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Dialektik des Bildlichen

2016
978-3-7720-5542-3
A. Francke Verlag 
Fabian Grossenbacher

Dieser Band befasst sich mit sprachtheoretischen Texten Walter Benjamins und widmet sich der Fragestellung, welche Bedeutung und Funktion in diesem Rahmen dem Bildlichen zukommt. Dabei geht es vor allem um die Frage nach dem Einsatz des Bildlichen in Texten, die sich mit den Anfängen des Sprechens und Schreibens unter philosophischen, anthropologischen, ästhetischen oder poetischen Vorzeichen beschäftigen. Die Spannung, die sich durch dieses Aufeinandertreffen von Bild und Sprache ergibt, erweist sich dabei als ein Produktivmoment des untersuchten Schreibens und Denkens. Dieses Moment leistet einer Erkenntnisweise Vorschub, die Brüche zulässt und Homogenisierungstendenzen zuwiderläuft. Die "Dialektik des Bildlichen" ist dabei ein Befund wie auch eine Strategie, der der Autor in den Texten Benjamins nachspürt. Inwiefern kann das Bildliche als konstitutives Moment der Sprache begriffen werden, ohne dieses Moment mystifizieren zu müssen und ohne die Bedeutung der semiotischen Dimension in Frage zu stellen?

Dialektik des Bildlichen Zum Sprachdenken Walter Benjamins Fabian Grossenbacher N° 97 Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Heike Behrens, Nicola Gess, Alexander Honold, Gert Hübner, Martin Luginbühl und Ralf Simon Band 97 Fabian Grossenbacher Dialektik des Bildlichen Zum Sprachdenken Walter Benjamins Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in the Germany ISSN 0067-4508 ISBN 978-3-7720-8542-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Max-Geldner-Fonds der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel. Inhaltsverzeichnis Danksagung ...........................................................................................................7 1. Anfänge.............................................................................................................9 1.1. Anfang, Ursprung und Sprache ...........................................................9 1.2. Begriffsauswahl ....................................................................................1 1.3. Kindheit und ihr Verhältnis zu Sprache und Bild ...........................1 1.4. Einige theoretische Aspekte rund um die Kindheit ........................ 1 1.5. Zur Fragestellung und Thematik .................................................... ...2 2. Zur frühen Sprachphilosophie.....................................................................3 2.1. Metaphysisch-spekulative Thesen zum Sprachursprung...............3 2.2. Philosophie des Namens .....................................................................3 2.3. Ludwig Klages’ „Bilder“ .....................................................................4 2.4. Kindliches Benennen ...........................................................................50 2.5. Annäherungen (Menninghaus - Agamben) .....................................5 2.6. Differenz von Sprache und Bild: Verschiebungen...........................7 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses........... 3.1. Onomatopoesie, Geste, Mimesis ........................................................ 3.2. Über „Die Probleme der Sprachsoziologie“ .....................................8 3.3. Deixis .....................................................................................................8 3.4. Geste...................................................................................................... .9 3.5. Die egozentrische Kindersprache ....................................................10 3.6. Mimesis................................................................................................11 3.6.1. Heinz Werner und Rudolf Leonhard ...................................11 3.6.2. Lehre vom Ähnlichen .............................................................12 3.6.3. Mimetisches Schreiben? .........................................................13 4. Urphänomene der Wahrnehmung ............................................................14 4.1. Farbe und Phantasie ..........................................................................14 4.2. Farbige Bilderbücher .........................................................................14 4.3. Scham und Erröten - „Farbe im Sinne der Kinder“ ......................1 4.4. Regenbogen.........................................................................................16 4.4.1. Malen und Zeichnen...............................................................1 4.5. Jean Paul ..............................................................................................18 4.5.1. Die „Bildungkraft“.................................................................. Inhaltsverzeichnis 6 4.6. Von der Farbe zur Form ....................................................................20 5. Schreibenlernen............................................................................................2 5.1. Bildlichkeit der Buchstaben ..............................................................2 5.2. Kritik an der Pädagogik ....................................................................21 5.3. Chichleuchlauchra .............................................................................21 5.4. Der Bannkreis des Schwarzaufweißen ............................................23 5.5 Karneval ..............................................................................................24 5.6. Eine „kommunistische“ Pädagogik .................................................2 6. Graphologie ..................................................................................................2 6.1. Annäherung an die Graphologie .....................................................2 6.2. Klages und Mendelssohn ..................................................................27 6.3. Schermann und Freud .......................................................................29 6.4. Von der Mimesis zur Schrift .............................................................30 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet......................................30 7.1. Benjamins Kafka-Lektüre ..................................................................30 7.2. Kafkas Welt(en) ..................................................................................31 7.3. Kurze Kindheit, Hoffnung im Kleinen............................................32 7.4 Der bildliche Gestus...........................................................................33 7.4.1. Die Geste der Zukunft............................................................34 7.5. Schriftbild ............................................................................................35 7.6. Fazit......................................................................................................3 8. Zum Denken mit dem Bild.........................................................................36 8.1. Denkbild ..............................................................................................36 8.2. Dialektisches Bild ...............................................................................36 8.3. Leib und Bild ......................................................................................36 8.4. Das archaische Bild ............................................................................37 8.5. Zur Koexistenz von Bild und Sprache.............................................38 9. Bibliographie ................................................................................................3 Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel am 27. Juni 2013 als Dissertation angenommen. Betreut wurde die Arbeit durch Prof. Dr. Ralf Simon (Deutsches Seminar der Universität Basel), der die Arbeit als Referent begleitete und dem ich für für seine Anregungen danke. Dem Korreferenten Prof. Dr. Hubert Thüring (Deutsches Seminar der Universität Basel) danke ich für die kritische Lektüre der Arbeit und seine Ratschläge zur Verbesserung. Die Arbeit ist mehrheitlich während meiner Zeit als Mitglied des Graduiertenkollegs „Bild und Zeit“ des Nationalen Forschungsschwerpunkts Bildkritik - eikones geschrieben worden. Aus den dort abgehaltenen Kolloquien empfing ich wichtige Impulse. Dem Leiter des Graduiertenkollegs, PD Dr. Arno Schubbach, gebührt ebenso Dank wie den anderen Kollegiatinnen und Kollegiaten, mit denen ich mich in der Zeit beim NFS Bildkritik austauschen durfte. Für die wertvolle Durchsicht einzelner Kapitel der Arbeit möchte ich besonders Florian Arndtz, Cyrill Feigenwinter, Sundar Henny, Martina Koch und Mathias Kundert danken. Für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Erarbeitung der Dissertation danke ich dem Schweizerischen Nationalfonds und der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft (Basel). Dem Max Geldner-Fonds (Basel) danke ich für den großzügigerweise gewährten Druckkostenzuschuss. Basel, im Januar 2016 Fabian Grossenbacher 1. Anfänge 1.1. Anfang, Ursprung und Sprache Jeder Text hat einen Anfang, meistens hat er sogar mehrere Anfänge. Die Anfänge, die hier angesprochen werden, meinen nicht datierbare Einschnitte in Prozesse, die man als linear verlaufende bestimmen könnte. Mit Anfängen sind hier vielmehr diskursive Knotenpunkte gemeint, die hinsichtlich einer bestimmten Argumentation oder Narration als hypothetische Ausgangsbasis fungieren können und in einer wie auch immer gearteten, vom Text beschworenen Gegenwart noch immer als wirkend begriffen werden. Man stößt immer wieder auf Texte oder Diskurse, die sich ihrer Anfänge versichern, da sie mit einem Verlust einhergehen. Dasjenige, was verlustig gegangen ist, muss dabei nie in seinem vollen Umfang besessen worden sein. Und dennoch ist das von Anfang an Verlorene ein integraler Bestandteil des Aktuellen. In unserem Fall handelt es sich bei diesen Verlusten, die die Anfangsszene des Untersuchungsgegenstands unmittelbar betreffen, beispielsweise um Bildlichkeit oder Kindheit. Der angesprochene Verlust kann sich auf eine kollektive Dimension beziehen, etwa wenn in Texten konstatiert wird, dass es ein bildliches, ‚primitives‘ Denken vor der Schrift gegeben haben muss, er kann sich aber auch auf eine individuelle Dimension beziehen, wenn zum Beispiel auf ontogenetischer Ebene ein analoger Zustand für das Kind geltend gemacht wird. Der Kontext und die Art solcher Spekulationen können variieren und sie müssen sich freilich nicht immer auf die Sprache beziehen, jedoch ist die Sprache in der Literatur und vor allem bei Walter Benjamin, mit dessen Schriften sich diese Arbeit hauptsächlich beschäftigt, ein wichtiges Thema. In ihr werden die Anfänge und das Unverfügbare verortet, mittels der Sprache werden sie beschworen. Bezüglich narrativen Konstrukten, welche auf verlustig gegangene Anfänge rekurrieren, kann man oftmals paradox feststellen, dass sie mithilfe eines Moments operieren, dessen Unerlässlichkeit neben seiner Unverfügbarkeit steht. So verhält es sich häufig auch mit der Sprache überhaupt. In sprachphilosophischen Diskursen mit historischer Ausrichtung stößt man häufig auf das Problem, dass der Sprachanfang bzw. -ursprung an der Grenze seiner sprachlichen Verfügbarkeit lokalisiert wird. So bringen diese Diskurse häufig ein Sensorium für ihre eigene sprachliche Verfasstheit auf, sehen sich aber gezwungen, von dieser Plattform - freilich ohne auf die Sprache zu verzichten - zu abstrahieren, um in jenen Bereich vorzudringen, der an ihrer zeitlichen wie strukturellen Grenze Aufschluss über ihre Gesetze und Genese geben soll. Interessanterweise lassen sich die hier 1. Anfänge 10 angesprochenen Strategien an zahlreichen Diskursen hinsichtlich verschiedener Untersuchungsobjekte beobachten. Ob eine sprachphilosophsche Untersuchung sich nun auf eine theologisch oder metaphysisch geprägte Argumentation verlässt oder sich ihrem Gegenstand mit anthropologischen oder psychologischen Erkenntnissen und Argumenten nähert, bringt zwar eine Verschiebung der Begriffe und ihrer Konstellationen mit sich, manchmal aber kaum eine Veränderung des Vorgehensmusters. Auch in den sprachphilosophisch geprägten Texten Walter Benjamins lässt sich eine gewisse Kontinuität beobachten, obwohl man deutliche Unterschiede in der Annäherung an das Thema wiederum ebenfalls nur schwer übersehen kann. Die Kontinuität bezieht sich auf das Interesse am ‚Ursprung’ und besonders am ‚Sprachursprung’, dessen Problematik Benjamins Denken immer wieder umkreist, sei es hinsichtlich explizit durchexerzierter sprachphilosophischer Probleme, sei es hinsichtlich geschichtsphilosophischer Reflexionen, in denen ein adäquater Umgang mit dem ‚Vergangenen’, dem ‚Fortschritt’, dem ‚Neuen’ oder der ‚Jetztzeit’ erprobt wird. Der Begriff ‚Ursprung’ taucht bei Benjamin in verschiedenen Kontexten auf und wird in bestimmten Texten, beispielsweise in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ seines Trauerspielbuchs oder etwa in seinen geschichtsphilosophischen Thesen, auch methodisch zu fassen versucht. ‚Ursprung‘ wird in Benjamins besagter ‚Vorrede‘ als etwas „dem Werden und Vergehen Entspringendes“ verstanden, als etwas, das mit „Entstehung nichts gemein“ habe: „Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein“, heißt es dort (GS I, 226). Der Ursprung, verstanden als Strudel, markiert einen Bruch mit einer linearen oder allzu simpel zu rekonstruierenden Chronologie. Benjamin spricht vom Entstehungsmaterial und setzt dagegen den Ursprung als eine Art Idee, aber auch als Form. Das ist seine mindestens doppelte Bedeutung. Denn der Ursprung ist bei Benjamin nicht nur eine ‚abstrakte‘ Idee bzw. ein seiner Philosophie zugrundeliegendes Theorem, sie ist ‚konkret‘ auch einer der Untersuchungsgegenstände seiner Studie zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“. Damit bewegt er sich in einem Feld, das er bereits in seiner Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der Romantik und in seinem wichtigen Aufsatz zu „Goethes Wahlverwandtschaften“ abgesteckt hat, wo er sich mit Idee- und Formkonzepten einiger Frühromantiker und Johann Wolfgang Goethes auseinandergesetzt hat. Die beiden angesprochenen Seiten lassen sich demnach nur aporetisch verbinden: Ist der Ursprung ein ‚konkretes‘ Phänomen, das für eine bestimmte Idee steht und sie nun exemplarisch und nachträglich zu rekonstruieren versucht, was per se paradox ist, weil die scheinbar ‚rekonstruierte‘ Idee nicht den Ursprung schlechthin präsent machen kann (da jedem dargestellten Phänomen etwas ursprünglich vorangegangen sein muss); oder handelt es sich beim Ursprung um eine (universelle, ‚abstrak- 1.1. Anfang, Ursprung und Sprache 11 te‘) Idee, die jedem Phänomen zugrunde liegt und von Phänomenen wiederum sowieso nur unvollendet repräsentiert werden kann? Von welcher Seite man auch immer ansetzt, diese verschlungene Beschaffenheit des ‚Strudels‘ liefert durch seinen Leerlauf oder Circulus vitiosus ein relativ instabiles Fundament. Das Bild eines Strudels in einem strömenden Fluss ist Benjamins treffende und konsequente Figuration des Ursprungsbegriffs als Ausgangspunkt und gleichzeitiger Untersuchungsgegenstand. Dabei wird unser Vorstellungs- und Figurationsvermögen überstrapaziert, wenn er das ‚ursprüngliche‘ Bild mit einem weiteren Zug komplettiert, nämlich dem, dass dieser Strudel in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hineinreiße. Aus diesem Bild ist ableitbar, dass dieses Material demnach dem Betrachter einzelner Phänomene nicht als Ganzes vor Augen liegt, sondern als Splitter oder Trümmer. Daraus ergibt sich die Konsequenz, den Anspruch fallen zu lassen, ein Ganzes herstellen zu wollen, das man zeitlich und räumlich verorten kann, da der Strudel ja in Bewegung ist. Aus nachvollziehbaren Gründen möchte Benjamin nicht auf den Begriff des Ursprungs verzichten, aber er verleiht ihm eine eigentümliche Bedeutung und macht ihn zum Moment einer Methode oder einer Theorie der Konstellationen. Dieses konstellative Element findet man bei Platon wohl nicht in demselben Masse vor wie bei Benjamin, doch hat letzterer durchaus eine platonische Problemstellung im Blick, wenn er bezüglich jener Rebzw. Konstruktion des ‚Echten‘, um die es im folgenden Zitat im Umkreis seiner Ursprungreflexionen im Trauerspielbuch geht, Aspekte der Erinnerung - eine Art Anamnesis - oder Momente der Rettung hervorhebt: Das Echte - jenes Ursprungssiegel in den Phänomenen - ist Gegenstand der Entdeckung, einer Entdeckung, die in einzigartiger Weise sich mit dem Wiedererkennen verbindet. Im Singulärsten und Verschrobensten der Phänomene, in den ohnmächtigsten und unbeholfensten Versuchen sowohl wie in den überreifen Erscheinungen der Spätzeit vermag Entdeckung es zu Tag zu fördern. Nicht um Einheit aus ihnen zu konstruieren, nimmt die Idee die Reihe historischer Ausprägungen auf. Zwischen dem Verhältnis des Einzelnen zur Idee und zum Begriff findet keine Analogie statt: hier fällt es unter den Begriff und bleibt was es war - Einzelheit; dort steht es in der Idee und wird was es nicht war - Totalität. Das ist seine platonische ‚Rettung’. (GS I, 227) Die Idee konstruiert nicht Einheit aus den verschiedenen historischen Stufen eines Phänomens und der Begriff eines Phänomens ist auch nicht dasselbe wie seine Idee. Im Begriff ist ein Phänomen aktualisiert, in gewisser Weise bestimmt, aber durch seine unvollständige Erfassung nur mangelhaft ausgedrückt. In der Idee ist das Phänomen die Totalität, aber es ist nicht aktualisiert und in gewisser Weise unbestimmt. Die Schwierigkeit 1. Anfänge 12 einer jeden Arbeit ist nun gerade, diese beiden Seiten oder Ordnungen - das ‚Konkrete‘ oder ‚Sensible‘, andererseits das ‚Abstrakte‘ oder ‚Intelligible‘- zusammenzubringen. Durch den Begriff des Ursprungs versucht Benjamin jene Schnittstelle oder Basis zu finden, die es ermöglicht, sich weiteren Phänomenen, Ideen oder Begriffen eines Untersuchungsgegenstandes anzunähern. In seiner eigenen Untersuchung zum barocken Trauerspiel, die er eigentlich als Habilitationsschrift einzureichen plante, sind das etwa die Begriffe der Allegorie, der Melancholie, des Souveräns u.a. Die methodologischen Überlegungen, die Benjamin seiner Habilitationsschrift voranstellt, skizzieren eine Theorie der Phänomen- und Begriffskonstellationen, die nicht linear chronologisch verfährt. Das hat für eine Arbeit, die ein Schlaglicht auf historische Phänomene werfen möchte, Konsequenzen. Statt eine Reihung von Begriffen vorzunehmen, die in einen narrativen Zusamenhang gesetzt werden, der mittels eines kaschierten Ordnungsprinzips eine lineare Abfolge suggeriert, werden zentrale Begriffe gruppiert, die sich wechselseitig beleuchten. In Auseinandersetzung mit Benjamins Ursprungsbegriff ergibt sich der Anspruch dieser Arbeit, ein Denken, dass sich gegen die Linearisierung stellt, nicht linearisierend zu widmen, sondern sich Konzepten des Anfangs und des Anfangens zu widmen, um die dieses Denken immer wieder kreist. 