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Dante - Shakespeare - Goethe

2014
978-3-7720-5530-0
A. Francke Verlag 
Joseph Peter Strelka

In der platonischen Akademie von Florenz wurde im 15. Jahrhundert entdeckt, dass sich durch die ganze abendländische Geistesgeschichte eine synkretistische Traditionskette zieht, die Ideen von Hermes Trismegistos, Plato, Pythagoras, Seneca, Plotin und des Neuplatonismus vereinigt. Strelkas ideengeschichtliche Untersuchung zeigt in faszinierender Weise durch eine Art literarischer Gipfelwanderung, wie sich diese Traditionskette kontinuierlich weiter bis ins späte 19. Jahrhundert zieht, vom Rosenroman über Dante, Erasmus, Rabelais, Shakespeare und Goethe bis zu Emerson. Es kommt orts- und zeitbedingt zu kleinen Variationsformen, doch die platonische Grundidee bleibt unverändert gleich. Sie stellt eine Art Brücke bedeutender Geistigkeit dar, vom Altertum über das Mittelalter hinweg zum Gipfel der amerikanischen Renaissance. Eine Ideenkette, welche die abendländische Kultur verbindet und begründet.

E dition Patm os Joseph P. Strelka Dante Shakespeare Goethe und die Traditionskette abendländischer Autoren E dition Patm os Herausgegeben von Joseph P. Strelka Band 18 Joseph P. Strelka Dante - Shakespeare - Goethe und die Traditionskette abendländischer Autoren Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gefördert durch das Kulturamt der Stadt Wien. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8530-7 Dem Andenken an meine wunderbaren Eltern INHALTSVERZEICHNIS Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Gnostischer Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Der Rosenroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Dante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Erasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Rabelais . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Shakespeare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Emerson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 VORWORT Gegenstand dieses Buches, das eine ideengeschichtliche Untersuchung ist, stellt die geistige Traditionskette dar, welche große Autoren des Abendlandes verbindet und welche die zentrale Geistigkeit des Wesens ihrer bedeutendsten Werke darstellt. Als die italienische Hochrenaissance ihren Höhepunkt erreichte, hat das Haupt der Florentinischen Akademie von Florenz Marsilius Ficinus diese Traditionskette entdeckt. Sie verbindet einige der größten Geister: ausgehend vom hellenistisch ägyptischen Hermes Trismegistos und den ägyptischen Mysterien über die alten Griechen Pythagoras und Plato sowie den römischen Stoiker Seneca bis zu dem in Ägypten geborenen hellenistischen Griechen Plotin. Von hier strahlte sie auf das Mittelalter und in die abendländische Renaissance aus und reicht noch über diese hinaus. Wenn hier die Kontinuität dieser Traditionskette aufzuzeigen versucht wird, dann kann zugleich nicht genug betont werden, daß sie dichterische Höhepunkte zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern erlebte. Sogar wenn Goethes Faust in einer überaus vereinfachten Weise, die alle geistige Komplexität verschweigt, die damit verbunden ist, eine Aussage über Helena macht wie diese: „ Ich lebe nicht, kann ich sie nicht erringen “ , dann würde schon das etwa im Proletkult der Sowjetliteratur oder in sämtlichen sozialen Kreisen, die sich heute gerne durch Orgien vergnügen, lediglich humoristische Effekte auslösen. Die metaphysischen Seiten der Liebe sind aber heute mit wenigen Ausnahmen allenfalls noch in fundamentalistischen Formeln präsent, wodurch sie zwar nicht leben, aber wenigstens rational tradiert werden. „ Nicht den Barbaren ist das Ende Roms zuzuschreiben, sondern dem Einsturz der geistigen Grundlagen des Imperiums und der antiken Kultur. Nie hätte der Gladiator den Tragöden verdrängen können, wäre nicht der Sinn der Tragödie verloren gegangen. “ 1 Die geistigen Vertreter der Alten hatten diesen Sinn gekannt. Der Urvater dieser Traditionskette, Hermes Trismegistos, stellte die synkretistische Verbindung des griechischen Gottes Hermes mit dem ägyptischen Gott Thot dar. Er ist der angebliche Autor des „ Corpus Hermeticum “ . Beide Götter stellten auch für sich allein eine Verbindung von Diesseits und Jenseits dar: sowohl Hermes Psychopompos als auch der „ Schreiber “ der Unterwelt Thot geleiteten Seelen nach dem Tod ins Jenseits. Thot galt manchen auch als Erfinder des Schreibens und Wissens, der Weisheit und Magie und soll der Autor des 1 Wladimir Weidlé: Die Sterblichkeit der Musen. Stuttgart 1958, S. 233 ägyptischen Totenbuches gewesen sein, das die Reise der Seele ins Jenseits und im Jenseits beschreibt. Es gibt zwar immer wieder Versuche, die Fratze des Materialismus wie jene der zum Selbstzweck gewordenen Technik und ihrer Vergottung zu demaskieren, aber eine große Mehrheit der Menschen hat den Materialismus angenommen. „ Sinnlos wird eine Welt, wenn die Seele dessen, der sie denkt, leer geworden ist. Den Widerschein dieser Leere erblicken wir in unserer (heutigen) Dichtung, in unserer Kunst; der Mißbrauch, der daraus folgt, stellt Dichtung und Kunst überhaupt in Frage. Dieser Preisgabe, dieser Haltlosigkeit aber liegt zweierlei zu Grunde: eine Empörung und eine Absage. “ 2 Die Empörung ist oft der gerechte Zorn über falsche Traditionen, die zudem als verpflichtend auferlegt werden. Es werden dann alle Traditionen gleicherweise abgelehnt, das Kind wird mit dem Bad ausgegossen. Die große Absage hat der berühmte französische Lyriker Paul Valéry auf die knappe Formel gebracht, sie liege in „ der Ätzwunde absoluten Hochmuts, der von niemanden als sich selbst abhängig sein will “ . Rilke aber, den sein geistiger Antipode Valéry in Muzot besuchte, den Rilke bewunderte, liebte und übersetzte, hat in seiner eigenen späten Lyrik über den Geist der Zeit dies so ausgedrückt: „ Tempel kennt er nicht mehr. Diese des Herzens Verschwendung. “ Aber Rilke war es auch, der darüber hinaus in Spanien die geistige Einsicht in ein tröstliches Gleichnis dafür förmlich erlebte, wie etwas sehr Kostbares, das verloren ging, später wieder neu erstehen, eine Wiedergeburt erfahren kann. Rilke hat auf seiner Spanienreise 1912 in einer kleinen Kirche in Toledo von einer Legende erfahren, die ihn faszinierte. Die gleichnishafte Legende berichtete, daß in dieser kleinen Kirche der Gesang einer uralten Novene während des 17. Jahrhunderts zu singen verboten war, während dieser Zeit aber von Engeln weiter gesungen wurde, sodaß er später wieder aufgenommen werden konnte. Dieses Buch versucht eine Art Textgrundlage für einen Gesang der unsichtbaren Engel über die mögliche Größe von Dichtung zu sein, in einer Zeit, die seelische Leere nicht zu stören wähnt, bis ein Bedürfnis nach der verlorenen Größe sich wieder einstellen sollte. Dazu kommt noch besonders, daß in den wichtigsten Werken großer Autoren einzelne Stellen, die bisher nicht verstanden wurden, durch die Kenntnis der Traditionskette plötzlich einen neuen und überaus wichtigen Sinn erhalten. Der erste Forscher, der durch die Aufdeckung der gnostischen Traditionskette im Werk von Dantes großem Weltepos ein sechshundertjähriges Mißverständnis des Werks überwunden hat, bezeichnete den Sinn dieser Dichtung als eine „ Glückseligkeitslehre “ . In der Gnosis hat Hermes Trismegistos vor allem durch seine Schrift Poimandres einen wichtigen Platz eingenommen. Der Name Hermes Trisme- 2 Wladimir Weidlé, op. cit.,S. 233 X Vorwort gistos bedeutet der drei Mal Größte, weil er drei Gebiete abdeckte: Alchemie, Astrologie und Magie. Er reicht durch die beiden Götter Hermes und Toth, die er verbindet, in mythische Zeiten zurück, hatte sich aber auch schon mit der jüdischen Kabbala beschäftigt. In seiner völlig unabhängigen Kosmogonie und Anthropogenie ist der Dualismus der Gnosis von Sinnlichem und Geistigem, von Körper und Geist, von Gut und Böse durchaus voll lebendig. Davon läßt sich manches freilich auch mit einer christlichen oder platonischen Haltung verbinden, wobei für die Traditionskette schon von der Chronologie her zunächst die platonische die wichtigere war. Den Mittelpunkt des Poimandres stellt die Gestalt des göttlichen Ur- Menschen und sein Herabsinken aus seinem göttlichen Herkunftsbereich in die Materie des Irdischen dar. Der letzte Abschnitt ist dem Aufstieg der Seele zurück in den Himmel gewidmet. Das sind gnostische Grundideen. Das vorliegende Buch verfolgt den Verlauf der Traditionskette durch die gesamte, große abendländische Renaissancebewegung, die wesentlich weiter ausgreift als die kunstwissenschaftlichen Periodenbezeichnungen von Vor-, Früh-, Hoch- und Spätrenaissance. Es wurden nur einige große Autoren als Beispiele ausgewählt. Das bedeutet nicht, daß nicht auch andere Autoren als die hier behandelten in dieser Kette stehen. Da aber eben diese Kette den Gegenstand des Buches bildet, wurden von den hier ausgewählten Autoren wieder nur jene Werke besprochen, für die sie wesentlich sind. Die Anfänge der großen Renaissancebewegung gehen auf die am meisten fortgeschrittenen neuen Stadtkulturen Europas nach dem Verfall der alten antiken Stadtkulturen zurück. Daher finden sie sich in Ober- und Mittelitalien und in den niederländischen Städten, die staatlich damals zum Großherzogtum Burgund gehörten. Die Renaissancebewegung hat sich nicht in synchronischem Gleichschritt entfaltet, sondern war geographisch zeitlich gestaffelt. Den ersten Anfängen in Italien und in den burgundischen Niederlanden folgten zuerst die frühen westlichen Nationalstaaten England, Frankreich und Spanien. Die großen dichterischen Vertreter wurzelten alle in der nationalen Kultur ihrer Staaten, waren aber in ihrem Werk übernational, gesamtmenschheitlich, kosmopolitisch orientiert. Das geographische Gefälle begann mit Deutschland, wo es wohl einen frühen Ansatz zur Hochrenaissance gab, aber keine Vollentwicklung. Ihr Höhepunkt war erst mit der vollen Synthese von stadtbürgerlicher Geistigkeit mit aristokratischer Formzucht in der Weimarer Klassik erreicht, die einen harmonischen Ausgleich des Ausdrucks dieser Stadtkultur gepaart mit der aristokratischen Form des absoluten Fürstentums darstellte. In Osteuropa, das mit dem europäischen Rußland ebenso wie Amerika zum westlichen oder atlantischen, abendländischen Kulturkreis gehört, wurde diese Stufe noch später erreicht. Mit den USA schließt dieses Buch, obgleich die Traditionskette noch weiter reicht. XI Vorwort Der früheste Hauptvertreter innerhalb der großen europäischen Renaissancebewegung war Dante. Derselbe Romanist, der nachgewiesen hat, daß Dante ein eingeweihter Templer war und mit seiner Göttlichen Komödie ein gnostisches Werk geschaffen hat, war es auch, der als erster gesehen hat, daß Dante in der Traditionskette des Marsilius Ficinus steht. 3 In Dantes Fall gab es allerdings in den beiden Autoren des Rosenromans einen Vorläufer im Sinn dieser Traditionskette. Diesen könnte man einer Art Vorrenaissance zuzählen. Er hat denn auch durch Jahrhunderte eine Bedeutung und einen Einfluß ausgeübt, von dem man sich heute kaum mehr eine Vorstellung machen kann. Es ist kein Zufall, daß der frühe Dante eine verkürzte Fassung in italienischen Terzinen davon geschaffen hat. 4 Nach Dante war es Erasmus, der die entsprechende Höhe einer gesamten abendländischen Bedeutung errungen hat, der ja aus einer der früh entwickelten niederländischen Städte stammt und sehr bewußt in seiner frühen Zeit ein Landeskind des Großherzogs von Burgund gewesen ist. Ihm folgte der Franzose François Rabelais, der Erasmus im geistigen Sinn geradezu „ Vater-Mutter “ genannt hat. Unter anderem in einem etwas oberflächlichen Sinn der Thematik gibt es da eine Kette durch die Satire. Dadurch konnte eine vergleichende Studie des Lobs der Torheit mit der karnevalesken Seite des Panurg bei Rabelais und dem Falstaff Shakespeares geschrieben werden. 5 Des Erasmus Verbundenheit mit dem England seiner Zeit, dessen Satire Lob der Torheit einem großen Vertreter englischer Geistigkeit gewidmet ist, kann kaum überschätzt werden. Die Bedeutung Shakespeares für Goethe ist seit langem eine Selbstverständlichkeit. Der Amerikaner Emerson aber ist kaum mit einem anderen Großen so eng verbunden wie mit Goethe. Es muß betont werden, daß diese direkten und bewußten Einflüsse nur dünne Fäden oberflächlicher Zusammenhänge darstellen. Etwas tiefer greift schon die gemeinsame Zugehörigkeit zu Traditionen von Eingeweihten der hier behandelten Autoren. Dante war eingeweihter Templer, Rabelais hat der geheimen Societé Angelique in Lyon angehört und es gibt auch ein recht gutes Buch mit dem Titel Rabelais, Franc-Maçon. Erasmus wurde nicht zufällig beim Verlassen der burgundischen Niederlande verdächtigt, Rosenkreuzer zu sein, Shakespeare war nachweisbar von den Rosenkreuzern beeinflußt und Goethe war sowohl Mitglied des Freimaurerals auch des Illuminatenordens. Emerson hat eine ganze Reihe seiner wichtigsten Vorträge in der „ Masonic Hall “ von Boston gehalten. In der Geistigkeit aller dieser Bünde fanden sich wesentliche Ideen dieser Traditionskette. 3 Robert John: Dante. Wien 1946, S. 259 f. 4 Vgl. S. 25 dieses Buches. 5 Walter Jacob Kaiser: Praises of Folly. Cambridge (Mass.) 1963 XII Vorwort Es besteht kein Zweifel, daß die Autoren bei ihrer Aufnahme und Einweihung in allen diesen einzelnen, der Gnosis verbundenen, Traditionen viele, wenn nicht alle, wesentlichen Teile der Traditionskette kennen gelernt haben. Was die behandelten Autoren daraus gemacht haben, ist aber wohl genau so wenig vollkommen erklärbar wie das schöpferische Geheimnis der dichterischen Gestaltung und Verwirklichung in ihrem Werk überhaupt. Es kann nur versucht werden, dies beobachtend zu beschreiben, wie die Traditionskette nach zu zeichnen versucht wird. Wie man mitunter vielleicht auch unbewußte Verbindungen sichtbar zu machen versuchen kann. Nicht jeder Katholik ist ein Heiliger und nicht jeder Mahayana-Buddhist ein Boddisattva. Kein anderer Templer ist ein Dante, kein anderer Rosenkreuzer ist ein Shakespeare, kein anderer Freimaurer ist ein Goethe. Die hier ausgewählten Autoren sind in genialer Weise herausragend, sind nicht Sklaven des Zeitgeistes, sondern durchschauen und überwinden den Zeitgeist durch ihre Beziehung zu Größerem, Bleibendem, Unverrückbarem. Die Alten betrachteten den wirklichen großen Dichter als einen Vates, einen Seher, der mehr weiß als der Normalbürger. Die Armseligkeit unseres gegenwärtigen Zeitgeistes hat freilich dazu geführt, daß durch ihren engstirnigen Materialismus sogar das Vorhandensein solcher Größe überhaupt in Zweifel gezogen wird. Dadurch vermögen auch Menschen ohne solche Größe Anspruch darauf zu erheben, ernsthafte Dichter zu sein, und Menschen, denen es an Verständnis für solche Größe mangelt, den Anspruch darauf zu erheben, große Kritiker und Literaturwissenschafter zu sein. Darum verbindet alle Autoren und auch die Traditionskette ganz offenkundig und sichtbar, daß alle diese Autoren seit dem Rosenroman und seit Dante darüber klagen, daß der Materialismus ihrer Zeit die Größe und Schönheit des menschlichen Lebens zu vernichten droht. Darum hat der Entdecker der wirklichen templergnostischen Bedeutung von Dantes einmaliger Welt-Dichtung diese als „ Glückseligkeitslehre “ bezeichnet. Sowohl die Optik der Betrachtung des Einzellebens als eingeordnet in das gesamtmenschheitlich gültige Universum, als auch die hohe Bedeutung universaler Liebe, die damit Hand in Hand geht, sind dazu stets mit einer bestimmten Auffassung vom Menschen verbunden. Einer der berühmtesten Vertreter der Traditionskette, der Humanist Pico della Mirandola von der Florentinischen Akademie hat sie in seiner Rede „ De dignitatis hominis “ als göttliche Menschenwürde hervorragend dargestellt. Ihre Betonung im Werk aller Autoren des Bandes hat sehr geholfen, durch Einsicht in diese das Bewußtsein jedes einzelnen gegenüber jedem Nebenmenschen und der gesamten Menschheit wach zu rufen und zu vertiefen. In unserer Zeit hat der von allen Autoren des Buches beklagte Materialismus eine unerhörte Macht an sich gerissen. Er ist der Kern eines nihilistischen Weltbildes, auch wenn er sich mitunter durch einen vorgeheuchelten Idealismus tarnt. Damit ist die Gefahr eines entsetzlichen Totalitarismus sehr angewachsen. XIII Vorwort Vor seiner Gefahr hat bereits vor vielen Jahrzehnten der bedeutende Autor Aldous Huxley in seinem Roman Schöne Neue Welt eindringlich gewarnt. In der Zwischenzeit ist die Gefahr noch viel größer geworden. Die unerhörten Errungenschaften auf dem Gebiet der Technik haben Mittel und Methoden zur Kontrolle des Menschen entwickelt, gemessen an denen George Orwells Roman 1984 aus dem Jahr 1949 fast schon wie eine Idylle anmutet. Arthur Koestlers Roman Die Herren Call Girls von 1973 hat die Schwächen und die Hilflosigkeit der bisherigen Abwehrversuche dagegen plastisch dargestellt. Das Diabolische, dessen Unaufhaltsamkeit oft nicht verstanden wird, ist dabei, daß die gewaltsame Ausbreitung eines solchen totalitären Regimes über seine Grenzen hinaus nur durch einen Verteidigungskrieg abgewendet werden kann. Genauso wie die Bespitzelung der geheimsten Sphären durch ein solches totalitäres Regime über seine Grenzen hinaus zur Abwehr unbedingt eine Gegenbespitzelung notwendig macht. Im Gesamten gesehen ist es freilich von den Zeiten Dantes bis zum freien, amerikanischen Demokraten Emerson in praktischer Hinsicht ein einziger Aufstieg gewesen. Wenn es im zwanzigsten Jahrhundert in der Welt wieder steil bergab zu gehen begonnen hat, dann war dies nicht zufällig mit einem durch die moderne Technik oft beflügelten nihilistischen Materialismus verbunden gewesen, auch wenn er sich in hübsche ideologische Mäntelchen zu kleiden versucht hat. Um nicht mit einem pessimistischen, negativen Ton zu schließen, sei daran erinnert, daß gerade in der Zeit des ärgsten Faschismus und Kommunismus auch die fundamentalistischen Konfessionen, in die Verteidigungsstellung gedrängt, sich als großartige Gegenwehr bewährt haben. Ebenso hat es im Bereich der Literatur auf der ganzen Welt nennenswerte Gegenkräfte gegeben. 6 Einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, der Gnostiker Hermann Broch 7 , hat eines der bedeutendsten Sachbücher zur Analyse des modernen Totalitarismus geschrieben mit einer gleichsam angeschlossenen „ Therapie “ verbunden. 8 Mein persönliches positives Beispiel sind meine Eltern. Mein Vater, der in seiner Jugend in London gearbeitet hatte, erzählte dem Vier- und Fünfjährigen bereits von der Geistesfreiheit der englischen Demokratie, wobei er für das Kind als praktisches Beispiel den Hyde Park Corner wählte. Durch die Mutter aber bin ich schon als Kind mit Goethe- und Emerson-Zitaten aufgewachsen. Sie waren beide geprägt von jenem Geist, der stets bejaht. 6 Vgl. Joseph P. Strelka: Dichter als Boten der Menschlichkeit. Tübingen 2010 7 Vgl. „ Der Gnostiker Hermann Broch “ , in: Joseph P. Strelka: Vergessene und verkannte österreichische Autoren. Tübingen 2008, S. 67 - 79 8 Hermann Broch: Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik. Frankfurt 1979 XIV Vorwort GNOSTISCHER EXKURS Es war der kontinuierliche Drang aller behandelten Autoren zur Wiederentdeckung und „ Renaissance “ des Urchristentums, der zu dem gnostisch-kabbalistischen Denkansatz geführt hat, der ihr ideelles Bestreben in erster Linie zum Ausdruck brachte. Jesus ist wohl eine Art Externist im jüdisch-gnostischen Orden der Essener gewesen. 1 Nun haben die Schriftrollen von Qumran bestätigt, daß die Essener esoterisches Wissen über genau dieselben Dinge lehrten, welche die jüdischen Fundamentalisten nicht verstanden wie die Merkabamystik des Hesekiel. 2 Am geradezu winzigen, jedoch überaus zentralen Beispiel von Vers 25 des 11. Kapitel des Evangeliums Matthäus hat David Flusser gezeigt, wie eng verwandt dieser Vers mit den jüdischen Hodajoth der „ Hymnenrolle “ von Qumram ist. 3 Ich preise dich, Vater des Himmelns und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast, und hast es den Unmündigen offenbart. Flusser macht zu Recht darauf aufmerksam, daß der Begriff des „ Sohnes “ in den Hodajoth fehlt. Das Problem ist aber nicht die Erwähnung des Sohnes, sondern das Mißverständnis, daß der Sohn von jüdischen wie christlichen Fundamentalisten wörtlich verstanden wird, weil sie unfähig sind, symbolische Ausdrucksweise nachzuvollziehen. Der große Kenner jüdischer Mystik Gershom Scholem begeht natürlich niemals diesen Fehler und zeigt, wie durch die Mystiknähe der Gnosis die Essenischen Mysterien zu gnostischen Ausdrucksformen geführt haben. Da jedoch in der Gnosis viel vom Poimandres des Hermes steckt, ist der gnostischkabbalistische Denkansatz, den er freilegt, ein wesentlicher Kern der Traditionskette. Da es im Buch aber um die Renaissancebewegung im weitesten Sinn geht, sei darauf hingewiesen, daß es in ihr nicht allein um eine Wiedergeburt antiker Geistigkeit gegangen ist, sondern daß durch das von Reuchlin, Erasmus und 1 Rudolf Steiner: Aus der Akasha Forschung. Das fünfte Evangelium. Vortrag am 5. 3. 1913. In: Gesamtausgabe der Werke. Bd. 148, Dornach 1975, S. 68 2 Andrew Welburn: Am Ursprung des Christentums. Stuttgart 1992, S. 76 f. Von viel größerer allgemeiner Wichtigkeit ist das Buch von Gershom Scholem: Kabbalah. New York 1978, S. 10 - 26 3 David Flusser in: M. E. Stone (Hg.): Jewish Writings of the Second Temple Period. Assen und Philadelphia 1984, S. 566 f. Trithemius geförderte Hebräisch-Studium über den Text des Alten Testaments hinaus eine weiterreichende Rückbesinnung auf jüdische Geistigkeit vor sich ging. Die Suche nach den Urquellen des Christentums führte ja zu einer jüdischgnostischen Sekte, die zunächst gar keine Nichtjuden aufgenommen hat. Ihr gnostisch-kabbalistischer Denkansatz stand der herrschenden Orthodoxie der streng orthodoxen Pharisäer ebenso entgegen, wie ihrer späteren Hauptverfolgerin, der fundamentalistischen Kirche, die sie in allen ihren Formen mit Feuer und Schwert auszurotten versuchte. In der Renaissance wurden durch die großen Autoren jeweils eigene Einzelakzente gesetzt. Es waren bestimmte Formen der Gnosis, die jeweils in den Vordergrund traten, und vom 16. Jahrhundert an war es vor allem die lurianische Kabbala, die Einfluß entfaltete, obwohl schon früher die alte Kabbala einen wesentlichen Einfluß ganz besonders auf die Templergnosis und Dante ausgeübt hat. Die puristisch „ klassisch “ orientierten Vertreter der Spätantike wie Macrobius versuchten sich von all dem frei zu halten und doch finden sich auch bei ihm gnostische Züge. Das hing mit den gleichfalls oft mit der Gnosis verbundenen synkretistischen Zügen des Neuplatonismus zusammen, der eine besonders wichtige Rolle gespielt hat. Das Verständnis der Bedeutung der Gnosis für die abendländische Geistesgeschichte hat wahrscheinlich mit der ersten allgemeinen Einführung von Hans Leisegang begonnen 4 , obwohl die Ideen schon durch Karl Joëls Buch über den Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik Verbreitung gefunden hatten. Vom Erscheinen des Buches von Leisegang 1924 bis 1985 ist fast in jedem Jahrzehnt eine Neuauflage notwendig geworden. Sein Buch ist durch eine neue Einführung von Hans Jonas abgelöst, wenngleich nicht vollständig ersetzt worden. Diese Einführung ist das letzte der Bücher von Jonas über das Thema Gnosis und in zwei Punkten ist sie für das vorliegende Buch besonders wichtig, die Leisegang nicht bietet: Jonas hat auch die Funde von Qumram und Nag Hammadi eingearbeitet und bietet ein eigenes Kapitel über den Poimandres des Hermes. 5 Allerdings soll Jonas in der Gnosis einen „ antijüdischen Affekt “ gesehen haben. Das stimmte nur, wenn man es aus der Perspektive eines fundamentalistisch-orthodoxen Judentums heraus betrachtet. Es hat eine Menge jüdischer Gnosis und jüdischer Mystik gegeben, die zudem innerhalb der allgemeinen Geistesgeschichte einen außerordentlich großen Einfluß entfaltet haben. Ich wüßte nicht, wie man sie anders richtig kennzeichnen könnte als „ jüdisch “ . Micha Brumlik teilt diese Ansicht von Jonas nur mit der wichtigen Einschränkung, daß er nicht nur weiß, daß die Gnosis wahrscheinlich im Schoß 4 Hans Leisegang: Gnosis. Stuttgart 1924 5 Hans Jonas. Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Frankfurt 1999 2 Gnostischer Exkurs jüdischer Sekten entstanden ist, sondern auch, daß die Gnosis in den mystischen Strömungen in der jüdischen Kabbala und dem Chassidismus erheblichen Raum einnehmen. Gershom Scholem aber, der größte Kenner jüdischer Mystik im 20. Jahrhundert, hat das auch noch auf die dritte (chronologisch die erste) Strömung jüdischer Mystik der Hekhalot- und Merkava-Literatur ausgedehnt. Nun ist es so, daß nicht nur im Judentum, sondern auch nicht weniger im Christentum, ja auch im Buddhismus, Hinduismus und Islam die jeweiligen fundamentalistischen oder exoterischen Formen jeder Konfession den mystischen oder esoterischen Ausformungen des eigenen Glaubens zumeist geradezu feindselig gegenüber stehen. Aber nicht nur der Unterschied zwischen den eigenen mystischen Ausformungen wird betont, sondern womöglich noch mehr wird von den fundamentalistischen Strömungen der Unterschied zu allen anderen Konfessionen oft zu einer unüberbrückbaren Kluft aufgerissen. Die echten mystischen Ausformungen jeder Religion neigen in der Regel zu einem Synkretismus, der sich mit den parallelen Bestrebungen anderer Konfessionen innerlich verwandt fühlt, ja mitunter Elemente aus ihnen darum in die eigene Auffassung aufgenommen hat. Bei der Auslegung des Pentateuch zeigt sich dieser Unterschied zwischen der Deutung der Jahwisten und der Elohisten, wobei die ersteren mehr der Orthodoxie, die letzteren mehr der Esoterik und Gnosis zuneigen. Christian Weise hat in seinem langen, wahrscheinlich notwendigen und sehr aufhellendem Nachwort zum genannten Buch von Hans Jonas als Bindeglied zwischen Kaballa und Gnosis vor allem auf die von Gershom Scholem ausführlich kommentierte, zentrale Lehre vom Zimzum in der kosmogonischen Vorstellung der lurianischen Kaballa hingewiesen, die sich mit anderen Begriffen ausgedrückt im Grunde auch bei Meister Eckhart und im esoterischen Buddhismus findet. 6 Es ist vor allem die lurianische Kabbala, die seit Reuchlin und damit seit der Hochrenaissance zusammen mit der Gnosis eine noch wenig entdeckte Bedeutung in der europäischen Dichtung entfaltet hat. In einer chronologisch noch weiter zurückgreifenden Weise hängt die Kaballa überhaupt mit dem Mythos zusammen. Auch diese Beziehung hat Gershom Scholem in überzeugender Weise untersucht und dargelegt. Seine Arbeit über „ Kabballa und Mythos “ ist zuerst in einem Eranos-Jahrbuch erschienen, hat aber die weiteste Verbreitung dadurch erreicht, daß Scholem sie auch in sein Buch The Origins of the Kabballah aufgenommen hat, das englisch, deutsch und hebräisch erschienen ist. 7 6 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957, S. 285 - 288 7 Deutsch am besten zugänglich in dem Buch von Gershom Scholem: Zur Kabballa und ihrer Symbolik. Zürich 1960, S. 117 - 158 3 Gnostischer Exkurs Nach Gershom Scholem umfaßt die Kabbala eine Esoterik, die eng mit dem Geist der Gnosis verwandt ist, einen Geist, „ der nicht nur auf die Anleitung zum mystischen Weg beschränkt ist, sondern auch anderes, darunter Kosmogonie einschließt. “ 8 8 Gershom Scholem: Kaballah. New York 1978, S. 45 4 Gnostischer Exkurs DER ROSENROMAN Die Autoren des Rosenromans waren Guillaume de Lorris und Jean de Meung. Von Guillaume de Lorris wissen wir besonders wenig, außer daß er ein Gelehrter und Dichter war, der aus Lorris stammte und um 1230 den ersten Teil des Rosenromans geschrieben hat. Dieser erste Teil macht weniger als ein Fünftel des ganzen Romans aus. Es wurde vermutet, dass er den Troubadours nahe war. Jean de Meung trug seinen Namen wahrscheinlich auch daher, daß er in Meung-sur- Loire geboren worden war. Sein wirklicher Name war Jean Clopinel oder auch Jean Chopinel. Er begann vierzig Jahre nach Guillaume de Lorris den zweiten langen Teil des Romans zu schreiben. Er war durch die „ Traumdichtung “ des Rosenromans so bekannt, daß es Miniaturen gab, die ihn im Bett träumend darstellten. „ Der Rosenroman ist das bedeutendste Werk der französischen Literatur des 13. Jahrhunderts und eines der großen Werke der Weltliteratur überhaupt. “ 1 Das hat Karl August Ott als gegeben festgestellt. Er wies auch darauf hin, daß Jean de Meung nicht irgendein Bürger aus Paris gewesen ist, sondern ein gelehrter Theologe. Dazu stellte er zwei Fragen: Warum wurde der Roman nicht in Latein, sondern in der Volkssprache geschrieben, was zu der Zeit unüblich war, und: Wieso konnte er eine so riesige Verbreitung finden. 2 Außerdem wies er zu Recht die These, wonach Jean de Meung eine Chamäleon-Natur gewesen sei, zurück. Auf diese Fragen gibt es zwei Antworten: Erstens gewann der Roman eine solche Verbreitung durch seine dichterische Bedeutung, da Guillaume de Lorris drei einzelne Züge, die in der Literatur wohl vorhanden, aber nicht sehr entwickelt waren, nicht nur weiter entwickelt, sondern zu einem noch nicht dagewesenen Ganzen verschmolzen hat: die Struktur der Ich-Erzählung, die Gestaltung abstrakter allegorischer Begriffe als lebende Personen und nicht zuletzt die Darstellung des Ganzen als Traumdichtung. Letzteres war ein besonders wichtiger Kunstgriff, weil es zusätzlich zu den Möglichkeiten der Allegorien die Mitteilung verdeckter Wahrheiten erlaubte. Das führt schon weiter zur zweiten Antwort: die große Verbreitung ergab sich aber auch daraus, daß der Roman als Dokument, Trost und Ventil gegen den Terror der Inquisition gelesen werden konnte. Diese war bereits im „ Kreuzzug “ 1 Karl August Ott in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Rosenromans, München 1976, S. 7 2 Vgl. F. W. Bourdillon: The Early Editions of the Roman de la Rose. London 1906 - 1913 gegen die christlichen Katharer voll entfaltet und im Konzil von Toulouse 1229 besonders gefestigt worden. Seltsamerweise wird sie von Ott mit keinem Wort erwähnt. Noch vor dem Tod von Guillaume de Lorris brachen 1234 in Narbonne und 1242 in Toulouse größere Volksaufstände gegen die Inquisition aus. In Carcassone wurde das Dominikanerkloster gestürmt und die Inquisitoren wurden aus der Stadt gejagt. Der erste große Durchbruch des Rosenromans hing damit zusammen, daß die wenigen Aristokraten und Bürger, die lesekundig waren, und aus denen sich die Aufständischen gegen die Inquisition rekrutierten, begeistert waren, in dieser Weise indirekt über spirituelle Probleme in der Volkssprache lesen zu können. Wie großartig das Latein des Jean de Meung war, kann man aus seinen Übersetzungen vom Lateinischen ins Französische ersehen. Er übersetzte klassische Texte. Die Schnüffler der Inquisition waren auf lateinische Text spezialisiert. Vor allem aber: Die Priester der Katharer, zu denen der Rosenroman wohl in enger Beziehung stand, predigten in bewußtem Unterschied zur römischen Kirche in der Volkssprache. Der Angriff von Jean de Meung auf die „ Mendikanten-Orden “ wurde sehr richtig als Angriff auf die Dominikaner verstanden, welche die Inquisitoren stellte, die nicht direkt genannt werden durften. Als Beispiel für die Problematik sei eine Begebenheit aus dem 20. Jahrhundert angeführt. Der österreichische Journalist Rudolf Kalmar, der nach Einmarsch der Deutschen sofort verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau deportiert wurde, wo er bis 1945 blieb, berichtete in seiner Autobiographie Zeit ohne Gnade, daß es in den späten Kriegsjahren einmal eine kurze Phase gegeben hätte, in der alle Quälereien zurück gingen. Ja einmal wurde sogar erlaubt, daß die Häftlinge ein Theaterstück aufführen durften, das sie selbst schrieben. Als es aufgeführt wurde, haben von den Zuschauern alle Häftlinge die Anspielungen gegen die SS verstanden, aber kein einziger SS-Scherge verstand sie. Im kommunistischen Polen hatten etliche Autoren sich so auszudrücken verstanden, daß ihr Eintreten für die Freiheit von allen Gegnern des Regimes und von keinem Polizisten verstanden wurde. Noch im 16. Jahrhundert haben die Angriffe der Mendikanten den großen Erasmus aus den Niederlanden nach Basel vertrieben. So wie Dante den Namen Noffro Dei bis zur Unkenntlichkeit verschlüsselt hat, so darf auch vieles im Rosenroman nicht wörtlich verstanden werden. Wie Rabelais am Beginn seines Buches den Doppelsinn seines großen Romans aufgedeckt hat, so hat Guillaume de Lorris am Beginn des Romans ausdrücklich darauf hingewiesen, daß er einen schönen Traum schildere. Aber „ die meisten träumen nachts viele Dinge verdeckt. “ 3 3 Rosenroman, op. cit., Vers 19 und 20 6 Der Rosenroman Bald darauf erklärt er von seinem Roman, daß sein Gegenstand gut und neu ist und fährt fort: nun gebe Gott, daß die ihn günstig aufnehme, jene nämlich, die so viel Preis hat und so würdig ist, geliebt zu werden, daß sie die ROSE genannt wird. 4 Die Großschreibung der Rose weist darauf hin, daß es sich nicht um irgendeine Rosenblüte, ja überhaupt um eine Pflanze handelt, sondern um eine Allegorie und wie bei Dante Beatrice das ganze Epos hindurch mit der historischen Beatrice Portinari nichts zu tun hat, sondern als Code für die Templergnosis steht, so ist die „ ROSE “ eine Allegorie, über die noch zu sprechen sein wird. Ott versteht wohl, daß diese ROSE keine Pflanze ist, sondern eine Allegorie, doch vermutet er, daß sie eine wirkliche Dame ist, die allem Anschein nach den wirklich vornehmen Kreisen angehörte. Wenn es so war, dann war es bestimmt keine wirkliche Dame von Fleisch und Blut, sondern die „ Gräfin von Toulouse “ . Diese war ein symbolisches Codewort der Katharer. Wenn jemand die Stufe eines „ Perfectus “ oder einer „ Perfecta “ erreicht hatte, dann hatten sie den ‚ Kuß der Gräfin von Toulouse ‘ erhalten. Der Ort Lorris bei Orléans war durch den „ Frieden von Lorris “ in die Geschichte eingegangen. Dieser Friede erneuerte und untermauerte 1249 eine Einigung von 1229 zwischen dem Grafen Raimond VII. von Toulouse mit dem französischen König Ludwig dem „ Heiligen “ . Er besiegelte endgültig die Tragödie und auch den Untergang der christlichen Bewegung der gnostischen Katharer. Durch ihn wurde nicht nur die alte Hochburg der Albigenser Albi, nach der sie auch Albigenser genannt wurden, aus dem Gebiet Raimonds an Frankreich abgetreten, sondern Raimond verpflichtete sich, auch selbst in seinem Gebiet die Katharer mit Hilfe der Inquisition zu verfolgen. Der italienische Katharerbischof Nazarius hatte von den Bogomilen aus Bulgarien die gnostischjohanneische Schrift Interrogatio Johanni erhalten. Mit der johanneischen Templergnosis teilten die Katharer ihre gnostische Grundauffassung und sogar die winzige Kleinigkeit, daß auch sie in der Verfolgung durch die Inquisition beschuldigt wurde, eine Katze anzubeten. So wie Dante ein unvergeßliches dichterisches Denkmal der gnostischen Templergnosis geschaffen hatte, so hat Guillaume des Lorris ein ebenso verschlüsseltes dichterisches Denkmal der Katharer geschaffen, die ja zwar in Südfrankreich und Oberitalien ihre Zentren hatten, die aber erstmals in Köln nachgewiesen wurden und die im Rheinland, in Sizilien, in Österreich, Spanien, England und Skandinavien verbreitet waren. Der Rosenroman war der große 4 Rosenroman, op. cit., Vers 40 - 44 7 Der Rosenroman Roman im Großherzogtum von Burgund, in dem sich die Renaissancebewegung besonders früh zu entfalten begann. Jahrhunderte nach Guillaume de Lorris hat in einer freieren Zeit Nikolaus Lenau den „ Albigensern “ offen und direkt ein bedeutendes dichterisches Denkmal errichtet. Der Nachname von Guillaume „ Lorris “ mag sich wörtlich auf den Ort seiner Abkunft beziehen oder aber symbolisch gewählt worden sein, weil der Dichter vom Untergangsort der Katharer aus, auch deren dichterisches Denkmal errichtete. Wenn der erste, mehr aristokratisch geartete Teil des Romans von Guillaume durch einen gelehrten bürgerlichen Theologen, Jean de Meung fortgesetzt wurde, dann tat der soziale Unterschied der Einheit des Romans weniger Abbruch als man meinen könnte. A. M. F. Gunn hat in seinem Buch The Mirror of Love eine Einheit nachgewiesen und hat überdies noch gezeigt, daß das mutmaßliche „ Chaos “ der unzähligen enzyklopädischen Stellen von Jean de Meung tatsächlich einen kunstvoll gestalteten Kosmos bilden, sodaß der Roman auch in dieser Hinsicht ein Vorläufer von Dante ist. Kaum weniger interessant und wichtig ist Gunns Beobachtung in seinem Aufsatz „ Teacher and Student in the ‚ Roman de la Rose ‘“ , in dem er archetypische Symbole und Formen in diesem Roman enthüllt. 5 Man muß sich daran erinnern, daß nichts falscher ist, als im Mittelalter von primitiven, festen soziologischen oder geistigen Blöcken auszugehen wie „ Bürgertum “ , „ Christentum “ oder „ Kleriker “ . Es hat dominikanische Kleriker gegeben, die Inquisitoren waren, und es hat im Templerorden Kleriker gegeben, die von allen kirchlichen Institutionen, einschließlich der Inquisition unabhängig waren, die nur dem Papst direkt unterstanden und die in der Sorbonne ausgebildete Gnostiker und damit „ Häretiker “ waren. Otts Beschreibung von Jean de Meung als „ heterodoxen Averroisten “ und als den „ christlichsten Moralisten “ trifft ins Schwarze. Es paßt allerdings auch auf die Katharer, die sich die „ wahren Christen “ nannten. Die Gnosis der Katharer war noch christlicher als die Templergnosis, weil sie die Wassertaufe Johannes des Täufers ablehnten und sie durch ihre „ Geisttaufe “ ersetzt hatten. Das war das äußere Zeichen dafür, daß ihrer Gnosis der starke, jüdisch-kabbalistische Einschlag fehlte, den die Templergnosis hatte. Zu den Irrtümern der älteren Rosenroman-Kritik gehört das Mißverständnis, die allegorisch-symbolische Traumdichtung wörtlich und realistisch aufzufassen. Die ROSE ist ein komplexes Symbol im einfachen, allegorischen Kostüm. Ott hat mit seiner Betonung ganz recht, wonach die Darstellungsweise der Gestaltung des Romans komplex ist. Die Person des Autors Jean de Meung ist 5 A. M. F. Gunn: The Mirror of Love. Lubbock 1952 und derselbe: Teacher and Student in the „ Roman de la Rose “ , In: L ’ Ésprit Créateur II, no. 3(1962), S. 126 - 134 8 Der Rosenroman nicht identisch mit dem „ Erzähler “ im Roman und dieser wieder nicht immer mit dem Helden des Romans, dem Suchenden, Liebenden, der die Rose findet. Wie Ott auch mit seinem Hinweis recht hat, daß er die Rosenromankritik von Durante Waite Robertson sehr schätzt, die ja für die spätere Kritik fruchtbar geworden ist. Worum geht es aber sehr vereinfacht in dem Roman? Der Erzähler träumt, ein zwanzigjähriger Jüngling zu sein, der an einem herrlichen Maimorgen durch eine wunderschöne geradezu paradiesische Naturlandschaft von blühenden Gärten wandert, bis er an einen nicht weniger schönen Fluß kommt. Von da an wandert er wie der Jenseitswanderer Dante in seinem „ Läuterungsberg “ den Fluß entlang, bis er schließlich auf einen besonders großen, weiten und schönen Garten stößt, der von einer hohen, mit Zinnen bewehrten Mauer umschlossen ist. An der Mauer befinden sich eindrucksvolle Bilder: der Haß, die Bosheit, die Gemeinheit, die Habsucht, der Geiz, der Neid, die Traurigkeit, das Alter, die bewußt gewordene Zeit und nach ihr der unaufhaltsam folgende Tod. Dann folgen noch die Heuchelei und die Armut. Alle diese Allegorien sind so lebendig geschildert, daß sie den suchenden Jüngling vom Garten abhalten sollen. Auch gehört in der Gnosis das Böse zum Guten, sodaß sie eine Art Ersatzhölle darstellen. Der Garten aber entspricht weitgehend dem „ Irdischen Paradies “ Dantes. Es ist eindeutig klar, daß der Ausflug des Jünglings eine spirituelle Wanderung darstellt. Darum werden die Bilder auch wie in einer Mysterieneinweihung erklärt. Die Heuchelei wird etwa als feige Scheinheilige mit frommen Gesicht geschildert, die dem Anschein nach ein frommes Wesen ist, in Wahrheit aber jede nur mögliche Untat im Herzen ersinnen kann. In der Hand hält sie einen Psalter, da sie sich bemüht, geheuchelte Gebete an Gott zu richten. Zu den bösen Dingen, die vom Eintritt in den Garten abhalten sollen, gehört also auch der oft mißbrauchte Fundamentalismus. Aus dem Garten hört der Jüngling herrlichen Vogelsang und er kann jenseits der Mauer herrliche große Bäume erblicken. Ohne sich von den Warnungen abhalten zu lassen, geht der Jüngling außen um die Mauer herum bis er zu einer verschlossenen kleinen Tür kommt. Als Jean de Montreuil den Rosenroman verteidigte, hat er von der „ Wichtigkeit der Mysterien “ und den „ Mysterien der Wichtigkeit “ des Meister Jean de Meung geschrieben. 6 Auch Dante hat im 29. Gesang seiner Läuterungsbergs vor den Augen seines träumenden Jenseitswanderers einen Zug von Seelen als Einweihungsbilder vorüber ziehen lassen, ganz wie die alten Mysterienkulte solche Bilder verwendeten. Guillaume de Lorris aber hat bereits die starren und abstrakten 6 Jan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Stuttgart 1938, S. 165 9 Der Rosenroman Allegorien durch seine lebendigen Beschreibungen in symbolische Mysterienbilder verwandelt und sie damit als Glied einer großen Traditionskette zwischen Altertum und Neuzeit eingereiht. Eine Jungfrau öffnet dem Jüngling die schmale Tür und von da ab treten die allegorischen Personen als personifizierte, lebende Allegorien auf. Die Pförtnerin symbolisiert die Müßigkeit und es gibt etliche Metaphern, die auf das Heilige Land abzielen. „ Bis nach Jerusalem “ gibt es keine Frau mit einem schöneren Hals und der Herr des Gartens, „ Vergnügen “ , hat Bäume aus dem Land der Sarazenen kommen lassen. Der Jüngling vermeint im irdischen Paradies zu sein. Das wird durch entsprechende Metaphern verstärkt und unterstützt. Die Vögel sind so schön, als wären sie „ überirdische Engel “ . Die Menschen sind von solcher Schönheit, daß sie „ wahrhaft geflügelte Engel zu sein scheinen. Ganz besonders sieht Amor so aus, „ wie wenn er ein Engel wäre. “ Die positiven und auf dem spirituellen Entwicklungsweg wichtigen Allegorien der Fröhlichkeit und der Höflichkeit helfen dem Jüngling weiter, sodaß er ermutigt wird, den Garten genauer zu betrachten. Amor folgt ihm, begleitet von einem Jungen, der „ Süßer Blick “ heißt und der zwei Bogen und zwei mal fünf Pfeile trägt. Die einen fünf Pfeile sind positive, die anderen fünf sind negative, ganz im Sinn des gnostischen Dualismus. Schließlich entdeckt der Jüngling im Garten den höchsten Baum von allen, unter dem eine herrliche Quelle entspringt. Im Wasserspiegel der Quelle entdeckt der Jüngling Rosensträucher von einer solchen Schönheit, daß sie ihn faszinieren. Er kann gar nicht anders, als diese Rosensträucher im Garten selbst zu suchen und er findet sie an einer entlegenen Stelle. Da er vor ihnen steht, gefallen ihm die Rosenknospen noch mehr als die voll erblühten Rosen. Niemals wuchsen irgendwo so schöne, Wer eine davon erlangen könnte, der müßte sie sehr lieb haben. (Vers 1650 - 1652) Der Jüngling wählt sich die schönste Rosenknospe aus. Kaum ist das geschehen, als ihn ein Pfeil des Gottes Amor durch das Auge ins Herz trifft. Die anderen neun Pfeile folgen nach und damit ist er wehrlos seiner Liebe zu der Rosenknospe ausgeliefert. Damit ist das zentrale Motiv des Rosenromans enthüllt und so gut wie alle Forscher haben das Ganze als Darstellung einer wahren Liebesgeschichte zu einer wirklichen Frau genommen, was sie natürlich nicht ist. Nicht umsonst hat der große Dante-Kenner Robert John von einer „ kirchenfeindlichen Geheimsprache der mittelterlichen Literatur “ gesprochen und hat außerdem noch angeführt, daß das geistige Ideal der Templer wegen der Inquisition auf keinen Fall ausgesprochen werden durfte. Man redete daher durch die Blume. Und die in dieser Beziehung dankbarste Sprache war eben die Sprache der Liebe. Ihr Schleier war dicht und zugleich schmiegsam genug, um 10 Der Rosenroman alle Gedankengänge mitzumachen und vor den Augen der Uneingeweihten trotzdem zu verhüllen. 7 Für den Großteil der unter der Verfolgung Leidenden waren schon die Beschreibungen wie jene der Heuchelei ein Labsal. Für die eingeweihten Wissenden gab es noch besondere Hinweise. Wissende wie Uneingeweihte aber genossen es gleichermaßen, wenn es bei der Beschreibung der Allegorie des „ Reichtums “ , der als Mann auftritt, hieß, daß er eine Gürtelschnalle aus Stein trug, die ihn vor Gift schützte und mehr nützte „ als das ganze Gold von Rom “ . Was aber den Eingeweihten besonders auffiel, das waren die Worte, die John als Geheimsprache der Liebe beschrieben hatte. So sagt einmal GOTT Amor zu dem Liebenden: . . . ich will dich wohl lehren, daß du nichts erreichen kannst mit Unverstand und Stolz. (Vers 1893 - 1895) Und er wird noch deutlicher: Doch meiner Treu, jetzt wird sich zeigen, ob du mir gerne dienst, und wie du bei Tag und Nacht die Gebote befolgst, die ich den edlen Liebenden auferlege (Vers 2040 - 2042) Wer aber ist denn mit den „ edlen Liebenden “ gemeint? küsse meinen Mund, den kein schlechter Mensch berührt. Ich lasse ihn nicht von jedem Bauern, jedem Schlächter berühren, sondern vornehm und edel muß der sein, den ich zu meinem Lehensmann mache. (Vers 1935 - 1940) „ Lehensmann “ Amors wurde man durch das katharische Consolamentum, die Geisttaufe. Die Abscheu vor den bösartigen Schlächtern aber war besonders auf die fortgeschrittenen Perfecti gemünzt, denn diesen war es besonders verboten, nicht nur Menschen, sondern auch vierbeinige Tiere und Vögel zu töten. Das Banner der „ Höfischkeit “ , das Gott Amor trägt, bezieht sich nicht auf die ständische Aristokratie, sondern auf eine geistige Aristokratie besonderen Wissens der Gotteserkenntnis und Gottesliebe. Die Katharer teilten die Menschen wie die Gnostiker in drei Kategorien ein: Die Nichtmitglieder, die Mitglieder und die Perfecti beziehungsweise Perfectae. Eine vorübergehende Zwischenstufe zwischen 1 und 2 waren die Novizen. 7 Robert John, op. cit., S. 4 und 174 11 Der Rosenroman Die symbolische Darstellung der Auserwähltheit unseres Traum-Jünglings ist es, daß es ihm gelingt, unter so vielen Rosen und Rosenknospen die wirklich allerschönste auszuwählen und damit unter so vielen falschen Vorstellungen von Göttlichkeit die richtige. Dort heißt es: Gott Amor, der mit gespanntem Bogen Die ganze Zeit darauf geachtet hatte, mich zu verfolgen und zu bewachen, war an einem Feigenbaum stehen geblieben; und als er bemerkte, daß ich diese Knospe erwählt hatte, die mir besser gefiel, als es alle anderen taten, da nahm er schnell einen Pfeil und schoß auf mich in solcher Weise, daß mir der Pfeil mit großer Gewalt durch das Auge ins Herz stieß. (Vers 1680 ff.) Wenn es auf den ersten Blick seltsam erscheinen sollte, daß der göttliche Schütze nicht sofort direkt in das Herz schießt, dann ergibt das einen Sinn, wenn es um die Gnosis geht, die ja ein Wissen ist, welches das Kopfwissen ist und für welches das Auge als Metapher zuständig ist und nicht das Herz. Amor ist ja hier selbst schon eine Metapher, der nicht für Verliebtheit steht, sondern für einen Hierophanten der Gotteserkenntnis. Ott berichtet, daß Jean Molinet, das Haupt der Dichterschule der Rhetoriqueurs im 16. Jahrhundert, die Rose des Rosenromans richtig als „ rose mystique “ und Symbol nicht der Menschenliebe, sondern der Gottesliebe verstanden hat 8 , wie sich bei Molinet als auch im Rosenroman erbitterte Ablehnung der Mendikantenorden findet. Er fordert den Leser auf, zu Gott zu beten, daß die Jakobiner die Augustiner verschlingen sollten und die Karmeliter an Stricken der Minoriten gehenkt werden sollen. Seine Ehrfurcht vor Gott geht dabei mit der Verachtung der Bettelorden sehr gut zusammen. 9 Da die Inquisition durch die entsetzlichen Anzeige- und Anklagebestimmungen nicht nur für einen eng beschränkten Kreis von Menschen eine Gefahr darstellte, sondern besonders in manchen Regionen für alle Menschen ein lebensgefährliches Problem bildete, war die Zahl der häretischen Eingeweihten als „ Widerstandskraft “ sehr groß und die Zahl der passiven Gegner noch viel größer. Für die Zeit der Templergnosis, die sich mit der Zeit der Katharergnosis überdeckte, hat Dante das in seiner großen Weltdichtung in schöner Verschlüsselung bezeugt. Er legt seiner Beatrice, die keine lebende Person, sondern 8 Karl August Ott, Einleitung, op. cit., S. 12 9 Jean Molinet: Faicts et dicts. Paris 1531, Blatt 188 12 Der Rosenroman die Templergnosis verkörpert, folgende Verse in den Mund, die sie an den Jenseitswanderer richtet, den sie führt: Von allem, was Natur und Kunst dir zeigte, Entzückten dich am meisten meine Glieder, Die überall zerstreut nun sind auf Erden. Die Glieder von Beatrice Portinari, die nur den Namen hergeben mußte, ruhten unangetastet in ihrem Grab. Die lebenden Glieder der Templergnosis waren es, die Templer, die über die ganze Welt verteilt waren. Nach Robert John waren die Templerfraternitäten „ ungemein zahlreich “ 10 . Was das Gesamtverständnis des Rosenromans durch die zeitgenössischen Leser betrifft, so muß Robertson nicht unbedingt angenommen haben, daß sie alle Dantes schwierige Methode vom „ vierfachen Schriftsinn “ 11 verstanden haben, was ihm Ott unterstellt. Aber die meisten der großen Gruppe von Eingeweihten verstanden sie und alle anderen, auch die Uneingeweihten, begeisterten sich an der bösen Satire mit ihren so zahlreichen deutlichen Anspielungen. Das Ursprungs- und Kernland der Katharer und des Rosenromans lag im Süden Frankreichs. „ Der Süden Galliens hatte seit jeher den übrigen Teilen des Landes gegenüber eine Sonderstellung eingenommen. Die geistigen Ausstrahlungen der alten, sittenstrengen Griechenkolonie und späteren römischen Lasterzentrale Massilia, die hohe Kultur in den zahlreichen, uralten Städten verliehen dem Gebiet zwischen Mittelmeer und den Pyrenäen eine höchst ausgeprägte Eigenart, die es nicht allein der Sprache nach von dem französischen Norden unterschied. Diese von der Natur so gesegneten Landstriche sind es, in denen die Wiege der modernen Kultur ruhte. “ 12 Es war eine Art Parallele zu den ersten Anfängen der Renaissancebewegung in den burgundischen Niederlanden sowie in Ober- und Mittelitalien. Vielleicht hängt damit die langjährige Beliebtheit des Rosenromans im Großherzogtum Burgund zusammen. Auch auf die späten Folgen des Arianismus weist der gebildeten John hin, der in der Spätantike über die Mittelmeergebiete verbreitet war und wie das johanneische Christentum sowohl der Katharerals auch der Templergnosis die Gottgleichheit Christi abgelehnt hat. Der Süden war ja auch das Land der Troubadours gewesen, die gegen alle katholischen Orden gewettert hatten, nur gegen die Templer nicht. Die einzigen erhaltenen Dante-Autographen, die es gibt, fanden sich in seinen Kommentaren zu einer Troubadour-Handschrift in der Vatikanischen Bibliothek. Die alte Romfeindschaft war im Grunde niemals ganz verschwunden gewesen. Die Grundideen der im Süden beheimateten 10 Robert John, op. cit., S. 111. Vgl. auch Arthur Schult, op. cit., S. 18 11 Karl August Ott, op. cit., S. 63 12 Robert John, op. cit., S. 54 13 Der Rosenroman Katharer gingen auch auf die gleichfalls romfeindliche manichäische Gnosis zurück. Beim klassisch gebildeten Jean de Meung treten dafür als Zeichen der beginnenden Renaissance die antiken Götter mehr in den Vordergrund. Freilich hat Venus im ersten Teil durch Vermittlung des ersten Kusses des Jünglings für die eroberte Rose eine sehr hohe symbolische Stellung. Es fällt ihr die Vermittlung des berühmten Kusses zu, den die Rosenknospe dem Jüngling gibt. Der „ Kuß der Gräfin von Toulouse “ war das Codewort für den Empfang des „ Consolamentums “ , der Einweihung als Mitglied der katharischen Kirche. Das symbolische Codewort war bereits so bekannt, daß es nicht mehr benützt werden konnte, sondern die Rosenknospe als Verschlüsselung zu dienen hatte. Bei dem Fanatismus der Katharer-Verfolgung war das wohl angezeigt. Bei Jean de Meung spielt Venus eine viel größere und wichtigere Rolle und hat daher hier sogar ihren großen Auftritt. Die Wichtigkeit Amors ist schon aus dem bisher Gesagten hervorgegangen. Auch Jupiter wird einmal ehrenvoll als oberster Gott erwähnt. Mit dem Aufflammen der Liebe des Jünglings, symbolisiert durch die Pfeilschüsse Amors, begann seine eigentliche innere Entwicklung, denn nun hat er die Stufe eines Novizen erreicht. Vorher schon war er auf „ Freundlichen Empfang “ gestoßen, der ihn ermutigt hatte, die Hecke zu durchschreiten und die Rosen zu besuchen. Aber auch negative Kräfte wurden sichtbar und die „ Wächter der Rose “ wollten den direkten Weg zur Gottesliebe verstellen. Zweifellos mehr Mächte des Fundamentalismus und der Inquisition sind „ Widerstand “ , „ Böser Mund “ , „ Angst “ und „ Scham “ , die ihn vertreiben. „ Vernunft “ steigt von ihrem Turm herab, um den Jüngling zu überreden, alle Liebe bleiben zu lassen. „ Keuschheit “ , „ Edelmut “ und „ Mitleid “ bringen ihn zu „ Freundlichem Empfang “ zurück. Durch Überredung der Venus gibt ihm die geliebte „ Rosenknospe “ einen süßen und lieblichen Kuß. „ Böser Mund “ jedoch weckt „ Frau Argwohn “ . Diese läuft sofort los und droht dem „ Schönem Empfang “ , ihn einmauern zu lassen. Sie läßt rings um den schönen Garten einen tiefen Graben ziehen und gleich dahinter eine hohe Mauer mit Zinnen. In der Mitte des Ganzen wird ein großer Turm errichtet, in dem „ Schöner Empfang “ gefangen sitzt. Mit der Angst des Jünglings die bösen Mächte könnten „ Schönen Empfang “ auf ihre Seite ziehen, schließt der erste Teil des Romans von Guillaume de Lorris. Im Folgenden mehr als vier Mal so langen Teil von Jean de Meung stellt die Fabel des Romans mit dem Gang der Handlung nur ein ganz dünnes, wenngleich tragendes Gerüst dar. Dieses wird durch einen riesigen Reichtum von enzyklopädischen Betrachtungen und Erzählungen bereichert und zu erklären versucht. Die Handlung berichtet Kampf und Eroberung des Rosenschlosses durch AMOR mit einem ganzen Heer. Seine Bundesgenossen sind alle die positiven personifizierten allegorischen Figuren, welche die Gotteserkenntnis und Gottes- 14 Der Rosenroman liebe fördern, seine Gegner sind die negativen Kräfte, die Fundamentalismus und Inquisition versinnbildlichen. Dabei sind zweierlei von negativen Kräften zu unterscheiden: erstens jene zweiten fünf Pfeile, die AMOR aus seinem Bogen verschossen hat und die alle zusammen im Grund ein läuterndes Leid und damit zuletzt doch wieder eine positive Wirkung haben und zweitens jene echt negativen Kräfte, vor allem personifizierte Allegorien, die dem Versuch, die Rose zu erringen, entgegen treten. Der Jüngling findet heraus, daß der „ Echte Freund “ eher recht hat als „ Vernunft “ trotz ihrer bestrickenden Argumente. Er läßt sich von ihr nicht von seinem Vorhaben abhalten, die Rose zu erobern, was den innerlichen Durchbruch zum katharischen Perfectus symbolisiert. Ein scheinbarer Widerspruch zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Romans besteht darin, daß Guillaume im ersten Teil positive Wahrheiten und esoterische Weisheiten in positiver Form verkündet, während Jean im zweiten Teil sich vor Anklagen absichert, indem er seine Wahrheiten beispielsweise „ Falschem Schein “ in den Mund legt. Im Fall einer Anklage konnte er immer sagen: „ Ich meine ja das Gegenteil des Gesagten. Das spricht doch ‚ Falscher Schein ‘“ aus, um es völlig klar zu machen. Mitunter spricht er allerdings auch drastische satirische Wahrheiten aus, die den Roman beliebt machten. So verkündet „ Falscher Schein “ einmal, daß „ Betrug “ der Kaiser der ganzen Welt ist, oder aber: „ Wie sehr es dem Heiligen Geist mißfallen möge, die Familie des „ Scheins “ herrscht in jedem Königreich. “ Einmal hat er allerdings seine Methode auch offen enthüllt: Solange Petrus die Herrschaft inne hat, Kann Johannes seine Macht nicht zeigen. (Vers 11856 - 11857) Die Inquisition war römisch und ging vom Stuhl Petri aus, die Gnosis der Katharer wie der Templer war johanneisch. Er prophezeit den Endsieg der Partei Petri, durch den das Gesetz zerstört werden wird, das als jenes des Johannes verstanden wurde. Als im ersten Teil der Jüngling die wirklich schönste Rosenknospe gewählt hatte, sendete Gott Amor seine Pfeile und es begann der bewußte Weg des Suchenden zur Erleuchtung der „ Reinen “ und der „ wahren Christen “ , wie die johanneischen Katharer sich nannten. Nachdem er aber durch den Kuß der Rosenknospe die Geisttaufe erhalten hatte - sie geschah dadurch, daß der katharische Priester ihm das Johannes-Evangelium auf den Kopf legte - , begann der letzte innere Kampf und Aufstieg zum Perfectus, der symbolisch durch das Pflücken der Rosenknospe versinnbildlicht werden wird. Alles geschah in der „ Geheimsprache der Liebe “ , wie Robert John es genannt hatte. Aber Jean de Meung stellt grundsätzlich den geistesgeschichtlichen Hintergrund in den Vordergrund und kümmert sich zunächst wenig um den 15 Der Rosenroman ursprünglichen Kern des Romans, des Jünglings inneren Entwicklungsweg. Aber die gnostische Grundeinstellung der Geistigkeit des Romans ist gleich geblieben. Für dieses Gleichbleiben in den umfangreichen, enzyklopädischen Ausführungen Jean de Meungs (Vers 4059 - 19471) seien hier einige Beispiele aus des „ Schönen Scheins “ Predigt an die Ritter des Heeres angeführt (Vers 11006 ff.), bei welcher Gott Amor eine Art Vorsitz führt und das Ganze durch seine Einwürfe und Widersprüche sehr verlebendigt. Da „ Schöner Schein “ in eine fromme Mönchskutte gekleidet ist, aber gerade „ gebeichtet “ hat, „ er diene ungetreu “ , wirft Amor ein: „ Wie Dein Gewand anzeigt, scheinst du ein heiliger Eremit zu sein. “ „ Schöner Schein “ erklärt, daß er ein Heuchler ist. Auf Amors Vorhaltung, er predige dauernd die Abstinenz, gibt er zu: Sehr wohl, doch fülle ich meinen Wanst mit sehr guten Bissen und Weinen ganz wie es sich für einen Theologen gehört. Der „ Theologe “ hier hat den Doppelsinn, daß die kirchlichen Leser es richtig finden, die Eingeweihten aber sich an der Beschuldigung freuen. „ Schöner Schein “ tröstet lieber reiche Wucherer, bei denen sich etwas holen läßt, als Arme, bei denen er ihre Ehrfurcht vor seiner Kutte benützt, um sie fern zu halten. Als „ Schöner Schein “ gegen die Bettelei predigt, die er als anderes Extrem gegen allzu großen Reichtum ablehnt, zitiert er plötzlich die Sprüche Salomos. Als positive Beispiele erwähnt er die Hospitaler und die Templer, die damals noch Schulter an Schulter im Heiligen Land kämpften und von denen die letzteren Gnostiker waren wie die Katharer, denen sie manchmal Land für ihre Gräber zur Verfügung stellten, wo sie von der Inquisition nicht geöffnet werden durften, um die Gebeine der toten Ketzer zu verbrennen. Der gebildete Jean de Meung legt „ Schönem Schein “ eine Lobpreisung von Guillaume de St. Amour in den Mund, der ein Professor an der Sorbonne und ein Fels gegen die aufsteigende Flut der Bettelorden gewesen war, bis er auf Befehl der Kurie aus Frankreich verbannt wurde. „ Schöner Schein “ versichert auch, daß er zu den Dienern des „ Antichrist “ , das ist der Teufel, gehört und dabei einer von jenen „ Schächern “ ist, die „ das Gewand der Heiligkeit tragen “ und die außen ein sanftes Lamm und innen ein reißender Wolf sind. Der ganzen Welt hätten diese Diener des Antichrist den Krieg erklärt. Wenn es „ ein Schloß oder eine Stadt gibt, wo Ketzer leben, aber auch andere Sünder, da werden sie von ihnen angezeigt, weil sie vorgeben, ihnen vorschreiben zu müssen wie sie zu leben hätten. Diese werden dann an einem Strick zum Verbrennen geführt, „ so daß man sie wohl eine große Meile weit heulen hört “ . „ Schöner Schein “ lobt auch die „ gute Hut der Universität “ - er meint die Sorbonne, der damals die Inquisition anvertraut war - , die den Schlüssel der 16 Der Rosenroman Christenheit bewahrt. Kirchlichen wie eingeweihten Lesern war klar, was das bedeutete, auch wenn ihre Empfindungen darüber sehr verschieden waren. Er nennt auch das „ Ewige Evangelium “ des Geistes ein Werk des Teufels. 13 Eine gewisse Wende im Roman setzt da ein, wo „ Natur “ dem Gott „ Genius “ , der für den jeweiligen Geist steht, der an einem Ort, in einer Region oder noch größerem Gebiet herrscht, zuständig ist, einen Auftrag gibt. Obwohl „ Natur “ die Beichte ablegt und er sie anhört, ist sie es, die ihm darauf die Anordnung gibt, eine Nachricht von ihr in Briefform an das Heer zu bringen, das sich schon im ersten Teil des Romans vor der Rosenburg mit ihrem Turm versammelt hatte, um den gefangenen „ Schönen Empfang “ zu befreien. Diese sehr lange Predigt bringt eine Wendung der Werte, denn die vom Jüngling im ersten Teil gefundene Paradiesquelle wird zur Giftquelle und sowohl Venus als auch Amor werden verglichen mit den vorher erhaltenen positiven plötzlich negativen Bedeutungen. Das hängt innerhalb der Fabel des Romans damit zusammen, daß sich der „ Genius “ des Landes geändert hat. Es wird zumeist ausgelegt als negative utopische Vision durch eine apokalyptische Warnung. Es könnte aber auch die historische Darstellung der „ Änderung “ des Genius des Gebietes sein, da zwischen der Abfassung des ersten und jener des zweiten Teils historisch der Friede von Lorris fiel, in dem nicht nur der Süden Städte an Ludwig den „ Heiligen “ von Frankreich abzutreten hatte, sondern indem sich auch Graf Raimond VII. von Toulouse verpflichtete, in seinem eigenen Gebiet die katharischen Ketzer zu verfolgen und zu vernichten. Obwohl ganz am Schluß des Romans wieder der Kern der innerlichen Suchwanderung in den Vordergrund tritt, die erfolgreiche zu Ende geführt wird, läßt dieser Schluß beide Möglichkeiten offen. Wenn es sich um eine Darstellung des historischen Wandels handelt, was natürlich unmöglich offen gesagt werden konnte, dann bedeutete es in aller Stille, daß die Häresie weiter lebte, was vielleicht mit ein Grund für den Jahrhunderte langen Erfolg des Romans sein kann. Wenn es eine abschreckende, apokalyptische Vision war, dann war es ein tapferes Festhalten an der spirituellen Wahrheit, um die es ging. „ Natur “ sendet „ Genius “ zum Heer, welches den Angriff auf die Rosenburg mit dem Turm vorbereitet. „ Genius “ ist der Herr des jeweiligen Ortes, dessen Geist er bestimmt. Der „ Ort “ kann aber auch eine ganze Region, ein Land und mehr sein. Als „ Genius “ beim Heer ankommt, bekleidet ihn der umfunktionierte Amor der apokalyptischen Vision mit einem neuen Meßgewand, gibt ihm einen 13 Der kalabrische Abt Joachim von Fiore hatte ein „ Drittes Weltalter “ prophezeit, das um 1260 beginnen sollte. Dann sollte an Stelle des wörtlichen Evangelium Christi ein Ewiges Evangelium des Heiligen Geistes treten. Die Ideen Joachims haben den Templergnostiker Dante besonders im Hinblick auf seinen Wunschtraum nach einer „ Geistkirche “ beeinflußt. Joachim wurde auch wegen Häresie angeklagt, aber durch seinen großartigen Verteidiger wurde er so gut wie frei gesprochen. 17 Der Rosenroman Ring samt Krummstab und Mitra, und „ Venus “ , „ die nicht aufhört zu lachen “ , drückt ihm noch eine brennende Kerze in die Hand, die „ nicht aus jungfräulichem Wachs “ gemacht war. Die antiken römischen Götter helfen wesentlich mit, den römischen Papst zu küren. Nicht das Papsttum beherrscht das Land, sondern durch „ Genius “ , den Herrn des Landes wird das Papsttum inthronisiert. Die große Rede, die Genius nun an das Heer hält, indem er sie von einem Brief der „ Natur “ abliest, ist ganz von dieser Geistigkeit bestimmt. Er hat die Rolle vom „ Falschen Schein “ übernommen, er verkündet, was die „ Natur “ , welche auch die Menschennatur beherrscht, entschieden hat und was die wahre Macht der materiellen Welt beherrscht, die ja das Gegenteil des Geistigen ist, um das es gehen sollte. „ Genius “ , der von „ Natur “ beauftragt war, den „ edlen Liebenden “ 14 Hilfe zu bringen, denen es um innere, gnostische Entwicklung ging, spricht in seiner großen Rede von ganz anderem. Er nennt den Bericht des Jünglings Trug und falsches Gewäsch. Daß er dabei nur die Rolle von „ Falschem Schein “ fortsetzt, ergibt sich aus vielen Tausenden von Versen, den ganzen langen Erklärungen zwischen Vers 4059 und Vers 19505, dem Beginn des zweiten Teils und dem Beginn der Rede von „ Genius “ , dem aber jetzt die Rolle des römischen Papstes zugefallen ist. Er setzt den Worten des Jünglings über die schöne Quelle, die er im Paradiesgarten gefunden hat und die eine Giftquelle sei, eine andere, seine eigene Quelle entgegen. Auch der viereckige Garten des Jünglings sei ein Betrug und sei nichts, gegen den großen, runden Park, den er dagegen anpreise. In diesem aber befinde sich eine andere Quelle, die aus sich selbst hervorquillt und die kranke Tiere heilt. Im weiteren Verlauf wird der „ Ständische Adel “ „ Bruder des Zufalls “ genannt und „ Natur “ erklärt, sie schätze vor allem „ natürlichen Edelsinn “ , den sie allen gewährt habe. Nachdem „ Genius “ die Verlesung der Predigt von der Beichte der Natur beendet hat, wirft sie die Kerze auf den Boden, deren verrauchte Flamme in der ganzen Welt angezündet werden wird. Alle lebenden Frauen in der ganzen Welt werden durch die symbolische Begierde ihrer Körper und ihren Geist mit dem Geruch dieser Flamme „ beweihräuchert “ haben. Daraufhin stößt Venus Drohungen aus, daß sie den Turm und seine Verteidiger zerstören werde. Nachher aber wird sie alle Zugänge so erweitern, „ daß alle dort ohne Verzug Rosen und Knospen pflücken werden, Kleriker und Laien, Ordensleute “ und Weltliche. 14 Die „ edlen Liebenden “ sind eine Variation der „ edlen Herzen “ . Die Wendung „ edle Herzen “ war in der Templergnosis wie bei den Katharern ein Hauptmerkmal ihrer Lehre. Dante führte seine Kenntnis auf Guido Guinicelli zurück, der sie aber auch nicht selbst geprägt, sondern von Bernhard von Clairvaux, dem wirklichen „ Vater “ des Templerordens übernommen hatte. Sie findet sich auch als Kernstück in Gottfrieds Epos Tristan und Isolde. 18 Der Rosenroman Vom Gesamtsinn des Romans her ist das eine Art Wechsel, denn es geht um jene eine Knospe, die der Jüngling so lange angestrebt hat. Die Freizügigkeit für alle ist die Belohnung für die Annahme des amtskirchlichen Dogmenballasts um der Macht und des Geldes willen. Venus verdeutlicht das auch durch die Erklärung: „ daß gewisse böse Menschen, die Gott und der heilige Peter in Rom vernichten möge, sie und ‚ ihre Art ‘ von den Rosen abhalten wollten, um Schlimmeres zu tun. “ Die führende Rolle, die hier Venus zugewiesen wird, ebenso wie die Diesseitsbejahung und Diesseitsfreude der Frauen hat zu Jan Huizingas Erklärung geführt, daß man den Roman als „ einen Schritt zur Renaissance “ betrachten könne. 15 Dies wiederum ist bedeutsam für seine Zugehörigkeit zur Traditionskette. Das alles gehört zur Rückkehr zum eigentlichen Kern des Romans, dem inneren Entwicklungsweg des träumenden Jünglings. Er hat ja gesiegt, denn seine Feinde sind beseitigt. Frau „ Argwohn “ braucht nicht mehr gefürchtet zu werden. „ Höflichkeit “ beglückwünscht im Turm ihren Sohn „ Freundlichen Empfang “ zu seiner Befreiung und hofft auf ein schönes gemeinsames Leben mit ihm. Sie hat allerdings noch eine Bitte, der sich auch „ Mitleid “ und „ Edelmut “ angeschlossen hätten, nämlich unserem Jüngling, diesem getreu Liebenden, der „ Edelmütige niemals betrog, “ zu gewähren, daß er seine Rosenknospe erhalten möge. Auch Amor sei darum bemüht, der doch „ alle Wesen bezwingt. “ Sogar Vergils Bucolica beschwört sie, wegen seiner Wichtigkeit als Zeuge der Macht Amors, doch ist es sehr wahrscheinlich, daß sie die Bienen des Aristäus, das Wiedergeburtssymbol der Bucolica auch kennt. Gerne gewährt ihr „ Schöner Empfang “ ihre Bitte. „ Er kann sie pflücken, während wir hier nur zu zweit sind. “ Die offene katharische Religionsausübung mag vernichtet sein. Im Kleinen funktioniert sie noch immer. Sie ist denn auch für den Jüngling möglich. „ Schöner Empfang “ sieht, daß er - in der Geheimsprache der Liebe - „ ohne Falschheit liebt “ und dadurch würdig ist, den Weg zu vollenden. Die allmächtige „ Natur “ , die im Großen bewirkt hatte, daß Gott „ Genius “ im Land die Römische Kirche etabliert, hat auch im Kleinen den Jüngling mit einer wichtigen, symbolische Rüstung ausgestattet, die ich nicht zu entschlüsseln vermag: einem glatten, sehr festen Sack, in den zwei kleine Hämmerchen von der „ Natur “ selbst eingeschmiedet sind. Außerdem gab sie ihm als Geschenk für den langen innerlichen Weg einen Pilgerstab für die Wanderung. Es war ein gleichfalls schicksalhaft wichtiges Geschenk, das er bereits erhalten hatte, „ bevor er in die Schule ging “ , also wohl von Geburt an, von vornherein dazu bestimmt, daß er den Pilgerweg gehen und vollenden würde. 15 Herbst des Mittelalters, op. cit., S. 162 19 Der Rosenroman Der Jüngling drang durch die Schießscharte in den Turm ein und danach pflückte er mit der Unterstützung durch „ Schöner Empfang “ die Rose völlig richtig, ohne Gewalt anzuwenden. Da ihm Venus und Amor mehr geholfen hatten als jeder andere, dankte er ihnen zuerst vielmals, dankte aber auch allen Rittern des Heeres. „ So gewann ich die rote Rose. Dann wurde es Tag und ich erwachte. “ Der burgundische Hofhistoriograph und spätere Bibliothekar Jean Molinet hat Guillaume mit Moses und Jean mit (dem Evangelisten) Johannes verglichen 16 , also den Mythenschöpfer und den mystisch-esoterisch Reflektierenden. Moses hatte direkte Zwiesprache mit Gott selbst gehalten, Johannes hatte alles vom Sohn, also gleichsam aus zweiter Hand. Wenn die ältere Forschung Recht hat, dann bestand ein ganz ungewöhnlich großer Teil der Verse des Rosenromans nur aus Zitaten. Nicht weniger als fünftausend Verse sollen von Alanus ab Insulis stammen, dreitausend von Boethius, zweitausend von Ovid und über tausend von Guillaume de Saint- Amour. 17 Das würde bedeuten, daß jeder zweite Vers ein Zitat darstellt. Infolge der großen Wichtigkeit des Alanus für Jean de Meung sei hier etwas auf ihn eingegangen. Eine anekdotenartige Legende über ihn erzählt, er wäre in Paris am Seine- Ufer entlang gegangen und hätte dabei über das Geheimnis der Trinität nachgedacht, über das er am nächsten Tag sprechen sollte. Da erblickte er ein Kind, das mit einem kleinen Löffel Wasser aus der Seine in ein kleines Loch schöpfte. Als Alanus das Kind nach dem Grund dieser Arbeit fragte, antwortete es: „ Ich möchte in dieses Loch das Wasser des ganzen Flusses schöpfen. “ Als Alanus erklärte, das sei unmöglich, erwiderte das Kind, es sei jedenfalls leichter, als das Geheimnis der Trinität zu erklären. Am nächsten Tag bestieg Alanus seine Lehrkanzel und sagte nur einen Satz: „ Es möge euch genügen, Alanus gesehen zu haben. “ Zu Hause zerriß er sein Gewand und ging nach Cîteaux. Nachdem Alanus einige Zeit im Alter außerhalb aller Klostermauern in Montpellier gelebt hatte, war er für den Rest seines Lebens in das Zisterzienserkloster Cîteaux gegangen, wo er auch starb. Der dritte Abt des Klosters war Stephan Harding gewesen, ein Zeitgenosse und enger Mitkämpfer des Bernhard von Clairvaux, der wie dieser jüdische Gelehrte aus den kabbalistischen Schulen von Rouen und Troyes an sein Kloster holte, um Schriftrollen aus dem Hebräischen zu übersetzen. Das Endergebnis war die Gründung des Templerordens und der häretischen Templergnosis, die viele Gemeinsamkeiten mit den Katharern aufwies. Harding hat nicht nur wie Bernhard kabbalistische jüdische Gelehrte auf der Suche nach dem Urchristentum an sein Kloster gezogen, sondern hat auch einige 16 Karl August Ott, op. cit., S. 11 17 Ernest Langlois: Origines et sources du Roman de la Rose. Paris 1891 20 Der Rosenroman Mönche seines Klosters aus ihrer kontemplativen Ruhe aufgestört und sie hebräisch studieren lassen. Auf Grund dieser Studien hatte er auch eine eigene Revision der Bibel vorgenommen. Da er heilig gesprochen wurde, gab es keinen offiziellen kirchlichen Widerstand dagegen. 18 Harding war rund sechzig Jahre bereits tot, als Alanus im Kloster eintraf, aber die geistige Tradition war noch sehr lebendig, denn die Templer hatten gerade ihre ersten großen Erfolge gehabt. Das Hauptwerk des Alanus ist der Anticlaudianus 19 , eine Abhandlung über Moral in allegorischer Form wie der Rosenroman. Das Anliegen dieses Werks war zugleich eines der ersten Anliegen des Rosenromans wie der Katharer, nämlich die Stärkung und Verbesserung der Moral. Im Werk In Rufinum des spätantiken Dichters Claudianus kommen nämlich alle Laster der Welt zusammen, um das entsetzlichste Ungeheuer der Welt zu erschaffen, das alle Laster einschließt. Der Anticlaudianus des Alanus stellt das Gegenteil dar: Hier treffen alle Tugenden der Welt zusammen, um das System einer universalen Moral zu begründen. Was das theologische Werk des Alanus betrifft, so nahm er an der mystischen Reaktion in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gegen die Scholastik teil, auch wenn es aristotelische Züge einschließt. Vor allem aber enthalten das erste und das dritte seiner umfangreichen theologischen Grundlagenbücher eine Unmenge an Informationen. Dazu kamen noch etliche andere, wie etwa De Miseria Mundi; De Virtutibus, De Vitis, de Donis Spiritus Sancti; Liber Parabolarum und Expositio Prosae de Angelis, sodaß sein Werk für Jean de Meung eine Fundgrube für seine enzyklopädischen Auslassungen waren. Das zweite der drei Grundsatzbücher ist allerdings schon vom Titel her spezifisch katholisch und enthält auch Angriffe auf die Katharer. Das war allerdings der relativ frühe Alanus gewesen. Der reife und späte Alanus von Montpellier und Cîteaux dachte anders. Der Süden Frankreichs hatte solchen Einfluß auf ihn gewonnen, daß er begann, sich Alanus de Montepessulano zu nennen. Das waren ja auch die Jahre außerhalb der Klostermauern gewesen. Rudolf Steiner hat zudem Alanus auch mit den Hybernischen Mysterien Irlands in Zusammenhang gebracht, die von einer bestimmten Perspektive die alten Weisheitslehren der atlantischen Bevölkerung am besten bewahrt haben. 20 Der nächste Geistesvertreter, der ungewöhnlichen Einfluß auf Jean de Meung ausgeübt hat, war Boethius. Vor allem seine Tröstung der Philosophie war eines der populärsten und einflußreichsten Werke des Mittelalters überhaupt. Es gab freilich sowohl klassische wie mittelalterliche Historiker, die Schwierigkeiten mit einer Persönlichkeit hatten, die gleichzeitig Vertreter der antiken Stoa, wahrer 18 Michael Ernst: Der hl. Abt Stephan Harding von Cîteaux und seine Bibel im Kontext der Vulgata-Texte und Vulgata-Revisionen bis zum 13. Jahrhundert. In: Aktuelle Wege der Cisterzienserforschung. Hg. von Volker Schachermayr, HeiIigenkreuz 2008, S. 55 - 87 19 Alanus ab Insulis: Der Anticlaudian oder die Bücher von der himmlischen Erschaffung des Neuen Menschen. Übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Rath, Stuttgart 1966 und 1983 20 Rudolf Steiner: Gesamtausgabe der Werke. Bd. 232(1998) und 233(1991), Dornach 21 Der Rosenroman Christ und begeisterter Hellenist war. Was im Rosenroman so wirksam war, waren alle drei dieser Elemente. Ovid war einer der klassischen Dichter, die weit ins Mittelalter hinein und natürlich auch darüber hinaus gewirkt hatten. Er hat auch in Dantes großem Werk zahlreiche Spuren hinterlassen. Bei Guillaume de Saint-Amour ging es - wie bereits gesagt - vor allem um seine Gegnerschaft gegen die Bettelmönche. Die großen Abhängigkeiten von anderen Autoren hat das Mittelalter anders gesehen als unsere Zeit. Es wurde immer wieder ein alter Stoff oder ein wohl bekanntes Thema behandelt und nur in der besonderen Art seiner Aufarbeitung und Gestaltung erwies sich die wirkliche Kunst des Dichters. Diese Gestaltungart ist eben auch im Fall des Rosenromans sehr groß. Der Rosenroman selbst hat natürlich auch selbst unglaublich weiter gewirkt. Weltliterarisch gesehen sind die wichtigsten Autoren, die er beeinfluß hat, Dante und Chaucer. Auf eine verkürzte Übersetzung des ganzen Romans in italienischen Terzinen durch Dante hat Robert John aufmerksam gemacht, 21 den Chaucer-Einfluß hat D. W. Robertson jr. ausführlich behandelt. 22 Aber auch in Frankreich und Burgund selbst hat er große Wirksamkeit entfaltet. Vom 13. bis zum 16. Jahrhundert hat es fast dreihundert Handschriften gegeben. Sein Übersetzer Karl August Ott hat zum Vergleich angeführt, daß wir vom Parceval-Roman des Chrétien de Troyes im selben Zeitraum nur dreizehn Handschriften und drei Fragmente besitzen. Aber mehr noch: seit dem ersten erhaltenen Druck des Rosenromans bis 1530 existieren nicht weniger als achtundreißig verschiedene Editionen und Nachdrucke. 23 Der Rosenroman weist ja auch in vielem auf Dante voraus. Dante hat freilich seine eigene, besondere dichterische Form der Templergnosis geprägt und zudem ein sehr viel strenger durch geformtes und noch sehr viel großartigeres Kunstwerk der Weltliteratur geschaffen. Sein Epos stellt den Gipfel der italienischen Literatur überhaupt dar und ist eine der ganz großen Dichtungen der Weltliteratur. Des Jünglings Traumweg im Rosenroman vom Beginn bis zum Ende ist eigentlich ein Weg ins Paradies. Schon vor dem Rosenroman hat Raoul de Houdenc einen Voie de paradis geschrieben und für Dantes großes Epos könnte man kaum einen treffenderen Titel finden. Der große Dantekenner Robert John hat das Werk ja auch als eine „ Glükseligkeitslehre “ bezeichnet. 21 Robert John, op. cit., S. 13 22 D. W. Roberts jr.: A Preface to Chaucer. Studies in Medieval Perspectives. Princeton 1962, S. 61 - 104 und 196 - 207 23 Karl August Ott, op. cit., S. 7 22 Der Rosenroman DANTE Von Dantes Leben wissen wir ebenso viel, wie wir von dem Jean de Meungs Leben wenig wissen. Wir wissen, daß er im Mai 1265 in Florenz als Sohn der angesehenen Familie Alighieri geboren wurde, und daß er bereits in früher Jugend eine erste Initiation in die „ Fideli d ’ Amore “ erfahren hatte, bei welcher wahrscheinlich der allmächtige Staatssekretär der Stadtrepublik Florenz Brunetto Latini seine Hand im Spiel gehabt hatte. Dante hat eine theologische und im Anschluß daran philosophische Ausbildung erhalten, wobei die letztere höchst wahrscheinlich durch Siger von Brabant, den „ Voltaire des 13. Jahrhunderts “ erfolgt war. Er war in die Zunft der Ärzte und Apotheker aufgenommen worden und hatte bereits mit dreißig Jahren die höchste politische Stellung erklommen, welche die freie Stadtrepublik zu vergeben hatte: Er war zu einem der sechs Prioren gewählt worden, welche die Republik leiteten. „ Die Sorge um die Familie zog Dante in die für den Staat hinein “ , schrieb sein erster Biograph Giovanni Boccaccio, „ wo ihn dermaßen die eitlen Ehren umstrickten, die mit den öffentlichen Ämtern verbunden sind, daß er, ohne zu sehen, woher er aufgebrochen war und wohin er ging, die Zügel schießen ließ und sich ganz der Verwaltung hingab. “ 1 In Florenz war das politische Leben, wie in ganz Italien von der Gegnerschaft zwischen Guelfen und Ghibellinen beherrscht und die Guelfen waren in Florenz wieder in zwei Teile, die „ Weißen “ und die „ Schwarzen “ gespalten. Diese beiden standen einander in erbitterter Feindschaft gegenüber. Am 1. Mai des Jahres 1300 brach ein offener, blutiger Kampf zwischen ihnen aus. Um Frieden zu stiften, beschlossen die sechs Prioren und Dante als einer von ihnen, die Rädelsführer und Scharfmacher auf beiden Seiten in die Verbannung zu schicken. Der Führer der „ Schwarzen “ , Corso Donati, erreichte jedoch durch Papst Bonifaz VIII., daß Karl von Valois eine Armee schickte, um die Stadt zu „ befreien “ . Bonifaz hatte in seiner Eigenschaft als Herrscher des Kirchenstaats schon lange darauf gewartet, in der Toskana Einfluß zu erlangen. Die Stadt wurde nun von ausländischen Truppen besetzt, und alle Macht den „ Schwarzen “ ausgeliefert. Diese veränderten daraufhin die demokratische Stadtverfassung und verurteilten die Führer der „ Weißen “ , und unter ihnen Dante, zu „ ewiger Verbannung “ . Bis dahin war Dantes Leben besonders glücklich gewesen, das von der frühen Kindheit bis zur Wahl als Prior reichte, von da an aber 1 Giovanni Boccaccio: Das Leben Dantes. Frankfurt 1965, S. 24 unglücklich, da er bis an sein Lebensende das harte Schicksal der Verarmung und Verfolgung im Exil auf sich zu nehmen hatte. Der größten Katastrophe in Dantes äußerlichem Leben stand allerdings eine große Bereicherung seines innerlichen Leben gegenüber: Seine Initiation in eine Laienbruderschaft des Ordens der Tempelritter. Aus dieser heraus entstand das gewaltige Werk seiner Göttlichen Komödie. 2 Während sich nach dem lokal beschränkten Unheil in Florenz das Unheil durch die wenige Jahre später einsetzende Verfolgung und Vernichtung des Templerordens auf ganz Europa ausweitete, bedeutete das auch eine Unglücksausweitung des eingeweihten Templers Dante. Was ihm half zu überleben und an seinem großen Werk zu arbeiten, war sein Ruhm als großer Dichter, der sich in Italien schnell verbreitete und dem er den Schutz durch mächtige absolute Regionalfürsten verdankte. Auf diese Weise stellte er auf der dichterischen Ebene sein Werk der dogmatischen Beschränktheit und dem Verbrechen als ein Gegendokument geistiger Ordnung auf weltlichem wie geistlichem Gebiet gegenüber, das im Unterschied zum politischen Chaos der Zeit nicht nur noch immer lebt, sondern in dem manche eine „ Weltmission “ dieser Dichtung erblicken. 3 Seit 1135 hatte es Laienbruderschaften des Templerordens gegeben, denen durch Reichtum und Herkunft ausgezeichnete, aber auch durch Intelligenz ausgezeichnete Laien angehörten. Schon aus dem Wortlaut seines großen Werks geht hervor, daß Dante vor seiner Verbannung in eine solche Laienbruderschaft eingeweiht worden war. Eine der wichtigsten Dokumentationen seiner Zugehörigkeit stellt eine Medaille dar, die ausgerechnet im Museum der Stadt Vienne erhalten geblieben ist, jener Stadt, in welcher das Konzil stattgefunden hat, das einberufen wurde, um den Templerorden zu verurteilen und zu vernichten. Die Medaille zeigt auf der einen Seite den Kopf Dantes und trägt auf der Rückseite die Inschrift: F. S. K. I.P. E. T. Die bekanntesten Auslegungsversuche stammen von Eugène Aroux und von dem berühmten französischen Religionsphilosophen René Guénon. 4 Übereinstimmung der beiden besteht bei den Worten „ Bruder Templer “ und „ Kadosch “ . Endgültig und in ihrem gesamten Umfang die Göttliche Komödie als Ausdruck der Templer nachgewiesen zu haben, ist das Verdienst von Robert John. 5 Dante weilte zur Zeit seiner Verurteilung nicht in Florenz. Er wurde nicht nur zum Verlust seines Vermögens, sondern auch zum Tod verurteilt. Da er nicht 2 Allen deutschen Zitaten aus der Göttlichen Komödie liegt die zweite, verbesserte Übersetzung von Richard Zoozmann, Freiburg 1921 und später zugrunde. In Ausnahmefällen ist es die Übersetzung Hermann A. Prietzes, Heidelberg 1952. 3 Willem Frederik Veltman: Dantes Weltmission. Stuttgart 1979 4 Eugène Aroux: Dante, herétique, révolutionaire et socialiste. Paris 1854 und Réné Guénon: L ’ Esoterisme de Dante. Paris 1939 5 Robert John: Dante. Wien 1946 24 Dante greifbar war, wurde er zu „ ewiger Verbannung “ verurteilt. Er fand zunächst Zuflucht und Schutz beim Markgrafen Moruello Malaspina in der Lunigiana. Nach dem Jahr 1300, dem Jahr seines Aufstiegs zum Prior und dem Jahr seiner Verbannung, sollte 1307 ein Schicksalsjahr für ihn werden. Er war gerade in diesem Jahr in Paris, in dem der Prozeß gegen die Templer begann. Vielleicht hat das Mitglied der Zunft der Ärzte und Apotheker die berühmte medizinische Fakultät von Montpellier selbst besucht, wo es auch eine Templerpräzeptur gegeben hatte. Doch das ist reine Spekulation. Tatsache ist, daß im Archiv dieser medizinischen Fakultät 1881 durch Ferdinand Casets eine interessante Handschrift mit dem Titel Il Fiore aufgefunden wurde. Es war die italienische Übersetzung einer verkürzten Form des Rosenromans in 232 Terzinen. Vor allem von den enzyklopädischen Kommentaren wurde gekürzt. Bereits Casets hat vermutet und Robert John hat es bestätigt, daß der Name „ Messer Durante “ ein Pseudonym Dantes war, der auch auf den Vornamen Durante getauft worden war und diesen als Pseudonym benutzt hatte. 6 Es gibt noch eine andere Dichtung, die immer wieder mit Il Fiore in Verbindung gebracht worden ist: Il Detto d ’ Amore. Es ist ein allegorisches Gedicht, das einzelne Allegorien des Rosenromans benützt, besonders „ Reichtum “ und „ Vernunft “ . Es gibt nicht wie Il Fiore die ganze Fabel des Rosenromans mit der Rose als letztem Ziel wieder. Sowohl „ Reichtum “ wie „ Vernunft “ blockieren die Liebe. Es wird eine lange Liste von Geboten der Liebe gegeben, die an Ovid erinnert. Ovid hat sowohl auf den Rosenroman als auch auf Dante tiefen Einfluß genommen. Das Gedicht bricht mit Vers 480 offenkundig unvollendet ab. Nicht nur weil in dieser Dichtung das gleiche Versmaß verwendet wird, wie es Guillaume de Lorris im Rosenroman verwendet hatte, wurde vielfach angenommen, daß auch Il Detto d ’ Amore von Dante stammt, was wahrscheinlich der Fall ist. Auch Brunetto Latini, der Dantes Vormund nach dem Tod seines Vaters und wesentlich für die Jugendinitiation des Dichters war, hat seinen Tesoretto in diesem Versmaß geschrieben. Dantes erster Biograph berichtet auch eine andere Tatsache aus dem Jahr 1307, die sich so positiv erweisen sollte, wie der Pariser Templerprozeß negativ besetzt war. Als jemand in Florenz, in den Kisten mit Dokumenten. die man aus dem Haus Dantes nach der Verurteilung retten hatte können, nach einer Urkunde suchte, die er benötigte, fand er ein kleines Heft mit Terzinen beschrieben. Sie waren bewundernswert schön. Er zeigte das Heft dem Florentiner Autor Dino di Lambertuccio, der die Hand Dantes erkannte. Die beiden schickten das Heft an den Markgrafen Moruello Malaspina, bei dem sich Dante aufhielt. Der Markgraf, ein Kenner und Liebhaber von Dichtung, war genau so voll Bewunderung wie die beiden Absender und zeigte das Heft Dante, der sofort sein Werk erkannte. Der Markgraf bat ihn, die Dichtung fortzusetzen. Dante 6 Robert John, op. cit., S. 13 25 Dante antwortete, daß er zwar im Lauf der Zeit die Lust zu diesem Werk vollkommen verloren habe, da er den Anfang für unwiederbringlich verloren gehalten hatte „ . . . aber dieweil mir das Schicksal das unerwartet wieder zugetrieben hat und es Euch so gefällt, werde ich suchen, mich auf meinen ersten Plan zu besinnen, und werde fortfahren, je nachdem mir die Gnade gegeben wird. “ 7 Das kleine Heft hatte die ersten sieben Gesänge der Hölle aus der Göttlichen Komödie enthalten. Der Unterschied zu den späteren Gesängen, den die sieben Jahre Pause verursacht hatten, war von der Danteforschung erkannt worden und Arthur Schult erinnerte daran, daß der sanfte, menschliche junge Dante durch die fünf Jahre Verbannung zu einem sehr viel strengeren, „ in den Schicksalsschlägen geschmiedeten Mann “ geworden war. 8 Auch der große Dantekenner Robert John, selbst Exilant, ist sicher, daß es Dantes Exilerfahrung war, die ihn zu einer so grandiosen Hochleistung getrieben hat. Freilich bezeugt bereits der erste Gesang der Hölle, in dem die Grundlegung der Traumwanderung festgelegt worden ist, die Großartigkeit des Plans. Wir wissen heute das genaue Datum, an dem Dante den Traum hatte, der ihn als Wanderer durch das gesamte Jenseits führte. Dante hat es auf den 8. April 1300, der auf einen Karfreitag fiel, und damit auf ein symbolschweres Datum, festgelegt. Am Karfreitag hatte das Martyrium Christi stattgefunden. Was das Jahr betrifft, so war der Hauptgrund dafür, daß Dante in diesem Jahr tatsächlich sein großes Werk zu schreiben begonnen hatte. In diesem Jahr hatte der Traum stattgefunden, an dem die Jenseitswanderung vollzogen wurde. Ein weiterer Grund war, daß in diesem Jahr wenige Wochen nach dem Karfreitag in Florenz der offene Bürgerkrieg ausgebrochen war. Ein dritter Grund war, daß es ein Jubeljahr der Kirche war. Dante mag das Jahr auch mit der Zeitrechnung des Joachim von Fiore in Zusammenhang gebracht haben, der ihn sehr beeinflußt hatte. Joachim hatte die eschatologische Hoffnung auf eine grundsätzliche Reform der Kirche von innen her gesetzt, darum die runde Jahreszahl. Joachim wollte die korrupte Geld-und Machtpolitik des Papsttums, die Ecclesia carnalis durch eine Geistkirche, eine Ecclesia spiritualis ersetzen. Wann immer Dante in seinem Werk den Begriff der Kirche positiv verwendete, meinte er diese erhoffte Geistkirche. Joachim hatte in seinem Werk Concordia Novi et Veteris Testamenti die Weltzeit in drei Perioden zu je 42 Generationen eingeteilt. Die erste Weltzeit war jene der Kirchenväter, der Patriarchen und Laien, die zweite war die Weltzeit des Weltklerus und die dritte war eine solche, in der ein neues, positives Mönchstum mit einem erneuerten Verständnis der Heiligen Schrift dominierte. Diese Weltzeitalter waren natürlich nicht so zu verstehen, daß sie wie abgehackt 7 Giovanni Boccaccio, op. cit., S. 66 8 Arthur Schult: Dantes Divina Commedia als Zeugnis der Tempelritter-Esoterik. Bietigheim (Württemberg), S. 134 26 Dante von einem bestimmten Jahr bis zu einem anderen reichten, sondern so, daß sie eine Entwicklung beschrieben, in der sich die Haupttendenzen chronologisch überlagerten. Nach Robert John etwa hatte sich die dritte, letzte Weltzeit bereits mit der Gründung des Zisterzienserordens angekündigt. 9 Bald nach dieser Gründung hatte der wohl größte Zisterzienser aller Zeiten, der heilige Bernhard von Clairvaux, dem es wie Joachim um ein erneuertes Verständnis der Heiligen Schrift durch Rückwendung zum Urchristentum ging, den Templerorden ins Leben gerufen, dessen Regel er verfaßt und dessen Gründung er bewerkstelligt hatte. Zwei Forscher haben auch einmal die Templer geradezu „ Zisterzienser zu Pferd “ genannt. 10 Schon Robert John hatte einmal von „ Zisterzienser-Rittern “ gesprochen. Nach Joachim sollte das dritte und letzte Weltzeitalter um 1320 anbrechen, sodaß das runde Jahr 1300 durchaus als Markstein dienen konnte. Der erste Gesang von Dantes großem Werk beginnt im Grunde mit einer Selbstbezichtigung und einem Schuldbekenntnis des Jenseitswanderers Dante, freilich in metaphorischer Verkleidung. Er hatte sich in einem „ finsteren Wald “ verirrt und der direkte Aufstieg zum „ Berg des Heils “ war ihm durch drei symbolische, wilde Tiere, besonders durch eine hungrige Wölfin, verwehrt worden. Dadurch mußte er durch die ganze Hölle, ehe er zum höchsten Punkt des Paradieses aufsteigen konnte. In seinem großen Werk gibt es zumindest eine Stelle, aus der hervorgeht, daß er Anhänger jener Überzeugung war, nach der Christus zwischen dem Tod am Kreuz und der Auferstehung in die Hölle abgestiegen war. Es hängt mit der für Dante bezeichnenden Mehrschichtigkeit und gleichsamen Bündelung von Ideen zu einem Symbol zusammen, daß es sich dabei um eine einzige große Darstellung von Wiedergeburt handelt und daß sein Führer durch die Hölle Vergil war, den er nicht nur als größten Dichter verehrt hatte, sondern der auch Eingeweihter in die eleusinischen Mysterien gewesen ist, bei denen die Einweihung durch einen symbolischen Abstieg in die Unterwelt des Hades begann, um auf einen Wiedergeburtsakt hinaus zu laufen. Die Gleichsetzung des symbolischen Hadesabstiegs Vergils mit dem dichterischen Traumabstieg Dantes in die Hölle bedeutete zugleich eine ungeheure Aufwertung der antiken Kultur mit der christlichen, wie sie im Mittelalter nur in Ausnahmefällen möglich gewesen wäre. Hier wird bereits von Anfang an ein Schritt in die beginnende Renaissancebewegung vollzogen, wie sie in der Commedia laufend vollzogen werden sollte. Mit dem Bestreben der Templergnosis nach einer Erneuerung des Urchristentums kam noch die jüdische Kabballa dazu, sodaß alle drei geistesgeschichtlichen Säulen, auf denen die moderne abendländische Kultur ruht, vereinigt waren. 9 Robert John, op. cit., S. 46 10 Alan Butler und Stephen Dafoe: The Knights Templar revealed. London 1999 27 Dante Da dem Jenseitswanderer Dante aus eigenem Verschulden der direkte Aufstieg zum Berg des Heils verwehrt ist, rettet ihn aus seiner verzweifelten Lage die Seele Vergils, der kommt, um ihm zu helfen. Vergil aber kommt nicht aus eigenem, sondern weil er von Beatrice geschickt ist. Durch sechshundert Jahre wurde angenommen, daß sie für die Seele der Florentinerin Beatrice Portinari steht, in die sich Dante, als er, wie sie noch ein Kind war, in der Sonntagsmesse verliebt hatte. Tatsächlich hat die Figur diese Beatrice mit der Göttlichen Komödie außer dem Vornamen kaum etwas zu tun. Der Name wurde gewählt, weil er sich besonders gut dazu eignete, als Codewort einer „ Sprache der Liebe “ um die direkten Symbole der Templergnosis zu verschleiern. Robert John hat die Pionierleistung vollbracht, das aufzudecken. 11 Die Verschlüsselung war wegen der Inquisition dringend notwendig gewesen. Noch wichtiger als die Zeit der Jenseitswanderung ist ihr Ort, was gleichfalls Robert John entschlüsselt hat. Dante lebte in der Zeit, in der noch das Ptolemäische Weltbild in Gültigkeit war, nach welchem die Sonne als Planet um die Erde kreiste und die Erde nicht nur als Mittelpunkt dieses Sonnensystems, sondern auch des Universums überhaupt galt. Als Mittelpunkt dieses Mittelpunkts wieder galt für Dante der „ Berg des Heils “ und das war der Moria- Hügel von Jerusalem. Der metaphorische „ finstere Wald “ aber, in dem sich am Beginn der Jenseitswanderer verirrt hatte, war das Kidron-Tal, vom dem aus der Wanderer den Gipfel des Berges erklimmen wollte. Dieser „ Wonnehügel “ , wie Dante ihn im ersten Gesang der Hölle nennt, galt allen drei monotheistischen Religionen, den einzig damals bekannten, als heilig: dem Judentum, weil hier der Tempel Salomonis als zentrales Heiligtum im gelobten Land gestanden hatte, dem Christentum, weil Jesus hier gepredigt hatte, der auch in Jerusalem gekreuzigt wurde und wieder auferstand und dem Islam, weil von einem Felsen auf diesem Berg Mohamed auf seinem weißen Pferd in den Himmel aufgefahren war. Für Dante hatte dieser Berg zudem noch die Bedeutung, daß sich auf seiner Kammlinie „ die gewaltige, nach Osten blickende äußere Stützmauer des Tempelplatzes “ befand, wo das Mutterkloster des Templerordens stand und wo die ersten neun „ Ur-Templer “ nach den Relikten des Urchristentums gegraben hatten. 12 Hier sei kurz auf die Templergnosis eingegangen. Die Gnosis war eine weitgefächerte geistige Bewegung, deren einzelne Ausformungen - wie die Templergnosis - allerdings auch grundsätzliche Gemeinsamkeiten hatten. 13 Sie 11 Robert John, op. cit., besonders S. 224 - 235 und Joseph P. Strelka: Dante und die Templergnosis, Tübingen 2012 12 Robert John, op. cit., S. 185 und 187 13 Kurze hervorragende Einführungen sind: Hans Leisegang: Die Gnosis, Stuttgart 1955 und Hans Jonas: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Frankfurt 1999 28 Dante unterschied zwischen drei Kategorien von Menschen: den Hylikern, den naiven Materialisten ohne metaphysische Fähigkeiten oder Bedürfnissen, den Psychikern, die sich zwar der Wichtigkeit des Seelischen bewußt waren, sich aber mit dem Glauben an die Dogmen fundamentalistischer Religionen begnügten und den Pneumatikern, welche die Fähigkeit zu gnostischer Erkenntnis besaßen und davon auch Gebrauch machten. Gnosis bedeutet Erkenntnis, Wissen, aber natürlich eine besondere Art von Wissen, den Mysterienkulten und der Mystik verwandt, damit durch die Fähigkeit begabt, mit den „ Augen des Seele schauen zu können “ . Alle Gnosis war dualistisch und stellte einer lichten Welt des Göttlichen eine finstere Welt der Materie gegenüber. Der Mensch allein hat an beiden Welten Anteil, da seine unsterbliche Seele dem Bereich des Göttlichen entstammt, während der vergängliche Körper dem Reich der Materie zugehört. Ziel der Gnosis ist es, durch jeweils verschiedene Methoden einer Bewußtseinserweiterung diesen Zusammenhang klar zu machen und mitunter, wenn möglich sogar schon innerhalb der Lebenszeit, der eigenen, individuellen Einzelseele das Durchstoßen des materiellen Sperrkreises zu ermöglichen und ihre direkte Verbindung mit der Welt des göttlichen Alls herzustellen. Entgegen älterer Annahmen war der Templerorden nicht dadurch entstanden, daß rein zufällig neun französische Aristokraten, die ritterlich dem Glauben dienen wollten, 1119 gemeinsam nach Jerusalem reisten, das 1099 im Ersten Kreuzzug von den Christen erobert worden war. Sie sollen geplant haben, dort die Pilger auf ihrem Weg vom Hafen nach Jerusalem und von Jerusalem nach Bethlehem zu beschützen, da es immer wieder Überfälle durch Räuber wie auch durch Sarazenen gegeben hatte. In Wahrheit reisten sie hin, um durch Grabungen auf dem Tempelberg Quellen des Urchristentums zu entdecken. Das Ganze war nicht die Idee des Führers jener neun aus einer plötzlichen Eingebung gewesen, sondern war von langer Hand vorbereitet worden und zwar durch eine der größten geistigen und religiösen Persönlichkeiten des Jahrhunderts, Bernhard von Clairvaux. Bernhard hatte bereits als Dreijähriger Marienvisionen gehabt und hatte sich zu einem der größten Mystiker christlicher Tradition entwickelt. Es war der einmalig seltene Fall, daß ein Mystiker heiliggesprochen wurde. Bernhard war aber außerdem auch ein mit allen Wassern gewaschener Kirchenpolitiker, der während seiner Lebenszeit zwei Brüder seines eigenen Ordens, jenem der Zisterzienser, zu Päpsten gemacht hatte, was ihm den Namen „ der Papstmacher “ eingetragen hatte. Diese beiden Zisterzienserpäpste waren es auch, die dem Templerorden seine vielen außerordentlichen Privilegien verschafft hatten. Eines der wichtigsten davon war, daß der Orden seine von allen kirchlichen Stellen einschließlich der Inquisition unabhängigen, eigenen Geistlichen hatte, die wie der ganze Orden nur dem Papst direkt unterstanden. Da die Tempelritter 29 Dante zwar besonders tapfere und todesverachtende Krieger, aber zu einem Großteil Analphabeten gewesen sind, war die Templergnosis durch das Privilegium der eigenen Geistlichkeit ermöglicht worden, denn ihre wichtigsten Träger waren die Geistlichen und die Intellektuellen der Laienbruderschaften. Die Ritter trugen weiße Mäntel mit dem roten Kreuz, die Geistlichen trugen grüne Mäntel. Die Templerfarben waren dadurch rot-weiß-grün. Für Bernhard von Clairvaux sehr wichtig war seine Rolle als Freund und Helfer des Judentums, was freilich auch ihm half. In einer Zeit, in welcher der Antisemitismus wieder einmal einen Höhepunkt erreicht hatte, unterstützte er zwei kabbalistische Schulen in Frankreich, eine in Rouen und eine in Troyes. Ja er zog sogar kabbalistische Gelehrte an sein Kloster und beschäftigte sie als Übersetzer. Auf diese Weise muß er heraus gefunden haben, daß die levitischen Priester am Tempel Salomos in Jerusalem im Jahr 70 nach Christus vor der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels nicht nur wertvolle Kultgegenstände und Gold, sondern auch Schriftrollen vergraben hatten, damit sie den römischen Legionären nicht in die Hände fielen. Mit großer Wahrscheinlichkeit fand er auch heraus, daß etliche der Priester noch vor der Eroberung und einige glückliche auch nach ihr entweder auf dem Seeweg oder über Griechenland nach dem Westen geflohen waren, nicht zuletzt nach Frankreich. Sie hatten ähnlich wie Jahrhunderte später spanische Juden bei ihrer Verfolgung Sprache, Sitten und vor allem auch die Konfession des Gastlandes angenommen, ohne ihre Abkunft zu vergessen, wenn der neuen Konfession nicht überhaupt nur äußerlicher Tarnschutz zukam. Bernhard von Clairvaux war es, der zwanzig Jahre nach der Eroberung des nun islamisch gewordenen Jerusalem neun französische Aristokraten in diese Stadt schickte, mit dem Auftrag, wo und wonach sie unter der Stätte des ehemaligen Tempels graben sollten. Zumindest einige der neun sollen Nachkommen der Tempelpriester gewesen sein. Worum es dem heiligen Bernhard ging, waren die Quellen des Urchristentums, in dem er zu Recht die wahre religiöse Kraft dieses Glaubens erkannt hatte. 