat et faciebat. 529 Auch der Kaufringersche Bauer freut sich über das Unwetter als guot wetter (491), weil Gott es zum Nutzen der Gemeinde geschickt habe: got hat uns gefüeget das anders nicht dann nun durch guot, wann er niemant übel tuot. (492 - 494) Dabei konkretisiert Kaufringers Gestaltung der Behauptung und ihrer Auflösung die Botschaft des lateinischen Exempels: Auf welche Weise will Gott den Menschen mit einem Unwetter nützen? Indem er sie damit ermahnt, das wir unsern bösen sit/ und unser sünd süllen laun (496 f). Vor Gericht gestellt, führt nun der Protagonist des lateinischen Exempels eine spitzfindige Erörterung vor, in deren Verlauf sich seine Behauptung als Schlußsatz eines mehrgliedrigen Gedankengangs entpuppt. 530 Es wird hier mit Rätselbuch sind beide Komponenten zu der Behauptung, Gott mache das Wetter, wie es der Bauer wolle, verschmolzen; bei Bebel und in den ihm folgenden Schwanksammlungen ist die Aussage reduziert auf das ‹ Gott tut, was ich will › , die Verbindung zum Wetter fehlt völlig. 529 Und als er seine Saatfelder zerstört sah, freute er sich darüber, im Wissen, daß Gott dies zu seinem Nutzen gewollt und getan hatte. 530 [. . .] reddidit de hoc racionem sacerdoti, quia hoc ideo dixerat, quia quicquid Deus volebat, et ipse, ita quod nil aliud volebat nisi quod Deus volebat; propter hoc de omnibus factis ejus sic gaudebat, quod de nullo turbabatur et ita ipse nil volebat quod Deus nollet, sed cum ipso tanquam cum amicissimo habebat idem velle et nolle; et cum segetes suas videbat attritas, de hoc gaudebat, sciens quod hoc Deus ad ejus utilitatem volebat et faciebat. ([. . .] erwiderte er dem Priester zu dieser Sache, daß er deshalb so gesprochen habe, weil was auch immer Gott wolle, wolle er selbst auch, weil also er nichts anderes wolle als das, was Gott wolle; deswegen freue er sich über alle seine Taten so, weil er durch nichts erschreckt werde und auf diese Weise selbst nichts wolle, was Gott nicht wolle, sondern mit ihm wie mit einem besten Freund das gleiche Wollen und Nicht-Wollen teile; und als er seine Saatfelder zerstört sah, freute er sich darüber, im Wissen, daß Gott dies zu seinem Nutzen gewollt und getan hatte.) Die Argumentation hat große Ähnlichkeit mit einem der Grundgedanken in Meister Eckharts Buch der göttlichen Tröstung: «Ein guot mensche enmac niht gesîn, der dâ niht enwil, daz got sunderlîche wil, wan unmügelich ist, daz got iht welle wan guot; und sunderlîche in dem und von dem, daz ez got wil, sô wirt ez und ist von nôt guot und ouch daz beste. Und dar umbe lêrte unser herre die aposteln und uns in in, und wir biten alle tage, daz gotes wille gewerde. Und doch, wenne gotes wille kumet und gewirdet, sô klagen wir.» Meister Eckhart: Das Buch der 242 Modellanalysen der rhetorisch-dialektischen Denkfigur des Enthymems 531 gespielt: Indem der Protagonist den logisch vorgeschalteten Argumentationsschritt, er passe seinen Willen dem Willen Gottes an, wegläßt, erhält seine verkürzte Aussage, Gott tue, was er wolle, einen Doppelsinn, der ketzerisch ausgelegt werden kann. 532 Indem er sodann in seiner Verteidigungsrede die ausgeklammerten Argumentationsschritte nachreicht, verdeutlicht der Angeklagte seine Behauptung und stellt damit klar, daß ihr Sinn nicht ketzerisch, sondern eindeutig christlich zu verstehen ist. Eben diese Funktionsweise liegt allen rätselhaften Behauptungen des Stoffes vom verklagten Bauern zugrunde, sie gewährleistet überhaupt erst ihre Rezeption als Rätsel, wie wir sie im Straßburger Rätselbuch finden: Die Lösung besteht immer im Nachreichen jener logisch vorgeschalteten Argumentationsschritte, die zum richtigen Verständnis der Aussagen nötig sind. Es ist also vor allem diese rhetorische Formung, die den Erfolg des Stoffes garantiert. Bei Kaufringer ist diese Rhetorisierung zum ersten Mal für das gesamte Erzählgerüst zu beobachten: Im Speculum morale findet sich nämlich auch ein Exempel, das das Thema der bei Kaufringer zweiten Rätselbehauptung des Bauern behandelt - ‹ Der Esel weiß, wenn er genug hat, der Pfarrer nicht › . 533 Dieses Exempel ist in seiner Form weit entfernt von rätselhafter Gestaltung, seine zentrale Aussage wird aber, wie alle späteren Überlieferungen belegen, nach dem Vorbild des Exempels ‹ Gott tut, was ich göttlichen Tröstung. Vom Edlen Menschen. Mhd. u. Nhd. Übers. u. mit einem Nachwort von Kurt Flasch. München 2007. 531 Das Enthymem ist eine logisch unvollkommene Form der argumentativen Methode des Syllogismus, der alle zum Nachvollzug der Argumentation notwendigen Teilgedanken liefert. Das Enthymem hingegen verkürzt die Prämissen und konzentriert sich auf die conclusio des Gedankengangs, siehe Lausberg § 371. Die im Mittelalter als Dialektik bezeichnete Logik gehört wie die Rhetorik zum grundlegenden Bildungskanon des Triviums innerhalb der septem artes liberales. 532 Zum Ketzerei-Begriff des Mittelalters vgl. A. Patschovsky: Art. Häresie. In: LexMA 4 (1989), Sp. 1933 - 1936; Sp. 1933: Die begriffliche Definition gründete sich auf die Schriften Augustins und Hieronymus ’ , danach galt als Häresie «insbesondere die eigensinnige Auslegung der Heiligen Schrift in einem anderen als vom Heiligen Geist inspirierten Sinne, und Häretiker war, wer solche Irrtümer hartnäckig verteidigte.» Nach strengem Verständnis war einzig die Amtskirche jene innerweltliche Institution, die über Glaubenswahrheiten entschied (Gregor VII., Dictatus papae 26: «Quod catholicus non habeatur, qui non concordat Romanae ecclesiae»). 533 Speculum morale III, 8, 2. Vgl. Wesselski (1907), Bd. 2, S. 146. 243 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern will › ebenfalls zum Enthymem umgeformt und ihm angeschlossen. 534 Kaufringers Verklagter Bauer zeigt diesen Vorgang, wenn er auch mit der Auflösung der rätselhaften Behauptung vom ‹ klügeren Pferd › einen Sonderweg geht: Bei ihm wird aus dem Vergleich des Pfarrers mit dem Pferd die abschließende Pointe eines Ehebruchschwanks gewonnen. Die obigen Ausführungen machen deutlich: Das lateinische Exempel ‹ Gott tut, was ich will › ist mehr als das Überlieferungszeugnis einer Rätselbehauptung. Ich möchte es vielmehr als ‹ Keimzelle › des Stoffes bezeichnen. Es liefert die Konstituenten für das gerichtliche Rahmenelement und die Funktionsweise für die rätselhaften Behauptungen. Dabei ließ sich speziell Kaufringers Konstruktion des Verklagten Bauern in einigen Punkten aus dem lateinischen Exempel entwickeln: Hier finden wir den Kasus des wegen Ketzerei angeklagten Bauern vorgeprägt. 5.6 Juridifizierter Kasus, oder: Wie aus dem Predigtexempel für rechten Glauben ein Streitfall über Gerechtigkeit wird Bei Étienne de Bourbon heißt es als einführender Kommentar zum Exempel: Hominem quietum et pacificum et in praesenti quasi beatum [obediencia] facit; nec de presentibus adversitatibus, si insurgant contra eum conturbatur, quia conformat voluntatem suam voluntati Domini, a quo hec ad utilitatem fiunt. Audivi quod, cum quedam tempestas attrivisset quamdam parrochiam, [. . .]. 535 (Ein zurückhaltender und friedlicher Mensch, der glücklich in der Gegenwart lebt, leistet Gott Gehorsam; er läßt sich nicht verängstigen von den täglichen Widrigkeiten, wenn sie sich gegen ihn erheben, denn er gleicht seinen Willen dem Willen Gottes an, der diese zu einem bestimmten Nutzen geschehen läßt. Ich habe gehört, daß, als ein Unwetter eine Pfarrgemeinde heimsuchte, [. . .].) Eine Anweisung zu richtigem christlichen Verhalten: Der Protagonist der Geschichte fungiert als positives Beispiel, er führt das anvisierte Verhalten vor. Die Einordung des Exempels innerhalb des Tractatus de diversis materiis praedicabilibus gibt weitere Hinweise zur ursprünglichen Funktion und damit zum Rezeptionskontext des Textes: Strukturiert nach den Sieben Gaben des Heiligen Geistes, findet sich unser Exempel im vierten Teil des Tractatus über 534 Der gleiche Rhetorisierungsvorgang ist für das dritte Rätsel ‹ Himmel und Hölle zuhause › anzunehmen, dessen Vorlage unbekannt ist, aber wohl ebenfalls aus der Exempelliteratur stammen dürfte. 535 Im Speculum morale zeigt das Exempel in die gleiche Richtung, wenn der Anfang auch komprimiert ist auf den bloßen moraltheologischen Fingerzeig: Sicut quidam bonus homo faciebat: cum quaedam tempestas attrivisset quandam parochiam, [. . .]. 244 Modellanalysen die Gabe der Tapferkeit (De Fortitudine). In der kurzen Inhaltsübersicht vorweg heißt es, der Teil handele davon, wie die fortitudo den Menschen stärke und schütze gegen die Anfechtungen der Sünde. 536 Die Binnengliederung des vierten Tractatus-Teils enthält wiederum 13 tituli, von denen unser Exempel dem siebten zugeordnet ist: septimus est de primo principalium viciorum, scilicet de superbia et de ejus speciebus quamplurimis. Es geht also um die superbia und ihre vielfältigen Erscheinungsformen. Eine davon ist die inobediencia, die Ungehorsamkeit, unter welcher Überschrift das zur Rede stehende Exempel geführt wird. Eingeordnet ist es hier als positives Gegenbeispiel: Während die anderen Exempel unter dieser Überschrift von tatsächlichen Fällen der Ungehorsamkeit berichten, handelt es von der obediencia des Protagonisten, der seinen Willen dem Willen Gottes unterordnet. Lecoy de la Marche resümiert die Erzählung treffend: Exemple d ’ un homme content de tout, parce qu ’ il voulait tout comme Dieu. Das Verhalten des Protagonisten zeugt damit von der Gabe des Mutes (fortitudo), für den Glauben einzutreten und von seiner Gehorsamkeit gegen Gott, die ex negativo die Todsünde der superbia als Auflehnung gegen den göttlichen Willen sichtbar macht. 537 Diese Zentrierung auf den Protagonisten und seine Charakterisierung als exemplarisches Vorbild für eine dezidierte Verhaltensanweisung ist auch bei Kaufringer zu finden, wo der Prolog den Bauern als Handlungsvorbild ankündigt: Die christliche Prägung tritt dabei in den Hintergrund und wird durch eine weltliche, spezifisch rechtliche ersetzt. Nun haun ich mir des gedacht, wer nit unrecht hett getan, der sölt sich nit erschrecken lan; er sölt ee verderben palt vor seinem obersten gewalt, 536 Quarta pars hujus operis est de hiis que pertinent ad donum fortitudinis. . ., per que et quomodo donum fortitudinis hominem roborat et munit contra malum culpe, ut viriliter et expedite et faciliter resistat insultibus viciorum que diversimodo hominem impugnant. . . [. . .]; siehe Lecoy de la Marche (1877), S. 192 (Nr. 220). 537 Étienne hat seine vielfältigen schriftlichen und mündlichen Quellen sehr genau angegeben. Die Wendung Audivi quod ordnet das vorliegende Exempel der Gruppe jener Erzählungen zu, die der mündlichen Erzähltradition entstammen, die Quelle ist insofern nicht näher lokalisierbar. Zu den Quellen Étiennes siehe Lecoy de la Marche (1877), S. xij - xix. Obwohl das Exempel also offenbar nicht wie viele andere des Tractatus auf die Erfahrungen Étiennes während seiner Reisen durch Frankreich in Ausübung seiner Tätigkeit als Inquisitor des Dominikanerordens zurückgeht, dürfte sein Interesse an dieser Geschichte zur Frage der Ketzerei und der richtigen Auslegung des Gotteswortes sicherlich in Zusammenhang mit seinem Inquisitorenamt stehen. 245 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern vor ritter und vor knecht, oder vor in werden gerecht (28 - 34) Ein Unschuldiger solle sich also vom herrschenden rechtlichen Ungleichgewicht nicht einschüchtern lassen, sondern für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit kämpfen, und zwar genau so, als aines mals ain baur det (35) - Sicut quidam bonus homo faciebat. Die Ähnlichkeit des Erzählgestus ist evident, nur die Thematik hat sich vom Religiösen ins Weltliche verschoben. Dementsprechend klingt die Verhaltensmaxime bei Kaufringer schon fast wie ein Heldenkodex. Die dramatische Formulierung, dem Unschuldigen bliebe die Wahl zwischen verderben oder gerecht werden erinnert an das Ritterethos von ‹ Ehre oder Tod › . Auch die Erwähnung von ritter und knecht läßt ein höfisches Heldenideal assoziieren. 538 Gleichzeitig aber schimmern durch diese weltliche Formulierung hindurch die christlichen Tugenden der fortitudo und justitia, die das lateinische Exempel exponiert. Sie werden in der einführenden Vorstellung des Bauern zusätzlich angereichert mit temperantia 539 und prudentia 540 . Von Anfang an werden hier Erzählmuster und Erzählhaltungen überblendet, indem der religiös exemplarisch geformte Stoff bei Kaufringer auf den juristischen Vorfall hin gelesen wird. Diese Zuspitzung zum Kasus läßt sich an einem entscheidenden Schritt festmachen. Im lateinischen Exempel kommt es auf die Anzeige der anderen Dorfbewohner hin zur Konfrontation mit dem Priester: Cum autem de hoc accusarent eum apud sacerdotem, quod videbatur heresim sapere [. . .]. 541 Das Exempel dient als Zeugnis des rechten Glaubens eines Laien. Zwar findet aufgrund der Anklage des Protagonisten ein öffentliches Aufeinandertreffen von Pfarrer und Bauer statt, ihre ‹ Auseinandersetzung › ist aber nur einseitig, indem der Bauer eine ausführliche Verteidigungsrede vor dem Pfarrer als stummem Repräsentanten der kirchlichen Instanz hält, der gewissermaßen nur dazu da ist, die theologische Legitimität der Äußerung zu bestätigen. Die Kommentierung des Exempels läßt keinen Zweifel daran, daß sie legitim ist. Von der Diskursivität einer controversia kann hier nicht die Rede sein, dies wäre 538 Willers (2002), S. 19, sieht die Handlungsmaxime als Ausdruck einer höfischen Ethik. Ihrer Ansicht nach wird diese hier zur Diskussion gestellt und durch das «weise Handeln» des Bauern im Laufe der Geschichte, sowie durch die anschließende Handlungsanweisung des Epilogs «zeitgemäß korrigiert» (S. 36 f). 539 V. 38 f: er was frumm und so gemuot,/ das er ungeleichs nit gert. 540 V. 45 - 47: suocht iemant gen im arge list,/ darwider was er zaller frist/ in züchten und mit weißhait. 541 Als sie ihn aber deswegen beim Priester anzeigten, weil er ein Ketzer zu sein schien, [. . .]. 246 Modellanalysen gar nicht im Sinne der exemplarischen Erzählintention, die eindeutig auf eine Vermittlung von Glaubensgrundsätzen zielt. Diese Botschaft wäre in Gefahr, würden Bauer und Pfarrer zu gleichgeordneten Kontrahenten, insofern besteht hier kein Interesse an einer Problematisierung des Falles. Von einer solchen aber lebt der Text Kaufringers: Für den Bauern als heldenhaften Protagonisten wird der Pfarrer zum Gegner. Auch hier ist zwar das Unverständnis der anderen Gemeindemitglieder über die Äußerung des Bauern vermerkt 542 , die Rolle des Anklägers aber übernimmt explizit der Pfarrer. Er äußert den Ketzereiverdacht: er gedacht: «ich haun nun zwar gen dem bauren guot gelimpf, wann er in ernst und oun schimpf die groben red hat getan. darbei mag man sich verstan, das er nit ist ain kristen guot.» (122 - 127) Zum ersten Mal in der überlieferungsgeschichtlich nachweisbaren Stofftradition wird der Pfarrer zum Ankläger des Bauern und damit zu seinem Gegenspieler. Vorformuliert findet sich hier bereits der klerikerfeindliche Tonfall, der in den französischen Comptes du Monde Adventureux so prominent werden wird. 543 Spezifisch für den Verklagten Bauern im Vergleich zu den Parallelen ist aber, daß er sich eben nicht auf eine Konfrontation von Geistlichem und Laien beschränkt, sondern die Thematik auf den Bereich des weltlichen Rechts ausweitet - offensichtlichstes Anzeichen dafür ist die Einführung der Richterfigur. 544 Durch diese eigenständige Konstruktion Kaufringers wird das 542 Der Erzähler kommentiert: die red geviel niemant wol,/ seit ich die warhait sagen sol. (119 f) 543 Tanner (2005), S. 331 - 338, liest bereits dem Verklagten Bauern aufgrund der Kontrastierung von Bauer und Pfaffe als religiösem Laien und sündigem Geistlichen eine vorreformatorische Tendenz ab. 544 Durch den Abgleich der einzelnen Rätselbehauptungen in den Paralleltexten wird deutlich, daß Kaufringer auch bei Annahme einer möglichen Vorlage einen Sonderweg mit der individuellen Modifikation der einzelnen Rätselbehauptungen beschreitet. Die Quelle Kaufringers, Bebels und des Straßburger Rätselbuchs muß sich sehr nah an die lateinischen Exempel, vor allem an dasjenige vom Bauern, der behauptet, Gott tue, was er wolle, gehalten haben - Kaufringer wandelte dann, was die Binnenelemente des Stoffgerüsts betrifft, zwei der drei rätselhaften Behauptungen individuell ab. Die weitreichendsten Veränderungen aber nahm er am Rahmen vor, denn seine Vorlage vermittelte, nach Bebel und dem Straßburger Rätselbuch zu urteilen, höchstens den Konflikt zwischen Pfarrer und Bauer: Die zusätzlichen Erweiterungen des Rahmens (das Komplott von Pfarrer und Richter 247 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern Recht und der Gerichtsprozeß als Instrument seiner Durchsetzung zum zentralen Aspekt: Schon formal betrachtet fallen die juristischen Signalwörter im Prolog ins Auge, sein Schwerpunkt liegt auf dem Thema der Gerechtigkeit, die durch falsche Justiz beeinträchtigt wird. Eine parabelähnliche Schilderung spezifiziert dies anschaulich: Niemant pringt die lüt in swär als vil sam untrew richter und darzuo ettlich pfaffen. der richter und der pfaff gescheid, zuo wiem si dann haben neid, der sol sich fleissen recht tuon. und zertritt er nur ain huon, er muoß vier ros ze buosse lan oder mit in in täding stan; so kompt es dann villeicht darzuo, das man im die gnade tuo, das er dann darumb ze buoß ain vaisten ochsen geben muoß. also vergilt er dann das huon. (1 - 19) Es ist eine Kalkulation, die hier aufgemacht wird. Das proportionale Mißverhältnis, daß jemand für ein Huhn mit vier Pferden aufkommen muß, oder noch schlimmer, vor Gericht gestellt (in täding stan, 14) und zu einer Entschädigung verurteilt wird, die gar einen ganzen Mastochsen für die lächerliche Henne vorsieht, zeigt die Verkehrung von Recht in Unrecht. Wie schon in der Unschuldigen Mörderin, begegnet uns die Vorstellung von Gerechtigkeit als einer proportionalen Größe, arithmetisch verstandene Gerechtigkeit ist Ausgewogenheit, Richtigkeit. Auch juristisch muß das Verhältnis von Vergehen und Buße stimmen, ein Gedanke, der sich etwa im Grundsatz der Talion wiederfindet. 545 Die rechtliche Bestimmung des Schadensersatzes, die in so einem Fall greift, besagte, der Schuldner habe den Zustand wieder herzustellen, «der bestünde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre». 546 Mit der beschriebenen Unverhältnismäßigkeit kennzeichnet der Erzähler also eine falsche Rechtsprechung, das Wegfallen verläßlicher Maßstäbe, das zu purer im Vorfeld, das Zustandekommen der rätselhaften Behauptungen, die erste Konfrontation von Pfarrer und Bauer als Streitgesprächsszene, die zweite Konfrontation von Pfarrer und Bauer als Prozeßszene vor dem Bischof) sind Kaufringers Konto gutzuschreiben. Hier liegt die Erklärung für die Komplexität des Verklagten Bauern und gleichzeitig läßt sich daran die Bearbeitungstendenz Kaufringers ablesen, den Stoff zu juridifizieren. 545 Vgl. E. Kaufmann : Art. Talion. In: HRG 5 (1998), Sp. 114 - 118. 546 W. Ogris : Art. Schadensersatz. In: HRG 4 (1990), Sp. 1335 - 1340; Sp. 1338. 248 Modellanalysen Ungerechtigkeit führt: das wirt mit tädingen zuobracht (27) heißt es vorwurfsvoll. Er präsentiert sich als Ankläger: Die Welt ist schlecht, so die als Sentenz verkündete opinio communis, zusätzlich ausgeführt und damit belegt durch die Parabel, die in diesem Sinne als probatio artificialis rhetorischen Beweischarakter hat. 547 Auch daran ist zu erkennen, daß Kaufringer den Kasus, den wir in der lateinischen Literatur als Exempel der Laienfrömmigkeit finden, bewußt engführt. Die Frage des theologischen Richtig und Falsch, welche der im lateinischen Text erzählte Vorfall exemplarisch beantwortet, wird bei Kaufringer zur existentiell-juristischen Frage nach rechtmäßigem Handeln. Möglichkeiten und Grenzen solchen Handelns werden mit dem Kasus des Bauern beleuchtet. Von der Basis einer exemplarischen Prägung des Stoffes aus betrachtet, spitzt Kaufringer den Kasus im Sinne einer controversia zu. Er macht den Bauern zum moralischen Helden und treibt ihn in die Zwickmühle der Entscheidung zwischen dem riskanten Kampf für Gerechtigkeit oder der Sicherheit eines pragmatischen Opportunismus. 5.7 Das Streitgespräch im Verklagten Bauern: Geschichte als auserzählte controversia Die strukturelle Analyse des Textes zeigt, daß er nach einem formalen Prinzip organisiert ist, das auch inhaltlich die Inszenierung der Handlung prägt: Stand in den hier vorgestellten Parallelen das Stoffelement des gerichtlichen Rahmens, mit Bebel zu sprechen, die controversia im Hintergrund oder wurde für die Zwecke exemplarischen Erzählens instrumentalisiert, so wird sie durch ihre Ausgestaltung in Kaufringers Verklagtem Bauern auffällig prominent. Das Bewußtsein für den doppelten kommunikativen Charakter des juristischen Streitgesprächs als Sprachhandlung gibt der Erzähler selbst zu erkennen, wenn er am Ende der Geschichte verkündet: nun ist der krieg gegangen auß an den zwain gesellen her, dem pfaffen und dem richter, die den pauren wollten haun betrogen. so ist es in getaun, wann si nun schadhaft worden sind. (676 - 681) 547 Vgl. Gert Ueding : Einführung in die Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1976, S. 218. Zu den die Beweisführung verstärkenden Beispielen allgemein siehe Quint . V 11, 1 ff. 249 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern Den krieg im Sinne einer Rechtssache 548 hat der Bauer also gewonnen, tapfer gefochten hat er nicht mit Waffen, sondern mit Worten. Im Sinne eines Kampfes mit Worten aber bezeichnet der Begriff kriec im Mittelhochdeutschen das Streitgespräch. 549 Seine Wurzeln hat das literarische Streitgespräch 550 unter anderem in der scholastischen disputatio, die wiederum der argumentatio der klassischen Rhetorik verwandt und damit verpflichtet ist. 551 Im Laufe des 12. Jahrhunderts wird die Disputatio zu einer stark formalisierten Unterrichtsmethode in der Philosophie und Theologie wie auch in der Rechtswissenschaft. Sie erhält eine charakteristisch dialogisch-dramatische Gestalt, die sie [. . .] bis in die Neuzeit bewahrt. 552 Diese dialogisch-dramatische Gestalt ist auch dem Streitgespräch eigen: Literarische Streitgespräche stellen zwei oder mehrere (typisierte) menschliche Figuren, personifizierte Objekte oder Abstrakta einander gegenüber, die um den Vorrang (der von ihnen verkörperten Prinzipien) oder um die Richtigkeit einer Aussage disputieren. 553 Im Laufe der Erzählung vom Verklagten Bauern kommen zwei solcher Disputationsszenen vor: die Auseinandersetzung des Pfaffen mit dem Bauern im Gefängnis, und zum Schluß die große Gerichtsszene mit der Lösung jener drei Rätsel, auf welche die spannungssteigernde Konstruktion der Handlung hinführt. Ganz ähnlich dem Aufbau der Unschuldigen Mörderin, werden vor Handlungsbeginn in einer Art Exposition des Falles vom Erzähler die Umstände referiert und die gegnerischen Seiten vorgestellt. Zuerst ist der 548 Lexer Bd. 1, Sp. 1726; s. v. «kriec». Das Bild von der Rede als Kampfmittel ist im Mittelalter verbreitet, die Vorstellung hat sich manifestiert in der Ikonographie der personifizierten Rhetorik als einer der Sieben Freien Künste, die mit Schwert und im Waffenrock dargestellt wird. Die Rede als Kampfmittel kommt dabei traditionell dem geistlichen Stand zu, dem es angemessen ist, für seine Sache nicht wie die Ritter mit Waffen zu kämpfen, sondern mit Geist und Worten, vgl. etwa den Prolog zum Gregorius Hartmanns von Aue. Um so erstaunlicher ist es, daß hier gerade nicht dem Pfaffen die Kunst der Rhetorik zu Gebote steht, sondern dem Bauern. 549 Vgl. Christian Kiening : Art. Streitgespräch. In: RLW 3 (2003), S. 525 - 529; S. 526. 550 Für das lateinische Streitgespräch vgl. Hans Walther und Paul Gerhard Schmidt : Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters (= Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 5,2). Hildesheim/ Zürich/ New York 1984. Ein berühmtes Beispiel mittelhochdeutscher Literatur ist etwa der Dialog zwischen Ackermann und Tod im Ackermann aus Böhmen des Johannes von Tepl, dazu Kiening (1998). 551 Vgl. Fidel Rädle : Art. Disputatio. In: RLW 1 (1997), S. 376 - 379. Außerdem Kasten (1973). 552 Rädle (1997), S. 377. 553 Kiening (2003), S. 526. 250 Modellanalysen Bauer als ‹ die gute Seite › mit reichlich Sympathie charakterisiert, wobei diese Priorisierung Kaufringer wieder dem lateinischen Exempel naherückt und von den vorgestellten Paralleltexten unterscheidet. Wir erinnern uns an die Neutralität Bebels und des Straßburger Rätselbuchs, die Figurentypen ohne Charakterisierung bieten, und an die französischen Comptes du Monde Adventureux, die sich auf den Pfarrer als negativen Protagonisten konzentrieren und den Bauern als Medium der Pfaffenschelte funktionalisieren. 554 Der Konflikt konstituiert sich sodann in einer eigenen Szene im Pfarrhaus, die dem Publikum die Widersacher des Bauern direkt in Aktion zeigt. Der Stein des Anstoßes für Richter und Pfaffe ist dabei die Sparsamkeit des Bauern, der weder der Kirche spendet noch sich etwas zuschulden kommen läßt, wobei der Richter Einnahmen machen könnte. 555 Diese ausbleibende finanzielle Ehrerbietung für den geistlichen und weltlichen Machthaber des Dorfes veranlaßt zu der Annahme, der Bauer erhebe sich über seinen Stand und wolle nur selber herr sein (66). Um ihn sich wieder undertaun (72) zu machen, soll er als Ketzer entlarvt werden. Dies fällt ins Aufgabengebiet des Pfarrers: er ist auch nit ain guoter krist; / das bewär ich in kurzer frist. (73 f) Der Erzähler nimmt sich hier schon weitgehend aus dem Geschehen heraus und läßt die Figuren in direkter Rede ihre Meinung und Sicht auf den Fall vortragen: Aus diesem Dialog zwischen Pfarrer und Richter resultiert das handlungserregende Moment ihrer Verschwörung, die sie zu Gegenspielern des Bauern macht: der richter und der pfaff mit has baid sampt ainander gelüpten das, si wollten darzuo helfen baid, wie si dem bauren fuogten laid. (89 - 92) Mit einer zeitlichen Zäsur von siben tagen (93) beginnt die Handlung als Konfrontation der gegnerischen Parteien. 554 Vgl. zur Besonderheit der Figur des Bauern bei Kaufringer auch Stede (1993), S. 41, Anm. 1, die darauf hinweist, daß in der Version des Hans Sachs die Bauernfigur negativ konnotiert ist. 555 Dies erklärt sich durch die Gewohnheit, daß der Rechtsbrecher einen Ausgleich für die Rechtsverletzung auch an den Richter als Stellvertreter der öffentlichen Gewalt zu leisten hatte, die sogenannte wette oder das gewette, vgl. E. Kaufmann: Art. Buße. In: HRG 1 (1971), Sp. 575 - 577; Sp. 576. Im Schwabenspiegel LandR I 80 heißt es, zit. nach Derschka Schwabenspiegel (2002), S. 70: «Für jede Schuld, für die der Mann eine Buße erhält, erhält auch der Richter ein Gewette.» 251 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern 5.7.1 Erster Teil: Verlagerung der argumentatio von der Figurenaktion in den Dialog In dieser Vorgeschichte bahnt sich die Auseinandersetzung auf der Ebene der Figurenaktion an, indem das argumentative Modell der später folgenden dialogischen Konfrontation zwischen Pfaffe und Bauer vorgezeichnet wird: Dies geschieht durch die Provokationsversuche des Pfarrers, auf die der Bauer jedoch eine Erwiderung verweigert. Die argumentatio I 556 ist gewissermaßen als Vorbereitungsphase für die großen Redeszenen zwischen Pfarrer und Bauer zu lesen, während welcher die Argumente gesammelt werden, die später den dialogischen Schlagabtausch bestimmen. Auch die Erzähltechnik der Perspektivierung des Geschehens, die die beiden Streitgesprächsszenen prägen wird, indem der Erzähler dort beinahe ganz verstummt und die Diskussion des Kasus den Figuren selbst überläßt, ist hier bereits zu bemerken. Der Schlagabtausch zwischen Pfarrer und Bauer kommt in Gang mit der öffentlichen Behauptung des Bauern, das Unwetter sei gut gewesen. Nun reagiert der Pfarrer darauf nicht mit einer Erwiderung (refutatio), wohl aber bekommt der Rezipient mitgeteilt, was er dazu denkt. Er vermerkt dieses Vorkommnis als Argument für seinen Plan, den Bauern als Ketzer zu überführen: darbei mag man sich verstan,/ das er nit ist ain kristen guot (126 f). Nach dem Vorkommnis des Unwetters sind es auch weiterhin die ‹ besonderen Umstände › , die diesen Kasus konstituieren: Just während einer Festtagsmesse will der Bauer auf dem Kirchhof lautstark Handel treiben. 557 Der Pfarrer wertet dies als persönlichen Angriff und holt seinerseits zur öffentlichen Anklage des Bauern aus (probatio). 558 Ziel des Pfaffen ist es, mit dieser Provokation in der Kirche den Bauern zum Handeln, nämlich zu einer freiwilligen Herausgabe seiner vil pfenning (68) zu zwingen. Dieser aber verweigert eine Reaktion, er verweigert im dramatischen Sinne den Höhepunkt der Episode, indem er sich eben nicht 556 Vgl. das Schema im Anhang. 557 Das biblische Motiv von Jesus und den Händlern im Tempel dürfte hier anklingen, vgl. Matthäus 21,12. Zur sozialhistorischen Bedeutung von städtischen Kirchhöfen als Orte der Begegnung von Profanem und Sakralem, einerseits Orte der sozialen Zusammenkunft, oft in unmittelbarer Nachbarschaft der Marktplätze, andererseits sakrale Begräbnisstätten, vgl. Arnd Reitemeier : Die Kirchhöfe der Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. In: Jan Brademann und Werner Freitag (Hg.): Leben bei den Toten - Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne (= Symbolische Kommunikation und Gesellschaftliche Wertesysteme 19). Münster 2007, S. 129 - 144. Das Verbot, auf dem Kirchhof Handel zu treiben, ist etwa aus dem Weimarer Stadtrecht von 1433 überliefert, vgl. ebd. S. 129. 558 Zwar nennt der Pfarrer keinen Namen, läßt jedoch auch keinen Zweifel an der Identität des Namenlosen (V. 147 - 166). 252 Modellanalysen von seinem Gegenspieler «fangen» und «in die Richtung des Falles» verlocken läßt. 559 Um in der Terminologie der rhetorischen argumentatio zu sprechen, auf die probatio des Pfarrers erfolgt keine refutatio des Bauern: er wölt sich des nicht nemen an (193). Stattdessen bekommen wir als Erklärung dieser unterbleibenden Reaktion die Innensicht der Figur: er gedacht: «wie ist der sach? sol ich nun sein so bös und swach, das ich ain böser cristen haiß? got selb wol das an mir waiß, das ich des unschuldig pin.» (187 - 191) Eine Psychologisierung, die in diesem Erzählkontext wie die Aussage des Angeklagten wirkt, die seine Unschuld beweist. 560 Danach wechselt die Perspektive wieder zum Standpunkt des Gegners: Der Pfarrer will von seinem Plan nicht ablassen und verstärkt seine probatio mit einer erneuten öffentlichen Anklage (204 - 222). 561 Während dieser zwingt er den Bauern mit einem Trick in die Rolle des Angeklagten: Er kündigt an, mit einem großen Stein nach dem Schuldigen werfen zu wollen und zielt dabei auf den Bauern. Dieser duckt sich reflexartig, der Pfarrer aber wirft den Stein gar nicht, er hat nur so getan, als ob. Damit fälscht der Pfarrer einen Augenscheinbeweis. 562 Abgesehen davon, daß die Aussagen des Erzählers aus dem Prolog über die Rechtsverdreherei von Pfaffen und Richtern hier belegt werden, wird der Fall im Vergleich zu den Paralleltexten durch die beschriebenen Juridifizierungen des Stoffes enorm zugespitzt. Die Handlung hat nun ihren Höhepunkt erreicht: Auf den Konjekturalbeweis des Pfaffen hin kann die Anklage und Gefangensetzung des Bauern durch den Richter als Exekutive weltlichen Rechts erfolgen. Die öffentliche Anklage des Richters markiert hier den Prozeßbeginn, dessen 559 Gustav Freytag und Manfred Plinke : Die Technik des Dramas. 1. Aufl. der Neubearb. Berlin 2003, S. 113. 560 Der Zug von Laienfrömmigkeit, den der Bauer hier zeigt, indem er sich dem direkten Urteil Gottes unterstellt, weist auf die Herkunft des Stoffes aus der Predigtexemplarik. 561 Die detaillierte Darstellung des Falles unter verstärkter Nutzung einer perspektivierenden Erzähltechnik bei Kaufringer wird noch deutlicher im Vergleich zur französischen Parallele aus den Comptes du Monde Adventureux, die ebenfalls das Streitgespräch zwischen Bauer und Pfarrer durch eine Vorgeschichte motiviert. Hier ist die knappe Erzählung aber deutlich auktorial bestimmt, sie wird vor allem für die negative Profilierung des Pfarrers durch den ironischen Erzähler genutzt. 562 Außerdem ist das Motiv eine ironische Referenz auf Joh 8,7: «Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein [. . .]», vgl. Tanner (2005), S. 333 f. 253 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern ‹ dramatische › Bedeutung für das Schicksal des Bauern sich in der Androhung der Todesstrafe abzeichnet 563 : der richter sich da underwand des pauren, da er kom herauß von dem hailigen gotzhauß. er fuort in gefangen hain. er hies in ain ketzer unrain; darumb het er verlorn das leben, wann er sich schuldig het gegeben ze kirchen vor dem volk gemain, da er sich ducket vor dem stain und er damit nit berüert wart; damit hett er sich selbs vermart. (236 - 246) Strukturell betrachtet wird die Austragung des Konflikts hinausgezögert bis zur Gefangennahme des Bauern. Indem nun die Rollen der gegnerischen Parteien klar verteilt sind, geht die Geschichte von der Darstellung des Falles über zur Diskussion des Falles. Damit wird das Zustandekommen einer durch Figurenaktion bestimmten argumentatio, wie sie die Unschuldige Mörderin vor allem kennzeichnet, in diesem Text unterbunden, um den Schwerpunkt auf die Figurenrede, die Auseinandersetzung der Figuren im Streitgespräch zu legen. Wir sind bei der ersten reinen Streitgesprächsszene des Verklagten Bauern angekommen (247 - 347). Einhundert Verse lang nimmt sich der Erzähler fast ganz zurück. Lediglich eine kurze Ortsbestimmung und die Inquit-Formeln zur Kennzeichnung des abwechselnden Sprechens von Pfarrer und Bauer fügt er ein. 5.7.2 Zweiter Teil: Rhetorenkampf - Die status causae im Streitgespräch zwischen Bauer und Pfarrer Die Wirksamkeit einer Tradition rhetorischer Argumentationstechniken in mittelalterlicher Literatur zeigt prominent der Ackermann aus Böhmen des Johannes von Tepl, wo sich der Gesprächsverlauf zwischen Ackermann und Tod anhand der status causae nachvollziehen läßt. 564 Gleichwohl ist gezeigt worden, daß der Ackermann in dieser formalen Tradition bei weitem nicht aufgeht, daß sie vielmehr ein kompositorischer Rahmen ist für die Neukonfiguration einer Fülle verschiedener Traditionen, welche die literarhis- 563 Ketzerei ist im mittelalterlichen Recht meist mit der Todesstrafe durch Verbrennen belegt, vgl. His (1935), S. 21 f. 564 Borck (1963). 254 Modellanalysen torisch spezifische Komplexität des Werkes als Einheit ausmacht. 565 In diesem Sinne ist hier nicht ein schematischer Nachvollzug der Regeln des rhetorischen Argumentationsgangs angezielt, denn auch für den Verklagten Bauern interessieren nicht vordergründig die Abbildung und damit Reproduktion juristischrhetorischer Vorgaben, sondern die narrativen Möglichkeiten, die sich aus der Juridifizierung ergeben. In der rhetorischen Lehre des genus iudiciale wird der Verlauf des Prozesses, also das dialektische Hin und Her der gegnerischen Parteien durch den jeweiligen Zustand konstituiert, in dem sich das Verfahren befindet, den «Streitstand» (status causae). 566 Je nach Beurteilung der Tat gestalten Anklage und Verteidigung ihre Argumentation, wählen die dem Streitfall angemessene Art der Beweisführung. Es gibt vier status causae 567 , die sich «beim ersten Zusammenprall von Anklage und Verteidigung» abzeichnen können 568 : Zunächst der status coniecturalis, dessen Kernfrage in der finiten Formulierung, also unter Einbeziehung des Täters an fecerit? (sinngemäß: Hat er es getan? ) lautet. 569 Sie betrifft «das Verhältnis des (präsumptiven) auctor zum factum», 565 Christian Kiening : Hiob, Seneca, Boethius. Traditionen dialogischer Schicksalsbewältigung im ‹ Ackermann aus Böhmen › . In: Wolfram-Studien 13 (1994), S. 207 - 236, hebt gegen eine formalistische, schulrhetorische Streitgesprächsform mit der Orientierung auf Ende und Urteil die Prozessualisierung des Gesprächs in der Tradition konsolatorischer Dialoge philosophischen Anspruchs hervor. Vgl. Kiening (1998). 566 Vgl. grundlegend Fuhrmann (2008), S. 99 - 113, hier S. 101. Weiterhin M. Hoppmann: Art. Statuslehre. In: HWbRh 8 (2007), Sp. 1327 - 1358. Lausberg §§ 79 - 138 zur allgemeinen status-Lehre und §§ 149 - 223 zur Anwendung der status-Lehre im genus iudiciale. 567 Quint . III 6, 18 - 104. 568 Borck (1963), S. 410. Vgl. Quint . III 6, 4 - 5. 569 Bevor der auctor gefunden ist, lautet im Stadium der Untersuchung des factum die Frage quis fecerit? (Wer hat es getan? ). Literarisch wird diese Frage zum Leitmotiv des roman policier, des Kriminalromans oder der Kriminalerzählung, die klassischerweise mit dem factum beginnt, siehe Lausberg § 153. Diese Erzählstruktur ist nicht nur in der Literatur, sondern vor allem im Film sehr erfolgreich, allgemein bekannt durch Alfred Hitchcock oder etwa den Tatort im deutschen Fernsehen. Sie ist jedoch schon im Mittelalter zu finden, so nennt Lausberg Chrétiens Yvain V. 1206 ff. Kaufringers Texte sind vor der Folie dieses Erzählmusters sehr gut zu typisieren, denn sie funktionieren genau andersherum: Alle Fragen zu Tat und Täter werden von Anfang an beantwortet, denn der erste Teil eines jeden Textes ist die eigentliche Erzählung des Falles, dessen Konstituenten hiermit klar auf der Hand liegen. Wonach die Texte aber nun fragen, ist die Beurteilung des Falles, indem die Perspektiven und Meinungen verschiedener Figuren kontrastiert, über die Erzählstruktur bereits erzählte Lösungen in Frage gestellt werden. 255 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern das in Zweifel gezogen ist. 570 Das heißt für die Situation des Rechtsprozesses, der Angeklagte leugnet die Tat und die Anklage muß dementsprechend Beweise vorbringen, um ihn als Täter zu überführen. Im status definitivus - Kernfrage quid fecerit? (sinngemäß: Was hat er getan? ) - stehen die Tat und der Angeklagte als Täter eindeutig fest, es ist jedoch die Art und das Ausmaß des Vergehens zwischen Ankläger und Angeklagtem strittig. Im status qualitatis, der bestimmt wird über die Frage an recte fecerit? (sinngemäß: Hat er rechtmäßig gehandelt? ), steht der Beschuldigte ebenfalls zu seiner Tat, sieht diese jedoch nicht als Vergehen, sondern als rechtmäßige Handlung an. Schließlich gibt es den status der translatio, in welchem der Angeklagte die Kompetenz des Gerichtshofs anficht oder das ius actionis des Klägers in Frage stellt. Auch die hier zu betrachtende Gesprächsszene zwischen Bauer und Pfarrer ist bei genauem Hinsehen nicht einfach eine Unterhaltung, sondern eine rechtlich kodierte Verhandlung des Vorgefallenen. Sie findet nach öffentlicher Anklage und Verhaftung des Bauern im Haus des Richters statt, das hier als Gefängnis und damit offizieller Vollzugsort der Rechtsprechung dient. 571 Zeugen sind ebenfalls anwesend, wie der Erzähler nicht vergißt zu bemerken: Da der paur gevangen was, sein fraind da nicht liessen das, si komen schier zuo im dar und ander lüt ain michel schar. si clagten in all geleich. (247 - 251) Der von Pfarrer und Richter angeklagte Bauer gibt zunächst zu verstehen, daß er sich keines Vergehens bewußt ist: ich waiß kain schuld auf mir nicht, damit ich wider gaistlich gericht und auch das weltlich hab getan. der pfaff der liugt mich boßlich an. ich widersprich zwar all sein sag. (253 - 257) Es ist der status coniecturalis gegeben, der Angeklagte leugnet die Tat, die Beweislast liegt beim Kläger. Prompt verkündet auch der Pfarrer: ich will bewären das,/ das du pist an tugenden las (263 f). Er tritt also die Beweisführung an, hat er doch die Äußerung des Bauern anläßlich des Unwetters als Argument für dessen ketzerisches Wesen in der Hinterhand. Deswegen glaubt sich der 570 Lausberg § 155. 571 Das Gefangennehmen einer Person und die Freiheitsstrafe steht im Stadtrecht in Verbindung mit dem Vergehen der Ketzerei, vgl. Art. Freiheitsstrafe. In: HRG² 1 (2008), Sp. 1238 f. 256 Modellanalysen Pfaffe immer noch im Vorteil und durchschaut auf keine Weise die geschickte Argumentation des Bauern. Als dieser die vermeintlich unbedachte Behauptung äußert, er habe zuhause das himelreich und der helle pein (280), freut sich der Pfarrer, ein weiteres Anklageargument für seinen Vorwurf der Ketzerei gefunden zu haben. Er ist auch sogleich bemüht, sich unter den Anwesenden Zeugen zu sichern 572 : ir herren, nun merkent all geleich die red, die er getaun hat, wann die wider den glauben stat! ob er ir laugnet fürebas, ich muos mit ew beziugen das. (286 - 290) Jetzt geht mit der Reaktion des Bauern die Auseinandersetzung in einen neuen Zustand über. Der Angeklagte gibt die Tat zu, er steht zu seiner Äußerung und behauptet sogar, sie sei nicht ketzerisch, denn er könne beweisen, daß sie wahr sei: zwar ich laugen nicht. kain fraiß mir umb die red geschicht, wann ich die wol bewären mag. (291 - 293) Im status qualitatis stellt sich nun die Frage an recte fecerit? Hat der Angeklagte tatsächlich rechtmäßig gehandelt, wie er es behauptet - in diesem Falle also: Ist die Aussage des Bauern wahr? Dies zu beurteilen, scheint der Pfarrer sichtlich überfordert: Er durchschaut nicht den Gestus des mehrdeutigen Sprechens, der hinter den rätselhaften Behauptungen steckt. Um so amüsanter, daß der Pfarrer gerade in diesem Augenblick den Bauern beschimpft, er erfasse die Brisanz der Situation nicht: mit deinen witzen, die clain sind./ du pist mit sehenden augen plind. (297 f) Mit der Behauptung, den Beweis für seine Aussage antreten zu können, ergreift der Bauer nun die Initiative und bringt sich damit aus der passiven Lage des Angeklagten als abwehrender Partei (pars recusantis) in die positiv-aktive Stellung der angreifenden Partei (pars agentis). Diese wiederum ist von einer solchen Entwicklung des Gesprächs sichtlich überfordert. Dem Pfaffen fällt kein Argument mehr ein, außer ein letzter Versuch, den Bauern doch noch zu einer außergerichtlichen Einigung zu bewegen, wie sie eigentlich das von Pfarrer und Richter anvisierte Ziel der ganzen Aktion war: von deiner dorothen weis noch ker! ich pring dich von dem richter, 572 Vgl. die Bedeutung des Augenscheinbeweises im mittelalterlichen Gerichtsprozeß, Schmidt-Wiegand (1996), S. 39; s. v. «Augenschein». Dementsprechend handelt es sich hier um Ohrenzeugen. 257 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern das er dich unverdorben lat, wiltu volgen meinem rat. (299 - 302) Der Bauer aber macht von diesem Angebot keinen Gebrauch. Von den rechtlichen Sanktionen, die der Pfarrer hier androht, läßt er sich nicht einschüchtern. Er verlagert seine Argumentation auf eine höhere Ebene, indem er grundsätzlich die Legitimation der Anklage in Frage stellt. ich haun gar nichtz ze schaffen mit ew noch mit dem richter. ir habt mich pracht in große swär gar und genzlich oun all schuld. ich bedarf nicht des richters huld. (304 - 308) Das Streitgespräch ist nun im status translationis angekommen: Der Angeklagte zweifelt die rechtliche Kompetenz des ihn festhaltenden Richters und Pfaffen an. Mit dem Vorwurf eines unrechtmäßigen Handelns von Pfarrer und Richter begibt er sich außerdem weiter aus der Rolle des Angeklagten in die des Klägers. Um aus der Gewalt seiner korrupten Ankläger in die Obhut einer höheren rechtlichen Instanz übergeben zu werden, bedient sich der Bauer jener zweiten rätselhaften Behauptung, sein Pferd sei viel klüger als der Pfaffe (310 - 313). Diese Beleidigung kann der Pfarrer nun nicht mehr auf sich sitzen lassen. Er versichert sich wieder seiner Zeugen, wobei er sich mit der Wiederholung der frechen Formulierung selbst lächerlich macht: hört, gesellen mein, er hat gesprochen wider mich, sein ros sei witziger dann ich (316 - 318) Dann teilt er dem Bauern mit, daß er zu seinem herren, dem bischof (338) reiten wolle, um ihn dort anzuklagen wegen der drei artickel (340), also der drei Äußerungen, die seine ketzerische Absicht verrieten. Der Bauer hat sein Ziel erreicht und kommentiert zufrieden: ich beger nicht mer, wann das ich vor dem bischof her und vor seinem weisen rat engelte meiner missitat und meiner unschuld genieß. (343 - 347) Diese zweideutig Missetat und Unschuld parallelisierende Formulierung verrät schon, was der Bauer vorhat. Er hat die Disputation mit dem Pfaffen ganz bewußt in diese Richtung gelenkt, weil er damit rechnet, daß ihm der Bischof (als sein ‹ Arbeitgeber › ) gewogen sein wird, und er so die Möglichkeit haben wird, durch die Auslegung der konstruierten Aussagen seine Unschuld und gleichzeitig die Schuld des Pfaffen zu beweisen. Einen ersten Sieg trägt er 258 Modellanalysen bereits davon, denn er wird vorläufig auf freien Fuß gesetzt, unter der Auflage seiner erneuten Arrestierung bei Verlieren des Prozesses (348 - 356). 