1.2. Begriffsauswahl Ein Aspekt, den es im Zusammenhang mit der Untersuchung der Herkunft und Aktualität eines Gegenstands zu beachten gilt, und der bislang nicht angesprochen wurde, ist der Bezug des untersuchten Phänomens zu einem Aspekt des Paradigma-Begriffs, der über den Einzelcharakter der Phänomene, die als paradigmatisch betrachtet werden, hinausgeht, weil er sich auf Modelle, Werte, Techniken bezieht, die den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe von Produzenten oder Produzentinnen bestimmter Kulturgüter gemeinsam sind. 1 Bei dieser Dimension des Paradigmas stellt sich die Frage nach seiner Zeitlichkeit und gewissermaßen genauso nach der Möglichkeit, seine räumliche oder soziale Begrenztheit abmessen zu können. Man stößt also auf die Frage, wie sich der Untersuchungsgegenstand geschichtlich und geographisch lokalisieren lässt, da ein Paradigma eine gewisse Determinertheit suggeriert. Weil die zeitliche Determiniertheit eines Gegenstands am augenfälligsten ist, scheint wohl eines der einfachsten Kriterien zur Beschränkung der zu untersuchenden Textauswahl ein zeitli- 1 Ganz abwegig ist das insofern nicht, als Benjamin in seinen Nachträgen zum Trauerspielbuch den Ursprungsbegriff tatsächlich mit dem Begriff des ‚Urphänomens‘ assoziiert. Vgl. GS I, 954. 1.2. Begriffsauswahl 13 cher Aspekt zu sein. Ausgehend von einer Art Korpus bestimmter Texte, die sich einem Zeitpunkt zuordnen lassen, hat man immer noch die Möglichkeit, innerhalb dieses Korpus Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen. Und man hat darüber hinaus auch die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber Textbeständen anderer diskursiver Provenienz herauszuarbeiten. Vergegenwärtigen sollte man sich aber stets, dass diese Prozesse der Auswahl und richtigen Anordnung so holzschnittartig, wie eben formuliert, nicht funktionieren, da wir meist nicht von einem Begriff ausgehen, sondern von mehreren. In diesen Begriffskonstellationen werden je nach Konstellation gewisse Begriffsbeziehungen stärker gewichtet, so dass sie jeweils auch eine andere Bedeutung zu generieren vermögen. In den folgenden Abschnitten wird, grob gesagt, um Begriffe oder literarische Motive gehen, die sich mit sprachphilosophischen Fragen verbinden lassen. Diese Art von Sprachphilosophie stützt sich vor allem auf die Texte von Walter Benjamin selbst oder auf solche, die Benjamin rezipiert hat; teilweise auch auf solche seiner Leserinnen und Leser. Es ist möglich, dass man an dieser Stelle die Gefahr eines scheinbar fatalen Zirkels sich anbahnen sieht: dass der eigene theoretische Hintergrund vom Untersuchungsgegenstand selbst gespeist wird, lässt sich in diesem Zusammenhang nicht von der Hand weisen. Dem Interpreten eines Untersuchungsgegenstands, die die eigenen theoretischen und methodischen ‚Paradigmen‘ speist, könnte nicht mehr jene Distanz zugetraut werden, die zu einer adäquaten Einschätzung des Gegenstands vonnöten wäre. Diese Position unterschätzte aber, dass jede Aneignung irgendeiner Theorie bereits eine Interpretation und damit Transformation darstellt und dass ein theoriefreier und vor allem durch den Untersuchungsgegenstand unbelasteter Blick auf denselben zwar unter Umständen als wünschenswertes Ideal erscheinen mag, jedoch viel häufiger noch als Abwehrreflex interpretiert werden könnte. Die durch diese Logik vorgegebene Alternative bestünde demnach nur darin, mehr oder weniger offen eine radikal andere bzw. ‚fremde‘ Theorie auf den Gegenstand zu applizieren, ihn durch das theoriefreie oder durch eine andere Theorie geprägte Raster zu interpretieren. Das wäre ein legitimes Vorgehen, wenn man einen Gegenstand aus der Distanz beurteilen und sich unabhängig wähnen möchte. Aber man könnte einem solchen Vorgehen auch als Mangel vorwerfen, dass es mit seinem Gegenstand weder philosophische noch historische Berührungspunkte teile und sich fragen, worin sein Interesse an demselben bestehe. Ein überzeitlicher Generalschlüssel für die Interpretation literarischer Texte wurde bislang - dem Begräbnis wilder Methodenstreitigkeiten in den Literaturwissenschaften zum Trotz 2 - noch nicht gefunden. Das soll nun kein 2 Vgl. für diesen Befund stellvertretend für ganz ähnliche, wenn auch nicht immer explizit benannte Standpunkte Hans-Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. 1. Anfänge 14 Plädoyer für eine Art von mimetischer Lektüre sein, die sich dem Gegenstand kritiklos anverwandelt. Aber jede Kritik setzt Paraphrase voraus, und folgt man dem, was Gilles Deleuze in seinem eigenwilligen, aber äußerst aufschlussreichen Buch zu Nietzsche über Kritik geschrieben hat, so ist Kritik auch immer Wertschätzung in einem doppelten Sinne. 3 Und jene Wertschätzung ist nicht einfach reaktiv und mimetisch, sie ist auch aktiv und differentiell. Mit Benjamin lässt sich augenzwinkernd anfügen: „Kurz: über diesen Gegenstand arbeiten kann nur, wer eine eigene Überzeugung von dessen Wesen hat. Kein unbeteiligter Registrierender kommt ihm nahe, kann auch nur seinen Beitrag zur Charakteristik des ihm zugewandten Denkens erkennen.“ (GS III, 96) Distanz mag geboten sein, sie ist jedoch unmöglich absolut durchzuhalten, wenn man die Charakteristik eines Denkens oder eines Diskurses meditativ herauszuarbeiten versucht. Der Begriff der ‚Überzeugung‘, der im eben zitierten Satz angefügt wird, kompromittiert diesen gleich selbst wieder. Denn wie es unter dem Titel „Für Männer“ in Benjamins „Einbahnstraße“ lakonisch heißt: „Überzeugen ist unfruchtbar.“ (GS IV, 87) Die ‚Überzeugung’ vom ‚Wesen‘ eines Gegenstands zu haben, bedeutet deshalb nicht nur, ironischerweise einer Einbildung zu unterliegen statt der Sache selber habhaft zu sein. Der Satz hat auch die Bedeutung, dass man zunächst nichts anderes als besagte Einbildung oder Überzeugung vom Wesen eines Gegenstands haben kann. Was bei der weiteren Herausarbeitung der Charakteristik eines Denkens entsteht, mag deshalb - im Sinne eines Zuviel an Überzeugtheit und einer Art Überinterpretation - durchaus unfruchtbar erscheinen. Doch besteht die Hoffnung, dass die Unfruchtbarkeit von jener Beschaffenheit ist, die der Satz aus der „Einbahnstraße“ selbst vollzieht: in seiner Kürze und sentenzenhaften Form vermag er paradoxerweise eine erstaunliche Überzeugungskraft zu entwickeln, gerade weil seine vordergründige Botschaft nicht besonders ‚überzeugend‘ ist. Die Produktion von Präsenz, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2004, S. 17: „Derzeit sind viele Wissenschaftler und die meisten Studenten in den Geisteswissenschaften nicht ohne Grund […] der ‚Theorie’ überdrüssig, das heißt: Sie haben genug von einer häufig aus der Philosophie importierten Form abstrakten Denkens, von deren ‚Anwendung’ wir früher glaubten, sie könne für Energie sorgen und damit der Lehre und dem Schreiben zugute kommen.“ 3 Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, übersetzt von Bernd Schwibs, Hamburg 2002, S. 5: „Eine Wertschätzung setzt Werte voraus, von deren Grundlage aus sie die Phänomene bewertet. Andererseits aber, und weitgehender, setzen wiederum die Werte Wertschätzungen, wertsetzende Gesichtspunkte voraus, denen ihr Wert sich erst selbst verdankt. Das kritische Problem ist dies: der Wert der Werte, die Wertschätzung, aus denen ihr Wert hervorgeht, folglich das Problem ihrer Erschaffung. Die Wertschätzung bestimmt sich als differentielles Moment der entsprechenden Werte: ist kritisches und schaffendes Element in einem.“ 1.2. Begriffsauswahl 15 Ein erster Schritt, der Distanz gewährleisten soll, wurde in diesen ersten Abschnitten durch den Entscheid vollzogen, hier nicht ausschließlich vom ‚Ursprung’ zu reden. Ein etwaiges Korsett, das Benjamins eigene Begrifflichkeit für die zu untersuchenden Phänomene bedeuten könnte, soll vermieden werden. Nicht nur mit Blick auf den Begriff des Ursprungs gilt dieses Gebot, auch der Begriff des ‚dialektischen Bilds‘ - der im Titel dieser Arbeit ein Echo findet - soll nicht einfach unreflektiert reproduziert werden. Dass in diesen Abschnitten nicht einfach vom ‚Ursprung‘ die Rede ist, hängt übrigens auch damit zusammen, dass dieser Begriff eine etwas verfängliche Geschichte hat. Wie Mircea Eliade plausibel aufgezeigt hat, hatte der Ursprungsbegriff um die Jahrhundertwende durchaus Konjunktur. 4 Die ‚Sehnsucht nach dem Ursprung’ äußert sich nicht nur in ethnologischen und anthropologischen Forschungsvorhaben, auch auf okkultem Gebiet stößt man auf diese Sehnsucht. So suchen die Kosmiker, die Benjamin durchaus registriert hat (freilich vornehmlich in der Person Ludwig Klages, von den restlichen Kosmikern erfährt Benjamin v.a. durch Schilderungen Franz Hessels), beispielsweise nach Muttergottheiten, pflegen den Mythos der ewigen Wiederkehr 5 , der auch in jüdischen Kreisen in dieser Zeit eine Rolle spielt, weil er kompatibel mit einer bestimmten Auffassung des messianischen Denkens ist (man denke an Georg Lukács und Ernst Bloch). 6 Das auf die zu untersuchenden Phänomene besser anzuwendende ‚Anfänge‘ bezieht sich nicht bloß auf sprachphilosophische Argumente, sondern auch auf das Thema der Kindheit bei Benjamin, das damit, wie ge- 4 Vgl. Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung - Von den Quellen der Humanität, ins Deutsche übertragen von Hella Bronold, Wien 1973. 5 Vgl. zur Aktualität dieses Gedankens im 18. Jahrhundert und in neuerer Zeit: Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie. 1. Teil, Frankfurt am Main 1982. Vgl. auch Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, ins Deutsche übertragen von Günther Spaltmann, Frankfurt am Main 1984, S. 157 f.: „Vom 17. Jahrhundert ab gewinnen der Linearismus und die fortschrittliche Auffassung von der Geschichte immer mehr an Kraft und bauen den Glauben an einen unendlichen Fortschritt ein, wie ihn zuerst Leibniz verkündet. Diese Anschauung wurde beherrschend im Jahrhundert der Aufklärung und wurde dann im 19. Jahrhundert durch den Triumph der Evolutionsideen vulgarisiert. Erst in unserem Jahrhundert lassen sich wieder gewisse Reaktionen gegen den historischen Linearismus bemerken; gleichfalls wird eine Rückkehr des Interesses an der Zyklentheorie sichtbar: So erleben wir in der Nationalökonomie die Rehabilitierung der Begriffe Zyklus, Fluktuation, periodische Oszillation; in der Philosophie wird der Mythos von der ewigen Wiederkehr durch Nietzsche den Bedürfnissen der Gegenwart nahegebracht; und in der Geschichtsphilosophie greifen Spengler und Toynbee das Problem der Periodizität wieder auf, usw.“ 6 Vgl. dazu Georg Dörr, Muttermythos und Herrschaftsmythos, Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, S. 28. 1. Anfänge 16 zeigt werden soll, in einer Beziehung steht. Wenn von sprachlichen Anfängen die Rede ist, ist es fast unvermeidlich, auch auf das Wesen zu sprechen zu kommen, das die Sprache noch zu erlernen hat, nämlich das Nicht- Sprechende oder ‚Infantile‘. Der Umgang des Kinds mit der Sprache kann sich dabei in vielfältiger Weise auf den sprachlichen Ausdruck beziehen. Zum Erlernen der Sprache gehört schließlich nicht nur das Sprechen, sondern auch das Verstehen der Sprache, das Lesen der Sprache in ihrer schriftlichen Form, das Schreiben als Erlernen der Schrift. Es fällt bei der Lektüre Benjaminscher Texte auf, dass bei der Beschäftigung mit den angesprochenen Bereichen der Sprache auch immer wieder Bildlichkeit zum Thema wird. Das kann sich auf eine relativ abstrakte Bildlichkeit beziehen, etwa auf die Phantasie, auf eine körperlich-bildliche Ausdrucksfähigkeit des Menschen in Form der Geste oder der Mimik, auf konkrete Interferenzen zwischen Texten und Illustrationen in Kinderbüchern, auf Interferenzen zwischen einem eher ‚bildlichen’ Zeichnen und einem seine ‚Bildlichkeit’ allmählich einbüßenden Schreiben. Aber das sind bereits Verhältnisse, die näher untersucht werden müssen. Denn es ist mitnichten einfach und selbstverständlich, Bilder und Sprache einander gegenüberzustellen, weder im Allgemeinen noch bei Benjamin. 1.3. Kindheit und ihr Verhältnis zu Sprache und Bild Das große Interesse Walter Benjamins an der Kindheit und am Kind widerspiegelt sich in den verschiedensten Texten Benjamins. Außerdem ist das Thema in der Benjamin-Forschung auf vielfältige Weise dokumentiert und bearbeitet worden. Gerade weil der Fokus des Benjaminschen Interesses am Kind oder der Kindheit aber so unterschiedlich ausfällt, das Kind oder die Kindheit in unterschiedlichen Zusammenhängen auftaucht, ist das Thema noch nie wirklich systematisch erschlossen worden - analog verhält es sich übrigens mit dem Bild oder der Bildlichkeit. 7 Selbst im von Burkhardt Lindner 2006 herausgegebenen Benjamin-Handbuch 8 muss man sich die verschiedenen Aspekte der Kindheit im Schreiben Benjamins mosaikartig zusammensuchen. Man stößt darin auf ihre Spuren im Überkapitel zu 7 Auch dieses Thema wird in der fast unüberschaubaren, umfangreichen Sekundärliteratur zu Benjamin immer wieder avisiert oder gestreift, von einer systematischen Erschließung kann aber nicht die Rede sein - was den Autorinnen und Autoren angesichts der mutmaßlich unsystematischen Verwendungsweise Benjamin selbst jedoch nicht als Schwäche ausgelegt werden muss. Zumindest versucht beispielsweise der von Detlev Schöttker herausgegebene Sammelband „Schrift, Bilder, Denken“ eine facettenreiche Annäherung zu leisten. Vgl. Detlev Schöttker, Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die Künste, Frankfurt am Main 2004. 8 Burkhardt Lindner (Hrsg.), Benjamin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart, Weimar 2006. 1.3. Kindheit und ihr Verhältnis zu Sprache und Bild 17 „Messianismus, Ästhetik, Politik“, im Kapitel zu „Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik“ oder in „Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben“. Kindheit durchzieht das Schreiben demnach auf allen Ebenen und lässt sich mit zahlreichen weiteren Themen verbinden. So wird Kindheit bei Benjamin beispielsweise im Zusammenhang mit Ausführungen über Sprache, Malerei, Farbe, Phantasie, Mimesis thematisiert, also auf der Ebene anthropologisch-gefärbter Betrachtungen allgemeiner Art, die sich mit dem Verhalten des Kindes auseinandersetzen. In diesem Bereich lässt sich das Interesse am Kind mit seinem besonderen Status als Lernendem, als etwas, das seine Umwelt und die Sprache noch zu erschließen hat, erklären. Kindheit kann aber auch auf eine völlig andere Ebene versetzt werden: freilich trägt auch diese Beschäftigung - wie meist, wenn es um Kindheit geht - anthropologische Züge, aber auf dieser hier gemeinten geschichtsphilosophisch-politischen Ebene, auf die die Kindheit in Benjamins Passagen-Arbeit gerät, geht es eher darum, dass Kindheit und ein angemessenes Verhältnis zu ihr plötzlich zu einer Art Versprechen für das Erwachen aus dem kollektiven Traumschlaf wird, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts - nach der Diagnose Benjamins - über die Menschen gekommen ist. Auf einer viel konkreteren Ebene geht es ebenfalls um das Kind: Benjamin schreibt in Textstücken der Berliner Kindheit über das Verhältnis des Schreibenden zur Kindheit sowie zum Verhältnis des Kindes zur Schrift und zum Schreibenlernen. Dieses Thema wird in einigen Rezensionen über Lesefibeln und Kinderbücher aufgegriffen, in denen es ebenfalls um Anfänge des Sehen-, Lesen- und Schreibenlernens geht. Nicht zuletzt beschäftigt sich Benjamin immer wieder mit pädagogischen Konzepten - eigentlich gewissermaßen schon in seiner Jugend, wenn auch mehr mit Fokus auf die Jugend als auf die Kindheit -, die dazu führen, dass er selber, angeregt durch die lettische Regisseurin und Schauspielerin Asja Lacis, pädagogische Ideen formuliert („Programm eines proletarischen Kindertheaters“, „Eine kommunistische Pädagogik“). Im Folgenden geht es keineswegs um eine systematische Aufarbeitung all dieser Facetten, die eine Verbindung zur Kindheit aufweisen, da bei der Lektüre der Benjaminschen Texte relativ schnell klar wird, dass Kindheit erstens nicht nur in heterogenen Bereichen thematisiert wird, sondern zweitens auch für sich kein homogenes Konzept darstellt. Vielmehr wird sie je nach Themenbereich mit anderen Phänomenen in Verbindung gebracht, das Kind wird eine Figur unter anderen Figuren, deren Funktion für das Benjaminsche Denken und Schreiben mal von mehr, mal von weniger Wichtigkeit zu sein scheint und auch in der Forschung schwankende Konjunktur hat (als Beispiele für jene anderen Figuren sind etwa Sammler, 1. Anfänge 18 Bucklige, Wahnsinnige, Barbaren, Primitive, Engel etc. zu nennen 9 ). Dass sich Benjamins Schreiben und seine Themen nicht so einfach systematisieren lassen, ist ein in der Forschung lange bekanntes Problem. Gerade die von Michael Opitz und Erdmut Wizisla herausgegebenen Bände über Benjamins Begriffe 10 überzeugen zwar durch ihren Versuch, das Benjaminsche Denken durch den Fokus auf einzelne Begriffe und ihre konstellativen Verknüpfungen auszuloten 11 , lassen aber die Frage offen, welche Relevanz und Stellung diesen einzelnen Begriffen im Zusammenhang mit Benjamins Texten wirklich zuzusprechen ist. So beobachten die Herausgeber denn auch treffend: „Benjamins Begriffe entstammen einem philosophischen Denkgebäude, aber sie entziehen sich einer strengen philosophischen Kategorisierung.