14 Die neun französischen Aristokraten erhielten Hilfe vom König von Jerusalem, der damals noch auf dem Tempelberg residierte und ihnen einen Flügel seines Palastes abtrat, was nicht ganz so einzigartig war, wie es klingt, weil er sich bereits auf den Umzug in seinen eigenen, neuen Palast in der Stadtmitte eingestellt hatte. Die neun gruben neun Jahre auf dem Tempelberg und kehrten mit reicher Beute an Schriftrollen, die sie selbst nicht lesen konnten, zu Bernhard zurück, dessen kabbalistische Gelehrte sich der Schriftrollen annahmen. Bernhard gründete daraufhin 1118 durch seine Beziehungen den Templerorden und 14 Bis heute gibt es Versuche, dahin zurück zu kehren. Vgl. beispielsweise Andrew Welburn: Am Ursprung des Christentums. Stuttgart 1992 30 Dante schrieb auch eine sehr kluge Regel für ihn. Ursprünglich lautete der Name des Ordens „ Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels in Jerusalem “ . 15 Jesus hatte im salomonischen Tempel gepredigt. Er wurde sowohl von den Vertretern des exoterischen Judentums, den Pharisäern, wie auch von der römischen Besatzungsmacht angefeindet und verfolgt. Er war in engem Kontakt mit den Essenern gewesen, die ihn ganz „ wie einen Externisten in ihre Gemeinschaft “ aufgenommen hatten. “ 16 „ In der Tat hörte er in diesem Essenerorden . . . viel, viel Tieferes über die Geheimnisse, die vom Hebräertum bewahrt worden waren, als von den fundamentalistischen „ Schriftgelehrten “ der Pharisäer. 17 Einer der Hauptverfolger sowohl der Essener als auch von Jesus in Jerusalem, nach seinen eigenen Angaben im Dienste der Pharisäer, nach neueren Forschungen im Dienst der römischen Besatzungsmacht, war Saulus. Als er seine Operationen nach Damaskus ausdehnen wollte, hatte er auf dem Weg dorthin seine berühmte Vision von Jesus, den er in seinem Leben niemals gesehen hatte. Er wurde zu einem glühenden Anhänger seiner Lehren und nannte sich nunmehr Paulus, unter welchem Namen er in die Heilige Schrift eingegangen ist. Allerdings hat er später immer wieder auch den Namen Saulus benützt. Er begann auch, Nichtjuden in die jüdische Gemeinde aufzunehmen und wurde zu einem Gegner des Leiters der Jerusalemer Gemeinde Jakob dem Gerechten, dem Bruder des toten Jesus. Er begann Jesus Christus und Sohn Gottes zu nennen und erklärte, er sei der gekommene jüdische Messias. 18 Die Entdeckungen der Templer und Bernhards führten zurück zum Christentum vor Paulus und dies lange vor der Entdeckung der Schriftrollen von Qumran. Das Christentum der Templergnosis war ein johanneisches Christentum 19 , in dem sowohl der Täufer wie der Evangelist eine Hauptrolle spielten. In jeder Templerpräfektur gab es ein Bild Johannes des Täufers als Einsiedler in der Wüste. Der sagenhafte Kopf, den die Templer als „ Baphomet “ verehrten, war zweifellos der Kopf Johannes des Täufers. Im großem Bild der Himmelsrose in Dantes „ Paradiso “ , wo links alle Vertreter des Alten Testaments und rechts alle des 15 Vgl. Christopher Knight und Robert Lomas: Unter den Tempeln von Jerusalem. München 1998 und Joseph P. Strelka: Dante und die Templergnosis, op. cit. sowie Arthur Schult, op. cit., S. 17 - 31 16 Andrew Welburn, op. cit., S. 76 17 Rudolf Steiner: Aus der Akasha Forschung. Das fünfte Evangelium. Vortrag vom 5. 10. 1913. In: Gesamtausgabe der Werke. Bd. 148, Dornach 1975, S. 68 18 Vgl. Das ausgezeichnete Kapitel „ Ein unbekannter Paulus “ in Andrew Welburn, op. cit. S.258 - 313 und das vorletzte Kapitel von Kapitel 12 in Christopher Knight und Robert Lomas, op. cit., in der englischen Originalausgabe S. 243 - 250. 19 Vgl. O. Cullmann, Tübingen 1975 31 Dante Neuen Testaments sitzen, ist es Johannes der Täufer, der an der Spitze aller auf der linken Seite sitzt. 20 Bernhard von Clairvaux war nicht der einzige Zisterzienserabt, der an der Rückwendung zum Urchristentum interessiert war. Ein zweiter war Stephan Harding - ebenfalls heiliggesprochen - der in seinem Kloster von Cîteaux auch einige seiner Mönche aus ihrer kontemplativen Ruhe aufstörte und sie hebräisch lernen ließ. Einer der frühesten Historiker des Templerordens hat darauf hingewiesen, daß die Templer-Geistlichen zwar durch den Eintritt in den Orden auf die damals ganz außerordentlichen Karrieremöglichkeiten innerhalb des kirchlichen Systems verzichteten, dafür jedoch eine noch viel außerordentlichere Freiheit eintauschten, um völlig ungestört sogar von der Inquisition theologisch denken, arbeiten und forschen zu können. 21 Der Templerorden war ungeheuer rasch gewachsen und bald der reichste und mächtigste Orden von allen. Für den einzelnen Tempelritter bedeutete das trotzdem zur „ Armen Ritterschaft “ zu gehören, weil er beim Eintritt in den Orden allen Besitz dem Orden überschreiben mußte. Aber der Orden als Ganzes war sagenhaft reich. Obwohl er ein Ritterorden war, hat er das internationale Bankwesen begründet und damit die Überwindung des Feudalismus vorangetrieben. Seine Flotte ist höchstwahrscheinlich lange vor Kolumbus in Amerika gewesen. Keineswegs zuletzt war aber der Templerorden einer der geistig besonders interessanten Orden. Es war der Reichtum des Ordens, der seinen Untergang herbeiführte. Philipp IV., König von Frankreich, überragte alle anderen Könige der Zeit durch seine Geldverschwendung. Zuerst enteignete er alle Juden in Frankreich und zog ihr Eigentum ein, doch reichte das nur für wenige Jahre. Dann fielen seine Augen auf die Templer. Da der regierende Papst Clemens V. infolge der „ babylonischen Gefangenschaft der Kirche “ im französischen Avignon residieren mußte, hatte er ihn als Marionette in der Hand. Er bereitete die Vernichtung und Enteignung der Templer besonders sorgfältig vor, da sie einen sehr gefährlichen Gegner bilden würden. Als Grund der Verfolgung gab er die Häresie des Ordens vor. Wenige Einzelheiten über die Templergnosis können heute mit Sicherheit dokumentiert werden. Verfolgte wie Verfolger hatten das gleiche Interesse, möglichst wenig bekannt zu geben. Die Templer wollten so wenig wie möglich von der Templergnosis zugeben und die Inquisition wollte ängstlich verhindern, daß so gefährliche Ideen allgemein bekannt werden könnten. Eines der wenigen 20 Zum EvangeIisten vgl. „ Das Johannesevangelium “ in Andrew Welburn, op. cit., S. 314 - 381, zu Johannes dem Täufer vgl. Ferdinand Wilcke: Geschichte des Ordens der Tempelherren, Wiesbaden 2005, S. 468 f. und besonders Harald Zusanek: Kleine Schriften, Wien 1993, S. 55 - 65 21 Ferdinand Wilcke, op. cit., S. 466 32 Dante und bis heute besten Dokumente mit Einzelheiten stellt die Pariser Anklageschrift gegen den Orden dar. Die ausführlichste und zugleich großartigste Darstellung der Templergnosis bietet Dantes Göttliche Komödie, die trotz vieler, überraschend offener einzelner Stellen vieles Wesentliche nur sorgfältig und streng verschlüsselt bringt. Aus diesem Grund ist das Werk sechshundert Jahre mißverstanden worden. Der Romanist Robert John, der die große Pionierleistung der Entschlüsselung vollbrachte, war ein ungarischer Ordensgeistlicher, der 1944 als die Rote Armee Budapest erreichte, nach Wien geflohen war. Der wichtige krönende Abschluß seines Buches trägt den Titel „ Templergnosis “ und er hat sie eine Glückseligkeitslehre genannt. Als Renaissancefachmann kannte er auch die Florentinische Akademie und wies bereits auf „ die geheime Traditionskette “ hin, die ihr erstes Haupt, Marsilius Ficinus, entdeckt hatte. John zeigte auch auf, daß Dante ganz in dieser Traditionskette gestanden hatte. 22 Es ist nicht möglich, in diesem engen Rahmen auf alle Einzelheiten einzugehen, die belegen, wie genau Dante die Ideen der Templergnosis wieder gegeben hat. Wohl aber ist es möglich, eine verdichtete Gesamtüberschau über das Wesentliche zu geben. 23 Dantes Göttliche Komödie schildert einen Traum des Dichters, in dem er eine siebentägige Wanderung durch das gesamte Jenseits unternimmt, von der Hölle über den Läuterungsberg bis in das Paradies. Der Traum des Autors von sich selbst als Jenseitswanderer hat in seiner „ Lebensmitte “ von 35 Jahren am Karfreitag, den 8. April 1300 stattgefunden und der Ort des Traumbeginns, wie auch John als erster nachweisen konnte, dieses „ Tal des Elends “ war das Kidron-Tal oder Tal Josaphat. Der Jenseitswanderer hofft aus diesem Tal direkt auf den Moria-Hügel aufsteigen zu können, der Judentum, Christentum und Islam gleich heilig war. Auf seiner Kammlinie erhebt sich die gewaltige äußere Stützmauer des Tempelplatzes, wo die ersten neun Templer gruben, woher der Namen des Ordens stammte und wo zunächst das Mutterkloster des Templerordens gestanden hatte. Jerusalem galt der Templergnosis als das Zentrum der Erde und da noch das Ptolemäische Weltbild in Kraft war, als Zentrum des Universums, ein wahrhaft würdiger Platz des Beginns von des Traumwanderers Geschichte seiner Einweihung in die Templergnosis. Der Aufstieg auf den „ Berg des Heils “ aus dem „ finsteren Wald “ , in dem sich der Wanderer verirrt hatte - eine dichterisch metaphorische Umschreibung dafür, daß er schuldig geworden war - , wird durch drei symbolisch-allegorische 22 Robert John, op. cit., S. 260 23 Für Details vgl. Arthur Schult, op. cit., und Joseph Strelka: Dante und die Templergnosis, op. cit. 33 Dante Tiere verhindert und ganz besonders durch die hungrige Wölfin unter ihnen, die für die Habsucht steht. Dante erlebt, daß er für seinen radikalen politischen Ehrgeiz bestraft wird. Da erscheint dem verzweifelten Wanderer als Retter in der Not die Seele Vergils, des großen römischen Dichters, und „ Vater des Abendlandes “ , wie er genannt wurde, der Dantes großes Vorbild gewesen ist. Vergil wurde als „ Retter “ vom Autor gewählt, weil er selbst ein Eingeweihter in die Eleusinischen Mysterien gewesen ist, die mit einem symbolischen Abstieg in den Hades begannen, und weil er überdies Aeneas, den Gründer Roms und Haupthelden seiner großen Dichtung auch in die antike Hölle Hades geschickt hat, aus der er wieder lebend zurückkam. Das ist auch Vergils Funktion, daß er den Jenseitswanderer in die Hölle und durch die ganze Hölle führt und ihn heil auf den Läuterungsberg bringt. 24 Dieser Umweg ist notwendig, da die hungrige Wölfin den Aufstieg verhindert. Der Jenseitswanderer hat keine andere Wahl, als Vergil zu folgen, wenn er den „ Berg des Heils “ ersteigen will. Es ist gnostische Überzeugung, daß der Mensch durch den materiellen Kerker seiner göttlichen Seele verführt, durch eine kleinere oder größere (innerliche) Hölle gehen muß. Das Wesen der Hölle besteht im Verlust der Erkenntnis und des Bewußtseins der Wichtigkeit dieser göttlichen Seele und damit Gottes selbst. Die Entdeckung, daß Dante, der dichterische Kartograph der Hölle, die reziproke Reihenfolge der nikomachischen Ethik für die Stufen des Abstiegs in seine Hölle benützt hat, ist weit weniger wichtig, als daß er durch die große Zäsur der Stadt Dis, Höllenstadt der Verdammten, zwischen dem siebenten und achten Gesang seiner Hölle den Unterschied zwischen leichteren, läßlichen und wirklich bösen Sünden gelegt hat und die bösen dadurch mit der Leugnung der göttlichen Seele beginnen. Eine der schwierigsten und zugleich wichtigsten Entschlüsselungen ist John mit der Aufdeckung der wirklichen Bedeutung des Höllendrachens Geryon gelungen, hinter dem sich die Seele von Noffo Dei verbirgt, dem er ein ganzes Kapitel seines Buches gewidmet hat. Der Drache Geryon und das heißt die Seele des Templer-Verräters Noffo Dei ist am untersten und tiefsten Punkt der Hölle, in der „ Tolomea “ angesiedelt. Die Tolomea ist für Verräter der Gastfreundschaft reserviert. Noffo aber ist mehr als einmal Gast der Templer in ihrem Pariser Zentrum gewesen, ehe er im Prozeß gegen die Templer als böser Verleumder auftrat. 24 Diese Parallele des antiken und christlichen Wiedergeburtssymbols zusammen mit der Verehrung des Jenseitswanderers für Vergil zeigt die Aufwertung der antiken Kultur bei Dante als Zeichen der beginnenden Renaissance gleich am Beginn. Bei der Templergnosis kam noch die wichtige Rolle der jüdischen Kabbala hinzu, wodurch die drei tragenden, geistigen Säulen der neuen abendländischen Kultur vereinigt waren. 34 Dante Nach Dantes Strafvollstreckungsordnung wird die Seele der Sünder in der Tolomea sofort nach ihrer Untat in die Hölle geholt und ein Teufel nimmt den Platz in ihrem Körper bis zu dessen Tod ein. Nach Dante wurde die Seele Noffos am Karsamstag des Jahres 1300 in die Hölle geholt, während sein Körper erst dreizehn Jahre später durch den Henker gerichtet wurde. 25 Dantes Läuterungsberg bildet geradezu einen Gegensatz zum katholischen Fegefeuer. Hier gibt es nicht Flammenqual wie für manche Insassen der Hölle, sondern nach dem Austritt der Seele aus der „ Knechtschaft der irdischen Verderbnis “ treten die Seelen in eine Sphäre ein, in welcher die „ Freiheit der Kinder Gottes “ gefeiert wird. Als der Jenseitswanderer am Fuß des Läuterungsberges abgesetzt wird, trifft er auf eine Gruppe soeben einziehender Seelen, die als Ausdruck ihrer Freude im Chor den 114. Psalm „ In exitu Israel “ singen. Er hat die Grundstruktur der Haggada, in welcher die Flucht der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft in das gelobte Land gefeiert wird. Gleicherweise sind die Seelen der Ankommenden der Gefangenschaft des Körpers entkommen. Ein besonders drastisches Beispiel, wie sich Dantes gnostische Strafrechtspflege des Jenseits von jener der Amtskirche unterscheidet, ist der Fall des „ Hüters “ und das ist der Chef des Läuterungsberges Cato von Utica. Von der Amtskirche her hätte seine Seele gleich doppelt in der Hölle sein müssen: Erstens, weil er ungetaufter Heide war, und zweitens, womöglich noch viel ärger, weil er Selbstmörder war, wo doch Thomas von Aquin den Selbstmord als noch ärger als den Mord eingestuft hat. Für die „ Heiden “ , die große Persönlichkeiten wie Dichter, Philosophen und andere waren, hatte Dante bereits grundsätzlich in seiner Hölle einen eigenen „ Limbus “ eingeführt, wo sie sehr angenehm im „ Schloß der Philosophen “ wohnen können. Aber wie konnte Dante Cato seinen Selbstmord verzeihen? Nun, Cato der Jüngere hatte den Freitod gewählt, als es mit der Freiheit des römischen Staates in einer letzten Schlacht endgültig zu Ende gewesen und die Diktatur des römischen Kaiserreiches unabwendbar geworden war. Cato wird nicht nur nicht verdammt, sondern vom Sohn der freien Stadtrepublik Florenz sogar gefeiert, weil er die Freiheit über das Leben gestellt hatte. Der am Beginn des Läuterungsbergs auftretende Cato korrespondiert direkt mit dem Kontext des Bauprinzips der ganzen Komödie, nach welchem das gesamte Jenseits zusammen mit der Erde in eine große, makrokosmische Ordnung hinein gestellt ist. Das findet dadurch seinen Ausdruck, daß jeder der drei großen Teile des Epos, Hölle, Läuterungsberg und Paradies, mit einer Eingliederung des Gesamtgeschehens in die Astralsphäre der Gestirne beginnt und endet. 25 Robert John, op. cit., S. 135 - 143 35 Dante Die einzige Stelle in der ganzen Dichtung, in der sich Dante direkt auf die Verfolgung der Templer durch Philipp IV. bezieht, ist die Anklage der Seele von Hugo Capet, dem Stammvater der französischen Könige im zwanzigsten Gesang, in dem dieser Philipp vorwirft, daß er sich illegal - „ ohne Vollmacht “ - das große, festungsartige Hauptquartier der Templer im Zentrum von Paris angeeignet hat. Als die Pariser Bürger einmal einen Aufstand machten, hatte er selbst Zuflucht dort gefunden. Nach dem Untergang des Ordens hat er seine Residenz dahin verlegt. Dante läßt die Seele des Hugo Capet seinen eigenen Nachfahren einen „ grimmen neuen Pilatus “ nennen, weil auch Pilatus den unschuldigen Jesus zum Tod verurteilt hatte wie Philipp IV. den Großmeister des Templerordens Jacques de Molay. Dieser Vergleich hat in unserer Zeit zu einem - übrigens sehr wohl recherchierten - Buch mit dem Titel Der zweite Messias geführt. 26 Für den gnostischen Gesamtzusammenhang ist der siebenundzwanzigste Gesang des Läuterungsbergs wichtig, wo der Jenseitswanderer mit seinem Führer Vergil auf einen Wächter-Engel stößt, der die sechste Seligpreisung der Bergpredigt singt: „ Selig sind die, die reinen Herzens sind. “ Er fordert den Jenseitswanderer auf, einen Feuerkreis zu durchschreiten. Obwohl Vergil Dante versichert, daß dieser Gang zwar Schmerz bereitet, aber keineswegs den Tod bedeuten wird, bleibt dieser angsterstarrt stehen. Erst der Hinweis auf Beatrice bringt ihn wieder zum Leben und gibt ihm den Mut, durch die Flammen zu gehen. Die Hitze, die ihm entgegenschlägt ist allerdings so entsetzlich, daß er am liebsten zur Abkühlung in flüssiges Glas gesprungen wäre. Aber er schafft es, auf der anderen Seite wieder aus dem Feuer herauszutreten. Diese Feuerprobe entspricht als letzte Vorstufe dem Durchbrechen der Planeten-Sphäre zum Himmel hin und gestattet den Eintritt ins irdische Paradies. Am folgenden Morgen verspricht ihm Vergil denn auch, er werde noch heute im (irdischen) Paradies sein. Damit, erklärt er, wäre seine Rolle als Führer beendet, da er die Grenzen seiner Möglichkeit erreicht hätte. Von da an könne der Jenseitswanderer tun, was er wolle, sei es zu ruhen oder in dem wunderschönen Hain umher zu schweifen. Zugleich werde er aber als eines für das Paradies reifes Wesen sowohl mit einer Krone wie mit einer Tiara gekrönt werden, sein eigener Kaiser und sein eigener Papst sein. Der Jenseitswanderer wird dadurch zum Repräsentanten der Gesamtmenschheit und wird am Ziel des Weges eines jeglichen Mysterienkults angelangt sein. Robert John hat gezeigt, daß das „ irdische Paradies “ Dantes am Gipfel des in Sri Lankas gelegenen Läuterungsbergs ein antipodischer Tempelplatz ist. 27 Der Jenseitswanderer aber hatte innerhalb des Traums seiner Wanderung wieder 26 Christopher Knight und Robert Lomas: Der zweite Messias. München 2002 27 Robert John, op. cit., S. 173 - 181 36 Dante einen Traum gehabt, den Traum eines Traums also, in dem er von einer wunderschönen jungen Frau träumte, die auf einer lieblichen Wiese Blumen pflückte. Als er dann im achtundzwanzigsten Gesang die herrliche Landschaft kennen lernen will, stößt er „ wirklich “ auf eine solche liebliche Wiese und gelangt an einen Fluß. Auf der anderen Seite des Flusses pflückt eine wunderschöne junge Frau Blumen und singt. Die junge Frau heißt Matelda und wurde geschickt, ihn als Hierophantin in das irdische Paradies einzuführen. Der Fluß ist der mythische Fluß Lethe, durch dessen Wasser alle Vorurteile, alle Mißgunst, aller Haß vergessen werden. Matelda bleibt plötzlich stehen und sagt zu ihm: „ Mein Bruder, höre jetzt und schaue. “ Wie in einer Mysterieneinweihung beschwört sie für ihn ein bildhaftes, symbolisches Geschehen, das für ihn die Wirklichkeit bedeutete. Es naht auch „ wirklich “ ein Zug von Gestalten, durch welche Dante wahrscheinlich in dichterischer Form eine gnostische Einweihung beschreibt, die er wohl von den Templern selbst gehabt hat. Am Beginn des Zuges werden durch Geräte von sieben Trägern sieben farbige Lichtstreifen erzeugt, die sich wie ein Baldachin über die ganze Prozession ausdehnen. Es sind die sieben Farben des „ Gurts Delias “ , das heißt der Mondgöttin, beziehungsweise des Hofes des Monds. Die Quellen dafür scheinen Ezechiel und der Johannes der Offenbarung gewesen zu sein. Wir werden Delia in der „ Klassischen Walpurgisnacht “ Goethes wieder begegnen. Delia war der Beiname der Artemis. Sie wurde in der Zeit des Hellenismus, der Geburtsstunde der Traditionskette mit der Mondgöttin Selene gleich gesetzt. In der römischen Kaiserzeit, und das war eben in der Geburtsstunde der Templergnosis, ist sie als Mondgöttin der Isis gleich gesetzt worden. Es gibt zumindest ein erhaltenes Fresko in einer ehemaligen Templerkirche, in denen Maria als Kostümierung für Isis dient. In Wahrheit sind in synkretistischer Verschmelzung beide gleichzeitig gemeint und außerdem noch dazu die große gnostische Muttergöttin Sophia. Die ersten Gestalten, die unter den Lichtstreifen des Zuges erscheinen, sind vierundzwanzig weiß gekleidete Greise, wie wir sie aus der Offenbarung des Johannes kennen. Dort tragen sie allerdings goldene Kronen, während sie bei Dante „ Lilienzier “ an der Stirn tragen. Es gibt eine besondere Lilienart, die „ Madonnenlilien “ heißen und die Greise stehen in Beziehung zur Schutzgöttin des Templerordens Maria, was auch mit dem weiblichen Mond Delias zusammen paßt. Wenn sie aber in der Offenbarung mit ihren goldenen Kronen die 24 Bücher des Alten Testaments versinnbildlichen, dann sind sie durch das marianische Liliensymbol hier der mythischen Delia näher und sind symbolisierte Äonen. Den alttestamentarischen Greisen folgen vier seltsame Tiere und in ihrer Mitte fährt ein antiker „ Siegeswagen “ . Als einzige Insassin des Wagens wird 37 Dante Beatrice sichtbar, in „ weißem Schleier . . . unter grünem Mantel “ mit lebendigem „ roten Feuerglanz “ bekleidet: in den Templerfarben. Seit Robert Johns Buch steht fest, daß mit Beatrice keine lebende Person gemeint war, weder die Kindesliebe noch die einzige Tochter, die den Klosternamen Beatrice gewählt hatte, sondern einzig und allein die Templergnosis. Die Hosianna-Rufe, welche dem Umzug voraus gehen und die Anspielungen auf den Empfang von Jesus in Jerusalem gewesen sind, gelten Beatrice als Templergnosis und keineswegs dem Greif, der ihn zieht. Er ist nach vielen Kommentatoren ein Sinnbild Christi, der aber hier zum Zugtier Beatrices abgewertet ist. Die sieben Lichtstreifen in Regenbogenfarben, die einen Baldachin über dem Umzug bilden, sind wie in der Offenbarung neuplatonische Emanationen, die Gott symbolisieren. Sie stehen für die „ sieben Geister “ Gottes, die alle Eigenschaften des Heiligen Geistes sind. Die weiße Kleidung der vierundzwanzig Greise mag von den levitischen Priestern des salomonischen Tempels entnommen sein. Sieben Frauen tanzen um den Siegeswagen und das ganze Siegeswagen- Zentrum wird von vier Tieren umgeben. Vier von den links tanzenden Frauen repräsentieren die alten vier Kardinaltugenden, die drei rechts vom Wagen tanzenden versinnbildlichen die geistlichen Tugenden. Eine von ihnen ist grün gekleidet, eine weiß und eine rot. Interessant ist, daß die vierte der weltlichen Tugenden, die „ providentia “ (Klugheit oder Weisheit), die auch für Voraussicht und Vorsehung stehen kann, was prophetische Gaben einschließt, anstatt zwei drei Augen hat. Das dritte Auge auf der Stirn symbolisierte das Öffnen des elften Chakras, des Stirn-Chakras. Im Zusammenhang mit der Templergnosis könnte es auch auf die Fähigkeit gnostischer Erkenntnis hindeuten. Die vier Tiere aber sind die apokalyptischen Tiere, deren Namen den Hauptsternbildern der Sonnenbahn entnommen sind: Stier, Löwe, Skorpion oder Adler und Wassermann oder Engelmensch. Manchmal werden sie auch Sphinx-Tiere genannt, weil sie wie die ägyptische Sphinx - vielleicht ein geistiges Erbe von Hermes Trismegistos - und auch die babylonischen Cherubin aus insgesamt vier Teilen zusammengesetzt sind: Stierhinterleib, Löwenpranken, Adlerflügel und Menschenkopf. Schult kommentierte dazu: „ Ähnlich werden wir uns auch die Cherubin auf der Bundeslade zu denken haben. “ 28 Wie in der Offenbarung hat jedes der Tiere sechs Flügel, was sie als Engel der höchsten Hierarchie kennzeichnet. Ganz wie bei Johannes sind auch die sechs Flügel voll von Augen. Diese Augen müssen als Symbole der astralen Herkunft der Tiere verstanden werden. Als Sternbilder sind sie ja Sternwesen und die Augen verstehen sich als Umsetzung der Anschauung von den Sternen als Augen des Himmels in ein metaphorisches Bild. Für unseren Umzug ist das darum wichtig, weil auch er wie die ganze Dichtung durch die Tiere wie durch den 28 Arthur Schult, op. cit., S. 424 38 Dante siebenfarbigen Baldachin in die große, makrokosmische Ordnung des Universums eingebettet ist. Was aber die Engel und ihre Ordnungen betrifft, brauchte der Florentiner Dante schon als Kind während der Sonntagsmesse nur die Augen zum Inneren der Kathedralen-Kuppel zu erheben, um ganz nach der Angelologie des Pseudo- Dionysos die drei mal drei Ordnungen der Engel zu erblicken. Von der Astral-Perspektive her ergänzen die vierundzwanzig Greise und die vier Tiere einander. Denn die Greise ordnen auch als Äonen die Zeit, da sie als Zeitenführer den Jahreslauf einteilen, der zumeist in zwölf aber manchmal auch in vierundzwanzig Teilsektoren untergeteilt ist. Die vier Tiere des Fixsternhimmels aber ordnen den Raum, indem sie seine vier Ecken begrenzen. Ihre symbolische Bedeutung reicht weit über den Fixsternhimmel hinaus und gilt für den gesamten Makrokosmos. Der Umstand, daß man erst im Mittelalter jedem der vier Evangelien eines der vier Tiere zugeordnet hat, darf nicht dazu verführen, sie in einem engen, fundamentalistischen Sinn ganz mit den vier Evangelien gleichzusetzen. Im Kontext von Dantes gnostischem Einweihungs-Umzug sind sie als Astralwesen die Ergänzung der Ordnung des Raumes zur Ordnung der Zeit, die durch die Äonen der Greise geregelt wird. Auf das Zentrum des Umzugs mit dem Siegeswagen folgen noch einmal weiß gekleidete Greise: zunächst zwei, die man allgemein für den Evangelisten Lukas und den Apostel Paulus hielt, was mir unwahrscheinlich erscheint. Ihnen folgen vier Greise, welche die Verfasser der sogenannten „ Lehrbücher “ des Neuen Testaments sind: Jakobus, Petrus, Johannes und Judas. Anstatt des marianischen Lilienschmucks tragen sie rote Rosen und andere rote Blumen am Haupt. Als eine Art letzter Schluß- und Höhepunkt folgt als letzter der Johannes der Offenbarung. Dante scheint durch die Templergnosis gewußt zu haben, daß die vier apokalyptischen Tiere „ jene vier esoterischen Symbole darstellen, die tatsächlich „ zusammen den Menschen ausmachen “ . Und die dadurch mit der gesamtmenschheitlichen Entwicklung, um die es ihm zu tun war, direkt geht. Durch ihre Tetraktys, ihre Quaternität fügen sie sich der gnostischen Tradition fugenlos ein. Dante scheint auch durch die Templergnosis gewußt zu haben, daß der Evangelist Johannes und der Johannes der Offenbarung zwei völlig verschiedene Personen gewesen sind. Es gibt in der Frühzeit so gut wie keinen der großen Kenner, der sie nicht für ein und dieselbe Person gehalten hätte. Aber computerunterstützte Stilanalyse und anderes haben in der neueren Forschung zu der festen Annahme geführt, daß sie ganz wie in Dantes Umzug zwei verschiedene Personen waren. Schließlich handelt es sich auch von der Zahlensymbolik her um einen templergnostischen Umzug: Sieben Leuchtträger, vierundzwanzig Greise vor 39 Dante dem Wagen, sieben Damen um den Wagen, vier Tiere um den Wagen, sieben Greise nach dem Wagen macht siebenmal sieben ist neunundvierzig. Sieben ist eine templergnostische Symbolzahl wie auch die Symbolzahl der Geheimen Offenbarung sieben beträgt. Sieben ist die Zahl der Zeitenkreise und Äone, sieben mal sieben ist neunundvierzig und das deutet auf die Vollendung von Zeit und Äon hin, auf den Äon der Äonen, dem Ewigkeitsbereich Gottes und den vollendeten Kosmos des Universums. Die neunundvierzig Äonen umgeben den Triumphwagen Beatrices, der symbolischen Templergnosis. 29 Wer aber ist die Veranstalterin des ganzen Umzugs als Hierophantin, die den Jenseitswanderer einweiht? Es hat eine ebenso sinnlose wie fruchtlose Auseinandersetzung darüber in der Danteforschung gegeben. Dabei hat die direkteste und klarste Antwort der Autor selbst gegeben, die zudem im ganzen Kontext einen tiefen Sinn macht. Seinen Jenseitswanderer erinnert Matelda eindeutig und ausschließlich an Proserpina, den römischen Namen der griechischen Persephone, den der Lateiner Dante vorzieht. Persephone war eines der berühmtesten, mythischen Wiedergeburtssymbole. Wie Dantes Matelda hatte sie auf einer Wiese Blume gepflückt, als sie vom Gott der Unterwelt Hades geraubt und in seine Unterwelt entführt wurde. Ihre Mutter, die Göttin der Natur und Fruchtbarkeit Demeter, setzte schließlich bei Jupiter den Urteilsspruch durch, daß sie den Winter in der Unterwelt, den Sommer aber auf der Erde verbringen sollte. Durch den Zorn der Göttin Demeter ist es im Winter kalt und die Natur ruht, im Sommer aber warm und die Natur blüht und produziert Früchte. Dadurch symbolisiert Persephone den Wechsel von Stirb und Werde in der Natur und wurde zu einem Wiedergeburtssymbol. 30 Über den von Matelda beschworenen Umzug wurde zusammenfassend geurteilt: „ So erkennen wir in den Bildsymbolen dieser apokalyptischen Vision Dantes die ganze Himmelsleiter des Zeichen-Tierkreises, der Planetensphären, des Fixsternhimmels und des Himmlischen Paradieses. Nicht nur kosmische Symbole werden durch diese Gestalten repräsentiert, sondern die kosmischen Sphären werden hier durchsichtig für die in ihnen wirkenden himmlischen Geistwesen . . . für das Pleroma der Doxa Gottes. “ 31 Dieses Abschlußurteil umfaßt allerdings noch mehr als den hier geschilderten Umzug der Mysterien-Vision. Er umfaßt den eigentlichen Einweihungsakt des Jenseitswanderers, in dem er von Matelda im Wasser des Lethe-Flusses so lange untergetaucht wird, bis er auch noch von dem Wasser trinken muß und es umfaßt die Zerstörung und den Untergang des von Beatrice verlassenen 29 Arthur Schult, op. cit., S. 423 30 Die beste und tiefste Darstellung dieses Mythos und seiner esoterischen Folgerungen findet sich in dem Buch von C. G. Jung und Karl Kerényi: Einführung in das Wesen der Mythologie. Der Mythos vom göttlichen Kind und eleusinische Mysterien. Zürich - Düsseldorf 1999 31 Arthur Schult, op. cit., S. 426 40 Dante Siegeswagens, der nunmehr die gnosislose, fundamentalistische Kirche symbolisiert hat. Nach seiner Taufe durch Lethe-Wasser zieht ihn Matelda auf ihre Seite des Ufers zu den vier weltlichen Tugenden, von denen ihn jede umarmt. Hier, an diesem Ufer, das heißt nachdem er eingeweiht ist, sieht er, daß sie in Wirklichkeit am Ufer Wassernymphen und am Himmel Sterne sind. Sie sind es, die den Jenseitswanderer zu den drei geistlichen Tugenden führen, „ die tiefer dringen “ und dann noch weiter bis zu dem Greif, der zuerst den Siegeswagen gezogen hat, jetzt aber allein an den Baum der Erkenntnis gebunden da steht. 32 Wenn der Jenseitswanderer ihn erblickt, ist er normal ein Greif. Wenn er aber zuerst in Beatrices „ smaragdene “ Augen schaut und dann, gleichsam durch sie, wieder auf den Greif, sieht er, daß er abwechselnd ein Greif aus Fleisch und das andere Mal ein Greif aus Gold ist. Einmal repräsentiert er seine körperlich-materielle, das andere Mal seine göttliche Natur. Die eine wird zu Dantes Zeit durch den Kaiser, die andere durch den Papst vertreten. Dante hat schon in der Komödie und noch deutlicher und radikaler in seinem Werk De Monarchia vehement den damaligen Alleinanspruch des Papstes auf beiden Ebenen abgelehnt und ist für eine Trennung der Gewalten eingetreten. Er wußte, daß jede Einseitigkeit gefährlich ist und er hätte nicht weniger vehement Faschismus und Kommunismus abgelehnt, welche den weltlichen Alleinanspruch auf alle Macht erhoben haben. Robert John hat auch das zu Recht unterstrichen: „ Wir dürfen uns nicht wundern “ , hat er geschrieben, „ daß eben diese Frage bei Dante eine so ungemein wichtige Rolle spielt. Es gab kein anderes Problem, das für seine Glückseligkeitslehre von gleich aktueller Wichtigkeit gewesen wäre. Das Dies- und Jenseitsheil standen ihm dabei, wie wir wissen, auf dem Spiel. “ 33 Darum bedeutete für ihn der Kirchenstaat das Krebsübel der Kirche, obwohl nicht einmal noch herausgekommen war, daß die Konstantinische Schenkung, auf welcher er beruhte, eine Fälschung war. Dantes heftige Zurückweisung der päpstlichen Ansprüche auf weltliche Macht fußt auf einer Naturrechtshaltung, wie sie in der Renaissance bereits der große Rechtslehrer Rufinus aus Bologna vertreten hat. Nachdem der Jenseitswanderer nach dem Umzug auch Zeuge einer anderen, der Vision von der Zerstörung des Siegeswagens und der Fortsetzung des sehr zusammen geschmolzenen Umzugs war, dem sich der Jenseitswanderer nun angeschlossen hat, ist er zuletzt eingeschlafen. Bald aber wird er durch einen Ruf „ wie um das Blühen zu sehen vom Apfelbaume “ aus dem Schlaf gerissen. Diese für sich stehende, im ersten Augenblick schwer zu verstehende Anspielung bezieht sich wieder einmal auf das Hohelied Salomonis, dem Bernhard von Clairvaux über achtzig Predigten gewidmet hatte. Im Hohelied klagt Isis, die große Muttergöttin, 32 Zu Details siehe Joseph P. Strelka: Dante und die Templergnosis, op. cit., S. 171 f. 33 Robert John, op cit., S. 208 41 Dante um ihren toten Gatten Osiris und singt: „ Wie ein Apfelbaum ist mein Geliebter unter den Bäumen. “ 34 Der Jenseitswanderer findet sich allein und ruft fast in Panik: „ Wo ist Beatrice? “ Da wird er auf das neue Laubdach über den Wurzelknorren des Baumes verwiesen, wo sie umgeben von den sieben Tugenden sitzt. Hier kündigt sie ihm nach dem Umzug eine zweite Vision an, in welcher er die Zerstörung des leeren Siegeswagens, selbstverständlich durch sieben historische Attacken, verfolgen kann. Beatrice fordert den Jenseitswanderer auf, diese Attacken genau zu beobachten, damit er sie nach seiner Rückkehr auf die Erde beschreiben kann. Es geht um die Zerstörung der Ecclesia carnalis seiner Zeit, welche das Urchristentum in sein wahres Gegenteil verkehrt hat. Die Darstellung der sieben Attacken stellt ein wahres Meisterstück der Tarnung dar, wie durch Metaphern, Allegorien und Symbole der wahre Inhalt der Stelle den Zensoren verborgen bleiben konnte. 35 Der abschließende dreiunddreißigste Gesang beginnt damit, daß die vier und die drei Tugenden abwechselnd den Beginn des 79. Psalms singen: „ Deus venerunt gentes. “ Die Fortsetzung „ pollerunt templum sanctum tuum “ wird nicht mehr ausgesprochen, weil das zu gefährlich gewesen wäre. Aber die gebildeten eingeweihten Leser verstanden ganz genau, was gemeint war: „ Herr, in Dein Erbe sind die Heiden eingefallen und haben Deinen Tempel geschändet. “ Im Psalm ist der Tempel in Jerusalem gemeint, Dante aber meinte das Hauptquartier der Templer in Paris, wo am 13. Oktober 1307 der französische Großinquisitor mit seinen Schergen illegal eingedrungen war, da die Templer nur dem Papst unterstanden und der Papst keine Ahnung davon gehabt hatte. Seine Zustimmung hat sich König Philipp IV. erst später geholt. Der Ordensgeistliche Robert John hat es sehr richtig gesehen und ausgesprochen: Die Tempelschändung, die Dante meinte, war die Templerverfolgung von 1307 - 1314, die zugleich ein „ Scheintriumph “ der „ Babylonischen Hure “ - so wird die Kirche in der letzten Attacke auf den Siegeswagen symbolisiert - auf ihrem Drachen über die Ecclesia spiritualis gewesen ist. 36 Nach der letzten Attacke auf den Wagen mit der „ Hure von Babylon “ zieht ihr Riese den zerstörten Wagen mit ihr „ in den Wald. “ Der Riese steht für Philipp IV., der die Kirche von Rom fern sehen möchte und der sie in der Babylonischen Gefangenschaft im „ finsteren Wald “ von Avignon gefangen hielt. Im letzten Gesang des Läuterungsberges prophezeit Beatrice dem Jenseitswanderer, daß ein geheimnisvoller „ Fünfhundertfünfzehn “ die große Hure von Babylon und ihren Riesen töten wird, was natürlich nicht wörtlich, sondern 34 Hohelied, 2,3 35 Läuterungsberg, 32, 120 - 160. Entschlüsselt bei Joseph P. Strelka: Dante und die Templergnosis, op. cit., S. 175 f. 36 Robert John, op. cit., S. 216 42 Dante metaphorisch und symbolisch gemeint war. Wie fast immer, hat die wörtliche Auslegung die Forschung auch hier in die Irre geführt. Man hat das Rätsel zu lösen gesucht, indem man die Zahl in römischen Ziffern schrieb, weil man nur an eine Person denken konnte. Schrieb man es genau, dann sah es aus wie DXV, das war sinnlos. Also drehte man die beiden letzten Zahlen um und es wurde DVX daraus. Aber unter der römischen Zahl V (fünf ) konnte man sich leicht auch als Buchstaben ein U vorstellen und plötzlich ergab es einen Sinn: „ DUX “ , der Herzog, der Führer. Aber welche Person konnte gemeint sein? Durch viele Jahrzehnte geisterte der „ DUX “ als Person durch die Danteforschung als eine sakrosankte Tatsache. Bis Robert John die Zahl nicht mehr verdrehte, sondern richtig DXV schrieb und darauf hinwies, daß es nicht um eine Person, sondern um eine Jahreszahl ging. Dante hoffte ja wie so viele auf eine Wiederherstellung des Tempels in Jerusalem, und da das Templertum im Orden fortgelebt hatte, um eine Wiederherstellung des Mutterklosters auf dem Tempelberg. Als aber nach der Zerstörung des ersten Tempels in Jerusalem durch Zorobabel an derselben Stelle der zweite, Salomonische aufgebaut wurde, da wurde er im Jahr 515 eingeweiht und eröffnet. Was aber die Prophezeiung Beatrices im Hinblick auf die Sühnung des Verbrechens gegen die Templer betrifft, so sei daran erinnert, daß auch der letzte Großmeister Jacques de Molay auf dem Scheiterhaufen vor Hunderten von Zuschauern sowohl den Papst als auch den König vor das Gericht Gottes in die Schranken gefordert hat. Er sagte binnen Jahresfrist, das ging sich nicht genau in zwölf Monaten aus, aber er starb 1513 im Feuer und 1514 waren die beiden tot. Clemens starb an einer geheimnisvollen Krankheit, nach den einen an einer Infektionskrankheit, nach den anderen an Krebs, der König aber wurde das Opfer eines Jagdunfalls. Eine Erfüllung von Dantes Wunschtraum der Auflösung des Kirchenstaates ergab sich erst über fünfhundert Jahre später, als Ergebnis der Revolution, welche die Einigung Italiens zu einer Nation herbeiführte. Alle drei Führer dieser Revolution kamen jedoch aus einer Organisation, welcher die Wiederherstellung des Salomonischen Tempels am Herzen lag und einer von ihnen, Garibaldi, hat die Templerfarben zu den Nationalfarben Italiens gemacht. Die meisten Mitglieder des gnostischen Umzugs waren verschwunden. Ein sehr viel kleinerer Zug vollendet die Einweihung. Beatrice, die sieben Tugenden, der Jenseitswanderer mit Vergil und Statius, so ziehen sie zum allerletzten Ziel hin. Plötzlich wird angehalten und der Wanderer entdeckt die Stelle, an welcher der gnostisch-dualistische Doppelfluß Lethe und Eunoë entspringt. Die beiden Flüsse laufen sofort in eine entgegengesetzte Richtung. Der Fluß Eunoë existiert nicht im griechischen Mythos, sondern ist eine Erfindung entweder der Templergnosis oder des gnostischen Templers Dante. So wie man durch das Wasser der Lethe alles Schlechte vergißt, so werden durch das 43 Dante Trinken des Wassers von Eunoë alle guten Taten, die man begangen hat, in Erinnerung gerufen. Des Jenseitswanderes Bad und Trunk aus diesem Fluß taten rasch ihre Wirkung. Er findet sich gestärkt genug zum Aufflug ins Paradies, oder wie er es selbst ausdrückt „ rein und bereit zum Aufschwung in die Sterne “ . Der dritte Teil der Komödie über das Paradies beginnt mit dreizehn Terzinen, die nicht dem Jenseitswanderer in den Mund gelegt sind, sondern in denen der Autor selbst das Wort ergreift. Das hat seinen Grund darin, daß er uns mitteilen möchte, selbst im Reich der göttlichen Urkraft, dem dritten und höchsten Himmel gewesen zu sein, aus dem er auf die Erde zurückgekehrt nun in verzückter Sprache das Gesehene mitteilt, wenn auch eine vollständige Wiedergabe des Gesehenen gar nicht möglich ist. Nach der griechischen Ekstase, wie Dante sie durch den Neuplatonismus kannte, trennt sich in ihr der Geist vom Körper, steigt durch Luft und „ Äther “ empor und tut einen Blick in die übersinnliche Welt. In der vedantischen wie in der buddhistischen Tradition gibt es noch immer eine Yogapraxis, durch welche sich der Geist vom Körper trennt und in ihn zurückkehrt. Unter den größten Gnostikern hat es einige gegeben, die eine Beschreibung ihres Aufstiegs bis ins Pleroma, Dantes dritten Himmel, gegeben haben, nachdem sie dort waren. Wenn man das Beispiel einer solchen Beschreibung wie jener des Valentinus näher betrachtet, 37 dann sind sie fast rationalistisch dürr und abstrakt und kein Vergleich mit Dantes „ Paradies “ . Bei ihm mag die brennende Sehnsucht nach Erkenntnis wirklich in Ekstase übergegangen sein, die aus einem Reichtum von Wissen, Erinnerung an die mythische Erbschaft verbunden mit Initiationswissen des Inneren wie größter äußerlicher Bildung und die einzigartige dichterische Phantasie als integrativer Schmelztiegel und Schöpfergeist zugleich gewirkt haben, um diese gleichzeitig so differenzierte wie zu ganzheitlicher Synthese geeinte Wunder-Schau zustande zu bringen. Schon die Eingangsterzinen atmen einen Geist, der nicht mit der traditionellen Bildungsgewohnheit eines Bescheidenheitstopos und der zur Manier erstarrten formalistischen Musenanrufung gleichgesetzt werden kann. Nicht nur daß er nicht wie in den beiden ersten Teilen „ Hölle “ und „ Läuterungsberg “ nur die Musen anruft, sondern darüber hinaus auch ihren göttlichen Herrn, Apoll. Vor allem wie er es tut, das hebt diesen dritten Teil über alles Bisherige hinaus. Damit hängt auch zusammen, daß die Welt dieses Paradieses in einen Kosmos des Universums eingebettet ist, in dem nicht alles in abstrakter und mechanischer Beschreibung wie in unserer Schulweisheit eine Sache dürren Gedächtniswissens ist, sondern es ist eine Kosmogonie, in der alles lebt und sich bewegt. Das Geistige fließt in Form des Lichts, das auch die Erleuchtung bewirkt, in 37 Vgl. Hans Leisegang, op. cit., S. 283 f. 44 Dante dauernder Bewegung vom göttlichen Ursprung her durch alle Sphärenkreise bis hinunter in den Bereich der Materie. Im Gegenzug dazu verläuft die geistige Entwicklung im gnostischen Sinn in machtvollem Streben umgekehrt immer weiter hin zu jeweils immer mehr zunehmender innerer Vollkommenheit. Die äußerliche Traum-Wanderung durch das gesamte Jenseits, durch Hölle, Läuterungsberg und Paradies führt makrokosmisch durch die Sphären der damals bekannten sieben Planeten, die beiden Zwischenhimmel, den Sperrkreis bis hinaus in den dritten und höchsten Himmel des Pleromas. Gewiß ist das alles äußerlich nach dem damals einzig bekannten wissenschaftlichen geozentrischen Modell des Ptolemäus aufgebaut Da es jedoch nicht um eine äußerliche Wanderung durch den Makokosmos geht, sondern da dieser nur als Symbol für eine innerliche Mysterien-Einweihung dient, ist das nicht relevant. Die heutige heliozentrische Auffassung unseres Sonnensystems hat zwar die Sonne als Zentrum erkannt, um welches die Erde kreist, aber das metaphysische, theozentrische System der Templergnosis wird dadurch nicht wirklich beeinträchtigt. Die Wanderung führt zuerst ins Erdinnere zur Hölle und sodann über den Läuterungsberg hinauf in das Firmament. Sie führt zunächst von der Mondsphäre bis zur Sphäre des Saturn, welcher der damals als der am weitesten von der Erde entfernte Planet bekannt war und darüber hinaus. Da es um eine templergnostische Mysterien-Einweihung geht, seien zuerst die Grundlagenideen der Gnosis in vereinfachter Form beschrieben. Die erste gnostische Grundidee besteht darin, daß der Geist der göttlichen Urkraft in einem Gegensatz zur Materie steht und ursprünglich auch streng von ihr getrennt war. Heute sind diese beiden Urkräfte im Menschen vereinigt, dessen Geist-Seele im Gefängnis des materiellen Körpers gefangen gehalten wird. Die Seele sehnt sich nach Freiheit, um sich mit der göttlichen Urkraft, von der sie ein Teil ist, wieder vereinigen zu können. Die zweite Hauptidee ist es, daß die Welt der göttlichen Urkraft von jener der Materie durch einen so gut wie undurchdringlichen Sperrkreis getrennt ist. Die dritte Hauptidee besteht darin, daß sie die Gnosis (Erkenntnis, Wissen) als eine Methode darstellt, wie dieser Sperrkreis von der Seele durchbrochen werden kann, um die Wieder-Vereinigung zu erzielen. Der Sperrkreis kann verschiedene Namen führen, wie es auch verschiedene Modelle gnostischen Wissens gibt. Wie zuvor beim Bereich der „ Hölle “ und des „ Läuterungsberges “ können hier aus Raumgründen nur einzelne, der wichtigsten Stationen des Paradieses besprochen werden. 38 Mit dem einundzwanzigstem Gesang erreicht Dante, dessen Führerin nun Beatrice ist, den oberen Teil des Paradieses und damit die letzte und höchste 38 Für eine vollständige Darstellung sei wiederum auf das Buch von Joseph P. Strelka verwiesen: Dante und die Templergnosis, op. cit., S. 179 - 243 45 Dante Planetensphäre den Saturn. Die letzten dreizehn Gesänge also von diesem Gesang an sind von der Perspektive der gnostischen Weltschau die interessantesten und wichtigsten. Von der kirchlichen Perspektive der Häresie her gesehen sind sie auch die gefährlichsten. Als Dante starb, hatte er von der gesamten Dichtung den gesamten Teil eins und zwei durch Abschriften veröffentlicht, vom Teil drei des Paradieses aber nur die ersten zwanzig Gesänge. Der erste Biograph Dantes, Boccaccio, hat im Zusammenhang mit den vermißten letzten dreizehn Gesängen eine interessante Geschichte überliefert. Auch wenn sie nicht wahr sein sollte, wirft sie ein helles Licht nicht nur auf die Wichtigkeit dieser dreizehn Gesänge, die der Dichter aus guten Gründen zu Lebzeiten nicht veröffentlicht hatte, sondern auch auf die Anschauungen seiner damaligen Umwelt. Nach seinem Tod suchten die beiden Söhne Dantes alle hinterlassenen Papiere durch, ohne daß sie diese letzten Gesänge finden konnten. Freunde überredeten sie, doch selbst zu versuchen, diese letzten Gesänge zu schreiben. Jacopo, der ältere, der dem Vater besonders nahe war und am eifrigsten gesucht hatte, gab die Suche nicht auf. Da erschien ihm eines Nachts sein Vater im Traum, weiß gekleidet und von innen heraus strahlend. Jacopo fragte ihn, ob es dort, wo er jetzt ist, auch Leben gibt. „ Das Leben, das ihr lebt, ist kein wirkliches Leben “ war die Antwort. Dann fühlte er sich bei der Hand genommen und in des Vaters Schlafzimmer geführt. Die Erscheinung zeigte auf eine Stelle in der Wand, sagte „ Hier ist es, was ihr sucht “ und verschwand. Jacopo wartete die Stunde bis zum ersten Frühläuten ab, dann lief er zu einem Freund und bat ihn, mit ihm zu kommen. Er wollte nicht allein untersuchen, ob ihn die Erscheinung genarrt hatte, oder ob ihm wirklich der Vater erschienen war. Die beiden untersuchten die Stelle an der Wand, auf die der „ Geist “ gedeutet hatte, die von einer Matte bedeckt war. Sie hoben die Matte auf und fanden eine Nische, in der bereits angeschimmelte Papiere lagen. Es waren angeschimmelte Manuskripte. Sie entfernten den Schimmel und es waren die gesuchten Gesänge. Der erste davon, der einundzwanzigste Gesang der Saturnsphäre, ist der kontemplativen Versenkung gewidmet und zielt auf die höchste Form innerer Erleuchtung im noch irdischen Bereich. Es geht um eine Katabasis ins tiefste, eigene Innere, das „ die Höhen und Weiten der übersinnlich-kosmischen Sphäre widerspiegelt. “ 39 Im Jenseitswanderer vollzieht sich auf dieser Stufe jene Form der Wiedergeburt, die C. G. Jung von drei anderen Formen abgesetzt hat: die Wiedergeburt „ sensu strictori “ , innerhalb des eigenen Lebens. Dieser Individuationsvorgang vermittelt die Erfahrung einer festen Erkenntnis der Transzendenz des Lebens gegenüber seinen jeweiligen, sinnlichen Erscheinungsformen. Diese Form wird symbolisch meistens durch Wandlungsschicksale 39 Arthur Schult, op. cit., S. 624 46 Dante dargestellt, Tod und Wiedergeburt eines Gottes oder göttlichen Helden. “ 40 Bei Dante ist der göttliche Held sein Jenseitswanderer. Die große epische Dichtung Dantes erfüllt die Funktion einer Mysterien- Einweihung und der Jenseitswanderer ist durch seinen Eintritt ins Paradies ein „ göttlicher Held “ geworden. Das vollzieht sich zu Beginn im ersten Gesang des Paradieses. Da der Jenseitswanderer hier zu seiner Führerin Beatrice aufblickt, wird sein Inneres so erfüllt, daß er sich mit dem böotischen Fischer Glaukos vergleicht, der bei Ovid durch den Genuß eines Krauts sich in ein göttliches Meerwesen verwandelt und dadurch im wörtlichen Sinn „ göttergleich “ geworden war. Dadurch vermag der Jenseitswanderer auch die Seelen im Paradies zu sehen, die auf den ersten Blick wie unwirkliche Spiegelbilder von Seelen, verglichen mit den Seelen in der Hölle und am Läuterungsberg, wirken. Durch diese Beschreibung der Paradies-Seelen als „ unwirkliche Spiegelbilder “ weist der Autor Dante auf ihre Sonderstellung als höchste Geistwesen hin, wie sie Hans Jonas in seinem zweiten Buch über die mystische Philosophie des Neuplatonismus beschrieben hat. 41 Der einundzwanzigste Gesang stellt durch die in der Kontemplation erreichte innere Erleuchtung jene entscheidende Bewußtseinserweiterung im Sinn gnostischer Erkenntnis dar: „ Zum siebenten Glanzgestirn “ , dem Saturn „ erhoben “ beschreibt der Jenseitswanderer folgendes symbolische Bild: Sah ich von Goldesfarbe, die durchsonnte Ein Lichtstrahl, eine Leiter solcher Höhe, Daß ihr mein Augenlicht nicht folgen konnte. Es ist die berühmte Leiter des jüdischen Patriarchen Jakob und sie ist auch hier in Dantes Dichtung das symbolische Instrument, durch welches der gnostische Sperrkreis überwunden werden kann, denn sie führt direkt hinauf in das Empyräum, den dritten und höchsten Himmel. Die erste Lichtseele, die den Jenseitswanderer im einundzwanzigsten Gesang anspricht, kommt auch mit ihrem Gefolge die Leiter heruntergebraust zur Planetensphäre des Saturns. Es ist die Lichtseele des Benedikt von Nursia. Er gilt als der Begründer des westlichen Mönchstums, die an das ältere Mönchstum der Ostkirche anknüpfte. Er gilt auch als Heiler und Friedensstifter und seit 1964 als Patron Europas. Im Jahr 529 hat er das erste Benediktinerkloster in Monte Cassino gegründet. 40 C. G. Jung: „ Die verschiedenen Aspekte der Wiedergeburt “ . In: Eranos-Jahrbuch. Zürich 1946, S. 403 41 Hans Jonas: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie. Göttingen 1983 47 Dante Zuletzt, im zweiundzwanzigsten Gesang, bricht Benedikt in heftige Klagen gegen die Entartung des Mönchstums in späteren Zeiten aus. Die Mauern, die seinerzeit als Abtei dienten, seien zur Spelunke geworden. Auch die Kirche horte Vermögen und gab Geld an Verwandte und an böse Anhänger anstatt an die Armen. Aber höchstens Gott selbst könnte die riesige Habgier des Klerus beseitigen. Nur ein wirkliches Wunder, wie etwa den Jordan aufwärts fließen zu lassen oder das Rote Meer für den Durchzug der Israeliten zu teilen, könnte noch helfen. Dann verschwindet Benedikt wie ein Wirbelwind wieder samt seinem Gefolge die Leiter hinauf. Dann hilft Beatrice dem Jenseitswanderer auf die Leiter und er faßt es gar nicht, wie schnell er „ von selbst “ im Fixsternhimmel angelangt war. Im dreiundzwanzigsten Gesang macht Beatrice den Wanderer darauf aufmerksam, daß hier im Fixsternhimmel die Weisheit und die Macht gegeben sind, den Sperrkreis zu durchbrechen. Dann sagt sie: „ Tu die Augen auf und schau mich an. “ Es ist nicht die schöne Frau die spricht, sondern die Templergnosis und der Wanderer ist von dem „ heiligen Lächeln “ ihrer Geistigkeit hingerissen. Am Ende des Gesangs steht der feierliche Chorgesang „ Regina Coeli “ , für die Schnüffler der Zensur ein Hymnus auf Maria, für die Eingeweihten auch an Isis. Wie Maria mitunter auf einer Mondsichel stehend, also im Universum abgebildet und geschnitzt wurde, so wurde Isis oft mit dem Fixsternhimmel zusammen als Weltenmutter dargestellt. Ja Dante könnte sogar gewußt haben, daß die Urmutter der Sumerer durch den Achtstern versinnbildlicht wurde und die Sphäre in der er sich gerade im Fixsternhimmel befand, war nach der Saturnsphäre die achte. Das ist darum möglich, weil gerade diese achte Sphäre bei Dante direkt auf den Ahnherrn der Traditionskette Hermes und dessen Poimandres in Beziehung steht. Im Poimandres tritt der Ur-Mensch, als er die Kräfte der Harmonie verloren hatte, in die achte Sphäre ein und agiert hier aus eigener Kraft. Die ankommenden Seelen freuen sich über seine Ankunft und preisen den „ Vater “ . Nachdem sie den Seelen im achten Kreis gleich geworden sind, hören sie Kräfte aus einer noch höheren Sphäre das Lob Gottes singen. Dann steigen sie weiter auf und gehen in Gott ein. Die Babylonier in jenem südlichen Gebiet, in dem die Sumerer gelebt hatten, verwendeten deren Sprache für religiöse Zwecke. Von den Babyloniern aber könnte die „ achte Sphäre “ in die jüdische Gnosis und später in das Urchristentum eingegangen sein. Daher der sumerische Achtstern als Parallele zur großen Mutter der Gnosis. Im vierundzwanzigsten, fünfundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten Gesang wird der Jenseitswanderer von Petrus, Jakobus und Johannes über die drei Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe geprüft. Die Fragen des Petrus über den Glauben klingen an der Oberfläche sehr harmlos und kirchengläubig. Aber schon auf die erste Frage, was der Glaube sei, 48 Dante antwortet der Wanderer, er sei die Substanz gehoffter Dinge. Die Antwort stammte bezeichnender Weise aus dem Hebräerbrief (11,1) von dem man zwar zu Dantes Zeit noch glaubte, er stamme von Paulus, obwohl er von Johannes, dem Esoteriker unter den Evangelisten, stammt. Vor allem aber impliziert die Antwort, daß der Glaube mit dem „ Wissen “ der Gnosis nichts zu tun hat. Ein Musterbeispiel des Doppelsinns ist die Antwort auf die letzte Frage des Petrus, nach der alles in der Dreifaltigkeit gipfelt. Die Zensoren kannten nur eine Dreifaltigkeit, jene der Amtskirche und wußten nicht, daß viele gnostische Quellen vom Chaldäischen Orakel bis zum Baruch-Buch auch von einer Trias, einer Dreifaltigkeit, ausgingen. Jakobus der Ältere fragte den Wanderer nach der Hoffnung aus. Robert John hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich der Autor der Komödie hier dafür beloben läßt, daß er an die Wieder-Errichtung des salomonischen Tempels glaubt. Auf die Frage nach der Quelle der Hoffnung, zitiert der Jenseitswanderer „ des allerhöchsten Lenkers höchsten Dichter “ , den alttestamentarischen Psalmisten David und bezieht sich auf Psalm 9,10, in dem es heißt: „ Darum hoffen auf Dich, die Deinen Namen kennen, denn Du verlässest nicht, die Dich, Herr, suchen. “ Also ein „ kennen “ und kein „ glauben “ , jener, die den wirklichen Gott suchen. Als letzter erscheint der Evangelist Johannes, um den Jenseitswanderer über die Liebe zu prüfen. Er ist ein Gleichgesinnter, denn er ist ein wahrer Vertreter der Liebe und der allerletzte Sinn von Dantes ganzer Dichtung klingt in einen Hymnus auf die Liebe aus. Bei ihm gibt es keine doppelsinnigen Antworten. Im Gegenteil: bei seinem Erscheinen erblindet der Wanderer, denn er ist geblendet von seiner geistigen Größe. Der Erblindete erklärt Johannes: Solch eine Wahrheit breitet vorm Verstehen Mir jener aus, der mich die erste Liebe All dieser ewigen Wesen ließ ersehen. Breitet des Schöpfers Stimme aus, des wahren Der da zu Moses, von sich redend sagte: „ Ich will dir alles Gute offenbaren. “ Breitest auch du aus, wo du im Beginne Der hohen Botschaft mehr als andre euers Geheimnisses die Welt läßt werden inne. Die erste Terzine bezieht sich auf den ersten, der dem Wanderer die Wichtigkeit der Liebe verstehen lehrte. Das könnte sich entweder auf Brunetto Latini beziehen, der Dantes „ Fegnaire Initiation “ als Jugendinitiation leitete oder aber auf Siger von Brabant, seine ersten Lehrer in Philosophie. Der zweite Teil bezieht sich auf den „ wahren “ Gott des Alten Testaments und des Urchristentums. Die 49 Dante dritte Strophe bezieht sich auf den Prüfer Johannes selbst, den Esoteriker, der am Beginn seines Evangeliums „ mehr “ als andere des gnostischen Geheimnisses erkennen läßt. 42 Die Formulierung in der zweiten Terzine ist wörtlich dem zweiten Buch Moses (37,19) in der Vulgata-Übersetzung entnommen. In der richtigen, griechischen Septuaginta heißt es dafür: „ Ich will an dir vorübergehen in meiner Herrlichkeit, meiner Doxa. “ Schult meint, daß mit Doxa hier die Schechina gemeint ist. 43 In der dritten Terzine verkündet der Jenseitswanderer, wie Johannes ihn in seiner ohnedies, längst gewonnenen Überzeugung bestärkt hätte: Und ich vernahm: Durch menschliches Erkennen Und kraft der Bürgschaft, die ihm beistimmt, lasse Dein höchstes Lieben dir von Gott nicht trennen. Das „ menschliche “ Erkennen ist das irdische, verstandesbeschränkte Erkennen während der Esoteriker Johannes das gnostische Erkennen meint, das von anderer Art ist. Es geht dabei um eine gnostisch-mystische Schau: „ Je klarer die Kraft des Schauens wird, um so lichter die Liebe, umso höher die Seligkeit. “ 44 Der Jenseitswanderer hat in den drei Prüfungen glänzend abgeschnitten und Beatrice macht von ihrer Macht Gebrauch, ihm das Augenlicht wieder zu geben. Das ganze „ Paradies “ hindurch spielen übrigens alle sieben Segnungen der Bergpredigt von Jesus eine überaus wichtige Rolle. Durch ihre volle Erfüllung kann er erst vom irdischen in das himmlische Paradies aufsteigen. Im siebenundzwanzigsten Gesang arbeitet Dante wieder mit Kontrastwirkung. Zuerst wird mit hymnischer Begeisterung ein solches Leben voll von Liebe und Frieden gefeiert, eine „ Voll-Beglückung “ , was plötzlich abbricht, sodaß der Wanderer nur Petrus mit seiner Klage gegen die Zustände im Diesseits der damaligen Welt sprechen hört. Er beginnt mit Papst Bonifaz VIII., dem er vorwirft, seine eigene, des Petrus Grabstätte in Rom zu einer Kloake aus Blut und Gestank gemacht zu haben. Er erinnert daran, daß seine Vorläufer, die Bischöfe von Rom zu Märtyrern geworden waren, während er den nächsten Päpsten, Clemens V. und Johannes XXII. das Böseste voraussagt. Was Petrus besonders verurteilt und was die Existenz der Tempelritter und ihren militärischen Untergang in Palästina berührt, ist sein Vorwurf, daß sich die Päpste überhaupt nicht um das Heilige Land kümmerten und daß die päpstliche „ Kriegsflagge “ in Kriegen prangte, die gegen Christen geführt wurden, wie das italienische Geschlecht der Colonna oder der „ Kreuzzug “ gegen die Katharer. 42 Vgl. „ Das Johannes Evangelium “ in: Andrew Welburn, op. cit., S. 314 - 381 43 Arthur Schult, op. cit., S. 670 44 Arthur Schult, op. cit., S. 654 50 Dante Zuletzt trägt Petrus dem Wanderer auf, alle diese Klagen nach seiner Rückkehr auf die Erde allen Menschen mit zu teilen. Nach dem Ende der Strafpredigt von Petrus erfolgt der Aufflug Beatrices und des Wanderers in die nächst höhere Himmelssphäre, den Kristallhimmel. Er bildet den Übergang von der „ Universalgeschichte des Fixsternhimmels “ zu den die ganze Natur beherrschenden Urformen des „ primum mobile “ . 45 Den Beschluß des Gesanges bildet als Ergänzung zu des Petrus Beschimpfung der Kirche und der Päpste eine tiefe Klage Beatrices über den Zustand der gesamten Menschheit. Der Grund der Katastrophe sei, daß „ keiner ist, der herrscht auf Erden. “ Zuletzt aber hofft Beatrice in ferner Zukunft auf eine Wendung zum Guten der Menschheit. Die Beschreibung des Kristallhimmels ist sodann der Gegenstand des achtundzwanzigsten Gesanges. Es ist jene Welt, die ein früherer Vertreter der Traditionskette, Plato, den „ Topos hyperuranios “ genannt hat. Das Irdische ist verschwunden und wird durch eine davon ganz verschiedene, eigene Welt der Engel ersetzt. Darum gibt es im Kristallhimmel auch keine Begegnungen und Gespräche mit Seelen mehr, sondern es gibt nur Engel, jedoch in solcher Entfernung, daß eine Kommunikation mit ihnen ausgeschlossen ist. Dieser Kristallhimmel ist ein körperloser Raum voll Bewegung durch seine Intelligenzen (Engeln), der die Bewegung aller Planetensphären bewirkt. Als der Jenseitswanderer dem Blick Beatrices folgt, entdeckt er unter den leuchtenden Sternen weit entfernt einen besonders hellleuchtenden Punkt, an dem nach Beatrices Worten „ der Himmel und das ganze Weltall hangen “ . Dieser Punkt der göttlichen Mitte wird von neun immer größer anwachsenden Lichtringen umgeben. Damit hat der Wanderer von dieser Himmelssphäre aus das Göttliche selbst als sehr hell leuchtenden Punkt im Empyräum, umgeben von neun Engelhierarchien, entdeckt. Dante gebraucht hier als Symbol für Gott einen Punkt. Die Quelle ist der Midrasch, in dem wiederholt erklärt wird, daß Gott seine Schechina, seine Gegenwart, an dem höchsten und heiligsten Ort des Himmels, der der Hierarchie der Cherubin (der höchsten und neunten Engelhierarchie), konzentriert habe. Er hat damit gleichsam „ seine ganze Macht auf einen Punkt konzentriert. “ 46 Sodann fühlt sich der Jenseitswanderer „ von lebendigem Licht umflossen “ und „ emporgeschwungen in die höchste Sphäre des Empyräums “ . Hier und nun fühlt er sich zum zweiten Mal mit der ganzen Menschheit identifiziert und eins! Ein Lichtstrom vor ihm verwandelt sich in einen See und als seine Augen aus diesem Lichtstrom getrunken haben, enthüllen sich ihm die aus dem Wasser aufsteigenden Funken als Engel und die Blumen am Ufer des Sees als Selige. 45 Arthur Schult, op. cit., S. 677 46 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, op. cit., S. 286 51 Dante Die Lichtseelen der Seligen thronen auf Sitzreihen, die am Ufer des Sees wie in einem Amphitheater aufsteigen. Etwas später verwandelt sich dieses Amphitheater in die berühmte, goldgelbe Himmelsrose. 47 Als der Wanderer sich umwendet, um eine Frage an Beatrice zu richten, entdeckt er, daß sie verschwunden ist. An ihrer Stelle steht ein Greis „ im Kleid der Seligen “ . Es ist die Seele des Bernhard von Clairvaux, den Beatrice selbst gerufen hatte, um ihren Platz einzunehmen. Er übernimmt den allerletzten Teil der Führung des Wanderers durch das Jenseits. Vergil war sein Führer durch die Phase der „ Reinigung “ , Beatrice durch die Phase der „ Erleuchtung “ und nun wird ihn Bernhard durch die Phase der „ Vollkommenheit “ führen. Der Gesang endet mit einer Apotheose Marias, der Himmelskönigin. Im zweiunddreißigsten Gesang schließt sich die Schilderung der Seligen in der Himmelsrose daran. Sie erscheint in zwei Hälften geteilt. In der linken Hälfte sitzen die Vertreter des Alten Testaments, in der rechten die Vertreter des Neuen Testaments. Allein, an der Spitze der linken Hälfte, sitzt Johannes der Täufer. Gleich in der zweiten Reihe, die ihm folgt, sitzt Eva, in der dritten die zweite Frau Jakobs Rahel neben Beatrice. Sodann kommen Sara, Rebekka, Judith, die Befreierin Bethunias und - nicht genannt, doch eindeutig beschrieben - Ruth, die Ahnherrin des Palmensängers David. Besonders bemerkenswert ist, daß Beatrice, Symbol der Templergnosis, unter den Hebräerinnen sitzt, eine Tatsache, die nur äußerst selten erwähnt wird. Sie beweist den Zusammenhang der engen Verbindung der Templergnosis mit dem Urchristentum und damit mit der jüdischen Gemeinschaft von Jakob dem Gerechten in Jerusalem. Auf der rechten Seite des Neuen Testaments sitzt ganz oben allein Maria und sitzen in der zweiten Reihe Franz von Assisi, Benedikt von Nursia und Augustinus. Dante fand zu dem Ex-Gnostiker keine engere persönliche Beziehung, doch honorierte er seine Rolle als erster der Kirchenväter. Am Schluß des Gesanges weist Bernhard darauf hin, welche wichtige Rolle die Gnade der Gottesmutter auf dem allerletzten Stück der Jenseitswanderung spielen könnte. Damit beginnt er selbst ein Gebet an Maria. Der Dreiunddreißigste Gesang beginnt mit diesem Gebet, dessen erste Hälfte ein Hymnus auf Maria ist und dessen zweite Hälfte eine Bitte Bernhards an sie darstellt, dem letzten Schritt des Wanderers ihre Hilfe zu leihen. Die ersten drei Worte des Gebets sind aber nicht „ Gnadenvolle heilige Maria “ , sondern „ Jungfrau und Mutter “ , was sich ebenso auf die jungfräuliche Gottesgebärerin Hathor-Isis wie auf Maria beziehen kann. 47 Vgl. Friedrich Weinreb: Vom Geheimnis der mystischen Rose. München 1983 52 Dante Die Gnade, die Bernhard für den Jenseitswanderer erfleht, ist „ besondere Kraft für die Augen “ . Sie steht als Gleichnis für die geistige Kraft der inneren Schau, die für die Bewußtseinserweiterung notwendig ist, um die Wahrheiten zu erfassen, die er sehen wird. Was er verstehen sollte, war eine Vision von drei Kreisen. Sie wurden zum Wohl Dantes von den Zensoren mißverstanden. Auch das Böse kommt nicht einfach durch Absicht oder Schwäche aus dem Nichts in die Welt, sondern ist unabdingbarer Teil der Ganzen der irdischen Welt. Es kann auch nicht einfach durch Negation oder Verdrängung beseitigt werden, sondern nur dadurch, daß man sein Vorhandensein anerkennt und sein Wesen erkennt und durch Bewältigung überwindet. In Dantes Komödie gibt es deutliche Anspielungen auf die Höllenfahrt Christi. Dante muß durch die ganze Hölle, um über den Läuterungsberg ins Paradies zu gelangen. Er hat ja selbst gefehlt und als Beatrice auf dem Läuterungsberg im Siegeswagen aufgetaucht ist, gibt es später eine Stelle, in der sie dem Jenseitswanderer, seine Verfehlungen und Verstocktheit vorhält. Darum nur kann ihm die hungrige Wölfin den direkten Aufstieg auf den Berg des Heils verstellen. In seiner großen Dichtung hat Dante selbst sich angeklagt. Er hat aber auch gezeigt, daß es einen Ausweg zum Guten hin und ins Paradies gibt. In der Psychologie Jungs ist das alles bewältigt. Zwei Benediktinermönche haben an Jungs Überzeugung erinnert, daß der Weg der Menschwerdung über den Abstieg in die Unterwelt und das heißt in das Unbewußte geht. 48 Jung hat auch selbst einmal den Brief an die Epheser 4,9 zitiert: „ Daß er aber aufgefahren ist, was ist ’ s, denn daß er zuvor hinuntergefahren ist in die untersten Örter der Erde. “ Es war auch Dantes große Dichtung, die der mittelalterlichen Unterschätzung wo nicht Verachtung des Weiblichen entgegengetreten ist. Schult hat zu Recht erklärt, daß Beatrices Macht zum „ Stärksten “ der ganzen Dichtung gehört. Die ungeheure Bedeutung der Weltenmutter hat gerade auch am Schluß der Dichtung eine unerhörte Wichtigkeit erhalten. Dante ist selbst von einer gnostischen Trinität ausgegangen, die auch in der Trinität Maria-Isis-Sophia vertreten ist. Zwei so verschiedene gnostische Quellen wie das Chaldäische Orakel, diese „ Bibel des Neuplatonismus “ und das Baruch- Buch sind von einer Trinität ausgegangen. Für ihn waren die drei Kreise seiner End-Vision nicht die Ursache, sondern die Auswirkung dieser Trinität. Welch besonderer Art sie war, stellt Dante dadurch unter Beweis, daß die drei Kreise in drei verschiedenen Farben erscheinen. Die drei Farben als rot weiß grün zu nennen, war nicht notwendig, aber wäre in diesem Zusammenhang sehr gefährlich gewesen. Die drei Kreise sind dabei noch nicht das letzte, sondern nur das vorletzte Wort der Dichtung gewesen. 48 Anselm Grün, OSB und Meinrad Dufner, OSB: Spiritualität von unten. Münsterschwarzbach 1994 53 Dante Ganz zuletzt blickt der Wanderer in den dritten Kreis, der die Farbe grün trägt. Sie versinnbildlicht die nicht-kriegerische Seite der Ordensgeistlichen und ihrer Geistigkeit des Urchristentums. Was er schließlich erblickt steht im Vers 130: Mi parva pinta della nostra effige Zoozmann hat das ziemlich wörtlich mit „ unserem farbentreu gemalten Abbild “ übersetzt. Ohne auf den Doppelsinn des Epithetons „ farbentreu “ , die Farbe grün einzugehen, ist das Wichtigste: Er erblickt das Bild des Menschen. Prietze übersetzt auch mit „ Menschenbild “ . Das ist der innere Kern und die wirkliche Botschaft der Vision, welche der Dichter auch in den allerletzten Versen kurz erklärt. Denn es ist das Antlitz des Menschen schlechthin, der das Göttliche in sich trägt, wie es schon Pico della Mirandola in seiner großen Rede „ De dignitatis hominis “ so nachdrücklich betont hat. Die letzte Erkenntnis, die Dante wie ein Blitzstrahl der Erleuchtung trifft, ist die Vision des Deus abscondidus, der hinter diesem Bild verborgen ist. Es ist das Bild der „ Ebenbildlichkeit “ , von der Hermann Broch einmal gesagt hat, daß man auf den abstrakten Begriff (des bestimmten Ausdrucks) Gott eher verzichten kann, als auf diese Ebenbildlichkeit. Wenn auch die Gnosis auf den ersten Blick einen Elitismus zu implizieren scheint, da nur die dritte Kategorie von Menschen fähig ist, die Gnosis zu verstehen, so ist diese Fähigkeit verwandt mit anderen Fähigkeiten wie etwa besonderer Begabung auf musikalischem Gebiet und hat nichts zu tun mit der Gleichheit aller Menschen vor Gott - eben in ihrer Menschenwürde - und mit der Tatsache, daß in jedem Menschen der unsterbliche Seelenfunke eingesenkt ist. Vor allem aber hat die Gnosis nichts zu tun mit jedweder Art von Menschenverachtung. Der Jenseitswanderer selbst ist vom ersten Gesang der Hölle an bis zum letzten Gesang des Paradieses ein eindrucksvolles Beispiel warmer Menschlichkeit, ja allgemeiner Menschenliebe. Wenn sich darum ganz zuletzt das Bild des Menschen zeigt, dann gilt das für jeglichen Menschen, ganz im Sinne der Schrift: „ Wahrlich, ich sage euch, was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. “ 49 Mit diesem Bild des Menschen untrennbar verbunden ist jene höchste Form der Liebe, in der sich die göttliche Macht äußert, die unsichtbar und dennoch ganz wirklich das gesamte Weltall durchwaltet 50 und die selbst die Sonne bewegt und die Sterne. 49 Matthäus, 25,39 50 Paradies, 33,144/ 45 54 Dante ERASMUS Der „ Fürst der Humanisten “ Erasmus von Rotterdam wurde wahrscheinlich am 28. Oktober 1466 in Rotterdam geboren, doch werden als Geburtsjahre auch 1465 und 1469 angegeben. 1 Er war das illegitime zweite Kind des Priesters Rotger Gerhard aus Gouda und einer Arzttochter. Er soll mit seinem älteren Bruder schon mit vier Jahren die Schule von Gouda besucht haben. Als er neun Jahre alt war, schickte ihn sein Vater in die Schule nach Deventer, wo einige Lehrer der „ Devotio moderna “ angehörten. Einer von ihnen vermittelte ihm etwas vom Wesen des klassischen Altertums in seiner reinen Form. Gegen Ende seiner Schulzeit, die von 1478 bis 1485 dauerte, übernahm Alexander Hegius die Schule, der an Sonn- und Feiertagen eine Rede vor allen versammelten Klassen hielt. Bei einer solchen Gelegenheit hörte Erasmus den damals berühmten Humanisten Rudolf Agricola, der mit Hegius befreundet war, und bei Erasmus einen bleibenden Eindruck hinterließ. Agricola und Hegius verstanden im Unterschied zur Scholastik die Wichtigkeit des Griechischen und versuchten auch, Kenntnisse der antiken Dichter und Redner in den Unterricht einzuführen. Die Devotio moderna suchte ja überhaupt einen Weg zu Gott außerhalb der Scholastik und Gelehrsamkeit. Sie war zwar für Erweiterung des Wissens, aber besonders wichtig war gottesfürchtiges Leben und schlichte Innigkeit. Damit stand sie völlig im Gleichklang mit der innerkirchlichen Reformation, die alle Mißbräuche bekämpfte. Es ging den Brüdern dieser Gemeinschaft nicht nur um Wissen, sondern vor allem um eine Rückkehr zum Urchristentum, das freilich nur beschränkt gekannt wurde. Damit war im Fall dieser Gemeinschaft auch die Frage verbunden, welche Wichtigkeit und welchen Sinn die klassische Antike für die Gegenwart und das Christentum haben können. Durch Rückkehr zu den Quellen sollten die Zeiten des Urchristentums erneuert werden und eine geistige „ Wiedergeburt “ stattfinden. 1 Werke von Erasmus: Desideri Erasmi Roterodami Opera Omnia. Hg. von J. Clericus, 10 Bde, Leyden 1703 - 1706, Nachdruck Hildesheim 1961 - 1962. Opus Epistolarum Desideri Erasmi Roterodami denuo recognitum et actum per P. S. Allen, 11 Bde, Oxford 1906 - 1947, Deutsche Übersetzung: Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Hg. von Werner Welzig, 8 Bde, Darmstadt 1968 - 1980, Briefe deutsch: Erasmus von Rotterdam: Briefe. Hg. von Walter Köhler, Wiesbaden 1947 Dabei war von besonderer Bedeutung, daß die alttestamentarische Philologie des Lorenzo Valla Teil der neuen Frömmigkeit wurde. Erasmus hat schon sehr früh ein feines Gefühl für Richtigkeit der Sprache und Textreinheit wie Valla entwickelt. Zu den positiven Seiten des Aufenthalts von Erasmus bei der Devotio moderna gehörte die Begegnung mit seinem gelehrten Landsmann Wessel Gansfort. Von ihm lernte er, daß zum vollen Verständnis des Urchristentums das Studium des Hebräischen nicht umgangen werden kann. Es war der erste Hinweis, den er so ernst nahm, daß er später an der Universität von Louvain (Löwen) das Dreisprachenkolleg (Latein, Altgriechisch, Hebräisch) gründete. Das Hebräische war dabei auch der Schlüssel, durch den griechisch geschriebenen Text der Gnosis hinaus die Gnosis selbst zu verstehen. Als Erasmus endlich den Widerstand gegen den Willen seiner Vormunde aufgegeben hatte, die ihn in ein Kloster abschieben wollten, trat er achtzehnjährig in das Augustiner-Chorherrenstift Emmaus ein, das in dem kleinen Flecken Steyn bei Gouda lag. Obwohl es Erasmus bei den Augustiner-Chorherren etwas besser ging als Rabelais bei den Minoriten von Puy Saint Martin, wo er wegen seiner Griechisch-Studien in das Klosterverlies geworfen worden war, hielt er das in so vieler Weise beschränkte Mönchsleben einfach nicht aus und strebte verbittert nach Freiheit, die er zuletzt auch durch eine päpstliche Dispens erhalten sollte. Zu Beginn war er zum Klosterleben durchaus positiv eingestellt, was seine erste Abhandlung „ Über die Weltverachtung “ nachdrücklich unter Beweis stellt. Erst als er erfahren hatte, daß sich sein Geist im Kloster nicht wirklich entfalten konnte, begann der Kampf um die Freiheit und wuchs mit all den Schwierigkeiten seine Bitternis. Er hatte das Glück, daß er nach der Priesterweihe infolge seines schon damals feinen lateinischen Stils das Kloster verlassen konnte, weil er Sekretär beim Bischof von Cambrai, Heinrich von Bergen, wurde. Dieser war soeben Kanzler des Ordens vom Goldenen Vließ geworden und damit einer der mächtigsten Würdenträger des Großherzogtums Burgund, zu dem damals auch Rotterdam gehörte und das der Heimatstaat von Erasmus war. Zwar gab es auch beim Bischof Eintönigkeit und Unfruchtbarkeit, doch konnte Erasmus immerhin die Niederschrift seines ersten frühen Jugendwerks, der Antibarbari, vornehmen. Der äußere Rahmen dieses Werks ist ein Gespräch zwischen den Freunden Jakob Batt, Erasmus selbst und Wilhelm Hermann, sowie dem lokalen Arzt Jodocus und dem Bürgermeister des Orts. Die fünf sind im Garten eines Landhauses versammelt und der Leiter des unterhaltenden Gesprächs ist Batt. Das Thema, das abgehandelt wird, ist eigentlich der Lebensplan des Erasmus. Am Beginn steht die Aufgabe, die Musen zu pflegen und ihnen zu dienen. Damit ist es notwendig, die normale, barbarische Ausdrucksweise durch die Heraus- 56 Erasmus bildung eines feinen und eleganten Stils zu überwinden. Das Reich der Natur, das der Musen Heimat darstellte, wird auch das Wesen der Wissenschaften erschließen und das Ergebnis sind jene dichterischen Essays, wie Erasmus sie in Zukunft schreiben sollte. Schon sehr früh hatte Erasmus von Lorenzo Valla gelernt, den Gegensatz zwischen sprachlicher Formvollendung der Antike und dem Sprachbarbarismus der Gegenwart zu erkennen. Die Rückkehr der Gegenwartssprache zur antiken Formvollendung ist aber nicht nur eine äußerliche Formsache, sondern geht Hand in Hand mit der Rückkehr zum Urchristentum in der spirituellen Sphäre. Was Dante in Italien mit der Volkssprache der Toskana gemacht hat, und was mit dem Holländisch keine europäischer Leserschaft erreichen hätte können, hat er mit dem Neulatein durchgeführt, das er zu seiner Sprache gemacht hat. Auch das hat Erasmus mit dem Templer Dante gemeinsam, daß er damit zugleich die Rückkehr zum ursprünglichen spirituellen Wissen angestrebt hat. Einer der profundesten Erasmuskenner hat ihn denn auch einen „ Erben Dantes “ genannt. 2 Nachdem aber der Autor, der das elegante Neulatein geschaffen hatte, aus dem Großherzogtum Burgund stammte, ist es nur natürlich, daß auch der größte neulateinische Lyriker unter den paar hundert anderen neulateinischen Lyrikern, Johannes Secundus, am burgundischen Renaissancehof der Margarethe von Österreich in Mecheln wirkte. Des Erasmus Entwicklung seines feinen Latein hat ihn auch mit Luther verbunden. Seine auch textkritisch gereinigte, neue lateinische Ausgabe des Neuen Testaments diente als Textgrundlage sowohl für Luther als auch für die englische King-James-Version der Bibel. Erasmus entdeckte, daß der Bischof von Cambrai in Erfahrung gebracht hatte, nicht mit dem ersehnten Kardinalshut rechnen zu dürfen. Da dieser Erasmus angestellt hatte, weil er dessen Latein für die Briefe nach Rom benötigte, fürchtete er mit Recht, daß damit sein Aufenthalt am Hof des Bischofs in Frage gestellt war. Er wandte sich um Hilfe an seinen erprobten Freund Batt. Dieser erreichte wirklich, daß der Bischof Erasmus die Wege öffnete, um in Paris Theologie studieren zu können, einschließlich eines Platzes im Haus für arme Scholaren, das mit dem Collège Montaigne verbunden war. Das Haus stand unter der Leitung eines Jan Standonck aus Mecheln, der eine berüchtigte Herrschaft führte und den Insassen Bedingungen auferlegte, welche die zarte Konstitution des Erasmus einfach nicht ertragen konnte. Dazu kam, daß die Vorlesungen der spätscholastischen Doktoren der Theologie so von sinnlosen Spitzfindigkeiten strotzten, daß sie in Erasmus nichts als Spottlust erweckten. Rabelais sollte später genau die gleichen Erfahrungen machen und hat die Unfruchtbarkeit dieser Vorlesungen mit bitterer Satire gegeißelt. 2 Richard Newald: Erasmus Roterodamus. Freiburg im Breisgau 1947, S. 28; vgl. auch S. 248 57 Erasmus Erasmus aber hatte wieder Glück. Er stellte sich mit einem langen Brief, der auch ein Gedicht enthielt, dem damaligen Haupt der Pariser Humanisten und Dekan für Kirchenrecht Robert Gaguin vor. Dieser war eine Hauptfigur für die Entwicklung des Pariser Buchdrucks gewesen. Er hatte auch eben ein Buch über französische Geschichte im Druck. Das letzte, leere Folio wurde durch einen langen Anerkennungsbrief gefüllt, der von Erasmus geschrieben war. Durch Gaguin wurde ihm bewußt, welche Macht in der Handhabung der Buchdruckerei liegen kann, auf welcher schließlich sein Ruhm beruhen sollte. In Paris lernte er auch die besten Drucker, die auch Verleger waren, kennen und begann, auch seine Freunde an dieser Entdeckung teilnehmen zu lassen. Bald befreundete er sich auch mit vornehmen Engländern und konnte schließlich, von seinem Bischof unterstützt, das Haus der armen Scholaren verlassen und als Privatmann leben. Er muß dieses freie Leben ausgiebig genossen haben, sonst hätte er unmöglich all die praktische Lebensweisheit erwerben können, die aus seinen Werken ebenso spricht wie aus seinen Briefen. „ Die hellste Seite seines Humanismus ist seine Weltoffenheit “ , konnte geurteilt werden. 3 Von seinen englischen Freunden waren die wichtigen der junge William Blount, ein Aristokrat, der später zum Erzieher des jungen Heinrich VIII. werden sollte und zum „ Lord Mountjoy “ aufstieg, und John Colet. Blount war es gewesen, der Erasmus nicht nur den Weg nach England geebnet hatte, sondern auch die Bekanntschaft mit Heinrich VIII. vermittelte. Ein dritter, besonders wichtiger war Thomas Morus. Einmal ließ Erasmus alle anderen Pläne fallen und folgte William Blount nach England, das zum vielleicht wichtigsten Bildungserlebnis für ihn wurde. Erasmus verbrachte zwei Monate im St. Mary ’ s College in Oxford, dessen Prior dem jungen Augustiner-Chorherren-Bruder sehr entgegenkam. Die besten Augustiner Chorherrn Englands empfingen hier ihre Bildung. Die übrige Zeit verbrachte er in Bedwell und Greenwich bei seinem Freund Lord Mountjoy und zuletzt kurze Zeit in London. Hatte er schon zuvor die Eierschalen des Kanonikus abgestreift, die Neigung zum Weltmännischen entwickelt und bereits früher Interesse für die Reinheit des Urchristentums gezeigt, die er als Gegensatz der Unnatürlichkeit dem Mönchstum entgegen stellte, dann wurde dies alles in England zur festen Grundlage seines weiteren Strebens. Einer der wichtigsten englischen Freunde, der auf Erasmus sehr tiefen Einfluß ausüben sollte, war John Colet in Oxford. Er war gerade von einer dreijährigen Studienreise auf dem Kontinent zurückgekehrt, wo er in Paris Frankreichs größten Hellenisten, Guillaume Budé, getroffen und enge Beziehungen zur Florentiner Platonischen Akademie geknüpft hatte. Dort hatte er die 3 Richard Newald, op. cit., S. 64 58 Erasmus Traditionskette kennen gelernt und, obwohl er nicht griechisch konnte, war seine Kenntnis von Plato und Plotin eine sehr ernsthafte und tiefe. Er war nicht nur Dekan einer der größten und höchsten Kirchen, der riesigen St. Paulskirche, und Seelsorger Heinrichs VIII., sondern auch der Gründer der Oxford School, an der Griechisch gemeinsam mit Latein Pflichtfach war. Er las in der Paulskirche das Neue Testament in englischer Sprache, was illegal war, ihm aber einen gewaltigen Zulauf von Gläubigen brachte. Als Erasmus 1498 in Oxford einen Gastvortrag hielt, den John Colet hörte, wurde er sofort sein Freund. Er bestärkte seine bereits vorhandene Neigung der Rückkehr zum Urchristentum und auch seine Zweifel in die rückständige scholastische Bibelauslegung. Durch seine Anregung schrieb Erasmus seine erste kleine theologische Schrift Disputatiuncula de tedio, pavore, tristicia Jesu, in der er bereits unter dem Einfluß Colets seine eigene frühere Haltung geändert hatte. Die Wendepunkte im Denken des Erasmus vollzogen sich niemals als plötzlicher Bruch oder als direkte „ Offenbarung “ , sondern langsam und evolutionär. Die beiden wichtigen Wendepunkte in seinem Denken, die durch Colet ausgelöst wurden, sind erstens, daß die philosophisch-theologische Erkenntnisarbeit die poetischen Versuche ablöste, was zum ersten Vorsatz führte, besser Griechisch zu lernen, als er es bis jetzt getan hatte und zweitens, was mit dem ersten Wendepunkt in Zusammenhang steht, die Entdeckung der „ Traditionskette “ , die Colet durch Marsilio Ficino kennen gelernt und in Gesprächen an den Freund weiter gegeben hatte. Aus diesem Grund erklärte Erasmus aus seiner Begeisterung heraus über den ersten englischen Aufenthalt, daß er in Colet „ Plato selbst “ gehört hätte. 4 In einem Brief an den damals in Rom weilenden Robert Fisher berichtete er als Gesamtergebnis seines ersten Aufenthalts in England: „ Ein angenehmes und gesundes Klima habe ich hier angetroffen; so viel Geistesadel und Bildung, nicht die abgedroschene und banale, nein, die sorgsam gepflegte, alte, lateinische und griechische, sodaß ich Italien kaum vermisse. Wenn ich meinen Colet höre, glaube ich Plato selbst zu hören. Wer sollte in Grocin nicht den Universalisten bewundern? Gibt es Schärferes, Tieferes, Witzigeres als die Urteilskraft des Linacre? Was hat je die Natur Milderes, Lieblicheres oder Glücklicheres geformt als das Genie des Thomas Morus? “ 5 Der Aufenthalt in England war in doppelter Hinsicht der Anlaß für die Entstehung des ersten großen Werkes, das den Ruhm von Erasmus begründen sollte, der Adagia. Einerseits war seine Hingabe an die antike Kultur noch mehr angewachsen als bisher und andererseits brauchte er dringend Geld, da ihm bei seiner Ausreise aus England von Zollbeamten ein Großteil seines Vermögens abgenommen worden war. 4 Johan Huizinga: Europäischer Humanismus: Erasmus. Hamburg 1958, S. 35 5 Walther Köhler (Hg.): Erasmus von Rotterdam. Briefe. Wiesbaden 1947, S. 47 59 Erasmus Die Adagia waren eine große Sammlung von lateinischen und griechischen Sprichwörtern, die sich so gut verkaufte, daß mehrere Auflagen notwendig wurden, die stets weiter anwuchsen. Die erste Auflage umfaßte 881 Sprichwörter, die letzte 4251. Das Buch brachte ihm wirklich bedeutende Einnahmen. Als reine Zitaten- und Phrasensammlung waren die Adagia gedacht gewesen und hatten sich zu einer wahren Enzyklopädie der Lebensweisheit entwickelt. Sie wurden zu einem Werk der Bildungsausbreitung, das infolge seines allgemeinen Charakters und durch die einfache, leichte und ansprechbare sprachliche Form eine beliebte Lektüre war - auch für einen Leserkreis, für den bisher die antike Kultur geheimnisvoll, fremd und unzugänglich gewesen war. Sein menschlicher wie sein pädagogischer Eros machte ihn zu einem Verbreiter klassischer Bildung par excellence. Noch Goethe zählte zu den Lesern. Die erste Auflage erschien 1500 unter dem Titel Collectanea Adagiorum in Paris bei einem deutschen Buchdrucker. 6 Er hat sie seinem englischen Freund William Blount, Lord Mountjoy gewidmet. Huizinga hat zu dem Hauptgründen des beschränkten kleinen Raums des Holländischen und der zeitbedingten großen Verbreitung lateinischer Werke der Humanisten noch einen weitere wichtige Ursache gefunden, weshalb Erasmus seine Bücher in Latein geschrieben hat: „ Die Volkssprache hätte diesem delikaten Geist alles zu unmittelbar, allzu persönlich, allzu wirklich gemacht. Er hatte das Bedürfnis nach jenem leichten Schleier des Unbestimmten, Entfernten, den Latein über alles breitete. Es hätte ihm gegraut vor der kernigen Rauheit eines Rabelais oder vor der bäurischen Gewalt eines Luther. “ 7 Dazu kam noch, daß Erasmus eigentlich aus Burgund stammte und die Hauptsprache am burgundischen Musenhof in Mecheln, zu dem er auch in Beziehung stand, Latein war und daneben erst Französisch. Darüber hinaus verschaffte ihm das Latein noch die sofortige übernational-abendländische Wirkung ohne auf Übersetzungen angewiesen zu sein. Daß die gewaltige Tendenz der Renaissancebewegung zu nationaler Einigung und Integration dem entgegenstand, war eine andere Sache. Was zunächst aber eine naheliegende positive Notwendigkeit der Entwicklung gewesen war, sollte sich durch übertriebenen Nationalismus bald genug durch die Menschheits-Aufspaltung in einen Fluch verwandeln, der kultur-, ja menschheitsgefährdende Auswüchse zur Folge hatte. Diesem Fluch verdankt Erasmus seine neue Aktualität und große Bedeutung. Als der frühe Erasmus seine neulateinischen Gedichte schrieb, fühlte er sich als Dichter. Als er die ernsthaftere philosophisch-theologische Berufung für wichtiger zu erachten gelernt hatte, gab er dennoch die Dichtung nicht 6 Die Anibarbari, die eine Art Vorläuferschrift gewesen waren, erschienen als Buch erst 1520 in Basel. 7 Johan Huizinga, op. cit., S. 42 60 Erasmus vollständig auf. Er hat seine dichterischen Fähigkeiten weiter entwickelt, was sich an den Übersetzungen zweier Dramen des Euripides ins Lateinische zeigen läßt. Vor allem aber hat er seine sachbezogenen Essays und sogar auch die Briefe in einer solchen Weise sprachkünstlerisch gestaltet, daß sie zum Corpus der Dichtung gezählt werden müssen. Als Erasmus zum ersten Mal nach Löwen kam, setzte sich Adrian von Utrecht, der einflußreicher Professor und nicht weniger interessiert als Erasmus an der Vervollkommnung der klassischen Studien war, dafür ein, daß ihm ein Lehrstuhl angeboten wurde. Erasmus aber lehnte ab. Adrian sollte fünf Jahre später am Renaissancehof von Mecheln Erzieher des späteren Karls V. werden und war von da ab die Hauptverbindung des Hofes zur Universität Löwen/ Louvain. Er versuchte auch, die Beziehungen von Erasmus zu diesem Musenhof enger zu gestalten und auch als er Papst wurde, blieb er ein Freund von Erasmus. Infolge seiner finanziellen Notlage schrieb Erasmus ohnehin in Löwen einen Panegyrikus auf Philipp den Schönen, der aus Spanien zurück in den Niederlanden erwartet wurde. Er liebte es in keiner Weise, Panegyrici zu schreiben. Aber Philipp war der Sohn Marias von Burgund und von allen im Land geliebt. Im Jahr 1500 hatte Erasmus geradezu verbissen begonnen, Griechisch zu studieren. Ein Jahr später verfaßte er sein zweites gewichtigeres Werk, das Enchiridion Militi Christiani. Er hatte auf Schloß Tournehem, wo sein Freund Batt Erzieher des Sohnes der Schloßherrin war, einen Kriegsmann kennen gelernt, einen Pfaffenhasser, der seine fromme und besonders liebenswürdige Frau mit ausgesuchter Grobheit behandelte. Von Natur aus war er aber nicht böse und obwohl Erasmus Priester war, schätzte er ihn. Die Frau ersuchte durch Batt Erasmus um seine Hilfe, etwas zu schreiben, was ihren Mann zur Besinnung brächte. 8 Erasmus ging von einem seiner Lieblingsthemen aus, das heute so aktuell ist wie damals, daß nämlich diejenigen in der Welt geehrt werden, die es nicht verdienen und daß eine ganze Mauer von Gedankenlosigkeit, Vorurteil und Heuchelei die Wahrheit nicht aufkommen lasse. Als rettende Hilfe beschreibt er jene wahre Frömmigkeit, die mit äußeren abstrakten Forderungen nichts zu tun hat und als „ Philosophia Christiani “ bekannt geworden ist. Sie ist geradezu eine Anleitung zur Kunst der Frömmigkeit. Das Enchiridion erschien 1504 in Antwerpen und wurde später in sechs Sprachen übersetzt. Erasmus hätte das Geld für einen Lehrstuhl in Löwen dringend nötig gehabt. Er hatte abgelehnt, weil er wußte, daß er nur in völliger Freiheit genug Zeit zur Verfügung haben würde, um das Ziel zu erreichen, das er sich gesetzt hatte. 8 Das historische Modell des rauhen Kriegers wurde von O. Schottenloher als Johann Poppenreuter enthüllt, einen Geschützgießer aus Mecheln, der vom späteren Karl V. zum „ Hofstückgießer “ ernannt worden war. 61 Erasmus Dieses Ziel bestand in einer kritischen Herausgabe des Urtexts des Neuen Testaments. Es war ein anderer Weg als jener des Bernhard von Clairvaux, um dem wirklichen Urchristentum näher zu kommen. Der große moderne Landsmann von Erasmus, Johan Huizinga, hat die Ablehnung des Löwener Lehrstuhls um des Durchhaltens für das große Ziel willens, „ heldenhaft “ genannt. 9 Sein großes Ziel war Erasmus deutlicher denn je geworden, als er entdeckte, daß Lorenzo Valla, der ihm in der Jugend als Vorbild zu einem reinen, richtigen und eleganten Latein geworden war und den er auch als einen Künder der wirklichen klassischen Antike schätzte, jetzt durch seine textkritischen Annotationen zum Alten Testament zu einem direkten Richtungsweiser für das große Ziel geworden war. Er ließ seine Pläne für Hieronymus und Paulus links liegen und faßte den Mut zum Hauptwerk. Dabei war er sich völlig klar, daß die geistig eingeengten Fundamentalisten und die kopflosen Bewundrer der entarteten Spätscholastik Zeter und Mordio schreien würden, wenn dieses Werk erschien. Er war sich der „ Vermessenheit “ als „ homo grammaticus “ voll bewußt, seine „ schamlose Feder “ , die sich schon in alle Wissenschaften eingemischt hatte, „ nicht einmal von der Heiligen Schrift “ zurück zu halten. 10 Erasmus hatte als eine Art Vorlauf bereits Annotationen zu den vier Evangelien, den Briefen und der Apokalypse verfaßt. Er ließ sie in Paris 1505 durch Jost Badius nur für sich selbst drucken. Als ihm wieder einmal das Geld ausging, machte er im Herbst 1505 eine zweite Reise nach England. Die ersten Monate verbrachte er bei Mountjoy. Er traf Colet, Thomas Morus und berühmte Hellenisten. Er trat auch in Verbindung mit hohen Geistlichen, vor allem mit John Fisher, Bischof von Rochester und mit William Warham, Erzbischof von Canterbury und zugleich Kanzler der Universität Oxford. Da ergab sich 1506 die Gelegenheit, die lange geplante Reise nach Italien anzutreten. In Turin erwarb er sofort nach seiner Ankunft das Doktorat der Theologie. Es lag ihm nur an der äußerlichen Legitimierung als Autor theologischer Werke. In Bologna wuchs die nächste geplante Auflage der Adagia, die aus finanziellen Gründen überaus wichtig war, auf mehrere tausend Sprichwörter an. Als einer der berühmtesten Drucker der Zeit, Aldus Manutius, in Venedig bereit war, die neue Auflage im Druck zu nehmen, reiste Erasmus nicht wie geplant nach Rom weiter, sondern nach Venedig. Hier verbrachte er acht Monate in der Druckerei. Als der Band fertig war, wollte Aldus ihn gleich für andere Arbeiten behalten, zur Herausgabe aller Komödien von Plautus und von Terenz und der Tragödien Senecas. Erasmus blieb zwar nicht, aber damit begann seine Rolle als Autor, der ganz Europa erreichte. 9 Johan Huizinga, op. cit., S. 53 10 Vgl. P. S. Allen: Opus epistolarum, op. cit., Bd. I, Oxford 1906, S. 182 und 113 62 Erasmus In Rom traf er bereits als berühmter Autor ein, der mit hohen Vertretern der Kurie wie Giovanni de Medici, dem späteren Papst Leo X., in Verbindung trat. Auf einer Reise in die Gegend von Neapel betrat er die Höhle der Sibylle von Cumä. In einem Brief an Cornelius Aurelius 11 hatte Erasmus die für ihn wichtigsten römischen Dichter genannt und der allerwichtigste ist - wie bei Dante - Vergil. Daß er die Höhle von Cumä besuchte, zeigt, daß ihn nicht nur die ganze Aeneis, sondern besonders der Abstieg des Aeneas in den Hades in der Höhle von Cumä besonders interessierte, was mit einem der zentralsten Symbole der Traditionskette zusammenhing. Da gerade aus dieser Zeit von 1509 bis Anfang 1511 keine Briefe erhalten sind, gibt es über den Besuch der Höhle keine Äußerung von ihm. Man bedenke aber seinen Ausspruch: „ Wir verdanken einigen Ketzern mehr als gewissen Märtyrern. Und Märtyrer hat es ja eine sehr große Menge gegeben, Gelehrte ganz wenige. “ 12 Wobei er mit den Gelehrten nicht „ Buchstabenglehrte “ , sondern wirkliche Vertreter des Geistes meinte, dann liegt es nahe, an jene geistigen Traditionen zu denken, in denen die Wiedergeburtsidee zentrale Bedeutung besaß. Im April 1509 brach er überstürzt nach England auf, nachdem er erfahren hatte, daß König Heinrich VII. von England verstorben war und sein Gönner als Heinrich VIII. den Thron bestieg. Erasmus hatte ihm sein Gedicht über das Lob Großbritanniens gewidmet und der Prinz hatte ihm als Probe seines guten Latein einen Brief nach Bologna geschickt. Zudem hatte ihn sein Freund Mountjoy davon in Kenntnis gesetzt, daß der Erzbischof von Canterbury immer wieder in den Adagia lese und ihm sogar fünf Pfund als Reisegeld schicke. Auf dem Ritt über die Alpen nach England kam ihm die Idee zum Lob der Torheit und in einem Brief an seinen Freund Morus berichtete er darüber: „ Ich wollte mich lieber etwas mit unseren gemeinsamen Studien beschäftigen oder mich der Erinnerung an die gelehrten, liebenswürdigen Freunde, die ich in England zurück gelassen hatte, freuen. Du kamst, lieber Morus, mir zuerst in den Sinn . . . “ Da es keine ernste Betrachtung sein sollte und da ihn der Familienname Morus an das griechische Wort „ Moria “ - Torheit - erinnerte, schrieb er ein Lob der Torheit. 13 Als er in England angekommen war, zog er bei seinem Freund Morus ein und brachte in wenigen Tagen das große Kunstwerk im Kleinformat zu Papier. Man hat es das „ Symbol seiner Verbindung mit England “ genannt 14 , wo er so geistreich heitere Reden mit seinen Freunden führen konnte. Sogar die bösen Folgen der Torheit werden durch den Ton so vermenschlicht, daß anstatt bitterer Anklagen heitere Beobachtungen die Folge sind. Es ist geradezu der Gegensatz zu dem 11 P. S. Allen, op. cit., Bd. I, S. 20 und 97 12 Zitat aus zweiter Hand nach Walther Köhler, op. cit., S. XXVIII 13 Walther Köhler, op. cit., S. 88 14 Richard Newald, op. cit., S. 101 63 Erasmus pathetischen Konfessionsgezänk auf dem Kontinent mit seinen drastischen Methoden. „ Es herrscht ein Reichtum der Phantasie, gepaart mit so viel Einfachheit in Linie und Farbe, daß ein Bild jener vollkommenen Harmonie entsteht, die das tiefste Wesen der Renaissance ausmacht. “ 15 Da die Göttin Torheit alle Stände und alles menschliche Tun und Denken als töricht entlarvt, darf sie auch vor dem Stand nicht Halt machen, der Erasmus oft den größten Kummer bereitet hat, vor den Bettelmönchen: „ Hütet sich doch jedermann vor ihnen, weil sie als Beichtväter die geheimen Fäden in der Hand haben. “ Sie sind „ sehenswerte Komödianten oder Gaukler . . . mit ihrem lächerlichen Redepathos “ und er liefert geradezu haarsträubende Beispiele von spätscholastischem Nonsens. Im Grunde wird das gesamte endliche, irdische Dasein mit Scharfsinn und Humor, gleichsam spielerisch zur Strecke gebracht. „ Das ist verwegener als Machiavelli und vorurteilsloser als Montaigne. Aber Erasmus will es nicht gewesen sein: die Torheit ist es, die das sagt. “ 16 Hinter der vorgehaltenen Maske der Torheit bleibt das verschmitzte Gesicht des weisen Erasmus versteckt, das freilich ein Holbein in seinem Gemälde unverkennbar enthüllt hat. 17 Erasmus hat sogar sein Rezept verraten: „ Gewiß, nichts ist possenhafter, als ernste Dinge possenhaft zu behandeln, daß es nach allem eher aussieht als nach einer Posse. Über mich werden andere urteilen, aber wenn mich nicht völlig Eigenliebe narrt, so habe ich das Lob der Torheit verkündet, aber keineswegs töricht. “ Ein wahres Meisterwerk der Kunst, die Wahrheit zu sagen, ohne daß irgendein Zensor eine Handhabe gehabt hätte. Im Grunde ist das kleine Werk zum Modell für den riesigen, fünfbändigen Roman des Erasmus-Bewunderers Rabelais geworden. Bei Rabelais verdeckt die Oberflächenschicht des Romans die mitunter lebens- und todernste Tiefenschicht. Wohl besitzt Rabelais feinen französischen Ésprit, aber was oft fehlt, ist die spielerische Leichtigkeit des weltmännisch Versierten, der mit gekrönten Häuptern und Päpsten korrespondierte. Rabelais hat als ehemaliger Bettelmönch den Predigtstil von seinen Erbfeinden, den Bettelmönchen gelernt und übernommen, mit seiner absichtsvoll derben und saftigen Wortwahl, den endlosen Aufzählungen und der Holzhammer-Methode. Er hat auf seine eigene Weise auch damit eine große künstlerische Wirkung erzielt. Auch Huizinga hat auf die Verschiedenheit des Stils zwischen den beiden hingewiesen, hat aber auch einzelne Gemeinsamkeiten gesehen. Dort etwa, wo die Torheit berichtet, ihr Vater sei Pluto gewesen, nach dessen (Reichtums-) Absichten sich alles im Leben entscheidet, hätte er mit der Nymphe „ Jugend “ die 15 Johan Huizinga, op. cit., S. 64 16 Johan Huizinga, op. cit., S. 65 17 Reproduziert bei Walther Köhler, op. cit., S. 9 64 Erasmus Moria (Torheit) gezeugt. Es ist nicht ein verlebter, geschwächter Pluto, sondern der „ frische Gott, warm von Jugend und Nektar, ein anderer Gargantua. 