573 Der Verlauf des Streitgesprächs ist nicht zufällig, sondern läßt uns in dem Bauern einen geschickt disputierenden Strategen erkennen, der sich dem Pfarrer weit überlegen zeigt. Kaufringer ist damit der einzige Vertreter der Stofftradition, der das Gewicht dezidiert auf das Zustandekommen der rätselhaften Behauptungen legt: Er läßt Pfaffe und Bauer in einen rhetorisch gestalteten Dialog treten und nutzt die Effekte daraus. Während also sonst die controversia im Sinne eines formlosen, eines privaten Streits nur den statischen Erzählrahmen bildet, interessiert sich der Verklagte Bauer vor allem für ihren juristischen Aspekt und gestaltet ein öffentlich abgehaltenes, rhetorisch durchformtes Streitgespräch. Die Juridifizierung des Stoffes zeigt sich auch darin, daß die enthymemische Struktur der Behauptungen vom Bauern taktisch eingesetzt wird, um das Gespräch zu steuern. Er nutzt damit ihren Rätselcharakter für seine Argumentation: Auf der Produktionsebene werden bei Kaufringer die Rätsel der Figur des Bauern dienstbar gemacht. Nicht sie selbst sind als isoliertes facete dictum das unerhörte, das aufsehenerregende Moment der Geschichte, wie wir dies bei Bebel und im Straßburger Rätselbuch beobachten konnten, sondern sie dienen dazu, die Bauernfigur als besondere zu charakterisieren. Denn deren rhetorische Überlegenheit bekommen wir hier ausgiebig vorgeführt. Es ist diese besondere Fähigkeit des Bauern, die den Umschwung in der Handlung einleitet, der zuerst negativ scheint (Anklage vor dem Bischof), sich dann aber zu seinen Gunsten auswirken wird. Der Bauer strebt, und das ist das unerhörte Ereignis dieser Geschichte, eine weitere öffentliche disputatio mit dem Pfaffen über den Vorwurf der Ketzerei an - unter dem Gerichtsvorsitz des Bischofs. Von der Betonung der formaljuristischen Vorgänge im Verklagten Bauern, die zum eigentlichen Gestaltungsprinzip der Handlung werden, zeugen die Zwischenszenen, welche die Prozeßvorbereitungen (das Vorsprechen der beiden Parteien beim Bischof) verfolgen lassen. Daß die Gerichtsinstanz hier kirchlich und nicht weltlich ist, entspricht der mittelalterlichen Ausübung des kanonischen Rechts: Sowohl ratione personarum ist das kirchliche Gericht hier zuständig, weil ein Geistlicher in den Prozeß involviert ist, als auch ratione rerum, weil der Bauer wegen Ketzerei angeklagt ist, es sich bei dem Fall also um 573 Solche zusätzliche Beschreibungen der juristischen Vorgänge rund um die Entwicklung des Falles machen die authentische Wirkung der Erzählung vom Verklagten Bauern aus und zeugen gleichzeitig von einem Interesse Kaufringers für rechtliche Abläufe. 259 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern eine causa spiritualis handelt. 574 Nach kanonischem Recht kann der Bischof jederzeit selbst - und nicht etwa durch die Vertretung eines Offizials 575 - rechtsprechen. Angezeigt ist dies hier auch durch die Weigerung des Bauern, den vom Pfarrer korrumpierten Richter als rechtliche Instanz anzuerkennen und die Übereinstimmung der beiden Parteien dahingehend, die rechtliche Zuständigkeit dem Bischof zu übertragen ( ‹ Prorogation › ). 576 Abgebildet scheint mit den Szenen, die nacheinander den Pfarrer und den Bauern zeigen, wie sie beim Bischof vorstellig werden, der formaljuristische Vorgang der Litiskontestation 577 , der Streitfestlegung: Der Pfarrer als Kläger wiederholt mündlich seine Klage beim Bischof, der angeklagte Bauer widerspricht den Anschuldigungen und teilt seinen Entschluß mit, die Sache auf dem Rechtsweg zu klären: mit ewrn genaden oun alle dro/ will ich das bewären wol/ vor ewrn räten, als ich sol (420 - 22). 5.7.3 Dritter Teil: Zwischen Prozeßdrama und Rätselspiel - Gericht und Geselligkeit Was nun in der Schlußszene folgt, ist einerseits die Inszenierung eines Gerichtsprozesses, sozusagen als Höhepunkt der juridifizierten Darstellung des Stoffes: Wie sonst nirgends in den Parallelen ist der Fokus damit auf das juristische Prozedere selbst gerichtet. Andererseits werden hier auch - gemäß der Vorgabe der materia - die vom Bauern aufgestellten Rätsel gelöst, wobei sich diese Lösungen mehr und mehr narrativ entfalten. Eine Überlagerung, die letztlich den Konstruktcharakter des gesamten Kasus überdeutlich werden 574 Vgl. W. Trusen: Art. Gericht, Gerichtsbarkeit. III. Kanonisches Recht. In: HRG 4 (1989), Sp. 1325 f. 575 Der Offizial ist ein vom Bischof eingesetzter ständiger Richter, siehe W. Trusen: Art. Offizialat. In: HRG 3 (1984), Sp. 1214 - 1218. 576 Trusen (1989), Sp. 1326: Es bestand auch eine Zuständigkeit des geistlichen Gerichts, «durch Prorogation nach dem Willen beider Parteien, sowie in den Fällen des Defekts der weltlichen Gerichtsbarkeit, der Rechtsverweigerung, aber auch der Gewohnheit.» 577 Dieser Prozeßschritt findet sich auch in einigen mittelalterlichen Fastnachtspielen, die gerne die ‹ natürliche › Performativität der Gerichtsszene als Darbietungsform nutzen. Meist geht es um Eherechtliches, so etwa in Der Baurn Flaischgaden Vasnacht (Adelbert von Keller : Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert. 3 Bde. Stuttgart 1853 - 1858, Nr. 88) oder in den Fastnachtspielen von der actio de sponsu (etwa Keller (1853 - 1858), Nr. 115 u. 130.) Siehe Friedrich Wilhelm Strothmann : Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv in der deutschen Literatur des ausgehenden Mittelalters. Jena 1930, S. 6 - 14; S. 10 f speziell zur Litiskontestation. 260 Modellanalysen läßt: Der kriec zwischen Bauer und Pfarrer findet hier seinen Abschluß, er wird ausgetragen als juristisch inszenierter Wortkampf, aber mit poetischen Mitteln. Es wird eine Situation geschaffen, die, wie die abschließende Gerichtsszene der Rache des Ehemannes, zwischen Geselligkeit und Gericht changiert. Die Ambiguität von Authentizität und Fingiertheit prägt schon den Zeitpunkt und die Umstände, unter denen das Schlußtableau des Gerichtsprozesses stattfindet: Der Sonntag als Gerichtstag ist historisch eher ungewöhnlich. 578 Seltsam ist auch der Auftakt des Prozesses als Festmahl in geselliger Runde. Der Bischof mit seinen Räten und Juristen wird vom Bauern bewirtet: der paur gar frölich her truog guoten wein und kost mit rat. si lebten wol und wurden sat und pflagen hohes muotes vil. (460 - 463) Obwohl mit dem Eintreffen der gegnerischen Partei (widertail, 467) in dem Moment, als man die Tafel aufhebt (so man die tisch aufheben will, 464) eine Trennung der beiden Sphären angedeutet wird, ist diese situative Verbindung von Festmahl und Gerichtsverhandlung bereits ein Vorzeichen dafür, wie im Folgenden das ‹ rechtliche › Erzählen, das Darlegen des Falles und der Argumente (intradiegetisch für die Rechtsversammlung) über die integrierten Rätsel zum unterhaltenden Erzählen von Geschichten (intradiegetisch für die Festgesellschaft und extradiegetisch für den Rezipienten) wird. Zunächst zur Gestaltung des juristischen Prozeßverlaufs bei Kaufringer: Während in den Parallelen die prozessuale Makrostruktur von Anklage (Pfarrer) und Verteidigung (Bauer) immer dazu dient, die Dreiergruppe der Rätsel und danach die Dreiergruppe ihrer Lösungen geschlossen zu präsentieren - erstens, zweitens, drittens 579 - , wird dieses Strukturprinzip bei Kaufringer dynamisiert. In den Comptes du Monde Adventureux etwa ist ein Richter mit von der Partie, ihm wird aber keine eigene Stimme verliehen. Sein Urteil referiert am Schluß der Erzähler, nachdem streng getrennt Anklage und Verteidigung gesprochen haben. Im Verklagten Bauern dagegen werden 578 Vgl. etwa die Bestimmungen des Schwabenspiegels (LandR II 250) über den Sonntag als Tag des ‹ Gottesfriedens › , an dem nur in Ausnahmefällen Gericht gehalten werden solle. Derschka Schwabenspiegel (2002), S. 161 f. Willers (2002), S. 30 sieht in der Festlegung des Sonntags als Gerichtstag ein «schwankhaftes Handlungselement», strukturell gehe hier der Text in den Schwank über. Meiner Meinung nach gestaltet sich der Text jedoch komplexer und diese Komplexität ergibt sich gerade aus der konstruierten Überlagerung von ‹ authentischer › Ernsthaftigkeit und ‹ literarischem › Spiel. 579 Dies ist auch die Form, die im Straßburger Rätselbuch als Gegenüberstellung von Rätseln und Antworten bei aller Reduktion des Narrativen übrigbleibt. 261 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern die drei Rätselbehauptungen als eigenständige Anklagepunkte auseinandergezogen und ihre Lösungen einzeln diskutiert. Der Bischof als Richter, der Pfarrer als Ankläger und der Bauer als Angeklagter treten miteinander in direkten Dialog, hinzu kommt sogar noch die zusätzliche ‹ buchgelehrte › Perspektive der bischöflichen Juristen. Durch diese Aufsplitterung der Perspektiven im Prozeßverlauf und den tatsächlich abgebildeten Vorgang des Verhandelns über die Rätsellösungen verlieren diese an anekdotischer Originalität. Sie werden für die Argumentation des Bauern funktionalisiert. 580 Daß es hier vor allem um die Figur des Bauern geht, zeigt schon die individuelle Modifikation der Rätsellösungen bei Kaufringer: Als Argumente sind sie nach rhetorischem Evidenzgrad steigend angeordnet. Das stärkste Argument des Bauern im Wortstreit gegen den Pfarrer ist die Auflösung der Äußerung, sein Pferd sei klüger als der Pfarrer. Entsprechend findet sich hier auch die auffälligste Modifikation Kaufringers der Stofftradition gegenüber: Die Analogie zwischen Pferd und Pfarrer erschöpft sich nicht einfach darin, daß letzterem das Laster der Trunksucht nachgewiesen wird. Die Rechtfertigung des Bauern wächst sich zu einer eigenen ‹ Erzählung in der Erzählung › aus, die ihre Beweisfunktion überschreitet. Auf sie wird gleich noch zu kommen sein. Zunächst ist aber zu beobachten, daß die Funktionalisierung der drei ‹ Aussagen › des Bauern als Sprechakte des Beweisens im Gerichtsprozeß bereits stufenweise an Griffigkeit verliert. Schon die Notation der Sprechreihenfolge 581 ergibt, daß der Bauer immer mehr Redeanteile gewinnt, immer deutlicher zu der Figur wird, die erzählend das Geschehen beherrscht. Bei seiner ersten Rechtfertigung beweist der Bauer die Wahrheit seiner Behauptung, das Unwetter sei gut gewesen, indem er erklärt, nach seinem laientheologischen Verständnis (als es erkennt das herze mein, 508) einen Sinn in Gottes Werk zu finden, es sei eine Ermahnung an die sündigen Menschen. Der Beweisgang zu seiner zweiten Behauptung ist vor allem ein Augenscheinbeweis, birgt jedoch die Geschichte der seit einer unvorstellbaren Zeit von 28 Jahren bettlägerigen Mutter. Hier erzählt zwar nicht der Bauer selbst, der Erzähler jedoch macht die Besichtigung von Himmel und Hölle, die der Bauer in seinem Haus zu haben behauptet, zum Erlebnis mit infernalischen An- 580 Interessanterweise ist dieselbe Tendenz für die Comptes du Monde Adventureux festzustellen: Die Rätsel werden zu Argumenten expliziert und die sprachliche Pointe ihrer prägnanten Formulierung damit dekonstruiert. Im französischen Text wird die Pointe jedoch dadurch nur auf eine andere Ebene verlagert, nämlich auf die des Erzählerkommentars, den die erwiesene theologische Unfähigkeit des Pfarrers somit berechtigt, generelle Kritik an der Geistlichkeit zu üben. Die einzelnen Rätsel dienen hier also auch als Beweise, allerdings nicht intradiegetisch für die Unschuld des Bauern, sondern extradiegetisch dem Erzähler. 581 Vgl. das Schema im Anhang. 262 Modellanalysen klängen: für ain vinster gaden führt der Bauer den Bischof und sein Gefolge, darauß gieng böses schmackes vil/ nacht und tag oun endes zil (551 f). Schließlich die dritte Rechtfertigung: Die Vorführung des Pferdes, das klüger sein soll als der Pfarrer, ist nun lediglich noch die Geste, die das Erzählen in Gang setzt, denn zur Klärung des Wahrheitsanspruchs dieser Behauptung bedarf es der zugehörigen Geschichte. Diese baut sich über 56 Verse spannungsreich auf, ohne daß man zunächst erraten könnte, worauf die Anekdote hinausläuft: Der eilige Ritt des Bauern zur Kirche, der mißglückte Sprung über den Graben und die ‹ Konsequenz › des klugen Pferdes, denselben Fehler nicht zweimal zu machen. Schließlich die überraschende Enthüllung der pfaff dem richter minnt das weib (539), deren Wirkung ebenso auf ihrer langen Vorbereitung wie auf der zunächst seltsamen Uneinsichtigkeit des Analogieschlusses beruht. Das Pferd ist einmal ‹ hereingefallen › - die Begebenheit mit dem Graben ist nicht zufällig gewählt, sondern die narrative Konkretisation einer metaphorischen Wendung - und hat daraus gelernt, der Pfarrer ist schon mehrmals hereingefallen und hat nicht daraus gelernt: darumb ist er wol dreistund/ ser geslagen und worden wund/ (. . .) noch mag er nicht gelassen das (641 - 644). Ergo, das Pferd ist klüger als der Pfaffe. Die humoristische Pointe beruht auf dem Schwankprinzip: Nicht nur die Wahrheit seiner Behauptung hat der Bauer mit dieser Erzählung bewiesen, unversehens ist der Pfarrer auch zum Ehebrecher, der Richter zum betrogenen Ehemann geworden. 582 Das altbekannte literarische Schwankmuster vom ‹ Pfarrer als bestraftem Ehebrecher › wirkt als juristisch-rhetorische Operation sozialausgleichend: Mit Hilfe des Schwanks, indem er die Rätsellösung erzählend ausformt, kann der Bauer über den Pfarrer triumphieren; er entzieht ihm das ius actionis als Ankläger und lenkt die juristische Aufmerksamkeit stattdessen auf seine missitat (634). Der juristische Prozeß endet also in einer literarischen Pointe: Die kunstvoll angelegte Argumentation des Bauern mittels der Lösungen seiner rätselhaften Aussagen läuft auf den Höhepunkt einer Ehebruchsgeschichte zu. Ein Spiel mit Literarizität und Authentizität: Obwohl die Verwendung juristischer Termini 583 und der formalisierte Prozeßgang zur authentischen Wirkung der Szene beitragen, wird Authentizität jedoch nicht in Hinsicht auf die Abbildung des 582 Daß gerade der Richter, mit dem der Pfarrer gemeinsame Sache macht, in der Erzählung des Bauern der betrogene Ehemann ist, desavouiert ihn zugleich mit dem Pfarrer und demonstriert zudem die Korrumpierbarkeit der Richterfigur, auf die der Erzähler schon zu Beginn hingewiesen hatte (V. 78 - 80). 583 Gerade die Schlußszene enthält sehr viele Rechtsvokabeln und Rechtssprüche, vgl. dazu die Übersetzung im Anhang, S. 249 - 264. Beispielhaft ist die Formalisierung der Sprache zum juristischen Sprechakt für die Figur des Bischofs, der sich in ‹ Teilurteilen › zu den einzelnen Beweisen des Bauern äußert und folgendes Schluß- 263 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern Gerichtsprozesses angestrebt, der Text bemüht sich vielmehr um die Gestaltung einer authentischen Kommunikations-, einer Erzählsituation. Denn die einzelnen Lösungen der rätselhaften Aussagen bekommen einen Doppelcharakter: Sie sind Verteidigungsargumente im Rahmen des Gerichtsprozesses, öffnen aber gleichzeitig das Türchen zum Freiraum der narrativen Gestaltung einer völlig neuen Geschichte, lassen den Bauern zum Erzähler werden. Durch die Inszenierung der Prozeßszene wird eine direkte Kommunikation der Figuren ermöglicht 584 , ein Vorführrahmen für das Erzählen geschaffen, gleichzeitig die Situation mit einer existentiellen Bedrohlichkeit aufgeladen: Der Kasus ist zugespitzt auf das individuelle Schicksal des Bauern, dem die Todesstrafe droht (vgl. V. 240 - 242). Das eigentliche Vergnügen an der Rätselform bereitet Kaufringer ihre strukturelle Eignung als Disputationsgegenstand. 585 Auf dem dialektischen Vorgang des Wortstreitens, der Verhandlung des Kasus, die in der Form des Gerichtsprozesses am besten vorgeführt werden kann, liegt die Aufmerksamkeit. Hier wird Beweisen zu Erzählen und Erzählen zu Beweisen. 586 Pfarrer und Richter werden nun vom Bischof verurteilt: ir weißhait ward ze ainem wind (682). Der Bauer hat sich damit selbst gerettet und geht als Gewinner aus dem Prozeß und aus der Geschichte hervor. urteil formuliert: «der baur hat recht mit aller sach.»/ er sprach zuo dem pfarrer swach: / «ir hapt im unrecht getan; / des müest ir mir ze buosse stan.» (655 - 658) 584 Wie schon im Streitgespräch zwischen Bauer und Pfarrer beschränkt sich der Erzähler meist auf die Inquit-Formeln und den gelegentlichen Bericht von Vorgängen ‹ auf der Bühne › , die nicht durch direkte Figurenrede vermittelt werden können. 585 Mit dem Begriff des ‹ Halslöserätsels › betont Jolles (1974) das existentielle Ausmaß des rhetorischen Kampfes um Wissen, S. 131 f sieht er die Struktur des Rätsels im Alltag sogar in der Gerichtsverhandlung speziell ausgeprägt, und zwar «als Verhältnis von Personen»: «Bei dieser Gerichtssitzung ist es der Richter, der wissen muß, der Angeklagte, der weiß. Auch hier ist es Lebenspflicht, Lebensnotwendigkeit des einen, das Wissen des anderen zu ergründen. Der Angeklagte gibt hier das Rätsel auf, gelingt es dem Richter nicht es zu raten, so hört er - jedenfalls hic et nunc - auf, Richter zu sein.» Überlegungen zur ‹ Waffe › des Rätsels im dialogischen Agon der Wartburgkriege bei Strohschneider (2010), S. 110. 586 Grubmüller (1996 a), S. 245 f vertritt die These, es handle sich hier um «Beweisen durch Erzählen», indem die Erzählung des Bauern die rhetorisch-argumentative Funktion des Exempels demonstriere. Dies ist m. E. nur eine Seite einer sich ständig wendenden Medaille. 264 Modellanalysen 5.8 Das schwankhafte Erzählmuster vom Sieg des kleinen Mannes: Der Bauer als moralischer Held bei Kaufringer Als «keineswegs dörperlicher oder dümmlicher Bauer» 587 fällt die Bauernfigur bei Kaufringer sowieso schon aus dem Rahmen der Gattung 588 , umso erstaunlicher ist ihre Inszenierung als triumphierende Partei im Streitgespräch und im Prozeß. Dieser Bauer ist kein Tölpel, wie ihn die Tradition des schwankhaften Märes kennt. Eine «geringschätzige Beurteilung des dritten Standes» läßt ihn dort als den «Typus der komischen Figur, ein Objekt herablassenden Spottes», und meist «in der Rolle des Einfältigen und Überlisteten» erscheinen, «ohne daß man Feindschaft gegen ihn empfände.» 589 Auch beim Teichner, einem vermutlich nur wenig älteren Zeitgenossen Kaufringers, im Verbund mit dessen Reimpaarsprüchen Kaufringer-Texte in der Handschrift Mgf 564 überliefert sind 590 , überwiegt jene geringschätzige Grundhaltung der Figur des Bauern gegenüber: «faul, gefräßig, zuchtlos». 591 Das Verhalten der Widersacher beim Aushecken ihres Plans, wie sie dem Bauern Schaden zufügen könnten, ist ein Spiegel solcher Figurentypik: Würdenträger wie Pfarrer und Richter, einem Bauern an Stand und Bildung überlegen, betrachten diesen nicht als ernsthaften Gegner in einem Rechtsstreit. Selbstgewiß formuliert der Pfarrer dem Richter gegenüber sein Vorhaben, worin der Bauer nur als vollkommen berechenbare Größe erscheint: welt ir mir helfen nur darzuo, ich lauß im niendert kain ruo, sein gewalt der muoß ain end haun und uns auch wesen undertaun. er ist auch nit ain guoter krist; das bewär ich in kurzer frist. darin habt ir dann ewer buoß, seit ich die warhait sagen muoß. (69 - 76) Die Assoziation der Bauernfigur im Schachspiel liegt wohl nicht fern. Die beiden Verschwörer trauen dem Bauern keinerlei spontan individuelles Reaktionsvermögen zu, die Schritte, die er machen kann, sind in ihrem Plan vorausberechnet, und sie gehen davon aus, daß er so ‹ funktionieren › wird, wie 587 Sappler (1983), Sp. 1081. 588 Vgl. auch Stede (1993), S. 40. 589 Vgl. Schirmer (1969), S. 312. 590 Vgl. Sappler (1972), S. Xf. 591 Heribert Bögl : Soziale Anschauungen bei Heinrich dem Teichner. Göppingen 1975, S. 89. Man könnte hier u. a. auch noch auf die Bauern als Protagonisten im satirischen Ring des Heinrich Wittenwiler verweisen. 265 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern sie es für den Ablauf ihrer List kalkuliert haben. Daß er sich jedoch anders verhält, ihnen etwas entgegenzusetzen hat, indem er sich eben nicht einschüchtern und auf seine Rolle festlegen läßt, kennzeichnet das novellistische Ereignis dieser Erzählung, macht sie zum unerhörten Fall. Wie die Dame in der Unschuldigen Mörderin, wie letztlich alle Protagonisten der hier behandelten Kaufringer-Texte, zeichnet auch diesen Protagonisten die Tatsache aus, daß er im entscheidenden Moment die Typik seiner Rolle verläßt und sein Schicksal selbst bestimmt. Nun könnte man einwenden, das gehöre letztlich zum schwankhaften Erzählmuster des Typs «sozial Unterlegener überlistet sozial Überlegenen», dessen älteste schriftliche Ausformung der mittellateinische Unibos darstellt. 592 Auch hier ist der Protagonist ein Bauer, genannt Einochs, weil er so arm ist, daß er nur einen Ochsen besitzt. Er muß sich gegen die drei mächtigsten Männer des Dorfes - Bürgermeister, Vogt und Pfarrer - durchsetzen und überlistet sie schließlich. Auch der Unibos spielt in einer realistisch erzählten dörflichen Szenerie. Auch hier ist eine Auseinandersetzung zwischen den Großen und den Kleinen der mittelalterlichen Gesellschaft gezeigt, und auch hier siegt schließlich ein Vertreter der Unterschicht über die Obrigkeit. 593 Den Bauern als Gewinner gibt es also zumindest in der lateinischen Literatur des Mittelalters bereits, der grundlegende Unterschied sind jedoch die Mittel, mit denen ein Sieg des ‹ kleinen Mannes › erreicht wird: Im Unibos ist es die Schwanklist, die auf Moral keine Rücksicht nimmt. Die Amoralität des Bauern Einochs geht sogar über Leichen. Er zeigt den Dorfoberen eine Zauberflöte, die Tote angeblich wieder lebendig machen kann. Ihre Wirkkraft demonstriert er an seiner eigenen Frau, die er vorgibt ermordet zu haben - während er sie in Wirklichkeit nur mit Schweineblut übergossen hat. Als sie beim Ton der Flöte aufsteht und sich wäscht, ist sie schöner als zuvor. Die Dorfoberen kaufen also die Flöte und bringen ihre Frauen um, in der Hoffnung, sie als ‹ verbesserte Versionen › wieder auferstehen lassen zu können. 594 In 592 Vgl. Benedikt Konrad Vollmann: Art. ‹ Unibos › ( ‹ Versus de Unibove › ). In: VL² (1999), Sp. 80 - 85. Zum Erzähltypus siehe auch Stith Thompson : The types of the folktale. A classification and bibliography. Antti Aarne ’ s Verzeichnis der Märchentypen translated and enlarged by Stith Thompson. 2. Auflage. Helsinki 1961, Nr. 1535. 593 Textausgabe Thomas A.-P. Klein : «Versus de Uniboue». Neuedition mit kritischem Kommentar. In: Studi Medievali. Serie Terza 32, 2 (1991), S. 843 - 886. Nhd. Übersetzung von Karl Langosch : Waltharius. Ruodlieb. Märchenepen. Lateinische Epik des Mittelalters mit deutschen Versen. Darmstadt 1956. 594 Zur Amoralität im Unibos vgl. Teja Erb : Die Revolte des Bauern Einochs. Betrachtungen zu einer von Jacob Grimm entdeckten mittellateinischen Dichtung. In: Brüder Grimm Gedenken 15 (2003), S. 186 - 200; S. 198. 266 Modellanalysen Hinsicht auf diese Verkehrung von Moralmaßstäben ist des Strickers Pfaffe Amis dem Unibos sicherlich zu vergleichen. 595 Das sozial Subversive dieser Texte, vor allem des Unibos, wo die soziale Opposition arm und listig gegen reich und dumm konsequentes Grundthema des Textes ist, fehlt Kaufringers Verklagtem Bauern völlig. Seine Bauernfigur ist ein durch und durch moralischer Held, der sich an die Gesetze hält und dessen Listen sich als rätselhafte Aussagen ebenfalls innerhalb des Erlaubten bewegen. Sie funktionieren rein sprachlich, sind rhetorische Konstruktionen. Hier ist wieder an die positive Charakterisierung des bäuerlichen Protagonisten als prototypischer Laie in dem oben behandelten lateinischen Predigtexempel bei Étienne de Bourbon und Vinzenz von Beauvais zu erinnern, das Kaufringer stoff- und motivgeschichtlich vorausgeht. 596 Über bloßen Mutterwitz geht Kaufringers Profilierung des Bauern hinaus und zielt darauf, ihm rhetorisch-dialektische Versiertheit zuzuschreiben. Die Überlegenheit des Bauern Einochs verdankt sich einem Plus an ‹ krimineller Energie › , welche die gesellschaftlichen Grenzziehungen von Normen und Werten nicht anerkennt und sich durch deren kreative Überschreitung einen intellektuellen Vorteil verschafft. Ganz anders ist Kaufringers Bauernfigur und bietet in dieser Hinsicht tatsächlich eine Neuerung: Dieser Bauer ist an rhetorischer Gewandtheit und laientheologischer Bildung seinen Gegenspielern überlegen. Er braucht keine Listen als diejenigen des Wortes. Schon beim Vergleich der Ausgangskonstellation zwischen Unibos und Verklagtem Bauern läßt sich zeigen, wie die Gewichtung des Erzählmusters grundlegend verschoben wird: Hier wie da wollen sich die Dorfoberen am Besitz des Bauern bereichern. Kaufringers Bauer ist jedoch nicht sozial stigmatisiert als pauper, er verfügt rechtmäßig über ein ansehnliches Vermögen, das das Interesse von Pfarrer und Richter auf sich zieht. Auf diese Weise gerät er unschuldig in die Situation, sich gegen die Dorfobrigkeit wehren zu müssen. Der Beginn der Handlung geht nicht von ihm aus, sondern er wird als passives Opfer in den Konflikt verstrickt. Der arme Schlucker Einochs dagegen findet durch Zufall einen Silberschatz und nur durch seine Dummheit 597 erfahren die 595 Volker Honemann : Unibos und Amis. In: Klaus Grubmüller : Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Paderborn 1988, S. 61 - 95. 596 Auch bezüglich einer Feindschaft zwischen Kleriker und Bauer, die in der Form des Streitgesprächs ausgetragen wird, finden sich Beispiele im Bereich der mittellateinischen Literatur, etwa die Altercatio rusticorum et clericorum, siehe Walther (1984), S. 154 f. Es handelt sich hier jedoch weniger um einen individuellen Kasus als um den generalisierten Streit der Stände. 597 Weil er wissen will, wieviel sein Schatz wert ist, schickt Einochs seinen Sohn zum Vogt, um ihm das Maß zu holen, wodurch dieser vom unverhofften Reichtum des Bauern erfährt, siehe Str. 21 - 22. 267 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern gierigen Dorfoberen davon - er verschuldet den Konflikt also selbst. Hier wird bereits die ironische Erzählhaltung deutlich, die den lateinischen Text prägt. In seiner Ständesatire zum Vergnügen für ein adeliges Publikum distanziert sich der Erzähler von allen Figuren gleichermaßen. 598 Eine solche Ironisierung ist bei Kaufringer nicht wahrzunehmen, die Parteinahme für die Figur des Bauern ist eindeutig und auch das Mittel des schwankhaften Witzes wird dieser Figur in Form von Rede- und Erzählkompetenz in die Hand gegeben, um sich gegen die sozial höherstehenden Widersacher zu verteidigen. Die Auseinandersetzung der gegnerischen Parteien ist damit ganz auf die Ebene des Dialogs verlegt, sie wird nicht als Wettkampf ausagiert, sondern als Streitgespräch geführt. Unter dieser Prämisse erscheint der Verklagte Bauer im Gegensatz zu den parodistischen Schwänken des Unibos und des Amis wie das Märchen einer besseren Welt: Der Bauer bei Kaufringer ist ein moralischer Held, dessen Verteidigung als rhetorisch-dialektisches Spiel mit logischen Schlüssen funktioniert. Ihm soll geschadet werden, er aber schadet niemandem und überzeugt durch seine moralische Integrität, während Pfarrer und Richter als die wahren Bösewichte entlarvt werden. 5.9 Streitgespräch des Erzählers mit sich selbst: Kasusform und Utopie Wir erinnern uns zurück an den Prolog: Der Fall des Bauern wurde hier in exemplarischem Erzählgestus als Vorbild für eine vom Erzähler positiv dargestellte Verhaltensweise, nämlich in einer Zeit der Ungerechtigkeit für Gerechtigkeit einzustehen, proklamiert. Dem entspricht auch der Beginn des Epimythions, wo sich der Erzähler freut: Es ist gar ain guote tat, das untrew iren herren hat geslagen, das gefellt mir wol, und das der unschuldig sol davon komen unversert. (683 - 687) Bis hierher läßt sich seine Intention gut nachvollziehen, in einer von Unrecht bestimmten Welt scheint er als Verfechter des Wertes ‹ Gerechtigkeit › aufzutreten. Er hat einen noch nicht dagewesenen Fall erzählt, die optimistische Geschichte, daß sich ein unschuldiger Bauer gegen das korrupte Team aus Richter und Pfarrer erfolgreich verteidigen kann. Daß die Erzählung vom zu Unrecht verklagten Bauern wirklich ein Erzählereignis, die geschickte Kon- 598 Vgl. Erb (2003), S. 189 f. 268 Modellanalysen struktion eines außergewöhnlichen Falles ist, wird ganz deutlich, besieht man sich den Rest des Epimythions. Der Erzähler wechselt nämlich gleich nach seinem positiven Kommentar in den Konjunktiv: es war großes guotz wert, das es allweg so ergieng dem, der ungeleichs anfieng, und das der trew wurd behuot. (688 - 691) Die Wirklichkeit dagegen sieht so aus: nun ist es ietzunt sicherleich in der welt also getaun: wer recht hat, der muoß unrecht haun. (712 - 714) Der literarische Konstruktcharakter der Geschichte wird vom Erzähler selbst thematisiert. 599 Schon im Rahmenteil beginnt die Erzählung des Verklagten Bauern als Diskussion über gerechte Justiz. Kaufringer konstruiert den Kasus selbst als Rechtsdebatte, die über mehrere Ebenen vorbereitet und schließlich in der direkten Inszenierung eines Gerichtsprozesses entschieden wird. Dabei geht es aber, wie in der Unschuldigen Mörderin, nicht mehr um die eigentliche rechtliche Entscheidung, sondern um die Konstruktion der möglichst verzwickten controversia und damit um das Vergnügen an der Schilderung des ungewöhnlichen Falles. Für dessen Konstruktion werden die unterschiedlichen Erzählformen des Exempels, des Rätsels oder des Schwanks funktionalisiert, ohne sich an deren Reibung zu stören. Im Gegenteil, diese offensichtliche ‹ Reibungsenergie › wird im Epimythion thematisiert und mit der gewollten Konstruktion des ganzen Falles als literarische Utopie erklärt. Die Geschichte war ein Versuchsaufbau, der das ‹ Was wäre, wenn. . . › , die Möglichkeiten und Freiheiten des Erzählens am Beispiel eines fingierten Rechtskasus ausgetestet hat. Für die Wirklichkeit kann der Erzähler seinem Publikum nur noch einen resignierten Rat mit auf den Weg geben: ieglicher behalt, das er hat, und laß den andern ziehen hin, dieweil es nit gang über in, und sweig auch still darzuo, so beleibet er mit ruo. tuot er das nicht, er verliust das sein. das rat ich auf die trewe mein. (716 - 722) 599 Vgl. Stede (1993), S. 41. Sie zieht daraus den Schluß, daß die Handlungsmöglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, auf die im Prolog verwiesen wird (V. 28 - 30), in der literarischen Fiktion durch den Protagonisten erprobt werden soll. 269 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern Nach dem vergnüglichen Ende der Erzählung im swanc bleibt dem Rezipienten nun beinahe ‹ das Lachen im Halse stecken › . Wieder - wie schon im Feigen Ehemann und in der Rache des Ehemannes - deutet sich die Kasusform im Gestus eines Erzählens an, das moderner Erzähltheorie gemäß als ‹ unzuverlässiges › zu beschreiben wäre. Der Erzähler ist nicht unzuverlässig in Bezug auf seine «mimetischen» Aussagen, also die Konstitution der Geschichte - die im Gegenteil sehr gewissenhaft motiviert und mit komplexer Figurenpsychologisierung versehen ist - , sondern in Hinsicht auf seine «theoretischen» Aussagen im Rahmenteil, indem er seine eigene Kommentierung zurücknimmt, sogar ins Gegenteil verkehrt. 600 Kann man diese angesichts der positiven Geschichte so negative Handlungsanweisung, mit der das Publikum hier alleingelassen wird, ernst nehmen? Unklar bleibt, ob die Geschichte hier die Handlungsanweisung oder die Handlungsanweisung die Geschichte relativieren soll. Auch die Erzählerrede des Promythions erscheint damit nun als fingierter, als probeweise eingenommener Standpunkt, oder gilt dies vielmehr für diejenige des Epimythions? Das unentschlossene Hin und Her des Erzählers wird zur absichtlich diskursiven Inszenierung. Im Meinungsaustausch mit sich selbst nimmt der Erzähler polarisierende Positionen ein: Es entsteht ein monologisches Streitgespräch über die Möglichkeit einer gerechten Welt, dessen Brennpunkt der unerhörte Fall des Bauern bildet. Der Text entwickelt sich damit zum Kasus im eigentlichen Sinne. Zwar scheint der Gestus exemplarischen Erzählens im Promythion in seiner Referenzsetzung zunächst unzweideutig, doch dann zeigt sich auch der Erzähler involviert in das kasuistische Abwägen jener Handlungsmöglichkeiten, die den Fall des Bauern konstituieren: Im Pro- und Epimythion findet eine eigene, extradiegetische Falldiskussion statt. Der Erzähler hält sich aus der Geschichte selbst heraus, indem er die von ihm protegierte Figur (den Bauern) im Modus eines Streitgesprächs seine Händel selbst austragen läßt. Dafür nutzt er das Pro- und Epimythion, um seine eigene Diskussion über den Fall auszutragen. Immer deutlicher wird, daß Pro- und Epimythion für Kaufringers Erzählen nicht die Orte eindeutiger Sinnstiftung gemäß der in der Forschung etablierten Vorstellung eines ordnungsaffirmativen exemplarischen Erzählens, sondern diskursiver Auseinandersetzung des Erzählers mit seinem Stoff und den Möglichkeiten des Erzählens sind: Didaktisch wirkende Handlungsanweisungen entpuppen sich als perspektivierte, als persönliche Meinungen des Erzählers und sind insofern nicht verbindlich. Umso mehr, als die vielfältigen Widersprüche nicht aufgelöst werden. Nicht Eindeutigkeit kennzeichnet das Verhältnis von Rahmenkommentierung und Geschichte, es ist aber auch nicht mit 600 Zu theoretisch unzuverlässigem Erzählen vgl. Martinez / Scheffel (1999), S. 101. 270 Modellanalysen Sinnlosigkeit (Haug) oder dem negativen Bezug auf ein ordnungspropagierendes exemplarisches Erzählen im Sinne einer Denunziation desselben (Grubmüller) hinreichend erfaßt. Das Verhältnis von Rahmenkommentierung und Geschichte prägt eine durch die diskursive Konstruktion von Standpunkten absichtlich erzeugte Mehrdeutigkeit. 271 Der unerhörte Fall vom disputierenden Bauern III Conclusio: Kaufringers Erzählprofil Die Modellanalysen haben eine für Heinrich Kaufringer spezifische Erzählpoetik konturiert, die ich als ‹ kasuistisches Erzählen › fassen möchte. Es ist ein Erzählen, in dem immer wieder der Gestus eines argumentativen Gegeneinanders verschiedener Standpunkte als Prinzip aufscheint. Dieses Erzählen bewegt sich vor dem dreifachen Hintergrund eines Feldes antiker Rhetoriktradition, mündlicher und schriftlicher Überlieferung europäischer Erzählstoffe und des zeitgenössischen Rechtsdiskurses. Im Zuge der detaillierten Textanalysen kristallisierten sich einige Punkte heraus, die geeignet sind, Kaufringers Erzählprofil weiter zu schärfen: eine auffällige Verwendung der Technik ‹ Erzählung in der Erzählung › , die Inszenierung solcher Partien als Gerichtsszenen, und, damit verbunden, die Bedeutung der auffälligen Selbstreferenz der Texte sowie ihrer durch Kasusstruktur und Gerichtsszenen bewirkten Dialogizität in Bezug auf den Rezipienten. Anhand dieser Punkte sollen abschließend weiterführende Fragen behandelt werden wie diejenige nach der Positionierung der Kaufringertexte innerhalb eines Gattungshorizonts Märe und im Verhältnis zum novellistischen Erzählen Boccaccios, nach der Rezeptionssituation, nach dem Konnex von Komik und kasuistischem Erzählen, und nach der Einordnung der analysierten Texte in einen Überlieferungs- und Oeuvrezusammenhang Kaufringers. Schließlich öffnet sich die Untersuchungsperspektive mit der Frage, in welchem Verhältnis die Ergebnisse der narratologischen Analysen zu einem historischen Autor Heinrich Kaufringer und seinem Umfeld zu sehen sind, ob und wie solch ein Erzählgestus also kulturhistorisch bedingt sein könnte. 1 Poetologische Bedeutung der ‹ Erzählung in der Erzählung › In einem gesonderten Punkt ist hier auf das bereits mehrfach in den Modellanalysen beobachtete Phänomen der Wiedererzählung des bereits Erzählten durch eine Figur zu sprechen zu kommen. Narratologisch fällt dieses Phänomen unter den Begriff der ‹ Erzählung in der Erzählung › . 1 Diese narrative Verschachtelungstechnik ist für die mittelalterliche Versnovellistik noch kaum systematisch untersucht. 2 Das prononcierte, immer in der Reduktion auf die Grundformen virtuose Mären- Erzählen des Kaufringers macht die Spannweite sichtbar, die das Erzählen von Geschichten in Mären kennzeichnet. 3 Blickt man auf den Stricker, so schließt dieser, etwa im Klugen Knecht, die Metadiegese deutlich an die geistliche Form des Gleichnisses oder Bispels an, sie erfüllt eine erkenntnisleitende Funktion im Sinne der Auflösung der Geschichte und demonstriert zudem eine situativ angepaßte Kommunikationskompetenz. 4 Dagegen läßt sich Kaufringers Einsatz eines Erzählens im Erzählen deutlich abheben. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß die Technik der Metadiegese als ein Charakteristikum spätmittelalterlichen Erzählens generell gesehen werden kann, das eine zunehmende Komplexität im Sinne einer erhöhten Wiederholungssättigung aufweist, mit der Schachtelung von Erzählinstanzen das ‹ Wiedererzählen › gewissermaßen auch auf der Ebene 1 Siehe Harald Haferland und Michael Mecklenburg : Einleitung. In: Dies.: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19). München 1996, S. 11 - 25. Genette (1994) spricht von ‹ Metadiegesen › . 2 Grubmüller (1996 a), S. 247 kommt zu dem Ergebnis, daß Kaufringer sie «musterhaft und programmatisch» betreibe. Ziegeler (1985), S. 88 - 94 behandelt das Phänomen eher punktuell im Zusammenhang der Mären mit Ich-Erzähler, dort als Technik, die die eingeschränkte Perspektive kompensieren könne. 3 Ebd., S. 246. Grubmüller vertritt die These, daß die Binnenerzählungen in Mären immer dem Erzählziel der gesamten Geschichte untergeordnet seien, und beschreibt verschiedene Funktionen, die sich im Vorgang des Täuschens und Aufdeckens von Täuschung kristallisierten. 4 Vgl. Achnitz (2000). 273 Poetologische Bedeutung der ‹ Erzählung in der Erzählung › der histoire eines Textes, also intratextuell zum poetologischen Kern hat. 5 Hier kann die Wiederholung auch im Formelhaften bestehen, das in den Augen des neuzeitlichen Rezipienten inhaltliche Redundanz erzeugt, so etwa in der Erzählung vom Busant. 6 Für Kaufringer läßt sich vor diesem Hintergrund festhalten, daß seine ‹ Erzählungen in der Erzählung › unterschiedliche Funktionen erfüllen, die - im Sinne des Kasus - etwa auch der Lösung und damit Beurteilung der Geschichte zuwiderlaufen können. Sein Einsatz dieser Technik ist also nicht als Kennzeichen eines Formalisierungsschubs spätmittelalterlichen Erzählens zu werten, vielmehr kommt ihm eine poetologisch weitreichende Bedeutung zu. In ihrer Analyse der beiden Kaufringer-Erzählungen Der zurückgegebene Minnelohn und Bürgermeister und Königssohn unter dem Aspekt von Gabe- und Tausch-Beziehungen betont Reichlin für Kaufringers Erzähltechnik den «Eindruck einer Potentialisierung des Erzählens». 7 Dieser speist sich zu einem nicht geringen Maß aus dem differenzierten Einsatz von Binnenerzählungen, die Figurenperspektiven konturieren. So organisiere sich etwa das Geschehen im Zurückgegebenen Minnelohn ganz wesentlich über die Wiedererzählung der bereits erzählten Handlung, welche achtmal wiederholt werde: Jede Erzählung stoße dabei wieder Handlung an und gewährleiste so den Fortgang der Erzählung insgesamt. 8 Zentral ist die Wiedererzählung der bereits erzählten Handlung durch den jungen Ritter im Gasthaus - er trifft dort auf einen älteren Ritter und erzählt ihm das ‹ Abenteuer › seines Ehebruchs, ohne zu wissen, daß es sich bei seinem Zuhörer um den gehörnten Ehemann handelt. Kaleidoskopartig werden hier die Erzählung und der Akt des Erzählens sozusagen in sich selbst gespiegelt. Reichlin verwendet dafür den Begriff der «mise en abyme-Situation». 9 5 Vgl. Nikolaus Ruge : Die wort wil ich meren. Grenzen des Erzählens in ‹ Tandarios und Flordibel › . In: Natalia Filatkina und Martin Przybilski : Orte - Ordnungen - Oszillationen. Raumerschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen (= Trierer Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 4). Wiesbaden 2011, S. 57 - 72. 6 Vgl. Armin Schulz : Dem bûsant er daz houbt abe beiz. Eine anthropologischpoetologische Lektüre des › Busant ‹ . In: PBB 122 (2000), S. 432 - 454; S. 452, der die wörtliche Wiederholung der Erzählerrede durch die Figur in der ersten Person als Pochen auf «die › Wahrheit ‹ des oberflächentextuell Geschilderten» interpretiert. 7 Reichlin (2009), S. 213. 8 Vgl. ebd., S. 171 f. 9 Ebd., S. 175. Es werde hier «die Unterscheidung zwischen der Erzähl- und der Handlungsebene sowie zwischen Welt- und Selbstreferenz sowohl thematisiert als auch aufgehoben.» 274 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil Dementsprechend wäre auch die Wiedererzählung des erzählten Falles in der Rache des Ehemannes als mise en abyme zu bezeichnen. Die hier vorliegende Gerichtsszene hat m. E. jedoch gerade aufgrund ihrer spezifischen Inszenierung eine Funktion, die über ein Ausstellen der Performativität des Erzählens zwischen Konvention und Wirklichkeitsreferenz hinausgeht. 10 Sie befindet sich erstens an exponierter Stelle, indem sie den Text abschließt, und demonstriert zweitens die Beurteilung des bereits Vorgefallenen als prozessualen Vorgang. Gerade der Darstellungsmodus der Gerichtsverhandlung als direkte Kommunikationssituation ermöglicht hier das ‹ Erzählen im Erzählen › . Inszeniert als Gerichtsszene kommt damit der mise en abyme- Situation eine zusätzliche, über das Ende der Erzählung hinausweisende Bedeutung zu. Die narrative Technik perspektivierten Wiedererzählens des bereits erzählten Falles dient seiner Diskursivierung. 2 Die Publikumsadressierung der Gerichtsszene und die Selbstreferenz des Textes Die Gerichtsszene ist vor allem für Brechts Dramen erforscht, weil diese vielfach von Gerichtsszenen dominiert sind. 11 Durch die Form der Prozeßanordnung und des vorgeführten Prozeßablaufs bieten Gerichtsszenen eine ‹ natürliche › Möglichkeit, den Rezipienten ins Geschehen einzubeziehen und ihn aufzufordern, sich mit diesem kritisch auseinanderzusetzen. Die Gerichtsszene ist «ihrer besonderen Struktur nach als publikumgerichtet zu verstehen». 12 Ihre besondere Eignung für eine offene Dramaturgie liegt darin, daß Gerichtsverhandlungen an sich immer öffentlichen Charakter haben. Auch in der profanen Realität fühlt sich das Publikum einer Gerichtssitzung als Mitrichter, die Reden des Anklägers und des Verteidigers, des Angeklagten und der Zeugen gegeneinander 10 Als Selbstthematisierung der Erzählkonvention des Märenerzählens deutet die Szene Grubmüller (1996 a), S. 255 f. 11 «Sie sind eine zentrale dramaturgische Form des Brechtschen Theaters überhaupt.» Walter Hinck : Die Dramaturgie des späten Brecht (= Palaestra Bd. 229). 5., durchges. Aufl. Göttingen 1971, S. 74. 12 Hinck (1971), S. 73. 