“ 12 Freilich muss man diesen Satz abwandeln, wenn man über Kindheit oder das Kind spricht, da es sich hier strenggenommen wahrscheinlich kaum um Begriffe handelt, die einem ‚philosophischen Denkgebäude’ entstammen, sondern vielleicht eher Figuren oder Motive darstellen, die zum festen Inventar des Benjaminschen Schreibens - auf welcher Ebene auch immer - gehören. Der Umstand, dass sich Begriffe oder Figuren, auf die man bei Benjamin stoßen kann, nicht leicht zu fassen sind, lässt es zuweilen als sinnvoll erscheinen, der Bedeutung und dem Kontext dieser Begriffe und ihrer Affinität zu anderen Begriffen in Benjamins Texten nachzuspüren. Über eine Verortung und Spezifizierung in diesen Texten lassen sich meist auch dis- 9 Vgl. das umfangreiche Buch von Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin, Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Florent Perrier, Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 2009. 10 Michael Opitz und Erdmut Wizisla (Hrsg.), Benjamins Begriffe, 2. Bände, Frankfurt am Main 2000. 11 Dass das aber gar nicht so einfach ist, explizieren die Autoren ebenfalls, indem sie richtig - und nicht bloß aus Verlegenheit - festhalten, dass es bezüglich der Begriffe angebracht ist, von Pauschalisierungen abzusehen: „Dennoch ist diesen Begriffen nichts Statisches eigen, sie haben Bedeutungsveränderungen erfahren. Allfällige Pauschalisierungen nach dem Muster ‚Benjamins Begriff der Erfahrung’, ‚Benjamins Begriff des Erzählens’ etc. erweisen sich als problematisch, weil sie ein differenziertes Begriffsgebilde auf eine schlichte Formel reduzieren.“ Vgl. Michael Opitz und Erdtmut Wizisla (Hrsg.), Benjamins Begriffe, S. 11. 12 Michael Opitz und Erdmut Wizisla (Hrsg.), Benjamins Begriffe, S. 12: „In gewisser Weise erschließt sich Benjamins Werk von jedem der hier behandelten Begriffe unter einem anderen Aspekt, gerade weil keiner von ihnen wirklich im Zentrum steht, sondern sich in einer fragmentierten, ‚von Spannungen gesättigten Konstellation […] als Monade kristallisiert’ (I/ 2, 702 f.). Diese Struktur des Benjaminschen Œuvre hat für ein Projekt wie das vorliegende Folgen. Ins Extrem fortgedacht, setzt jeder Artikel die anderen - und andere - voraus.“ Außerdem darf man - ebenfalls mit den Herausgebern - festhalten, dass wohl noch weitere Begriffe ergänzend hätten besprochen werden können. 1.4. Einige theoretische Aspekte rund um die Kindheit 19 kursive Verwicklungen feststellen, die auf den historischen Kontext verweisen, der teilweise, auch wenn es hier vornehmlich um poetische Strategien der Texte selbst und ihre Verwandtschaft zu anderen poetischen Texten gehen soll, mitbedacht zu werden hat. Bereits in der Einleitung dieser Arbeit wurde dargelegt, weshalb Sprache und Bild wichtige Themen des poetischen Schreibens sind. Das sind sie beileibe nicht nur als Motive, sondern auch als Charakteristiken des Verfahrens und der Strategien. Kindheit ist dabei, wie bereits erwähnt, als ein Schwellenbereich zu betrachten, demnach auch als eine narrative Strategie, die von der Koexistenz von Sprache und Bild - oder Bildlichkeit - und ihrer grundlegenden Bedeutung für jene zentrale Ausdrucksmöglichkeit, die das Sprechen und Schreiben darstellt, erzählt. 1.4. Einige theoretische Aspekte rund um die Kindheit Zweifelsohne handelt es sich bei der Kindheit um etwas, dem als Motiv oder Problem der Literatur seit dem 18. Jahrhundert paradigmatische Qualität zugesprochen werden könnte. Kindheit erregte in einer für die Literatur interessanten Form vor allem im Zuge der Aufklärung und Individualisierung stärkeres Interesse. Dass Kindheit dabei nichts Konstantes ist, sich der Begriff im Verlauf der Geschichte immer wieder verändert hat, hat Philippe Ariès in seiner einflussreichen Studie gezeigt. 13 Somit wurde Kindheit vermittels verschiedener Konzepte - auf onto- und phylogenetischer Ebene - im Laufe der Zeit völlig anders bewertet, gesellschaftliche Gruppen und Instanzen verhielten sich dementsprechend gegenüber dem Phänomen ‚Kindheit‘ mit unterschiedlichem Interesse und unterschiedlichen Absichten und Zielen. 14 Schwierig gestaltete sich auch immer schon ihre Fassbarkeit. Man versuchte sie über völlig unterschiedliche Kriterien 13 Vgl. Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, aus dem Französischen von Caroline Neubaur und Karin Kersten, mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig, 16. Auflage, München 2007, S. 107 f.: „Es wird dem Leser dieser Seiten nicht entgangen sein, welche bedeutende Rolle das 17. Jahrhundert innerhalb der Entwicklung der Motive der frühen Kindheit gespielt hat. So wurden beispielsweise Einzelporträts von Kindern im 17. Jahrhundert zahlreich und üblich. Auch beginnen im 17. Jahrhundert die Familienporträts, die ja viel älter sind, sich um das Kind herum zu organisieren: es wird zum Mittelpunkt der Komposition.“ 14 Ariès‘ Thesen, dass die Kindheit bzw. das spezifisch Kindliche erst im 16. und 17. Jahrhundert entdeckt wurde und dass die Separierung der beiden Sphären - der Erwachsenenwelt und der Kindheit - zu einem zunehmenden Zugriff auf diese kindlichen Sphäre führte, wurden in neuerer Zeit differenziert. Es wurde vor allem gezeigt, dass das Konzept der Kindheit auch früher schon einen gewissen Stellenwert innehatte. Vgl. Sarah Hoke, Fritz von Uhdes „Kinderstube“. Die Darstellung des Kindes in seinem Spiel- und Wohnmilieu, Göttingen 2011, S. 117. 1. Anfänge 20 festzuschreiben, etwa über das Alter, psychosomatische Zustände, über körperliche wie auch geistige Qualitäten. Neben eher naturwissenschaftlich geprägten Zugriffsweisen in neuerer Zeit bestanden auch geisteswissenschaftliche, die sich tendenziell häufig von gesellschaftsphilosophischen, erzieherischen Interessen (Rousseau) leiten ließen. Auch hat Kindheit in der Neuzeit den Status eines wichtigen Elements anthropologischer Theorien (Herder) oder utopischer Spekulationen (Frühromantiker); 15 im 19. und auch 20. Jahrhundert wird sie zu einem Gegenstand psychologischer oder psychoanalytischer Forschung. Man kann in Anlehnung an das weiter oben Ausgeführte durchaus sagen, dass Kindheit hin und wieder auch als Ursprungsphänomen fungiert, als vorübergehender Zustand einer Entwicklungsgeschichte, sei sie individueller oder überindividueller Art. Kaum verwunderlich also, dass sie in der modernen Literatur, die - folgt man Paul de Man 16 - zwangsläufig ‚autobiographische‘ Züge trägt, unabhängig von all diesen Diskursen, die sich bestimmt in ihr niedergeschlagen haben, eine wichtige Stellung einnimmt, da sie die Grenzen des Gedächtnisses und der Sprache nochmals verschärft hervortreten lässt. Eine Beschäftigung mit der Kindheit geht bei einer - wie auch immer gearteten - autobiographischen Herangehensweise meist mit einer Reflexion der Bedingungen des Erinnerns einher, auch bei Benjamin ist dieses Moment zentral. Aber neben dieses Moment, das sich auf die Vergangenheit richtet, tritt auch häufig ein Aspekt der Zukunft, der mit der Kindheit verbunden wird. Die schwedische Reformpädagogin Ellen Key sprach um 1900 davon, dass nun das „Jahrhundert des Kindes“ anbreche. 17 Gewidmet ist das Buch allen „Eltern, die hoffen, im neuen Jahrhundert den neuen Menschen zu bilden“. Vor einem sozialdarwinstischen Hintergrund fordert sie eine Eheschließung aus Gründen der Liebe, so dass die Nachkommenschaft nicht bereits 15 Vgl. dazu beispielsweise Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989. 16 Paul de Man, Autobiographie als Maskenspiel, In: Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, Herausgegeben von Christoph Menke, Frankfurt am Main 1993, S. 131- 146. Ebd. S. 134 f.: „Das jedem Verstehensprozeß eignende Moment der wechselseitigen Spiegelung offenbart die jeder Erkenntnis, auch der Selbsterkenntnis, zugrundeliegende tropologische Struktur. Die Bedeutung der Autobiographie besteht dann nicht darin, daß sie eine verläßliche Selbsterkenntnis liefert (was sie auch nicht tut), sondern darin, daß sie auf schlagende Weise die Unmöglichkeit der Abgeschloßenheit und der Totalisierung aller aus tropologischen Substitutionen bestehenden textuellen Systeme demonstriert (und das heißt, daß es solche Systeme nicht geben kann).“ 17 Vgl. Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes. Studien von Ellen Key, Autorisierte Übertragung von Francis Maro, Achte Auflage, Berlin 1905. 1.4. Einige theoretische Aspekte rund um die Kindheit 21 „im Blute den Keim der Disharmonie oder des Lebensüberdrusses“ trage. 18 Außerdem solle verhindert werden, dass sich der „Verbrechertypus“ fortpflanze. 19 Key setzte sich auch für den ‚Mutterschutz‘ ein, Mütter sollten von schweren Arbeiten befreit werden, damit „verkümmerte Mütter“ nicht „verkümmerte“ Kinder gebären, und sie forderte einen „Erziehungsbeitrag“ für Mütter, „während der Zeit, in der die Kinder ganz ihre Pflege brauchen“. 20 Key wendete sich auch gegen die Prügelstrafe und verlangte die Schaffung von Bedingungen, die es dem Kind ermöglichen sollten, „ein individueller Mensch zu werden“: „Das Kind nicht in Frieden zu lassen, das ist das größte Verbrechen der gegenwärtigen Erziehung gegen das Kind.“ 21 Der Anspruch, der an die Erwachsenen gestellt wurde, ist deutlich: De Erwachsene sollte selbst zum Kinde werden, „sich vom Kinde ebenso ganz und einfältig ergreifen lassen, wie dieses selbst vom Dasein ergriffen“ werde. 22 Zu größerer Freiheit für das Kind führte das nicht zwangsläufig. Denn der Nachvollzug der kindlichen Perspektive brachte mit sich, dass diese erforscht zu werden hatte. Wie Giuriato festhält, führte der „reformpädagogische Weg“ die Kinder „aus dem alten Schulzimmer nicht direkt zur Freiheit, sondern zunächst ins Experimentallabor“. 23 Keys in zahlreichen Passagen ihres Buchs postulierte Sympathien für die Naturwissenschaft belegen das eindrücklich. Um von der Geschichte zur Theorie zu kommen: Der bekannte Philosoph Giorgio Agamben beschäftigt sich in seinem Buch „Kindheit und Geschichte“ 24 mit dem Thema Kindheit und verknüpft dieses eng mit der Sprache. Im Anschluss an Benjamins „Über das Programm der kommenden Philosophie“ 25 möchte Agamben mit Hamann das ‚Transzendentale‘ oder die ‚transzendentale Erfahrung‘ Kants in „Hinblick auf dessen Bezie- 18 Vgl. Ebd., S. 46. 19 Vgl. Ebd., S. 44. 20 Vgl. Ebd., S. 74 und S. 86. 21 Vgl. Ebd., S. 121 und S. 113. 22 Vgl. Ebd., S. 112. 23 Vgl. Davide Giuriato, Tintenbuben. Kindheit und Literatur um 1900 (Rainer Maria Rilke, Robert Walser, Walter Benjamin), In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Herausgegeben von Joachim Küpper, 42. Band, Heft 3-4, München 2010, S. 331. 24 Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, aus dem Italienischen von Davide Giuriato, Frankfurt am Main 2004. 25 Vgl. GS II, 157-171. Benjamin nennt dort den Erfahrungsbegriffs Kants - vom Zeitalter der Aufklärung geprägt - einen „auf den Nullpunkt, auf das Minimum von Bedeutung reduzierten“ (GS II, 159) und hält fest, dass es die Aufgabe einer kommenden Erkenntnistheorie sei, „für die Erkenntnis die Sphäre totaler Neutralität in Bezug auf die Begriffe Objekt und Subjekt zu finden“ (GS II, 163), um durch eine Vermeidung des Bezugs dieser Erkenntnis auf das empirische Bewusstsein, einen neuen Erfahrungsbegriff zu gewinnen. 1. Anfänge 22 hung zur Sprache“ revidieren und - gegen einen mathematischmechanischen Erkenngnisbegriff gerichtet - als die Erfahrung der Sprache selbst herausstellen. 26 Vor diesem Hintergrund betrachtet Agamben die Kindheit deshalb als ein ‚experimentum linguae‘, in dem die „Grenzen der Sprache nicht außerhalb ihrer, in Richtung ihrer Referenz, sondern in einer Erfahrung der Sprache als solcher, in ihrer reinen Autoreferentialität“ gesucht werden. Deshalb ist Kindheit nach Agamben nur demjenigen Denken zugänglich, das jene Erfahrung der Sprache als Sprache gemacht hat. Der zweite Begriff, nämlich jener der Geschichte, wird insofern ins Spiel gebracht, als Agamben nicht bloß abstrakte Begriffsarbeit treiben möchte, sondern über verschiedene Epochen hinweg den Erfahrungsbegriff beleuchtet und sich Gedanken darüber macht, inwiefern der Begriff der Geschichte selbst geschichtlich rekonstruierbar ist. Leider verliert er sich ob dieser Frage erneut in einer Diskussion, die relativ stark auf der Ebene der Struktur stattfindet, weil er sich - analog zum Kindheitsthema - für den ‚Ursprung’ der Geschichte interessiert. Dass dabei nicht ein chronologischer Ursprung in den Blick gerät, sondern dieser Ursprung an der Grenze des Geschichtlichen selbst verortet werden muss, ist der eigenwilligen Kindheitsdefinition als ‚experimentum linguae’ geschuldet. Damit gewinnt er die Möglichkeit, seine Untersuchung punktuell zu gestalten und nicht im Stil einer linearen historischen Erzählung. Gemein ist der Auseinandersetzung mit beiden Begriffen, jenem der Kindheit wie der Geschichte, dass jeweils ein besonderer ‚Ursprung’ in den Fokus gerät, der mit diesen Begriffen zu verbinden ist, nämlich jener der Sprache selbst. Der Umstand des Nicht-Sprechens oder Unsagbaren, der mit der Kindheit in Verbindung gebracht werden kann, da ‚infans‘ mehr oder weniger das Nicht- Sprechende bedeutet, deutet ja gerade auf jenen ‚ursprünglichen’ Bereich der Sprache, der nichts der Sprache Vorgängiges ist, sondern etwas, das sie stets mit sich trägt. Der Schwellencharakter der Sprache ist damit angesprochen. Und auch die Kindheit selbst kann in diesem Zusammenhang als Schwellenphänomen betrachtet werden, da sie unter dieser Voraussetzung weder in einer phylonoch in einer ontogenetischen Geschichte aufgehen 26 Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte, S. 9. Vgl. dazu auch Benjamins eigenen Text, GS II, 168: „Die große Umbildung und Korrektur die an dem einseitig mathematisch-mechanisch orientieren Erkenntnisbegriff vorzunehmen ist, kann nur durch eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache wie sie schon zu Kants Lebzeiten Hamann versucht hat gewonnen werden. Über dem Bewußtsein, daß die philosophische Erkenntnis eine absolut gewisse und apriorische sei, über dem Bewußtsein dieser Mathematik ebenbürtigen Seiten der Philosophie ist für Kant die Tatsache daß alle philosophische Erkenntnis ihren einzigen Ausdruck in der Sprache und nicht in Formeln und Zahlen habe völlig zurückgetreten.“ 1.4. Einige theoretische Aspekte rund um die Kindheit 23 kann. 27 Sowie also die Kindheit, von der hier die Rede ist, an einer Bruchstelle angesiedelt ist, so ist auch der Sprachursprung an einer Bruchstelle verortet: an einer Bruchstelle im Kontinuum der Opposition zwischen diachron und synchron 28 , historisch und struktural. Durch dieses Sich- Aufhalten an einer Bruchstelle sollen Kindheit und die transzendentale Erfahrung der Sprache (als Sprache), die laut Agamben über ein anderes Verhältnis zur ‚Kindheit‘ erlangt werden kann 29 , dem Zugriff der Kinder- 27 „Die Vorstellungen von einer Kindheit als einer vorsubjektiven ‚psychischen Substanz’ und eines vorsprachlichen Subjekts erweisen sich also als Mythen: Kindheit und Sprache scheinen demnach in einem Zirkel aufeinander zu verweisen, in dem die Kindheit der Ursprung der Sprache und die Sprache der Ursprung der Kindheit ist. Vielleicht müssen wir den Ort der Erfahrung und die Kindheit des Menschen gerade in diesem Zirkel suchen. Denn die Erfahrung und die Kindheit, die hier zur Diskussion stehen, können nicht einfach etwas sein, das der Sprache zeitlich vorangeht und an einem gewissen Punkt zu existieren aufhört, um in die Rede zu münden; sie sind kein Paradies, das wir zu einem gewissen Zeitpunkt für immer verlassen, um zu sprechen, sondern sie sind ursprünglich koexistent mit der Sprache, sie konstituieren sich sogar erst dadurch, dass die Sprache uns ihrer beraubt, indem sie den Menschen immer wieder als Subjekt produziert.