18 “ Gemeinsam ist die radikale Ablehnung der Bettelmönche, die Verspottung spätscholastischer Spitzfindigkeiten und auch die Silene aus dem Prolog des ersten Buches von Gargantua stammen aus dem Lob der Torheit. Nicht zuletzt ist es aber auch der letzte Satz des Lobs der Torheit, der lautet: „ Drum Gott befohlen, brav geklatscht, gelebt und getrunken, ihr hochansehnlichen Jünger der Torheit. “ Er könnte wörtlich bei Rabelais stehen. Es gibt im Frühwerk des Erasmus ein Gedicht, das aus der gnostischen Tradition kommt: „ Heroisches Gedicht über Ostern, über den Triumphzug des auferstandenen Christus und seinen Gang in die Unterwelt “ . Ausgerechnet das Lob der Torheit ist das erste Werk, in dem die Kenntnis der Traditionskette sichtbar wird. Es hat schon seinen Grund, daß es das „ Symbol seiner Verbindung mit England “ genannt worden ist und sogar der Stil den Ton verrät, in dem er mit seinen engen englischen Freunden verkehren konnte. Zwar war einer der Berühmtesten, die am burgundischen Renaissancehof in Mecheln eine Rolle spielten, Agrippa von Nettesheim und er gilt zu Recht zusammen mit Trithemius und Paracelsus als unmittelbarer Vorläufer der Rosenkreuzer, aber der Hof war trotz der ungewöhnlichen Bildung und des breiten kulturellen Mäzenatentums der Margarethe von Österreich ein wahrhaft katholischer Habsburger Hof. In England hingegen gab es zumindest in der Dichtung eine noch immer breit auslaufende geheime Tradition der Templergnosis, die bis Spencer und Francis Bacon reichte und sich mit einer immer breiter werdenden geistesverwandten, gnostischen Rosenkreuzer-Tradition überschnitt. Dazu paßt es sehr gut, daß gerade als Erasmus sich entschlossen hatte, das geliebte Brabant mit dem protestantischen Basel zu vertauschen, das Gerücht auftauchte, er sei Rosenkreuzer. In dem pausenlos lebendig abrollenden Wirbel von Spaß und Spott des Lobs der Torheit gibt es eine solche Menge von einzelnen Schlüsselbegriffen der Traditionskette, daß jeder Zufall ausgeschlossen ist, ob Erasmus das wirklich gemeint hat. Freilich sind sie sicherheitshalber „ punktuell “ in wesensfremdem Kontext eingebettet, sodaß kein Zensor einen Verdacht schöpfen konnte. Es gibt bei Rabelais eine Stelle, welche die gleiche Methode anwendet. Er nennt zwei Mal direkt die Templer, aber immer im negativen Zusammenhang damit, daß sie Trunkenbolde waren. Im Notfall konnte er immer behaupten, es sei eine Templer-Beschimpfung. Die eingeweihten Leser verstanden die Stelle schon richtig, da das Trinken von Alkohol den ganzen Roman hindurch als eines der Haupt-Code-Worte für geistige „ Trunksucht “ dient. Im Lob der Torheit gibt es eine Stelle, bei der die possenhafte Maske der Oberfläche, einen ernsten Sinn zu verbergen scheint. Die Torheit spricht von den 18 Johan Huizinga, op. cit., S. 69 65 Erasmus Theologen der Zeit: „ Denn beglückt von ihrer Einbildung, tun sie, als wohnten sie im dritten Himmel und sehen auf die übrige Menschheit wie auf Vieh, das auf dem Boden kriecht, von oben herab, mitleidig schier. “ 19 Nicht der „ dritte Himmel “ wird angezweifelt, sondern die „ Theologen “ . Der dritte Himmel kann sich nur auf das gnostische Empyräum beziehen und daß ausgerechnet die spätscholastischen Theologen in diesem dritten Himmel zu sein wähnen, ist böse Satire. Aber es paßt durch das Herunterschauen auf die anderen wie auf das Vieh, was ein Pneumatiker niemals tun würde. Folgende Schlüsselbegriffe der Gnosis und der Traditionskette sind punktuell und für den Außenstehenden unkenntlich in den Text eingestreut: 20 die Sophia, Pythagoras, Lethe, Harpokrates, Hahn des Pythagoras, die Sibylle, heiliger Bernhard, jungfräuliche Gottesmutter, jungfräuliche Mutter Gottes, Jünger des Pythagoras, Goldener Zweig, Abraxier, anagogisch, Prediger Salomo (drei Mal), der unbekannte Gott, Johannes der Täufer und Kerker der Seele. Sophia war die große Muttergöttin der Gnosis, Pythagoras eines der Hauptglieder der Traditionskette. Lethe ist der Unterweltfluß mit dem Wasser des Vergessens, der esoterisch eine Rolle beim Wiedergeburtsakt spielt, Harpokrates ist der griechische Name des Horus-Kindes, welches die Hathor-Isis mit Osiris gezeugt hat und weist auf die ägyptischen Wurzeln der Kette zurück. Der Hahn des Pythagoras ist in der Geschichte „ Der Traum oder der Haushahn “ von Lukian jener Hahn, der Micyll im Traum erscheint, der sprechen kann und der Pythagoras selber ist; er ist eine Verschleierung der esoterischen Wahrheit, wie die Schlüsselbegriffe im Lob der Torheit. Die Sibylle von Cumä hatte Aeneas den goldenen Zweig zum Hadesabstieg gegeben, der heilige Bernhard war der eigentliche Gründer des Templerordens, dem es gleichfalls um die Rückkehr zum Urchristentum ging. Die jungfräuliche Gottesmutter war in der Templergnosis die synkretistische Trias Maria-Isis-Sophia, da auch die Hathor-Isis jungfräuliche Gottesgebärerin war. Jünger des Pythagoras sind die Pythagoräer, die esoterische Gemeinschaft, die Pythagoras gegründet hatte. Der „ Goldene Zweig “ war das magische Zaubermittel, mit dessen Hilfe der in die Unterwelt abgestiegene Aeneas lebend wieder auf die Erde zurückkehren konnte. In der hier benützten Übersetzung des Lobs hat der Übersetzer das nicht gewußt und nicht wörtlich übersetzt. Im neulateinischen Original ist aber mit „ aureum ille ramum “ der Begriff genau bezeichnet. Abraxier sind die Anhänger des gnostischen Gottes Abraxes. Anagogisch bezeichnet den Namen einer der vier verschiedenen Interpretationsmethoden, die Dante nennt, um auf den unter der Oberfläche versteckten Sinn seiner 19 Erasmus: Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 131 20 Die zitierten Schlüsselbegriffe finden sich im zweiten Band der Ausgewählten Werke, auf den Seiten 13, 23, 27, 36, 87, 95, 97, 111, 115, 117, 149, 155, 179/ 181/ 183, 187, 197 und 203. 66 Erasmus gnostischen Dichtung aufmerksam zu machen. Unser Übersetzer hat den Begriff, den er nicht verstanden hat, einfach weg gelassen. Er steht aber mit „ anagogic “ wörtlich im lateinischen Original. Der Prediger Salomo, der gleich drei Mal vorkommt ist Luthers Bezeichnung für den König Salomo. Ihm sind drei Bücher des Alten Testaments zugschrieben worden, von denen „ Das Hohe Lied “ eine enge Beziehung zur Templergnosis hat, da es eine versteckte Klage der ägyptischen Gottesgebärerin Isis um ihren toten Gatten ist. Vor allem aber ist Salomo der Bauherr des zweiten Tempels in Jerusalem, um den es immer geht. Übrigens klagt die Göttin der Torheit an einer Stelle, daß ihr noch immer kein Tempel errichtet worden ist. Das wurde unter den „ Schlüsselbegriffen “ nicht erwähnt, weil auch ein römisch-antiker Tempel damit gemeint sein könnte. Allerdings würde das Spiel mit einer solchen Doppelbedeutung des Wortes gut zu des Erasmus Wortspielen im Lob passen. Der unbekannte Gott ist der Deus abscondidus der Gnosis. Johannes der Täufer war der eigentliche Patron des Templerordens und das Urchristentum war ein johanneisches Christentum. Der Körper als „ Kerker der Seele “ war einer der zentralsten Begriffe der Gnosis. Es gibt also Stellen im Lob der Torheit, wo die Torheit als Schutzgöttin nur eine Vorsichtsmaßnahme gegen die Verfolgung ist. Diese hatte ja im Grunde bereits durch ein Heer von Bettelmönchen und aus Eifersucht auch des ehemaligen Humanistenkollegen von Erasmus Hieronymus Aleander, jetzt päpstlicher Nuntius, längst begonnen. Dennoch kann Erasmus, behütet von der Göttin der Torheit, die bittere Wahrheit sagen, um die es dem Autor zu tun ist und das sogar mit der spielerischen Eleganz, die er so liebt. Wenn er so über den Ablaß, über die Ketzerverfolgung, die Gleichmacherei, den Fundamentalismus und nicht zuletzt über die Indolenz der Bettelmönche herzieht, kann er das ungestraft tun. Gegen Schluß erreicht er sogar eine besondere Tiefe, wenn er erklärt, daß der höchste Lohn der Frömmigkeit eigentlich Wahnsinn sei, so wie Plato sagte, der „ Taumel der Liebe beselige am tiefsten “ , Erasmus war Platoniker und auch Anhänger des Neuplatonismus und dadurch gegen die rationalen Syllogismen der Spätscholastik auch von innen her, als Erbe der Traditionskette, gefeit. Der Geist, er fließt vom Himmel als neuplatonische Emanation und wie Johannes sagt, „ er weht, wo er will “ . Hier wird der Scherz ein ernster Scherz im Sinne Goethes und öffnet sich dem gnostischen Horizont der Pneumatiker und der Mystik. Huizinga hat von „ Ekstase “ gesprochen. Das Lob der Torheit hat alles andere als nur Zustimmung gefunden. Trotz der vorgehaltenen Maske der Torheit, trotz der von vornherein eingebauten Versicherungen, daß er niemand kränken will, trotz des Umstandes, daß er die Wahrheit sagte, ja gerade darum hat es neben begeisterter Zustimmung auch Kritik von allen Seiten gegeben. Trotzdem ist das Lob sein einziges Werk von 67 Erasmus zeitloser Gültigkeit geworden. Denn der Geist weht eben wirklich, „ wo er will “ . Huizinga konnte daher abschließend urteilen: „ . . . erst wo der Humor diesen Geist durchleuchtete, wurde er wahrhaft tiefsinnig. Im Lob der Narrheit gab Erasmus etwas, das kein anderer als er der Welt geben konnte. “ 21 Die Gesamtidee, daß sich Pluto, der materialistische „ Reichtum “ , mit der Nymphe „ Jugend “ , der naiven, leicht verführbaren Jugend verbindet, um die „ Torheit “ zu zeugen, hat einen bitter ernsten Hintergrundsinn. Denn die Torheit erzeugt sehr selten so glänzende Produkte wie die Rede des Erasmus und kann in Wirklichkeit verheerende Folgen haben. Eine wichtige gute Nachricht für Erasmus war, daß der Erzbischof von Canterbury, Richard Warham, ihm 1512 eine jährliche Pfründe verschaffte, indem er ihm die Rektorei von Aldington in Kent zuwies, wobei sich Erasmus von der Residenzpflicht bald befreien konnte, sodaß er nur die Einkünfte bezog. Von England aus vertiefte er seine Beziehungen zu den Verlegern Badius in Paris und Froben in Basel. Das nächste wichtigere Werk war Julius vor der verschlossenen Himmelstür. Gemeint ist Papst Julius II., dessen politisches Hauptverdienst es war, den Kirchenstaat, - nach Dante das Krebsübel der Kirche - erweitert und gefestigt zu haben. Erasmus hatte seinen kriegerischen Einzug als Heerführer in Bologna, im Stil eines antiken Triumphators erlebt. Das Werk war offenkundig 1512 oder 1513 verfaßt, aber erst 1517 gedruckt worden. Die erste Druckfassung kam 1518 bei Dirk Martens in Löwen heraus. 22 Dante hatte etliche Päpste in seine Hölle verdammt und Erasmus schloß sich diesem Erbe an, indem er ausführlich schildert, weshalb Julius II. nicht in den Himmel eingelassen wurde. Julius II. hat nicht umsonst vom Volk die Beinamen „ der Kriegerische “ und „ der Schreckliche “ erhalten. Er hat selbst etliche Kriegszüge an der Spitze von Truppen unter der päpstlichen Fahne gegen andere Christen angeführt. Das allein hätte für Erasmus genügt, um einen Dialog gegen ihn zu schreiben. Luther hat ihn den „ Blutsäufer “ genannt und „ der Teufel in Menschengestalt “ war ein anderer Beiname. Er hat ihn verdient, als er als junger Bischof im Auftrag seines päpstlichen Onkels an der Spitze eines päpstlichen Heeres in Umbrien eingefallen war, das zum Kirchenstaat gehört hatte. Die Umbrier befanden sich wegen einer plötzlich sehr erhöhten „ Salzsteuer “ in Aufruhr. Nach der Niederwerfung des Aufstandes ließ Julius die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt Perugia - Männer, Frauen und Kinder - niedermetzeln und die Stadt „ schleifen “ . Rabelais hat an den Beginn des ersten Bandes seines Romans als zweites Kapitel eine Art Programmgedicht gestellt, das so gut verschlüsselt war, daß es 21 Johan Huizinga, op cit., S. 71 22 Erasmus hat die Autorschaft aus verschiedenen Gründen bestritten. Zum Pro und Contra vgl. Gertraud Christian in Erasmus: Ausgewählte Werke, op. cit., Bd. V, S. X - XII. 68 Erasmus erst im nächsten Kapitel hier erstmals zur Gänze entschlüsselt wird. Seine erste Strophe ist ebenfalls gegen Julius II. gerichtet. Auch Erasmus hat an den Beginn seines „ Dialogs “ ein Gedicht mit dem Titel „ Epigramm gegen Julius “ gestellt. Er kann sich im Unterschied zu Rabelais leisten, offen zu sein und er hält mit nichts zurück, indem er den Papst Julius mit Julius Cäsar vergleicht: Wie genau paßt zu dir der Name Julius II.! Offensichtlich bist du ein zweiter Julius. Auch jener war einst der höchste Priester Und riß zu Unrecht die Herrschaft an sich. Und nicht weniger als es dir paßt, gefiel jenem Das um der Herrschaft willen gebrochene Bündnis. Jener verachtete die Götter; auch darin bist du ein echter Julius. Jener brachte den Erdkreis durch Mord, Krieg und Blutvergießen In Aufruhr; auch darin bist du ein zweiter Julius. Galliens größter Quälgeist war jener, Und du bist Galliens größtes Verhängnis . . . Die letzten beiden Verse als Höhepunkt lauten: Es fehlt dir noch eines, damit du ganz Julius seist: Daß dir ein zweiter Brutus entgegen träte. Hier geht Erasmus noch über Dante hinaus. Der hatte den antiken Brutus in den untersten Höllenkreis versetzt. Erasmus ruft geradezu nach einem neuen Brutus. Der Dialog findet zwischen Julius und seinem Genius auf der einen Seite und Petrus auf der anderen Seite statt, der durch ein geöffnetes Gitterfenster mit ihm verhandelt. Petrus, der im Gespräch Ehrfurcht für Hermes Trismegistos an den Tag legt, wird von Julius bedroht, daß er eine päpstliche Bulle gegen ihn schleudern wird. Petrus qualifiziert die päpstlichen Bullen als Seifenblasen ab. Etwas später zürnt Julius Petrus, weil er, der auf Erden immer gesiegt hat, jetzt einen Fischer und fast einen Bettler nicht beeindrucken kann: „ Höre in wenigen Worten, welchen Fürsten du verachtest: erstens bin ich ein Ligurer und nicht ein Jude wie du . . . “ Der verschmitzte Erasmus teilt mit dem einen Satz gleich zwei Ohrfeigen aus: eine an Julius, der sich als Antisemit lächerlich macht und zweitens an alle die vielen kirchlichen Würdenträger, die auch Antisemiten waren und die hier zart daran erinnert werden, daß das Urchristentum eine jüdische Angelegenheit war. Julius hat auch eine Horde von fast 20.000 Mann mitgebracht, offenkundig aus dem ehemaligen päpstlichen Heer, denn sie riechen nur nach Kneipen, Wein und Pulverdampf. Er hat sie aus der Unterwelt geholt und hierher geschleppt, um mit dem Himmel Krieg zu führen. Auch er selbst klirrt unter seinem priesterlichen Ornat vor Rüstung und blutigen Waffen. 69 Erasmus Zuletzt zieht Julius zwar unverrichteter Dinge ab, denn das Tor hatte sich nicht geöffnet, aber er droht in Verborgenheit, seine Streitkräfte zu vergrößern und die Himmlischen hinunter zu stürzen, falls sie sich nicht unterwerfen. In Kürze würden ja aus den Gemetzeln seiner Kriege Tausende mehr seiner gefallenen Soldaten zu ihm stoßen. Erasmus konnte sich das alles leisten, weil er in Löwen, der Universitätsstadt des von den Habsburgern regierten burgundischen Staates saß. Mit etlichen von ihnen war er eng verbunden. Julius II. aber hatte zunächst mit dem Habsburger Kaiser Maximilian I. und dem französischen König Ludwig 1508 die Liga von Cambrai geschlossen, hatte dann aber den Vertrag aus machtpolitischen Interessen gebrochen und sowohl Maximilian wie Ludwig vor die Tür gesetzt. Er gründete seine neue „ Heilige Liga “ ohne sie. Es ist durchaus sinnvoll, daß im fünften Band der deutschen Werkausgabe von Erasmus der Dialogus Iulius exclusus e coelis zusammen mit der Institutio Principis Christiani und den Querela Pacis abgedruckt wurde. In allen dreien dieser Werke war es dem Pazifisten Erasmus um eines seiner Hauptanliegen, um den Frieden gegangen. Die Institutio Principis Christiani, die 1515 dem Julius-Dialog von 1513/ 14 folgte, ist zudem eines jener Werke, in denen die Verbundenheit des Erasmus mit seinen Landesfürsten, den Habsburgern, besonders direkt ihren Ausdruck findet. Sie ist direkt für die Erziehung der Königskinder am Habsburger Renaissancehof in Mecheln geschrieben und ihre erste Auflage ist einem von ihnen, dem späteren Karl V., gewidmet. Karl hat Erasmus später zum Kaiserlichen Rat mit festem Gehalt ernannt. Zwar galt ihm Maximilian als ein „ Eindringling “ von außen, aber dessen allgemein so besonders geliebte Gattin Maria von Burgund, deren Kinder Philipp und Margarethe und deren drei Enkel, von denen einer Karl war, standen seinem Herzen nahe. Die drei Enkel wurden wegen des frühen Todes der Eltern von ihrer Tante Margarethe, der Mäzenin des einmaligen Mechelner Musenhofes, aufgezogen. 23 Sie hatten alle drei eine schicksalhafte Entwicklung vor sich. Es waren der spätere Karl V., der spätere Ferdinand I. von Österreich und die spätere Maria von Ungarn. Viele an diesem großartigen Musenhof waren Erasmus aber eher fremd. Der Hofdichter Jean Lemaire de Belges, den der gleichfalls französisch schreibende Rabelais so verehrte, daß er ihn in sein jenseitiges Paradies versetzte, war ihm zu rein weltlich. Johannes Secundus, unter den paar hundert neulateinischen Lyrikern der Zeit der weitaus beste und größte, war in der Sprachbeherrschung dem Erasmus durchaus ebenbürtig, aber was sollte dieser mit einem Autor, der eine ganzes Gedichtbuch den „ Küssen “ gewidmet hatte. Der große Humanist 23 Vgl. Josef Strelka: Der burgundische Renaissancehof Margarethes von Österreich und seine literarhistorische Bedeutung. Wien 1957 70 Erasmus Johannes Ludovicus Vives war für die Entwicklung der empirischen Wissenschaften wichtiger als für die Erneuerung des Urchristentums. Agrippa von Nettesheim, der einer der besten Kenner der Zeit des Poimandres des Hermes Trismegistos war und der in seiner berühmten dreibändigen Philosophia occulta das für die Zeit vollständigste Werk über den Okkultismus verfaßt hatte, lag Erasmus auch eher ferner, da dieser alle Kräfte aufbieten mußte, um sein großes Ziel einer kritischen Textausgabe des Neuen Testaments zu vollenden. Der einzige Große am Hof Margarethes, mit dem er sofort Freundschaft schloß und dem er verbunden blieb, war der Humanist und Professor Adrian von Utrecht, der als Papst Hadrian VI., dem korrupten Vatikan erasmische Reformen aufzwingen wollte, aber nach kaum zwei Jahren als Papst plötzlich verstarb. Die Gerüchte, wonach er vergiftet wurde, sind sehr glaubwürdig. Was den kaiserlichen Rat am Hof selber besonders störte, waren die Feindseligkeit des päpstlichen Nuntius Aleander, dessen Einfluß bis hierher reichte und der Haß der Bettelmönche. Die Mäzenin Margarethe neigte nur allzu sehr zur Amtskirchengläubigkeit und er fürchtete, daß ihre Teilnahme an seinem Schicksal eine Gefährdung seiner Unabhängigkeit bedeuten könnte. Alles in allem war seine Verbundenheit mit dem Hof dennoch sehr groß. Er hat Karl zwei seiner Werke gewidmet, die erste Auflage der Institutio Principis Christiani und die Paraphrasen zum Matthäus Evangelium; Ferdinand, der die Institutio sogar auswendig kannte, drei seiner Werke, nämlich die zweite Auflage der Institutio, die Paraphrasen zum Johannes Evangelium und die Consultatio de Bello Turcico; Maria von Ungarn ein Werk, die Vidua Christiana. Die Querela Pacis entstanden, weil der Kanzler Margarethes Johan Carondelet Erasmus aufforderte, er möge eine Grundlagenschrift verfassen, um den Frieden von Cambrai vorzubereiten. Die Institutio Principis Christiani von 1515 ist einer der menschlichsten „ Fürstenspiegel “ . Sie enthält nicht nur eine eindringliche Warnung vor Kriegen, sondern auch die Aufforderung zur Gründung von einer Art „ Sicherheitsrat “ wie bei den Vereinten Nationen. Die Querela Pacis von 1516 sollten der Vorbereitung eines für 1517 geplanten Friedenskongresses dienen. Hier erhebt der Friede selbst als Allegorie seine Stimme. Er spricht aber nicht für sich selbst, sondern für die gesamte Menschheit. Er klagt darüber, vertrieben zu werden. Dabei möge man ihn doch mit seinem Gegner, den Krieg vergleichen. Er, der Friede, wirke wohltuend, gesund und fördere das Wachstum, während der Krieg die Menschen in tiefes Unglück stieße und den Göttern ein Abscheu ist. Das Weltall - der Makrokosmus wird ganz wie bei Dante in seiner göttlichen Harmonie der Verwirrung und Kleinlichkeit des menschlichen Treibens gegenüber gestellt - sei harmonisch und friedlich. Nicht einmal Tiere der gleichen Gattung bekämpften einander. An einer Stelle geht er sogar so weit, zu unterstreichen, daß selbst in der Pflanzenwelt Bäume, Sträucher und Kräuter eine Anziehung zueinander besitzen. Reben umarmen Ulmen und Pfirsichbäume erfreut die Umarmung durch 71 Erasmus Reben. Sogar die Welt des Gefühllosen schätze also die Wohltat des Friedens. In der christlichen Symbolik stehen die Ulme für Würde und der Pfirsichbaum für Tugend von Herz und Zunge, aber auch für Verschwiegenheit. Die Rebe steht für Fruchtbarkeit. Wie immer wird die Eroberungswelle der Osmanischen Militärdiktatur, die vom Osten in das Abendland eindrang, aber als Grund für einen Verteidigungskrieg zugelassen. Schon ein Jahr vor den Querela Pacis begannen die Paraphrasen zum Neuen Testament zu erscheinen, wesentlicher Teil des großen Werks, das vielleicht nicht so spektakulär wie die Friedensschriften, aber für den Bereich des Geistigen von größter Bedeutung war. Erasmus saß jedenfalls von 1515 bis 1521 in der Nähe des Mechelner Hofes an dessen Universität Löwen und hier hat er mit dem Beginn des Erscheinens der Paraphrasen und der Ausgabe des Textes sein Hauptziel und seinen Höhepunkt erreicht. Erasmus war sich der Wichtigkeit bewußt, dieses Werk durch Verbindung zur sekulären Macht abzusichern. Jede der Vorreden zu den einzelnen Evangelien hat er einem anderen der vier wichtigsten Herrscher des Abendlandes gewidmet: Die Vorrede zu Matthäus Karl V., jene zu Markus Franz I., jene zu Lukas Heinrich VIII. und jene zu Johannes Ferdinand I. Nur dem französischen König war der Burgunder Erasmus nicht auch persönlich näher verbunden. Auf Verlangen seines Druckers Froben in Basel lag Anfang März 1516 erstmalig eine Version der griechischen Urfassung des Neuen Testaments zusammen mit ihrer lateinischen Übersetzung vor. In den drei Stufen von Paraclesis - Methodus - Apologia (Aufruf - Methode - Rechtfertigung) war des Erasmus Antwort auf die Frage, wie man zu wahrer Gottesgelehrsamkeit im christlichen Sinn gelangen könne. Es war sein Beitrag, wie man bei der Suche nach dem Urchristentum zumindest bis zu den Evangelisten zurückkehren kann. 24 In den Paraphrasen hat er alle wichtigen Elemente seines Strebens zusammen gefaßt: Die Rückkehr zu den philologischen Quellen der Heiligen Schrift und den Versuch, die wichtigsten Herrscher der Zeit zu überreden, im Interesse des Weltfriedens ihre persönliche Machtpolitik zurück zu stellen um des Wohles der Menschheit willen. Zudem war es auch ein geistiger Höhepunkt, hatte er sich doch voll in die große Traditionskette eingebunden. Von deren letzten Erben hatte ihn besonders Pico della Mirandola fasziniert, der sie von der Kabbala und Pythagoras bis zum Neuplatonismus rezipiert hatte. Außerdem war für Erasmus noch der Kirchenvater Origines besonders wichtig als Zeuge der Gnosis. Pico hatte in Paris den Averroismus kennen gelernt. Er war zuletzt wieder in Paris im Auftrag des Papstes verhaftet worden, doch gelang es ihm, frei zu kommen und in der Freien Stadtrepublik Florenz unter dem Schutz des Lorenzo de Medici zu leben. 24 Novum Instrumentum omne. Basel 1516. Zweite verbesserte Auflage 1519 72 Erasmus Pico hatte sich vom Florentiner Platoniker Ficinus dadurch unterschieden, daß für ihn Einheit und Sein ineinander greifen und nicht zu trennen sind, wodurch Gott im Sinn des Neuplatonismus zum Seienden gehöre (De ente et uno). Durch Pico einerseits und durch die intensive Beschäftigung mit dem Neuen Testament andererseits wurde auch seine Kenntnis des Neuplatonismus und der Traditionskette vertieft. Otto Schottenloher hat es in seiner kurzen, zusammenfassenden Würdigung des Erasmus auf die Formel gebracht: „ ein mit stoischen und neuplatonischen Mitteln ausgebauter universaler Spiritualismus. Theologisch gefaßt ist es die Wiederherstellung der gottgeschaffenen Natur. Durch die Gnade wird sie erlebt als innere Verwandlung, die in der Erneuerung des ganzen Lebens sichtbar werden muß. “ 25 Von der Sache her steht ihm in Deutschland wohl am nächsten der Mystiker Sebastian Franck, der sich zuletzt von allen Konfessionen los sagte und sein eigenes, spirituelles Christentum des Herzens entwickelt hat. 26 Die berühmten Dunkelmännerbriefe hatten das längst auf den Punkt gebracht, indem sie kurz und knapp Erasmus einen „ homo per se “ genannt hatten, einen Mann für sich, der über allen Parteien stand. Erasmus hatte auch insofern einen Höhepunkt erreicht, als Papst Leo X., durch seinen Ruhm bewogen, ihn durch zwei Breve von allen Verpflichtungen des Klosters völlig befreit hatte. Aber nicht nur das: Erasmus hatte die Ausgabe des gesamten Neuen Testaments Leo X. gewidmet und der Papst hatte die Widmung angenommen und sich wohlwollend darüber geäußert. Es schien, als ob der Geist sich durchsetzen könnte. Das hätte in jener Zeit im Konfessionsstreit darum so viel bedeutet, weil so oft anstelle geistiger Begründungen und Erklärungen Gewalt und Krieg getreten waren. Erasmus lehnte es ab, mit dem jungen Karl mit nach Spanien zu gehen und blieb in Löwen. Zwischen 1516 und 1518 entsteht um ihn herum „ ein Chor von Beifallsjubel. Die Geister leben in Erwartung von etwas Großem und mehr und mehr richten sich die Augen auf Erasmus. “ 27 Die unreife Lyrik ist verschwunden und die sprachliche Veredlung ist jetzt in seinen Traktaten und auch in seinen Briefen vertreten. In seinen Briefen taucht nun gelegentlich für zwei oder drei Jahre der Topos vom Goldenen Zeitalter auf und er ist voll Erwartung der vollen Erneuerung der „ Bonae literae “ der klassischen Antike. Aber dann verfinstert sich durch die Verhärtung der Fronten der Himmel und die Hoffnung schwand. Margarethe wollte ihm die Pension ihres Neffen Karl nur auszahlen, wenn er ganz an den Hof käme, doch er hatte Angst, er würde anstatt 25 Otto Schottenloher: „ Erasmus “ in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 4 (1959) S. 458 26 Vgl. Joseph Strelka: „ Sebastian Francks Paradoxa “ In: Joseph Strelka und Jörg Jungmair: Festschrift für Hans-Gert Roloff. Bern - Frankfurt am Main - New York 1983, S. 208 - 219 27 Johan Huizinga, op. cit., S. 86 73 Erasmus zu wenig Anteilnahme zu viel finden. Vor allem aber hatte sich Luther am Reichstag in Worms geweigert, seine „ Irrlehren “ zu widerrufen. Der päpstliche Nuntius Aleander hatte alles vorbereitet, um Karl V. keine andere Wahl zu lassen, als über Luther die Reichsacht zu verhängen. Die Möglichkeit einer innerkirchlichen Reform war endgültig gescheitert. Für Erasmus war es absehbar, daß seine extremistischen Gegner so viel Einfluß erhalten würden, daß seine Vermittlerrolle als Feindseligkeit abgestempelt würde. An seinem Geburtstag, dem 28. Oktober 1521 verließ er Löwen und ging nach Basel. Sein Raum im Lilienkollegium blieb ihm erhalten und seine Bücher blieben in Löwen zurück. Er mußte zu Froben in Basel, um die dritte Auflage des Neuen Testaments vorzubereiten. In Basel lebte er förmlich auf. Die Einsicht, daß die Hoffnung, er würde durch seine Schriften für eine friedliche und menschliche Entwicklung sorgen können, begraben war und mit ihr die Spannungen, die sie mit sich brachte, erzeugte eine innerliche Ruhe. Dazu war er aus der Reichweite selbst wohlmeinender Fürsten und genoß zum ersten Mal voll das herrliche Gefühl der Unabhängigkeit. Überdies war er von bewundernden Freunden und Helfern umgeben. Im Jahr 1518 war bereits die Urform der Vertrauten Gespräche ohne Wissen des Autors Erasmus, dazu noch bei Froben, erschienen. Der Herausgeber war sein Freund und erster Biograph Beatus Rhenanus. Erasmus hat in der wirklichen und richtigen Ausgabe von 1522 berichtet, wie die völlig verfälschte Ausgabe entstanden war. Ein ehrgeiziger Augustinermönch, mit dem Erasmus in Paris wirklich verkehrt hatte, und der „ wie die Krähe des Äsop alles wiederkrächzte “ , hatte den Mischmasch zusammen gebraut. Manches hatte er mißverstanden, um es bunter zu machen, erfand neue Personen und Titel hinzu und dichtete allerlei aus eigener Phantasie. Beatus Rhenanus hatte dem Mönch vertraut und das Geschreibe für bare Münze genommen. Auf Grund des berühmten Autorennamens hatte der Mischmasch bereits Nachdrucke in acht verschiedenen Städten gefunden. 28 Erasmus hat daraus unter Beibehaltung der Gesprächsform ein Buch gemacht, das wirklich von ihm stammte. Eines der wichtigsten Gespräche über „ Die Himmelfahrt Reuchlins “ war allerdings neu, da dieser erst kurz vor Erscheinen des Buches gestorben war. Die Vertrauten Gespräche sind das einzige Werk von Erasmus, das bis heute so lebendig geblieben ist und fast so viele Auflagen erlebt hat wie das Lob der Torheit. Im Laufe der Jahre wurden die Gespräche vermehrt und erst 1533 sind sie in der 28 In der hier benützten Ausgabe ausgewählter Werke, op. cit. befinden sich die Vertrauten Gespräche im VI. Band, welcher der schwächste der ganzen Ausgabe ist. Sowohl die Einleitung als auch die Auswahl der neunzehn von sechzig Gesprächen sind mangelhaft. Eine gute deutsche Ausgabe ist die von Hubert Schiel, Köln 1947. 74 Erasmus letzten Fassung erschienen. Der genaue Titel der ersten Auflage lautete Familiarum colloquiorum formulae, per D. Erasmum Roterod, non tantum ad linguam puerilemutiles verum etiam ad vitam instituendem und verweist auf die grundlegende Veränderung und Verbesserung des Ganzen, die vom „ Mischmasch “ der „ alles wiederkrächzenden Krähe “ , dem Augustinermönche Augustin Vincent zum wirklichen Werk des Erasmus stattgefunden hatte. Aus einer Sammlung von Schülerbelehrungen über richtige Grammatik, richtigen Stil und Eloquenz ist ein von Weisheit und Witz sprühender Band über Probleme der Lebensführung geworden. Das offenkundig 1522 entstandene „ Gespräch “ „ Reuchlins Himmelfahrt “ gehört zum Wichtigsten, was Erasmus nach seiner Ankunft in Basel verfaßt hat. Reuchlin war der erste bedeutende Humanist, der als Nichtjude die hebräische Sprache und Schrift erlernt hat. Er ist neben Erasmus der zweitgrößte Humanist des Reiches. Auf seiner zweiten Italienreise 1490 trat Reuchlin in Verbindung mit der Platonischen Akademie in Florenz, auf der dritten lernte er Pico della Mirandola kennen und übernahm von ihm seine kabbalistischen Kenntnisse. Als er im Auftrag des Grafen von Württemberg 1492 bei Kaiser Friedrich III. in Linz weilte, vertiefte dessen Leibarzt Jakob ben Jehiel Loans seine Hebräischkenntnisse und wurde sein Lehrer im Judentum. 1494 erschien das gefeierte Werk De verbo mirifico. Ihm folgte 1506 die Schrift De rudimentis Hebraicis und 1517 De arte cabalistica. Schon daß im dritten Werk nicht von der „ Wissenschaft “ , sondern von der „ Kunst “ der Kabbalistik die Rede ist, zeigt die Tiefe des Verständnisses. Überdies findet sich groß auf dem Titelblatt der Erstausgabe das zentrale Rosenkreuzersymbol. Das Buch enthält unter anderem die These, wonach die theosophische Philosophie der Kabbala auch für das Christentum von großer Bedeutung sein könnte. Auch tritt es für eine harmonische Verbindung von (Geistes-)Wissenschaft mit den Mysterienkulten ein. Durch seine Hinwendung zur jüdischen Mystik hat Reuchlin jene bedeutende Seite des Humanismus sehr gestärkt, die gegenüber den rationalistischen Spitzfindigkeiten der Spätscholastik eine wesentliche Bewußtseinserweiterung herbeigeführt hat. Erasmus nennt denn auch gleich in den ersten Sätzen des Gesprächs Reuchlin „ jenen berühmten, dreisprachigen Phönix der Gelehrsamkeit “ und verwendet damit ein Symbol, das von den Rosenkreuzern oft verwendet wurde. Bald darauf werden die Sibyllinischen Bücher beschworen und Brassicanus, der berichtende der beiden Gesprächspartner, erzählt, wie ein Franziskaner in Tübingen, der Reuchlin sehr nahe stand, ihm einen Traum anvertraut hätte, den er in der Nacht, in welcher Reuchlin starb, gehabt hatte: Er stand bei einer kleinen Brücke, die zu einer besonders schönen Wiese führte, deren GRÜN leuchtender war als das Grün eines Smaragds. Reuchlin war bereits über die halbe Brücke hinüber gegangen, ganz in einem WEISSEN Kleid. Drüben wird er von Hieronymus empfangen und an einen Punkt geführt, wo 75 Erasmus sich der Himmel öffnete und beide Unsterbliche in einer mächtigen Säule von „ lieblichem Feuer “ , also ROT, hinauf gezogen werden. Hieronymus 29 gab Reuchlin gleich jenseits der Brücke ein besonders schönes Kleid, wie er auch selbst ein solches trug, das bis zu den Fesseln reichte und allenthalben „ mit Zungen in drei verschiedenen Farben “ besetzt war. „ Die einen ließen Rubine erkennen, etliche Smaragde und andere Saphire. “ Also wiederum rot, grün und weiß, die Farben der Templergnosis. Die Zungenform weckt im Gesprächspartner des Brassicanus die Vermutung, die Zungen könnten für drei Sprachen stehen. Latein, Griechisch, Hebräisch waren ja für Reuchlin wie für Erasmus von besonderer Bedeutung, die sich nicht auf die Grammatik beschränkte, sondern den Schlüssel zum Verständnis des Urchristentums lieferten. Rot, weiß und grün sind die Templerfarben, die im Traum wie die Brücke beide Seiten verbinden, das Diesseits wie das Jenseits. Auch Hermes Psychopompos und der Schreiber der ägyptischen Unterwelt Toth haben die beiden Seiten verbunden und haben sich selbst zum „ Trismegistos “ vereinigt. Zurück zu den Quellen, das bedeutet für die Templergnosis genauso wie in der Traditionskette zurück zur Kaballa, so wie für Reuchlin. Die Aufnahme Reuchlins unter die unsterblichen Seligen, die der Übersetzer mit „ Himmelfahrt “ wiedergegeben hat, wird nicht vom Papst vorgenommen, sondern von Hieronymus. Er ist ja auch deutlich unterwegs zum „ dritten “ Himmel des Empyräums. Ob Erasmus auch unter der strengen Beobachtung der Bettelmönche von Löwen dieses Gespräch geschrieben hätte, ist fraglich. Daß das „ Gespräch “ zum ersten gehörte, das er in Basel geschrieben hat und daß er sich in Basel so befreit gefühlt hat, könnte veranlassen zu fragen, ob er hier nicht vielleicht von einigen Eingeweihten umgeben war. Wenn er gerade in Basel seine beiden Bücher gegen Luther geschrieben hat, dann bedeutet das keinen Widerspruch. Denn obwohl der junge Luther der Mystik nahe stand, hat der Protestantismus durch seine Fanatiker bald auch einen solchen eigenen Fundamentalismus entwickelt, daß er jenem der Amtskirche in nichts nachstand. Erasmus aber war selbstverständlich gegen jede Art einer dogmatisch äußerlichen Verhärtung, und gerade in den Vertrauten Gesprächen finden sich neben Zurückweisungen eines allgemeinen Antisemitismus auch sehr kritische Stellen gegen jüdischen Fundamentalismus. Nur durch besonders kurzsichtige Beobachter kann das als „ Schwanken “ des Erasmus ausgelegt werden. Er hatte in Wahrheit seine feste Linie. Das längste „ Gespräch “ des Bandes über „ Das Fischessen “ wendet sich nicht nur gegen 29 Hieronymus wird von den Katholiken, Protestanten, Anglikanern, Armeniern und Orthodoxen gleicherweise verehrt. 76 Erasmus engstirnige Theologen, sondern auch gegen jeglichen jüdischen Fundamentalismus. Das zweite besonders lange Gespräch ist das geistig ergiebigste und trägt den Titel „ Das geistliche Gastmahl “ . In ihm wird auch wieder deutlich die besondere Tradition sichtbar, in welcher Erasmus selbst stand. Das Gastmahl findet nämlich nicht im Haus des Gastgebers, sondern in seinem Landhaus statt. Das ist so gebaut, daß sich von einem Viereck umschlossen, ein „ Paradiesgärtlein “ darin befindet, in dessen Mitte eine besondere Quelle entspringt. Es ist der gleiche, von einer Mauer umschlossene Paradiesgarten, in dem der „ Jüngling “ im Rosenroman die Quelle mit dem Wasser des Lebens entdeckt, in welcher er das Bild des Rosengartens erblickt, in dem er schließlich „ seine “ Rose findet. Bei Dante weitet sich das „ Paradiesgärtlein “ zu einem „ Paradiso terrestre “ aus, in dem der Jenseitswanderer den Höhepunkt seiner irdischen Mysterieneinweihung empfängt. Es ist auch dieselbe Quelle, die am Schluß des Romans von Rabelais eine so wichtige Rolle spielt. In des Erasmus Paradiesgärtlein finden die Gäste Figuren eines Petrus und eines Christus, bei denen Sprüche in drei Sprachen - Latein, Griechisch und Hebräisch - angebracht sind, als Zeichen, daß es um das Urchristentum geht. Wenn es aber bei der Beschreibung der Figur des Christus heißt, er hätte „ den Schatten des Judentums abgestreift “ , dann bedeutet das nichts anderes, als daß er den Fundamentalismus der Pharisäer abgestreift hatte, da er der gnostischen jüdischen Gemeinde von Jerusalem angehört hat. Ein Jahr nach seiner Ankunft in Basel geht Erasmus auch so weit, in einem Brief an Ferdinand I. Andeutungen über das johanneische Christentum zu machen, dem er ja seine Paraphrasen zum Johannesevangelium gewidmet hat. Es ist „ ein Evangelium, das zu mehr oder schwierigeren Glaubensfragen Anlaß gegeben “ hat als andere, schrieb er, „ an keinem haben sich die hervorragendsten Geister der Alten leidenschaftlicher gemüht, bei keinem Evangelium wichen in der Auslegung die Exegeten mehr voneinander ab als beim Johannesevangelium. “ Er geht sogar kurz auf das Mysterium des Prologs ein. 30 Wenige Wochen nach diesem Brief nannte Erasmus zur Verteidigung seiner eigenen Haltung Luther „ wiclifetisch “ . Für seine eigene Haltung hatte er Origines und Hieronymus angeführt. Der letztere war einer der ganz seltenen Gelehrten seine Zeit, der Griechisch und Hebräisch konnte und der zudem in seiner Spätzeit in Konstantinopel Origines studiert hatte. Wiclif war sowohl Anhänger einer starren Prädestinationslehre gewesen als auch für die totale Unterwerfung der Kirche unter die Staatsführung. Es war eine typisch verschmitzte Formulierung von Erasmus, nachdem er, stets Vertreter der Willensfreiheit, mit seinem wachen Geist beobachtet hatte, wie Luther nicht nur bei den protestantischen Landesfürsten Unterstützung gefunden, sondern sich auch in 30 Walther Köhler, op. cit., S. 315 77 Erasmus ihre Abhängigkeit begeben hatte. Er ahnte, daß die religiöse Diskussion damit zu einer reinen Machtangelegenheit zwischen den Fürsten werden und in Kriegen enden würde. Er sah darüber hinaus, daß sich ein radikaler protestantischer Fundamentalismus entwickelt hatte und noch drei Jahre vor seinem Tod endete auch bereits der gelehrte und humanistische Servetus in Genf auf dem Scheiterhaufen, weil er sich der Prädestinationslehre von Calvin nicht unterworfen hatte. An Luther selbst aber hatte Erasmus geschrieben: „ Vielleicht nützt Dir ein Erasmus, der gegen Dich schreibt mehr, als gewisse Tölpel, die für Dich schreiben. “ 31 Im September 1524 erschien sodann seine Arbeit „ Über den freien Willen “ bei Froben. Erasmus, der im Schatten des katholischen Hofes von Burgund die geistigen Grundlagen für Luthers Bibelübersetzung geschaffen hatte und als Anhänger Luthers beschimpft worden war, begann jetzt im protestantischen Basel den Kampf gegen die Lehre Luthers. Es war ihm immer nur um die Wahrheit gegangen. Erasmus wußte nun, daß es in der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft kaum eine Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit gab und daß sein Freund Thomas Morus, der alsbald aus „ religiösen “ Gründen hingerichtet werden sollte, in seine Utopia flüchten hatte müssen. Dennoch gab es immer wieder Augenblicke, in denen ein Hoffnungsschimmer in ihm aufglimmte. Könnte sich nicht alles doch noch zum Guten wenden? Könnte nicht der „ Tumult “ , den Luther angezettelt hatte, „ wie eine scharfe Arznei “ ein wenig Gesundheit für die Menschheit mit sich bringen? Aber die geistige Beschränktheit zu der auch der Haß der extremen Positionen auf beiden Seiten gehörte, war zu weit gediehen, die Lose der Parzen zeigten auf den Dreißigjährigen Krieg in dem die Bevölkerung des Reiches dezimiert wurde und der harmonische Hochrenaissancegipfel des reifen Goethe unmöglich war. Erst nach dem Kampf der Aufklärung um Toleranz war das im deutschsprachigen Raum möglich. Nichtsdestoweniger versuchte Erasmus zumindest im Raum des Geistigen, in dem er „ Fürst “ war, die Begriffe zu klären, die Mißverständnisse zu überwinden und die falschen Voraussetzungen als unrichtig zu erledigen. Das sollte im unseligen Konfessionsstreit durch das Klären einer Schlüsselproblematik erreicht werden, jener des „ Freien Willens “ . Auch wenn er im Recht war, so hat er diesen Schritt nicht leichten Herzens vollzogen und hat dem von ihm am höchsten geschätzten protestantischen Humanisten, Melanchthon, in einem langen Brief seine Rechtfertigung mitgeteilt, weshalb er keine andere Wahl hatte, als das Buch zu veröffentlichen. Der Brief zeigt seine schwierige Stellung in einer von Fanatismus und Beschränktheit beherrschten Zeit. Er schrieb, er hätte gleich dreierlei verschiedene Feinde. 31 Walther Köhler, op. cit., S. 331 78 Erasmus Zuerst waren da die fundamentalistischen katholischen Theologen. Diese Hasser der Wissenschaft setzten alles in Bewegung, ihn zu vernichten, teils weil sie sich durch seine Bücher getroffen fühlen, teils weil sie ihm vorwerfen, die ganze Gegend um Löwen mit Sprachen und Wissenschaft vernichtet zu haben. Sie verleumdeten ihn, ein blinder Anhänger Luthers zu sein. Seine Freunde beruhigten die Fürsten und den Papst mit dem Versprechen, er werde etwas gegen Luther schreiben. Aber die Gegner warteten nicht auf das Buch, sondern verstärkten ihre Attacken. Die Fürsten drohten schon zu glauben, Erasmus hätte mit der Versicherung seiner Distanz zu Luther nur leere Worte gemacht. Nun hatte er aber außerdem zweitens von Luther einen Brief mit dem Versprechen erhalten, er würde ihn nicht schriftlich angreifen, wenn er sich im Streit ruhig verhalte. Das aber war ein Grund mehr, eine Schrift gegen ihn herauszubringen. Denn Briefe zwischen den Großen waren damals alles andere als vertraulich und hätte er nichts getan, hätte es so ausgesehen, als hätte er sich mit Luther heimlich verabredet. Schließlich waren es aber nicht nur die Fundamentalisten von Löwen, die gegen ihn loszogen, sondern die Feinde hatten auch begonnen, sich in Italien zu formieren. Rings um den Sekretär des Papstes und Leiter der päpstlichen Akademie in Rom hatten sie sich versammelt, um ihn ins Verderben zu stürzen. Hätte er das Buch nicht herausgegeben, so hätten die burgundischen Fundamentalisten den „ römischen Gesellen “ Anlaß gegeben, ihn als gefährlichen Glaubensspalter zu denunzieren. Dem ersten Buch des Erasmus gegen Luthers Werk, welches die Willensfreiheit leugnete, folgte noch ein zweites. Ohne Freiheit des Willens wurden die Ideen von Gottes Gerechtigkeit und Gottes Barmherzigkeit sinnlos. Ohne freien Willen gab es keine persönliche Verantwortung, keine Moral, keine Möglichkeit, der eigenen unsterblichen Seele die Entwicklung angedeihen zu lassen, um die es ging. In einem gewissen Sinn war der freie Wille sogar Voraussetzung der Menschenwürde. Erasmus hatte von allen Florentiner Humanisten Pico am höchsten gestellt, der vor allem der neuplatonischen Tradition anhing und die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellte. Dem ersten Buch des Erasmus gegen Luther De libero arbitrio von 1524 folgte 1527 noch ein zweiter Teil Hyperaspistes. Dieser zweite Teil hatte überraschenden Erfolg. Der große katholische Potentat Karl V. hat seine Bedeutung gerühmt. Luther selbst war so empört, daß er eine „ Widerlegung “ ankündigte. Diese ist nie erfolgt und Luther hätte sich auch sehr schwer getan. Erasmus war so wenig ein Anhänger des katholischen Dogmas wie er ein blinder Anhänger Luthers gewesen ist. Auf dem Konzil von Trient sind die gesamten Vertrauten Gespräche ebenso auf den Index gesetzt worden wie Das Lob der Torheit. Aber auch vieles aus den Bemerkungen zum Neuen Testament endete auf dem Index. Es sind genau jene Werke des Erasmus, die ein halbes Jahrtausend lebendig geblieben sind. 79 Erasmus Inzwischen nahm die konfessionelle Entwicklung in Basel ihren Lauf. Der alternde Bischof, ein Bewunderer von Erasmus, wurde stark zurück gedrängt. Die Anhänger der Reformation gewannen schnell an Boden. Es gab öffentliche Tumulte. Oecolampad, der frühere Helfer von Erasmus bei der Neuausgabe des Neuen Testaments, verlangte eine Entscheidung. Ein Aufruhr der Bürger führte zu einer Zusammensetzung des Rates der Stadt ohne Katholiken. Im Jahr 1529 wurde der katholische Gottesdienst verboten. Die Klöster wurden aufgehoben. Es gab den üblichen „ Bildersturm “ der phantasielosen Nüchternheit. Die Universität mußte schließen. Erasmus erlebte mit umgekehrten Vorzeichen, was ihn aus Löwen vertrieben hatte. Dort mußte er dem Versklavungsversuch der katholischen Fundamentalisten entrinnen, hier der Gefahr der protestantischen Unterdrückung. Die geistlosen Vorwürfe in der frühen Erasmusliteratur, ihn zum gewissenlosen und „ vaterlandslosen “ Opportunisten zu stempeln, waren purer Unsinn. Gerade sein Gewissen hatte ihn dazu getrieben, jeweils dorthin zu fliehen, wo noch immer die größtmögliche geistige Freiheit herrschte. Als nächsten „ Fluchtort “ hatte er Freiburg gewählt. Sein alter Bewunderer, Christoph Utenborn, Bischof von Basel, war bereits gestorben, dessen Domkapitel war nach Freiburg geflohen. Freiburg war nämlich die Hauptstadt des damaligen Vorderösterreich, das von Ferdinand I. regiert wurde, jenem der in Mecheln erzogenen drei Kinder, das Erasmus am nächsten stand und dem er gleich drei seiner Werke gewidmet hatte. Als Landesfürst konnte er Erasmus einen Schutzbrief ausstellen, der die Sicherheit der Reise nach Freiburg gewährleistete und der auch in Freiburg selbst hilfreich sein konnte. Ferdinand hatte ihn 1528 mit den größten Versprechungen nach Wien eingeladen. Erasmus mied den Wiener Hof jedoch noch mehr als jenen in Mecheln. In Freiburg fand er auch ein freudiges und großes Willkommen. Er fand die Stadt in vieler Hinsicht so angenehm, daß er 1531 sogar ein Haus hier kaufte und bis 1534 hier blieb. Allerdings erkannte er, wie viele Reformer ein Spielball der deutschen absoluten Regionalfürsten wurden. Besonders befremdete es ihn, daß der Starrsinn, der sie kennzeichnete, bei den Reformern oftmals noch willkürlicher und selbstgerechter war als bei manchen katholischen Kirchenfürsten. Am ärgsten aber fand er es, daß durch die Absorbierung aller Kräfte durch den Konfessionsstreit nicht zuletzt bei den Protestanten, die „ Bonae literae “ und die Bildung überhaupt Schaden litten. Hatte er früher mit Recht die Amtskirche der Bildungsfeindlichkeit beschuldigt, so beschuldigte er jetzt Luther am Niedergang der Bildung. Der Kaiser sah allerdings ein, daß er zuerst den Papst dazu bringen mußte, die Mißbräuche der Kirche zu beseitigen, ehe er eine Aussicht hatte, den Protestantismus einzudämmen. Erasmus erlebte allerdings in den letzten Freiburger Jahren eine neue große Welle des literarischen Schaffens. Er vermied es, über den Streit zu schreiben und wollte nur Positives liefern: Drei neue Auflagen der Vertrauten Gespräche, zwei 80 Erasmus neue Auflagen der Adagia und des Neuen Testaments. Er wußte, daß er ihnen seine Größe verdankte, die er dem negativen Streit entgegenstellen wollte. Dazu kam neu die Ausgabe des Kirchenvaters Basilius. Sein einziger Beitrag zum Konfessionsstreit war die Abhandlung „ Über die liebliche Eintracht der Kirche “ . Aber er wußte, daß er nichts ausrichten würde. Wie sehr er alle Hoffnung verloren hatte, zeigt seine Abhandlung „ Über die Vorbereitung auf den Tod “ . Dennoch entstand auch sein umfangreichstes eigenes Werk in diesen letzten Jahren, der Ecclesiastes. Er wußte natürlich, daß sein Titel die griechische Übersetzung des hebräischen „ Koheleth “ ist, das selbst der Titel eines berühmten Predigerwerks war, dessen Autor sich als „ Sohn Davids, König von Jerusalem “ , also Salomon, einführt. Das Buch ist sogar in die christliche Bibel eingegangen und zwar in die Lehrbücher des Alten Testaments, wo es den Titel „ Der Prediger Salomo “ führt. Es hat tiefen Einfluß bis in die neue Literatur ausgeübt. Der amerikanische Romancier Thomas Wolfe hat es „ das größte Stück Literatur “ genannt, „ das er je gekannt hat “ . Erasmus schrieb über die Art zu predigen, doch es kam eine Art Zusammenfassung seiner Moraltheologie und mehr heraus. Im hebräischen Original heißt es im ersten Kapitel: „ Ich, der Prediger, war König über Israel zu Jerusalem und richtete mein Herz darauf, die Weisheit zu suchen und zu erforschen bei allem, was man unter dem Himmel tut. “ Des Erasmus Ecclesiastes scheint ein direkter Hinweis auf Salomo zu sein. Bei Erasmus wird die Verpflichtung des Predigers mit jener des Königs verglichen. Seine Aufgabe sei jedoch noch schwieriger, weil er auch den wirklichen König beraten können sollte. Der Prediger steht an Geduld und Hingabe über dem Eremiten, an Würde über den Propheten, so wie der Evangelist Johannes über dem Engel steht. Der besondere Hinweis auf Johannes unterstreicht die Vorliebe für esoterische Spiritualität. 32 Beatus Rhenanus, der ihm besonders nahe stand, hat er in der Spätzeit wiederholt gesagt, hätte er gewußt, daß sich die Zeit so katastrophal zu Spaltung, Streit und Haß entwickeln würde, er hätte Vieles in seiner Frühzeit gar nicht oder nicht so geschrieben, wie er es getan hatte. Der späte Erasmus ist der reife Erasmus, der vorsichtig auswählte, was er schrieb und veröffentlichte. Die Ausgabe des Basilius von Caesarea sollte nicht nur dem Bekanntmachen eines der größten Kirchenväter, sondern zugleich der Überwindung der Kirchenspaltung dienen. Basilius war so ökumenisch gesonnen, daß er von Katholiken, Protestanten und Orthodoxen verehrt wird. Seine Abhandlung über den Heiligen Geist zielt ebenso in gnostische Richtung wie Teile seiner Liturgie, die bis jetzt noch an Festtagen der Gnosis-freundlichen koptischen Kirche gebraucht werden. 32 Vgl. Markus Enders und Rolf Kühn: Im Anfang war der Logos. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs. Freiburg 2011 81 Erasmus Als eine Hungersnot ausbrach, verkaufte er die ererbten Ländereien und schuf Suppenküchen für die Armen, in denen Christen und Juden gleich behandelt wurden. Als Erzbischof von Caesarea schuf er soziale Einrichtungen, die in der damaligen Zeit einzigartig waren. Basilius ging auch nach Ägypten, um die gleichfalls ökumenisch gesinnten Pachomianer-Mönche kennen zu lernen. Er übernahm das Meiste von den koptischen Mönchen und gründete um 355 ein Kloster, das zum Vorbild für die orthodoxen Klöster wurde. Zum Wichtigsten gehörte, daß er zu den bisher allein herrschenden Aufgaben der Mönche Gebet, Askese und körperliche Arbeit besonders betontes, intensives Bibelstudium forderte. Was Erasmus besonders für ihn gewann, war der Umstand, daß er für eine gute christliche Erziehung auch forderte, die griechischen Autoren und Philosophen einzuschließen. Der Kampf gegen die übermächtigen Konfessionshasser ermüdete ihn und es gab Augenblicke, in denen der Körper nachzugeben drohte. „ Daß es dem Herrn doch gefallen möchte, mich aus dieser rasenden Welt in seine Ruhe zu rufen “ , schrieb er in einem Brief. 33 Der neue Papst, Paul III., wollte endlich mit dem Konzil Ernst machen, um Frieden und Einheit wieder herzustellen. Erasmus hatte ihn beglückwünscht. Der Papst war dankbar für seine Teilnahme. Zum dritten Mal wurde ihm die Kardinalswürde in Aussicht gestellt, doch winkte er ab, bevor es zur Ernennung kommen konnte. Mit der Basilius-Ausgabe hing dann auch die Vorbereitung zur Veröffentlichung einer lateinischen Übersetzung der Werke des hellenistischen Origines zusammen, die dem späten Erasmus sehr am Herzen lag und zu der es nicht mehr kam. Sowohl die Basilius-Ausgabe wie das Werk des Origines standen mit dem Koheleth in Zusammenhang, dem Predigerwerk, das Salomo zugeschrieben wurde. Sie sollte dem Ecclesiastes, auch einem Predigtwerk, folgen und die äußere Betätigung für eine bereits lang währende innere Affinität darstellen. Die Origines-Übersetzung samt den Kommentaren dazu, sollte wichtige Bildungsarbeit leisten, denn es gibt Anzeichen, daß Erasmus durch seine Lektüre Dinge in Erfahrung gebracht hatte, welche seine Zeitgenossen nicht kannten und die erst die moderne Religionswissenschaft entdeckte. So weiß man heute, daß der ursprüngliche, volle Name „ Horigines “ gewesen ist, was „ ein von Horus stammender “ bedeutet. Horus war der jungfräulich geborene Sohn der Göttin Hathor-Isis, hing mit deren Mysterien und dadurch mit der Traditionskette zusammen. Früher war angenommen worden, der Lehrer von Origines sei Ammonios Sakkas gewesen, der auch Plotins Lehrer gewesen und christlich getauft war. Jetzt weiß man, daß sein Lehrer auch Ammonios hieß, aber ein nicht getaufter Platoniker war. Später war er Schüler des ursprünglich griechischen Kirchenvaters Clemens von Alexandrien, der einmal auf ein 33 P. S. Allen: Opus Epistolarum, op. cit., Bd.III, Kolumne 1506 82 Erasmus apokryphes, geheimes Markus-Evangelium hingewiesen hat und der wohl aus guten Gründen von Papst Benedikt XIV. im 18. Jahrhundert aus der Liste der katholischen Heiligen gestrichen worden ist. Es war nicht nur die Freude der Entdeckung interessanter neuer Seiten, sondern eine besondere Freude, eine Bestätigung für seine eigene Spiritualität zu finden. Es war neben anderen Arbeiten zweifellos die wichtigste und so wichtig, daß das Bedürfnis nach dieser neuen Arbeit so groß wurde, daß er beschloß, nach Basel zurück zu gehen, um direkt bei Froben wohnen und arbeiten zu können. Die klugen Basler Freunde hatten dies kommen gesehen. Ende Mai 1535 zog er in das neu erbaute größere Haus von Froben ein, in dem bereits ein eigenes Zimmer für ihn gebaut worden war, das für seine Bedürfnisse gestaltet war. Hier regierte bereits der Sohn seines alten Freundes Froben, Hieronymus Froben. Die alten Freunde hießen ihn begeistert willkommen. Die Reizbarkeit und die Aufregungen der Katholikenverfolgung hatten sich ziemlich gelegt. Er brauchte keine Auseinandersetzungen mehr zu fürchten. Das im Alter aufsteigende Heimwehgefühl wurde durch Burgunderwein gestillt. Er saß über den Vorbereitungen der Origines-Übersetzung. Dieser hatte in Alexandrien den reichen Ambrosius kennen gelernt, der ein Anhänger des Gnostikers Valentinus war. Nach der kirchlichen Version gewann Origines Ambrosius dazu, den Glauben des Christentums anzunehmen. Das klingt darum fragwürdig, weil er fünf oder sechs Jahre später mit Ambrosius einen formellen Rechtsvertrag schloß, in dem dieser sich verpflichtete, für die Verbreitung seiner Schriften durch Kopisten Sorge zu tragen. Aber diese Schriften waren voll von Häresie. Er begann, sogar auf Bitten des Ambrosius, mit einem großen Bibelkommentar, wobei dieser natürlich mit dem Johannesevangelium begann und dies unter besonderer Berücksichtigung seiner gnostischen Exegese durch Herakleon. Auf einer Reise nach Griechenland hat sich Origines zum Presbyter, das heißt zum Priester salben lassen. Der griechische Metropolit Demetrios aber setzte durch, daß ihm zuerst die Lehrbefugnis entzogen und später auch das Priesteramt abgesprochen wurde. Origines ging nach Caesarea und plante das ganze Christentum seiner Zeit im hellenistisch-neuplatonischen Sinn um zu gestalten. In seinen letzten Jahren predigte er in Caesarea, wo er predigen durfte und gestaltete nach der Perikopenordnung eine lange Predigtkette, in welcher er die Bücher des Alten und Neuen Testaments auslegte. Auch hier gab es immer wieder Anschuldigungen wegen Häresie. Diese führten einmal sogar zur Notwendigkeit einer schriftlichen Selbstrechtfertigung vor dem Bischof von Rom. Der so oft der Häresie Beschuldigte war freilich ein Mann nach dem Geschmack des Erasmus. Man bedenke nur: Sein Plan war es, eine wissenschaftlich ernst zu nehmende, textkritische Ausgabe des Alten Testaments herzustellen, was hunderte Jahre später Lorenzo Valla in einer textkritischen Ausgabe 83 Erasmus getan hatte, dessen Werk Erasmus durch eine ebensolche Ausgabe des Neuen Testaments ergänzt hatte. Origines scheint diese Arbeit, die er „ Hexapla “ nannte, zumindest zum Teil verwirklicht zu haben, doch ist sie verschwunden. Die „ Tetrapla “ war eine Verkürzung davon. Erhalten sind ein kleiner und ein großer Kommentar zum Hohen Lied, das schon in der Templergnosis eine wichtige Rolle gespielt hat, dazu der Kommentar zum zwanzigsten Kapitel des Buches Ezechiel. Auch einige Bücher der Kommentare zum Johannes-Evangelium sind erhalten. In seinem Werk Peri archon gab er zum ersten Mal eine Gesamttheorie des Universums, wie sie im Grunde tausend Jahre später Dante gegeben hat. Wie Dante hat auch Origines zwischen zwei Kirchen unterschieden. Dante nannte die wirkliche, reale, die Ecclesia carnalis, die auf Geld und Macht aus war und die ideale, die er sich ersehnte Ecclesia spiritualis, die Geistkirche. Beim Platoniker Origines ist die realhistorische Kirche seiner Zeit gleichfalls verrottet und er stellt ihr die platonische Idee der Kirche als positives Muster gegenüber, die eine unsichtbare Kirche der Menschen und Engel ist. Nicht zuletzt hat er auch drei Arten des Verständnisses der heiligen Texte unterschieden, so wie es bei Dante vier waren. Die drei Arten des Origines entsprechen den drei gnostischen Kategorien der Menschen, bei denen jeweils der Körper (soma) oder die Seele (psyche) oder der Geist (nous) das Verständnis dominieren. Sie entsprechen des Hylikern, Psychikern und Pneumatikern. Wie Erasmus hat auch Origines die Behauptung der Minderwertigkeit des Alten gegenüber dem Neuen Testament zurückgewiesen. Wie Erasmus hat er auch das Wissen der griechischen Antike mit dem Christentum verbunden. Nur vollzog sich bei ihm diese Verbindung grundsätzlich nach dem Prinzip des Herakleon. Nur beim Neuen Testament war er vorsichtiger. Aber auch diese Vorsicht verband ihn mit Erasmus. Der ermüdete und erkrankte Erasmus wollte auch von Basel aus doch noch einmal einen Beitrag zur kirchlichen Einheit leisten und das Ergebnis war die kleine Schrift De puritate ecclesiae. Gewidmet war sie keinem Papst oder Fürsten oder ruhmreichen Humanisten, sondern einem Zöllner, Christoph Eschenfellner, den Erasmus auf seinen Reisen an einer Grenze nicht nur als Bewunderer, sondern auch als wirklichen Kenner seines Werks kennen gelernt hatte. Das vielleicht Ungewohnte aber Wichtige an dieser Widmung war, was erst auf den Hinweis auf den „ Zöllner Matthäus “ und der Forderung nach geistiger Reinheit im Hause Gottes (darum geht es ja auch im Titel) noch als eine besondere Klage steht: „ Wie sieht es heute in der Welt aus! Was einst für den Tempel Salomons galt, gilt in höherem Maße für uns. Für uns alle gilt, was zu den (levitischen) Priestern gesagt wurde: ‚ Seid heilig, wie ich heilig bin, der Herr, euer Gott ‘ . “ Die Erwähnung des Tempels Salomos war so ziemlich das Letzte, was er geschrieben hat. Die Widmung stammt aus dem Januar 1536. Im Februar traf er 84 Erasmus seine letzten Verfügungen. Im März sehnte er sich nach einer Reise in die Heimat und machte sogar Pläne dazu. Aber im Grunde war er sich bewußt, daß es dazu zu spät war. „ Wäre doch Brabant nicht so weit “ , klagt er. 34 Er starb am 12. Juli umgeben von Freunden. Seine letzten Worte waren „ Lieve God “ - in der Muttersprache. Der katholische Priester Erasmus liegt im protestantischen Münster zu Basel begraben. Freilich war er ein eher ungewöhnlicher Priester, der einzige der Welt, der drei Mal die Kardinalswürde abgelehnt hat, um seine geistige Unabhängigkeit zu behaupten. Seine Feinde, die Konfessionshasser, hat er jedoch im Tod überwunden. Es wäre nicht überraschend, wenn er noch im Sarg sein verschmitztes Lächeln gehabt hätte. Die Geistigkeit des Erasmus ist zu Recht weltbürgerlich, universal, und „ synkretistisch “ genannt worden. 35 Sie hat an einer Welt gebaut, die jedem seinen Platz zuweist wie Dante. Die Voraussetzung zu dieser Ordnung ist die Möglichkeit der Entfaltung freier Menschen. Diese war ihm so bewußt wichtig, weil er sie in seinen frühen Jahren in seinem Mönchsdasein verloren gehabt hatte. Wie muß sie denkenden Menschen erst heute wichtig sein, wo der Mensch durch die vielen konfessionellen wie sekulären totalitären Verkrüppelungs-Methoden ausgesetzt werden kann. Als der große Landsmann von Erasmus Jan Huizinga im Jahr 1936 die Gedenkrede im Basler Münster hielt, da wies er auf die brennende Aktualität hin, die Erasmus damals im „ Getöse einer taumelnden Welt “ hatte, denn in der Aufrüstung Hitlers wie in den Säuberungsprozessen Stalins kündigte sich ein neuer Höhepunkt der Barbarei an. Heute ist das „ Getöse “ von damals zu einem wahren Höllenlärm angeschwollen, der die Aktualität der damaligen Worte Huizingas in ein grelles Licht der Dringlichkeit taucht. Er sagte damals: „ Wir alle brauchen Erasmus als Symbol. Daß er werden konnte, daß seine historische Figur diese sinnbildliche Gewalt erlangen konnte, daß sie immer noch mahnend und warnend der Welt vor Augen steht, darin liegt schließlich der beste Beweis seiner unvergänglichen Größe. Zu den Geistern, deren wir nicht entbehren können, gehört auch er. Der welthistorische Zeitpunkt, den wir durchleben, ist wiederum die Stunde des Erasmus. Seine Stimme klingt von weitem, schwach im Getöse einer taumelnden Welt. Aber laut und stark tönt diese Stimme, der Ruf der Menschlichkeit, in den Herzen all derer, denen die Hoffnung auf den Sieg der Wahrheit und des Guten nicht genommen werden kann. “ 36 34 P. S. Allen, op. cit., Band III., Kolumne 152 35 Richard Newald, op. cit., S. 14 36 Jan Huizinga: Erasmus. Gedenkrede im Basler Münster 1936, in: J. Huizinga: Verzamelde werken. Bd. VI., S. 214 - 215. Deutsch von Richard Newald 85 Erasmus RABELAIS Den größten Geist der modernen Menschheit hat ihn Balzac in seinem Roman Vetter Pons genannt Er war auch ein wirklicher Poeta doctus. De Bais aber hat die poetische „ Grabschrift “ auf ihn gedichtet: O Pluto, Fürst der schwarzen Rachen, Wo niemand lacht in Deiner Näh ’ , Empfange heute den Rabelais Und all die deinen werden lachen. Zwischen diesen beiden Polen spannt sich die Weite des fünfbändigen Romans Gargantua und Pantagruel, der eine Art reziproken Faust darstellt. 1 Reziprok deshalb, weil Goethe in der geistigen Freiheit des Hofes von Weimar die Geschichte seines Helden, von faustischem Wissensdurst und Erkenntnisdrang beseelt, offen schreiben konnte, während der große französische Autor ein Märtyrer der Freiheitsunterdrückung und der Hexenjagd auf Humanisten und Autoren mit offenem Horizont geworden ist. Er mußte in seinem Roman eine äußerlich heiter, ja komisch erscheinende Gegenwelt aufbauen, um den wesentlichen und sehr ernsten Gehalt und Sinn seiner Dichtung oftmals vorsichtig und sorgfältig zu verbergen. Infolge seines großartigen Humors kann man sogar die Oberfläche des Romans 2 allein lesen und genießen, ja sogar manche Forscher haben sich damit begnügt. Die wesentlichen Bedeutungen sind durch Symbole verborgen, die man entschlüsseln muß und die wörtlich genommen nur Unsinn ergeben. Rabelais knüpft in mehrfacher Weise sowohl an den Rosenroman wie an Erasmus an. Ja, die französische Kritik hat in „ rarer Einmütigkeit “ im Rosenroman einen „ Vorläufer “ von Gargantua und Pantagruel gesehen. Das reicht von der Verachtung für die Bettelorden bis zur Ablehnung jedes konfessionellen Funda- 1 Einer seiner Biographen hat sein Werk viele Male in verschiedener Hinsicht mit Goethes Faust verglichen. John Cowper Powys: Rabelais, London 1948, S. 48, 49, 55, 67, 70, 87 und mehr. 2 Ausgaben: Rabelais: Œ uvres Complètes, Bibliothèque Pleieade, Editions etablié par Jacques Boulenger, revue par L. Scheleskj, Paris 1982 An Übersetzungen wurden hier die von Gottlob Regis, hg. von Ludwig Schrader, München, o. J. (1960) und jene von Horst und Edith Heintze verwendet, welche die alte Übersetzung Gelbckes erweitert und verbessert hat, Frankfurt 1994. Obwohl die Übersetzung von Regis dem Original vor allem auch im Ton näher kommt, werden die meisten Zitate nach Heintze gebracht, weil sie dem modernen Leser eher entsprechen. mentalismus. In den letzten Büchern hat Rabelais auch personifizierte Allegorien als Charaktere verwendet. Erasmus ist als Vorläufer sogar noch wichtiger. Raymond Lebègue hat das im Einzelnen nach den Themen Erziehung, Religion und Politik aufgeschlüsselt. Das Ideal geistiger Freiheit, die Ablehnung aller radikalen Extreme und antike Bildungstradition spielen dabei eine Hauptrolle. 3 Rabelais selbst hat Erasmus im geistigen Sinn geradezu als „ Vater-Mutter “ von sich bezeichnet. Rabelais war nicht nur ungewöhnlich gebildet - darum der Faust-Vergleich, - sondern durch die Doppelbedeutung des Romans gezwungen, besonders genau zu sein, wenn es darum ging, auf diese Doppelbedeutung hinzuweisen. Schon der Titel des ersten Buches, das 1534 erschien, teilt dadurch Wesentliches über den Roman mit: Das unschätzbare Leben des großen Gargantua, Vater Pantagruelis, weiland verfaßt durch Meister Alcofribas, den Abstraktor der Quintessenz. Beim Epitheton „ groß “ stellt es sich erst im Verlauf des Romans heraus, daß es auch doppelsinnig ist, denn es geht nicht nur um den „ riesigen “ Körperwuchs, sondern auch darum, daß er in geistiger Weise hervorragend ist. Der Name Alcofribas ist nur der Vorname, der hier ungenannte Nachname ist Nasier und der ganze Name ist ein Anagramm für François Rabelais, der in den beiden ersten Büchern seinen Namen nicht nennen wollte. Er ist aber nicht nur ein Titel- Pseudonym, sondern Alcofribas tritt im Roman als der Erzähler des Ganzen auf. „ Abstraktor der Quintessenz “ ist eine Metapher für das ganze Schaffen des Autors, der das Wesentliche in abstrahiert-verdichteter Form wieder gibt. Es bezieht sich freilich nicht auf den umständlichen Stil, sondern auf den durch diesen Stil ausgedrückten Sinn. Die zweite Bedeutung der „ Quintessenz “ bezieht sich gewiß nicht auf die pseudo-naturwissenschaftliche Alchemie, die aus Quecksilber Gold machen wollte, auch wenn er im dritten Buch lediglich als stilistische Metapher den Mikrokosmos des menschlichen Körpers mit einem Athanor vergleicht. Er meint damit vielmehr jenen „ Stein der Weisen “ , der für das Ziel innermenschlicher, spiritueller Entwicklung im Sinn der hermetischen Tradition steht. Im fünften Buch landen Pantagruel und Panurg mit Anhang im Land der Quintessenz Entelechien. Aus dem Text geht hervor, daß Rabelais sehr genau weiß, daß beide Begriffe von Aristoteles stammen. Sowohl die achtzehnhundert Jahre alte, aber jung und schön wirkende Königin hat in ihrem Gefolge auch eine ganze Gruppe von „ Abstraktoren “ . Es scheint in Entelechien Leute zu geben, welche Alchemie auf die falsche Weise betreiben, was zur Folge hat, daß sie Dinge durchführen, die außer heiteren Effekten nichts bringen. Manche melkten Böcke und fingen Milch in einem Sieb auf. Andere schnitten das Feuer mit Messern und 3 Karl August Ott in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Übersetzung des Rosenromans, München 1976, Bd. I, S. 27. Raymond Lebègue: Rabelais, The Last of French Erasmiens. In: Journal of the Warburg and Courtault Institutes. XII (1949), S. 91 - 100. 87 Rabelais schöpften Wasser in Netzen. Es ist wohl kein Zufall, daß die alchemistischen Schwindler mit den gleichen Methoden arbeiteten wie die spätscholastischen Schwindler in der Theologie. Die Königin aber nimmt Panurg und alle seine Leute in den Stand und Rang von Abstraktoren auf. Sie werden dadurch Abstraktoren, daß der Obertabachin (hebräisch für Oberkoch) sie in die Liste der Abstraktoren einträgt. Das wäre ein Grund, um die Verfasserschaft von Rabelais für das fünfte Buch anzuzweifeln. Denn es könnte sich ja der ungenannte Autor über die Titel des ersten Buches, in dem sich Rabelais selbst als Abstraktor bezeichnet, lustig gemacht haben. Es ist aber doch wohl weit eher so, daß die wirklichen Abstraktoren nicht im Dutzend kommen und er sich über die spätscholastischen Pseudo-Abstraktoren lustig gemacht hat. In der französischen Literatur gibt es ja zu seiner Zeit keinen zweiten seines Ranges. Ein kurzer Blick auf sein Leben macht sofort die Tragik seiner Entwicklung sichtbar, die er durch seinen Humor nicht nur so großartig überspielt, sondern innerlich auch überwunden hat. 4 In der Nähe von Chinon in der Touraine, dem Garten Frankreichs, war er geboren. Sein Vater, ein erfolgreicher Anwalt und reicher Gutsbesitzer, schickte ihn zunächst täglich vom heimatlichen Gut La Divinière in die Schule der nahe liegenden Benediktinerabtei von Seuilly, wo man ihm christliches Wissen beizubringen versuchte. Die mitunter drastischen Methoden des Unterrichts weckten anstatt der gewünschten Wirkung nur seinen Trotz, denn sein wirkliches Interesse gehörte der Astronomie. Sodann wurde er auf eine im weiten Umkreis bekannte Klosterschule La Baumette geschickt, in die vornehme Familien ihre Söhne sandten, wo er auch sein Noviziat absolvierte. Er war nur der dritte Sohn und mußte billig versorgt werden. Überraschenderweise wurde es eine glückliche Zeit, da er dort in drei jungen Aristokraten wirkliche Freunde fand. Es waren Geoffroy d ’ Estissac und die Brüder Jean und Guillaume du Bellay. Nach dem Ablegen der Gelübde wurde er in das Bettelordenkloster der Minoriten Puy-Saint-Martin verbannt, in dem er sich viele Jahre wie ein Gefangener fühlte. Seine Lebenslust und sein Humor, weit mehr noch aber sein Erkenntnisdrang, in dem er weltliche humanistische Bücher las, erzeugten Mißtrauen und Widerstand. Zum Priester geweiht konnte er zeitweilig die Klostermauern verlassen, um in den umliegenden Ortschaften die Messe zu lesen. Rabelais traf sich mit einem Kreis von gleichgesinnten, bildungsdurstigen, geistlichen wie sekulären Humanisten. In jenen Jahren hatte Erasmus sein Novum Instrumenmtum omne (1516) veröffentlicht. Bereits sein textkritischer Kommentar zum Lukas-Evangelium hatte die katholischen Fundamentalisten veranlaßt, in jedem Buch, das nur altgriechisch aussah, ein Werk des Teufels zu sehen. Durch die Sorbonne beflügelt hatte der Abt des besonders bildungs- 4 Vgl. Josef Nuster: Humor. Gottesgabe der Lebensfreude. Dissertation, Wien 2010 88 Rabelais feindlichen Minoritenklosters eine Durchsuchung von Rabelais Zelle angeordnet. Als er dessen Griechisch-Studien herausfand, wurde Rabelais in das unterirdische Verlies des Klosters geworfen. Zu seinem Glück entdeckte ihn da sein ehemaliger Schulfreund Geoffroy d ’ Estissac, der es inzwischen zum Bischof von Maillezais gebracht hatte, und holte ihn bei einer Visite des Klosters nicht nur aus dem Verlies, sondern auch aus dem Kloster heraus. Ja mehr noch: Da Geoffroy auch noch Abt eines Benediktinerklosters war, wurde Rabelais Benediktiner. Zudem lebte er überhaupt die meiste Zeit im Gefolge des Bischofs in der Abtei von Ligugé bei Poitiers, wo er bischöflicher Sekretär und zugleich Erzieher eines Neffen des Bischofs war. Er schrieb hier sogar sein erstes gedrucktes Werk, eine lateinische Versepistel an einen befreundeten, lokalen Dichter-Juristen. Sein Erkenntnisdrang trieb ihn bald genug nach Paris. Hier studierte er Medizin und Biologie und verkehrte im Kreis von Gleichstrebenden. Er mußte Zeuge werden, wie einer der Seinen, Louis de Berquin, auf Betreiben der Sorbonne von der Inquisition hingerichtet wurde. Das war umso bedrohlicher, als Berquin Mitglied des Königlichen Rates und einer der einflußreichsten Humanisten in Paris gewesen war. Rabelais verließ den heißen Boden und ging nach Montpellier, wo sich damals die angesehenste medizinische Fakultät Frankreichs befand. Im Jahr 1530 inskribierte er hier, erwarb innerhalb einer unglaublichen Rekordzeit das Bakkalaureat und begann bereits 1531 als Arzt zu praktizieren. Er ging als Arzt nach Lyon, das aus drei Gründen für ihn sehr wichtig wurde. Erstens traf er hier den Verleger Gryphe, der seine ersten Bücher herausbrachte und auch die späteren Bücher erschienen in Lyon. Zweitens war Lyon nicht nur ein Zentrum der Buchproduktion, die im „ literarischen Viertel “ der Stadt lag, sondern er fand hier auch einen interessanten Humanistenkreis vor. Durch diesen hat er anscheinend auch Anschluß an die geheime Bruderschaft Societé Angélique gefunden, der er nach Peladan angehört hat. 5 Drittens und keineswegs zuletzt hat er hier in Lyon auch wohl 1534 den alten Schulkameraden Jean du Bellay wieder getroffen, der eben Kardinal geworden war und nach Rom zum Papst reiste. Er nahm Rabelais als Leibarzt mit nach Rom, weil er ihn von seiner Gicht heilen sollte und wurde sein erster wirklicher Mäzen. Bereits 1532 war der erste Roman von Rabelais Pantagruel erschienen, dem zwei Jahre später der Roman über dessen Vater Gargantua folgte. Im Jahr 1542 hat Rabelais, um Ruhe zu haben, die beiden ersten Bücher etwas gemildert. Gleichzeitig hatte der ihm befreundete große Humanist und Buchdrucker Étienne Dolet zu seinem Ärger die beiden ersten Bände in der alten, radikalen Form herausgebracht und hat zugleich Gargantua als erstes Buch vor Pantagruel gereiht. Diese Reihung hat allerdings auch Rabelais sofort selbst übernommen. 5 Josephin Peladan: La clef de Rabelais. Paris 1905. Vgl. zu diesen Bindungen auch Paul Naudon: Rabelais, Franc Maçon. Paris 1949 89 Rabelais Im Jahr 1536 erhielt er in Montpellier sein medizinisches Doktorat. Der Arzt Rabelais verschrieb den Kranken nicht nur Medizinen, sondern wissend um den Zusammenhang von Geistigem und Körperlichem benützte er seine blühende Phantasie, um sie durch seine Geschichten zu erheitern. Das hatte nichts mit Spaßmacherei zu tun, sondern entsprang seiner Überzeugung von der Wichtigkeit psychosomatischer Zusammenhänge. Diese „ Geschichten “ waren gewiß genau gezielt und das war nicht alles. Im damaligen Medizinstudium wurde der größte Wert auf das Studium von Autoritäten gelegt und für Rabelais waren Hippokrates von Kos und Galenos noch wichtiger als für jene, die sie nicht im griechischen Originaltext lesen konnten. Hippokrates, der selbst als erster die empirische Forschung zur Geltung gebracht hatte, behandelte in seinem Buch Die Kunst des vollkommenen Arztes bereits psychosomatische Zusammenhänge und Galenos hatte das noch erweitert. Von der körperlichen Erscheinung des Arztes und seinen Worten bis zu seinen Berührungen des Patienten konnte das alles, zumal für einen sensitiven Patienten, eine Rolle spielen. Von dessen Empfänglichkeit bis zur Übertragung eines geistigen „ Magnetismus “ war die Beziehung zwischen dem Heiler und dem zu Heilenden wichtig. Das wurde auch von den platonischen und averroistischen Schulen tradiert. Für Rabelais war seine Funktion als berühmter und erfolgreicher Arzt von höchster Wichtigkeit, da sie ihn mit seinen beiden Mäzenen Jean und Guillaume du Bellay zutiefst verbunden hat. Es war sein erster Mäzen, Jean du Bellay, der gerade Kardinal geworden war, der ihn von allem mönchischen Verpflichtungen befreite. Du Bellay war zugleich auch Abt des Benediktinerklosters Saint-Maur-des-Fossés, nahm Rabelais in dieses Kloster auf und machte ihn hier zu einem Domherrn. Als das Kloster säkularisiert und in ein katholisches Collège umgewandelt wurde, erhielt Rabelais den Posten eines Stiftsherrn. Er trat davon zurück und war damit ein Weltpriester mit völliger Bewegungsfreiheit. Wahrscheinlich 1536 wurde ihm auch ein Sohn geboren, der allerdings bereits zweijährig einem Unfall zum Opfer fiel.1538 nahm er im Gefolge du Bellays an einem Treffen zwischen Franz I. und Kaiser Karl V. teil. Und 1539 ergab es sich, daß der Bruder des Kardinals, Guillaume du Bellay, auch Guillaume de Langey genannt, sein zweiter Mäzen wurde. Der General war zum Gouverneur des besetzten, norditalienischen Herzogtums Piemont ernannt worden. Der kränkelnde Gouverneur, den ein Kritiker den edelsten und großzügigsten Franzosen genannt hat, benötigte Rabelais dringend als Arzt. Seine kurze Zeit in Piemont ist als die glücklichste seines Lebens bezeichnet worden. Kaum aber hatte der Gouverneur Rabelais vor der Hexenjagd eines der bösartigsten und hasserfülltesten Verfolgers, des Kardinals von Tournon, gerettet, als Franz I. 1538 beschloß, gegen alle Reformer und Protestanten radikal vorzugehen. Trotz der Ablehnung der beiden ersten Bücher durch die Sorbonne schrieb Rabelais ein drittes Buch, das sich als eine Reaktion auf das völlig unpolitische 90 Rabelais Buch La parfaite amie von Antoine Heroët ausgab. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob Panurg heiraten sollte oder nicht, und auch die Späße waren weniger derb. Er durfte das Buch der Schwester des Königs, Margarethe von Navarra widmen, die der evangelischen Lehre nahe stand, und konnte es mit einem königlichen Privileg in Paris veröffentlichen. Als im Jahr 1546 nach den beiden ersten Büchern auch das dritte verworfen wurde, und als Étienne Dolet, der einmal sogar von Franz I. selbst gerettet worden war, öffentlich verbrannt wurde, floh Rabelais in die Freie Reichsstadt Metz, wo er bei einem Bekannten du Bellays unterkam. Er wurde zum Stadtarzt ernannt und schrieb an einem vierten Band, in dem er die neue Modegattung der Berichte von Entdeckungsreisen parodierte und eine phantastische Seereise von Panurg und Pantagruel zu exotischen Ländern und Inseln beschrieb. Freilich war auch hier der ernste Hintergrund das Hauptanliegen des Autors, doch war es besonders sorgfältig versteckt. Wenn beim Abschiednehmen des Panurg von seinem Vater Gargantua dieser als „ frommer Christ des Urchristentums “ bezeichnet wird, dann hatte auch der bösartigste Inquisitor keine Ahnung, daß es der Templergnosis für einen kleinen Kreis von Eingeweihten um die Wiedererweckung des Urchristentums gegangen war. Und wenn die Abfahrenden im Hafen der imaginären Stadt Tahlasse im Land Brittany angesichts der zur Gänze versammelten städtischen Bevölkerung nach einem Gebet zu Gott den Psalm Davids singen: „ Da Israel aus Ägypten zog “ , da war dem scharfäugigsten Inquisitor ebenso wenig wie der Bevölkerung klar, daß dieser Kernsatz der jüdischen Haggada ein Codewort für den Zug in diese geistige Freiheit bedeutete, den der Templergnostiker Dante den Seelen in den Mund legt, die neu in den Läuterungsberg einziehen, wo ihnen die spätere Erringung des Paradieses sicher ist. Trotzdem muß es in Metz etliches Negatives gegeben haben. Rabelais brach das vierte Buch in der fünfzehnten Zeile eines neu begonnenen Kapitels ab und schickte an Jean du Bellay einen Hilferuf. Dieser war gerade nach dem Tod Franz I. von dessen Nachfolger Heinrich II. zum Botschafter in Rom ernannt worden und nahm Rabelais mit. Es war dessen dritte und letzte Romreise. Er blieb zwei Jahre mit du Bellay in Rom und stellte hier den vierten Band fertig. Dabei hat er die Politik des Papstes sehr gut kennen gelernt und benützte dies, um satirische Anspielungen darauf im vierten Band unterzubringen. Heinrich II. strebte nämlich anfangs die Gründung einer unabhängigen, nationalen „ gallikanischen “ Kirche nach englischem Vorbild an und Rabelais wollte die Politik des Königs unterstützen. Als aber der vierte Band 1552 in Paris erschien, hatte sich Heinrich II. mit dem Papst arrangiert und wollte von einer Kritik des Papstes nichts mehr wissen. Damit hatte die Sorbonne völlig freie Hand das Buch zu verurteilen. Die Krankheit des Kardinals hatte sich in Rom bald verschlimmert, sodaß er sich in den Ruhestand zurückziehen mußte. Das hat auch seinen Einfluß als Beschützer des Dichters verringert. 91 Rabelais Nun lebte Rabelais mit ihm in du Bellays neuer Residenz in Saint-Maur-des- Fossés, einem Platz, den der Autor einmal sogar ein „ Paradies “ genannt hatte. Aber die Verfolgung ruhte nicht. Ein Vertreter der fanatischen Fundamentalisten, Gabriel de Puits-Herbault, der sich Puthertbeus nannte und der als die größte Gefahr für Religion und Moral die keltischen König-Artus-Geschichten hielt, fand ganz besonders Rabelais Kombination dieser Wundergeschichten mit dem Humor von Zirkusclowns geradezu „ pervers “ . Damit nicht genug, fand er in der Person des Dichters Charles de Sainte-Marthe einen womöglich noch radikaleren Bundesgenossen, der Rabelais als „ Atheisten “ und „ Epikuräer “ verleumdete. Da Epikur die Existenz einer unsterblichen Seele geleugnet hatte, lief das genau auf die Beschuldigung hinaus, die wenige Jahre zuvor Dolet auf den Scheiterhaufen gebracht hatte. Rabelais versank entsetzt in völlige Hoffnungslosigkeit und beschloß im ersten Affekt das Schreiben völlig aufzugeben. Wenn das konfessionelle Gezänk das Leben beherrschte, muß ihn das, da er als wichtigstes Ereignis noch vor Papstwahl und Thronbesteigung die Entdeckung Kanadas durch Jacques Cartier betrachtete, in wirkliche Verzweiflung gestürzt haben. Im Jahr 1552 hatte die Sorbonne, diese Meute von Hexenjägern gegen das freie Wort, ihre Beute endlich zur Strecke gebracht. 6 Im Februar hatte Rabelais den vierten Band veröffentlicht. Am 1. März wurde er verboten und alle Buchhändler, die ihn verkauften, wurden mit einer strengen Strafe bedroht. Rabelais war damit so gut wie tot. Ein wandernder Humanist, Denys Lambin, erfuhr im beginnenden Winter in Lyon, daß der Dichter verhaftet worden sei. Als er im Dezember darauf in Paris Umfrage nach Rabelais hielt, konnte er nichts herausfinden. Er muß 1553 oder Anfang 1554 gestorben sein. 7 Er ist ganz still verschwunden. Seine große Dichtung und Botschaft sind geblieben. Er hatte ja nicht für sich gesprochen, sondern nur als ihre Stimme gedient, um sie in die Welt zu stellen. Was nun diese Dichtung betrifft, so ist sie so mehrschichtig und so komprimiert, daß schon aus dem Titel, der Widmung an den Leser und der Vorrede eine Menge hervorgeht. So sagen schon die beiden Namen Gargantua und Pantagruel etwas aus. Als Gargantua geboren wurde, schrie er: „ Trinken, trinken, trinken! “ , worauf sein Vater Grandgoschier entschied, er müsse Gargantua heißen, was so viel wie Gurgel bedeutet, weil er seinen Durst durch die Kehle stillen mußte. Der Name Pantagruel ist zusammengesetzt aus „ pan “ , (es gibt auch die Form „ panta “ ) was griechisch „ alles “ heißt und „ gruel “ , was arabisch Durst bedeutet. Der Name meint daher „ alldurstig “ oder „ immer durstig “ . 6 John Cowper Powys, op. cit., S. 88 7 Jean Plattard: François Rabelais. Paris 1932, S. 308 92 Rabelais Aber nicht nur die beiden Namen weisen auf das Trinken hin, sondern das Motiv des Trinkens spielt auch im Prolog und im ersten Kapitel in so auffälliger Weise eine Hauptrolle und Rabelais arbeitet so durchgehend mit Anspielungen darauf, daß sich ein genauerer Blick auf das Trinkproblem lohnt. Das Vorwort des Verfassers hat an den allerersten Anfang wohl Platos Gastmahl gesetzt, weil es in jener Zeit das verbindende Buch der spirituell freier denkenden Intellektuellen war und das fast die Musenanrufung der Antike ersetzte. Vor allem aber betrachteten sich nahezu alle Autoren der Traditionskette als „ Platoniker “ . Dann kommt er aber sofort auf die kleinen Büchsen der Silenen zu sprechen, die kleinen Dosen gleichen, wie man sie heute in Apotheken findet. Das hat die Doppelfunktion, um darauf hinzuweisen, daß sie insofern Sokrates glichen, als er äußerlich häßlich war, der „ immer lache, jedem zutrinke, sich über alles lustig “ mache und „ seine göttliche Weisheit “ verstecke. Die Büchsen der Silenen hatten einen harmlos lustig wirkenden Deckel, mit allerhand „ lustigen, nichtigen “ Figuren bedeckt, aber in diesen Büchsen fände man „ eine himmlische, unschätzbare Droge. “ Er konnte bei den gebildeten Lesern der Zeit das Wissen voraussetzen, daß die Silenen von Silenus herkommen, der bei den Griechen als der „ Lehrmeister des Bacchus “ gegolten hat, des Gottes des Weins und der Berauschtheit. Darum, erklärt der Autor, in dem er die Leser, an die er sich wendet, hier seine „ Schüler “ nennt, daß sie aus den lustigen Titeln seiner Bücher, wie Gargantua und auch Pantagruel, nicht den Schluß ziehen sollten, „ es sei darin nichts enthalten als Spötterei, Narrheit und muntere Lügen “ . Sodann kommt wieder ganz präzise die wirkliche Eröffnung, versteckt unter umständlichen Gleichnissen und satirischen Ausfällen. Lest begierig und denkt dabei nach . . . was ich unter diesen pytagoräischen Symbolen verstanden haben will, und seid der sichern Hoffnung, ihr werdet durch besagte Lektüre klug und tüchtig werden, ja einen ganz besonderen Geschmack herausfinden, eine Geheimlehre, die euch über grundtiefe Geheimnisse und schauerliche Mysterien, die unsere Religion, unsern Staat und unser wirtschaftliches Leben betreffen, wichtige Aufschlüsse geben wird. 8 Da Rabelais oft Epitheta durch geradezu künstliche Anhäufung von Synonymen verstärkt und der auffällig häufige Hinweis auf Trinken und den Durst nach Wein durch die ganze Vorrede nicht abreißt, so muß diesem schon nachgegangen werden in Befolgung der Anweisung von Rabelais selbst, der auch bereits im Vorwort den Leser dazu anhält, für den Fall, wenn er beim wörtlichen Verstehen des Textes auf gar drollige Dinge stieße (wie den monomanischen Trink- und Dursthinweis), dann dürfe er sich von dieser wörtlichen Bedeutung nicht festhalten lassen wie von Sirenengesang, sondern er müßte, was nur so zufällig in lustiger Weise „ dahergeredet “ wäre, in höherem Sinn deuten. 8 Ausgabe von Heintze, op. cit., S. 36 f. 93 Rabelais Nur allzu bald weist er darauf hin, daß er dieses Buch zu keiner anderen Zeit geschrieben hat als jener des Essens und Trinkens. Genau das sei die richtige Zeit, um über so erhabene Gegenstände und tiefe Wissenschaften zu schreiben. Das ist so unlogisch, daß es zu denken gibt. Schon im nächsten Absatz heißt es, ein Dummkopf hätte gesagt, die Dichtung von Horaz röche mehr nach Wein als nach Öl. Hier wird geradezu eine Weinartigkeit der Dichtung von Horaz konstituiert. Die Gedankenkette wird konsequent fortgesetzt, denn sofort darauf erwähnt er einen Hansnarr, der das Gleiche von seiner eigenen, Rabelais Dichtung, sagt. Auch sie sei weinartig. Worauf eine dringliche Lobrede auf den Wein folgt. Am Schluß des Vorwortes werden die Leser besonders ermahnt, vergeßt auch das Trinken nicht. Sie sollten auch auf seine Gesundheit trinken und ER würde ihnen Bescheid tun. Wenn tatsächlich der Wein für die Dichtung steht, dann ist das eine Einladung zu engerer Leser-Autorbeziehung. Im ersten Kapitel setzt sich diese „ dichterische Trunksucht “ fort. Zuerst erklärt er, er fände Trost für sein Unglück durch die Hoffnung auf die jenseitige Welt und rät den Lesern sich auch mit solchen Gedanken „ oder noch besseren “ zu trösten, „ und trinkt frisch einmal, wenn ’ s angeht. “ Sodann wird berichtet, wie östlich von Rabelais Geburtsstadt ein gewißer Jean Audeau Gräben ausheben ließ und die Arbeiter dabei auf ein erzernes Grab stießen, dessen Ende sie nicht absehen konnten, da es bis in die Vienner Gemarkung reichte, also bis an den Fluß Vienne, an dem Rabelais Geburtsstadt Chinon liegt. Das Grab wurde geöffnet und an einer Stelle fand sich ein Humpen um den herum in etruskischen Buchstaben die Worte „ Hic bibitur “ stand, sowie neun Flaschen, die so aufgestellt waren, wie man in der Gascogne die Kegel aufzusetzen pflegt. „ Hic bibitur “ heißt „ Hier wird getrunken “ und es finden sich neun Flaschen. Nach der Templergnosis war Neun die symbolische Zahl der Templer und in der Gascogner Art werden neun Kegel in drei Reihen aufgestellt. Die spirituelle Geistigkeit der Templergnosis war seit 1312 offiziell begraben und wurde nun hier wieder ans Licht gebracht. Jetzt kann Templerweisheit wieder getrunken werden. Vielleicht hat Rabelais sogar gewußt, daß der Templerorden im Untergrund streng geheim gehalten, weiter bestand. Höchstens in einer so sehr verschlüsselten Weise wie hier, konnte man auf ihn hinweisen. Das „ eherne Grab “ aber reicht bis in die Gegend von Chinon, weil dort bis heute das Templerverlies gezeigt wird und in Chinon hatte sogar auch das letzte, für ihn fatale Verhör des letzten offiziellen Großmeisters Jacques de Molay stattgefunden. Am Schluß des Kapitels erklärt der Autor, es sei die mittlere der neun Kegel- Flaschen auf einem grauen . . . kleinen schimmeligen Büchlein, das in schwer entzifferbaren und zudem weitgehend verfaulten Buchstaben geschrieben war, gestanden. Er aber, indem er die Anweisung des Aristoteles befolgt, wie unsichtbare Buchstaben zu lesen seien, hätte es entziffert. Wäre er verhaftet 94 Rabelais und verhört worden, hätte er sich besonders auf diese Stelle berufen können, da es doch offenkundig war, daß sich nirgends bei Aristoteles eine solche Anweisung findet und erklären können, alle anderen Teile der Schilderung seien ebenso phantastische Erfindung. Der seltsam erscheinende Hinweis, dieses Büchlein hätte stärker als Rosen gerochen, aber nicht besser, ist ein Hinweis auf den Rosenroman, der in seiner Verachtung für die Bettelorden und mehr noch trotz seines Rosentitels nicht nach Rosen, doch dafür stärker riecht. Hier aber, ganz am Schluß des Kapitels, findet sich noch einmal eine Aufforderung zu trinken. Er versichert den Lesern, daß er dieses Büchlein übersetzt, bei dem es schon aus Tarnung vor den Zensoren angeblich um den Stammbaum der Riesen geht und nicht wie in Wirklichkeit um die begrabene Templergnosis. Es geht also viel mehr um das richtige „ Trinken “ . Die Leser werden damit den Inhalt des Büchleins ersehen können, „ sofern ihr gute Pantagruelisten seid, das heißt, wenn ihr bei vollem Becher die erstaunlichen Taten Pantagruels lest “ . Sie müssen nur den richtigen Durst haben, den Wissensdurst. Bereits John Cowper Powys faßte diese zahllosen Trinkanspielungen zu dem Satz zusammen, daß Rabelais von Ersten bis zum vierten Buch „ den Durst nach Rebensaft zum Symbol des Durstes der Menschheit nach Wissen “ gemacht hat. 9 Bevor wir uns dem zweiten Kapitel zuwenden, dem ebenso wie der Vorrede und dem ersten Kapitel eine Schlüsselrolle des Einstiegs am Anfang zukommt und auf das sich der Hinweis der „ Übersetzung “ des schimmeligen Buches unmittelbar und direkt, wenn auch nicht ausschließlich, bezieht, sei ein kleiner Exkurs eingelegt. Die Templer werden im Roman mindestens zwei Mal genannt und immer in der negativen Konnotation als Trunkenbolde. Es ist unter der langen Liste der ihnen von der Inquisition vorgeworfenen Verbrechen nicht nur das harmloseste, sondern dadurch, daß sie negativ beschrieben sind, dürfen sie direkt genannt werden. Für den Leser, der die Vorrede und das erste Kapitel richtig verstanden hat, wird die Beschreibung als Trunkenbold jedoch die positive Bedeutung vom Stillen des Wissensdursts gehabt haben. Auffällig betonte Widersprüche oder unlogisch erscheinende Behauptungen des Poeta doctus Rabelais sollten immer zu denken geben. Ein besonders drastischer Fall ist eine der Hauptfiguren des ganzen Romans, der Mönch. Es gibt vier Hauptcharaktere: Gargantua, Pantagruel, Panurg und als einzigen Nicht- Riesen den Mönch, der kein körperlicher, sondern ein geistiger Riese ist. Gargantua spielt nur im ersten Buch eine Rolle, Panurg erst ab dem zweiten Buch. Nur Pantagruel und der Mönch erscheinen als Helden in allen fünf Büchern. Wie kommt es, daß bei der Verachtung und den Angriffen auf alle 9 John Cowper Powys, op cit. S. 47 95 Rabelais Mönche und das Mönchstum gerade dieser eine Mönch eine so positive Hauptrolle spielt? Was für eine Art Mönch ist er überhaupt? Er wird im 27. Kapitel vorgestellt, das den Titel trägt: „ Wie ein Mönch von Seuilly den Klostergarten vor der Plünderung der Feinde bewahrt. “ Es stellt sich heraus, daß es bei dem Klostergarten um den Weingarten geht, aus dem die Mönche ihren Wein beziehen. „ Der “ Mönch ist jener, der im Unterschied zu allen anderen, die bei der Plünderung und Vernichtung des Weingartens resignierend nur auf Trostgebete verfallen, zum Kampf gegen die Eindringlinge aufruft. Dies geschieht mit solchen Argumenten, daß der Prior, ihn „ Trunkenbold “ nennt und befiehlt, den Mönch in den Kerker zu führen. Dieser kümmert sich aber nicht darum, reißt aus einer riesigen Kreuzigungsdarstellung ein Kreuzholz heraus, das die Länge und Stärke einer Lanze besitzt und stürzt sich auf die plündernden Eindringlinge. Rabelais hat gewiß das Templer-Motto gekannt: „ Beim Angriff die ersten, beim Rückzug die letzten. “ Der Mönch entwickelt sich zu einem Mönchskrieger im Templerstil, der eine Übermacht nicht nur zum Kampf annimmt, sondern auch besiegt. Daß er ein „ Trunkenbold “ ist, bestätigt im Sinn des Romans, daß er auch in der spirituellen Tradition des Templertums und seines Wissensdursts steht. Sein Name ist Bruder Johannes, was auf diese spirituelle Tradition eines johanneischen Christentums hinweist, wie es für die Templer zutrifft. Am Ende des ersten Buches wird er Abt der Anti-Kloster-Abtei Thelema, einer Utopie, wie Rabelais sich die Wiedererrichtung des Salomonischen Temples vorstellte. Durch die weiteren vier Bücher hindurch ist er Mönchs-Krieger und Beschützer des Pantagruel. Wurden bisher für den wichtigen Sinn des Romananfangs vor allem die Metaphern oder besser Symbole Trinken und Durst betrachtet, so sei noch ein Blick auf die allgemeine, zentrale Bedeutung dieses Anfangs geworfen, der aus der Widmung „ An den Leser “ , dem „ Prologus “ und dem ersten Kapitel besteht. Dabei zeigt es sich, daß die Widmung „ An den Leser “ in diametralen Widerspruch zum Prologus und dem ersten Kapitel steht. Das hängt damit zusammen, daß sie erst in die zweite Auflage aufgenommen wurde, weil sie die Radikalität des ersten Buches mildern sollte. Ja im Grunde hat sie den Haupthinweis des Prologus und des ersten Kapitels geradezu negiert, da dieser für Rabelais sehr gefährlich werden konnte. In den kurzen zehn Versen dieser Anrede des Lesers heißt es nämlich kurz und bündig: Hier geht es nicht um die Wahrheit, sondern allein darum, den Leser zum Lachen zu bringen, damit er seinen Kummer vergessen kann. Das Lachen sei geradezu das Vorrecht des Menschen. Bereits im „ Prologus “ liest man das genaue Gegenteil: Der Leser möge sich nicht von der heiteren Oberfläche abhalten lassen, die tief verborgene Lehre zu entdecken, die in diesen edlen Schriften verborgen sei. Ja es heißt sogar ausdrücklich, daß in diesen Schriften nicht einfach einzelnes Wissenswertes verborgen sei, sondern daß sie „ erleuchten “ sollten und daß durch sie „ Mys- 96 Rabelais terien “ geoffenbart werden, die „ unsere Religion “ und auch „ Welt und Regentenstand “ und sogar „ unseren Hausstand “ angehen. 10 Rabelais spricht hier auch direkt von „ pythagoräischen Symbolen “ und ordnet damit seinen Roman in eine Traditionslinie ein, über die sein glücklicherer Zeitgenosse Marsilius Ficinus offen sprechen konnte. Ficinus starb 1499, als Rabelais noch ein Kind war. Als hoch geehrtes Mitglied und glänzendster Name der Florentiner Akademie wies er offen auf die geheime Traditionskette hin, in welcher Rabelais genauso wie er selber stand. Ficinus hatte 1482 seine Theologia Platonica seu de immortalitate animorum ac aeterna felicitate, Libri XVIII veröffentlicht. Seine Traditionslinie führt von Hermes Trismegistos über Pythagoras, Plato und Seneca bis herauf zu Plotin und Jamblichos und noch weiter bis zu ihm selbst herauf. Robert John hat dieser Kette noch einige Namen angefügt: Proklos, Isidor von Gaza, den Troubadour Arnaut Daniel, die geheime Florentiner Bruderschaft „ Fedeli d ’ Amore “ . 11 Sie reicht aber noch weiter herauf über ganz Europa zu Shakespeare und Goethe. Auch die Templergnosis steht in dieser Traditionskette. Da die Templer in ihrem heimatlichen Frankreich besonders streng verfolgt wurden, hat sie Rabelais nur vorsichtig und anscheinend negativ als „ Trinker “ erwähnen dürfen. Den Namen Gargantua hatte er in einem Volksbuch gefunden, in dem der Riese als Gefolgsmann des keltischen Königs Artus auftritt. 12 Zwischen den wichtigen Hinweisen des Autors am Romananfang und dem eigentlichen Beginn des erzählten Geschehens bildet das „ zweite Kapitel “ , das aus einem einzigen längeren Gedicht von vierzehn Strophen besteht, den wirklichen „ Auftakt “ zum Roman. Es scheint ein zusammenfaßendes lyrisches Gesamtprogramm für den ganzen Roman oder doch zumindest für das erste Buch zu sein. Dabei waren die ersten elf Strophen eher eine rücksichtslos offene und daher gefährliche Darstellung der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart des relevanten politischen wie kirchlichen Geschehens. Die letzten drei Strophen gaben eine vorausschauende Vision der Zukunft. Manche Übersetzer und Kommentatoren der letzten Zeit haben gar nicht den Versuch unternommen, das Auftakt-Gedicht zu entschlüsseln, das nur Eingeweihten der Zeit verständlich sein sollte. 13 10 Übersetzung von Regis, op. cit., Bd. I., S. 11 11 Robert John: Dante. Wien 1946, S. 260 12 Les grandes et inestimables chroniques du grant et énorme géant Gargantua. Lyon 1532 13 Ludwig Schrader, der Kommentator der letzten Ausgabe von Regis ’ Übersetzung hat sich gefragt, ob sich das Gedicht überhaupt entschlüsseln läßt, da es vielleicht nichts anderes als eine „ parodistische Anhäufung dunkler Allegorien ohne tiefen Sinn “ darstellt (Schrader in der Übersetzung von Regis, op. cit., Bd. I, S. 443). Horst Heintze ist sich sogar ziemlich sicher, daß „ das bis heute unenträtselte Gedicht “ nicht „ nach der Übersetzung “ gedeutet werden kann, da es sich „ um einen gewollten paradoxen Scherz “ von Rabelais handle. 97 Rabelais Diese Skepsis hat einen triftigen Grund. Die Entschlüsselung dieses Gedichts ist nämlich besonders schwierig. Trotzdem soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, die einzelnen Strophen zu deuten. Wenn er geglückt ist, dann auch darum, weil in Einzelheiten Hilfe bei den bisherigen Interpreten gefunden werden konnte. Rabelais berichtet in seinem ersten Kapitel, daß ein dichterisch fiktives Grab aus Erz in der Gegend seiner Heimat gefunden worden sei, in dem man auch dieses Gedicht entdeckte. Er nennt es ein „ Traktätlein, der antidotische Firlefanz “ . Er behauptet wie fast immer, daß es um die grotesk-heitere Oberfläche gehe und zweifellos hat dies auch hier geholfen, daß die Zensoren die Schwierigkeiten der Entschlüsselung nur allzu gern auf sich beruhen ließen. Das Epitheton „ antidotisch “ ist wahr, die Komik des Firlefanz ist Tarnung. Antidotisch ist er, weil er Gegengift gegen das Gift der Ecclesia carnalis liefert. Am Beginn der ersten Strophe fehlten angeblich einige Worte. Das sollte wohl helfen, die Unsicherheit des wirklichen Inhalts von vornherein zu unterstreichen. Denn wäre das sehr verschlüsselte Gedicht von einem Zensor verstanden worden, hätte das den Tod des Autors bedeutet. Die Hauptfigur der ersten Strophen ist auf jeden Fall der Bezwinger der Kimbern nicht wörtlich, sondern gleichnishaft und das Gleichnis trifft auf wenige so zu wie auf Papst Julius II., den schon Erasmus vor der Himmelstür warten ließ. Die Kimbern waren ein Germanenstamm, der in das Römische Reich eingedrungen war und sich in der Po-Ebene niederlassen wollte. Die Kimbern waren von römischen Truppen unter der Führung des Konsuls Quintus Lutetius Catulus vernichtend geschlagen worden. Es ist eine Anspielung auf die Strafexpedition, die der junge Julius II. als Bischof im Auftrag seines päpstlichen Onkels als Führer der päpstlichen Truppen gegen die Umbrier, die ein Teil des Kirchenstaates waren, durchgeführt hatte. Gleichsam als Beweis, daß die Anspielung stimmte, hat der hochgebildete Rabelais darin gefunden, daß der Konsul auf dem Kapitol in Rom den Tempel des höchsten römischen Gottes Jupiter erneuerte, so wie Julius II. die größte und schönste Kirche, den Petersdom in Rom, zu bauen in Angriff nahm. Die Einwohner der umbrischen Hauptstadt Perugia waren von Julius Truppen so niedergemetzelt worden, wie der ganze Stamm der Kimbern von den Römern. Vom Volk hatte Julius II. einige Beinamen erhalten: der „ schreckliche “ , der „ kriegerische “ , der „ Teufel im Vatikan “ und „ der Bart “ , weil er durch viele Jahre seinen martialischen, starken und langen Bart ostentativ getragen hatte. In der (Horst Heintze in seiner Übersetzung, op. cit., S. 4). Meine Entschlüsselung des Gedichts hier folgt vor allem dem Text von Regis, da er dem Original näher ist, das natürlich in erster Linie auch berücksichtigt wurde. 