275 Die Publikumsadressierung der Gerichtsszene abwägend und sich sein eigenes Urteil bildend. Dieser öffentliche Zug wird auch an der Bühnen-Gerichtsszene wirksam. Gleich, ob das Gerichtspublikum als solches auf der Bühne dargestellt wird oder nicht - immer wird sich der Zuschauer mit in der Rolle des Gerichtspublikums fühlen. So wird auf der Bühne ein Rechtsfall zur Entscheidung gestellt, über den auch das Theaterpublikum zum Richter bestellt ist. 13 Brecht hat sich für sein Konzept des ‹ epischen Theaters › vom mittelalterlichen Fastnachtspiel inspirieren lassen, wo sich die Gerichtsszene als dramatische Form bereits findet. 14 Das sogenannte Gerichtsspiel ist eine frühe Form des Fastnachtspiels. 15 Hier zeigt sich die natürliche Theatralität, der performative Charakter, der dem Prozeß als Kommunikationssituation eignet. Ein Prozeß besteht aus performativen Sprechakten: anklagen, verteidigen, überzeugen, überreden, verurteilen, die dem Publikum zur Unterhaltung dienen, um so mehr, als es selbst teilnehmen kann. Vom sicheren Zuschauerplatz aus, im ‹ Als ob › kann sich der Rezipient in den verschiedenen Rollen des Anklägers, des Verteidigers, des Opfers, des Täters oder des Richters versuchen. Diese Rolle des Urteilenden wird dem Zuschauer auch im mittelalterlichen Fastnachtspiel angetragen. Ein untrüglicher Beweis für dessen Publikumsgerichtetheit ist, daß viele Gerichtsspiele überhaupt kein Urteil enthalten, sondern mit der Frage an das Publikum enden, wie hier zu entscheiden sei. 16 Die besondere Publikumsadressierung der Gerichtsszene gilt in vergleichbarer Weise für die Epik, zumal in Kaufringers Text auch das Gerichtspublikum dargestellt ist: Die unbelasteten Figuren der frainde, die auftreten mit der ausschließlichen Funktion des Urteilens, werden lesbar als ein identifikatorischer Fingerzeig. Hier wird dem Rezipienten der Richterstuhl angeboten. Er bekommt den Vorgang einer Beurteilung des Falles vorgeführt, worin die frainde eine objektive Instanz repräsentieren. Ihr Urteil über die Frau jedoch, das scheinbar dasjenige des Ritters bestätigt, wird für den Rezipienten als 13 Ebd., S. 74. 14 Vgl. ebd., S. 138, sowie Thomas Habel : Brecht und das Fastnachtspiel. Studien zur nicht-aristotelischen Dramatik. Göttingen 1978, S. 29 - 32. 15 Vgl. Habel (1978), S. 29, der auch auf die Bedeutung von Gerichtsszenen im Fastnachtspiel hinweist. Zu Gerichtsspielen Cora Dietl : Das frühe deutsche Drama. Von den Anfängen bis zum Barock. Helsinki 1998, S. 74 - 76. 16 Vgl. Habel (1978), S. 138. Nach der Bedeutung der frühen Fastnachtspieltradition für Kaufringer wäre genauer zu fragen. Coxon (2008), S. 193 bedenkt solche Wechselbeziehungen in Bezug auf Kaufringers situativ ausgestaltetes Erzählen und daraus sich entwickelnde Komik. Etwas später, bei Hans Rosenplüt, Hans Folz und schließlich bei Hans Sachs wird die Nähe von Märe und Fastnachtspiel in stofflicher und produktionstechnischer Hinsicht evident. 276 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil manipuliert erkennbar. 17 Ihn trennt damit ein höherer Grad an Informiertheit über den Fall von dem intradiegetischen Publikum. Dessen beschränkte Perspektive als urteilende Instanz provoziert den Rezipienten, selbst dieses Urteil zu hinterfragen, abzuwägen, wie er entscheiden würde in Kenntnis aller relevanten Umstände des ‹ Tathergangs › . Der Text schafft damit eine Erzählsituation, die auf seine Rezeption selbst referiert. Durch die Einbindung des Rezipienten als Entscheidungsinstanz wird die Diskussion um eine richtige, eine gerechte Lösung des Falles unendlich fortgesetzt; das Problem des Kasus bleibt über die Grenzen der Erzählung hinaus bestehen. Kaufringer gestaltet Gerichtsszenen in verschiedenen Ausformungen auf der Handlungsebene seiner Texte: In der Rache des Ehemannes ist es ein hausinternes Familiengericht, im Verklagten Bauern ein offizieller Prozeß vor dem Bischof, der die Gerichtsgewalt innehat. Immer wird der bereits erzählte Fall dabei in der Kommunikationssituation des ‹ Prozesses › reaktualisiert. Die vorher als Geschehen, als Handlung erzählten Tat-Akte werden zu Argumenten, zu Sprech-Akten. Spielerisch verleibt Kaufringer seinen Texten damit bereits auf der Handlungsebene ein, was chronologisch nach ihrer Aufführung (Wort oder Schrift) käme. Selbst in der Unschuldigen Mörderin und im Feigen Ehemann, wo auf der Handlungsebene kein gerichtlicher Prozeß inszeniert und jegliche Form von Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, indem das Geschehen jeweils in einem privaten Dialog zwischen den Eheleuten endet, findet sich dennoch dasselbe Strukturmuster. Der bereits erzählte Fall wird noch einmal thematisiert und dann bewertet, auch hier wird also ein Vorgang des Beurteilens zur Schau gestellt. 18 Um mise en abyme handelt es sich dabei in der Unschuldigen Mörderin, wenn die Dame ihrem königlichen Ehemann die zuvor erzählte Geschichte ihrer Morde vorträgt - daß dies keine Figurenrede, sondern Erzählerbericht ist, paßt zum verteidigend argumentierenden Erzählgestus des Textes, in welchem der Erzähler die Perspektive seiner Protagonistin unterstützt. Der König übt sodann dieselbe Funktion aus wie die frainde in der Rache des Ehemannes oder der Bischof im Verklagten Bauern, er ist eine jener 17 Grubmüller (1996 a), S. 255 sieht die Objektivität der frainde durch die Anonymität der ritterlichen Erzählung gewährleistet, bringt aber nicht in Anschlag, daß es sich um Figurenperspektive handelt. Der Vorgang von Täuschung und Erkennen, den er für die Technik der ‹ Erzählung in der Erzählung › in den Mären zeigt, bezieht sich hier insofern in erster Linie auf den Rezipienten, der ihn vorgeführt bekommt. 18 Die Beurteilung des vorgestellten Falles durch Dritte ist in der Unschuldigen Mörderin - genauso wie in der Rache des Ehemannes und im Verklagten Bauern - als geschlossene Szene gestaltet und durch eine temporale Markierung vom vorherigen Geschehen abgehoben, gibt jedoch keinen Anlaß, sie als eigenständige Gerichtsszene zu inszenieren. 277 Die Publikumsadressierung der Gerichtsszene Figuren, die, am Kasusgeschehen selbst nicht unmittelbar beteiligt, das Beurteilen des Kasus aus individueller Perspektive vorführen und als Identifikationsangebot an den Rezipienten gesehen werden können. Im Verlauf der ‹ Gerichtsszenen › wird deutlich, daß das Urteil von der Perspektive des Beurteilenden abhängt: Die Sichtweise des liebenden Königs in der Unschuldigen Mörderin begreift die verübten Morde seiner Ehefrau nicht als moralisch-juristische Verbrechen, sondern positiv, als Beweis ihrer Treue. Die Perspektive des Urteilenden hängt wiederum vor allem von seinem Kenntnisstand ab: Die versammelten Freunde und Verwandten in der Rache des Ehemannes urteilen nach kodifiziertem Recht und sie urteilen von einem beschränkten Kenntnisstand aus, den ihnen der Ritter verliehen hat. Der Ritter hat bereits geurteilt und seine Strafen als individuelle Rache vollzogen. Wie wird nun das reale Publikum urteilen? Eine weiterführende Diskussion könnte sich danach, dies ist hier eine zu bestätigende Vermutung, auch im Kreise der Rezipienten ergeben haben, womit der Inhalt des Märes in die unmittelbar-mittelalterliche Realität transportiert worden wäre. 19 Man könnte sich vorstellen, daß das markierte Fehlen eines Erzähler-Standpunkts am Schluß der Rache des Ehemannes eine Diskussion im Rezipientenkreis genauso herausfordert wie etwa die provokante Haltung des Erzählers in der Unschuldigen Mörderin. Die Diskursivierung der Erzählstoffe hinge dann mit der spezifischen Performativität der Texte zusammen. 3 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage Eine Arbeit über Heinrich Kaufringer kann trotz der eingangs beschriebenen problematischen Forschungslage die Gattungsfrage nicht ausklammern: Wo sind Kaufringers Texte literarhistorisch zu sehen zwischen Exempel und Novelle, pointiert formuliert, zwischen Strickerscher Exemplarik einerseits und einer Novellistik Boccaccios andererseits? Caroline Emmelius hat die Gattungsdiskussion neu angestoßen mit einem Vorschlag zur texttypologischen Entstehung der Novelle Boccaccios aus dem Liebeskasus und, daran anschließend, dem Vorschlag, den von ihr entwickelten 19 Tanner (2005), S. 376. 278 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil «erzähltheoretischen Kasus-Begriff auch für die mhd. Mären fruchtbar zu machen». 20 Möglicherweise ist die Geschichte der mittelalterlichen Novellistik auch von dieser spezifischen Korrelation der narrativen Formen geprägt: einer Tendenz, den Kasus zur Novelle zu machen, und einer gegenläufigen, in der die Geschichte sich in ein Fallgeschehen auflöst. 21 Wie im Verlauf der Arbeit gezeigt werden konnte, haben die narrativen Sonderfälle Kaufringers mit einem nach Grubmüller für das Märe gattungsbegründenden Erzählen des Strickers wenig gemein. 22 Auf die Vermittlung eines eindeutig lehrhaften Ziels ist dieses Erzählen nicht gerichtet, es kann keine ernsthaft auf die Realität anzuwendende ‹ Handlungsanweisung › aus den Texten extrahiert werden. 23 Dies resultiert aber nicht aus einem Unvermögen oder einem Unwillen des Autors Kaufringer, ein ‹ Fallgeschehen › in eine ‹ sinnstiftende Geschichte › zu transponieren: Der Vorschlag von Caroline Emmelius, bei Kaufringer führe eine «primäre[n] Orientierung an rationalen Rechts- und Verfahrensnormen» dazu, daß «die Transposition des Geschehens zur sinnstiftenden Geschichte [. . .] verfehlt» werde, rechnet nicht mit dem produktiven Zusammenspiel von Narration und Argumentation. 24 Der Reiz eines Experimentierens mit und einer Vorführung von argumentativer Dialektik profiliert dieses Erzählen - ich hatte hier bereits auf die funktionale Ähnlichkeit zu den antiken (Schau-)Deklamationen hingewiesen, die vielleicht nicht zufällig ist. Grundsätzlich gilt: Je verzwickter der zu traktierende Fall und die vorausgesetzten Normen oder Gesetze konstruiert sind, desto größer ist die Lust am Auserzählen argumentativer Verhandlungen. Es ist die Unerhörtheit des Falles, die eine spannende Kontroverse garantiert und der Narration den Reiz bietet. In diesem Charakteristikum liegt die Verbindung zum Gestus novellistischen Erzählens. Wo die Novelle gattungstheoretisch aber das un- 20 Emmelius (2010 a), S. 70. 21 Ebd., S. 74. 22 Zu untersuchen wäre allerdings, auch in Hinsicht auf Erkenntnisse über das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und pragmatische Kontexte wie die Rezeptionssituation, inwiefern eine Kommunikativität, die man auch für die Erzählformen des Strickers als Charakteristikum identifiziert hat, ein Gattungsmerkmal darstellt, das bei Kaufringer zu besonderer Ausprägung gelangt wäre. Siehe Michael Schilling : Poetik der Kommunikativität in den kleineren Reimpaartexten des Strickers. In: Emilio González und Victor Millet (Hg.): Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme (= Philologische Studien und Quellen 199). Berlin 2006, S. 28 - 46. 23 Darauf zielt die These von Willers (2001). 24 Emmelius (2011), S. 112 f. 279 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage erhörte Faktum 25 , die Begebenheit als Hauptgesichtspunkt in den Mittelpunkt rückt, ist es bei Kaufringer immer die Verhandlung über diesen unerhörten Vorfall, juristisch ausgedrückt, den Präzedenzfall, die im Vordergrund des Interesses steht. Ich möchte nun die in meiner Arbeit vorgenommene Perspektivenverschiebung auch auf die Gattungsfrage ausdehnen. Gemeint ist eben jene im vorausgehenden Abschnitt beschriebene poetologische Besonderheit einer narrativen Verschachtelungstechnik der ‹ Erzählung in der Erzählung › , die bei Kaufringer prominent anzutreffen ist. Man hat sie bisher nicht für die Gattungsfrage fruchtbar gemacht. Gerade angesichts einer für das Märenerzählen besonderen Verbindung von Medialität und Poetik verspricht ihre genauere Untersuchung zu einer Neuperspektivierung der festgefahrenen Diskussion beizutragen. Bei Kaufringer ruft die ‹ Erzählung in der Erzählung › in der Inszenierung als Gerichtsszene pragmatische juristische Kontexte auf, referiert auf ein ‹ Sprechen vor Gericht › und die damit verbundenen Sprecherrollen von Ankläger, Verteidiger usw., führt mit der Selbstreferenz des Erzählens aber gleichzeitig die Verhandlung des Falles als narrativ organisiertes und damit literarisches Spiel vor. 3.1 Gerichtsgemeinschaft und Erzählgemeinschaft Das narrative Prinzip der ineinander geschachtelten Erzählungen, des Fingierens einer mündlichen Erzählsituation innerhalb einer Erzählung, ist ein wesentliches Merkmal der Novelle. 26 Im Vergleich zur novellistischen Rahmenfiktion vom Erzählen in Gesellschaft sind bei Kaufringer interessante Beobachtungen zu machen, die den Stellenwert der ‹ Erzählung in der Erzählung › betreffen. Für die Rache des Ehemannes und den Verklagten Bauern läßt sich feststellen, daß eine ‹ Erzählgemeinschaft › sich nicht durch äußere Umstände formiert und dann ihre Zeit mit dem Erzählen von Geschichten strukturiert, wie dies in den europäischen Novellensammlungen, beginnend mit Boccaccios Decameron 27 , der typische Fall ist. Vielmehr ist die Gemeinschaft in erster Linie eine Gerichtsgemeinschaft, sie kommt zusammen, um den vorliegenden Kasus 25 Vgl. Benno von Wiese : Novelle. 8., durchges. Aufl. Stuttgart 1982, S. 5. 26 Vgl. zu den Stichworten ‹ Figuren als Erzähler › und ‹ Rahmenerzählung › Monika Fludernik : Einführung in die Erzähltheorie. 2., durchges. Aufl. Darmstadt 2008, S. 39 f. 27 Giovanni Boccaccio : Decameron. Hrsg. von Vittore Branca. 2 Bde. Turin 3 1992. Übersetzung: Das Dekameron. Vollständige Ausgabe in der Übertragung von Karl Witte. Durchgesehen von Helmut Bode. München 1979. 280 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil zu beurteilen. Immer wird aber bei Kaufringer aus dieser Gerichtsgemeinschaft auch eine Erzählgemeinschaft. Die Aufsplitterung der Perspektiven, wie sie dem Gerichtsprozeß sozusagen systemimmanent ist, bietet die erzählstrukturelle Möglichkeit, novellistisch ‹ Geschichten in der Geschichte › zu erzählen, beliebige Geschichten in eine Geschichte zu integrieren. Der dargebotene Kasus und die Gerichtssituation seiner Beurteilung dienen damit ebensosehr der Unterhaltung wie dem Zweck der Aufklärung oder Rechtsprechung. Diese Ambiguität des Kasus ist bei Kaufringer programmatisch in Szene gesetzt. Im Verklagten Bauern wird die abschließende Gerichtsverhandlung überblendet mit der Form des Rätselspiels. Obwohl die Erzählung formaler Details und die Verwendung juristischer Begrifflichkeiten einen authentischen Prozeßverlauf suggeriert, emanzipieren sich die Erzählungen des Bauern immer mehr aus ihrer ursprünglichen Beweisfunktion und werden zu unterhaltenden Geschichten merkwürdiger Begebenheiten. Die letzte endet als Schwank vom ehebrecherischen Pfarrer und der Frau des Richters und fungiert in gewissem Sinne als literarische Pointe der ganzen Veranstaltung. In der Rache des Ehemannes wird gerade dieser ambivalente Charakter des Kasus als ernster Rechtsfall und unterhaltender Erzählfall ausgestellt: Die Festgesellschaft selbst weiß gar nicht, daß sie eine Funktion als Rechtsinstanz ausüben soll, der Ehemann maskiert den Rechtsfall als unterhaltende Erzählung und manipuliert so das Urteil der Versammelten zu seinen Gunsten. Abgebildet ist hier sozusagen in nuce ein Transferprozeß zwischen Realität und Fiktion: Der Übertritt des Geschichtenerzählens aus seinem pragmatischen Bereich und Zweck, der Rechtsprechung, der Beurteilung der Fälle im Gericht, in einen neuen Bereich, den der Literatur, wo sich die Beurteilung des Falles und das folgen- und verpflichtungslose Vergnügen am Fall die Waage halten. Nicht von ungefähr finden sich auch unter den Decameron-Novellen einige Rechtsfälle. 28 Die Novelle hat eine genetische Verbindung zum Rechtsfall, besonders zum Kasus, dessen Beurteilung strittig ist und der als nicht einzuordnender Vorfall ( ‹ unerhörte Begebenheit › ) die Normen und Werte einer gültigen Gesellschaftsordnung hinterfragt. Becker zeigt für die streng juristisch formalisierte Sammlung der französischen Arretz d ’ Amour Freiräume auf, wo sich aus dem Kasus novellistisches Erzählen emanzipiere. 29 Für 28 Siehe dazu Bosse (1999), S. 312: Im Decameron begegnet der Kasus als Ereignis mit Handlungsbedarf am häufigsten, «sei es als zufälliges Geschehen, sei es als vorsätzliche Störung des Zusammenlebens.» Auch der italienische Novellino erzählt zahlreiche Rechtsfälle, vgl. János Riesz : Nachwort. Il Novellino. Das Buch der hundert alten Novellen. Italienisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von János Riesz. Stuttgart 1988, S. 307 - 342; S. 322. Dazu Jacobs / Klugmann (2003), S. 7 - 50. 29 Becker (1991), S. 374 - 376. 281 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage Kaufringer, dessen Umgang mit juristischen und rhetorischen Modellen von vornherein als spielerisch zu bewerten ist, der diese Formen narrativ zu nutzen weiß, würde ich gerade umgekehrt argumentieren: Hier ist es das Interesse am Kasus und an der Problematik seiner Beurteilung, das ein Erzählen generiert, welches dem novellistischen im Sinne Boccaccios ähnlich sieht. Wie bereits erwähnt, gilt das Gespräch als eine situative Grundbedingung der Novelle, woraus die Bedeutung von ‹ Mündlichkeit › und ‹ Geselligkeit › für novellistisches Erzählen resultiert. 30 Dabei reflektiert novellistisches Erzählen über das Textualitätsmerkmal ‹ fingierter Mündlichkeit › seit der Frühen Neuzeit «die medien- und sozialgeschichtlich bedingten Veränderungen der Kulturpraxis des Erzählens». 31 Literarische Konzepte einer Kulturtechnik ‹ geselliger Kommunikation › untersucht Caroline Emmelius für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit. 32 In der mittelalterlichen Literatur interessiert sie vor allem das Ordnungsmodell eines ‹ höfischen Erzählkreises › , wie er etwa im Iwein Hartmanns von Aue mit Kalogreants Erzählung von der Brunnenâventiure inszeniert ist. Auch in den Mären wird geselliges Erzählen als «Ordnungshandeln» 33 charakterisiert: Im Promythion des Nonnenturniers wird das Geschichtenerzählen reihum als angenehmer Zeitvertreib gegen Langeweile gepriesen: wir sollen nu abenteur sagen./ ich sage zu meinem teil das: [. . .]. 34 Innerhalb einer höfischen Erzählgemeinschaft ist nun der Erzähler an der Reihe, seine Geschichte zu sagen. Die anderen sollen lauschen und dürfen erzählen, wenn die Reihe an ihnen ist: Diese Rahmung dient der Betonung einer Sprecherkompetenz und sie motiviert die Geschichte, darüberhinaus wird sie aber nicht nutzbar gemacht. Die pragmatische Situation ‹ geselligen Erzählens › scheint hier unmittelbar abgebildet, man kann sich die Praxis eines solchen Erzählkreises vorstellen. Ob die Mündlichkeit eine 30 Hugo Aust : Novelle. 4., akt. u. erw. Aufl. Stuttgart 2006. 31 Christine Lubkoll : Fingierte Mündlichkeit - inszenierte Interaktion. Die Novelle als Erzählmodell. In: ZGL 36 (2008), S. 381 - 402; hier S. 383. So wird etwa in der Vorrede des Lalebuchs (1597) der mediale Umbruch im Zuge des Buchdrucks faßbar, wenn die Unmittelbarkeit mündlichen Erzählens gegenüber einer unzuverlässigen schriftlichen Tradition aufgewertet wird: Die Bücher aus der Bibliothek sind von Holzwürmern zerfressen. Aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts verweisen Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten auf die vergangene Kulturform geselligen Erzählens und veredeln sie mit dem ästhetisch normierten Konzept der ‹ moralischen Erzählung › . 32 Caroline Emmelius : Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Frühe Neuzeit 139). Berlin 2010. 33 Ebd., S. 51. 34 Zit. nach der Ausgabe Grubmüller (1996), S. 944 - 977. 282 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil inszenierte ist oder nicht, bleibt fraglich, jedenfalls wird die Interaktion, die Kommunikation im Gespräch über Geschichten nur anzitiert. Wenn man Kaufringers Texte hier mitbedenkt, so gehen sie mit der intradiegetischen Fingierung interaktiver Gesprächssituationen einen Schritt über den vorgestellten Erzähleingang des Nonnenturniers hinaus, gehen folglich nicht in einem ‹ Ordnungshandeln › (Emmelius) auf. Vor allem auf die Suche nach dem glücklichen Ehepaar ist hier noch gesondert zurückzukommen, wo ein novellistisches Prinzip in den Gesprächen zwischen Wirt und Gast aufscheint. Auch im Vergleich zu Strickers Klugem Knecht, dessen Handlung ebenfalls von der Metadiegese des Knechts im Gespräch mit seinem Herrn dominiert wird, welche dort aber eine primär erkenntnisleitende Funktion übernimmt, sind die Metadiegesen in der Suche nach dem glücklichen Ehepaar einer anderen Kategorie zuzuordnen. 3.2 Die Novelle als ‹ Kettenerzählung › und Kaufringers ‹ Kasusketten › Müller stellt fest, daß die «offene Struktur» einer «Pluralisierung plausibler Handlungs- und Deutungszusammenhänge» Kaufringers Mären «dem Novellentypus des Boccaccio und seiner Nachfolger» 35 annähere. Er gewinnt dieses Ergebnis, indem er drei Fassungen des Stoffes von den Drei listigen Frauen vergleichend untersucht: die aus dem 14. Jahrhundert anonym überlieferte Fassung A aus dem Codex Karlsruhe 408, Kaufringers Drei listige Frauen B und die in zwei Varianten überlieferte Bearbeitung C des Hans Folz (ca. 1480/ 88). 36 Der Vollständigkeit halber sei hier ein kurzer Handlungsüberblick zu Kaufringers Text eingeschoben: Drei Bäuerinnen, die sind uns all wol erkant (9), Jüt, Hiltgart und Mächilt, nehmen auf dem Markt in der Stadt siben haller (25) ein, woraufhin ein Streit um den überzähligen Heller entbrennt. Sie beschließen, diejenige solle ihn haben, die mit irem cluogen list/ allermaist gelaichen kan/ und betriegen iren man (38 - 40). Soweit der rahmende Erzählanlaß für die Einzelepisoden. Die erste handelt von Hiltgart: Ihrem Ehemann mair Perchtold (55) macht sie weis, der Gestank eines faulen Zahns in seinem Mund mache sie sterbenskrank. Als Perchtold sich nicht an Beschwerden mit seinen Zähnen erinnern kann, verstärkt Hiltgart ihre schauspielerische Dar- 35 Müller (1984), S. 305. 36 Der wahrscheinlich erfolgreichste Stoff der deutschen Märenliteratur (Grubmüller), dessen Erzählkonzept sich als Grundriß auch in der internationalen Novellistik des Mittelalters breit vertreten zeigt, ist in seinen Ausprägungen gut untersucht: siehe Raas (1983), S. 390; Frosch-Freiburg (1971), S. 177 - 192; speziell zu Kaufringer Grubmüller (1996), S. 1292 - 1296. 283 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage bietung der Leidenden so überzeugend, daß er es schließlich glaubt. Der Knecht, Hiltgarts Liebhaber, bindet den Bauern auf einen Tisch und zieht ihm einen Zahn aus der linken Backe. Hiltgart aber behauptet, es sei der falsche, der faule sei auf der rechten Seite. Der Bauer muß noch eine Zahnextraktion über sich ergehen lassen, in deren Folge er das Bewußtsein verliert. Die Frau erklärt, ihr Mann liege im Sterben und läßt den Pfarrer zur letzten Ölung holen. Nachdem Perchtold gebeichtet hat, läßt sich Hiltgart in ihrem einmal eingeschlagenen Handlungsmuster nicht beirren: Sie verkündet, seine Seele verlasse nun den Körper, deckt ihn zu und beklagt seinen Tod. Aufgebahrt in einem offenen, nur mit einem Tuch bedeckten Sarg wird er von den Nachbarn betrauert. Als die Trauergäste gegangen sind, setzt Hiltgart den Knecht vollends als seinen Nachfolger ein: Neben dem Sarg treiben sie der minne spil (268), und nicht einmal jetzt fällt Perchtold aus seiner ihm oktroyierten Rolle, sondern verkündet dem knecht Hainz (269) lediglich, daß er das nicht durchgehen ließe, würde er noch leben. Damit schließt der Erzähler die erste Episode und berichtet in der zweiten von fraw Jüt (290): Die macht an diesem Abend ihren Mann mair Cuonrat (292) so betrunken, daß er sogleich einschläft und sie ihm unbemerkt eine Tonsur scheren kann. Als die Kirchenglocken den nächsten Tag einläuten, hat Hiltgart den ‹ toten › Perchtold bereits in der Kirche aufbahren lassen. Jüt weckt ihren Mann und spiegelt ihm vor, er sei der Pfarrer Hainrich (322) und müsse in der Kirche die Seelenmesse zu Perchtolds Begräbnis halten. Cuonrat läßt sich von der Tonsur überzeugen, und seinen Einwand, er könne nicht lesen, kontert Jüt geschickt mit dem Hinweis, die göttliche Erkenntnis werde ihn erreichen, sobald er an den Altar trete. Sie gehen also zur Kirche und Cuonrat wird von Jüt im Meßgewand als Pfarrer am Altar installiert. Dort stehend, täuscht seine Verkleidung auch die Gemeinde, die sich nun versammelt. Der Erzähler beendet die zweite Episode an dieser Stelle, um die dritte von frau Mächilt (400) zu beginnen. Sie hat ihrem Mann mair Seifrid (402) am Abend vorher beim Zubettgehen alle Kleider versteckt. Als sie ihn des morgens weckt und ihn auffordert, zur Kirche zu gehen, um Perchtold das Totenopfer darzubringen, sucht Seifrid vergebens nach seiner Kleidung. Mächilt macht ihm weis, er habe sie bereits an und geht einer Diskussion aus dem Wege, indem sie ihn zur Eile antreibt und zornig für verrückt erklärt, weil er meint, nackt zu sein. Seifrid läßt sich einschüchtern und geht nackt in die Kirche. Hier nun laufen die Erzählstränge aller drei Episoden zu einer furiosen Schlußszene zusammen: Als Seifrid zum Opfer an den Altar tritt, wo Perchtold in seinem Sarg liegt und Cuonrat als Pfarrer steht, kann er seinen Geldbeutel nicht öffnen, weil sich an der gewohnten Stelle nur seine Hoden befinden. Mächilt ist mit einem Messer zur Stelle, um ihrem ungeschickten Mann den pütel (468) zu öffnen: Sie kastriert ihn. Schreiend und seine Frau verwünschend rennt Seifrid daraufhin aus der Kirche. Dieses Ereignis bringt auch Cuonrat die erlösende Erkenntnis, sodaß er sich aus seiner Pfarrersrolle befreit und dem tobenden Seifrid nachläuft. Hinterher die neugierige Kirchengemeinde, da keiner das wahnsinnige Getöse begreift. Nur Perchtold liegt noch in seinem Sarg in der leeren Kirche, bis auch er erkennt: «wes lig ich hie? » (513) - wütend läuft er nach draußen. Der auferstandene Tote läßt die Szene nun vollends eskalieren: Alles flüchtet aus Angst, Perchtold indessen sieht seine beiden Leidensgenossen wie die wilden Tiere über die Wiese in den Wald rennen und eilt ihnen nach. 284 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil Im Zuge seiner vergleichenden Untersuchung der verschiedenen Fassungen bemerkt Müller einen «schrittweise[n] Abbau exemplarischer Lebenslehre», vor allem aber stünden die Texte «für eine Gattungsdifferenzierung und einen Wandel der Wirklichkeitserfahrung». 37 Immer neue wissenswerte oder bloß kuriose Realitätspartikel reihender Schwank (Folz) und novellistische Zuspitzung widersprüchlicher Realität im besonderen Fall (Kaufringer) sind nicht einander ablösende sondern gleichzeitig verfügbare Alternativen, die sich aus dem älteren Typus herleiten lassen. 38 Besetzt also bei Müller Kaufringer mit seiner Ausformung des Plots die narrative Alternative der novellistischen Priorisierung des Kasus, so bestätigen die in dieser Arbeit vorgenommenen Vergleiche von Kaufringers Unschuldiger Mörderin, Rache des Ehemannes, Verklagtem Bauern und Feigem Ehemann mit den jeweiligen Parallelen dieses Ergebnis: Die Konzentration auf den besonderen Fall, das narrative Ausstellen von Kasuistik ist stets für Kaufringers Bearbeitung des Stoffes spezifisch. Wo, wie im Falle der Drei listigen Frauen, der gesamte Plot auch in einer späteren oder mit Kaufringer gleichzeitigen Parallele existiert (Unschuldige Mörderin, Verklagter Bauer, Feiger Ehemann), konnte die vergleichende Betrachtung innerhalb der Modellanalysen zeigen, daß diesen Parallelen nicht die Tendenz zur Kasuisierung eignet, wie sie sich bei Kaufringer findet. Die in den Modellanalysen herausgearbeiteten Erzählstrategien des perspektivierten Erzählens, einer damit einhergehenden Pluralisierung der Standpunkte, der fingierten Mündlichkeit und damit Selbstreferenz des Erzählens in den ‹ Gerichtsszenen › und schließlich der Bedeutung der Rezeptionsebene für die Beurteilung des Kasus lassen ebenfalls an novellistisches Erzählen denken, wie es Neuschäfer anhand von Boccaccios Decameron charakterisiert hat. 39 Für Jolles steht die Form des Kasus auf der Grenze zur Kunstform der Novelle, «jener Kunstform, die ihrerseits ein eindringliches Ereignis in seiner Einmaligkeit zeigt, die es nun aber gerade, weil sie Kunstform ist, nicht mehr als Kasus meint, sondern um seiner selbst willen». 40 Um der Frage nachzugehen, wie weit sich Kaufringer einer solchen literarischen Selbstreferenz novellistischen Erzählens nähert, möchte ich abschließend die Erzählung von der 37 Müller (1984), S. 304. 38 Ebd., S. 305. 39 Auch Grubmüller (2006), S. 266 sieht Kaufringer in der durch Neuschäfers Untersuchung angestoßenen Diskussion um die Unterscheidung zwischen mittelalterlich exemplarischem und neuzeitlich novellistischem Erzählen eine Schlüsselstellung einnehmen; hier zu Chorherr und Schusterin. 40 Jolles (1974), S. 182. 285 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage Suche nach dem glücklichen Ehepaar betrachten. Es geht mir dabei - abseits einer Wertung - um die Schärfung des in den Modellanalysen erarbeiteten Kaufringerschen Erzählprofils. Aufgrund ihrer strukturellen Eigenart, einzelne Binnenkasus unter dem Motto einer Rahmenerzählung aufzureihen, entspricht die Suche nach dem glücklichen Ehepaar den Drei listigen Frauen, für die Müller feststellt: Bei Kaufringer ist schon der einzelne Fall komplex, Komplexität nicht erst Ergebnis einer offenen Reihe disperser Fälle. Er arbeitet einen - in Grenzen - plausiblen Kontext des abstrusen Geschehens auf und schärft die Spannung zwischen der vordergründigen Komik und ihren bedrohlichen Konsequenzen. 41 Die Erzählungen innerhalb der Rahmenerzählung können also auch eigenständig existieren, ihre Komplexität nähert sich derjenigen der Binnenerzählungen in Boccaccios Decameron. Die Selbständigkeit der einzelnen Episoden innerhalb der Drei listigen Frauen übersteigt ihre eigentliche Belegfunktion im Hinblick darauf, wie gut die einzelne Ehefrau ihren Gatten jeweils hinters Licht führen kann. Der Erzählanlaß der Frage, wem der überzählige Heller gehören solle, und in der Folge, wer seinen Ehemann am besten überlisten könne, motiviert als Rahmen verschiedene Antworten, die sich als eigenständige Erzählungen raumgreifend emanzipieren. Nicht anders ist das sozusagen dialogische Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählung im Decameron organisiert: Die Frage nach einer Geschichte zu einem bestimmten Thema erhält jeden Tag zehn individuelle Antworten in Form von zehn eigenständigen Erzählungen. Rein strukturell betrachtet, könnte man sagen, Kaufringer praktiziere im Kleinen, was sich bei Boccaccio im Großen findet: Der Novellensammlung des Decameron als zyklisch organisierter ‹ Kettenerzählung › möchte ich daher die ‹ Kasusketten › Kaufringers gegenüberstellen. Im Falle der Suche nach dem glücklichen Ehepaar dient die Suche des Protagonisten - diesmal nach einem idealen Ehepaar, wie es den im Promythion formulierten Vorstellungen christlicher Ehemoral entspricht - als motivierender Erzählrahmen, innerhalb dessen zwei selbständige Einzelkasus narrativ ausgestaltet werden. Die aufsehenerregenden Binnengeschichten übersteigen bei weitem eine Funktionalisierung durch den Erzählrahmen. Dies betont auch Grubmüller, der das Märe als Exempel organisiert sieht, das «die Lehre von der Unvollkommenheit der Welt und der notwendigen Zufriedenheit mit dem Gegebenen» vermittle, wobei zugleich «in der überspitzten Kraßheit der Motive die Gültigkeit des Gelehrten in Frage gestellt» sei: 41 Müller (1984), S. 304 f. 286 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil Kaufringers Auseinandersetzung mit dem Typus des lehrhaften Märe mündet hier in die nicht entschiedene Alternative: belegkräftiger Kasus oder abstruser Einzelfall. 42 Das Verhältnis von einzelnem Kasus und seiner Funktionalisierung innerhalb der Rahmenerzählung ist für Kaufringers Erzählen also anhand der Suche nach dem glücklichen Ehepaar interessant zu beleuchten. Hinzu kommt die erzähltechnisch für die Novelle charakteristische Spiegelung der Erzählsituation: Die Binnenerzählungen werden dem Protagonisten im Gespräch von anderen Figuren erzählt. 3.3 Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar - Dialogstruktur und Perspektivenpluralisierung Der Kasus der Suche nach dem glücklichen Ehepaar ist auf den ersten Blick kein Rechtsfall, wie wir ihn in der Unschuldigen Mörderin oder im Verklagten Bauern thematisiert haben. Es geht stattdessen - ähnlich wie im Feigen Ehemann - zunächst um die Diskursivierung einer Sentenz, in diesem Falle einer moraltheologischen, hinter der sich ein bekanntes Bibelwort verbirgt. 43 Es ist ain altes sprichwort; das haun ich vil oft gehort: ain man und auch sein eweib zwuo sel und ainen leib süllen mit ainander haun. (1 - 5) Wie beim Feigen Ehemann wird diese Sentenz vom Erzähler der Geschichte prologisch vorangestellt. Er expliziert daran das Wesen einer rechte[n] ee (15): si süllen also sein veraint, was ir ains mit willen maint und im ain wolgefallen ist, so sol das ander ze der frist auch sein gunst dazuo geben. (9 - 13) 42 Grubmüller (1996), S. 1280 f. 43 Es handelt sich um Gen 2,24: et erunt duo in carne una. Zur Formel, die in zeitgenössischer Literatur auch in der Variante duo in corde uno begegnet, vgl. André Schnyder : Er zoch hin, so zoch sie her. Das schwierige Verhältnis der Geschlechter in den Mären Heinrich Kaufringers. In: Speculum medii aevi 3 (1997), S. 1 - 19; S. 3 mit weiterer Literatur. 287 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage Ohne besondere Überleitung wird sodann die Geschichte angeschlossen. Ein reicher burger (17) ist unzufrieden mit seiner Ehe, weil seine Frau im Gegensatz zu ihm, der gerne Gäste hat und feiert, auf Sparsamkeit achtet und ihm Vorwürfe macht wegen seiner Freigebigkeit. Eines Tages mit sich alleine, kommt er ins Grübeln und stellt fest, daß die Fremdwahrnehmung seiner Frau, die in der ganzen stat (53) von jedermann als gute Ehefrau gelobt und geachtet werde, nicht mit seiner eigenen Wahrnehmung übereinstimme, denn ihm mache sie arg zu schaffen mit irer bösen karkhait (61). Er kommt zu dem Schluß, daß seine Ehe nicht dem Ideal entspreche und er sich auf die Suche nach Eheleuten machen wolle, die sich tatsächlich einig seien: die also seien veraint,/ was ir ains will und maint,/ das es sei des andern will/ oun krieg und oun widerpill (76 - 78). Unter dem Vorwand, in Kaufmannsgeschäften auszureiten, begibt sich der Protagonist auf die Suche. Vier Jahre reitet er erfolglos umher, bis er im fünften endlich gefunden zu haben glaubt, was er sucht: Er ist bei einem reichen Bürger eingekehrt, der mit seiner Frau eine vollkommen harmonische Ehe zu führen scheint. Folgerichtig will der Gast wieder nachhause reisen, doch nachdem er dem Wirt seine Geschichte und den Grund seiner Abreise erzählt hat, bittet dieser ihn, noch einen Tag zu bleiben. Am folgenden Abend, nach einem rauschenden Fest, läßt der Wirt seinen Gast Zeuge eines Rituals werden, das seine Frau jeden Tag vor dem Schlafengehen vollziehen muß: Sie trinkt Wein aus einem Totenschädel. Dieser habe einem Pfaffen gehört, dem Liebhaber seiner Frau, wie der Mann dem Gast erzählt. Nachdem er ihn getötet und heimlich vergraben habe, zwinge er nun seine Frau zu dieser allabendlichen Buße. Der Protagonist macht sich also wieder auf die Suche und kehrt in einer weiteren Stadt bei einem Bürger ein, dessen Eheleben ihm nun tatsächlich ideal zu verlaufen scheint. Schon im Aufbruch begriffen, erzählt der Reisende auch diesem Wirt seine Geschichte und wieder tun sich Abgründe auf. Der Gastgeber führt ihn in den Keller seines Hauses, wo ein ungeheuerlich riesiger Bauer angekettet ist. Der diene als heimlicher Minnesklave für die unersättliche Ehefrau, so erzählt der Wirt, denn ansonsten treibe sie ihre Unkeuschheit öffentlich in der ganzen Stadt und entehre sich und ihn. Mit dem Bauern im Keller habe er einen Weg gefunden, seine Ehre nach außen zu wahren, doch heimlich müsse er darunter umso mehr leiden, denn auch alle seine Kinder seien vom Bauern gezeugt. Dem erschrockenen Augenzeugen erklärt nun der Wirt die unsinnige Kostspieligkeit seiner Suche. Die ideale Ehe gebe es nicht und er werde eher seinen Besitz noch ganz verschleudern, als ein Ehepaar zu finden, das ohne zwaiung (466) sei. Seiner treuen Frau tue er unrecht: ir karkait ist ze schelten nicht (455). Solchermaßen belehrt tritt der Protagonist schließlich die Heimreise an und arrangiert sich künftig mit seiner Frau. Schon in den Drei listigen Frauen zeigt der Erzählrahmen einen deutlichen Alibicharakter, indem die nach der Struktur des Streitgesprächs organisierte quaestio comparativa 44 am Schluß keine Antwort erhält: 44 Die quaestio comparativa bezeichnet eine im Gegensatz zur quaestio simplex verkomplizierte rhetorische Fallfrage, da es sich um eine zwei- oder mehrgliedrige Alternativfrage handelt, siehe Lausberg § 67 c), S. 61. 288 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil nun wolt ich gern wissen das, wölhe iren man nun bas betrogen und gelaichet hiet. der mir das nun sagt und riet, den wölt ich gar für weise han. wölhe das nun hett getan, si hett pillich oun alle swär den ungeraden hallär. des waiß ich selb nit sicherlich. hiemit die red nun endet sich. (551 - 560) Die dispositio führt das Strukturprinzip vor, füllt es jedoch nicht mehr mit juristisch relevanten Argumenten, sondern mit einzelnen Schwänken, sodaß die Form in der Frage nach dem Ausgang der quaestio insgesamt zur - wenngleich nicht unproblematischen - Parodie wird 45 : Es gibt keine Lösung der ursprünglichen Frage nach der rechtmäßigen Besitzerin des überzähligen Hellers, sie diente nur als motivierender Rahmen für den Vortrag der einzelnen Kasus. 46 45 Daß dieser Stoff gerne im juristischen Rahmen des Prozesses oder Streitgesprächs präsentiert wurde, zeigen vor allem die italienischen Parallelen, wo die Rahmung der Einzelkasus durch die Einkleidung der Geschichte insgesamt als Kasus mittels Einführung eines Richters öfter begegnet, vgl. Felix Liebrecht : Zur Volkskunde. Alte und neue Aufsätze. Heilbronn 1879, S. 133 - 137. Die italienische Parallele Li tri cumpari (Ausgabe Giuseppe Pitrè : Fiabe, novelle e racconti popolari siciliani. Bd. 3 (= Nachdruck der Originalausgabe Palermo 1875). Bologna o. J., S. 255 - 266 mit weiteren Parallelen) vollzieht etwa eine unmittelbare inhaltliche Juridifizierung des Stoffes über die Einführung eines Advokaten, der den Wettkampf der Frauen nicht nur auslöst, sondern dessen Regeln aufstellt, die Leitung und Überwachung übernimmt, und ihn schließlich auch entscheidet. 46 Man muß dazu sagen, daß der offene Schluß des Wettstreits auch in anderen Stoffparallelen bereits ausgeprägt ist, so etwa in der Fassung A des Karlsruher Codex. Schirmer (1969), S. 300 f, sieht deshalb hier Anklänge an die Form des Streitgesprächs. Diese Verbindung zeigen indes schon die altfranzösischen Fabliaux, die den Stoff ausformen. Sie alle haben einen offenen Schluß und man hat sie mit der Tradition der jeux partis und questions dilemmatiques in Verbindung gebracht, vgl. Jean Rychner : Contribution à l ’ étude des Fabliaux. Variantes, Remaniements, Dégradations. 2 Bde. Neuchâtel und Genf 1960, Bd. 1, S. 16 mit weiteren Hinweisen auf andere Fabliaux mit einem solchen offenen Schluß. Zum jeu parti als formalem Vorläufer des literarischen Streitgesprächs außerdem Kasten (1973). Kaufringer legt die Funktion der Form, ‹ Sachverhalte › , oder allgemeiner, Standpunkte diskursiv gegeneinander abzuwägen, der narrativen Ausformung seines Textes zugrunde, indem er diese offene Schlußformel übernimmt und gezielt betont, gleichzeitig die einzelnen Kasus durch vielfältigen Wirklichkeitsbezug plausibilisiert, wie Müller (1984) gezeigt hat. 289 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage Während die Erzählung von den Drei listigen Frauen als quaestio comparativa die einzelnen Kasus gegeneinander antreten läßt und eine Entscheidung dieser Konkurrenz auch als Ziel des Textes formuliert, scheint die Suche nach dem glücklichen Ehepaar im Sinne einer quaestio coniuncta 47 verschiedene Ehekasus lediglich vorzuführen, die Perspektiven liefern auf die eingangs vom Erzähler zitierte Sentenz und seine Bemerkungen über die rechte ee. Das abstrakte Problem einer Theorie der idealen Ehe kann freilich nur in all seine praktisch-individuellen Fallkonstellationen aufgelöst werden. Dazu paßt, daß der Erzähler selbst seine theoretischen Ausführungen nicht in Beziehung setzt zur folgenden Geschichte. Auch am Schluß gibt er seinen Rezipienten im Epimythion zwar einen Rat mit auf den Weg, der bezieht sich jedoch ausschließlich auf den speziellen Fall der Geschichte selbst und in keiner Weise mehr auf die theoretische Anweisung des Promythions: Darumb rat ich das fürwar: ain ieglich fromer man sol zwar seinem weib das übersehen, ob er anders nicht mag spehen an ir, dann das si kark sei. da muoß frümkait wonen bei. (495 - 500) Wozu wird das Promythion dann überhaupt gebraucht? Wie im Feigen Ehemann scheint seine Funktion in erster Linie eine handlungsmotivierende zu sein: Explizit bezieht sich nur der Protagonist auf die dort formulierte Sentenz, und zwar jedesmal aufs Neue, sobald er seine Geschichte einem der Wirte erzählt (V. 144 - 167; 308 - 346). Dem Protagonisten wird seine Ehe überhaupt nur zum Problem, weil er (nicht der Erzähler! ) sie an eben der im Promythion explizierten Vorstellung christlicher Ehemoral mißt 48 - der Erzähler distanziert sich sogar ganz deutlich mit eigener Argumentation: si was ze karg, er was ze milt. das weib ich doch darumb nit schilt, wann in andern sachen zwar was si im gefölgig gar. (45 - 48) 47 Die quaestio coniuncta ist in dem Sinne verkompliziert, als sie aus mehreren quaestiones simplices besteht, die gleicher oder verschiedener Art sein können, siehe Lausberg § 67 b), S. 61. 48 Dabei werden die Gedanken des Ehemannes in direkter Rede mitgeteilt: Ains tags der man allaine sas./ er gedacht mit im selber das: [. . .] (49 f). Wir werden Zeugen, wie sich ihm die Diskrepanz zwischen der Eigen- und der Fremdwahrnehmung seiner Ehe in der ganzen stat (53) als Problem darstellt. Schnyder (1997), S. 4 betont die Modernität einer solchen Darstellung von «Innerlichkeit». 290 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil Insofern hier also bereits von Anfang an das Erzählen strikt aus der Figurenperspektive gekennzeichnet und der Standpunkt des Protagonisten explizit demjenigen des Erzählers kontrastiert wird, gibt sich die für Kaufringer typische extreme Konstruiertheit des Textes zu erkennen: Das Promythion fungiert als externe Motivation, um den Standpunkt des Protagonisten klar zu machen und ihm ein plausibles Argument für seine Suche an die Hand zu geben. Wie dies bereits im Feigen Ehemann deutlich wurde, verwischen hier Grenzen zwischen extra- und intradiegetischem Erzählen. Der Protagonist und seine Meinung werden gewissermaßen ‹ vorgeführt › und so kann im Verlauf des Textes auch der Irrweg des Protagonisten zum produktiven narrativen Strukturmodell werden. Er eröffnet den Raum für das Erzählen von Geschichten, die die Ausgangsfrage, den ursprünglichen Kasus aus verschiedenen Perspektiven beleuchten - gleichwohl in dieser Funktion nicht aufgehen. Zitiert wird mehrfach das höfische Erzählmuster der âventiure 49 , wobei die Ritterlichkeit höfischer Literatur und die Bürgerlichkeit der Handlungswelt des Textes in auffälliger Weise kontrastieren: In einer Art heimlicher Ausfahrt reitet der herre frumm und wolgetan (87) in Begleitung eines Knechts in die lant (82), denn er begründet seinen Aufbruch offiziell als Kaufmannsreise (85). Seine beiden Gastgeber erkennen jedoch, daß er auf der Suche nach aubentüre (139, 298) sei, und sältzan aubentür (375) haben sie ihm auch zu bieten. Als haarsträubende Fälle von Ehebruch und seinen Folgen - einmal ist das die Ermordung des Liebhabers durch den Ehemann und das andere Mal die Verschleppung und Gefangenhaltung eines Bauern als ‹ Liebessklaven › für die nymphomanische Ehefrau - übererfüllen die Binnenkasus ihre Funktion als Exempel im narrativen Strukturmodell einer moralphilosophischen quaestio. 