“ Vgl. Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte, S. 71. 28 Ein Beispiel für etwas, das an dieser Bruchstelle angesiedelt ist und diesem Ursprungsbegriff entspricht, meint Agamben im Indogermanischen zu erkennen: „Dieser Begriff des Ursprungs ist nichts rein Abstraktes oder Hypothetisches, sondern ganz im Gegenteil etwas, wovon die Sprachwissenschaft konkrete Beispiele angeben kann. Denn was ist die durch die komparatistische Philologie der historischen Sprachen wiederhergestellte indoeuropäische Wurzel anderes als ein Ursprung, der nicht einfach in der Zeit zurückdatiert ist, sondern zugleich eine in den historischen Sprachen gegenwärtige und wirkende Instanz darstellt? Sie findet ihren Ort in der Koinzidenz von Diachronie und Synchronie, in der sie zwar als eine historisch nicht belegbare, ‚nie gesprochene’, aber reale Sprache die Intelligibilität der sprachlichen Geschichte und die synchrone Kohärenz des Systems garantiert.“ Vgl. Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte, S. 73 f. 29 Agamben war vor allem in seinen ersten Schriften, zu denen ‚Kindheit und Geschichte’ gehört, noch stark von Heidegger geprägt, was man dem Duktus des folgenden Textausschnitts, wo er von der Kindheit als ‚transzendentaler Heimat’ spricht, durchaus anmerkt: „Die Kindheit und die transzendentale Erfahrung der Differenz zwischen Sprache und Rede eröffnen zum ersten Mal einen Raum für Geschichte. Deswegen ist Babel, d.h. der Fall aus der reinen Sprache Edens und der Eintritt ins Stammeln der Kindheit (die Linguisten sagen uns, dass das Kind die Phoneme für alle Sprachen der Welt bildet), der transzendentale Ursprung der Geschichte. Erfahren bedeutet in diesem Sinne notwendigerweise, den Zugang zur Kindheit als transzendentaler Heimat der Geschichte wiederzufinden. Das Rätsel, das die Kindheit für den Menschen gebildet hat, kann in der Tat nur in der Geschichte gelöst werden. Ebenso ist die Erfahrung als Kindheit und Heimat des Menschen etwas, aus dem der Mensch immer schon in die Sprache und die Rede fällt. Deswegen kann die Geschichte nicht der kontinuierliche Fortschritt der sprechenden Menschheit entlang der Linearität der Zeit sein, sondern ist ihrem Wesen nach Intervall, Diskontinuität, epoché. Was in 1. Anfänge 24 psychologie (auf der Ebene der ‚parole’) und der Paläoanthropologie (auf der Ebene der ‚langue’) entzogen werden. Kindheit fungiert stattdessen als Differenz. Dass der Mensch nämlich nicht immer schon Sprecher ist, aber immer schon in der Sprache, führt eine Differenz zwischen der Sprache als Zeichensystem und als Diskurs ein. Und durch diese Differenz begründet Agamben seinen Geschichtsbegriff, der Geschichte als Intervall und Diskontinuität auffasst. Obwohl Agamben viel aus der Auseinandersetzung mit Walter Benjamin gewinnt, versäumt er es - im Gegensatz zu Benjamin -, Geschichte und den Kindheitsbegriff samt seiner sprachphilosophischen Implikationen mit dem Bild in Verbindung zu bringen. Benjamins fragmentarischen Überlegungen zu den Pariser Passagen bieten viele Überlegungen zur Bedeutung des Bilds für die Geschichte, was der komplexe und längst nicht geklärte Begriff des ‚dialektischen Bilds’ belegt. Und bezüglich der Kindheit leisten Benjamins literarische Texte (aus der „Einbahnstraße“ oder der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“) jene Verbindung von Bild und Sprache, die noch näher untersucht zu werden verdient. Gerade Themen wie die Aneignung der Sprache oder das sprachliche Verhältnis des Kinds zur Umwelt reflektiert Benjamin häufig mit Blick auf das Bildliche - prominent in der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ und seinen späten sprachphilosophischen Texten zum mimetischen Vermögen. Dieses Vermögen unterhält in Form der Möglichkeit zur Produktion und Lektüre von ‚unsinnlicher Ähnlichkeit’ gar einen virulenten Bezug zur Bildlichkeit der semiotischen Sprache. Wenn es andererseits um das Erlernen eben dieser Sprache und der Schrift geht, rückt mit der Thematisierung von Lesefibeln und -kästen in einigen Texten auch eine ‚materielle‘ Dimension der Bildlichkeit in den Problemhorizont des Benjaminschen Denkens, die - wie viele Arbeiten neueren Datums gezeigt haben 30 - nicht bloß zu Reflexion Anlass bot, sondern im Schreiben selbst auf der Materialebene vollzogen der Kindheit seine ursprüngliche Heimat besitzt, muss zur Kindheit und durch die Kindheit auf der Reise bleiben.“ Vgl. Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte, S. 77 f. 30 Das will heißen, dass etwa die Medialität des Schreibens, das Material, das dazu verwendet wird, die topographische Anordnung der Schrift auf dem Papier - oft in Wechselwirkung - neben der aus der linearen Lektüre von Buchstaben generierten Sinndimension ebenfalls einen zu deutenden Sinn generieren kann. Vgl. etwa Davide Giuriato, Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932-1939), München 2006, oder Davide Giuriato, Wahrnehmen und Lesen. Ungelesenes in Walter Benjamins Notiz ‚Über die Wahrnehmung in sich’, In: Davide Giuriato und Stephan Kammer (Hrsg.), Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Frankfurt am Main und Basel 2006, S. 183- 202, oder Sabine I. Gölz, Aura di San Pellegrino: Anmerkungen zu Benjamin-Archiv Ms 931, In: Daniel Weidner und Sigrid Weigel (Hrsg.), Benjamin-Studien 1, München 2008, S. 209-228. 1.4. Einige theoretische Aspekte rund um die Kindheit 25 wurde. Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, ein universelles oder ideales Kindheitsmodell zu rekonstruieren oder sämtliche bereits jetzt bekannten Aspekte von Kindheit in literarischen Texten aufzufächern. Hier wird eher konstatiert, dass Kindheit in zahlreichen literarischen Texten - und insbesondere bei Benjamin - Thema ist und dass sich mit diesem Thema Aspekte der Beziehung von Sprache und Bild verhandeln lassen, die auch bezüglich weiterer Schwellenphänomene in der Literatur auf Inhaltswie auf Formebene von Bedeutung sind. Dabei gibt es eine Reihe weiterer Phänomene oder Motive in der Literatur, die mit der Kindheitsproblematik, so wie sie hier skizziert wurde, strukturell und möglicherweise auch geschichtlich verwandt sind. Man denke an das häufige Vorkommen kleiner Formen und Motive, die eine Affinität zum Kleinen haben. 31 Das ‚Kleine’ als Begriff mag zunächst unscharf erscheinen, doch ist er in etwa so gemeint, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari ihn in ihrer Studie zu Kafka und der ‚kleinen Literatur’ (littérature mineure) verwenden. 32 ‚Klein’ ist eine behelfsmäßige Übersetzung für das französische Wort ‚mineure’, das als Attribut den Gegensatz zur anerkannten, etablierten, ‚großen’ Literatur markiert. Unter einer kleinen Literatur verstehen Deleuze und Guattari eine Literatur, in der sich eine Minderheit einer ‚großen’ Sprache bedient, vielleicht einer (fremden) Amtssprache, einer Standardsprache in Abgrenzung von einem Dialekt etc. und diese mittels ihrer Verwendungsweise ‚deterritorialisiert’, sprich an ihre Ränder treibt. Außerdem sei in der kleinen Literatur alles politisch. Strukturelle Elemente verknüpfen sich mit geschichtlichen: Das individuelle Ereignis wird um so notwendiger und unverzichtbarer, um so mehr unterm Mikroskop vergrößert, je mehr sich in ihm eine ganz andere Geschichte abspielt. So verbindet sich das ödipale Dreieck mit den geschäftlichen, ökonomischen, bürokratischen, justiziären Dreiecken, die seine Werte bestimmen. 33 Hier soll nun nicht gesagt werden, dass Kinder mit einer Minderheit in Verbindung zu bringen sind, jedoch ist häufig zu bemerken, dass ‚Minderheit’ nicht immer über Quantität zu fassen ist. Egal also, ob Kinder zahlenmäßig gesellschaftlich oder auch nur in der Literatur in der Minderheit 31 Dabei denke ich nicht nur an Franz Kafka, zu dem Benjamin mit seinem Kafka-Essay, der ebenfalls Gegenstand dieser Arbeit ist, eine Verwandtschaft herstellt. Es gibt einige weitere Autoren, die diese Affinität aufweisen, beispielsweise Robert Walser mit seinen zahlreichen Prosaminiaturen in Kleinstschrift oder auch Robert Musil mit seinem „Nachlaß zu Lebzeiten“. 32 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, aus dem Französischen von Burkhart Kroeber, Frankfurt am Main 1976. 33 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kafka, S. 25. 1. Anfänge 26 sind, so wird dieses schwer fassbare und sich wandelnde Etwas doch immer über die Sprache der ‚Großen’ definiert. Das bedeutet freilich nicht, dass wir es immer mit einer eindimensionalen Beziehung zu tun haben, denn bereits Michail Bachtin hat in seinem wichtigen Aufsatz über „Das Wort im Roman“ deutlich festgehalten, dass die Dynamik des „sprachlichen Lebens“ 34 sich gerade durch die wesentliche „Dialogizität des Wortes“ 35 auszeichnet, die sich völlig auf eine Wechselbeziehung zwischen zentripetalen und zentrifugalen gesellschaftlichen Kräften stützt. 36 In Bachtins Theoriegefüge nehmen also politische und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, die einerseits zentralisieren, andererseits dezentrale Kräfte entfalten, wie bei Deleuze und Guattari, einen wichtigen Platz ein. Das Verhältnis der Erwachsenensprache zur Kindersprache - wenn es denn überhaupt eine gibt - müsste demnach als eine Radikalisierung dieser These betrachtet werden, da sie an diesem Beispiel tatsächlich auf ihre radix, auf ihre Wurzel bezogen wird. Kindheit kann jener Seite des Kräfteverhältnisses zugewiesen werden, wo Zentrifugalität, Dezentralisierung oder Deterritorialisierung im Spiel sind, sodass mit Blick auf die Kindheit nicht einfach von Ohnmacht, Determiniertheit oder gar völliger Beherrschung gesprochen werden könnte. Konstatiert werden muss vielmehr auch eine die zentralisierenden Kräfte beunruhigende Dimension ihrer Kraft, deren Realität sich nicht zuletzt auch gerade an pädagogischen Zugriffsversuchen, in der Kinderliteratur, in Hörspielen usw. ablesen lässt. Im Grunde genommen spielt es dabei keine Rolle, ob jener Zugriff sich dabei als ein disziplinierender versteht, oder als ein reformpädagogischer, oder ob gar revolutionäre Hoffnung mit kindlichen Kräften verbunden wer- 34 Vgl. Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt am Main 1979, S. 165. 35 Vgl. Ebd., S. 168. 36 Vgl. Ebd., S. 165: „Aber die zentripetalen Kräfte des sprachlichen Lebens, die in der ‚Einheitssprache’ verkörpert sind, wirken im Milieu der faktischen Redevielfalt. Die Sprache ist in jedem gegebenen Moment ihrer Genese nicht nur im genauen Sinne des Wortes (nach formal linguistischen Merkmalen, in der Hauptsache nach phonetischen) in linguistische Dialekte gespalten, sondern, was für uns hier wesentlich ist, in sozioideologische Sprachen: Sprachen von sozialen Gruppen, ‚Berufssprachen’, ‚Gattungssprachen’, Sprachen der Generationen usw. Die Hochsprache selbst erscheint unter diesem Aspekt nur als eine der Sprachen der Redevielfalt und sie ist ihrerseits wiederum in Sprachen (von Gattungen, Richtungen u.a.) aufgesplittert. Und diese faktische Aufspaltung und Vielfalt der Rede ist nicht nur die Statik, sondern auch die Dynamik des sprachlichen Lebens: die Aufspaltung und die Redevielfalt verbreitern und vertiefen sich, solange die Sprache lebendig ist und sich entfaltet; neben den zentripetalen Kräften verläuft die ununterbrochene Arbeit der zentrifugalen Kräfte der Sprache, neben der verbal-ideologischen Zentralisierung und Vereinheitlichung finden ununterbrochene Prozesse der Dezentralisierung und Differenzierung statt.“ 1.5. Zur Fragestellung und Thematik 27 den 37 , wichtiger scheint, dass ein Gegenstand festzumachen ist, dem diese Kräfte zugeschrieben werden können und der Kräfte auf den Plan ruft. Ein Wechselverhältnis der Kräfte ist rund um die Kindheitsthematik beobachtbar, die von genügend Relevanz zu sein scheint, um sie mit zentralen sprachphilosophischen und gesellschaftlichen oder politischen Problemen zu verbinden, die Diskursformationen von geistes- und im speziellen auch literaturgeschichtlicher Bedeutung geprägt haben. 1.5. Zur Fragestellung und Thematik Im Katalog der Ausstellung „Walter Benjamin: Eine Reflexion in Bildern“, die vom 8. April bis 19. Juni 2011 in der Münchner Pinakothek der Moderne gezeigt wurde, wird festgehalten, dass sich ein großer Teil der bisherigen Benjamin-Forschung weitgehend „bildlos“ ihrem Gegenstand annäherte. 38 Dort steht außerdem, dass zwar immer wieder von ‚Denkbildern‘ und dem ‚dialektischen Bild‘ die Rede war, „nicht aber die Entstehung von Erkenntnis durch Anschauung“ im Vordergrund gestanden habe. 39 Die Macher der Ausstellung unternehmen deshalb mit Sigrid Weigel 40 und Detlev Schöttker, denen sie zu Recht attestieren, der Forschung neue Wege gewiesen zu haben, den Versuch, die epistemische Bedeutung der ‚Kunstwerke‘ selbst zu beleuchten, da diese gegenüber den Texten und Begriffen einen Mehrwert brächten: „Das Denken wird durch die Anschauung mit Bildern aufgeladen, die eine eigene, nichtverbale Erkenntnis ermöglichen.“ 41 Dieser Satz mag attraktiv erscheinen, weil er neben eine logozentrische Epistemologie eine Alternative setzt, aber er reproduziert eine Unterscheidung, die nicht gerade von einer Sensibilität für bildtheoretische Fragestellungen zeugt. Denn er geht - im Kontext des Katalogs wird das deutlich - von einem Verständnis von Bildern aus, welches das sichtbare Bild in der Form eines Gemäldes oder einer Photographie (oder auch eines Bauwerks) dem Begriff entgegensetzt. Hier soll nicht bestritten werden, dass auch das Gemälde oder die Photographie zu Erkenntnisgewinn führen können, aber es wird an dieser Stelle bezweifelt, dass mit einer Reduktion auf diese Momente der Komplexität von Benjamins vielfältigen Bild- und Sprachreflexionen Rechnung getragen wird. Dass sich die ‚profane Erleuchtung‘ für Benjamin „beim Sehen von Bildern und Bauten“ 37 Vgl. Benjamins Text „Eine kommunistische Pädagogik“, GS III, 206-209. 38 Vgl. Vorwort zu „Walter Benjamin: Eine Reflexion in Bildern“, Herausgegeben von Winfried Nerdinger und Juan Baria, Köln 2011, S. 7 f. 39 Vorwort zu „Walter Benjamin: Eine Reflexion in Bildern, S. 8. 40 Sigrid Weigel, Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt am Main 2008. 41 Vorwort zu „Walter Benjamin: Eine Reflexion in Bildern, S. 8. 1. Anfänge 28 vollzogen haben soll, ist eine Aussage, die noch belegt zu werden hätte. 42 Und nichtsdestotrotz ist diese Aussage symptomatisch für einen gewissen Umgang mit Benjamins Theoremen sowie sie auch von einem berechtigten Bedürfnis zeugt, jenseits der Sprache zu Erkenntnissen zu kommen. Dass die Herausgeber des Ausstellungsbandes aber gerade ihren eigenen Stichwortgebern, namentlich Sigrid Weigels Arbeiten, nicht gerecht werden, zeigt ein Blick in das Buch „Entstellte Ähnlichkeit“. 43 Weigel unternimmt durchgehend den Versuch, das Bild oder die Bildlichkeit eben nicht auf eine einzige Sphäre zu reduzieren. Ihre Rede von den Bildern ist nicht ausschließlich auf Gemälde, Photographien o.ä. zu beziehen. Vielmehr schreibt sie ausdrücklich, dass die bei Benjamin vorzufindende Konzeption des Bilds „nicht unter dem Aspekt der Repräsentation“ zu betrachten sei, „sondern dem der Schrift“. 44 Benjamins Begriff des Bilds habe „nichts mit der Geschichte materieller Bilder zu tun, auch nichts mit einem ‚geistigen Bild‘“. 45 Der Bemühung Weigels um die Erfassung des Bilds als eines „Dritten“ folgt diese Arbeit. Ein Interessensschwerpunkt bildet die Frage, wie und wann bei Benjamin und in seinen Referenztexten das Bild ins Denken und in die Sprache eingeführt wird. Eine These lautet, dass ein Denken in Bildern zumindest an dieser Stelle die Sprache erfordert, wo es sich in Texten niederschlägt oder wo darüber räsonniert wird, ob ein solches Denken überhaupt möglich ist. Es wurde bereits erwähnt, dass in einigen Diskursen Bild und Sprache einander gegenübergestellt werden als sich gegenseitig Ausschliessendes. Eine hier aufgestellte These lautet deshalb, dass deswegen Urszenen oder Anfänge - dort wo auch die Kindheit anzusiedeln ist, die sich durch ein gewisses Maß an Unverfügbarkeit auszeichnet - sich als theoretische Konstrukte eignen, um das Bild als Vor-Sprachliches oder als das Andere der Sprache zu imaginieren. Manchmal fungiert das Bild dabei als ein Behelfsbegriff, weil die Sprache als System selbst etwas sprachlich Unverfügbares hat. Es geht aber nicht darum, das Bild gegen die Sprache auszuspielen. Beiden eignet etwas, das sich der Sprache in einem gewissen Maß entzieht. Ein gängiger Ausspruch lautet etwa, das Bild sage mehr als tausend Worte. Es scheint mir jedoch auch so, dass jedes Wort, jeder Satz nicht mit tausend Worten ausgeschöpft werden kann. Mit Bezug auf Benjamin lässt sich sagen, dass schon seit jeher die Wichtigkeit des Bildlichen für sein Denken ausgesprochen wurde. Immer wieder wurde geschrieben, 42 Ebd. 43 Vgl. Sigrid Weigel, Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt am Main 1997. 44 Ebd., S. 52. 45 Ebd. 1.5. Zur Fragestellung und Thematik 29 er denke in Bildern, er produziere Denkbilder 46 ; oder Gemälde - allen voran Paul Klees „Angelus Novus“ -, die man gemeinhin auch als ‚Bilder‘ bezeichnet, seien wichtig für sein Denken. 47 Ebenso wurde häufig vom ‚dialektischen Bild‘ gesprochen, von der ‚Mimesis‘. 