98 Rabelais ersten Strophe droht er in einem Sumpf von Butter zu versinken, den es vom Himmel regnet. Diese himmlische Butter versinnbildlicht die Einnahmen durch Ablaßgebühren, die dazu dienen sollen, den Himmel zu erreichen. Es regnete sie so sehr, daß es für den Bau des Petersdoms reichte. Julius II. war bereits so tief im Sumpf der Butter versunken, daß er ihm bis an den Bart reichte. Der Bart ist ein weiterer Hinweis auf die Identität des Kimbern- Bezwingers, der wegen seines martialischen Barts vom Volk den Spitznamen „ Der Bart “ erhalten hatte. Da er schon in der Butter zu versinken drohte, rief er die Mutter (Kirche) laut um Hilfe, man möge ihm wenigstens eine Stange reichen, an der er sich festhalten konnte, um nicht ganz zu versinken. Die zweite Strophe wendet sich nicht nur gegen den Papst, sondern auch gegen einen führenden Protestanten, gegen Calvin. Manche Leute schrien, es sei noch besser den Pantoffel des Papstes zu küssen, als sich um den Sündenablaß zu bemühen. Jedoch da kam „ der listigste der Gecken “ aus dem Loch hervor, in dem man die Kresselin-Fische fängt, und das Loch steht für den Genfer See, wo man diese Fischart fängt, und wo Calvin wohnte. Calvin hatte in Paris studiert und hatte durch die von ihm mitverfaßte protestantische Antrittsrede seines Freundes Cop als Rektor der Universität einen Skandal mitverursacht. Seine Institutio Christianae Religionis hatte er schlau König Franz I. gewidmet gehabt. Entgegen der humanistischen Neigungen seiner frühesten Zeit, die ihm sogar die Zustimmung des großen Erasmus eingetragen hatten, war er später durch seinen Hexenwahn und durch die brutale Verfolgung Andersgläubiger dem Humanisten Rabelais ein Dorn im Auge geworden. Er war gegen ihn wie gegen den Papst, auch wenn Calvin in der zweiten Strophe vorschlägt, dem Papst, der so glatt wie ein Aal war, durch Aalfang-Methoden an den Leib zu rücken. Die dritte Strophe beginnt mit der Schilderung der Reaktion von Julius II., als er von der Eröffnung des Konzils gegen ihn in Pisa erfuhr. Er glaubte, dahinter nur den Unsinn eines „ Kalbsgeweihs “ zu sehen. Jedoch in zwei Rollenversen klagt er sofort darauf, daß die Mitra auf sein Gehirn drücke wie Blei. Er fühlte, wie alle seine Kräfte nachließen, was man mit wirkungslosen Mitteln, - „ Rübenspezerei “ - zu bekämpfen versuchte. Da fand er sich gerne mit seinem Schicksal ab, am warmen „ Feuerherd “ zu sitzen, wenn nur ein „ frischer Gaul “ den vielen Franzosen vorgespannt würde, die gegen ihn die Fäuste ballen. Er möchte also König Ludwig XII. durch einen anderen König abgelöst sehen. In der vierten Strophe geht es um des Papstes Frankreich-Politik im Fünften Lateran-Konzil. Im Mittelalter hatte sich über ganz Europa der irische Glaubensartikel verbreitet, wonach in der ‚ Höhle des heiligen Patrick ‘ , des irischen Landesheiligen, der Eingang zur Hölle zu finden sei. Freilich gab es auch noch andere Höllenlöcher und etliche von ihnen wurden im Konzil beschworen. Der Zugang von der Hölle zur Erde sollte das Unglück des Papstes mit König Ludwig XII. ermöglicht haben. Der Papst verhängte das Interdikt gegen ihn und 99 Rabelais hob damit den Untertanengehorsam des Volkes auf. Er hoffte, durch dieses „ Rezept “ nicht nur den „ Husten “ der Politik Ludwig XII. abzustellen, sondern auch alle die Höllenlöcher zum Verschwinden zu bringen. Erst dann sei eine Lösung möglich. In der fünften Strophe ist diese Lösung bereits gefunden, denn der Nachfolger Ludwigs XII. Franz I. hatte mit dem Papst ein Konkordat geschlossen. Der „ Rabe “ , den der neue „ Herkules “ rupft, ist Maximilian Sforza, der Sohn Ludwig Sforzas, des „ Mohren “ . Franz I. hat auf der Heimkehr von seinem italienischen Feldzug den gefangenen Raben Maximilian Sforza in einem Schau-Einzug nach Paris gebracht. Die Sorbonne als Parlament ist empört über diese Lösung. Sie beklagt als Höllenrichterin in der verkleideten Gestalt von Minos diese Entwicklung und droht, sich nicht mehr um die Lebensmittellieferung des kleinsten Kahns nach Paris zu kümmern. Die sechste Strophe beginnt mit geheimnisvollen Buchstaben Q. B. Diese sind keine Namens-Initialen, sondern stehen für „ qui boite “ , das ist „ der hinkt “ . Es ist der eigentliche Macher des Konkordats, Duprat, der sowohl Kanzler des Königs als auch Legat des Vatikans und Kardinal war. Er hat das Konkordat gegen das Parlament durchgesetzt, durch welches die französische Kirche organisatorisch dem König unterstellt war. Es ist ein Wortspiel von chancellier (Kanzler) und chanceler (schwanken, hinken). Der Witz des Wortspiels liegt darin, daß Duprat so dick war, daß er nur watscheln konnte. Darum ist auch vom „ lahmen Peter “ die Rede. Mit dem Konkordat hatte der moderne Absolutismus mit all seinen Vorteilen und all seinen Nachteilen in Frankreich sein Haupt erhoben. „ Im Freigeleit der Mystenbrut “ bezieht sich wohl darauf, daß auch die esoterisch interessierten, antifundamentalistischen Humanisten wie Rabelais an der Entmachtung der Sorbonne sehr interessiert waren, da ihnen von dieser immer wieder Lebensgefahr drohte. Es war Louis II. de la Tremouille, der Oberkammerherr des Köngis, der das Parlament völlig in die Knie zwang, da er den Befehl des Königs das Konkordat gesetzlich zu registrieren, überbrachte und durchsetzte. Er war durch seine Heirat mit Gabrielle de Bourbon ein Vetter des „ Groß-Zyklopen “ , was eines der Code- Worte von Rabelais für den König war. Trotzdem machte sich der intelligente Rabelais wenig Hoffnungen im Hinblick auf die Gesamtlage. Der König unterdrückte das Parlament, wenn es um die Erweiterung seiner eigenen Rechte ging, aber sonst kaum. Darum folgen die warnenden Verse im Interesse der Buker, das sind die „ Ketzer “ . In diesem „ Hufengut “ , das ist der agrarische Ausdruck für das (schlecht) bestellte Feld Frankreichs. Es gäbe heute nur noch wenig Buker, die nicht gewippt worden wären. Das Wippen bedeutet eine besonders grausame Art des Henkens für Ketzer auf eigenen Schnellgalgen. Das Wort ist mißverständlich, denn der Tod setzt 100 Rabelais nicht schneller, sondern langsamer als auf normalen Galgen ein. Noch heute gibt es in Paris die Place de l ’ Escapade, wo ein solcher Schnellgalgen stand. Rabelais rät seiner „ Mystenbrut “ , einerseits Lärm zu schlagen gegen die Verfolgungen, solange das Parlament etwas gedämpft ist, andererseits aber zugleich auf der Hut zu sein, da solche Phasen der Erleichterung oft sehr schnell wieder endeten. Franz I. wurde ja nicht umsonst von Brantôme rückblickend „ ein großer Scharfrichter “ genannt, der mit den Ketzern viele große Feuer anzünden ließ. In der Strophe sieben überlegt Papst Leo X., ob er nicht zu viele Rechte an König Franz I. abgetreten hatte und ob er sich nicht vielleicht dessen Gegnern anschließen sollte. Des Jovis Aar ist hier nicht wie bei Dante das Gerechtigkeitssymbol des Reiches gegenüber der Kirche, sondern das Symbol der Macht der päpstlichen Truppen. Für Rabelais, der ja zeitweilig Franz I. sehr verbunden war, bedeutete dies, er wollte sich „ mit dem Schlechten paaren. “ Aus nüchtern überlegtem Opportunismus riß der Papst schließlich mit idealistischer Begründung die geistlichen Ansprüche weg von den Pöckelheringswaren. Die Verwendung des Begriffs „ Empyräum “ dient der idealistischen Begründung. Die „ Pöckelheringswaren “ sind Rabelais realistischer Ausdruck für die Pfründen, die mit geistlichen Ämtern verbunden waren und die nun nicht durch ihn, sondern durch den König vergeben wurden. Der Papst entschied sich, da es ihm zu gefährlich und unsicher war, die ihm durch „ Massoreten “ - Orthodoxie zustehenden „ Rechte “ einzufordern. Die gute Atmosphäre und die sicheren Annaten waren ihm lieber, als den erschreckend mächtigen und grausamen Franz I. herauszufordern. In der achten Strophe wird enthüllt, daß der Pakt zwischen Papst und König auf „ Schwertes Spitze “ zustande kam, nachdem Franz I. als Sieger in der Schlacht von Marignano seine entschlossene Radikalität und Grausamkeit unter Beweis gestellt hatte. Die griechische Unheilsgöttin Ate setzt sich mit Raubvogelfüßen nieder auf der Sorbonne, da sie sieht, wie verächtlich sie behandelt wird. Penthesileia aber repräsentiert die Universität, die sich damals mit dem Parlament zum Widerstand gegen den König verband. Sie stand ja ähnlich unter dem Einfluß der Kirche wie das Parlament. Sie war im Grunde nicht viel mehr als ein Arm der päpstlichen Macht und so wenig geachtet, wie ein Gemüseweib. Wegen der schwarzen Tracht ihrer Oberen wird sie mit einer Kohlenbrennerin verglichen. Das Römer-Banner bezieht sich auf die eigenständige Macht der päpstlichen Gerichtsbarkeit, deren Rechte auf Pergamentseiten festgehalten sind und die ebenfalls keine Achtung besitzt. In der neunten Strophe blasen Juno und ihr Herzog - das sind die Kirche und ihr Papst - ihr Lockepfeifchen, was notwendig war, um so viel Geld wie möglich nach Rom zu ziehen. Der Vertrag war, daß Juno zwei Eier Proserpinas erhalten sollte. 101 Rabelais Da Proserpina in der Unterwelt weilte, waren es nach Rabelais Auffassung höllische Eier, da sie durch Simonie erworben waren. Es war der Genuß der Annaten, die sie durch das Konkordat zugestanden erhalten hatte. Die Annaten sind jeweils die Beträge des ersten Jahres der geistlichen Pfründen. Würde sie entgegen dem Konkordat mehr verlangen so wie früher, dann würde sie an ein schmerzhaftes Dornengebirge gefesselt werden. Die zehnte Strophe beginnt mit der Zeitangabe, von sieben „ Monden “ zweiundzwanzig abzuziehen. Es ist eines der grotesken Paradoxa, wie Rabelais sie liebte, weil sie neben allem anderen auch immer auf die verkehrte Welt hinwiesen, in der er leben mußte. Wenn man Monde für Jahre nimmt, umgekehrt von zweiundzwanzig sieben abzieht und vom Jahr 1522 ausgeht, dann ergibt das Jahr 1515, das Jahr des Konkordats. Wenn es sodann heißt, „ der Karthago einst zerstörte, dann hatte der zugleich auch für eine Erweiterung der alten römischen Religion gesorgt “ . Und wenn dieser „ der “ gleichnishaft für den römischen Senat stand, dann war dieser genau so konsequent und unnachgiebig gewesen, wie das Parlament es gerne gewesen wäre. Es trat nämlich „ manierlich “ in den Kreis des Königs, „ sein Erbteil fordernd, so ihm angehöret “ , das heißt im Klartext das Recht einfordernd, das Konkordat nicht gegen seinen Willen registrieren zu müssen. Es ging damit um die Erhaltung des Gesetzes, die „ Niet und Nagel “ hält und immerhin um die gesamten geistlichen Pfründen, die ansonsten der Kirche verloren gingen. Schließlich hätte auch einiges Geld an die Sekretäre und Schreiber in Rom gehen sollen, welche die Bulle des Konkordats und Aufhebung der Pragmatischen Sanktion ausgestellt hatten. Die elfte Strophe beginnt mit einem Hinweis auf das Jahr 1500, das hier für das ganze 16. Jahrhundert steht. Der Hinweis dient daneben vielleicht auch als ablenkende Unterbrechung des Gedichtfortlaufs, wodurch die Entschlüsselung erschwert wird. Denn der Durchschnittszensor denkt beim Wort „ Türkenbogen “ an die Türkenkriege und bestimmt nicht an Franz I., der sich freilich mit den Türken gegen die Habsburger verbunden hatte. Nachdem dieser im Grunde bereits als Scharfrichter und Ketzerverbrenner gezeigt worden ist, folgt hier noch eine Steigerung, durch das Aufzeigen seiner menschlichen Erbärmlichkeit. Denn der nicht genannte, „ ungezogene König “ , der im 16. Jahrhundert „ gepfeffert “ wurde, ist Franz I. Das Gepfeffert-werden bezieht sich auf das infiziert werden durch Syphilis und dies gleich drei Mal. Das erste Mal 1512, das zweite Mal 1515 und das dritte Mal 1538, woran er neun Jahre später auch starb. Hier ist von der zweiten Infizierung durch eine Bäckerin in Lodi die Rede. Daß diese Unbill auch noch so geschah, daß ihm „ im Klausnerrock das Kreuz gepfeffert wurde “ , ist wohl eine Anspielung darauf, daß er nach dem Vorbild reicher, junger Römer der Zeit im Mönchshabit auf amouröse Abenteuer ausgegangen ist. Wie das alles mit „ Esau “ und „ verschlungenen vielen Morgen “ zusammen hängt, vermag ich nicht zu entziffern. 102 Rabelais Der Leser wird aufgefordert, das alles auf sich beruhen zu lassen, denn die ganze Maskerade dieses „ Mummenschanz “ sollte man verabscheuen. Der Abschlußvers der elften Strophe aber ist die zusammenfassende Schlußfolgerung aus all den elf Strophen, die alles in allem bestimmt einen deprimierenden Einblick in Rabelais reale Zeitverhältnisse und Umwelt geben. Dieser Schlußvers ist Ratschlag und Aufforderung zugleich: „ Zum Schlangen-Bruder müsset ihr entspringen. “ Es ist eine jener Stellen, in denen sich der Autor besonders weit vorwagt, die geistigen Hintergründe seines Romans aufzudecken, obwohl in diesem Fall die zeitgenössischen Zensoren genauso wie der gegenwärtige Kommentator Ludwig Schrader bei dieser völlig zusammenhanglosen Nennung des Namens „ Schlangen-Bruder “ nur an den Teufel der Paradies-Vertreibung im katholischen Sinn denken konnten. Nun hat schon früh Joseph von Hammer-Purgstall in seinen ausführlichen Kommentaren zu Templern und Templergnosis neben manchem Unrichtigen auch vieles Richtige gesehen und zum Richtigen gehörte auch die geistige Verwandtschaft der Templergnosis mit den Ophiten. 14 Die Ophiten waren jedoch eine Schlangen-Bruderschaft und zwar eine gnostische, deren eigene Wurzeln weit in die Vergangenheit zu urältesten mythischen Vorstellungen zurück reichten. In Rabelais Roman kommt das Wort „ Ophit “ nur einmal vor und das an entsprechend wichtiger Stelle: Als Pantagruel und Panurg am Ende des fünften Buches vor dem letzten Heiligtum, dem Tempel des Orakels der göttlichen Flasche stehen, da öffnen sich die schweren, ehernen Torflügel nach den richtigen Vorbereitungen von selbst und Pantagruel ist erstaunt, daß sie sich nicht wie in der Regel schwere Erztore mit knarrendem Geräusch und lautem Dröhnen öffnen, sondern „ mit sanften, anmutigen Klängen “ , deren Entstehung darauf zurück zu führen war, daß an der unteren Kante jedes Flügels eine kleine Walze angebracht war, die über der Angel in die Tür griff, wo sie durch Reibungen an einem harten, spröden und glatt geschliffenen Stein dieses liebliche Klingen hervorbrachten. Dieser Stein war ein Ophitstein oder Schlangenstein, der den Eintritt in den Tempel mit feierlichem Klang einleitete. Der notwendig innerliche Schritt zur Überwindung des Verlassens der gewohnten, wenn auch entsetzlichen äußeren Umwelt und der inneren Befreiung davon ist es, „ zum Schlangen-Bruder zu entspringen “ . Das Gedicht, welches das einleitende zweite Kapitel des ersten Buches bildet und einen so „ karnevalesk “ und grotesk-heiteren Titel wie „ antidotierter Firlefanz “ trägt, stellt eine Zusammenfassung des ganzen Romans in direkteren 14 Joseph von Hammer-Purgstall: Fundgruben des Orients. Wien 1818, S. 1 - 120 und 445 - 499 103 Rabelais und schonungsloseren Ausdrücken (wenngleich besonders sorgfältig verschlüsselt) dar, als es im Roman selber geschieht. Hier wird es auch eindeutig klar, daß die endgültige Schluß-Utopie nicht „ Thelema “ am Ende des ersten Buches, sondern der Tempel des Orakels am Ende des fünften Buches ist. Hier wird im kleinen Bereich des Persönlichen die Einsicht erreicht, was im gesamtmenschheitlichen Bereich freilich vorerst eine Utopie bleiben muß. Thelema ist freilich eine erste Station auf dem Weg dahin. 15 Es ist die ferne, eschatologische Hoffnung, welche die Zukunftshoffnung einer Utopie darstellt. Das ist des Rabelais letzte Antwort. Obwohl die Form des Buches verglichen mit Dantes Komödie weit weniger durchgeformt ist, zeigt doch schon das Programmgedicht im zweiten Kapitel des ersten Buches daß es als ein Ganzes durchstrukturiert ist. Der Abschlußvers der elften Strophe dieses Gedichts dient als Zeichen der Abwendung von der haßerfüllten realen Umwelt und die Hinwendung zu einer Vision des Geistigen. Mit der Strophe zwölf beginnt die Zukunftsvision. In der älteren französischen Rabelais-Kritik wurde sie unter anderem auch mitnter als die Wende zur unmittelbar nächsten, historisch-politischen Zukunft ausgelegt. Es ging zwar um die Zukunft, aber nicht sehr eng gedacht im realistischen Sinn der kommenden Regierungszeit Heinrichs II. Franz I. ist ja erst dreizehn Jahre nach dem Erscheinen von Rabelais Roman gestorben, sodaß die Zeit Heinrichs II. noch in der Zukunft lag. Liest man jedoch den Text im Original genau, dann besteht nicht der geringste Zweifel, daß es um eine ferne, utopische Hoffnung, ja zweifellos geradezu um die Erfüllung einer eschatologischen Hoffnung geht. Sogar der phantasielose Ludwig Schrader konnte sich in seinem Kommentar hier einfach nicht irren. Ja schon der erste Vers macht dies völlig klar. „ Nach diesem Jahr “ , das aber - wie schon gesagt - für das ganze Jahrhundert steht, „ herrscht friedsam, Der da ist. “ Der groß geschriebene „ Der “ kann sich nur auf den Herrn beziehen. Ja Schrader verweist sogar übergenau noch auf zwei andere Stellen, um das ganz klar zu stellen: auf Moses 3,14 und auf das achtundvierzigste Kapitel des vierten Buches unseres Romans. „ Der “ hat seinen eigenen Stab von Heiligen und er wird nicht nur jeden bösen Zwist beenden, sondern die - positiven - Wünsche eines jeden erfüllen, der guten Willens ist. Die Hilfe, die schon vor langem - im Alten Testament - 15 Der Begriff Thelema aus dem Roman von Rabelais ist zuletzt viel diskutiert und auf verschiedenste Art verwendet worden. Das gewiß Positive ist auch schon bei Rabelais die Ablehnung des weit verbreiteten Mönchsunwesens seiner Zeit. Am bekanntesten in der neueren Zeit ist die Verwendung des Begriffs durch Aleister Crowley, der wohl als echter Suchender begonnen hat, aber schließlich zu einem sensationssüchtigen Clown abgesunken ist. Freilich ging es später noch einige Stufen tiefer bei einzelnen „ 68ern “ und manchen Schwärmern der Hippie-Bewegung. 104 Rabelais „ dem Volk des Herrn “ - den Israeliten - „ verheißen war “ , wird sich für alle erfüllen. Dann aber wird auch nicht zuletzt die „ jüngst gescheuchte Mären- Schar “ der Ketzer, die zuvor nur mit dem abschätzigen Namen „ Mären “ bezeichnet worden waren, „ wie Königszelter “ im Triumphe schreiten. Sie waren ja keine Atheisten gewesen, sondern hatten nur um den wirklichen Gott gerungen und hatten sich nur nicht der im Grunde unreligiösen Diktatur des Fundamentalismus unterwerfen wollen. Die dreizehnte Strophe geht noch darüber hinaus: Diese erfüllte Zeit, in welcher der Kriegsgott Mars in Ketten gelegt sein wird, ist nur letzte Vorbereitung. Wie in der Templergnosis ist der universale Friede die Voraussetzung. Daraufhin wird noch ein anderer Mann kommen, „ anmutig, schön, holdselig sondergleichen. Er entspricht dem „ Veltre “ der Templergnosis und dem Messias der jüdischen Überlieferung. Den Abschluß der Strophe bildet eine Aufforderung, nicht an alle Leser, sondern nur an des Autors „ Treue “ , die Eingeweihten, sich ein Herz zu fassen und auf den irdischen Paradieszustand los zu steuern. Rückblickend werden dann alle die alte Zeit armselig finden. In der vierzehnten und letzten Strophe wird der im Grunde nicht wirklich Lebende, der wächserne Weihwasser-Ritter zu dem tatsächlich ganz unlebendigen, metallenen „ Glockenfritz “ gesteckt werden, der auf manchen Türmen die Uhrzeit anzeigte. Dann wird im Irdischen nicht mehr der Herr „ Herr “ genannt, sondern alle Titel und Eitelkeiten beseitigt werden. Wer diese Entwicklung durch seinen Säbel herbeiführen könnte, der könnte beschleunigen, daß es mit allem künstlichen „ Hirn-Geschelle “ vorbei ist und man könnte das ganze Vorratshaus von Narreteien der Welt mit „ Packdraht verschnüren “ und beseitigen. Ich könnte mir vorstellen, daß der späte Rabelais der Zeremonie im Tempel des göttlichen Orakels eine letzte Strophe ohne „ Säbel “ geschrieben hätte. Das Programmgedicht des zweiten Kapitels verdeutlicht, daß der Roman nicht aus zwei, sondern mindestens aus drei Schichten besteht: der heitergrotesken Oberflächenschicht, der Schicht der brennendsten, zeitgeschichtlichen Probleme, die wegen der Inquisition so vorsichtig wie möglich verschlüsselt werden mußte und schließlich die gnostisch. esoterische Schicht, damals noch gefährlicher und noch sorgfältiger zu verschlüsseln, weshalb denn auch zusammenhanglos-punktuelle Einzelhinweise wie der „ Schlangen-Bruder “ wohl nur von Eingeweihten zu verstehen waren. Freilich ist die säuberliche Scheidung in drei Schichten eine Angelegenheit der kritischen Analyse, denn in der Romandichtung selbst überlagern sie sich oft, greifen auch ineinander und Erich Auerbach hat zu Recht den Stil Rabelais ein „ Prinzip des Durcheinanderwirbelns der Kategorien des Geschehens, des Erlebens und der Stile genannt. “ 16 16 Erich Auerbach: Mimesis. Zweite Auflage, Bern 1959, S. 259 105 Rabelais Das wiederum hängt damit zusammen, daß Rabelais den Predigtstil der mittelalterlichen Bettelorden, dem er durch so viele Jahre in seiner Jugend leidvoll ausgesetzt war und der ihm gleichwohl in Fleisch und Blut übergegangen war, mit seiner saftig-kreatürlichen Rhetorik, seinen Antithesen und seinen drastisch-possenhaften Extremen differenziert verfeinert der Sprache seines Romans zugrunde gelegt hat. 17 Obwohl aus dem Franziskaner Predigtstil hervorgegangen, unterscheidet sich natürlich der Stil von Rabelais in zweierlei Hinsicht grundsätzlich davon. Erstens hat er ihn zu künstlerischer Form entwickelt und zweitens ist seine Sprache der mittelalterlichen Haltung der Bettelorden-Sprache diametral entgegengesetzt. Sein Stil ist ein Phänomen der Renaissance. Dabei ist noch wichtiger als seine religionsgeschichtliche Ausrichtung seine Haltung dem Menschen gegenüber. Diese Haltung ist positiv und durch Liebe geprägt. Er hat durch seinen Romanstil die Art des Denkens, Fühlens und Verstehens so differenziert und Ideen zum Ausdruck gebracht, daß für die mittelalterlichen Drohungen mit dem Tod oder für eine Abwertung des menschlichen Lebens kein Raum bleibt. „ Dem atmenden Leben des Menschen und der Natur gehört Rabelais Liebe, sein Wissensdurst und seine Kraft sprachlicher Nachahmung; an ihr wird er zum Dichter. “ 18 Er glaubte mit solcher Überzeugungskraft an den Menschen und seine Würde, daß erst von hier aus die frühe Utopie von Thelema wie die späte des Tempels vom göttlichen Orakel völlig einsichtig wird. Nicht zufällig war die dichterische Idee von Thelema eine der ganz wenigen, die sogar im 20. Jahrhundert zu etlichen praktischen Umsetzungsversuchen in die Realwirklichkeit führte. Das wahrscheinlich auffallendste und charakteristische Element des ganzen Romans sind die Charaktere der Riesen. Das Modell für Gargantua und seinen Namen das Rabelais in den Chroniques du grant roy Gargantua gefunden hatte, war gesunkenes Kulturgut aus ferner Götter- und Heldenzeit und hatte sogar im Volksbuch noch einen Hauch von mythischer Kraft des keltischen Sagenkreises um König Artus gehabt. Schon in diesem Volksbuch war Gargantua ein Säufer und von übermenschlich-mythischer körperlicher Größe. Aber diese Größe war noch immer in der Phantasie vorstellbar. Der Riese, den Rabelais für seinen Roman gestaltete, war von solch überdimensionaler Riesenhaftigkeit, daß man ihn nur mehr als groteske Übertreibung erfassen konnte. Er war eine Art moderner Renaissance-Riese, dessen groteske Übergröße bei ernsthafter Überlegung geradezu dazu zwang, ihn als Symbol aufzufassen. Genau das war er denn auch ebenso wie sein Sohn Pantagruel, die beide für geistige und moralische 17 Étienne Gilson: Rabelais franciscain. Paris 1924, S. 163 18 Erich Auerbach, op. cit., S. 263 f. 106 Rabelais Größe standen. Sogar bei den Riesen kommt so die Zweipoligkeit zum Tragen, die den ganzen Roman durchzieht. Denn durch die Gesamtatmosphäre, die den ganzen Roman kennzeichnet, und die Ablösung der mythischen Gewalt geht es mitunter um groteske Heiterkeit dieser Riesengestalten und steht eine heitere Oberflächenschicht einer nicht direkt betonten ernsten Tiefenschicht gegenüber, jener der symbolisierten geistig-ethischen Größe, auf die es allerdings wirklich ankommt. Genauso bilden sie einen zweipoligen Kontrast zu ihren „ normalen “ Gegenfiguren des Alltags der Zeit, die diese Zeit prägen: Diese repräsentieren symbolisch verglichen mit den Riesen die armselige Liliputhaftigkeit dessen, was in der letzten Strophe des Programmgedichts zusammenfassend so treffend als das ganze Vorratshaus der Narreteien genannt wird. Und auch hier ist der offen gebrauchte Begriff fast ein heiterer, hinter dem sich in Wahrheit aber die Lebensfeindlichkeit der spätscholastischen Abwegigkeiten und die Entsetzlichkeit der aller wirklichen Religiosität ins Gesicht schlagenden Inquisition verbirgt. Es ist eine andere Art von Genialität im Unterschied zu jener Dantes, die hier verwirklicht wird, auch wenn sie nicht wie jene des Erasmus Lob der Torheit mit elegantem Florett ficht. Trotzdem hat sie echte dichterische Größe. Um zu veranschaulichen, wie sich diese zeigt, sei ein praktisches Beispiel herausgegriffen. Als Gargantua nach Paris kommt, wird er von den Leuten so bestaunt, daß er auf die Türme der Kathedrale Notre Dame flieht. Um die lästigen Leute zu vertreiben, öffnet er seinen Hosenlatz und in der herabstürzenden Flut ertrinken 260.418 Bürger. Die grotesk übertriebene Riesenhaftigkeit macht eine realistische Auslegung einfach unmöglich und macht die Absicht zur Heiterkeit evident. Der versteckte ernsthafte Kern tritt aber für den denkenden Leser dadurch hervor, daß durch die Kontrastfigur des besten Mannes der Sorbonne, dem dagegen auch geistig liliputhaften Jonas Forchtenburg (das ist Janotus Bragmardo, Heintze gibt den Namen mit Hanselio de Schwanziardo wieder), ein Zipfel des versteckten ernsten Hintergrundes sichtbar wird, obwohl er zugleich wieder durch eine neue Heiterkeitsschicht überdeckt ist. Gargantua hat nämlich die riesigen Kirchenglocken von Notre Dame abgenommen, um sie seinem Pferd als kleine Glöckchen um den Hals zu hängen. Der beste Mann der inquisitorisch eifernden Sorbonne wird daher ausgeschickt, um ihn durch seine blendenden Argumente zur Rückgabe zu bewegen. Die Rede des Jonas Forchtenburg ist eine herrliche Parodie auf den spätscholastischen Fundamentalismus. Um die Komik zu erhöhen, weiß der Vertreter der Sorbonne nicht, daß Gargantuas Freunde die Glocken längst dem Bürgermeister, dem Rektor der Fakultät und dem Vikar von Notre Dame zurückgegeben haben. Gargantua jedoch, der es auch riesenhaft dick hinter den Ohren hat, lauscht mit seinem Freunden aufmerksam der nun doppelt sinnlos gewordenen Ansprache und biegt 107 Rabelais sich innerlich vor Lachen. Das Lachen ist ja bei Rabelais nicht nur allgemein wichtig, sondern hat eine breite Skala, die vom höhnischen Verlachen bis zum psychosomatischen Heilmittel reicht. Hier zeigt er, wie er den drastischen Bombast der Franziskaner-Predigten durch Intensivierung vervielfacht hat. Nach einer Begrüßung von Gargantua und seinen Freunden in schlechtem Küchenlatein und dem Hinweis, daß die Glocken den Parisern „ durchaus vonnöten “ sind, holt er in spätscholastischer Präzision und Gründlichkeit weit aus: „ Die Gemeinde von London, die in Cahors liegt, und ebenso die von Bordeaux, die in Brie liegt, haben uns umsonst schweres Geld dafür geboten; wir haben sie nicht verkauft von wegen der substanziellen Qualität ihrer elementarischen Wesenheit, so der tönenden Natur ihrer irdischen Bestandteile eingepflanzt ist, vermittels welcher sie die schwersten Gewitter bannen . . . “ Er beginnt damit, daß die „ Gemeinde London “ bekanntlich nicht in der französischen Stadt Cahors liegt und die schon damals große Stadt Bordeaux von der nahe bei Paris gelegenen, ehemaligen Grafschaft Brie weit und noch weiter von der nach dieser benannten Käse entfernt liegt. Er beginnt also mit den in der Spätscholastik üblichen, falschen Aussagen über die empirische Wirklichkeit und vertieft sich sofort darauf in die ebenso für die Spätscholastik bezeichnende Umständlichkeit, die Gedankentiefe und größte Genauigkeit vortäuschen soll und in Wahrheit zu ähnlichen, unfreiwilligen Scherzen führt. Der erste Absatz der Rede schließt mit einem in kraß fehlerhaftem Latein vorgebrachten Angebot, Gargantua gratis einen ansonsten sehr teuren Sündenablaß durch den Papst zu besorgen. Am Ende der ganzen Rede bringt er das warnende Beispiel eines Poeten, der wünschte, die Glocken wären aus Federn gemacht und ihre Klöppel aus Fuchsschwanz, da sie ihm Kopfweh verursachten, wenn er seine Carmina dichtete. Aber ehe er sich ’ s versah, war er als Ketzer festgenommen und sieht einem bösen Schicksal entgegen. Die Fabel des Romans ist in ihrem Gesamtaufbau zwar nicht ohne breite epische Abschweifungen, wie sie zum Roman gehören, aber ist in den Hauptzügen klar und übersichtlich angelegt. Das erste Buch beginnt mit der Geburt von Pantagruels Vater Gargantua und beschreibt seine Entwicklung bis zum Sieg über die Dipsoden. Seine Geburt erfolgt so ungewöhnlich, wie dies oft von Religionsgründern berichtet wird. Er wird schon früh von 17.913 Kühen gesäugt. In der Jugend war er blau und weiß gekleidet. Rabelais löst sich nachdrücklich von der allgemeinen mittelalterlichen, vor allem durch die Wappenheraldik aber auch religiös geprägten Farbsymbolik, und schaffte seine eigenen Farbsymbole. Die Farbe Blau erklärte er so, daß sein Vater durch das Blau seine himmlische Freude ausdrücken wollte, die ihm durch die Geburt des Sohnes bereitet worden war, während das Weiß allgemein Freude, Vergnügen, Wonne und Lust bedeutete. Schon vor dem Pariser Abenteuer war sein Erzieher Thubal Holofernes. Als sein Vater entdeckte, daß er nicht gebildeter, sondern immer noch dümmer 108 Rabelais wurde, folgten auf diesen Ponokrates und zuletzt Epistemon, der ihn sein ganzes späteres Leben begleiten sollte. Als zu Hause die Leute von Lerné mit König Pikrochol in sein Land einbrechen und das Schloß La Roche-Clerault erobern (das nicht weit von Rabelais Geburtsort lag), entschließt sich sein Vater Grandgoschier ungern und schweren Herzens zum Verteidigungskrieg und ruft Gargantua in seine Heimat zurück, damit er helfe, das Land und seine eigenen Leute zu schützen. Sie würden sich alle Mühe geben, so wenig Blut wie möglich zu vergießen. Außerdem schickt Grandgoschier noch überdies einen Unterhändler zu König Pikrochol, der ihm sein Vorgehen vorwarf und ein Ultimatum bezüglich des Abzuges der eingedrungenen Truppen stellte. Nachdem Grandgoschier zudem noch erfahren hatte, daß König Pikrochol den Krieg nur vom Zaun gebrochen hatte, weil einem seiner Untertanen fünf Fladen geraubt worden waren, sandte er fünf Wagen vollgeladen mit Fladen an Pikrochol. Dieser nimmt die Fladen sogar an, wird aber dann von seinem Militär überredet, einen Großangriff zu unternehmen. Die eine Hälfte der Armee sollte Gargantuas Vater und dessen Truppen über den Haufen werfen, die zweite sollte in sein Land einmarschieren. Inzwischen war auch Gargantua wieder in der Heimat angekommen und als ihn die Feinde, die das Schloß von Vède besetzt hatten, sahen, schossen sie ihre Kanonen und Donnerbüchsen gegen seinen Kopf ab, deren Kugeln er für Schmeißfliegen hielt. Als er erfuhr, daß es Bleikugeln der Büchsen und Steinkugeln der Artillerie waren, riß er einen riesigen Baum aus, um sich zu bewaffnen und rannte damit zornig gegen das Schloß an. Er schlug dessen Türme und Befestigungen in tausend Stücke. Nach dem Zusammentreffen mit seinem Vater lernte er auch den Mönch Jean de Entnommeures kennen. 19 Nach dem endgültigen Sieg werden alle, die sich ausgezeichnet hatten, von Gargantua belohnt. Bruder Johannes, der sich besonders ausgezeichnet hatte, bot er einige Klosterabteien an. Johannes lehnte alle ab und bat, ihn eine Abtei nach seinem eigenen Sinn gründen zu lassen. Das wurde ihm bewilligt und so kam am Schluß des ersten Buches das berühmte Anti-Kloster Thelema zustande. Hier in Thelema gibt es keine Umfassungsmauer wie in den Klöstern, hinter denen es viel Murren, Verdruß und Verschwörung gab, sondern hier war alles offen. Anstatt der spartanischen Klosterzellen herrschte hier Luxus. Das Wichtigste war aber wohl, daß anstelle vieler Klosterbibliotheken mit ihren zumeist dogmatisch und kirchen-geschichtlich orientierten Buchbeständen ein großer Reichtum an Literatur in griechischer, hebräischer und aramäischer 19 Der Name des Mönchs wird in den meisten Übersetzungen mit Bruder Hans, mitunter auch Bruder Jan wieder gegeben. Hier wird er aus guten Gründen als Johannes übersetzt. 109 Rabelais Sprache sowie in den wichtig modernen europäischen Sprachen stand. Heuchlern und Frömmlern, die einen großen Teil der üblichen Klosterbevölkerung bildeten, war der Eintritt verboten ebenso wie Wucherern und Schindern, Schwätzern und Kummerbolden. Willkommen waren dagegen kühne und fromme Ritter (wie die Templer), Streiter der reinen Lehre, die Freimut predigten, und hochedle Frauen, die schön und anziehend waren. Die Schlußapotheose nach diesen Aufzählungen bildet die Eröffnung, daß der Schutzpatron des ganzen Thelema nicht ein hoher Herr sei, sondern der Heilige Geist. Es war zumindest des Mönchs, wenn nicht des Meisters Rabelais Version der Ecclesia spiritualis von Dante. Dazu paßte es vorzüglich, daß der „ Abt “ des Ganzen Johannes hieß, da Dante der offiziellen Amtskirche eine johanneische entgegen gesetzt hat. Nicht von Dante, sondern von Rabelais stammt eine Tendenz zur Heiterkeit und Lebensfreude. Es gab in Thelema keinerlei Gesetze, Statuten oder Regeln, sondern nur einen einzigen „ Paragraphen “ , der lautete: „ Tu, was dir gefällt. “ Die zeitgenössischen Kritiker wie die naiven Experimentatoren des 20. Jahrhunderts, die versucht haben, Thelema in die Wirklichkeit umzusetzen, haben gleicherweise zwei grundlegende Einsichten außer Acht gelassen, welche die Voraussetzung zu richtigem Verständnis von Dichtung sind. Erstens die fundamentale Tatsache, die niemand so nachdrücklich und überzeugend formuliert hat wie Kant in seiner Ästhetik, daß nämlich Dichtung in ihrer Gesamtheit auf einer ästhetischen Ebene stattfindet, die von der empirischen Ebene der Lebenswirklichkeit getrennt ist und mit dieser nicht willkürlich vermischt werden kann. Zweitens aber, die ebenso fundamentale Einsicht, die niemand so schlagend ausgedrückt hat wie Goethe, als er sagte: Esoterik ist immer gut, nur dann nicht, wenn sie exoterisch wird. Der einzige Paragraph „ Tu, was du willst “ ist Rabelais aus tiefer Not ausgestoßener, dichterischer Aufschrei eines geistig geknebelten und im Leben brutal unterdrückten Autors gegen seine Zeit und das Signal seiner brennenden Sehnsucht nach Freiheit. Er kam aus der langjährigen, bitteren Erfahrung, daß für einen wirklichen Dichter nichts so wichtig ist wie die geistige Freiheit. Dies ist eine Grundwahrheit, die zu allen Zeiten auf der ganzen Erde gilt, ganz gleich welcher Art von Argumenten mehr oder weniger gelehrte Schwachköpfe dagegen vorbringen mögen. Zudem ist die Utopie von Thelema am Ende des ersten Buches nicht Rabelais letztes Wort in seinem Roman, sondern das ist die Utopie des göttlichen Orakels am Schluß des fünften Buches. Als eine Art Anhang zum Romantext hat Rabelais als letztes Kapitel ein Gedicht des ihm befreundeten Hofpoeten von Franz I. Mellin du Saint-Gelais eingeschaltet. Das Gedicht ist die Schilderung einer Apokalypse mit dem recht kleinen Trost, daß auch sie ein Ende haben werde. Das Gedicht wurde zunächst oft als eine Anspielung auf die freilich entsetzliche Protestantenverfolgung in 110 Rabelais Frankreich gedeutet, doch greift es in seiner dichterischen Allgemeingültigkeit viel weiter aus und kann auch auf Napoleonischen Kriege und die beiden Weltkriege bezogen werden. Aus der göttlichen Sintflut hat der Verfasser eine ungöttliche Sündflut gemacht. Daß Rabelais dieses Schlußgedicht dem Roman anfügte, hat zweifellos zwei Gründe gehabt. Erstens hat Rabelais es nicht riskiert, ein solches Schlußgedicht unter seinem eigenen Namen zu veröffentlichen. Wenn er eine solche Art von Gedicht wünschte, war es viel ungefährlicher, ein Gedicht unter dem Verfassernamen des allgemein hoch geachteten und sogar vom König hoch geschätzten Hofpoeten anzufügen. Der zweite Grund war, daß im Kontext mit diesem Gedicht viele gewagte Stellen im Roman - nicht zufällig hat Rabelais ihn später gemildert - vergleichsweise weniger scharf erschienen. Er versuchte den Freund und Hofpoeten mit dessen gutem Ruf als eine Art Schutz und Schirm zu benützen. Sein eigenes Programmgedicht des zweiten Kapitels am Anfang des Romans verstand damals wie auch oftmals später ohnehin kaum ein Mensch, sodaß es als ungefährlich gelten konnte. Ein dritter möglicher Grund war, daß Rabelais, - Dichter der er war, - den eigentlichen Romantext von einem Rahmen zweier großer Gedichte eingefaßt sehen wollte. Im zweiten Buch, an dessen Beginn die Geburt Pantagruels steht, an welcher seine Mutter starb, und der schließlich den weisen Epistemon als Erzieher erhielt, ist das achte Kapitel besonders wichtig. Es besteht aus einem langen Brief seiner Vaters, in denen er seine Ideen über die Vater-Sohn-Beziehung sowie vor allem über Erziehung niederlegte. Er unterstrich die Wichtigkeit eines Universalismus in Erziehung und Bildung, wie er in der Renaissance noch möglich war, der von Philosophie, Religion und Literatur bis zur Medizin reichte. Pantagruel soll Griechisch, Hebräisch, Chaldäisch und Latein lernen und die Bedeutung guter Literatur wird betont. Astronomie ist wegen des Wissens über den Makrokosmos wichtig. Von den Ärzten nennt er die griechischen, arabischen und lateinischen. Um die unerwünschte Aufmerksamkeit der Zensoren und Schnüffler ja nicht zu erwecken, sind die Talmudisten und Kabbalisten den Ärzten direkt angeschlossen, als ginge es auch hier um medizinische Bücher. Zuletzt wird Salomo beschworen, der sagt, daß Weisheit nicht in eine boshafte Seele kommt, was von Gargantua noch besonders verdeutlicht wird. Wissen ohne Gewissen ist nur der Seele Verderben, „ es geziemt sich “ , Gott zu dienen und alle Gedanken auf ihn zu richten. Der Brief ist ein denkwürdiges Dokument von zeitloser Größe und Schönheit, und ist in unserer Zeit der Vergottung von Technik, Macht und Geld durchaus aktuell. Gleich im darauf folgenden Kapitel trifft Pantagruel mit seinem Gefolge auf Panurg, der im Hinblick auf Sprachkenntnisse alles in den Schatten stellt. Der Name Panurg bezeichnet jemanden, der im Guten wie im Bösen zu allem fähig ist. Pantagruel ließ den armen, abgerissenen und verhungerten Panurg in seiner 111 Rabelais Wohnung mit Essen und Trinken versorgen und sollte ihn ein Leben lang lieb behalten. Auch das zweite Buch endet mit einem Krieg, nunmehr gegen die Dipsoden. Im Kampf wurde Epistemon der Kopf abgeschlagen und da Panurg ihn fand, nähte er ihm den Kopf wieder an und legte ein „ Auferstehungspflaster “ rings um die Wunde. Da schlug Epistemon die Augen wieder auf. Es ist im Stil von Rabelais eine grotesk-drastische und symbolische Version einer Wiedergeburtsgeschichte. Epistemon erzählt, wie er sich in der Hölle und in den elysäischen Feldern nichts abgehen hat lassen. Die Jenseitsdarstellung des Rabelais ist keine Danteparodie, sondern ein Denkmal der Bewunderung Dantes, freilich als eine Art französischer Commedia en miniature. Die allgemein als „ groß “ gefeierten Herrscher, die unzählige Untertanten durch Unterdrückung und Kriege ins Unglück gestürzt haben, sind dazu degradiert, niedere Dienste auszuführen, während ausgesuchte Dichter wie Villon und der damals noch weit berühmte französische Renaissancedichter Jean Lemaire de Belges ein paradiesisches Dasein genießen. In Dantes Komödie gibt es bei den Teufeln bereits einzelne, komische Züge, doch hat er vor allem die Höllenstrafen belassen und gegen die Päpste gewendet. Rabelais hat sie ganz aufgehoben. Er trifft gekrönte Häupter, die niedere Dienste verrichten müssen, er trifft François Villon und den Renaissancedichter Jean Lemaire, die das Leben genießen und er trifft sogar den in Frankreich bekannten Freischütz von Bagnolet, der sich als Großinquisitor fühlt. Als er Parcival dabei erwischt, wie er sein Wasser an einer Mauer abschlägt, auf die das heilige Antoniusfeuer gemalt ist, erklärt er ihn sofort zum Ketzer und möchte ihn verbrennen lassen, was aber durch eine Bestechung mit neun Kannen Bier selbstverständlich verhindert wird. Natürlich ist es der gelehrte Epistemon, der den Wiedergeburtsakt durchmacht und die Dante-Vision im Stil des Meisters Rabelais hat. Hätte Rabelais nach den ersten beiden Bänden nichts mehr schreiben können, hätte der betonte Hinweis auf Dante als Höhepunkt und Abschluß dienen sollen. Um das dritte Buch harmlos zu gestalten, geht es in der Handlung hauptsächlich darum, ob Panurg heiraten soll oder nicht. Zuerst befragt er Pantagruel, der ihm aber auseinandersetzt, wie schwierig es ist, in solchen Fragen einen Rat zu erteilen. Panurg befragt nach seinem Rat zuerst Vergils Buch der Aeneis, sodann versucht er es mit Traumdeutung und schließlich berät er sich mit der Sibylle von Panzoult. Darauf folgt die Befragung des alten französischen Poeten Großmurrebrot, jene Epistemons und darauf die des Herrn Trippa, für den Agrippa von Nettesheim als Modell diente. So wie er die Templer nur als Trunkenbolde erwähnen konnte, durfte er den Namen des Hermetikers Agrippa im Frankreich seiner Zeit nicht nennen. Freilich lag ihm auch einiges an dessen Okkultismus ganz und gar nicht. 112 Rabelais Als nächster Ratgeber kam Bruder Johannes, der Abt von Thelema, an die Reihe. Er versuchte Panurg die Angst davor zu nehmen, daß seine künftige Frau ihn betrügen würde. Die nächsten Befragten waren ein Theologe, ein Arzt und ein Philosoph. Zuletzt empfiehlt ihm Pantagruel, einen Narren zu befragen. Aber natürlich nicht irgendeinen Narren, sondern einen, der im Ruf steht, ein weiser Narr zu sein. So kommt er schließlich zum weisen Narren Triboulet. Als er Triboulet trifft, ist Panurg erstaunt. Unter all den vielen Narren, die er bis dahin gesehen hatte, war keiner gewesen, der so von Herzen gern und in vollen Zügen getrunken hätte. Unter den Geschenken, die er ihm von vornherein gegeben hatte, war auch eine Flasche Wein gewesen. Daß aber der Durst nach Wein für Wissensdurst und Wissen steht, ist eine stehende Metapher, die sich durch das ganze Buch zieht. Also ist er auf das Wort von Triboulet sehr gespannt. Es lautete: „ Gott, Gott, großer Narr, achtgeben auf Mönch! Heiliger Dudelsack von Buzançais. “ 20 Sodann gibt Triboulet Panurg die geleerte Flasche zurück. Kein weiteres Wort ist aus Triboulet heraus zu bringen. Panurg will schon verzweifeln, aber Pantagruel, der ihn liebt, schlägt vor, die Worte Triboulets und auch seine Bewegungen näher in Betracht zu ziehen. Er hätte das Gefühl, es sei etwas Tieferes darin verborgen. Ein ganzes Kapitel hindurch rätseln daraufhin Pantagruel und Panurg, was es wohl sein könnte: vergeblich. Da hat Panurg einen Einfall: Was hatte es bedeuten können, daß ihm der Narr zuletzt die leere Flasche zurückgegeben hatte? Und durch seine unglaubliche Gelehrsamkeit, hat er auch gleich die Antwort parat und gibt sie Pantagruel gleich in Form eines Gelübdes: Fest entschlossen gelobt er, das Orakel der göttlichen Flasche zu vernehmen. 21 Am Schluß des zweiten Buches war angekündigt worden, daß Pantagruel im „ nächsten Buch “ den Stein der Weisen finden würde. Auch hier scheint es nicht ganz klar zu sein, ob Rabelais nur einen Scherz macht oder ob unter dem Deckmantel des Scherzes ernsthafte Bedeutung verborgen ist. Was mit dieser Prophezeiung gemeint war, bezieht sich zweifellos auf die letzten vier Kapitel des dritten Buches. 20 Buzançais, wo Dudelsäcke hergestellt wurden, lag am Fluß „ Indre “ , dessen Name an Indien anklingt, wohin schließlich die Reise ging. 21 Triboulet war auch der Name des wirklichen Hofnarren von Franz I. Nicht nur weil er „ Weisheitsnarr “ genannt wird und nicht nur weil Pantagruel und Panurg ihm 180 Ehrennamen geben, könnte sich Rabelais hier selbst als „ Narr “ stilisiert haben, sondern auch ganz besonders, weil er es ist, der den Rat gibt, das Orakel der göttlichen Flasche zu befragen. Solche Selbststilisierung als „ Narr “ könnte auch als Schutz und Entschuldigung gedacht gewesen sein, ernste Vorwürfe der Zensoren zu entkräften, ja womöglich völlig abzuwehren. 113 Rabelais Was Pantagruel hier findet, ist das Kraut Pantagruelion, das seinen Namen darum trägt, weil es wie er „ der Inbegriff fröhlicher Vollkommenheit “ war. Dieses Pantagruelion ist aber nichts anderes als Cannabis, dessen psychodelische Wirkung der Arzt Rabelais sehr gut kannte, die er den Parzen und Kirke zugeschrieben hat. Von wirklicher Wichtigkeit ist die Einordnung dieser Entdeckung am Ende des dritten Buches. Denn die Fahrt zum Orakel der göttlichen Flasche zieht sich durch die ganzen beiden nächsten Bücher, vier und fünf hindurch. Dabei sind alle Schiffe der Flotte, die zum Orakel aufbricht, wohl bemannt, gut kalfatert, vollkommen ausgerüstet und reichlich mit Pantgruelion versehen. Das könnte durchaus den ambivalenten Hinweis auf eine zweite Möglichkeit offen lassen, daß die ganze Fahrt der Flotte zum Orakel nicht wirklich stattfindet, sondern sich lediglich in der durch Pantagruelion geschwängerten Phantasie des Erzählers abspielt. Im vierten Buch machen sich Panurg und Pantagruel auf die Seereise nach dem Orakel der göttlichen Flasche auf, dessen Gott nicht der delphische Gott Apollo ist, sondern die hebräische Königin Bakbuk, deren Name hebräisch ebenfalls Flasche bedeutet. Vom Gefolge sind auch Bruder Johannes, Epistemon, Gymnast, Eusthenes und andere auf dem Admiralsschiff Thalamega versammelt, das als Schiffszeichen eine riesengroße Flasche führte, deren eine Hälfte aus glänzend poliertem Silber, die andere aus dunkelfarbig emailliertem Gold gefertigt war, um anzuzeigen, daß Weiß und Rot die Farbe der edlen Reisenden war und „ Flasche “ ihre Losung sei. Es mag natürlich ein Zufall sein, daß die Farben der Templer nach oft feststellbarer Annahme rot und weiß waren und Rabelais die Templer in seinem Roman immer durch Trinkfestigkeit charakterisiert hatte. 22 Daß freilich Gargantua wenige Zeilen davor als „ frommer Christ der Urkirche “ beschrieben wird, wo doch die eingeweihten Templer auf die Erneuerung des Urchristentums aus waren, ist bemerkenswert. Als Reiseexperte ist Xenomanias mit seiner alten Seekarte der Führer, der weiß, daß das Orakel in Ober-Indien, bei Cathai lag. Am Rande sei vermerkt, wie am Schluß des zweiten Kapitels beschrieben wird, daß der Steuermann des Admiralsschiffes so strahlend weiß gekleidet war, wie die ägyptischen Isis- und Anubispriester. Die fast durch die ganzen Bücher vier und fünf durchgehende Seereise hat verschiedene Funktionen. Einerseits ist sie eine Parodie auf die in der Zeit Mode werdenden Entdeckungen und mehr noch verdrehter und dümmlicher Vorstellungen angemaßter exoterischer aber auch esoterischer Praxis durch Schwachköpfe und Schwindler. Andererseits ist Rabelais keineswegs gegen die Entdeckungen selbst, hält er doch die Entdeckung Kanadas durch Chartier für das wichtigste Ereignis der ganzen Zeit. Ja im Grunde sind Pantagruel und Panurg, ja 22 Das Grün, daß präziserweise als dritte Farbe mit dazu gehört, wurde mitunter weggelassen. 114 Rabelais selbst auf einer großen Entdeckungsreise, wenngleich nicht der geographischen Außen-, sondern der spirituellen Innenwelt. Manchen Ländern und Inseln gewinnen sie auch positives Interesse ab. Aber eine besonders wichtige Schicht des Romans ist doch die spirituelle, sei es, daß verdrehte und völlig mißverständliche esoterische Vorstellungen satirisch gegeißelt oder aber positiv empfundene Vorstellungen auf eine allerdings besonders vorsichtige Art berichtet werden. Im vierten Buch hatte Pantagruel einen großen Sturm zu bestehen, erlegte einen riesigen Wal und lernte viele Länder und Inseln kennen. So landet er einmal auf der Insel der Papofeigen und bald darauf auf einer anderen Insel der Papomanen. Die Papofeigen werden so genannt, weil sie dem Papst die Geste der „ Feige “ gemacht hatten, ein demonstratives Zeichen von tiefster Verachtung. Zur Strafe wurde die Insel Jahr für Jahr von Hagel, Sturm, Hungersnot und anderen Plagen heimgesucht. Pantagruel schenkte dem Gotteskasten der Kirche achthunderttausend Goldtaler und verließ bald dieses verarmte Volk auf der trostlosen Insel. Die Papomanen heißen so, weil sie vorbereitet sind, den Papst so anzubeten, wie dies sonst nirgends der Fall ist. In einem ihrer heiligen Dekretalen ist nämlich vorher gesagt, daß einst ein Papst zu Besuch auf ihre Insel kommen würde, der nicht einfach Papst ist, sondern wie in der jüdischen Tradition der wirkliche Messias. Seither erwarten sie sehnsüchtig diesen Moment. Wann immer Besucher von außen kommen, glimmt die Hoffnung auf. Drei Päpste waren schon zu Besuch, aber keiner war der ersehnte. Auf Grund dieser Hoffnung wurden auch Pantagruel und die Seinen sehr gut aufgenommen und bewirtet. Eine der interessantesten Stellen des vierten Buches ist die erste Hälfte des Kapitels siebenundfünfzig, das dem Besuch des Wohnsitzes von Herrn Gaster gilt, der zugleich König der ganzen Insel ist. Sogar dessen wechselnde Anrede, einmal als Herr Gaster und andererseits als König und Herrscher der Insel, weist auf den raffinierten Doppelsinn des Ganzen hin. Es ist das einzige Mal auf der langen Seereise, wo es heißt: „ Diesen mannhaften König nun mußten wir notgedrungen verehren und ihm huldigen und Gehorsam schwören; da half nix. “ 23 Es besteht kein Zweifel, daß Rabelais mit seiner erstaunlichen Bildung gewußt hat, daß es in diesem Fall im templergnostischen Sinn ein empirisches Modell gibt, eine Insel, die sich auch tatsächlich auf dem Seeweg nach Indien und zwar knapp davor befindet. Er spricht ja sogar ausdrücklich davon, daß „ die guten Theologen “ sich den Kopf so sehr zerbrechen und einander in den Haaren liegen “ , wo sich das Paradies befunden hat. Ganz wie im Prolog und ersten Kapitel des ersten Buches angekündigt gibt es natürlich auch hier eine grotesk-heitere Oberschicht und eine sinnvolle und 23 Hier wurde auf die Übersetzung von Regis zurückgegriffen, da sie dem Original näher ist. Rabelais, Ausgabe von Regis, op. cit., Bd. II, S. 162 115 Rabelais ernste Tiefenschicht. Die Oberschicht wird besonders durch den Helden betont, da er, obwohl Herr der Insel, selten als König und zumeist als Herr Gaster apostrophiert wird. Gaster ist das griechische Wort für Magen und Rabelais betont dies und damit die karnevaleske Oberflächenschicht absichtlich, indem er die berühmte Geschichte Äsops, wonach ein Aufstand aller anderen Körperteile gegen den Magen in einer katastrophalen Niederlage endet, durch mehrere Kapitel hindurch immer wieder betont. Der Versuch darüber hinaus noch eine Parodie von des Marsilius Ficinus zu Platons Symposion zu machen, wo Ficinus den Gott Amor als „ Magister artium et gubernator “ (d. i. Meister und Beherrscher der Künste) bezeichnet hat, ist nicht überzeugend. Hätte Rabelais Amor degradieren wollen, hätte er ihn kaum im selben Kapitel als „ Mittler zwischen Himmel und Erde “ bezeichnet. Mit Ficinus stand er aber gemeinsam in derselben großen geistigen Tradition. Im 57. Kapitel wird die grotesk-komische Oberflächenschicht besonders durch den Namen des „ Herrn Gasters “ sichtbar gemacht und die ernste Tiefenschicht durch das Motiv der Insel betont, auf welcher er als König herrscht. Rabelais muß die templergnostische Symbolik dieser einmalig „ wunderbaren “ Insel gekannt haben, wie hier zu zeigen versucht wird. War es doch die einzige Insel auf der langen Seereise nach Indien, die nicht nur tatsächlich in Wirklichkeit auf dem Weg gelegen wäre, sondern die nach templergnostischer Überlieferung die Stelle des „ irdischen Paradieses “ gewesen ist. Es ist Sri Lanka, in dessen Hochland im Südzentrum der Berg Sri Pada liegt, ein Berg, der für verschiedene Religionen von Wichtigkeit ist, so wie sein antipodisches Gegenstück Jerusalem. Noch im 20. Jahrhundert galt die Höhe des Sri Pada den Mohammedanern als die Heimat Adams, des ersten Menschen und man zeigte seine angebliche Fußspur. 24 Rabelais hatte mit der islamischen Tradition sehr wenig zu tun, aber umso mehr mit jener der Templergnosis. Nun hat der große Dantekenner Robert John Dantes „ Paradiso terrestre “ , das genau da lag, den „ Angelpunkt “ der ganzen Commedia genannt und Dante selbst hat wieder in seinem Werk De Monarchia enthüllt, daß dieses Paradiso terrestre sein Symbol menschlicher Glückseligkeit und zugleich die „ Pax Universalis “ darstellt. 25 Auf dieser Insel ist nun Pantagruel mit den Seinen gelandet. Weder im Hinblick auf Herrn Gaster als Magen noch im Sinn der Tiefenschicht des „ irdischen Paradieses “ ist es alles andere als überraschend, daß des lebensfrohen Rabelais Held Pantagruel und die seinen dem König dieses „ vor anderen 24 Vgl A. de Gubernatis: La Type Indien du Lucifer chez le Dante. 1896, S. 49 ff. Er nennt den Sri Pada französisch „ Pic d ’ Adam “ . 25 Robert John: Das Paradiso terrestre als antipodischer Tempelplatz. In: Dante. Wien 1946, S. 175 und 176 f. 116 Rabelais wunderbaren Eilandes - im Unterschied zu allen anderen - „ huldigen und Gehorsam schwören “ . Rabelais berichtet denn auch: „ . . . von Herrn Gasters Befehlen, das schwöre ich euch, erzittert die ganze Erde. Sein Machtwort lautet: Gleich tu, was du mußt, oder - stirb. “ Auch das gilt für beide Schichten: Für die Oberflächenschicht, da man bei Dauerfasten verhungern müßte, wie auch für die Tiefenschicht, denn ein Buch nach dem anderen von Rabelais Romanen wurde verboten und verbannt, die Gefahr für ihn wurde von Buch zu Buch größer und trotzdem mußte er schreiben, bis er starb. Und er starb ganz gewiß nicht wegen der Oberflächenschicht. Rabelais verglich den König der Insel mit Hypokras, dem mundlosen, ägyptischen Gott des Schweigens. Hypokras war die hellenistische Entsprechung des ägyptischen göttlichen Horus-Kindes. Und Horus war von der jungfräulichen Göttin Hathor-Isis geboren worden, die in der Templergnosis zusammen mit Maria und der gnostischen Sophia synkretistisch zu einer großen Muttergöttin verschmolz. Aber die Entsprechungen gehen noch viel weiter. Rabelais, der schon in früher Jugend etwas von Hesiod übersetzt hat, läßt seinen Pantagruel unter Berufung auf Hesiod sagen, daß sich auf dieser Insel auch die Wohnung von Arete befinde, die in der alten griechischen Philosophie die Tugend verkörperte. Der jüdische Philon von Alexandrien aber, der die Arete nicht als trockenabstrakte Allegorie oder als reine Metapher auffaßte, sondern für den sie ein von Gott gewirktes Geistwesen war, hat sie mit dem hellenistischen Geist der Gnosis verbunden. 26 Vor allem läßt Pantagruel seinen Erzähler berichten: „ als wir. . . die Höhe (des Sri Pada) erklommen hatten, fanden wir es oben so anmutig, so fruchtbar und entzückend schön, daß wir im wahrhaftigen irdischen Paradies zu sein glaubten. “ Es gibt in diesem Kapitel noch eine geplant unverdächtige Stelle, in der doppelt ins Indirekte versteckt und zudem noch scheinbar neben wichtigeren Beispielen erst als drittes und letztes angeführt, für Eingeweihte noch immer klar genug, eine Anspielung auf den zentralsten Punkt der Templergnosis gemacht wird, den zerstörten Tempel Salomos in Jerusalem. In der Schilderung des Steuermanns wird Herr Gaster als so mächtig und gewaltig dargestellt, daß er in seiner Wut Tiere und Menschen und was es sonst noch gibt, verschlingt, wie Vaskonen (Basken) als sie Metellus belagerte oder die Sagunter, als sie von Hannibal und die Juden, als sie von den Römern belagert wurden. Nach außenhin geht es um die Macht des Herrn Gaster und es geht um die Belagerung der Juden und nicht besonders um jene Jerusalems und schon gar 26 Vgl. Hans Jonas: Gnosis. Frankfurt 2008 117 Rabelais nicht direkt um die Zerstörung des Tempels. Aber jene, die wußten, worum es ging, verstanden die Stelle sehr genau. Es gibt ein Parallelbeispiel, das zeigt, wie präzis Rabelais in seinen Anspielungen solcher Art sein konnte. Im 32. Kapitel des zweiten Buches schildert der Erzähler Alcofribas, wie er im riesigen Mund von Pantagruel herum wandert: „ Ich ging umher, “ heißt es, „ wie in der Sophienkirche in Konstantinopel. “ Wenn es darum ging, den riesigen Innenraum einer Kathedrale metaphorisch zu beschreiben, dann wären für den französischen Autor Rabelais doch Notre Dame de Paris oder die Kathedrale von Chartres am naheliegendsten gewesen. Wenn er die Hagia Sophia wählte, dann in seinem Fall vor allem, weil ihre Eroberung durch die osmanische Militärdiktatur ihm nicht nur zeitlich, sondern auch persönlich besonders nahe lag. Durch die Eroberung Konstantinopels waren viele große humanistische Gelehrte in den Westen geflohen und hatten den westlichen Humanismus und die Renaissance durch die plötzliche Verstärkung der griechischen Studien vorwärts getrieben. Er selbst hatte schon in der Jugend wegen seiner Griechisch-Studien zu leiden gehabt, hatte aber das Griechische immer besonders hoch gehalten. Außerdem wußte der gebildete Rabelais nicht nur, daß die Hagia Sophia Vorgängerbauten gehabt hatte, wie auch der Salomonische Tempel bereits der zweite Tempel an jener Stelle war, sondern er wußte auch bestimmt, daß bei der Einweihung des Rohbaus der Hagia Sophia Kaiser Justinian in seinem Triumphwagen in das Gebäude fuhr und ausgerufen hatte: „ Ruhm und Ehre dem Allerhöchsten, der mich für würdig hielt, ein solches Werk zu vollenden. Salomo, ich habe dich übertroffen! “ Vielleicht war in der Vorstellung von Rabelais sogar die Hagia Sophia eine Art Fortsetzung des alten Tempels im ostkirchlichen Raum gewesen. Außerdem war damals immer das große Vorbild für alle Sakralbauten der Tempel Salomos. Vor allem wußte Rabelais aber, daß mit der „ Hagia Sophia “ nicht nur die heilige Sophia in Rom gemeint war, sondern für viele nach wie vor dem ursprünglichen Sinn ihres griechischen Namens nach die große Weisheitsgöttin der Gnosis. Das ganze 58. Kapitel ist so sehr der grotesk-komischen Oberflächenschicht gewidmet, daß es nur von Bauchrednern und Bauch-Dienern handelt. Hier gibt es jedoch eine eigene tiefere Schicht und hier hat der Kommentator Ludwig Schrader zweifellos recht, daß es sich dabei um eine Satire auf die Doktoren der Sorbonne handelt. 27 Rabelais geht hier sogar so weit, eine Satire auf eine andere Satire zu machen, die so geschickt verschlüsselt ist, daß sie der Tiefenschicht angehört. Die erste Satire der Magen-Geschichte ist vom vorigen Kapitel übernommen zum Schutz der zweiten Satire, die ihre eigene Tiefenschicht besitzt. Mit den Bauchrednern, den Engastrimythen, verspottet er bereits die Sorbonne-Doktoren und fährt 27 Rabelais, Ausgabe von Regis, op. cit., Bd. II, S. 413 118 Rabelais damit bei den Gastrolaten, den Bauch-Dienern, fort. Er nennt sie „ gastrolatres coquillons “ , was heißt, entweder, daß sie einen Doktorhut tragen oder aber, daß es sich um Doktoren handelt. Dadurch, daß er sie als Bauch-Diener enthüllt, hat er ihre quasi-religiöse Heuchelei an den Pranger gestellt. In den folgenden Kapiteln stellen die langen Aufzählungen der Namen von Speisen ein Ablenkungsmanöver dar, welche die Zensoren überzeugen sollen, daß dieser Rabelais im letzten ja doch nur am Essen interessiert und ein harmloser Clown ist. Es wäre durchaus möglich, daß in einzelnen Speisen weitere Anspielungen versteckt sind, die kaum mehr entschlüsselt werden können. Im fünften Buch wird im Kapitel elf über den Großfürsten Krallkratz und die Muffelkatzen versteckt die ganze Ungeheuerlichkeit und Ignoranz der Inquisition enthüllt. Das ist im Grunde eine noch radikalere Attacke gegen die Unterdrücker jeglichen freien Geistes als in den ersten vier Büchern. Zugleich wird auch die Notwendigkeit unterstrichen, warum dies enthüllt werden muß. Darüber weiß die Welt nicht mehr, heißt es, als über die Juden-Kaballa. Das kann man sich leichter vorstellen, wenn man sich erinnert, daß auch im Zweiten Weltkrieg der deutsche Normalbürger weder wirklich von den Konzentrationslagern noch gar von der „ Endlösung “ der Judenfrage etwas wußte. All das zu veröffentlichen war nur möglich, weil das Buch zehn Jahre nach Rabelais Tod erschien und im Januaredikt von 1562 den Protestanten fast völlige Gleichberechtigung eingeräumt worden war. Es ist keineswegs ausreichend, wegen dieses neuen Tons auch gleich einen anderen Autor anzunehmen, der den literarischen Erfolgsnamen von Rabelais für sich mißbrauchte. Hier wird sogar im Prologus das Risiko eingegangen, zum ersten Mal im Roman den Salomonischen Tempel direkt zu erwähnen. Der Roman ging so weiter, wie er im Großen bereits im Prolog und im ersten Kapitel geplant worden war und der Doppelsinn der beiden großen Schichten mit den Anspielungen für die Eingeweihten war unverändert geblieben. So findet auch das fünfte Buch seinen - und des ganzen Romans - Höhepunkt mit den Kapiteln über das Orakel der göttlichen Flasche. Es hat sich herausgestellt, daß der „ Tempel “ der göttlichen Flasche in Chinon stand, der Heimatstadt Rabelais. Es hat im Mittelalter Castro Caino geheißen. 28 Der Erzähler Alcofribas hat es die „ erste Stadt der Welt “ genannt. Das schreibt kein anonymer Nachfolger von Rabelais, sondern das ist die verklärte Erinnerung des Alternden an die Kindheit. Aber Alcofribas meint sogar, diese Behauptung auch „ beweisen “ zu können. Das geschieht dadurch, daß er in einer heiligen Schrift gelesen hat, daß Kain der 28 Ursprünglich ein keltisches Oppidum wurde es später ein gallo-römisches Castrum. Spirituell hat sich im 5. Jahrhundert vor dem Castrum die Zelle des bretonischen Eremiten Joannes befunden. In der Zeit der Templerverfolgung hat das Verlies des Schlosses als Gefängnis für Würdenträger des Ordens gedient. 119 Rabelais erste Städtebauer war. Nun hieß die Stadt aber doch in ihrer Frühzeit Castrum Caino oder Caynon. Kain mußte es gegründet haben. Es war also älter als Athen und Alexandrien. Die Reisenden werden von einer besonders schön leuchtenden Laterne aus dem Volk des Laternenlandes zum Tempel geführt. Sie befiehlt allen, drei Weinbeeren zu essen, die Schuhe mit Weinlaub auszulegen und eine grüne Ranke in die Hand zu nehmen. Sie durchschreiten einen schönen Torbogen, der in einen dichten Laubengang aus Reben mündete. In diesem Laubengang erklärt die Laternen-Führerin den Reisenden, daß sie in den Tempel keinen Einlaß fänden, wären sie einfach ohne Vorbereitung durch diesen Laubengang gekommen. Das würde so aussehen, als wäre der Wein ihnen über den Kopf gewachsen und sie ständen unter dem Einfluß des Weins, ja würden von ihm beherrscht. Priester als auch alle, die sich der Betrachtung göttlicher Dinge hingeben, müssen ihren Geist „ vom Wein frei halten und von allen Störungen durch die Sinne, die bei der Trunksucht offenkundiger auftreten als bei irgendeiner anderen Leidenschaft “ . Auch sie würden in den Tempel nicht eingelassen werden, sähe nicht die Hohepriesterin, daß ihre Schuhe voll Weinlaub waren, was anzeigt, daß sie den Wein nicht fürchten, ihn mit Füßen treten und ihm nicht untertan sind. Diese Vorbereitung allein sollte schon davor warnen, in der „ göttlichen Flasche “ einfach eine Weinflasche zu sehen! Der Hofmarschall der Königin empfängt die Reisenden, und als er sieht, daß sie Thyrsusstäbe in den Händen hielten und mit Efeu bekränzt waren, ordnete er an, daß sie zu Prinzessin Bakbuk, „ aller Mysterien Priesterin “ , geführt werden sollten. Mit einem dieser Mysterien werden sie sofort beim Abstieg zum Tempel vertraut gemacht, bei dem sie ihre „ Laterne “ noch begleitete. Sie stiegen von Absatz zu Absatz eine Marmortreppe abwärts. Dann fragte ihre Führerin, die Laterne: „ Wie viele Absätze habt ihr gezählt? “ Pantagruel antwortete: „ Vier. “ „ Und wie viele Stufen jeweils? “ „ Zehn. “ „ Mit gleichen pythagoräischen “ (und gnostischen) “ Tetras multipliziert das Ganze. “ „ Vierzig. “ Die Endzahl, die zu allerletzt heraus kam, war hundertacht. Der Tempel war mit pythagoräischer Zahlenmystik verbunden und Rabelais hatte bereits im Prolog zum ersten Buch darauf aufmerksam gemacht. Dann standen sie vor einem Jaspis-Tor, über dem in rein goldenen griechischen Buchstaben stand: „Ἐν οινω ἀλήθειά“. Der gelehrte Griechisch-Liebhaber Rabelais schrieb es nicht nur deshalb griechisch, weil es das Originalzitat war, sondern auch weil er dadurch sogar in der Inschrift den Doppelsinn beibehalten konnte. Die neueren Übersetzer haben ihm alle den Gefallen gemacht, die unrichtige Oberflächenschicht-Übersetzung zu geben und dies umso leichter, als sie ja alle das lateinische „ Wahrwort “ „ In vino veritas “ kannten: „ Im Wein ist die Wahrheit “ . 120 Rabelais Der Sinn der Tiefenschicht war freilich ein ganz anderer. Beim Wein, das sollte schon aus dem vorher Gesagten klar geworden sein, geht es nicht um Alkohol, sondern um eine Metapher für etwas ganz anderes. In seinem Buch Der Wein der Sufis beschreibt Ragip Frager in den Lehrreden Muzaffer Ozaks die Berauschtheit eines Derwischs durch die Liebe Gottes. Hier steht der Wein als Metapher für die Liebe Gottes. Der Titel der deutschen Erstausgabe des Buches trägt sogar den noch deutlicheren Titel „ Liebe ist der Wein “ . Die ganzen altpersischen Sufi-Dichter haben genau dasselbe gesagt. Wir wissen von Rabelais mit Sicherheit, daß er Avicenna, einen Vorläufer der Sufis, gekannt hat. Die Metaphorik der Sufis hat sich weit verbreitet. Der große katholische Mystiker Johannes vom Kreuz stand unter anderem in der siebzehnten und achtzehnten Strophe seines „ Geistlichen Gesanges “ unter dem Einfluß des größten sufischen Philosophen Ibn al-Arabi. Die siebzehnte Strophe beginnt mit dem Bild des „ inneren Weinkellers “ , der sich natürlich im Innern des Mystikers befindet. Nach Samael Aun Weor, dessen gnostische Bewegung international verbreitet ist, muß „ der gnostische Rosenkreuzer den Wein der Meditation trinken “ . Genau so steht Aletheia in der gnostischen Tradition nicht einfach für den abstrakten philosophischen Begriff der Wahrheit. In einem Bild vom Traumorakel des Amphiaraos bei Oropos, das Flavius Philostratos gemalt hat, steht sie weiß gekleidet neben dem Tor der Träume. Der wirklich Suchende findet die Wahrheit, auch die unbewußte und transzendente, im Traum. Aletheia spielt nicht nur im umfassendsten und bekanntesten gnostischen System, jenem von Valentinus eine Rolle, sondern im System von Markos geradezu die Hauptrolle. Der durch Buchstaben ausgedrückte und sichtbar gemachte Leib Aletheias ist bei ihm „ die Figur des Urelements, das ist der Charakter des Zeichens und dieses Urelement nennt Markos Mensch, Anthropos; es ist aber die Quelle jedes Wortes, der Ursprung jeder Stimme, der Ausspruch alles Unaussprechlichen und der Mund der verschwiegenen Sige “ , die das Schweigen selbst repräsentiert. 29 Der wie fast immer bei Rabelais vorhandene, aber versteckte Sinn von „ en oino aletheia “ ist demnach Gott (oder Gottes-Liebe), ist die Wahrheit oder aber ist das Schweigen. Letzteres ist das Wahrscheinlichere, weil die Vorstellung vom Deus abscondidus bestens mit der Gnosis übereinstimmt. Nachdem die Laterne, die sie geführt hatte, alle Vorbereitungen zum Öffnen des großen Tors getroffen und sich verabschiedet hat, wenden sich die Reisenden dem Tor zu, das plötzlich lautlos aufgeht. 30 29 Hans Leisegang: Gnosis. Stuttgart 1955, S. 329 30 Die Verbindung des lautlosen Aufgehens der schweren Torflügel aus Erz mit dem gnostischen Schlangenkult ist bereits weiter oben beschrieben worden. 121 Rabelais Die Reisenden treten ein und erblicken auf zwei Tafeln links und rechts zwei Aufschriften. Auf der linken lesen sie: Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. Auf Deutsch: "Den Willigen lenkt das Geschick, den Nichtwilligen aber zieht es. “ Das bezieht sich sowohl auf ihre bisherige Reise, die sie an ihr Ziel des Orakels geführt hat und zugleich auch eine Vorbereitung auf die Wichtigkeit ist, zu lernen, Schicksal anzunehmen. Auf der rechten Tafel aber lesen sie: „ Dem Ende zu strebt jedes Ding. “ Auch das hat einen Doppelsinn und bezieht sich darauf, daß sie am Ende ihrer Reise, an deren Ziel angelangt sind, wie auch darauf, daß diese Weisheit für alles gilt. Eingetreten in den ersten Raum nach dem Tor bewundern die Reisenden den Mosaikfußboden des Tempels, auf dem sie gehen. Er ist mit „ emblematischen “ Bildern geschmückt. Im Jahr 1542 war in Paris das Buch von Andreas Alciatus Emblematum Libellus erschienen. Es zeigt 115 Bilder mit daneben stehenden Erklärungen ihres „ emblematisch “ -symbolischen Inhalts. Die Bilder haben zusätzlich zu dem, was auf ihnen zu sehen ist, eine Bedeutung. Was den Mosaikfußboden betrifft, so haben die Farben eine zusätzliche Bedeutung Es sind die Farben von rotem Jaspis, von milchig weißem Wellenachat und von grünem Smaragd. Die zusätzliche Bedeutung aber ist, daß dies die Templerfarben sind. Dann richten die Reisenden ihre Augen auf die Mosaikgemälde an den Wänden links und rechts, die von einem Ende des Raumes bis an das andere reichen. Auf der linken Wand wird in einer Bilderfolge der Einzug von Bacchus, des Gottes des Weins, in Indien gezeigt. Wer bis jetzt noch immer nicht begriffen hat, daß es hier nicht um den Wein im positiven Sinn geht, der wird hier förmlich mit der Nase darauf gestoßen, daß der Wein geradezu ungeheuer gefährlich sein kann. Obwohl schon am Anfang Städte, Dörfer, Schlösser, Burgen, Felder und Wälder Indiens gezeigt werden, die alle in Flammen stehen, da sie von Bacchus und den Seinen zerstört worden waren, wurde seine Gefährlichkeit nicht erkannt. Denn die Inder hatten durch ihre Späher sehr beruhigende Nachrichten empfangen. Im ganzen Heer des Bacchus gab es keinen einzigen Krieger. Da war nur ein „ gutmütiger, weibischer, stets betrunkener Alter “ - der Anführer Silen. Er war von einer ganzen Schar „ junger nackter Bauernburschen “ - den Satyren - umgeben, die „ unaufhörlich tanzten und Hörner und Schwänze trugen wie Ziegenböcke “ . Außerdem war ein ganzes Rudel von betrunkenen und schreienden Weibern - die Mänaden oder Bacchantinnen - mit ihm. Darauf sah man, wie Silen die Vorhut der Satyren und Tityren anführte. Dann kamen die aggressiv schreienden Bacchantinnen, deren Schlachtruf „ Euoë “ war, der für das ganze Heer galt. Zuletzt führte Pan die Nachhut. Die Bilderfolge auf der rechten Seite zeigte ausführlich wie diese Unterschätzung von Bacchus (Alkohol) dazu führte, daß die ganze indische Armee den tobsüchtigen Mänaden und den dämonischen und tierhaften Satyren unterlag. 122 Rabelais Bacchus nimmt ganz Indien ein und führt in seinem Triumphzug die gefangenen indischen Könige in schwere goldene Ketten gefesselt mit sich. Am Schluß des Triumphzuges werden Darstellungen des Landes Ägypten gezeigt, des nächsten Landes, in das Bacchus einfallen möchte. Darum wird sein Triumphwagen von zwei Rindern gezogen, auf dessen einem das Wort „ Apis “ und auf dessen anderen das Wort „ Osiris “ steht. Das dürfte unmittelbar auf des Plutarch „ De Iside et Osiride “ als Quelle zurückgehen, der sagt, Dionysos-Bacchus hätte als erster zwei Stiere nach Ägypten gebracht. Es geht aber auch mit der Geschichte der altägyptischen Mythologie insofern zusammen 31 , als der heilige Stier Apis, der den Gott Ptah repräsentierte, bereits im Alten Reich in Memphis verehrt wurde. Später galt er als die Seele Ptahs, die auf der Erde als Stier erschien. Noch später wurde er in einem 25-Jahre-Turnus geopfert und feierlich begraben. Den toten Stier identifizierte man mit Osiris, sodaß tatsächlich eine enge Beziehung zwischen den beiden bestand. Schon Plutarch hatte den Isis-Osiris-Mythos im Sinn griechischer Weisheit ausgelegt. Zunächst war es in der Entwicklung dieses Mysteriums vom Orakel der Göttlichen Flasche um die Abmahnung von Negativem, vor allem vor der Versklavung durch Alkohol, gegangen. Nun war Rabelais ein großer Trinker, doch der ungewöhnlich gebildete und sensitive Arzt Rabelais hütete sich sehr wohl davor, ein Alkoholiker zu werden. Nachdem durch die Mysterienbilder über die mögliche Gefahr des Bacchus- Alkohol das Negative Schritt für Schritt beschworen worden war, beginnen nun Schritt um Schritt die Lehren und Prüfungen, die in die positive Richtung der Einweihung führen. Zunächst geht es in der ersten Stufe darum, die Aufnahmefähigkeit des Bewußtseins der Reisenden für transrationale und transzendente Erscheinungen zu öffnen und zu verstärken. Dies geschieht dadurch, daß ihr Interesse auf eine besondere Lampe gelenkt wird, die den Tempel erleuchtet. Im Altertum hatte es bereits einige berühmte solcher Lampen gegeben. Eine hatte den Tempel der Vestalinnen in Rom beleuchtet, auf eine andere in einem Tempel der Venus hatte der heilige Augustinus aufmerksam gemacht. Trotz seiner großen Liebe zur Kultur der Antike war Rabelais in seinem innersten Wesen ein moderner und sehr französischer Autor. Es ist kein Zufall, daß er schon wenige Jahre bevor Französisch anstelle von Latein zur Staatssprache in Frankreich gemacht wurde, aus eigenem französisch zu schreiben begonnen hatte. Darum war am ehesten eine französische Wunderlampe Modell und Vorbild für seine Lampe im Tempel des Orakels. Dies umso mehr, als er im fünften Buch einmal sagt, in Wirklichkeit wäre das Orakel in der Nähe seiner Heimatstadt Chinon gelegen gewesen. 31 Vgl. Manfred Lurker: Lexikon der Götter und Symbole der alten Ägypter. Bern - München - Wien 1998 123 Rabelais Nun gab es eine solche Wunderlampe in Paris. Sie war im Besitz des Rabbi Jachiel (auch Jechiel) gewesen, den seine jüdischen Zeitgenossen als Heiligen verehrten und den die Nichtjuden der Zeit für einen Zauberer hielten. 32 Diese Lampe soll sein Zimmer hell wie Tageslicht erleuchtet haben. Auch mußte er niemals Öl nachfüllen. Wenn jemand nachts an seine Tür klopfte, konnte er sehen, wie die Lampe Lichtfunken sprühte. Auch im Tempel des Orakels finden die Reisenden eine solche Wunderlampe, sodaß sie alles so klar sehen, „ als ob die Mittagssonne klar vom Himmel schiene. “ Die Lampe wird durch einen besonderen, fünfmal in der Retorte destillierten Weingeist erleuchtet, der sich ebenso wenig verzehrte wie das Öl des Apollotempels auf der Akropolis sich nicht selbst verzehrt hatte. Die ganze, komplizierte Konstruktion der Lampe bewirkte, daß es schwer war, den Blick lange und fest darauf gerichtet zu halten. Wo das Licht auf den glatten Marmor der Tempelwände traf, entstanden Lichteffekte, die regenbogenartig die Spektralfarben erscheinen ließen. Nun trat mit freundlich lächelnder Miene die „ ehrwürdige Priesterin des Tempels “ mit ihrem Gefolge auf sie zu und führte sie zur Mitte des Tempels, wo ein wahrer Wunderbrunnen plätscherte. Die Brunnenfassung und was dazu gehörte, war nach pythagoräischer Zahlensymbolik konstruiert: die Zahlen sieben und zwölf beherrschten die Idee der Konstruktion. Die Brunnenfassung war siebeneckig und an jeder der Ecken erhob sich eine Säule aus einem anderen Edelstein, der jeweils einem der sieben Planeten zugeordnet war. Abgesehen davon, daß bei Rabelais zweihundert Jahre astronomischer Forschung nach Dante die Sonne nicht mehr zu den Planeten gezählt wird, ist es die alte kosmologische Symbolik. Das zeigt auch Rabelais Hinweis auf die alten Chaldäer, was zweifellos eine Anspielung auf das chaldäische Orakel war, wichtig für den Neuplatonismus und die Templergnosis. Über den sieben Säulen wölbte sich aus siebenfach geschliffenem Bergkristall eine Kuppel in Kugelform, in welche die zwölf Zeichen des Tierkreises, die zwölf Monate des Jahres, die zwei Sonnenwenden, die beiden Tag- und Nachtgleichen und die scheinbare Sonnenbahn eingemeißelt waren. Das Wesentlichste am Brunnen war aber nicht sein Äußeres, sondern das Wasser, das seiner Quelle entströmte. Wie bei der Lichtsymbolik der Wunderlampe konnte auch hier Rabelais nicht auf die Wassersymbolik im Einzelnen eingehen. Für Eingeweihte war bereits die Symbolik der Brunnenfassung eine wichtige Anspielung gewesen. Auf einem der wunderbarsten Gemälde des gesamten abendländischen Mittelalters, Van Eycks „ Anbetung des Lammes “ , befindet sich im Zentrum ein Brunnen mit siebeneckiger Steinfassung, als Quelle des ewigen Lebens. Im Rosenroman spielt ein solcher Brunnen eine ähnlich wichtige Rolle. In der 32 Vgl. Lewis Spence: An Encyclopedia of Occultism. Hyde Park (NY) 1960, S. 245 124 Rabelais kosmologischen Symbolik des Paradieses entspringt das Wasser des Lebens unter dem Baum des Lebens und liefert das Wasser für die vier Flüsse des Paradieses. Das Wasser aus jenem zentralen Brunnen ist die Quelle des Lebens, der Jugend und der Unsterblichkeit. Im Christentum symbolisiert das Wasser das Fließen des Logos. Im Judentum steht es für Gott. Im Islam wird durch das Trinken des vom Himmel gesandten Wassers die Gnosis bewirkt. Das bedeutet das plötzliche Öffnen der Augen des Herzens, genau das, was dem Suchenden Panurg zu Teil werden wird. Alles in allem verweisen die Wasser des Lebens auf Gott. 33 In der modernen Psychologie hat sich besonders C. G. Jung mit dem Quellen- und Brunnensymbol beschäftigt. Unter anderem hat er die Zusammenhänge zwischen esoterischer Alchemie und dem Wasser solcher Brunnen untersucht und von hier aus gesehen gewinnt Rabelais Selbstbezeichnung als „ Abstraktor der Quintessenz “ eine bereichernde, zusätzliche Bedeutung. Für Jung ist das Wasser des Lebens ein Symbol der Seele als Quelle des inneren Lebens der spirituellen Energie. Einer besonderen Wasserprobe des Orakels unterzieht die Hierophantin sodann die Reisenden, um zu prüfen, ob sie der Einweihung in den letzten Grad des Orakel-Mysteriums, des Mysteriums der Flasche würdig sind. Jeder der Reisenden muß Wasser aus dem Wunderbrunnen trinken und wird befragt, ob er nicht das Gefühl hat, die beste Art seines jeweiligen Lieblingsweins getrunken zu haben. Alle glauben fest, daß sie ihren Lieblingswein getrunken hatten. Bakbuk fordert sie auf, noch ein-, zwei-, drei Mal zu trinken und jedes Mal an einen anderen Wein zu denken und jedes Mal wird sich dieselbe Überzeugung einstellen. Sie schließt daran: „ Und sagt noch, daß bei Gott ein Ding unmöglich sei. “ Der Erzähler überzeugt sie aber mit den Worten: „ Das haben wir noch nie gesagt. Wir sind überzeugt davon, daß er allmächtig ist. “ Nach diesem positiven Abschluß der Probe frage Bakbuk „ Wer von euch ist es, der nach dem Wort der Göttlichen Flasche verlangt? “ Als Panurg sich meldet, trifft sie rituelle Vorbereitungen und führt ihn sodann in eine an den Tempel anschließende runde Kapelle. Auch in der Mitte der Kapelle befindet sich ein Brunnen aus reinstem Alabaster und siebeneckig, der so von Wasser, von einer solchen Klarheit war, wie nur ein Element es in seiner Lauterkeit sein kann. Darin stand, zu einer Hälfte aus dem Wasser herausragend, die heilige Flasche. Es wird nirgends gesagt, was sich in der Flasche befindet und das wird auch gleich verständlich werden. Rabelais ging davon aus, daß sich weder ein Normalleser noch ein Zensor etwas anderes unter dem Flascheninhalt vorstellen konnte, als daß der Inhalt Wein sei. Wer war denn noch wirklich eingeweiht in gnostische Traditionen? 33 Vgl. J. C. Cooper: Illustrated Encyclopaedia of traditional Symbols. London 1978, S. 71. Auch: J. E. Cirlot: A Dictionary of Symbols. New York 1963, S. 107 f. 125 Rabelais Jakob der Gerechte, der Bruder von Jesus stand nach seines Bruders Kreuzigungstod und nach der Flucht von Petrus aus Jerusalem an der Spitze der Urgemeinde Jerusalems, so lange sie noch eine gnostisch-jüdische Sekte war. Das interessante apokryphe Thomas-Evangelium bescheinigt ihm große Thoratreue und hat ihm vielleicht auch deshalb den Beinamen „ der Gerechte “ zuerkannt, der ihm geblieben ist. Jakob der Gerechte gilt als der Verfasser eines Protevangeliums des Jakobus sowie des so genannten Jakobusbriefes und zweier Apokalypsen aus dem Nag- Hammadi Kodex. Der Brief wie die zwei Apokalypsen werden der valentinianischen Gnosis zugerechnet. Nach Jakob nun hat die Flasche neben der Oberflächenbezeichnung als Glasgefäß, um Wein aufzubewahren, auch noch eine gnostisch-symbolische Bedeutung und diese steht für „ Erlösung “ . Das ist es auch, was Panurg erfahren wird: Im engeren Sinn seiner direkten Frage, ob er heiraten soll oder nicht, weil er ermutigt wird, seinem Herzen zu folgen und zu heiraten, und in einem weiteren, allgemeinen Sinn, weil er dadurch lernt, alles mit den Augen des Herzens zu sehen. Vorläufig läßt ihn die Hierophantin drei Mal einen bacchantischen Tanz rings um den Brunnen aufführen und danach flüstert sie ihm aus ihrem Ritualbuch einen Hymnus auf den Wein ins Ohr, den er als Winzerlied nachsingen muß. In den meisten neueren Ausgaben ist der „ Text “ dieses Liedes, gleichsam als Etikett, in die Zeichnung einer Flasche hinein gedruckt. Sodann bringt Bakbuk das Orakel dazu, zu sprechen, und wie es sich für ein braves Orakel schickt, ist die Antwort kurz, anscheinend klar und hinterrücks mehrdeutig. Die Antwort lautet einfach „ Trink! “ Nach diesem Höhepunkt legt die Hierophantin für Panurg das Orakel auch noch aus. Sie erklärt, sogar mit einer etymologischen Begründung, es ginge um richtigen, ganz normalen Wein, den man eben trinken soll. Sie macht dabei den „ Fehler “ , den in den klassischen Orakelgeschichten der jeweils Fragende fast immer macht, der nicht die Hinterhältigkeit des Orakels durchschaut. Panurg aber, überglücklich, erklärt in einem „ Dichtungsanfall “ durch einen Gesang in für Rabelais so geläufigen, drastisch-derben, saftigen und darum gerade für „ Realisten “ besonders überzeugenden Worten, daß er diese (falsche) Antwort mit Freuden aus guten (richtigen) Gründen annimmt. Das darauf folgende Kapitel, in dem Bakbuk selbst das Orakel-Wort auslegt, scheint diese Aussage noch zu verstärken. Sie erklärt, trinken bedeute: „ zechen sollst du “ . Die Hierophantin scheint die Auslegung, daß „ trinken “ einfach trinken von Wein bedeute, durch den ausdrücklichen Hinweis zu begründen, daß das griechische Wort „ oinos “ , eben einfach Wein bedeutet. Es sei mit dem Wort „ vis “ verbunden, was auf die „ Kraft “ der Seele hinweise, die der Wein vermittle. Bei genauerem Überdenken stimmt die Erklärung jedoch gar nicht und das ist ganz natürlich, da es „ die Akademiker “ sind, die sie bestätigen. „ Die Aka- 126 Rabelais demiker “ aber ist ein zensursicherer Euphemismus, da sie für die dümmlichen theologischen Doktoren der Sorbonne stehen. Eine weitere versteckte Bosheit ist die, daß das Gefäß aus dem Bakbuk Panurg die Bestätigung der falschen Auslegung des Orakel-Wortes in die Kehle eingießt, aussieht wie ein „ sogenanntes Brevier “ natürlich der Amtskirche, die Dante aus guten Gründen Ecclesia carnalis nannte, in Wirklichkeit jedoch eine gewöhnliche Flasche ist, aus der natürlich nicht Geistigkeit, sondern nur alkoholischer Wein fließt, der verdummt. Die beiden Kapitel des Höhepunktes, wo das Orakel spricht und das folgende Kapitel über die Auslegung des Spruches durch die Hierophantin sind von Rabelais - durch die Zensur der Inquisition aufgezwungen - mit noch größerer Hinterhältigkeit angelegt worden als es schon der Orakelspruch war. Es ist nicht überraschend, daß diese Stelle sogar einer der größten, nicht nur deutschen Romanisten und dazu besonders ausgezeichneter Stilanalytiker - Leo Spitzer - durch Mißverstehen zu der Enttäuschung verführen konnte, Rabelais sei vielleicht gar nicht ein so großer Dichter, wie angenommen wird. 34 Wenn die Lösung eines mit aller notwendigen Feierlichkeit aufgebauten höchsten, „ göttlichen “ Mysteriums darin bestehen soll, das ganze Mysterium auf das Niveau eines weinseligen, sentimentalen Wiener Heurigenlieds hinunter zu drücken, was soll man sich denken. Worum geht es nun wirklich? Gründliches Lesen und genaue Stilanalyse kann das klären. Um das Orakelwort „ Trink “ wirklich zu versehen, muß man es erstens im Kontext mit dem gesamten Roman sehen und ganz besonders im Zusammenhang mit dem Prolog und ersten Kapitel des ersten Buches. Dort ist viele Male hintereinander eindringlich darauf hingewiesen worden, daß die Sätze des Buches einen unwichtigen Oberflächensinn haben und einen überaus wichtigen Tiefensinn. Ja einmal wurde sogar besonders erklärt, daß Durst im Tiefensinn nicht für körperlichen Durst, sondern für geistigen Wissensdurst und damit „ trinken “ nicht für das Trinken von Wein, sondern für Wissenserweiterung stehe. Zweitens widerspricht die Hierophantin im darauf folgenden letzten Kapitel im Grunde durch ihre Taten ihren eigenen Worten. Sie gibt nämlich den Reisenden zum Abschied nicht drei Schläuche mit deren Lieblingsweinen mit, sondern drei Schläuche mit besonderem Wasser. So wie die Auslegung des Orakelwortes durch die Hierophantin in den beiden Kapiteln falsch zu sein scheint, so ist Panurgs Begründung, weshalb für ihn alles zufriedenstellend ist, goldrichtig. Er nimmt an, daß der Orakelzuspruch die Zustimmung zu seiner Heirat gibt und ist überglücklich, weil dies dem Wunsch seines eigenen Herzens entspricht. Das aber hat über die Heiratsfrage 34 Leo Spitzer: Romanische Stil- und Literaturstudien. Marburg 1931. Auch in Erich Auerbach: Mimesis. Op. cit. 127 Rabelais hinaus allgemeine Gültigkeit und ist die wirkliche Lehre des Orakelspruches, daß man nämlich immer auf das eigene Herz hören soll. Zugleich ist es äußerst charakteristisch für die ganze innere Haltung von Rabelais. Der Charakter des Panurg scheint wirklich eine versteckte Selbstdarstellung von Rabelais zu sein. Gleich als er eingeführt wird, sind die unglaubliche Sprachenkenntnis und die nach der Orakelbefragung ausbrechende Dichtungsmanie durchaus bezeichnende Kennzeichen für ihn. Nicht zufällig ist er ja auch zusammen mit den beiden Riesen Gargantua und Pantagruel sowie mit Bruder Johannes eine der vier durchgehenden Hauptfiguren des ganzen Romans. Bleibt nur noch zu fragen, warum wohl die Hierophantin plötzlich in den beiden so wichtigen Kapiteln des Orakelspruchs und seiner Auslegung plötzlich mit so großer Überredungskunst den Anschein geben wollte, als ginge es in dem „ Göttlichen Orakel “ nur um Wein-saufen, nachdem sie die ganze Zeit vorher wie auch nachher mit solchem Ernst und so vorbildlich und ernsthaft die Priesterin des großen Mysteriums ist. Rabelais wußte eben sehr genau, daß das Hauptinteresse der Zensurschnüffler gerade diesen beiden Kapiteln gehören würde. Wenn es aber schon um eine (häretische) Mysterieneinführung - und sei es auch nur in der clownartigen Form des Orakels von einer Flasche - geht, dann muß man gerade diesen Eindruck verstärken, um Glaubwürdigkeit zu erzeugen, bis ihnen die Überzeugung kommt: „ Dieser komische Vogel von einem Dichter zeigt durch das ganze Buch hindurch, daß es ihm nur um das Saufen geht. “ Daß gerade diese Kapitel vor geheimen Anspielungen förmlich strotzen, machte dem Autor gewiß Spaß. So nennt Panurg die Flasche eine „ transmegistische Flasche, und spielt damit auf den Ursprung der ganzen, großen geistigen Tradition an, in welcher der Roman steht. Bevor das Orakel das entscheidende Wort spricht, ertönt aus der Flasche ein eigenartiges Geräusch, „ wie wenn Bienen aus dem Leib eines toten jungen Stiers hervor schwärmen “ . Das ist ein viel gebrauchter Topos in esoterischen Schriften, wenn es um den Wiedergeburtsakt geht. Das Bild geht auf die Bienen des Aristäus zurück und findet sich in Vergils Georgica (IV.,1,317). 35 Dort wird die Wiedergeburt eines toten Bienenschwarms dadurch erzielt, daß man den ganzen Schwarm in den Leib eines toten, jungen Stieres senkt und drinnen beläßt. Auf solche berühmte esoterische Ankündigung kommt dann als „ Lösung “ , man solle zechen. Wenn aber die Hierophantin in ihrer Auslegung erklärt: „ Zechen sollst du! “ , dann nimmt sie dieses Wort selbst wieder zurück. Ganz am Anfang des ersten 35 Noch 1935 erschien eines der unbekanntesten und zugleich besten Bücher über das Wesen moderner Kunst und Literatur unter dem Titel Les abeilles d ’ Aristée. Der Autor war Wladimir Weidlé. 128 Rabelais Buches, noch vor dem Prolog hatte Rabelais von der Zweiten Auflage an zur Täuschung der Zensoren eine Widmung „ An den Leser “ gestellt, in der es hieß, im ganzen folgenden Buch ginge es nicht um Wahrheit, sondern nur um Lachen. Denn Lachen sei allein des Menschen Vorrecht. Im Prolog und ersten Kapitel wurde freilich darauf in vielen Wiederholungen betont, daß das Lachen nur den Oberflächensinn abdecke, das aber das Wesentliche, worum es in dem Buch ginge, ein tieferer, sehr ernster Sinn einer Geheimlehre versteckt sei. Hier aber, am Ende des letzten Buches, nimmt Bakbuk dies ausdrücklich zurück, indem sie wörtlich erklärt: „ Nicht das Lachen, sondern das Trinken “ sei das Vorrecht des Menschen. Hätte der Zensor den Text des viele Jahre zuvor erschienenen ersten Buches vor sich, dann würde er den Widerspruch sofort entdeckt haben. Aber natürlich ist den ganzen Roman hindurch der Tiefenflächen-Sinn, versteckt unter der „ karnevalesken “ Oberfläche, im Vordergrund gestanden. Das seltsame Verhalten Bakbuks in den zwei vorletzten Kapiteln kann unmöglich ernst genommen werden. Dies umso weniger, als im wirklichen Höhepunkt des Ganzen, dem allerletzten Kapitel, die Hierophantin sofort wieder mit der alten Ernsthaftigkeit und gebührenden Feierlichkeit die Reisenden verabschiedet und dabei noch indirekt geistige Hinweise gibt. Zunächst wird in diesem letzten Kapitel, die Fiktion, daß sie beim Orakel in Indien sind, insofern betont, als ihnen Bakbuk dazu verhilft, direkt und geschwind in den Hafen von Olonne-sur-Mer zurück zu segeln. Sie schlägt ihr Ritualbuch auf und läßt eine ihrer „ Mystagoginnen “ mit goldenem Griffel die Namen und das Herkunftsland der Reisenden eintragen. Für die Reisenden bleiben die Eintragungen unlesbar. Darauf füllt sie drei Schläuche mit Wunderwasser und übergibt die den Reisenden mit den Worten: „ So geht denn, liebe Freunde, und Euer Schutz und Schirm sei jene geistige Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Peripherie ohne Grenzen ist, die, welche wir Gott nennen. “ Gott als allgegenwärtige „ geistige Sphäre “ zu definieren, paßt nicht nur mit der Ecclesia spiritualis Dantes bestens zusammen, sondern nicht weniger mit dem jenem allgemeinen johanneischem Christentum, als dessen Vertreter Bruder Johannes, die vierte Hauptfigur des Romans, die Reisenden begleitet hat. Es folgt eine Preisung der Unterwelt, die aber im Grunde eine Preisung von Proserpina-Persephone darstellt, die auch als Matelda bei Dantes Einweihung durch Lethe-Wasser eine Hauptrolle spielt. Und eines der zentralsten Wiedergeburtsmotive der antiken Mysterien gewesen ist. 36 36 Vgl. C. G. Jung und Karl Kerényi: Einführung in die Mythologie. Der Mythos vom göttlichen Kind. Zürich - Düsseldorf 1999 129 Rabelais Bakbuk weist darauf hin, daß die alten Ägypter Gott als den Verborgenen, Verhüllten, Geheimnisvollen nannten und sie erinnert sie daran, daß „ alle Philosophen und Weisen des Altertums “ zwei Dinge für unerläßlich gehalten haben: Gottes Führung und der Menschen Gemeinschaft. Sodann listet sie einige der wirklichen Philosophen und Weisen des Altertums auf, führt aber als Beispiele für der „ Menschen Gemeinschaft “ nur einzelne besonders nahe und wichtige Freunde dieser Großen an. Die Aufzählung der Großen beginnt sie mit Zoroaster, den Rabelais als neuen Außenseiter der klassischen Namensreihung vorangestellt hat. Es folgen Hermes Trismegistos, Äskulap, Orpheus, Pythagoras und Plato. Abgesehen von Äskulap, der dem gelehrten Arzt Rabelais besonders am Herzen lag und dem nicht empirischen, mythischen Orpheus ist es genau der Anfang jener „ geheimen Traditionskette “ , auf die Robert John im Hinblick auf Dante aufmerksam gemacht hat 37 , und die sich auch weitgehend durch die Geistigkeit der Autoren des vorliegenden Bandes zieht. Der nächstfolgende größere Hinweis gilt Thales von Milet, dem das „ Erkenne dich selbst “ zugeschrieben wird, das über dem Eingang zum Tempel des Apollo in Delphi stand, dem Heim des Orakels der berühmten Pythia und der den „ sieben Weisen Griechenlands “ zugezählt worden war. Rabelais berichtet von Thales, er sei auf seiner Reise nach Ägypten von König Amasis gefragt worden, worin die größte Weisheit bestände. Seine Antwort war: „ In der Zeit, denn alles Verborgene ist mit der Zeit gefunden worden. Deshalb haben die Alten Saturn, die Zeit, den Vater der Wahrheit und die Wahrheit die Tochter der Zeit genannt. “ Rabelais mag dabei daran gedacht haben, daß auch jene Wahrheit, die er unter der clownhaften Oberfläche seines Romans versteckt hatte, eines Tages ins Offene durchbrechen werde. Danach erklärt die Hierophantin auch, daß das Wasser in zwei von den drei Schläuchen, die sie den Reisenden als Abschiedsgeschenk mitgegeben hat, aus dem Wunderbrunnen im Zentrum des Tempels stamme, das Wasser des dritten aber aus dem „ Brunnen der weisen Inder “ , den man das Faß der Brahmanen nennt. War schon die Sprache der gnostischen Tradition der Sprache nach westlich, nämlich altgriechisch gewesen, den Inhalten nach aber vielfach östlich, asiatisch, so vollzieht Rabelais hier eine zusätzliche geistesgeographische Erweiterung, indem er auf die altiranische Lehre Zoroasters, die dualistisch war wie die Gnosis und die vedantische Tradition der indischen Mystik, verwiesen hat. Rabelais wäre nicht der Autor dieses Romans, würde die Hierophantin ihre Ansprache nicht mit den Worten schließen: „ Geht Freunde, in der Heiterkeit des Geistes. “ Es ist beileibe nicht ein Absinken in die Oberflächenschicht der Komik, sondern eine überaus vergeistigte Heiterkeit, um die es hier geht, nicht unähnlich 37 Robert John: Dante.,op. cit S. 260 130 Rabelais Nietzsches „ Fröhlicher Wissenschaft “ , noch näher dem Heiterkeitsbegriff des Lyrikers Ernst Schönwiese, ja dem Lächeln Buddhas, da man sie geradezu religiös nennen könnte. 38 Und Rabelais wäre auch nicht der Autor dieses Romans, würden die Reisenden nicht daraufhin durch ein „ heiteres, wundervolles Gefilde “ „ schreiten “ , so „ schön, reich und fruchtbar wie die Touraine “ - seine geliebte Heimat. 38 Vgl. Roman Rocek, Franz Richter, Joseph Strelka (Hg.): Weisheit der Heiterkeit. Für Ernst Schönwiese. Wien - Hamburg 1978 131 Rabelais SHAKESPEARE Obwohl Shakespeare von seinem Werk her, um das es ja geht, einer der bedeutendsten Autoren überhaupt ist, wissen wir von seinem Leben besonders wenig. Aus diesem Grund kann sogar seine Zugehörigkeit zur Traditionskette nur aus seinem Werk hergeleitet werden. Auch war der allgemeine Zeithintergrund des geistigen und literarischen Lebens in der Periode Elisabeths von einer auffälligen Besonderheit, weshalb dieser etwas eingehender behandelt werden muß. Dafür gibt es über die Zugehörigkeit Shakespeares zur Traditionskette einige Vorarbeiten, darunter eine ganz ausgezeichnete, auf die hier aufgebaut werden kann. Ihr Autor hat bereits ohne es zu wissen, grundsätzlich auf diesen Zusammenhang hingewiesen, als er schrieb: „ Ebenso wie Trithemius und seine beiden Schüler Paracelsus und Agrippa von Nettesheim berufen sich jene Okkultisten, die ich künftig der Einfachheit halber Rosenkreuzer nenne werde, vor allem auf die Kaballa, den Poimandres des Hermes, auf Pythagoras und die griechischen Philosophen von Plato bis Jamblichos und von Plotin bis Porphyrius. 1 Was Arnold natürlich weiß, was aber ungesagt blieb, ist nicht nur, daß sich die Rosenkreuzer in ihren Grundideen so weit zurück leiten wie die geistverwandte Templergnosis, und daß es seit langem einen organisierten Bund der Rosenkreuzer gab, der in einer allgemeinen Form bis heute als Weltorganisation existiert, sondern daß gerade die drei Geistesvertreter, mit denen er begann, Trithemius, Paracelsus und Agrippa zu ihren unmittelbaren und direkten Vorläufern gehörten. 2 1 Paul Arnold: Esoterik bei Shakespeare. Berlin o. J. (1957), S. 20. Übersetzung des Buches Esotérisme de Shakespeare. Paris 1955 2 Es gibt zwei weitere Autorinnen, die Vorarbeiten geleistet haben. Die berühmteste von allen ist Frances Yates, die überaus belesen, aber wenig kritisch ist. Ihr frühestes erstes Buch A Study of Love ’ s Labour ’ s Lost, Cambridge 1936 über Shakespeares Verlor ’ ne Liebesmüh ist das schwächste und wertlos. Ihr bedeutendster Beitrag zur Forschung ist ihr Buch Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuz, Stuttgart 1972, das zeigt, wie im Unterschied zu den fundamentalistischen Zweigen der katholischen wie der protestantischen Hochkirche, welche die Vertreter der aufstrebenden modernen Naturwissenschaften gemeinsam unterdrückten, einige dieser Vertreter direkt aus dem mystisch-esoterischen Geist der Rosenkreuzer her kamen. Gemischt ist das bekannteste Buch von Yates The Occult Philosophy of the Elizabethan Age, London - New York 1979, durch seine Paperback-Ausgabe. Einem hervorragenden Beginn folgt ein völlig unrichtiger Schluß, da sie dem italienischen Dieser Pionier und beste Kenner der Zusammenhänge schrieb auch zum Okkultismus und zur Betonung der Magie in der Zeit Elisabeths, „ man kann sich nicht wundern, daß heutzutage die Intellektuellen mit wenigen Ausnahmen, nicht nur alles, was diese Lehren betrifft, als obskur, gefährlich und absurd abtun, sondern nicht einmal versuchen, sich eine Epoche vorzustellen, in der diese okkulten Lehren das stärkste Interesse der literarischen Kreise und ganz allgemein der gebildeten Gesellschaft fanden und das Hauptthema der meisten großen literarischen Werke war “ . 