50 Sie erfüllen vielmehr die Kriterien echter âventiure-Episoden, schließlich haben sie nicht weniger als ains menschen hirenschal (229) als Trinkgeschirr und einen angeketteten Bauern in einer steinernen Kammer im Keller zu bieten. 51 Das Motiv des descensus ist im zweiten Fall unschwer als Folie zu erkennen. Der Abstieg in die düsteren 49 Vgl. dazu Schnyder (1997), S. 17 f. 50 Vgl. Grubmüller (2006), S. 185: «Die Abstrusität der erzählten Fälle eignet sich nicht als Belegmaterial für Alltagsregeln.» 51 Zu Motivik und möglichen Quellen vgl. Grubmüller (1996), S. 1279 - 1281. Grubmüller sieht das Exempel Nr. 56 aus den Gesta Romanorum, das den bei Kaufringer ersten Binnenkasus, die ‹ Buße der Ehebrecherin › eigenständig erzählt, als möglichen Ausgangspunkt für Kaufringer. Diese These deckt sich mit der Bearbeitungstendenz, die als Ergebnis aus den anderen Modellanalysen gewonnen werden konnte: Oft sind es lateinische Quellen, auf die Kaufringer zurückgreift, und meist sucht er sich gerade die kasuistischen Stoffe. Da hier, wie im Falle der Rache des Ehemannes, einzelne Stoffelemente, die sich auch in Kaufringers Text 291 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage Kellergewölbe hält den ungehür bauer (376 f) als das dort hausende Ungeheuer bereit. Die Auswucherungen ins Phantastische werden noch deutlicher, wenn der zweite Wirt erzählt, er habe diesen Bauern, der tatsächlich mehr als Ungeheuer denn als Mensch beschrieben wird 52 , in einem fremden Land gefunden und von dort entführt (400 - 407). Die quaestio als Suche nach der Antwort auf ein moralphilosophisches Problem ist hier gewissermaßen mit der Abenteuer-Queste des höfischen Erzählens quergeschalten. Der Protagonist erlebt die âventiuren nicht, sie werden ihm erzählt. Die abenteuerlichen Dinge und Begebenheiten, die er zu sehen bekommt, sind lediglich Augenscheinbeweise, die die Wahrheit des Erzählten verbürgen. Das eigentlich Abenteuerliche enthüllt erst die Unterhaltung mit der jeweiligen Figur, dem Wirt, der die zum Vorgeführten gehörende Geschichte erzählt. Daß eine Figur in der Erzählung eine ‹ eigene › Geschichte erzählt, ist ein prägendes Merkmal der Texte Kaufringers. Das Auftreten einer ‹ Erzählung in der Erzählung › wurde in dieser Arbeit vor allem im situativen Kontext von ‹ Gerichtsszenen › beobachtet, die einer Beurteilung des Falles dienen. In der Suche nach dem glücklichen Ehepaar findet sich nun eine Häufung von Erzählsituationen innerhalb der Erzählung: zweimal erzählt der Protagonist die Geschichte seiner Ehe und zweimal erzählen im Gegenzug seine Gastgeber die Geschichten ihrer Ehe. Es ist natürlich zu unterscheiden zwischen der jeweils ‹ neuen › Erzählung der Gastgeber, die ich als Binnenkasus bezeichne, und der perspektivierten Wiedererzählung des eigentlich zur Rede stehenden Ehekasus durch den reisenden Ehemann. Die Wirtserzählungen werden dabei immer von den Erzählungen des Protagonisten angestoßen - dem Kettenprinzip der Novellensammlungen ist es zu vergleichen, daß tatsächlich eine Geschichte die folgende nach sich zieht, Erzählen wiederum Erzählen auslöst. Hält man nun die fingierte Erzählsituation aus dem Decameron und die Dialogsituationen der Suche nach dem glücklichen Ehepaar probeweise nebeneinander, so ist zunächst zu sehen, daß sich auch bei Kaufringer die Geschichten des Gastes und des Wirtes in direkter Figurenrede als jeweils individuelle Perspektive unkommentiert gegenüberfinden, ansonsten eigenständig überliefert sind, ist dies ein Hinweis, daß Kaufringer seine Geschichte frei konstruiert haben könnte. 52 darin gieng ain grosser baur, der was fraisam, stark und saur, an ainer ketten stark und guot; [. . .] er stuond, sam im ain windspraus hett zerrüttet als sein har; das stroblet im unhaimlich zwar. (365 - 372) Typisch für Kaufringer dürfte es sein, daß selbst für eine solche ‹ Schauerszene › das bekannte Märenpersonal verwendet und ‹ umgeschminkt › wird. 292 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil stehen. Auf diese Weise wird bei beiden Stationen eine mündliche Erzählsituation inszeniert, die jede Figur sowohl in der Rolle des Erzählers als auch in derjenigen des Zuhörers zeigt. Erzählen wird auch hier «als kommunikativer Akt sichtbar.» 53 Die einzelne ‹ Erzählung in der Erzählung › in der Suche nach dem glücklichen Ehepaar produziert damit einen Sinnüberschuß und übernimmt ähnlich vielfältige Funktionen wie die einzelne Novelle in Boccaccios Decameron. Diese «charakterisiert Personen, balanciert Themen und Anschauungen aus, trägt zum Gleichgewicht der geselligen Situation bei und befördert die Verständigung unter den Redenden.» 54 So wird etwa der Protagonist in der Suche nach dem glücklichen Ehepaar durch die Art charakterisiert, wie er seine Ehe dem jeweiligen Gastgeber gegenüber darstellt: Er postuliert seine Perspektive als die einzig richtige. Für ihn ist die Eigenschaft der Sparsamkeit, durch welche sich seine Frau von ihm unterscheidet 55 , ein geprest (151), an dem die Ehe kranke: das ist ain missfallen mir,/ das si ain wenig ze karg ist (152 f). Die beiden Wirte sowie den Gast charakterisieren ihre Erzählungen weiterhin, indem sie aufdecken, daß keiner von ihnen der ist, der er zu sein vorgibt: Es sind Geheimnisse, die man sich hier gegenseitig vor den Augen und Ohren des Rezipienten enthüllt. 56 Dem zweiten Gastgeber gegenüber beginnt der Protagonist seine Geschichte etwa mit der Ankündigung ich sag ewch mein gehaim also (308). Auch der Wirt erzählt seine Geschichte nur unter der Bedingung, daß der Gast sie für sich behalte: ich will ew mein herzenlait in guoter gehaim nun sagen, wölt ir darzuo still tagen, das ir es niemant tüeent kunt. das versprecht mir hie zestunt, wann ich es niemant wissen laß. (350 - 355) Die Gemeinsamkeit und der Austausch von ‹ Ehegeheimnissen › schafft hier Verständigung unter den Figuren. Dabei wird die Diskrepanz von Innen- und Außenperspektive, von Ideal und Wirklichkeit, die dem Protagonisten zum Problem wurde und seine Suche ausgelöst hat, als Leitmotiv erkennbar. Bemerkenswert ist ja gerade, daß unter Fremden Vorkommnisse verhandelt werden, die das öffentliche Ansehen der einzelnen Ehemänner beschädigen können und deshalb tunlichst geheim bleiben müssen. Ebenso groß wie diese ständig betonte Notwendigkeit scheint aber immer das Bedürfnis, das Un- 53 So Grubmüller (2006), S. 271 zum Decameron. 54 Ebd., S. 270. 55 Vgl. V. 156: daran ist si mir ungeleich. 56 Erzähltechnisch steigert die Ausstellung des Heimlichen die Spannung und rückt damit die folgenden Binnenerzählungen umso mehr in den Vordergrund. 293 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage erhörte mitzuteilen, zu erzählen. Ein solches ‹ Kommunikationsbedürfnis › motiviert in gewisser Weise schon die Ausfahrt des Protagonisten, der die Lösung seines Problems nicht im Privaten, sondern in der Gesellschaft, im Vergleich mit anderen sucht. Die besondere Beziehung des Wirt-Gast-Verhältnisses bildet dabei die Basis, auf der die Fremden im Erzählen zu Vertrauten werden können. Im Strukturmodell der quaestio coniuncta kommunizieren die Binnenerzählungen auf vielfältige Art und Weise untereinander und mit der Rahmenerzählung. Ein gewissermaßen implizites Beleuchten der Sichtweise des Protagonisten aus verschiedenen Blickwinkeln wird möglich. Die einzelnen Kasus haben nicht die Funktion, die eingangs formulierte moraltheologische Sentenz über die Kriterien einer rechtmäßigen Ehe exemplarisch zu bestätigen. Ihr Bezug kann nicht eindeutig bestimmt werden, sie folgen eher der allgemeinen thematischen Vorgabe ‹ Ehegeschichte › . Als seltsam abstruse Einzelfälle einer gescheiterten Ehe scheinen sie das vorangestellte Ideal zu unterlaufen. Mit der Suche des Protagonisten, der eben diesem Ideal anhängt, wird der Experimentcharakter des Textes deutlich: Er führt einen dialogischen Erkenntnisprozeß vor, in welchem kasuistisch ‹ Standpunkte › gegeneinander gehalten werden. 57 Affirmation ist folglich kein zwingendes Charakteristikum exemplarischen Erzählens. Deutlich wird hier umso mehr, daß ein in diesem Sinne zu enger Begriff exemplarischen Erzählens der Komplexität der Texte nicht gerecht wird, für deren Erfassung vielmehr weitere Differenzierungen notwendig sind. Wie in der Einleitung dieser Arbeit bereits entwickelt, ist es gerade der rhetorische Exempelbegriff, das exempelhaft-topische Denken, das Vieldeutigkeit, Perspektivenpluralisierung und damit auch Exemplarität als Unterlaufen von Ordnung impliziert: Mit Peter von Moos kann die Dialektik des Exemplarischen nicht nur im konkreten Sammlungskontext, sondern auch, abstrahiert gesprochen, unter der Voraussetzung des produktionswie rezeptionsseitigen Kriteriums der Pluralität, als intellektuelles Spiel begriffen werden. 58 Für jeden topischen Fall, für jedes Exemplum, ist ein Gegenbeispiel denkbar. Man kann die Widersprüche offen darlegen, sie als Ausdruck der Beschränktheit unseres Erkenntnisvermögens akzeptieren und gerade damit Wahrheit vermitteln. 59 Die Aufmerksamkeit wird dabei auf den oben beschriebenen dialogischen Prozeß verlagert, der dann weniger ergebnisals vielmehr verfahrensorientiert 57 Den strukturellen Sonderstatus der beiden Kaufringertexte Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar und Drei listige Frauen sowie die Frage ihrer Anbindung an eine Tradition des novellare diskutiere ich weiterführend in Rippl (2012). 58 von Moos (1988). 59 Haug (1992), S. 50. 294 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil zu verstehen ist. In dieselbe Richtung weisen Überlegungen Walter Haugs zu der jedem Exempel zugrundeliegenden problematischen, weil ‹ doppelt widersprüchlichen › Spannung von narratio und moralisatio. 60 Anhand von Exempelsammlungen in narrativem Rahmen führt er vor, wie durch die Anlage der Sammlung und die Rahmungen die Spannung vermittelt, Ordnung also zugleich stabilisiert und unterlaufen werde im Sinne eines «Sich-Zurücknehmen[s] und gegenläufigen Nuancieren[s]» 61 : Das einzelne Exempel fungiert dabei als Beispiel, wie es sein kann, aber nicht muß. Hier, mit Bezug auf von Moos, ist Exemplarität also ein Hinterfragen, ein Unterlaufen von Ordnung durch ein «widersprüchliche[s] Miteinander unterschiedlicher Interpretationsweisen». 62 Diesen bisher vernachlässigten Aspekt des Exemplarischen gälte es in die Gattungsdiskussion stärker mit einzubeziehen, spielen doch gerade auch die lateinischen Exempelsammlungen des Mittelalters - man denke etwa an den existentiell aufgeladenen Rede-Agon der Sieben weisen Meister 63 - eine wichtige Rolle als Vorläufer des Decameron. 64 In die Tradition eines auf diese Art erweiterten Verständnisses von exemplarischem Erzählen ist Kaufringer zu stellen. 60 Walter Haug : Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom › Pañcatantra ‹ zum › Dekameron ‹ . In: Ders. und Burghart Wachinger (Hg.): Exempel und Exempelsammlungen (= Fortuna vitrea 2). Tübingen 1991, S. 264 - 287; S. 268 f. 61 Ebd., S. 274, Anm. 10. 62 Ebd. 63 Ralf-Henning Steinmetz (Hg.): Die Historia von den sieben weisen Meistern und dem Kaiser Diocletianus. Nach der Gießener Handschrift 104 mit einer Einleitung und Erläuterungen. Tübingen 2001. Detlef Roth : › Historia septem sapientum ‹ . Überlieferung und textgeschichtliche Edition. 2 Bde: Bd. I: Untersuchung und Edition der Redaktionen I und II, Bd. II: Edition der Redaktionen III und IV und Anhang (= MTU 126 - 127). Tübingen 2004. 64 Diemut Maria Billen : Boccaccios Decameron und die didaktische Literatur des Hochmittelalters. Transformationen des Diskurses an einer Epochenschwelle. Egelsbach/ Köln/ New York 1993. 295 Kasus und Novelle - Zur Gattungsfrage 4 Kasus und Schwank: Überlegungen zur Komik In den Modellanalysen war immer wieder von Komik die Rede, ich möchte deshalb die dort anhand der Texte gewonnenen Beobachtungen bündeln und die Frage nach einer Relevanz von Komik und Lachen für Kaufringers Erzählen stellen. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit, das Verhältnis des Kasus zum Schwank, das mitunter bereits angesprochen wurde, genauer zu bestimmen. Gelacht wird auf der Handlungsebene nirgends in den hier behandelten Texten, überhaupt hat Klaus Grubmüller festgestellt, daß bei Kaufringer kaum noch jemand lache - das einzige Beispiel wäre Chorherr und Schusterin, dort bewegten sich die Protagonisten «auf der Ebene des listigen Scherzes». 65 Dem entspricht, daß die Frage der Komik in den Texten Kaufringers schwierig zu beantworten ist: Grundsätzlich ist aus der komparatistischen Perspektive festzuhalten, daß Kaufringer die in anderen Ausformungen deutlich zutage tretende komische Wirkung reduziert bzw. tilgt, sofern sie seiner argumentativ-diskursiven Grundstruktur - etwa im Sinne einer Vereindeutigung - zuwiderlaufen würde. So wurde etwa für den Feigen Ehemann im Vergleich der Textzeugen deutlich, wie Kaufringer mit der konsequenten Umgestaltung zum Rechtsfall einer Vergewaltigung die Komik des Ehebruchschwanks tilgt. Die serielle Struktur der Morde in der Unschuldigen Mörderin wird, obwohl sie mit der Aufhebung der sakralen Finalisierung frei wäre für die Anlagerung komischer Wirkungen, ganz im Gegenteil vom Erzähler zur catena fatalis umgedeutet - diese profiliert den Kontroversfall der unschuldig Schuldigen. Wenn uns in den Erzählungen dennoch Komik begegnet, so war festzustellen, daß es sich vor allem um eine Sprach- und Situationskomik handelt, die deutlich vom Erzähler gemacht oder gesteuert ist. So desavouiert der Erzähler im Feigen Ehemann den Protagonisten, dessen Standpunkt hernach auch argumentatorisch ausgehebelt wird, bereits im Moment des eigentlichen Vorfalls mit der Bezeichnung des küenen weigant. Am augenfälligsten wurde im Fall der Unschuldigen Mörderin und des Verklagten Bauern, wie Sprachwitz, also sprachlich erzeugte Komik als Argumentationsmittel eingesetzt wird, sowohl vom Erzähler als auch von der privilegierten Figur des Bauern. So könnte man auch das lautmalerische Auskosten der lallenden Ehefrau am Ende der Rache 65 Grubmüller (2005), S. 120. 296 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil des Ehemannes als sprachlich erzeugte bzw. hier besser: als über die Markierung von Sprachlosigkeit aufgerufene Komik bezeichnen. Sie läßt die Frau jedoch nicht bruchlos als die nach dem Schwankprinzip unterlegene und damit zurecht lächerliche Figur zurück, denn das penetrant wiederholte Lallen steht gleichzeitig für die Grausamkeit der durch den Ehemann eigenmächtig verhängten Strafe. Bei dem Körper, der hier durch seine Performanz zunächst komisch wirkt 66 , handelt es sich in erster Linie um einen bestraften und damit im Sinne mittelalterlichen Rechtsverständnisses semantisierten Körper, wobei die performativ hörbar gemachte Form der Bestrafung die Reduktion des Rechtssubjekts Ehefrau im Gerichtsprozeß auf ein stummes Objekt vorführt. Damit ist die komische Wirkung immer schon gebrochen, sie trägt die Frage nach den (gerechten? ) Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit in sich. Wie die unterschiedlichen Perspektiven auf das Fallgeschehen in dieser Erzählung aufeinandertreffen, so ist auch die Komik letztlich eine Frage der Perspektive: Der Text gibt keine eindeutige vor, sondern erzeugt ein Spannungsfeld zwischen Mitleid und Verlachen. Auf die Komik bei Kaufringer paßt insofern die Beschreibung R. Howard Blochs, der Komik charakterisiert als «a transitional phenomenon [. . .], at once against the law and on the side of the law». 67 In ihrer subversiven wie affirmativen Funktion wird Komik bei Kaufringer eingesetzt, je nach Argumentationsziel, und das heißt, daß sie ein gezielt angewandtes Element sein kann, das das Spiel der Meinungen und Standpunkte bereichert oder eine Wirkung, die dieses Spiel unter anderen hervorruft. 68 66 Zur Komik des menschlichen Körpers Hans Rudolf Velten : Laughing at the Body: Approaches to a Performative Theory of Humor. In: Journal of Literary Theory 3, 2 (2009), S. 353 - 374. Siehe auch ders.: Scurrilitas. Studien zur Körpergeschichte des Lachens in Literatur und Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (= Bibliotheca Germanica). Tübingen/ Basel [in Vorb.]. 67 R. Howard Bloch : The Scandal of the Fabliaux. Chicago/ London 1986, S. 125. 68 Die «besondere Form der Komik», die Mareike von Müller (2013), S. 201, mit dem Konzept der ‹ Schwarzen Komik › faßt und anhand von Kaufringers Drei listigen Frauen beschreibt, scheint mir durch ihre betonte Eigenzwecklichkeit auf ein anderes Phänomen als die von mir konstatierte Brüchigkeit und Perspektivensensibilität von Komik bei Kaufringer zu zielen. Von Müller spricht dabei von einer «Ästhetisierung» der «negativen Aspekte des Lächerlichen» (S. 201), einer gewissermaßen von axiologischer Referenz befreiten Hyperbolik des «Negativen, Irrationalen und Obskuren» (S. 215), die m. E. in engerem Zusammenhang mit der Funktionsweise von Schwankkomik (siehe dazu unten) steht, da insbesondere die Drei listigen Frauen, mehr als andere Kaufringertexte, dem Schwankprinzip gehorchen. Auch die Frage nach dem ‹ Textsinn › und die Problematik des Begriffes selbst rückt hier verstärkt in den Mittelpunkt und wäre vor dem Hintergrund der Forschung zur Schwankkomik interessant zu beleuchten, um die These einer intentionalen ‹ Verdunkelung › von ‹ Textsinn › (S. 215) zu differenzieren. 297 Kasus und Schwank: Überlegungen zur Komik An dieser Stelle ist es nötig, das Verhältnis von Schwank und Kasus genauer zu beleuchten: Geht man zunächst von der Struktur des swanc als einer Bewegung aus, so könnte man dieses ‹ Schwingen › mit dem ‹ Abwägen › des Kasus vergleichen und die beiden Formen gleichsetzen, zumal die etymologischen Wurzeln des Begriffs swanc im Mittelhochdeutschen in den Bereich des Schwertkampfes, des Fechtens führen: Ein swanc ist ein Schwertstreich 69 , das Bildfeld des Kampfes als einer agonalen Konfrontation zweier gegnerischer ‹ Parteien › steht also auch hinter der Verwendung des literarischen Schwankbegriffes, der es metaphorisch auf das Geschehen zwischen antagonistischen Aktanten als Textbewegung bezieht. 70 Der Kasus bietet damit die Möglichkeit, den Schwank zu reformulieren und Differenzierungen zu gewinnen. Hat der Schwank denselben Stellenwert wie der Kasus? Wäre kasuistisches Erzählen also eine Konfiguration von schwankhaftem Erzählen? Ich meine nein, denn dem Schwank fehlt die Bewertungsstruktur: Der Kasus fordert zum Urteilen auf, indem er selbst ergebnisoffen bleibt - die Ergebnisoffenheit muß nicht nur durch Unabgeschlossenheit auf der histoire- oder discours-Ebene (offenes Ende oder fehlendes Pro- und Epimythion) zustandekommen, sondern kann auch in gegenläufigen Perspektiven und Bewertungsstrategien begründet liegen, die anstatt von urteilsleitender Eindeutigkeit eine verwirrende und zur Reflexion nötigende Vieldeutigkeit erzeugen. Der Schwank vollzieht zwar dieselbe schwingende Bewegung des ‹ Hin und Her › , sie ist aber nicht in dem Maße diskursiv wie die des Kasus. Der Schwank läuft wie das Spiel bzw. der Wettkampf auf ein Ergebnis zu 71 , wobei ein ‹ Unentschieden › nicht vorkommt, das entspräche der Form des Kasus. Hier wird ersichtlich, daß Schwank und Kasus sich eben in der 69 Der swanc, also Streich, Hieb, Stich mit Waffen, insbesondere dem Schwert, hat in mhd. Texten überaus viele Belegstellen, deutlicher als aus dem Eintrag swanc im Lexer geht dies aus den Erläuterungen des Grimmschen Deutschen Wörterbuchs hervor, siehe DW Bd. 15, Sp. 2224, s. v. Schwang 1 k); sowie DW Bd. 15, Sp. 2243, s. v. Schwank 1). 70 Als dieses strukturelle Moment des ‹ Hin und Her › wird der Schwank schon im 13. Jh. literarisch, etwa in lateinischen Exempeln, vgl. Heinz Rupp : Schwank und Schwankdichtung in der deutschen Literatur des Mittelalters (1962). In: Schirmer (1983), S. 31 - 54, oder im ‹ schwankhaften Märe › (Fischer). Als Gattungsbezeichnung für die Erzählung eines lustigen, häufig boshaften Streichs ist der Schwank seit dem 15. Jh. nachzuweisen, vgl. Hermann Bausinger : Art. Schwank. In: EM 12 (2007), Sp. 318 - 332; Sp. 319. Zur Strukturanalogie von actio/ reactio des Schwanks und rhetorisch-argumentativer probatio/ refutatio vgl. die Überlegungen in Abschnitt II.4.6 dieser Arbeit. 71 Bausinger (1967), S. 125, beschreibt den Schwank als Wettkampf/ Spiel. 298 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil Prozessualität, der Textbewegung des Schwankens und Schwingens nicht unterscheiden, die Differenz liegt im Ergebnis, das beim Schwank ein entschiedenes, beim Kasus ein unentschiedenes ist. Das Spiel ist damit sowohl für den Schwank als auch für den Kasus ein performatives Analogon. Zurecht plädiert Hans Jürgen Scheuer 72 gegen eine Abwertung des Schwanks, die seiner Meinung nach an einer zu einseitigen Betonung der Komik liege. Indem er das Intellektualistische dieser elementaren Erzählform betont - was nachvollziehbar ist - , wird jedoch andererseits die komische Wirkung zu sehr abgeschwächt. 73 Scheuer sucht eine Wertneutralität für den Schwank geltend zu machen, die dieser m. E. weniger bietet als der Kasus. Denn die Schwankbewegung aus Ordnungsverstoß und Replik produziert nahezu immer Komik: Die Komik des Schwanks lebt aus der Unverhältnismäßigkeit der Dinge, was nach Bausinger die Unverhältnismäßigkeit der gegnerischen Parteien meint, also ein Ungleichgewicht struktureller Art, das erzähltechnisch notwendig ist, um die Entscheidung im Wettkampf herbeiführen zu können. 74 Die Komik geht zu Lasten der Verliererfigur, diese ist durch - nicht selten körperliche - Versehrung gekennzeichnet (als Beispiel wäre etwa wieder des Strickers Heißes Eisen heranzuziehen). Schwankkomik erscheint dabei letztlich als didaktisch die Ordnung affirmierend 75 , als «Komik in strafender, korrigierender Absicht». 76 Damit wird gerade über den Ansatz struktureller Gemeinsamkeiten von Kasus und Schwank deutlich, daß Komik eine dem Strukturprinzip des Schwanks inhärente Wirkung ist. Kasuistisches Erzählen stellt dagegen eine Unentschiedenheit her, die eine solchermaßen ‹ strukturbedingte › Komik verhindert oder sie selbst uneindeutig werden läßt. Evident wurde dies anhand der ‹ proportionalen › Ausgewogenheit der in Umlauf gebrachten Körperteile in der Rache des Ehemannes: Alle Hauptpersonen dieses Textes verlieren ein Teil, insofern wird eine mögliche Schwank- 72 Scheuer (2009). 73 Ebd., S. 763. Scheuer begreift Schwänke als «narrative Konfiguratoren, die sich vor komplexere Diskurse schalten lassen». Man müßte jedoch noch weiterfragen, ob der komplexere Diskurs (etwa der religiöse) durch die Vorschaltung des Schwanks nicht abgewertet wird. Dann wäre es eben nicht nur die «Inkongruenz beider», die komisch wirkt, sondern auch die Tatsache, daß der Schwank die ‹ Brille › ist, durch die ein anderer Diskurs betrachtet wird. 74 Bausinger (1967), S. 123 f. 75 Bausinger (2007), Sp. 329 f. 76 Peter Strohschneider : Schwank und Schwankzyklus, Weltordnung und Erzählordnung im ‹ Pfaffen von Kalenberg › und im ‹ Neithart Fuchs › . In: Klaus Grubmüller (Hg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Kolloquium 1987. Paderborn 1988, S. 151 - 171; S. 156. 299 Kasus und Schwank: Überlegungen zur Komik komik durch den herrschenden Gleichstand unterwandert. Bei Kaufringer sind am Schluß alle Figuren gleichermaßen körperlich versehrt. 5 Kasuistik in der Kaufringersammlung und das Spiel mit dem Autor-Erzähler Ich habe in erster Linie poetologisch argumentiert und - jenseits einer Gleichsetzung des Erzähler-Ichs in den Texten mit dem Autor Heinrich Kaufringer - von einem literarischen Spiel der Texte gesprochen, das tradierte Stoffe, gleich, ob weltlich oder geistlich-theologisch akzentuiert, kasuistisch auffaßt und mit juristischen Referenzen auflädt. Ein individuell selbstbewußter Umgang Kaufringers mit tradierten Erzählstoffen ist in jedem Fall zu konstatieren. Dafür, den historischen Autor Heinrich Kaufringer mit dem Erzähler-Ich der Texte in eins zu setzen plädiert Steinmetz, der die Unschuldige Mörderin als Ausdruck einer eigenständigen Gerechtigkeitsanschauung Kaufringers versteht: Den Erzählgestus betonter Meinungsäußerung nimmt Steinmetz damit als Autordeutung in den Blick und charakterisiert ihn mit dem Stichwort der «ungewöhnliche[n] Rationalität». 77 Er verortet diese Autordeutung im Kontext spätmittelalterlicher Frömmigkeitsbewegungen und der damit einhergehenden «Verinnerlichung des Christentums in zuvor nie gekanntem Ausmaß». 78 Für andere Texte wie etwa die Drei listigen Frauen muß man jedoch kritisch anmerken, daß sich Rationalität nicht nur mit dem kopflosen Fliehen der sich wie die wilden Tiere gebärdenden Ehemänner (493 - 495, 543 f), sondern auch mit dem abschließenden Erzählerkommentar verflüchtigt: Wenn der Erzähler sagt, die Ehemänner müßten erkennen, dass sie ‹ mit sehenden Augen blind › seien (546), dann kommt dies einem intellektualistischen Zirkelschluß gleich. Denn wenn man erkennt, daß man sehenden Auges blind ist, was gilt dann? Erkennen oder Täuschung, Sehen oder Blindsein? Eine ernsthafte ‹ Moral › im Sinne eines eindeutig affirmativen Bezugs auf gesellschaftliche Ordnungen (etwa die Ehe) ist aus dem Erzählerkommentar kaum zu destillieren. Schwierig 77 Steinmetz (1999), S. 74. 78 Ebd., S. 68. 300 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil gestaltet sich dies auch bei der Rache des Ehemannes, einem Text, der keinen Kommentar in diesem Sinne besitzt. Gegen die ernsthafte Intention der Erzähleraussagen spricht nicht zuletzt jene spielerisch dialektische Organisation der Texte, die in den Modellanalysen nachgewiesen werden konnte. Die Rekonstruktion eines textdisponierenden Gerichtsredenschemas machte die Verhandlungsprozesse des Kasus sichtbar, die der Erzähler auf verschiedenen Ebenen inszeniert. Der Ich-Erzähler mit seiner deutlich artikulierten Meinung ist für diese Vorgänge von zentraler Bedeutung. Indem er verschiedene Rollen und damit unterschiedliche Standpunkte zum erzählten Fall einnimmt - sie wurden im Verlauf der Modellanalysen mit den Kennzeichnungen Verteidiger, Ankläger oder neutral gefaßt - , gibt er sich letztlich mehr als ‹ virtuelle Erzählerfigur › denn als biographische Stimme des Autors Kaufringer zu erkennen. 79 Zu bedenken wäre hier außerdem - gerade im Überlieferungskontext des geschlossenen Kaufringerfaszikels im cgm 270 - die «Funktion des Erzählers zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit». 80 Wachsende Schriftlichkeit hat eine zunehmende Inszenierung der «Medialität des Erzählers» zur Folge, «weil das graphische Medium ihn eigentlich nicht mehr braucht. Daher spielen dann auch Virtuosen des Erzählens, wie Geoffrey Chaucer, im 14. Jahrhundert die unterschiedlichsten fiktionalen Erzählerrollen durch.» 81 Der artifizielle Konstruktcharakter von Kaufringers Texten läßt meiner Ansicht nach auf eine schriftliche Konzeption schließen. 82 Im Überlieferungsverbund der Kaufringersammlung des cgm 270 ist allen Texten die Insze- 79 Daß in den Mären als «Kunststücke[n] des Erzählens» (S. 108) das Spiel mit der letztendlichen Deutungshoheit des Erzählers und der Inszeniertheit des Ganzen einen besonderen Status erreicht und oft nicht genügend in der Interpretation berücksichtigt wird, zeigt auch Mireille Schnyder : Schreibmacht vs. Wortgewalt. Medien im Kampf der Geschlechter. In: Chinca (2006), S. 108 - 121, anhand des Rädleins. 80 Ursula Schaefer : Die Funktion des Erzählers zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Wolframstudien 18 (2004), S. 83 - 97. 81 Ebd., S. 94. 82 Grundsätzlich sind nach Fischer (1983), S. 255 - 276, für das Märe sowohl die Rezeption durch den Vortrag eines Sprechers/ Erzählers wie durch die (individuelle) Lektüre möglich. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Aufsatz von Werner Schröder : Additives Erzählen in der Mären-Überlieferung. In: Karl-Heinz Schirmer und Bernhard Sowinski (Hg.): Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. FS für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag. Köln/ Wien 1972, S. 187 - 202. Anhand des Märe von den Zwei Beichten (bîhtmære) erarbeitet Schröder die Hypothese zweier unterschiedlich organisierter Vorgänge des Märenerzählens, additiv oder konstruktiv: «Konstruktives Mären-Erzählen wird in der Regel eine schriftliche Konzeption erfordern oder voraussetzen: sein spezifisch literarischer Charakter ist kaum zweifelhaft. Additives Mären-Erzählen ist herkunfts- 301 Kasuistik in der Kaufringersammlung niertheit durch eine Erzählerfigur gemeinsam, die durch ihre Ich-Rede konturiert ist. 83 Reichlin stellt fest, bei Kaufringer entstehe der Eindruck einer «Potentialisierung des Erzählens» auch auf der Ebene der Textanordnung, indem sichtbar gemacht werde, «dass die erzählte Geschichte bloß eine von mehreren möglichen ist.» 84 Dieses Durchspielen von narrativen Möglichkeiten gilt auch für die Profilierung der Erzählerfigur und den von ihr vertretenen Standpunkt: Die einzelnen Stücke gleichen Experimentalaufbauten, die einen Erzähler zeigen, der sich jedem zu erzählenden Fall gegenüber je neu positioniert - und auch innerhalb einer Erzählung mit verschiedenen Standpunkten experimentiert. Demonstriert wurde das im Rahmen dieser Arbeit anhand ausgewählter Texte, deren kasuistischer Charakter besonders auffällig zutage tritt. Im Blick auf das Gesamtoeuvre Kaufringers ließe sich die These eines narrativen Argumentationsspiels erweitern und auch für andere Texte fruchtbar machen, die auf den ersten Blick nicht am Rechtsdiskurs partizipieren. So behandeln etwa der Zurückgegebene Minnelohn und Bürgermeister und Königssohn beide 85 den Kasus eines Ehebruchs, der durch besondere Umstände erst zustande kommt und mit der speziellen Profilierung der Figuren und ihrer Interaktion zum Präzedenzfall zugespitzt wird: Die Frage nach dem Schuldigen ist sowohl im Falle von Bürgermeister und Königssohn wie im Falle des Zurückgegebenen Minnelohns nicht eindeutig zu entscheiden, wenn einmal der Bürgermeister selbst durch seine Erzählung von dem Studenten, der seine Liebesdienste für die Ehefrauen der Stadt anbiete, die Gelüste seiner Frau entfacht, und einmal der âventiure suchende junge Ritter beim Ehebruch nur den Platz des Liebhabers einnimmt, den die Frau des älteren Ritters sowieso hat. Zwar ist hier die Verhandlung des Kasus nicht in Form juristischer Verfahrensweisen wie Prozeß oder Streitgespräch auf der Handlungsebene vorgeführt, aber diese werden, so könnte man abstrahieren, durch ökonomische Aushandlungsprozesse (Gabe- und Tauschaktionen) ersetzt. Sie entmäßig eher mündliche Praxis und bleibt ihr auch nach dem Übergang zur Schriftlichkeit nahe.» (S. 202) 83 Die einzige Ausnahme bildet der Text Der bekehrte Jude, wo sich kein Erzähler-Ich nennt, offenbar, weil sich der Erzähler in das uns der gläubigen Christenschar einreiht, wie seine Schlußwendung zeigt: das helf uns der hailig Crist! (V. 292). Zit. nach Sappler (1972), S. 14 - 21. 84 Reichlin (2009), S. 213. Dies gilt etwa für die im Überlieferungskontext gleich nacheinander stehenden Texte Bürgermeister und Königssohn und Der zurückgegebene Minnelohn. 85 Die Texte werden zitiert nach Sappler (1972). 302 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil sprechen mit ihrer Logik des Hin und Wider der dialektischen Grundstruktur der argumentatio, machen allerdings eben durch den Einsatz eines ‹ Mediums › der Gabe eine Versöhnung der gegnerischen Parteien möglich. 86 Die Frage nach der Bewertung des Vorfalls lassen die Texte aber trotz - oder gerade wegen - einer auf der Ebene des erzählten Geschehens vorgeführten Lösung offen. Beide Texte spielen auf der Figurenebene «mit der Kontrastierung unterschiedlicher Perspektiven» und «ihrer gezielten Aussparung». 87 Daß den Texten eine kasuistische Struktur zugrundeliegt, deren Semantik des Abwägens und Beurteilens sie ans Publikum weitergeben, ist zu vermuten, da auch hier - wie in der Rache des Ehemannes - die Bewertung der Figuren durch den kommentierenden Erzähler offen gehalten wird. 88 Ein spezifisch kasuistisches Interesse des Erzählers am tradierten Stoff ist dem Epimythion eines weiteren Stückes aus dem cgm 270 abzulesen: Am Ende des Falls vom Mönch als Liebesboten B 89 , wo eine Frau einen nichtsahnenden Mönch als Kuppler benutzt, um ein Rendezvous mit einem von ihr begehrten jungen Mann zu arrangieren, kommentiert der Erzähler folgendermaßen: wenn si nun ainen münich lert mit iren listen cluog und fein, das er ir tädinger muoß sein, damit si treibt ir buolschaft, wurd der münich nit pillich gestraft von dem apt und maister sein? doch litt er unpillich pein, wann er dett es oun gevär. hiemit da endet sich das mär. (398 - 406) Interessant ist, daß der Erzähler sich abschließend mit der Figur des Mönchs beschäftigt, obwohl dieser während der Geschichte doch nur die Mittlerrolle spielte: Ganz offensichtlich geht es um die Frage der Schuld und Schuldfähigkeit. Der Stoff begegnet auch in Boccaccios Decameron (III, 3) 90 und in 86 Wie in beiden Texten «durch die Tausch- und Gabenakte inkommensurable Ordnungen miteinander verschränkt» werden, zeigt Reichlin (2009), S. 211. 87 Ebd., S. 210. 88 Vgl. etwa das vom Erzähler ambivalent eingesetzte, weil zwischen spöttisch und normativ schwankende Attribut weislich für den Bürgermeister in Bürgermeister und Königssohn, das Reichlin (2009), S. 206, als «spannungslenkende Frage» zu verstehen vorschlägt. Man könnte es im Sinne des Kasus auch ‹ zur Bewertung auffordernd › nennen. 89 Zit. nach Sappler (1972), S. 81 - 91. 90 Boccaccio , Decameron, zit. nach Branca (1992), Übersetzung Witte / Bode , Boccaccio , Decameron (1979). 303 Kasuistik in der Kaufringersammlung einer Fassung Hans Schneebergers aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. 91 Während Schneebergers Fassung mit ihrem Plot Boccaccio nahe steht, ist sie in der Ausformung sehr traditionell zu nennen: Sie exemplarisiert den Ehebruch der Frau negativ zur Demonstration des Stereotyps Weiberlist, gegen welche selbst gelehrte Männer nichts ausrichten könnten. Bei Boccaccio ist die Geschichte eine «Klerikersatire», die «den listig inszenierten Ehebruch als Triumph einer Frau über den Klerus feiert». 92 Der Text stellt die Dummheit des Pfaffen aus, die seine Erzählerin Filomena im Vorfeld eigens betont. Im Nachhinein wird vom Zuhörer Dioneo der Verstand nachdrücklich gelobt, den die Dame in der Geschichte bewiesen habe. In Abgrenzung zu Boccaccio und zu Schneeberger wird hier der gezielt kasuistische Zugriff Kaufringers deutlich: In der Umbesetzung des Stereotyps Weiberlist kommt Kaufringers Erzählung Boccaccio sehr nahe, auch er konnotiert das planvolle Handeln der Frau positiv als cluoge list (12, 395, 399). Gleichzeitig aber wird auch die Figur des Mönchs nicht mehr eindeutig dargestellt. 93 Und hier liegt im Gegensatz zu Boccaccio, wo der Pfaffe deutlich die Rolle des Übertölpelten zu spielen hat und unmißverständlich klargemacht wird, daß es sich dabei um eine generelle Kritik an seinem Stand handelt, hier liegt ein spezifischer Zugriff Kaufringers vor, der den Kasus noch weiter öffnet und ganz andere Aspekte der Beurteilung in den Vordergrund rückt. Erzählstrategisch wird der Mönch entlastet und seine Rolle als unschuldig schuldig Gewordener am Zustandekommen des Ehebruchs thematisiert. Den Aspekt der novellistischen Struktur einer Anlage in Form einer kasuistisch motivierenden Rahmenerzählung und mehreren gleichgeordneten und miteinander kommunizierenden Binnenkasus habe ich für Kaufringers Drei listige Frauen B bereits angesprochen: Auch für die von der Thematik her als ‹ legendarisch › klassifizierte Erzählung von Einsiedler und Engel 94 gilt das novellistische Strukturprinzip einer Organisation durch Rahmenerzählung und Binnenkasus. Die Frage nach den wundern, die got tuot (17) treibt den Protagonisten in die weite Welt. Ein Engel in Gestalt eines Pilgers gesellt sich zu ihm und begeht im Verlauf der Reise zwei Morde und einen schweren Diebstahl. Erst am Schluß erklärt der Engel dem Einsiedler, warum diese ‹ Vergehen › aus göttlicher Perspektive als ‹ Wunder › und ‹ Rettung › der Betroffenen zu bewerten seien. Hier tritt ein kasuistischer Grundzug auffällig zutage, 91 Hans Schneeberger: Der Mönch als Liebesbote [C]. In: Hanns Fischer (Hg.): Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. München 1966, S. 338 - 347 (Nr. 37). 92 Vgl. Kasten (1999), S. 184, Anm. 58. 93 Vgl. die detaillierten Textbeobachtungen im Vergleich mit Schneeberger bei Stede (1993), S. 66 - 71. 94 Der Text wird zit. nach Sappler (1972), S. 1 - 13. 304 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil dieser Text ist sogar besonders raffiniert in seiner Anlage, weil durch die Überschreitung des Innerweltlichen die Dimensionen anders gesetzt sind. Der Text läßt zwei Norm- und Wertsysteme kollidieren: Was aus göttlicher und was aus weltlicher Perspektive ‹ recht › ist, kann nicht zur Deckung gebracht werden. Die kasuistische Struktur des Textes, hier ins Theologische gewendet, führt zur Frage der Theodizee, die nicht nur ungelöst an den Rezipienten weitergegeben wird - die perspektivierende Erzählstrategie läßt den Rezipienten die Erkenntnis einer womöglich schreienden Diskrepanz zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit sozusagen ‹ im Nachvollzug der Erzählung › selbst machen. 95 Mit dem erzähltechnischen Kniff Kaufringers, dem Rezipienten von vorneherein die Identität des Engels transparent zu machen, wird erreicht, daß dieser zwar fortlaufend die eingeschränkte Perspektive des Protagonisten durchschaut, gleichzeitig aber selbst in seinem Wissen eingeschränkt ist. Denn die Erklärung, warum der Engel alle diese wunder gewirkt habe, wird erst am Schluß des Textes im Streitgespräch mit dem Einsiedler gegeben - wieder die Vorführung einer Verhandlung von Standpunkten. Insofern hat der Rezipient während des Hauptteils des Textes mit dem perfiden Umstand zu kämpfen, daß gerade ein Engel schwerwiegende Verbrechen begeht. 96 Eine Privilegierung der rechtlich-innerweltlichen Perspektive, die im abschließenden Gespräch zwischen Einsiedler und Engel noch dadurch intensiviert wird, daß der Einsiedler für jede einzelne Tat Rechenschaft verlangt, obwohl der Engel seine transzendente Natur bereits offenbart hat (322 - 325). Das immer neue Insistieren des Einsiedlers mit der Charakterisierung der Engelstaten als paradoxe Verbrechen steht der heilsgeschichtlichen Perspektive, die der Engel in seiner Auslegung als Wunder eröffnet, schroff gegenüber. Was hier performativ ausgehandelt wird, ist das Kernproblem legendarischen Erzählens, die Evidenz Gottes in der Welt durch ein Wunder zu beweisen. 97 Der Text endet überraschend lapidar mit der fragwürdigen Perspektive des kriminellen Engels, 95 Zur Perspektivenstruktur und raffinierten Sympathiesteuerung des Textes siehe die erhellende Interpretation von Slenczka (2004), S. 39 - 44. 96 Die erzähltechnisch bewirkte Fixierung des Rezipienten auf eine innerweltliche Perspektive und damit den weltlichen Rechtsdiskurs betont auch Willers (2002) , S. 226 f. Sie sieht hierdurch die «Überlegenheit göttlichen Weisheitshandelns [. . .] besonders sinnfällig» werden (S. 227). Dagegen meine ich, daß die Spezifik der Kaufringerschen Narration im Dienste einer spitzfindigen Kasuistik steht, denn das Gewicht des innerweltlichen Leids, das die Verbrechen/ Wunder des Engels verursachen, wiegt gerade durch die Privilegierung der immanenten Rechts- und Gerechtigkeitsdebatte schwerer in Kaufringers Text als in den Parallelen. Kaufringers Erzählweise baut mehr Zweifel auf, als sie abbaut. 97 Zum «Risiko» legendarischen Erzählens, das Wunder gegen den Verdacht von Schein und Inszenierung wappnen und es dabei doch selbst ‹ herstellen › zu müssen, 305 Kasuistik in der Kaufringersammlung nach dessen Figurenrede enthält sich der Erzähler, der im Promythion unter Rückgriff auf einen biblischen Psalm 98 sentenzenhaft die Unbegreifbarkeit der wunder Gottes (1) konstatiert hatte, eines Epimythions. Eben diese Unfaßbarkeit göttlicher Wunderevidenz hat der Text belegt, dabei mittels geschickter Perspektivierung und Sympathielenkung zugunsten des Einsiedlers und seiner immanenten Sicht das Wunder aber so nahe an das Verbrechen heranrücken lassen, daß er eine grundlegende Verunsicherung des Urteilens bewirkt: Potentiell kann sich hinter der Maske eines jeden Verbrechers ein Engel verbergen. 99 Diese Irritation wird durch die abschließende ler des Engels, der Einsiedler solle sich nicht weiter mit den Wundern Gottes beschäftigen (439 - 441) und die knappen, lapidar-pragmatischen Schlußverse nicht eingeholt: Mit der red der engel sich huob zuo got und verschwand. der pruoder wider gieng ze land. zuo seiner clusen er da kert siehe Susanne Köbele : Die Illusion der › einfachen Form ‹ . Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende. In: PBB 134,3 (2012), S. 365 - 404. 98 Ps 67,36, vgl. dazu Slenczka (2004), S. 39. 99 Den «Zweifel an der Legende von Gottes Gerechtigkeit» schürt bereits die Kaufringer am nächsten stehende Parallele Engel und Waldbruder, wie Luisa Rubini Messerli : Engel und Waldbruder: Eine Theodizee-Legende. In: Daphnis 40 (2011), S. 165 - 181; S. 173, gezeigt hat. Die um 1350 entstandene Theodizee-Legende eines Anonymus aus dem bairisch-österreichischen Sprachraum (Ausgabe von Anton E. Schönbach (Hg.): Die Legende vom Engel und Waldbruder. In: Ders.: Mittheilungen aus altdeutschen Handschriften. 10 Stücke in einem Band. Wien 1901, S. 1 - 21.) zeige Strategien der Distanzierung vom geistlichen Erzählmuster und der Herstellung literarischer Mehrdeutigkeit durch die Einkleidung als Traum, den Verzicht auf eine abschließende Moraldidaxe und die «robuste[n] Einschaltung des Theatralisch-Possenhaften in den geistlichen Stoff» (S. 167). Bemerkenswert ist, vor allem, wenn man mit Rubini Messerli (S. 178, Anm. 34) annimmt, Kaufringer habe diesen Text gekannt, daß letzterer - bis auf das Zurückschrauben der Moraldidaxe - keine der für Engel und Waldbruder charakteristischen Strategien übernimmt. Einer Anreicherung dort steht bei Kaufringer die Reduktion auf die Evidenzproblematik des göttlichen Wunders im Zeichen einer immanenten Gerechtigkeit gegenüber. Beide Texte erproben die Distanzierung vom legendarischen Erzählen, doch endet das bei Kaufringer in einem unauflösbaren Problem, im Dilemma. Während Engel und Waldbruder, besonders durch den hinzugefügten Rahmen, aber auch durch die Sympathie des Publikums für den fazeten Engel Gemelich (vgl. Rubini Messerli (2011), S. 174 f), der den hochmütigen Einsiedler bestrafen soll, Gott «als Orientierungspunkt, als (ver-)urteilende Instanz präsent» ( Stede (1993), S. 26) hält, wird bei Kaufringer eben jene Orientierung grundlegend problematisiert, das Urteilen selbst unmöglich. 306 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil und det, als in der engel lert. er verzert in got sein leben gar und besaß der engel schar. (442 - 448) Ein Blick auf die bisher weniger beachteten redenartigen Stücke Kaufringers aus der Berliner Handschrift Mgf 564, die sie im Kontext von Teichnerreden überliefert 100 , zeigt einen Erzähler, der politische und rechtliche Interessen artikuliert, etwa mit dem Stück vom Bezahlten Anwalt. 101 Es behandelt das Thema der Korrumpierbarkeit der juristischen Funktion des vorsprech. 102 Man kann den aktuellen Bezug dieser «bispelartigen Erzählung» 103 historisch identifizieren, sie kritisiert das erstmals 1340 in Niederbayern erlassene Gesetz, vor Gericht mit bezahlten Anwälten aufzutreten, anstatt, wie in den Reichsstädten üblich, dies als ehrenamtliche Aufgabe der Ratsmitglieder zu behandeln. 