48 Aber all diese Hinweise und Konzepte blieben oder bleiben häufig kryptisch. Denn meist wird das ‚Bild‘ oder Bildliche dabei als Trope oder Figur verstanden. Oder es ist in Anlehnung an die Barock- oder Baudelairethematik von der Allegorie oder vom Emblem die Rede. Dabei wird oft übersehen, dass die Bildthematik bei Benjamin auch in anderen Themenbereichen auftaucht, die sich weniger mit dem Denken an sich als mit dem Schreiben befassen. Deshalb soll in dieser Arbeit auch nicht den Texten das Hauptaugenmerk geschenkt werden, die oben genannte Interpretation des Bild-Themas befördert haben, und auch nicht den möglichen Gemälden und Photographien, die Benjamin gesehen haben könnte, denn Benjamin ist auch in dieser Arbeit nur ein Name - wenn auch ein wichtiger -, der eine Klammer um einen Textkorpus bildet, der mithilfe des geschriebenen Wortes über Sprache und Bilder spricht. Das Hauptaugenmerk erhalten deshalb Texte, die sich mit den Anfängen des Sprechens und des Schreibens befassen und mit Formen sprachlicher Kommunikation, die eine Beziehung zum Bildlichen unterhalten. Um nun konkreter auf die Themen zu sprechen zu kommen, um die es im folgenden gehen wird: Die Arbeit wendet sich in den ersten beiden Kapiteln zunächst Benjamins sprachphilosophischen Überlegungen zum Namen und metaphysischen Reflexionen zum Sprachursprung zu. Dabei geht es um metaphyisch-spekulative Thesen zum Sprachursprung mit besonderer Berücksichtigung des Benennens. Ein Fokus liegt auf der Rekonstruktion der Namensphilosophie und der Frage, weshalb der Name immer wieder mit dem ‚Bild‘ in Verbindung gebracht wird: von der Theorie der adamitischen Sprache bis hin zur an Platon angelehnten ‚Bilderlehre‘ Ludwig Klages’. Im Anschluss daran geht es um die Onomatopoesie, die Mimesis und die Geste. Es findet also eine Hinwendung von einer konkret erscheinenden sprachlichen Ausdrucksform hin zu einer ‚abstrakten‘ 46 Vgl. Sigrid Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, S. 57: „Dabei ist der Term der Denkbilder im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen: als Bilder bzw. Gemälde, an denen sein Denken und seine theoretischen Reflexionen sich entzünden, oder als Bilder, die in Denkfiguren übersetzt in seine Schriften eingehen“. 47 Vgl. dazu Gershom Scholem, Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, Frankfurt am Main 1992. 48 Diese Rede trifft man gar dort an, wo sie kaum mehr etwas mit der Benjamin- Philologie zu tun hat, etwa beispielsweise bei Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, München 1999. Didi-Huberman bemüht sich aber gerade darum, den Begriff des dialektischen Bilds für den Kunsthistoriker brauchbar zu machen, indem er nicht einen simplen Sprache-Bild-Dualismus reproduziert. 1. Anfänge 30 statt. Gleichwohl bewegt sich die Abstraktheit bzw. Konkretheit des bildlichen Moments in die gegenläufige Richtung. Der Sprachursprung wird in anthropologischer Hinsicht untersucht. Da Benjamin entwicklungspsychologische und ethnologisch geprägte Modelle rezipiert hat, die den Sprachursprung phylo- und ontogenetisch zu fassen versucht haben, kommen diese Theorien zur Sprache. Der Komplex der mimetischen Dimension der Sprache bei Benjamin selbst wird mit dem Ziel beleuchtet, einzelne Texte Benjamins über die Kindheit nochmals mit dem von ihm rezipierten wissenschaftlichen Kontext zu beleuchten, um spezifische Qualitäten des poetischen Schreibens sichtbar zu machen, so etwa im Text „Die Mummerehlen“ (GS IV, 260-263 und GS VII, 417 f.), einem Text, der im Zuge der Arbeit am autobiographisch gefärbten Projekt „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ entstanden ist. 49 In den auf die beiden ersten Kapitel folgenden beiden geht es um Benjamins Texte zu farbigen Kinderbüchern und Lesefibeln. Auch in seinen Notizen über die Phantasie, über die Zeichnung, über die Graphologie, über farbige und unfarbige Kinderbücher wird immer wieder das Verhältnis von Bild und Sprache mit Blick auf die Kindheit thematisiert. Benjamin untersucht vor allem in frühen Aufzeichnungen das Verhältnis von Texten und Illustrationen in Kinderbüchern, aber auch die sinnliche Wahrnehmung, die Phantasie und Vorstellungskraft des Menschen. Er entwirft dabei eine eigentümliche Theorie der Bedeutung farbiger und schwarzweißer Illustrationen in Kinderbüchern für das Kind und spekuliert über ihre Wirkung auf die kindliche Phantasie und die Einbildungskraft. Dabei setzt sich Benjamin auch mit Jean Paul auseinander, also mit einem Autor, der nicht dem wissenschaftlichen Lager zugerechnet werden kann, aber für Benjamins Umgang mit dem Thema entscheidend ist, weil er selbst literarisch-pädagogische Untersuchungen zur kindlichen Einbildungskraft angestellt hat (vornehmlich in seiner „Levana“). Außerdem wird Benjamins Interesse an Lesefibeln und Abc-Büchern näher untersucht. Auch hier geht es um ein Initiationserlebnis beziehungsweise um eine Anfangsszene, nämlich um das Schreibenlernen. Dadurch, dass die Thematisierung der Bildlichkeit der Lettern und wiederum die Frage nach der Sprachlichkeit der 49 Eigentlich müsste man bezüglich der ‚Mummerehlen‘ schon fast von einer Mehrzahl von Texten sprechen, da mehrere Versionen existieren und wohl von keiner bislang gesagt werden darf, man habe es mit der definitiven zu tun. Eines der wichtigsten Themen dieses Textes ist - neben der offensichtlichen Gedächtnis- und Identitätsthematik - das mimetische Vermögen und der Umgang des Kinds mit der Sprache. Dieser Umgang erweist sich stark mit dem Bildlichen verknüpft.Vgl. dazu Burkhardt Lindner, Schreibprozeß, Finisierung und verborgene Erinnerungstheorie in Benjamins ‚Berliner Kindheit‘. Zur erstmaligen Edition des Gesamtnachlasses, in: Peter Brandes und Burkhardt Lindner (Hrsg.), Finis. Paradoxien des Endens, Würzburg 2009, S. 83-129. 1.5. Zur Fragestellung und Thematik 31 Bilder im Mittelpunkt stehen, gerät eine Dimension der Bildlichkeit in den Fokus des Interesses, die nicht primär auf arbiträren Zeichen beruht. Es handelt sich aber nicht um eine Bildlichkeit, die rein über die sinnliche Ähnlichkeit des Abgebildeten mit dem Referenzobjekt hergestellt wird, sondern einem Zwischenbereich entstammt: der Zeichnung. Mit der Zeichnung als eines Zwischenbereichs zwischen bildlicher Dichte und semiotischer Arbitrarität korrespondiert die Handschrift. Neben der Verhandlung der Sprache-Bild-Problematik auf einer motivischen oder inhaltlichen Ebene wird wird diese in gewissen Texten auf einer materiellen Ebene reflektiert. Im Netz von Graphologie, Sprach- und Schrifterwerb gewinnt der Text als Träger eines materialisierten Bilds in Form der Schrift - der Handschrift wie auch der Maschinenschrift - einen erweiterten Untersuchungsstatus, der, wie auch weiter oben gesagt wurde, nicht so leicht außer Acht gelassen werden kann. 50 Dabei geht es nicht um eine Idealisierung oder Hypostasierung des Materials, sondern bloß um die Untersuchung der Spannungen, die sich zwischen dem poetischen Text und seiner materiellen Dimension ergeben können. Diese Spannungen sind auch mit Blick auf die Registrierung oder Reflexion - damit ist nicht unbedingt eine ‚bewusste‘ Reflexion gemeint - gesellschaftlicher und medialer Umbrüche oder Änderungen zu betrachten. Wenn etwa der Graphologie in einem Kapitel dieser Arbeit besonderes Augenmerk geschenkt wird, geht es darum aufzuzeigen, inwiefern auch dort die Sprache-Bild-Thematik zentral ist, und inwiefern sie gerade für einen Denker wie Benjamin interessant sein konnte. Wie in vielen theoretischen Kontexten, mit denen sich Benjamin befasst hat, geht es auch mit Blick auf die Graphologie um Faszination einerseits, dezidierte Kritik andererseits. Das oben hinsichtlich des Materials und der Sprache-Bild-Thematik Beschriebene kann auch auf einer anderen Ebene fruchtbar gemacht werden, nämlich wenn es um die Benjaminschen Lektüren anderer Literaten geht, insbesondere etwa um Franz Kafka. Benjamins Kafka-Lektüre, seine vielfältigen Notizen und Überlegungen zum Werk Franz Kafkas, skizzieren verschiedene Dimensionen der Kindheit und des bildlich-sprachlichen Ausdrucks, die aufgrund der in den vorigen Kapiteln dargelegten Komplexe nachvollzogen werden sollen. 50 In dieser Hinsicht sind die Untersuchungen Davide Giuriatos interessant, etwa Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932-1939), München 2006 oder Davide Giuriato und Stephan Kammer, Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Frankfurt am Main 2006. Vgl. ferner auch den wichtigen Text von Roland Barthes, Variations sur l’écriture. Französisch - Deutsch, Übersetzt von Hans-Horst Henschen. Mit einem Nachwort von Hanns-Joseph Ortheil, Mainz 2006. 1. Anfänge 32 Auch wenn es in der Einleitung eigentlich noch zu früh ist, sei diese abstrakte Bemerkung erlaubt, die eine grössere Bewegung in den Texten skizzieren soll: In den untersuchten Texten werden Phänomene, die gewöhnlich mit dem Bild assoziiert werden, immer wieder stark auf die Sprache bezogen, das heißt Attribute, die man gemeinhin mit dem Bild zu verbinden geneigt ist, werden immer wieder unterminiert und gar der Sprache zugesprochen. Ebenso interessant ist es, die gegenläufige Bewegung in den Texten vorgeführt zu bekommen: von der Arbitrarität, Diskontinuität und anderen Charakteristika semiotischer Sprachlichkeit gibt es eine Tendenz in Richtung bildlicher Dichte. Diese chiastische Verschränkung von Sprache und Bild anhand von Phänomenen, die wir gemeinhin sicher der einen oder anderen Sphäre zuweisen zu können glauben, weicht vermeintlich stabile Zuschreibungen und Attribuierungen auf, so dass der Blick auf bildliche und - im Falle der Benjaminschen Texte - sprachliche Phänomene neu konfiguriert wird. Die einzelnen Kapitel beschäftigen sich mit Gegenständen, die meist in den anderen am Rande auch thematisiert werden. Es geht einerseits um eine fokussierte Rekonstruktion dieser Nebenmotive, andererseits um ihre Einbettung ins Oberthema der Arbeit. Auch wenn einzelne Autorennamen genannt wurden, geht es dieser Arbeit nicht um Einflussforschung. Wenn bestimmte Positionen rekonstruiert werden, dann nur, um einen erhellenden Kontrast oder um Schnittstellen aufzuzeigen. Hier geleistete Rekonstruktionen gehen manchmal über bei Benjamin nachweisbare Kenntnisse hinaus, genauso wie sie mögliche Kenntnisse auch längst nicht erschöpfen können werden. Zu berücksichtigen ist in dieser Hinsicht schließlich der Umstand, dass diskursive Formationen sich über konkrete Köpfe hinweg bilden. 51 51 Uwe Steiner formuliert das mit Blick auf Paul Häberlin, der an der Universität Bern Benjamins Lehrer war und einige Texte zu psychophysischen Fragestellungen verfasst hat, so, dass es sich auch auf andere Autoren und Disziplinen übertragen lässt, mit denen Benjamin zu tun hatte (namentlich etwa Ludwig Klages oder Anja Mendelssohn und die Graphologie, die für diese Arbeit wichtig sind): „Dabei scheint es wenig sinnvoll, von einem maßgeblichen Einfluß Häberlins auszugehen, der im einzelnen allein schon deshalb schwer nachzuweisen sein dürfte, weil die Begriffe und Denkansätze in Benjamins Adaption sogleich eine spezifische, die eigene Gedankenentwicklung reflektierende Akzentuierung erfahren. Nicht zuletzt aber um diese angemessen zu verstehen, ist es geboten, den offenbar in Vergessenheit geratenen Diskurs zu erinnern, der in der Interessenausrichtung seines Studiums in Bern ebenso deutliche Spuren hinterlassen hat wie in seinen in dieser Zeit entstandenen Aufzeichnungen. Deren Zusammenhang erschließt sich mitunter einer anderen Ordnung des Wissens, als derjenigen, der die Herausgeber der Gesammelten Schriften bei der Lösung ihrer zugegeben schwierigen Aufgabe gefolgt sind. Denn bei einer Anordnung der Fragmente und Aufzeichnungen in Anlehnung an die ‚traditionellen philosophischen und wissenschaftlichen Disziplinen‘ ist ja nicht nur die ‚kritische und unkonventionelle Stellung Benjamins zu ihnen‘ (GS VI, 626f.) zu bedenken. Vielmehr 1.5. Zur Fragestellung und Thematik 33 Die Linie, der diese Arbeit folgt, schlägt sich, um es nochmals in extremer Verkürzung zu sagen, wiefolgt nieder: Der Sprachursprung wird zunächst von einem Schöpfungsmythos aus betrachtet, der sie unter den Primat des Lauts stellt. Danach verschiebt sich der Fokus immer mehr in Richtung schriftlicher Kommunikation, über die Handschrift bis zur vermeintlich völlig der arbiträren Schrift unterworfenen literarischen Erzählung. Das Thema des ‚Bilds‘, das jeden dieser Schritte begleitet, verschiebt sich dabei vom vermeintlich Abstrakten hin zum Konkreten, während die Sprache selbst vom vermeintlich Konkreten zum Abstrakten wandert. Dennoch ist diese Linearität nur eine (zeitliche) Dimension des hier verfolgten Erzählmusters. Eine weitere Dimension bildet eine Art Dialektik: eine Dialektik des Bildlichen, deren Vorbild eine Bewegung ist, die mit dem ‚dialektischen Bild‘ freilich in einem noch zu explizierenden Zusammenhang steht. Diese Dialektik arbeitet sich an dem zuvor skizzierten Bilddiskurs ab, der bei Benjamin nachzuweisen versucht wird. Es handelt sich dabei weniger um den Versuch, eine bestimmte Methode oder ein bestimmtes Denkmuster zu bestimmen. Es geht dabei auch nicht um die Paraphrase einer abstrakten Epistemologie. Vielmehr geht es um verschiedene dialektische Bewegungen anhand unterschiedlicher Bilddiskurse. Nicht ‚das‘ Bild in Benjamins Denken will die Arbeit sichtbar machen, sie möchte eine Auseinandersetzung mit dem Bildlichen aufzeigen, das in unterschiedlichen Kontexten eine andere Bedeutung hat und diesen Zusammenhang in ein dementsprechend spezifisches Licht stellt. Sie möchte durch die Vervielfältigung der Bedeutung und der Facetten des Bildlichen jedoch dazu beitragen, das „Bild eines Denkens“ zu umreißen 52 , das um zeigt etwa das Beispiel der Psychologie, daß die Disziplinen eine eigenständige Tradition ausbilden und auf diese Weise selbst ebenso wie in ihrer Stellung zu den Nachbardisziplinen einem mitunter tiefgreifenden Wandel unterworfen sind.“ Vgl. Uwe Steiner, Von Bern nach Muri. Vier unveröffentlichte Briefe Walter Benjamins an Paul Häberlin im Kontext, In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2001, Heft 3, S. 463-490, hier S. 483. 52 Gilles Deleuze bestimmt in seinem Buch „Differenz und Wiederholung“ das „Bild des Denkens“ als „dogmatisches oder orthodoxes Bild“ des Denkens schlechthin, als eine universelle Prämisse, die sich auf den sogenannten ‚Gemeinsinn‘ (‚sens commun‘) und den ‚gesunden Menschenverstand‘ (‚bon sens‘) stützten. Deleuze spricht „[v]on einem einzigen Bild überhaupt, das die subjektive Voraussetzung der Philosophie in ihrer Gesamtheit bildet“, auch wenn Varianten davon möglich seien (vgl. Differenz und Wiederholung, S. 172). Weiter meint er, dass eine Kritik dieses Bilds not täte, da es das Denken unterdrücke, und fordert die „Zerstörung des Bilds eines Denkens, das sich selbst voraussetzt“, und stattdessen eine „Genese des Denkakts im Denken selbst“ und ein bildloses Denken (vgl. Differenz und Wiederholung, S. 182 und S. 215). In einem Interview mit dem Titel „Über Nietzsche und das Bild des Denkens“ skizziert er gegen das „Bild des Denkens“ - mit dem er die Kritiken Kants assoziiert - jedoch nicht bloß ein ‚bildloses Denken‘, sondern ein „neues Bild des Denkens“. Und er schreibt Leuten wie Lukrez, Spinoza, Hume, Nietzsche, Bergson und 1. Anfänge 34 das Bild - in seiner ganzen Unbestimmtheit - nicht umhin gekommen ist. Das heißt nicht, dass ein beliebiger Bildbegriff mit dem Denken Benjamins assoziiert wird, oder dass Benjamin ‚bildlich‘ gedacht habe. Es heißt eher, dass sich Benjamins Denken immer wieder an verschiedenen Facetten des Bildlichen abarbeitet, um zu einer Sprache für das Denken zu kommen, die das Bild weder preisgibt noch ihm - paradoxerweise - blind huldigt. Benjamins Denken soll als ein bildkritisches herausgestellt werden. Diese Kritik geht mit einem Transfer und einer Transformation einher, die mit dem „Fortleben“ in Verbindung gebracht werden könnten 53 , das Benjamin in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ anspricht. Mit Fortleben ist kein Animismus gemeint. Es ist damit gemeint, dass das Zusammentreffen von Bild und Sprache zu einer komplexen zeitlichen Konstellation führt, die eine klare Zuordnung, ob nun das eine oder andere früher da war, verunmöglicht. In der Spannung dieses Zusammentreffens aber, die mit dem angesprochenen Transfer und der Transformation einhergeht, wird weder das eine noch das andere destruiert, ohne etwas zu überliefern, an dem sich das Denken nicht von neuem entzünden könnte. Gerade damit werden nicht nur die Begriffe immer wieder anders konfiguriert, sondern auch das Denken selbst. Das soll keine leere Phrase sein: selbst wenn man irgendwelche Strukturen und Bewegungen eines Denkens sichtbar zu machen bestrebt ist, besagtes ‚Bild des Denkens‘ entwirft, so schöpft man wohl kaum einen Bruchteil dessen aus, was ein bestimmtes Denken tatsächlich leistet und was darüber, wenn man sich näher damit befasst, tatsächlich gesagt werden kann. Mit einem Wort Benjamins sollte man sich deshab „nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen - ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt.“ (GS IV, 400) Wenn man das zu tun gewillt ist, mag man auf das stoßen, „um dessentwillen sich die Grabung lohnt“: „Die Bilder nämlich, welche, losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht - wie Torsi in der Galerie des Sammlers - stehen.