3 Er hat das noch ergänzt und verstärkt als er schrieb: „ Ich glaube, es gibt keine Epoche in der Geschichte der Wissenschaften, die sechzig Jahre lang unablässig dieselben Themen mit einer so auffallenden Übereinstimmung der Gedanken und selbst der Formulierungen wiederholt hätte. “ 4 Paul Arnold hat auch eine weitausholende, allgemeine Zusammenfassung dieser Periode gegeben, in welcher die Esoterik Shakespeares nur einen, wenngleich überaus wichtigen Teilsektor ausmacht. Sie ist unter dem Titel Histoire de Rose-Croix et les origines de la Franc-Maçonerie 5 erschienen und liegt leider nur französisch vor, sodaß sie von vielen Forschern des Auslands nicht zur Kenntnis genommen wurde. Die Rosenkreuzer sind als die Verwirklichungsform der Traditionskette zur Zeit Elisabeths besonders durch die Wichtigkeit der Magie in ihrem Denken gekennzeichnet. Daß die Magie in der Zeit Elisabeths wie die Rosenkreuzerei selbst eine so große Rolle spielt, ist eine kulturgeschichtliche Tatsache. Königin Elisabeth selbst hatte im Magier John Dee ihren persönlichen Astrologen und Jakob I. schrieb 1604 selbst eine Daemonologie. Das offizielle Verbot „ okkulter “ Gruppen konnte nicht die gekrönten Häupter selbst betreffen, zumal Elisabeth gleichzeitig das religiöse Oberhaupt der anglikanischen Hochkirche war. Außerdem führten die Rosenkreuzer ein ausgedehntes Leben im Untergrund oder aber im Schutz mächtiger Herrn. In der Regierungszeit Elisabeths war eine Organisation der Rosenkreuzer gegründet worden, die es heute noch gibt. Ihr erster „ höchster Großmeister “ soll Michael Maier gewesen sein, der noch wiederholt erwähnt werden wird. Eine der mächtigsten Persönlichkeiten des Landes, Sir Walter Raleigh, zeitweilig Günst- Minoriten Francesco Giorgi aufgesessen ist, der die Gnosis so lange interpretiert hat, bis sie in das Korsett seiner Dogmenfreudigkeit paßte. Lebendig bewußt von Hermes Trismegistos bis zu den Rosenkreuzern ist die Traditionskette bei Nicole Marchand in ihrem Buch Shakespeare oder das Auge Gottes. Königsdorf, o. J. (2012). Es fehlt ihr aber die Kenntnis der Zusammenhänge sowie die wissenschaftliche Vorbildung von Arnold. 3 Paul Arnold, op. cit, S. 6 4 Paul Arnold, op. cit., S. 7. Die „ Traditionskette “ , die oft und lange durch offizielle Mächte in den Untergrund gedrängt wurde, war eben einmal unter dem Reformationsdruck in den Vordergrund durchgebrochen. 5 Paris 1955 133 Shakespeare ling der Königin, Gelehrter, Naturforscher, Abenteurer, der begonnen hatte, das britische Weltreich zusammen zu erobern, war von 1590 - 1593 das Haupt einer Gruppe berühmter Dramatiker und Philosophen in der Londoner Mermaid Tavern. Die Gespräche drehten sich um Kabbala und den sie unterdrückenden Fundamentalismus, um Verspottung der Puritaner, dummer Prediger und der Informanten von Elisabeths Geheimpolizei. Eines Tages ergriffen einige von ihnen sogar einen dieser Informanten und verklebten ihm mit Teer und Wachs den Mund. Das löste eine Polizei-Untersuchung aus. Die von der Polizei erstellte Liste nannte die Namen von Marlowe, Hariot, Warner, Royden und Kyd als Bürger mit „ freethinking proclivities “ (Freidenker-Veranlagung). Die Liste konnte oder wollte nicht alle Mitglieder des Mermaid-Tavern-Kreises anführen. Für die Schnüffler und Schergen waren die Rosenkreuzer einfach „ Atheisten “ . Manche Gruppen trafen sich sogar in Kirchen, wenngleich nicht zur Andacht, sondern weil dies der einzige sichere Platz war, wo sie die Schnüffler nicht suchten. Die Fundamentalisten der englischen Hochkirche folterten und verbrannten Katholiken fast ebenso schnell und gründlich wie ihre katholische Konkurrenz in Frankreich die Protestanten verbrannten. Dabei gab es eine tief reichende Gemeinsamkeit zwischen den beiden Gruppen. Sie unterdrückten gemeinsam ebenso „ Häretiker “ , wie die Rosenkreuzer und die Vertreter der aufstrebenden Naturwissenschaften. Das war die Umwelt, in der Shakespeare lebte und wirkte. Was seine engste Umwelt betraf, die Bühne des Theaters, so mieden die in der Mermaid Tavern verspotteten puritanischen Bürger das Theater wie der Teufel das Weihwasser. Sein Publikum bestand aus Aristokraten, Intellektuellen und dem „ niederen Volk “ . Einige Jahreszahlen sollen helfen, die Chronologie in Erinnerung zu rufen. Shakespeare lebte von 1564 - 1610. Michael Maier war nur vier Jahre jünger, also ein echter Zeitgenosse. Johann Valentin Andreae, der in der Literatur auch heute noch manches Mal als erster Initiator der Rosenkreuzer genannt wird, war dreiundzwanzig Jahre älter. John Dee war sechsunddreißig Jahre älter. Die bekannteste alte Erwähnung des Rosenkreuz in des Paracelsus Prognostication stammt aus dem Jahr 1530. In Innsbruck gab es bereits 1497 eine Rosenkreuzerschrift, die in Porto bei Rodrigo Alvarez gedruckt wurde, siebenundsechzig Jahre vor Shakespeare. Die erste Gründung eines Bundes der Rosenkreuzer soll 1570 stattgefunden haben. 6 Für Mißverständnisse und Fehlinterpretationen sorgt auch der Umstand, daß es zweierlei Arten von Alchemie, von Magie und von Mystik gibt. Die eine Art von Alchemie, die immer wieder von Materialisten aller Zeiten ernst genommen wird, ist jene Pseudo-Wissenschaft, die glaubt, aus Quecksilber oder anderen 6 Robert Ambelain: Templiers et Rose-Croix. Paris, o. J., S. 80 134 Shakespeare minderen Metallen Gold machen zu können. Die andere Art von Alchemie, um die es auch hier geht, verwendet die Sprache der Chemie nicht wörtlich, sondern symbolisch für ganz andere Begriffe. Für sie bedeutet der „ Stein der Weisen “ ein Symbol für innere Vollendung. Viele Menschen sind jedoch offenkundig nur fähig, Texte wörtlich zu verstehen. Bei der Magie ist es genau so: Pico della Mirandola hat zwischen einer Magie „ goëteia “ und einer Magie „ magia “ unterschieden. Es ist die seit dem Altertum gebräuchliche Unterscheidung zwischen Schwarzer und Weißer Magie. Paul Arnold hat den hier gebrauchten Begriff Mystik deutlicher definiert als viele. Er bezeichnet damit die Verbindung der Einzelseele mit dem göttlichen Empyräum nicht durch die Verbindung durch sogenannte „ platonische Liebe “ , sondern einer Verbindung im Sinn eines platonischen Okkultismus. Mit anderen Worten: Die spirituelle Erleuchtung setzt dem Schmerz der Vielfalt ein Ende und vereinigt uns mit der Ur-Einheit. Selbstverständlich kann es auch in diesem Kapitel nicht um Vollständigkeit aller Spuren der Traditionskette im Werk Shakespeares gehen, da vor allem einzelne, „ punktuelle “ Erwähnungen so zahlreich und der Umfang von Shakespeares Werk viel zu groß dafür ist. Aber die Grundlinien werden sichtbar gemacht werden. An den Eingang sei eine Beobachtung von Nicole Marchand gestellt, die in ihrer Begeisterung für das Werk Shakespeares den adäquaten lebendigen Ausdruck gefunden hat. Trotz ihres noch nicht vollen Verständnisses hat doch ihr Wissen um die hermetische Tradition allein ausgereicht, in den Dramen des großen Dichters „ das Echo des geheimen Wissens “ zu entdecken, „ das alle Mysterien und Welten umschließt. Die Stimme Shakespeares entspringt diesen Mysterien und widerklingt auf tausend Arten, bald als mächtiger Atem des Geistes, bald als durchdringende Kraft eines von der Herrlichkeit Gottes erfüllten Bewußtseins, bald als ernster moralischer Appell an uns, die falschen Verhaltungsweisen unseres Lebens zu korrigieren, bald als spöttisch-pikante Pointe. Doch selbst unter grimmigem oder bitterem Lachen spricht Shakespeare noch vom Urmysterium unseres göttlichen Ursprungs . . . “ 7 Da es aus dem Leben Shakespeares keinerlei Dokumentation gibt, daß er jemals Rosenkreuzer gewesen ist oder aber unter dem Einfluß eines Geistesvertreters der Rosenkreuzer stand, muß dieser Beweis aus dem Werk hergeleitet werden. Das ist darum meistens schwer zu zeigen, weil im Allgemeinen eine 7 Nicole Marchand, op. cit., S. 26 f. Wissenschaftliche Vorbildung allein sieht nicht alles. Haß sieht noch besser, aber die Liebe am besten. Das geschieht in diesem Zitat. Leider gibt es andere Stellen, wo sie durch ihre Nicht-Wissenschaftlichkeit zu unpräzisen Äußerungen verführt wird, wie gleich im Titel des Buches: Shakespeare oder das Auge Gottes. Kein Mensch vermag mit dem Auge Gottes zu sehen, so wenig wie ein Frosch mit den Augen des Menschen. 135 Shakespeare Abhängigkeit des Lebens vom Text im Unterschied zur Abhängigkeit des Werks vom Leben nur sehr schwer verifiziert werden kann. In diesem Fall liegt der erste Hauptbeweis aber in einem Schlüsselgedicht, das so lang ist, daß es acht Druckseiten benötigte, wenn Arnold Strophe für Strophe und Vers für Vers detailliert die direkte Abhängigkeit unter Beweis stellt. Wenn irgendwo, dann ist schon hier völlige Sicherheit gegeben. Doch gibt es noch mehr andere Stellen in den Dramen, die zeigen, wie erst das Hintergrundwissen um die Rosenkreuzer zu ihrem wirklichen Verständnis führt. Das Schlüsselgedicht trägt den Titel „ Der Phoenix und der Tauber “ und besteht aus achtzehn vier- und dreizeiligen Strophen. Es ist unter dem Namen Shakespeares in einer Sammlung von Gedichten abgedruckt, die 1601 in London von Robert Chester unter dem Titel Love ’ s Martyr or Rosalin ’ s Complaint herausgegeben worden ist. Die Sammlung beginnt mit einer Anrufung Apollos durch einen „ Chor der Dichter “ , gefolgt von einem kurzen, anonymen Gedicht und sodann folgt Shakespeares Gedicht. Nach diesem Gedicht stehen noch Gedichte von vier damals berühmten elisabethanischen Autoren. Es ist auf den ersten Blick offenkundig, daß jeder Vers dieses Gedichts so verschlüsselt ist, daß es einfach unmöglich ist, das Geheimnis zu lösen. Es stellte ein solches Problem dar, daß es spätere Shakespeare-Ausgaben gab, in denen die Herausgeber trotz der ausdrücklichen Nennung von Shakespeares Namen über dem Titel, das Gedicht gar nicht in ihre Ausgabe aufnahmen. Es gab schon zur Zeit Shakespeares fünf verschiedene Deutungsversuche, sodaß die Verwirrungen dadurch noch vergrößert wurden. Der Mann, der es entschlüsseln konnte, mußte schon ein ganz besonderer Mann sein und er war es auch. Sein Name war Michael Maier und Paul Arnold entdeckte den Schlüssel in Form eines Gedichts von Maier in seinem letzten lateinischen Werk Cantillenae intellectuales de Phoenice redivivo, erschienen 1622 in Rom. Das Gedicht Maiers ist fast so lang wie das Gedicht im Sammelband Chesters und es besingt genauso wie Shakespeares Gedicht den Verbrennungstod des Phoenix. Aber nicht nur das. Es liefert ganz genau alle Symbole, Embleme, und philosophischen Begriffe, die Shakespeare verschlüsselt hatte. Wer war Michael Maier? Sein Biograph James B. Craven beschrieb ihn im Titel als Doktor der Medizin und der Philosophie, Alchemist, Rosenkreuzer, Mystiker. Er war 1558 in Rendsburg (Holstein) geboren worden, hatte an einigen deutschen Universitäten und in Padua Medizin studiert und später auch Philosophie. 1609 wurde er Leibarzt des Habsburgers Rudolf II. in Prag, der ihn zum Markgrafen ernannte. Er schrieb unter anderem einen Kommentar zu Hermes Trismegistos. Von 1611 bis 1616 war er zwei Mal am Hof Jakobs I. in London, zwischendurch auch beim Landgrafen von Nassau, der ein Gönner der Alchemisten war. Er soll der erste Höchste Großmeister der neugegründeten Bruderschaft der Rosenkreuzer gewesen sein. 1619 war er beim Land- 136 Shakespeare grafen Moritz von Hessen-Kassel und ab 1620 Arzt in Magdeburg, wo er 1622 starb. Paul Arnold hat durch das Gedicht Maiers und dazu noch durch den Kommentar Chesters zu „ Rosalin ’ s Complaint “ so viel erklärendes Material besessen, daß die Entschlüsselung des Gedichts kein Problem darstellte. Durch diese beiden Quellen konnte er feststellen, daß die berühmte „ Elegie vom Phoenix und vom Tauber “ Shakespeares tatsächlich das „ Fragment einer okkulten Liturgie “ darstellte, die uns durch Johann Valentin Andreaes Rosenkreuzer-Manifest Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz Anno 1459 als Ganzes erhalten ist. Das Gedicht beginnt bereits mit dem Schlußteil des „ Ganzen “ , dem in der Chymischen Hochzeit das Begräbnis der Könige entspricht. Die erste Strophe des verschlüsselten Gedichts von Shakespeare lautet: Laßt den Vogel mit der stärksten Stimme Auf dem einzigen Baum Arabiens Trauriger Herold und Trompeter sein, seinem Ruf gehorcht, ihr keuschen Schwingen. Der „ Vogel mit der stärksten Stimme auf dem Baum Arabiens “ war ein feststehender Topos für den Phoenix, auf den ja auch der Titel verweist. Er ist der Herold, das heißt der Verkünder der „ freudvollen Tragödie “ , wie es bei Chester heißt. Er ist ein „ trauriger “ Herold, weil er die Tragödie des gemeinsamen Feuertodes von sich und dem Tauber ankündigt. Bei Chester „ befiehlt “ der Phoenix dem Tauber ausdrücklich, hier im Gedicht „ gehorcht “ dieser einfach, denn für ihn steht die Metapher von den „ Keuschen Schwingen “ Das „ keusch “ soll ganz sicher stellen, daß es hier nicht um eine körperliche, sondern um eine spirituell-seelische, eine „ Chymische “ Hochzeit geht. Im Gedicht ist alles auf die Vogelwelt übertragen, abgesehen von dem „ widerwärtigen Vorläufer des bösen Feindes “ , der mitunter als böser, ungezähmter Löwe gesehen wird, hier aber nicht als solcher genannt wird. Die letzten fünf Strophen sind ein „ Trauergesang “ auf die allerdings „ Gemeinsam Erhöhten und Sterne der Liebe “ , in die sie sich verwandelt haben. Die letzte Strophe ist eine Aufforderung an alle „ Auserwählten “ , - das sind die Eingeweihten - „ sich vor der Urne des Lebens “ . . . zu „ verneigen. Damit das Wunder vollständig ist, müssen alle Erwählten dem großen Werk beiwohnen, damit alle, die wahr und schön sind, wie das Paar Phoenix-Tauber, sich mit ihm, mystisch vereinigen. “ 8 Die Urne enthält mit der Asche der beiden „ Vögel “ auch ihre wiedergeborene Seele. Sowohl bei Maier wie bei Chester hat Arnold den Begriff gefunden. Es hilft, wenn man sich eine entsprechende Stelle aus der Chymischen Hochzeit ins Gedächtnis ruft. Dort sind die enthaupteten Körper der Könige in Särge gelegt 8 Paul Arnold, op. cit., S. 120 137 Shakespeare und heimlich nach Olympi gebracht worden. Dort wird eine vorgetäuschte Begräbniszeremonie mit Trauermusik inszeniert. Über dem Friedhof weht eine große Fahne mit dem Phoenix. Durch spirituelle Handlungen erhebt sich aus den symbolisch begrabenen Körpern der wiedergeborene Phoenix. 9 Arnold bewundert abschließend die „ Dichte “ der Aussagen in diesem Phoenix-Gedicht und nennt es den „ unwiderlegbaren und überzeugenden Beweis, daß Shakespeare dem Okkultismus der Gruppe Raleighs an hing. “ 10 Die Spuren dieses Okkultismus finden sich aber auch schon in den Sonetten und in einem Versepos Shakespeares. Alastair Fowler hat gezeigt, daß die Anordnung der Sonette der pythagoräischen Zahlensymbolik entspricht. 11 Er hat bewiesen, daß die drei irregulären Sonette Nr. 99, 126 und 145 so lokalisiert sind, daß sie als Basis eines pythagoräischen Kugel-Dreiecks dienen können. Dies geschieht nach einem kabbalistischen Prinzip. Die Pyramidenform hat aber den Sinn als numerologische Struktur die niemals endende Liebe des Autors zu betonen. Nicht nur in der Form der Sonette, sondern auch in ihrem Gehalt finden sich Hinweise auf die okkulten Ideen der Rosenkreuzer. Hier seien nur die beiden letzten Sonette herausgegriffen, da sie einen End- und Höhepunkt der Sammlung darstellen. In ihnen hat sich der Dichter einem wenig bekannten Mythos zugewandt, der aber hier insofern relevant war, als er sich auf den Gott der Liebe bezog, um die es in den Sonetten geht. Nach dieser Mythe war Amor bei einer Quelle eingeschlafen und hatte seine brennende Fackel neben sich gelegt. So fanden ihn übermütige und verspielte Nymphen, von denen eine die brennende Fackel auf die gefrorene Quelle legte. Das Feuer der berennenden Begierde, das in der Fackel brannte, schmolz das Eis in ihrem Umkreis und verlöschte sodann für immer im Wasser. Erhalten ist diese Mythe im Kapitel „ Das Leben des Jamblichos “ des Buches Leben der Philosophen und Sophisten von Eunapius, der Hierophant der eleusinischen Mysterien war. Das Buch war jedenfalls in Griechisch und Latein 1495 in Heidelberg erschienen und 1579 in London. Jamblichos war einer jener neuplatonischen Philosophen, die zur Traditionskette zählten. Der Neuplatonismus aber spielte im Zusammenhang mit Kabbala und Hermetismus bei den Elisabethanern eine wichtige Rolle. Die beiden Sonette beziehen sich auf die seelisch-spirituelle Liebe der Rosenkreuzer. Bereits in seinem Versepos Venus und Adonis, das Shakespeare in der Widmung „ the first heir of my invention “ nennt, stehen die erotisch-körperliche 9 Zur detaillierten Aufschlüsselung des Gedichts vgl. Paul Arnold, op. cit., S. 113 - 121 10 Paul Arnold, op. cit., S. 121 11 Alastair Fowler: Triumphal Forms. Structural Patterns in Elizabethan Poetry. Cambridge 1970 138 Shakespeare Wollust der verliebten Venus und die a-sexuelle Keuschheit des Adonis einander diametral gegenüber. Es ist auch der Gegensatz Venus und Diana, der jungfräulichen Göttin der Jagd (Adonis stirbt auf einer Eberjagd). Diana steht für eine vergeistigt-spirituelle Liebe und hat darum auch in den Mysterien von Eleusis eine entsprechende Rolle gespielt. 12 Wir werden den prägenden Geist des lunaren Charakters in Goethes klassischer Walpurgisnacht wieder finden. Eines der frühesten Lustspiele Shakespeares ist bereits ein Drama, in dem es grundsätzlich um rosenkreuzerische Belange geht: Love ’ s Labour ’ s Lost, in der Schlegel-Tieckschen Übersetzung Liebes Leid und Lust, in den meisten neueren Übersetzungen Verlor ’ ne Liebesmüh. Das Stück spielt am Hof eines Königs Ferdinand von Navarra, der wohl für Heinrich IV. von Frankreich steht, den die Engländer damals gerade unterstützt hatten. Der König und vier seiner Lords beschließen, eine „ kleine Akademie “ zu gründen und es ist naheliegend, ihr Vorbild in der Platonischen Akademie in Athen zu sehen, die auch das Vorbild der Florentiner Akademie gewesen ist, dem ersten „ Entdeckungsort “ der Traditionskette. Auch Pico della Mirandola hat dieser Akademie angehört, der synkretistisch Platonismus und Neuplatonismus mit der Kabbala und der hermetischen Tradition verbunden hat. In John Dees Bibliothek fand sich eines der Hauptwerke Picos, der in jener Zeit in England überhaupt eine große Rolle gespielt hat. Gershom Scholem, der in einem eigenen kleinen Buch dem weit verbreiteten, unwissenschaftlichen Mißbrauch des Bergriffes „ Kabbala “ entgegen getreten ist, nennt Pico zusammen mit Trithemius den ersten christlichen Vermittler ernsthafter Kenntnis der Kaballa. Vor allem für „ die Alchemisten im Umkreis des Rosenkreuzertums “ war es so, daß sie bewußt „ eine Koinzidenz des chemischen und mystischen Prozesses vor Augen hatten “ , wenn sie von Alchemie und Kabbala sprachen und „ besonders in diesen Kreisen hat sich die Identifikation der Kabbala mit Alchemie “ 13 mit besonderem Nachdruck durchgesetzt. Der König und die Mitglieder seiner kleinen Akademie wollen nicht nur das Studium dessen betreiben, was „ gemeinem Sinn “ unerforschlich ist, sondern auch den „ göttlichen Sinn “ . Sie verbinden diese geistige Aufgabe mit einem Gelübde, drei Jahre in Askese zu leben, was bedeutet: beschränktes Essen, wenig Schlaf und nicht zuletzt völlige Abgeschlossenheit von allen Frauen. Sie glauben, dies würde das Studium wesentlich unterstützen, da „ die Seele schmaust “ , wenn der „ Körper darbt. “ Arnold hat die Definition eines „ wahren Rosenkreuzers “ von Irenaeus Agnostus zitiert, in der es heißt: „ Der wahre Rosenkreuzer ist verschwiegen, ruhig, bescheiden und großzügig; er vermeidet den Pomp, er ist bedürfnislos, schläft wenig und übt vor allem Enthaltsamkeit; er will lieber sterben als seine 12 Das alles ist in Einzelheiten ausgeführt bei Paul Arnold, op. cit., S. 226 - 231 13 Gerschom Scholem: Alchemie und Kabbala. Frankfurt 1994, S. 7 und 11 139 Shakespeare Jungfräulichkeit (Unschuld) verlieren. “ 14 Es sind genau die Bedingungen, die der König für die Aufnahme in seine Akademie stellt. Zumindest einer der drei Lords, Biron, weiß, auf welche ganz besondere Art der Bewußtseinserweiterung es ankommt: „ Study knows that which yet doth not know “ , was bedeutet: Wenn man der Wahrheit Licht im Buchwissen allein sucht, dann hat die Wahrheit des Auges eigenen Blick selbst auch schon geblendet. Davon zu viel wissen, heißt mit Worten kramen. Das Ergebnis ist ein sinnloses Spiel mit abstrakten Begriffen, die im besten Fall vortäuschen, die Wahrheit zu sein, ohne daß von der Wahrheit selbst die Rede sein kann. Aber der König und zwei Lords wissen es nicht besser und richten sich auf Bücherwissen und Askese ein. Shakespeare jedoch, dieser tiefste Kenner der menschlichen Seele, läßt einen wahren Stoßtrupp an weiblicher Gemütstiefe, von Charme sowie von körperlichen und psychischen Reizen auf die frisch gebackene Asketengruppe los. Mit großer Kunst beschreibt er den Prozeß, wie ein Neu-Asket nach dem anderen, jeder für sich allein und „ geheim “ sein Gelübde innerlich bricht und wie es peinlicher Weise plötzlich alle wissen. Der weibliche Stoßtrupp besteht aus niemand geringeren als der Prinzessin und Thronerbin von Frankreich und ihren Hofdamen. Dadurch jedoch, daß nicht nur der König in tiefe Liebe zur Prinzessin verfällt, sondern jeder der drei Lords seine Dame des Herzens findet, setzt eine wahre Gruppenläuterung ein. Plötzlich wissen sie, daß sie mit ihrem ursprünglichen Programm allein niemals das hohe Ziel erreicht hätten. Doch Lieb, in Frauenaugen erst gelernt Lebt nicht allein, vermauert im Gehirn, Die Liebe ist das Geheimnis, worum sich alles dreht. Sie wird ein „ Herkules “ genannt, klug wie die Sphinx, so süß und musikalisch wie des lichten Apolls Leier. Ist die Musik an sich schon verstandesüberschreitend, so ist sie es in diesem Fall noch viel mehr, wo die Harmonie der Sphären mitklingt. Durch die in ihr mitklingende Sphärenharmonie wird sie zum Ausdruck der göttlichen Ordnung, wie sie sich in der Natur offenbart. Der Magier John Dee, der auch ein berühmter Mathematiker war und der große Entdecker mathematischer und physikalischer Erkenntnis Isaak Newton, der auch spirituelle Interessen hatte, waren gleicherweise tief religiöse Menschen. In der Fabel des Lustspiels ist aber die Prinzessin von Frankreich von der plötzlichen tiefen Liebe des Königs noch mehr überrascht, als sie niemals zuvor von jemandem so kühl und unhöflich, ja grob behandelt wurde wie durch ihn, als er sich noch durch sein Gelübde gebunden fühlte. Als sie aber die Wahrheit seiner Liebe erkennt, erlegt sie ihm Bedingungen auf. Der Grund war, daß die 14 Paul Arnold, op. cit., S. 24 140 Shakespeare gekränkte Prinzessin wirklich Anlaß hatte, den König nach so radikalem Sinneswechsel auf die Probe zu stellen. War die Liebe echt, so würde sie durch die Wartezeit nur noch mehr anwachsen. Vor allem aber würde gleichzeitig die Klarheit des verstandesüberwindenden Bewußtseins noch mehr anwachsen und der König seinem ursprünglichen Ziel der Akademie noch näher gebracht. Nun wäre Shakespeare nicht der große Dichter, der er ist, hätte diese dazwischen geschaltete Wartezeit nicht auch ihre positive Funktion. Zunächst dienen die in ihr zu den vier ersten Hauptakteuren neu hinzu getretenen Charaktere durch raschen Personen- und Szenenwechsel und noch mehr durch den Wechsel ernster und komischer Stellen der Spannung und einem lebendigen Fortschreiten zum Ziel der Chymischen Hochzeit hin. Noch wichtiger als dies ist die dadurch ebenso erreichte Herausarbeitung des spirituellen Gesamt-Sinns durch die Kontrastierung der vier positiven, navarresischen Großen einerseits, die sich noch immer um das Ziel ihrer Akademie bemühen, und andererseits durch die weniger positiven Charaktere, die sich selbst immer sichtbarer von jeglichem solchen Ziel ausschließen. Da ist zuerst einmal der spanische Grande Don Adriano de Armado, bramarbasierend und ebenso kriegerisch wie dümmlich, der einmal sogar erklärt, er wolle mit den vier „ mit studieren. “ Er führt derart bombastische und übertrieben lächerliche Reden, daß der König auf die Frage Birons, eines der drei anderen, ob es während der drei Jahre des Fastens nicht wenigstens scherzhafte Unterbrechungen gäbe, erwidert: Gewiß würde es die geben durch den reisenden spanischen Granden Don Armado, der sich am Hof aufhält. Er sei ein Exempel der neuen Mode, der zugleich „ Sentenzen prägt wie ein Stempel “ . Don Armado fällt im Grunde die Rolle eines zweiten Hofnarren zu, dessen unfreiwillige Komik noch lächerlicher wirkt als die freiwillige und bewußte Komik des „ wirklichen “ Hofnarren Costard. Denn Costard ist die erste und frühe Variationsform von Shakespeares Narren, hinter deren Komik sich oft Gedankentiefe verbirgt. Die größte Ungeschicklichkeit, die Graf Baudissin, dem Übersetzer des Stücks für die hier benützte Schlegel-Tiecksche Ausgabe unterlief, ist die Umbenennung Costards von einem Clown in einen Bauern, dem er den Namen „ Schädel “ gab. Jetzt muß sich plötzlich ein Bauer dauernd bei Hof aufhalten und anstatt der typischen bäurischen Haupteigenschaften der Shakespearezeit Schwerfälligkeit und Unbildung nun gedankentiefe Späße machen. Spätere „ verbesserte “ Ausgaben haben diesen Fehler übernommen. Von den weiteren Kontrastfiguren, der ewig uneingeweiht Bleibenden, denen Wichtigkeit zukommt, sind der fundamentalistische Vikar Sir Nathanael und der Schulmeister Holofernes, dessen Name bereits auf den Schrecken vorbereitet, den sein Unterricht verbreitet. Er ist eine Konkurrenz für Don Amado, denn seine Sprache ist so übertrieben arrogant geschraubt durch lächerliche Scheingelehrsamkeit, daß unfreiwillig-komische Wirkungen die Folge sind. Das Wesen 141 Shakespeare der Kontrastfiguren entspricht ganz genau dem Gegenteil dessen, was in der Chymischen Hochzeit Andreaes die „ Ritter vom Goldenen Stein “ , die Vollendeten der Rosenkreuzer-Einweihung kennzeichnet. Sir Nathanael zeigt, wessen Geistes Kind er ist, durch die Bewunderung, die er der Scheingelehrsamkeit von Holofernes zollt. Er ist das geistliche Gegenstück in der Rolle des beschränkt fundamentalistischen Predigers. Die beiden repräsentieren nebenbei gerade jene Berufe, die dem Theater Shakespeares feindlich gegenüber standen. So wie Don Armado der damaligen Feindnation Englands Spanien angehört, deren Riesenflotte gerade erfolglos ausgezogen war, um England zu erobern. Nichts wäre indessen falscher, als anzunehmen, die Kontrastfiguren wären vom Dichter willkürlich so gezeichnet worden. Wie immer, so geht es auch hier um die Wahrheit und er hat sie mit bewundernswerter Lebendigkeit und höchstens mit leichten Übertreibungen auf die Bühne gestellt. Ein positives Gegenstück zu den Kontrastfiguren stellt auch der Page Don Armados Motte dar, ein blutjunger Page, charakterisiert durch Witz, Charme und eine unerhörte Sprachbeherrschung. Er vertritt gegenüber seinem Herrn die Intelligenz. Dafür ist der Polizist ein Muster geistiger Beschränktheit, der in der deutschen Übertragung zu Recht den Namen Dumm trägt. Das Milchmädchen Jacquenette ist klug und schlagfertig. Sie könnte im Publikum des Globe Theaters sitzen. Die kontrastierenden Kurzszenen, welche den Eindruck der Kontrastfiguren verstärken, lockern nicht nur das Ganze beweglich auf, sondern machen durch ihre Drastik den Unterschied zwischen den vier Kandidaten der Vollkommenheit und den sich selbst ausschließenden einweihungsunfähigen Kontrastfiguren auch für den einfachsten Zuschauer deutlich. In der fortschreitenden Entwicklung glaubt der König endlich Gegenliebe auf Seite der Prinzessin zu entdecken. Da erfährt sie durch einen Kurier, daß der königliche Vater verstorben ist und daß sie sofort nach Paris zurückkehren muß. Sie trifft Vorbereitungen zur sofortigen Heimkehr. Nun bittet sie der König um eine Entscheidung. Diese fällt aber so aus, daß sie verlangt, der König müsse ein Jahr in vollkommener Zurückgezogenheit verbringen. Sollte er diese Prüfung bestehen, dann wolle sie ihm gehören. Der außerordentlich wichtige „ Nebeneffekt “ dieser Bedingung ist, daß durch die wachsende Liebe zusammen mit dem geistigen Ziel der Erleuchtung, dem Ziel der gegründeten Akademie diese in greifbare Nähe gerückt ist. Selbstverständlich gilt die gleiche Bedingung für die drei Lords und ihre französischen Hofdamen, sodaß auch die Akademie gerettet ist. Lord Brion erklärt allerdings eher skeptisch: Nicht wie im alten Lustspiel endet ’ s heut; Hans kriegt kein Gretchen; schade daß die Damen Den Ausgang nicht komödienhafter nahmen. 142 Shakespeare Gewiß ist es kein „ altes Lustspiel", weil diesem der okkulte Hintergrund völlig fehlte. Es weist wie bereits im Titel angekündigt tragikomische Züge auf und weist damit schon auf die letzten drei „ Romanzen “ Shakespeares voraus. Die innere Vollendung der vier Kandidaten zur „ Rittern vom goldenen Stein “ in der alten Lustspielform darzustellen, war höchstwahrscheinlich so gut wie unmöglich und führte zu einer „ neuen Art “ von Lustspiel anstatt mit endgültigem guten Ausgang mit der sicheren Aussicht auf einen guten Ausgang. Es ist wichtig, daß der König nunmehr Lord Biron vertröstet, das gute Ende werde mit Sicherheit kommen. Dann tritt der Überraschungseffekt des Schlusses ein. Während sie noch alle, die Prinzessin mit ihrem Damen und der König mit vielen seines Hofes, zusammen sind, tritt der unfreiwillige Komödiant Don Armado ein, der einmal großsprecherisch erklärt hat, er sei der große Held aus dem Trojanischen Krieg. Die gelehrte Prinzessin fragt überrascht: „ War das nicht Hektor? “ Don Armado aber fragt sie, ob sie nicht den Dialog hören möchte, den zwei gelehrte Männer zur Verherrlichung der Eule und des Kuckucks zusammengestellt haben. Zum Abschluß kommen nach den Höflingen mit ihrem Wunsch nach Erleuchtung auch die Kontrastfiguren zum Zug. Sie kennen nicht das Lied vom Phoenix und vom Tauber, sondern nur das sinnlose von der Eule und vom Kuckuck. Der König entscheidet, sie sollen sofort gerufen werden. Darauf treten der zweite unfreiwillige Komiker Holofernes ein, sowie Nathanael, der junge Page Motte und der geistreiche Clown Costard, dazu noch andere mit Musikinstrumenten. Armado stellt sie auf: Hier stellt sich Ver, der Lenz, Dort Hiems, Winter; diesem folgt die Eule, Der Kuckuck jenem; Ver beginne nun. Hier ist alles verkehrt. Während es fast im gesamten Stück mit den vier „ Akademie-Mitgliedern “ und den ihnen verbundenen französischen Damen aufwärts geht, einem positiven Ende zu, geht es hier bergab vom Frühling zum Winter. Aber sogar unter den Uneingeweihten gibt es Unterschiede. Die Partien des „ Ver “ und des Kuckucks werden zweifellos von Costard und Motte gesungen, jene des Winters zweifellos von den Dümmlingen Holofernes und Nathanael. Der Part von Ver und Kuckuck endet infolge der Intelligenz der Sänger in Unzufriedenheit, jener der Dümmlinge in Zufriedenheit über die körperliche Wohltat durch das „ Würzbier “ Hanne ’ s. Zu allerletzt faßt Armado zusammen: „ Die Worte Merkurs sind rauh, nach den Gesängen des Apoll. “ Hier hat Shakespeare dem Armado etwas Intelligentes in den Mund gelegt. Denn hier ist mit Merkur bestimmt nicht Hermes Trismegistos gemeint, der wenig mit Würzbier zu tun hat, sondern eine Geschichte, die sich nach der Geburt des Merkurs ereignet hat. Hier ist Merkur 143 Shakespeare der Sohn der Göttin Maja, der Erde, der sich schon in der Wiege heimlich davon machte, um Apoll seine Rinderherde zu stehlen. Als Apoll bei Zeus, dem Vater Merkurs, Klage führte, trat ihm dieser seine Leier ab, wofür Apoll gerne Merkur die Rinder überließ. Da Shakespeare ein begnadeter Dichter ist, sind auch die „ rauhen “ Merkurlieder des Stücks nicht ohne lyrischen Reiz. Das große Kunstwerk des gesamten Stücks ist freilich ein Produkt von Apolls Leier. Armados allerletzte Worte nach dem Absingen der Lieder sind: „ Ihr dorthin, wir dahin. “ Da er sich in die Teilung durch das „ wir “ selbst mit einbezieht, geht es offenkundig um die Teilung zwischen Costard und Motte einerseits, die „ dorthin “ sollen, und Holofernes sowie Nathanael, die „ dahin “ sollen und denen er sich selbst zuzählt. Denn für ihn ist auch das verkehrt: für ihn sind Motte und Costard die nicht ernst zu nehmenden Spaßmacher, Holofernes und Nathanael aber die angesehenen und „ gelehrten “ Vertreter der Bürgerwelt. Auch hier hat Paul Arnold das Wesentliche wieder in wenigen Worten zusammengefaßt: „ Für Shakespeare ist die physische Liebesneigung nur ein Weg, nur eine Art, die Seele zu begeistern, das beste Mittel, uns die herkömmliche Hybris: die Sehnsucht nach Transzendenz einzublasen. Die Liebe ist nur eine Möglichkeit, in uns das Echo der himmlischen Harmonie des Alls, der Sphären- Musik zu wecken. Ein Thema, das der Dichter mehr und mehr durch sein ganzes Lebenswerk hindurch entwickeln wird. “ 15 Über den Sommernachtstraum (A Midsummer Night ’ s Dream) hat ein Kritiker, dem zwar Esoterik ein Buch mit sieben Siegeln ist, der aber einer der großen, klassischen Shakespeare-Kenner von Aufbau und Technik seiner Dramen in deutscher Sprache ist, Heinrich Bulthaupt, geurteilt, daß sich der Genius des Dichters in keinem anderen Stück so sehr in seinem eigensten Element bewegt. Er sei der größte Dichter des Elementaren und das bedeute, daß die Natur seine eigene Göttin und er einer ihrer berufenen Priester sei. 16 Man fühlt sich an Michael Maier erinnert, der in seinem bekanntesten Werk, der Atalanta fugiens in den Kapiteln 27 und 42 die innere Entwicklung des Menschen nach Anschauung der Rosenkreuzer dargestellt hat. Zu Kapitel 42 hat Merian ein eigenes Emblem gezeichnet. Darin sieht man, wie ein Suchender oder Forscher oder Dichter mit seinen Füßen sorgfältig in die Fußstapfen der vorangegangenen Natur steigt. Dabei bedient er sich einer Brille, eines Stocks und einer Laterne. Er möchte sich durch möglichst große einfühlsame Identifikation mit der Natur dieser so anpassen, daß er die Formen einer Pflanze selbst hervorzubringen vermag. Auf diese Weise versucht er das Leben der Natur gleichsam von innen her mit zu erleben und nimmt im Grunde Goethes Phänomenologie der Pflanzen vorweg. 15 Paul Arnold, op. cit., S. 85 16 Heinrich Bulthaupt: Dramaturgie des Schauspiels, Bd. II, Shakespeare. 11. Auflage, Oldenburg und Leipzig 1920, S. 486 f. 144 Shakespeare Auch einer der größten lebenden Shakespeare-Kenner, Harold Bloom, beginnt seine Einführung in eine kommentierte Ausgabe des Sommernachtstraums mit dem Hinweis, daß die große Wirkung dieses Stücks in erster Linie in der Erforschung der Natur begründet liegt, die mit einer Intensität durchgeführt wird, die uns „ eine seltene und oft begeisterte Wonne “ vermittelt. 17 Das hat mit moderner Naturwissenschaft sehr wenig zu tun, sondern mit einer Naturkunde, die mit Feen zusammenhängt und durch dieses Stück hat die Feendichtung sogar ihre klassische Form erhalten. Die Personen des Dramas könnte man in drei Gruppen einteilen: die diesseitigste Gruppe, im gnostischen Sinn reine Hyliker-Materialisten, sind die sechs Handwerker, die zu Ehren der Hochzeit von Theseus und Hyppolita ein Stück über Pryamus und Thisbe aufführen wollen. Die nächste Gruppe sind zum Großteil wirkliche Menschen, von denen alle religiöse und manche auch mystische Ansichten haben. Egeus, Hermia, Helena, Lysander und Demetrius sind normale Menschen und in oftmals falscher Liebe den Kräften von Cupido - Sirene als Spielball ausgeliefert. Theseus freilich und Hyppolita gehören einer anderen Sphäre an. Der Vater von Theseus ist ja zumindest nach einer der beiden Herkunftstraditionen der Gott Poseidon, wodurch dieser ein Halbgott gewesen wäre. Aber auch als Hauptheros der Athener besaß er eine Strahlung, die zwar in seiner Darstellung im Drama nicht erwähnt wird, da ist er nur „ Duke of Athens “ , die aber mitschwingt. Auch wird er ja als Sieger über die Amazonen gezeigt und diese sind selbst wieder ein legendäres Volk der Königin Hyppolita, die mythische Natur besitzt und um deren Hochzeit mit ihm es jetzt geht. Für die Entwicklung der Handlung innerhalb der zweiten Gruppe spielt eine besondere Mythe eine Rolle, die Mythe von der „ Blume des Cupido “ . Sie kann durch willkürlichen Liebeszauber die schmerzlichsten Verirrungen herbeiführen. Es ist die durch Leidenschaft getriebene Liebe, das Gegenteil jener tiefen, wenngleich weniger sensationellen Liebe, welche die Prinzessin in Love ’ s Labour ’ s Lost auslöst. Die dritte Gruppe von Personen sind nicht Menschen, sondern Mitglieder des Feenreichs, einer zur Gänze anderen Welt als der des diesseitigen Verstandes. Es ist das Reich König Oberons und der Königin Titania. Einer der Elfe, die Oberon dienen, war im England jener Zeit überaus populär und ist auch im Stück von besonderer Wichtigkeit. Sein Name ist Robert Goodfellow oder kurz Puck, in der deutschen Übersetzung Droll. Er vollbringt meistens gute Taten, mitunter aus Übermut, treibt er auch Schabernack und wenn er im zweiten Akt den Saft der Blume Cupidos dem falschen Athener ins Ohr träufelt, wodurch böses Durcheinander entsteht, dann geschieht es aus Irrtum. 17 Harold Bloom: Introduction. In: William Shakespeare: A Midsummer Night ’ s Dream. Annotated by Burton Raffel. New Haven 2005, S. XIX 145 Shakespeare Pucks Herr, der Feenkönig Oberon, ist ein vornehmer Edler, aber seine Gattin Titania ist noch hoheitsvoller und hat auch gleich vier besondere dienstbare Geister zur persönlichen Verfügung. Shakespeare legt ihr einmal das Wort in den Mund: „ Ich bin ein Geist, nicht von geringem Rang. “ Im Drama hat sie gerade einen Streit mit ihrem Gatten Oberon, weil sie einen Knaben zu sich genommen hat. „ Denn seine Mutter war aus meinem Orden “ hat sie zur Begründung gesagt, aber nicht enthüllt, welcher Orden das war. Es fällt geradezu ein Nachglanz der großen Muttergöttin Sophia-Maria-Isis auf Titania und es konnte gesagt werden, daß „ sogar das Vorhandensein der Elfen und Feen nicht einfach ein Spiel der Phantasie sind, sondern der Widerschein einer höheren und geheimen Wirklichkeit. “ 18 Shakespeare ist zwar über seine Umwelt des Rosenkeuzertums hinaus gewachsen, doch ist seine Welt die höchste und feinste Verwirklichungsform dieser Geistigkeit. Er hat tatsächlich „ Plato und Pythagoras besser verstanden als die Hellenisten der Mermaid Tavern “ 19 und steht über den „ Gelehrten und Intellektuellen “ , den Lylys, Chapmans und Northamptons. 20 Zu seiner Zeit war gerade der Sommernachtstraum auch dadurch ein großer Erfolg, als er auch an den Volksglauben anknüpfte. Er hat den intellektuellen Geist des Rosenkreuzertums mit dem tief sitzenden Volksglauben an Robert Goodfellow verbunden. Der Autor hat die große Bedeutung der Feenwelt dichterisch unterstrichen, indem er schildert, wie durch den Streit Oberons mit Titania großes Elend über die Menschen gekommen war. Das Korn verfaulte, ehe seine Jugend Brot gewinnt, Krähen prassen in der siechen Herde, die Kegelbahn ist mit Lehm bedeckt und große Wasserlachen in Wiese und Wald ersticken Blüte und Frucht im Keim. Die eigenartige Mythe vom Saft der Blume Cupidos entstand dadurch, daß sogar der Makrokosmos in Unordnung geraten war. Als eine Sirene - diese stehen oft für das Böse - auf einem Delphin reitend, alles bis zu den Sternen durch ihren Gesang bezauberte, fielen sogar manche Sterne aus ihrer Ordnung herunter, nur um die verführerische Melodie genauer zu hören. Diesen Augenblick hat Cupido, „ ganz in Waffen “ , genützt, um seinen silbernen Pfeil auf die Welt abzuschießen. Dieser Pfeil sollte die Vestalin Titania, das weibliche Sinnbild der Keuschheit, durchbohren. Er verfehlte jedoch sein Ziel und traf eine kleine Blume aus dem Westen, die früher weiß wie Milch gewesen war, sich aber durch die Verletzung purpurrot färbte. Die Geschichte der Mythe ist die Umschreibung eines esoterischen Bildsymbols, das sich im Wintermärchen widerfinden wird. Den esoterischen 18 Paul Arnold, op. cit., S. 89 19 Paul Arnold, op. cit., S. 94 20 Paul Arnold, op. cit., S. 91 146 Shakespeare Rosengarten gab es bereits im Rosenroman und dann wieder bei Rabelais und Michael Maier hat ihn als 27. Emblem für die Rosenkreuzer in seiner Atalanta fugiens beschrieben. Dort bleibt einem Mann ohne Füße der „ philosophische Rosengarten “ verschlossen. Er muß sich über das, was sich jenseits der Mauer verbirgt, den Kopf zerbrechen. Jeder Mensch hätte nämlich nicht nur zwei Beine, sondern auch zwei Füße und er braucht beides, da es auch zwei Funktionen der Seele gibt: Experimentia und Ratio, Wahrnehmung und Denken. Wenn er beide richtig verwendet, dann springen die Schlösser an der Pforte auf und er könne in den verschlossenen Garten eintreten. Bei so viel bewußter und auch dichterisch angewandter esoterischer Symbolik des Rosenkreuzertums wäre es wohl auch möglich, daß Shakespeare von des Theseus Abstieg in die Unterwelt Kenntnis gehabt hat. Er war gemeinsam mit seinem Freund Perithoos abgestiegen und hatte den verwegenen Plan, Persephone aus der Unterwelt zu rauben. Das mußte mißlingen, denn er hätte mit den Mysterien die ganze Ordnung der Natur mit dem Wechsel der Jahreszeiten aufgehoben. So endete er in Fesseln in der Unterwelt und wurde erst später von Herakles, seinem Zwilling, befreit. Der Über-Heros Herakles war für die Dorer das gewesen, was Theseus für die Athener war. „ Wer für den Sommernachtstraum den richtigen Standort finden will, hat die Geisterwelt notwendig als den Mittelpunkt anzusehen. “ 21 Bulthaupt hat auch das Positive der sechs Handwerker gesehen, die ihr Priamus-Stück proben. Sie seien noch Originale mit allen Wunderlichkeiten und Auswüchsen. Die Bildung hat sie noch nicht verdorben. In ihrer Unmittelbarkeit und Naivität sind sie selbst „ ein Stück Natur. “ 22 Abgesehen von Peter Squenz, der die Regie führt, ist es vor allem Zettel, der die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er hat nämlich vom übermütigen Droll einen Eselskopf verpaßt bekommen. Auch hier ist Shakespeare wie so oft verfahren: Er hat eine bekannte, prosaische Sache oder Gestalt durch die Verbindung mit einem esoterischen Symbol auf die dichterische Ebene eines Gleichnisses gehoben. Darum hat es auch gleich einige Deutungen des Eselskopfes von Zettel gegeben. Nach der Vermutung, Shakespeares Quelle sei die Geschichte gewesen, in der eine zypriotische Hexe einen armen Soldaten in einen Esel verwandelt hat und nach der Vermutung, die Quelle sei ein Volksstück Baalam und sein Esel gewesen, das in Chester aufgeführt worden war, ist vor kurzem ein ganzes Buch über den protäischen Esel geschrieben worden 23 , wonach die Geschichte vom goldenen Esel des Apuleius die Quelle ist. Das würde von der Esoterik her Sinn machen. Allerdings hat der Held des Apuleius Lucius weder Ähnlichkeit mit Zettel, noch ist Zettel zur Gänze in einen Esel verwandelt worden wie Lucius. Der Zweck der 21 Heinrich Bulthaupt, op. cit., S. 489 22 Heinrich Bulthaupt, op. cit., S. 490 23 Robert H. F. Carver: The Protean Ass. Oxford 2007 147 Shakespeare Verwandlung war vielmehr ihm ein abschreckendes, abstoßendes Aussehen zu geben. Sehr wahrscheinlich ist die wirkliche Quelle das Midas-Stück des Elisabethaners Lyly. Darin wird Midas zum Schiedsrichter zwischen Apollo und Pan gemacht, wer von den beiden die pythagoräische Methode der Umwandlungen des Geistes seiner Schüler zum Verständnis der Lehre durch Musik besser bewerkstelligen konnte. Apollo bringt die Himmel dazu, wieder zu tönen und in der Harmonie der Sphären zu schwingen. Pan aber stößt mit seiner Flöte unrhythmisierte, wilde und schrille Töne aus. Als Midas entscheidet, Pan sei der Sieger, erhält er zur Strafe Eselsohren, die ihm bleiben, bis er die Lehre des Pythagoras begriffen hat. Als am Schluß des Sommernachtstraums Philostrat, der Aufseher der Lustbarkeiten am Hofe des Theseus dem Herzog die Liste der Angebote für die Unterhaltung am Abend vorlegt, da wählt Theseus zum Erschrecken des Philostrat die Aufführung von Priamus und Thisbe. Theseus wählte das Stück, weil er die Einfalt und Ergebenheit der Handwerker zu schätzen weiß und weil er diese schon an der Beschreibung der Aufführung sieht. Da hieß es: „ ein kurz langweil ’ ger Akt. Spaßhafte Tragödie “ . Wie in Love ’ s Labour ’ s Lost endet das Stück mit diesem komödiantenhaften Schluß und einem Epilog mit Oberon, Titania und Droll. Dieser Kontrapunkt der Späße nach so viel Gedanken über Esoterik und Eurhythmie diente dem Gaudium des einfachen Publikums. Darum hat er auch manchen seiner esoterischen Beispiele verbreitete Vorstellungen des Volksglaubens zu Grunde gelegt, was lange nicht so ungewöhnlich und weit hergeholt war, als es erscheinen mag. Sind doch die meisten Volksmärchen „ gesunkenes Kulturgut “ esoterischen Ursprungs. Daß Shakespeare seinem ganzen Werk einen kabbalistischen und esoterischen Aspekt verliehen hat, war freilich nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten einsichtig. Auch hier hat wieder Bulthaupt das wesentliche Wort ausgesprochen, als er sagte, das Theater sei nicht die eigentliche Heimstätte dieses Stücks. Nur mit den Augen des Geistes könnte es so gesehen werden, wie es der Dichter gesehen hat. Das nächste Stück Shakespeares, das viel Esoterik enthält, ist Der Kaufmann von Venedig, (The Merchant of Venice), das zu Shakespeares Lebzeiten immer als Komödie aufgeführt worden war. Dabei wurde ausgerechnet Shylock von einem Komiker dargestellt und sein Diener Lanzelot wurde im Verzeichnis überhaupt als „ Clown “ aufgeführt. Nun besteht kein Zweifel, daß das Stück auch voll von sehr ernsten, wenn nicht tragischen Stellen ist. Aber wann immer die Katastrophe, die sich entfaltet, zur Erfüllung anschickt, gibt der Autor dem Ganzen eine Wendung ins Komische. In seinen späten „ Romanzen “ von Cymbeline bis zum Sturm hat sich heute die Kritik weitgehend allgemein entschieden, von „ Tragikomödien “ zu sprechen. Der Kaufmann von Venedig repräsentiert eine Art Vorstufe dazu. Auch hier hat Bulthaupt etwas Wesentliches beobachtet, das 148 Shakespeare sich auch nach seinem Tod nicht geändert hat, wenn er sagte, daß mit kaum einem anderen Werk Shakespeares so viel Unfug getrieben worden ist, wie mit dem Kaufmann von Venedig. Das gilt nicht nur für die gängige Kritik, sondern sogar auch für einige der wenigen Werke, die besonders die Esoterik darin sichtbar machen wollten. Hier muß ein Buch von Daniel Banes erwähnt werden, der das gesamte Stück unrichtig mit einer Allegorie oder einem Märchen vergleicht, dessen versteckte Bedeutung „ das Gesetz “ , die Thora sein sollte. Das sei der Sinn des Buches, das den viel versprechenden Titel Shakespeare, Shylock and the Kaballah trägt. 24 Es stimmt weder mit der Thora noch mit der Kaballah überein, da die Kenntnisse von Banes zur Gänze auf den Vorstellungen des Minoriten-Bettelmönchs Francesco Giorgi basieren, der eine überaus trübe Quelle darstellt. Nun ist gerade Giorgi auch die späte Neuentdeckung und das Vorbild von Frances Yates, die dem Kaufmann von Venedig ein eigenes Kapitel in ihrem späten und wohl bekanntesten Buch 25 gewidmet hat, wo sie auch viel daneben greift. Sehr richtig gesehen hat Yates aber, daß Shakespeares Quelle für den Shylock höchstwahrscheinlich Marlowes „ Jude von Malta “ gewesen ist. Auch ihr Vergleich des Juden in Marlowes Stück mit Shylock ist dankenswert und richtig. Denn Marlowe war es um prinzipiellen Antisemitismus zu tun, während Shakespeare für Shylocks Christenhaß entschuldigende Momente aus seinen Erlebnissen ins Treffen führt. Wiederum ist es Paul Arnold, der die Dinge ins rechte Lot gerückt hat. Er führt eine ganze Reihe von plausiblen Gründen an, weshalb es „ falsch ist “ , dieses Thema „ das man für das zentrale hält, in den Mittelpunkt zu rücken 26 . Außerdem zeigt er in kürzerer und bündigerer Begründung als Yates, weshalb hier nicht grundsätzlicher Antisemitismus im Spiel ist, sondern ein Problem, das für den Rosenkreuzer Shakespeare besonders wichtig ist. Shakespeare macht Shylock zu einer Gegenfigur des Antisemiten Antonio. In der Entwicklung des Stücks erreicht er, daß der Christenhasser Shylock sich taufen lassen muß, während der Antisemit Antonio sich vor dem schlimmsten Juden demütigen muß. Was aber das Wesentliche des Sinns für das ganze Stück ausmacht, sind ganz andere Dinge als die Schuldabzahlung. Erstens sei hier das vielleicht wichtigste Schlüsselzitat am Platz als Erklärung, die Lorenzo Jessica im zauberhaften Mondlicht auf einem Hügel in der Natur gibt: Sieh das Firmament, sieh wie der Himmelsplan Dicht ausgelegt ist mit Scheiben lichten Goldes. Jede, auch die kleinste Kugel, die du wahrnimmst, singt in ihrer Bewegung wie ein Engel und gesellt sich zu den Cherubin mit dem ewig jungen Auge. 24 Silver Springs und Chicago, 1978 25 Frances Yates: The Occult Philosphy in the Elizabethean Age, op. cit., S. 148 - 156 26 Paul Arnold, op. cit., S. 127 149 Shakespeare Solche Harmonie erfüllt die Seelen der Unsterblichen. Aber solange uns dieser vergängliche Leib aus Staub, diese grobe Umhüllung umkleidet, können wir es nicht hören. Es ist jene Musik, die Pythagoras und Orpheus lehrten und von der Arnold gesagt hat, daß sie mehr und mehr das wirklich zentrale Thema von Shakespeares Werk werden würde. Es ist eines der zentralsten Themen der Traditionskette auch in ihrer Variationsform der Rosenkreuzer. Zweitens, und das ist mindestens ebenso ein zentrales Hauptthema, daß eine der Hauptpersonen des Stücks, Portia, die für die Lösung alles vorbereitet und tut, drei Mal einen der Charaktere mit dem physischen und moralischen Tod konfrontiert: Bassanio, als er die Kästchen zu wählen hat, Antonio, als er angeklagt fürchtet, ein Pfund Fleisch werde ihm aus der Herzgegend heraus geschnitten und Shylock, als er zum Tod verurteilt wurde. Ganz im mystischesoterischen Sinn werden sie in eine Situation gezwungen, in der die einzige Möglichkeit, damit innerlich fertig zu werden, darin besteht, daß man sich vom Anklammern jeglichen Hängens am Ich lossagt. Im Drama und auf der Bühne läßt sich nur zeigen, daß alle drei nach echter Todesbedrohung zuletzt am Leben bleiben. Ob sie innerlich im Antlitz dieser Bedrohung die innere Selbstverwandlung und Selbstfindung, in der Sprache der Rosenkreuzer die „ Chymische Hochzeit “ vollzogen haben oder nicht, läßt sich auf der Bühne kaum zeigen. Wie wichtig das ganze Motiv ist, zeigt schon vorher die dreimalige Wiederholung der Kästchenwahl, die selbst wieder das dritte wirkliche Hauptthema im Unterschied zum Rechtspakt darstellt. 27 Die Kästchenwahl nimmt nicht zufällig drei Viertel des ganzen Stücks ein. Es ist die Wahl zwischen einem goldenen, einem silbernen und einem bleiernen Kästchen. Die Aufschrift auf dem goldenen Kästchen besagt: „ Wer mich erwählt, gewinnt, was mancher Mann begehrt. “ Die Aufschrift auf dem silbernen Kästchen besagt: „ Wer mich erwählt, bekommt so viel, wie er verdient. “ Die Aufschrift auf dem bleiernen Kästchen aber ist: „ Wer mich erwählt, der gibt und wagt sein Alles daran. “ Hier eröffnet uns dieses Stück das innerste Geheimnis des Mysteriums vom Rosenkreuz. Bassanio wählt das bleierne Kästchen. Er verzichtet auf alles Gut und Geld, auf Macht und Ehren. Er weist die gesamte Welt des Scheines zurück. Alles, was er hat, muß er geben und wagen. „ Aber Bassanio soll auf noch mehr verzichten. Denn - und das ist eines der großen Rätsel des Shakespeareschen Stückes, so groß, daß die Kommentatoren darüber hinweg gegangen sind, ohne es zu bemerken - Bassanio muß auch auf die Liebe verzichten! In dem Augenblick, in dem er sich zur Wahl entschließt, weil allein von dieser Wahl seine Heirat mit Portia, seine Liebe zu ihr und Portias 27 Vgl. Paul Arnold, op. cit., S. 131 - 141 150 Shakespeare Liebe zu ihm abhängt, singt der Chor auf Veranlassung des jungen Mädchens wirklich das befremdendste und unpassendste Lied, das man sich für eine solche Gelegenheit denken kann: “ 28 Sagt mir, woher stammt Liebeslust? Aus dem Herzen, aus dem Kopf? Wie erzeugt und wie gehegt? In den Augen ist ’ s erzeugt, mit Schauen ernährt; Liebeslust stirbt in der Wiege, die sie birgt. Laßt uns alle ihr Totenglöcklein läuten. Ich will beginnen - Ding, dong, dong. Das Totenglöcklein singt von jener Liebe, die im Kopf geboren wird und an die Äußerlichkeiten gebunden ist, die Bassanio überwunden hat, weshalb er richtig gewählt hat. Die beiden Freier, welche die falschen Kästchen wählen, sind Prinzen, Männer von Macht und Reichtum. Aber das mag sie eher mitverführt haben, die falschen Kästchen zu wählen. Bassanio ist der Freund des Kaufmanns von Venedig, für den er bereit gewesen ist, sein Leben zu opfern. Shakespeare unterstreicht, daß nicht Titel oder Reichtum zählen, sondern „ allein das Siegel des Verdienstes “ berechtigt dazu, die hohe, spirituelle Einsicht zu gewinnen, die auch zur richtigen Kästchenwahl geführt hat. Auch Portia ist nicht einfach eine schöne, reiche Frau, sondern überwindet alle Hindernisse durch ihre Weisheit, ihren schalkhaften Humor und nicht zuletzt durch ihre Güte, Menschenliebe und Mitleidsfähigkeit. Sie ist es, die als Rechtsanwalt verkleidet, das Rechtsproblem löst. Die Rede über die Gnade, die sie vor dem Dogen hält, ist nach Arnold nicht nur der Höhepunkt des Dramas, sondern „ einer der Gipfel des Shakespeareschen Werkes überhaupt. “ 29 Sie erscheint wie die Botin aus einer anderen Welt, macht Shylock seiner Grausamkleit bewußt und läßt ihn verstehen, daß die Gerechtigkeit Gottes Mitleid gegenüber der „ Gerechtigkeit “ des Gesetzes der Menschen ist. Zwei grundsätzliche, immer wiederkehrende Leitmotive stellen eine zusätzliche Verbindung zur Tradition der Rosenkreuzer dar, die natürlich in der Traditionskette weiter zurückverfolgt werden können: Die esoterische Bedeutung der Musik und jene des Mondes. Nur Der Sturm, die letzte und wahrscheinlich höchste der drei letzten Romanzen, ist so durchgehend mit der Musik wie jener des Sängers Orpheus verbunden wie Der Kaufmann von Venedig. Immer wieder ertönt an Höhepunkten Musik, die dazu immer auch für die Sphärenharmonie und damit für die große makrokosmische Ordnung steht. 28 Paul Arnold, op. cit., S. 135 29 Paul Arnold, op. cit., S. 139 151 Shakespeare Beispielsweise singt schon kurz bevor Bassanio das richtige Kästchen wählt, ein Chor „ Nichts besser ist auf Erden, denn die schön edel Lieb. “ Der letzte Akt beginnt damit, daß Jessica, die Tochter Shyloks, die sich taufen hat lassen, mit ihrem christlichen Freund Lorenzo aus der Stadt des Kopf- Denkens, des Geldraffens und des Rassenhasses in das Paradies von Portias Belmont geflohen war, dessen Name an Montsalvasch erinnert, auch an den Berg des Heils, den Dante in der Commedia zuerst direkt besteigen wollte. Jessica und Lorenzo befinden sich nachts auf einem freien Platz vor Portias Haus in einer Landschaft, die durch das Mondlicht in einen zauberhaften Glanz getaucht wird. Jessica wurde wohl in Venedig getauft, doch zählt das hier nicht sehr. Hier, in dieser Landschaft, erhält sie durch Lorenzo erst die wahre Einweihung in die religiöse Transzendenz. Musik und der Zauber des Mondlichts helfen Lorenzo dabei sehr. Er erklärt ihr die orphische Tradition spiritueller Musik, durch die sich die Geheimnisse der Seele, der Natur und der Sphärenharmonie erahnen lassen. Der Aktanfang stellt den berühmten Hymnus auf die sieben Wunder der Liebe dar, der mit dem Vers eröffnet wird: „ Der Mond scheint hell: in solcher Nacht wie dieser . . . “ Als Portia in der Nacht heimkommt, trifft sie zuerst auf die beiden vor dem Haus. Auch sie preist sofort den Mond und schließt mit den Worten: „ Still! Luna schläft mit dem Endymion/ und will nicht aufgeweckt sein. “ Damit verweist sie auf die griechische Herkunft der esoterischen Bedeutung des Mondes. Manche halten Endymion für einen Prinzen von Elis, andere für einen Schäfer aus Caria und Plinius der Ältere glaubte, Endymion sei der erste gewesen, der die Bewegungen des Mondes genau beobachtet hatte. In der griechischen Mythologie schläft auf dem Berg in Caria, Kleinasien, das eine ionische Kolonie war, der junge Endymion, Gefährte der Mondgöttin Selene, einen glücklichen und ewigen Schlaf. Luna aber mit ihrem Sohn Iacchos war eine Leitfigur bei den eleusinischen Mysterien. Wie sehr Endymion in der Umwelt Shakespeares eine bekannte Gestalt war, zeigt das Drama Endymion des Rosenkreuzers Lyly, der ihn mit Pythagoras verbindet, um ihn in die Traditionskette einzuverleiben. Arnold weist darauf hin, daß die mythische Gestalt Endymions nicht nur den nächtlichen Schlummer und den Todesschlaf des leibfreien Zustands der Seele verkörpert, sondern auch für die Erleuchtung des Eingeweihten stehen kann, der den irdischen Dingen abgestorben ist. Die Hochzeit der Göttin Luna mit dem Menschen Endymion war auch das Symbol für die hohe Einweihung überhaupt. 30 Diese bildet den esoterischen Haupthintergrund des Kaufmanns von Venedig überhaupt. Manches Mal war die Kritik verwirrt, weil der Titelheld Antonio, der doch der Kaufmann von Venedig war, ganz offenkundig nicht die Hauptperson 30 Paul Arnold, op. cit., S. 142 152 Shakespeare und der wahre Hauptheld des Stückes ist. Das wäre er, wenn die Thematik Shylock - Antonio und der Streit um das Pfund Fleisch das Wesentliche des Stücks darstellte. Hauptthema ist jedoch die innere Entwicklung in diesem Fall Bassanios und seine Heirat mit Portia, die eine doppelte Hochzeit ist, einerseits eine körperlich-weltliche und zugleich auch eine „ Chymische “ , denn es ist der eingeweihte Bassanio der schließlich Portia heiratet, die selbst so gestaltet ist, daß sie wie die Botin aus einer anderen Welt, aus der Welt Belmonts wirkt. Auf der einen Seite wird das Ganze durch Shylock ergänzt, den gnostisch notwendig existierenden Vertreter des Materiellen-Bösen. Auf der anderen Seite führt die Bindung auch zu jener Form der hohen Einweihung, wie sie durch die Verbindung Luna-Endymion versinnbildlicht wird. Die Shylock-Episode lag als aktuelles Thema in London gerade direkt in der Luft. Wenige Jahre vor der Abfassung des Stücks, 1592, war der spanische jüdische Arzt Rodrigo López hingerichtet worden, weil er ein Attentat auf das Leben der Königin geplant haben soll. Das alles war Teil des Kampfes Spaniens gegen England, die auch eine Welle des Anti-Katholizismus ausgelöst hatte. Die Affäre López hatte ihr noch eine Antisemitismus-Welle hinzugefügt. In dieser allgemeinen Stimmung hatte Shakespeare „ die Kühnheit “ 31 , in der Verhandlung vor dem Dogen Shylock dem Salarino zuschreien zu lassen, der Jude sei auch ein Mensch. Es geht um die für Shakespeare wichtige, gesamt-menschheitliche Grundhaltung, die ihm sehr am Herzen lag. Im Stück hat der dümmliche Teilaspekt von Antonios Antisemitismus eine eigene, geplante Funktion. Der Kaufmann von Venedig haßte den Juden Shylock. Trotzdem hatte er sich ihm aus materialistischer Schlauheit in dem Kontrakt ausgeliefert. Das machte das Ganze noch böser und stellte ihn als materialistisches Gegenstück auf dieselbe Ebene wie Shylock. Das Paar Jessica-Lorenzo zeigt, daß auch die Jüdin Jessica in das kleine Vorparadies von Belmont aufsteigen kann, während Antonio im Sündenbabel von Venedig zurück bleiben muß. Wenn Bassanio Portias sonniges Haus mit dem Goldenen Vließ vergleicht, dann ist das mehr als eine hübsche Metapher. Den Eingeweihten war klar, daß dies eine Anspielung auf eines der wichtigsten Motive der Einweihung war, denn in der Chymischen Hochzeit erhält Christian Rosenkreutz am Tag nach der großen Prüfung und nach dem Abwägen der Seele den Grad eines „ Ritters vom Goldenen Vließ “ . In der Grundstruktur des Kaufmanns von Venedig entspricht ja Etliches der Chymischen Hochzeit, nämlich die Wahl zwischen drei Wegen, die Konfrontation mit dem Tod, die Betonung der spirituellen Hochzeit anstelle der körperlichen Leidenschaft und der schließliche Erfolg und Triumph des Paares Bassanio- Portia. Shakespeare hat es großartig verstanden, den Sinn dieser Inhalte in das 31 Paul Arnold, op. cit., S. 128 153 Shakespeare Drama umzusetzen. Er war fähig gewesen, „ die esoterische Botschaft in den Bereich des Allgemeinen bringen zu können “ . 32 Chronologisch ist das nächste wichtige Drama Hamlet, aber darin gibt es höchstens einzelne Stellen, die mit der esoterischen Geistigkeit verbunden sind, welche die bisher hier besprochenen Stücke zur Gänze geprägt haben. Am ehesten finden sich knappe Hinweise im großen Monolog Hamlets und in der Erscheinung des Geists von Hamlets Vater, den bei der Premiere Shakespeare selbst gespielt hat. Hamlet spricht in seinem Monolog von dem unentdeckten Land, von dessen Grenzen kein Wanderer wiederkehrt und meint, daß im Todes-Schlaf „ Träume kommen mögen . . . “ Das war die Überzeugung der Kabbalisten, die hier mit indisch-vedantischen Ideen und Ideen des ägyptischen und des tibetischen Totenbuches parallel liefen. Der Geist von Hamlets Vater macht zwischen der Nacht, wo er umher irrt und dem Tag, an dem er im Läuterungsfeuer brennt, eine ungewöhnliche Unterscheidung. In der Nacht folgt er offenkundig mehr der oben genannten kabbalistischen Tradition, bei Tag aber den fundamentalistischen Ideen der katholischen und der Hochkirche. Man könnte die melancholischen Reflexionen Hamlets dadurch mit der esoterischen protestantischen Geistigkeit in Verbindung setzen, als sie sehr vieles mit Robert Burtons Anatomy of Melancholy von 1621 zu tun haben. Burton war zuerst als Erzieher von Jakob I. und später als Humanist durchaus einflußreich in seiner Zeit. Nicole Marchand zitiert aus Hamlet die Wendung „ der Rose unschuldsvolle Liebe an der Stirn “ . Das ließe sich dadurch in Verbindung mit der Geistigkeit bringen, als zwei der unmittelbaren Vorläufer der Rosenkreuzer, Trithemius und Paracelsus erklärt haben, das Ziel des Weges könnte man auch umschreiben, daß es darum geht, wiederum wie die Kinder zu werden. In Macbeth scheint nur die Schwarze Magie, allerdings recht ausführlich, zum Tragen zu kommen. Daran ändert auch nicht, daß Hekate nicht nur die Königin des Hexensabbats ist, sondern dreigesichtig und damit auch als Mutter der Engel und als Weltseele erscheinen kann. Nach vielem anderen und nachdem Shakespeare im Coriolan und im Timon von Athen seine Verzweiflung und auch sein Mitleid mit einer entarteten und hoffnungslos verkommenen Menschheit entladen hatte, folgten schließlich die letzten drei Stücke, die „ Romanzen “ , die wiederum völlig im Sinn der esoterischen Geistigkeit geschrieben wurden. Es sind dies Cymbeline, Das Wintermärchen und Der Sturm, die alle positiv enden. Dabei sind sie nichts weniger als harmlose Komödien. Shakespeare kannte die Menschen gut genug, um zu wissen, welch unausweichliche und wichtige Rolle das Materiell-Böse 32 Paul Arnold, op. cit., S. 153 154 Shakespeare spielt und spielen muß. Das wird in aller Deutlichkeit gezeigt. Sie wurden bereits wiederholt Tragikomödien genannt und sind es wohl auch im Sinn des Wortes von Dürrenmatt, in den Katastrophenzeiten des 20. Jahrhunderts wären nur mehr Tragikomödien möglich. Das Wort Romanzen weist hier ja bereits darauf hin, daß jenseitige Elemente in das Diesseits einbezogen werden, um die gesamte Wirklichkeit in einer vertieften Anschauung zu erfassen. Sie sind in einem gewissen Sinn das Gegenstück zu den negativen antiken Schicksalstragödien mit ihrer Schicksalsunentrinnbarkeit. Diese Schicksalsunentrinnbarkeit ist auch hier gegeben, nur umgekehrt mit einem positiven Ausgang. Auch das hängt mit der Geistigkeit des Rosenkreuzertums zusammen, das ja den direkten Gegensatz zum finsteren Puritanismus dargestellt hat. Nicht umsonst hat der Rosenkreuzer Michael Maier in seinem Buch Themis Aurea bei der Besprechung des 5. Gesetzes der Fama Fraternitatis erklärt, daß das Wort R. C. (Rosen-Creuz) das Sigel, die Losung und das Kennzeichen der Brüder sein soll. Dabei halte er das „ R “ für den substantivischen und wichtigen Teil, das „ C “ aber für den adjektivischen und nebensächlichen. Es steht für das notwendige Negative. Hier ging es um Lebenszugewandtheit und Bejahung des Lebens im Sinn der Renaissance, wofür wie schon im Rosenroman das Symbol der Rose stand. Die erste der Romanzen, Cymbeline, ist in einer Hinsicht angelegt wie Der Kaufmann von Venedig, in dem einem lokalen negativen Pol, nämlich Venedig, ein positiver Pol, Portias Sitz Belmont gegenübersteht. In Cymbeline steht dem negativen Pol des Hofes Britanniens in grauer Vorzeit mit einer bösen Hexe in Menschengestalt als Königin und Gattin Cymbelines und einem wahren Dämon des Bösen, ihrem Sohn Cloten als positiver Pol die Höhle des Bellarius gegenüber. Mit der Höhle hat Shakespeare einen sehr symbolschweren Ort zum Zentrum des Guten gewählt. Im Kaufmann von Venedig war es die korrupte, geldgierige, haßerfüllte Stadt die dem stillen und friedlichen Platz in der Natur Belmont mit einem so besonderen Menschen wie Portia gegenüberstand. Hier ist es der nicht minder korrupte, intrigenreiche und verkommene Hof des alten Britanniens, welcher die Höhle in der Wildnis der Natur gegenüber steht. Die Höhle war immer schon ein Ort der Begegnung von Göttlichem und Menschlichem, ein Ort inneren esoterischen Wissens, ein Platz der Einweihung und der zweiten Geburt. Zudem auch war sie ein Ort, der Schutz bot. 33 Die Höhlenfahrt des Pythagoras war eine Jenseitsfahrt. 34 33 J. C. Cooper: An illustrated Encyclopedia of Traditional Symbols. London 1979, S. 31 34 E. Rohde, in: Psyche. Jahrbuch für die Tiefenpsychologie und Menschenkunde. Bd. I (1957), S. 128 ff. 155 Shakespeare Es gibt sogar eine spezifisch rosenkreuzerische Deutung der Höhle in einem Werk Michael Maiers mit dem Titel Symbola Aureae Mensae duodecim nationem, in dem er alles bekannte Wissen der hermetischen Tradition zusammengetragen hatte. Es sollte dazu dienen, die Bedeutung der spirituell-esoterischen Alchemie zu unterstützen. Es beschreibt, wie die zwölf führenden „ Alchemisten “ von zwölf Nationen an einer goldenen Tafel sitzen. Jeder der zwölf leistet seinen Beitrag für die Zukunft des esoterischen Wissens der spirituellen Alchemie. An der Spitze der Tafel sitzt Hermes Trismegistos selbst und Maria, die Hebräerin. Einer der zwölf weist auf die Bedeutung der Höhle hin. Hier ist sie die hermetische Verbindung von oben und unten und das dazu gehörige Bild zeigt vor dem Hintergrund eines Berges, auf dem eine Blume mit fünf Blüten wächst je ein alchemistisches Gefäß, das oben (im „ Himmel “ ) mit der Öffnung nach unten weist, während das andere Gefäß, unten auf der Erde nach oben weist. Aus dem oberen Gefäß fließt eine wolkenartige Flüssigkeit des Geistes nach unten, aus dem unteren Gefäß fließt eine ebensolche „ Ausgießung des Geistes “ nach oben. Als der Feldherr Bellarius des Königs Cymbeline in Ungnade gefallen war, raubte er, bevor er floh, die beiden kindlichen Söhne des Königs und zog sich mit ihnen in die ferne, einsame und versteckte Höhle in der Wildnis zurück, in welcher er die beiden aufzog. Schon der Beginn der Handlung des Dramas zeigt, weshalb am Hof von Britannien angespannte Stimmung herrscht. König Cymbeline hatte sein einzig ihm verbliebenes Kind, die geliebte Tochter Imogen (zwei Söhne waren in früher Kindheit geraubt worden) dem Sohn der Königin aus früherer Ehe Cloten zur Gattin bestimmt. Imogen aber, die wahrscheinlich zärtlichste Frauengestalt von all den vielen wunderbaren Frauengestalten Shakespeares, sanft wie eine Heilige, wollte von Cloten, diesem Ausbund des Bösen, nichts wissen und hatte heimlich einen edlen, doch armen Aristokraten, Leonatus Posthumus geheiratet. Die Königin plant bereits die Ermordung des Königs und ihrer Stieftochter Imogen, um ihren Sohn Cloten auf den Thron zu bringen. Der König schickt Posthumus in die Verbannung. Dieser trifft im Haus eines römischen Freundes Jachimo, die dritte Kreatur des Stücks, die das Böse schlechthin repräsentiert. Jachimo gelingt es durch Schlauheit, Posthumus, zu einer Wette zu bewegen. Sollte er, Jachimo Imogens Untreue gegenüber Posthumus nicht unter Beweis stellen können, würde er verlieren. Posthumus hatte todsicher angenommen zu siegen. Jachimo reist nach Britannien, scheitert bei seinem Versuch Imogen zu verführen und beschließt als einzigen Ausweg, sie zu verleumden. Durch eine List überredet er sie, eine Kiste für ihn aufzubewahren, die in ihr Schlafzimmer gestellt wird. Er hat sich in der Kiste versteckt, klettert in der Nacht heraus, entdeckt unter einer der Brüste Imogens ein Muttermal, und nimmt der tief Schlafenden das Armband ab, das ihr Posthumus zum Abschied geschenkt hat. Nach seiner Rückkehr nach Rom überzeugt er Posthumus, daß er mit Imogen 156 Shakespeare geschlafen hat. Nach der Verbannung des Posthumus trifft das nicht nur diesen hart, sondern trifft Imogen noch viel mehr. Da Cymbeline dem Rat der Königin und Clotens folgend, beschlossen hat, nicht mehr den Tribut Britanniens an den Cäsar in Rom zu bezahlen, kommt es zum Krieg zwischen Rom und Britannien und Posthumus, der sich doppelt verraten glaubt, vom König und von dessen Tochter, schließt sich der römischen Invasionsarmee an. Posthumus hat seinem treuen Diener Pisanio nach Britannien geschrieben und hat ihm den Verrat von Imogen mitgeteilt. Er hat ihm den Auftrag gegeben, sie zu töten. Pisanio entführt Imogen in die Berge von Wales und eröffnet ihr die Vorwürfe ihres Gatten Posthumus. Sie überzeugt ihn von ihrer Unschuld und er will Posthumus falsche Beweise schicken, daß er sie getötet hätte. Imogen aber irrt nun in Männerkleidern, als Page verkleidet in der Nähe der Höhle umher und entgeht mit knapper Not Cloten, der sie in den Kleidern des Posthumus verfolgt, der plant, sie zu vergewaltigen und sie dann an den Hof zurück zu treiben. Sie ruht in der Höhle aus, wird von Bellarius und ihren beiden inzwischen herangewachsenen Brüdern, die ihre eigene Herkunft nicht kennen, gefunden und freundlich aufgenommen. Das durch das Böse angerichtete Unglück wird immer größer, man glaubt noch ärger könne es nicht mehr werden und doch wird alles immer noch trauriger und schlechter. Als einer der beiden Brüder auf Cloten stößt, der Imogen sucht, beginnt dieser einen Streit, der zum Kampf führt, in dem der eine Bruder Cloten den Kopf abschlägt. Der Kopf wird ins Meer geworfen und gemeinsam mit dem zweiten Bruder bereitet er die Bestattung des Leichnams vor. Imogen, die ihrer Melancholie nicht Herr werden kann, nimmt das Mittel, von dem Pisanio geglaubt hatte, es wäre eine herzstärkende Arznei. Tatsächlich ist es das Gift, mit dem die Königin Imogen vergiften hatte wollen. Der Hofarzt hatte der Königin allerdings ein Mittel gegeben, das nicht tötet, sondern einen totenähnlichen Schlaf herbeiführt. Als die beiden Brüder in die Höhle zurückkommen, glauben sie, Imogen sei tot und legen sie in einer ganz außerordentlichen Begräbniszeremonie auf den toten Cloten. Auch in Cymbeline ist die Höhle mit Esoterik verbunden. Die beiden Brüder, die mit Bellarius in der Höhle hausen, begrüßen jeden Morgen die Sonne nach dem Vorbild der Pythagoräer. Als sie Imogen, die sie für tot halten, begraben wollen, sprechen sie einen eigenartigen Text, in welchem sie für die Tote Schutz erflehen vor Beschwörung neu begrabener Gespenster und vor Hexenkunst. Sie legten Blumen auf die Tote und wollen um Mitternacht noch mehr und andere Blumen hinzufügen. Arnold vermutet, daß Shakespeare ein entsprechendes Ritual gekannt hat, das davon ausging, durch die ätherische Ausstrahlung der Blumen mitzuhelfen, den Ablösungsprozeß der Seele vom Körper harmonisch zu gestalten. Vor allem aber erinnert die Grabszene Arnold an ein wenig bekanntes Werk von Michael Maier, Scrutinum Chymicum, auf dem ein Mädchen zu sehen ist, das 157 Shakespeare in einem offenen Grab liegt und um dessen völlig bekleideten Körper sich der Schwanz eines Drachens ringelt. Sein Kopf liegt über dem Kopf des Mädchens. Maier gibt auch eine alchemistische Erklärung dieses Bildes. Unter dem Drachen versteht man hier das Element der Erde und des Feuers, und unter der Frau das Element der Luft und des Wassers. Die Frau oder der Adler, das ist das luftförmige Wasser, das manche den weißen oder himmlischen Adler nennen. In der alchemischen Sprache eines Meier repräsentiert der Drache die beiden Extreme: das prometheische oder himmlische Feuer und den irdischen Lehm, den Schlamm der Verderbnis, zwischen denen die Seele (Luft), wenn sie sich inkarniert - die Vereinigung des Geistes mit der Form - , bis zum Tode der Gefangene bleibt. Die ungeheuerliche Vereinigung des Drachens mit der Frau schließt also den Kreis der Schöpfung. Inzwischen sind die römischen Truppen vorgerückt und entdecken die als Page verkleidete Imogen, die glaubt, der kopflose tote Cloten, der des Posthumus Kleider trug, sei wirklich Posthumus gewesen. 35 Der römische Feldherr Lucius behält Imogen als Pagen. Die Schlacht entwickelt sich und der Sieg scheint den Römern sicher zu sein. Aber durch das plötzliche Eingreifen des Bellarius, der beiden Brüder und des Posthumus, der sich seiner britischen Abkunft bewußt geworden ist, wendet sich plötzlich das Blatt und die Briten erringen einen großen Sieg. Lucius und der Page werden gefangen genommen. Posthumus, der lebensmüde, seinen früheren Verrat einbekannte, wird ins Gefängnis geworfen. Dort erscheint ihm Jupiter und prophezeit ihm ein baldiges Ende seiner Leiden. Dann kommt endlich die Wahrheit ans Licht. Bellarius, die beiden Brüder, Posthumus aber auch Lucius und sogar Pisanio und Jachimo erscheinen zugleich vor dem König. Dieser war in der ersten Siegesphase der Römer gefangen genommen worden, alsbald aber durch den Mut des Bellarius und der Seinen wieder befreit. Zuerst belohnt der König Bellarius und erhebt die beiden Brüder in den Adelsstand. Er fühlt eine eigenartige Neigung für den Pagen, ohne zu wissen warum, und möchte ihn als Pagen behalten. Er stellt ihm frei, die anderen zu befragen und der Page wendet sich an Jachimo und fragt ihn, wie er zu dem Ring gekommen ist, den er trägt. Es ist der Ring, den der Page als Imogen ihrem Gatten Posthumus gegeben hatte. 36 Vom König mit Folter bedroht, gesteht 35 Für mehr Details über das Wesen der Höhle und die Grabzeremonie siehe Paul Arnold, op. cit., S. 163 - 166 36 Der Ring war ein Armband gewesen, als Jachimo es der schlafenden Imogen abgenommen hatte. Die Übersetzerin Dorothea Tieck hat den Gedächtnisfehler Shakespeares gutgläubig übernommen und er hat in vielen Neuausgaben und auch anderen Übersetzungen immer triumphiert. 158 Shakespeare Jachimo seinen verleumderischen Betrug ein. Daraufhin bekennt der Page, des Königs geliebte Tochter und des Posthumus Gattin Imogen zu sein. Auch die Aufdeckung der Wahrheit mit den zahlreichen Überraschungseffekten versteht Shakespeare richtig spannend zu gestalten. Nun kam aber durch alle diese Aufdeckungen ein retardierendes Moment herein, in dem die Spannung auf einen Höhepunkt steigt: Es stellt sich heraus, daß Cloten in der Nähe der Höhle sein Leben verlor und einer der Brüder bekennt, ihn getötet zu haben. Traurig erklärt der König, daß sein Leben damit verwirkt sei, da trotz aller seiner tapferen Taten Cloten ein königlicher Prinz gewesen sei, an den niemand Hand anlegen durfte. Schon läßt er ihn binden, als Bellarius vortritt und die wahre Identität der beiden Brüder aufdeckt. Es ist eine freudige Überraschung mehr für den König. Zuletzt wird nach dem unbekannten Krieger gefragt, der gemeinsam mit Bellarius und den beiden Brüdern das Wunder der Wende in der Schlacht herbeigeführt hat. Da tritt Posthumus vor, bekennt, daß er es ist, und ruft als Zeugen dafür Jachimo an, den er dabei zu seinem Gefangenen gemacht hat. Der kniet vor Posthumus nieder und bestätigt alles. Zu ihm gewendet sagt Posthumus: . . . Knie nicht vor mir; Die Macht die ich besitz ’ , ist dich verschonen. Und meine Rache, dir verzeihen. Lebe, Sei besser gegen andere Der König lobt den „ edlen Spruch des Schwiegersohns, der allen Großmut lehren soll “ und unterstreicht so die Absicht des Autors Shakespeare. Als Posthumus im Kerker war, erschienen ihm im Traum seine Eltern und Brüder, die auch als Traumgestalten mit Musik auf der Bühne auftreten und Jupiter beschwören, ihm zu helfen. Dieser erschien und versprach ihm nicht nur eine schöne Zukunft, sondern legte ihm auch ein Täfelchen mit einer Inschrift auf die Brust. Als er erwachte, fand er wirklich das Täfelchen, verstand aber den Inhalt der Schrift nicht. Jetzt bittet er den anwesenden römischen Feldherrn Lucius, seinen Wahrsager zu rufen. Das Orakel, über das viel gerätselt wurde, lautete: „ Wenn ein Löwenjunges, ohne zu suchen und ohne es zu wissen, finden und umarmt sein wird von ein wenig zarter Luft, und wenn die Zweige von einer majestätischen Zeder abgehauen wurden und - nachdem sie viele Jahre tot waren - wieder belebt und mit dem alten Stamm wieder vereinigt werden und frisch ausschlagen, dann wird Posthumus das Ende seiner Leiden sehen, Britannien wird glücklich sein und in Frieden und Reichtum blühen. “ Das Löwenjunge war Posthumus und den Beweis dafür, hat der Autor selbst in seinem Vornamen geliefert, denn Leonatus ist zusammengesetzt aus den zwei lateinischen Worten „ leo “ - Löwe und „ natus “ - geboren. Das Löwenjunge 159 Shakespeare bezieht sich auf einen der zwölf Stämme Israels, nämlich den Stamm Juda, den stärksten Stamm, der durch einen Löwen symbolisiert wurde. In der Geheimen Offenbarung des Johannes, die schon für die Templergnosis von großer Wichtigkeit war und es für die Rosenkreuzer blieb, ist der „ Löwe von Juda “ eine messianische Gestalt. In der Atalanta Fugiens des Michael Maier findet sich ein Kupferstich mit einem Löwen im Vordergrund, der nur dann einen Sinn ergibt, wenn man diese Zusammenhänge kennt. Die Geschichte mit dem „ überirdischen “ Täfelchen ist nicht nur wegen des metaphysischen Charakters der ganzen Rosenkreuzerbewegung besonders wichtig, sondern auch wegen des Bauprinzips des ganzen Stücks, das wie der Kaufmann von Venedig zwei geographisch-geistige Zentren einander gegenüberstellt. Es zeigt in Parallele zu dem spirituell besonders hoch entwickelten, „ idealen “ Paar Bassanio-Portia auch ein eben solches Paar. Imogen ist von vornherein die menschlich edelste und großartigste Gestalt mit der längsten Leidenserfahrung. Als Bulthaupt, der nicht nur ein ungewöhnlich kluger Kritiker, sondern auch ein Theaterpraktiker war, einmal Cymbeline als Regisseur für die Bühne bearbeitete, da gab er dem Stück den Titel Imogen. Es gibt ja auch im Titel eine Parallele zum Kaufmann. Denn der Kaufmann ist der reichste und relativ mächtigste, aber keineswegs der edelste Charakter. Genau das trifft auch auf Cymbeline zu. Es war notwendig, Posthumus auf die gleiche hohe Entwicklungsstufe zu heben. Daß er durch eine Prophezeiung Jupiters zur messianischen Gestalt des „ Löwen von Juda “ gemacht wird, was die Amtskirche, dogmatisch gebunden, gerne Christus zuwies, ist eine unschlagbare „ Höhe “ der Entwicklung, der Imogen voll würdig. König Cymbeline ist durch die „ Prophezeiung “ auch tief genug beindruckt, daß er sich trotz seines Sieges über die römischen Truppen freiwillig Lucius unterwirft und bereit ist, um des Friedens willen, wieder Tribut zu zahlen. Shakespeare hat damit zugleich eine Doppellektion erteilt. Erstens über die Einflußmöglichkeit metaphysischer Kräfte in das politische Geschehen und zweitens ein leuchtendes Signal seiner Friedensliebe. Preis sei den Göttern! Aus heiligen Tempeln! Ruft den Frieden aus All Unsern Untertanen! Ziehn wir heim. Ein römisch und ein britisch Banner wehe Freundlich vereint; so gehen wir durch Luds Stadt; Und in dem Tempel Jupiters beschwören Den Frieden wir, besiegeln ihn mit Festen. Brecht auf! Nie hat ’ ein Krieg, eh noch die Hände Vom Blut sich wuschen, solch ein schönes Ende. 160 Shakespeare Immer schon war Shakespeare ein Meister psychologischer Entwicklung seiner Charaktere gewesen, wobei Willensfreiheit und Schicksalsnotwendigkeit gegen- und miteinander wirkten, um die Erbärmlichkeit wie die Herrlichkeit der Lebensmöglichkeiten zu enthüllen. In seiner Altersphase war er so verzweifelt über die Entsetzlichkeiten, welche die Menschen seiner Zeit fähig waren, einander anzutun, daß er sich die dichterische Freiheit nahm, ohne falsche Illusionen einer billigen Schönfärberei aus dem Reichtum seiner Phantasie eine Welt zu erschaffen, in welcher die tiefe Sehnsucht nach mitmenschlich empfundener Wahrheit und Anständigkeit, Freiheit und Glückserfüllung in einer Phase des Daseins voll von Frieden und Harmonie als Wirklichkeit endet, wie, ja eigentlich wie im Märchen. Es hat einen ernsten und wirklich großen deutschen Kenner von Shakespeares Werk gegeben, Wolfgang Keller, den Imogen an das Märchen von Schneewittchen erinnert hat. Die echten, alten Volksmärchen der Welt, die eine gesamtmenschheitliche Seelen-Nahrung bildeten, sind ja immer schon gesunkenes, esoterisches Kulturgut gewesen. 37 Natürlich mußte der große Theater-, Drama- und Seelenkenner seine eigene Lösung und Form finden, zur glaubwürdigen und ästhetisch möglichen Verwirklichung seiner Absicht, den Jämmerlichkeiten des irdischen Lebens eine Art dichterischen Gegenpol gegenüber zu stellen und das waren seine letzten drei Renaissance-Schicksalstragikomödien, seine „ Romanzen “ , welche die letzte Phase seines Schaffens kennzeichnen. 38 Cymbeline ist die erste davon. Sie sind in jeder Hinsicht, wenngleich auf der gleichen dichterischen Höhe, das Gegenteil der antiken Schicksalstragödien. Diese kennt Willensfreiheit überhaupt nicht und stellt darum oft schon an den Beginn den Orakelspruch, der das böse Ende bereits prophezeit. Die Grundhaltung dahinter ist in ähnlicher Weise wie der finstere Puritanismus eine Weltschau, in welcher alle Macht bei der düsteren Moira (Schicksal) liegt, der selbst die Götter unterworfen sind. Die Weltschau Shakespeares dagegen besaß die neue Freiheit des Renaissancedenkens, mit seiner Lebensbejahung und Lebensfreude. Er vermochte die Willensfreiheit mit seinen Charakteren zu verbinden. Keine tragisch-finstere Moira stand schicksalsunentrinnbar mehr hinter den Schicksalen seiner Charaktere, aber er wollte wegen der großen Wirksamkeit auf seine eigene Weise solche Schicksalsunentrinnbarkeit erreichen. Also beginnen seine Tragikomödien in wirklichkeitsnaher Ungewißheit und Willensfreiheit und sind so angelegt, daß sie am Schluß geschickt in einen schicksalsunentrinnbaren Ausgang umschlagen. Das Rosenkreuzertum, das Freiheit zugleich mit einer überaus positiven metaphysischen Weltschau ver- 37 Vgl. Hedwig von Beit: Symbolik der Märchen, Bd. I, verbessert 1960, Bd. II, 1956, Bd. III, 1957 38 Friedrich Dürrenmatt hat einmal gesagt, die einzig mögliche Dramengattung auch unsrer Zeit sei die Tragikomödie. Vgl. Karl S. Guthke: Die moderne Tragikomödie. Stuttgart 1966 161 Shakespeare band, bot sich ihm als naheliegendste und beste Möglichkeit an, die er ergriff und zu einer großartigen dichterischen Gestaltung entwickelte. Seine Schicksalstragikomödien sind geprägt von esoterisch-gnostischem Wissen, wonach das Gute ohne das Böse nicht existieren kann, was in dieser Welt zur Notwendigkeit des Bösen im Leben führt. Die Großartigkeit der kurzen Abschlußrede des Posthumus in Cymbeline, enthält eine mögliche Lösung des Problems, in dem er das Negative zwar berücksichtigt und beibehält, aber in ein Positives umfunktioniert. Er ist der männliche, theoretische Verwirklicher eines irdischen Paradieses, so wie Imogen seine weiblich praktische Verwirklicherin ist. Sie ergänzen einander zu dem notwendigen Ganzen einer Weltschau, die durch Terror und Gewaltherrschsaft unterdrückt und vorübergehend in das geistige Exil einer Utopie vertrieben, aber niemals überwunden werden können. Auch hier hat Heinrich Bulthaupt den entscheidenden Punkt gesehen. Er war nicht blind gegenüber einzelnen, kleinen Schwächen des Stücks. Aber in den Hauptzügen erblickte er in Cymbeline ein wunderbares, von Shakespeare selbst nicht übertroffenes, geschweige denn von einem anderen romantischen Dichter übertroffenes Werk. Die zweite Romanze, Das Wintermärchen (A Winter ’ s Tale), ist ganz als Märchen angelegt, mit bösem Beginn und märchenhaft glücklichen Schluß. Schon die Quelle Shakespeares, Robert Greenes Novelle Pandosto, enthält die meisten Elemente des ganzen Dramas. Der Triumph der Zeit war rings um zwei örtliche und soziale Zentren angelegt, einem verderbten, leidenschaftsgeschüttelten und intrigenreichen Königshof und der friedlich-harmonischen Welt von Schäfern in der Natur. Bei Shakespeare ist es der Hof des märchenhaft erfundenen Königs Leontes von Sizilien, der sich selbst in eine psychopathische Eifersucht hinein steigert, weil er sich einbildet, daß seine Gattin Hermione den Gast und Freund, Polyxenes, König von Böhmen, verdächtig ungewöhnlich freundlich behandelt. Mit Meisterhand ist der immer mehr anwachsende Wahn, in den er sich hinein steigert, dargestellt und alsbald beauftragt er seinen Vertrauten, den Hofaristokraten Camillo, seinen Gastfreund Polyxenes zu vergiften. Der hochanständige Camillo, der wie alle anderen am Hof über den plötzlich ausgebrochenen Wahn entsetzt ist, warnt aber König Polyxenes. Als er erkennen muß, daß das Überleben von Polyxenes durch den Verdacht des Verrats, sein eigenes Leben kosten würde, flieht er gemeinsam mit Polyxenes nach Böhmen, das hier am Meer liegt. Leontes nimmt diese Flucht als Bestätigung seines Verdachts und läßt seine Gattin Hermione, von den vielen edlen Frauengestalten Shakespeares eine der feinsten, wegen Ehebruchs in den Kerker werfen. In der Zwischenzeit werden Boten nach Delphi geschickt, um das Orakel über den Ehebruch zu befragen. Der Spruch des Orakels ist überraschend eindeutig und klar, was Hermione betrifft: sie ist unschuldig. Doch geheimnisvoll ist die zweite Hälfte des Spruchs, 162 Shakespeare die besagt, daß der König ohne Erben sterben wird, wenn das Kind nicht gefunden wird. Leontes in seinem Wahn lehnt den Spruch ab und verwirft ihn. Shakespeare aber zeigt in aller Deutlichkeit, wie auch die Macht des tyrannischesten Monarchen gegenüber dem Göttlichen versagt. Als sofortige Bestrafung für diese Gotteslästerung, muß Leontes den Tod seines ältesten Kindes zur Kenntnis nehmen. Die Königin ist aus Schmerz über die Botschaft vom Tod ihres Sohnes in Ohnmacht gesunken. Sie wird für tot gehalten und auf Bitte der ihr am nächst stehenden Hofdame Pauline, in deren Haus getragen. Auch Shakespeare hat hier an den Beginn ein Orakel gestellt, um die Schicksalsunentrinnbarkeit zu untermauern, nur ist es im Unterschied zur antiken Schicksalstragödie eben kein rein negatives Orakel. Hermione hatte im Kerker ein zweites Kind geboren, das auf Befehl des Königs an der Küste Böhmens ausgesetzt werden soll. Der Edelmann Antigonus, Gattin der Pauline, erhält den Befehl, das durchzuführen. Er setzt das Kind aus, gerät dabei in eine Bärenjagd, wird vom Bären gesehen, verfolgt und zerrissen. Die Bestrafung, die der Gott des delphischen Orakels über Leontes verhängt hat, ist gründlich. Das Schiff gerät bei der Rückkehr in einen Sturm und versinkt mit allen an Bord im Meer. Das Kind wird von zwei Schäfern gefunden, die das Mädchen Perdita taufen und bei sich aufziehen. Es wächst zu einmaliger Schönheit heran. Sie ist so bezaubernd, daß der Sohn des Königs Polyxenes, Florizel, in Liebe zu der schönen Schäferin entbrennt. Während des Festes der Schafschur, an welchem der königliche Vater Polyxenes verkleidet teilnimmt, verloben sich die beiden. Der ergrimmte König erreicht nur, daß sie fliehen und vom gealterten Camillo beraten, natürlich zu König Leontes in Sizilien. Die Hofdame Pauline, die dem König nahe ist und die seine späte Reue bestärkt, läßt ihn schwören, daß er sich niemals wieder verheiraten wird, es sei denn, mit einer Frau, die Hermione völlig gleicht. Als man die Flüchtlinge aus Böhmen, Florizel und Perdita, auf ihren Wunsch zu König Leontos führt, ist er von Perditas Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Hermione so fasziniert, daß er annimmt, das tot geglaubte Kind vor sich zu haben. Polyxenes, der seinen flüchtigen Sohn verfolgt, trifft in Böhmen ein und vor beiden Königen findet die Lösung des Knotens nach dem Formprinzip der Schicksalstragikomödie statt. Perdita ist tatsächlich wiedergefunden und ist würdig, Florizels Gattin zu werden. Pauline aber führt alle in ihr Haus, um ihnen das Meisterwerk eines Bildhauers zu zeigen, der Hermione nachgebildet hat. Als alle gebannt von der Ähnlichkeit sind, verspricht Pauline dem König, sie könne erreichen, daß die Skulptur herabsteigt und seine Hand ergreift. Unter den Klängen von Musik, die an die Sphärenharmonie gemahnt, steigt Hermione von ihrem Potest herab und umarmt den König. Auf den ersten Blick könnte es scheinen - und ist auch schon angenommen worden - daß der Titel der Romanze, A Winter ’ s Tale, von einer kleinen Szene am 163 Shakespeare Beginn des Stücks herrührt, in welcher der damals noch lebende, kleine Sohn Hermiones, Mamilius, zur Mutter gelaufen kommt, die ihn auffordert, ihr eine Geschichte zu erzählen. Der Kleine erklärt, eine traurige Geschichte passe besser zur gegenwärtigen Winterszeit, er wisse eine, von Geistern und Kobolden, die wolle er erzählen. Ein Autor wie Shakespeare benennt bestimmt nicht den Titel eines ganzen Dramas nach einer so unwichtigen kleinen Episode. Die Episode gewinnt jedoch gewaltig an Gewicht, wenn am Beginn des vierten Aktes „ die Zeit “ einen Prolog spricht, in dem sie die beiden Hälften des Stückes einander dadurch gegenüberstellt, daß die erste Hälfte am sizilianischen Königshof im Winter, die zweite Hälfte sechzehn Jahre später, bei den Schäfern in freier Natur aber im Sommer spielt. Dazu erklärt die allegorisch personifizierte Zeit, daß rückblickend die traurig-finstere Hälfte wie ein böser Traum wirke, dem die zweite, positive und glückliche Hälfte wie ein Erwachen folgt. Sieht man die erste Hälfte, wie die „ Zeit “ es tut, als bösen Traum, welchem das glückliche Ende folgt, dann wird die freie Übersetzung Dorothea Tiecks von A Winter ’ s „ Tale “ mit Ein Winter- „ märchen “ sehr treffend erscheinen. Dabei ist es vom Rosenkreuzertum her wichtig, daß die erste, dunkle, „ Winter “ -Hälfte diejenige ist, in welcher das Böse obsiegt, das in der zweiten, lichten, Sommer-Hälfte von den positiven, seelischen Kräften überwunden wird. Zu diesem gnostischen Aspekt von Gut-Böse kommt ein mindestens ebenso wichtiger anderer durch die „ Zeit “ herein, von der es ausdrücklich heißt, daß sie „ den Irrtum schafft und löst. “ Das ist wörtlich eine Formel, welche die direkten Vorläufer der Rosenkreuzer Trithemius, Paracelsus und Agrippa dafür verwenden. Der Sinn dieses zusätzlichen Aspekts ist jedoch ein weitaus tieferer, als der, den etliche Kommentatoren Shakespeares hier sehen, wenn sie eine besondere, „ historische Wahrheit “ suchen, die hier versteckt sein und sich im Lauf der Zeit erweisen soll. Der Winter-Sommerwechsel bezieht sich nicht nur in direktester Weise allgemein auf den griechischen Persephone-Mythos, der in Eleusis die Hauptrolle spielte, sondern zeigt sich auch konkret in „ Wiedergeburten “ des Shakespeare-Stücks. Florizel hat zum Fest der Schafschur Schäferkleidung angelegt und das versinnbildlicht zugleich, daß er Vorurteile des Hofes aufgegeben hat, um ein Mensch zu werden. Umgekehrt entpuppt sich die schöne Schäferin Perdita zu einer wirklichen Prinzessin. Obwohl beide „ Wiedergeburten “ oberflächlich betrachtet gegensätzlich sind, handelt es sich im esoterischen Sinn um gleich positive Prozesse. Sowohl Florizel selbst wie auch der alte Schäfer sehen das sehr richtig. Florizel erklärt Perdita, daß auch der in Feuer gekleidete Apoll aus Liebe ein armer Schäfer wurde und der alte Schäfer setzt Florizel in seiner Schäferkleidung der Göttin Flora gleich. Dabei geht es auch hier nicht um abstrakte, rhetorische Metaphern, sondern es geht Shakespeare mit seinen Göttlichkeitsmetaphern 164 Shakespeare ebenso um eine sehr konkrete Funktion. Sie haben die Aufgabe, besonders zu unterstreichen, daß es auch in Wahrheit um ein unirdisches Problem geht. Florizel weiß sehr genau, daß er zwar nicht wirklich der in Feuer gekleidete Apoll ist, daß er aber mehr noch als auf eine körperliche auf eine „ Chymische “ Hochzeit mit Perdita zielt. Der Dichter verdeutlicht das noch besonders an einer Stelle, an der Perdita an die Gäste Blumen verteilt. Dabei erklärt sie dem König Polyxenes, der verkleidet gekommen ist, daß in ihrem ländlichen Garten blutrote Nelken und bunte Levkojen fehlen, die manche „ Bastarde der Natur “ nennen. Polyxenes fragt, weshalb sie diese Blumen verschmäht. Die Antwort lautet: Weil ich hörte, es gäbe eine Kunst, die um der bunten Färbung willen der großen, schaffenden Natur Gewalt antut. Auch der Schlüssel zu dieser kleinen Stelle findet sich in Michael Maiers oben zitierten Phoenix-Gedicht. Es ist dort von einem Blut die Rede, „ das vom Fuße der Venus in ihren Rosengarten fließt und die Rosen rot färbt, die vorher weiß waren “ . Das bedeute, daß die weißen Rosen, welche für die seelische Liebe stehen, in Blumen der irdischen Sinnlichkeit von Venus verwandelt worden sind. Auch Perdita geht es jedoch um die zeitlich unbegrenzte seelische Liebe. Ob nun Polyxenes den symbolischen Sinn verstanden hat oder nicht, er widerspricht jedenfalls und nennt den Akt der künstlichen Veredelung selbst Natur. Darum sollte Perdita solche Nelken in ihren Garten aufnehmen. Dieses Mal hat Perdita den alchemischen Sinn richtig verstanden, weshalb sie den Ratschlag zurückweist. Sie wird solche rote Nelken niemals pflanzen, denn das wäre, als ob sie künstlich geschmückt wäre und Florizel würde sagen, das sei gut und deshalb begehre er sie zur Braut. In der Chymischen Hochzeit von Andreae empfängt Christian Rosenkreutz nach den symbolischen Werken von sechs Tagen eine Goldmünze, in die eingraviert ist: „ Die Kunst ist der Natur Dienerin. “ Damit hat er die Stufe erreicht, auf welcher er wirklicher Geist-Erkenntnis im seelischen Bereich fähig ist. Perdita wird noch deutlicher, wenn sie ihre Blumen an den geliebten Florizel veteilt: Nun schönster Freund, wünscht ’ ich mir Frühlingsblumen, die sich ziemen für deine Tageszeit . . . o, Proserpina, hätt ’ ich die Blumen jetzt, die du in deinem Schrecken vor dem Wagen Plutos fallen ließest! Paul Arnold hat offenkundig die direkte Quelle für diese Stelle in Thomas Heywoods Drama The Age of Argent entdeckt, das den Raub der Proserpina- 165 Shakespeare Persephone und ihren Mythos zum Gegenstand hatte. Ceres, der Göttin der Fruchtbarkeit, Schwester der Erde und Mutter von Proserpina, wird von den Schäfern und Schäferinnen gehuldigt. Sie bringt mit ihnen im Tempel ein Opfer dar. Proserpina war auf der Wiese beim Binden von Blumenkränzen zurück geblieben. Die Göttin Flora hilft ihr dabei wie Florizel Perdita. Proserpina gelobt Ceres an der ländlichen Zeremonie teilzunehmen, wenn erst die schöne Flora sie mit Blumen geschmückt hätte. Nachdem sich Ceres und die Schäfer entfernt haben, hält sie einen Monolog wie Perdita über die Blumen und schläft ein. Da kommt Pluto aus der Unterwelt umgeben von Teufeln. Proserpina erschreckt und Pluto ergreift sie und trägt sie in seine Hölle. Ihre göttliche Mutter sucht sie ohne Ergebnis und verflucht die Erde zu völliger Unfruchtbarkeit. Darauf fällt Jupiter seinen Spruch, wonach Proserpina ein halbes Jahr in der Unterwelt - den Winter - und ein halbes Jahr auf der Erde - den Sommer - verbringen sollte. Ein halbes Jahr wirkt Proserpina als Königin der Toten, deren Seelen an den Körper gebunden sind, in der Unterwelt und ein halbes Jahr als Königin der Lebenden, der Geister und der Seelen, die frei im Elysium leben. Exoterisch (aber auch symbolisch) repräsentiert Proserpina den Wechsel der Jahreszeiten, esoterisch den Zyklus der menschlichen Seele zwischen körperlicher Gefangenschaft in Erdgebundenheit und körperloser Freiheit im Elysium. 39 Die Struktur des Wintermärchens spiegelt die äußerliche Seite des Mythos wieder, den Wechsel von Winter und Sommer. Über die Seelen herrscht Winter in der Zeit, in der Perdita als tot gilt, symbolisch Proserpina in der Unterwelt gleicht und ihre Mutter Hermione aus der Welt des Bösen verschwunden ist. Das Fest der Schafschur entspricht dem Beginn der Befreiung, die erst endgültig vollzogen ist, wenn Hermione-Ceres wieder in die Welt zurückkehrt. Perdita lebt bereits in einem eleusischen Glück, als die Auferstehung der Mutter vorbereitet wird, und im Hochsommer darauf wird das Fest der Fülle gefeiert. 40 Die Rolle Plutos fällt beim Fest der Schafschur dem Hausierer Autolycus zu. Für diesen gilt genau das Gegenteil wie für Perdita. Für ihn ist der Winter die erzwungene Zeit der sinnlichen Enthaltsamkeit, der Sommer die Zeit der fleischlichen Lust, in der das „ rote Blut “ über den ewigen Winter herrscht. Shakespeare war nicht gezwungen gewesen dem starren Schema des Mythos zu folgen, sondern schuf in der metaphysischen Freiheit des Rosenkreuzertums. 39 Auf die beste Darstellung des Mythos in der Einführung in die Mythologie bei von C. G. Jung und Karl Kérenyi - ist bereits verwiesen worden. 