104 Der Erzähler wendet sich einleitend gegen die in Pairen und in andern landen (2) aufgekommene Sitte das man die vorsprechen mieten sol (3). Erzählt wird sodann der Kasus eines von seinem korrupten Anwalt verratenen 100 Siehe Sappler (1972), S. X. 101 Mgf 564 fol. 276 r - 279 r, Sappler (1972), Nr. 20. 102 Die Fürsprecher verteidigten ihre Partei nicht frei plädierend in der Sache wie ein Anwalt (der im heutigen Verständnis als privatrechtlicher Vertreter vor Gericht erst später, nämlich seit dem 15. Jahrhundert belegt ist), sondern waren Stellvertreter im Wort, die die Vorschriften und Rechtsformeln des stark formalisierten spätmittelalterlichen Prozeßverfahrens kannten. Auf ein fehlerfreies Vorsprechen vor Gericht kam es an, da die verfahrensrechtliche Formstrenge jedes Wort einer Partei für sie verbindlich machte, ohne die Möglichkeit eines Widerrufs: Ein Versprecher konnte als Formverstoß daher bereits einen Prozeßverlust verursachen. In Kaufringers Bezahltem Anwalt steht deshalb die Zunge als bildliche Verkörperung der damit erzeugten Rede im Mittelpunkt: Der Vorsprecher kan mit seiner zungen swachen,/ das recht zuo ainem unrecht machen (23 f) [. . .] also macht er das krumm schlecht/ und das schlecht muoß werden krumb/ mit seiner zungen valsch und tumb (28 - 30). Da Laien in der gerichtlichen Verfahrensweise meist unkundig waren, war es üblich, vor Gericht einen fürsprech zu engagieren. Seine Worte erlangten Gültigkeit, wenn die vertretene Partei ihnen zustimmte. Diese einflußreiche Position, gestärkt durch den Umstand, daß der Fürsprecher grundsätzlich auch an der Urteilsfindung mitwirken konnte, erklärt die Anfälligkeit für Bestechung. Deshalb wurde die Tätigkeit des Vorsprechens vielerorts ehrenamtlich praktiziert und es galt als verpönt, dafür Geld zu nehmen. Vgl. H. Winterberg: Art. Fürsprecher. In: HRG 1 (1971), Sp. 1333 - 1337, sowie G. Buchda: Art. Anwalt. In: HRG 1 (1971), Sp. 182 - 191, außerdem Klaus Grubmüller : Advocatus: fürsprech - vogt - advokat. Beobachtungen an Vokabularien II. In: Karl Hauck u. a.: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. FS für Ruth Schmidt- Wiegand zum 60. Geburtstag. Berlin/ New York 1986, S. 158 - 171. 103 Sappler (1983), Sp. 1081. 104 Vgl. Stede (1993), S. 157. 307 Kasuistik in der Kaufringersammlung Mandanten: Ein Schuster und ein Kürschner stehen wegen eines Nachbarschaftskonflikts - es geht um das Traufrecht - vor Gericht. Der Schuster nimmt sich einen Fürsprecher und bezahlt ihn mit Stiefeln aus Ziegenleder, sein Widersacher, der Kürschner, dessen Sache schlecht steht, schenkt dem Fürsprecher daraufhin einen Fuchspelz. Die Bestechung wirkt, denn vor Gericht verhilft der Fürsprecher nun dem Kürschner zum Sieg. Als der Schuster ihn zur Rede stellt, antwortet ihm der korrupte vorsprech (134), der Bock sei vom Fuchs gefressen worden: «gang palt wider haim dein straß! der fuchs der hat den bock gaß.» (135 f) Gerade für die Frage nach der Selbst- und Weltreferenz, nach dem Verhältnis von juristischem und literarischem Diskurs in Kaufringers Texten ist der Bezahlte Anwalt sehr interessant. Die Diskursinterferenzen, die anhand der Modellanalysen dieser Arbeit aufgezeigt wurden, finden sich hier gewissermaßen in nuce ebenfalls am Werk. Zunächst wird der Kasus als lebensweltliche Realität angekündigt: Ich han das gehört für war (55), die rechtshistorischen Aufladungen sind ersichtlich, und der Erzähler ergreift argumentierend Partei für den betrogenen Schuster. Es handelt sich jedoch um einen literarischen Stoff, der als lateinisches Exempel in der Compilatio Singularis Exemplorum und etwa im Italienischen als Novelle Nr. 77 von Franco Sacchetti in seinem Trecentonovelle (ca. 1390 - 1400) überliefert ist. 105 Die novellistische Betonung der tradierten Geschichte als zeitgenössische Neuigkeit hat Kaufringer mit Sacchetti gemeinsam. Und auch das Zulaufen der Geschichte auf eine witzige Pointe, wenn die beiden gegnerischen Parteien im Gerichtsprozeß vom Anwalt durch ihre Bestechungsgeschenke ‹ metaphorisiert › werden, entspricht der Fassung Sacchettis. Mit der wirkungsvollen Inszenierung des facete dictum am Schluß ist der Übergang zur Form der novellistischen Anekdote auch bei Kaufringer zu ahnen. Obwohl der Erzähler im Epimythion wieder in den räsonierenden Ton einer Mahnung vor den böß vorsprechen (141) verfällt, will er dem Sog der Pointe nicht widerstehen, die er ‹ in eigenen Worten › reformuliert: also ward der schuochster betrogen ser mit gevär. die pückin stival hulfen nicht; die macht der füchßin pelz entwicht. (137 - 140) 105 Zit. nach Aldo Borlenghi (Hg.): Franco Sacchetti. Opere. Milano 1957, S. 247 - 250; Übersetzung von Hanns Floerke : Die Novellen des Franco Sacchetti Bürgers von Florenz. Aus dem Italienischen übers. u. eingel. von Hanns Floerke. Bd. 1. München 1907, S. 286 - 290. 308 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil Damit ergibt sich hier ein ähnlicher Befund wie für den Verklagten Bauern: Über die pointierte Komik, die die Geschichte wirkungsvoll in Szene und damit freisetzt, die ihre Funktion als Exempel für einen didaktischen Diskurs unterwandert, vermischt sich der argumentative Gestus des Standpunktbeziehens und Meinungsagens zunehmend mit dem des Erzählens einer vergnüglichen Geschichte. 106 Unabhängig von der genauen historischen Identifizierbarkeit bleibt beim Blick auf das Gesamt œ uvre schließlich festzuhalten, daß sich uns der Autor Heinrich Kaufringer als ein vielseitig interessierter und informierter Zeitgenosse darstellt: Er verfaßte neben den Mären und redenartigen Stücken weltlicher Thematik eine Anzahl versifizierter Reden mit geistlichem Inhalt, bearbeitete Berthold von Regensburg und Heinrich Seuse. 107 Sapplers Vermutung, Kaufringer zeige «einen vielleicht nicht nur laienhaften Einblick in Rechts- und Verwaltungsfragen und -praktiken» 108 , läßt sich plausibilisieren. Daß Kaufringer in den Urkunden Landsbergs zusammen mit Ratsmitgliedern wie den Stadtrednern auftritt, zeigt den Stellenwert seines städtischen Amtes. 109 Der Sohn des jüngeren Kaufringer, Peter Kaufringer, hat als Notar der Stadt Landsberg 1424 deren Stadtrechtsbuch geschrieben. 110 Leider sind nähere Angaben über Peter Kaufringer nicht zu ermitteln; doch läßt seine Arbeit den Schluß zu, daß die Stadt Landsberg in ihm einen Stadtschreiber besaß, der neben einer guten juristischen Ausbildung auch ein reges Interesse an Recht und Gesetzen seiner Zeit hatte. 111 Vielleicht darf man das Interesse an politischen und rechtlichen Dingen als Familientradition vermuten. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf den städtischen Kontext, in dem wir Kaufringer verorten können: Die 106 Anders Emmelius (2011), S. 93 - 98. Sie interpretiert den Bezahlten Anwalt als «Versrede», die Geschichte diene dem Beleg der These der Diskursinstanz, sie bilde keine narrative Struktur aus, stifte keinen narrativen Sinn. 107 Die Rede von den Drei Nachstellungen des Teufels, cgm 270 fol. 367 r - 381 v (Sappler Nr. 16), ist die Bearbeitung einer Predigt Bertholds von Regensburg. Das zeitliche Leiden, mgf 564 fol. 327 v - 330 r (Sappler Nr. 26), geht zurück auf ein Kapitel aus Heinrich Seuses Büchlein der ewigen Weisheit. Zu beiden Texten Stede (1993). 108 Sappler (1983), Sp. 1078. 109 Vgl. die Urkunde vom 15. 6. 1369: «Die Ratgeben der Stadt Landsberg und Heinrich der Kaufringer, der Zeit Pfleger und Kirchpropst unser Frauen Gotteshauses [. . .]», Zintgraf (1895), S. 297. 110 Siehe dazu Scherpf (1950). Die Schreibernotiz lautet Anno dom. millio CCCCXXIIII scriptu(m) est hoc opus p(er) man(us) Petri Kaufringer notarius civit(atis) Lansp(er)gens(is), zit. nach Scherpf (1950), S. 11. 111 Scherpf (1950), S. 12. Peter Kaufringer verfaßte 1436 auch das Rechtsbuch der Stadt Schongau. 309 Kasuistik in der Kaufringersammlung politische Struktur der mittelalterlichen Stadt Landsberg mit Innerem und Äußerem Rat ist es sicherlich, die in Kaufringers Bürgermeister und Königssohn eingeht. 112 Eine evidente Ausdifferenzierung von Aufgaben innerhalb des Stadtrats spricht offenbar für eine rege politische Tätigkeit des Landsberger Bürgertums. 113 Gleich, ob Kaufringer Vater oder Sohn, beide dürften involviert gewesen sein in diese politisch aktive Schicht. Die Phänomene Meinungsbildung und ‹ Disputationsfreudigkeit › , die sich im spielerischen Ausdifferenzieren von erzählten Standpunkten zum dargebotenen Kasus zeigen, passen zum geistigen Umfeld eines selbstbewußten Bürgertums in der gerade während des 14. Jahrhunderts wirtschaftlich durchaus autarken und prosperierenden Kleinstadt Landsberg am Lech. 114 Es ist jedenfalls ein solches diskursives Interesse, mit dem Kaufringer auch an die literarischen Stoffe herangeht, die er verarbeitet - oder die er als Kasus selbst konstruiert. Der Rede- und Ratgebergestus, der sich in vielen seiner lebensweltlich-politischen und moraltheologischen Texte zeigt, verbindet sich auf spielerische Weise auch mit der Lust am Traktieren novellistischer Stoffe: Sie werden eben nicht als das genommen, was sie offenbar sind, nämlich verbreitete ‹ Geschichten › , die man sich erzählt, meist um daraus exemplarisch eine mehr oder minder nützliche Lehre für den eigenen Alltag zu ziehen, sondern sie werden spielerisch ernstgenommen als Rechtsfälle, angereichert mit juristischen Referenzen aus dem eigenen Erfahrungshorizont, und sie werden diskutiert. Das Geschichtenerzählen und das Meinungsagen überlagern sich dabei und fließen spielerisch ineinander, sodaß die Funktionalisierung eingelagerter Geschichten als Exempel nicht mehr klar ist. Faktualität und Fiktionalität sowohl der Erzähleraussagen wie auch des Fallgeschehens verschwimmen, und das Erzählen wird zu einem Spiel der Meinungen und Standpunkte. 112 Vgl. ebd., S. 16 - 21. 113 So gab es etwa neben dem Amt des Stadtschreibers und des Gemeinderedners in Landsberg auch das Amt des Gemeindesieglers - gewöhnlich wurde dieses vom Stadtschreiber mit ausgeführt, vgl. ebd. 114 Zur Geschichte Landsbergs, dem das ‹ Salzniederlagsrecht › am Lech als Transportweg für den Salzhandel bedeutenden wirtschaftlichen Gewinn einbrachte, vgl. Stede (1993), S. 221 - 225. 310 Conclusio: Kaufringers Erzählprofil IV Resümee und Ausblick Die Herausforderungen, denen sich eine poetologische Studie zu Heinrich Kaufringer zu stellen hat, sind zahlreich. Zunächst die unsichere Verortung seiner Texte in einem Gattungshorizont ‹ Märe › : Ohnehin ist die Forschungsdiskussion um die Existenz einer solchen Gattung längst zu einem ergebnislosen Stillstand gekommen. Darüberhinaus scheint das Erzählen des Kaufringers als Sonderfall die Kontinuität und damit Möglichkeit einer Gattungsgeschichte überhaupt in Frage zu stellen. Neue Perspektiven eröffnen sich in jüngster Zeit: Setzt man an bei der rhetorisch signierten Poetik mittelalterlicher Kurzerzählungen zwischen Serialität und Kombinatorik 1 , so partizipiert Kaufringer hieran auf eine spezifische Weise, er scheint diese Ökonomie des Erzählens 2 in Hinsicht auf die variierte Reformulierung eines sehr begrenzten inhaltlichen wie sprachlich-formalen Repertoires innerhalb des cgm 270 sogar ins Extrem zu treiben. Was dabei entsteht, ist allerdings von einer erstaunlichen Komplexität gekennzeichnet, deren Nähe zum Typus des novellistischen Erzählens Boccaccios bereits verschiedentlich betont, aber kaum analytisch beschrieben wurde. Weiterhin ergeben sich Aporien der aktuellen Forschungspositionen zu Kaufringer aus einem in der Forschung zur europäischen, besonders zur mittelhochdeutschen Versnovellistik generell problematischen, weil bisher kaum hinterfragten Sinn-Begriff: Weil ‹ Sinn › im Zeichen einer Funktionalität mittelalterlicher Literatur im sozialen Kontext als ‹ Affirmation von Ordnung › verstanden wird, wird Sinngebung mit der Referenz des Textes auf gesellschaftliche Axiologien gleichgesetzt. Damit ist - zu einseitig - der Gestus didaktisch-exemplarischen Erzählens mit der Potenz zur Sinnerzeugung verknüpft, während ein Erzählen, das diesen Gestus nicht oder nicht eindeutig einlöst, mit dem Etikett einer Negation oder zumindest Subversion von Sinn belegt wird, womit die Vorstellung gesteigerter Selbstreferenz einhergeht. Diese Zuordnungen reduzieren letztlich eine semantische Komplexität, die die Texte auf vielen Ebenen, mit wechselnden Referenzsetzungen und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kontexte herstellen. 1 Friedrich (2006). 2 Vgl. den Titel der Arbeit von Reichlin (2009). Die vorliegende Arbeit suchte den Ausweg aus den beschriebenen Dilemmata durch eine doppelte Perspektive. Kaufringer wurde einerseits konsequent als Wiedererzähler begriffen und damit komparatistisch in den Kontext einer europäischen Stofftradition gestellt. Andererseits wurde die Spezifik der Texte als ‹ Kasus › (nach Jolles) in Anschlag gebracht, auch in dem Sinne, daß sie sowohl in ihrer Struktur wie ihrem Inhalt nach in je verschiedener Ausprägung auf pragmatische rechtliche Kontexte referieren - z. B. das rhetorische Modell der Gerichtsrede oder zeitgenössische Prozeßtechnik und Rechtscodices. Vor allem das Verhältnis Kaufringers zur lateinischen Exempelliteratur hat sich als aufschlußreich für eine Konturierung seines Erzählprofils erwiesen: Es wurden hier die Ausgangskonstellationen für Kaufringers Texte gefunden und mögliche Vorlagen für ein ‹ Weiterkonstruieren › Kaufringers plausibel gemacht (Die Rache des Ehemannes, Der verklagte Bauer). Für Kaufringers Umgang mit den Stoffen wurde eine spezifische Bearbeitungstendenz formulierbar: Entweder wird ein tradiertes Erzählgerüst übernommen und dessen Kasuspotential zugespitzt (Die unschuldige Mörderin, Der feige Ehemann), oder es wird aus heterogenen Stoffen ein Kasus neu konstruiert (Die Rache des Ehemannes, Der verklagte Bauer). Vor diesem Hintergrund wurde Kaufringers kreatives Spiel mit narrativen Instanzen erst sichtbar. Dieses Spiel gab sich zu erkennen als eines, das Figurenperspektiven, aber auch Erzähler- und Figurenstandpunkte gegeneinander setzt und diese Auseinandersetzungen durchaus offen im Text austrägt. Wenn Friedrich in einem umfassenden Blick auf die mittelalterliche Kurzerzählung konstatiert, daß ihre «historische Leistung [. . .] vor allem in der Anlagerung von Kontexten an exemplarische Erzählformen» bestehe, indem sie «weitgehend stereotype Muster» kombiniere und «soziale Ordnungsvorstellungen an einem eher trivialen Gegenstand» reflektiere 3 , so ist in einer auf Kaufringer fokussierten Untersuchung festzustellen, daß dieser einen Schritt darüber hinausgeht, indem er die Reflexion gesellschaftlicher Normen und Werte sowie der narrativen Muster, durch welche sie vermittelt sind, zum eigentlichen Gegenstand seiner Texte macht: Der Akt der Reflexion, der Beurteilung, wird auf verschiedenen Ebenen des Textes und aus verschiedenen Perspektiven - der Figuren und des Erzählers - vorgeführt. Der Ausgangspunkt des traditionellen Verständnisses ‹ exemplarischen Erzählens › als tendenziell einsinnig und lehrhaft im Sinne einer Ordnungsaffirmation greift daher zu kurz, um diese Textbewegung zu fassen. Für die Bestimmung von Kaufringers literarhistorischem Status ist es nötig, Spielräume des Erzählens anzunehmen, die auf der Basis eines exempelhaft-topischen Denkens und 3 Vgl. Friedrich (2006), S. 56. 312 Resümee und Ausblick Erzählens gründen, das selbst schon ein «widersprüchliches Miteinander unterschiedlicher Interpretationsweisen» 4 ermöglicht. Haug will die «Möglichkeit autonom-literarischen Erzählens» für mittelalterliche Kurzerzählungen nicht a priori ausschließen, sondern annehmen, daß exempelhaftes Erzählen mit dieser Möglichkeit in Konkurrenz steht, was «zu einer Vielfalt von Mischformen führt»: Es ist immer wieder mit einer Rezeption auf unterschiedlichen Ebenen zu rechnen: ein exemplarisch-lehrhaftes Verständnis kann mit einem differenzierten Nachvollzug wechseln. Dabei kommt es schließlich auch bei diesem Typus zur theoretischen Reflexion der autonomen Form literarischer Erfahrung: so bei Boccaccio. 5 Das, was Haug mit dem problematischen Begriff einer ‹ Möglichkeit des autonom-literarischen Erzählens › zu greifen sucht, ist aber eben nicht, wie er selbst annimmt und Grubmüller es als historische Spätform in Kaufringer prominent repräsentiert sieht, an einen Verzicht auf oder ein Unterwandern von Sinnvorgaben gekoppelt, sondern entsteht sozusagen im virtuosen ‹ Jonglieren › von Sinnvorgaben. Gemeint ist damit, daß die Texte ihren Bezug zum pragmatischen Kontext durch ihre Kommunikativität, das Experimentieren mit Kommunikation und ihren Bedingungen in verschiedenen Situationen spiegeln. 6 Bei Kaufringer entstehen die Überschüsse gerade aus diesem Ausprobieren des zwar nicht Wahrscheinlichen, aber Möglichen: Das alltagssprachliche Kommunikationsmodell eines ‹ Erzählens vor Gericht › wird literarisiert, dabei kommt es den Texten aber gerade nicht auf ein ‹ Urteil › , eine Lösung des Falles an, sondern sie stellen die Verhandlung über den jeweils erzählten Fall in den Mittelpunkt des Interesses. Weiterführend könnten sich vor allem der Kasus bzw. das kasuistische Erzählen als Form eignen, die Aporien der Gattungsfrage zu umgehen. Wichtig wäre m. E. dabei, den Kasus als eigenständig und nicht als im narratologischen 4 So der Topik-Begriff von Moos ’ (1988) in den Worten Haug s (1991), S. 274, Anm. 10. 5 Walter Haug im Zuge einer Modifikation seines «Entwurfs zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung» (1993). Walter Haug : VI. Der Widersinn, das Gelächter und die Moral. In: Ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 2003, S. 343 - 409; S. 346. 6 Vgl. Michael Waltenberger : Situation und Sinn. Überlegungen zur pragmatischen Dimension märenhaften Erzählens. In: Elizabeth Andersen , Manfred Eikelmann und Anne Simon (Hg.): Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin/ New York 2005, S. 287 - 308; S. 308, der das diskursive Profil der Stricker-Mären und damit die Verfahren ihrer Sinnverhandlung und -konstitution rückgebunden sieht an die mündliche Interaktionssituation, die «pragmatische Wirksamkeit» werde in der Textualität behauptet und umgesetzt. 313 Resümee und Ausblick Sinne der Novelle gegenüber defizitär aufzufassen. Möglicherweise ließe sich so ein Feld kleiner Erzählformen neu und damit differenzierter vermessen, das bisher meist durch die Brille einer Teleologie des ‹ schon › oder ‹ noch nicht novellistisch › betrachtet wurde, zudem der problematische Begriff ‹ autonom › ersetzen und die vage Debatte darum auf festeren Boden stellen. Im europäischen Kontext wäre etwa genauer nach der Bedeutung des Minnekasus für Fabliaux und Mären zu fragen. Hier fällt ein parodistischer Bezug des Erzählens auf die höfische Minnekasuistik ins Auge, so etwa in vielen Ausformungen des Drei Frauen-Stoffes, wenn die Frage nach dem am besten geglückten Ehebruch bzw. dem geschicktesten Hintergehen des Ehemannes gestellt wird, oder im Mauritius von Craûn, der die Frage verhandelt, ob der Schlaf des Liebhabers die Dame von ihrer Lohnverpflichtung entbinde. Die Heidin macht aus der bei Andreas Capellanus in De Amore theoretisch disputierten dilemmatischen Streitfrage, ob der obere oder der untere Teil der Dame zu bevorzugen sei, eine Erzählung. 7 Selbst dem Nonnenturnier ist diese Frage, nun bezogen auf den Ritter, noch abzulesen. Jolles betont das Vorkommen des Kasus besonders auf dem Feld mittelalterlicher Minnekultur, dessen «Sondersprache» wie «Gnade, Dienst, Lohn» gleichermaßen das Recht und die Theologie aufrufe. 8 Die Tradition der Minnekasuistik als ‹ Literarisierung › des Kasus aus dem juristischen Diskurs heraus dürfte damit nicht nur für das Decameron interessant sein; diese Fragestellungen wären für die gesamte europäische Versnovellistik des Mittelalters anzudenken und erst im entschlossenen Vergleich der Texte zu schärfen. 9 Das heißt nun auf der anderen Seite nicht, daß damit etwa alle Mären zu Novellen erklärt würden und die literarhistorische Bedeutung des Decameron bestritten würde. Im Gegenteil scheint mir die hier gemachte Beobachtung, daß mittelalterliche Versnovellistik ‹ außerhalb des Decameron › und unabhängig von ihm 10 strukturell vergleichbare Erzähltechniken kultiviert, gerade interessant, um über die Frage nach der jeweiligen Funktionalisierung und nach den jeweiligen kulturhistorischen Kontexten dieser Erzähltechniken die Spezifik des Erzählens hier und dort zu bestimmen. So konnte ich zeigen, daß das kasuistische Erzählen Kaufringers im Gegensatz zur Novellistik Boccaccios 7 Vgl. Grubmüller (2006), S. 172 f. 8 Jolles (1974), S. 195 - 197; Zitate S. 196. 9 Für die Heidin und den Mauritius von Craûn Philipowski (2009). 10 Deshalb stellt sich die Frage für die deutsche Decameron-Rezeption wieder anders, vgl. dazu Ursula Kocher : Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ‹ novelle › im 15. und 16. Jahrhundert (= Chloe, Beihefte zum Daphnis 38). Amsterdam/ New York 2005, sowie die Rezension von Caroline Emmelius : Rez. Ursula Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik. In: ZfdPh 126 (2007), S. 297 - 303. 314 Resümee und Ausblick den Fall nicht nur erzählt, sondern ihn immer auch verhandelt. Das heißt, es ist eine stärkere Rückbindung des Erzählens an pragmatische Kontexte der Rechtsfindung, der Verhandlung von gesellschaftlichen Normen und Werten gegeben, wobei die Offenheit dieser Verhandlungen Kaufringer gleichzeitig vom exemplarisch-didaktischen Erzählen absetzt. Im Decameron ist kaum ein Dialog der Figuren über die erzählten Geschichten zu verzeichnen, vielmehr sind gerade die Erzählungen das Medium, über das die Figuren miteinander kommunizieren. Emmelius charakterisiert das gesellige Erzählen hier als eines «zwischen Deutungsverzicht, Konsens und Agonistik». 11 Das Modell kommunikativer Konkurrenz im «Erzählen als Turnier» 12 ist nichts Neues, sondern geht zurück auf die Form des Streitgesprächs und begegnet schon in altfranzösischen Fabliaux und frühen Mären, etwa in Erzählungen des Drei Frauen-Stoffs. Die ‹ Geselligkeit › in Bezug auf dialogischen Diskurs, der über das Erzählen von Geschichten hinausgeht, ist also, wenn man so will, in älteren Modellen novellistischen Erzählens stärker ausgeprägt als im Decameron. 13 Dort geht es nicht oder weniger um eine Beurteilung der einzelnen Novellen, sondern um die Harmonie des Ganzen, welche sich aus dem beweglichen Gleichgewicht zwischen der geselligen Ordnung des Erzählens und der inszenierten Unmittelbarkeit des novellare speist. Man könnte sagen, daß die einzelnen Novellen als ‹ unerhörte Begebenheiten › dadurch austauschbar werden und es auf ihren eigentlichen Inhalt nicht ankommt, wohingegen das kasuistische Erzählmodell mit einem vorgeführten Diskurs über die eben erzählte Geschichte dieser einen höheren Wert beilegt. Diese Feststellung zeigt den utopischen Charakter des Decameron, das Erzählen an einem ‹ Sonderort › und zu einer ‹ Sonderzeit › als alternative Utopie zur zerstörten Gesellschaftsordnung vorführt, während das kontrastierte diskursorientiertere Modell kasuistischen Erzählens einen größeren pragmatischen Bezug zu gesellschaftlich gültigen Ordnungen aufweist. Während also bei Boccaccio die Diskursivierung der Erzählfälle kaum oder gar nicht mehr thematisiert wird, enstehen die literarischen Freiräume bei Kaufringer gerade im Argumentationsspiel, in der Diskursivierung der Er- 11 Emmelius (2010), S. 328 12 Ebd., S. 318. 13 Wobei eine solche Diskussion der Erzählgemeinschaft über das zuvor Erzählte etwa auch später im Heptaméron der Marguerite de Navarre begegnet. Hans Rudolf Picard : Der Geist der Erzählung. Dargestelltes Erzählen in literarischer Tradition. Bern u. a. 1987, S. 61, sieht durch Marguerite «dialektische Spannung» ins eher konservative Modell Boccaccios gebracht: «Ontologische, soziologische und moralische Dialektik und nicht Entschiedenheit beherrscht das Werk.» Die Frage einer Differenzierung von kasuistischem und novellistischem Erzählen scheint auch nach Boccaccio interessant. 315 Resümee und Ausblick zählfälle und über ihre Organisation nach dem Strukturmuster der argumentatio. Diese Spezifik der Kohärenzstiftung im Vergleich zwischen Märe und Novelle wäre weiter zu untersuchen, gerade auch angesichts des Verhältnisses von Paradigmatik (Einzelfall zu anderen Fällen) und Syntagmatik (Einzelfall zu Rahmen). Zum Erzählrahmen des Decameron existiert eine breite Forschungstradition - seine Entstehung wird zuletzt mit der städtischen Gesprächskultur des italienischen Trecento in Verbindung gebracht. 14 Dagegen ist die im Märe auffällig häufig begegnende Erzähltechnik der Figurenerzählung in der Erzählung, die verschiedene Erzählsituationen konturiert, bisher nicht systematisch und im Hinblick auf ihre pragmatische Medialität sowie deren kulturhistorische Kontexte analysiert worden. Für Kaufringer ließ sich zeigen, daß das ‹ Erzählen im Erzählen › - dem Decameron vergleichbar - vielfältige Funktionen entwickelt (Kasus, Ausdifferenzierung von Standpunkten, Charakterisierung, Unterhaltung). Im Hinblick darauf wäre es interessant, genauer nach dem Status von Mären mit Situationen fingierter Mündlichkeit in einer Geschichte der Konversationslehren - wo sie bislang keine Rolle spielen 15 - zwischen geistlichen Gesprächsbüchlein, Exemplasammlungen und dem Decameron zu fragen. 16 Die Bedeutung der mittellateinischen Exemplasammlungen für die europäische Novellistik des Mittelalters ist generell noch zu wenig in Anschlag gebracht worden - sie wäre jenseits reiner Stoff- und Motivgeschichte in ihren erzählstrukturellen und kommunikationshistorischen Kontexten zu berücksichtigen. 17 Wie im Exkurs bereits angesprochen, können weitere Untersuchungen einer generischen Verbindung mittelalterlicher Kleinepik (Märe, Fabliau) zu den mittellateinischen comediae einerseits und zu den controversiae und declamationes der Antike andererseits zur Differenzierung des literarhistorischen Status des Märenerzählens beitragen - auch im europäischen Kontext. Hier wäre die auffällige Dialogizität des Märe, worunter ja auch die Technik der Metadiegese fällt, besonders in den Blick zu nehmen. Vor dem Hintergrund dieser Kontexte werden - um mit meiner zentralen These zu schließen - Kaufringers Erzählungen auf der Produktions- und auf 14 Elisabeth Schulze-Witzenrath : Der gerettete Erzähler. Decameronrahmen und städtische Sprachkultur im italienischen Trecento. Tübingen 2012. 15 Vgl. etwa Schumacher (2001). 16 Die Einschätzung von Schulz (2011), S. 195, daß «die deutschsprachigen Kurzerzählungen allerdings noch lange ausgeschlossen» blieben von «der besonderen Entwicklung», die das Erzählen im Decameron und in den Canterbury Tales nehme, wäre insofern zu relativieren und es wäre weiterhin am Einzelfall zu fragen, ob nicht die deutschsprachigen Kurzerzählungen auf spezifische Art mit Gesprächs- und Erzählsituationen spielen. 17 Vgl. Haug (1991). 316 Resümee und Ausblick der Rezeptionsebene als Argumentations- oder Disputationsspiele verständlich, die Meinungen und Standpunkte verhandeln. Dabei generiert der diskursive Vorgang eine Lust am Erzählen, der es auf die Verbindlichkeit einer Aussage nicht mehr ankommt. Die Diskursinterferenzen zwischen juristischem und literarischem Diskurs sind es, die ein solches ‹ Erzählen von Sonderfällen › charakterisieren und das Erzählen selbst als Sonderfall spezifisch machen. 317 Resümee und Ausblick V Anhang 1. Schemata 1.1 Strukturschema Die unschuldige Mörderin Vers Gerichtsredenschema Funktion für Gesamtstruktur Makrostruktur 1 - 17 exordium (Schwerpunkt liegt auf der Erregung von Affekten, Quint IV 1, 6 ff) Prolog Episode 1 1 - 10 These von der Gotteshuld sachlich formuliert 11 - 17 Beispiel von der junkfraw zum Beleg der These affektreich formuliert 18 - 114 narratio: Vorstellung des Falles, Ausgangssituation, Experiment aufgebaut, deutliche Schwarz-weiß-Einteilung: bereits versteckte argumentatio für die Gräfin Exposition 18 - 44 Die gute Seite: Gräfin, Bruder, König (Charakter, Abkunft, Milieu positiv) → Ethos der eigenen Seite wird in ein gutes Licht gerückt (Quint IV 1,6 ff; IV 2, 129 ff) 45 - 49 Die böse Seite: Knecht und Ritter, unehrenhaft (Verkehrung des Herr- Diener-Verhältnisses: Ritter läßt sich vom Knecht raten und bestimmen) → Schatten werden auf das Bild der gegnerischen Seite geworfen (Quint IV 1,6ff; IV 2, 129 ff) Nu het der küng ain diener; der was ain ritter mit gevär. der hett ain knecht, der was bös. (45 ff) 319 Schemata Vers Gerichtsredenschema Funktion für Gesamtstruktur Makrostruktur 50 - 64 Beweis der Boshaftigkeit: Plan des Knechts (indignatio) der sprach gar mit valschem kös diß red zuo dem herren sein (48 f) Erregendes Moment: ordo wird gestört: Auslöser für die Entfaltung des Konflikts 65 - 114 Beweis für die Boshaftigkeit des Ritters, Plan wird angenommen und ausgeheckt, Falle ist zugeschnappt, Knecht ist der eigentliche Herr, er dirigiert (indignatio) Da der ritter die rede hort (er was üppig und bedort), im viel ain böser sin ein. (65 ff) 115 - 701 argumentatio: Wechselspiel: Argument zur Anklage der Angreifer - Gegenargument zur Verteidigung der Gräfin (Böse - Gut) → probatio (Anklage, Quint V 1, 1ff) und refutatio (Quint V 13, 1ff: Verteidigung der Angeklagten; potentielle gegnerische Anklageargumente werden widerlegt: Betonung immer auf Notwehr! ) → Handlungsbeginn: Ritter und Knecht reiten los 115 - 228 Ausführung Plan: das Böse fällt in die Welt des Guten ein Inszenierung (144 - 151): mit Eintreffen des Bösen geht die Sonne unter: Nacht, Diebeszeit → Böses eindeutig markiert (indignatio) Sentenz als opinio communis: wer übel tuot als ain dieb der hat die vinstern nacht lieb (249 f Ritter überlistet den Torwächter, moralische Zweifel der Gräfin (169 - 188): Für und Wider des Hereinlassens (monologische argumentatio) Steigerung 320 Anhang Vers Gerichtsredenschema Funktion für Gesamtstruktur Makrostruktur also was si hin und her betrüebet umb ir selbers er und umb ir künftig schaden gros. (183 ff) (conquestio) 197 - 228: Gräfin versucht argumentierend, den ‹ König › zu überzeugen, von seinem Vorhaben abzustehen → mit Was sol ich nun sagen mer? (229) verkündet der Erzähler die Ergebnislosigkeit mündlicher Argumentation 229 - 261 probatio: Das Böse ist am Zug I, List: Gräfin wird unschuldig schuldig Vergewaltigung I (und machet aus der magt ain weib, 235) Ritter verrät sich, conquestio: für war ich das sprechen wil: die red dett wee der frawen zart. (260 f) Höhepunkt 262 - 272 Gräfin erkennt, daß sie betrogen und geschändet wurde → Ehre verloren: des erschrack si da vil ser, das si also hett ir eer von dem bösen man verlorn. (271 ff) (conquestio) Tragisches Moment: Fallhöhe! 273 - 280 refutatio: Das Gute schlägt zurück I: Ermordung des Ritters → Bestrafung gemäß Verbrechen (Enthauptung für Vergewaltigung/ Ehebruch), Gerechtigkeit wiederhergestellt → Entlastung der Gräfin (274 - 280): unter Schock, Erzähler plädiert auf Unzurechnungsfähigkeit (conquestio) Peripetie: Mord I 321 Schemata Vers Gerichtsredenschema Funktion für Gesamtstruktur Makrostruktur 281 - 305 Gräfin will Leiche mit Hilfe des Torwächters entsorgen Katastasis/ retardierendes Moment: scheinbare Problemlösung 306 - 314 Torwächter erpreßt Gräfin, nutzt ihre Schwäche aus Erregendes Moment II Episode 2 315 - 330 Argumentation der Gräfin: versucht, ihn mit Geld umzustimmen → gelingt nicht → Was sol ich nun sagen mer? (331) verkündet wieder die Ergebnislosigkeit mündlicher Argumentation (vgl. 229) → conquestio: also muost si in truren stan (330) Steigerung II 331 - 336 probatio: Das Böse ist am Zug II: Vergewaltigung II → indignatio: da er sein boßhait volbracht (337) Höhepunkt II 333 - 334 si muost mit irem stolzen leib werden da des portners weib. (conquestio) (Tragisches Moment II: Fallhöhe! ) 337 - 363 refutatio: Das Gute schlägt zurück II: diesmal geplant und mit ausdrücklichem Lob und Billigung des Erzählers (356 - 360) Gerechtigkeit wiederhergestellt, Srafe gemäß Verbrechen (Ertränken für Verrat) Peripetie II: Mord II 322 Anhang Vers Gerichtsredenschema Funktion für Gesamtstruktur Makrostruktur 381= arithm. Mitte, 408 = Mitte der argumentatio 364 - 424 Gräfin beseitigt Spuren, Tagesszene: refutatio: Knecht wird erhängt: Diebestod! Justizirrtum, trifft aber trotzdem den Richtigen, Ungerechtigkeit ist gerecht → Knecht entgeht nicht seiner gerechten Strafe (Galgen als ehrloseste Todesstrafe) → Urteilsspruch des Erzählers 408 - 418 (indignatio) → Knecht als ‹ Sündenbock › , Verteidiger entlastet die Gräfin! Katastasis II: wieder scheinbare Problemlösung, letzter Mitwisser wird beseitigt 425 - 439 Graf holt seine Schwester zur Hochzeit, Signalwort: du muost heint ain praut sein. (431) → authentisches Erschrecken der Gräfin, ihre verlorene Jungfräulichkeit fällt ihr wieder ein: si erschrack der red vil ser, wann si verlorn hett ir eer; si was betrogen schalklich (433 - 435) → conquestio Erregendes Moment III Episode 3 440 - 468 Spannungssteigerung → Innenportrait Gräfin im Gegensatz zu ihrer äußeren Haltung (conquestio) → Hochzeitsfeierlichkeiten Steigerung III 469 - 516 Steigerung: Kammerzofe als untergeschobene Braut 323 Schemata Vers Gerichtsredenschema Funktion für Gesamtstruktur Makrostruktur 517 - 533 (probatio) König schläft mit der Dienerin und die Königin steht daneben: und machet aus der magt ain weib. (530) Höhepunkt III 534 - 576 probatio: Das Böse ist am Zug III: Kammerzofe wird von der Macht verführt, sie will sich nicht mehr an die Abmachung halten, zum dritten Mal schlägt der Versuch der Gräfin fehl, die Situation durch mündliche Argumentation zu klären: was die küngin pat und ret, das was alles sampt entwicht. die junkfraw wolt ir weichen nicht (554 - 556) → Verrat (conquestio): si wolt selber küngin sein. das was der künigin ain pein und ain grosser ungemach. grosser laid ir nie geschach. (557 - 560) Tragisches Moment III: Fallhöhe! → Kammerzofe ist jetzt Königin 577 - 616 refutatio: Das Gute schlägt zurück III: Gräfin legt Feuer und Edelfräulein verbrennt → E.kommentar (612 - 616): gerechter Lohn für ihre Untreue (indignatio) Peripetie III: Mord III 617 - 623 Scheinbares Happy End: . . .und lebten mit ainander wol (619) Katastasis III 324 Anhang Vers Gerichtsredenschema Funktion für Gesamtstruktur Makrostruktur 624 - 701 32 Jahre später: Beichte beim Ehemann → Aufzählung aller Verbrechen aus Sicht der Gräfin, mit E.komm. durchsetzt (indignatio): 658: in künges weis mit gevär (Ritter) 665: der ir det gros ungemach (portner) 671ff: der mit seinem bösen rat/ ain anfank was der maintat,/ davon ir vil schmäch geschach (Knecht) 681: von der selben tochter vein (Zofe) → recapitulatio, außerdem Beweis für Glaubwürdigkeit der Gräfin, verschweigt ihrem Mann nichts Lösung durch individuelle Perspektive: Ehemann verzeiht, besser: er sieht ihre Taten gar nicht als Verbrechen an, Bestätigung des Standpunktes der Verteidigung Hinausgezögerte Katastrophe 702 - 763 peroratio: Schlußplädoyer des Verteidigers → Zusammenfassung der Hauptpunkte der Rede: recapitulatio (Quint VI 1,1 ff), verstärkte Appelle an das Gefühl des Urteilenden (Rezipient): conquestio und indignatio (Quint VI 1,9 ff) Epilog 702 - 739 Lob der königlichen Entscheidung zum Freispruch Zusammenfassung der Hauptpunkte der Rede (recapitulatio): → Frau ist unschuldig: plädiert auf Freispruch (conquestio) → nochmalige Aufzählung der einzelnen Verbrecher und ihrer Vergehen, diesmal mit strafrechtlicher Beurteilung des Verteidigers: 325 Schemata Vers Gerichtsredenschema Funktion für Gesamtstruktur Makrostruktur rechtlich adäquate Strafen wurden verabreicht: den ist allen recht geschehen (739) 740 - 763 Aufruf an die Gesellschaft, Wunsch nach Gerechtigkeit → Ende des Plädoyers: Bekräftigung der argumentatio durch Sentenz als Mitteilung der opinio communis (ausgleichende Gerechtigkeit): wärlich es gevelt mir wol und dunkt mich sein guot und recht, wenn untrew iren herren slecht, als den vieren geschehen ist. (746 - 749) 326 Anhang 1.2 Strukturschema Der feige Ehemann Vers Gerichtsredenschema Handlung Rede: Wer spricht? 1 - 26 (argumentatio III) Erzähler vs. Protagonist Prolog des Erzählers Erzähler 1 - 2 Sentenz = opinio communis These von ‹ kleinem und großem Schaden › (Ain schädlin wärlich pesser ist/ dann ain schad ze aller frist. 1 f) 3 - 7 8 - 20 Vorgezogene refutatio des Erzählers vs. Protagonist Explikation der These anhand dreier Beispiele (besitzen Gültigkeit im realhistorischen Recht): l Exempel 1: Verstümmelung statt Todesstrafe (Lebendigbegraben vs. Handu. Fußabschlagen) l Exempel 2: Einreißen des eigenen Hauses um das Ausbreiten des Feuers auf die ganze Stadt zu verhindern l Exempel 3: Dieb zieht das Köpfen als ehrenvollere Todesstrafe dem Hängen vor → Der Erzähler demonstriert ein Paradebeispiel exemplarischen Erzählens: der Prolog ist ein in sich abgeschlossenes Exempel, auf die drei skizzierten Situationen trifft die Sentenz tatsächlich zu. Damit wird das wesentliche Argument des Ehemannes, mit dem er in 327 Schemata Vers Gerichtsredenschema Handlung Rede: Wer spricht? der Diskussion mit seiner Frau sein Nichteingreifen entschuldigt, vorweggenommen und seine korrekte, logische Verwendung demonstriert. 21 - 26 Überleitung zur narratio Bezug zwischen Sentenz und Erzählung wird hergestellt, jedoch gleich relativiert: die triffet dise red an zwar/ etwie vil und doch nit gar (23 f) → im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen trifft die These vom großen und kleinen Schaden auf die folgende aubentür ein Stück weit zu, aber doch nicht ganz 27 - 80 narratio Ort und Personen der Handlung; Vorgeschichte und Ausgangssituation zur Konstitution des Falles Erzähler 27 - Mann: nur einmal erwähnt, bleibt unkommentiert 28 - 44 - Ehefrau wird idealisiert (16 Verse): Schönheit, gute Eigenschaften, Ehre, Ruf, Topik hoher Minne (roter mund) → Erzählzweck ist Vorbereitung der Opferrolle (conquestio) und Motivation des Auftritts des Ritters (Fernliebe) 45 - 49 - Ritter als zwielichtige Gestalt (lantfarer, 46) mit doppeldeutiger Charakterisierung (47 - 49) Minneritter/ Weiberheld 328 Anhang Vers Gerichtsredenschema Handlung Rede: Wer spricht? 50 - 67 probatio Ritter Provokation/ Handlungsanstoß: Ritter kommt in die Stadt und macht der Frau unanständige Avancen 68 - 80 refutatio Frau → Frau fühlt sich in ihrer Untadeligkeit provoziert, Gefahr des öffentlichen Ehrverlusts zwingt zur Handlung: sie vertraut sich dem Ehemann an → Formierung einer Gegenpartei aus Ehefrau und Ehemann: Plan, der Provokation mit Konfrontation zu begegnen → versprochene refutatio Mann Plan des Mannes → Hilfeleistung, Schutzversprechen: ich will dir wenden dise pein (72) direkte Rede des Mannes (71 - 80) 81 - 232 argumentatio I Ritter vs. Ehepaar Verhandlung des Falles auf der Ebene der Figurenaktion Eintritt in das diskursive Handlungsgeschehen → Markierung durch zeitliche Zäsur: Abstand von 3 Tagen (81) 81 - 112 Wiederholte probatio des Ritters überzeugt scheinbar Ritter wiederholt sein Anliegen, Frau geht scheinbar darauf ein: Verabredung eines Stelldicheins Dialog Ritter - Frau 329 Schemata Vers Gerichtsredenschema Handlung Rede: Wer spricht? 113 - 232 Gegnerische Parteien treffen aufeinander Szene im Haus des Ehepaares → Einheit von Zeit, Ort und Handlung (Signal dramatischer Direktheit) Inszenierung von argumentativer Auseinandersetzung als narrativ vermitteltes Geschehen: Vorhaben Ritter vs. Vorhaben Ehepaar: Wechselspiel von Aktion (probatio) und Reaktion (refutatio) 113 - 152 probatio (mündlich) soll Ehemann aktivieren, erreicht jedoch das Gegenteil Ankunft des Ritters im ehelichen Schlafzimmer: Kontrastierende Gegenüberstellung von unbewaffnetem Ritter in ziviler Kleidung und gut gerüstetem Ehemann im Panzer Frau tut den ersten Schritt, um ihren Plan umzusetzen: beschreibt die unzureichende Ausstattung des Ritters: one harnasch und oun swert (141) [. . .] ir habt auch hie ain messer zwar; / das wär ewch unhilflich gar (147 f) → als Argument gedacht, um den Mann zum Handeln zu bewegen (150 - 152) Frau 153 - 173 refutatio (zweiteilig: mündlich be- Reaktion des Ritters (verfolgt sein Vorhaben des erotischen Abenteuers): Potenzbeweis → entkräftet ihr Argument des oberflächlichen Ein- Ritter 330 Anhang Vers Gerichtsredenschema Handlung Rede: Wer spricht? hauptet und durch Handlung bewiesen) drucks durch Betonung seiner Stärke (154 - 160) und der Güte seines Messers (161 f) → Beweis seiner Argumentation (Augenschein) mittels Demonstration des Messers anhand der Eisenplatte: «fraw, nun secht die sterke mein! » (169) → Worte schlagen in Handlung um! 174 - 192 (probatio) unterbleibt Diese refutatio des Ritters ist so überzeugend, daß sie das Vorhaben des Ehemannes durchkreuzt: Beschluß, jede Handlung (probatio) zu unterlassen (markiert das Ende des ursprünglichen Vorhabens: Peripetie) → Hinweis des Erzählers auf das huote-Versprechen: der man lag dört in stiller huot (174), während die Frau dem Eindringling ausgeliefert ist (indignatio: Feigheit des Mannes bereits angedeutet) → Den Beweis seiner Feigheit erbringt der Mann selbst: er beschließt, sein Versprechen der Frau gegenüber zu brechen: ich will verhalten in der huot; / mir mocht von im geschehen we./ wie es halt dem weib erge (190 - 192) Gedanken des Mannes in direkter Rede: Abwägung seiner Handlungsmöglichkeiten 331 Schemata Vers Gerichtsredenschema Handlung Rede: Wer spricht? 193 - 216 refutatio Ritter setzt sein Vorhaben um: Vergewaltigung der Frau bei gleichzeitiger unterlassener Hilfeleistung des Ehemannes (dieser setzt sein Vorhaben nicht um: huote- Versprechen evident gebrochen) Argumentation der Frau aussichtslos (E.komm.) 217 - 232 (probatio) unterbleibt → Ende des Fallgeschehens! Eine offensive Reaktion der Frau oder ein nachträgliches Eingreifen des Ehemannes bleibt aus, der Ritter geht und ist damit aus der Argumentation ausgeschieden, für die Schulddiskussion hat er keine Bedeutung: er wisset das nicht fürwar, wie er es geschaffet hett, wol oder übel, an der stet. (230 - 232) 233 - 273 argumentatio II Rethematisierung des Falles im Streitgespräch Ehemann vs. Ehefrau probatio Frau - Frau als Anklägerin ihres Mannes wegen unterlassener Hilfeleistung: wie hastu zuo dieser stunt/ mich gelassen in grosser not! (242 f) Dialog Frau - Mann refutatio Mann probatio Mann - Ehemann weist Anklage zurück und schlägt gütliche Einigung vor - Argumentation mittels der eingangs vom Erzähler exemplifizierten Sentenz: das haun ich darumb getaun: / ain schädlin ist doch pesser zwar/ dann ain schad, das wiß fürwar! (258 - 260) → opinio communis soll sein Verhalten rechtfertigen 332 Anhang Vers Gerichtsredenschema Handlung Rede: Wer spricht? 274 - 296 argumentatio III Erzähler vs. Protagonist refutatio probatio probatio Erzähler schaltet sich als autoritäre Instanz ein (für war ich nun sprechen sol, 274) und übernimmt Anklage des Ehemannes, indem er auf dessen Verteidigung antwortet: - Entlarvung der Argumentation mittels der Sentenz von Schaden und Schädlein als auf diesen Fall unzutreffende Scheinargumentation: er hat war und doch nit gar (275) → vgl. Prolog, wo die vom Ehemann für seine Zwecke instrumentalisierte Sentenz anhand dreier Beispiele richtig ausgelegt wurde; auch dort hat der Erzähler schon betont, daß diese These auf die folgende Geschichte nur scheinbar zutrifft ( → Prolog als Vorbereitung zur Widerlegung der Argumentation des Ehemannes → der Kreis zum Anfang schließt sich) - Erzähler zeigt, daß der Mann andere Handlungsmöglichkeiten gehabt hätte aufgrund seines Hausrechts: wann wär er palde komen dar e der frawen laid geschach und hett kainen ungemach dem ritter gefüeget do so wär es nicht ergen also (276 - 280) - Anklage des Mannes wegen vorsätzlicher unterlassener Hilfeleistung Erzähler 333 Schemata Vers Gerichtsredenschema Handlung Rede: Wer spricht? 