“ (Ebd.) Proust zu, jeweils ein solches ‚geschaffen‘ zu haben (vgl. Über Nietzsche und das Bild des Denkens, S. 200 f.). 53 Vgl. GS IV, 12: „Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original.“ 2. Zur frühen Sprachphilosophie 2.1. Metaphysisch-spekulative Thesen zum Sprachursprung Das erste Gebiet, das hier abgesteckt werden soll, ist relativ abstrakt. Es lässt sich mit jenen Momenten der Benjaminschen Sprachphilosophie verbinden, die in der älteren Forschung im Gegensatz zu den sprachanthropologischen Momenten einige Beachtung gefunden haben, nämlich metaphysische Spekulationen über den Sprachursprung und die Namensprache des Menschen. Diese Spekulationen sollen jetzt weder akribisch nachgezeichnet oder entwickelt werden, vielmehr interessieren an ihnen mögliche Schnittpunkte zu Überlegungen oder Beschreibung der Sprache des Kindes, oder allgemeiner zu Sprachanfangsnarrativen in weiteren Texten Benjamins. Auffällig oft und über mehrere Jahrzehnte in der Benjamin-Rezeption thematisiert ist die besondere Stellung des Namens in Benjamins zeitlebens unveröffentlichtem, frühen Aufsatz „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“. Einige Jahre konnte sich gar die Meinung halten, dieser frühe Aufsatz von 1916, den Benjamin zu seinen Lebzeiten nur wenigen Bekannten zeigte, sei einer der zentralen Dreh- und Angelpunkte zum Verständnis des Benjaminschen Denkens. 1 Freilich lassen sich bestimmte Thesen oder Beobachtungen zur Sprache, die Benjamin bereits in 1 Diese Haltung bricht in gewisser Weise auch in zahlreichen Texten durch, die sich in den Neunzigerjahren Benjamins Schriften aus der Perspektive poststrukturalistischen Denkens angenähert haben. Beispiele für diese Art der Rezeption, vor allem mit Fokus auf Benjamins Gedanken zum Übersetzen, die bereits im frühen Sprachaufsatz angelegt sind, aber ihren bekanntesten und explizitesten Niederschlag in „Die Aufgabe des Übersetzers“ gefunden haben, sind etwa Aufsätze aus dem von Alfred Hirsch herausgegebenen Sammelband „Übersetzung und Dekonstruktion“ (Frankfurt am Main 1997) und vor allem der wichtige, von Christiaan L. Hart Nibbrig herausgegebene Sammelband „Übersetzen. Walter Benjamin“ (Frankfurt am Main 2001). Ferner wäre die Arbeit von Bettine Menke zu nennen, „Sprachfiguren: Name, Allegorie, Bild nach Benjamin“ (München 1991), die bereits in ihrem Titel die Lieblingsbegriffe der dekonstruktiven Lesart der Benjaminschen Schriften enthält. Genährt wurde der Gedanke der Kontinuität und der Wichtigkeit dieses Aufsatzes auch durch Aussagen Benjamins selbst, der beispielsweise in einem Brief an Gershom Scholem die ‚Erkenntniskritische Vorrede‘ seines Mitte der Zwanzigerjahre verfassten Trauerspielbuchs als eine „Art zweites, ich weiß nicht, ob besseres, Stadium der frühen Spracharbeit […], als Ideenlehre frisiert“ (GB III, 14) bezeichnet hat. Dieser Aussage folgt auch eine der einflussreichsten Studien über Benjamins Sprachphilosophie im deutschsprachigen Raum, Winfried Menninghaus‘ Buch über „Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie“ (Frankfurt am Main 1995, S. 80 ff. und S. 92 ff.), die bereits 1980 als ein Teil seiner Dissertation erschienen ist. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 36 seinen frühen Texten gemacht hat, in vielen weiteren Texten wiederfinden und zweifellos ist die Sprache einer der zentralen Beschäftigungsgegenstände oder Ausgangspunkte seines Denkens. 2 Doch verhält es sich bei der Sprache in gewisser Weise wie mit anderen Phänomenen in Benjamins Schriften auch: in den zahlreichen Kontexten, auf die man bei Benjamin stößt, wird ein je spezifisches Licht auf die Sprache geworfen. Deshalb muss man, selbst mit dem ersten Satz des frühen Sprachaufsatzes im Ohr, der da lautet „Jede Äußerung menschlichen Geisteslebens kann als eine Art der Sprache aufgefaßt werden“ (GS II, 140), auch hier - trotz aller Sympathie für die Leistungen dekonstruktiver Lektüreversuche mit ihrer Affinität zum ‚linguistic turn‘ und seinen Folgen - Vorsicht gegenüber allzu raschen Pauschalisierungen und Setzungen walten lassen. 3 Man muss dennoch einräumen, dass die wichtige Stellung, die der Sprache für das Denken Benjamins eingeräumt wird, evident und richtig ist. Die Frage, die im Kontext der hier verfolgten Fragestellungen nun wichtig wird, ist jene nach dem Sprachanfang und der Grenze der Sprache. Sind diese beiden Momente, die zur Sprache zu gehören scheinen, aber nur als bereits Vergangene aktualisiert werden können, anders als aporetisch beschreibbar? Außerdem stellt sich auch die Frage nach einer möglichen Verbindung der Sprache mit dem Bild, wenn das Bild ebenfalls als etwas aufgefasst wird, das in seiner komplexen Logik an der Grenze zur Sprache angesiedelt ist. Ist der sprachliche Anfang der Menschheit oder eines einzelnen Menschen quasi nachträglich, philosophisch oder literarisch, in eine adäquate sprachliche Form zu bringen? 2 Vgl. dazu auch den Handbuchtext von Uwe Steiner über „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, v.a. die Seiten 594 f. In: Burkhart Lindner (Hrsg.), Benjamin-Handbuch, S. 592-603. 3 Vgl. zu diesem Punkt auch Michael Pauen, Eros der Ferne, S. 702, Fußnote 45. Pauen hält fest, dass gewisse Akzente der Benjaminschen Sprachphilosophie eine „auffallende Ähnlichkeit mit dekonstruktivistischen Ansätzen“ aufwiesen, dass Benjamin aber anders als diese keineswegs „jene ‚reine Medialität‘ die Bettine Menke festzustellen glaubt“ propagiere, sondern auf eine „Restitution jenes ursprünglichen Einvernehmens“ zwischen Erscheinung und Wesen abziele. Pauen meint, in diesem Punkt Benjamins Messianismus als Fluchtpunkt dieser Perspektive heranziehen zu können. Gleichwohl ist ihm hier zu widersprechen. Selbst wenn es sich beim Messianismus um einen Fluchtpunkt handeln sollte, so ist die Annahme dennoch verkehrt, Benjamin wolle die adamitische Namensprache restituieren. Der Sündenfall der Sprache ist für Benjamin ein irreduzibles Ereignis, das sich nicht ungeschehen machen lässt. Benjamins ‚Messianismus‘ weist übrigens tatsächlich Parallelen zur Dekonstruktion auf, die auch Jacques Derrida nicht verborgen geblieben sind, wie nicht zuletzt in „Marx‘ Gespenster“ deutlich wird. Vgl. Jacques Derrida, Marx Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, aus dem Französischen von Susanne Lüdemann, Frankfurt am Main 2004, S. 82 f. zu Benjamin und besonders S. 107 ff. zum Derridaschen „Messianismus ohne Messias“. 2.1. Metaphysisch-spekulative Thesen zum Sprachursprung 37 Dass diese Fragen - die nicht von rein strukturalistischen oder abstrakt sprachphilosophischem Interesse sind, sondern mit ihrem Bezug zu ontowie phylogenetisch ‚frühen‘ sprachlichen Ausdrucksversuchen auch eine anthropologische Färbung aufweisen - auch für den frühen Sprachaufsatz relevant sein könnten, zeigt eine Spur, die erst in jüngerer Zeit vermehrt in den Fokus der Forschung geraten ist. So halten Michael Pauen wie auch Georg Dörr fest 4 , dass die frühe Sprachphilosophie Benjamins, trotz ihrer theologischen Akzente, die wohl untersucht sind, eine Nähe zur Philosophie Ludwig Klages’ aufweisen. 5 Das würde wiederum bedeuten, dass auch die ‚späte‘ Sprachphilosophie Benjamins, wo die Mimesis eine zentrale Rolle spielt, zumindest in diesem unterschwellig mittransportierten Diskurs eine Parallele zur ‚frühen‘ aufweist. Denn Klages bleibt im Denken Benjamins, ob als Stichwortgeber oder als negative Referenz, eine nicht zu unterschätzende Figur. Selbst wenn in den nun folgenden Abschnitten die metaphysischen und strukturellen Aspekte der Benjaminschen Sprachphilosophie eine stärkere Gewichtung erfahren, wird jene angesprochene ‚anthropologische‘ Dimension mitbedacht werden müssen. 4 Vgl. Michael Pauen, Eros der Ferne. Walter Benjamin und Ludwig Klages, in: Klaus Garber u. a. (Hrsg), Global Benjamin. Band. 2. München: Wilhelm Fink 1999. S. 693- 716 und Georg Dörr, Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007. 5 So erinnert der weiter oben zitierte Satz Benjamins, dass jede menschliche Geistesäußerung eine Art Sprache ist, durchaus an Sätze, die man in Ludwig Klages‘ Buch „Der Geist als Widersacher der Seele“ findet, das Benjamin gelesen hat. Vgl. beispielsweise die gegen den ‚Geist‘ gerichtete These Klages‘ in „Der Geist als Widersacher der Seele“, 3. Band, 1. Teil, Die Lehre von der Wirklichkeit der Bilder, Leipzig 1932, S. 1165: „Allein nicht nur das wünschen wir zu vertreten, daß keine wie immer geartete Denktätigkeit ohne virtuelles Sprechen geschehe, sondern darüber hinaus, daß Denktätigkeit durch und durch nichts als eine Art und Weise des Sprechens sei! “ Vgl. auch S. 1167: „Damit schwand vollends das Wissen dahin, daß mit dem wenigen, was der einzelne Denker zum Gedankengute der Menschheit hinzubringt, er weitaus das beste einer Sprache verdankt, die durch ihn dachte. ‚Philosophieren ist Deutungsversuch der Wortmagie.‘“ Das ist ein äußerst starkes Statement für die Bedeutung der Sprache für das Denken und die Philosophie. Im Begriff der ‚Wortmagie‘ klingt dabei die bildliche Dimension der Sprache an. Nicht uninteressant ist nämlich auch, dass auf denselben Seiten, von denen die Zitate stammen, bei Klages immer wieder mal der Begriff ‚Aura‘ auftaucht: ein Begriff, der in der kulturwissenschaftlichen Diskussion sehr stark mit Benjamin assoziiert wird. Parallelen zwischen Klages und Benjamin sind also bis in den Wortlaut feststellbar. Es muss gezeigt werden, inwiefern sich die Bedeutung der Begriffe unterscheidet. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 38 2.2. Philosophie des Namens Eine zentrale Stellung in den Benjaminschen Überlegungen zur Sprache in seinem frühen Sprachaufsatz nimmt zweifellos der Name ein. Der Mensch als Namengeber wiederum nimmt in diesem quasitheologisch argumentierenden Aufsatz eine herausragende Stellung ein, weil er durch diesen Umstand als Vollender der göttlichen Schöpfung fungiert. Ein Ding oder eine Sache an sich hat nach Benjamin nämlich kein Wort, sondern „geschaffen ist sie aus Gottes Wort und erkannt in ihrem Namen nach dem Menschenwort“ (GS II, 150). Der menschliche Name ist ein Echo des göttlichen Worts, das eigentlich schöpferisch ist und im menschlichen Namen empfangend wurde. Benjamin schreibt, dass das ‚sprachliche Wesen’ des Menschen darin bestünde, alle Dinge zu benennen, ihnen also einen Namen zu geben, denn nur die menschliche Sprache sei eine benennende (GS II, 143). Dabei geht Benjamin davon aus, dass die Dinge sich dem Menschen mitteilten, da er sie nur so benennen könne. Der Mensch selbst teile sich im Namengeben aber ebenfalls mit, und zwar Gott. Hier setzt eine zentrale Auffassung der Benjaminschen Sprachphilosophie an, weil diese Mitteilung des ‚geistigen Wesens’ im Namen nämlich nicht durch den Namen geschieht, sondern in ihm. Damit wehrt sich Benjamin gegen eine instrumentelle Auffassung des Namens und der Sprache: Der Name hat im Bereich der Sprache einzig diesen Sinn und diese unvergleichlich hohe Bedeutung: daß er das innerste Wesen der Sprache selbst ist. Der Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt. Im Namen ist das geistige Wesen, das sich mitteilt, die Sprache. (GS II, 144) Die Sprache ‚schlechthin’ - eigentlich ist damit die Sprache gemeint, in der geschaffen wurde - wird bei Benjamin zum ‚geistigen Wesen’ des Menschen und somit restlos mitteilbar - diese Mitteilbarkeit markiert aber ebenfalls bloß einen virtuellen Zustand, keinen aktualisierten. 6 Benjamin vertritt hier demnach eine sehr starke Auffassung der Sprache, die den Menschen und seine Ausdrucksmöglichkeiten - auch wenn Gott ihn „nicht aus dem Wort geschaffen“ und „nicht benannt“ hat (GS II, 149) - so mitkonstituiert, dass sie selbst nicht einfach ein Mittel zur Mitteilung wird, über das der 6 Samuel Weber hat das in mehreren Aufsätzen und Büchern auszuarbeiten versucht. Vgl. Samuel Weber, Virtualität der Medien, In: Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 35- 49; Samuel Weber, Benjamin’s ‚abilities’: Mediality and Concept Formation in Benjamin’s Early Writings, in: Daniel Weidner und Sigrid Weigel (Hrsg.), Benjamin- Studien 1, München 2008, S. 75-89; Samuel Weber, Benjamin’s -abilities, Cambride 2008. 2.2. Philosophie des Namens 39 Mensch instrumentell verfügt. Der Mensch fällt mit der Sprache zusammen und kann sich eben nur in ihr mitteilen. Mit einer etwas kryptisch anmutenden Formulierung schreibt Benjamin auch, dass Gott den Menschen nicht der „Sprache unterstellen“ wollte, sondern dass er die „Sprache, die ihm als Medium der Schöpfung gedient hatte, [im Menschen] frei aus sich [entließ]“ (GS II, 149). Das Schöpferische überließ Gott im Menschen sich selbst, es wurde damit seiner Aktualität entledigt, und wurde Erkenntnis. Der Name fungiert in diesem Komplex als ‚Sprache der Sprache’, als eine Art Sockel, in dem der Mensch sich durch Erkenntnis, sprich durch Benennung der Dinge Gott mitteilt. Im Namen fallen demnach zwei Seiten der Sprache zusammen, eine intensive Seite, die man auch als ihre virtuelle bezeichnen könnte, in der die Sprache in einer paradoxen Synthese von Totalität und absoluter Singularität verbleibt - und schöpferischen Charakter hat -, und eine eher extensive Seite, in der ein konkreter Name aktualisiert wird und - trotz dieses situativen Einsatzes - von der Singularität zum Allgemeinen strebt. Der menschlichen Sprache wird innerhalb dieser Argumentation eine Ausnahmestellung zugesprochen, weil der Mensch sich im Namen Gott restlos mitteilen kann. Das Intensive, Virtuelle der Sprache ist ihr geistiges Wesen, welches im extensiven, aktualisierten Namen einen Ausdruck für Gott erfährt, und es beschert dem Menschen seine Sonderstellung. Das Mitteilende (Benennende) und das Mitteilbare (Namen) sind Sphären, die nur in der Namensprache des Menschen „rein geschieden und doch vereinigt“ sind (GS II, 146). Bei der Sprache der Dinge verhält es sich anders. Die Sprache der Dinge kann das Virtuelle nur unvollkommen aktualisieren, weil sie sich an den Menschen richtet und nur indirekt an Gott. Der Sprache der Dinge fehlt das, was vorher als Möglichkeit der Mitteilung einer Totalität skizziert wurde. Das Ding hat keine Namensprache, die die Sphären des Intensiven wie Extensiven in ihrer Geschiedenheit und gleichzeitigen Koexistenz auszudrücken vermag. Beide Sphären sind in der Dingsprache vermischt und unvollkommen. Das Ding wird in der ‚Form’ eines menschlichen Gattungsnamens benannt, der den Gegenstand seiner Singularität beraubt. 7 7 So lässt sich auch Benjamins Beispiel mit der Lampe verstehen, dem Thomas Schestag einen erhellenden Aufsatz gewidmet hat (vgl. Thomas Schestag, Lampen, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.), Übersetzen. Walter Benjamin, Frankfurt am Main 2001, S. 38-79). Benjamin schreibt - und man beachte im Zusammenhang mit der Lampe die Verwendung der ‚Schein’-Lexeme -: „Die Sprache teilt das sprachliche Wesen der Dinge mit. Dessen klarste Erscheinung ist aber die Sprache selbst. Die Antwort auf die Frage: was teilt die Sprache mit? lautet also: Jede Sprache teilt sich selbst mit. Die Sprache dieser Lampe z.B. teilt nicht die Lampe mit (denn das geistige Wesen der Lampe, sofern es mitteilbar ist, ist durchaus nicht die Lampe selbst), sondern: die Sprach-Lampe, die Lampe in der Mitteilung, die Lampe im Ausdruck. Denn 2. Zur frühen Sprachphilosophie 40 Vielleicht ist deshalb nach Benjamins Auffassung die Natur von einer „namenlosen stummen Sprache durchzogen“, welche als „Residuum des schaffenden Gotteswortes“ im Menschen als „erkennender Name und über dem Menschen als richtendes Urteil schwebend sich erhalten hat“ (GS II, 157), weil nämlich der menschliche Name in Bezug auf die Natur - als Gattungsname - kontaminiert ist. Das Urteil - archetypisch in den Modi Gut und Böse richtend - verfährt dialektisch und hält sich an Gesetze, die der Ordnung der Repräsentation entsprechen: gerade damit aber hat sich der Mensch unter die Herrschaft des Mythos begeben und in die Situation der Unmöglichkeit souveräner Entscheidungen manövriert. 8 Im erkennenden Namen liegt hingegen für den Menschen aber auch die Möglichkeit, einen Reflex des schaffenden Gottesworts zu empfangen: „Im Namen ist das Wort Gottes nicht schaffend geblieben, es ist an einem Teil empfangend, wenn auch sprachempfangend, geworden.“ (GS II, 151) Die Sprache der Dinge geht in der Übersetzung in die Sprache des Namens und der Erkenntnis über, was bedeutet, dass dem Menschen als Reflex dieser Empfängnis imperativisch die Aufgabe der Übersetzung als Affirmation der Schöpfung und des Werdens zugeteilt ist. Weil der Mensch die Dinge erkennt und benennt, unterhält er zwar eine Beziehung zum schaffenden Wort Gottes, doch ist das Menschenwort freilich nicht in der Reinheit des Gotteswortes schaffend. Das Menschenwort aktualisiert, es bestimmt und in der Sprache verhält es sich so: Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache. Das Verständnis der Sprachtheorie hängt davon ab, diesen Satz zu einer Klarheit zu bringen, die auch jeden Schein einer Tautologie in ihm vernichtet.