40 Paul Arnold, op. cit., S. 185 166 Shakespeare Perdita wird nicht von Autolycus geraubt, ja er vermag sie nicht einmal in Versuchung zu führen, sondern sie pflückte erfolgreich weiter ihre Blumen auf der Wiese gemeinsam mit Florizel, ganz wie nach dem Mythos von Psyche einer den göttlichen Unsterblichen gleichen völlig unsinnlichen Freiheit. Sie steht als ein Symbol für den paradiesischen Urzustand, ähnlich reiner Kindlichkeit, wie sie den Vorläufern des Rosenkreuzertums vorschwebte. Der Wahn des Leontes am Beginn des Stücks ist das negative Gegenteil davon. Arnold hat den Kontrast zwischen dem Dialog von Florizel mit Perdita und dem Dialog zwischen Autolycus und zwei liebetollen Schäferinnen schön heraus gestellt. Die Auferstehung Hermiones am Schluß des Stücks führt die durch das Drama dargestellte Einweihung noch ein Stück weiter. Das kann dadurch belegt werden, weil Paul Arnold auch hier die Quelle des Dichters gefunden hat. Leontes hat seine Tochter Perdita wieder gefunden und den Wahnzustand überwunden, Polyxenes hat seine Zustimmung gegeben, daß sein Sohn Florizel Perdita heiraten kann, da führt die Hofdame die ganze Gruppe in eine Kapelle in ihrem Haus. Sie will dort das Meisterwerk eines Bildhauers zeigen, der Hermione wie lebendig dargestellt hat. Alle sind erschüttert von der meisterhaften Kunst, die echtes, wahres Leben vortäuscht. Die Auferstehung findet Schritt für Schritt statt. Zuerst läßt sich Pauline drei Mal bestätigen, daß es nicht nur Schwarze Magie der bösen Mächte, sondern auch Weiße, göttliche Magie gab. Die ganze Entwicklung mag für Uneingeweihte und mag heute phantastisch wirken. Pauline hat angekündigt, sie vermag zu erreichen, daß die Statue von ihrem Podest herabsteigt. Das geschieht wirklich, sie wird vom König umarmt und beschwört zuletzt sogar den Segen der Götter auf ihre Tochter Perdita herab. Paul Arnold hat gezeigt, daß das alles nur Shakespeares dichterische Gestaltung des letzten Stadiums des „ großen Werks “ rosenkreuzerischer Alchemie darstellt. Es geht um die Herstellung des „ Homunculus “ oder die „ Auferstehung der Könige “ , wie sie Andreae in seiner Chymischen Hochzeit schildert. Hier werden die enthaupteten Könige zuerst auf die Insel Olympi gebracht. Dort wird von den Eingeweihten in die Alchemie zuerst aus deren Körper ein besonderes Ei geschaffen. Aus diesem Ei entsteht durch weitere Bemühungen in der Kunst der Phoenix. Aus dessen Asche wird ein Teig gebildet. Dieser wird in zwei Formen gebacken, die Homunculi oder Neugeborenen. Es sind aber Körper ohne Seelen, wie auch Hermione zuerst erscheint. Die zwei Formen sind so schön, daß die Eingeweihten sie liebkosen wollen, doch tritt der Alte, der die ganze Arbeit leitet, dazwischen. Ebenso tritt Pauline dazwischen, als der König das Standbild küssen will. Durch einen alchemyschen Trank aus dem Blut des Phoenix erhalten die beiden Figuren die Gestalten von Mann und Frau. Sie werden auf eine Art Altar gelegt und rings um sie werden Fackeln entzündet, sodaß der Raum wirkt wie eine Kapelle, ganz wie in Paulines Haus. 167 Shakespeare Die beiden Figuren sehen jetzt ähnlich aus wie belebte Körper mit dem Kreislauf des Blutes und mit der Atmung, ganz wie Hermione in dem Zustand, in dem Pauline sagt, der König denke gar, „ es “ lebt. Sodann erscheint die einweihende Jungfrau, die in Gestalt der Pauline hier von Anfang an dabei war. Die Jungfrau bringt Musiker mit sich und Pauline ordnet eine unbekannte Quelle an: „ Wecke sie, Musik! “ Die einweihende Jungfrau hat zwei weiße Königsgewänder bei sich. An den leblosen Körper wird eine lange Posaune gesetzt, die bis zum Dach hinaus reicht. Dort im höchsten Raum des Turms ruhen die sechs Seelen der enthaupteten Könige. Beim Ertönen der Musik fährt in der Chymischen Hochzeit die Seele wie eine feurige Kugel herab in den Körper. Sobald der Leib die Seele erhalten hat, öffnet er die Augen und schließt sie wieder. Jedem der beiden Homunculi werden drei Seelen „ eingeblasen “ . Nach kurzem Schlaf erwachen sie, ziehen die Gewänder an und setzen sich auf einen Thron, um die Huldigungen der eingeweihten Erwählten entgegen zu nehmen. Das ist die Gruppe von Leontes, Polyxenes und Perdita. Paulina, die einweihende Hierophantin erklärt: Geht miteinander, Ihr seligen Gewinner; nur Entzücken Sprecht alle jetzt! Ich alte Turteltaube Schwing mich auf einen dürren Ast und weine Um meinen Gatten, der nie wiederkommt, bis ich gestorben bin. Die drei sind durch die Auferstehung Hermiones „ Gewinner “ , weil sie Erleuchtete sind. Pauline nennt sich selbst eine „ alte Turteltaube “ mit Anspielung auf das Phoenix-Gedicht. Für sie ist es keine leere Phrase, wenn sie an eine Wiedervereinigung mit ihrem Gatten nach dem Tod glaubt. Wie es auch nicht nur ein „ psychologisches Problem “ ist, daß Perdita leiden mußte, um ihre Mutter zurück zu erhalten. Hermione selbst wie auch Perdita haben tatsächlich jenen Todes- und Wiedergeburtsakt des Mythos von Proserpina durchgemacht, der im Zentrum der eleusinischen Mysterien stand. Sowohl Perdita-Proserpina wie Hermione-Ceres sind durch den Wahn des Leontes in einem Winter verschwunden und erfahren im Sommer eine Auferstehung und eine „ zweite Geburt “ , wie sie im Zentrum der eleusinischen Mysterien stand. Im Grunde ist das „ Wunder “ des „ großen Werks “ in der Chymischen Hochzeit als dichterische Gestaltung hier Ereignis geworden, das Shakespeare schuf, indem er Hermione durch Pauline sechzehn Jahre lang verbergen ließ und Perdita durch ein natürlich erklärbares „ Wunder “ durch die beiden Schäfer finden ließ, wie es auch Moses geschah, der in einem Körbchen auf dem Nil ausgesetzt von einer Prinzessin gefunden wurde. 168 Shakespeare Wiedergeburt bedeutet innerliche Erlösung und ist hier in seiner gnostischen Art durch Pauline, die als einweihende Jungfrau agierte, verwirklicht worden. Sie hat durch das ganze Stück hindurch nicht nur mehr Mut und ethische Tatkraft, sondern auch ein größeres Wissen bewiesen als alle Männer. Die dritte der Romanzen Shakespeares und wohl auch die bedeutendste, ist das letzte Stück, das Shakespeare selbst allein geschrieben hat: Der Sturm (The Tempest). Es ist daneben auch der Abschied des großen Bühnen-Magiers von der Bühne. Das Wesentlichste am Stück ist die Magie des Hauptcharakters Prospero, der durch diese Magie nicht nur einen wirklichen Sturm auf hoher See, sondern auch einen Sturm in den Seelen der Personen des Stücks erzeugen kann. Es wurde bereits gezeigt, wie die Magie ein Hauptstück im Rosenkreuzertum darstellte und der große britische Kritiker, Frank Kermode, hat den Einfluß eines der drei großen direkten Vorläufers der Rosenkreuzer Agrippa von Nettesheim auf den Sturm aufgezeigt. 41 Ein äußerer Anlaß für die Thematik war das Unglück des Admiralschiffes einer kleinen britischen Kauffahrtflotte, die nach Virginia segelte und das in den Bermudas strandete. Die gesamte Mannschaft hatte sich von dem in einer Felsspalte stecken gebliebenem Schiff auf eine einsame Insel retten können, die für verzaubert galt und die von Hexen und Teufeln bewohnt sein sollte. Im Oktober 1610 war der Bericht eines Mannschaftsmitglieds, Silvester Jourdin, erschienen, den Shakespeare gekannt haben mußte. Es ist der seltene Fall, daß ein Fürst das Modell von Edelmut ist. Der große Menschenkenner weiß, daß ein Fürst in vollem Besitz seiner Macht schwerlich ein Modell für totalen Edelmut abgibt. Aber ein Fürst, der wie der ehemalige Herzog von Mailand Prospero durch eine Intrige unschuldig vom Thron verstoßen und in Armut und Unglück gestürzt wurde, hat eine Chance. Prospero hat sie ergriffen und hat innerlich dazu gewonnen, was er äußerlich verloren hat. Er ist ein Meister des Verständisses des Geistigen und ein seltener Beherrscher der Magie geworden. Am Beginn des Stücks bricht ein Sturm mit Blitz und Donner auf hoher See los, wo der Schiffspatron alles für eine Landung vorbereitet, als das Schiff, ganz nahe am Ufer der Insel zwischen zwei Felsen festlief und eingekeilt stecken blieb. An Bord sind der König von Neapel und sein Sohn Prinz Ferdinand. Der Grund weshalb der große Magier Prospero den Sturm entfesselt hat, ist aber, daß sich sein eigener Bruder Antonio an Bord befindet, der jetzt unrechtmäßiger Herrscher von Mailand ist und den er in seine Gewalt bringen möchte. 41 In seiner Einführung in das Drama in der „ Arden “ -Edition Shakespeares. Für den Gesamteinfluß des Rosenkreuzertums auch auf dieses Stück hat niemand so viel geleistet wie Paul Arnold, op. cit., S. 195 - 219 169 Shakespeare Prospero lebt seit vielen Jahren mit seiner Tochter Miranda allein auf der Insel. Dem Kind, das ganz klein war, als er floh, hat er nie ihre wirkliche Abkunft verraten. Prospero lebt auf der tropischen Insel, die alles Lebensnotwendige zusammen mit einem herrlichen Klima hat und wird bedient von guten Geistern, die ihm als Magier zur Verfügung stehen. Er pflegt natürlich nicht die schwarze, böse, egozentrische Magie, sondern die weiße, gute und altruistische Magie. Die niederen Geister beherrscht er durch ein magisches Wort, seinen eigenen, höchsten Geist und Haupthelfer Ariel kann er allein durch seine Gedanken beschwören. Er benötigt auch nicht die vielen Utensilien der Schwarzmagier, sondern außer seinem Mantel und dem Zauberstab beschränkt sich seine Methode auf Gesten und auf die Kenntnis magischer Begriffe. Diese Kenntnis hängt mit dem Wissen um hohe Symbole zusammen, die aus dem Wissen um makrokosmische Zusammenhänge stammen. Der Neuplatoniker Jamblichos aus der Traditionskette hatte in seinem Buch der Mysterien auch eine entsprechende Einführung in die praktische Magie gegeben. Darin wird auch darauf hingewiesen, daß jemand, der Einfluß auf die höheren Geister gewinnen will, zuerst sein eigenes Wesen höher entwickeln muß. Wir wissen von einer Aufführung des Sturm am englischen Hof aus dem Frühjahr 1613, als zur Hochzeitsfeier der ältesten Tochter von König Jakob I. mit dem Kurfürsten Friedrich von der Pfalz gleich zwanzig Stücke bei Hof aufgeführt wurden. Acht davon waren Shakespeare-Dramen, was nicht nur die hohe Wertschätzung des Königs, sondern auch jene des zeitgenössischen Publikums für ihn zeigt. Damals war die weiße, „ hohe “ Magie durch die Tradition der Rosenkreuzer bekannt. Die anderen elisabethanischen Dichter Greene, Webster, Marlowe und Heywood, die in ihren Dichtungen mit Magie als Thema operierten, haben fast immer Schwarze Magie behandelt. Shakespeare mußte zumindest die „ clavicula “ , den Schlüssel zur hohen Magie, gekannt haben, die Prospero in Wirklichkeit beherrschte. Das zu wissen, ist für das Verständnis des Sturm unbedingt notwendig, um nachvollziehen zu können, daß es Prospero um eine wirkliche Einweihung in die göttlichen Kräfte geht, damit auch um eine entsprechend tiefgreifende Läuterung des Menschen und um das Verkünden des Geheimnisses des Urwesens der Schöpfung. Daß Shakespeare bei Jakob I. ein so großer Erfolg gewesen ist, hing nicht zuletzt damit zusammen, daß Jakob durch Robert Burton eine hervorragende Renaissance-Erziehung erhalten hatte. Im Sturm zeigt Shakespeare, daß sich die Schiffbrüchigen nur einzeln retten konnten und an verschiedenen Stellen an Land gegangen waren. Da König Alonso seinen Sohn Ferdinand am Ufer nirgends finden kann, fürchtet er, dieser wäre ertrunken. Doch das war bereits von Prospero so geplant, denn dadurch wird seine Seele etwas geläutert und anstelle von Ehrgeiz und Machtwahn erwacht das Gewissen in ihm. Der ebenfalls gerettete Bruder des Königs, 170 Shakespeare Sebastian aber hält den Schiffbruch für eine günstige Gelegenheit, den König aus der Welt zu schaffen, wodurch er Anspruch auf den Thron hätte. Der Anstifter des Mordes ist niemand anderer als Antonio, der Bruder Prosperos, der seinen eigenen Verrat, den er an Prospero begangen hatte, nun wiederholt sehen möchte. Prospero hat seinen sehr mächtigen Luftgeist Ariel ausgeschickt, um die Schiffbrüchigen in die ihnen zugedachte Richtung zu lenken. Ariel, selbst unsichtbar, belauscht sie auch und berichtet seinem Herrn. Dadurch erfährt Prospero vom geplanten Meuchelmord am König. Ariel ist anwesend, als zwei Trunkenbolde bestochen werden, um Alonso im Schlaf zu erstechen. Als die beiden angeschlichen kommen, weckt Ariel den schlafenden König durch Musik. Er verhindert dadurch nicht nur den Mord, sondern erinnert die beiden als guter Geist, an die bösen Taten zu denken, die sie in den letzten Jahren verübt haben, und drängt sie dazu, sie „ von Herzen “ zu bereuen. Schließlich nimmt er ihnen das Versprechen ab, von nun an ein anständiges Leben zu führen. Ariel berichtet Prospero seinen Erfolg und Prospero vollendet den Läuterungsprozeß, indem er Musik des Orpheus ertönen läßt, durch die sie mit der makrokosmischen Harmonie ganz in Einklang gebracht werden. Der Kronprinz Ferdinand ist der erste, der allein zum Haus Prosperos gelangt, wo er allerdings nur Miranda vorfindet. Er verfällt in kürzester Zeit in tiefe Liebe zu der schönen Insulanerin, die wie gewöhnlich bei Shakespeare von ihrer Herkunft so wenig weiß wie von der königlichen Abkunft Ferdinands. Aber seine tiefe Liebe wird ebenso prompt mit tiefer Gegenliebe erwidert. Prospero will und wird die beiden jungen Menschen, auf deren Schultern die Zukunft ruht, zur Erleuchtungserfahrung des Rosenkreuzertums führen. So weit ist es auch bereits, als es zum Schluß wie immer zur Lösung des Knotens und der Aufdeckung aller Mißverständnisse kommt. Der letzte Dienst, den Prospero von seinen dienstbaren Geistern fordert, ist, daß sie als Schnitter verkleidet ein Erntedankfest aufführen, das den Intrigen und Verbrechen des Hoflebens wie im Wintermärchen das Fest der Schafschur gegenüber steht. Miranda wie auch Ferdinand haben bereits eine wesentliche innere Entwicklung hinter sich. Nach dem Erntefest erklärt Prospero dem Ferdinand zusammenfassend: Wir sind solches Zeug Wie das zu Träumen, und alle kleine Leben Umfaßt ein Schlaf. Bei Hermes Trismegistos, mit dem die Traditionskette beginnt, heißt es, daß der Mensch mit dem Tod sein „ tätiges Ich “ - im Sinne Shakespeares seine Seele - dem Daimon übergibt, der Bote und Teil des Göttlichen ist. Die körperlichen Sinne kehren zurück zu ihren Quellen der Materie, deren Teile sie sind. Der Trieb zum Bösen und der des Begehrens gehen in die unvernünftige Natur ein. Nach 171 Shakespeare dem Buch Sepher Jetzira der Kabbala sind alle Manifestationen nur augenblickliche Verbindungen von Gewichten, Maßen und Zahlen, die kein wirkliches Dasein darstellen, sondern Bilder von Gedanken der Engel sind. In der Dämonologie von König Jakob I. heißt es, daß der Teufel seine Anhänger täuscht, indem er Erscheinungen von Rittern und Fußvolk, Schlössern und Burgen, die alle nur Luftspiegelungen sind, durch einen Geist vorspiegeln läßt, der selbst dieser unwirklichen Substanz angehört. Im Sturm sind die gnostischen Mächte des Bösen in der Gestalt des bösen Geistes Caliban und der Hexe Sykorax, der er dient, mächtig. Sie beherrschten ursprünglich die ganze unbewohnte Insel und es bedurfte eines Magiers von der Macht Prosperos, um sie in ihre Grenzen zu weisen. Sogar der Luftgeist Ariel hat ursprünglich der Hexe Sykorax gedient und wurde zur Strafe für Unbotmäßigkeit von ihr in die Spalte einer gespaltenen Fichte gefangen gesetzt und gefoltert, bis Prospero ihn befreit und zu seinem Diener gemacht hat. Arnold hat sogar auf die kabbalistische Quelle der gespaltenen Fichte hingewiesen. 42 Caliban ist ein häßliches und mißgestaltetes Wesen, das die Finsternis der Materie repräsentiert. Das Verständnis des Guten ist ihm unzugänglich. Dennoch ist er nicht das Böse selbst, sondern besitzt den völlig verschütteten Funken einer Seele. Er möchte am liebsten die Insel mit seinesgleichen bevölkern. Die Hexe Sykorax ist Calibans Mutter und hat ursprünglich in Algerien als Magierin geherrscht. Sie hat die Insel zunächst zu einem Land des Schreckens „ voller Pestilenz “ im Geistigen gemacht und ist in ihrem ganzen Wesen hier eine Gestalt des Bösen. Der metaphysische Kampf zwischen Caliban und Prospero - Sykorax war schon tot, als er die Insel betrat - ist zusammen mit der Entwicklung Prosperos, Ferdinands und Mirandas das Hauptgeschehen des ganzen Stücks. Zuletzt kommt es zu einem Endkampf zwischen Prospero und Caliban, der plant, mit der Hilfe der beiden Trunkenbolde Stephano und Trinculo Prospero zu vernichten. Caliban hat Stephano versprochen, ihn nach dem Sieg zum Herrn der Insel zu machen. Prospero, der wirklich siegt, entläßt später zuerst die anderen Geister und zuletzt auch Ariel in die Freiheit. Als Antonio, der Bruder Prosperos und sein Verderber, zur Zeit unrechtmäßiger Herrscher über Mailand, die ersten Schritte auf der Insel macht, läßt Prospero himmlische Musik ertönen. Alonsos Bruder Sebastian, der von Antonio überredet wurde, den König zu ermorden, ist von der Musik der Sphärenharmonie so hingerissen, daß er hervorstößt: Ein lebend Puppenspiel. Nun will ich glauben, Daß es Einhörner gibt, daß in Arabien Ein Baum des Phoenix Thron ist und ein Phoenix zur Stunde dort regiert . . . 42 Paul Arnold, op cit., S. 214 172 Shakespeare Zuletzt werden alle geläutert bis hinunter zum bösen Geist Caliban. Ferdinand und Miranda enden aber sogar als Erleuchtete, wobei die seelische Liebe, die sie verbindet, als machtvoller Katalysator wirkt. Prospero aber, der Hauptheld, geht in einem gewissen Sinn auch noch darüber hinaus. Dies geschieht dadurch, daß er in dieser Schicksals-Tragikkomödie Abschied von der Magie nimmt. doch dieses grause Zaubern Schwör ich hier ab; und hab ich erst wie jetzt Ich ’ s tue, himmlische Musik gefordert, Zu wandeln ihre Sinne, wie die luftge Magie vermag: so brech ich meinen Stab, Begrab ihn manche Klafter in die Erde, Noch tiefer als ein Senkblei in die Erde, Will ich mein Buch ertränken. Diese Stelle ist oftmals so kommentiert worden, daß man darin nur die Ankündigung des Abgangs Shakespeares vom Theater gesehen hat und im ganzen Sturm womöglich lediglich seinen Schwanengesang als Dichter. Eine der letzten dieser Deutungen findet sich vielleicht in der Textausgabe des Tempest von Yale, in welcher der Herausgeber Burton Raffel schreibt, Shakespeare hätte in „ seine Geschichte “ seinen eigenen Abschied als „ Bühnen-Magier “ „ eingeflochten “ , wie Prospero, der gleichen Alters sich von seiner magischen Insel (der Bühne? ) zurückzieht, auf welcher er Dutzende von Jahren geherrscht hat. 43 Paul Arnold hat auf alle diese Deutungen zu Recht so reagiert, daß er darauf hinwies, Shakespeare sei es um sehr viel mehr gegangen als den oberflächlichen Gehalt der Handlung eines Lustspiels, da er das ganze Stück auf die Ebene einer echten Mysterien-Einweihung gehoben hat. Er war hier also nicht mehr einfach Komödien-Dichter, sondern dramatischer Hierophant. Darum urteilte Arnold, es handle sich hier „ nicht um eine bloße, willkürliche Phantasie über magische Kunst, wir werden vielmehr auf eine apokalyptische und okkultistische Eschatologie gelenkt, deren mythischer Abgesandter Prospero ist “ . 44 Wie zumal in seiner letzten Phase ist für Shakespeare seine Kunst niemals nur Spiel und reine Phantasie, sondern immer Botschaft gewesen. 43 William Shakespeare: The Tempest. Hg. und kommentiert mit einer Einleitung von Burton Raffel, New Haven und London 2006, S. XIX 44 Paul Arnold, op. cit., S. 202 f. 173 Shakespeare GOETHE In der Einleitung zu seiner Ausgabe der Schlegel-Tieckschen Übersetzung von Shakespeares Werken, hat Reinhold Schneider geschrieben, daß die „ Entdeckung Shakespeares in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Ereignis von unermesslicher Bedeutung für die deutsche Geistesgeschichte “ gewesen sei. 1 Der erste Pionier, der ihn übersetzt hatte, war Wieland gewesen, den Lessing dafür pries. Goethe aber bekannte noch im Todesjahr Wielands von ihm ein, wenn er sich ergötzen wolle, dann lese er Shakespeare in Wielands Übersetzung. Goethe hat im achten Buch seiner Autobiographie „ Dichtung und Wahrheit “ berichtet, wie er erkrankt nach seiner Rückkehr von Leipzig nach Frankfurt mit Frau von Klettenberg Gespräche hatte, an denen mitunter auch seine immer heitere Mutter teilnahm. Er war von Kind auf von dem trockenen, fundamentalistischen Luthertum des Vaterhauses abgestoßen gewesen, so sehr, daß ihm schon früh das Alte Testament wichtiger war als das Neue und er sogar vom Vater die Erlaubnis erbat, Hebräisch lernen zu dürfen. Die Stiftsdame Susanne von Klettenberg war eine sehr liberale Pietistin von echter Religiosität und solcher Toleranz, daß Goethe vorübergehend sehr unter ihren Einfluß geriet und an einer zentralen Stelle von Wilhelm Meisters Lehrjahren sie im Abschnitt „ Bekenntnisse einer schönen Seele “ verewigt hat. Durch sie hat er aber nicht nur Wellings Opus mago-cabbalisticum 2 kennen gelernt, sondern auch Basilius Valentinus, einen Alchemisten und Hermetiker, der ein Schüler von Paracelsus gewesen sein dürfte. Schon Herder hatte erklärt, daß Reuchlin mit seiner Hinwendung zur jüdischen Mystik in Dissonanz zu einer um sich greifenden Rationalität stehe, der für den Geheimnischarakter des Menschen als religiöses Wesen blind werde. Reuchlin war für Goethe zum Vorbild des furchtlosen Geistesmenschen geworden. In den zahmen Xenien wird es später heißen: Reuchlin, wer will sich ihm vergleichen, zu seiner Zeit ein Wunderzeichen . . . Doch Pfaffen wußten sich zu rühren, Die alles breit ins Schlechte führen, Sie finden alles da und hie, 1 William Shakespeare: Gesammelte Werke. Hg. Von Hans Jürgen Meiners, Gütersloh, o. J., Bd. I., S. 5. 2 Vgl. Gloria Colombo: Goethe, die lurianische Kabbala und die Seelenwanderung. In: Jahrbuch der österreichischen Goethegesellschaft, Bd. 114/ 115/ 116, Wien 2013, S. 90 - 102 So dumm und so absurd wie sie. Desgleichen will auch mir begegnen. Dazu kam, daß Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzergeschichte ein Lieblingsbuch von ihm wurde, die ihm bestätigte, daß das Christentum im Lauf seiner Geschichte sich immer mehr von seinem spirituellen Ursprung entfernt hatte und immer mehr verweltlicht und verfälscht worden war. Über Arnold schrieb er, daß seine Gesinnungen sehr mit seinen eigenen übereinstimmten und daß, was ihn an seinem Werk besonders ergötzte, war, daß er von manchen Ketzern, die man ihm bisher als toll und gottlos vorgestellt hatte, einen vorteilhaften Begriff erhielt. Er war überzeugt davon, daß jeder Mensch seine eigene Religion habe und so baute auch er sich seine eigene zusammen: „ Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich eine Welt, die seltsam genug aussah. “ 3 Sie ist der Traditionskette, um die es hier geht, eng verwandt und wenn jemand die Gnosis vermissen sollte, dann sei hier noch der große Gnosisexperte Hans Jonas zitiert, der darauf hinweist, daß einer der wichtigsten Gnostiker, Simon Magus, nach seinen christlichen Quellen auch am Hof des Kaisers von Rom auftrat und in der lateinischen Umwelt auch den Beinamen ‚ Faustus ‘ ( ‚ der Begünstigte ‘ ) benutzte. “ Dazu kommt die Tatsache, daß er „ von einer Helena begleitet wurde, die, wie er behauptete, die wiedergeborene Helena von Troja war. “ 4 Damit haben wir „ eine frühe Quelle der Faustlegende “ der Renaissance vor uns. „ Sicherlich ahnen nur wenige Verehrer der Stücke von Marlowe und Goethe, daß ihr Held der Nachkomme eines gnostischen Sektierers ist und daß die durch seine Kunst heraufbeschworene schöne Helena einst der gefallene Gedanke Gottes war, durch dessen Erhebung die Menschen erlöst werden sollten. “ 5 Wenn er sich aber vorsichtshalber fast entschuldigte, daß seine Religion „ seltsam genug “ aussah, so hat er sie doch grundsätzlich sein ganzes Leben beibehalten. Natürlich mit einzelnen kleinen Variationsformen finden sich alle Elemente immer wieder, wie zu zeigen sein wird, einschließlich des nicht genannten Rosenkreuzertums. 6 Aus Raummangel kann hier nur auf die wichtigsten Werke im einzelnen eingegangen werden und obwohl das Ausmaß des Einflusses der Traditionskette wahrhaft imposant ist, sind gewiß etliche Beispiele noch übersehen worden. Was Goethes Lyrik betrifft, so gibt es viele Gedichte, die hier wichtig sind, von der frühen „ Höllenfahrt Christi “ über einen ganzen Abschnitt „ Logengedichte “ bis zu den „ Urworten Orphisch “ und vor allem zu dem Gedicht 3 Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. II. Teil, achtes Buch 4 Hans Jonas: Gnosis, Frankfurt am Main 1999, S. 142 5 Hans Jonas, op. cit., S. 143 6 Goethe hat ein Rosenkreuzer-Epos Die Geheimnisse begonnen, und als Fragment hinterlassen. Es gibt auch reine Rosenkreuzer-Gedichte. 175 Goethe „ Vermächtnis “ . Ein Eingehen auf jedes dieser Gedichte im einzelnen würde den Rahmen der Proportion dieser grundsätzlichen Zusammenfassung sprengen. Einmal habe ich über ein kleines Briefgedicht an Frau von Stein einen zwölfseitigen Aufsatz geschrieben, um sowohl die Herkunft aus einem alten Rosenkreuzergedicht wie auch das Wesen der großartigen Umarbeitung zu demonstrieren. Auf solche Weise müßte man hier vorgehen. 7 Die Darstellung hier beschränkt sich bewußt auf vier große Alterswerke, weil der Einfluß hier am stärksten und tiefsten ist: auf den Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre, die Alterslyrik der komplexen Gedichtsammlung West- Östlicher Divan, die naturkundliche Altersschrift Die Farbenlehre und den zweiten Teil des Faust, in welchem Fall auch auf den ersten Teil zurückgegriffen werden mußte. Es ist zwar das am frühesten begonnene Werk, aber vom Abschlußjahr her das letzte. Ein kurzer Blick sei auch auf die Vorgeschichte der Wanderjahre mit dem Titel Wilhelm Meisters Lehrjahre geworfen. Durch das sechste Kapitel Bekenntnisse einer schönen Seele kommt nämlich Esoterik herein. Goethe schildert hier die Entwicklung seiner mütterlichen Freundin Susanne von Klettenberg. Schon jung entdeckte sie, daß ihre Seele ihr Leben bestimmte und daß ihr Leben, wenn es nicht „ ganz in die geradfeste Richtung zu Gott gekehrt war “ , schwierig wurde. Aus dieser Anlage heraus entwickelte sie sich zu einer Anhängerin der pietistischen Herrenhuter Gemeinde der „ Mährischen Brüder “ . 8 Die Bücher sieben und acht drehen sich um Wilhelms Entdeckung und Beziehung zur „ Turmgesellschaft “ , die eine Freimaurerloge ist. Das wäre eine Möglichkeit, Esoterik herein zu bringen, doch wird zunächst darauf nicht eingegangen. Daß er in Felix seinen geliebten Sohn erkennt, hat ebenso wenig damit zu tun wie der „ Lehrbrief “ , den er am Ende des siebenten Buches erhält, in dem es um die soziale Seite der Loge geht, und die Idee, nach Amerika zu reisen, denn für die sozialen Reformen hatte sich diese Loge Amerika zum Vorbild genommen. Am Schluß des achten und letzten Buches wird das erreichte Ergebnis von Wilhelms Entwicklung von den frühen Verirrungen der Theaterleidenschaft über die Leseerfahrung der Bekenntnisse einer schönen Seele bis zur Begegnung mit der Turmgesellschaft von Wilhelms Freund Lothario so zusammen gefaßt, daß er ihn mit Saul, dem Sohn des Kis vergleicht, der auszog, seines Vaters Eselinnen zu suchen und der ein Königreich fand. Wilhelm bestätigt, daß er ein Glück erlangt hätte, das er mit nichts in der Welt vertauschen möchte. 7 Vgl. Joseph Strelka: Esoterik bei Goethe, Tübingen 1980, S. 33 - 45. Der französische Rosenkreuzer-Experte Roland Edighoffer hat in seiner ausgezeichneten, knappen Darstellung Die Rosenkreuzer. München 1995 gleich drei Seiten nur für Goethe verwendet. S. 113 - 115 8 Vgl. Heinz Schlaffer: Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen. In: Goethe Jahrbuch, Jg. 95 (1978) S. 212 - 226 176 Goethe Wilhelm Meisters Wanderjahre sind trotz der Fortsetzung der äußeren Handlung vom gesamten Roman der Lehrjahre dadurch sehr verschieden, daß die innere Entwicklung Wilhelms das volle Übergewicht über den Gang der Handlung hat, wodurch Reflexion und ein Nebeneinander von Bildern und Problemen in ihrer Wirkung auf ihn so dargestellt werden, daß Erich Trunz geurteilt hat, es sei gar kein Roman im alten Sinn mehr, sondern ein Weisheitsbuch. Die Turmgesellschaft, hat ihn auf eine „ Wanderung “ geschickt, die er nicht durch eine längere Niederlassung unterbrechen darf und deren innerliches Ziel bereits die zweite Hälfte des Romantitels verrät: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Goethe liefert eine ganze Skala von Begriffen, welche die Arten des Entsagens differenzieren: Takt, Maß, Demut und Ehrfurcht, die er in Ergänzung zu seinem diesseitigen Weltkind-Charakter zur Grundlage des Religiösen macht. Es geht um Ich-Überwindung zur Selbstverwirklichung hin. Diese hat ihre letzte Stufe erreicht, wenn innerhalb dieses Lebens ein echter Wiedergeburtsakt stattfindet, um den es auch in der Traditionskette geht. Schon das erste Kapitel beginnt mit einem „ Bild “ wie die Mysterienkulte, das zugleich die Seite der Zeitlosigkeit der inneren menschlichen Entwicklung demonstriert, da sich als erstes Ergebnis der Wanderung die gegenwärtige Verwirklichung eines biblischen Bildes zeigt. Es ist das Bild der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten. Bei näherer Betrachtung sieht Wilhelm auch, daß es keine vollständige Identität gibt und daß die seiner Zeit gemäßen Erfüllungen in der amerikanischen Utopie und der „ Pädagogischen Provinz “ liegen. Um innere Entwicklung geht es und Goethe hat in der ihm eigenen, plastisch-lebendigen Art das empirische „ Wandern “ sinnbildlich als positive Lösung dem negativen Verharren in der Erstarrung gegenüber gestellt. Wilhelm entdeckt, daß nicht nur das Wohnzimmer der Familie, die er begegnet und die der alten heiligen gleicht, sich in einer ehemaligen Kapelle befindet, sondern auch, daß sich in dieser Kapelle aus der Vorzeit eine Bilderfolge der legendären Geschichte der Josephs-Familie findet. Trunz hat zu Recht darauf hingewiesen, daß damit die christliche Bildhaftigkeit mit der Goetheschen Urbildhaftigkeit verbunden wird. 9 Auch für den Hang von Goethes Altersstil einer Haltung der Ganzheitlichkeit und des All-Zusammenhangs zeugt bereits die kleine Geschichte. Gewisse Grundmuster im gesamtmenschheitlichen Bereich bleiben sich immer gleich. Das ähnelt dem Menschheitsdrama der östlichen Religionen, die keinen Anfang und kein Ende kennen, sondern nur die ewige Wiederkehr. Goethe hat diese Haltung eher von den antiken Mysterien. Dadurch erfährt seine Nähe zur 9 Goethes Werke, Band VIII. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München 1977, S. 558. Alle Textbeispiele hier sind, wenn nicht anders angegeben, dieser „ Hamburger Ausgabe “ entnommen. 177 Goethe griechischen Antike ebenso eine Vertiefung wie seine Bindung an die Traditionskette. Trunz hat dazu noch auf seine Methode hingewiesen, in den Wanderjahren die Handlung der Fabel in „ Einzelbilder “ aufzulösen, „ deren Verbindung der Dichter nicht zeigt, sondern der Leser selbst herstellen muß. Es herrscht das Aufbauprinzip des Zyklus, eines Bildkreises “ . 10 Goethe weist durch die Bilderfolge der Josephslegende im Wohnzimmer des neuen Joseph auf dieses Prinzip besonders hin. Der erste wirkliche Höhepunkt von Wilhelms innerer Entwicklung ist im zehnten Kapitel seine Begegnung mit Makarie. Schon durch die ersten Sätze, die sie an Wilhelm richtet, erkennt man sie als einen Menschen, „ der nur Geist ist “ . Das bedeutet, daß sie nicht einfach hochintelligent und eine geschickte Psychologin ist, sondern daß es um eine aus „ Liebe “ geborene, „ gleichsam mit dem Weltgeist verbundene, intuitive Schau “ geht. Diese Schau wirkt dadurch so besonders eindrucksvoll, weil sie gleichzeitig an „ wissenschaftlichen, theoretischen Dingen ernsthaft Anteil nimmt “ . 11 Das Wichtigste dieser ersten Begegnung mit Makarie begibt sich in der Szene der Nacht auf dem Turm von ihrer Sternwarte. In Ergänzung zum Blick vom Gipfel des Berges bei Tag über die diesseitige Schönheit der Landschaft im 3. Kapitel steht hier der Blick von der Höhe des Turmes in den Nachthimmel und die makrokosmische Ordnung der Gestirne. Daß der Nachthimmel für das Jenseitige, Überverstandesmäßige, Transzendente steht, wird nur durch den Hinweis völlig sicher gestellt, daß der Begriff Platons des „ Schauderns “ erwähnt wird, den Goethe auch in seiner Farbenlehre gebraucht. Es ist nicht nur das Gefühl der Winzigkeit des einzelnen gegenüber dieser riesigen Ordnung, sondern dieses Gefühl wird noch verdoppelt durch die Einsicht in die Unordnung des eigenen Inneren gegenüber dieser großsen Harmonie. Allerdings haben nicht nur die Gestirne ihre Ordnung und ihr Sonnensystem, sondern nach Goethes Überzeugung hat der Mensch auch in seinem eigenen Inneren eine solche Ordnung und sein eigenes Sonnensystem rings um einen Mittelpunkt: Es ist Goethes Variationsform der Tabula Smaragdina des Hermes: „ Wie oben, so unten “ . Ein Wesen aber, das durch ein solches Wissen in seinem eigenen Inneren ausgestattet und begnadet ist, kann nicht völlig nichtig und sinnlos sein, da dies nicht weniger ist als ein Widerschein oder Echo des Absoluten, - gnostisch gesehen des Göttlichen - im materiellen Körper. Es kommt nicht darauf an, wie groß oder klein etwas ist, sondern nur darauf, ob es richtig oder falsch ist. Ist es aber richtig, dann paßt es hinein in das Gleichnis dieser riesigen, universalen Ordnung im Äußeren wie im Inneren und hat einen Abglanz von Göttlichkeit. „ Die kurze Szene auf der Sternwarte drängt 10 Goethes Werke, Bd. VIII., op. cit., S. 529 11 Goethes Werke, Bd. VIII., op. cit., S. 578 178 Goethe alles zusammen “ was für Goethe „ Gleichnis des Ewigen ist: Natur, Idee, Liebe und Tod. “ 12 Makarie führt kein rational-erklärendes Gespräch darüber. Aber obwohl nicht direkt ausgesprochen, steht es durch sie und ihren anwesenden Astronomen einfach fest, der Wilhelm sich nachts die gewundene Treppe zur obersten Plattform des Turmes hinaufwinden läßt. Denn dieser sieht hier mit seltener Klarheit wirklich „ zum ersten Male das Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit. “ Erstaunt und ergriffen (Plato) hält er sich überwältigt die Augen zu. Er fragt sich, was die himmlischen Heerscharen, würden sie ihm Beachtung schenken, wohl dächten und empfindet es als Glück einen Abschiedsblick auf den Jupiter zu werfen (der nach dem höchsten Gott benannt ist), und der vielen als Glücksstern gilt. „ Er nahm das Omen günstig auf. “ Mit Goethescher Sorgfalt, Genauigkeit und Genialität fügt er diesem eigentlichen Ur-Erlebnis noch zwei Zusätze an. Der erste Zusatz besteht darin, daß erst nach diesem Erlebnis der Astronom ihn weiter unten in der Sternwarte ermuntert, einen Blick durch das riesige Fernrohr auf den Nachthimmel zu richten. Nachdem Wilhelm lange darin versunken war, dankte er dem Astronomen dafür, daß er ihm das Gestirn so viel näher gerückt hatte. Schließlich aber erklärt er, er begreife recht gut, weshalb es den Himmelskundigen große Freude bereite, das ungeheure Weltall näher heran zu ziehen. Er aber hätte im Leben erfahren, daß die Mittel, mit denen wir unseren Sinnen zu Hilfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf die Menschen ausüben. „ Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch in seiner Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt. “ Heute betrachtet ist dieser Ausspruch Wilhelms geradezu eine Zukunfts- und Schreckensvision des ungeheuren Übergewichts, das heute der Technik über alles andere zukommt. Denn die negative Seite der modernen Technologie besteht darin, daß sie eine vollständige Überwachung, Kontrolle und Durchleuchtung der intimsten Freiräume des menschlichen Lebens ermöglicht, was eine der Hauptgefahren ausmacht, die dem modernen Totalitarismus den Schrecken einer derartigen Unmenschlichkeit verleiht, die alles Vorherige übertrifft. Der zweite Zusatz betrifft die Fortsetzung des Erlebnisses auf der Sternwarte. Wilhelm war erschöpft in einen tiefen Schlaf gesunken, als er vom Astronomen geweckt wurde. Er sprang vom Bett auf und erblickte noch einmal den klaren Nachthimmel mit den vielen Sternen. „ Welche Herrlichkeit! Welch ein Wunder! “ rief er aus. Der Astronom erklärt ihm, er könne beim besten Willen kein Wunder sehen. „ Wie könnten sie auch, “ erklärt ihm Wilhelm „ da ich es mitgebracht habe, da ich es in mir trage, da ich nicht weiß, wie mir geschieht. “ Natürlich hat er das Wunder die ganze Zeit in sich getragen, und die offene Frage bleibt nur, weshalb es gerade hier und jetzt hervor gebrochen und zu Tage getreten ist. Wie kommt es, daß er gerade jetzt zum ersten Mal das Himmels- 12 Erich Trunz in: Goethes Werke, Bd. VIII, op. cit., S. 581 179 Goethe gewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit erblickt hat? Die einzig mögliche, richtige Antwort darauf besteht in einem Wort: Makarie. Im Zen-Buddhismus gibt es ein parabelartiges „ Koan “ , in dem der Meister nur mit dem Finger auf den Mond zeigt und der Schüler ist erleuchtet. Das ist nicht zuletzt so schwer zu verstehen, weil die ganze notwendige Vorgeschichte dazu unterschlagen wird. Es wird nicht berichtet, wie viele Anwärter als Schüler angenommen werden wollten, vom Meister jedoch von vornherein abgelehnt worden sind. Auch wird nicht berichtet, welche lange und harte Vorbereitungszeit der Schüler durch zu machen gehabt hat, ehe der richtige Augenblick eintrat, in dem der Meister nur mehr stumm mit dem Finger auf den Mond zu zeigen hatte und der geistige Blitz dadurch ausgelöst wurde. Wobei es tiefe Weisheit ist, alle hier genannten Details im Koan selbst zu verschweigen. Es würde dadurch völlig entwertet. Der nächste große Höhepunkt in der inneren Entwicklung des Wanderers Wilhelm ist die „ Pädagogische Provinz “ , der das 1., 2. und 8. Kapitel des zweiten Buches der Wanderjahre gewidmet ist. Wilhelm wollte seinen Sohn Felix für einige Zeit in der Pädagogischen Provinz unterbringen, von welcher er sehr viel Gutes gehört hatte. Was er nicht erwartet hatte, waren die Weisheitserfahrungen, die dort für ihn bereit standen. Ausgestattet mit einem Empfehlungsbrief, der „ An den Oberen oder die Dreie “ gerichtet war, ritt er gemeinsam mit Felix los. Nachdem sie jenseits der Grenze der Provinz waren, sahen sie wiederholt Knaben und Jünglinge, die bei Erntearbeiten beschäftigt waren. Eine Art Aufseher, der gerade bei einer Gruppe von Erntearbeitern gewesen war, wollte eben sein Pferd besteigen, als sie anhielten, um ihn nach dem Weg zu fragen. Er erbot sich, sie hin zu führen und ritt ihnen voran. Als sie weiter ritten, ließen die Kinder jeweils ihre Arbeit stehen und wendeten sich mit verschiedenen Gebärden dem Aufseher zu. Sodann stand Wilhelm vor dem Tor eines mit hohen Mauern umgebenen Waldtales. Auf ein gewisses Zeichen öffnete sich eine kleine Pforte, ein Pförtner ließ ihn ein und alsbald waren „ die Dreie “ versammelt. Da er seinen Sohn der Erziehung der Provinz anvertrauen wollte, waren sie bereit, seine Fragen über die Provinz zu beantworten. Seine Frage nach den Gebärden der Kinder, mit denen sie den Aufseher gegrüßt hatten, wurde zuerst mit einer Gegenfrage beantwortet: „ Eines bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten hin ein Mensch ist. Was ist das? “ Wilhelm wußte es nicht und erhielt die Antwort: „ Ehrfrucht. “ Dreierlei Gebärden hatte er gesehen und dreierlei Ehrfurcht wurden „ überliefert. “ Sie bildeten zusammen „ ein Ganzes “ , sodaß die Ehrfurcht erst dann ihre höchste Kraft und Wirkung erhielt. Die Gebärden entsprechen den Handzeichen der Freimaurerei und die drei Ehrfurchten entsprechen ihren drei Graden. Die erste Ehrfurcht ist die vor dem, 180 Goethe was über uns ist (Gott), die zweite Ehrfurcht ist die, vor dem was unter uns ist (Erde), und die dritte Ehrfurcht vor dem, was neben uns ist (Mensch). Es folgen etliche Einzelheiten von denen so manche Parallelen zur geistigen Tradition der Freimaurerei darstellen, mit einigen Goetheschen Erklärungen und Zusätzen, sodaß man die Pädagogische Provinz fast eine Übertragung freimaurerischer Ideen durch anders benannte Symbole nennen könnte. Wilhelm meinte, daß es mit der Menge so im Argen liegt, weil sie sich im Element des Mißtrauens und des Mißwollens behagt. Wer sich diesem überliefert, verhält sich bald gegen Gott gleichgültig. Die Drei sagten: „ Keine Religion, die sich auf Furcht gründet, wird unter uns geachtet. “ Das ging auf das „ Fegefeuer “ . Die Idee der Ehrfurcht ist so sehr mit der Religion verbunden, daß es zu jeder der Ehrfurchten auch drei Religionen gibt. Die erste Ehrfurcht vor dem, was über uns ist, nennen wir die „ ethische “ , die zweite Ehrfurcht vor dem, was uns gleich ist, nennen wir die philosophische, die dritte Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, nennen wir die christliche. Als Wilhelm fragt, zu welcher der drei Religionen sie sich bekennen, antworten sie: „ zu allen dreien, den sie zusammen bringen eigentlich die oberste Ehrfurcht hervor, die Ehrfurcht vor uns selbst. Der Mensch sei das Höchste, was Gott und die Natur hervor gebracht haben und gerade durch die Ehrfurcht „ kann er auf dieser Höhe verweilen, ohne durch Dünkel und Selbstheit wieder ins Gemeine gezogen zu werden “ . Man fühlt sich an die Ringparabel Lessings mit der Gleichheit der drei Religionen erinnert. „ Die Drei “ sind so überkonfessionell wie die Herrenhuter und die Mährischen Brüder der Susanne von Klettenberg und auch wie der Deismus des 18. Jahrhunderts, dem Lessing zugehörte. Als Wilhelm sagt, sie hätten der Zerstörung des Tempels in Jerusalem gedacht und der jüdischen Diaspora, aber nicht des Mannes, der vorher noch dort lehrte, dem sie aber kein Gehör geben wollten, wird er belehrt, daß dieser Mann zur Zeit seines Lehrens eine bescheidene Rolle „ für einzelne “ spielte. Was dem einzelnen innerlich begegnet, gehöre zur zweiten Religion, zur Religion der Weisen. Wilhelm wird noch in eine zweite Bildergalerie geführt, deren Bilder nicht „ Taten und Begebenheiten “ , sondern Wunder und Gleichnisse darstellen. Der Älteste der drei, der Wilhelm führt, nennt den „ göttlichen Mann “ einen wahren Philosophen und Weisen „ im höchsten Sinne “ . Dadurch sei sein Wandel für den edlen Teil der Menschheit noch belehrender und fruchtbarer als sein Tod. Damit war die Führung zu Ende, denn mehr wurde auch den Zöglingen nicht gelehrt. Wenn er später wieder käme, um Felix zu sehen, würde er in „ das Heiligtum des Schmerzes “ eingeweiht werden. Die erste Ehrfurcht, der Aufblick nach oben, ist ein Aufblick zu Gott. In Goethes Symbolsprache ist Gott Licht und Geist. Auch in der freimaurerischen Tradition spielt das Licht eine zentrale Rolle. Ja die innere Erleuchtung durch das innere Licht ist eine der zentralsten Ideen. 181 Goethe Die Bilder, die wie in Mysterienkulten gezeigt werden, können nie zu einem Dogma werden. Es gibt keine Kirche, wohl aber ein Heiligtum wie in der Freimaurerei den Tempel. Die Pädagogische Provinz schuf keine neue Religion, wie auch die Freimaurerei keine Religion ist. Trotzdem sind die Bilder der großen Religionen kein trockener, historischer Stoff, sondern lebende Symbole innerer religiöser Erfahrung, die Problem und Aufgabe jedes einzelnen für sich sind. Nach der Auffassung der Pädagogischen Provinz ist die Entwicklung der Ehrfurcht das Geschäft aller echten Religionen. Im siebenten Kapitel des Romans findet sich auch der Begriff des „ offenbaren Geheimnisses “ . Hier bei Goethe ist es ein Bild der Natur, deren wahres Wesen hinter ihren offenbaren Erscheinungen ein Geheimnis bleibt. Das freimaurerische „ offenbare Geheimnis “ bezieht sich auf den Erleuchtungsakt, der in voller Entfaltung allerdings schon zu Goethes Zeit eine Seltenheit war, der jedoch im Sinn der geistigen Tradition bis heute im Logenritual symbolisch vollzogen wird. 13 Der Abbé gebraucht einmal im siebenten Kapitel für die Gemeinschaft der Pädagogischen Provinz den Begriff „ Kette “ . Das ist genau der Begriff, der für die Gemeinschaft der Logenmitglieder verwendet wird. Nicht zuletzt ist die Dreigliederung der Ehrfurchten in der Pädagogischen Provinz identisch mit der „ heiligen Zahl “ der Freimaurerei. Im Grunde ist es auch seltsam, daß offenkundig noch niemals jemand den Familiennamen Wilhelms „ Meister “ zum Titel des dritten Grades in der Freimaurerei in Beziehung gesetzt hat. Der Roman besteht in seiner Abschlußfassung ja auch aus drei Büchern. Freilich zeigt Goethe in den Wanderjahren eine ganze Reihe von Möglichkeiten, sich dem Absoluten zu nähern, oder eine wahre „ Selbstverwirklichung “ anzustreben: Vom Wandererbund, dessen Wahrheiten am Ende des 11. Kapitel stehen bis zu Makarie und den Enthüllungen aus ihrem Archiv, die als Anhang am Schluß des Buches stehen. Die Freimaurerei war neben dem Illuminatentum auch Goethes eigene Einweihungstradition gewesen. Die Pädagogische Provinz erscheint wie eine Tarnung der geheim zu haltenden Originalbegriffe und die letzte Phase der Handlung des Romans selbst eine für Goethe charakteristische Transformierung der symbolischen Handlung des dritten Grades, des „ Meister “ -Grades, aus dem 13 Ein schwäbischer Freimaurer der Goethezeit, Johann Baptist Kerning, hat in einem seiner Bücher glaubwürdig beschrieben, daß er in seiner Loge eine solche Erleuchtungserfahrung gehabt hat. Er mag pietistischen Hintergrund mitgebracht haben. C. G. Jung hat einmal beschrieben, wie die regelmäßige Teilnahme an einem symbolischen Ritual nicht zur wirklichen Sache selbst, aber zu einem sehr vertieften, spirituellen Verstehensprozeß führen kann. C. G. Jung: Aspekte der Wiedergeburt. In: Eranos-Jahrbuch. 1940, S. 399 - 447 182 Goethe abstrakten Ritual in eine parallele lebendige Situation des Daseins. Was noch zu zeigen sein wird. Es ist wohl auch kein Zufall, daß im siebenten Kapitel, das der Pädagogischen Provinz gewidmet ist, der Abbé, der Leiter der Turmgesellschaft sich für den Begriff Weltfrömmigkeit einsetzt, zu welcher die „ Hausfrömmigkeit “ erweitert werden soll. Genauso folgte bald genug nach der Gründung des Auswandererbundes nach Amerika der Begriff des „ Weltbundes “ , ein anderes freimaurerisches Schlüsselwort. Zur genaueren Präzisierung des Begriffs „ Weltfrömmigkeit “ , sei an die „ 207. Betrachtung im Sinne der Wanderer “ im zwölften Kapitel erinnert, in der es heißt: „ Frömmigkeit kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch reinste Gemütsruhe zur höchsten Kultur zu gelangen. “ Es ist wie eine abstrakte Zusammenfassung des Logengedichts „ Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. “ Zusammenfassend seien hier drei der „ Betrachtungen der Wanderer “ als verdichtete Essenz der Wandererbewegung zitiert, die hier darum wichtig sind, weil sie die erreichte Stufe von Wilhelms Entwicklung anzeigen. In der ersten heißt es: Ein Mann kann in den Naturwissenschaften über manche Probleme nicht gehörig sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu Hilfe ruft; aber nicht jene „ Schul- und Wortweisheit “ - gemeint ist jene des Fundamentalismus - es ist viel mehr dasjenige, „ was vor, mit und nach der Physik war, ist und sein wird. “ Die zweite Betrachtung lautet: „ Wahrheitsliebe “ zeigt sich darin, daß man überall das Gute zu finden und zu schätzen weiß. Die dritte lautet: „ Das Wahre fördert. Aus dem Irrtum entwickelt sich nichts, er verwickelt uns nur. “ Das Schlußbild des zweiten Buches zeigt Wilhelms Weg ins Praktisch- Nützliche und das erste Kapitel des dritten Buches schließt sich an. Im zweiten Kapitel findet Felix im mineralogischen „ Zauberschloß “ der Felsenlandschaft ein Kästchen und Hersilie, mit welcher er verbunden ist, ahnt, daß der Schlüssel, den sie gefunden hat, dazu paßt. Das könnte eine hübsche zufallsbedingte Symbolik der Zusammengehörigkeit des Paares sein. Das Kästchen aber enthüllt mehr und mehr seinen esoterischen Charakter und im Märchen von der „ Neuen Melusine “ im sechsten Kapitel ist der esoterische Höhepunkt erreicht. Goethe hat die Volksbuchgeschichte von der Melusine bereits in seiner Kindheit kennen gelernt. Aus der hohen Liebesintensität zu Friederike heraus schrieb er seine erste Melusinen-Geschichte, in der sie bereits ein chthonischterrestrischer Erdgeist geworden war. In der „ Neuen Melusine “ der Wanderjahre gewinnt der Stoff dann größten esoterischen Tiefgang. 14 Mit der Geschichte ist die realitätsbezogene Ebene des Romans ganz verlassen und in symbolisch- 14 Bei der zusammenfassenden, gedrängte Überschau hier kann nicht einmal auf alle wichtigen Einzelheiten eingegangen werden. Sie finden sich bei Joseph Strelka, Esoterik bei Goethe, op. cit., S. 69 - 81 183 Goethe parabolischer Umschreibung ein richtiges Märchen eingeblendet. Hier ergibt es sich, daß das Kästchen im Sinne C. G. Jungs das gesamte Unbewußte enthält, wodurch die tiefe Intensität der Liebe des Helden, der den Namen „ Rotmantel “ trägt, zu Melusine in ein klares Licht gestellt wird. Nicht nur das Kästchen selbst, auch der Zauberschlüssel, der alle Türen sperrt, der sich stets von selbst füllende Geldbeutel, der Wunderbalsam, der die ärgsten Wunden heilt, vor allem aber die Symbolgestalt Melusines selbst haben hier die Funktion esoterischer Symbole erhalten. So wird die Wasserfrau Melusine hier unterweltliche Mondverkörperung. Der Zauberschlüssel ist ein Attribut der Anima als Psychopomposgestalt, welche die Mysterien des Unbewußten übermittelt. Das Kästchen erinnert an die Lade Koitai mystikai, die am vierten Tag der eleusinischen Mysterien von Frauen getragen wurde. Daß im besonderen Fall der „ Neuen Melusine “ der Rotmantel zuletzt scheitern muß, daß er die tiefe Liebe Melusines zwar erringen, aber nicht halten kann, ist durch die Umstände schicksalsunentrinnbar festgelegt. Obwohl die Frage im Märchen selbst mit keinem Wort erwähnt wird, werden einzelne Leser, deren jugendliche Sehnsucht auf solch allerhöchste Liebeserfüllung gerichtet ist, sich fragen, ob das nicht unter geänderten Umständen einem ernsteren Menschen als dem Taugenichts-Charakter des Rotmantels möglich sein sollte. Goethe hat seine Antwort darauf im ersten Aphorismus der Papiere „ Aus Makariens Archiv “ gegeben. „ Die Geheimnisse der Lebenspfade kann man nicht offenbaren; es gibt Steine des Anstoßes, „ über die ein jeder Wanderer stolpern muß. Der Poet aber deutet auf die Stelle hin. “ Im siebenten Buch taucht zwar das Kästchen noch einmal auf, doch das Kapitel ist der irdischen Liebe gewidmet. Dann folgen ganze Kapitel über den Auswandererbund, denn mit der Utopie Amerika war es Goethe sehr ernst. Es hat nicht erst seiner Erfahrungen bei der Kanonade von Valmy und des Metternich-Systems bedurft, um ihm den bejammernswerten Zustand des korrupten und faulen Europa vor Augen zu führen. Die amerikanische Verfassung wurde im selben Jahr unterzeichnet, in dem die endgültige Fassung der Wanderjahre erschienen ist. Es waren vielfach die jeweils besten, die nach Amerika ausgewandert sind. Im 19. Jahrhundert jene, die 1848 mit der Freiheit Ernst machen wollten und im 20. Jahrhundert jene, für die das Versklavungssystem des „ Dritten Reiches “ unerträglich war. Über zwei Jahrhunderte schwebte der Geist des großen Jefferson über dem nordamerikanischen Kontinent. Zuletzt kommt der Roman in jeder Hinsicht zu einem guten Ende. Das ist von der Handlung her bereits in den Tagebuchaufzeichnungen Lenardos angelegt. Im vierzehnten Kapitel des letzten Buches waren Lothario und der Abbé bereits auf See nach Amerika. Das fünfzehnte Kapitel ist eine zusammenfassende Darstellung des Wesens von Makarie. Im Schloß, aus dem Wilhelm zum Fluß aufgebrochen war, um per Schiff den Strom hinunter zu fahren, da er 184 Goethe seinen Sohn suchen wollte, taucht im 16. Buch dieser Sohn Felix zu Pferd auf und fragt nach Wilhelm. Nachdem er erfahren hat, daß dieser zum Fluß und dann diesen hinunter unterwegs war, ritt er ihm schleunigst nach. Sodann vollzieht sich im letzten, sehr kurzen und knappen 18. Kapitel als eine Art krönender Abschluß die Begebenheit, bei deren Darstellung Goethe innerliche Symbolik und äußerliche gute Tat in eins verschmolzen hat. 15 Dieses Schlußkapitel macht im Endlichen des geschilderten „ realen “ Geschehens das Symbolische des Unendlichen sichtbar. Während Wilhelm auf seinem Kahn flußabwärts fährt, taucht auf dem steil aufsteigenden Ufer unvermittelt ein Reiter auf. Plötzlich gibt der überhängende Rasen dem Druck der Hufe nach und Pferd wie Reiter stürzen in den Fluß. Hingerudert, der bewußtlose junge Reiter zuerst in den Kahn gezogen, dann auf eine kleine Insel im Fluß gebettet, greift der ausgebildete Wundarzt Wilhelm zu seiner Lanzette und nimmt dem Brauch der Zeit folgend, einen Aderlaß vor. Während er den Verband anlegt, springt der Bewußtlose bereits auf und ruft: „ Wenn ich leben soll, sei ’ s mit dir! “ Es ist einer jener blinden Zufälle, die keine blinden Zufälle sind. Felix wird von seinem Vater Wilhelm auf seinen Mantel gebettet und nun ist es Wilhelm, der ausruft: „ Wirst du doch immer wieder aufs neue hervorgebracht, herrliches Ebenbild Gottes. “ Dieser Aufruf enthüllt durch den „ Ebenbild “ -Begriff den esoterischen Symbolcharakter des Ganzen. Denn hier wird am Beispiel eines Bildes aus dem profanen Leben, die Erhebung vom Sohn Wilhelm Meisters durch einen wirklichen Wiedergeburtsakt in den dritten oder „ Meister “ -Grad dargestellt. Goethe war mit Gewißheit bei der Erhebung seines Sohnes August in der Weimarer Loge anwesend. Hätte er die Arbeit auch selbst geleitet, was durchaus möglich ist, dann wäre das Abbild ganz perfekt. Diese Szene macht es mehr als wahrscheinlich, daß Goethe mit dem Erhalt des „ Lehrbriefes “ von Wilhelm Meister seinen Aufnahme-Grad beschrieben hat, mit der Begegnung Makaries die Beförderung in den zweiten Grad, in dem die Gnosis besonders betont wird, und durch seine Aufklärungen in der Pädagogischen Provinz den Meistergrad. Erich Trunz hat von dieser Parallele zur Einweihung in den dritten masonischen Meistergrad nichts gewußt, aber infolge der durch seine Liebe zu Goethe besonders vertieften Kenntnis des Romans verbunden mit der Intuition des bedeutenden Dichtungs-Wissenschafters, hat er auch hier das Wesentliche gesagt: „ Dieses Schlußbild “ des letzten Kapitels, hat er gesagt „ in seiner Einfachheit . . . ist von einer Symbolkraft, deren Beziehungsreichtum den ganzen Gehalt des Romans zusammenfaßt. “ 16 15 Ausführlicher ist dieses 18. Kapitel behandelt bei Joseph Strelka: Esoterik bei Goethe, op. cit., S. 83 - 93 16 Erich Trunz in Goethes Werke, Bd. VIII., op. cit., S. 665 185 Goethe Was aber Goethes Eingebundenheit in die „ Traditionskette “ betrifft, so war er ein Eingeweihter in die geistige Tradition der Freimaurerei, wie Dante ein Eingeweihter in die Templergnosis und Shakespeare ein zumindest geistig Eingeweihter in die Rosenkreuzer-Tradition war. Alle diese Traditionen waren im Grunde Fortsetzungsformen der Traditionskette und ihrer Weisheit. Es ist nicht nur ein nachdrückliches Ja zum Leben und Dasein und zur irdischen Liebe zwischen Vater und Sohn, sondern der Doppelaspekt der Wiedergeburt, der die Größe ausmacht. Nun ist zwar die Wiedergeburt in diesem Zusammenhang lediglich eine psychische Wirklichkeit, die von seelenlosen Vollblut-Materialisten leicht bagatellsiert werden kann. Tatsächlich ist die Wiedergeburt aber nach C. G. Jung „ die Mutter aller menschlichen Tatsachen, der Kultur und der menschenmordenden Kriege “ . 17 Vor allem aber, und dies besonders im Zusammenhang mit dem 18. Kapitel, ist sie eine „ Erfahrung der Transzendenz “ und der Anschluß an das Göttliche. Goethe hat das noch dadurch vertieft, daß er nach der Wiederbelebung von Felix, da Vater und Sohn „ fest umschlungen “ stehen, sie mit Kastor und Pollux vergleicht und noch extra dazu, „ auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht “ . Bei Pindar findet sich zum ersten Mal die Version, nach welcher die Dioskuren gemeinsam je einen Tag droben auf der Erde und einen Tag in der Unterwelt des Hades verbringen. 18 Die beiden Dioskuren sind ein männliches Gegensatzpaar zu Persephone. Die Version geht auf den mythischen Bericht zurück, wonach im Kampf der Dioskuren mit einem anderen Zwillingspaar Idas und Lynkeus einer von ihnen, der sterbliche Kastor getötet wurde. Als der trauernde zweite, Polydeukes, zu seinem Vater Zeus fleht, er möge seine eigene Unsterblichkeit nehmen oder aber Kastor ins Leben zurück rufen, da wird ihm das versagt. Doch gewährt ihm Zeus, daß die beiden zusammen für immer, im ewigen Wechsel, einen Tag auf der Erde und einen Tag im Hades zubringen. Damit hat schon der Autor selbst dafür gesorgt, daß das Kapitel über die letzte diesseitige Handlung Wilhelms im Roman trotzdem ins Jenseitige verweist. Als zweiter Abschluß folgt noch eine Sammlung von Aphorismen Makaries, die jetzt schon so völlig jenseitsbezogen ist, daß man sie als eine zusätzliche Antwort aus dem Jenseits nehmen könnte. Es war ja von ihr behauptet worden, daß sich ihre Seele „ längst über die Bahn des Mars hinaus “ befunden habe, der „ Bahn Ihrer Seele des Jupiter sich nähernd. “ Ihre Seele soll dabei sein, in dem ungeheuren Raum „ dem Saturn entgegen zu streben “ . Drei der hundertzweiundachtzig Aphorismen Makariens seien hier als Beispiel zitiert: 17 C. G. Jung: Die verschiedenen Aspekte der Wiedergeburt, op. cit., S. 405 18 Vgl. Thassilo von Scheffer: Die Legende der Sterne im Umkreis der antiken Welt. Stuttgart - Berlin 1939, S. 297 186 Goethe „ Vielleicht wird man mir einwenden: Man hält die Poesie für Kunst, und doch ist sie nicht mechanisch; aber ich leugne, daß sie Kunst sei; auch ist sie keine Wissenschaft. Künste und Wissenschaften erreicht man durch Denken, Poesie nicht, denn diese ist Eingebung; sie war in der Seele empfangen, als diese sich zuerst regte. Man sollte sie weder Kunst noch Wissenschaft nennen, sondern Genius. “ „ Es gibt nur zwei wahre Religionen; die eine, die das Heilige, das in und um uns wohnt, ganz formlos, die andere, die es in der schönsten Form anerkennt. Alles, was dazwischen liegt, ist Götzendienst. “ „ Es wäre nicht der Mühe wert, siebzig Jahre alt zu werden, wenn alle Weisheit der Welt Torheit wäre vor Gott. “ Von der Gestalt her sind die Wanderjahre ein Vorläufer des großen modernen Romans des 20. Jahrhunderts, vom Gehalt her, stellen sie am Beispiel Wilhelms die Wanderung des Menschen zum Absoluten dar. Es gibt einen direkten Übergang von den Wanderjahren zur Farbenlehre, da Makarie in ihrem Archiv einen Aphorismus überliefert hat, der ebenso bündig wie klar ins Zentrum des ganzen Streits um die Farbenlehre trifft. 19 „ Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physische Apparat, den es geben kann; und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und bloß in dem was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen will, ja was sie leisten kann, dadurch beschreiben und beweisen will. “ Das ist nur eine kleine Äußerlichkeit, die verrät, daß sich die Farbenlehre harmonisch in Goethes Spätwerk einfügt. Aber sogar diese kleine Äußerlichkeit verrät mehr Geist als vieles „ Gelehrte “ , das über den „ Gegensatz “ von Newton und Goethe geschrieben worden ist. Schon im Vorwort wurde hier geschrieben, daß die Traditionskette im Grunde mit der Entwicklung der großen Renaissancebewegung zusammen hängt. Goethe war eine Spätvariante des Uomo universale der Renaissance, ein Universalgenie, wie sie später immer seltener, wenn nicht unmöglich wurden. Aber Newton selbst, der wie Shakespeare in der Westminster Abbey begraben liegt, war auch ein spätes Universalgenie, was seine beschränkten Anhänger des 19. Jahrhunderts jedoch nicht mehr wußten. Zunächst seien aber die neuzeitlichen ideologischen Aggressionen von Seiten der klassischen Physik dieses 19. Jahrhunderts, allen voran der berühmte Helmholtz, etwas entkräftet. 19 Die Herausgeberin der Farbenlehre in der Hamburger Goethe-Ausgabe von Erich Trunz, Rike Wankmüller, hat den zweiten Band, „ den zweiten polemischen Teil “ weggelassen, wobei sie einem späten Rat Goethes (und auch einem Kodizill in seinem Testament) folgte, daß man diesen Teil vergessen könne. Denn dieser entsprach nicht nur nicht Goethes positiver Natur, sondern das Wichtigste über Newton war auch bereits im ersten Band enthalten. 187 Goethe Was macht man, wenn man fairer Weise richtig oder falsch im Fall einer wissenschaftlichen Theorie klären will? Man holt die ihr zugrunde liegenden Experimente nach. Das ist genau das, was der Norweger André Bjerke getan hat. Er hat durch Jahre hindurch alle von Goethe beschriebenen Versuche wie auch die Versuche Newtons wiederholt. Er hat das sehr viel spannender beschrieben, als die Arbeit selbst es war, und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß Goethe Recht hatte. 20 Das Buch ist im Verlag der Anthroposphen Rudolf Steiners in Stuttgart erschienen und das setzt damit eine eigene Tradition fort. Denn Steiner ist der erste bedeutende Geistesvertreter und Goethekenner gewesen, der bereits im Band 116 von Kürschners Deutscher Nationalliteratur die Herausgabe der Farbenlehre besorgte. Er hat auch an der Herausgabe der 13 Bände von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in der ersten, großen, historisch-kritischen Weimarer Sophienausgabe mitgearbeitet, doch haben die Ausgabe der Farbenlehre zwei andere Mitarbeiter besorgt. Er hat noch neuerdings darauf hingewiesen, daß Licht und Finsternis bei Goethe nicht reale Wesenheiten sind, sondern bloße Prinzipien, geistige Entitäten. Damit bewegt sich Goethes Farbenlehre auf einem Gebiet, das außerhalb der Physik liegt. 21 Gerhard Ott, einer der beiden Herausgeber einer neuen Ausgabe der Farbenlehre hat das so ausgedrückt, daß Goethe, der 150 Jahre nach seinem Tod als Dichter von allen einigermaßen Ernstzunehmenden anerkannt wird, von Seiten der Naturwissenschaften trotz seiner bahnbrechenden Gedanken auf den Gebieten der Zoologie und Botanik seine Bedeutung ganz besonders für die Farbenlehre abgesprochen wird. Das wäre vom Ausgangspunkt der Naturwissenschaft her verständlich, durch die „ bis heute noch geltende Überbewertung des rein Rechnerisch-Quantitativen in der Forschungseinstellung der modernen Naturwissenschaft, also an ihrer Selbstbeschränkung auf die nur quantitativen Erfassung der qualitativen Erscheinungen “ . 22 Die vorliegende neue Gesamt-Ausgabe der Farbenlehre verfolgt einen dreifachen Zweck. Zunächst gibt sie einen Überblick über die vierzigjährige Entwicklung während Goethes Lebenszeit von ihr. Sodann ist diese Ausgabe so angelegt und mit entsprechenden Abbildungen versehen, daß sie im Sinn Goethes gelesen, Stufe um Stufe gelesen, durch eigene Experimente nachvollzogen werden kann. Drittens enthält sie erkenntnistheoretische Einleitungen und Erläuterungen von Rudolf Steiner, Begründungen, die helfen, ihr wissenschaftliche Evidenz zu verleihen. Die Entfaltung der Farbenlehre „ durch die Darstellungen Goethes auf dem Boden der experimentellen und begrifflichen 20 André Bjerke: Neue Beiträge zu Goethes Farbenlehre. Stuttgart 1963 21 Rudolf Steiner: Goethe als Denker und Forscher. In: Johann Wolfgang Goethe: Farbenlehre. Hg. von Gerhard Ott und Heinrich O. Proskauer, Stuttgart 1979, S. 39 22 Gerhard Ott: Zur Orientierung. In: Farbenlehre, op. cit, Stuttgart 1979, Bd. I, S. 9 188 Goethe Erfahrung derart zu verfolgen, daß diese dem Bewußtsein einen Einblick in das Wesen der Farbe eröffnet, ist der Sinn dieser Studienausgabe “ . 23 Es soll aber hier bei aller Knappheit weiter ausgeholt und mit Newton begonnen werden. Er hat mit seinem Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica nicht nur die Grundlage für die Großleistung der klassischen Mechanik geschaffen, sondern auch die universale Schwerkraft beschrieben und die drei Gesetze der Bewegung entwickelt, welche die naturwissenschaftliche Ansicht des Universums für zweieinhalb Jahrhunderte festgelegt hat. Das hatte für die Physik wie für die Astronomie fundamentale Bedeutung. Er hat aber auch (gleichzeitig mit Leibniz) die Differential- und Integralrechnung in der Mathematik entdeckt. Durch seinen Hinweis auf die gleiche Gesetzmäßigkeit von Keplers Entdeckung der Planeten-Umlaufzeiten mit den Gravitationsgesetzen der Erde hatte er eine neue Detail-Erkenntnis zu der alten hermetischen Lehre von der Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos erstellt. Das ist nicht so weit hergeholt, wie es klingt, denn er war auch ein Alchemist und Esoteriker. Er hat mit seinen Observations upon the Prophecies and the Apocalypse von 1733 ein sehr interessantes esoterisches Werk hinterlassen und die wenigen, die sich mit seinem großen handschriftlichen Nachlaß beschäftigt haben, berichten, daß es darin sehr viel mehr in dieser Richtung gibt. Berühmt wurde er durch seine grundlegenden naturwissenschaftlichen Werke. Aber wie es in der Naturwissenschaft schon so ist, hat sie aufgeholt und es kam zu einer Wende und Überwindung des Standpunktes, der heute in der Laienwelt zumeist mit dem vagen Begriff von der „ klassischen Physik “ des 19. Jahrhunderts bezeichnet wird. Der erste Schritt zu dieser Wende vollzog sich mit dem Michelson-Morleyschen Versuch über die Lichtgeschwindigkeit. Auch Newton hatte sich mit ihr beschäftigt und hier zeigt sich der Kontrast schon deutlich. Aber für die Farbenlehre waren der zweite und dritte Schritt danach von viel größerer Wichtigkeit. Der zweite Schritt waren die ersten Arbeiten Einsteins zur Relativitätstheorie und der dritte 1927 die Entdeckung der „ Unsicherheitsrelation “ durch Heisenberg. In der Unsicherheitsrelation hatte er bewiesen, was bereits im Aphorismus der Makarie enthalten ist, daß nämlich die Beachtung der „ künstlichen Instrumente “ allein keine endgültigen Ergebnisse liefern, sondern daß der „ Beobachter “ mit berücksichtigt werden muß. Das bedeutet natürlich nicht, daß sich alles auf einen persönlichen Subjektivismus eines Geschöpfes mit zwei Beinen und einer Nase reduzieren läßt, sondern daß man mit dem Menschen an sich, das heißt mit der platonischen Idee vom Menschen rechnen muß. An diesem Punkt läßt sich leicht mit dem Finger auf die Traditionskette zeigen. Aber der Mensch, 23 Heinrich O. Proskauer, op. cit., Bd. I., S. 13 189 Goethe auf den es Goethe ankommt und den die klassische Physik ins Exil verbannt hatte, ist wieder zurück. Es ist gewiß kein Zufall, daß sich der Physiker Heisenberg mit Goethes Farbenlehre befaßt hat und sogar sehr intensiv. Er hat für sich nicht nur herausgefunden, daß die Grundidee dieser Lehre zu einem schönen Gedicht im West-Östlichen Divan mit dem Titel „ Phänomen “ geführt hat, sondern er hat sich sogar die Mühe genommen, nachzuforschen, welches biographische Erlebnis von Goethes Naturbeobachtung zu der Einsicht geführt hat, die in diesem Gedicht ausgedrückt wird. Er hat das Ereignis in Goethes Besteigung des Brocken im Dezember 1777 gefunden. Darüber wird noch etwas zu sagen sein. Hier genügt der Hinweis, daß Heisenbergs Beschäftigung mit Goethes Farbenlehre viel zu wenig bekannt ist. War das aber vielleicht eine persönliche Marotte als Liebhaber von Goethes Dichtung? Gewiß nicht. Denn wieder ist es Heisenberg, der in seinen autobiographischen Berichten erzählt, daß in Gesprächen mit Carl Friedrich von Weizsäcker, Nils Bohr, Albert Einstein und Otto Hahn immer wieder Plato, Kant und Goethe präsent waren. Von Newton weiß er nichts zu berichten. Sie alle haben ihren Beitrag geleistet, Goethe vom Mißverständnis zu befreien, dem er durch altmodische Physiker zum Opfer gefallen war. Heisenberg selbst hat sich auch öffentlich und nachdrücklich als Festredner bei der Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar 1967 für eine gerechtere Beurteilung der Farbenlehre eingesetzt. Seine letzte Schlußfolgerung war: „ Trennt man die Wirklichkeit in verschiedene Gebiete, so löst sich der Widerspruch zwischen der Goetheschen und der Newtonschen Farbenlehre von selbst. “ Einen der oben genannten Naturwissenschafter, Carl Friedrich Weizsäcker, der Goethe nicht mit Argumenten der klassischen Physik bekämpft, sondern aufgeschlossen gegenüber steht, hat Erich Trunz gewonnen, ein Nachwort zur Farbenlehre in der Hamburger Ausgabe zu schreiben. Weizsäcker, der einbekannte, ein Schüler Newtons zu sein, schrieb, daß Goethe von der naturwissenschaftlichen Perspektive her vierzig Jahre geirrt hatte. Er hatte aber geirrt, weil er „ irren “ wollte - und damit kommt eine entscheidende Aussage: Er wollte dies, „ weil er eine entscheidende Wahrheit nur durch den Zorn zu verteidigen vermochte, dessen Ausdruck dieser Irrtum war. “ 24 Daß Goethe eine entscheidende Wahrheit verteidigte, bedeutet die Anerkennung auch seiner Perspektive. Aber Weizsäcker geht noch weiter, wenn er erklärt: „ Goethe und die Naturwissenschaft haben einen gemeinsamen Grund, der ihr Gespräch ermöglicht. Wir können ihn durch die Formel andeuten: Plato und die Sinne. Das 24 Carl Friedrich Weizsäcker: Nachwort. In: Goethes Werke, Bd. XIII, hg. von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller, München 1966, S. 537 190 Goethe Gespräch scheitert, wo beide auf diesem Grund verschiedene Gebäude errichten. Die platonische Idee wird in der Naturwissenschaft zu einem Allgemeinbegriff, bei Goethe zur Gestalt; die Teilhabe der Sinnenwelt an der Idee wird in der Naturwissenschaft zur Geltung von Gesetzen, bei Goethe zur Wirklichkeit des Symbols. “ 25 Dazu ist Plato ein wichtiges Glied in der Traditionskette. Vielleicht am bemerkenswertesten ist ein Goethe-ähnliches Gleichnis, mit dem Weizsäcker schließt. Er vergleicht das Fortschreiten der Erkenntnis auf dem Gebiet der Farben mit der Fahrt auf einem Schiff zur See, von dem aus ein wegwesendes Licht gesehen wird: „ Erst aus der Ferne erkennen wir, daß sein (Goethes) Licht nicht das eines Leuchtturms ist, der den Hafen anzeigt, sondern das eines Sterns, der uns auf jeder Reise begleiten wird. “ Das wesentliche Wort ist „ jeder “ . Denn der Hafen bedeutet einerseits festen Grund, auf der anderen Seite aber auch einen Punkt, von dem aus durch neue Einsichten immer wieder eine neue Reise angetreten werden muß und so immer weiter. Der Stern hat seine permanente Gültigkeit für jede Reise. Zudem weist er in den Makrokosmus. Das Gleichnis stimmt mit überraschender Genauigkeit. Der modernen Naturwissenschaft geht es um Analyse und praktische Anwendung. Aber so „ konkret “ Goethe in seiner Farbenlehre vorgeht, so zielt er doch auch hier ins Absolute. Nachdem sich mit Einstein der Durchbruch zur großen Wende vollzogen hatte, begann das Interesse der Naturwissenschaft an Goethe und Goethes Farbenlehre. Der frühere Direktor des Max-Planck-Instituts in Göttingen, Manfred Eigen, würdigte Goethes forschende Vermittlung von Objekt und Subjekt nicht nur als historische Leistung, sondern auch als wesentliches, zukunftsweisendes Paradigma wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Kultur. Es sei das einzige Paradigma eines zukunftsfähigen Fortschritts in der Geschichte des Lebens. Manfred Eigen erhielt zu einem Dutzend der höchsten naturwissenschaftlichen Auszeichnungen und Ehrungen auch die goldene Goethe- Medaille. Die größten Naturwissenschafter der Welt haben plötzlich Interesse an Goethes Farbenlehre entwickelt: der Mathematiker und Logiker Kurt Gödel und der Pionier der Chaos-Theorie Mitchell Feigenbaum. Das Wunderkind Gödel studierte vierzehnjährig Goethes Farbenlehre. Für Gödel wie Feigenbaum war die Feindseligkeit des berühmten deutschen Physikers Hermann von Helmholtz gegen die Farbenlehre ein fossiles Relikt. Der Diplomat und Kulturhistoriker Manfred Osten mit vier Ehrendoktoraten und hohen wissenschaftlichen Ehrungen hat besonders die Seite des Wahrnehmungsvermögens in der Farbenlehre als bleibendes Verdienst Goethes herausgestellt. Er hat daran erinnert, daß Goethe auf Grund seines besonders 25 Weizsäcker, op. cit., S. 538 191 Goethe hoch entwickelten sinnlichen Wahrnehmungsvermögens auf dem Gebiet der Farbenlehre Einsichten gewonnen hat, die einen wesentlichen Fortschritt bedeuten. Vor allem was die physiologischen Farben zu den Nachbildern auf der Netzhaut betrifft und damit die Farben-Psychologie, Farbenblindheit und Farben-Ästhetik, hat er Wesentliches aufgezeigt. Nach Osten war es auch dieses Wahrnehmungsvermögen, das die mathematisch-naturwissenschaftliche Denkweise eines Heisenberg sinnlich-komplementär beeinflußt hat. Für den Generalsekretär der Alexander-von-Humboldt- Stiftung Osten liegt es auch besonders nahe, daß ohne Goethes Farbenlehre schwerlich Humboldts Ausspruch zustande gekommen wäre: „ Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derjenigen, die nie die Welt angeschaut haben. “ Einer der Naturwissenschafter, die nach dem Zweiten Weltkrieg besonders enge Beziehungen zu Goethe knüpften und der auch in manchen Esoterikerkreisen besonders bekannt gewesen ist, war der Basler Biologe, Zoologe, Anthropologie und Naturphilosoph Adolf Portmann. Er war erfüllt vom Streben Goethes nach Ganzheit, er unterschied zwei Wege der Erforschung des Lebendigen, einen wissenschaftlichen Weg und einen der Innerlichkeit. Die Gleichberechtigung der beiden Perspektiven Goethes und Newtons war kein Problem für ihn. Aber er ging noch weiter. Er sprach sogar von „ alchemischem Denken “ und fand, daß der zweite Weg heute . . . wieder so dringend und nötig erscheint wie je zuvor. Er wandte sich dem Mythos und der Psychologie C. G. Jungs zu. Für die westliche Geistesgeschichte erlangte er dadurch Bedeutung, daß er nach Olga Fröbes Tod Präsident der Eranos-Stiftung wurde. 26 Um aber noch einmal zu diesem bei Goethe besonders entwickelten Wahrnehmungsvermögen zurück zu kehren: Dadurch hatte seine Farbenlehre auch eine weitreichende Wirkung auf große Maler und zwar nicht nur auf romantische wie Philipp Otto Runge, William Turner und die Präraphaeliten. Die französischen Impressionisten waren an Problemen der Farbenlehre interessiert, was zur Folge hatte, daß sie im Unterschied zu den Malern des „ Realismus “ , welche die Schatten oft schwarz malten, die Schatten farbig und nur dunkler malten. Aber sogar ungegenständliche, moderne Maler wie Paul Klee und Wassily Kandinsky waren an Goethes Farbenlehre interessiert. Das nächste große Alterswerk Goethes, die erste Fassung des lyrischen Zyklus West-Östlicher Divan erschien neun Jahre nach dem ersten Band der Farbenlehre 1819, und wurde 1827 erweitert. 27 26 Vgl. Hans Thomas Hakl: Der verborgene Geist von Eranos. Eine alternative Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Bretten 2001, S. 122 f. und 316 27 Hier zitiert nach der Hamburger Ausgabe von Goethes Werken, Bd. III, Zürich und Freiburg 1959, S. 7 - 65. Zum ganzen Zyklus vgl. Joseph Strelka: Esoterik bei Goethe, op. cit., S. 7 - 65. 192 Goethe Schon im Juni 1814 hatte Goethe den Divan des Hafis in der Übersetzung von Joseph von Hammer-Purgstall kennen gelernt, der für ihn ein tiefgreifendes geistiges Erlebnis bedeutete. Der Osten war ihm längst durch Herder bekannt geworden, besonders durch dessen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, nach denen das „ Mittelgeschöpf “ Mensch zur Humanität bestimmt ist, die in der Religion ihre höchste Form findet. Der schon vor dem Erscheinen von Herders Buch gehegte Plan ein Mahomet-Drama zu schreiben, wurde nun wieder weggelegt. Nun lernte er neben der römischen und griechischen Geistigkeit auch die jüdische, die ihn schon als Kind bewegt hatte, näher kennen, aber auch die arabische und die alte persische. Die Lebensform der jüdischen Patriarchen fand er ursprünglich und naturbezogen wie auch diejenige der Morgenländer und der Griechen. Sie paßte vielfach mit seiner von ihm selbst entwickelten mystiknahen Religiosität zusammen. Nicht zuletzt aber war er von der Weltaufgeschlossenheit des Hafis im besonderen und vom Sufismus im allgemeinen tief begeistert, die sich harmonisch seinen eigenen Anschauungen einfügte, so sehr, daß er das Gefühl hatte, in einer fernen Zeit und Kultur in Hafis einen Dichter gefunden zu haben, der ganz - wie er selbst - zugleich sinnlich und mystisch war, und bei dem warme Lebensfreude dazu noch eine mystische Vertiefung gefunden hatte. Es war die Begeisterung für den ihm so gleichgesinnten Hafis gewesen, die den ganzen Zyklus veranlaßt hatte. Dieser Geistigkeit und damit der geistigen Geschlossenheit seines dichterischen Alterswerks entsprach auch seine Farbenlehre. Ein besonders deutliches Beispiel dafür stellt das kleine Gedicht „ Phänomen “ dar, das zehnte Gedicht gleich im ersten „ Buch des Sängers “ im Divan, das sich auf die Grundidee der Farbenlehre bezog. Der „ Sänger “ war ja Hafis, der den ganzen Zyklus angeregt hatte, die Grundidee der Farbenlehre paßte ebenso dazu und sogar auch zur Liebe zu Marianne von Willemer, um die es vor allem geht. Wenn zu der Regenwand Phöbis sich gattet, Gleich steht ein Bogenrand, Farbig beschattet. Im Nebel gleichen Kreis Seh ich gezogen, Zwar ist der Bogen weiß, Doch Himmelsbogen. So sollst du, muntrer Greis, Dich nicht betrüben, Sind gleich die Haare weiß, Doch wirst du lieben. 193 Goethe In der ersten Strophe findet sich die Beschreibung des Naturphänomens, das er beim Aufstieg auf den Brocken beobachtet hatte, wie sich durch das Zusammentreffen von dunkler Regenwand und hellem Sonnenlicht, dem Zusammentreffen des Finsteren mit dem Licht die Spektralfarben ergeben. Mit seinem geistigen Auge erblickt er im Gedicht im Nebel den wirklichen, „ weißen “ Himmelsbogen, aus dem sich die Spektralfarben entfaltet haben. Die Farbenlehre dient allerdings nur als eine Metapher für seine Liebe zu Marianne, um die es hier ging. Trotzdem hätte er das Gedicht niemals eingefügt, wenn sich diese Metapher der Farbenlehre nicht nur mit seiner Liebe zu Marianne, sondern auch mit seiner Begeisterung für die Sufi-Gedichte von Hafis vollends gedeckt hätte. Dies taten sie aber, weil der grundlegende Unterschied zwischen der Optik Newtons und der Optik Goethes es war, daß bei Newton das Licht ein zusammengesetztes „ Phänomen “ war, bei Goethe aber eine Einheit: der weiße Kreis des Gedichts. Für Newton besteht das weiße Licht aus Strahlen der Spektralfarben, die aber selber nicht farbig sind, sondern weiß. Newton geht induktiv vor, der Platoniker Goethe deduktiv. Bei ihm mit seinem Streben nach Einheit und Ganzheit stellt auch das Licht eine Einheit dar. Demnach sind für ihn auch die Farben nur aus einer Mischung aus dunkel und licht, so wie die dunkle Regenwand auf das grelle Licht des Phöbus stößt und dadurch die Farben des Regenbogens erzeugt. Und auch so, wie die französischen Maler des Impressionismus erst durch ihre Farbstudien entdeckten, daß die Schatten, die früher oft schwarz gemalt worden waren, nur eine dunklere Variationsform der grellen Farben darstellen. Die Idee des Einen war Goethe nicht weniger wichtig bei dem Hauptthema westlicher und östlicher Religiosität im seinem Divan als bei der Farbenlehre: Jesus fühlte rein und dachte Nur den Einen Gott im Stillen; Wer ihn selbst zum Gotte machte Kränkte seinen heil ’ gen Willen. Und so muß das Rechte scheinen Was auch Mahomet gelungen; Nur durch den Begriff des Einen Hat er alle Welt bezwungen. Die Gleichheit und Ebenbürtigkeit der Religiosität von West und Ost, Christentum und Islam ist zwar nicht im Fundamentalismus des Katholizismus mit seiner Erfindung des Paulus von Christus als Gott gegeben, wohl aber im Urchristentum, in dem Jesus „ rein “ fühlte und dachte und natürlich auch in den mystischen Traditionen judäo-christlicher Mystik und gleicher Weise der Mystik des Sufismus und natürlich auch in den westlichen Gedichten Goethes und den östlichen des Hafis. 194 Goethe Das wird noch deutlicher in dem Gedicht „ Segenspfänder “ , das rein gnostisch ist. Dort heißt es: Doch Abraxas bring ich selten! Hier soll meist das Fratzenhafte, Das ein düstrer Wahnsinn schaffte, Für das Allerhöchste gelten. Sag ’ ich euch absurde Dinge, Denkt, daß ich Abraxas bringe. Ein Siegelring ist schwer zu zeichnen, Den höchsten Sinn im engsten Raum; Doch weißt du hier ein echtes anzueignen, Gegraben steht das Wort, du denkst es kaum. Abraxas war ein gnostischer Gott von fratzenhaftem Aussehen mit Hahnenkopf, menschlichem Oberkörper und Armen sowie Schlangenbeinen mit einer Geißel in der Hand. Der Gnostiker Basileides hat ihn das höchste Urwesen genannt. 28 Goethe sagte seinen Lesern absurde Dinge, wenn er ihnen Abraxas und dessen Gnosis brachte und das hat er zwar selten, aber doch getan. Daß Jesus selbst anders dachte, als jener, der ihn selbst zu einem Gott machte, war für die Allgemeinheit absurd und es war gnostisch. Ein Gedicht wie „ Offenbar Geheimnis “ mußte für den Normalleser auf den ersten Blick absurd sein. Wie tief hatte man in die Dinge eingedrungen zu sein, um zu verstehen, daß es tatsächlich zweierlei Arten von Mystik gab. Die letzte kurze Strophe des Gedichts „ Segenpfänder “ mußte selbst schon überaus absurd wirken. Denn wer kannte schon die „ absurde “ Tatsache, daß in einen der Siegelringe des Großmeisters des Tempelherren-Ordens Abraxas eingraviert war? Schon zwei Gedichte später gesteht der Dichter von sich selber ein: Mich verwirren will das Irren Doch du weißt, mich zu entwirren. Die einzige Hilfe ist die direkte Nähe zu Gott selbst. Goethe selbst war auch ein Eingeweihter in den Illuminatenorden gewesen, dessen höchster Grad ein Templer-Grad war. Die Sprache der Gnosis war vor allem westlich-griechisch, die Inhalte zumeist östlich, weshalb im Grunde auch die Gnosis west-östlich war. Seine Nähe zu Hafis verstand Goethe geradezu als eine persönlich-schicksalhafte einer überraschenden, besonders engen geistigen Zusammengehörigkeit. Die UNESCO hat diese Geistesverwandtschaft durch ein Denkmal in Weimar 28 Goethe kannte wohl auch den sechsten Band der Fundgruben des Orients von Hammer- Purgstall. Ihm verdankte er die Kenntnis des Divan von Hafis. Wahrscheinlich hatte er auch im Band VI des Werks, S. 1 - 120 und 445 - 499 die Kommentare Hammers über die Templer und deren geistige Abkunft von der Gnosis gelesen, in denen Hammer die Gnosis im Gegensatz zu Goethe streng verurteilte. 195 Goethe geehrt. Die beiden Dichterfürsten sitzen auf zwei steinernen Thronen einander gegenüber und an Goethes Thron sind zwei einzelne Gedichtstrophen von ihm angebracht. Die erste davon lautet: Wer sich selbst und andre kennt Wird auch hier erkennen, Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen. Das förmliche Entzücken Goethes über diese geistige Begegnung kommt besonders deutlich in den Versen heraus: Und mag die ganze Welt versinken, Hafis, mit dir, mit dir allein Will ich wetteifern! Lust und Pein Sei uns, den Zwillingen gemein! Wie du zu lieben und zu trinken, Das soll mein Stolz, mein Leben sein. Der volle Namen von Hafis war Chadsche Schams al-Din Mohammed Hafe ’ s Schirazi. Das bedeutet, daß Hafis eigentlich nur sein Beiname war. Allerdings war es ein sehr ehrenvoller Beiname, denn er besagt, daß Hafis schon als Kind von acht Jahren den gesamten Koran auswendig kannte. Er selbst hielt diesen Beinamen für so wichtig, daß er in seinen Gedichten ausschließlich diesen Beinamen benützte. Wie aber paßt solche Koran-Gelehrsamkeit mit leidenschaftlichem Wein-Trinken zusammen, könnte man fragen. Erstens war Hafis ein Mystiker und kein islamischer Fundamentalist, der sich auf das innerste Wesen des Religiösen konzentrierte und dem viele exoterische Gebote nichts bedeuteten. Aber gerade der Widerspruch zu Mohameds Verbot des Weintrinkens hätte nach seinem Willen zu denken geben sollen. Denn zweitens und das ist noch wichtiger, ist eine Wendung wie „ trunken von Wein “ in einem Hafis-Gedicht fast immer ein Topos, der nur gleichnishaft zu verstehen ist. Er bezieht sich nicht wörtlich auf die Betrunkenheit durch Wein, sondern darauf, trunken von Gottesliebe zu sein. Am schwersten zu verstehen ist es für den modernen westlichen Menschen zu begreifen, daß es mitunter auch gleichzeitig beides in einem bezeichnet: die Betrunkenheit und die Trunkenheit. Daß Goethe es richtig verstand, hat er in einem seiner schönsten Sufi-Gedichte „ Offenbar Geheimnis “ bewiesen: Sie haben dich, heiliger Hafis, Die mystische Zunge genannt, und haben, die Wortgelehrten, Den Wert des Worts nicht erkannt. Mystisch heißest du ihnen, Weil sie Närrisches bei dir denken 196 Goethe Und ihren unlautern Wein In deinem Namen verschenken. Du aber bis mystisch rein, Weil sie dich nicht verstehn, Der du, ohne fromm zu sein, selig bist! Das wollen sie dir nicht zugestehn. Mit den schwachsinnigen „ Wortgelehrten “ der ersten Strophe sind natürlich die fundamentalistischen Imame, Muftis und Ulemas gemeint, was auch Erich Trunz in seiner Interpretation sehr klar gemacht hat. 29 Die islamischen Fundamentalisten haben ihre eigenen Mystiker nicht weniger gehaßt als die katholischen Fundamentalisten die ihren und ihre Gnostiker. Goethe hat dies in seinem Divan in einem knappen Vierzeiler schön zusammengefaßt: Gestehts! Die Dichter des Orients Sind größer als die des Occidents. Worin wir sie aber völlig erreichen, Das ist der Haß auf unsres Gleichen Einer der größten islamischen Mystiker ist von seinen eigenen, exoterischen Glaubensgenossen öffentlich gefoltert und hingerichtet worden. Auch der engstirnige Haß der eigenen Fundamentalisten auf Hafis hat mitunter groteske Ausmaße angenommen. Im 16. Jahrhundert noch, also nicht weniger als zwei Jahrhunderte nach seinem Tod, wandte sich eine Gruppe von Mullahs an einen hohen Richter mit dem Antrag, er möge ein Gutachten über Hafis erstellen. Sie hofften, daß auf Grund dieses Gutachtens Hafis posthum noch der Gotteslästerung angeklagt und verurteilt werden könnte. Der Richter, sein Name war Ebesund, urteilte, daß die Gedichte von Hafis viele ausgemachte und unumstößliche Wahrheiten enthielten und daß sich nur hier und da Kleinigkeiten fänden, die man absondern müsse, um sie von den anderen Versen zu unterscheiden. Goethe, der das alles durch Hammer-Purgstall wußte, hat gleich mit drei Gedichten darauf reagiert. Schon im Ersten Buch ist das Abschlußgedicht einer der berühmtesten Höhepunkte des ganzen Zyklus, das Gedicht „ Selige Sehnsucht “ , welches die zentrale Symbolik des Sufismus verdeutlicht: Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend ’ ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. In der Finsternis der Nächte, in denen die körperliche Kopulation stattfindet, reißt dich aus der Beschränkung der Nachtfinsternis schon das Licht einer stillen 29 Erich Trunz (Hg.): Studien zu Goethes Alterswerken. Frankfurt am Main 1971, S. 250 197 Goethe Kerze zu „ höherer Begattung “ , zu einer „ chymischen “ , einer spirituellen Hochzeit auf. Dadurch fliegst du wie ein Schmetterling in weite Ferne, bis du begierig nach Licht auch schon verbrannt bist. Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. Es ist ein Wiedergeburtsgleichnis, das auch im Sufismus wie in der Mystik der Welt im Mittelpunkt steht. Wie oft in seinem Divan bringt Goethe auch hier gnostische Elemente herein. Der Schmetterling ist in den meisten geistigen Traditionen ein Symbol der Wiedergeburt, jedoch so, daß die häßliche Raupe stirbt, um als Schmetterling wieder geboren zu werden. Nur bei den Gnostikern ist er versinnbildlicht als Symbol des körperlichen Lebens, das ersterben muß, um eine Wiedergeburt durchmachen zu können. Bei den Gnostikern wird der Todesengel als ein geflügelter Fuß dargestellt, der einen Schmetterling zertritt. Daß er bei Goethe nicht zertreten wird, sondern in der Flamme umkommt, hängt mit der Notwendigkeit zusammen, ein Lichtsymbol für die Erleuchtung zu schaffen. Die Begegnung mit Hafis hatte in Goethes Schaffen einen neuen lyrischen Höhepunkt hervorgerufen. Hafis war sein Führer in das Paradies der Sufis geworden. Als Goethe bereits in solch schöpferischer Hochstimmung in Frankfurt die oberösterreichische Schauspielerin und Tänzerin Marianne Willemer durch ihren Gefährten, den Bankier und Möchte-Gern-Dramatiker Johann Jakob Willemer kennen lernte, wurde er zu einer Neigung für sie erfaßt. Er sah die beiden einige Male in Frankfurt und betrachtete mit ihnen am 18. Oktober 1814 von ihrem Sitz in den Weinbergen aus die nächtlichen Freudenfeuer zur Erinnerung an die Völkerschlacht von Leipzig. An diesem Abend muß ein wirklicher Funke der Liebe übergesprungen sein. Im Mai 1815 entstehen zwei der ersten Gedichte des „ Buches Suleika “ . „ Daß Suleika von Jussuf entzückt war “ und „ Da du nun Suleika heißest “ . Er nennt Marianne Suleika und sich selbst Hatem. Damit waren die beiden Geheimnamen etabliert. Als Hofrat Willemer Goethe einlud, einige Zeit mit ihnen auf der Gerbermühle zu verbringen, da nahm Goethe die Einladung an und blieb bei ihnen vom 12. August bis zum 18. September. Er hatte ein Exemplar vom Divan des Hafis auch für Marianne mitgebracht. Damit hatte ihm der Divan des Hafis nicht nur den Zugang zu einem mystisch-spirituellen Paradies eröffnet, sondern wurde Marianne auch zur Führerin in ein diesseitiges Liebesparadies. Da aber Gottesliebe das Hauptanliegen der Sufis darstellte und Goethe immer allem eine plastisch-konkrete Basis geben wollte, fielen beim Namen der Liebe die irdische Liebe zu Marianne und die himmlische Liebe der Sufis in eins zusammen. Beide blättern im Divan des Hafis und schreiben sich Chiffre-Briefe, welche nur aus 198 Goethe Zahlen bestehen, die sich auf diesen Divan beziehen. Marianne kann das noch feinfühliger als Goethe. Im September gibt ihr Goethe dann ein Gedicht: Nicht Gelegenheit macht Diebe Sie selbst ist der größte Dieb; Denn sie stahl den Rest der Liebe, Der mir noch im Herzen blieb. An einem der nächsten Tage reichte auch sie ihm ein Gedicht, dessen erste beide Strophen lauten: Hochbeglückt von deiner Liebe Schelt ich nicht Gelegenheit; Ward sie auch an dir zum Diebe, Wie mich solcher Raub erfreut. Und wozu denn auch berauben? Gib dich mir in freier Wahl; Gar zu gerne möchte ich glauben Ja, ich bin ’ s, die dich bestahl. Sie war ihm nicht nur in seine sufische Welt gefolgt, sie hat ihm wohl noch mehr gegeben als er ihr. Denn die dritte Strophe klingt sehr ernst: Was so willig du gegeben, Bringt dir herrlichen Gewinn, Meine Ruh ’ , mein reiches Leben, Geb ich freudig, nimm es hin. Noch zwei weitere Divan-Gedichte, ganz im Stil des Hafis, stammen mit Sicherheit von ihr, die Lieder an den Ostwind und an den Westwind. Nachdem er ihr geschrieben hatte: Eh ’ es Allah nicht gefällt, Uns aufs Neue zu vereinen, Gibt mir Sonne, Mond und Welt Nur Gelegenheit zum Weinen. Ihr Gedicht an den Ostwind schließt mit der Strophe: Ach, die wahre Herzenskunde, Liebeshauch, erfrischtes Leben Wird mir nur aus seinem Munde, Kann mir nur sein Atem geben. Auf ihr nächstes Gedicht an den Westwind folgte von Goethe das berühmte „ Wiederfinden “ : Ist es möglich! Stern der Sterne, Drück ich wieder dich ans Herz! 199 Goethe Ach, was ist die Nacht der Ferne Für ein Abgrund, für ein Schmerz. Der Zyklus des West-Östlichen Divan ist ein Kosmos für sich, ganzheitlich und ineinander verzahnt. Nicht nur Esoterik ist da, wenn sie auch das Wichtigste sein mag, da Goethe die Begegnung mit dem Sufismus geistig sehr viel bedeutete. Aber ein gleichwertiger Kontrapunkt war da, durch den Übermut des Weltkindes und das Liebesparadies, das ihm Marianne beschert und das ihm neue Verjüngung und Lebensfreude gebracht hatte. Wie großartig fügte es sich zudem den Gedichten von Hafis ein mit seiner Trinkfreude und seiner doppelsinnigen Liebesseligkeit. Der Übermut der Neubelebung des Dichters zeigt sich vom Gedicht „ Erschaffen und Beleben “ an, in dem Elohim „ Hans Adam “ durch die Nase den Geist einblasen, bis er niest über „ Das Leben ist ein Gänsespiel “ bis zum letzten Buch des Paradieses, wo im Gedicht „ Anklang “ der Dichter sich den Scherz der Verse leistet: „ Um einem Deutschen zu gefallen/ Spricht eine Huri in Knittelversen. “ Die ernste Wahrheit dahinter ist freilich die erstaunliche Fähigkeit Mariannes, Goethes gesamten Stil so genau zu treffen. Ebenfalls im letzten Buch trifft im Gedicht „ Einlaß “ zunächst „ der Dichter “ - schwer zu erraten, wer das wohl sein kann - eine Huri, eine der in der Glaubenswelt des Islam mit unvergänglichen Reizen ausgestattete himmlische Jungfrauen, die den Seligen das Jenseits-Dasein versüßt. Der Dichter sagt ihr noch zum Überfluß, daß sie im Leben Suleika geheißen hat. Einen tieferen Sinn hat Goethe durch die ganze Situation mit dem Gedicht verbunden, denn die Huri hält Wache am Tor des Paradieses und verschafft dem Dichter Einlaß, wie in der irdischen Welt, obwohl er ihr übrigens zuerst „ verdächtig “ vorkommt. Das Ganze erinnert an Fausts Wiedersehen mit Gretchen im Himmel. Wie ja überhaupt das Wort von Goethe selbst über den Faust II es gehe hier um sehr ernst Scherze auch für den ganzen West-Östlichen Divan gilt. Dieses „ heitere “ Gedicht aus dem letzten Buch weist nicht zufällig ins Jenseits. Denn die ganze Liebe zu Marianne findet wie der ganze Zyklus dieses dritten Spätwerks in einem besonders tiefen esoterischen Rahmen statt, der bereits in der ersten Strophe, des ersten Gedichts, „ Hegire “ des ersten Buches gesetzt wird. Hier heißt es, daß Nord und West und Süd „ zersplittern “ , ein treffender und knapper dichterischer Ausdruck für das, was Broch den „ Wertzerfall “ genannt hat, ist, daß alle, der Dichter selbst wie der Leser, zumindest geistig in den „ reinen “ noch immer „ ganzen “ heilen Osten flüchten sollen, für den in einem späteren Gedicht Mahomet mit seinem einzigen Gott steht. Es geht um die Rückkehr hier nicht in das Urchristentum, sondern in die frühe Zeit der „ Patriarchenluft “ . Schon das Kind Goethe haben besonders die alten Patriarchen des Judentums fasziniert, hier wird als islamischer Erzpatriarch im letzten Vers 200 Goethe „ Chiser “ beschworen. Denn - und das stimmt religionsgeschichtlich sehr genau mit der Wirklichkeit überein - auch die islamische Mystik des Hafis ist im Grunde eine modernere Sublimierung der mythischen Zeit der Patriarchen. Wer ist nun Goethes mythischer islamischer Erzpatriarch Chiser, der den gesamten Rahmen absteckt, innerhalb dessen sich auch das ganze Leben des gefeierten Hafis abspielt? Er ist bekannter unter dem Namen Chadir oder auch Chadhir und erscheint in der 18. Sure des Koran, die den Titel „ Die Höhle “ hat als Bezeichnung eines Ortes des Geheimnisses der Wiedergeburt, die in etlichen Variationsformen und Abstufungen von der Mystik des Hafis bis zur Erneuerung und Verjüngung des Autors Goethe durch Marianne die Hauptrolle spielt. Die wichtigsten esoterischen Aufschlüsselungen von Chadir sind vor allem dem großen französischen Islamisten Louis Massignon und C. G. Jung selbst zu verdanken, beide aus dem Eranos-Kreis. Chadir ist ein Paraklet, und als „ Bruder Chadir eine Art heiliger Geist in Menschengestalt und Berater. Sogar Moses anerkennt ihn als eine Art höheres Bewußtsein “ , von dem er sich Belehrung erwartet. „ Al Chadir stellt nicht nur die höhere Weisheit dar, sondern auch ein dieser entsprechendes Handeln, welches jenseits der menschlichen Vernunft steht. “ 30 Goethe hat gewußt, weshalb er ihn als patriarchalischen Schutzpatron über seinen ganzen Zyklus gestellt hat. Das Universalgenie Goethe erwies sich auch hier als ungewöhnlich kenntnisreich. Er kannte nicht nur die hohe Bedeutung Chadirs, sondern er unterschied auch zwischen der wirklichen Mystik des Hafis und der Schein-Mystik (Musil hätte gesagt „ Schleudermystik “ ) des Dschami. Von Gott werden im Koran neunundneunzig Namen genannt. Doch hieß es, es gäbe einen weiteren geheimen Namen, den nur jene kannten, die volle Gotteserkenntnis erlangt hatten, Chiser oder Chadir. Er soll schon in der vorislamischen Zeit der Heidenkönige auf Erden gewandelt sein, ein Vertrauter des Verborgenen. Er war unsterblich, weil er aus der Quelle des ewigen Lebens getrunken hatte, deren Bewacher er war. Der Forschungsreisende Ibn Bahutta aus dem 14. Jahrhundert hat in seinem Reisebericht Der geheime Name Gottes, in dem er große Teile der islamischen Welt sah, auch eine Suche nach diesem Hüter der Lebensquelle beschrieben. Auf seiner Reise, die von Marokko bis China und von Zentralasien bis in das subsaharische Timbuktu führte, will er ihn in mehreren Inkarnationen gesehen haben. Es gibt auch eine Chiser-/ Chadir- Legende rings um Hafis. Nachdem Hafis die berühmten symbolischen vierzig Tage in Askese gelebt hatte, sei Chadir mit einem gefüllten Becher zu ihm gekommen und hätte ihm auch vom Unsterblichkeitstrank zu trinken gegeben. 30 C. G. Jung: Die verschiedenen Aspekte der Wiedergeburt. In: Eranos-Jahrbuch. 1940, S. 138. Jung benötigt für seine Darstellung Chadirs neun Seiten (S. 430 - 439) und für ihn ist er zugleich das tiefste seiner Symbole des kollektiven Unbewußten, das „ Selbst “ . 201 Goethe Chadir umschließt alles und der Facetten sind viele. Im ersten Gedicht des „ Buches der Liebe “ nennt Goethe eine ganze Reihe von berühmten Liebespaaren und endet mit König Salomo und der Königin von Saba als Höhepunkt. Salomo vereinigt hebräische, islamische und äthiopische Züge. Den Parsen gilt ein eigenes Buch im Divan mit einem Lehrgedicht über den altpersischen Glauben. Auch Zoroaster taucht auf und immer wieder natürlich die Gnosis. Als der Divan 1819 erschien, blieb er unverstanden und wurde gering geschätzt. Die Faszination der Liebe Hatems und Suleikas war fast ebenso unzeitgemäß wie die Kenntnis des Sufismus, die geringer war, als jene Goethes, bevor er noch auf Hafis gestoßen war. Auch die Schönheit der Verse interessierte nicht wirklich und die Feinheit der Anspielungen sowie die hohe Bildung blieben unverstanden. Es hat viele Jahrzehnte gedauert, ehe Schritt für Schritt die Großartigkeit des Ganzen zu Tage trat. Allerdings gibt es gerade heute wieder auch eine gegenläufige Bewegung des zunehmenden Unverstandes. Wenn schon Goethe in seinem durchaus wichtigen und vernachlässigtem „ Buch des Unmuts “ in seinem Gedicht „ Sonst, wenn man den Koran citierte “ mit der Strophe schloß: Die neuen Derwische wissens nicht besser, Sie schwatzen das Alte, das Neue dazu. Die Verwirrung wird täglich größer, O heiliger Koran! O ewige Ruh! Heute ist es noch viel ärger geworden. Wenn damals schon oft innerhalb der sufischen Mystik „ Verwirrung “ herrschte - man erinnere sich nur an Dschami - , dann scheint die islamische Mystik zur Gänze ausgetrocknet und veräußerlicht zu sein. Ganz ähnlich wie die urchristliche Liebeslehre der Bergpredigt hinein führte in die Inquisition, die fälschlich ihre Haßlehren als die echt christlichen ausgab, so wurde die Liebeslehre des Sufismus heute von Haß- und Terrororganisationen verdrängt, die ebenfalls fälschlich behaupten, den wahren Islam zu vertreten. Welche Chance hat da der Sufismus und hat auch Goethes Liebe zu ihm, allgemein verstanden zu werden? Goethe selbst hat diese Zusammenhänge sehr klar erkannt und hat sie in einem knappen Zweizeiler in seinem „ Buch der Sprüche “ auf den Punkt gebracht: „ Dunkel ist die Nacht, bei Gott ist Licht. “ Warum hat er uns nicht auch so zugericht? Seine Huri, die ihn ins Paradies eingelassen hat, besitzt ihre unschlagbare, ewig weibliche Huri-Weisheit dazu: Wir fühlen, was vom Herzen spricht, Und was aus frischer Quelle bricht, Das darf im Paradiese fließen. 202 Goethe Ihr reines Herz versteht den Sufimus weit besser als ein „ wortgelehrter “ buchstabenbeschränkter Berufs-Derwisch, der wie heute fast allgemein die Esoterik des Sufismus in Exoterik hinüber gezerrt hat. Goethe wußte, weshalb er ausdrücklich erklärt hatte, Esoterik könne nur dann schaden, wenn sie auch zur Exoterik würde. Darum legt er seiner Huri Suleika, wieder im scherzhaft spielerischen Ton, das vorletzte Wort des ganzen Zyklus in den Mund: Hast du nicht schon das Liedchen fertig? Wie klang es draußen an dem Tor? Wie klingts? - Ich will nicht stärker in dich dringen, Sing mir die Lieder an Suleika vor: Denn weiter wirst dus doch im Paradies nicht bringen. Er selbst, als der „ Dichter “ , setzt nur das vorletzte Wort fort, allenfalls es gedanklich verdeutlichend und vertiefend, in einem Gedicht „ Höheres und Höchstes “ . Hier vermeint er, daß die Dinge, die ihn aus dem Diesseits entrücken sollten, auch im Jenseits vorhanden sein werden. So hofft er, alle seiner Freunde „ ineins “ zu versammeln, und in deutscher Sprache Paradiesesworte zu stammeln. Aber es wird ihm klar, daß es nicht mehr das begrenzte Deutsch sein kann, in welchem sich „ Mensch und Engel kosen. “ Neben der Sphärenharmonie wird seine Sprache ganz „ ohne Klang und Ton “ zum himmlischen Entzücken erhöht werden. Aus seinen fünf Sinnen wird ein einziger, allgemein menschlicher hervorgehen, durch den er leichter zu Gottes Wort vordringen kann, bis wir - also alle Seligen - verschweben und verschwinden werden im Anschauen ewiger Liebe. Das letzte Wort des Zyklus ist das „ Siebenschläfer “ -Gedicht. Im Unterschied zu dem irdischen Herrscher seiner ersten Strophe fühlt er sich als irdischer Dichter nicht befugt, das von ihm erwünschte letzte Wort selbst auszusprechen. Er überläßt das dem Siebenschläfer-Gleichnis des Gedichts, so wie in der ZEN- Tradition der Meister kein Wort sagt, sondern nur mit dem Finger zum Mond zeigt. Sieben Knaben erkennen die böse Anmaßung des Herrschers und fliehen zum wirklichen Gott vor dem Herrscher in eine Höhle. Es ist eine Höhle, wie jene aus welcher am ersten Beginn des Zyklus Chadir hervorging. Die Höhle erinnert an Shakespeares Cymbeline. Auch dieses letzte Wort der Siebenschläfer findet sich im Koran und schließt den Rahmen des Unendlichen, in dem sich das Endliche des Zyklus abspielt, ab. Jung hat darauf hingewiesen, daß dort „ anscheinend zusammenhanglos moralische Betrachtungen “ folgen und schließt daraus, daß diese als Ersatz Gebote zum moralischen Handeln geben, für diejenigen, die selbst nicht wiedergeboren werden können und daher nicht fähig sind, die Geschichte zu verstehen. 