292 - 296 peroratio Abschließendes Appell des Anklägers an die Emotion der Zuhörer/ Richtenden mit Anrufung der göttlichen Instanz als Rechtsgarant: got geb, das im nicht geling,/ was er immer greifet an! (294 f) → indignatio für den Angeklagten Erzähler 334 Anhang 1.3 Strukturschema Die Rache des Ehemannes Vers Gerichtsredenschema Inhalt Makrostruktur 1 - 12 narratio Ausgangssit. mit Hauptpersonen Exposition inszeniert Konflikt der Dreieckssituation auf kleinstem Raum: Pfaffe nimmt Position des Ritters ein Episode 1 (196 Verse) ACTIO 13 - 412 argumentatio (Figurenaktion) probatio des Pfaffen Liebesszene 1 Handlung beginnt Szene Frau und Pfaffe: Forderung des Pfaffen (Anstifter) → konfliktauslösendes Moment 40 - 118 Ausführung probatio des Pfaffen durch die Frau: Ritter als Opfer aus Liebe Körperliche Verstümmelung 1 (Ritter) Szene Ritter und Frau: Zähneziehen 119 - 140 Verdeutlichung der probatio/ Überhöhung Kunsthandwerk 1 Verarbeitung der entwendeten Körperteile, besonders markiert durch Hörerappell (119) → unerhörte Begebenheit 1 141 - 196 Vorbereitung refutatio des Ritters (Gegenbewegung) Erkennungsszene 1 (Pfaffe/ Ritter) Erkenntnis des Ritters, Andeutung Racheplan des Ritters ( ‹ Peripetie › ) Fortsetzung der Handlung ausgelöst 335 Schemata Vers Gerichtsredenschema Inhalt Makrostruktur 197 - 244 Ausführung refutatio Körperliche Verstümmelung 2 (Pfaffe) 3 Tage später (Retardierung): Ritter führt seinen Plan aus Episode 2 (216 Verse) REACTIO Teil 1 Rache des Ritters am Pfaffen (173 Verse) 245 - 284 Verdeutlichung der refutatio/ Überhöhung Kunsthandwerk 2 Verarbeitung der entwendeten Körperteile → unerhörte Begebenheit 2 285 - 369 Erkennungsszene 2 (Ritter/ Pfaffe) Erkenntnis des Pfaffen; Vorbereitung Rache des Ritters an der Frau Erkenntnis des Pfaffen (359 f) komplettiert Teil 1 der ritterlichen Racheaktion und läutet Teil 2 ein: die Schicksalswendung richtet sich jetzt gegen die Frau, indem der Pfaffe einwilligt, Verrat an ihr zu begehen (364 - 368) 370 - 412 Indirekte refutatio (= gewendete probatio) Ritter als Täter, Frau und Pfaffe als Opfer (Zerstörung der Liebe) Körperliche Verstümmelung 3 inszeniert als Liebesszene 2 (Pervertierung) Pfaffe führt Rache des Ritters an der Frau aus Lösung des Falles auf der Ebene der Figurenaktion (ordo rekonstituiert) Teil 2 Rache des Ritters an der Frau (43 Verse) Ende SCHWANK 413 - 514 peroratio (Figurendialog) (übernimmt die Figur Gerichtsszene Ein halbes Jahr später (Retardierung): vom Ritter einberufenes Familiengericht → öffentliche Beurteilung des Falles Episode 3 (102 Verse) 336 Anhang Vers Gerichtsredenschema Inhalt Makrostruktur des Ritters selbst, der Erzähler gibt hier seine Rolle als Meinungsinstanz ganz ab) Nachgereichte ‹ Katastrophe › / Nachspiel → Rethematisierung des Kasus und seiner Lösung (in sich geschlossene, sehr direkt erzählte Handlung dieses letzten Aktes) → Sonderstellung, Selbstreferentialität 437 - 482 Ritter als Ankläger 483 - 487 frainde als Schöffen → Beratung über das Urteil 488 - 498 Ritter referiert seine bereits vollzogenen Strafen 499 - 511 Urteil des Ritters 512 - 514 Versuchter Einspruch der Gegenpartei (Angeklagte) 515 - 516 resümierende Bemerkung des Erzählers, auffällig kurz und distanziert (Epilog) 337 Schemata 1.4 Strukturschema Der verklagte Bauer Vers Gerichtsredenschema Inhalt Funktion für Gesamtstruktur Rede: Wer spricht? 1 - 36 1 - 27 exordium Prolog des Erzählers 1 - 3: Sentenz; 3 - 27: Parabel → negative Einstellung Prolog Erzähler 28 - 36 Handlungsaufforderung: Maxime formuliert als heldenhafter Ehrenkodex → positive Einstellung 37 - 92 37 - 53 narratio Vorstellung des Bauers (gute Seite) Exposition Erzähler 54 - 92 Szene im Pfarrhaus Vorstellung von Pfarrer und Richter (Widersacher) Verschwörung, Aushecken des Plans Konflikt konstituiert sich ( ‹ erregendes Moment › ) Dialog Pfarrer/ Richter 93 - 246 argumentatio I (Figurenaktion) 93 - 120 probatio Bauer Darnach in siben tagen (93) Rätselhafte Behauptung I (Unwetter als gutes Wetter) Beginn Konfliktaustragung Öffentliche Rede des Bauern vor der Gemeinde 121 - 132 fehlende refutatio Pfarrer (aufgeschoben) stilles Argument des Pfaffen: des Bauers Aussage über das Unwetter ist Ketzerei → Innensicht Pfarrer 338 Anhang Vers Gerichtsredenschema Inhalt Funktion für Gesamtstruktur Rede: Wer spricht? 133 - 179 probatio Pfarrer Kirchenszene I Argument des Pfaffen: Störung des Gottesdienstes → anonyme Rüge des Bauern Steigerung Öffentliche Rede des Pfarrers vor der Gemeinde 180 - 200 fehlende refutatio Bauer Reaktionsverweigerung des Bauern → Innensicht Bauer 201 - 246 probatio Pfarrer und Richter Verfahren im status coniecturalis Kirchenszene II Darnach an ainem sunntag (201): Öffentliche Anklage des Bauern durch den Pfarrer; Trick mit dem Stein als Konjekturalbeweis (Augenschein) Öffentliche Anklage und Gefangensetzung des Bauern durch den Richter (Exekutive): Vorwurf der Ketzerei, Bedrohung mit der Todesstrafe (236 - 246) Höhepunkt → Innensicht Pfarrer; öffentliche Rede des Pfarrers vor der Gemeinde 247 - 356 argumentatio II (Figurendialog) Streitgespräch → vom status coniecturalis in den status der translatio Gefängnisszene Bauer/ Pfarrer Rätselhafte Behauptung II (Himmel und Hölle zuhause) Rätselhafte Behauptung III (Pferd klüger als der Pfarrer) → Bauer erweist sich als dem Pfarrer rhetorisch weit Peripetie I (Bauer als Rhetor) Dialog Bauer/ Pfarrer 339 Schemata Vers Gerichtsredenschema Inhalt Funktion für Gesamtstruktur Rede: Wer spricht? überlegen: eine höhere Rechtsinstanz muß eingeschaltet werden Freilassung des Bauern gegen Bürgschaft (352) 357 - 448 Zwischenszene Prozeßvorbereitungen 357 - 394 Bischofsszene I: auf dem Domkapitel Pfarrer klagt den Bauern beim Bischof an → Konflikt wird auf eine zweite Ebene verlagert: Pfarrer wiederholt alle drei Anklageargumente Unwetter als gutes Wetter, Himmel und Hölle zuhause, Pferd klüger als der Pfarrer Fazit: der Bischof will den Bauern bestrafen: er ist ain rechter ketzer (390) Retardierung (Rethematisierung des Falles) Dialog Pfarrer/ Bischof 395 - 448 Bischofsszene II: auf dem Domkapitel Bauer beim Bischof: Unterredung, Vereinbarung des Gerichtstermins → Bauer überzeugt durch seine Ehrlichkeit, er will alle Behauptungen beweisen Peripetie II (Bauer mit guten Beziehungen) Dialog Bauer/ Bischof 340 Anhang Vers Gerichtsredenschema Inhalt Funktion für Gesamtstruktur Rede: Wer spricht? 449 - 675 argumentatio III (Figurendialog) Gerichtsprozeß Sonntag als Gerichtstag Gerichtsszene im Bauernhaus: Vorlauf mit Festmahl des Bischofs und seiner Räte Lösung des Falles = Lösung der Rätsel Bischof als Richter, Pfarrer als Kläger, Bauer als Angeklagter Jedes Anklageargument wird einzeln abgehandelt; gesteigerte Anordnung Prozeßgang: - Bischof fordert Pfaffe auf, seine Anklagepunkte vorzubringen - Pfarrer kündigt 3 Anklagepunkte an, die den Vorwurf der Ketzerei belegen sollen (477): 1. Gewitter (480 ff) - Bauer verteidigt sich: legt seine Äußerung aus (489 ff) - Bischof wehrt diesen Klagepunkt ab, entscheidet auf Unschuld des Bauern (509 ff); Aufforderung an den Pfaffen, den nächsten Punkt vorzubringen (515 ff) Dialog Pfarrer/ Bauer/ Bischof Sprechreihenfolge: Bischof → Pfarrer → Bauer Bischof → Pfarrer → Bauer Bischof → Bauer → Bischof (Bauer beansprucht immer mehr Redezeit, wird vom Angeklagten zum Ankläger) 341 Schemata Vers Gerichtsredenschema Inhalt Funktion für Gesamtstruktur Rede: Wer spricht? - Pfarrer bringt die beiden nächsten Punkte vor: 2. Himmel und Hölle zuhause, 3. Pferd klüger als Pfarrer (518 ff) - Bauer stellt sich der 2. Behauptung (533 ff), Beweis: kranke Mutter (543) - Bischof entscheidet wieder auf unschuldig (Jurist beweist, daß der Bauer im theologischen Sinne richtig zitiert hat, 562 ff), Anklagepunkt ist abgewehrt (560 ff) - Bischof fordert Bauern auf, sein Pferd zu zeigen, das klüger als der Pfaffe sein soll (Beweis 2. Behauptung) (571 ff) - Bauer verteidigt sich mit Geschichte vom Ritt über den Graben: Analogieschluß zum Verhalten des Pfarrers (632 ff) → 639: der pfaff dem richter minnt das weib → Rollentausch, Pfarrer in der Position des Angeklagten - Urteil des Bischofs (653 ff) Peripetie III: Schwankmoment 342 Anhang Vers Gerichtsredenschema Inhalt Funktion für Gesamtstruktur Rede: Wer spricht? 676 - 722 peroratio Epilog Erzähler 676 - 682 683 - 687 recapitulatio Betonung des Ergebnisses Positiver Kommentar 688 - 714 Zurücknahme der Geschichte, negative Weltsicht: wer recht hat, der muoß unrecht haun. (714) 715 - 722 Resignierter Rat an das Publikum 343 Schemata 2 Texte und Übersetzungen 2.1 Heinrich Kaufringers Der verklagte Bauer. Text und Übersetzung (mhd./ nhd.) Der Abdruck einer neuhochdeutschen Übersetzung zum Verklagten Bauern schien mir sinnvoll, da eine solche, wissenschaftlichen Kriterien genügende Übersetzung dieses Textes bislang fehlt. Die einzige existente Übersetzung von Hans-Joachim Gernentz, die im Rahmen einer Textsammlung mittelhochdeutscher Kleinepik in der ehemaligen DDR erschien, ist schlecht erreichbar und muß als überholt gelten. 1 Problematisch ist m. E. vor allem der eigenwillige Stil der Übersetzung, die in der Summe das Original mehr verfremdet als den Zugang zum mittelhochdeutschen Text erleichtert. 2 Aus diesen Gründen habe ich meine Interpretation auf eine ‹ neutrale › und möglichst textnahe Übersetzung gestützt. Bei aller scheinbar einfachen Lesbarkeit aufgrund des schon ins Frühneuhochdeutsche gehenden Lautstandes der Handschrift, birgt der Text doch einige Eigentümlichkeiten - des Vokabulars wie der sprachlichen Formulierung. Diese lesbar zu machen ist die Prämisse der vorliegenden Übersetzung. Das Kriterium stilistischer Eleganz 1 Hans Joachim Gernentz : Der Schwanritter. Deutsche Verserzählungen des 13. und 14. Jahrhunderts. Berlin 1979. (1. Auflage 1972) Bereits die Einleitung verrät eine politische Ideologisierung der Texte, wenn die deutsche Kleinepik als Gattung charakterisiert wird, «in der Menschen und Ereignisse eines Zeitalters dargestellt werden, die den Kampf gegen feudale Fesseln auf breiter Front vorbereiten halfen» (S. 5). 2 Die Übersetzung kopiert die syntaktischen Wendungen des Originals, die ihrerseits oftmals dem Reim geschuldet sind, ohne jedoch gleichermaßen Versform und Reim zu imitieren. Daraus entsteht ein merkwürdig altertümelndes Neuhochdeutsch. Verstärkt wird dieser Ton durch das synkopische oder apokopische Erzeugen einer ‹ dichterischen Sprache › an Stellen, wo eine solche im mittelhochdeutschen Text nicht benutzt ist. Als Beispiel diene die Stelle V. 234 - 239 (S. 432 f): [. . .], doch ward der stain nie verruckt [. . .], doch der Stein blieb unverrückt in des vaigen pfaffen hand. in der Hand des list ’ gen Pfaffen. der richter sich da underwand Nun hatt der Richter einen Vorwand [sic! ]; des pauren, da er kom herauß als aus dem heil ’ gen Gotteshaus von dem hailigen gotzhauß. der Bauer war herausgetreten, er fuort in gefangen hain, [. . .]. ließ er ihn gefangennehmen. 344 Anhang kann sie nicht erfüllen, die Zielsetzung ist vielmehr, Stil und Satzstruktur des mittelhochdeutschen Textes, die Charakteristika Kaufringerschen Erzählens mit Hilfe der Übersetzung transparent zu machen. Für dialektale Eigenheiten der Überlieferung in der Handschrift cgm 270 verweise ich auf den Kommentar von Grubmüller. 3 Heinrich Kaufringer Der verklagte Bauer 5 10 15 20 25 30 Niemant pringt die lüt in swär als vil sam untrew richter und darzuo ettlich pfaffen. wer mit den hat ze schaffen, der bedarf gelückes wol, das er davon nit kumer dol. wenn si ainander mainen und sich zesamen verainen, der richter und der pfaff gescheid, zuo wiem si dann haben neid, der sol sich fleissen recht tuon. und zertritt er nur ain huon, er muoß vier ros ze buosse lan oder mit in in täding stan; so kompt es dann villeicht darzuo, das man im die gnade tuo, das er dann darumb ze buoß ain vaisten ochsen geben muoß. also vergilt er dann das huon. dannocht muos er aines tuon: er muos in danken zuo der frist, das im als güetlich geschehen ist. oft und dick auch das geschicht, das ainer kompt in inzücht, der frumm ist und nicht übel tuot; den straft man an leib und an guot. das wirt mit tädingen zuobracht. Nun haun ich mir des gedacht, wer nit unrecht hett getan, der sölt sich nit erschrecken lan; Niemand bringt die Leute so in Not wie die unaufrichtigen Richter und einige Pfaffen dazu. Wer mit denen etwas zu schaffen hat, der braucht wirklich Glück, damit er davon keinen Kummer leidet. Wenn die sich gut verstehen und sich zusammentun, der Richter und der gescheite Pfaffe, derjenige, dem sie dann feindlich gesonnen sind, der soll sich Mühe geben, dem Gesetz gemäß zu handeln. Und wenn er bloß ein Huhn zertritt, muß er zur Strafe vier Pferde hergeben, oder gegen sie vor Gericht ziehen; auf diese Art kommt es dann vielleicht soweit, daß man ihm die Gnade erweist, daß er als Schadensersatz einen Mastochsen hergeben darf. Damit bezahlt er dann für das Huhn. Trotzdem muß er eines machen: Er muß ihnen gleichzeitig dafür danken, daß er so gütig behandelt wurde. Sehr oft passiert es auch, daß jemand beschuldigt wird, der rechtschaffen ist und nichts Böses tut; den bestraft man an Leib und Besitz. Das wird mit Gerichtsverhandlungen zustande gebracht. Deshalb habe ich mir überlegt, wer kein Unrecht getan hat, der sollte sich nicht erschrecken lassen; 3 Grubmüller (1996), S. 1269 f. 5 10 15 20 25 30 345 Texte und Übersetzungen 35 40 45 50 55 60 65 er sölt ee verderben palt vor seinem obersten gewalt, vor ritter und vor knecht, oder vor in werden gerecht, als aines mals ain baur det, der ern und guotz sein notdurft het. er sas in ainem dorf guot. er was frumm und so gemuot, das er ungeleichs nit gert. darzuo er auch niemant ert, wann sein karkait was so gros, das sein iemand icht genos, weder pfaff noch richter. er was auch also komen her, suocht iemant gen im arge list, darwider was er zaller frist in züchten und mit weißhait. im wär auch ser gewesen lait, das er das bei im haben wölt, das er ze recht geben sölt; er gab die siben opfer sein und den zehenden oun alle pein. sunst genos sein niemant vil. Für war ich das nun sprechen wil: der pfarrer truog im darumb has. er gedacht im: »wie füeg ich das, das ich den bauren pring ze spot, des nicht geniußt die welt noch got? zwar ich muos im füegen schaden.« er begund den richter laden ze wirtschaft in sein hause guot. si wurden da vil wolgemuot. der pfarrer huob ze reden an: »richter, ich will ew wissen lan, ain baur ist in der pfarre mein, der will nur selber herr sein und wigt mich und ew gering. er sollte lieber tapfer seinem Verderben ins Auge sehen vor dem Gericht seines obersten Herrn, vor Rittern und Knappen, oder vor ihnen freigesprochen werden, wie das einmal ein Bauer getan hat, der ehrenhaft und wohlhabend war. Er wohnte in einem schönen Dorf. Er war rechtschaffen und so eingestellt, daß er nichts begehrte, was ihm nicht zukam. Außerdem kümmerte er sich um niemanden, denn er war so sparsam, daß niemals jemand von ihm profitierte, weder der Pfarrer noch der Richter. Auch hatte er die Angewohnheit, wenn jemand etwas Böses gegen ihn im Schilde führte, immer mit Anstand und Weisheit darauf zu reagieren. Es wäre ihm auch unangenehm gewesen, etwas für sich zu behalten, was er von Rechts wegen abgeben mußte; er spendete die sieben Opfer und bezahlte umstandslos den Zehnten. Ansonsten bekam niemand viel von ihm. Ich will Euch die Wahrheit sagen: Der Pfarrer haßte ihn deswegen. Er dachte sich: «Wie stelle ich das an, daß ich den Bauern zum Gespött mache, von dem weder die Welt noch Gott etwas bekommt? Wirklich, ich will ihm unbedingt Schaden zufügen.« Er lud den Richter zum Essen in sein schönes Haus ein. Sie wurden dabei recht fröhlich. Der Pfarrer setzte zu reden an: «Herr Richter, ich sage euch, es gibt einen Bauern in meiner Pfarrgemeinde, der möchte am liebsten selbst der Herr sein und achtet mich und euch gering. 346 Anhang 70 75 80 85 90 95 100 er hat auch gar vil pfenning. welt ir mir helfen nur darzuo, ich lauß im niendert kain ruo, sein gewalt der muoß ain end haun und uns auch wesen undertaun. er ist auch nit ain guoter krist; das bewär ich in kurzer frist. darin habt ir dann ewer buoß, seit ich die warhait sagen muoß.« er nennet im den bauren do. der richter ward der red vil fro, wann er hett gar gern guot, als noch ain ieglich richter tuot. er sprach: »zwar der selbe baur der dunkt mich allweg sein als saur, mich hat sein lang verdrossen und haun sein nie genossen als vil als umb ain claines har. es ist ietz wol zehen jar, das man mich hie ze richter kos; ains pfenwertz ich sein nie genos.« der richter und der pfaff mit has baid sampt ainander gelüpten das, si wolten darzuo helfen baid, wie si dem bauren fuogten laid. Darnach in siben tagen schoß ain ungewitter scharpf und gros nider auf die erd zetal. der pfaff gesegnot überal das wetter in der pfarre sein; got det mit seinem gewalt schein, als er doch selber herre ist. der schaur sluog da ze der frist in der selben piet gemain den erdwuocher guot und rain, Auch hat er sehr viel Geld. Wolltet ihr mir nur etwas helfen, lasse ich ihm keine Ruhe mehr, mit seiner Herrlichkeit wird es vorbei sein, und auch er muß sich uns unterordnen. Er ist nämlich kein guter Christ, das werde ich bald beweisen. Für euch springt dabei das Bußgeld heraus, das verspreche ich.» Dann nannte er ihm den Namen des Bauern. Der Richter freute sich sehr über diese Worte, denn er vermehrte sehr gerne seinen Besitz, wie das alle Richter tun. Er sagte: «Ja wirklich, dieser Bauer, der scheint mir immer derart grimmig zu sein, ich ärgere mich schon lange über ihn und habe noch nie etwas von ihm bekommen, nicht einmal so viel wie ein dünnes Haar breit ist. Es ist jetzt bestimmt zehn Jahre her, daß man mich hier zum Richter gemacht hat; nicht einen Pfennig habe ich von ihm seither bekommen.» Haßerfüllt versprachen sich der Richter und der Pfaffe, einer dem anderen gegenseitig, daß sie beide zusammenhelfen wollten, um dem Bauern Schaden zuzufügen. Sieben Tage danach ging ein sehr heftiges Gewitter auf die Erde nieder. Der Pfaffe sprach überall in seiner Pfarrgemeinde den Wettersegen; aber Gott zeigte in seiner Macht, daß er eben selbst der Herr ist. Der Hagelschauer zerschlug da in dem ganzen Gebiet die schöne, unberührte Saat, die auf den Feldern wuchs, 347 Texte und Übersetzungen 105 110 115 120 125 130 135 140 das der aller ward entwicht. von diser jamerlich geschicht huob sich gemainclich grosse clag von den lüten nacht und tag, wie das ungewitter swär ir aller gros verderben wär. da sprach der bawr offenbar, den der pfarrer hasset gar, da er des volkes clage hort: »werlich ir seit all bedort, das ir clagt ze diser frist, wann es ain guot weter ist gewesen, auf die trewe mein. es sol niemant schwär noch pein darumb haun, das ist mein rat, wann es got selb getaun hat.« die red geviel niemant wol, seit ich die warhait sagen sol. da ir der pfarrer ward gewar, er gedacht: »ich haun nun zwar gen dem bauren guot gelimpf, wann er in ernst und oun schimpf die groben red hat getan. darbei mag man sich verstan, das er nit ist ain kristen guot.« er ward fro und wolgemuot, das er auf den guoten man ainen clainen glimpf gewan, damit er im möcht füegen pein; darnach rang das herze sein. Es bestond nit lang darnach, das der pfarrer messe sprach an ainem hochzeitlichen tag. der baur da seins geschäftes pflag auf des hailigen freithofs platz; wol sechzig tagwerk wismatz wolt er da hingedinget han und ze ainem fürgriff lan. er het auch da gar luten pracht. der pfaff aus seiner andacht ob dem altar kommen was; er kert sich umb und meldet das. sodaß sie vollkommen zerstört wurde. Wegen dieses schlimmen Vorfalls erhob sich allgemein großes Klagen unter den Leuten, bei Tag und Nacht, daß das schwere Unwetter sie alle ins Verderben gestürzt habe. Da sagte der Bauer rundheraus, - der, den der Pfarrer so haßte - , als er die Klagen der Leute hörte: «Ihr seid wirklich alle dumm, daß ihr euch jetzt beklagt, denn das ist ein gutes Wetter gewesen, ganz im Ernst. Es soll sich niemand deshalb ärgern oder verzweifelt sein, - das ist mein Rat - , denn Gott selbst hat das Wetter geschickt.» Diese Worte gefielen niemandem, wenn ich ehrlich sein soll. Als der Pfarrer davon hörte, dachte er: «Jetzt habe ich wirklich etwas gegen den Bauern in der Hand, denn er hat die anstößigen Worte im Ernst und nicht zum Spaß gesagt. Daran kann man erkennen, daß er kein guter Christ ist.» Es machte ihn fröhlich und heiter, daß er gegen den guten Mann eine Kleinigkeit in der Hand hatte, womit er ihm schaden konnte; danach sehnte er sich von Herzen. Nicht lange darauf hielt der Pfarrer an einem Festtag die Messe. Der Bauer ging zur gleichen Zeit auf dem heiligen Kirchhof seinen Geschäften nach; gut sechzig Tagwerk Wiese wollte er da zum Mähen für einen bestimmten Preis verpachten. Dazu machte er ein großes Geschrei. Der Pfaffe wurde aus seiner Andacht am Altar gerissen; er drehte sich um und sagte das laut. 348 Anhang 145 150 155 160 165 170 175 180 der neid, der in dem herzen sein verborgen lag, den det er schein. er sprach aus zornigem mund: »nun wissent all zuo diser stund, das ich in meiner pfarre han gar ain übeltätigen man, dem gottes dienst ist gar unwert. got und die welt er lützel ert. ir mügt in wol erkennen, doch sol ich in nit nennen. er treibt ietzo gros geschrai; er gäb darumb nicht ain ai, ob er auf dem freithof forn mich machet hie ze ainem torn ob dem hailigen altar. auch sag ich ew das für war, das er nicht guoter cristen ist. ich gib im nicht lenger frist; will er sich nit pessern zwar, ich will in nennen offenbar und bring in vor der welt ze spot. dannocht muoß er das pessern got.« da die red also geschach, ie ainr den andern ansach in der selben kirchmenge. sich huob pald ain getrenge; ie ainer trat dem andern für heraus gen der kirchtür. da wolten si nun sehen, auf wölhen wär die red geschehen. si funden den bauren daforn staun. dannocht hett er nicht gelaun von seinem pracht; er traib den mer. si erkannten wol, das er von dem pfaffen gerüeget was. Im ward pald ze wissen das von den, die im gunnen guot, wie der pfarrer ungemuot die red het offenlich getaun und wie er des in arkwaun Der Neid, der tief in seinem Herzen verborgen war, den zeigte er öffentlich. Zornig sagte er: «Jetzt wissen es alle, daß ich in meiner Gemeinde einen sehr schlechten Menschen habe, dem der Gottesdienst gar nichts bedeutet. Er achtet Gott und die ganze Welt gering. Ihr könnt ihn leicht erkennen, ich werde ihn aber nicht beim Namen nennen. Er macht im Moment ein großes Geschrei; es interessiert ihn überhaupt nicht, daß er da draußen auf dem Kirchhof mich hier vor dem heiligen Altar zum Narren macht. Ich sage euch die Wahrheit, daß er kein guter Christ ist. Länger lasse ich ihm das nicht durchgehen; wenn er sich nicht aufrichtig bessern will, werde ich öffentlich seinen Namen nennen und ihn vor aller Welt zum Gespött machen. In jedem Fall muß er sich vor Gott dafür verantworten.» Bei diesen Worten sah einer den anderen an in der Menge der Kirchenbesucher. Es entstand sogleich ein Gedränge; einer wollte den anderen überholen, um zur Kirchentür hinaus zu kommen. Dort wollten sie sehen, auf wen die Rede gemünzt gewesen sei. Sie fanden den Bauern da draußen stehen. Der hatte immer noch nicht aufgehört mit seinem Geschrei; er machte damit weiter. Sie merkten sehr wohl, daß er es war, den der Pfarrer gerügt hatte. Ihm wurde das bald mitgeteilt von denen, die ihm wohlgesonnen waren, was der ärgerliche Pfarrer öffentlich ausgesprochen habe und wie er deshalb 349 Texte und Übersetzungen 185 190 195 200 205 210 215 220 gen dem ganzen dorf wär. des gewan sein herz vil swär. er gedacht: »wie ist der sach? sol ich nun sein so bös und swach, das ich ain böser cristen haiß? got selb wol das an mir waiß, das ich des unschuldig pin.« er nam im das in seinen sin, er wölt sich des nicht nemen an, der pfarrer hett die red getan auf ainen andern und nicht auf in. darzuo het er auch den sin, wann er niemand hett genennt, er sölt damit nit sein geschentt, und swaig also still darzuo und het darumb kain unruo. Darnach an ainem sunntag, da iederman ze kommen pflag gen kirchen zuo der messe guot, der pfaff gedacht in seinem muot: »ich pin dem pauren ser gehas. ich muos in hiut rüegen bas, ob er sich ichtz wöll verstaun und mit täding hinder uns gaun.« da er an der kanzel hett die zeit gekündet und sein redt solt nun schier ain end haun, er hies das volk da still staun. er sprach: »nun merkent, liebe kind, all die hie ze kirchen sind! als ich ew vormals gesagt han, ainer ist mein undertan, der seinen frummen gar sere suocht; gotz und der welt er nicht geruocht. er ist ain böser cristen zwar. auch sag ich ew das für war, er muos got wesen widerzäm dem ganzen Dorf gegenüber mißtrauisch wäre. Darüber wurde er von Herzen betrübt. Er dachte: «Was ist da los? Bin ich denn wirklich so böse und schlecht, daß ich ein schlechter Christ genannt werde? Gott allein kennt mich und weiß genau, daß ich daran unschuldig bin.» Er faßte den Entschluß, daß er sich das nicht anhängen lassen wollte, daß der Pfarrer mit seinen Worten einen anderen gemeint habe, nicht ihn. Außerdem kam ihm der Gedanke, daß ihm kein Schaden entstanden sei, weil der Pfarrer keinen Namen genannt hatte, und so schwieg er zu der Sache und ließ sich davon nicht beunruhigen. An einem Sonntag darauf, als alle sich auf den Weg in die Kirche zur Messe machten, dachte sich der Pfarrer: «Ich hasse den Bauern sehr. Ich muß ihn heute noch stärker anklagen, damit er es möglichst merkt und uns vor Gericht anzeigt.» Nachdem er von der Kanzel herab das Wort Gottes verkündet hatte und seine Predigt sich nun dem Ende zuneigte, befahl er den Leuten, still stehenzubleiben. Er sagte: «Jetzt hört zu, meine Kinder, alle, die ihr hier in der Kirche seid! Wie ich euch schon einmal gesagt habe, ist einer in meiner Gemeinde, der sehr auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist; er nimmt weder Rücksicht auf Gott noch auf seine Mitmenschen. Ein schlechter Christ ist er, wirklich. Und ich sage euch wahrhaftig das Eine, Gott wird er verhaßt sein 350 Anhang 225 230 235 240 245 250 255 und aller welt ungenäm.« nun hett der pfaff ain grossen stain in der hand vor dem volk gemain. er sprach: »den rechten bößwicht gedar ich laider nennen nicht, aber ich will in werfen zwar.« er kert sich gen dem pauren dar, da er in sach in der menge sten. er det geleich, sam er den wölt werfen mit dem staine gros. zuo der erd schnell niderschos der gepaur und sich da duckt, doch ward der stain nie verruckt in des vaigen pfaffen hand. der richter sich da underwand des pauren, da er kom herauß von dem hailigen gotzhauß. er fuort in gefangen hain. er hies in ain ketzer unrain; darumb het er verlorn das leben, wann er sich schuldig het gegeben ze kirchen vor dem volk gemain, da er sich ducket vor dem stain und er damit nit berüert wart; damit hett er sich selbs vermart. Da der paur gevangen was, sein fraind da nicht liessen das, si komen schier zuo im dar und ander lüt ain michel schar. si clagten in all geleich. er sprach unerschrockenleich: »ich waiß kain schuld auf mir nicht, damit ich wider gaistlich gericht und auch das weltlich hab getan. der pfaff der liugt mich boßlich an. und der ganzen Welt widerwärtig.» Da nahm der Pfarrer vor der versammelten Gemeinde einen großen Stein in die Hand. Er sagte: «Diesen Bösewicht wage ich leider nicht beim Namen zu nennen, aber ich werde auf ihn werfen, das meine ich ernst.» Er drehte sich in Richtung des Bauern, dorthin, wo er ihn in der Menge stehen sah. Er tat so, als wolle er mit dem großen Stein nach ihm werfen. Schnell duckte sich da der Bauer auf den Boden, der Stein aber verließ die Hand des feigen Pfaffen gar nicht. Der Richter nahm den Bauern daraufhin fest, als dieser herauskam aus dem heiligen Kirchengebäude. Als Gefangenen führte er ihn ab. Er nannte ihn einen bösen Ketzer; er habe sein Leben verwirkt, weil er sich als Schuldigen zu erkennen gegeben habe in der Kirche vor der versammelten Gemeinde, als er sich vor dem Stein geduckt habe, obwohl er von diesem nicht berührt wurde; damit hätte er sich selbst verraten. Als der Bauer abgeführt wurde, ließen es sich seine Freunde nicht nehmen, sie kamen sogleich zu ihm hingelaufen, und dazu eine große Schar anderer Leute. Sie beklagten alle sein Schicksal. Er [aber] sagte unerschrocken: «Ich bin mir keiner Schuld bewußt, gegen geistliches Gesetz oder auch das weltliche verstoßen zu haben. Der Pfarrer lügt in böser Absicht. 351 Texte und Übersetzungen 260 265 270 275 280 285 290 ich widersprich zwar all sein sag. wie man mir das ertailen mag, das kan mir nit sein ze hert.« da was der pfarrer mit der vert auch in das haus nun komen. die red het er wol vernomen. er sprach: »ich will bewären das, das du pist an tugenden las. du trachst nit nach dem himelreich; das weltlich guot zergenkleich haustu lieber vil dann got. das ist sünd und grosser spot. nun pin ich dir des schuldig zwar, das ich dich vor der hell bewar und dich ze himel pringen sol; damit haun ich verzinset wol mich gen meinen undertan.« der paur sprach: »ir süllt mich erlan ewr straf und ewer lere gar. vor der hell ich mich bewar. ich getraw auch komen ze himelreich aun all ewr hilfe sicherleich, wann ich haun in dem hause mein das himelreich und der helle pein.« der pfaff sprach: »so hör ich wol, das du pist ungelaubens vol und pist gar ain böser crist, seit nun in deim hause ist die hell und auch das himelreich. ir herren, nun merkent all geleich die red, die er getaun hat, wann die wider den glauben stat! ob er ir laugnet fürebas, ich muos mit ew beziugen das.« der paur sprach: »zwar ich laugen nicht. kain fraiß mir umb die red geschicht, wann ich die wol bewären mag.« Mit Bestimmtheit widerspreche ich allen seinen Behauptungen. Welches Urteil man auch über mich sprechen wird, es wird mir nicht zu hart sein.» In diesem Moment hatte auch der Pfarrer das Haus betreten. Die Worte hatte er deutlich gehört. Er sagte: «Ich werde beweisen, daß du keine Tugend hast. du strebst nicht nach dem Himmelreich; Der weltliche Besitz, vergänglich wie er ist, ist dir viel wichtiger als Gott. Das ist eine Sünde und schlimmer Hohn. Ich aber habe dir gegenüber die Verpflichtung, dich vor der Hölle zu retten und dir den Weg in den Himmel zu weisen; das bin ich den mir anvertrauten Kirchenmitgliedern schuldig.» Der Bauer sagte: «Erspart mir eure Strafpredigt und eure ganzen Lehren. Vor der Hölle hüte ich mich selbst. Ich komme auch ohne all eure Hilfe in den Himmel, da bin ich sicher, denn ich habe bei mir zuhause das Himmelreich und die Qualen der Hölle.» Der Pfarrer sagte: «Da höre ich ja, daß du voller Unglauben bist, und ein ganz schlechter Christ, wenn in deinem Haus die Hölle und auch das Himmelreich sein soll. Ihr Herren, jetzt merkt euch alle die Worte, die er gesprochen hat, denn die sind wider den rechten Glauben! Falls er sie später leugnet, brauche ich euch als Zeugen.» Der Bauer sagte: «Ich lüge gewiß nicht. Die Rede bringt mich nicht in Gefahr, denn ich kann sie leicht beweisen.» 352 Anhang 295 300 305 310 315 320 325 330 der pfarrer sprach: »es kompt der tag, das du bedarft wol und eben, wie du fristen macht dein leben mit deinen witzen, die clain sind. du pist mit sehenden augen plind. von deiner dorothen weis noch ker! ich pring dich von dem richter, das er dich unverdorben lat, wiltu volgen meinem rat.« der baur sprach zuo dem pfaffen: »ich haun gar nichtz ze schaffen mit ew noch mit dem richter. ir habt mich pracht in grosse swär gar und genzlich oun all schuld. ich bedarf nicht des richters huld. darumb ich hie gevangen pin, ewer weißhait und auch ewer sin mag mir gefrummen vil clain. ich haun ain guot ros dahain; das hat vil mer witz dann ir. wie möcht ir dann geraten mir, das mir nutzlich möcht gesein? « der pfaff sprach: »hört, gesellen mein, er hat gesprochen wider mich, sein ros sei witziger dann ich; das ist ungelaublich gar. wie mag das nun wesen war, das er ain guoter cristen sei, dem söllich torhait wonet bei? er hat auch hewr getaun die red, da uns der schaur schaden tet, der uns die äcker machet kal, da sprach er oun allen schal, wie es ain guot wetter wär. er ist des gelaubens lär, der söllich red tuot offenbar.« der paur sprach: »ir hapt gar war. der red ich nicht in laugen staun. Der Pfarrer sagte: «Der Tag wird kommen, an dem du mit Sicherheit Hilfe nötig haben wirst, wie du dein Leben retten kannst, bei deiner Weisheit, die gering ist. Du bist mit sehenden Augen blind. Lass jetzt dein törichtes Verhalten sein! Ich befreie dich aus der Gewalt des Richters, sodaß er dir nichts anhaben kann, wenn du meinem Rat folgen willst.» Der Bauer sagte zu dem Pfaffen: «Ich habe gar nichts zu schaffen weder mit euch noch mit dem Richter. Ihr habt mich in große Not gebracht, dabei bin ich ganz und gar unschuldig. Die Freundschaft des Richters brauche ich nicht. Wegen der sitze ich hier gefangen. Eure Weisheit und auch euer Verstand nützen mir sehr wenig. Ich habe ein gutes Pferd daheim; das hat viel mehr Verstand als ihr. Was wollt ihr mir also raten, das mir nützlich sein könnte? » Der Pfaffe sagte: «Hört her, meine Freunde, er hat zu mir gesagt, sein Pferd sei gescheiter als ich; das ist wirklich unglaublich. Wie kann es da stimmen, daß jemand ein guter Christ sei, der solche Torheit zeigt? Er hat auch neulich gesagt, als uns das Unwetter schadete, das uns die Äcker kahlgeschlagen hat, da sagte er ganz im Ernst, daß das ein gutes Wetter sei. Wer öffentlich solche Reden führt, hat keinen Glauben.» Der Bauer sagte: «Ihr sprecht die volle Wahrheit. Ich habe nicht vor, diese Worte zu leugnen. 353 Texte und Übersetzungen 335 340 345 350 355 360 365 offenlich haun ichs getaun. die mag ich bewären wol, wau ich das pillich tuon sol.« der pfarrer sprach: »du hast genuog ungelimpfs und auch unfuog. ich will nun reiten gen hof zuo meinem herren dem bischof; dem will ich über dich clagen, die drei artickel sagen, damit man aigenlich erfindt, das du pist an dem glauben plint.« der paur sprach: »ich beger nicht mer, wann das ich vor dem bischof her und vor seinem weisen rat engelte meiner missitat und meiner unschuld genieß.« Der richter da den pauren lies aus der vanknuß lediclich, bis das die sach vollendet sich. mit dem geding das geschach, als die gepaurschaft das verjach, wär, das der baure läg ernider, so sölt er sich stellen wider in des richters haus hinein in die selben vanknuß sein. Der pfaff sich lenger nit enspart, er beraitt sich auf die vart und rait vil pald gen hof für seinen herren den bischof. er sprach: »herr, nun merkent mich! vor ewrn genaden ich das sprich: ain paur ist in der pfarre mein, der will nit rechtgeläubig sein, als ich ew nun sagen wil. das ungewitter hat gar vil in meiner pfarr schaden tan. der schaur hat da nichtz gelan; er hat es zernichtet gar, Öffentlich habe ich sie ausgesprochen. Ich kann sie leicht beweisen, sofern ich das von rechts wegen tun soll.» Der Pfarrer sagte: «Du hast schon genug Schmach und auch Unrecht auf dich geladen. Ich werde an den Hof reiten, zu meinem Herrn, dem Bischof; bei dem werde ich dich anklagen und ihm deine drei Aussagen berichten, damit man dort selbst erkennt, daß du für den Glauben blind bist.» Der Bauer sagte: «Ich möchte lediglich, daß ich von dem würdigen Herrn Bischof und von seinem weisen Rat entweder für meine Missetat bestraft oder wegen meiner Unschuld freigesprochen werde.» Der Richter ließ den Bauern also aus der Gefangenschaft frei, bis die Sache gerichtlich verhandelt würde. Das geschah unter der Bedingung, daß die Bauernschaft versprach, daß sich der Bauer im Falle seiner Niederlage vor Gericht freiwillig wieder ins Haus des Richters begeben würde, zurück in seine Gefangenschaft. Der Pfaffe hielt sich nicht länger auf, er bereitete alles vor und ritt kurz darauf zum Hof, um bei seinem Herrn, dem Bischof vorzusprechen. Er sagte: «Mein Herr, hört mir zu! Ich sage euer Gnaden folgendes: In meiner Pfarre gibt es einen Bauern, der will keinen rechten Glauben haben, wie ich euch jetzt beweisen werde. Das Unwetter hat in meiner Pfarrgemeinde großen Schaden angerichtet. Der Hagel hat nichts verschont; er hat alles zu nichte gemacht, 354 Anhang 370 375 380 385 390 395 400 405 das wir solten haun das jar genossen und auch fürebas. da sprach der paur tratzlich das, wie es ain guot wetter sei. dannocht hat er auch darbei zwen artickel auf im gros, damit er sich machet plos des gerechten glauben zwar. er hat gesprochen offenbar, wie er hab in seinem haus den himel und der helle graus. wenn ich in darumb strafen pin, er spricht, ich hab nicht weisen sin; sein ros sei weiser vil dann ich. herr, damit betrüebt er mich, wann es wider den glauben ist, und haisset nicht ain guoter crist.« der bischof sprach ze der stunt, do im dise red ward kunt: »das sind wunderliche mär. er ist ain rechter ketzer, der söllich red gesprechen darr, und darzuo der welte narr. ich lauß in ungestraufet nicht, ob er der red also vergicht.« Der pfaff kam wider haim geritten. der paur het lenger nicht gepitten, ze hof er auch vil palde rait frölich oun alles lait. im was die vart nit gar swär, wann er hett guot versprecher. auf des capitels guot er sas. für war will ich sprechen das: sein herren waren im günstig all, wann er in dient mit reichem schall. Da er nun was komen dar, der bischof was worden sein gewar. er sprach: »get her, ir faiger paur! wie seit ir als bös und saur! was wir an Abgaben hätten bekommen sollen dieses Jahr und auch im nächsten. Da sagte der Bauer trotzig, daß das ein gutes Wetter sei. Zusätzlich leistete er sich auch noch zwei Äußerungen, mit denen er sich wahrlich als vom rechten Glauben verlassen gezeigt hat. Er behauptete öffentlich, er habe in seinem Haus den Himmel und die grausige Hölle. Als ich ihn deswegen bestrafen will, sagt er, ich hätte keinen Verstand, sein Pferd sei viel klüger als ich. Mein Herr, damit macht er mich traurig, denn das ist gegen den Glauben, und so einen kann man keinen guten Christen nennen.» Als da der Bischof diese Worte hörte, sagte er: «Das sind seltsame Geschichten. Wer es wagt, so zu reden, der ist wirklich ein Ketzer und dazu der größte Narr der Welt. Ich lasse ihn nicht ungestraft, wenn er solche Reden noch einmal schwingt.» Der Pfaffe kam wieder nachhause geritten. Der Bauer hatte auch nicht länger gewartet, auch er ritt kurz darauf an den Hof, fröhlich und ganz ohne Verdruß. Die Reise fiel ihm nicht schwer, denn er hatte gnädige Schutzherrn. Er wohnte auf den Ländereien des Domkapitels. Was ich sage, ist die Wahrheit: Seine Herren waren ihm alle wohlgesonnen, denn er diente ihnen mit großer Freude. Als er nun dort ankam, sah ihn der Bischof. Er sagte: «Kommt her, unseliger Bauer! Daß ihr gar so böse und schlecht seid! 355 Texte und Übersetzungen 410 415 420 425 430 435 440 445 450 ewr pfaff hat ewch verclaget ser, ir wölt nicht volgen seiner ler. wann ew der schaur schaden tuot, das haissest du ain wetter guot. den himel und der helle pein haust du in dem hause dein. darzuo dein ros mer witze hat dann der pfarrer. sag mir drat, sprichstu das? so hastu nicht mit dem rechten glauben pflicht.« er sprach: »herr, dem ist also. mit ewrn genaden oun alle dro will ich das bewären wol vor ewrn räten, als ich sol.« da der bischof dise red vernam, die der gepaur tet, er sprach: »nun sag mir das vil pald, wie kan gesein in deinr gewalt die hell und auch das himelreich? das ist gar unmügleich. das bewär zuo diser frist, oder du pist ain böser krist.« der paur sprach: »genädiger herr, es ist von hinnen nicht ferr zuo ewrm guot, da ich auf pin. da kompt mit ewrn räten hin und mit den juristen guot und sehent, wie die seien behuot! es wirt ew nur ain kurzweil und ist auch gar ain claine meil. da süllt ir hören und sehen wol, wie ich das beweisen sol, wann ich will doch gerecht staun.« da sprach der bischof wolgetaun: »werlich das sol sein beschehen. nun bis suntag wöll wir sehen dich in dem hainwesen dein. und dracht, das wir da vinden wein, so kommen wir oun underlaß. wer unrecht hat, der giltet das.« Der paur mit urlaub haim rait. er det, als im der herre sait. Euer Pfaffe hat euch heftig angeklagt, ihr wolltet seiner Weisung nicht folgen. Wenn euch das Unwetter schadet, so nennst du es ein gutes Wetter. Den Himmel und die Höllenqual hast du bei dir zuhause. Obendrein hat dein Pferd mehr Verstand als der Pfarrer; sag mir jetzt, ob du das gesagt hast? Dann hast du keinen echten Glauben.» Er sagte: «Mein Herr, so ist es. Wenn ihr es mir gnädig erlaubt, so werde ich das leicht beweisen vor euren Räten, wie es sich gehört.» Als der Bischof den Bauern so sprechen hörte, sagte er: «Jetzt sag mir auf der Stelle, wie können die Hölle und das Himmelreich in deinem Besitz sein? Das ist ganz unmöglich. Beweise das jetzt, sonst bist du ein schlechter Christ.» Der Bauer sagte: «Gnädiger Herr, es ist nicht weit von hier zu eurem Gut, das ich bewirtschafte. Kommt dorthin mit euren Räten und mit den kundigen Juristen und seht selbst, wie gut die bewirtet werden! Es kostet euch nicht viel Zeit und ist auch nur eine kleine Meile Weges. Dort werdet ihr dann hören und sehen, wie ich die Sache beweisen werde, denn ich habe die Wahrheit gesagt.» Da sagte der ehrwürdige Bischof: «Gut, so soll es geschehen. Am Sonntag wollen wir dich auf deinem Anwesen besuchen. Sorg dafür, daß wir dort Wein bekommen, dann kommen wir ganz bestimmt. Wer den Prozeß verliert, bezahlt die Bewirtung.» Der Bauer verabschiedete sich und ritt nach Hause. Er machte, was ihm der Herr befohlen hatte. 356 Anhang 455 460 465 470 475 480 485 490 er bestallt wein und kost genuog; ain rind er in die kuchin sluog; er ordnet alles geschäft wol, als man aim herren warten sol. der bischof da nicht enließ, als er dem pauren gehies, er kam des suntags fruo dar und mit im all sein rät gar. da was weiser lüt genuog. der paur gar frölich her truog guoten wein und kost mit rat. si lebten wol und wurden sat und pflagen hohes muotes vil. so man die tisch aufheben wil, da was der pfaff auch komen her und mit im der richter. die waren da sein widertail. si gedingten vinden hail; da wurden si ze spote gar, als ir nun schier wert gewar. Der bischof zuo dem pfarrer sprach: »ewr geprechen und ungemach, die ew der paur hat getaun, die sült ir uns wissen laun! « des antwurt im der pfaff zehant: »herr, das tuon ich ew bekant. der paur hat drei artickel swär gesprochen, die sind gar unmär der vil hailigen kristenhait. der schaur hat uns gar grosse lait an unsern äckern hie getaun; zwar er hat uns nichtz gelaun, er hab es in die erd geslagen, das si hiur kain frucht tragen, die uns nutzlich müg gesein. der paur hat geredt oun pein und darzuo in übermuot, es sei gewesen ain weter guot.