“ (GS II, 142) Wie hier ersichtlich wird, sind wir mit der Lampe wieder in einem Bereich des Scheins angelangt. Da der Sprache der Dinge zwischen Virtuellem und Aktuellem keine scharfe Trennung eignet, kommt es der aktualisierten Lampe zu, die Beziehung auf das immanente, geistige Wesen - in seiner Beziehung zum Menschen - über die Ordnung der Repräsentation auszudrücken. Das bedeutet, dass die Dingsprache Sprache überhaupt nur unvollkommen ausdrückt, nämlich sofern es ihr möglich ist, also im Schein. Das sprachliche Wesen wird scheinbar zum Abbild des geistigen, sodass der Schein einer Identität und Differenz erzeugt wird. Erst die Sprachlosigkeit - die stumme Trauer der Natur - lässt den Schein erscheinen, der die scheinbare Identität zwischen den beiden Sphären auflöst, und zeigt die Herrschaft der Gattung über die Differenz auf. („Doch noch tiefer führt in das Wesen der Natur die Umkehrung dieses Satzes ein: die Traurigkeit der Natur macht sie verstummen. Es ist in aller Trauer der tiefste Hang zur Sprachlosigkeit, und das ist unendlich viel mehr als Unfähigkeit oder Unlust zur Mitteilung.“) (GS II, 155) 8 Der ‚Mythos’ wird bei Benjamin immer wieder thematisiert, im Zusammenhang mit der Sphäre des Rechts in Texten wie „Schicksal und Charakter“ und „Zur Kritik der Gewalt“. Der Mythos fungiert dabei häufig als eine Art Schuldzusammenhang, in den der Mensch seit dem Sündenfall verstrickt ist. Zunächst sei auf Winfried Menninghaus’ Buch „Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos“ (Frankfurt am Main 1986) verwiesen, das zahlreichen Facetten des Mythos-Begriffs bei Benjamin nachspürt. Diese Thematik wird nochmals im Kapitel zu Benjamins Kafka-Lektüre aufgegriffen. 2.2. Philosophie des Namens 41 differenziert, aber dadurch, dass es auch in einem Teil empfangend ist, vermag es die Einmaligkeit und Spontaneität der Schöpfung nicht zu wiederholen, sondern zielt mittels der (intentionalen) Erkenntnis an dem Moment vorbei, welches das geistige Wesen oder die Idee eines Dings ausmacht. 9 Das Heraustreten aus der ‚reinen Sprache‘ des Namens ist ein sprachlicher ‚Sündenfall‘, der die babylonische Sprachverwirrung vorwegnimmt: Indem der Mensch aus der reinen Sprache des Namens heraustritt, macht er die Sprache zum Mittel (nämlich einer ihm unangemessenen Erkenntnis), damit auch an einem Teile jedenfalls zum bloßen Zeichen; und das hat später die Mehrheit der Sprachen zur Folge. (GS II, 153) Dass der Name im Sündenfall aus sich heraustritt, sozusagen transzendent wird, nämlich im Wort, das etwas außer sich mitteilt, verbindet ihn automatisch auch mit dem Zeichen, das eine weitere Ebene der Transzendenz darstellt und keine unmittelbar intentionale Beziehung mehr zum Wesen des Gegenstands unterhält. Dadurch wird ein Verweissystem erstellt, das, wie weiter oben geschrieben, - transzendierend - durch sich über sich selbst hinausweist, gerade deshalb am Moment der Schöpfung vorbeizielt und die Dinge in ihrer Singularität nicht zu erfassen vermag: ‚Überbenennung’ ist innerhalb dieses argumentativen Zusammenhangs die logische Folge des Sprachzustands nach dem Sündenfall. „Überbenennung als tiefster sprachlicher Grund aller Traurigkeit und (vom Ding aus betrachtet) allen Verstummens.“ (GS II, 155). Obwohl die Dinge ‚überbenannt’ sind, der Mensch also an ihnen ‚vorbei’ benennt, ist Benennung für ihn eine Art Erkenntnisakt, durch den er eine sprachliche Erfahrung macht, die ihn an der göttlichen Schöpfung teilhaben lässt. Der Name ist demnach wirklich ein sprachliches Schwellenphänomen, in der der Mensch in ein nahes Verhältnis zur schöpferischen Sprache tritt, die einer mittelbaren Annäherung versagt bleiben muss („Die Theorie des Eigennamens ist die Theorie von der Grenze der endlichen gegen die unendliche Sprache.“ GS II, 149). 9 Benjamin versucht in einigen Begriffsklärungen zu bestimmen, wie sich etwa der Begriff der ‚Intention’ bezüglich der Wortarten völlig unterscheiden kann. Denn auch dem ‚reinen Namen’ wohnt eine Intention inne - er ist zwar etwas an der Sache selbst, aber er bezieht sich auf ihr Wesen, sozusagen auf die Sache in ihrer Virtualität. Das bedeutende Wort hingegen enthält den Namen, bezieht sich aber nur noch undeutlich auf das Wesen einer Sache (es ist gegenüber der Sache aktuell, es verkörpert sie in Teilen, ähnelt ihr aber nicht). Das Zeichen gar, die Aktualisierung des Worts, bezieht sich überhaupt nicht mehr auf die Sache, sondern nur noch auf das Bedeutende, sprich das Wort (das Bezeichnete) - dem Zeichen fehlt demnach im Verhältnis zur Sache die Unmittelbarkeit (vgl. GS VI, 12), es ist nur noch indirekt mit ihr verbunden. Diese Auffassung deckt sich durchaus mit der linguistischen Theorie strukturalistischer Prägung. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 42 Es ist schon von Interpreten des Textes darauf hingewiesen worden, dass der Titel des frühen Sprachaufsatzes, der zweimal das Wort „über“ enthält, diese Überbenennung fast schon prospektiv und echohaft simuliert. Und es liegt nahe, diese Alliteration auch in die Nähe der Kindersprache und des produktiven Missverständnisses zu bringen, das dem Kind die Welt auf eine positive Weise verstelle, wie es in seinem Text über die ‚Mummerehlen‘ in der ‚Berliner Kindheit‘ heißt. 2.3. Ludwig Klages’ „Bilder“ Mit diesen Äußerungen, die eine Verstellung des Unmittelbaren und eine Bewegung hin zum Mittelbaren zeichnen, das dennoch keine wirkliche Herrschaft über die Schöpfung garantiert, bewegt sich Benjamin in einer gewissen Nähe zu Klages. Denn er hält deutlich eine Bewegung fest, die eine Entwicklung der Sprache vom ‚konkreten‘ Namen hin zum ‚abstrakten‘ Zeichen konstatiert. 10 Man könnte auch sagen, dass - analog zum biblischen Bilderverbot - eine Entwicklung vom Sinnlichen zum Geistigen stattfindet. Bei Klages wird diese Entwicklung kritisch diagnostiziert und bewertet. Seine Unterscheidung von ‚Ausdruck‘ und ‚Mitteilung‘, die sich einerseits auf den Namen als Instanz des Ausdrucks, andererseits auf das Zeichen als Mitteilungsträger bezieht, ist auch, wie Michael Pauen gezeigt hat, in Benjamins Sprachphilosophie zu finden. 11 Bei Klages ist ‚Ausdruck‘ ein zentraler Terminus. Auf diesen Begriff stößt man bei ihm selbst in Buchtiteln, etwa in „Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft“ (Leipzig 1913), ein relativ breit rezipiertes Buch mit meh- 10 Vgl. GS II, 134: „Die abstrakten Sprachelemente aber […] wurzeln im richtenden Worte, im Urteil. Die Unmittelbarkeit (das ist aber die sprachliche Wurzel) der Mitteilbarkeit der Abstraktion ist im richterlichen Urteil gelegen. Diese Unmittelbarkeit in der Mitteilung der Abstraktion stellte sich richtend ein, als im Sündenfall der Mensch die Unmittelbarkeit in der Mitteilung des Konkreten, den Namen verließ und in den Abgrund der Mittelbarkeit aller Mitteilung, des Wortes als Mittel, des eitlen Wortes verfiel, in den Abgrund des Geschwätzes.“ 11 In seinem Moskauer Tagebuch, so um 1927, schreibt Benjamin: „Ich mußte ihm aber dennoch Gedanken entgegenhalten, welche seit meiner lange zurückliegenden Schrift über ‚Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen‘ mir niemals zweifelhaft geworden sind: ich verwies ihn auf die Polarität aller sprachlichen Wesenheit: Ausdruck und Mitteilung zugleich zu sein. Hier mußte anklingen, was über ‚Sprachzerstörung‘ als eine Tendenz der gegenwärtig[en] russischen Literatur von uns schon oft war berührt worden. Denn die rücksichtslose Ausbildung des Mitteilenden in der Sprache führt eben unbedingt auf Sprachzerstörung hinaus. Und auf anderem Wege endet dort, nämlich im mystischen Schweigen die Erhebung ihres Ausdruckscharakters ins Absolute. Die aktuelle Tendenz von beiden scheint augenblicklich die auf Mitteilung mir zu sein.“ (GS VI, 330 f.) Vgl. dazu auch Michael Pauen, Eros der Ferne, S. 700 f. 2.3. Ludwig Klages’ „Bilder“ 43 reren Auflagen, das auch von Benjamin gelesen wurde. ‚Ausdruck‘ meint ein auf den ‚Leib‘ und die ‚Seele‘ bezogenes Kommunikationsmoment. ‚Leib‘ und ‚Seele‘ sind Grundkategorien des Klages’schen Denkens: „Der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele der Sinn des lebendigen Leibes.“ 12 Klages erklärt dieses Verhältnis selbst mit einer Analogie zur Sprache und zum Zeichen - unschwer lässt sich aus dieser Opposition, trotz der schwülstigen Begriffe, das Verhältnis von Signifikant und Signifikat erkennen. Sowie der Sprachlaut das Zeichen eines Begriffs darstelle - der Begriff also das vom Laut Bezeichnete sei -, so sei der lebendige Leib, analog zum Verhältnis von Zeichen und Begriff, als Erscheinung der Seele aufzufassen. Diese Analogie bedeutet, dass „den Vorgängen des lebendigen Leibes die seelische Wallung, die in ihnen sich äußert“, abgelesen werden könne. 13 Ganz richtig ist demnach die obige Bemerkung, man könne Leib und Seele mit Signifikant und Signifikat zusammenbringen, nicht. Denn bei Klages geht es natürlich nicht um ein semiotisches Verhältnis zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem. Sein ‚Ausdrucksbegriff‘ richtet sich gerade gegen Konvention und Arbitrarität. Das Ausdrucksvermögen des Leibs übersteigt eine instrumentelle Kommunikationsbewegung, die die sprachlichen Zeichen als durch ein rationales Subjekt beherrschbare Vehikel begreift. ‚Seelische Wallungen‘, die der ‚lebendige Leib‘ ausdrückt, übersteigen die Ratio und den Willen eines Einzelnen. Wenn Klages auch den Ausdruck zum ‚Gesetz‘ erhebt, so möchte er den Gesetzesbegriff streng von einem naturwissenschaftlichen unterschieden wissen. Der seiner Meinung nach auf ein Ursache-Wirkung-Schema abzielende naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff ist für Klages nämlich zu sehr dem Verstand 14 , also dem ‚Geist‘ zuzuschlagen, und dieser fungiert bekanntlich als Widersacher der ‚Seele‘: 12 Vgl. Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, 2. Auflage, Leipzig 1921, S. 16. 13 Ebd. S. 17. 14 Folgt man Hans Blumenberg, könnte man Klages‘ kritische Haltung gegenüber den Naturwissenschaften und die Emphase, mit der er - mit Bachofen - stattdessen dem Mythos huldigt , durchaus als naiv bezeichnen: denn er vergisst via ‚Arbeit am Mythos‘, das dieser einst selbst im Dienste der Naturbeherrschung gestanden hat. Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 2001, S. 15, über Ernst Jüngers ‚Marmorklippen‘: „Zugleich zeigt der Kunstmythos der ‚Marmorklippen‘, dass alles, was der Mensch durch die Erfahrung seiner Geschichte schließlich durch Erkenntnis an Herrschaft über die Wirklichkeit gewonnen hat, ihm die Gefährdung, ja die Sehnsucht nicht nehmen konnte, auf die Stufe seiner Ohnmacht, gleichsam in die archaische Resignation zurückzusinken. Damit jedoch dieses Zurücksinken nicht nur möglich, sondern zum Inbegriff neuer Wünsche wurde, musste etwas vergessen worden sein. Dieses Vergessen ist die Leistung der Distanz durch ‚Arbeit am Mythos‘ selbst. Sie ist Bedingung für alles, was diesseits des Schreckens des Absolutismus der Wirklichkeit, möglich wurde. Zugleich ist es Bedingung auch dafür, dass der Heimkehrwunsch in die archaische Unverantwortlichkeit der schlechthinnigen Preisgabe 2. Zur frühen Sprachphilosophie 44 Wer Bewegungsgestalten und Raumformen kennzeichnen will, findet sich unversehens in eine Kennzeichnung von Seeleneigenschaften verstrickt, weil Formen und Bewegungen als Seelenerscheinungen erlebt worden sind, ehe sie aus dem Gesichtspunkt der Gegenständlichkeit vom Verstande beurteilt werden, und weil die sprachliche Verlautbarung der Sachbegriffe nur durch Vermittlung von Eindruckserlebnissen stattfindet. Dieser Punkt ist von höchster Wichtigkeit; denn er ermöglicht es, die Formel des Ausdrucks zu entfalten allein schon vermöge einer Betrachtung der Namen. 15 Es wird hier ziemlich deutlich gemacht, was positiv und was negativ zu bewerten ist: Das Verhältnis von Seele, Leib und Leben bildet einen Ausdruck, der in der Lautsprache am ehesten mit dem Namen in Verbindung gebracht werden kann, weil der klassische Eigenname - durch die Einmaligkeit des Benannten - die Semiotik unterläuft. Stattdessen gibt es ein Verständnis des Eigennamens, das ihm einen ‚immanenten‘ Sinn zuspricht, der das Band einer bildhaften Ähnlichkeit zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem knüpft. Als Opponenten des Namens fungieren der Verstand, das Urteil, der Begriff; - diese Trias wird mit den Naturwissenschaften in Verbindung gebracht, die wohl wenig mit der Seele und dem Lebendigen im Sinne Klages’ anfangen können dürften. Was versteht Klages also unter einer ‚Betrachtung‘ der Namen? Er versucht tatsächlich, im Stile Sokrates‘, zumindest so wie er im Platonischen Dialog „Kratylos“ geschildert wird, die Namen auf ihre ‚natürliche‘ Bedeutung hin zu befragen. Oder wie Klages selber sagt, er nimmt die Namen ‚wörtlich‘. Ohne näher zu bestimmen, auf was er anspielt, sagt Klages selbst, er praktiziere eine „Methode des Wörtlichnehmens der Namen“, die bereits den „Griechen geläufig war“. Es sind Konventionen oder die Arbeit des Verstands, die für Klages in gewisser Weise die ‚ursprüngliche‘ Bedeutung eines Worts verwässerten - deswegen lohne sich die „wahrhaft erleuchtende Kraft einer Betrachtung der Namen“. Damit meint er aber eigentlich nicht bloß ‚Eigennamen‘, sondern mit Vorliebe sonstige ‚Abstrakta‘, die er anhand einer Rückbindung ans Sinnliche zu konkretisieren versucht. Nicht zufälligerweise trifft die Diagnose eines Bedeutungsverfalls auch auf ein Wort zu, dass für Klages von besonderer Bedeutung ist, weil es unmittelbar mit der Seele, dem Leib, dem Namen, dem Ausdruck zusammenhängt - die Rede ist vom ‚Bild‘: an Mächte, denen nicht widersprochen werden kann, nicht widerstanden zu werden braucht, an die Oberfläche des Bewusstseins zu dringen vermag.“ 15 Vgl. Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 18, Sperrungen im Original. 2.3. Ludwig Klages’ „Bilder“ 45 Während man dergleichen Wörter nutzbar machte, ließ man dagegen unverwertet die wohl noch folgenreicheren Fingerzeige, die uns ‚einbilden‘ und ‚Einbildung‘ zu geben vermögen. Wir betreten mit ihnen eine Erlebniszone, von der wir die unmittelbare Kenntnis zu verlieren beginnen. Vom anschaulichen Vergegenwärtigen, das damals den Platz unseres ‚Vorstellens‘ innehatte - noch bei Lessing lesen wir ‚bildet euch meinen Schrecken ein‘ statt ‚stellt ihn euch vor‘ - gingen für ein lebensvolleres Bewußtsein so ungemein starke Wirkungen aus, daß es den Bildern die Realität von Körpern lieh, die gleich den Keimen einer ansteckenden Krankheit von Person zu Person übertragbar seien. 16 Hier geht es für Klages um ziemlich viel. Bereits an der Bedeutungsverstellung des Begriffs ‚Bild‘ rekonstruiert er, dass nicht nur eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden hat, sondern auch eine Veränderung der Wahrnehmung oder der Wahrnehmungsdisposition. ‚Einbilden‘ oder ‚Einbildung‘ - es gibt wohl kaum Begriffe, die rund um die philosophische Vermögenstheorie schwerer einzuordnen sind, gerade weil die ‚Einbildungskraft‘ auf der Schwelle von Eindruck und Ausdruck steht - geben noch Fingerzeige, vermögen aber nicht mehr wirklich jene ursprüngliche sinnliche oder leibliche Dimension zu evozieren, die Klages mit ihnen verbindet. Durch diesen Zusammenhang kann nur klar werden, weshalb einer der zentralen Begriffe der Klages’schen Philosophie jener der ‚Schauung‘ ist. 17 In Klages’ Ausführungen klingen immer wieder platonische Begriffe an. Auch die Unterteilung der Welt in ‚phänomenale‘ und ‚noumenale‘, die Dreiteilung des Lebens in ein geistiges, ein seelisches und ein leibliches, 16 Vgl. Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 20. 17 Vgl. Ludwig Klages, Vom Kosmogonischen Eros, München 1922, S. 77 f., Hervorhebungen im Original: „Wir tun daher zum Verständnis des Wesens der Ekstasis den, wenn nicht bereits entscheidenden, so doch alles weitere vorbestimmenden Schritt, wofern wir erkunden, wodurch vom willkürbaren Wahrnehmungsakt, der uns Dinge gibt, verschieden sei die jedenfalls nur erleidbare Schauung sich ereignender ‚Bilder‘. Ich kann eine schöne Landschaft, die ich genossen habe, nicht mit mir nehmen; aber ich kann mir von ihr eine ‚Vorstellung‘ machen, nämlich auf Grund des in mir lebendigen Bildes von ihr. Während die gegenständliche Landschaft als selbige Sache bleibt, wo sie ist, wandert ihr Bild mit den tausenden von erlebenden Eigenwesen, die ihres Anblicks teilhaftig wurden, und zwar sowohl in jedem schon an und für sich ein anderes als auch hin-wieder ein anderes je nach den Beleuchtungsfarben, Geräuschen, Bewegungen des geschauten Urbildes. Ziehen wir von der Vorstellung die geistige Tätigkeit des Vorstellenden ab, verleihen wir also dem Bilde die Eigenherrlichkeit eines Traumgesichtes, das dem Traumschauenden gleichwie ein Wirkliches begegnet, und denken wir endlich dieses nicht so sehr durch die Seele des Empfängers bedingt als im Vorbilde selber begründet, so haben wir in ihm die Darstellungsform des Allgeschehens, die im Nachtbewußtsein des Ekstatikers und im Bewußtsein überhaupt des ursprünglichen Menschen über die Welt der Tatsachen herrschte.