31 31 C. G. Jung: Die verschiedenen Aspekte der Wiedergeburt, op. cit., S. 432 203 Goethe Die Geschichte berichtet, wie der über ihre Flucht empörte König, die sieben in ihrer Höhle einmauern läßt. Aber ein Engel des Herrn läßt sie durch ein Wunder überleben und sie schlafen 309 Jahre. Als sie aufwachen, ist die vom König errichtete Mauer ihres Gefängnisses morsch zusammen gebrochen. Einer von ihnen nimmt es auf sich, in die Stadt zu laufen, um mit einem Goldstück Essen zu besorgen. Goethe hat das Ganze in Ephesos angesiedelt, wo der Prophet Christus herrscht. 32 Jamblika, das ist der Name des Brot Holenden, endet vor einem sehr viel späteren König, in dessen Umgebung er seine Nachkommen findet. Er erzählt die ganze Geschichte und der König wie das Volk geleiten ihn zur Höhle. Aber die Höhle „ schien “ vermauert. Denn die Zurückgebliebenen waren in echte Selige verwandelt worden. Goethe hat den inneren Widerspruch (oder ist es keiner? ) der Geschichte durch einen Anschlußkommentar eines kleinen Gedichts „ Gute Nacht “ vielleicht noch durch das letzte Ende eines kleinen Scherzes (oder ist es keiner? ) verstärkt. Er berichtet, daß auch der treue Hund des Schäfers, der mit in die Höhle lief, die sieben ins Paradies begleiten durfte. Das Abschlußgedicht über die „ Siebenschläfer “ legt Zeugnis dafür ab, daß und wie die Scherze des ganzen Zyklus wirklich „ sehr ernste “ waren und daß auch dieses dritte Alterswerk Goethes ins Absolute zielte. Das letzte hier zu besprechende Alterswerk ist Faust II. Infolge der Einheit und Komplexität des Werkes ist es aber notwendig, etliche Male und auch ausführlicher auf den ersten Teil des Faust einzugehen, da wichtige Partien des zweiten Teils nicht verstanden werden können, ohne die Zusammenhänge mit dem ersten Teil zu kennen. Das Werk selbst stellt trotz seiner oft lockeren Einzelbilder ein Ganzes von eindrucksvoller Einheit dar. Der metaphysische Rahmen mit dem „ Prolog im Himmel “ am Anfang des ersten Teils und der Auffahrt Faust zum Himmel am Ende des zweiten Teils vollzieht sich durchaus parallel zum West-Östlichen Divan mit seinem „ Chiser “ -Gedicht am Anfang und seinem „ Siebenschläfer “ -Gedicht am Ende. Auch das Ende von Faust II zielt ins Absolute wie die drei anderen Alterswerke. Dazwischen entfaltet sich die innere Entwicklung des geistigen Strebens von Faust mit seiner Behinderung durch Mephisto im durchaus gnostisch-dualistischen Sinn. Beide hängen mit den Ideen der Traditionskette zusammen. Als durchgehend Drittes kommt dann noch etwas anderes dazu. Der Goethe- Kenner Erich Trunz hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich die ganze Entwicklung in zwei verschiedenen Schichten vollzieht, in einer vordergründigen Geschehnisschicht und einer geistigen Symbolschicht, auf die es wirklich ankommt, ähnlich wie bei dem großen Roman von Rabelais. Überdies hat Trunz 32 In Ephesos gab es eine lokale Legende, daß Johannes nicht starb, sondern dort „ schlafen “ soll. 204 Goethe gesehen, daß der Geschehniszusammenhang nur der „ Faden ist “ , auf dem „ die bunten Edelsteine “ aufgereiht sind, „ die nur in ihrer Beziehung zueinander “ gesehen werden wollen. Auch diese Beziehung hängt mit der Traditionskette zusammen. 33 Wie Trunz auch weiß, daß nicht nur der erste Teil mehr „ Realismus “ enthält und der zweite, Altersteil, mehr „ Symbolik “ , sondern auch daß Goethe im Verlauf der Arbeit schon früh geplante Szenen des Handlungsablaufs später nicht durchgeführt hat, dafür aber „ symbolhaltige Szenen breit ausgeführt “ hat, „ obwohl sie im Handlungsablauf fehlen könnten “ . 34 Auch die beiden Schichten sind eng miteinander verbunden und wenn hier in erster Linie die Symbolschicht besprochen wird, dann hängt dies mit der Sinnsuche zusammen, für welche die Symbolschicht das Hauptthema bildet. Der „ Prolog im Himmel “ beginnt mit den drei Erzengeln, welche die große harmonische Ordnung des Makrokosmos beschwören. Raphael beginnt mit der synästhetischen Metapher „ Die Sonne tönt nach alter Weise “ , was sich auf die viel berufene Musik der Sphärenharmonie bezieht. Gabriel geht über zu den optischen Eindrücken der „ Paradieseshelle “ im „ schnellen Sphärenlauf “ . Michael, der dritte bringt die Verehrung aller drei angelischen Boten für das „ sanfte Wandeln “ von Gottes Tag zum Ausdruck. Mephistopheles als nächster Sprecher hat „ von Sonn und Welten “ nichts zu sagen, seine Zuständigkeit ist der irdische Bereich und der Mikrokosmus Mensch, den er höhnisch „ den kleinen Gott “ nennt und von dem er nur negativ und leider auch wahrheitsgemäß zu berichten weiß, daß er die gottgegebene Vernunft nur gebraucht, um „ tierischer als jedes Tier zu sein “ . Der Herr überläßt Faust, an den er glaubt, Mephisto eigentlich nur in jenem Bereich, in dem dieser ohnehin ein Recht darauf hat, ihn zu verführen, den irdischen Bereich. Ja der Herr macht abschließend im gnostischen Sinn auf die mögliche positive Funktion des Bösen aufmerksam. Im irdischen Bereich hat Faust selbst das erste Wort und dieses erste Wort ist eine Klage über die Unzulänglichkeit des gesamten Wissens aller zur Zeit Goethes vorhandenen Fakultäten, der philosophischen, juridischen, medizinischen und „ leider “ auch noch theologischen. Mit seinen allerersten Worten deklariert er sich bereits als Platoniker und als Antiexoteriker. Mit dem einzigen kleinen Wort „ leider “ vor Theologie gibt er seiner Haltung im Kontrast von Ecclesia carnalis und Ecclesia spiritualis Ausdruck und das kleine Wort „ leider “ hat auch durch Jahrzehnte aufmerksame Zensoren gefunden, die es gestrichen haben. Trotzdem fehlt dem großen Autor des Faust I die Erkenntnistiefe des Autors von Faust II. Gewiß hat er schon in seiner frühen Jugend die Intuition von der Traditionskette gehabt, doch hatte sie auch erarbeitet zu werden. Gerade der Fauststoff war dazu angetan, 33 Hamburger Ausgabe von Goethes Werken, Bd. III, München 1976, S. 479 f. 34 Bd. III, S. 480 205 Goethe vom Wesentlichen weg in eine Verirrung zu verführen. Hatten sich doch in allen Gestaltungen des Stoffes vom Volksbuch über Cenodoxus bis zu Marlowes Drama, dessen erste Fassung 1604 erschienen war, Faust mit Schwarzer Magie eingelassen. Sie beherrscht auch den I. Teil von Goethes Faust. Erst der II. Teil ist ganz von anderem Geist durchdrungen. Der Teil von Faust I schildert, wie Faust in die Magie auszubrechen sucht und als Schwarzmagier endet. Der erste Irrtum beginnt bereits mit dem „ Leitfaden “ Fausts für die Magie von „ des Nostradamus eigner Hand “ . Nostradamus war Apotheker, hat auch als Arzt praktiziert, hat berühmte Prophezeiungen geschrieben, die fragwürdig sind und Horoskope erstellt, von denen zumindest das für Rudolf von Habsburg völlig falsch ist. Er war aber kein Magier. Goethe hat für den Ersten Treil bewußt den historischen Schwarzmagier Faust als Quelle genommen, der es nicht besser weiß. In Goethes dichterischer Magiebeschwörung schlägt Faust zuerst das Zeichen des Makrokosmos auf und was er dazu sagt, ist nicht nur sehr richtig, sondern auch wunderschön. Es gelingt ihm jedoch nicht, den dafür zuständigen Geist der Natur zu beschwören. Unwillig schlägt er darauf das nächste Zeichen auf und es ist das Zeichen des Erdgeists. Hier ist die Quelle Paracelsus lauter und Rudolf Steiner hat gewiß aus guten Gründen Goethe einen „ Schüler von Paracelsus “ genannt. Aber auch hier irrt Faust, der nicht versteht, daß er zur Erringung der letzten Wahrheit den dafür untauglichsten Helfer gewählt hat. Denn der Erdgeist ist dafür zuständig, das Geistige mit dem Irdischen und materiell Bösen zu verbinden und es zu diesem herunter zu ziehen. Nachdem der Erdgeist Faust klar gemacht hat, daß er den Falschen erwischt hat, und verschwunden ist, klopft es an der Tür, da es immer wieder einen noch schrecklicheren Tiefpunkt geben kann: Es ist der Famulus Wagner, „ der trock ’ ne Schleicher “ , Prototyp des hoffnungslos beschränkten Exoterikers. Faust gibt ihm höchstens zwei oder drei Mal ernst gemeinte Antworten. Aber einmal unterläuft dem Famulus doch eine intelligente, indirekte Frage: Allein die Welt! Des Menschen Herz und Geist! Möcht Jeglicher doch was davon erkennen. Fausts ernsthafte Antwort darauf ist eine der berühmtesten Stellen aus dem Drama: Ja, was man so erkennen heißt! Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? Die thöricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten, Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, Hat man von je gekreuzigt und verbrannt. Nach dem Verschwinden Wagners überfällt Faust plötzlich eine Verzweiflungsstimmung. Er will zum Gift greifen, doch der Chor der Engel und die 206 Goethe Osterglocken erweckten solche Kindheitserinnerungen, daß er sich sehnt „ durch Wald und Wiesen hinzugehn. “ Auf dem Osterspaziergang nähert sich ihm Mephisto in Gestalt eines Pudels. Faust beweist, daß er schon über gewisse Kräfte und magische Macht über Elementargeister sowie über manches Wissen verfügt. Was er nicht kannte, war die gewaltige Kraft des Pentagramms, die ihm ebenso klar wird wie die Möglichkeit, mit Mephisto einen Pakt zu schließen. Nachdem Mephisto wieder aufgetaucht ist im Kostüm eines „ edlen Junkers “ und Faust versprochen hat, ihn „ losgebunden und frei “ einzuführen in das, was nach ihm „ das Leben sei “ , kommt es zum Pakt durch den geistigen Grundfehler eines anti-jenseitigen, primitiven Materialismus, dem der „ hochgelehrte “ Faust plötzlich verfallen ist. Zunächst ist Faust ganz mit dabei. Er verachtet seine bisherigen wissenschaftlichen Bemühungen, um zur letzten Wahrheit zu gelangen und sieht nicht, wie er sich durch seinen Materialismus und den Pakt nun den Weg dahin selbst vermauert hat. Die Zeit des Mühens um Wissenserweiterung und sei es durch Gelehrtheit, war eine glückliche gegen die jetzige, neue. Denn zu allererst führt in Mephisto in Auerbachs Keller. Dort sitzt er dann in einer primitiven Säufergesellschaft, die sich offen selbst vorstellt mit dem schönen Lied: „ Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen. “ Sodann gerät er in die Hexenküche, wo er in einem Zauberspiegel Gretchens Bild erblickt und nach einem Zaubertrank völlig zum Sklaven seiner männlichen Hormone wird. Doch Faust hat durch die „ Schwarze Magie “ der Hexenküche nicht nur keine neue Einsicht gewonnen, sondern ist nur noch tiefer hinab gestoßen worden. Es geht direkt hinein in die Schuldverstrickung des Verderbens von Gretchen und die Handlung endet mit ihrer Hinrichtung. Goethe ist freilich nicht fähig, ganz im Negativen zu enden, sodaß er zuletzt der Feststellung Mephistos: „ Sie ist gerichtet “ eine „ Stimme von oben “ entgegen stellt: „ Ist gerettet. “ Faust I beginnt im Himmel mit einem Prolog und führt durch den Teufelspakt immer tiefer hinunter bis in die Schuldverstrickung der Gretchen-Tragödie. Dantes Komödie beginnt mit der Schuldverstrickung Dantes im Ersten Gesang der Hölle und durch die Anteilnahme und Hilfe Beatrices und sogar Marias führt sie hinauf bis in das höchste Paradies. Bei Goethe taucht nach der Schuldverstrickung im ersten Teil kein Vergil als Führer auf. Hier setzt ein Tiefschlaf innerer Verwandlung ein, der nicht einfach ein „ Verschlafen “ ist, sondern ein Wiedergeburtsakt. Einer der größten Goethekenner hat bereits in seiner Frühzeit völlige Klarheit darüber geschaffen: „ nun gibt es freilich ein Vergessen, das alles andere als lauter ist. Wer die Schuld nur in den Wind schlägt und weiterlebt, wie er zuvor gelebt, der hat die Gnade nicht erfahren. Das Zeichen der Gnade ist die Verwandlung . . . Inwiefern verwandelt sich Faust? . . . Er begehrt nicht mehr, Gott gleich zu sein. 207 Goethe Er nimmt das menschliche Los auf sich. Er anerkennt die Endlichkeit, die menschenmögliche Erkenntnis, die nur im Spiegel des Vergänglichen Ewiges anzuschauen vermag. Gerade jene Züge seines Wesens sind getilgt, die die Gretchentragödie ausgelöst haben. “ 35 Faust II um den es hier geht, beginnt im Hinblick auf die innere Entwicklung Fausts bereits auf einer höheren Stufe als Faust I. Faust hatte sich aus materialistischer Überheblichkeit heraus zugleich aber auch durch positive Wünsche nach letzter Wahrheit den Klauen des Teufels ausgeliefert. Einer der großen künstlerischen Fortschritte von Goethes Drama gegenüber der Ungeschlachtheit des Volksbuches liegt im Charme und in der Schein-Geistigkeit von Goethes Mephistopheles, dessen Name fast wie ein Diminutiv niedlich und harmlos klingt. Sogar „ der Herr “ selbst schließt seinen Part im „ Prolog des Himmels “ mit den Worten: „ Von allen Geistern die verneinen, ist mir der Schalk am wenigsten zur Last. “ Tatsächlich ist er ihm aber in einer gewissen Weise auch mehr Last. Denn durch seine Methode fallen auch Geister vom Kaliber eines Faust auf ihn herein, obwohl er trotzdem ein Geist des Nächstenhasses, des Terrors und der Menschvernichtung ist. Insofern ist auch Mephisto ein großer Fortschritt gegenüber dem primitiven Teufel des Volksbuchs. Das Beispiel Mephistos enttarnt und enthüllt im Grunde auch die Mißbrauchsmethoden des modernen Totalitarismus, wo der Terror und Vernichtungshaß der Massenvernichtungslager des Hitlertums durch laute Phrasen über die Größe und den Edelmut des Deutschtums und im Kommunismus der Gulag und die Totalversklavung der Menschen durch die Legende vom sozialen Paradies übertüncht wurden. Auch die fanatische Exoterik und Dogmensucht, welche die höchsten religiösen Ideen als keusches Feigenblatt und Berechtigung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit mißbraucht, versteht es oft gut, Methoden der Massenpsychose für ihre Zwecke einzusetzen. Das Böse ist nicht nur integraler Teil des Irdischen, sondern macht ganz im Sinn der Gnosis seinen Kern aus. Eine der besten, der Natur abgelauschten Möglichkeiten des Widerstands dagegen stellt das Geheimnis der Wiedergeburt dar, das die antiken Mysterienkulte allerdings für eine Elite entwickelt hatten. Sie waren im Grunde Teil der Traditionskette. Die Wiedergeburt ist der Sinn des Tiefschlafs für Faust nach dem Ende der Gretchentragödie, in dem seine böse Schuldverquickung im ersten Teil gipfelte. Sie ist das Alpha und Omega in Goethes Alterswerken. Das Einzige, was zuletzt das so wundervoll naive natürliche Gretchen und den verfeinerten, anspruchsvollen Faust verbindet, ist die überirdische Gnade, die ihr adäquates Gegenstück im Irdischen in der reinen Liebe hat. 35 Emil Staiger in der Hamburger Akademischen Rundschau. Hg. von Karl Ludwig Schneider, 2. Jahrgang (1947), S. 255 - 257 208 Goethe Am Beginn des zweiten Teils erwacht Faust, völlig erfrischt, wie neu geboren, bereit weiterhin „ zum höchsten Dasein immer fortzustreben “ . Ein Regenbogen wölbt sich „ bald rein gezeichnet, bald in der Luft zerfließend über ihm “ , Gleichnis für den „ farbigen Abglanz “ an dem wir das Leben haben. 36 Die nächste Szene spielt im Gegensatz zur Blumenwiese der ersten, die noch der realen Welt angehörte, in einer mittelalterlichen kaiserlichen Pfalz. Der Kaiser besteigt seinen Thron und begrüßt den Hofstaat. Während der Astrologe wie gewöhnlich an seiner rechten Seite steht, vermißt er den Hofnarren auf seiner linken. Mephisto, der den Narren aus dem Weg geräumt hat, tritt an seiner Stelle an. Faust ist zwar innerlich geläutert, doch der Pakt ist noch immer in Kraft. Die nächste Szene zeigt einen weitläufigen Saal, „ verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz “ . Das war ein höfisches Maskenfest. Im geordneten Zug der Masken erschien die Gesellschaft nicht in ihrer Realität, sondern auch als eine Art „ Abglanz “ . Der Knabe Lenker spricht es direkt aus: „ . . . wir sind Allegorien “ und er spielt dem Kaiser einen besonderen allegorischen Aufzug vor, in dem der römische Gott des Reichtums Plutus erscheint. Der Herold, der eingangs die ganze Mummenschanz ankündigt, berichtet, sie sei von einem Kaiser eingeführt worden, der die Alpen überstiegen und sie aus Italien mitgebracht hat. Dieser Kaiser war Maximilian I., unter dessen höfischen Dichtungen und Beschreibungen auch höfische Feste mit der Bezeichnung Mummenschanz zum ersten Mal auftauchen. Er war durch sein ganzes Leben in Geldschwierigkeiten und ist auch hoch verschuldet gestorben. In der Mummenschanz tauchen Riesen, Faunen, ein Satyr und zuletzt eine Deputation von Gnomen auf, die ja die unterirdischen Schätze bewachen, die des Plutus Reichtum ausmachen. Zuletzt geht alles in Flammen auf samt dem Kaiser und dem Hofstaat. Plutus erweist sich jedoch als Magier, der die farbigen Flammen in die optische Täuschung eines Wetterleuchtens verwandelt. Die Darstellung der Allegorien des Mummenschanz-Maskenspiels sollte die Wahrheit deutlicher und einsichtig machen. In der nächsten Szene, die in der Morgensonne in einem Lustgarten spielt, entschuldigt sich der Hofnarr Mephisto, für das traumartige „ Flammengaukelspiel “ . Offenkundig hat er es aber dazu benützt, um den Kaiser durch Magie zum Unterschreiben einer Papiergeld-Verordnung zu überreden. Als Faust sodann in der „ finsteren Galerie “ von Mephisto verlangt, er müßte Helena und Paris aus der griechischen Antike beschwören, weil er es dem Kaiser versprochen hatte, ergibt sich eine Schwierigkeit, da Mephisto für die vorchristlichen „ Heiden “ nicht zuständig ist. Der einzige Ausweg, der bleibt, ist, in das „ Reich der Mütter “ hinabzusteigen, ein vom Mythenschöpfer Goethe neu geschaffener Abstieg in eine besondere Abteilung der Unterwelt. Wie bei Vergil 36 Dieser „ Abglanz des Lebens “ ist der Abglanz des Göttlichen, den Faust im ersten Teil noch nicht verstanden hat. 209 Goethe die Sybille Aeneas den goldenen Zweig zur sicheren Wiederkehr mit gegeben hat, so gibt Mephisto Faust einen Schlüssel mit. Nach Goethes ursprünglichen Plan sollte dieser Abstieg in einem eigenen Prolog zum dritten Akt stehen, den er aber dann weggelassen hat. Vom Plan her, der sich in den normalen Ausgaben nicht findet, hat Karl Kerényi geurteilt: „ Jenes Unbeschreibliche, das die erschütternde Szene in der finsteren Galerie ‘ - die bedeutendste mythologische Schöpfung der Literatur außer dem ägäischen Fest - nur andeutet, sollte dargestellt werden. Im Gang zu den Müttern ‘ in das „ Reich des Nichts “ wie Mephisto jene geheimnisvolle Sphäre nannte, worauf indessen Faust erwidert: ,In jenem Nichts hofft ’ ich das All zu finden ‘ - ließ jenes Reich des noch nicht Entstandenen und der längst nicht mehr Vorhandenen seine mütterlichen Aspekte ahnen. “ 37 Das erklärt auch, weshalb in der gedruckten und bekannten Fassung der Schlüssel, den Mephisto Faust mitgibt, in dessen Hand „ wächst, leuchtet und blitzt “ , während er in der Hand Mephistos ein lebloses Stück Metall war. Für den negativen Geist Mephistos, der stets verneint, ist das Reich der Mütter ein „ Nichts “ , für den geläuterten Faust ist es das „ All “ . Kerényi spricht von der „ höchsten Steigerung des menschlich noch Denkbaren “ . Im Rittersaal sind Kaiser und Hofstaat versammelt, der Herold verkündet, Mephisto erklärt, Faust ist rechtzeitig und erfolgreich aus dem Reich der Mütter zurück gekehrt. Die große Attraktion gelingt voll: Zuerst erscheint der schöne Jüngling Paris und sodann in ihrer ganzen strahlenden Schönheit Helena. Alle sind fasziniert, am meisten aber Faust. Obwohl ihn Mephisto warnt, vergißt er sich ganz. Als ein Held - auch aus dem Geisterreich - erscheint, um Helena „ zu rauben “ , stürzt er vor, berührt mit seinem Schlüssel Paris und erzeugt damit eine Explosion, durch die er selbst bewußtlos zusammen sinkt. Mephisto rettet, was zu retten ist, indem er Faust schultert und weg trägt. Der zweite Akt führt zunächst zurück in die reale Welt. Mephisto ist nicht einmal sicher, ob Faust noch lebt. Die Explosion mag nicht nur die antike Geistererscheinung zerstört haben, sondern auch die magische Wirkung seines Pakts mit Faust. Dieser landet wieder in seinem alten Gewölbe und Goethe enthüllt, wie viel Zeit hier bereits verstrichen ist, während Faust doch noch gar nicht so viele Bilder vom Abglanz des Lebens auf einer anderen Ebene durchlaufen hat. Der ehemalige Famulus Wagner ist bereits selbst der verehrte Lehrer 37 Karl Kerényi: Das ägäische Fest. Amsterdam - Leipzig 1941, S. 41. Gershom Scholem weist darauf hin, daß dieses tiefe Paradox von jüdischen und christlichen Mystikern in gleicher Weise gebraucht wurde, wenn sie Gott als mystisches Nichts bezeichneten. In: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957, S. 5 f. Goethe hat ein ebenso unvergeßliches wie im Stil Goethes „ konkretes “ Symbol im Reich der Mütter dafür geschaffen. 210 Goethe und ein neuer Famulus wohnt in der Studierstube. Außerdem zeigt Goethe in dieser Szene, daß im Unterschied zu früher, wo der wahrhaft gelehrte Faust, der anfangs sogar Mephisto ins Schwitzen brachte, der große Mann war und Wagner ein oberflächlicher, armseliger Dilettant, jetzt plötzlich der neue Famulus Nikodemus ehrfurchtsvoll zu Wagner aufblickt. Mephisto spricht es aus: Doch Euer Meister, das ist ein Beschlag ’ ner: Wer kennt ihn nicht, den edlen Doktor Wagner. Den Ersten jetzt in der gelehrten Welt. Er ist ’ s allein, der sie zusammen hält. Wagner selbst arbeitet in einem Labor mit „ unbehülflichen Apparaten zu phantastischen Zwecken “ in altem Schwachsinn jetzt an einem „ großen Werk, der Herstellung eines künstlichen Menschen “ . Als Mephisto eintritt, scheint das Werk gerade zu gelingen. Für Mephisto ist das nicht überraschend, denn er hat in seinen Wanderjahren „ krystallisiertes Menschenvolk “ gesehen. Der künstliche Mensch ist nämlich ein sehr kleines Wesen in einer Phiole. Der Homunculus spricht seine ersten Worte zu Wagner: Nun Väterchen! Wie steht ’ s? es war kein Scherz! Komm, drücke mich recht zärtlich an dein Herz! Doch nicht zu fest, damit das Glas nicht springe. Das ist die Eigenschaft der Dinge: Natürlichem genügt das Weltall kaum, Was künstlich ist, verlangt geschloßnen Raum. Da er Mephistopheles erblickt, enthüllt er seine Herkunft aus der Schwarzen Magie: Du aber Schalk, Herr Vetter, bist du hier? Im rechten Augenblick! Ich danke dir. Ein gut Geschick führt dich zu uns herein; Dieweil ich bin, muß ich auch tätig sein. Ich möchte mich sofort zur Arbeit schürzen, Du bist gewandt, die Wege mir zu kürzen. Auch Mephisto kann aber die Hilfe seines Vetters Homunculus sehr gut gebrauchen. Er zeigt ihm den leblos daliegenden Körper Fausts, der Homunculus das Urteil „ Bedeutend “ abnötigt. Er entschlüpft samt seiner Phiole den Händen Wagners und da er den Traum des Daliegenden mit-ansehen kann, berichtet er Mephisto Dinge über Faust, die dieser gar nicht versteht. Fassungslos stößt er hervor: „ Ich sehe nichts . . . “ Die Erklärung des Homunculus weist darauf gleich in die nächste Zukunft von allen dreien, Mephisto, Faust und ihn selbst. Denn wenn er auch ein böser Vetter ist, so ist er doch ein Geist aus dem Süden und dadurch spricht er auch dem alternden Goethe hier aus dem Herzen. Er weiß, daß Mephisto aus dem Norden nunmehr nichts versteht: 211 Goethe Das glaub ich. Du aus dem Norden, Im Nebelalter jung geworden, Im Wust von Rittertum und Pfäfferei, Wo wäre da dein Auge frei! Im Düstern bist du nur zu Hause. Da er den Traum Fausts gesehen hat, rät er jetzt seinem Vetter Mephisto: Jetzt eben, wie ich schnell bedacht, Ist classische Walpurgisnacht; Das Beste, was begegnen könnte, Bringt ihn zu seinem Elemente. Homunculus will zum alten antiken Schlachtfeld von Pharsalien fliegen, wo die Klassische Walpurgisnacht stattfindet, weil er hofft, dort die beengende Phiole los zu werden, von der ihn Wagner nicht befreien kann. Faust möchte in das antike Griechenland, weil Mephisto für die „ Heiden “ nicht zuständig ist, und er hofft, dort Helena ganz in die Wirklichkeit zurückholen zu können. Homunculus entscheidet, daß Wagner im Norden zurück zu bleiben hat, was dieser sehr ungern befolgt. Dabei geht es um mehr als einen durch die griechische Antike erweiterten Schönheitsbegriff Goethes und um Fausts Faszination mit Helena als eine Art zeitlosen Archetypus größter Schönheit. Hier wird die düstere Welt des „ Nordens “ der alten Faustlegende des finster-christlichen Mittelalters durch die heitere, antike Welt und besonders der griechischen Geistigkeit mit ihren mythischen Ursprüngen abgelöst. Es geht um die Partien der „ Klassischen Walpurgisnacht “ im zweiten Akt und um den ganzen dritten Helena-Akt, die esoterischen Höhepunkte des ganzen zweiten Teils. 38 Die Klassische Walpurgisnacht ist Goethes freie Erfindung als Gegenstück zum „ historischen “ Walpurgisnachtstraum im ersten Teil. Der nordische Walpurgisnachtstraum enthüllt eine finstere Welt des Jenseitigen, geprägt durch Schwarze Magie, durch Lug und Trug, durch böse Hexen und Teufelsfratzen, die den Gala-Tag des christlichen Teufels feiern. Die Klassische Walpurgisnacht ist die Schau einer heiteren, fröhlichen Welt, die ein Fest feiert, geprägt durch Lebensfreude, Musik und Tanz und von mythischen Wundergestalten. Sie gipfelt in der spirituellen Hochzeit der Göttin Galatea. Sie ist die Schau einer Synthese von Mythos, Magie, Seelenkunde und nicht naturwissenschaftlicher, sondern esoterischer Betrachtung von Fels und Pflanzenreich, unter- und überirdischer Welt. 38 Zur „ Klassischen Walpurgisnacht “ vgl. Karl Reinhard: Klassische Walpurgisnacht in: Tradition und Geist. Göttingen 1960. Werner Kohlschmidt: Klassische Walpurgisnacht und Faust II, in: Form und Innerlichkeit; München 1955, Richard Alewyn: Probleme und Gestalten, Frankfurt a. M. 1974 und Walter Rehm: Griechentum und Goethezeit, Leipzig 1938 212 Goethe Die ganze Schau wird veranstaltet zur Verdeutlichung von Fausts innerer Entwicklung rings um seinen Abstieg in die Unterwelt und als Vorbereitung auf den Helena-Akt. Die Nacht beginnt mit der Finsternis der Pharsalischen Felder, wo Faust auf den Erboden niedergelegt, sofort fragt: „ Wo ist sie? “ Mephistopheles wird von einem der Greifen gesagt: „ Der Garstige gehöret nicht hierher “ , von der Sphinx aber wird er besänftigt: Du magst nur immer bleiben. Wird dich ’ s doch aus unsrer Mitte treiben; In deinem Lande tust dir was zu Gute, Doch irr ich nicht, hier ist dir schlecht zu Mute. Die Sphinx regelt Mond- und Sonnentage und hält Hochgericht über die Völker. So bildet sie den Rahmen zum Peneios, dessen Flußgott, „ umgeben von Gewässern und Nymphen “ , die Vorbereitungen zum Fest ankündigt, da ja sein Fluß in die ägäische Bucht mündet. Faust hatte bereits die Sphinx nach Helena gefragt und war von ihr an Chiron verwiesen worden. Als Faust an den Fluß Peneios heran tritt, hört er „ ein menschenähnlich ’ s Lauten “ , scheinen die Wellen zu schwätzen durch ein Lüftlein „ wie ein Scherzergetzen. “ Er bewundert die Nymphen, er bewundert die heranschwimmenden Schwäne, bis er plötzlich Pferdehufe hört und Chiron auf ihn zukommt. Chiron ist der oberste aller Kentauren und zugleich der einzige freundliche und hilfreiche der ganzen bösartigen Species, der ihn auch gerne zu dem Platz trägt, an dem es die wahrscheinlich einzige Möglichkeit gibt, mit Helena in Verbindung zu treten. Es ist der Ort, an dem die Schlacht von Pharsalos, zwischen Römern und Griechen stattgefunden hat, in dem die Griechen, als Vertreter der Demokratie gegen das kaiserliche Rom siegten. Wie Dante den Demokraten Cato von Utica zum Hüter des ganzen Läuterungsberges gemacht hat, so hat Goethe den Ort des zweiten wichtigen Abstiegs Fausts in die Unterwelt nach Pharsalos verlegt, wo die Demokratie siegte. Jetzt steht an diesem Ort ein berühmter Tempel, in dem die nicht minder berühmte Seherin Manto residiert. Sie begrüßt freundlich den Halbgott Chiron und als sie von Fausts Wunsch hört, Helena zu sehen, erklärt sie: „ Den lieb ich, der Unmögliches begehrt. “ Und verspricht ihre Hilfe. Hier hat sie einstens Orpheus hinunter geschickt, um Eurydike zurück zu holen, was fehlschlug. Sie fordert Faust auf, die Gelegenheit besser zu nützen und schon beginnen die beiden ihren Abstieg. Während Faust in die Unterwelt hinab steigt, versetzen die Phorkyaden Mephisto in solche Häßlichkeit, daß „ der Sohn des Chaos “ sich vor aller Augen versteckten möchte und während des Festes, in das er ohnehin nicht gehört, unsichtbar bleibt. Kaum ist das geschehen, als der große Moment gekommen ist und die Sirenen mit ihren wunderschönen Stimmen das Fest ankündigen: 213 Goethe Fort ihr edlen, frohen Gäste, zu dem seeisch heitern Feste . . . Da, wo Luna doppelt leuchtet, Uns mit heil ’ gem Tau befeuchtet. Daher: Das ägäische Fest, die Szene, über welche Goethe in der Bühnenanweisung geschrieben hat: „ Mond im Zenith verharrend “ und wo „ Luna doppelt leuchtet. “ Einmal, indem sie ihre sanften Lichtstrahlen aussendet, sodaß alle Festgäste alles sehen können, und zweitens ihr esoterisches Licht als die dreifache Göttin Diana-Luna-Hekate. Hekate war das Zentrum, der Hekate- Mysterien von Tod und Wiedergeburt, wie Persephone es in Eleusis war. Zu dieser stieg Faust gerade von Manto geführt hinab. Die Szene beginnt auch mit der Anrufung des Mondes durch die Sirenen: „ Schöne Luna, sei uns gnädig. “ Homunculus taucht auf und wird vom vorsokratischen Philosophen Thales für den das „ Urwasser “ der Ursprung alles Lebens war, zu Nereus geführt, dem Menschenhasser und alten Titanen-Gott, Sohn des Pontus (Meeres) und der Gaia (Erde), Vater der Nereiden, die er zum Fest eingeladen hat und die auf Delphinen reitend erscheinen. Diese fünfzig Meeresschönheiten und Göttinnen sollen nach einem orphischen Hymnus sowohl die Mysterien des Dionysos als auch jene der Persephone eröffnet haben. Diesen Vatertöchtern hat Goethe die fischleibigen Tritonen zugesellt und auch die weiblichen Doriden, die Nereus zum Vater haben. Sie führen in diesem bräutlichen Fest dem Vater die Jünglinge vor, die sie aus einem gesunkenen Schiff gerettet haben und die jetzt ihre Gespielen sind. Die Nereiden und Tritonen tragen „ Chelonens Riesenschild “ . Es ist der Panzer einer großen Wasserschildkröte, in welche einst die griechischen Götter eine Nymphe verwandelt hatten. Die Sirenen beten zu Sonne und Mond, uralten, göttlichen Symbolen. Die Sirenen begrüßen auch die Kabiren, die Urgötter, die in grauer Vorzeit das Goldene Vließ erlangt haben, welches das Fell des goldenen Widders ist, der fliegen und sprechen konnte und das alte Symbol der Erringung des Unmöglichen (wie Fausts Versuch, Helena aus der Unterwelt zu holen), des Verstandesübersteigenden und der Seelenreinheit darstellt. Die nächste Schar im Zug, die Telchinen, kamen mit dem originalen Dreizack des Gottes Neptun angefahren. Die Hauptgestalt aber ist Galatea, Göttin und Erbin von Aphrodites Tempelstadt und Thronwagen. Als Galatea eintrifft, hat Nereus den Homunculus bereits weiter an Protaus empfohlen, der ihm tatsächlich helfen konnte, die Phiole zu verlassen. Aber zu Körperlichkeit konnte er ihm nicht einmal auf der ästhetischen Ebene verhelfen, geschweige denn auf der empirischen. Als Homunculus den Höhepunkt seines Daseins erreicht, mit Galatea eine spirituelle Hochzeit zu vollziehen, da sitzt er nicht einmal in der Dichtung als körperliche Gestalt in ihrem Thronwagen neben ihr, sondern ringelt sich als 214 Goethe Flamme um ihre Beine. Nichts desto weniger wird die Chymische Hochzeit vollzogen. Im Unterschied zum völlig körperlosen Homunculus des Famulus Wagner erscheint das Kind Fausts, mit der aus der Unterwelt geholten Helena, Euphorion als körperlich, wodurch er zu Tode stürzen kann und in die Unterwelt versetzt wird, wo er mit seiner Mutter Helena nach ihrer Rückkehr vereinigt wird. In seiner ganzen Großartigkeit ist das ägäische Fest doch nur eine Vorstufe zum Helena-Akt. Wie bei Dante Matelda unter anderem die Funktion hat, Beatrice anzukündigen, so kündigt der Homunculus, die auf die Erde zurück gekehrte Helena an. Wie der Jenseitswanderer Dante durch Vergil, so wird Faust durch Manto in die Unterwelt geführt. Aber anstatt einer breiten Schilderung von Fausts Abstieg bietet Goethe nur das Sanctum silentium der Mystiker. Entgegen seinem ursprünglichen Plan ist die Darstellung des Abstiegs nicht durchgeführt worden, da er sie „ nicht mehr nötig gefunden “ hat. 39 Helena steht bei Goethe Mutatis mutandis für eine Art Beatrice, nicht im Sinn der besonderen Funktion einer geistigen Führerin zum Verständnis einer bestimmten, der templergnostischen Geistigkeit, sondern in einem weiteren Sinn als Vereinigung mit einem Wesen der Welt des Jenseits, die für Faust neuplatonische und ähnliche Bewußtseinserweiterungen herbeigeführt hat. Ob die im Werk jüdische Beatrice der Komödie Dantes für die konfessionellen Fundamentalisten akzeptabler war als die heidnische Helena Fausts ist eine müßige Frage. Beide Dichter haben sich darum so wenig gekümmert wie die mythischen Gestalten der Klassischen Walpurgisnacht um den „ nordischen “ Mephisto. Auch für Trunz ist Helena weit mehr als eine kalte, marmorne Schönheit aus einer Zeit höchsten Kunstgeschmacks und großer Dichtung. Sie ist für ihn nicht nur Schönheit, sondern auch vollendete „ Natur, “ in jenem hohen Sinn, den auch diese bei Goethe gehabt hat. Einmal äußert er sogar die Frage: „ Mußte man nicht alles das, was Humanismus hieß, zerschlagen, um sich selbst zu vollenden und eben darin, den Griechen gleich zu sein? “ 40 Das bedeutet, es geht auch hier um jene Art von Selbstverwirklichung, die über die Verstandesebene hinausgreifen muß und für welche griechische Mythen und besonders Mysterienkulte Lösungen bieten. Zwar ist die Schau der Klassischen Walpurgisnacht nicht rein griechisch, sondern ägyptisch-griechisch-hellenistisch, doch auf jeden Fall, antik und auch auf jeden Fall läßt sie immer wieder die empirische Wirklichkeit zurück. Die Sphinxe sind ägyptisch, die neuplatonisch-gnostischen Züge sind hellenistischspätantik. 39 Karl Kerényi: Das ägäische Fest. Amsterdam - Leipzig 1941, S. 40 40 Erich Trunz in Goethes Werke, op. cit., Bd. III, „ Anmerkungen “ , S. 555 215 Goethe Nachdem Faust in der Klassischen Walpurgisnacht in die Unterwelt hinab gestiegen ist, bleibt er nicht nur den größten letzten Teil des zweiten Akts verschwunden, sondern noch in der ersten Szene des dritten Akts. Nicht nur der Abstieg wurde fortgelassen, sondern auch der Wiederaufstieg und Helenas Entwicklung. Wir finden sie als Herrscherin vor dem Palast des Menelaus in Sparta und in der zweiten Szene ist sie bereits die Herrscherin, die den plötzlich zum Fürsten gewordenen Faust einlädt, an ihrer Seite am Thron Platz zu nehmen. Er bittet sie, ihn als „ Mitregenten “ ihres „ grenzunbewußten Reiches “ zu akzeptieren. Das eine Wort „ grenzunbewußt “ ist der einzige Hinweis auf die besondere Stellung dieses Reiches, das natürlich nicht im empirischen Sinn wirklich ist, sondern dem Bereich einer anderen „ Wirklichkeit “ angehört, die dem „ farbigen Abglanz “ lebendiger dichterischer Imagination entspricht. Der zweite Teil des Dramas bewegt sich eben im Unterschied zum ersten Teil nicht mehr auf einer realitätsbezogenen ästhetischen Ebene, sondern auf der eines „ phantastischen Realismus. “ Die Verbindung Fausts mit Helena ist eine Vereinigung im Raum des Seelischen, Unbewußten, das ja weit mächtiger ist als das Bewußtsein. Trotzdem hat es so sehr den Anschein empirischer Wirklichkeit, daß Karl Kerényi in seinem kleinen Buch über das Ägäische Fest das Herausholen Helenas durch Faust im Unterschied zum Homunculus als „ konkret “ bezeichnet hat. Es ist aber eher eine Verbindung von Animus und Anima auf der Ebene des Unbewußten, das zwar nicht körperlich und dennoch wirklich ist. Fausts eigener Kommentar am Ende der zweiten Szene dazu ist: „ Arkadisch frei sei unser Glück! “ Faust und Helena genossen eine „ idyllische Liebe “ in völliger Abgeschiedenheit. In den „ unerforschlichen Tiefen “ hatte es sich ereignet, daß ohne lange Schwangerschaft plötzlich zur Überraschung des einzigen Zeugen Phorkias „ auf einmal Gelächter “ von Unsichtbarem erscholl und ein Knabe, fertiger Mensch, allein vom Schoß der Mutter, zum Mann springt: „ Nackt, ein Genius ohne Flügel, faunenartig, ohne Tierheit “ schnellte er in die Höhe, und im dritte Sprung rührte er an das Hochgewölbe. Die Mutter warnt, daß ihm „ freier Flug verwehrt “ sei. Auf einmal ist er in einem Felsspalt in der Tiefe verschwunden, und als er wieder auftaucht, trägt er eine goldene Leier, „ völlig wie ein kleiner Phöbus “ . Faust und Helena haben offenkundig ohne Labor mit Euphorion einen Homunculus produziert, der an keine Phiole gebunden ist und sogar eine Art von Körperlichkeit besitzt. Als er in der Ferne Kriegsgetümmel hört, möchte Euphorion sofort dahin, um helfend einzugreifen, glaubt zu fühlen, daß sich ein Flügelpaar an seinem Rücken entfaltet hätte und macht einen Riesensprung, nach welchem er abstürzt und tot ist. Unmittelbar darauf hört man aus der Tiefe Euphorions Stimme: Laß im düstern Reich, Mutter, mich nicht allein. 216 Goethe Damit ist für Helena „ das Lebens und der Liebe Band zerrissen “ und sie sagt „ schmerzlich Lebewohl “ . Sie umarmt Faust, das Körperliche verschwindet, Kleid und Schleier bleiben in seinen Armen zurück. Auch wenn es Mephisto ist, der die Gestalt des alten Seegottes Phorkyas angenommen hat, dann spricht er jetzt, wie dieser selbst sprechen würde. Es ist einer der großartigen dichterischen Kunstgriffe Goethes im vereinfacht-plastischen Bild Mephistos, der sich in die Gestalt des Phorkyas versetzt, zu zeigen, wie sich das Böse oft hinter edlen und positiven Worten zu verbergen versteht. Werden diese ernst genommen, ist Mephistos Bekenntnis erfüllt, wonach er Teil von jener Kraft sei, die stets das Böse will und stets das Gute schafft: Halte fest, was dir von allem übrig blieb. Die Göttin ist ’ s nicht mehr, die du verlorst, Doch göttlich ist ’ s. Bediene dich der hohen, Unschätzbaren Gunst und hebe dich empor: Es trägt dich über alles Gemeine rasch Am Äther hin, so lange du dauern kannst . . . Hier gibt es einen neuen Doppelsinn: „ Hebe dich empor “ , das gilt äußerlich, denn durch Kleid und Schleier, kann er sich in die Luft erheben, und zugleich gilt es innerlich, da er sich damit auch innerlich nicht nur über den Schmerz und die Trauer seines eigenen Verlusts „ erheben “ kann, sondern über all das „ Gemeine “ der irdischen Welt. Der Begriff des „ Gemeinen “ ist bewußt weit gewählt, da er nicht nur die die absichtliche Untat einschließt, sondern auch Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Stumpfheit. Der Helena-Akt stellt nach der großen Vorbereitung durch das ägäische Fest den Höhepunkt dar. „ Ich lebe nicht, kann ich sie nicht erringen “ , bekannte Faust (Vers 7445). Das bereitet nicht nur innerlich den Abstieg in die Unterwelt vor, bei dem die Gefahr des Todes einbezogen ist und eine besondere Art des „ Stirb und Werde “ errungen wird, sondern das ganze Szenario unterstreicht auch den Unterschied zwischen dem künstlichen Homunculus Wagners, erzeugt durch lächerliche Apparate und an eine Phiole gefesselt mit Euphorion. Daß dieser offenkundig das Böse in sich hat, ist wohl nicht zuletzt das hier auch ungesagt gebliebene Eingreifen von Phorkyas-Mephisto, das diesem durch die Macht seines Paktes gegeben ist. Gleich nach seiner „ Geburt “ hat Euphorion ein Mädchen vergewaltigt und möchte in den Krieg aufbrechen, um zu töten. Die Macht des Pakts wird bis zu Fausts irdischem Tod nicht mehr enden. Helena ist trotz alledem das Gleichnis der Verwirklichung eines neuerlichen und zudem, besonders plastisch-lebendigen Schrittes in Richtung auf die Vollendung einer neuplatonischen Ekstase als Bewußtseinserweiterung, die den ganzen Menschen ergreift. 217 Goethe Da sich die Vereinigung aber im Abglanz des Lebens einer irdischen Welt abspielt, muß sie einfach endlich und begrenzt sein. Denn sogar hier existiert ganz im Sinn der Gnosis das materiell Böse. Helena, die ohnehin aus einer anderen Welt in diese zurückgeholt worden ist, „ bejammert “ das Leben und die Liebe in solcher Begrenzung. Sie folgt dem Hilferuf ihres Kindes in die Unterwelt. 41 Faust bleibt zurück mit dem bleibenden Geschenk einer weiteren inneren Verwandlung, versinnbildlicht durch Helenas Kleid und Schleier. Es ist ein innerlich so erneuerter Faust, der „ Im Hochgebirg “ des vierten Akts zu dem Schluß gelangt: Mit nichten! Dieser Erdenkreis Gewährt noch Raum für große Taten. Mephisto, in seiner wahren Gestalt, ist alsbald wieder an seiner Seite, um seinen Teil des Pakts zu erfüllen, Faust bei allen seinen Unternehmungen zu helfen. Als Faust Trommeln hört, die Krieg ankündigen, klagt er: „ Schon wieder Krieg! Der Kluge hört ’ s nicht gern. “ Aber Mephisto liebt natürlich Krieg und zudem sieht er hier eine Möglichkeit, einen Wunsch Fausts zu erfüllen, sodaß auch er den Krieg schätzen lernt. Er überredet Faust, auf Seiten des Kaisers in die Schlacht einzugreifen. Wenn er dem Kaiser hilft, Thron und Land zu behalten, würde er einen riesigen Strand für seine Pläne als Lehen und Geschenk erhalten. Dann könne er seinen neuen Wunsch erfüllen, dem Meer Boden abzugewinnen und einen Musterstaat aufzubauen, „ auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen “ . Alles nimmt seinen Fortgang, wie von Mephisto geplant. Freilich hat auch der Teufel einen Preis dafür zu bezahlen, denn mit seiner Hilfe siegt hier zumindest zunächst das Gute über das Böse mit seiner Hilfe. Auch sorgt Mephisto gemäß dem Pakt getreu für seinen Partner. Faust lebt jetzt im neuen Strand-Land in einem Palast. Fausts Plan ist geglückt. Dem Meer ist durch den Bau eines Kanals Land abgewonnen, wobei das Modell wohl der Erie-Kanal war. Es stört Faust, daß ein kleines Stück Land mit alten Linden und einem kleinen Häuschen, in dem die beiden Alten - Philemon und Baucis - leben, nicht dazu gehört. Sogar die Glocken eines kleinen Kirchleins, das daneben steht, stören ihn. Immerhin hat er für die beiden Alten ein „ Gütlein “ bereit gestellt, auf dem sie materiell besser leben können werden als zuvor. Er gibt seinem Aufseher den Auftrag, den allerdings Mephisto ausführt, die beiden Alten „ zur Seite zu schaffen, da er ja das schöne Gütlein kennt. “ Der Teufel und seine Helfer lösen das „ zur Seite schaffen “ so, daß sie die beiden Alten samt einem Hausgast im Häuschen verbrennen. Wiederum ist Faust in Schuld verstrickt worden. 41 Zu einigen hier nicht besprochenen Stellen des Helena-Akts vgl. Joseph Strelka: Esoterik bei Goethe, op. cit., S. 1 - 43 218 Goethe Faust hat Augenblicke der Reue, da das Gute in ihm zwar unterdrückt, aber nicht zerstört worden ist. „ Könnt ’ ich Magie von meinem Pfad entfernen “ , klagt er. Aber nachdem einmal der Pakt mit Mephisto geschlossen ist, kann er sich nicht daraus lösen. Er muß einfach immer weiter arbeiten, um Erfolg und Macht auszubauen. Sein Gegenspieler im fünften Akt ist der Türmer Lynceus mit seiner geistigen Haltung kontemplativer Schau, durch die er so glücklich ist, wie Faust unglücklich ist. Es ist der grundsätzliche Gegensatz der beiden Haltungen: „ Ich bin die Welt “ und „ Ich habe die Welt “ . Der Türmer sieht die Welt, in der er aufgeht. Faust aber möchte die „ Welt haben “ , und kann dadurch nicht aufhören, immer noch mehr und mehr zu wollen. Er hängt im Grunde mit dem gnostischen Urgegensatz von Gut und Böse zusammen. Die ebenso instinktsichere wie glückliche alte Baucis hat „ zum alten Gott gebetet “ , während Faust in alter Überheblichkeit des Magiers aus dem ersten Teil erklärt: „ Das Drüben kann mich wenig kümmern. “ Als ihn die vier Übel im Leben des Menschen: Mangel, Schuld, Not und Sorge in der Gestalt grauer, alter Weiber in seinem Palast besuchen, ziehen die ersten drei bald wieder ab. Die Sorge aber bleibt. Da entgegen seiner Illusion, durch die er glaubt, immer mehr rein Gutes zu tun und nicht merkt, wie er sich immer mehr in Schuld verstrickt, gibt er der Sorge die Möglichkeit zuzuschlagen. „ Faust ’ s Tod beendet die prätendierte Unbeschränktheit des sich autonom setzenden Subjekts. “ 42 Die Sorge spricht ihm sein Urteil: Auf gebahnten Weges Mitte Wankt er tastend halbe Schritte; Er verliert sich immer tiefer, Siehet alle Dinge schiefer. So ein unaufhaltsam Rollen, Schmerzlich Lassen, widrig Sollen Bereitet ihn zur Hölle. Die Sorge haucht ihn an, er erblindet und mit der äußerlichen Erblindung erreicht zugleich die innerliche Erblindung ihren Höhepunkt. In seiner Hybris will er noch viel mehr schaffen, um noch viel mehr an Schuld anzuhäufen. Es ist sehr bezeichnend für Goethe, daß die äußerliche Erblindung zugleich für die innerliche steht. Faust merkt beide nicht. Als er nach dem Aufseher der Arbeiter ruft, um noch mehr zu schaffen, ist es Mephisto, der verkleidet als Aufseher erscheint. Anstatt den Auftrag des völlig erblindeten Faust auszuführen, ruft Mephisto die Lemuren herbei, um Fausts Grab zu schaufeln. Da ist aber auch schon die 42 Werner Keller: Größe und Elend, Schuld und Gnade: Fausts Ende in wiederholter Spiegelung. In: Werner Keller (Hg.): Aufsätze zu Goethes Faust II, Darmstadt 1991 219 Goethe „ Himmlische Heerschar “ da und ein „ Chor der Engel “ . Im Augenblick der „ Grablegung “ verändert sich die Szene und verlagert sich aus der Ebene von „ des Lebens Abglanz “ auf welcher das Meiste des zweiten Teils gespielt hat, auf eine Ebene des „ Jenseits “ . Goethe hat für die ganze Faust-Dichtung die Bezeichnung „ Tragödie “ , die er 1808 beschlossen hatte, beibehalten. Aber durch die Entwicklung Fausts hat der im Alter gereifte Goethe, dem die Erinnerung an den in der Jugend so geliebten Gottfried Arnold wieder aufgestiegen war, noch einmal umgedacht. Schon 1777 war ihm durch Arnold die Apokatastis panton des Origines ein Trost gewesen. 43 Jetzt gewinnt Origines eine Wichtigkeit wie für Erasmus und aus der geplanten Tragödie wird eine Tragikomödie, wie die späten Romanzen Shakespeares mit ihrem unaufhaltsam positiven Ende. Darum hat Hermann Meyer so sehr das Wesentliche getroffen, als er das Goethe-Wort von den „ sehr ernsten Scherzen “ des Faust II so betont hat. 44 Da die Horde der Satane auf der Bühne unsichtbar bleibt und nur Mephisto sichtbar agiert, ist es auch nur ein einzelner Engel, der erscheint und ankündigt: „ Wir kommen schon, warum weichst du zurück? Wir nähern uns und wenn du kannst, so bleib! “ Aber Mephisto vermag nicht standzuhalten und zu bleiben und die Engel „ entführen Fausts Unsterbliches “ . In einer frühen Fassung steht für „ Unsterbliches “ der Begriff des Aristoteles „ Entelechie “ . Mit Fausts Seele in der Hand der Engel wechselt die Szene ein letztes Mal zu „ Bergschluchten “ . Die Berge ragen bereits in die Richtung des Himmels und in ihren Klüften leben Anachoreten. Der für die Fausthandlung Wichtigste von ihnen trägt den Namen Pater Seraphicus, was ihn in die Nähe der Engel stellt. Zu den Engeln gesellen sich „ selige Knaben “ aus dem Himmel und nun werden auch unter den Engeln verschiedene Arten unterschieden: „ Jüngere Engel “ und „ Vollkommene Engel “ . Die „ Vollendeten Engel “ sorgen sich in gnostischer Konsequenz darum, daß bei Fausts „ Unsterblichem “ ja kein irdischer Rest verblieben ist. Die in der höheren Atmosphäre schwebenden Engel singen das himmlische Urteil über Fausts Dasein: Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen, Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen. 43 Renate Knoll: Zu Goethes erster Erwähnung des Origines. In: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, Heidelberg 1977, S. 192 - 207 44 Hermann Meyer: Diese sehr ernsten Scherze. Heidelberg 1970 220 Goethe Ein Doctor Marianus unter den Anachoreten, der in Goethes Faust die Rolle des Bernhard von Clairvaux in Dantes Komödie spielt, weist auf Maria hin als „ höchste Herrscherin der Welt “ . Und da kommt auch schon die Mater Gloriosa persönlich angeschwebt. Ein „ Chor der Büßerinnen “ verkündet ihr das Flehen von drei ehemaligen Büßerinnen, die jetzt aber höchste Würden erreicht haben, der Magna Peccatrix, der Mulier Samaritana und der Maria Aegyptica. Alle drei haben besondere Barmherzigkeit, Mitleid und Liebe im Leben erzeigt. Die erste ist die Sünderin, von der Lukas berichtet hat. Als Jesus Gast im Haus des Pharisäers Simon war, ist im Unterschied zu Simon selbst sie es gewesen, die Jesus mit ihren Tränen die Füße gewaschen und mit ihrem Haar getrocknet hatte. Die zweite ist die Samariterin aus dem esoterischen Evangelium des Johannes, die Jesus in einer Stadt Samariens am Brunnen Jakobs trifft und der er sagt: „ Gott ist der Geist, und die ihn anbeten, müssen im Geist anbeten. “ Die dritte ist eine überkonfessionelle Heilige, die sowohl von den Katholiken als auch von den Orthodoxen verehrt wird. Sie war ursprünglich eine Prostituierte in Alexandrien, die später Anachoretin in der Wüste und schließlich „ heilig gesprochen “ wurde. Die drei ehemaligen Sünderinnen genießen jetzt die Nähe der Himmelskönigin. Das so sehr menschliche Weltkind Goethe vergißt auch im Himmel sein Gretchen nicht. Sie kommt als „ Una Poenitentium “ dazu und bittet Maria für die Seele des „ früh Geliebten “ . Sie bittet Maria auch, sie zur Lehrerin der neuen himmlischen Seele zu machen und die Himmelskönigin erweist sich als Menschenkennerin und gewährt die Bitte mit den Worten: Komm! Hebe dich zu höhern Sphären! Wenn er dich ahnet, folgt er nach. Der Chorus mysticus, der das letzte Wort hat, verkündet die Erkenntnis: „ Alles Vergängliche, ist nur ein Gleichnis . . . “ Damit die so realitätsbezogene ästhetische Ebene des ersten Teils als „ unwirkliches “ Gleichnis enthüllt. Es ist wohl eine der meist unverstandenen Stellen in der großen Dichtung: Das unzugängliche, Hier wird ’ s Ereignis. Was fast alle als metaphysische Phantasievorstellung nehmen, weil das Himmlische, Göttliche unzugänglich ist, hier wird es wirkliches Ereignis: Das Unbeschreibliche, Hier ist ’ s getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan. 221 Goethe Die direkte, emporziehende Kraft des „ Weiblichen “ ist oberflächlich gesehen die Kindesmörderin Gretchen, nachdem drei andere ehemalige Sünderinnen für Fausts Seele gefleht haben. Aber Gretchen ist es genau so wenig als Einzelperson, wie die Führerin Dantes ins Paradies seine ehemalige Kindesliebe allein gewesen ist. Dieser Schluß bekräftigt Goethe als Gnostiker. Er weiß, daß im irdischen Bereich das Böse einfach nicht ausgeschaltet werden kann und erst im Pleroma das Böse vollständig eliminiert ist. Das ist auch der Grund, weshalb die vollendeten Engel das „ Unsterbliche “ Fausts so genau untersuchen, ob nicht ein irdischer Rest an ihm haftet. So wie bei Dantes Beatrice nur ein Teil die alte Kindesliebe repräsentiert und der Hauptteil die Templergnosis, gemeinsam ein synkretistisches Symbol, so liefert für die himmlische Seele Gretchens der Jugendliebe Goethes nur den für ihn immer wichtigen „ konkreten “ Anteil des Symbols während die Grundkraft das gnostische Urprinzip des „ Weiblichen “ ist, allgemein versinnbildlicht durch Sophia. Sie ist abstrakt versinnbildlichte Allegorie des Weiblichen, was sie hier nur vor allem ist. Hier ist sie das Symbol der gnostischen Urmutter Sophia, die in verschiedener Weise in Erscheinung getreten ist. Sie hat Gott bei der Erschaffung der Welt geholfen, weshalb sie alle seine Wege kennt, sie ist das Nachdenken Gottes und sie ist sein Instrument, durch das er sein Wissen in die Tat umsetzt. Vom hermetischen Standpunkt gibt es sie zwar, doch hat Hermes in den Poimandres nur einen Teil noch älterer gnostischer Überlieferung aufgenommen. Die gnostische Ahnherrin der Sophia ist die Boulé, deren Name verschwunden ist, die aber nicht weniger bedeutend war, da sie den „ Willen Gottes “ versinnbildlicht hat. 45 Was den Gesamtaufbau des Faust betrifft, so stellt er eine geradezu überraschende Einheit dar, wenn man bedenkt, daß sich seine Entstehungszeit über ein halbes Jahrhundert erstreckt. Der Faust ist nicht nur das am spätesten abgeschlossene Alterswerk Goethes, sondern zugleich das spirituell am weitesten entwickelte. Im Grund ist das Werk wie jenes Dantes in drei Teile geteilt, wenngleich dies nicht so streng von vornherein geplant und durchgeführt wurde wie bei dem mediterranen Dichter. Jegliche Dichtung findet nicht auf der empirischen, sondern auf einer ästhetischen Ebene statt. Aber diese eine große ästhetische Ebene wird im Faust in dreierlei Gestalt verwirklicht. Der erste Teil hat eine realitätsbezogene Gestalt. Der zweite Teil hat romantische Gestalt, die nicht das reale Leben, sondern dessen „ Abglanz “ schildert, jedoch noch im Geistigen des irdischen Bereichs stattfindet. Der dritte Teil findet in einem jenseitigen Bereich statt. Dieser bildet sogar durch den „ Prolog im Himmel “ den metaphysischen Rahmen des Ganzen, in den Teil I und II eingebettet sind. Denn auch der Faust zielt ins Absolute. 45 Hans Jonas: Gnosis, op. cit., S. 209 - 210 222 Goethe Die engen Grenzen der realitätsbezogenen Gestalt des ersten Teils zeigen sich besonders deutlich da, wo versucht wird, den Horizont des erfahrungsbezogenen Verstandeswissens zu überschreiten und das geschieht im nordischen Walpurgisnachtstraum im „ Harzgebirg. “ Hier geht es um Schwarze Magie und Hexenspuk. Wenn aber positive nordische Phantasiegestalten wie Oberon, Titania und Puck genannt werden, dann geht es nicht um sie selbst, sondern dann geht es um eine Fortsetzung der Goetheschen „ Xenien “ , eine oft etwas verschlüsselte Satire irdischer Verhältnisse vielfach am Beispiel wenig idealer Autoren. Dadurch wird ein besonderer Zweig der jämmerlichen irdischen Welt enthüllt. Die engste Beschränkung dieser negativen und finsteren Welt des Mittelalters zeigt sich in der exoterischen Figur mit dem sprechenden Namen Orthodox. Für ihn ist alles, was außerhalb fundamentalistischer Beschränktheit existieren möchte, „ teuflisch “ . Darum setzt er auch Oberon nicht nur mit den Göttern Griechenlands, sondern auch mit den christlichen Teufeln gleich. Das positive Gegenstück zum nordischen Walpurgisnachtstraum ist die Klassische Walpurgisnacht des Zweiten Teils mit dem ägäischen Fest und der notwendig kurzen, endlichen „ Verwirklichung “ von einem irdischen Paradies für Faust durch die Gewinnung Helenas. Hier geht es um eine lebensbejahende, lebensfreudige, heitere Welt eines Goetheschen klassischen Griechentums, das keinen Raum für christlichen Teufelsspuk und seiner Höllenangst hat. Anstelle der Schwarzmagie, der primitiven Goldmacher-Alchemie und der Gretchen- Tragödie des finsteren Mittelalters folgt nach dem innerlichen Wiedergeburtsakt des Gesundschlafes in Faust II ein neuer Renaissance-Faust der Verbindung mit der klassischen Helena dem Reich der Mütter und schließlich der Auffahrt in einen nicht-protestantisch fundamentalistischen Himmel, sondern in einen solchen mit gnostischen Zügen. Für Goethe stand die Gestaltung der Welt des zweiten Teils wesentlich höher als jene des ersten, die verglichen damit primitiv wirkt. Mit der Szene der Grablegung im fünften Akt endet aber auch diese für den irdischen Bereich positivere phantastische Welt und eine völlig andere des Jenseits beginnt. Was sie mit derjenigen der Klassischen Walpurgisnacht verbindet, ist der Umstand, daß sie gleicher Weise keinen Raum für Mephisto und Teufelsspuk hat. So eindrucksvoll die spirituellen Einsichten und auch ihre großartige Gestaltung in den anderen Alterswerken, in den Wanderjahren, in der Farbenlehre und im West-Östlichen Divan auch sind, als umfassende Gesamtdarstellung innerer menschlicher Entwicklung ist der Faust das bedeutendste Werk, vielleicht auch, weil diese Dichtung in ihrer langen Entstehungszeit die ganze geistige Entwicklung Goethes bis zuletzt widerspiegelt und zum Ausdruck bringt. Stuart Atkins hat es alles in zwei Sätzen zusammengefaßt: „ Goethe begann Faust in den frühen Siebzigerjahren, als er und andere junge Dichter sehr bemüht waren, etwas zu schaffen, was sie erhofften, würde eine Literatur mit besonders deutschen Themen und Eigenschaften sein und verwandelte in der Folgezeit alles 223 Goethe in ein Drama, das humanistischen und kosmopolitischen Werten Ausdruck verlieh, die alle Nationalismen überwanden . . . Er war geleitet vom Ideal einer neuen Klassik, die für immer ihre ästhetischen und naturwissenschaftlichen Seinsweisen vereinigen und den Einfluß . . . der hohen künstlerischen Errungenschaften und die beispielhafte Größe der griechisch-römischen Antike in einer Renaissance widerspiegeln sollte. “ 46 46 Johann Wolfgang Goethe: Faust I und II. Herausgegeben und ins Englische übersetzt von Stuart Atkins, Princeton (New Jersey) 1994, S. 307 224 Goethe EMERSON Ralph Waldo Emerson hat die geistige Traditionskette in einer Vollständigkeit und Verständnistiefe seinem eigenen Geist in einer fast unglaublichen Weise einverleibt. 1 Es war Marsilius Ficinus, der sie entdeckt und beschrieben hat: Hermes Trismegistos, Pythagoras, Plato, Seneca, Plotin. Emerson hat in der Jänner-Nummer von 1844 seiner Zeitschrift Dial die erste Hälfte Aussagen Buddhas, die zweite aber Hermes Trismegistos gewidmet. Er hat sich wiederholt mit Pythagoras und den Pythagoräern beschäftigt und das zweite Mal seine Einsicht so vertieft, daß er entdeckt hat, daß sowohl Plato wie Plotin „ Pythagoräer “ gewesen sind, wodurch dieses Glied der Kette förmlich verlebendigt wurde. 2 Plato, den er für den größten hielt, hat ihn so beschäftigt, daß sich in seiner Befassung mit seinem Werk sieben Entwicklungsstufen eines immer tieferen Eindringens unterscheiden lassen. Obwohl er für seine Arbeiten immer Übersetzungen benutzte, konnte er ihn im Original lesen. Von Seneca hat er nicht nur die Briefe gelesen und in einem seiner Vorträge seine Moral behandelt, sondern der wohl genaueste Kenner und beste Biograph Emersons, Robert D. Richardson, hat ihn zusammen mit Thoreau einen „ modernen Stoiker “ genannt 3 , denn er war besonders interessiert an Selbstbestimmung und Autonomie der Persönlichkeit. Bei Plotin waren es vor allem zwei Punkte, die ihn tief bewegten: Erstens die Anschauung von der Welt als Emanationen und die Vereinigung in Ekstase mit dem „ Einen “ . Zweitens aber, und davon war er förmlich hingerissen, daß die letzte Stufe der Emanationen eine mystische Vereinigung mit Gott zur völligen Selbstbewußtheit darstellt. Diese letzte Stufe ist dadurch charakterisiert, daß vom normalen rationalen Wissen her Ich und Gott völlig getrennt erscheinen und die Beziehung des Ich zu Gott eine rein dualistische ist. In der Ekstase fällt alle Dualität weg und eine volle Identifikation mit dem „ Einen “ ist erreicht. Ein Punkt jenseits irdischer Freuden und Beschränkung ist damit erreicht. Plotin 1 Emerson Ausgaben: The Collected Works of Ralph Waldo Emerson. Hg. von Robert Spiller u. a., Cambridge (Mass.). 1971; The Journals and Miscellaneous Notebooks of Ralph Waldo Emerson. Hg. von William Gilman u. a., Cambridge (Mass.) 1960 - 1982; The Letters of Ralph Waldo Emerson. Hg. von Ralph R. Rusk und Eleanor M. Tilton, New York 1995. Wenn aus Übersetzungen ins Deutsche zitiert wird, werden die Ausgaben jeweils angegeben. 2 Robert D. Richardson Jr.: Emerson. Berkeley - Los Angeles - London 1995, S. 347 3 Richardson, op. cit., S. 283 spricht davon metaphorisch als einem „ Flug von allein zum Allein. “ Emerson hat die Wendung in sein Tagebuch notiert. Aber nicht nur das. Noch überraschender ist, daß er zu den bisher hier behandelten Autoren, die in der Traditionskette standen, gleichfalls eine Beziehung besaß. Dante war für ihn nicht einfach ein Dichter, sondern der Repräsentant einer Epoche und einer Nation. Seine Vita nuova war für ihn ein Buch „ wie die Genesis “ , als ob sie vor aller Literatur geschrieben worden wäre, als die Wahrheit existierte. Er hat sie sogar übersetzt und nannte sie eine „ Bibel der Liebe “ . 4 Was Erasmus betrifft, so hat Richardson Emerson nicht nur einen Autor „ von erasmischem Geist “ genannt, sondern auch ausgeführt, weshalb er das ist: „ Mit seiner Toleranz, seinem Glauben an den freien Willen, seiner Haltung als Reformer (anstatt Revolutionär), seinem Zurückweisen der Idee die Form, womöglich sogar allein, vor den Gehalt zu stellen, seine Liebe zur wirklicher, großer Bildung, seiner Ehrfurcht vor der Gelehrsamkeit, seiner gesamtmenschheitlichen Haltung und seiner Menschlichkeit. “ 5 In seinem Buch über nur sechs große Geister der Menschheit Representative Men hat er Plato als Philosophen, Shakespeare als Dichter, und da er ein Goethe- Verehrer war, und der auch hinein mußte, Goethe als Schriftsteller aufgenommen. In seinem Shakespeare-Essay stehen die Sätze: „ Shakespeare überragt die bedeutenden Autoren und die bedeutungslosen in gleicher bedeutender Weise “ und: „ Diese Gewalt über den Ausdruck, diese Begabung, die tiefinnerste Wahrheit der Dinge in Musik und Verse zu bringen, macht ihn zum Vorbild aller Dichter und hat zugleich den Metaphysikern ein neues Problem geliefert. “ In seinem ersten Buch Nature hat Emerson gerade aus dem Tempest fünfzehn Verse im Zusammenhang mit dem Abschluß und Höhepunkt des Kapitels zitiert. Goethe hat er in seinem Kapitel über ihn als Modell des Schriftstellers schlechthin bezeichnet, da sich sein Universalgenie nicht auf Dichtung allein beschränkt hat. In sein Tagebuch schrieb er: „ es wird künftig zur Kenntnis genommen werden, was die Ereignisse der Kultur im 19. Jahrhundert waren: die neue Wichtigkeit von Dante, Michelangelo und Raphael für Amerika: das Lesen von Shakespeare und vor allem das Lesen von Goethe. Goethe war die Kuh, von der sie alle ihre Milch abzapften. “ 6 Im Einzelnen hat er von Goethe besonders die Wanderjahre bewundert, die er zuerst durch eine Besprechung Carlyles darüber kennen lernte. Besonders berührt ihn, daß Goethe die Ehrfurcht zur Grundlage der Religion gemacht 4 John Mc Aleer: Ralph Waldo Emerson. Boston und Toronto 1984, S. 63 5 Richardson, op. cit., S. 291 6 The Journals and Miscellanous Notebooks of Ralph Waldo Emerson, op. cit., Bd. IX, S. 382 226 Emerson hat. Später las er den Roman in Carlyles Übersetzung, obwohl er auch deutsch lesen konnte. Er urteilte, diese wären ein Roman für sich, das beste seiner Art. Wie Goethe kannte er den Divan des Hafis aus der deutschen Übersetzung von Hammer-Purgstall und wie Goethe war er von Hafis so begeistert, daß er ihn zu übersetzen begann. In der ersten Gesamtausgabe seiner Gedichte durch seinen Sohn finden sich unter den Übersetzungen auch sechs Hafis-Gedichte. Er besaß jedoch ein Notizbuch von 250 Seiten mit Übertragungen altpersischer Lyrik und der größte Teil waren Hafis-Gedichte. Er hat auch die Farbenlehre geschätzt, die er sehr richtig als ein Buch darüber verstand, wie die Farbe vom menschlichen Auge aufgenommen wird. Sie sei als gegen Newton gerichtet beschimpft worden, hätte aber großes Interesse bei Malern gefunden. Bei Faust hielt er den zweiten Teil für das Beste, der über den ersten Teil hinausführt und innerhalb des Zweiten Teils liebte er besonders den Helena-Akt. Alle die vier Alterswerke, in denen es hier im Goethe-Kapitel geht, waren ihm besonders wichtig. Außerdem schätzte er sehr Goethes Briefwechsel mit Bettina von Arnim und die Italienische Reise. Er selbst hat seine erste italienische Reise, da er aus dem Süden kam, in Sizilien begonnen, wo Goethe endete und hat sie ganz dem Vorbild Goethes folgend, nur umgekehrt, von Süden nach Norden durchgeführt. Dabei waren seine Eindrücke allerdings oft andere, als jene Goethes. Als Emerson seine „ Adresse an die Divinity School “ in Harvard hielt, die dann in Ergänzung zur politischen die „ literarische Unabhängigkeitserklärung “ Amerikas genannt wurde, sagte er: „ Ich habe keine Vergangenheit. “ Das stimmte nicht nur in dem Sinn, daß der amerikanische Staat erst siebenundzwanzig Jahre vor der Geburt Emersons gegründet worden war, es stimmte auch in geistiger Hinsicht im Hinblick auf seine Frühzeit. Denn sein Eintritt in die geistige Traditionskette erfolgte erst später, als er mehr und mehr für sich die geistige Tradition der ganz Großen entdeckte und absorbierte. Zu den Irrtümern des ganz frühen Emerson hatte es gehört, daß der Pastorensohn, der zunächst selbst Pastor wurde, die Tradition des protestantischen Fundamentalismus verstärken wollte, indem er sich Luther und Calvin zugewendet hatte. Dann entdeckt er jedoch, daß das, was er die „ wirkliche Reformation “ nannte, und das war das Freibrechen vom Dogmatismus des katholischen Fundamentalismus, seine Wurzeln im englischen Commonwealth hatte. Nicht die puritanischen Pilgerväter, sondern die Quäker standen am Beginn. Nicht die Schrift, sondern der Geist war für ihren Gründer George Fox das Wesentliche gewesen. Und der konnte nicht durch äußerliche Riten und Dogmen kommen, sondern den trug jeder in sich. Je mehr Emerson aber das Licht und den Geist in jedem entdeckte, desto klarer wurde ihm der Ballast geistiger Beschränkung, unter dem die Menschen litten. „ Der Mensch hat sich selbst mit alten Irrtümern belastet, mit Gebräuchen 227 Emerson und Zeremonien, mit Gesetz, Eigentum, Kirche, Kostümierung und Büchern, bis er fast unter seinen eigenen Institutionen erstickt wäre “ , verkündete er in einem Vortrag in Boston am 5. Dezember 1838. Seine Vorträge „ Doctrine of the Soul “ und „ Individuum “ von 1837 in der Masonic Hall von Boston enthalten vieles, was sich später in dem berühmten Essay von der „ Überseele “ wiederfindet, in dem die Idee von C. G. Jungs kollektivem Unbewußten vorweg genommen ist. Mit ihnen war sein erster Eintritt in die Traditionskette vollzogen. Damit war auch die geistige Unabhängigkeit Amerikas in Ergänzung zu ihrer politischen vollzogen. Der antipuritanische Roman Hawthornes Der scharlachrote Buchstabe ist die Ergänzung der Ablehnung der lebensfeindlichen Negation des Seins, ist epische Ergänzung zu Emersons „ inneren Ballast “ des Menschen mit Irrtümern, der gleichfalls auf eine ehrwürdige Tradition zurück blicken kann. Hawthorne hat ja auch längere Zeit in der berühmten „ Old Mans “ in Concord gelebt und war eine der wichtigen Gestalten der „ American Renaissance “ . 7 Von dieser Amerikanischen Renaissance ergibt sich eine Verbindung zu jenem Zeitabschnitt der Traditionskette, dem die Autoren dieses Buches angehören. Matthiessen konnte an den Beginn seines denkwürdigen Buches kein besseres Zitat stellen als jenes von Emerson: In der Geschichte jeder Nation gibt es einen Augenblick, in dem die wahrnehmenden Kräfte entstanden aus primitiver Jugend bereits ihre Reife erreicht haben, aber noch nicht mikroskopisch geworden sind, sodaß der Mensch die gesamte breite Skala überblickt, mit seinen Füßen noch auf den ungeheuren Kräften der Nacht stehend ein inneres Gespräch durch seine Augen und seinen Geist mit den Schöpfungen der Sonne und der Sterne führt. Das ist der Augenblick des Erwachsenseins, der höchste Punkt (geistiger) Macht. 8 Die größten Autoren der Renaissance sind aus nationalen Höhepunkten heraus entstanden, ohne daß sie Nationalisten waren, da es allen von ihnen um Gesamtmenschheitliches und dazu noch um das makrokosmische Universum ging. Auf den renaissancebezogenen Charakter des Zeitabschnitts, den dieses Buch behandelt, ist bereits im Vorwort Bezug genommen worden. In seinem bereits genannten Buch Representative Men hat Emerson durch seine Auswahl der sechs Namen auch dieser Tatsache Rechnung getragen. An den Beginn des Buches hat er einen der Ahnherren der gesamten Traditionskette gestellt, Plato, der ihm der wichtigste schien. Die fünf folgenden waren Geistesvertreter einer jeweiligen Renaissance, wobei die beiden literarischen in diesem Buch behandelt werden. Als Emerson 1834 nach Concord zog, wo er sein ganzes Leben verbringen und das er berühmt machen sollte, da zog er zuerst in die berühmte „ Old Mans “ , 7 F. O. Matthiessen: American Renaissance. London - Oxford - New York 1941, S. 179 - 368 8 F. O. Matthiessen, op. cit., S. VII 228 Emerson wo er bei seinem Stiefgroßvater Ezra Ripley wohnte. Auch Hawthorne und einige weniger berühmte Gestalten wohnten dort. Die große Mansion war ursprünglich von Verehrern von Emersons Vater, Pastor William Emerson gebaut worden, der sowohl durch seine publizistische Tätigkeit als auch durch seinen Patriotismus bekannt war und der später in eine größere Kirche nach Boston übersiedelte, wo Emerson geboren wurde. Von der „ Old Mans “ aus konnte man gut die berühmte „ North Bridge “ beobachten, auf welcher das erste Gefecht zwischen britischen Soldaten und amerikanischen Aufständischen stattfand und wo der „ erste Schuß fiel, der um die Welt ging “ und den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg einleitete. Als Emerson am 25. Mai 1803 geboren wurde, war sein Vater bereits längst Pastor der berühmten First Church of Boston. Damit war er ein angesehener Mann, Seelsorger des Senats und nebenbei auch Seelsorger der Bostoner Artilleriekompanie, die aus dem Unabhängigkeitskrieg hervorgegangen war. Schon William Emerson zeigte einen Hang zum Liberalismus, so sehr, daß er Mitglieder seiner Herde verlor, weil sie ihm ankreideten, daß er es mit der kirchlichen Konvention nicht zu ernst nahm. Dabei war in Boston ohnehin bereits der alte, sterile Puritanismus der ersten Einwanderer weitgehend durch den Unitarismus ersetzt worden. Als Reverend William Emerson starb, war der jüngere Sohn Ralph noch keine acht Jahre alt. Das Begräbnis zeigte die Bedeutung und Beliebtheit des Vaters. Die gesamte Artilleriekompanie marschierte vor dem Leichenwagen, Ralph und sein älterer Bruder William folgten ihm. Der Begräbniszug war so lang, daß die Spitze „ King ’ s Chapel Burying Ground “ , den Friedhof, erreichte, als die letzten Wagen die First Church of Boston verließen. Es war ein Aufwand, den Ralph nicht vergessen sollte. Im Alltag allerdings bedeutete der Tod des Vaters ein härteres Leben. „ Ich habe keine freundlichen Erinnerungen an meine Jugend “ , schrieb Ralph im zweiten seiner Tagebücher. Oft mußte er ohne Abendessen ins Bett gehen und den Wintermantel teilte er mit seinem Bruder. Seine erste, junge Frau starb achtzehnjährig nach kaum zweijähriger Ehe, der erste, heiß geliebte Sohn starb fünfjährig. 9 Er trug alles mit großer Gelassenheit und Würde. Dabei war er eine besonders zart besaitete sensible Seele. Eines Tages beobachtete er als Kind einen kräftigen Mann, der zwanzig Klafter Holz in kleine Stücke zum Heizen zusammen sägte, die der Pfarrei für den Winter zugewiesen worden waren. Während der Arbeit schimpfte der Mann leise vor sich hin. Einem so starken Mann mit einer so schweren Säge zu helfen, war jenseits von Emersons Möglichkeiten. Nach einigem Nachdenken, wie er doch 9 John Mc Aleer listet in seiner Biographie, op. cit., S. XI, eine ganze Reihe von Schicksalsschlägen auf und sein ganzes sechstes Kapitel trägt den Titel „ Eine spartanische Jugend “ . 229 Emerson dem armen Mann helfen könnte, fragte er ihn: „ Kann ich vielleicht das Brummen für sie tun? “ Elfjährig besaß er bereits ein solches Wissen, daß er Verse schrieb und eine Versübersetzung der fünften Ekloge von Vergils Bucolica begonnen hatte. Sarah Bradford, nach ihrer Heirat Sarah Ripley, eine Freundin von Emersons Tante Mary Moody Emerson, hatte durch einen Helfer in der Lateinschule davon erfahren. Sie war eine der gescheitesten und belesensten Frauen im damaligen Amerika und von ungeheurer Bildung und Gelehrsamkeit. Sie lud ihn 1815 zu einem Briefwechsel ein. Er müsse aber die fünfte Ekloge beenden, was seinem Latein wie seinen Verskünsten sehr helfen würde. Sie fragte ihn, ob er ihr nicht einen lateinischen Brief schreiben könnte und wenn griechisch seine Lieblingssprache sei, noch besser einen griechischen. Es würde ihr „ eine Ehre sein, mit einem jungen Gentleman griechisch zu korrespondieren “ . Der Briefwechsel bedeutete einen Bildungsaufschwung für den jungen Emerson. Sarah Ripley ist später als „ griechische Göttin in Yankee dress “ beschrieben worden, „ welche die Wäsche der Familie wusch, die Fußböden scheuerte, Klopstock übersetzte und Homer, Vergil und Aristoteles in der Schule ihres Gatten lehrte. Von 1817 bis 1821 studierte er in Harvard, wo alle seine Vorfahren studiert hatten. Er erhielt sowohl Stipendien vom College als auch von der „ First Church of Boston “ und hatte trotzdem mit finanziellen Nöten zu kämpfen, sodaß er Nachhilfestunden geben mußte. Danach unterrichtete er an einer „ Schule für junge Damen “ in Boston. Im Mai 1823 war Ruth Emerson, seine Mutter, mit der Familie in das Canterbury-Viertel nach Roxbury gezogen, eine pittoreske Wildnis, mit Wald, Feldern, aber doch recht nahe am Zentrum Bostons, sodaß Waldo, wie er sich jetzt nannte, seinen Lehrerposten ausfüllen konnte. Zwar hatte Emerson Wordsworth erst bei seiner Europareise zehn Jahre später kennen gelernt, aber sein Geist war längst in sein Bewußtsein eingedrungen: Es war eine pantheistische Schau innerlich erlebter Naturauffassung als Quelle der Menschenliebe. Im Jahr 1823 hörte Emerson auch zum ersten Mal einen Vortrag Edward Everetts über die Eleusinischen Mysterien. Im April 1824 schrieb er sein erstes reifes Gedicht, das auf das Verlassen Bostons und die Übersiedlung nach Roxbury verweist. Es trägt den Titel „ Good bye “ und schildert das Verlassen der Stadt mit ihren „ Sophisten Schulen “ und „ gelehrten Clans “ im Gegensatz zur herrlichen Natur. Hier ist es, „ When man in the bush with God will meet. “ Das erklärt den Namen, den er mit seiner zweiten Frau zehn später seinem Haus in Concord geben sollte: „ Bush “ . Der Name hat sich bis heute gehalten. Emerson hat sich ja zuletzt auch in der schönen Natur rings um Concord nieder gelassen. Im Jahr 1825 wurde er in die „ mittlere Klasse “ der unitarisch-theologischen Divinity School aufgenommen und las im November zum ersten Mal Plato. Es war aber sein „ erster “ , frühester Platon, ein Plato des 18. Jahrhunderts von André 230 Emerson Dascier und Nicholas Souverain, die ihn als Vorläufer des Christentums verstanden. Im darauf folgenden Jahr wurde er als unitarischer Pfarrer approbiert. Am 15. Oktober hielt er in Waltham seine erste Predigt und schon einen Monat später reiste er auf einem Schiff nach Süd-Carolina, um im südlichen Klima seine Tuberkulose aus zu kurieren. Von Charleston ging es weiter nach St. Augustine und im März wieder zurück nach dem Norden. Ein Mitpassagier auf dem Schiff war Achilles Murat, ein Neffe Napoleons und Sohn des legendärem Kavalleriekommandanten Joachim Murat. Emerson freundete sich mit dem verhinderten Kronprinzen an, da er in ihm ein lebendiges Beispiel der Lehren Montaignes fand, den er bewunderte. Es war eine erste, noch flüchtige Begegnung mit einem Vertreter europäischer Geistigkeit und ein vertieftes Bild von Montaigne blieb ein Leitbild seiner Geistigkeit. Grundsätzlich waren die europäische und die amerikanische Geistigkeit ja gleicher Weise westlich-abendländisch. Schon zwei Jahre vorher hatte er auch schon in sein Tagebuch notiert, daß er gedachte, ein Buch zu schreiben, das sich der Reihe der Sprichwörter Salomons und der Essays von Montaigne würdig anschließen lasse. Im Jahr 1829 wurde er zum „ Junior Pastor “ der „ Second Church of Boston “ geweiht und heiratete im September Ellen Tucker. Das Glück des jungen Paares war fast von Anfang an von den Beschwerden der Tuberkulose von Ellen überschattet. Nach dem frühen Tod seiner jungen Gattin kündigte er seinen Beruf als Junior Pastor und machte 1833 eine viele Monate währende Bildungsreise nach Europa. Er hatte durch seine Gattin eine große Mitgift erhalten. Die Reise führt ihn nach Italien, Frankreich, England und Schottland. Auf dieser Reise besuchte er Landor, Coleridge, Carlyle und Wordsworth. Im Oktober nach Hause zurückgekehrt, gab er am 5. November 1833 seinen ersten weltlichen Vortrag in der Masonic Hall von Boston über „ Die Verwendung von Naturgeschichte “ . 10 Der Titel bezieht sich auf die Verwendung des Schriftstellers von Natur als Quelle der Sprache, der Metaphorik, der Bilder aller Art. Er beginnt mit dem botanischen Garten in Paris, der die Ordnung der Pflanzen als eine Grammatik der Botanik beschwört, weitet dieses Bild durch Einbeziehung der menschlichen Sympathie für Tiere und alles Unbeseelte zu einer Idee der Ordnung des Mikrokosmos aus und gelangt schließlich zum Astronomen, für welchen der Globus ein bewegliches Observatorium für den Makrokosmus darstellt. Das Ganze ist eine gleichnishafte frühe Skizze von der Harmonie des Universums und zugleich ein erstes Zeugnis von Einsichten, die er in Europa gewonnen hat. 10 Stephen E. Whicher, Robert E. Spiller und Wallace E. Williams (Hg.): The Early Lectures of Ralph Waldo Emerson, 3 Bde., Cambridge (Mass.) 1961 - 1972 231 Emerson 1834 entwarf er dann in seinem Vortrag „ The Naturalist “ die Theorie einer beseelten Natur, in dem er Goethes platonische Ideen zur Metamorphose der Pflanze zitierte und in dem sich der Satz findet: „ Ein niemals endendes JETZT regiert die Natur, das in unseren Sträuchern dieselbe Rose erzeugt, die schon die Römer und die Chaldäer faszinierte. “ Ist es ein Zufall, daß die Idee bereits Michael Maier in seinem Buch Atalanta Fugiens vorweg genommen hatte oder ist auch das schon ein Ertrag der Europareise? Er war in Wort und Schrift ein aktiver Gegner der Sklaverei. Außerdem protestierte er in einem groben Brief an Präsident Martin Van Buren, der später den Beinamen „ Martin Van Ruin “ erhielt, gegen die entsetzliche Politik gegen manche Indianerstämme. In seinem Brief bezog er sich auf die „ Straße der Tränen “ , die durch die gewaltsame Umsiedlung des ganzen Cherokee-Stamms in wilde Gebiete westlich des Mississippi durch die Armee zustande gekommen war. Grundsätzlich war er kein Freund einer solchen Kampagne, weil er als das sicherste Mittel für jegliche Verbesserung in der individuellen Selbstveredlung jedes Menschen sah. Er ging auch erst nach anfänglichem Widerstreben auf das Thema ein, als immer mehr Einzelheiten über das Ausmaß der Gemeinheit des ganzen Vorgehens bekannt wurden. Es gab einen Schwindel-Vertrag, nach dem die Indianer gegenüber dem früheren Präsidenten, Andrew Jackson, in die Übersiedlung eingewilligt haben sollten. Die Sache der Cherokees war zuerst vom Obersten Gerichtshof der USA und sodann von berühmten Pionieren des Aufstrebens des neuen Staates unterstützt worden. Früh im Jahr 1838 fand auch in der Kirche von Concord eine Versammlung zu diesem Thema statt, bei der Emerson als Sprecher für die Indianer auftrat. Schließlich warnte er in seinem Brief Van Buren davor, den Sessel des Präsidenten in Infamie zu stürzen, würde er das Zwangsumsiedlungsdekret unterzeichnen. Van Buren war der achte Präsident der Vereinigten Staaten gewesen. Ein sehr viel späterer Präsident, Rutherford B. Hayes, hielt viel auf den in der Zwischenzeit auch sehr viel bekannter gewordenen Emerson. Als er das Weiße Haus verließ, schrieb er: „ Ich bin sehr viel einverstandener mit allem, was auch immer kommt, seit ich Emersons gelassene, stille, selbstzufriedene Art mit den tiefsten Fragen fertig zu werden, gelesen habe . . . Ich bestehe darauf, je mehr wir von Emerson gelesen haben, umso mehr mögen wir ihn; desto weiser werden wir sein, desto besser werden wir uns selbst finden und als Folge davon (wenn irgendetwas Folge ist), um so glücklicher. “ 1834 war er in die „ Old Mans “ übersiedelt, wo er aber nicht allzu lange blieb. Im Juli 1836 kaufte er mit seiner Braut eine altes „ Federal House “ in Concord, in das er nach seiner Heirat mit Lydia Jackson im September einzog. Im Jahr 1836 erschien auch sein erstes Buch Nature. 11 Es wurde zu Recht gesagt, daß es „ quintessentiell “ im Kern die ganze Geistigkeit Emersons enthalte, 11 Deutsche Übersetzung von Harald Kiczka, Schaffhausen 1981 232 Emerson seine Auffassung von Natur und Seele und auch seinen Transzendentalismus. Obwohl das Ganze zutiefst aus seinem Eigenen stammt, gab es für das Buch zwei entscheidende auslösende Momente. Das erste auslösende Moment war ein persönliches und stammte aus seiner Begegnung und Heirat mit Lydia Jackson. Sie wurde im Jahr 1834 von einem Freund gefragt, wie es ihr gefallen hätte, ihre eigenen Ideen in der Kirche „ gepredigt “ zu hören. Er bezog sich auf die Predigt, die Emerson in Plymouth, dem Heimatort Lydias, gehalten hatte. Lydia war menschenscheu und neurasthenisch und wann immer sie neurasthenische Anfälle hatte, fühlte sie „ Terror “ in sich. Aber das war nur die negative Kehrseite einer völlig ungewöhnlichen Sensibilität, die ihren Geist befähigte, mehr zu sehen und zu erkennen als ihre normalen Nebenmenschen. Eines Tages, als sie die Stiege in ihrem Elternhaus hinunter ging, hatte sie eine Vision: Sie sah sich selbst im Brautkleid und neben ihr Emerson als Bräutigam die Stufen hinabgehen. Sie hatte ihn bis dahin nur flüchtig gekannt. Das mag natürlich im Sinn von Freud als Wunscherfüllung im Traum gedeutet werden. Aber als die Vision Wirklichkeit geworden war, da repräsentierte diese Heirat für Margret Fuller die höchste der drei Arten von Heirat, die sie unterschied: „ Die Wanderung von zwei Seelen zueinander “ . Lydia Maria Child aber berichtete, Emerson hätte eine Swedenborgianerin geheiratet. Emersons Biographen beobachteten, daß sie aus der Familie wie aus einer Stadt von Seefahrern kam und dadurch Vorzeichen erfassen und deuten konnte. Emerson selbst hat Lydia Lidia, als Kurzform von „ my Lydian Queen “ , genannt. Der unwahrscheinlich gelehrte Emerson mag gewußt haben, daß die erste Königsdynastie, die Mennaken, ihre Herkunft auf die Göttin Kybele zurückführten, die in Rom als die große Muttergöttin galt wie Sophia oder Isis. In Emersons Buch Nature taucht auch Swedenborg plötzlich drei Mal auf und einmal davon sogar als Glied einer geistigen Traditionskette, die der dieses Buches sehr ähnelt: Die Ägypter, was Hermes Trismegistos einschließt, die Brahmanen, Pythagoras, Platon, Bacon, Leibniz und Swedenborg. 12 Das zweite auslösende Moment des ersten Buches war das Lese-Erlebnis durch Jakob Böhme, dessen Aurora die wichtigste Lektüre Emersons des Jahres 1835 gewesen ist. 13 Boehme hatte mit dem Großteil der mittelalterlichen Mystik insofern gebrochen, als sich bei ihm nicht der Mensch zu Gott empor entwickelt, sondern Gott aus dem eigenen Inneren aufstieg und so erfahren wurde. Am Beginn des Buches steht die Grundformel: „ Philosophisch betrachtet ist das Universum zusammengesetzt aus Natur und Seele. “ Wobei Emerson ähnlich wie Goethe fast nur positive Seiten der Natur beschreibt. Seine Begründung dafür klingt wie Jakob Boehme: „ Aus diesem Grunde errichtet jener Geist, das heißt das höchste Wesen, die Natur nicht um uns herum, sondern bringt sie 12 Emerson: Natur, op. cit., S. 60 13 Vgl. Richardson, op. cit., S. 200 - 205 233 Emerson durch uns hervor . . . Wie eine Pflanze auf der Erde, so ruht der Mensch im Schoß Gottes; ihn nähren unversiegbare Quellen, aus denen er unerschöpfliche Kraft zu seinem Bedarf zieht. “ So erklärt er, daß der Mensch Zugang zum Geist der Schöpfung hat, ja er selbst ein Schöpfer des Endlichen ist. 14 Da ist auch schon der Transzendentalismus, den der Platoniker Emerson vom Idealisten Kant hatte und darum ist für ihn auch die Materie „ Erscheinung “ und nicht Substanz. Das alles ging natürlich auch mit Plato im Hinblick zu dessen positiver Einstellung zur Natur gut zusammen. Es ist philosophisch-idealistische Naturbetrachtung und wohl darum, hat sich kein moderner Naturwissenschafter zu dem Buch geäußert. 15 Es ist eine naturphilosophische Schau, die genauer mit Plato als mit der modernen Naturwissenschaft zusammen stimmt. Richardson hat die sieben Stufen zunehmender Intensität und Tiefe von Emersons Plato-Kenntnis genau unterschieden. 16 Emerson war aber auch ein großer Bewunderer von Plotin. Richardson hat ein eigenes Kapitel „ Pythagoras und Plotin “ in seine Biographie eingebaut, 17 wodurch sich Emerson besonders eng in die Traditionskette einfügt. In seinem Buch Natur hat er einige Verse Prosperos aus Shakespeares Sturm zitiert und in den Repräsentanten des Menschengeschlechts kam der Phoenix als Genius der Menschenliebe vor. Im Jahr 1836 lud Lydia auch Margaret Fuller als Gast ein, sodaß Emerson sie kennen lernen konnte. Auch Thoreau lernte er kennen, der als Lehrer an der öffentlichen Schule nach Concord gekommen war und später mit seinem Bruder eine Concord-Akademie gründete. Im Jahr 1837 hielt er den Vortrag „ The American Scholar “ und im folgenden Jahr die berühmte „ Divinity School Address “ vom 15. Juli 1837. Die Zuhörer waren nicht nur die Studenten des Jahrgangs für die sie gehalten wurde, sondern in der ersten Reihe saßen auch die fundamentalistischen Professoren der unitarischen Kirche, die Zionswächter der Rechtgläubigkeit. Emerson erklärte, daß der Mensch, intuitiv, auf Grund seiner Natur, seinem sittlichen Gefühl folgend seine eigene Göttlichkeit zum Ausdruck bringe. Christliche Führer hätten ihre Mitmenschen verfehlt, indem sie es vernachlässigt haben, die sittliche Natur des Menschen zu untersuchen und zu betonen, welche die Quelle einer etablierten Lehre in der Gesellschaft ist. Sie haben das Christentum versteinert, indem sie zu viel Nachdruck auf das formale Ritual gelegt haben. Wirklicher Glaube kann nur errungen werden, wenn ein Mensch für sich die persönliche Bewußtheit des höchsten Geistes erfährt, der in ihm 14 Emerson: Natur, op. cit., S. 88 f. 15 Vgl. dazu Hermann Grimm: Nekrolog, in: Emerson: Natur, op. cit., S. 345 - 348 16 Richardson, op. cit., S. 65 f. 17 Richardson, op. cit., S. 345 - 348 234 Emerson selbst wohnt. Die Folgerung, die Emerson daraus zog, war, daß der Mensch durch seine göttliche Seele die Fähigkeit besaß, die Erleuchtung, die für ihn mit dem Wissen der sittlichen Wahrheit kam, selbst erlangen konnte, ohne die konfessionelle Mittlerschaft von Christus als der eines Gottes. Damit wurde durch die Konstituierung der Seele die Autorität der Kirche mit ihren fundamentalistischen Ansprüchen abgelehnt. Da im Cambridge der Zeit Emersons keine Inquisition mit ihren Scheiterhaufen mehr existierte, sondern die amerikanische Verfassung herrschte, die jedem Bürger Geistesfreiheit als Recht zusicherte, konnte Emerson von den Pastoren der theologischen Fakultät wohl der Vorwurf der Häresie gemacht werden, doch die ärgste Strafe bestand darin, daß er von Harvard verbannt wurde. Für sich selbst schloß Emerson die Auseinandersetzung mit seinem Gedicht „ Uriel “ ab. Wahrscheinlich war es die Antwort auf den ersten Angriff von Andrew Norton gegen ihn, der wenige Wochen später gefolgt war. In dem Gedicht heißt es: Das war der Glaubensabfall Uriels der sich im Paradiese zutrug. Einst unter den Plejaden wandelnd vernahm die jungen Götter er, die sprachen und der Verrat sich zu lang neigte zu seinen Ohren das war klar. Besprachen doch die jungen Götter das Maß und der Gesetze Form den Erdkreis, Quintessenz und Sonnenstrahlen was wirklich war und was nur schien. Einer entschied sodann mit leiser Stimme, die Zweifel abwies wie ehrwürd ’ gen (Kirchen) Brauch die Sphären mit einem Blick auflöste, und überall Teufel weckte auf, sprach seine göttliche Überzeugung aus, die Existenz abweisend einer g ’ raden Linie. G ’ rade Linie gibt ’ s nicht in Natur, Rund sind Universum wie das Eine; Vergebens geschaffen kehren alle Strahlen zurück; Das Böse. Es wird segnen, Eis wird brennen. Als Uriel sprach mit durchdringendem Blick Ein Schaudern um den Himmel lief; Die alten Kriegesgötter schüttelten ihr Haupt, Die Engel blickten bös aus Lorbeer-Betten, Für alles ließ das kühne Wort nur Unheil ahnen; des Schicksals Gleichgewichtsstrahl war verbogen; 235 Emerson Von Gut und Bös ’ die Grenze war gerissen. Der starke Hades konnt ’ das seine nicht bewahren; Da alles in Verwirrung glitt. Traurige Selbsterkenntnis fiel auf Uriels Schönheit. der alte Gott zieht in die Wolke sich zurück, verurteilt jetzt zu langer Wende. Uriels Stimme aber, die Stimm ’ des Zornes eines Engels durchdrang mit rotem Glanz den ober ’ n Himmel. Die Götter bebten, wußten nicht warum. Fünf Wochen nach Emersons „ Adresse “ hatte der unitarische Pfarrer Andrew Norton, selbsternannter Zensor von allem, was in Harvard gesprochen werden durfte, in einer Bostoner Zeitung Emerson heftig angegriffen. Norton insistierte auf der Wahrheit biblischer Wunder, mit Ausnahme der meisten im Alten und einigen wenigen im Neuen Testament. Seine Entscheidung war: „ Es kann keine Intuition geben, noch eine geistige Wahrnehmung des Christentums. Wir müssen das Christentum erhalten durch die Bibel und ihre Wunder, durch die Kirche und ihre Autoritäten oder gar nicht. “ 18 Es war die niemals endende fundamentalistische Beschränktheit gegenüber jeglichem kritischen Denken wie gegenüber mystischer Erfahrung, allerdings im Ton radikaler als die vornehmen, neu-englisch höflichen Diskussionen in Harvard. Das Gedicht „ Uriel “ ist wohl die Antwort darauf gewesen. Wenn ja, dann verdanken wir nicht nur eines der schönsten deutschen Dramen, Lessings Nathan, dem Angriff des Hauptpastors Goeze auf den Dichter, sondern auch dieses kleine Gedicht Emersons einem ähnlichen Angriff. Das Gedicht geht viel weiter als die Adresse und läßt sogar den monotheistischen Gott in den Wolken verschwinden. Das ist wahrscheinlich ein Ergebnis von Emersons Interesse an der vedantisch-mystischen Tradition Indiens. Sein erstes ernsthaftes Interesse an ihr begann 1831 mit seiner Lektüre von Victor Cousin. Durch ihn entdeckte er, daß das Bagavat Gita eine grundlegende Darstellung der Identität aller Dinge darstellte. Von da an betrachtete er das Bagavat Gita als eine Schrift von gleicher Bedeutung wie die Evangelien. 19 Warum hat Emerson Uriel gewählt, um einen jungen, neuen Gott im Paradies zu schaffen, der die alten Götter ablöst? Uriel war immer schon eine Art Ausnahme. Als die drei Erzengel mit den vier Kardinaltugenden verbunden werden sollten, war der neue vierte Uriel. Das ist er bei manchen christlichen Gnostikern und in der Angelologie des Pseudo-Dionysius geblieben. Im Buch 18 Zitat aus zweiter Hand nach Richardson, op. cit., S. 299 19 Vgl. Arthur Christie: The Orient in American Transcendentalism. New York 1932; Carl T. Jackson: The Oriental Religions and American Thought in the Nineteenth Century. New York 1981; Ram Mohan Roy: All the Vedas. Calcutta 1816 236 Emerson Enoch bedeutet Uriel „ das Licht “ . Emerson hat Uriel zum modernen Erneuerer gemacht, der die Relativität jeglicher orthodoxen Überlieferung verkündet. Wenn es keine gerade Linie gibt und die Strahlen zurückkehren, dann erinnert das an Einsteins Erkenntnis, wonach zwei parallele Strahlen sich im Unendlichen treffen. Sind schon die Essays von Emerson im deutschen Sprachraum wenig bekannt, so sind es seiner Gedichte noch weniger. Auch wenn sie seine Weltschau mitunter weniger differenziert ausdrücken als die Essays, so sind sie doch gerade für seine Esoterik oft direkter, deutlicher und klarer. Zum Beispiel ist das Gedicht „ To Rhea “ eine Darstellung des Universums, da sie als Tochter des Himmelsgottes Uranus und der Erdgöttin Gaia Himmel und Erde verbindet und zudem noch als Magna Mater wie die gnostische Sophia verehrt wurde. Um nur drei weitere, esoterische Gedichttitel zu nennen: „ Each and All “ , „ The World Soul “ und „ Brahma “ . Am 8. September 1838, dem 200. Jahrestag der Gründung Harvards traf sich Emerson mit Henry Hedge, George Putnam und George Ripley in Willard ’ s Hotel in Cambridge, um entweder ein Symposium zu planen oder aber regelmäßige Treffen der „ Gruppe “ festzulegen. Sie waren sich alle einig, daß der gegenwärtige geistige Zustand Amerikas und besonders jener Harvards zu wünschen übrig lasse und verbessert werden müßte. Damit war der „ Transcendental Club “ gegründet. Im Jahr 1839 las Emerson Plutarchs Isis und Osiris, vertiefte seine Kenntnis vom Pythagoras und fand von Pythagoras her einen Weg zu Zoroaster. Er lernte auch die französische Ausgabe des Zend-Avesta von Anquetil-Duperron kennen. Als Henry Thoreau 1841 für zwei Jahre in Emersons Haus einzog, war gerade der erste Sammelband der Essays erschienen. 20 Gleich am Beginn des Bandes steht einer der bekanntesten seiner Essays, „ Self-Reliance “ -Selbstvertrauen. Er zeigt ganz besonders deutlich, wie die Traditionskette in ihrer Spiritualität, die Dante zur Überwindung päpstlicher Machtpolitik eingesetzt hat, Erasmus zur Überwindung der Selbstzerfleischung im Konfessionsstreit, Shakespeare zur Vermenschlichung fürstenhöfischen Machtwahns, und Goethe zur Ausflucht aus gedrückter Enge in jeweils amerikanischen, sufischen oder idealisiert griechischen Utopismus von Emerson zur Überwindung eines oberflächlichen pragmatischen Materialismus durch psychologische Vertiefung, eingesetzt wird, die zuletzt natürlich auch hier ins Metaphysische zielt. Der Essay beginnt denn auch sofort mit der wichtigen Vorbedingung eines vertieften Selbstvertrauens auf die eigene, innere Lichterscheinung mehr zu achten als auf jegliches andere, auch das anscheinend „ Größte “ . Emerson weist darauf hin, wie Kinder, Babies noch mehr, oder unverdorbene Tiere „ es “ haben. 20 In der kleinen deutschen Ausgabe ausgewählter Werke Emersons in Einzelbänden im Diederichs-Verlag 1906 herausgekommen. 237 Emerson Die Quelle unseres eigenen Genies, unserer Tugend und des Lebens überhaupt liege in jener Ursprünglichkeit, die wir einfach „ Instinkt “ nennen. Dann aber verbindet er die handfest-pragmatische Realität mit einer höheren, gleichsam makrokosmischen, jenseitigen Wirklichkeit: „ Wenn wir Gerechtigkeit und Wahrheit erkennen, so tun wir es nicht aus uns heraus, sondern dadurch, daß wir deren Strahlen freien Eintritt gewähren. “ Denn: „ Das Verhältnis der Seele zum heiligen Geist ist so rein, daß es Entweihung wäre, Vermittler dazwischen zu schieben. “ Emerson versucht sehr klar zu machen, daß der Tag, ja der Augenblick der Gegenwart alles ist, was zählt. Vergangenheit ist Nacht und Finsternis. Darum sollten Furcht und Hoffnung tief unter uns liegen. Die letzte Tatsache, auf die wir bei jedem Thema kommen, ist wiederum die Ausrichtung auf das Metaphysische. Es ist „ die Auflösung von allem in dem ewig Einen “ . Den Abschluß bilden vier praktische Warnungen vor den vier Kardinalfehlern, die man machen kann und welche die Menschen abhalten können, das so wichtige Selbstvertrauen zu gewinnen. Hier zeigt sich die besonders breite Grundlage des Pragmatismus für alle Menschen und die vier verschiedenen Arten der Flucht vor dem eigenen tiefsten Selbst, die er aufzählt, gelten wahrhaftig weltweit. Die erste Flucht ist die Flucht in ein „ System “ . Darunter fallen alle, konfessionelle wie profane, soziale und politische Ideologien. Es ist die Flucht in eine falsche, einfache Scheinlösung, eine gefährliche Verkürzung des richtigen, schwereren und langen Weges, den jeder für sich selbst finden muß. Die zweite Flucht ist eine Flucht vom eigenen Ort weg, der mit dem Selbst identifiziert wird, die Flucht ins Reisen. Wenn jemand reist, der in sich selbst ruht und aus dem Fremden und Neuen für dieses „ Selbst “ neues Wissen zieht, wie er es selbst getan hat, dann ist es in Ordnung. Wer aber zum Zeitvertreib reist, oder um das zu suchen, was er „ noch nicht hat “ , der versucht nur durch den Ortswechsel vor sich selbst zu fliehen. Er ist einer jener Narren, die im Reisen das Himmelreich erblicken. Die dritte Flucht ist die Flucht in das Nachäffen. Emerson versucht es durch ein praktisches Beispiel zu erklären, daß nämlich durch das Studium Shakespeares niemals ein Shakespeare entsteht. Wenn man aber die Erzväter liest und wirklich vernimmt, was sie sagen, so mag man ihnen auch sicherlich „ mit gleich erhobener Stimme und in gleicher Stimmung “ antworten. Ansonsten bleibe man im schlichten und edlen Kreis des eigenen Lebens, man gehorche dem eigenen Herzen und so könne man sogar die Vorwelt der alten Geister wieder nachschaffen. Die vierte Flucht ist die Flucht in falsche Stützen. Wenn der Geist des einzelnen vermeint, die Welt zu verbessern durch Veränderung der Gesellschaft, dann hat sich noch immer herausgestellt, daß für das eine, das zusätzlich gegeben wird, etwas anderes vom Alten genommen werden muß. Auch das Vertrauen auf 238 Emerson eine äußerliche Stütze, wie das Anhäufen von Eigentum oder gar das Vertrauen auf eine Regierung führt zu verlogenen Illusionen. Keine äußerliche Stütze kann den Menschen wirklich seinen Frieden geben. Nur jene Sicherheit von Grundsätzen kann das, die zu wahrem Selbstvertrauen führen. Der dritte Essay des Sammelbandes galt einem der Herzstücke von Emersons Wissen. Die „ Überseele “ , wie er heißt, steht insofern in direkter Beziehung zum ersten Essay, als der Essay „ Selbstvertrauen “ vom Irdischen ausgeht und ins Metaphysische zielt, der Essay „ Die Überseele “ aber umgekehrt vom metaphysischen Raum ausgeht und auf das Endliche zielt. Es ist darauf hingewiesen worden, daß der Essay zur selben Zeit, 1840, geschrieben worden ist wie das esoterische Gedicht „ Die Sphinx “ , das auch nicht sofort für jeden verständlich ist. Oftmals befragt, hat Emerson schließlich zu dem Gedicht eine Erklärung abgegeben. Danach behandelt es die Wahrnehmung von der Identität aller Dinge. Es erklärt das eine durch das andere und dadurch wird das Seltenste und Ungewöhnlichste so einfach und einsichtig wie das Gewöhnliche. Wenn der Geist aber nur das konkret einzelne sieht in seiner Abgetrenntheit von allem anderen (dabei die Kraft wünschend das Ganze zu sehen), dann stellt die Welt an den Geist eine Frage, die er nicht beantworten kann. Damit reißt jede neue Tatsache das Ganze noch mehr in Stücke. Die Seele ist bis heute nicht rational analysierbar. 21 Stets bleibt ein unerklärlicher Rest. Darum ist der Mensch ein Strom, dessen „ Urquelle “ verborgen bleibt. Emerson versucht jedoch, dies durch Gleichnisse und Symbole wie schon der Neuplatonismus sichtbar zu machen. Der einzige Genius, der den „ Urquell “ und damit das menschliche Geschick erklären kann, ist eine „ Allnatur “ , „ in der wir ruhen wie die Erde in der weichen Umarmung durch die Luft: jene Einheit, jene Überseele, in welcher des Menschen Besonderheit enthalten ist und durch die er trotzdem zugleich zu einer Einheit, einer menschlichen Ganzheit verschmolzen wird. Es ist eine Art Allnatur, welche alle Menschen seelisch zu einem Ganzen verbindet, dem Ewig-Einen, der Überseele. Sie versucht, in unser Denken und Handeln überzugehen, um Weisheit, Kraft, Tugend und Schönheit zu werden. Natürlich leben wir als einzelne bewußt getrennt in Teilen und Teilchen, aber tief auf dem Grund der Seele ruht dieses Ganze, Eines, das unsichtbar alle Teilchen verbindet, das Ewig-Eine, die Überseele . . . Der Essay stellt die Probleme der Existenz und Natur der Einzelseele dar, das Verhältnis der Seelen zu einander und schießlich ihrer aller Beziehung zum Göttlichen, zum Brahman. Einmal heißt es: „ Die Seele hebt Raum und Zeit auf “ , ein anderes Mal: „ Gott geht in uns ein ohne Glocken läuten. “ 21 Einer der interessantesten neueren Rationalisierungsversuche ist das „ Kollektive Unbewußte “ C. G. Jungs, das auch mit Emerson übereinstimmt, da es einen „ unerklärlichen Rest “ nicht nur einräumt, sondern betont. 