« da sprach der pawr: »herr, das ist war. ich sprich das noch offenbar, Er stellte ausreichend Wein und Essen bereit; ein Rind schlachtete er; er bereitete alles so vor, wie man es soll, wenn man einen Herrn empfängt. Der Bischof kam, wie er es dem Bauern versprochen hatte, am Sonntag früh, und mit ihm alle seine Räte. Kluge Leute waren mehr als genug da. Vergnügt servierte der Bauer guten Wein und reichlich Essen. Sie ließen es sich gutgehen und aßen sich satt und waren sehr fröhlich. Als man gerade die Tische abräumen wollte, war auch der Pfaffe angekommen, zusammen mit dem Richter. Die waren die Prozeßgegner des Bauern. Sie waren sich ihrer Sache sicher, dabei machten sie sich vollkommen zum Gespött, wie ihr nun gleich erfahren werdet. Der Bischof sagte zum Pfarrer: «Euren Ärger und die Schwierigkeiten, die der Bauer euch verursacht hat, die sollt ihr uns mitteilen! » Darauf antwortete ihm der Pfaffe sogleich: «Mein Herr, das werde ich euch sagen. Der Bauer hat drei ungehörige Dinge behauptet, die sind dem hochheiligen Christentum fremd. Das Gewitter hat unseren Äckern hier großen Schaden zugefügt; es hat uns wahrhaftig nichts gelassen, die Pflanzen hat es auf die Erde nieder geschlagen, sodaß sie heuer keine Frucht tragen, die wir ernten könnten. Der Bauer hat grundlos - und dazu im Übermut - gesagt, das sei ein gutes Wetter gewesen.» Darauf sagte der Bauer: «Herr, das ist richtig. Ich wiederhole es öffentlich, 357 Texte und Übersetzungen 495 500 505 510 515 520 525 530 das es ain guot wetter was. got hat uns gefüeget das anders nicht dann nun durch guot, wann er niemant übel tuot. er hat uns ermant damit, das wir unsern bösen sit und unser sünd süllen laun; der müessen wir in buoß staun mit dem ungewitter swär. wann unser wandel also wär, das wir hielten gotz gepot und das wir der sünden spot haimlich und auch offenbar mit worten und mit werken gar von uns slüegen sa zehant, so wurd uns nimmer mer bekant von got sollich fraiß und pein, als es erkennt das herze mein.« Der bischof zuo dem pfaffen sprach: »der paur sol kainen ungemach leiden umb die missitat. nit unrecht er geredt hat. er bestat damit gar wol, seit ich die warhait sprechen sol. - sag an«, sprach der bischof her, »was hat der paur geredet mer, das wider den gelauben ist? « da sprach der pfaff ze der frist: »lieber herr, das tuon ich gern. der paur will sich nit laussen lern die rechten weg des himels suochen. er will auch des nit geruochen, das er sich vor der hell bewar. er hat gesprochen offenbar, er hab in dem hause sein den himel und der helle pein. wenn ich in darvon weisen wil mit meiner ler, der ich kan vil, so spricht er tratzlich wider mich, sein ros sei weiser vil dann ich. daß das ein gutes Wetter war. Gott hat es uns so bestimmt, nicht anders als nur in guter Absicht, denn er fügt niemandem Böses zu. Er hat uns damit ermahnt, unsere schlechten Angewohnheiten und unsere Sünden sein zu lassen; für die müssen wir büßen durch das schwere Unwetter. Wenn unser Lebenswandel so wäre, daß wir Gottes Gebot einhielten, und die schmählichen Sünden bei uns zuhause und in der Öffentlichkeit mit Worten und Taten sogleich entschieden von uns weisen würden, dann würde Gott uns niemals wieder solche Not und Qual bereiten, tief im Herzen weiß ich das.» Der Bischof sagte zum Pfaffen: «Der Bauer soll wegen dieser Missetat keine Strafe erhalten. Er hat nichts Unrechtes gesagt. Er hat damit sehr recht, wenn ich ehrlich sein soll. - Sprich», forderte der ehrwürdige Bischof, «was hat der Bauer noch gesagt, das wider den Glauben ist? » Darauf sagte der Pfaffe: «Lieber Herr, das mache ich gern. Der Bauer will sich nicht darüber belehren lassen, den rechten Weg ins Himmelreich zu suchen. Er macht auch keine Anstalten, sich vor der Hölle zu hüten. Öffentlich hat er behauptet, er habe in seinem Haus den Himmel und die Höllenqual. Wenn ich ihn eines Besseren belehren will mit meinem Wissen, denn davon verstehe ich eine Menge, so widerspricht er mir trotzig, sein Pferd sei viel klüger als ich. 358 Anhang 535 540 545 550 555 560 565 herr, da versich ich mich nun bei, wie er nit rechtgeläubig sei.« der paur sprach: »lieber herre mein, der pfaff hat mir gros swär und pein gefüeget gar oun alle schuld. ich sprich das bei gottes huld, das ich ain guoter kristen pin, und haun auch nit in meinem sin wann rechten gelauben kristenlich. für war ich dannocht das wol sprich, das ich haun der helle pein und das himelreich in dem hause mein.« er patt den bischof mit im gaun und darzuo sein undertaun, die dahin waren geladen. er fuort si für ain vinster gaden hinden in das haus hinein. darinne lag die muoter sein. die was wol oun zwai drissig jar ain pettris da gewesen zwar. darauß gieng böses schmackes vil nacht und tag oun endes zil. er sprach: »da ist hell und himelreich, das wissent all sicherleich. wann tuon ich meiner muoter wol, den himel ich besitzen sol; tätt ich aber des nicht zwar, ich wurd tailhaft der helle schar.« Die herren sachen ainander an. da sprach der bischof wolgetan: »mich dunkt, der paur ste gar gerecht.« des antwurt ain jurist gar schlecht: »herr, es stat geschriben eben, got fristet dem sein lankleben, der vatter und muoter eret schon; darumb wirt im der ewig lon. so verwürket der gar trat alle seine guote tat, Herr, daran erkenne ich, daß er nicht rechtgläubig ist.» Der Bauer sagte: «Mein lieber Herr, der Pfaffe hat mich in große Bedrängnis und in Not gebracht, obwohl ich vollkommen unschuldig bin. Auf Gottes Gnade vertrauend sage ich, daß ich ein guter Christ bin, und nichts im Sinn habe, als den rechten christlichen Glauben. Dennoch ist es die Wahrheit, wenn ich sage, daß ich die Qual der Hölle und das Himmelreich in meinem Haus habe.» Er bat den Bischof, mit ihm zu kommen, und auch dessen ganzes Gefolge, das dorthin eingeladen worden war. Er führte sie hinten in das Haus hinein vor eine dunkle Kammer. Darin lag seine Mutter. Die war wahrhaftig schon an die 28 Jahre bettlägerig. Ein schrecklicher Gestank drang beständig da heraus, bei Nacht und bei Tag. Er sagte: «Da ist die Hölle und das Himmelreich, das könnt ihr mir alle glauben. Denn behandle ich meine Mutter gut, so komme ich in den Himmel, täte ich das aber nicht, so müßte ich zur Höllenschar gehören.» Die Herren sahen sich an. Da sagte der ehrenwerte Bischof: «Mir scheint, der Bauer hat ganz recht.» Darauf antwortete ihm ein Jurist ganz deutlich: «Herr, es steht genauso geschrieben, Gott verleiht demjenigen ein langes Leben, der Vater und Mutter in Ehren hält; dafür erhält er das ewige Leben. Dagegen macht derjenige sehr schnell alle seine guten Taten zunichte, 359 Texte und Übersetzungen 570 575 580 585 590 595 600 605 der vater und muoter übel tuot, und besitzt der helle gluot.« Da die red also geschach, der bischof zuo dem bauren sprach: »lau sehen dein ros ze diser frist, das weiser dann der pfarrer ist! « das selb ros ward gezogen dar. der paur sprach vor in offenbar: »herr, das ros ist weiser vil dann der pfaff, als ich sagen wil. ich slief ains morgens fruo ze lank; da hort ich der gloggen clank zuo der meß zesamenslachen. ich begund da vil sere gachen, wann es ferr über veld was. auf mein guot ros ich da sas. die rechten straß ich ligen ließ; auf ainen weg ich da gestieß, der daucht mich vil näher sein, das ich käm zuo der meß hinein. ich rait durch gräben und tiefe mos gar bös steig mit meinem ros. ich kom zelest an ainen graben; da wolt ich übergesprengt haben. da was mein ros so weise, es tratt hinan gar leise und viel mit vordern füessen ein; es kert wider, auf die trewe mein, und wolt nimmer gen hinan. ich nam das ros wolgetan zwischen die sporn hefticlich. mit allen kreften satzt es sich. es wolt ett nur darwider sein, doch laid es von mir sölich pein, das es mich hinan muost tragen, bis das wir ob ainander lagen in dem graben tief und lang. mit marter ich mich heraus swang. darnach half ich dem ros herauß. der Vater und Mutter schlecht behandelt, der wird der Höllenglut übergeben.» Nach diesen Worten sagte der Bischof zum Bauern: «Jetzt laß dein Pferd sehen, das klüger als der Pfarrer ist! » Das Pferd wurde vorgeführt. Für alle vernehmbar, sagte der Bauer zu ihnen: «Herr, dieses Pferd ist viel gescheiter als der Pfaffe, wie ich erklären werde. Eines morgens schlief ich zu lang, da hörte ich den Klang der Kirchenglocken, die zur Messe läuteten. Ich beeilte mich sehr, weil mein Weg weit querfeldein führte. Ich setzte mich auf mein braves Pferd. Von der befestigten Straße ritt ich herunter, denn ich sah da einen Weg, der schien mir viel kürzer zu sein, um rechtzeitig zur Messe zu kommen. Ich ritt mit meinem Pferd durch Gräben und tiefe Sümpfe, auf gefährlichen Pfaden. Schließlich kam ich an einen Graben; ich wollte, daß es darüberspringen sollte. Mein Pferd aber war so klug, daß es sehr vorsichtig bis zum Rand des Grabens lief, und da rutschte es mit den Vorderläufen ab; es kehrte um, so wahr ich hier stehe, und wollte nicht mehr weitergehen. Ich gab dem edlen Pferd ordentlich die Sporen. Es sträubte sich mit aller Kraft. Es wollte einfach nicht, doch ich quälte es mit den Sporen so sehr, daß es mit mir über den Graben springen mußte, sodaß wir schließlich beide in dem tiefen, breiten Graben übereinander lagen. Unter Schmerzen kletterte ich heraus, danach half ich dem Pferd nach oben. 360 Anhang 610 615 620 625 630 635 640 dannocht kom ich zum gotzhaus, e das die hailig wandlung gschach. ich stuond da mit guotem gemach, bis die meß gar volbracht was. auf mein ros ich wider sas und rait hinwider das selb gefert. ich suocht ain weg guot und hert, doch mocht ich es gepessern nicht; wauhin ich mich ze reiten richt, ich mocht des nit sein überhaben, ich muost wider über den graben, darin ich vor gelegen was. ich gedacht mir genzlich das, es gerat leicht bas dann vor. mein ros was weis und nicht ain tor; mit den sporen ich das zwang und hett darmit ain gros gedrang vil mer, dann ich vor hett getan; ich kunds doch pringen nie hinan. als weis was es in seinem sinn, wann es was vor gelegen drin. ich muost mich sein verwegen gar. ich kert mich ze der strasse dar; das was umb, da rait ich hin. also hett mein ros guot sin. der priester sollich witz nit hat. ja muoß ich rüegen sein missitat, das tuon ich werlich doch nit gern. so kan ich sein nicht enbern, wann verantwurt ich mich nicht, so müest ich sein ain boßwicht. der pfaff dem richter minnt das weib. die ist im lieber dann der leib. darumb ist er wol dreistund ser geslagen und worden wund, das er mit marter genas. Trotzdem kam ich in der Kirche an, noch bevor die heilige Wandlung vollzogen wurde. Ich stand da ganz ruhig, bis die Messe ganz zu Ende war. Dann setzte ich mich wieder auf mein Pferd und ritt denselben Weg zurück. Ich suchte einen sicheren und festen Pfad, aber ich konnte nichts ausrichten; in welche Richtung ich auch ritt, ich konnte es mir nicht ersparen, ich mußte wieder über den Graben, in dem ich vorher gelegen war. Ich dachte wirklich, daß es jetzt mit Leichtigkeit besser gelinge als davor. Mein Pferd war klug und kein Narr. Ich wollte es mit den Sporen zwingen und hatte dabei große Mühe, viel größere als beim ersten Mal, und doch konnte ich es nicht bewegen, vorwärts zu gehen. So klug war es und verständig, denn es war ja zuvor dringelegen im Graben. Ich mußte ganz von dem Vorhaben ablassen. Ich wandte mich in Richtung der Straße. Die Sache war erledigt, ich ritt dort weiter. Solche Klugheit bewies mein Pferd. Der Priester ist nicht so verständig. Ich muß ihn wegen einer Missetat anzeigen, obgleich ich das wahrlich nicht gern tue. Aber wie die Dinge liegen, kann ich nicht darauf verzichten, denn wenn ich mich nicht verteidige, werde ich der Bösewicht sein. Der Pfaffe hat ein Verhältnis mit der Frau des Richters. Die liebt er mehr als sein Leben. Er ist deshalb schon dreimal arg verprügelt und blau geschlagen worden, sodaß er sich nur unter Schmerzen davon erholte. 361 Texte und Übersetzungen 645 650 655 660 665 670 675 680 noch mag er nicht gelassen das, er get wider zuo ir als vor. darumb ist er ain narr und tor, das er daran nicht wil sehen, das im vil laids vor ist geschehen. er sölt fürbas von ir laun, als mein ros hat getaun, das durch den graben nimmer wolt, darin es vor hett kummer dolt.« Da die red nam ain end, der bischof sprach gar behend: »der baur hat recht mit aller sach.« er sprach zuo dem pfarrer swach: »ir hapt im unrecht getan; des müest ir mir ze buosse stan.« der bischof hett vernomen das, wie der pfarrer grossen has dem pauren truog unverschult und wie er mit ungedult in an der kanzel rüeget ser und wie in auch der richter gar schmächlichen gefangen hiet. der bischof sich des beriet, das im der pfaff zuo der stund muost verbürgen hundert pfund. da muost der richter schuldig sein dem pauren kost und den wein und was man da hett verzert; das muost er geben mit der vert und muost den bauren ledig lan. Der bischof und sein undertan kerten wider haim ze haus. nun ist der krieg gegangen auß an den zwain gesellen her, dem pfaffen und dem richter, die den pauren wolten haun betrogen. so ist es in getaun, wann si nun schadhaft worden sind. ir weißhait ward ze ainem wind. Trotzdem kann er es nicht lassen, er geht wieder zu ihr wie zuvor. Darum ist er ein Narr und ein Dummkopf, weil er daraus nichts lernen will, daß ihm bereits großer Schaden entstanden ist. Er sollte in Zukunft die Finger von ihr lassen, so wie mein Pferd es gemacht hat, das nicht mehr über den Graben wollte, in den es vorher schmerzhaft gestürzt war.» Nach diesen Worten sagte der Bischof sogleich: «Der Bauer hat in allem recht.» Leise sagte er zum Pfarrer: «Ihr habt ihm unrecht getan; dafür müßt ihr euch bei mir verantworten.» Der Bischof hatte davon gehört, daß der Pfarrer einen großen Haß auf den unschuldigen Bauern hatte und wie er ihn unnachgiebig von der Kanzel herab gerügt hatte und wie ihn dazu der Richter geschmäht hatte, indem er ihn gefangennahm. Der Bischof entschied da, daß ihm der Pfaffe hundert Pfund geben müsse. Der Richter mußte dem Bauern das Essen und den Wein bezahlen, alles, was man da verzehrt hatte; auf der Stelle mußte er das bezahlen und mußte den Bauern freilassen. Der Bischof und sein Gefolge machten sich wieder auf den Heimweg. So ist der Rechtsstreit für die zwei siegessicheren Gesellen ausgegangen, für den Pfaffen und den Richter, die den Bauern betrügen wollten. Das haben sie davon, denn nun haben sie den Schaden. Ihre Weisheit hat sich verflüchtigt. 362 Anhang 685 690 695 700 705 710 715 Es ist gar ain guote tat, das untrew iren herren hat geslagen, das gefellt mir wol, und das der unschuldig sol davon komen unversert. es war grosses guotz wert, das es allweg so ergieng dem, der ungeleichs anfieng, und das der trew wurd behuot. so wurd ain frommer hochgemuot, der sich sunst gar sere schmuckt, den der untrew gar vertruckt, wann es nun laider also stat, das die boßhait fürgank hat. trew und frumkait leit ernider. das kan niemant pringen wider, dieweil der alevanze lebt und in den grossen herren swebt, die da habent gewalte gros. die rechten gericht werdent plos von dem bösen alevanz. er ist auch komen gar und ganz von den grossen zuo den clain; er lat niemant frumm noch rain. und wär der alevanze nicht, so beliben die gerechten gericht bei irer alten wirdikait und wär den grossen heren lait, das iemant geschäch ungeleich. nun ist es ietzunt sicherleich in der welt also getaun: wer recht hat, der muoß unrecht haun. Darumb ist das wol mein rat: ieglicher behalt, das er hat, und laß den andern ziehen hin, dieweil es nit gang über in, und sweig auch still darzuo, Es ist eine sehr gute Sache, daß die Falschheit sich gegen ihren Herren gewandt hat, das gefällt mir, und daß der Unschuldige unbescholten davon kommt. Es wäre ein großes Vermögen wert, wenn es dem immer so ginge, der Ungerechtigkeiten im Schilde führt, und der Aufrichtige beschützt würde. Dann könnte der Ehrliche froh sein, der sich normalerweise sehr in Acht nehmen muß, weil ihn der Betrüger ganz und gar unterdrückt, denn leider sieht es nun einmal so aus, daß die Boßheit siegt. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sind dahin. Die kann niemand zurückbringen, solange es die Betrügerei gibt und sie unter den großen Herren verbreitet ist, die das Sagen haben. Die gerechten Gerichte werden unwirksam durch die schmähliche Betrügerei. Das hat sich auch schon vollkommen von den Großen auf die Kleinen übertragen; niemanden läßt sie anständig und ehrlich bleiben. Gäbe es den Betrug nicht, so behielten die gerechten Gerichte ihre alte Würde und den großen Herren täte es leid, wenn jemandem Unrecht geschähe. Aber tatsächlich sieht es momentan in der Welt so aus: Wer Recht hat, bekommt Unrecht. Deshalb ist genau Folgendes mein Rat: Jeder soll auf seine eigenen Angelegenheiten achten und den anderen in Ruhe lassen, solange er dabei nicht zu Schaden kommt, und dazu auch den Mund halten, 363 Texte und Übersetzungen 720 so beleibet er mit ruo. tuot er das nicht, er verliust das sein. das rat ich auf die trewe mein. dann hat er seine Ruhe. Hält man sich nicht daran, verliert man alles. Das ist mein ehrlicher Rat. 2.1.1 Stellenkommentar 7 ainander mainen] Normalisiert meinen swv.: sinnen, denken, seine Gedanken auf etwas richten, oft geradezu: lieben. 9 der richter und der pfaff gescheid] gescheid könnte sich auch, nachgestellt, auf beide beziehen; das Adjektiv gescheid/ gescheit ist erst seit dem 14. Jahrhundert belegt, siehe Kluge , S. 318; s. v. gescheit. Hier läßt sich also der Übergang des Sprachstands ins Nhd. konkret beobachten. 14 täding] Mhd. tagedinc, ‹ Gerichtsverhandlung › von ahd. thing: Gerichtssache. 17 buoß] Meint hier die rechtliche Buße, Vergütung, Strafe; vgl. Kaufmann (1971), S. 575 - 577. 23 oft und dick] Hendiadyoin: dick adverbial gebraucht bedeutet ebenfalls ‹ oft › . 24 inzücht] Mhd. inzic: Beschuldigung, Anschuldigung. 27 tädingen] Grammatikalisch kann tädingen in diesem syntaktischen Kontext das substantivierte Verb tage-dingen/ tege-dingen/ teidingen oder den Dativ des Substantivs tagedinc/ tegedinc/ teidinc vorstellen, die Aussage bleibt jedoch gleich. 28 nun] Bei Kaufringer oft eine Floskel, die einen neuen Sinnabschnitt einleitet, ich vernachlässige sie deshalb in der Übersetzung. des] Adv.: daher, deshalb. 31 palt] Mhd. balde adv.: mutig, kühn, dreist, schnell, sogleich. verderben] Zeigt die existentielle Dimension des Rechts an: ‹ zunichte werden, zu Schaden kommen, umkommen, sterben, zugrunde gehen › . 32 seinem obersten gewalt] Mhd. oberest, Superlativbildung zu obe, ‹ oberst, höchst; ‹ der Oberste, Vorgesetzte, Herr › ; gewalt meint hier die Macht der Rechtsinstanz; evtl. auch Anspielung auf das göttliche Gericht. 34 vor in werden gerecht] Adj. gereht: ‹ recht, schuldlos, richtig › , also ‹ in ihren Augen ohne Schuld sein › . 41 karkait] Das Substantiv ist in diesem Text nicht negativ besetzt im Sinne von ‹ Geiz › , sondern positiv als ‹ Sparsamkeit › ; vgl. die Suche nach dem glücklichen Ehepaar, wo die Sparsamkeit der Frau vom Erzähler ebenfalls als positiv, als notwendiges Gegengewicht zum verschwenderischen Umgang des Mannes mit dem ehelichen Vermögen gewertet wird; erst ein Zuviel an karkheit wird negativ markiert: si was ze karg, er was ze milt (V. 45). 51 die siben opfer] Pflichtgemäße Meßopfer an sieben hohen Festtagen, vgl. Sappler (1972), S. 287. 52 oun alle pein] Wörtlich ‹ ohne, daß es ihm Pein verursachte › . 57 pring ze spot] Wörtlich ‹ zum Gegenstand des Spottes mache › . 75 buoß] Im mittelalterlichen Rechtssystem erhält der Richter einen Anteil der Geldbuße, vgl. Kaufmann (1971), S. 575 - 577. 364 Anhang 76 Bekräftigungsformel, die sich auf die vorausgehende Aussage bezieht. 85 Das Haar als Vergleichsgröße begegnet in der mhd. Literatur oft, wenn Geringfügigkeit oder Bedeutungslosigkeit ausgedrückt werden soll. Die Redensart, von jemandem als vil als umb ain claines har bekommen, ist im Nhd. nicht mehr gebräuchlich. Es existieren jedoch Varianten wie z. B. das Sprichwort ‹ Jemandem nicht das Schwarze unter dem Fingernagel gönnen › . 95 nider. . . zetal] Wörtlich ‹ hinunter ins Tal › , ein Hendiadyoin, das bildlich die Abwärtsbewegung bezeichnet; da auf die erd dieselbe Aussage nochmals wiederholt, kann man hier von einem Hendiatris sprechen. 96 f Gemeint ist der Brauch des Wettersegens in der kirchlichen Liturgie, der in ländlichen Gebieten noch heute praktiziert wird, um im Frühjahr/ Sommer für gutes Wetter für den Ackerbau und um die Verschonung von Unwettern zu bitten. Siehe auch Euling (1977), S. 60: Der Wettersegen als «die Hagelversicherung des bayerischen Bauern beim Himmel», und DW Bd. 29, Sp. 765 f; s. v. Wettersegen. 98 det] Die Verbform tet, hier dialektal det, kann sowohl Konjunktiv wie auch Imperfekt des anomalen Verbs tuon sein, vgl. Lexer Bd. 2, Sp. 1575; s. v. tuon. Dementsprechend können die Verse 98 f als indirekte Rede des Pfarrers (Konjunktiv) oder als Erzählerkommentar (Imperfekt) aufgefaßt werden. Ich habe mich für letzteres entschieden, da mir diese Kontrastierung zur Handlungsweise des Pfaffen im Kontext sinnvoller erscheint. 100 schaur] Der mhd. schour (Nebenform zu schûr), hier bereits in der späteren Form schaur, bedeutet neben dem starken Regenschauer meist speziell den Hagelschauer, der hier auch gemeint sein muß, berücksichtigt man den Kontext, daß die Pflanzen auf den Feldern zerschlagen werden. Siehe DW Bd. 14, Sp. 2321; s. v. Schauer. Lexer Bd. 2, Sp. 827; s. v. schûr. 102 erdwuocher] Wörtlich ‹ das, was aus der Erde wuchert › : die Früchte des Feldes; Vokabel aus dem bairisch-schwäbischen Sprachgebrauch, für eine Parallele bei Freidank siehe DW Bd. 3, Sp. 784; s. v. Erdwucher. 123 gen] Kontraktion der Präposition gegen. gelimpf] Das ‹ angemessene Benehmen › , aber auch ‹ Befugnis, Recht › , siehe Lexer Bd. 1, Sp. 817; s. v. gelimpf/ glimpf. In letzterer Bedeutung ist das Wort hier eingesetzt und bereitet damit schon den juristischen Kontext vor, in dem der Fall verhandelt werden wird: Der Pfarrer wähnt sich dem Bauern gegenüber im Recht, was die öffentliche Beurteilung des Unwetters betrifft, glaubt also, ein gutes Argument für seine Anklage gefunden zu haben. 138 tagwerk] Mit tagwerk, im eigentlichen Sinne ‹ die Arbeit, die man an einem Tag schafft › , ist hier vermutlich nach bairischer Verwendung des Wortes das Flächenmaß der abgemähten Wiese bezeichnet, ein Tagewerk ist eine Fläche von etwa 0,34 Hektar, vgl. DW Bd. 21, Sp. 90; s. v. Tagewerk 4). Insofern handelt es sich hier um 204.000 m² Wiese. Eine Menge, die sicherlich den Reichtum des Bauern verdeutlichen soll. wismatz] Mhd. wisemât/ wismat bezeichnet die ‹ Wiese, die gemäht wird › , vgl. Lexer Bd. 3, Sp. 941. Der aussagekräftigste Beleg ist jedoch eine zeitgenössische Landsberger Urkunde vom 23. 4. 1355, die unter anderem den Verkauf von «fünf Tagwerk Wiesmad» dokumentiert, siehe Zintgraf (1895), S. 287 - 310; S. 292. Einen ebensolchen Vorgang haben wir hier erzählerisch abgebildet. 365 Texte und Übersetzungen 139 hingedinget] Das Verb gedingen als Verstärkung von dingen in seiner rechtlichkaufmännischen Bedeutung meint allgemein ‹ verhandeln, ein Geschäft abschließen › , vgl. DW Bd. 4, Sp. 2025; s. v. Gedinge/ Geding 1 a). Nach Sappler (1972), S. 287 bedeutet hindingen hier ‹ verdingen, pachtweise abgeben › . 140 fürgriff] Sappler (1972), S. 287 sieht hier die Bedeutung ‹ Akkord, Vorausschätzung › für fürgriff, vgl. Lexer Bd. 3, Sp. 599; s. v. vürgrif. Für die Wendung ze ainem fürgriff schlägt Sappler daher ‹ im Akkord, entsprechend einer Vorausschätzung › vor. 156 Das Ei an sich besitzt einen geringen Wert, wie etwa heute noch die Redewendung belegt, man habe etwas «für einen Apfel und ein Ei» bekommen. Der Thesaurus , S. 375; 2.5 verzeichnet für das Mittelalter das Sprichwort «Man gibt wenig Gold um ein Ei». In diesem Zusammenhang demonstriert diese Redewendung hier die geringe Achtung des Bauern für den Pfarrer. 157 forn] Räumlich, bedeutet hier ‹ draußen, vor der Kirche › . 166 pessern] Normalisiert bessern, hier im gerichtlichen Sinn: ‹ büßen › , siehe DW Bd. 1, Sp. 1647; s. v. bessern 3). 177 pracht] Der braht ist im Mhd. ‹ Geschrei, Lärm › , siehe Lexer Bd. 1, Sp. 339; s. v. braht; sowie DW Bd. 2, Sp. 283; s. v. Bracht, Pracht. 206 rüegen] Hat einen juristischen Bedeutungsaspekt im Sinne von ‹ beschuldigen, gerichtlich anzeigen › , vgl. Lexer Bd. 2, Sp. 527; s. v. rüegen. Dieser Aspekt ist hier ganz deutlich, denn durch seine öffentlichen Beschuldigungen will der Pfarrer den Bauern soweit provozieren, daß dieser die Sache vor den Richter bringt. 207 verstaun] Reflexive Bedeutung ‹ einsehen, wahrnehmen, merken, erkennen › , siehe Lexer Bd. 3, Sp. 247; s. v. verstân. 208 hinder einen gân] Wendung im Sinne von ‹ kompromittieren, bloßstellen › . 221 muos] Das Verb müezen dient hier zur Umschreibung des Futurs. 226 gedar] 1.P. Präsens des anomalen Verbs geturren mit der Bedeutung ‹ sich unterstehen, getrauen, wagen › . laider] Komparativ zum Adverb leide, hier als Interjektion gebraucht. 296 fristen] Im Sinne von ‹ erhalten, bewahren › , gemeint ist wohl die Seele und das ewige Leben. 308 huld] Wörtlich ‹ Geneigtheit, Freundlichkeit › ; mit dem nächsten Vers wird jedoch ganz deutlich auf das freundschaftliche Komplott des Richters mit dem Pfarrer angespielt, das der Bauer offenbar durchschaut hat. 323 hewr] Wörtlich ‹ dieses Jahr › , wird aber auch in der allgemeineren Bedeutung ‹ dieser Tage, in heutiger Zeit › verwendet. 334 pillich] Das Adverb ‹ billig, gemäß › hat auch die juristische Bedeutung ‹ von rechts wegen › , vgl. Lexer Bd. 1, Sp. 276; s. v. billîche. 336 unfuog] ungelimpf und unfuog sind beides die Negative von ‹ rechtmäßigem, angemessenem Verhalten › , sowohl in allgemein moralischer wie in speziell rechtlicher Hinsicht. 346 f engelte. . . genieß] Im hier vorliegenden Gebrauch mit Genitiv Rechtsvokabeln, geniezen (intr. ‹ keine Strafe wofür leiden › ) und engelten ( ‹ Strafe wofür leiden, es büßen müssen › ), die als Möglichkeiten des Ergebnisses einer Gerichtsverhandlung ein Paar bilden, siehe Lexer Bd. 1, Sp. 859; s. v. geniezen, und Sp. 556; s. v. engelten. 366 Anhang 352 gepaurschaft] Die Gemeinschaft der Bauern im Dorf. verjach] Es handelt sich um einen rechtlichen Akt, ein öffentliches Versprechen der Bauernschaft, sozusagen eine Bürgschaft, damit der Bauer aus der Haft entlassen werden kann. 369 Die Stelle ist nach Sappler (1972), S. 287 ein besonders früher Beleg für das Verb zernichten. 370 f Sappler (1972), S. 287 sieht die Verse auf die steuerlichen Abgaben bezogen, die die Kirche aus den Einkünften der Bauern erhält. 401 capitels] Wohl die geistliche Körperschaft des Domkapitels mit dem Bischof an der Spitze. 404 Lautbild für ‹ Fröhlichkeit, Freude, Jubel › . 436 Ich folge mit meiner Übersetzung dem Vorschlag von Sappler (1972), S. 287. 461 mit rat] Das Substantiv rat als Oberbegriff für ‹ leibliche Fürsorge, Nahrung › erhält hier in der Wendung mit rat die Bedeutung ‹ in großer Menge, reichlich › , vgl. DW Bd. 14, Sp. 157; s. v. Rat 2 a). 467 widertail] Vokabel des rechtlichen Bereichs, mhd. widerteil bezeichnet den ‹ Gegner in einem Rechtshandel › , siehe Lexer Bd. 3, Sp. 862; s. v. widerteil. 493 nun] Hier als ‹ nur › , vgl. Sappler (1972), S. 287. 549 oun zwai drissig] Wörtlich ‹ dreißig weniger zwei › , also 28, siehe Sappler (1972), S. 287. 550 pettris] Mhd. betterise, Adj. betterisec, ‹ bettlägerig › , stirbt im Nhd. nach dem 16. Jh. aus, siehe DW Bd. 1, Sp. 1738; s. v. Bettrise. 563ff Verweis auf das vierte Gebot: Exodus 20, 12; Deuteronomium 5, 16. 631 Sappler (1972), S. 288 schlägt vor: ‹ damit war Schluß › oder ‹ so verhielt es sich › . 677 her] Das Adjektiv ist hier sicherlich ironisch zu lesen. 682 Auch hier ist die weißhait ironisch gemeint, denn Pfarrer und Richter wähnten sich dem Bauern überlegen. 688 war] Konjunktiv ‹ wäre › , siehe Sappler (1972), S. 288. 693 schmuckt] Reflexiv ‹ sich ducken › . 707 alevanze] Der alevanz als ‹ Lüge › , ‹ Betrügerei › ist wohl auch ganz allgemein als ‹ Korruption › zu verstehen. 367 Texte und Übersetzungen 2.2 Das Predigtexempel Gott tut, was ich will. Text und Übersetzung (lat./ nhd.) Überliefert ist das Exempel beinahe wortgleich im Tractatus de diversis materiis predicabilibus des Etienne de Bourbon und im Speculum morale des Vinzenz von Beauvais, nur der Anfang unterscheidet sich signifikant. Wesselski druckt beide Fassungen ab 4 , da der alte Band jedoch schwer zugänglich ist, biete ich hier der Einfachheit halber einen erneuten Abdruck mit Übersetzung. Ich zitiere die längere Version aus dem Tractatus Etiennes de Bourbon 5 , der abweichende Einleitungssatz aus dem Speculum morale 6 ist an entsprechender Stelle vermerkt. Auf die Angabe der orthographischen sowie der kleineren syntaktischen Abweichungen habe ich zugunsten besserer Lesbarkeit verzichtet, da sie keine ersichtliche Auswirkung auf die Textsemantik haben. Etienne de Bourbon, Tractatus de diversis materiis predicabilibus Nr. 301: Hominem quietum et pacificum et in praesenti quasi beatum [obediencia] facit; nec de presentibus adversitatibus, si insurgant contra eum conturbatur, quia conformat voluntatem suam voluntati Domini, a quo hec ad utilitatem fiunt. Audivi quod, 7 cum quedam tempestas attrivisset quamdam parrochiam, cum in dominico die convenissent in ecclesia parrochiani, mesti et afflicti de hoc quod amisissent bona sua, et contra Deum murmurarent, quidam eorum letus persistebat, Domino gracias agendo. Cum autem alii quererent ab eo quare hoc faceret, ait quod hoc ideo faciebat, quia Deum in potestate sua ita redegerat, quod nil faceret Deus nisi quod ipse vellet. Cum autem de hoc accusarent eum apud sacerdotem, quod videbatur heresim sapere, Ein zurückhaltender und friedlicher Mensch, der glücklich in der Gegenwart lebt, leistet Gott Gehorsam; er läßt sich nicht verängstigen von den täglichen Widrigkeiten, wenn sie sich gegen ihn erheben, denn er gleicht seinen Willen dem Willen Gottes an, der diese zu einem bestimmten Nutzen geschehen läßt. Ich habe gehört, daß, als ein Unwetter eine Pfarrgemeinde heimsuchte und als darauf am Sonntag die Gemeindemitglieder in der Kirche zusammenkamen, betrübt und unglücklich, weil sie ihre Güter verloren hatten, und sie gegen Gott murrten, da blieb einer von ihnen fröhlich und sagte Gott Dank. Als aber die anderen von ihm wissen wollten, warum er das tat, sagte er, daß er das deshalb gemacht habe, weil Gott in seiner Macht es so gefügt hatte, 4 Wesselski (1907), Bd. 2, S. 147 f. 5 Zit. wird nach der Ausgabe Lecoy de la Marche (1877), S. 253 f. 6 Zit. nach Wesselski (1907), Bd. 2, S. 147 f. 7 Hominem bis quod] fehlt, stattdessen bei Vinzenz von Beauvais, Speculum morale III, 2, 23: Sicut quidam bonus homo faciebat: [. . .] (So zum Beispiel machte es ein guter Mensch: [. . .]) 368 Anhang reddidit de hoc racionem sacerdoti, quia hoc ideo dixerat, quia quicquid Deus volebat, et ipse, ita quod nil aliud volebat nisi quod Deus volebat; propter hoc de omnibus factis ejus sic gaudebat, quod de nullo turbabatur et ita ipse nil volebat quod Deus nollet, sed cum ipso tanquam cum amicissimo habebat idem velle et nolle; et cum segetes suas videbat attritas, de hoc gaudebat, sciens quod hoc Deus ad ejus utilitatem volebat et faciebat. denn Gott täte nichts anderes als das, was er selbst wolle. Als sie ihn aber deswegen beim Priester anzeigten, weil er ein Ketzer zu sein schien, erwiderte er dem Priester zu dieser Sache, daß er deshalb so gesprochen habe, weil was auch immer Gott wolle, wolle er selbst auch, weil also er nichts anderes wolle als das, was Gott wolle; deswegen freue er sich über alle Taten Gottes so, da er durch nichts erschreckt werde und auf diese Weise selbst nichts wolle, was Gott nicht wolle, sondern mit ihm wie mit einem besten Freund das gleiche Wollen und Nicht- Wollen teile; und als er seine Saatfelder zerstört sah, freute er sich darüber, im Wissen, daß Gott dies zu seinem Nutzen gewollt und getan hatte. 369 Texte und Übersetzungen 3 Literaturverzeichnis 3.1 Abkürzungen Abgekürzt zitierte Primärtexte: CdMA Les Comptes du Monde Adventureux CNN Les Cent Nouvelles Nouvelles Con Seneca der Ältere, Controversiae CSE Compilatio Singularis Exemplorum De Inv. Cicero, De Inventione GR Gesta Romanorum Rhet. Her. Rhetorica ad Herennium SR Straßburger Rätselbuch Quint. Quintilian, Institutio oratoria Abgekürzt zitierte Lexika und Nachschlagewerke: [BMZ] Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearb. von Wilhelm Müller u. Friedrich Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854 - 1866 mit einem Vorwort u. einem zus.gefaßten Quellenverz. von Eberhard Nellmann. Stuttgart 1990. [DRW] Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bearb. von Richard Schröder, Eberhard Freiherrn von Künßberg, Heino Speer u. a. 10 Bde. Weimar 1914 - 2001. [DW] Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. Leipzig 1854 - 1960. [EM] Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Kurt Ranke, Hermann Bausinger u. a. 13 Bde bisher erschienen. Berlin/ New York 1977 ff. [HRG] Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hrsg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann. Mitbegründet von Wolfgang Stammler. 5 Bde. Berlin 1971 - 1998. 370 Anhang [HRG²] Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2., völlig überarb. u. erw. Aufl. hrsg. v. Albrecht Cordes und Wolfgang Stammler . 2 Bde bisher erschienen. Berlin 2008 ff. [KLUGE] Friedrich Kluge und Elmar Seebold : Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23., erw. Aufl., unveränd. Nachdr. Berlin [u. a.] 1999. [LAUSBERG] Heinrich Lausberg : Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde. 2., durch einen Nachtrag vermehrte Aufl. München 1973. [LEXER] Matthias Lexer : Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872 - 1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner. 3 Bde. Stuttgart 1992. [HWbRh] Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, mitbegründet von Walter Jens. 10 Bde. Tübingen 1992 - 2012. [LexMA] Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von Robert-Henri Bautier und Robert Auty. 10 Bde. München/ Zürich 1980 - 1999. [LLM] Lexikon Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Charlotte Bretscher-Gisiger. 2 Bde. Stuttgart/ Weimar 2002. [RL²] Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Hrsg. von Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr u. a. 2., neu bearb. Aufl. 5 Bde. Berlin 1958 - 1988. [RLW] Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Weimar, Harald Fricke u. a. 3 Bde. Berlin/ New York 1997 - 2003. [THESAURUS] Samuel Singer und Ricarda Liver : Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. 13 Bde. Berlin [u. a.] 1995 - 2002. [VL] Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. 5 Bde. Berlin/ Leipzig 1933 - 1955. [VL²] Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh, Gundolf Keil u. a. 2., völlig neu bearb. Aufl. 11 Bde. Berlin/ New York 1978 - 2004. 371 Literaturverzeichnis 3.2 Textausgaben und Quellen Werner Bahner (Hg.): Französische Geschichten aus Mittelalter und Renaissance. München 1962. Bruno Basile ( Hg.): Giovanni Sabadino degli Arienti, Le Porretane. Rom 1981. Gustav Bebermeyer (Hg.): Heinrich Bebel, Facetien. Drei Bücher. Historisch-kritische Ausgabe (= Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1931). Hildesheim 1967. Giovanni Boccaccio : Decameron. Hrsg. von Vittore Branca. 2 Bde. Turin 3 1992. Giovanni Boccaccio : Das Dekameron. Vollständige Ausgabe in der Übertragung von Karl Witte. Durchgesehen von Helmut Bode. München 1979. Johannes Bolte (Hg.): Jakob Freys Gartengesellschaft (1556). Tübingen 1896. Johannes Bolte ( Hg.): Martin Montanus Schwankbücher (1557 - 1566) (= Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 217). Tübingen 1899. Johannes Bolte (Hg.): Valentin Schumanns Nachtbüchlein (1559) (= Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 197). Neudruck der Ausgabe Tübingen 1893. Hildesheim/ New York 1976. Aldo Borlenghi (Hg.): Franco Sacchetti. Opere. Milano 1957. Georg Buchner (Hg.): Die Historia Septem Sapientum nach der Innsbrucker Handschrift v. J. 1342 (= Erlanger Beiträge zur englischen Philologie 5). Erlangen/ Leipzig 1889. A. F. Butsch ( Hg.): Strassburger Räthselbuch. Die erste zu Strassburg ums Jahr 1505 gedruckte deutsche Räthselsammlung. Straßburg 1876. Pierre Champion ( Hg.): Les cent nouvelles nouvelles. Genf 1977. Geoffrey Chaucer : Die Canterbury-Erzählungen. Zweispr. Ausg. Mit der ersten deutschen Prosaübers. Aus dem Englischen übers. von Fritz Kemmler. Mit Erläuterungen von Jörg O. Fichte. 3 Bde. München 2 2000. Thomas Cramer (Hg.): Maeren-Dichtung. 2 Bde. München 1979. Thomas F. Crane (Hg.): The Exempla or Illustrative Stories from the Sermones vulgares of Jacques de Vitry. London 1890. Harald Rainer Derschka (Hg.): Der Schwabenspiegel. Übertragen in heutiges Deutsch mit Illustrationen aus alten Handschriften. München 2002. Friedrich Ebel : Sachsenspiegel. Landrecht und Lehnrecht. Durchges. u. erg. Ausgabe. Stuttgart 1999. Johann Peter Eckermann : Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von E. Beutler. Bd. 24. Zürich 1948. Karl August Eckhardt (Hg.): Schwabenspiegel. Kurzform. 2 Bde (= Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris germanici antiqui 4). Marburg/ Lahn 1960. Karl Euling (Hg.): Heinrich Kaufringers Gedichte (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 182). Tübingen 1888. Hanns Fischer (Hg.): Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. München 1966. Hanns Floerke (Hg.): Die Novellen des Franco Sacchetti Bürgers von Florenz. Aus dem Italienischen übers. u. eingel. von Hanns Floerke. Bd. 1. München 1907. Félix Frank (Hg.): Les Comptes du Monde Adventureux. Texte Original avec Notice, Notes et Index. 2 Bde (= Neudruck der Ausgabe Paris 1878). Genf 1969. 372 Anhang Ernest Gallo (Hg.): The Poetria Nova and its sources in early rhetorical doctrine. The Hague/ Paris 1971. Hans Joachim Gernentz (Hg.): Der Schwanritter. Deutsche Verserzählungen des 13. und 14. Jahrhunderts. Berlin 1979. Sander L. Gilman (Hg.): Johannes Agricola. Die Sprichwörtersammlungen. Bd. 1. Berlin/ New York 1971. Gottfried von Straßburg : Tristan. Hrsg. von Karl Marold. Bd. 1. Berlin/ New York 2004. Johann Theodor Grässe (Hg.): Gesta Romanorum. Das älteste Mährchen- und Legendenbuch des Mittelalters. 2 Bde. Leipzig 1905. Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg., übers. u. komm. von Klaus Grubmüller (= Bibliothek des Mittelalters 23). Frankfurt am Main 1996. Hans Heinrich : Ende gut macht alles gut. Heinrich Kaufringers «Unschuldige Mörderin» gerahmt und in Szene gesetzt. Augsburg 1997. Sidney John Hervon Herrtage und Frederic Madden (Hg.): The Early English versions of the Gesta Romanorum. London 1879. Alfons Hilka : Neue Beiträge zur Erzählungsliteratur des Mittelalters. Die Compilatio singularis exemplorum der Hs. Tours 468, ergänzt durch eine Schwesterhandschrift Bern 679. In: Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. IV. Abteilung c. Sektion für neuere Philologie Bd. 90, 1 (1912), S. 1 - 24. Friedrich Keinz : Altdeutsche Kleinigkeiten. In: ZfdA 38 (1894), S. 145 - 153. Adelbert von Keller (Hg.): Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert. 3 Bde. Stuttgart 1853 - 1858. Adelbert von Keller (Hg.): Gesta Romanorum. Das ist der Roemer Tat (= Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit. Bd. 23). Quedlinburg/ Leipzig 1841. Adelbert von Keller (Hg.): Hans Sachs. Bd. 5 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 106). Tübingen 1870. Joseph Klapper (Hg.): Erzählungen des Mittelalters. In deutscher Übersetzung und lateinischem Urtext (= Volkskundliche Quellen. Neudrucke europäischer Texte und Untersuchungen 4). Nachdruck der Ausgabe Breslau 1914. Hildesheim/ New York 1978. Thomas A.-P. Klein (Hg.): «Versus de Uniboue». Neuedition mit kritischem Kommentar. In: Studi Medievali. Serie Terza 32, 2 (1991), S. 843 - 886. Elisabeth Kully (Hg.): Codex Weimar Q 565. Bern/ München 1982. Karl Langosch (Hg.): Waltharius. Ruodlieb. Märchenepen. Lateinische Epik des Mittelalters mit deutschen Versen. Darmstadt 1956. Albert Lecoy de la Marche (Hg.): Anecdotes Historiques, Légendes et Apologues tirés du Recueil inédit d ’ Étienne de Bourbon, Dominicain du XIIIe Siècle. Paris 1877. Rosmarie Leiderer (Hg.): ‹ Wilhalm von Orlens › . Eine Reimpaarerzählung aus dem 15. Jahrhundert (= Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 21). Berlin 1969. Celio Malespini : Ducento Novelle. 2 Bde. Venedig 1609. 373 Literaturverzeichnis Giovanni Mari (Hg.): Poetria magistri Johannis anglici de arte prosayca metrica et rithmica. In: Romanische Forschungen 13 (1902), S. 883 - 965. Meister Eckhart : Das Buch der göttlichen Tröstung. Vom Edlen Menschen. Mhd. u. Nhd. Übers. u. mit einem Nachwort von Kurt Flasch. München 2007. Dominique Martin Méon (Hg.): Nouveau recueil de fabliaux et contes inédits des poètes francais des XIIe, XIIIe, XIVe et XVe siècles. 2 Bde (= Nachdruck der Originalausgabe Paris 1823). Genève 1976. Volker Mertens (Hg.): Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hrsg. u. übers. von Volker Mertens (= Bibliothek des Mittelalters 6; Bibliothek deutscher Klassiker 189). Frankfurt am Main 2004. Heinrich Niewöhner , Werner Simon und Max Boeters (Hg.): Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. 1. Hrsg. von Heinrich Niewöhner. Zweite Aufl. hrsg. von Werner Simon mit den Lesarten besorgt von Max Boeters u. Kurt Schacks. Dublin/ Zürich 1967. Theodor Nüßlein (Hg.): Marcus Tullius Cicero: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern. Lat.-dt. Düsseldorf/ Zürich 1998. Theodor Nüßlein ( Hg.): Rhetorica ad Herennium. Lat.-dt. Düsseldorf/ Zürich ²1998. Hermann Oesterley (Hg.): Gesta Romanorum. Berlin 1872. Johannes Baptista Pitra (Hg.): Analecta novissima Spicilegii Solesmensis altera continuatio. Bd. 2: Tusculana. Paris 1888. Giuseppe Pitré (Hg.): Fiabe, novelle e racconti popolari siciliani. Bd. 3 (= Nachdruck der Originalausgabe Palermo 1875). Bologna o. J. Michael Joseph Pohl (Hg.): Thomas Hemerken a Kempis: De Imitatione Christi. Freiburg i. Br. 1904. Marcus Fabius Quintilianus : Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. u. übers. von Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 1995. Erwin Rauner und Burghart Wachinger (Hg.): Mensa philosophica. Faksimile und Kommentar (= Fortuna vitrea 13). Tübingen 1995. G. Romagnoli (Hg.): Proverbii di Messer Antonio Cornazano in Facetie. Bologna 1865. Detlef Roth : › Historia septem sapientum ‹ . Überlieferung und textgeschichtliche Edition. 2 Bde: Bd. I: Untersuchung und Edition der Redaktionen I und II, Bd. II: Edition der Redaktionen III und IV und Anhang (= MTU 126 - 127). Tübingen 2004. Francesco Saba Sardi (Hg.): Aloyse Cynthio de gli Fabritii. Libro della origine delli volgari proverbi. Con manoscritti dell ’ autore. Mailand 2007. Paul Sappler (Hg.): Heinrich Kaufringer. Werke Bd. 1: Text. Tübingen 1972. Paul Sappler (Hg.): Heinrich Kaufringer. Werke Bd. 2: Indices. Tübingen 1974. Ferdinand von Schirach : Verbrechen. Stories. München 2009. Ferdinand von Schirach : Schuld. Stories. München 2010. Anton E. Schönbach (Hg.): Die Legende vom Engel und Waldbruder. In: Ders.: Mittheilungen aus altdeutschen Handschriften. 10 Stücke in einem Band. Wien 1901, S. 1 - 21. 374 Anhang Alfred Semerau und Peter Amelung (Hg.): Die hundert neuen Novellen. München 1965. Giovanni Sercambi : Il Novelliere. A cura di Luciano Rossi. 3 Bde. Rom 1974. Ralf-Henning Steinmetz (Hg.): Die Historia von den sieben weisen Meistern und dem Kaiser Diocletianus. Nach der Gießener Handschrift 104 mit einer Einleitung und Erläuterungen. Tübingen 2001. Joachim Suchomski : Lateinische Comediae des 12. Jahrhunderts. Ausgew. u. übers. mit einer Einleitung und Erläuterungen von Joachim Suchomski unter Mitarbeit von Michael Willumat. Darmstadt 1979. Ernst Tegethoff : Französische Volksmärchen. Aus älteren Quellen übers. von Ernst Tegethoff. Jena 1923. Albert Wesselski (Hg.): Die Sprichwortnovellen des Placentiners Antonio Cornazano. München 1906. Albert Wesselski (Hg.): Heinrich Bebels Schwänke. Zum ersten Male in vollst. Übertragung hrsg. von Albert Wesselski. 2 Bde. München/ Leipzig 1907. Albert Wesselski (Hg.): Märchen des Mittelalters. Berlin 1925. Albert Wesselski (Hg.): Mönchslatein. Erzählungen aus geistlichen Schriften des XIII. Jahrhunderts. Leipzig 1909. Walter Widmer (Hg.): Ein französisches Hexameron. Sechzig alte französische Novellen und Schwänke ausgewählt, übertragen und mit einem Nachwort versehen von Walter Widmer. Zürich 1986. Walter Widmer (Hg.): Margarete von Navarra. Das Heptameron. Vollst. Ausgabe. München 1979. M. Winterbottom ( Hg.) : Seneca the Elder. Declamations in two volumes. Translated by M. Winterbottom. Cambridge/ London 1974. Heinrich Zintgraf : Regesten ungedruckter Urkunden zur bayerischen Orts-, Familien- und Landesgeschichte. 26. Reihe: Urkunden des städtischen Archives zu Landsberg am Lech. In: Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte 49, 1 (1895), S. 287 - 310. 3.3 Forschungsliteratur Wolfgang Achnitz : Ein mære als Bîspel. Strickers Verserzählung ‹ Der kluge Knecht › . In: Volker Honemann und Tomas Tomasek (Hg.): Germanistische Mediävistik. 2., durchges. Aufl. Münster 2000, S. 177 - 203. Paul Arfert : Das Motiv von der unterschobenen Braut in der internationalen Erzählungslitteratur. Rostock 1897 (zugl. Diss. Rostock 1896). Erich Auerbach : Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich. Zweite, durchges. Aufl. mit einem Vorwort von Fritz Schalk. Heidelberg 1971. Hugo Aust : Novelle. 4., akt. u. erw. Aufl. Stuttgart 2006. Hans-Jürgen Bachorski : Ehe und Trieb, Gewalt, Besitz. Diskursinterferenzen in Mären und Schwänken. In: Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok (Hg.): Der Hahnrei im Mittelalter. Le Cocu au Moyen Age. Greifswald 1994, S. 1 - 23. Wilfried Barner : Art. Fazetie. In: RL² 1 (1997), S. 572 - 575. 375 Literaturverzeichnis Hermann Bausinger : Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 (1967), S. 118 - 136. Hermann Bausinger: Art. Kasus. In: EM 7 (1993), Sp. 1025 - 1027. Hermann Bausinger : Art. Schwank. In: EM 12 (2007), Sp. 318 - 332. Anja Becker und Jan Mohr (Hg.): Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren (= Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8). Berlin 2012. Karin Becker : Amors Urteilssprüche. Recht und Liebe in der französischen Literatur des Spätmittelalters (= Abhandlungen zur Sprache und Literatur 42). Bonn 1991. Diemut Maria Billen : Boccaccios Decameron und die didaktische Literatur des Hochmittelalters. Transformationen des Diskurses an einer Epochenschwelle. Egelsbach/ Köln/ New York 1993. Heike Bismark und Tomas Tomasek : Art. Rätsel. In: RL² 3 (2003), S. 212 - 214. Heike Bismark : Rätselbücher. Entstehung und Entwicklung eines frühneuzeitlichen Buchtyps im deutschsprachigen Raum. Mit einer Bibliographie der Rätselbücher bis 1800. Tübingen 2007. Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius : Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers ‹ Ring › . In: Wolfram-Studien 20 (2008), S. 175 - 204. Hartmut Bleumer : Einleitung. In: LiLi 163 (2011), S. 5 - 14. Hartmut Bleumer : Vom guten Recht des Teufels. Kasus, Tropus und die Macht der Sprache beim Stricker und im Erzählmotiv »The Devil and the Lawyer« (AT 1186; Mot M 215). In: LiLi 163 (2011), S. 149 - 173. Hartmut Bleumer : Teuflische Rhetorik vor dem Gericht des Herrn. Verhandlungen zwischen Recht und Literatur am Beispiel von Ulrich Tenglers «Laienspiegel». In: Björn Reich , Frank Rexroth und Matthias Roick (Hg.): Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. München 2012, S. 155 - 181. R. Howard Bloch : Medieval French Literature and Law. Berkeley 1977. R. Howard Bloch : The Scandal of the Fabliaux. Chicago/ London 1986. Hans Blumenberg : Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 104 - 136. Heribert Bögl : Soziale Anschauungen bei Heinrich dem Teichner. Göppingen 1975. Johannes Bolte : Märchen- und Schwankstoffe im deutschen Meisterliede. In: Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. 7 (1894), S. 449 - 472. Stanley F. Bonner: Roman Declamation in the Late Republic and Early Empire. Liverpool 1949. Wayne C. Booth : Die Rhetorik der Erzählkunst. 2 Bde. Heidelberg 1974. Karl Heinz Borck : Juristisches und Rhetorisches im ‹ ackerman › . In: Zeitschrift für Ostforschung 12, 3 (1963), S. 401 - 420. Roland Borgards u. a. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/ Weimar 2013. Heinrich Bosse : Geschichten. In: Ders. und Ursula Renner (Hg.): Literaturwissenschaft - Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg im Breisgau 1999, S. 299 - 320. P. Bourgain: Art. Jakob von Vitry. In: LexMA 5 (1991), Sp. 294 f. 376 Anhang Manuel Braun (Hg.): Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität (= Aventiuren 9). Göttingen 2013. Claudia Brinker-von der Heyde : Weiber-Herrschaft oder: Wer reitet wen? Zur Konstruktion und Symbolik der Geschlechterbeziehung. In: Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren (Hg.): Manlîchiu wîp, wîplich man. Zur Konstruktion der Kategorien ‹ Körper › und ‹ Geschlecht › in der deutschen Literatur des Mittelalters (= Beihefte zur ZfdPh 9). Berlin 1996, S. 47 - 66. G. Buchda: Art. Anwalt. In: HRG 1 (1971), Sp. 182 - 191. Brigitte Burrichter : Fiktionalität in französischen Artustexten. In: Haferland (2010), S. 263 - 280. Rüdiger Campe : Im Reden Handeln: Überreden und Figurenbilden. In: Heinrich Bosse und Ursula Renner (Hg.): Literaturwissenschaft - Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg im Breisgau 1999, S. 123 - 138. S. B. Chandler : Art. Arienti, Giovanni Sabadino degli. In: Dizionario critico della Letteratura Italiana 1 (1974), S. 112 f. Michael Chesnutt : Art. Exempelsammlungen (im Mittelalter). In: EM 4 (1984), Sp. 592 - 604. [ Chinca 2006] Mark Chinca , Timo Reuvekamp-Felber und Christopher Young (Hg.): Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (= Beihefte zur ZfdPh 13). Berlin 2006. Albrecht Classen : Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Unterdrückung und Sexualität. Liebe und Gewalt in der Welt von Heinrich Kaufringer. In: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit [1400 - 1750] 29, 1 (2000), S. 3 - 36. Sebastian Coxon : Keller, Schlafkammer, Badewanne. Innenräume und komische Räumlichkeit bei Heinrich Kaufringer. In: Burkhard Hasebrink , Hans-Jochen Schiewer , Almut Suerbaum und Annette Volfing (Hg.): Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. 19. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Tübingen 2008, S. 179 - 196. Ernst Robert Curtius : Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948. Christoph Daxelmüller : Exemplum und Fallbericht. Zur Gewichtung von Erzählstruktur und Kontext religiöser Beispielgeschichten und wissenschaftlicher Diskursmaterialien. In: Jahrbuch für Volkskunde. N. F. 5 (1982), S. 149 - 159. Christoph Daxelmüller: Art. Stephanus 1. S. de Bellavilla. In: LexMA 8 (1997), Sp. 128 f. Léopold Delisle : Notes sur quelques manuscrits de la Bibliothèque de Tours. Paris 1868. Gerd Dicke : Art. Exempel. In: RLW 1 (1997), S. 534 - 537. Cora Dietl : Das frühe deutsche Drama. Von den Anfängen bis zum Barock. Helsinki 1998. Roger Dubuis : Les cent nouvelles nouvelles et la tradition de la nouvelle en France au moyen age. Grenoble 1973. Roger Dubuis: Art. Cent Nouvelles nouvelles. In: LexMA 2 (1983), Sp. 1618 f. Rudolf Drux : Art. Motiv. In: RL 2 2 (2000), S. 638 - 641. Gustav Ehrismann : Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. 2. Teil: Die mittelhochdeutsche Literatur, Schlußband. München 1959. 377 Literaturverzeichnis Manfred Eikelmann : Art. Kasus. In: LexMA 2 (2000), S. 239 - 241. Caroline Emmelius : Rezension zu Ursula Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik. In: ZfdPh 126 (2007), S. 297 - 303. Caroline Emmelius : Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Frühe Neuzeit 139). Berlin 2010. [ Emmelius 2010 a] Caroline Emmelius : Kasus und Novelle. Beobachtungen zur Genese des Decameron (mit einem generischen Vorschlag zur mhd. Märendichtung). In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 51 (2010), S. 45 - 74. Caroline Emmelius : Der Fall des Märe. Rechtsdiskurs und Fallgeschehen bei Heinrich Kaufringer. In: LiLi 163 (2011), S. 88 - 113. W. Endrei: Art. Spiele (Vergnügen, «Freizeit»). A. III. Spiele im privaten Bereich. In: LexMA 7 (1995), Sp. 2108 - 2111. Teja Erb : Die Revolte des Bauern Einochs. Betrachtungen zu einer von Jacob Grimm entdeckten mittellateinischen Dichtung. In: Brüder Grimm Gedenken 15 (2003), S. 186 - 200. Karl Euling : Studien über Heinrich Kaufringer (= Nachdruck der Ausgabe Breslau 1900). Hildesheim/ New York 1977. Hanns Fischer : Art. Novellistik, mittelhochdeutsche. In: RL² 2 (1965), S. 701 - 705. Hanns Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchges. u. erw. Aufl. besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983. [1. Aufl. Tübingen 1968] Hubertus Fischer : Ritter, Schiff und Dame. Mauritius von Craûn: Text und Kontext. Heidelberg 2006. Monika Fludernik : «Durch einen dunkel verzerrten Spiegel» (1 Kor 13: 12). Die Entstehung des Bewusstseins in der englischen Literatur, 1050 - 1500. In: Haferland (2010), S. 281 - 305. Monika Fludernik : Einführung in die Erzähltheorie. 2., durchges. Aufl. Darmstadt 2008. Alberto Forni : Giacomo de Vitry, predicatore e «sociologo». In: La Cultura. Rivista di Filosofia Letteratura e Storia 18 (1980), S. 34 - 89. Goswin Frenken : Die Exempla des Jacob von Vitry. Ein Beitrag zur Geschichte der Erzählungsliteratur des Mittelalters (= Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 5, 1). München 1914. Elisabeth Frenzel : Stoff- und Motivgeschichte. Berlin ²1974. Gustav Freytag und Manfred Plinke : Die Technik des Dramas. 1. Aufl. der Neubearbeitung. Berlin 2003. Udo Friedrich : Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer. In: IASL 21, 1 (1996), S. 1 - 30. Udo Friedrich : Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Beate Kellner , Peter Strohschneider und Franziska Wenzel (Hg.): Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter (= Philologische Studien und Quellen 190). Berlin 2005, S. 227 - 249. Udo Friedrich : Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Chinca (2006), S. 48 - 75. Frauke Frosch-Freiburg : Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoff- und Motivvergleich (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 49). Göppingen 1971. 378 Anhang Manfred Fuhrmann : Das Exemplum in der antiken Rhetorik. In: Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte - Ereignis und Erzählung (= Poetik und Hermeneutik 5). München 1973, S. 449 - 452. Manfred Fuhrmann : Die Fiktion im Römischen Recht. In: Dieter Henrich und Wolfgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven (= Poetik und Hermeneutik 10). München 1983, S. 413 - 415. Manfred Fuhrmann : Die antike Rhetorik. Eine Einführung. Düsseldorf 2008. Philipp Funk : Jakob von Vitry. Leben und Werke (= Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 3). Leipzig/ Berlin 1909. Gottfried Gabriel : Art. Fiktion. In: RL 2 1 (1997), S. 594 - 598. Paul van Geest, Erika Bauer und Burkhart Wachinger: Art. Thomas Hemerken von Kempen. In: VL² 9 (1995), Sp. 862 - 882. H. Geißner : Art. Gesprächsspiel. In: HWbRh 3 (1996), Sp. 964 - 969. Gérard Genette : Die Erzählung. München 1994. Udo Gerdes: Art. Gesta Romanorum. In: VL² 3 (1981), Sp. 25 - 34. Annette Gerok-Reiter : Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik (= Bibliotheca Germanica 51). Tübingen/ Basel 2006. Marion Gindhart und Ursula Kundert ( Hg.): Disputatio 1200 - 1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin/ New York 2010. Otto Görner : Vom Memorabile zur Schicksalstragödie. Berlin 1931. Jürgen Grimm und Elisabeth Arend (Hg.): Französische Literaturgeschichte. 5., überarb. u. akt. Aufl. Stuttgart/ Weimar 2006. Klaus Grubmüller : Advocatus: fürsprech - vogt - advokat. Beobachtungen an Vokabularien II. In: Karl Hauck u. a. (Hg.): Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. FS für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag. Berlin/ New York 1986, S. 158 - 171. Klaus Grubmüller : Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 37 - 54. [ Grubmüller 1996 a] Klaus Grubmüller : Schein und Sein. Über Geschichten in Mären. In: Harald Haferland und Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. München 1996, S. 243 - 257. Klaus Grubmüller : Wolgetan an leibes kraft. Zur Fragmentierung des Ritters im Märe. In: Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer (Hg.): Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 193 - 207. Klaus Grubmüller : Art. Predigtmärlein. In: RL² 3 (2003), S. 156 f. Klaus Grubmüller : Rezension zu Michaela Willers: Heinrich Kaufringer als Märenautor. In: Fabula 45 (2004), S. 177 - 179. Klaus Grubmüller : Wer lacht im Märe - und wozu? In: Röcke (2005), S. 111 - 124. [ Grubmüller 2006] Klaus Grubmüller : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau - Märe - Novelle. Tübingen 2006. 379 Literaturverzeichnis [ Grubmüller 2006 a] Klaus Grubmüller : Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Die komparatistische Perspektive. In: Chinca (2006), S. 1 - 23. Romy Günthart : Mären als Exempla. Zum Kontext der sogenannten «Strickermären». In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 37 (1993), S. 113 - 129. Thomas Habel : Brecht und das Fastnachtspiel. Studien zur nicht-aristotelischen Dramatik. Göttingen 1978. Harald Haferland und Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19). München 1996. [ Haferland 2010] Harald Haferland und Matthias Meyer (Hg.): Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven (= Trends in Medieval Philology 19). Berlin/ New York 2010. Mathilde Hain : Rätsel. Stuttgart 1966. Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Exempel und Exempelsammlungen (= Fortuna vitrea 2). Tübingen 1991. Walter Haug : Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom › Pañcatantra ‹ zum › Dekameron ‹ . In: Ders. und Burghart Wachinger (Hg.): Exempel und Exempelsammlungen (= Fortuna vitrea 2). Tübingen 1991, S. 264 - 287. Walter Haug : Kritik der topischen Vernunft. Zugleich keine Leseanleitung zu › Geschichte als Topik ‹ von Peter von Moos. In: PBB 114 (1992), S. 47 - 56. Walter Haug : Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 1 - 36. Walter Haug : VI. Der Widersinn, das Gelächter und die Moral. In: Ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 2003, S. 343 - 409. Jens Haustein : Zum Verhältnis von exemplarischer Erzählung und Exempel an drei Beispielen aus der deutschen Literatur des Mittelalters (= Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 139, 6). Stuttgart/ Leipzig 2006. Thomas Haye : Oratio. Mittelalterliche Redekunst in lateinischer Sprache (= Mittellateinische Studien und Texte 27). Leiden/ Boston/ Köln 1999. Joachim Heinzle : Boccaccio und die Tradition der Novelle. Zur Strukturanalyse und Gattungsbestimmung kleinepischer Formen zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Wolfram-Studien 5 (1979), S. 41 - 62. Joachim Heinzle : Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik. In: Schirmer : (1983), S. 91 - 110. Nikolaus Henkel : ‹ Fortschritt › in der Poetik des höfischen Romans. Das Verfahren der Descriptio im «Roman d ’ Eneas» und in Heinrichs von Veldeke «Eneasroman». In: ZfdPh Sonderheft 124 (2005), S. 96 - 116. Aglaja Hildenbrock : Heinrich Kaufringers › Die Rache des Ehemannes ‹ in psychoanalytischer Betrachtung. In: Schirmer (1983), S. 281 - 291. Walter Hinck : Die Dramaturgie des späten Brecht. 5., durchges. Aufl. (= Palaestra 229). Göttingen 1971. 380 Anhang Rudolf His : Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. Erster Teil: Die Verbrechen und ihre Folgen im allgemeinen. Leipzig 1920. Rudolf His : Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. Zweiter Teil: Die einzelnen Verbrechen. Weimar 1935. Rudolf His : Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina. München/ Berlin 1928. Nicola Hömke : Gesetzt den Fall, ein Geist erscheint. Komposition und Motivik der psquintilianischen Declamationes maiores X, XIV und XV. Heidelberg 2002. Nicola Hömke : Seneca Moralizatus - Die Rezeption der Controversiae Senecas d. Ä. in den Gesta Romanorum. In: Wolfgang Kofler und Karlheinz Töchterle (Hg.): Pontes III - Die antike Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte. Innsbruck/ Wien/ Bozen 2005, S. 157 - 174. H. Hohmann : Art. Gerichtsrede. In: HWbRh 3 (1996), Sp. 770 - 815. Volker Honemann : Unibos und Amis. In: Klaus Grubmüller (Hg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Paderborn 1988, S. 61 - 95. M. Hoppmann: Art. Statuslehre. In: HWbRh 8 (2007), Sp. 1327 - 1358. Gert Hübner : evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen. In: Haferland (2010), S. 119 - 147. Gert Hübner : Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen. Plädoyer für eine praxeologische Narratologie. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 53 (2012), S. 175 - 206. Kurt Illing : Art. Liebesabenteuer in Konstanz. In: VL 2 5 (1985), Sp. 785 f. Margaret Imber : Practised Speech: Oral and Written Conventions in Roman Declamation. Speaking Volumes. Orality and Literacy in the Greek and Roman World. Leiden/ Boston/ Köln 2001. Helmut C. Jacobs und Marcel Klugmann : Mittelalterliche Novellistik und Jurisprudenz - Zivilrechtsfälle und rechtsphilosophische Reflexion im Novellino. In: Mediaevistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung 16 (2003), S. 7 - 50. Johannes Janota: Art. Der Zahn. In: VL² 10 (1999), Sp. 1475 f. Hans Robert Jauß : Alterität und Modernität in der mittelalterlichen Literatur. In: Ders.: Alterität und Modernität in der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956 - 1976. München 1977, S. 9 - 47. André Jolles : Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 8., unveränd. Aufl. Tübingen 1974. [1. Aufl. erschienen 1930] Volker Kapp (Hg.): Italienische Literaturgeschichte. 3., erw. Aufl. Stuttgart/ Weimar 2007. Ingrid Kasten : Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts. Hamburg 1973. Ingrid Kasten : Erzählen an einer Epochenschwelle. Boccaccio und die deutsche Novellistik im 15. Jahrhundert. In: Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer (Hg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Tübingen 1999, S. 164 - 186. E. Kaufmann: Art. Buße. In: HRG 1 (1971), Sp. 575 - 577. 381 Literaturverzeichnis Johannes Keller : Dekonstruierte Männlichkeit: von scheintoten und begrabenen Ehemännern. In: Martin Baisch u. a. (Hg.): Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2003, S. 123 - 148. Johannes Keller : Comique et violence. «Les trois femmes rusées» de Heinrich Kaufringer. In: Luciano Rossi (Hg.): La circulation des nouvelles au Moyen Âge. Actes de la journée d ’ études (Université de Zurich, 24 janvier 2002). Alessandria 2005, S. 201 - 222. Johannes Keller : Mittelalterliche Kurzgeschichten zwischen Kanon und Ausgrenzung. In: Jürgen Struger (Hg.): Der Kanon - Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Wien 2008, S. 335 - 345. Peter Kesting : Art. Cicero, Marcus Tullius. In: VL² 1 (1978), Sp. 1274 - 1282. Christian Kiening : Hiob, Seneca, Boethius. Traditionen dialogischer Schicksalsbewältigung im ‹ Ackermann aus Böhmen › . In: Wolfram-Studien 13 (1994), S. 207 - 236. Christian Kiening : Schwierige Modernität. Der › Ackermann ‹ des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels (= MTU 113). Tübingen 1998. Christian Kiening : Alterität und Methode. Begründungsmöglichkeiten fachlicher Identität. In: Peter Strohschneider (Hg.): Germanistische Mediävistik und ‹ Bologna-Prozess › . Bielefeld 2005, S. 150 - 166. Christian Kiening : Verletzende Worte - verstümmelte Körper. Zur doppelten Logik spätmittelalterlicher Kurzerzählungen. In: ZfdPh 127, 3 (2008), S. 321 - 335. Johannes Klaus Kipf: Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum (= Literaturen und Künste der Vormoderne 2). Stuttgart 2010. Joachim Knape : Art. Rede 2 , Redegattungen. In: RLW 3 (2003), S. 233 - 235. Joachim Knape : Poetik und Rhetorik in Deutschland 1300 - 1700. Wiesbaden 2006. Fritz Peter Knapp : Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort. Heidelberg 1997. Ruth Koch : Der Kasus und A. Jolles ’ Theorie von den ‹ Einfachen Formen › . In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 14, 3 (1973), S. 194 - 204. Ursula Kocher : Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ‹ novelle › im 15. und 16. Jahrhundert (= Chloe, Beihefte zum Daphnis 38). Amsterdam/ New York 2005. Susanne Köbele : Die Illusion der › einfachen Form ‹ . Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende. In: PBB 134, 3 (2012), S. 365 - 404. Gerhard Köpf : Märendichtung. Stuttgart 1978. Josef Kopperschmidt (Hg.): Rhetorische Anthropologie. München 2000. Albrecht Koschorke : Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main 2012. Rüdiger Krohn : Die Entdeckung der Moral oder: Ehebruch und Weisheit. Das Märe von der ‹ Suche nach dem glücklichen Ehepaar › und die Kaufringer-Sammlung im cgm 270. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 4 (1986/ 87), S. 257 - 272. Hartmut Kugler : Grenzen des Komischen in der deutschen und französischen Novellistik des Spätmittelalters. In: Ingrid Kasten , Werner Paravicini und Réne Pérennec (Hg.): Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Sigmaringen 1998, S. 359 - 371. 382 Anhang Helen Kurss : Die Anfänge der Novelle. (Rezension zu Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos). In: IASLonline [04. 06. 2008]. URL: <http: / / www.iaslonline.de/ index.php? vorgang_id=2594>. Datum des Zugriffs: 23. 03. 2012. David P. LaGuardia : Intertextual masculinity in French Renaissance Literature. Rabelais, Brantôme, and the «Cent nouvelles nouvelles». Aldershot/ Hampshire [u. a.] 2008. Felix Liebrecht : Zur Volkskunde. Alte und neue Aufsätze. Heilbronn 1879. Erhard Lommatzsch : Ein italienisches Novellenbuch des Quattrocento. Giovanni Sabadino degli Arientis «Porrettane». Halle an der Saale 1913. Christine Lubkoll : Fingierte Mündlichkeit - inszenierte Interaktion. Die Novelle als Erzählmodell. In: ZGL 36 (2008), S. 381 - 402. D. Marschall: Art. Hängen. In: HRG 1 (1971), Sp. 1988 - 1990. Matías Martínez und Michael Scheffel : Einführung in die Erzähltheorie. München 1999. Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/ Weimar 2011. Arend Mihm : Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter. Heidelberg 1967. Peter von Moos : Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im «Policraticus» Johanns von Salisbury. Hildesheim u. a. 1988. Peter von Moos : Die Kunst der Antwort. Exempla und dicta im lateinischen Mittelalter. In: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Exempel und Exempelsammlungen (= Fortuna vitrea 2). Tübingen 1991, S. 23 - 57. Jan-Dirk Müller : Noch einmal: Mære und Novelle. Zu den Versionen des Mære von den ‹ Drei listigen Frauen › . In: Alfred Ebenbauer (Hg.): Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag (= Philologica Germanica 7). Wien 1984, S. 289 - 311. Jan-Dirk Müller : Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ‹ Halber Birne › . In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 3 (1984/ 85), S. 281 - 311. Jan-Dirk Müller : Rezension zu Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. In: PBB 110, 3 (1988), S. 454 - 459. Maria E. Müller : Böses Blut. Sprachgewalt und Gewaltsprache in mittelalterlichen Mären. In: Jutta Eming und Claudia Jarzebowski (Hg.): Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2008, S. 145 - 161. Mareike von Müller : Schwarze Komik in Heinrich Kaufringers ‹ Drei listige Frauen B › . In: ZfdA 142 (2013), S. 194 - 216. Gerhard Neumann : Rez. Ferdinand von Schirach, Verbrechen und Ferdinand von Schirach, Schuld. In: Arbitrium 30 (2012), S. 118 - 127. Sebastian Neumeister : Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen. München 1969. 383 Literaturverzeichnis Sebastian Neumeister : Geschichten vor und nach dem Sprichwort. In: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Kleinstformen der Literatur (= Fortuna vitrea 14). Tübingen 1994, S. 205 - 215. Hans-Jörg Neuschäfer : Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 8). München 1969. J. D. North: Art. Chaucer, Geoffrey, engl. Dichter. In: LexMA 2 (1983), Sp. 1775 - 1780. Norbert H. Ott : Bispel und Mären als juristische Exempla: Anmerkungen zur Stricker- Überlieferung im Rechtsspiegel-Kontext. In: Klaus Grubmüller , Peter L. Johnson und Hans-Hugo Steinhoff (Hg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Paderborn 1988, S. 243 - 252. A. Patschovsky: Art. Häresie. In: LexMA 4 (1989), Sp. 1933 - 1936. Ursula Peters : ‹ Texte vor der Literatur › ? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie. In: Poetica 39 (2007), S. 59 - 88. Ursula Peters und Rainer Warning (Hg.): Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. München 2009. Hans Rudolf Picard : Der Geist der Erzählung. Dargestelltes Erzählen in literarischer Tradition. Bern u. a. 1987. R. Pichl : Art. Kasuistik. In: HWbRh (1998), Sp. 905 - 911. Manfred Pfister : Das Drama. Theorie und Analyse. München 2001. Katharina Philipowski : Aporien von dienst und lôn in lyrischen und narrativen Texten am Beispiel von Mauritius von Craûn und Heidin. In: GRM 59, 2 (2009), S. 211 - 238. Francis Raas : Die Wette der drei Frauen. Beiträge zur Motivgeschichte und zur literarischen Interpretation der Schwankdichtung (= Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 58). Bern 1983. Hedda Ragotzky : Das Märe in der Stadt. Neue Aspekte der Handlungsethik in Mären des Kaufringers. In: Georg Stötzel (Hg.): Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur. Berlin/ New York 1985, S. 110 - 122. Hedda Ragotzky : Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1). Tübingen 1981. Susanne Reichlin : Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären (= Historische Semantik 12). Göttingen 2009. Arnd Reitemeier : Die Kirchhöfe der Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. In: Jan Brademann und Werner Freitag (Hg.): Leben bei den Toten - Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne (= Symbolische Kommunikation und Gesellschaftliche Wertesysteme 19). Münster 2007, S. 129 - 144. Timo Reuvekamp-Felber : Einleitung: Mittelalterliche Novellistik im kulturwissenschaftlichen Kontext. Forschungsstand und Perspektiven der Germanistik. In: Chinca (2006), S. XI - XXXII. 384 Anhang Michael Richter : Das narrative Urteil. Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant (= Narratologia. Contributions to Narrative Theory/ Beiträge zur Erzähltheorie 13). Berlin/ New York 2008. János Riesz : Nachwort. In: Ders. (Hg.): Il Novellino. Das Buch der hundert alten Novellen. It./ Dt. Übers. u. hrsg. von János Riesz. Stuttgart 1988, S. 307 - 342. Coralie Rippl : Geld und âventiure. Narrative Aspekte der Zeit-Raum-Erfahrung bei Heinrich Kaufringer. In: PBB 134, 4 (2012), S. 540 - 569. [ Röcke 2005] Werner Röcke und Hans Rudolf Velten : Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Berlin/ New York 2005. Werner Röcke : schade und market. Zum Wandel feudaler Selbstverständigung im höfischen und schwankhaften Märe des Spätmittelalters. In: Danielle Buschinger (Hg.): Sammlung - Deutung - Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. FS für Wolfgang Spiewok zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1988, S. 301 - 313. Lutz Röhrich: Erzählforschung. In: Rolf W. Brednich (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 3., überarb. u. erw. Aufl. Berlin 2001. Klaus Roth: Art. Kastration. In: EM 7 (1993), Sp. 1019 - 1025. Luisa Rubini Messerli : Engel und Waldbruder: Eine Theodizee-Legende. In: Daphnis 40 (2011), S. 165 - 181. Nikolaus Ruge : Die wort wil ich meren. Grenzen des Erzählens in ‹ Tandarios und Flordibel › . In: Natalia Filatkina und Martin Przybilski : Orte - Ordnungen - Oszillationen. Raumerschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen (= Trierer Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 4). Wiesbaden 2011, S. 57 - 72. Kurt Ruh : Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters. In: Klaus von See (Hg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 8: Europäisches Spätmittelalter. Hrsg. von Willi Erzgräber. Wiesbaden 1978, S. 117 - 188. Kurt Ruh : Kaufringers Erzählung von der ‹ Unschuldigen Mörderin › . In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 1: Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters. Hrsg. von Volker Mertens. Berlin/ New York 1984, S. 170 - 184. Heinz Rupp : Schwank und Schwankdichtung in der deutschen Literatur des Mittelalters (1962). In: Schirmer (1983), S. 31 - 54. Jean Rychner : Contribution à l ’ étude des Fabliaux. Variantes, Remaniements, Dégradations. 2 Bde. Neuchâtel/ Genf 1960. Jana Sander : Ohne Zweifel vom Verfasser des Vorherigen. Autorfiktion als Ordnungsprinzip des Kaufringerfaszikels im cgm 270. In: Beate Kellner , Ludger Lieb und Peter Strohschneider (Hg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Frankfurt am Main 2001, S. 231 - 248. Paul Sappler: Art. Kaufringer, Heinrich. In: VL² 4 (1983), Sp. 1076 - 1085. H. Sauer: Art. Gregorius-Legende. In: LexMA 4 (1989), Sp. 1691 - 1693. Andrea Schallenberg : Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen (= Deutsche Literatur. Studien und Quellen 7). Berlin 2012. 385 Literaturverzeichnis Herbert Schempf : Rechtliche Volkskunde. In: Rolf W. Brednich (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 3., überarb. u. erw. Aufl. Berlin 2001, S. 423 - 443. Alfred Scherpf : Das Rechtsbuch der Stadt Landsberg am Lech. Erlangen 1950. Hans Jürgen Scheuer : Schwankende Formen. Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken. In: Peter Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/ New York 2009, S. 733 - 770. Hans-Jochen Schiewer : Ein mære ist daz. Narrative Exempla in der frühen deutschen Predigt. In: Harald Haferland und Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19). München 1996, S. 199 - 219. W. Schild: Art. Verstümmelungsstrafe. In: HRG 5 (1998), Sp. 833 - 836. Michael Schilling : Poetik der Kommunikativität in den kleineren Reimpaartexten des Strickers. In: Emilio González und Victor Millet (Hg.): Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme (= Philologische Studien und Quellen 199). Berlin 2006, S. 28 - 46. Karl-Heinz Schirmer : Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle. Tübingen 1969. [ Schirmer 1983] Karl-Heinz Schirmer (Hg.): Das Märe. Die mittelhochdeutsche Versnovelle des späteren Mittelalters (= Wege der Forschung 558). Darmstadt 1983. Hannelore Schlaffer : Poetik der Novelle. Stuttgart 1993. Ruth Schmidt-Wiegand und Ulrike Schowe : Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Ein Lexikon. München 1996. Ruth Schmidt - Wiegand : Art. Dichtung und Recht. In: HRG 2 1 (2008), Sp. 1034 - 1043. Karin Schneider : Cgm 201 - 350 (= Catalogus Codicum manu scriptorum Bibliothecae Regiae Monacensis. Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München 2). Wiesbaden 1970. Karin Schneider und Elisabeth Wunderle : Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Fragmente Cgm 5249 - 5250 (= Catalogus Codicum manu scriptorum Bibliothecae Regiae Monacensis 8). Wiesbaden 2005. Rüdiger Schnell : Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt/ New York 1998. Rüdiger Schnell : Erzählstrategie, Intertextualität und ‹ Erfahrungswissen › . Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 367 - 404. André Schnyder : Er zoch hin, so zoch sie her. Das schwierige Verhältnis der Geschlechter in den Mären Heinrich Kaufringers. In: Speculum medii aevi 3 (1997), S. 1 - 19. André Schnyder : Frauen und Männer in den Mären Heinrich Kaufringers. Zur Darstellung des Körperlichen und zur Konstruktion des Geschlechterunterschiedes. In: Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren (Hg.): Manlîchiu wîp, wîplîch 386 Anhang man. Zur Konstruktion der Kategorien ‹ Körper › und ‹ Geschlecht › in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 1999, S. 110 - 130. Mireille Schnyder : Glücksspiel und Vorsehung. Die Würfelspielmetaphorik im › Parzival ‹ Wolframs von Eschenbach. In: ZfdA 131 (2002), S. 308 - 325. Mireille Schnyder : Schriftkunst und Verführung. Zu Johannes von Freiberg: Das Rädlein. In: DVjs 80 (2006), S. 517 - 531. Mireille Schnyder : Schreibmacht vs. Wortgewalt. Medien im Kampf der Geschlechter. In: Chinca (2006), S. 108 - 121. Rolf Schönberger : Was ist Scholastik? Mit einem Geleitwort von Peter Koslowski. Hildesheim 1991. Werner Schröder : Additives Erzählen in der Mären-Überlieferung. In: Karl-Heinz Schirmer und Bernhard Sowinski (Hg.): Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. FS für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag. Köln/ Wien 1972, S. 187 - 202. Rudolf Schützeichel : Althochdeutsches Wörterbuch. 5., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 1995. Armin Schulz : Dem bûsant er daz houbt abe beiz. Eine anthropologisch-poetologische Lektüre des › Busant ‹ . In: PBB 122 (2000), S. 432 - 454. Armin Schulz : Art. Stoff. In: RL 2 3 (2003), S. 521 f. Armin Schulz und Gert Hübner : C.2. Mittelalter. In: Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/ Weimar 2011, S. 184 - 205. Armin Schulz : Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller. Berlin/ Boston 2012. Elisabeth Schulze-Witzenrath : Der gerettete Erzähler. Decameronrahmen und städtische Sprachkultur im italienischen Trecento. Tübingen 2012. Meinolf Schumacher : Schriftliche Modelle vormoderner Gesprächkultur. Tischzuchten - Gesprächsspiele - Konversationsbüchlein. In: Der Deutschunterricht 6 (2001), S. 8 - 15. Volker Schupp : Die Mönche von Kolmar: Ein Beitrag zur Phänomenologie und zum Begriff des schwarzen Humors. In: Werner Besch u. a. (Hg.): FS für Friedrich Maurer. Düsseldorf 1968, S. 199 - 222. Gerd Schwerhoff : Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt. Bonn [u. a.] 1991. Michel Simonin : Bebel en France au XVIe siècle: le cas des Comptes du monde adventureux. In: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 13 (1983), S. 269 - 291. Karl Simrock : Die deutschen Sprichwörter. Gesammelt von Karl Simrock. Einleitung von Wolfgang Mieder. Stuttgart 1995. Alwine Slenczka : Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle (= Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 5). Münster 2004. Wolfgang Spiewok : Die Vergewaltigung in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok (Hg.): Sexuelle Perversionen im Mittelalter. Les Perversions Sexuelles au Moyen Age. Greifswald 1994, S. 193 - 206. Karl Stackmann : Art. Kaufringer, Heinrich. In: VL 5 (1955), Sp. 506 - 510. 387 Literaturverzeichnis Franz K. Stanzel : Typische Formen des Romans. 10., durchges. Aufl. mit einem Nachwort. Göttingen 1981. Marga Stede : Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer (= Literatur, Imagination, Realität 5). Trier 1993. Ralf-Henning Steinmetz : Heinrich Kaufringers selbstbewußte Laienmoral. In: PBB 121, 1 (1999), S. 47 - 74. Wolf-Dieter Stempel : Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem. In: Hans Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968, S. 187 - 205. Artur L. Stiefel : Zu den Quellen Heinrich Kaufringers. In: ZfdPh 35 (1903), S. 492 - 506. Karlheinz Stierle : Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte - Ereignis - Erzählung. München 1973, S. 347 - 375. Ingrid Strasser : Fabliaux, Mären, die Lehre des argumentum und der moderne Roman. In: Klaus Grubmüller , L. Peter Johnson und Hans-Hugo Steinhoff (Hg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Paderborn 1988, S. 33 - 44. Ingrid Strasser : Vornovellistisches Erzählen. Mittelhochdeutsche Mären bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und altfranzösische Fabliaux (= Philologica Germanica 10). Wien 1989. Ingrid Strasser : Übernahme von Literatur. Zwei Fallbeispiele: Hartmanns «Erec» und «Der kluge Knecht» des Strickers. In: Ingrid Kasten , Werner Paravicini und Réne Pérennec (Hg.): Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Sigmaringen 1998, S. 185 - 199. Peter Strohschneider : Der tuorney von dem czers. Versuch über ein priapeiisches Märe. In: Jeffrey Ashcroft , Dietrich Huschenbett und William H. Jackson (Hg.): Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1987, S. 149 - 173. Peter Strohschneider : Schwank und Schwankzyklus, Weltordnung und Erzählordnung im ‹ Pfaffen von Kalenberg › und im ‹ Neithart Fuchs › . In: Klaus Grubmüller (Hg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Kolloquium 1987. Paderborn 1988, S. 151 - 171. Peter Strohschneider: Einfache Regeln - komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ‹ Nibelungenlied › . In: Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller (Hg.): Mediävistische Komparatistik. FS für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Stuttgart/ Leipzig 1997, S. 43 - 74. Peter Strohschneider : Art. Alterität. In: RL 1 (1997), S. 58 f. Peter Strohschneider : âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze. In: Gerd Dicke , Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink (Hg.): Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Berlin/ New York 2006, S. 377 - 383. Peter Strohschneider : Dialogischer Agon. In: Klaus W. Hempfer und Anita Traninger (Hg.): Der Dialog im Diskursfeld seiner Zeit. Von der Antike bis zur Aufklärung. Stuttgart 2010, S. 95 - 117. 388 Anhang Friedrich Wilhelm Strothmann : Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv in der deutschen Literatur des ausgehenden Mittelalters. Jena 1930. Joachim Suchomski : ‹ Delectatio › und ‹ utilitas › . Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur (= Bibliotheca Germanica 18). Bern/ München 1975. Ralph Tanner : Sex, Sünde, Seelenheil. Die Figur des Pfaffen in der Märenliteratur und ihr historischer Hintergrund (1200 - 1600). Würzburg 2005. Stith Thompson : The types of the folktale. A classification and bibliography. Antti Aarne ’ s Verzeichnis der Märchentypen translated and enlarged by Stith Thompson. 2. Aufl. Helsinki 1961. Adolf Tobler und Erhard Lommatzsch : Altfranzösisches Wörterbuch. Wiesbaden 1925 - 1954. W. Trusen: Art. Offizialat. In: HRG 3 (1984), Sp. 1214 - 1218. W. Trusen: Art. Gericht, Gerichtsbarkeit. III. Kanonisches Recht. HRG 4 (1989), Sp. 1325 f. Gert Ueding : Einführung in die Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1976. Hans Rudolf Velten : Laughing at the Body: Approaches to a Performative Theory of Humor. In: Journal of Literary Theory 3, 2 (2009), S. 353 - 374. Friedrich Vollhardt : Art. Autonomie. In: RL 2 (1997), S. 173 - 176. Benedikt Konrad Vollmann: Art. ‹ Unibos › ( ‹ Versus de Unibove › ). In: VL² (1999), Sp. 80 - 85. Michael Waltenberger : Situation und Sinn. Überlegungen zur pragmatischen Dimension märenhaften Erzählens. In: Elizabeth Andersen , Manfred Eikelmann und Anne Simon (Hg.): Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin/ New York 2005, S. 287 - 308. Michael Waltenberger : › Einfachheit ‹ und Partikularität. Zur textuellen und diskursiven Konstitution schwankhaften Erzählens. In: GRM 56 (2006), S. 265 - 287. Michael Waltenberger : Vom Zufall des Unglücks. Erzählerische Kontingenzexposition und exemplarischer Anspruch im › Nachtbüchlein ‹ des Valentin Schumann (1559). In: PBB 129, 2 (2007), S. 286 - 312. Michael Waltenberger : Der vierte Mönch zu Kolmar. Annäherungen an die paradoxe Geltung von Kontingenz. In: Cornelia Herberichs und Susanne Reichlin (Hg.): Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur (= Historische Semantik 13). Göttingen 2010, S. 226 - 244. Hans Walther und Paul Gerhard Schmidt : Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters (= Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 5, 2). Hildesheim/ Zürich/ New York 1984. Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.): Deutsches Sprichwörterlexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. 5 Bde. Unveränd. fotomechan. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1867. Augsburg 1987. Haiko Wandhoff : Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin/ New York 2003. Max Wehrli : Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1). 2. Aufl., durchges. u. bibliograph. erg. Ausg. Stuttgart 1984. 389 Literaturverzeichnis Rudolf K. Weigand : Art. Vinzenz von Beauvais. In: VL² 10 (1999), Sp. 365 - 369. Jean Th. Welter : L ’ exemplum dans la littérature religieuse et didactique du Moyen Age. Paris 1927. Hermann H. Wetzel: Art. Cent nouvelles nouvelles. In: EM 2 (1979), Sp. 1182 - 1189. Benno von Wiese : Novelle. 8., durchges. Aufl. Stuttgart 1982. Michaela Willers : Heinrich Kaufringer als Märenautor. Das Œ uvre des cgm 270. Berlin 2002. Michaela Willers : Schwankmuster und deren Funktionalisierung in den Texten Heinrich Kaufringers (unter besonderer Berücksichtigung des Märes ‹ Die unschuldige Mörderin › ). In: Anja Grebe und Nikolaus Staubach (Hg.): Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit. Frankfurt am Main 2005, S. 129 - 140. H. Winterberg: Art. Fürsprecher. In: HRG 1 (1971), Sp. 1333 - 1337. Reinhold Wolff : Unterwegs vom mittelalterlichen Predigtmärlein zur Novelle der Frühen Neuzeit: die Erzählsammlung ‹ Compilatio singularis exemplorum › . In: Mittellateinisches Jahrbuch 41, 1 (2006), S. 53 - 76. Franz Josef Worstbrock : Dilatatio materiae. Zur Poetik des ‹ Erec › Hartmanns von Aue. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Susanne Köbele und Andreas Kraß. Bd. 1: Schriften zur Literatur des Mittelalters. Stuttgart 2004, S. 197 - 228. [Zuerst erschienen in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1 - 30.] Franz Josef Worstbrock : Wiedererzählen und Übersetzen. In: Walter Haug (Hg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze (= Fortuna vitrea 16). Tübingen 1999, S. 128 - 142. Franz Josef Worstbrock: Art. Rhetorik I. Geschichte und System. In: Der neue Pauly (DNP). Enzyklopädie der Antike. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 15/ 2 (2002), Sp. 770 - 791. Franz Josef Worstbrock : Art. Rhetorica ad Herennium. In: VL² (2004), Sp. 1300 - 1309. Hans-Joachim Ziegeler : Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (= MTU 87). München [u. a.] 1985. Hans-Joachim Ziegeler : Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: ‹ The Tale of the Cradle › . In: Klaus Grubmüller u. a. (Hg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Paderborn 1988, S. 9 - 31. Hans-Joachim Ziegeler : Art. Schwank². In: RL² (2003), S. 407 - 410. Nicola Zotz : Grauzonen. Moral und Lachen bei Heinrich Kaufringer. In: Christiane Ackermann und Ulrich Barton (Hg.): «Texte zum Sprechen bringen». Philologie und Interpretation. FS für Paul Sappler. Tübingen 2009, S. 195 - 207. 390 Anhang Unerhörtes Erzählen situiert sich, das zeigen aktuell Ferdinand von Schirachs «Verbrechen», zwischen Recht und Literatur. Die außergewöhnlichen ‹Fallverhandlungen› des Heinrich Kaufringer sind ein frühes Phänomen literarischer Kasuistik. Die vorliegende Arbeit beleuchtet die kontrovers diskutierte Frage nach dem ‹Sinn› seiner ‹grotesken› Texte neu. Sie nimmt die Erzählpoetik Kaufringers von zwei Seiten in den Blick: Komparatistische Modellanalysen präsentieren ausgewählte Mären im Feld europäischer Novellistik (lateinische Exemplarik bis Boccaccio), zugleich wird eine historische Kontextualisierung mit rhetorischen und juridischen Traditionen der Antike und des Mittelalters vorgenommen. Dabei zeigt sich, dass Zuspitzung und Irritation Effekte eines an Problempotentialen besonders interessierten Erzählens sind. Der kasuistische Zugriff auf die materiae lässt Kaufringers Erzählungen als Argumentationsspiele verständlich werden, die Meinungen und Standpunkte verhandeln, wobei der diskursive Vorgang eine Lust am Erzählen generiert, der es auf die Verbindlichkeit einer Aussage nicht mehr ankommt. Die Interferenzen zwischen juristischem und literarischem Diskurs sind es, die ein solches ‹Erzählen von Sonderfällen› charakterisieren und das Erzählen selbst als Sonderfall spezifisch machen.