239 Emerson Nur um historische Beispiele zu geben, die dem Leser nicht direkt praktisch helfen, aber das Verständnis erleichtern können, hat er angeführt: „ Eine gewisse Neigung zum Wahnsinn “ - da spricht der pragmatische Amerikaner - „ hat stets das Kommen des religiösen Sinnes im Menschen begleitet, als ob ein Übermaß des Lichtes den Menschen geblendet hätte. Die Verzückungen des Sokrates, die „ Vereinigung “ des Plotinus, die Vision des Porphyrius . . . die Morgenröte Jakob Boehmes, die Zuckungen des George Fox und seiner Quäker, die Erleuchtung Swedenborgs sind alle von dieser Art. “ Emerson zeigt die Problematik der fundamentalistischen Massenreligion gegenüber der streng individuellen Erfahrung des Mystikers auf, indem er sagt, „ wann immer die Massen zum Glauben aufgerufen werden, ist es ein Zeichen, daß der Glaube auf schwachen Füßen steht. “ Wenn ich in Gottes erhabener Gegenwart bin, „ wer würde es wagen, da einzudringen? Wenn ich in reiner Demut verharre, was hat dann ein Calvin oder ein Swedenborg mir zu sagen? “ Und allen Fundamentalisten ins Stammbuch: „ Der Glaube, der sich auf andere beruft, ist kein Glaube. “ So gipfelt denn auch der Schluß des Essays in einem Hinweis auf den direkten Weg. Wenn der Mensch so die Seele verehrt und erkennt, daß ihre Schönheit (wie die Alten sagten), unendlich ist, so wird er auch die Welt als ein Wunderwerk der Seele erkennen und über die einzelnen Rätsel und Wunder weniger erstaunt sein . . . Er wird nicht länger ein Leben aus Bruchstücken und Fäden zusammen flicken, sondern die göttliche Ganzheit leben. Er wird alles Oberflächliche und Niedere ausscheiden und mit allen Plätzen und Diensten zufrieden sein, die ihm zugewiesen werden. Er wird ruhig dem Morgen entgegen sehen, mit der heiteren Unbekümmertheit, welche Gott in sich trägt und so die ganze Zukunft schon im Grunde des Herzens trägt. Dieser Essay vertritt eine der Zentralideen der Traditionskette, die detailliert unausgesprochen bereits in der „ Tabula Smaragdina “ des Hermes enthalten war, und die einen der wichtigsten gemeinsamen Nenner dieses Buches bilden. Dieser Essay erklärt den Hintergrund des gesamtmenschheitlichen Ziels der Botschaft aller hier versammelten Autoren. Sie wird jeglicher teilenden Trennung immer unverständlich und unzugänglich bleiben, sei es Nationalismus, Klassenbewußtsein, konfessionelle Ausgrenzung, Feminismus oder was auch immer. Versuche in Richtung auf eine solche „ Überseele “ hin, hat es natürlich schon öfter gegeben, sei es in Form des Begriffs der „ Weltseele “ , oder sei es durch Rilkes „ Bewußtseins-Dreieck “ . Hier hat die Idee aber einen besonders ausgearbeiteten und überzeugenden Ausdruck gefunden. Was vielleicht noch erwähnt werden könnte, ist, daß Emerson zur Zeit der Abfassung dieses Essays auch das Okkultismusbuch des Agrippas von Nettesheim Vanitiy of the Arts and Sciences gelesen hat. Seine Bemerkung, daß es sechs bis sieben gute Sentenzen enthalte, 240 Emerson mag darauf zurück zu führen sein, ihm das Buch durch negative Kritik zu verleiden. Denn in seinem Essay „ Der Dichter “ hat er Agrippa in eine Reihe mit Pythagoras, Paracelsus, Kepler und Swedenborg gestellt, die er alle sehr geschätzt hatte. Zu jener Zeit hat Emerson auch Francis Bacon wieder gelesen, der in seinem New Atlantis Amerika beschrieben haben soll und unter dessen Einfluß die von Johannes Kelpius organisierte Rosenkreuzersiedlung „ Einsiedler der Mystik “ von Wissahickon in Pennsylvanien gegründet worden sein soll. Emerson verfolgt die Gründung von „ Brook Farm “ , einer Fourierschen Kommune, deren Ideen er zwar mochte, der er aber nicht beitrat. Einer der wichtigeren Vorträge der Zeit war „ The Conservative “ , den er später auch in seiner Zeitschrift Dial abdruckte. Er unterschied zwischen Konservativen und Reformern, wobei er sich selbst zu den Reformern zählte, die gegen Krieg, gegen Sklaverei, gegen Alkohol und gegen eine „ Regierung der Gewalt “ standen. Im Jahr 1842 schrieb er seinen sehr bekannten Essay „ The poet “ , der dann 1844 im Band seines Essays, Second Series erschien. 22 Poet bezeichnet eigentlich Lyriker und ursprünglich hatte er selbst ein Lyriker sein wollen, obwohl er ein Prosaist von Weltrang wurde. Da er auch ein strenger Kritiker war, wußte er, daß er Lyriker niemals sein konnte. Als er deshalb gegen Ende des Essays den idealen Dichter beschrieb, nannte er als Beispiel Dante. Er bekannte von sich ein: „ Ich suche den Dichter, den ich beschreibe “ , und brach in die Klage aus: „ Wir haben noch keinen Lyriker in Amerika gehabt, der mit dem Blick des Welteroberers den Wert und die Bedeutung unseres unvergleichlichen Rohstoffs erkannte, der in der Barbarei und dem Materialismus unserer Zeit einen „ Karneval der Götter “ gesehen hätte wie Homer. Im Jahr 1842 hatte Emerson zum Bild eines großen Feuers in der Zeitung auch in sein Tagebuch notiert: „ Die Zunge des Feuers, welches das Bild der Zeitung über das Feuer in Liverpool gibt, das einen Berg von Baumwolle erfaßt hatte, erzeugt Flammen doppelt so hoch, wie ein Vulkan, von dem die Feuersbrunst bis zum Zenith reicht, eine nennenswerte Distanz zu den Sternen - das sind die ergreifendsten Symbole für das, was der Mensch sein sollte. Ein Funke von Feuer ist unendlich tief, aber eine Masse von Feuer die von der Erde bis in den Himmel reicht, das ist das Zeichen der kräftigen, vereinigten, erkennenden, strahlenden Seele. “ Er sagte, so solle der Mensch sein, er meinte nicht zuletzt den Dichter und in diesem Sinn war er selbst so sehr Dichter, daß sein großer Biograph Richardson „ Der Geist im Feuer “ zum Untertitel seines Buches gewählt hat. Die Vorsehung hatte es übrigens gefügt, daß Emersons Suche nach „ dem “ amerikanischen Lyriker so erfolgreich war, daß sich dreizehn Jahre nach Niederschrift dieser Sätze der ersehnte große Lyriker selbst bei ihm meldete, indem er ihm die erste Fassung seines Hauptwerks zusandte, das er in seiner 22 In der deutschen Übersetzung ist der Essay in den ersten Band aufgenommen worden. 241 Emerson Unbekanntheit auf eigene Kosten in einer Druckerei herstellen hatte lassen. Walt Whitman hatte ihm seine Leaves of Grass, seine Grashalme geschickt. Nach der Lektüre schrieb ihm Emerson einen fünf Seiten langen Brief, den „ bekanntesten Brief der amerikanischen Literaturgeschichte “ , und er wurde zum Verkünder seines Ruhms und sein Freund. Whitmans Band begann mit einem Gedicht von epischer Länge, 1336 Versen, denen er in den späteren Fassungen den Titel „ Song of myself “ gegeben hat. Der Band war ohne Verfassernamen erschienen aber nach dem ersten Drittel der Verse konnte man lesen: Ich, Walt Whitman, Amerikaner, einer der Rauhen, ein Kosmos, Rebellisch, dick, unfein und sinnlich, kein Sentimentaler, keiner der über Männern und Frauen steht, noch in Abstand von ihnen, nicht bescheidener als unbescheiden . . . An einer anderen Stelle heißt es: „ Ich bin kein Dichter des Guten allein, . . . ich verhehle nicht, auch ein Dichter des Bösen zu sein . . . “ Schließlich aber, zur Erklärung des Titels: „ Ich glaube fest, ein Grashalm ist nicht weniger als das Tagewerk eines Sterns, und die Ameise ist genauso vollkommen, und ein Sandkorn und ein Ei des Zaunkönigs. “ Matthiessen hat ihn ebenso für seine „ Amerikanische Renaissance Anspruch genommen wie Emerson. Er betont die Parallele der Geistigkeit der beiden im Hinblick auf die Identität des Geistes, im Hinblick auf die Unabhängigkeit und im Hinblick auf das Umarmen der ganzen Menschheit. 23 Als Bliss Perry sein Buch über die amerikanische Geistigkeit schrieb, nannte er Whitman einen Seher und Propheten weit über seine Zeit hinaus und Lincoln einen begeisterten Sohn der Seele dieser Republik. 24 Der andere, noch nähere und ältere Freund Emersons war Thoreau. Eines Tages im Frühling holte er sich eine Axt, ging hinaus in den Wald und baute sich am Walden Pond eine Holzhütte, in der er zwei Jahre als Einsiedler leben wollte - auf Emersons Land. Emersons Essay über den Dichter - und auch über Dichtung - beginnt mit dem Hinweis, daß die für die Dichtung so wichtige Form auf das Innigste mit der Seele des Dichters verbunden ist. Wie der moderne Mensch, wenn er der Gnosis verbunden ist, zwischen Materialismus und Fundamentalismus zerrieben zu werden droht, so leugnen Verstandesmenschen diese wichtige Beziehung, während die Theologen es für ein „ eitel Luftschloß “ halten. Sogar viele „ Dichter “ begnügen sich mit einer „ bürgerlichen Lebensweise und schreiben Gedichte aus der Phantasie in sicherer Distanz von der Erfahrung des Lebens. “ 23 Matthiessen, op. cit., S. 9, 11 und 15. Dazu kommt die Identität von Wort und Ding in der Dichtung, S. 44, der Idealismus, S. 611 - 612 und noch andere Bezüge zu Emerson, S. 520 - 524 24 Bliss Perry: The American Spirit in Literature. New Haven 1918, Kapitel VIII, „ Poe and Whitman “ 242 Emerson „ Doch die größten Geister der Welt haben nie aufgehört, den Doppelsinn “ , ja den vielfachen Sinn „ eines jeden sinnlich erkennbaren Dings zu erforschen: so Orpheus, Empedocles, Heraclith, Plato, Plutarch, Swedenborg. Denn wir sind nicht Pfannen und Karren, nicht einmal Feuerbehälter und Fackelträger, sondern Kinder des Feuers, aus ihm gezeugt, immer die gleiche Göttlichkeit in Umwandlung begriffen. “ Für Emerson war Dichtung kein abwegiger Luxus, sondern eine allgemeine menschliche Notwendigkeit. „ Denn alle Menschen leben von der Wahrheit und verlangen in ihrer Seelennot nach Ausdruck “ , den große Dichtung liefern kann. Der Dichter ist für ihn die Persönlichkeit, in der sich diese einander widersprechenden Kräfte des Daseins das Gleichgewicht halten. Infolge seiner größeren Kraft zu empfangen und mitzuteilen, vertritt er die Menschheit. Die Dichter sind die Seher und Sager, in die Welt geschickt, um zu erkennen und auszusprechen. Alle Dichtung war schon da, ehe die Zeitrechnung begann. „ Jedes Mal, wenn wir so fein abgestimmt sind, um in die Sphäre eindringen zu können, wo Luft Musik ist, vernehmen wir Ton und Rhythmus des Alls, die Ur- Melodien, und versuchen sie nieder zu schreiben. “ Am Beginn von Goethes Faust ist es die Sonne, welche bewirkt, daß die Luft Musik wird, weshalb dort sie es ist, die „ in alter Weise singt “ . Wenn man nicht von oberflächlichen „ fleißigen, findigen Reimeschmieden “ redet, sondern wie hier vom wahren Dichter, dann ist er ein Aussprecher des Notwendigen, Ursächlichen und Folgerichtigen. Es gibt Lyriker, die eine Spieldose im Kopf haben, aber das sind keine „ Dichter “ . Es hat einen tiefen Sinn, daß er von einem „ zeitgenössischen Reimtalent “ im Gegensatz zum Dichter als „ Ewigkeitsmenschen “ spricht, denn zu jeder Zeit gibt es lautstarke Verkünder ihres eigenen Ruhms mit großem Erfolg, nur daß sich fünfzig Jahre später kein Mensch mehr an sie erinnert. Der wirkliche Dichter erhebt sich nach Emerson heraus aus unserer „ gemäßigten Zone “ wie „ ein Chimborasso “ unter dem Äquator, der aufsteigend von seinem heißen Talkessel „ alle Himmelsstriche durchläuft, geschmückt und umgürtet mit dem Pflanzenwuchs aller Breiten “ . Dante, Erasmus, Shakespeare, Goethe sind solche Gipfel. Der wahre „ Dichter “ wird der vorderste Wächter menschlicher Wahrnehmung sein, und die Menschheit, „ mag sie noch so oft getäuscht sein, “ harrt „ noch immer des Kommens eines Bruders, der sie sichtbar zu einer Wahrheit führen kann, bis sie sich diese zu eigen gemacht hat. “ „ Warum sucht ’ ich die Wahrheit so sehnsuchtsvoll, wenn ich sie meinen Brüdern nicht zeigen soll? “ hat Goethe gefragt. Der einzige Autor, von dem Emerson in seinem Essay über den Dichter eine ganze Strophe zitiert, stammt aus dem Kreis der englischen Rosenkreuzer, Edmund Spenser: 243 Emerson Ein jeder Geist - je mehr er rein, Je mehr in sich trägt Himmelslicht, Je schöner wird der Körper sein, Darin er wohnt, hoch Anmut im Gesicht. Denn aus der Seele nimmt der Leib die Kraft, Denn Seele ist die Form, die sich den Körper schafft. „ Die Inbrunst der hebräischen Propheten verklärt ihre Grobheit “ , sagt Emerson einmal, und es ist die „ Loslösung und Abkehr vom Leben Gottes, welche die Dinge häßlich macht “ . Der zweite Satz ist reine Gnosis. Als er das schrieb, hatte er sogar die relativ liberale Kirchenlehre des Unitarismus nicht nur als Pastor, sondern als Gläubiger längst verlassen und scheint dabei Gott näher gekommen zu sein. Der Dichter weiß, daß das Weltall die Ausstrahlung unserer Seele ist. „ Unsere Wissenschaft dagegen “ klagt er, ist „ sinnlich und darum oberflächlich. Die Erde und Himmelskörper, Physik und Chemie, behandeln wir sinnlich, als ob sie ihr eigenes Sein besäßen; und doch sind sie nur Anhang unseres eigenen Seins. “ Genau das hat Goethe in seiner Farbenlehre Newton vorgeworfen. Emerson entwickelt im Grunde eine Theorie der Einbildungskraft des Dichters, durch die er „ in das Leben des Weltalls “ aufgenommen wird. Er weiß, daß der wirkliche Dichter sein Gehirn nicht mit Modetorheiten anfüllt, denn sonst würde ihm „ kein Strahl der Erkenntnis aus der einsamen Öde der Kiefernwälder entgegenleuchten “ . Daß er gerade auf Kiefernwälder kam, hängt wohl damit zusammen, daß die häufigsten Bäume seines Waldes Kiefern waren. Es erinnert auch an die Devise des ehrenvollen Standes der alten britischen Barden: „ Die welche frei sind überall in der Welt. “ Er betont die Wichtigkeit der Bewußtseinserweiterung durch den wirklichen Dichter, wie sie auch ein Pythagoras, ein Paracelsus, ein Agrippa von Nettesheim zu vermitteln vermochten. Er verweist damit auf eine der Kernkräfte der großen platonischen Tradition hinter der großen, platonischen Traditionskette. Du darfst nur auf die Musen in Deinem Inneren hören und auf keine äußerlichen Ablenkungen eingehen, empfiehlt er dem Dichter. Wenn der Dichter dem folgt und wirklich nur noch auf sein eigenes Inneres hört, dann ist seine Thematik unbegrenzt. Er kann die ganze Welt durchwandern und wird doch nichts finden, was für einen Dichter unbedeutend oder unedel wäre. Emersons nächstes wichtiges Werk, Representative Men, ist 1850 erschienen. Es ist ein bemerkenswertes und sehr gutes Buch, ist aber nicht ganz so großartig ausgefallen, wie es sein hätte können. Das lag vor allem an Emersons Vorstellung von einer „ demokratischen Ästhetik “ , die er ihm zugrunde gelegt hat und die er auch an einer Stelle im Essay „ Der Dichter “ schon zu konstruieren versucht hatte. Weder naturwissenschaftliche noch künstlerische Wahrheiten lassen sich streng „ demokratisch “ im Abstimmungsweg entscheiden. 244 Emerson Dazu kam noch, daß er zuerst nur über Napoleon etwas schreiben wollte. Da war es notwendig gewesen, als das „ Gleichmachende “ oder den „ Eckstein “ , wie er sagte, mit Hilfe des Repräsentativen auszudrücken, welches das Positive wie das Negative einschloß. Bei Napoleon war ja das Negative überaus stark vertreten. Auch das hat Richardson ganz ausgezeichnet kommentiert, wenn er sagte, Napoleon hat eine Welt „ zerstört “ , Goethe hat eine Welt „ geschaffen “ . Die seltsame Folge war, daß auch Goethe ja nicht zu viel gelobt werden durfte, weil er nicht undemokratisch „ groß “ über den anderen Menschen stehen durfte, auch wenn das ganz offenkundig der Fall war und daß jeder der Essays mit einer Aufzählung der Schwächen des dargestellten Repräsentativen enden muß, was schon an das Lächerliche grenzt. Wenn er den übertriebenen und falschen Heroenkult seines antipodischen Freundes Carlyle abgelehnt hat, dann war er im Recht. Dieser wurde mit wenigen Änderungen von den Nationalsozialisten zu einem infernalischen Höhepunkt getrieben. Vielleicht war das mit ein Grund, daß Emerson einen Schritt zu weit in die Gegenrichtung machte. Aber noch zwei Schritte weiter und man war beim „ Proletkult “ der frühen Sowjetliteratur, der blanker Unsinn war. Zumindest mitschuld an der seltsamen Idee war Thoreau, denn einmal hatte Emerson geklagt, daß dieser ihm Vorwürfe über seine Lobpreisung Shakespeares gemacht hatte. 25 Er hat sich hier hinreißen lassen, etwas gegen seine eigene Anschauung zu tun, denn er wußte ja, daß Shakespeare „ ein Chimborasso “ war und es konnte gar nicht anders weitergehen, als daß es schließlich zu einem Krach zwischen ihm und Thoreau gekommen war. 26 In dem Buch Repräsentanten des Menschengeschlechts ist Plato der Philosoph, Swedenborg der Mystiker, Montaigne der Skeptiker, Shakespeare der Dichter, Napoleon der Mann der Tat und Goethe der Schriftsteller. Die Auswahl ist von der üblichen Großartigkeit, doch ist es auffällig, daß alle Versammelten mit Ausnahme Napoleons eigentlich mit der Literatur zusammenhängen. Plato wirft er als Schwäche vor, daß er „ zu poetisch “ sei. Swedenborg ist nicht umsonst von Kant der Vorwurf gemacht worden, der „ Erzphantast unter allen Phantasten “ zu sein. Sein bekanntestes Buch über Himmel und Hölle hat poetische Züge, wie auch sein Buch über Jerusalem. In seinem Buch über Erden im Universum unterhält er sich nicht nur mit Geistern von anderen Planeten unseres Sonnensystems, sondern auch mit solchen von jenseits des Sonnensystems. Montaigne aber ist in die Literaturgeschichte als Begründer einer besonderen Form des literarischen Essays eingegangen. Da Emerson durch sein Eingehen auf die Wirkung seiner großen Männer eigentlich ihre Größe geradezu begründet, ist es trotz des eigenen Sands im 25 The Journals and Miscelaneous Notebooks of Ralph Waldo Emerson ( „ JMN “ ), op. cit., Bd. IX, S. 301 26 Vgl. Richardson, op. cit., S. 462 - 464 245 Emerson Getriebe ein gutes Buch geworden. Dazu kommen die kluge Auswahl, die stupende Kenntnis der Biographien und die wie gewöhnlich elegante sprachliche Darstellung. Das Buch hat denn auch bei großen Autoren Anerkennung gefunden. Besonders vermerkt sei, daß wir seit Erschließung der Tagebücher und Notizbücher von dem tiefen Einfluß des Vedantismus und Buddhismus wissen. In der Einleitung zu den Representative Men hat er auch Lao Tse erwähnt mit dessen Ausspruch, der Weise sei ein Lehrer für hunderte von Menschenaltern. Schon in die Zeit vor der Veröffentlichung des Buches fällt Emersons Entdeckung der großen, alten persischen Dichtung. Wie bei Goethe begann sie mit Hafis, wie bei Goethe ging er von derselben Quelle aus, dem Divan des Hafis, herausgegeben von Hammer-Purgstall, und noch einmal wie bei Goethe lag die Ursache der Begeisterung in der gleichen Seelenhaltung und der inneren „ Verwandtschaft “ mit dem Sufismus. Er übersetzte viele Hafis-Gedichte, von denen fast alle Liebe, Wein, Feuer und Sehnsucht behandeln. Es sind plastisch-sinnliche Bilder, die symbolisch in ihrer Doppelheit für die göttliche Liebe und Erleuchtung standen. Richardson weist zu Recht darauf hin, daß er besonders die knappe, vierzeilige Quatrain-Form der Rubais liebte, weshalb er in sein orientalisches Notizbuch auch Rubais Omar Khayyams aufgenommen hatte. Ganz wie bei Goethe gewann durch Hafis die altpersische Dichtung überhaupt Einfluß auf Emerson. Er las nun auch Bücher über persische Geschichte und europäische Kommentare über die altpersischen Dichter. Besonders interessierte er sich für Shiras, die Stadt in der Hafis begraben wurde. Er verstand die Vernichtung durch Feuer als Wiedergeburtsakt, die ihm durch seine eigene Feuer-Metapher für Dichtung auf den Leib geschrieben schien und er verstand die Sehnsucht nach göttlicher Liebe. Unter dem berauschenden Bann von Hafis schrieb er nicht nur neue Gedichte, sondern überarbeitete auch alte und bereitete die Veröffentlichung für 1846 vor. Wie bei Goethe gab es einen neuen Auftrieb zu lyrischem Schaffen. Und wie bei Goethe war dieser neue lyrische Auftrieb mit dem Briefaustausch mit einer feinfühligen Frau verbunden. Durch Margaret Fuller hatte er Caroline Sturgis kennen gelernt. Lydia wußte davon und kopierte mitunter seine Briefe an sie, ja sie betrachtete sie als Freundin. Tatsache ist, daß Emerson der Anziehungskraft Carolines erlegen war. Es war nach außen hin ein platonisches Seelen-Treffen. Ob aber die bereits eingesetzte Beschäftigung mit den Liebesgedichten von Hafis die Attraktionen der beiden zueinander auslöste oder verstärkte oder ob umgekehrt ihre irdische Attraktion Emersons Hafis-Begeisterung verstärkte und vertiefte, es war im Grunde eine neue Parallele zu Goethe gegeben. Seine Verse entsprachen auch in ihrer poetischen Dichte völlig seiner aphoristischen, schlagartigen Prosa. 246 Emerson Der Ost-Wind und ich Sind ein liebendes Paar O Dein Blitzen des Aug ’ s O der Duft deines Haars. Manches läßt sich in der geringeren Sprachdichte des Deutschen überhaupt nicht in gleich verdichteter Sprache mit gleich wenigen Silben wiedergeben, wie jenes Rubai mit dem Gleichnis aus der esoterischen Alchemie: The chemist of fire Will thy perishing mould Were it made out of mine Transmute into gold 27 Sowohl das „ thy “ wie das eher neuenglische als amerikanische „ mould “ statt „ mold “ gibt dem Ganzen dazu noch einen feierlich altertümlichen, wenn nicht religiösen Unterton. Er übersetzte viele Hafis-Gedichte über Liebe, Wein, Begehren, Feuer und Vernichtung durch Feuer. Er verstand die große Einheit der Zweiheit, daß die sinnlichen Bilder spirituelle Symbole ausdrückten. Unter dem berauschenden Bann der Gedichte von Hafis schrieb er nicht nur neue Gedichte, sondern überarbeitete auch etliche alte und bereitete die Veröffentlichung von 1846 vor. Wie aber die Einheit von sinnlicher Bildhaftigkeit und esoterischer Symbolik bei Goethe die Doppelreaktion der geistigen Liebe zum Sufismus und der irdischen Liebe zu Marianne Willemer auslöste, so fällt jene Zeit der Begeisterung für Hafis, der zuvor eine auch sehr große Faszination mit Bettina von Arnims Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde vorausgegangen war, die Zeit seiner tiefen Zuneigung zu der sehr jungen und unabhängigen Caroline Sturgis. Sie tauschten zwar nicht eigene Gedichte im Stil von Hafis aus, sondern eigene Briefe über die gleiche Parallele der Liebe zwischen Bettina von Armin und Goethe, aber die anregenden und schönen Augenblicke über den Gleichklang dichterischer und realer Liebe waren von gleicher Bedeutung. Der Altersunterschied zwischen dem siebenunddreißigjährigen Emerson und der zweiundzwanzigjährigen Caroline war nicht annähend so groß wie jener zwischen Goethe und Bettina, aber die Attraktion der beiden zueinander war durchaus gleich. Emerson hatte ein eigenes Orientalisches Notizbuch angelegt und später erschienen auch Übersetzungen anderer Sufi-Dichter wie Kermani, Omar Khayyam, Jemin, Hillal, Enweri und Seyd Nimetollah. Eigene Gedichte Emersons wurden direkt durch Sufi-Gedichte angeregt wie sein Rubai über Hafis, sein Gedicht über Saadi und sogar auch sein Gedicht über Bacchus. 27 Aus dem Orient-Notizbuch in Journals and Notebooks, op. cit., Bd. IX, S. 54 und 136 247 Emerson Darum hat Richardson das Bacchus-Gedicht mit dem Gießen neuen persischen Weins in eine alte griechische Flasche verglichen. Auch dieses Gedicht beweist, wie richtig Emerson die Doppelheit von sinnlichem Genuß und geistiger Erleuchtung verstanden hat. Wenn Bacchus selbst spricht, beginnt er nämlich mit den Versen: Bring mir Wein, doch Wein der niemals wuchs Im Bauch von Trauben. Es geht ganz eindeutig nicht um Berauschtheit durch Alkohol, sondern um Berauschtheit durch Inspiration. Es gibt ja schließlich auch einen Dionysos Zagreus. Nicht zuletzt die vollendete dichterische Darstellung der Doppelheit, macht das Gedicht zu einem der besten von Emerson. In den Tagebüchern gibt es eine Stelle, die sich auf das Bacchus-Gedicht bezieht und ebenso klar unterstreicht, daß es mit wirklichem Wein nichts zu tun hat. Es heißt dort, Bacchus möge den Menschen, die sich durch Alkohol, Geld und Politik von der Verantwortung entbinden, den „ Wein des Weines “ geben, nämlich Poesie. 28 Die meisten Hafis-Gedichte sind in der ersten Ausgabe der Gedichte von 1846 enthalten. Nach der Veröffentlichung mag Emerson entdeckt haben, daß der normale westliche Leser auch schon seiner Zeit große Schwierigkeiten hatte, Gedichte nicht wörtlich, sondern gleichnishaft zu verstehen. Die Folge war, daß seine Gedichte vielfach als Aufforderung, Alkohol zu trinken, ausgelegt wurden. Das aber war das Letzte, was er wollte. Der transzendentale Idealist wußte, daß das wesentliche Wissen niemals durch Beobachtung und Erfahrung allein erlangt werden könnte, sondern nur durch den Geist. Gerade weil so wenige das verstehen konnten, ging er mitunter durch Phasen bitterer Enttäuschung und eines tiefen Pessimismus, der ganz gegen seine Natur war. Der Materialismus der Menschen begann drohend überhand zu nehmen. Vielleicht gab es auch Augenblicke, in denen er sich zu viel erwartete. Es waren Augenblicke, in denen er glaubte, dringend Anregung zu brauchen. Einmal klagte er, wer hätte denn wirklich Gesellschaft, Menschen, zu denen er sprechen könnte, ja die ihn anregen könnten. Der demokratische Menschenfreund hatte Schwierigkeiten, sich an die Einsamkeit des Genies zu gewöhnen. Es war ein Augenblick, in dem er dringend geistige Anregung brauchte, wie er Carlyle schrieb, und er beschloß, wieder nach England zu fahren. So kam es zur zweiten Europareise nach England mit einem größeren Abstecher nach Frankreich von 1847 bis 1848. Freilich war da auch nicht alles ideal. Die Bibliothek des British Museum besaß zwar 420.000 Bände, für die damalige Zeit eine überwältigende Zahl, aber vierzig Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten, verglichen mit einem halben Prozent Analphabeten in Massachusetts. Dafür hatte er große Zahlen von 28 Journals and Notebooks, op. cit., Bd. IX, S. 441 248 Emerson Zuhörern in seinen Vorträgen und sogar Anregung fand er, traf er doch über ein Dutzend bedeutende Autoren. Carlyles Meinungen waren allerdings das genaue Gegenteil seiner eignen geworden, da er trotz allem Pessimismus die Menschen liebte und ihre Würde anerkannte. Die Kluft schien unüberbrückbar, bis es zu einem gemeinsamen Besuch von Stonehenge mit Gesprächen über die Prähistorie kam, was zur Versöhnung führte. Seine Abneigung gegen den britischen Empirismus und Materialismus erinnerte ihn an eine Haupterkenntnis der Stoa, sich nicht um das Wissen der Menschen, sondern um ihr Tun zu kümmern, und er suchte eine feste Basis für seine transzendenten Ideale in der Naturgeschichte des Intellekts zu begründen, der seine nächsten Vorträge galten. Er war am englischen Chartismus des Revolutionsjahres 1848 interessiert, freilich durch Kontakt mit einem Flügel davon, der auf seine Fahnen die Gewaltlosigkeit geschrieben hatte. Bei dem Abstecher nach Frankreich kam es zu Begegnungen mit Tocqueville und Michelet. Er wurde Zeuge von Blanquis Versuch einer sozialistischen Revolution, doch leiteten ihn auch Massendemonstrationen und revolutionäre Menschenmenge immer wieder zurück zum Denken und den Reaktionen des Individuums. Er erreichte einen Augenblick lang einen Punkt, in dem auch die rabiate Antichristlichkeit des Romans The Nemesis of Faith von Professor J. A. Froud Eindruck auf ihn machte. Er selbst hatte lediglich nur jeden verhärteten Fundamentalismus strikt abgelehnt. Den Puritanismus hatte bereits sein Vater abgestreift gehabt. Die Skepsis eines Montaigne hätte er kaum so überzeugend und großartig beschreiben können, wenn es nicht wenigstens eine ferne Verwandtschaft mit ihm gegeben hätte. Die totale und geradezu anarchische Relativierung von allem des radikalen Vollskeptikers, war ihm jedoch zutiefst fremd und sein gemeinsamer Nenner mit dem großen französischen Essayisten lag in der Toleranz. In jener Phase, in der er begonnen hatte, zunehmend alles mehr durch „ ein wissenschaftliches, als durch ein theologisches Auge “ zu sehen 29 , las er des Linnaeus Philosophia Botanica von 1751. Er hat den Satz daraus kopiert, in dem es heißt: „ Die natürliche Methode “ , Pflanzen in Gruppen zu ordnen, „ ist das letzte Ziel der Botanik. “ Linné hat spekulativ eine Ordnung etabliert, die von Darwin hundert Jahre später naturwissenschaftlich bestätiget wurde. Emerson wurde durch Linné an Goethes botanische Studien erinnert, in denen das Blatt den Schlüssel zur botanischen Morphologie bildete. Emerson fand Hoffnung in einer größeren Ordnung, die allem zugrunde lag und damit hat er sich der Traditionskette eingefügt. Da alle bisher seit Dante behandelten Autoren einer Esoteriker-Gemeinschaft von Eingeweihten angehört haben, sei ein Blick auf Chronologie und Entwick- 29 Richardson, op. cit., S. 489 249 Emerson lung jener seiner Vorträge geworfen, die Emerson in der Masonic Hall von Boston gehalten hat. Der erste Vortrag fand bereits am 5. November 1833 statt und trug den Titel „ The Uses of Natural History “ . Er steht ganz im Zeichen von Emersons frühem Eindringen in das für ihn so wichtige Phänomen der Natur. Er war die Frühfassung seines Vortrags „ The Naturalist “ , in dem Emerson zum Teil ausgehend von Goethes Metamorphose der Pflanzen zuerst seine Theorie von einer beseelten Natur entwickelt hat. Wie dieser erste so sind fast alle folgenden Vorträge in der Masonic Hall wichtige Erst- und Frühfassungen der bedeutendsten Vorträge, die später auch Eingang in seine Essays gefunden haben. Ab 8. Dezember 1836 hielt er eine ganze Vortragsreihe in der Masonic Hall unter dem Gesamttitel „ Humanity of Science “ , in der er Probleme von Kunst, Literatur, Gesellschaft, Handel und Beruf besprach. Die Serie wurde mit dem besonders wichtigen Abschlußvortrag über das „ Individuum “ beendet. Er hat diese Vorträge darum nicht veröffentlicht, weil sich wesentliche Teile von ihnen in den späteren Essays „ History “ , „ Self-Reliance “ , „ The Obersoul “ , „ Art “ , „ Thoughts on Modern Literature “ , „ Spiritual Laws “ und „ Compensation “ gedruckt finden. Die wichtigsten von diesen sind hier besprochen worden. Alles in allem bedeutet das aber, daß viele der wichtigsten Ideen zu allererst in der Masonic Hall bekannt gemacht worden sind. Es folgten zwei Einzelvorträge in der Masonic Hall am 2. Dezember 1841 und im Januar 1842, „ Lecture on the Times “ und „ The Transcendentalist “ . Auch sie weisen in die Zukunft von Emersons eigener Entwicklung hinaus über die Mitte der Vierzigerjahre und zur Vortragsfolge „ Contact of Life “ (Lebensführung), die er zum ersten Mal in den frühen Monaten von 1851 in Pittsburgh hielt. Richardson hat auch hier zu Recht die verbreiteten Verfälschungsversuche des „ Conduct of Life “ zurück gewiesen, als Lob von Materialismus, Geschäft, Macht durch Geld als amerikanisches Ideal mißverstanden zu werden. „ Economy “ im „ Conduct of Life “ bedeutet nicht Wirtschaft, sondern Lebenspraxis. „ Culture “ bedeutet Hochkultur und Gott baut seinen Tempel „ im Herzen und auf den Ruinen von Kirchen und Konfessionen. “ Die meisten Ideen des „ Conduct of Life “ stammen aus früheren Vorträgen und Essays. Zwei der bereits erwähnten Vorträge, deren Ideen ihren Weg in den „ Conduct of Life “ gefunden haben, sind die „ Lecture on the Times “ und „ The Transcendentalist “ , auf die hier kurz eingegangen werden soll. Im ersten dieser Vorträge nennt Emerson die „ Zeiten “ „ Maskeraden der Ewigkeiten “ und dennoch sei das Thema der Zeiten kein rein abstraktes Problem. Wenn man von einem Zeitalter spricht, dann meint man gewöhnlich die jeweils eigene, zeitbezogene Menschengruppe, so wie Dante und Milton ihre „ Gruppen “ Himmel und Hölle genannt haben. Für seine eigene Zeit geht er vom Diesseits aus und da bedeutet Fortschritt nicht, daß der Himmel blauer, der 250 Emerson Honig süßer und das Klima angenehmer ist, sondern daß „ unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen einfacher und glücklicher ist. Die Zeiten haben im Unterschied zu der Zeit ihre Aktionssphäre im diesseitigen, praktischen Leben, um dessen Führung ihm zu tun ist. In Amerika gibt es in den Südstaaten noch Sklaverei und Emerson nennt die Raserei, mit welcher der Sklavenhändler jeden Inch seines blutigen Schiffsdecks verteidigt und das Geplärr bei der Versteigerung der Sklaven „ eine Trompete, welche das Ohr der Menschheit alarmieren soll, um die Lauen und Gleichgültigen zu wecken und die Neutralen dazu bringen soll, Stellung zu beziehen. “ Alle Versuche und Anstrengungen das Leben „ besser “ zu machen, seien Teil einer vollkommenen Kette, die Menschen aus der sie umgebenden Finsternis hinaus zu führen, um sie in Harmonie mit dem „ Schönen und Gerechten “ zu bringen. Emerson nimmt nachdrücklich Stellung und wieder dient ihm „ der Sklavenhalter “ als bezeichnendes Beispiel. So wie manche Kirche einen Kompromiß mit dem Sklavenhalter macht, wird es mehr und mehr abscheulich, in welcher Weise hier die amerikanische Verfassung verletzt wird. Er greift jene Reformer an, denen es nur um einzelne, äußerliche Reformen geht und nicht um ihre vollständige, innere Reform. Das Krebsübel der jetzigen Zeit sei Unglaube und Unsicherheit, was wir tun sollen, sowie Mißtrauen in die Werte: „ Ich glaube, die Menschen haben niemals das Leben weniger geliebt “ als in der jetzigen Zeit. Die richtige Haltung sei die eines spirituellen Menschen, der alles abweist, was absolut feststehend, dogmatisch oder persönlich-subjektiv ist. Der Mensch sollte von der „ Quelle der Liebe “ inspiriert sein. Der, welcher nicht auf die Jetztzeit des Heute Rücksicht nimmt, sondern dem es um die Dauer geht, sollte richtig reagieren. Das höchste Geschenk, das der Himmel dem Menschen bescheren kann, ist, daß er ihm verkleidete Engel schickt. Auch wenn es säkularisierte, amerikanische Engel sein sollten, steht ihre spirituelle Engelhaftigkeit nicht in Frage. Der Himmel, der diese Engel schickt, ist derselbe Himmel wie das Paradies Dantes, derselbe, den Rabelais mit der Societé Angelique meint, und derselbe, den Erasmus mit seinem „ dritten Himmel “ meint, derselbe Himmel wie bei Shakespeare 30 und derselbe Himmel, zu dem bei Goethe sein Faust am Ende seines Lebens auffährt. Es war bereits der ägyptisch-hellenistische Himmel des Hermes, dessen Tabula Smaragdina am Beginn der Traditionskette steht. Auf diese Traditionskette - wie auch auf die Freimaurerei - bezieht sich Emerson noch direkter in seinem zweiten Vortrag „ The Transcendentalist “ . Er beginnt mit dem Hinweis, daß das, was wir Welt nennen, nichts anderes ist, als die fortschreitende Schöpfung unserer Gedanken, also grundsätzlich etwas 30 Eines der berühmtesten Zitate Shakespeares besagt, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sich unsere Schulweisheit träumen läßt. 251 Emerson Geistiges. Wieder schließt er absolute, dogmatische und persönlich-subjektive Ideen aus. Er erklärt, daß jeder Buddhist, der großzügig an das Gute glaubt, ein Transzendentalist ist und weist darauf hin, daß in jeder Zeit, in welcher die eine oder andere Art des Falschen und Bösen dominiert, sofort eine positive geistige Strömung in die Welt tritt. So wie die Zeit des antiken Despotismus patriotische Catos und Brutusse produziert hat, so nun in Neuengland, in der Zeit des Materialismus und Unitarismus die besondere Art eines neuen Johannismus, eben den Transzendentalismus. Wenn wir uns aber in der Kirchengeschichte so sehr für die Geistigkeit der Gnostiker, der Essener, der Manichäer und Reformer interessieren, dann sollten wir uns noch mehr bemühen, diese Geistigkeit in unserer eigenen Zeit zu finden. Er wußte, daß die Freimaurerei eine Fortsetzung gnostischen Denkens in seiner eigenen Zeit bedeutet und daß der berühmte Buchstabe „ G “ nicht nur für die heilige Geometrie Salomos, des Tempelbauers stand, sondern auch für „ Gnosis “ und die eigenen Zeitgenossen, die am symbolischen Tempel der Freimaurerei bauen. „ Wir glauben “ , sagte er, „ daß diese Häresie der Gnostiker „ nicht vorbeigehen konnte, ohne ihren Stempel auch späterer Zeit aufzudrücken. “ Die Träger dieser Geistigkeit sind einsam, sagte er, der Geist ihrer Schriften und ihrer Gespräche ist einsam, sie schließen sich gern im Zimmer ihres Hauses ein. Aber die Guten und Weisen müssen lernen zu handeln, um die verbissenen Kämpfer und Demagogen in der staubigen Arena zu erlösen. Er stellt die uralte metaphysische Frage wieder neu: „ Was ist mein Glaube? Was bin ich? “ und er gibt die Antwort: „ Was sonst, als ein Gedanke gelassener Heiterkeit und Unabhängigkeit und ein Bewohner des blauen Himmels. “ Gegenwärtig dringen die Wolken wieder ringsum ein, aber wir behalten unseren Glauben, daß dieses große (geistige) Gewebe, das wir weben, zuletzt allem obsiegen wird. Darum ist Geduld für uns wichtig. Sodann ersetzt er die alte dogmatische Trinität ähnlich wie Dante im letzten Gesang seines „ Paradieses “ durch eine neue Trinität des „ Wahren, Guten und Schönen “ , das wohl gleichbedeutend mit der Triade von Weisheit, Stärke und Schönheit ist. Der Weg, den sein Held allein wandert, ist die Straße zur Gesundung und Wohlfahrt der Menschheit. Sein „ Privileg der Natur “ des Menschen ist das Bestehen auf die eigene Kraft, sich auf die Seite des Beständigen, Gleichbleibenden zu stellen. Er richtet die Frage an seine Mitmenschen: Im gegenwärtigen Materialismus, wo alles auf eine neue Straße, auf andere Statuten, auf eine Verbesserung der Kleidung oder der Zahnheilkunde, auf eine neue Aktie, auf ein neues Haus oder ein größeres Geschäft allein hinaus laufen, wollt ihr nicht zwei einsame Stimmen dulden (des Beständigen und Gleichbleibenden), die nicht vermarktbar sind? Alle die mechanischen Verbesserungen werden selbst wieder veraltet und überholt sein, die Städte verfallen, zerstört durch Krieg, durch neuen Erfindungen, durch neue Handelszentren, durch geologischen Wandel, alle vergangen wie die Muscheln auf dem Ufersand. 252 Emerson „ Aber die Gedanken, welche die wenigen Einsamen durch ihr Schweigen oder ihre Worte zu verkünden suchten, nicht nur durch ihre Taten, sondern auch durch das, was sie enthüllten, werden durch Stärke und Schönheit fest erhalten bleiben, um sich auf erneuerte Art zu wiederholen. Sich selbst neu einzukleiden, in anderer, vielleicht höherer Hülle, in voller Harmonie mit der Ordnung des Universums. “ Dieser lange Schlußsatz ist ein Hinweis auf die Wichtigkeit, Funktion und die besondere Dauer im Wandel der Traditionskette. Es ist eine begriffliche Interpretation des „ Wie oben so unten “ von Hermes. Dem Geist des Goethe Gedichts „ Eins und Alles “ , dessen Titel er wörtlich für eines seiner Gedichte übernommen hatte, folgt als die noch tiefere Einsicht der Geist des späteren Goethe-Gedichts „ Vermächtnis “ . Obwohl der Gegenstand wie die Reihenfolge seiner Pittsburger Vortragsfolge „ The Conduct of Life “ gleich blieben, in welcher sie neun Jahre später in der Endfassung erschienen 31 , war Emerson während dieser Jahre in mehr als ein Projekt vertieft und das wichtigste war der Kampf gegen das Sklavenflucht- Gesetz von 1850. Seine tiefst bewegten, gefühlsbetontesten und mitreißendsten Vorträge hat er zu dieser Problematik gehalten. 32 Nach ihm besitzt wie bei Pico della Mirandola jedes einzelne, menschliche Wesen die gleiche Würde. Das Problem, mit dem der Neu-Engländer im 19. Jahrhundert direkt konfrontiert wurde, das die Gleichheit dieser Würde am radikalsten verletzte, war die Sklaverei in Amerika und die akutesten Fälle in Boston wurden durch das Sklavenflucht-Gesetz ausgelöst, nach welchem die aus dem Süden in die Freiheit geflohenen Sklaven im Norden festgenommen wurden, um an den Süden ausgeliefert zu werden. Wenige Monate nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, wurde am 15. Februar 1851 in Taft ’ s Cornhill Kaffeehaus in Boston ein schwarzer Kellner verhaftet und sofort vor Gericht gestellt. Der Gerichtshof hielt eine Mittagspause, bevor das Urteil gesprochen wurde. In dieser Pause erschien ein Schwarzer, der Mitglied des Bostoner „ Wach-Komitees zur Erhaltung der Menschlichkeit “ war mit zwanzig anderen Schwarzen im Gerichtssaal und als sie ihn verließen, war der festgenommene Kellner mit ihnen mit verschwunden. Er wurde von Vertretern der „ Untergrund-Bahn “ für geflüchtete Sklaven über Watertown nach Concord gebracht, am nächsten Morgen von da nach Fitchburg und sodann per Eisenbahn nach Kanada befördert, wo er außer Gefahr war. Nachdem über diese bekannt gewordene Flucht die Vertreter des Südens in blanke Wut ausgebrochen waren, wurde das nächste Opfer, ein eben aus Savannah eingetroffener junger Neger mit größter Vorsicht bewacht. Nach 31 In deutscher Übersetzung Die Lebensführung, übersetzt von Franz Kwest, Halle a. S., o. J. 32 Len Gougeon und Joel Myerson (Hg.): Emerson ’ s Antislavery Writings. New Haven und London 1995 253 Emerson viertägiger Verhandlung wurde das Urteil der Auslieferung gesprochen. Dreihundert Polizisten wurden aufgeboten, um den jungen Neger auf das Schiff „ Acorn “ zu transportieren, das sofort in den Süden abfuhr. Sieben Tage nach der Auslieferung veröffentlichte Emerson einen Aufsatz, in dem es hieß: „ Jeder, dem die Menschenrechte am Herzen liegen, trete dem Protest der Menschlichkeit gegen dieses verabscheuungswürdige Statut des Kongresses bei. “ Einen Tag darauf wurde der junge Neger in Savannah an Land gebracht und öffentlich ausgepeitscht. Das trieb Emerson dazu, aktiv zu werden. Wieder acht Tage später unterzeichneten 26 Bürger von Concord eine Petition gegen das Sklavenflucht-Gesetz und wieder sieben Tage später hielt Emerson in Concord einen öffentlichen Vortrag, in dem er erklärte, es sei nicht möglich, sich in diesem Fall einer Stellungnahme zu entziehen. In diesem Jahr seien alle gezwungen worden, in die Politik zu gehen. „ Wenn unser Widerstand gegen dieses Gesetz nicht Recht ist “ , sagte er, „ dann gibt es kein Recht. “ Damit begann eine Periode, in welcher er sich verpflichtet fühlte, das Recht des Widerstandes gegen die Staatsgewalt lautstark zu vertreten. Er forderte öffentlich auf, das Gesetz zu brechen. Der illegalen „ Untergrund- Bahn “ traten die Emersons allerdings erst 1854 bei. Im Verlauf der nächsten Zeit bis es endlich zum Abolitionismus kam, hielt die Erbitterung dauernd an. Er nannte die Regierung korrupt, alles Gesetz auf den Kopf gestellt und die Regierung selbst Verrat. 33 Der späte Emerson konnte noch Jahre der Anerkennung und des Ruhms erleben. Der letzte Durchbruch zum Ruhm schien mit der Wiederholung der Pittsburger Vortragsreihe über „ Lebensführung “ 1852 vor großem Publikum in Boston und New York erreicht worden zu sein. Sie gingen bis in die Vierzigerjahre zurück und sollten als Essayband erst 1860 erscheinen. Dazu kam das Erscheinen der Biographie, die er über Margret Fuller geschrieben hatte und die öffentliche Begrüßung des ungarischen Revolutionärs Lajos Kossuth, der 1852 auch nach Concord gekommen war. Der Roman von Harriet Beecher Stowe ’ s Onkel Tom ’ s Hütte mit der ungeheuerlichen Leidensgeschichte des christlich liebenden Negersklaven Onkel Tom war ein Riesenerfolg geworden, was Emerson sehr genoß. Er hatte auch ein neuerliches Interesse an der indianischen Bevölkerung gefaßt und eine Aktion wie die Zwangsumsiedlung der Cherokees war unmöglich geworden. Der einstmals aus Harvard Verbannte erhielt das Ehrendoktorat der juridischen Fakultät von Harvard. Trotz der großen Bedeutung der frühen Essaybände findet sich bei einzelnen Problemen eine größere Reife und Vertiefung der Einsicht. Als der frühe Emerson seine großartige „ Self-Reliance “ schrieb, dominierte der freie Wille über alles. Nun ist der erste Essay des neuen Bandes dem Thema „ Schicksal “ 33 Vgl. Len Gougeon: Virtue ’ s Hero: Emerson, Antislavery, and Reform. Athens (Georgia) 1990 254 Emerson gewidmet und er anerkennt nicht nur eine starke begrenzende Macht für den freien Willen, sondern entdeckt vor allem auch sehr Tröstliches und Positives in der Anerkennung dieser Kräfte. Er macht darauf aufmerksam, daß nicht nur im Dasein ein Gesetz herrscht, das nicht geistig, sondern das der Geist selbst ist. Er steht höher als alle Begriffe, da er alle Einzelwesen auflöst, die Natur belebt und „ doch alle, die reinen Herzens sind, ermutigt nach all seiner Allmacht zu streben. “ Hier hat er dem Metaphysischen gegeben, was des Metaphysischen ist. Er hat die „ wunderschöne Notwendigkeit “ gesehen und ist vom voll-freiheitlichen Optimismus zur „ Wissenschaft von der Freiheit “ fortgeschritten. Beim nächsten Essay, der die Macht behandelt, ist es ähnlich. Nicht um die politische oder wirtschaftliche Macht ist es ihm zu tun, sondern um den Unterschied zwischen dem Erbauer einer Kalikofabrik und dem unsichtbaren Erbauer der Weltfabrik. Des letzteren Gewebe, wie etwa ein Tag, ist ein viel prachtvolleres Gewebe als irgendein Musselin. Der dritte Essay behandelt Reichtum, wobei er nicht ein Armutsideal predigt, sondern auf die Relativität des Geldes hinweist, die davon abhängt, was damit getan wird. Geld sollte vor allem für geistige Schöpfung ausgegeben werden und nicht für tierisches Wohlbefinden. Derjenige sei ein Vorbild, der durch neue Kräfte und aufsteigende Genüsse die Erkenntnis errungen hat, bereits ein höheres Gut zu besitzen und der auf dem Weg ist, den inneren Reichtum des höchsten Guts zu erreichen. Der vierte Essay behandelt Bildung, die, wenn sie wirklich tief genug sitzt, das fanatische Erstreben von Macht oder Reichtum als absolute Werte verhindern kann. Wie schwer das sein kann, erhärtet er durch das Zitat eines der Ahnherrn der Traditionskette, des Neuplatonikers Porphyrius, der gesagt hat: „ Steil und rauh ist der Aufstieg zum Guten. “ Bildung soll bewußt dem eigenen Wunsch des eigenen inneren Strebens zu Höheren und Vollkommeneren dienen und der Einsicht, daß es nichts gibt, was der Mensch nicht überwinden und wandeln könnte. Dadurch können zuletzt sogar die Hölle und das Chaos überwunden werden. Dadurch werden die Furien in Musen und die Höllen in Paradiese verwandelt werden. Es ist eine deutliche Vorwegnahme der tiefenpsychologischen Einsicht in die Sublimierung und geht noch darüber hinaus. Es sei nur noch auf drei weitere Essays eingegangen. Der erste davon und ein für ihn in der Spätzeit besonders wichtiger ist der über „ Verehrung “ , der auch „ Anbetung “ und das Religiöse einschließt. Er beginnt handfest mit dem Vergleich des Menschen mit einem Apfelbaum. Durch den religiösen Impuls erhält der menschliche Glaube eine bestimmte, fruchtbare Richtung, so wie der Apfelbaum durch das Beschneiden der Zweige im Frühling befähigt wird, anstatt eine Vielzahl dünner Zweige zu entwickeln, auf den verbliebenen Zweigen Früchte zu tragen. Verehrung im Sinn von Gotteserkenntnis führt dazu, „ daß der Baum gesund bleibt und Früchte trägt, trotz Eis, trotz Läusen, trotz Mäusen, trotz Larven. 255 Emerson Gott baut seine Tempel im Herzen der Menschen und auf den Trümmern von Kirchen und Konfessionen. Die höchste Stufe der Bildung könnte man Religion oder Gottesverehrung nennen. Die innere, gleichsam platonische Idee der Verehrung, die anonyme Kraft, das überpersönliche Herz werden Stützen sein. Kein guter oder böser Ruf von außen her kann dann der inneren Sicherheit schaden. Der Lohn ist die tiefe Beglückung durch die innere Beziehung zu den letzten Urgründen des Daseins. Beim Essay über die Schönheit geht es nicht um äußerlichen Schmuck und Verzierung, sondern sein vertiefter Schönheitsbegriff ist untrennbar mit dem der Schönheit zugrunde liegenden ethischen Gehalt verbunden. Es gibt verschiedene Formen dieser vertieft gesehenen Schönheit die über die vorletzte Stufe von Platos Lehre, wonach unser Globus wie der Makrokosmos unseres Universums nur rohe, äußere Gestaltungen einer alles in sich fassenden Einheit und Ganzheit darstellen bis zur letzten Stufe „ des Tempels der Weisheit und des Geistes “ führen. Daran reiht sich die denkwürdige dichterische Vision des Abschluß-Essays, der notwendig den negativen Titel „ Illusionen “ trägt, weil er für den Leser einer materialistischen Zeit wie jener Emersons und unserer noch böseren vor den größten Gefahren warnt, unser Leben zu verfehlen. Dennoch nimmt er die Aufgabe auf sich, den tief sitzenden Glauben eine objektive erfassbare Tatsächlichkeit der Außenwirklichkeit im platonischen Sinn als Illusion zu nehmen, durch deren Beseitigung sich erst ein Blick in die tatsächliche Wirklichkeit jenseits des äußeren Scheins auftut. Dieser Essay stellt gleichsam die geistige Zusammenfassung der jeweiligen Schlüsse aller vorangegangenen Abschlüsse der Einzelessays dar. Der Essay ist den verschiedenen Formen von Einzel-Illusionen gewidmet, die uns mit großer Überzeugungskraft und großem Erfolg von diesem Ausblick abhalten. Es ist eine Schau der Vergöttlichung des Menschen und der ihm von den Göttern geschenkten Tage, die durch ihre Abkunft selbst wieder Götter sind. In seiner Jugend hat der Mensch einen Augenblick, in dem er klar sieht, daß er mit seinen Göttern allein ist. Aber nur allzu bald setzen die übermächtigen Illusionen der Ich-Sucht ein. Es ist der schwierige Versuch des Mystikers Emerson, in einfachster Form dem Unergriffenen und Unbeflügelten künstliche Flügel zu verleihen, durch die er für einen Augenblick hoch genug aufsteigen kann, um einen eigenen Blick auf die Wahrheit zu werfen, in welcher seine göttliche Eingebundenheit in das Ganze sichtbar wird. Es ist zugleich ein „ Augen “ -Blick in das geistige Zentrum der Traditionskette. Der letzte Abschnitt des Essays lautet: „ Im Weltall gibt es keinen Zufall und keine Anarchie. Alles ist System und Stufenfolge. Jeder Gott herrscht in seiner Sphäre. Der junge Sterbliche betritt die Halle des Firmaments, allein, umgeben von den Göttern ringsum. Sie gießen ihre Segnungen und Geschenke über ihn aus. Sogar seine Tage sind ein Geschenk von ihnen für ihn. Und sie winken ihn zu ihren Thronen empor. In diesem 256 Emerson Augenblick fällt ein Schauer von Illusionen auf ihn nieder. Er bildet sich ein, in einer großen Menge zu sein, die hierhin und dorthin schwenkt und deren Bewegungen er folgen muß; er fühlt sich arm, verwaist und unbedeutend. Die irrsinnige Menge treibt ihn hierhin und dorthin und befiehlt ihm, das eine oder andere zu tun. Wer ist er schon, sich ihrem Willen zu widersetzen und zu glauben, er könne für sich selbst handeln? Jeden Augenblick neue Wechsel und neue Schauer von Täuschungen, um ihn zu verwirren und zu quälen. Und wenn, von Zeit zu Zeit, die Luft sich klärt und der Nebel sich hebt, da sitzen noch immer die Götter rings um ihn auf ihren Thronen - sie allein sind mit ihm. “ Die Illusionen waren Ablenkungsversuche der „ Menge “ vom Wesentlichen und sogar davon, daß auch seine Tage göttergleiche Geschenke waren. Wenn Emerson noch nicht lange davor erklärt hatte, er lehre die „ Wissenschaft von der Freiheit “ , dann lehrte er jetzt die Wissenschaft vom Leben. Am amerikanischen Staatsfeiertag des Jahres 1855, zwei Jahre bevor durch Baudelaires Fleurs du Mal die moderne französische Lyrik einsetzte, war mit der Post für Emerson ein kleines Buch eingetroffen: Walt Whitmans Leaves of Grass. Emerson las es und hielt es sofort für das beste Stück eines „ amerikanischen Buddhismus “ , zugleich typisch amerikanisch bis in die Knochen. Er schrieb an Whitman, daß er den kleinen Band für das außerordentlichste Stück von Witz und Geist hielt, das Amerika je geleistet hat und daß er nach New York fahren würde, um Whitman seine Hochachtung zu erweisen. 34 Die amerikanische Renaissance hatte ihren Lyriker erhalten. Wenn Emerson sich als Prophet fühlte, dann hielt Whitman Jesus nicht nur für „ tot, göttlich und Bruder von allen “ , sondern besonders für einen „ lieben Bruder “ zu sich selbst als Sänger eines amerikanischen Messianismus. Freilich besaß er nicht die Klarheit und Stärke eines Thoreau. Indem er sich von jeglicher Vergangenheit - im Gegensatz zu Emersons Genauigkeit, Liebe Persönlichhaftigkeit und Verbundenheit mit der Traditionskette - losgesagt hatte, wogte er förmlich dahin in einem Traum von der Vervollkommnungsfähigkeit aller Menschen bis zur tatsächlichen, realen Göttlichkeit, wodurch er den Boden der Wirklichkeit völlig unter den Füßen verlor. Es ist kein Wunder, daß er noch zwei Menschenalter später auf einen jungen, so gebildeten und aus der geistigen Enge seiner Zeit so aufbruchsbereiten deutschen Lyriker vom Format Ernst Stadlers tiefen Einfluß gehabt hat. Allerdings unterschied sich Whitman wohl in einem Punkt von Emerson und der ganzen antinaturalistischen Traditionskette durch seine geradezu religiöse Vergötterung des Sex. 34 Vgl. Justin Kaplan: Walt Whitman. New York 1980; Jerome Loving: Emerson, Whitman and the American Muse. Chapel Hill 1982 und F. O. Matthiessen, op.,cit., besonders die Seiten 44, 51, 55, 520 - 524, 545 - 546 und 611 - 612 257 Emerson Angeregt durch seine Faszination mit Stonehenge hatte Emerson das Buch von Davies über Mythologie und Riten der Druiden gelesen und gewiß heraus gefunden, daß sich deren keltische Tradition bestens in die Traditionskette einfügte. Gibt es doch vom Artus-Mythos auch Verbindungen zur Templergnosis. Durch den wachsenden Ruhm Emersons gab es nicht nur zunehmend „ Anhänger “ wie John Albee, Moncure Conway und Horatio Greenough, sondern auch Parodien auf ihn oder einzelne Gedichte. Nur bei wirklich berühmten Autoren sind Parodien möglich, da sie ansonsten im luftleeren Raum verpuffen. Oliver Wendell Holmes hatte ein Reimpaar geschrieben, das Emerson als „ Plotinus-Montaigne “ verspottete und sein Gedicht „ Die Sphinx “ brachte innerhalb eines Monats sechsundzwanzig Parodien hervor. Emerson hatte sich in seinem eigenen Essay auf den Ruhm des Rosenkreuzer- Gönners Walter Raleigh bezogen. Henry Sutton pries Emerson als „ lebendes Orakel “ und stellte ihn mit Boehme, Agrippa und alten Brahmanen-Autoren zusammen. Andrew Jackson Davis aber zählte unter den von ihm erfundenen, neuen „ Evangelien “ auch eines des heiligen Ralph auf. Als die große Konvention zur Abschaffung der Sklaverei in Boston beendet war, traten einige Delegierte zusammen, um auch über Frauenrechte zu diskutieren. Eine der führenden Frauenrechtlerinnen lud Emerson auch ein, den Eröffnungsvortrag bei der geplanten großen Tagung in Worcester zu halten. Er lehnte den Vortrag zwar ab, stellte aber seinen Namen für das Vorbereitungskomitee zur Verfügung. Als ein Jahr später eine andere Frauenrechtlerin ihn bat, eine Rede bei der zweiten großen Konvention zu halten, lehnte er wieder ab, wies aber darauf hin, daß er gerade an der Biographie einer großen amerikanischen Frau, Margaret Fuller, arbeitete. Emerson glaubte nicht an „ quantitativen “ Feminismus, dessen „ Frauen-Quoten “ für wirkliche weibliche Persönlichkeiten beleidigend ist. Er zeigte in seiner Fuller-Biographie das Leben einer wirklich großen weiblichen Persönlichkeit, die erfolgreich für die Demokratisierung Italiens und die dortigen Frauenrechte eingetreten war. Die feministischen Ideen seiner Freundin Margaret Fuller wichen in einigen Punkten von jenen der anderen Frauenrechtlerinnen ab, die für Emerson bindend waren. Sein Antwortbrief auf die zweite Vortragseinladung war aber so positiv, daß die New York Tribune ihn zusammen mit anderem Material über die Konvention abdruckte. Er gab dann auch einen Vortrag auf einer nur die Neuengland-Staaten beschränkten Frauenkonvention in Boston im Jahr 1855. Es existiert eine hübsche Beschreibung über eine Frauenrechtsdiskussion im engsten Kreis der Familie Emersons. Lydia war die radikalste Vertreterin von Frauenrechten, gefolgt von der älteren Tochter Edith. Die zweite Tochter Ellen war am zurückhaltendsten. Emerson selbst schwieg die ganze Zeit. Als er ausdrücklich um seine Meinung gefragt wurde und sie abgab, waren alle drei gegen ihn. Am Rande sei vermerkt, daß er auch in dieser Frage mit der Traditionskette einig war. Die meisten von deren Vertretern hatten die Bedeutung und Größe des 258 Emerson Weiblichen unterstrichen. Emerson hielt zuletzt die Frauen sogar für die besseren Studenten und Gelehrten. Die Hochschätzung des Weiblichen war ja auch die schlüssige Folgerung aus der gesamtmenschheitlichen Grundhaltung. Es ist schwer, die gesamte Menschheit wirklich zu meinen und zugleich die Hälfte davon abzulehnen oder zumindest gering zu achten. Dazu kam die Hochschätzung des Weiblichen auch von den Mythen und geistigen Traditionen her. Die große Muttergöttin der Gnostiker, oft als Sophia verehrt, stammte wie Isis wahrscheinlich aus einer Zeit des Matriarchats. Gerade die wirklich Großen hatten immer die Neigung gehabt, auch anderes Großes zu entdecken und zu schätzen. Die heutigen Taliban, die in ihrem Terror-Wahn auch Schülerinnen, die Bildung wollen und ihre Lehrer umbringen, sind verbrecherische Fanatiker. Am ersten Januar des Jahres 1863 fiel es Emerson zu, in der großen Musikhalle von Boston die große Neujahrsveranstaltung anläßlich der Sklavenbefreiung zu eröffnen. Es war der Tag, an dem das Gesetz der Emanzipation der Sklaven in Kraft trat. Er las seine „ Boston Hymne “ , die zweiundzwanzig Strophen hatte und die mit Gottes Rat an die „ Pilgerväter “ das alte, faule Europa zu verlassen begann, wo große und kleine Tyrannen die Schwachen ausrauben und quälen. Gott hat die Erde nicht zu solchen Verbrechen geschaffen. Sie mögen vielmehr Gottes Engel der Freiheit wählen. Fischer, Holzfäller und Pflüger sollen einen freien Staat gründen. Gottes Versprechen ist: I break your bonds and masterships, And I unchain the slave: Free be his heart und hand henceforth As wind and wandering wave. Nach der Verlesung der Hymne brach ein Beifallssturm vermischt mit Singen los. Richardson hat gemeint, daß der öffentliche Ruhm Emersons, für den diese Veranstaltung ein besonders klares Zeichen setzte, dazu geführt hat, daß es nun einen „ öffentlichen “ Emerson gab, auf dessen Kosten der private Emerson zu leiden hatte. Richardson hatte in einem Ausspruch Emersons anläßlich des Todes von Hawthorne eine „ Spur von Einsamkeit “ entdeckt. 35 Im Jahr 1867 veröffentlicht er seinen zweiten Gedichtband May-Day and Other Poems. Die freien Verse Whitmans lagen ihm nicht und er machte chronologisch einen Schritt zurück zu den neuklassischen Versen des bewunderten Wordsworth, dem er in so vielem nahe stand. Am Ende des Bandes gibt es zahlreiche Vierzeiler, deren Form er von den altpersischen Rubais übernommen hatte. In einem der Gedichte hat er auch der islamischen Esoterik gehuldigt, indem er den Erleuchtungszustand der Derwische beschreibt. Im Jahr 1867 wurde er Mitglied des Aufsichtsrats von Harvard und das Phi- Beta-Kappa-Kapitel lud ihn zu einem Vortrag ein, für welchen er den Titel „ Der 35 Richardson, op. cit., S. 552 259 Emerson Fortschritt der Kultur “ wählte. Im selben Jahr sprach er in der „ Freien religiösen Vereinigung “ über die zunehmende Schwäche und Machtlosigkeit der dogmatischen Kirchen. Drei Jahre später folgte ein neuer Essayband Society and Solitude, der zwölf ältere Essays aus mehreren Jahren zusammenfaßte. 36 Für ihn selbst war eine Vortragsreihe besonders wichtig, die er unter dem Titel „ The Natural History of Intellect “ in Harvard hielt, als der neue Präsident Charles Eliot an das Undergraduate College eine Graduate School anschließen wollte. 37 Er begann mit der Einführung von sieben Vorlesungskursen in Philosophie. Emerson hielt drei Vorträge, deren erster am 26. April 1870 stattfand. Die Vorlesungen sind nie veröffentlicht worden, doch wissen wir, daß Emerson mit dem ersten davon an den Titel seines allerersten öffentlichen Vortrags nach seiner Rückkehr von der ersten Europareise anknüpfte, den er in der Masonic Hall von Boston gehalten hatte. Wir wissen auch, daß er damals diese letzte Vortragsreihe für die wichtigste Aufgabe seines Lebens hielt. Schon 1833 in der Masonic Hall war es ihm darum gegangen, seinen transzendentalen Idealismus auf eine feste wissenschaftliche Basis zu stellen. Darum war es ihm der letzten Zeit wieder gegangen. Einen wichtigen Teil hat zweifellos der Inhalt seines Vortrags „ Memory “ von 1857 gebildet. Im Mittelpunkt stand der Geist. Es ist derselbe Geist, der Dante für seine Geist-Kirche vorgeschwebt ist und derselbe Geist, der im esoterischen Buddhismus wie Vedantismus leer ist und zugleich alles enthält. Ich kenne keine knappere und doch zugleich alles zusammenfassende Beschreibung dieses Geists als jene durch Garma C. C. Chang den großen tibetischen Buddhismus-Kenner. Er nennt den „ Geist “ „ self-mind “ und das sagt er über ihn: The Prajna-Paramita is beyond words and thougts, Not arising, not ceasing but empty like the space. It is a realm that only selfaware-wisdom can reach. It ist the mother of all Buddhas. Der Geist ist leer wie der Weltraum und trotzdem ist er „ die Mutter aller Buddhas “ , enthält also das All. Es gibt Variationsformen zu dieser Weisheit auch in der Kabbala der Traditionskette 38 , bei Pico, im Neuplatonismus und im „ Nichts “ des Meister Eckhart. Zunächst hatte Emerson eine abstrakte, philosophisch rationalisierte Form davon durch die Londoner Vorlesungen von Friedrich August Nitsch über Kant und seinen transzendenten Idealismus kennen gelernt. Das hat sich später durch 36 Ronald Bosco und Joel Myerson (Hg.): The Later Lectures of Ralph Waldo Emerson. Athens (Georgia) 2003 37 Vgl. S. E. Morrison: Three Centuries of Harvard. Cambridge (Mass.) 1936, S. 333 - 334 38 Vgl. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957, S. 5 f. 260 Emerson sein Interesse an fernöstlicher Weisheit zu wohl kaum praktizierten, aber doch rational richtig verstandenen „ self-aware-wisdom “ vertieft. Emerson eröffnete seine erste Vorlesung denn auch mit den Worten: „ Ich hoffe, ihre Aufmerksamkeit auf eines zu lenken: die Gesetze des Geistes. “ Der Titel der zweiten Vorlesung war „ Die Transzendenz der Physik “ . Damit war der Kantisch-idealistische Ausgangspunkt bereits vorweggenommen, welcher der „ klassischen Physik “ des 19. Jahrhunderts völlig zuwider lief. Das was eindeutig gegen Humes Empirismus und noch primitiveren Sensualismus gerichtet. Es war ein noch radikalerer Widerspruch gegen die allgemein in Harvard hoch gehaltene klassische Physik und die Naturwissenshaft als der auf den konfessionellen Raum gegen kirchliche Dogmatik, das zur Verbannung des jungen Emerson von Harvard geführt hatte. Er hatte nur das Glück, daß dieses Mal keine Zionswächter der Dogmen der klassischen Physik in der ersten Reihe saßen, die in der Zwischenzeit seit Einstein nicht weniger überholt sind, was sie aber damals noch nicht waren. Darum konnte er auch sein Ziel nicht erreichen. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß die Vorträge, an denen ihm mehr als an allem anderen lag, nicht veröffentlicht wurden. Das spekulative Vorläufertum von Kants transzendentaler Haltung ist in der modernen Physik durch Heisenbergs Unsicherheitsprinzip verifiziert worden, auf Grund dessen in jeder Aussage über physikalischer Tatsachen die Anwesenheit eines „ Beobachter “ mit enthalten ist. Es war im Grunde schon das Gesetz des Idealismus, nach dem bereits der junge Emerson angetreten war, nur sehr vertieft weiter entwickelt. Es ist nicht überraschend, daß Emerson, dem die Einsichten der modernen Physik nicht bekannt sein konnten, im Verlauf seiner Vorträge in Schwierigkeiten mit sich selbst geriet, von denen ihn sein Schwiegersohn befreite, indem er ihn überredete, Urlaub zu machen und eine Reise nach Kalifornien anzutreten. Emerson traf auf der Hinfahrt im privaten Eisenbahnwagen in Salt Lake City den Mormonenführer Brigham Young. In Kalifornien traf er den berühmten Naturfreund John Muir, der durchgesetzt hatte, daß einige der großartigsten Naturparks im Westen unberührt blieben und der den Sierra Club gegründet hatte. Als Emerson durch seine Berühmtheit das Privileg erhielt, einen der einmalig gigantischen Redwood Bäume zu taufen, gab er ihm den Namen Samoset, den Namen des Häuptlings, der sich zu einem Wohltäter der Pilgerväter von Plymouth entwickelt hatte, woher Lydia stammte. Eines der wichtigsten Leseerlebnisse nach der Rückkehr von Kalifornien stellte das Buch des Goethe-Bewunderers John Ruskin Two Paths dar. Emerson hatte sofort erkannt, daß Ruskins Gegnerschaft gegen den eben aufkommenden Panästhetizismus eine große Gefahr des „ L ’ art pour l ’ art “ für geistige Richtigkeit und besonders für wirklich bedeutende Dichtung erkannt hatte. „ Wo auch immer Kunst um ihrer selbst willen geschaffen wird und die Freude des Arbeiters in dem liegt, was er tut und produziert anstatt in dem, was er deutet 261 Emerson und darstellt, da hat Kunst einen voll tödlichen Einfluß auf Gehirn und Herz, und wenn sie lange so fortgesetzt wird, muß sie sowohl die Geisteskraft wie das ethische Prinzip zerstören; wo aber Kunst ehrfürchtig und ich-überwunden dazu dient, Feststellung und Zusammenhang der Tatsachen des Universums zu klären, ist sie immer hilfreich und wohltätig für die Menschheit, erfüllt von Trost, Stärke und Erlösung. “ 39 Wie entsetzt wäre Emerson wohl gewesen, hätte er in einer Zeit wie der heutigen gelebt, in der die Kunst noch eine Stufe tiefer als auf das L ’ art pour l ’ art herab gesunken ist, nämlich auf das Niveau einer Kunst um der ihr jeweils unterlegten Kunsttheorie willen. Die Autoren fühlen sich als propagandistische Textmanager, die Texte konstruieren anstatt Dichtungen zu verfassen. Als er in seiner letzten Vortragfolge in Harvard den zweiten Vortrag „ Die Transzendenz der Physik “ betitelte, hat er wohl vorausgeahnt, daß die moderne theoretische Physik früher oder später ihn bestätigen müßte und wenn sie auch nicht seine spekulative Denkmethode bestätigen konnte, so hat sie seine Grundhaltung doch dadurch voll bestätigt, als sie den Geist wieder in sein Recht gesetzt hat. Seine Befürchtungen über die Gefahr einer völligen Zerstörung der geistigen Kraft und des ethischen Prinzips von Dichtung und Kunst sind voll eingetreten. Eine großartige und bestdokumentierte sowie durch ihre Analysen der Zusammenhänge besonders eindrucksvolle Anklageschrift dagegen hat Wladimir Weidlé noch vor dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich geschrieben. 40 Eine Fortsetzung nach dem Zweiten Weltkrieg lieferte das Werk von Hermann Broch. Wenn Erasmus zuletzt bei der Haltung angelangt war, anstatt eines Weltbürgers lieber ein Bürger des Himmels zu werden, so hätte Emerson diesen Punkt heute längst auch erreicht. Es wird berichtet, daß er bei jedem gemeinsamen Essen von diesem Buch John Ruskins gesprochen hat. Eines Nachts wurde er vom Prasseln der Flammen geweckt, in denen das Haus aufzugehen begonnen hatte. Es brannte fast völlig nieder. Erhalten blieb das Arbeitszimmer mit all seinen Büchern und Papieren. Es mußte von Grund auf neu aufgebaut werden, wozu ihm die Mittel fehlten. Durch seinen Ruhm brachten Geldsammlungen so viel ein, daß nach der Erneuerung des Hauses auch noch Geld für eine ausgedehnte Reise nach „ England, dem Kontinent und Ägypten “ blieb. Er reiste in Begleitung seiner Tochter Ellen und sein Hauptziel war die winzige Insel Philae, was Eule bedeutet. Sie gilt als das Juwel des Nil und liegt in der Nähe von Assuan am oberen Nil. Es gibt dort besonders prächtige Tempelruinen und der Isis-Tempel war der letzte, an dem noch Isis-Kult 39 Zitat aus zweiter Hand nach Richardson, op. cit., S. 566 40 Deutsche Übersetzung erst 1956 unter dem Titel Die Sterblichkeit der Musen. Stuttgart 1956 262 Emerson und Isis-Mysterien stattgefunden haben. Nach der von Plutarch berichteten Legende war hier Osiris begraben, dessen Grab Isis geöffnet hatte und um dessen Grab war es Emerson gegangen. Man hat von einer Ägyptomanie der amerikanischen Renaissance gesprochen und sogar Melvilles Moby Dick war auch als eine ägyptische Seelenreise gedeutet worden, der zehn Jahre nach der ersten Ausgabe des Totenbuches durch Lepsius erschienen war. Es wäre nicht überraschend, würde sich noch herausstellen, daß Emerson dessen Buch gekannt hat. Mit Sicherheit gekannt hat er jenes des Plutarch Isis und Osiris. Die große Bedeutung der Isis für die Templergnosis hat Emerson bestimmt nicht gekannt, doch umso wichtiger war seine Kenntnis von Hermes für die Traditionskette. Gewiß hat ihn die Öffnung des Sargs von Osiris durch Isis an sein eigenes Öffnen des Grabs seiner ersten Frau Ellen erinnert. Richardson hat denn auch von seiner „ Pilgerschaft nach Verlorenem “ gesprochen und nach Ruskins bedrohlichem Buch und nach dem Niederbrennen des Hauses die Ägyptenreise als „ dritte Endung “ seines Lebens bezeichnet. Dafür gab es in England ein Aufflackern des alten Geistes. Nicht beim Mittagessen mit dem Ministerpräsidenten Gladstone, aber bei der Zusammenkunft mit Ruskin und vor allem beim Treffen mit seinem alten Freund Max Muller, dem Begründer der vergleichenden Religionswissenschaft. Dieser sandte ihm sieben Jahre später einen Geburtstagsgruß, in dem es hieß: „ Der Übersetzer der Upanishaden Moksha Mulara (das war der „ erleuchtete Muller “ ) sendet beste Grüße und beste Wünsche an seinen amerikanischen Guru Amarasuna “ (Emerson). Als Beigabe fand Emerson eine neu entdeckte Upanishad, in der sich auch die Stelle befand: „ Das Selbst vergißt niemals. Die Inschriften auf dem Gedächtnis schwinden hin und es ist gut, daß vieles vergessen wird. “ Das sollte und konnte auch als ein Trost dienen, da der alternde Emerson sehr bewußt und schwermütig seine fortschreitende Vergeßlichkeit registrierte und einmal erklärt hat: „ Das Gedächtnis hat seine eigene Persönlichkeit “ . Er lebte zurückgezogen, menschenscheu und verließ nur zu besonderen Anlässen das Haus. Ein solcher Anlaß im Jahr 1876 war eine Versöhnungsveranstaltung zwischen Nord und Süd nach dem Bürgerkrieg in Charlottesville, der Stadt seines politischen Alter Ego Thomas Jefferson, des geistigen Begründers der politischen Freiheit und Unabhängigkeit Amerikas, wo er an der Universität von Virginia sprach. Seine Stimme war aber so leise, daß nur die Menschen in den ersten Sitzreihen verstehen konnten, was er sagte. Schließlich kam der Augenblick, an dem die Schwermut über die Vergeßlichkeit plötzlich überwunden war, dadurch daß er sein Schicksal jetzt annahm. Von da an sagte Lydia oft, er sei der glücklichste Mensch, den sie je gesehen hatte und der jeden Morgen voll Freude erwachte. Im April 1882 stellte der Hausarzt Lungenentzündung fest. Entgegen seiner Warnung stand Emerson auf und ging wie gewöhnlich seinen üblichen Tages- 263 Emerson geschäften nach. Am Abend stieg er in den ersten Stock, in sein Schlafzimmer hinauf, zum letzten Mal. Am 27. April starb er. Sein Begräbnis gestaltete sich zu einem Auflauf. Sonderzüge mußten aus Boston nach Concord geführt werden. Nicht nur die Balkone im ersten Stock sondern auch die Fußböden des Hauptraumes der Kirche in der „ First Parish Church “ mußten durch Strebebalken gestützt werden und auch das reichte bei weitem nicht für die Menschenmenge aus. Die Bürger der freien Demokratie Amerikas von 1882 wollten ihrem großen, wahrhaft freiheitlichen Autor die letzte Ehre erweisen. Welch eine Entwicklung von dem geheim im Folterkeller verschwundenen Rabelais zu den Sonderzügen für Emerson. Aber seither ist die Entwicklung rückläufig geworden. Es ist symptomatisch, daß zwei der wichtigsten geistigen Ergebnisse des Ersten Weltkriegs auf dem deutschsprachigen Buchmarkt das Weltuntergangsdrama von Karl Kraus Die letzten Tage der Menschheit und das Geschichtswerk Der Untergang des Abendlandes von Oswald Spengler gewesen sind. Der Erste Weltkrieg hatte bereits Faschismus und Kommunismus als Weltgefahren hervorgebracht und von der Zahl der Toten bis zur entsetzlichen Brutalität und Unmenschlichkeit wurde er vom Zweiten Weltkrieg noch überboten. Die technischen Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle der Menschen sind inzwischen so vervollkommnet worden, daß rückblickend die negative Utopie George Orwells 1984 fast wie eine Idylle wirkt. Es gibt Morddrohungen gegen Autoren. Schon unter Hitler sind Dichter „ legal “ durch „ Hinrichtung “ ermordet worden. Die rückläufige Entwicklung vollzog sich wesentlich rascher als die Entwicklung hinauf. Ist es nicht schon längst wieder möglich, daß ein Autor so wie Rabelais heimlich im Folterkeller verschwindet? Was aber die geistige Traditionskette betrifft, so kennt kaum ein Autor mehr Plato oder Plotin, geschweige denn die Philosophie von Pythagoras oder gar Hermes Trismegistos. Was viele Autoren heute schreiben, kommt nicht an die hier besprochenen großen Autoren heran, sondern vieles will keine Dichtung sein und qualifiziert sich auch gar nicht dafür, sondern gehört einer Kategorie an, welche die angelsächsische Kritik so treffend als „ subliterature “ bezeichnet. Selbst was von der Tageskritik im Chor, wenngleich niemals auf lange Dauer, als Großleistung gefeiert wird, ist selten wirklich hervorragend. Der Sinn dieses Buches besteht gerade darin, wirklich große Werke der Dichtung in Erinnerung zu rufen und zu beschreiben. Schließlich ist Emerson nicht nur eine Schlüsselfigur der amerikanischen Literatur, sondern konnte zu Recht als „ der Weise von Concord “ und als „ der Buddha des Westens “ bezeichnet werden. 41 Was Emerson vermochte, zeigt der Umstand, daß sogar Nietzsche, der in seinem Spätwerk Götzendämmerung Sokrates und Plato als „ Verfallserscheinun- 41 John Mc Aleer, op. cit., S. XI 264 Emerson gen “ attackierte und das Christentum wie auch Kant der „ Dekadenz “ bezichtige, den Platoniker und Kantianer Emerson in den höchsten Tönen pries. „ Emerson “ , schrieb er, „ viel aufgeklärter, vielfacher, raffinierter als Carlyle, vor allem glücklicher. . ...Ein Solcher, der sich instinktive bloß von Ambrosia nährt, der das Unverdaute in den Dingen zurückläßt. Gegen Carlyle gehalten, ein Mann des Geschmacks. - Carlyle, der ihn liebte, sagte trotzdem von ihm › er giebt uns nicht genug zu beißen ‹ , was mit Recht gesagt sein mag, aber nicht zu Ungunsten Emersons. - Emerson hat jene gütige und geistreiche Heiterkeit, welche allen Ernst entmutigt, er weiß schlechterdings nicht, wie alt er schon ist und wie jung er noch sein wird. - er könnte von sich mit einem Wort Lope de Vegas sagen › Yo me succedo a mi mismo. ‹ Sein Geist findet immer Gründe, zufrieden und selbst dankbar zu sein . . . “ 42 Emerson hat seine Abschaffung so vieler Vorurteile andererseits durch so viel weiter durchdachte und tiefer empfundene Menschenliebe ergänzt, daß er eine überzeugendere Götzendämmerung zustande gebracht hat als der deutsche Dichter-Philosoph des Herrenmenschentums. 42 Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung. Leipzig 1899. Kapitel „ Was den Deutschen abgeht “ Nr. 13: Emerson 265 Emerson NAMENSREGISTER A Abraxes, gnost. Gott 66, 195 Adonis 138, 139 Adrian von Utrecht 61, 71 Aeneas 66 Agnostus, Irenaenus 139 Agricola, Rudolf 55 Agrippa von Nettesheim 65, 72, 112, 132, 164, 240, 241, 244, 258 Alanus ab Insulis 20, 21, 22 Alanus von Montpellier siehe Alanus ab Insulis Albee, John 258 Alciatus, Andreas 122 Aleander, Hieronymus 67, 71 Alewyn, Richard 212 Alighieri, Jacopo 46 Allah 199 Allen, P. S. 55, 62, 63 83, 85 Alvarez, Rodrigo 134 Amasis, auch Ahmose II., ägypt. Pharao 130 Ambrosius von Alexandrien 83 Amelain, Robert 134 Amor 10, 11, 14, 15, 16, 19, 20, 116, 138 Amphiaraos 121 Andreae, Johann Valentin 134, 165, 194, 216 Aphrodite siehe Venus Apis 123 Apoll 44, 114, 143, 144, 148, 165, 194, 216 Apulejus 147 Aristäus 19, 128 Aristoteles 87, 94, 230 Arnim, Bettina von 247 Arnold, Gottfried 175, 220 Arnold, Paul 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 14 o, 146, 149, 150, 151, 152 152, 153, 154, 157, 158, 165, 166, 167, 169, 172, 173 Aroux, Eugène 24 Artus, Sagenkönig 92, 97 Äskulap 130 Ate, griech. Unheilsgöttin 101 Atkins, Stuart 223, 224 Audeau 94 Auerbach, Erich 105, 106, 127 Augustinus 52 Aurelius, Cornelius 63 Avicenna 121 B Bacchus 56 Bacon, Francis 65 Badius, Joist 63, 68 Balzac, Honoré de 86 Banes, Daniel 149 Basilius von Caesarea 81, 82 Basileides 195 Batt Jakob 56, 57, 61 Baudelaire, Charles 257 Baudissin, Heinrich Friedrich von 144 Beatrice 7, 12, 28, 36, 38, 40, 42, 43, 45, 47, 48, 50, 51, 52, 53, 207. 215, 222 Beatrice, Tochter Dantes 38 Beecher-Stowe, Harriet 254 Beit, Hedwig von 161 Benedict von Nursia 47, 48, 52 Benedikt XIV., Papst 83 Bergen, Heinrich von 56 Bernhard von Clairvaux 18, 20, 27, 29, 30, 32, 41, 52, 53, 62, 66, 221 Berquin, Louis de 89 Bjerke, André 188 Blanqui, Louis August 249 Bloom, Harold 145 Blount, William 58, 60 Boccaccio, Giovanni 23, 26, 46 Boehme, Jakob 233, 240, 258 Boethius 20, 21 Bohr, Nils 190 Bonifaz VIII., Papst 23, 50 Bosco, Ronald 264 Bouirdillin, F. W. 5 Boulé 222 Boulenger, Jacques 86 Bourbon, Gabrielle de 100 Bradford, Sarah siehe Ripley, Sarah Bragmardo, Janotus 107 Brantome, Pierre de Burdeille, Seigneur de 101 Brassicanus 75, 76 Broch, Hermann XIV, 54, 200, 262 Brutus 252 Buddha 260, 264 Budé, Guillaume 58 Bulthaupt, Heinrich 144, 147, 160, 162 Burton, Robert 154 Butler, Alan 27 C Caliban 172, 173 Calvin, Johannes 78, 99, 227 Capet, Hugo 36 Carlyle, Thomas 227, 231, 245, 248, 249 Carondelet, Johan (Jean) 71 Cartier, Jacques 92, 114 Carver, Robert H. F. 147 Cäsar, Julius 69 Casets, Ferdinand 25 Cato von Utica 35, 252 Catulus, Quintus Lutetius 98 Ceres, Göttin 166 Chadir siehe Chiser Chang, Garma C. C. 260 Chapman, George 146 Charles de Sainte-Marthe 92 Chaucer, Geoffrey 23 Chester, Robert 136, 1237, 147 Child, Lydia Maria 233 Chiron 213 Chiser 2o2, 203, 204 Chopinel, Jean siehe Meung, Jean de Chrétien de Troyes 22 Christian, Gertraud 68 Christie, Arthur 236 Christus 26, 27, 53, 65, 77, 169, 175, 194, 204, 235 Cirlot, J. E. 125 Claudianus 21 Clemens V., Papst 32, 50 Clemens von Alexandrien 82 Clericus, J. 55 Coleridge, Samuel Taylor 231 Colet, John 58, 59, 62 Conway, Moncure 258 Cooper, J. C. 125 Cop, Nicolas 99 Cousin, Victor 236 Cowper-Powys, John 86, 92, 95 Craven, James B. 136 Crowley, Aleister 104 Cullmann, O. 31 Cupido 146 D D ’ Estissac, Geoffrey 88, 89 Dafoe, Stephen 27 Daniel, Arnaut 97 Dante Alighieri XII, XIII, 7, 8, 9, 190, 12, 22, 22 - 54, 63, 69, 71, 84, 97, 101, 104, 107, 110, 112, 116, 129, 130, 207, 125, 221, 222, 226, 237, 241, 243, 250 Dascier, André 231 David, König und Sänger der Psalmen 52, 81, 91 Davies, Denis Johnson 258 Davis, Andrew Jackson 258 De Bais 86 Dee, John 133, 134, 139, 140 Delia, Mondgöttin 37 Demeter 40 Diana 214 268 Namensregister Dionysios Areopagita 236 Dionysos 123, 248 Dolet, Etienne 91, 92 Donati, Corso 23 Du Bellay, Guillaume 88 Du Bellay, Jean 88. 89, 90, 91, 92 Dufner, Meinrad 53 Duprat, Antoine 100 Dürrenmatt, Friedrich 161 E Ebesund 197 Eckhart, Meister 3, 260 Edighoffer, Roland 176 Eigen, Manfred 191 Einstein, Albert 189, 190, 191, 237, 258. 261 Eliot, Charles W. 260 Elisabeth I., Königin von England 132, 133, 134 Emerson, Edith, Tochter 258 Emerson, Ellen, Tochter 258, 262, 263 Emerson, Lydya (Lidian), Gattin 233, 246, 258, 263 Emerson, Mary Moody, Tante 230 Emerson, Ralph Waldo XIV, 225 - 65 Emerson, Ruth, Mutter 230 Emerson, William, Bruder 229 Emerson, William, Vater 229 Empedokles 243 Enders, Markus 81 Endymion, Liebhaber der Mondgöttin 152 Enoch 237 Enwery 247 Epikur 92 Erasmus von Rotterdam XII, 1, 55 - 85, 226, 237, 243 Ernst, Michael 221 Esau 102 Eschenfellner, Christoph 84 Eunapius 138 Eurydike 213 Eva 52 Everett, Edward 230 Ezechiel 1, 84 F Feigenbaum, Mitchell 191 Ferdinand I., König, Bruder Karls V. 70, 71, 72, 77, 80 Ficinus, Marsilius 1, 33, 59, 97, 116, 225 Fisher, John 62 Fisher, Robert 59 Flora, Göttin 164, 166 Flusser, David 1 Fowler, Alastair 138 Fox, George 227, 240 Frager, Ragip 121 Franck, Sebastian 73 Franz I., König von Frankreich 72, 90,. 91, 100, 101, 110. 113 Franz von Assisi 52 Friedrich III., Kaiser 75 Friedrich, Kurfürst von der Pfalz 170 Fröbe-Kaptein, Olga 192 Froben, Hieronymus 83 Froben, Johannes 72, 74 Froud, J. A. 249 Fuller, Margaret 234, 246, 254, 258 G Gabriel, Erzengel 205 Gaguin, Robert 58 Gaia 214, 237 Galatea, Göttin 212, 214 Galenos, Aelius 90 Gansfort, Wessel 56 Garibaldi, Guiseppe 43 Gelbcke, Ferdinand Adolf 86 Gerhard, Rotger 55 Geryon 34 Gilman, William 225 Gilson, Etienne 106 Giorgi, Francesco 133, 149 Gladstone, William E. 263 Glaukos 47 Gödel, Kurt 191 Goethe, Johann Wolfgang XII, XIII, XIV, 37, 60, 67, 86, 97, 110, 139, 269 Namensregister 175 - 224, 226, 237 243, 244, 245, 246, 247, 249, 250, 251, 262 Goeze, Johann Melchior 236 Gottfried von Strassburg 18 Gougeon, Len 253, 254 Greene, Robert 162, 170 Greenough, Horatio 258 Grimm, Hermann 234 Grocin 59 Grün, Anselm 53 Gryphe 89 Gubernatis, A. de 116 Guénon, René 24 Guinicelli, Guido 18 Gunn, A. M. F. 8 Guthke, Karl S. 161 H Hadrian VI., Papst siehe Adrian von Utrecht Hafis 193, 194, 196, 198, 199, 200, 201, 202, 227, 246, 247, 248 Hahn, Otto 190 Hakl, Hans Thomas 192 Hammer-Purgstall, Joseph von 103, 193, 194, 195, 197 Hannibal 117 Harding, Stephen 20, 32 Hariot, Thomas 134 Harpokrates 66 Hawthorne, Nathanael 228, 229 Hayes, Rutherford B. 232 Hedge, Henry 237 Hegius, Alexander 55 Heinrich II., König von Frankreich 91, 104 Heinrich IV., König von Frankreich 139 Heinrich VII., König von England 63 Heinrich VIII., König von England 58, 59, 63, 72 Heintze, Edith 86, 93, 97, 98, 107 Heintze, Horst 86, 93 Heisenberg, Werner Karl 190, 192 Hekate 214 Helena, Gattin des Menelaos 175, 210, 212, 213, 215, 216, 217, 218, 223 Helmholtz, Hermann von 187, 191 Henkel, Arthur 220 Herakleon 84 Herakles 147 Herder, Johann Gottfried 174, 198 Herkalit 243 Hermann, Wilhelm 56 Hermes Psychopompos IX, XI, 76 Hermes Trismegistos IX, X, 1, 48, 71, 97, 130, 132, 133, 136, 156, 171, 178, 222, 225, 233, 240, 251, 253, 254 Heroët, Antoine 94 Hesekiel siehe Ezechiel Hesiod 117 Heywood, Thomas 170 Hieronymus, Kirchenvater 62, 75, 76 Hillal 242 Hippokrates von Kos 90 Hippolita, Gattin des Königs Theseus 145 Hitler, Adolf 85 Holbein, Hans, der Jüngere 64 Holmes, Oliver Wendell 258 Homer 230, 241 Horaz 94 66, 82 Horigines siehe Origines Horus, ägypt. Gott 66, 82, 117 Hudenc, Raoul de 22 Huizinga, Jan (Johan) 9, 19, 59, 60, 62, 64, 65, 68, 73, 86 Humboldt, Alexander von 192 Huxley, Aldous XIV Hypokras, ägypt. Gott des Schweigens 117 I Ibn al Arabi 124 Ibn Bahutta 201, 204 Isidor von Gaza 97 Isis, ägypt. Göttin 37, 41, 53, 66, 208, 123, 146, 237, 262, 263 270 Namensregister J Jachiel, Rabbi 124 Jacson, Andrew 222 Jackson, Carl T. 236 Jackson, Lydia siehe Emerson, Lydia Jakob der Gerechte 31, 126 Jakob I., König von England 133, 136, 179, 172 Jakob, jüdischer Patriarch 47, 221 Jakobus, Apostel 39, 48, 49, 126 Jamblichos 97, 132, 138, 179 Jechiel, Rabbi siehe Jachiel Jefferson, Thomas 184, 263 Jemin 247 Jesus 1, 28, 31, 36, 38, 126, 195, 221, 257 Joachim von Fiore 17, 26 Joannes, Eremit vor dem Castrum Caino (Chinon) 119 Joël, Karl 2 Johannes der Offenbarung 37, 39, 160 Johannes der Täufer 8, 15, 31, 52, 66, 67 Johannes vom Kreuz 121 Johannes XX., Papst 50 Johannes, Evangelist 39, 48, 49, 50, 72, 204 John, Robert XII, 10, 11, 13, 15, 22, 24, 25, 27, 33, 35, 36, 38, 41, 42, 43, 49. 97, 116 Jonas, Hans 2, 3, 28, 47, 51, 117, 175 Joseph, Gatte der Gottesmutter Maria 178 Jourdin, Silvester 169 Judas 39 Judith, Tochter der Herodia 52 Julius II., Papst 68, 69, 70, 78 Jung, C. G. 40, 45, 47, 53, 125, 129, 166, 182, 184, 186, 201, 203, 228, 239, Jungmair, Jörg 73 Juno 101 Jupiter 14, 40, 98, 158, 159, 160, 166, 179, 186 Justinian, Kaiser 118 K Kaiser, Walter Jacob XII Kalmar, Rudolf 6 Kandinsky, Wassily 192 Kant, Immanuel 190, 234, 260, 261, 265 Kaplan, Justin 257 Karl V., Kaiser 61, 70, 71, 72, 73, 74 79, 80 Karl von Valois 23 Kastor 186 Keller, Werner 219 Keller, Wolfgang 161 Kelpius, Johannes 241 Kepler, Johannes 241 Kérenyi, Karl 40, 129, 210, 215, 216 Kermani 247 Kermode, Frank 169 Kerning, Johann Baptist 182 Khayyam, Omar 246, 247 Kiczka, Harald 232 Klee, Paul 192 Klettenberg, Susanne von 174, 176, 181 Knight, Christopher 31, 36 Knoll, Renate 220 Koestler, Arthur XIV Köhler, Walter 55, 59, 63, 64, 77, 78 Kohlschmidt, Werner 212 Kossuth, Lajos 254 Kraus, Karl 264 Kuhn, Dorothea 190 Kühn, Rolf 81 Kwest, Franz 253 Kybele 233 Kyd, Thomas 134 L Lambertuccio, Dino di 25 Lambine, Denys 92 Landor, Walter Salvage 231 Langey, Guillaume de siehe Du Bellay, Guillaume Langlois, Ernest 20 Lao-Tse 246 Latini, Brunetto 25, 49 Lebègue, Raymond 87 271 Namensregister Leibnitz, Gottfried Wilhelm 189 Leisegang, Hans 2, 28, 44, 121 Lemaire de Belges, Jean 70, 112 Lenau, Nikolaus 8 Leo X., Papst 63, 73, 101 Lepsius, Karl Richard 263 Lessing, Gotthold Ephraim 174, 181, 236 Linacre 59 Lincoln, Abraham 242 Linné, Carl 249 Loans, Jakob ben Jehiel 75 Lomas, Robert 31, 36 Lopez, Rodrigo 153 Lorris, Guillaume de 5, 6, 7, 8, 9, 15 Louis II de la Tremouille 100 Loving, Jerome 257 Ludwig IX., König von Frankreich 7, 17 Ludwig XII., König von Frankreich 99, 100 Lukas, Evangelist 39, 72 Luna, Mondgöttin 152, 214 Lurker, Manfred 123 Luther, Martin 67, 76, 77, 78, 79, 227 Lyly, John 146, 148, 152 Lynceus 219 M Machiavelli, Niccolò 64 Magus, Simon 175 Mahomet siehe Mohamed Maier, Michael 133, 134, 136, 137, 144, 147, 155, 156, 157, 160, 232 Maja, Göttin der Erde 144 Malaspina, Moruello 25 Manto, Seherinbb 213, 215 Manutius, Aldo 62 Marchand, Nicole 133, 135, 154 Margarethe von Österreich 57, 65, 70, 71 Maria Aegyptyca 221 Maria Peccatrix 221 Maria von Burgund, Gattin Maximilians I. 61, 70 Maria von Ungarn 70, 71 Maria, Heilige 37, 48, 52, 53, 66, 146, 156, 207, 221 Markos 121 Markus, Evangelist 72 Marlowe, Christopher 134, 149, 170, 175, 206 Mars 105, 186 Martens, Dirk 68 Massignon, Louis 201 Matelda, eine Anima-Figur Dantes 37, 40, 41, 215 Matthäus, Evangelist 54, 72, 84 Matthiessen, O. 228, 242, 257 Maximilian I., Kaiser 70, 209 Mc Aleer, John 226, 229, 264 Medici, Giovanni de siehe Leo X. Medici, Lorenzo de 72 Meiners, Hans Jürgen 174 Melanchthon, Philipp 78 Mellin du Saint-Gelais 110 Melville, Herman 203 Menelaos 216 Merkur 143, 144 Meung, Jean de 5, 6, 8, 9. 14, 15, 16, 21 Meyer, Hermann 220 Michael, Ernst 21 Michelangelo 226 Michelet, Jules 249 Michelson, Albert Abraham 189 Midas, Sohn des Gorgios 148 Milton, John 250 Mohamed 28, 193, 194, 196, 200, Molay, Jacques de 36, 43, 94 Molinet, Jean 12, 20 Montaigne, Michel de 64, 231, 245, 249 Montreuil, Jean de 9 Moritz, Landgraf von Hessen-Kassel 137 Moritz, Landgraf von Nassau 136 Morley, Edward Williams 189 Morrison, S. E. 260 Morus, Thomas 58, 59, 62, 63 Moses 168, 201 Mountjoy, Lord siehe Blount, William Muir, John 261 Mulier Samaritana 221 272 Namensregister Muller, Max 263 Murat, Achilles 231 Musil, Robert 201 Myerson, Joel 253, 260 N Napoleon 245 Nasier, Alcofribas siehe Rabelais Naudon, Paul 89 Nazarius, Katharer Bischof 7 Neptun 214 Nereus 214 Newald, Richard 57, 58, 63, 85 Newton, Isaak 187, 189. 190, 1194, 244 Nietzsche, Friedrich 131, 204, 265 Nitsch, Friedrich 260 Noffo Dei 6, 34 Northampton, Herzog von, das ist Robert Dudley 146 Norton, Andrew 236 Nostradamus 206 Nuster, Josef 88 O Oberon, Feenkönig 145, 146, 148, 233 Oecolampadius 80 Origines, Kirchenvater 77, 82, 83, 84, 220 Orpheus 130, 150, 151, 171, 213, 243 Orwell, George XIV, 264 Osiris, ägypt. Gott 42, 123, 237, 263 Osten, Manfred 191, 192 Ott, Gerhard 188 Ott, Karl August 5, 8, 12, 13, 20, 22, 87 Ovid 20, 25. 47 Ozak, Muzaffer 121 P Pan, Hirtengott 148 Parcelsus 132, 134, 164, 206, 241, 244 Patrick, Heiliger 99 Paul III., Papst 82 Paulus, Apostel 390, 62, 194 Peladan, Josephin 89 Perithoos, Freund von Theseus 147 Perry, Bliss 242 Persephone 40, 147, 167, 166 Petrus, Apostel 15, 48, 50, 51, 60, 77 Philipp der Schöne, Bruder Margarethes von Österreich 61 Philipp IV., König von Frankreich 32, 36, 42 Philostrastos, Flavius 121 Phöbus siehe Apoll Phorkyas, Seegott 217 Pico della Mirandola XIII, 72, 73, 75, 135, 139, 253, 260 Pilatus 36 Pindar 186 Plato IX, 59, 82, 97, 132, 225, 234, 240, 264 Plattard, Jean 92 Plautus 62 Plotin IX, 59, 82, 97, 132, 225, 234, 240, 264 Plutarch 123, 237, 243, 263 Pluto, röm. Gott 64, 166, 209 Plutus siehe Pluto Pollux 186 Pontus 214 Poppenreuter, Johann 61 Porphyrius 132, 240, 255 Portinari, Beatrice 7, 13, 28 Portmann, Adolf 192 Powys, John Cowper 85, 92, 95 Prietze, Hermann A 24, 54 Proklos 97 Proserpina 40, 101 102, 166 Proskauer, Heinrich O. 188, 189 Pseudo-Dionysius 236 Ptah, ägypt. Gott 123 Ptolemäus 45 Puits-Herbault, Gabriel de 92 Putherbeus siehe Puits-Herbault, Gabriel de Putman, George 237 Pythagoras IX, 66, 72, 97, 130, 132, 148, 150, 152, 225, 234, 241, 244, 264 Pythia, Orakel von Delphi 130 273 Namensregister R Rabelais, François XII, 56, 64, 65, 68, 86 - 131, 204, 264 Raffel, Burton 173 Rahel Lieblinngsfrau Jakobs 52 Raimond VII., Graf von Toulouse 7, 17 Raleigh, Sir Walter 133, 138, 258 Raphael, Erzengel 205 Rath, Wilhelm 21 Rebekka, Frau Isaaks 52 Regis, Gottlob 86, 91, 98 Rehm, Walter 212 Reinhard, Karl 212 Reuchlin, Johannes 1, 74, 75, 174 Rhea 237 Rhenanus, Beatus 74, 821 Richardson jun., Robert D. 225, 233, 241, 245, 246, 248, 249, 250, 259 Richter, Franz 131 Rilke, Rainer Maria X, 240 Ripley, Ezra 229 Ripley, George 237 Ripley, Sarah 230 Roberts jun., Durante Waite 9, 22 Rocek, Roman 131 Rode E. 155 Roloff, Hans Gert 73 Roy, Ram Mohan 236 Royden, Mathew 134 Rudolf II., Kaiser 136 Rudolf von Habsburg 206 Rufinus von Bologna 41 Runge, Philipp Otto 192 Rusk, Ralph R. 225 Ruskin, John 261, 263 Ruth, Gattin von Boas 52 S Saadi 242 Saba, Königin von 202 Sakkas, Ammonius 82 Salomo, König 28, 29, 66, 67, 117, 118, 202, 231, 252 Samose 261 Sara, Frau Abrahams 52 Saturn 186 Saulus 31 Schachermayr, Alkuin Volker 21 Scheffer, Thassilo von 176 Scheleskj, L. 86 Schiel, Hubert 74 Schlaffer, Heinz 176 Schlegel, August Wilhelm 139, 174 Schneider, Karl Ludwig 208 Schneider, Reinhard 174 Scholem, Gershom 1, 3, 4, 139, 210. 260 Schönwiese, Ernst 131 Schottenloher, Otto 61, 73 Schrader, Ludwig 86, 97, 103, 118, 104 Schult, Arthur 26, 33, 38, 40, 46, 50, 51 Secundus, Johannes 57, 70 Seneca IX, 62, 97, 225 Servetus, Michael 78 Seyd, Nimetollah 247 Sforza, Ludwig 100 Sforza, Maximilian 100 Shakespeare, William XII, XIII, 97, 132 - 173, 226, 237, 238, 243, 245 Sibylle von Cumä 66 Siger von Brabant 23, 49 Silen 93, 122 Sokrates 93, 240 Sophia, gnostische Muttergottheit 37, 53, 66, 222, 237, 259 Souverain, Nicholas 231 Spence, Lewis 124 Spengler, Oswald 264 Spenser, Edmund, 65, 243 Spiller, Robert 225, 231 Spitzer, Leo 127 St. Amour, Guillaume de 16 Stadler, Ernst 257 Staiger, Emil 208 Stalin, Josef 85 Standonk, Jan 57 Statius, Publius Pampinius 43 Steiner, Rudolf 1, 21, 31, 188, 206 Stone, M. E. 1 Strelka, Joseph P. XIV, 41, 42, 45, 70, 73, 131, 176, 183, 185, 218 274 Namensregister Sturgis, Caroline 246, 247 Sutton, Henry 258 Swedenborg, Emmanuel 240, 241, 243, 245 T Terenz 62 Thales von Milet 130, 214 Theseus, Sohn des Königs Ägeus von Athen 145, 147, 148 Thomas von Aquin 35 Thomas, Apostel 126 Thoreau Henry D. 234, 237, 242, 257 Thot, ägypt. Gott IX, XI, 76 Tieck, Dorothea 164, 174 Tieck, Ludwig 139 Tilton, Eleanor M. 225 Titania, Feenkönigin 145, 146, 148, 223 Tocqueville, Alexis de 249 Triboulet 113 Trithemius, Johannes 2, 164 Trunz, Erich 177, 178 179, 185, 187 190, 197, 204, 215 Tucker, Ellen 231 Turner, J. M. 195 U Uranus 237 Uriel 235 Utenborn, Christoph 80 V Valentinus, Gnostiker 121 Valéry, Paul X Valla, Lorenzo 62, 83 Van Buren, Martin 232 Van Eyck, Jan 124 Vega, Lope de 265 Veltman, Willem Frederick 24 Venus 14, 18, 19, 29, 214 Vergil 27, 28, 34, 36, 43, 63, 112, 128, 215, 230 Villon, François 112 Vincent, Augustin 75 Vives, Johannes Ludovicus 71 W Wankmüller, Rike 187, 190 Warham, William 62, 68 Warner, Walter 134 Webster, John 170 Weidlé, Wladimir IX, X, 128, 262 Weinreb, Friedrich 52 Weise, Christian 3 Weizsäcker, Carl Friedrich 190, 191 Welburn, Andrew 1, 30, 31, 32, 50 Welling, Georg von 174 Welzig, Werner 55 Weor, Samael Aun 121 Whicher, Stephen E. 231 Whitman, Walt 242, 257, 259 Wiclif, John 77 Wieland, Christoph Martin 174 Wilcke, Ferdinand 32 Willemer, Johann Jakob von 198 Willemer, Marianne von 193, 194, 198, 199, 200, 247 Williams, Wallace E. 231 Wolfe, Thomas 81 Wordsworth, William 231, 259 Y Yates, Frances 132, 149 Young, Brigham 261 Z Zeus 144, 186 Zoozmann, Richard 24, 54 Zoroaster (Zarathustra) 130, 202, 237 Zorobabel 43 Zusanek, Harald 32 275 Namensregister Leserstimmen zu diesem Buch „ Lebenslanger komparatistisch-kritischer Umgang mit weltliterarischen Werken hat hier eine Summe von Strelkas Literaturverständnis gezeitigt, die sich philologisch textnah und historisch weitblickend als Alternativentwurf versteht zu materialistischen Tendenzen im intellektuellen Leben des 20. und 21. Jahrhunderts. Das über Jahrhunderte literarisch und philosophisch tradierte Gegenbild wird gesehen im bei aller Esoterik lebenskräftigen, weithin mystischen Gedankengut der Gnosis in einem weiten Sinn. Die überraschenden Perspektiven, die sich damit eröffnen, bereichern Einblicke in eine geistesgeschichtliche Kontinuität, die, wie man durch dieses Buch erkennt, die europäisch-amerikanische Literatur belebt hat. “ Karl S. Guthke, Harvard University, Cambridge, Mass. „ Professor Joseph P. Strelka ’ s book presents a fascinating survey of the ancient Gnostic tradition as a perennial phenomenon in the Western thought. The author ’ s hermeneutic approach enables the reader to better comprehend the enormous interdependence of symbolic systems that constitute the unified Western culture. Although J. P. Strelka ’ s narrative ends with the American Renaissance, the reader becomes gradually aware that their hidden meanings hardly ever die. They may be functionally altered and modified but they always exert their creative power and influence upon the unified Western thought. “ Joseph Rostinsky, Tokai University, Tokyo „ Ein großes Wissen gehört dazu, eine über zwei Jahrtausende durchgängige spirituelle Tradition in der Literaturgeschichte lebendig zu machen. Aber wahrhaften Mut braucht es, dieses Vermächtnis ewigen Geistes unerschrocken als Heilmittel gegen die Oberflächlichkeit, den Reduktionismus und Materialismus unserer Zeit einzusetzen. Beide Eigenschaften finden wir bei Professor Strelka vereint und dafür gebührt ihm unser Dank. “ Hans Thomas Hakl, Herausgeber der Zeitschrift Gnostika „ Das neueste Buch von Joseph P. Strelka stellt einen wichtigen Schritt zum Verständnis der abendländischen Geistesgeschichte dar. Wer wusste, dass der Arzt Rabelais in seine skurril-wunderlich anmutenden Erzählungen soviel Esoterik mit einfließen ließ? Aber auch was die anderen Autoren anbelangt, wo beim Leser Vorkenntnisse bestehen mögen, bedarf es einer Klärung und kompletten Beweisführung ihrer Beziehung zu den Geheimwissenschaften. Dem wird das Buch vollkommen gerecht. Das Werk mutet dem Leser keine Vorkenntnisse zu und ist ohne Fachjargon gemeinverständlich geschrieben. “ Michel Reffet, Université de Bourgogne, Dijon „ In einer kühnen komparatistischen Gesamtschau vom Rosenroman bis Ralph Waldo Emerson verfolgt Joseph P. Strelka entlang ausgewählter Gipfelwerke der Weltliteratur die hermetisch-esoterische Traditionsspur, in der sich Antike, jüdische und christliche Einflüsse vereinigen. In frappierenden Textbeobachtungen werden so bei Dante, Shakespeare und Goethe Elemente von Gnosis und Neuplatonismus dechiffriert, ideengeschichtlich eingeordnet und einem als totalitär verstandenen Materialismus entgegengestellt. “ Franziska Mayer, Ludwig Maximilians-Universität München „ Joseph Strelkas Buch dient dem Nachweis, dass niemals in der Entfaltung von Geist und Seele des Menschen die Sehnsucht nach dem Ewigen, nach religiöser Wahrheit versiegte. Strelkas souveräne, komparatistische Kennzeichnung dieser esoterisch-gnostischen, religiösen Traditionskette erhellt das jeweilige Leben, das Werk und deren kulturgeschichtliche Position bedeutend. Die erstaunliche intellektuelle Leistung des Verfassers schafft in vielen Zusammenhängen überraschende Klarheit. Das Buch ist ein Mahnzeichen gegen jeglichen Materialismus, gegen die Verkümmerung alles höheren Strebens, gegen den Niedergang der wahren Wissenschaft, der Kunst und der Menschlichkeit. “ Herbert Zeman, Universität Wien Edition Patmos (hrsg. v. Joseph P. Strelka) Bisher erschienene Bände Band 17 Robert Weigel (Hrsg.): Ernst Schönwiese: Aspekte seines Werks. Vorträge des Internationalen Ernst Schönwiese Symposiums der Universität Auburn. 2012. ISBN: 978-3-7720-8465-2; 58, - € Band 16 Joseph P. Strelka: Dante und die Templergnosis. 2012. ISBN: 978-3-7720- 8443-0; 58, - € Band 15 Karl S.Guthke: Die Reise ans Ende der Welt. Erkundungen zur Kulturgeschichte der Literatur. 2011. ISBN: 978-3-7720-8415-7; 148, - € Band 14 Joseph P. Strelka: Dichter als Boten der Menschlichkeit. Literarische Leuchttürme im Chaos des Nebels unserer Zeit. Spirituelle Ordnungen durch herausragende Romane der Weltliteratur. 2010. ISBN: 978-3-7720-8386-0; 49, - € Band 13 Robert G. Weigel (Hrsg.): Arthur Koestler. Ein heller Geist in dunkler Zeit. Vorträge des Internationalen Arthur Koestler Symposiums der Universität Auburn 2007. 2009. ISBN: 978-3-7720-8312-9; 39, - € Band 12 Joseph P. Strelka: Vergessene und verkannte österreichische Autoren. Österreichische Autoren. 2008. ISBN: 978-3-7720-8287-0; 42, - € Band 11 Karl S.Guthke: Die Erfindung der Welt. Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur. 2005. ISBN: 978-3-7720-8142-2; 78, - € Band 10 Joseph P. Strelka/ Arthur Köstler: Autor - Kämpfer - Visionär. 2006. ISBN: 978-3-7720-8144-6; 39, - € Band 9 Joseph P. Strelka (Hrsg.): Lyrik - Kunstprosa - Exil. Festschrift für Klaus Weissenberger zum 65. Geburtstag. 2004. ISBN: 978-3-7720-8067-8; 68, - € Band 8 Joseph P. Strelka: Exil, Gegenexil und Pseudoexil in der Literatur. 2003. ISBN: 978-3-7720-2887-8; 38, - € Band 7 Hartmut Steinecke: Von Lenau bis Broch. 2002. ISBN: 978-3-7720-2886-1; 34, - € Band 6 Joseph P. Strelka: Poeta Doctus Hermann Broch. 2001. ISBN: 978-3-7720- 2885-4; 24, - € Band 5 Joseph P. Strelka: Der Paraboliker Franz Kafka. 2001. ISBN: 978-3-7720-2884- 7; 19, - € Band 4 Robert G. Weigel: Zerfall und Aufbruch. 2000. ISBN: 978-3-7720-2883-0; 29, - € Band 3 Karl S. Guthke: Der Blick in die Fremde. 1999. ISBN: 978-3-7720-2882-3; 74, - € Band 2 Stefan H. Kaszynski: Eine kleine Geschichte des Aphorismus. 1999. ISBN: 978- 3-7720-2881-6; 29, - € Band 1 Joseph P. Strelka: Des Odysseus Nachfahren. Österreichische Exilliteratur seit 1938. 1999. ISBN: 978-3-7720-2880-9; 29, - € In der platonischen Akademie von Florenz wurde im 15. Jahrhundert entdeckt, dass sich durch die ganze abendländische Geistesgeschichte eine synkretistische Traditionskette zieht, die Ideen von Hermes Trismegistos, Plato, Pythagoras, Seneca, Plotin und des Neuplatonismus vereinigt. Strelkas ideengeschichtliche Untersuchung zeigt in faszinierender Weise durch eine Art literarischer Gipfelwanderung, wie sich diese Traditionskette kontinuierlich weiter bis ins späte 19. Jahrhundert zieht, vom Rosenroman über Dante, Erasmus, Rabelais, Shakespeare und Goethe bis zu Emerson. Es kommt orts- und zeitbedingt zu kleinen Variationsformen, doch die platonische Grundidee bleibt unverändert gleich. Sie stellt eine Art Brücke bedeutender Geistigkeit dar, vom Altertum über das Mittelalter hinweg zum Gipfel der amerikanischen Renaissance. Eine Ideenkette, welche die abendländische Kultur verbindet und begründet.