“ 2. Zur frühen Sprachphilosophie 46 ebenso wie eine analoge kosmische Dreiteilung, ist in gewisser Weise ein Platonismus. Dennoch legt auch Platon für Klages den Akzent zu wenig auf die Seele und die ‚Anschauung‘ der Urbilder, die durch sie gewährleistet werden soll. Platon ist Klages zu sehr dem ‚Geist‘ verhaftet, gilt ihm aber als Vorbereiter seiner eigenen Lehre: „Rückhaltlos dagegen dürfen wir zugestehen, daß Platon den Herzpunkt alles Erlebens kannte und in Wahrheit der große Erotiker war, als den er seinen Sokrates schildert: mußte er deshalb doch, um sein Ziel der Entwertung des Leibes zu erreichen, in den seienden Geist hinüberverpflanzen, was wirklich und zwar allein der vergänglichen Seele eignet! “ 18 Klages wendet Platon gegen sich selbst, wenn er sagt, dass gerade seine ‚logozentrische Lehre‘ das „stärkste Zeugnis für die Beschaffenheit der Seele“ ablege. Klages erstellt im Grunde eine Kulturgeschichte der Haltungen verschiedener Denker und Epochen gegenüber seinen eigenen Grundproblemen. Er spürt in der Geschichte des Denkens nach, wie Materie, Seele und Geist in den Denksystemen verortet werden. Stationen, die für ihn besonders wichtig sind, stellen Goethe, Bachofen, Nietzsche und Schuler dar. Goethes Interesse für die ‚Urphänomene‘ bildet für Klages eine Vorstufe auf dem Weg zu den ‚Ur-Bildern‘; - im Gegensatz zur ‚geist‘lastigen Naturwissenschaft (Newton) ist Goethes Forschungsinteresse durch die Wahrnehmung geleitet „und somit bei seiner weltzugekehrten Sinnlichkeit das (visuelle) Anschauungsbild, auf das sich jedes seiner Wahrworte rückbezieht“ - Goethes Naturstudien haben mit anderen Worten einen Bezug zum Leben 19 , zum ‚Erlebten‘. 20 Dieses ‚Erleben‘, das, wie oben angedeutet 18 Vgl. Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, S. 865. Ebenfalls dort steht: „Es hilft nichts, daß Platon, die ‚transzendentale Synthesis‘ vorbereitend, den Begriff der ‚Synopsis‘ prägt, um vom Denken der Begriffe zum Schauen der Bilder die Brücke zu schlagen: auch wer ihn an Scharfsinn und Künstlichkeit der Dialektik noch hundertfach überböte, würde uns niemals beweisen, daß der Akt des Begreifens ein Erlebnis des Schauens, der Sinn des Begriffes ein Bild und die Tätigkeit des Abstrahierens eine Form des Erinnerns sein. Anamnesis, Eros und Opsis sind mit dem Geiste ebenso unverträglich wie etwa Feuchtigkeit, Farbe und Schwere mit den Figuren der Geometrie! “ 19 Bei Benjamin selbst klingt es ähnlich. In einer Notiz, die die Herausgeber der Gesammelten Schriften auf 1917/ 1918 datieren und die sich hauptsächlich mit Goethe und dem Symbol beschäftigt, schreibt er: „Wahrnehmung ist in den beschreibenden Naturwissenschaften konstitutiv. Das heißt: in der Physik und Chemie läßt sich im theoretischen Bezirk von der Anschaubarkeit abstrahieren, in den biologischen Wissenschaften nicht. Wo es sich um das Leben handelt, handelt es sich um Anschaubarkeit, um Wahrnehmung. Im Leben liegt ein Moment irreduktibler Wahrnehmung, im Gegensatz zu den physikalischen und chemischen Phänomenen.“ (GS VI, 38) Es lässt sich außerdem festhalten, dass Benjamin Goethe und sein ‚Urphänomen‘ stark über Georg Simmel rezipiert hat (vgl. GS I, 954), deswegen ist eine terminologische Nähe zu Klages nicht überraschend. 20 Vgl. Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, S. 889. 2.3. Ludwig Klages’ „Bilder“ 47 wurde, mit dem ‚Ausdruck‘ zu verbinden ist, steht dem ‚Begreifen‘ entgegen, das der begrifflich vorgehende ‚Geist‘ auf dem Weg zur Erkenntnis vornimmt. Goethe stößt quasi intentionslos auf die ‚Wahrheit‘, unterwirft sie sich nicht mit technisch-rationalen Mitteln. Es wird demnach an dieser Stelle eine Unterscheidung reproduziert, die auch in Benjamins Auffassung der Sprache als Medium einerseits, als Mittel andererseits, einen Widerklang findet. Ebenso könnte man diese Unterscheidung auch auf die Sprachzustände vor dem Sündenfall und nach dem Sündenfall beziehen. Dennoch ist Vorsicht angesagt, denn gleichsetzen mit Klages’ Lebensphilosophie lässt sich Benjamins Sprachphilosophie nicht 21 , auch wenn sich terminologische und strukturelle Anleihen in der Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der Romantik, in der Arbeit über die Wahlverwandtschaften 22 und im Trauerspiel leicht finden lassen. Klages’ Gewährsleute und er selbst, bilden, grob gesagt, dennoch wichtige Fixpunkte in Benjamins Denken, nur wird das von Benjamin nicht wirklich deutlich gemacht - Klages’ Name fällt in Benjamins Texten nicht oft, vielleicht am ehesten noch im Zusammenhang mit der Bachofen- Rezeption oder dem Interesse für die Graphologie, auf die später noch 21 Vgl. dazu nochmals Michael Pauen, Eros der Ferne, S. 715: „Völlig unvermittelt stehen sich bei Klages vorzeitliche Einheit und gegenwärtige Entfremdung gegenüber, paradigmatisch kommt dies an dem Antagonismus zwischen der Seele und ihrem ‚Widersacher‘, dem Geist, zum Ausdruck. Ohnmächtig sind daher Klages‘ Verweise auf jene Vergangenheit, die in seinen Bildern immer wieder beschwört, ohne doch irgendeine Aussicht auf Besserung eröffnen zu können. Benjamin teilt mit Klages die Kritik an den Verfallserscheinungen der Gegenwart ebenso wie den Glauben an einen besseren ursprünglichen Zustand. Anders als Klages sieht er aber zumindest Momente jener authentischen Erfahrung gerettet in jenen Ruinen und Trümmern, die der historische Prozess hervorgebracht hat. Deren Bilder - nicht die des Archaischen selbst - verweisen dialektisch auf die Versöhnung, und antizipieren damit den apokalyptischen Umschlag am Ende der Geschichte.“ Die Einschätzung Pauens ist partiell zu teilen, wenn auch einzelne Punkte wiederum angezweifelt werden dürfen. Dass Benjamin von einem ‚besseren ursprünglichen Zustand‘ ausgeht, stimmt so nicht, ebenfalls schwierig ist die Behauptung, die Bilder der Trümmer, für die sich Benjamin interessiert, verwiesen auf ‚den apokalyptischen Umschlag am Ende der Geschichte‘. So starke Thesen werden von Pauen zwar aufgestellt, aber nirgendwo belegt. 22 Vgl. zu diesem Thema Richard Block, Selective Affinities: Walter Benjamin and Ludwig Klages, in: Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Berlin 2000, Band 35, Heft 1, S. 117-136. Blocks These lautet, dass Benjamin sich in seinem Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften kritisch mit Klages auseinandersetzt, ohne ihn konkret als Objekt der Kritik zu benennen. Stattdessen kritisiert er offen und heftig Friedrich Gundolf, Mitglied des George-Kreises. Zum George-Kreis nahm Benjamin, ähnlich wie zu Klages, immer eine sehr ambivalente Haltung ein. Die Kritik an Gundolfs Buch über Goethe greift Konzepte auf bzw. an, die der Klages’schen Philosophie nahestehen, so unter anderem die Mystifizierung des ‚genialen‘ Autors und symbolistische Interpretationen. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 48 eingegangen wird. Denn dort geht es um eine Dimension der Schriftbildlichkeit, die konkreter scheint als die eher als ‚abstrakt‘ zu bewertende Bildlichkeit der Namen. Die Lehre der Bilder, die Klages seiner Namensphilosophie aber unterlegt, muss dennoch bei Benjamin mitgedacht werden. Ein verbindendes Element dieses Zusammenhangs von Bild und Name bildet der schwammige, aber in der Benjamin-Forschung breit rezipierte Begriff der ‚Aura‘, den Benjamin beispielsweise als die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (GS I, 440), definiert. Dieser Begriff, der v.a. im Kontext der Schriften zur Photographie oder durch den Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit rezipiert wurde, weist auch einen Bezug zur Literatur auf, der bei Benjamin noch näher untersucht werden müsste. Denn dort, wo der Begriff herkommt, nämlich von Klages und den Kosmikern, spielt weniger Photographie und Film eine Rolle als Literatur. 23 Bei Klages ist es Jean Paul, der formelhaft „Alles ist Ferne, jede Nähe“ sagt 24 , oder es sind die Gedichte Eichendorffs, die den Aura-Begriff und den Eros der Ferne im ‚Kosmogonischen Eros‘ einleiten, ein Eros, der auch „im Schauer der höchsten Erfüllung“, der dem Berauschten zeige, dass der Mitberauschte ein unergründliches Zweites darstelle, der einem aber auch aus der „faßbaren Welt der Dinge hinausentrück[e] in die nie zu betastende Wirklichkeit der Bilder“. 25 Bilder sind hier aber nicht ‚konkret‘ zu verstehen, Klages bezieht seine Theorie zwar auch auf kultische Bilder, aber v.a. auch auf die ‚Bilder des Himmels‘. 26 Nicht zuletzt heißt es ja auch bei Benjamin, fast in der Sprache Klages’, über Karl Kraus: 23 Interessant ist freilich trotzdem, wie Benjamin diesen Begriff mit dem Film und der Photographie verbindet. Ex negativo und grob lässt sich sagen, dass in diesem Zusammenhang ein ziemlich klassischer Bildbegriff, den man hauptsächlich mit dem Gemälde oder der Plastik assoziiert, mit dem Phänomen der Aura zusammengebracht wird. Denn die späte Photographie und vor allem der Film zerstören das ‚Hier und Jetzt‘ der Aura bzw. sorgen für ihre Zertrümmerung. Vgl. beispielsweise GS I, 441, wo von den profanen Formen des Schönheitsdienstes am Kunstwerk die Rede ist, dem säkularisierten Ritual, das mit der Renaissance aufgekommen sei und nun durch die neuen Techniken der Reproduzierbarkeit obsolet würden. 24 In einem Aufsatz Klages’ ist es hingegen Goethe, der den Vers „Schon ist alle Nähe fern.“ prägt. Da geht es um den Übertritt ins Traumreich, um einen Dämmerzustand. Vgl. Ludwig Klages, Vom Traumbewußtsein, Teil 1: Charaktere der Traumstimmung und des Traumes, in: Zeitschrift für Pathopsychologie 3 (1914), S. 1-38 (Heft 1), S. 8. 25 Vgl. Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, S. 906, vgl. auch Vom Kosmogonischen Eros, S. 69 und S. 71 f. 26 Vgl. auch die Stelle, wo Klages das ‚sonderbare Gespinst von Raum und Zeit‘, von dem Benjamin spricht, zu fassen versucht. Er legt den Akzent dabei auf die Zeit, nicht auf den Raum: „Nähe und Ferne sind die einander ergänzenden Pole nicht nur des Raumes, sondern ebenso auch der Zeit. Wir vergegenwärtigen uns zeitliche Ferne mittelst des Anschauungsbildes räumlicher Ferne; aber, was das räumlich Entfernte in (unantastbare) „Ferne” stellt, ist - zeitliche Ferne. Diese erscheint in räumlicher 2.3. Ludwig Klages’ „Bilder“ 49 Vollendeter ist nie die Sprache vom Geist geschieden, nie inniger an den Eros gebunden worden, als Kraus es in der Einsicht getan hat: ‚Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.‘ Das ist platonische Sprachliebe. Die Nähe aber, der das Wort nicht entfliehen kann, ist einzig der Reim. So wird das erotische Urverhältnis von Nähe und Ferne in seiner Sprache laut: als Reim und Name. Als Reim steigt die Sprache aus der kreatürlichen Welt herauf, als Name zieht sie alle Kreatur zu sich empor. (GS II, 362) Die Sprache wird bei Kraus nach Benjamin vom ‚Geist‘ geschieden und an den ‚Eros‘ gebunden. Außerdem wird Kraus mit der Klages’schen Terminologie diesem als Verbündeten zur Seite gestellt - die auratische Formulierung, die Kraus in den Mund gelegt wird, verleiht dieser Wahlverwandtschaft nochmals Nachdruck. Der Name wird zu einem der wichtigsten Interpretationsmittel von Kraus: „Aus dem Sprachkreis des Namens, und nur aus ihm, erschließt sich das polemische Grundverfahren von Kraus: das Zitieren. Ein Wort zitieren heißt, es beim Namen rufen.“ (GS II, 362) Fast analog zu Klages geht es also auch hier um ein ‚Betrachten‘ von Namen, von Worten, die bereits keine Namen mehr sind, aber durch nähere Betrachtung eine Differenz zwischen ihrer aktuellen Verwendungsweise und einer wohl ‚ursprünglichen‘ Bedeutung ausstellen. Diese Hinwendung zum ‚Ursprung‘, die man auch von Klages kennt, ist jedoch nicht alles. Es existiert eine zusätzliche Dimension dieser Sprachbetrachtung, und in gewisser Weise spricht Benjamin wohl auch von seinem eigenen Schreiben, wenn er festhält, dass sich die Sprache bei Kraus im „rettenden und strafenden Zitat“ als „die Mater der Gerechtigkeit“ erweise: „Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung.“ (GS II, 363) Den Doppelcharakter von Ähnlichkeit und Ausdruckslosigkeit, Ursprung und Zerstörung, der Benjamin dem sprachlichen Verfahren Karl Kraus’ zuschreibt, lässt eine Differenz zu Klages hervortreten. Die zerstörerische Dimension, die eigentlich eine ‚bildkritische‘ ist, sich nicht auf die Restitution der Bilderwelt richtet, wie bei Klages, sondern auf ihre Liquidation, findet sich beispielsweise auch bei Benjamins Thematisierung des Kindes wieder. Auch im Kraus-Essay schreibt Benjamin, dass „sich für Kraus am Kinde“ der „reale Humanismus“ offenbare: „[D]er werdende Mensch hebt sein Gesicht den Götzenbildern des idealen romantischen Naturwesens ebenso wie des staatsfrommen Musterbürgers entgegen.“ (GS II, 364). Klages hängt diesen ‚romantischen‘ Götzenbildern an Ferne; oder: das in der Ferne des Raumes Erscheinende ist Ferne der Zeit. Kürzer gesagt (wie oben bereits): die Zeit ist die Seele des Raumes.“, Ludwig Klages, Vom Kosmogonischen Eros, S. 101 f. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 50 und Benjamin distanziert sich von ihm, nur sollte hier deutlich geworden sein, dass er sich auch immer wieder in eine ‚gefährliche‘ Nähe zu Klages und seinen Konzepten begibt, die soweit führt, seinen Namen, trotz der Verwendung seiner Begriffe, an bestimmten Orten strategisch zu verschweigen. Bei Klages fungiert der Name als Weg zurück zum ‚Urbild‘. 2.4. Kindliches Benennen Der Mensch verleiht Eigennamen und Gattungsnamen, diese verleiht er Dingen, aber er verleiht sie primär auch sich selbst. Bevor der Mensch etwas oder jemanden benennt, wurde er schon selbst benannt. Benjamin reflektiert diesen Umstand in seinem frühen Sprachaufsatz. Dass der Mensch seinesgleichen benennt, lasse ihn an der „göttlichen Unendlichkeit des bloßen Wortes“ teilhaben - das Benennen seinesgleichen sei der Punkt, an dem die Menschensprache nicht „endliches Wort und Erkenntnis“ werden könne. Das ist klar, da der Eigenname eines Menschen nicht irgendeinen ‚Sinn‘ ausdrückt, der mit diesem verbunden werden könnte. An diesem Punkt kommt - aus der Perspektive der Erwachsenen - im frühen Sprachaufsatz von Benjamin auch das erste Mal das Kind ins Spiel: Mit der Gebung des Namens weihen die Eltern ihre Kinder Gott; dem Namen, den sie hier geben, entspricht - metaphysisch, nicht etymologisch verstanden - keine Erkenntnis, wie sie die Kinder ja auch neugeboren benennen. Es sollte im strengen Geist auch kein Mensch dem Namen (nach seiner etymologischen Bedeutung) entsprechen, denn der Eigenname ist Wort Gottes in menschlichen Lauten. Mit ihm wird jedem Menschen seine Erschaffung durch Gott verbürgt, und in diesem Sinne ist er selbst schaffend, wie die mythologische Weisheit es in der Anschauung ausspricht (die sich wohl nicht selten findet), daß sein Name des Menschen Schicksal sei. Der Eigenname ist die Gemeinschaft des Menschen mit dem schöpferischen Wort Gottes. […] Durch das Wort ist der Mensch mit der Sprache der Dinge verbunden. Das menschliche Wort ist der Name der Dinge. Damit kann die Vorstellung nicht mehr aufkommen, die der bürgerlichen Ansicht der Sprache entspricht, daß das Wort zur Sache sich zufällig verhalte, daß es ein durch irgendwelche Konvention gesetztes Zeichen der Dinge (oder ihrer Erkenntnis) sei. Die Sprache gibt niemals bloße Zeichen. Mißverständlich ist aber auch die Ablehnung der bürgerlichen durch die mystische Sprachtheorie. Nach ihr nämlich ist das Wort schlechthin das Wesen der Sache. (GS II, 149 f.) Die sprachliche Benennung des Kinds ist also nicht zu verwechseln mit der Benennung eines Dings, das stets mit der Erteilung eines Gattungsnamens 2.4. Kindliches Benennen 51 einhergeht. Im Eigennamen spricht sich nichts außer dem Namen aus. Dass der Name nichts außer sich bedeutet, heißt, dass er bloß sich selbst als quasi-schöpferischen Akt ausspricht - deshalb korrespondiert er auch mit dem ‚bloßen Wort’ Gottes. Mit dem Aussprechen des Eigennamens wird nichts erkannt, sondern eine sprachliche Erfahrung vorbereitet, die nur in diesem Akt zu machen ist, nämlich die Erfahrung der Gemeinschaft der eigentlich ‚erkennenden‘ Sprache des Menschen mit dem schöpferischen Wort Gottes. Die Behauptung, dass Gott den Menschen nicht benennen musste, weil der Mensch befähigt ist, seinesgleichen zu benennen, enthält also bereits die wichtige Prämisse, dass in der menschlichen Sprache eine Differenz von Eigennamen und Gattungsnamen existiert - der Gattungsname ist im Gegensatz zum Eigennamen aber ‚erkennend‘. Es spricht sich in diesem Absatz auch aus, dass der Mensch nicht schon immer Sprecher war, da er sich nur indirekt selbst benennt. Das Kind ist - gemäß der Etymologie seines Gattungsnamens ‚infans’ - nämlich noch nicht sprechend. Es wird von einem ‚Kind Gottes‘ benannt, das seine menschliche Kindheit bereits hinter sich gebracht hat, um diesen spezifischen Akt des Benennens vollziehen zu können. Nichtsdestotrotz wird dieser Mensch, der mal Kind war, im Akt des Benennens eines Kindes daran erinnert, dass er nicht schon immer Sprecher seiner Sprache war. Der ausgesprochene Name verbindet den erwachsenen Sprecher demnach mit der sprachlichen Sphäre des Kindes, reicht an sie aber so wenig heran wie an den Bereich göttlicher Sprache. Vielmehr wird mit der ‚Anschauung’, dass der Name des Menschen Schicksal sei, angezeigt, dass die Sprache des Menschen selbst im Akt des Namengebens, wo sie mit der göttlichen Sprache korrespondiert, unwiderruflich - durch den Sündenfall - kontaminiert ist. Das zunächst nicht negativ klingende Prädikat ‚mythologische Weisheit’, mit der die genannte ‚Anschauung’ apostrophiert wird, markiert genau diese Verstricktheit der menschlichen Sprache mit der Sphäre des Mythos, der der Mensch schicksalhaft ausgeliefert ist. Zu dieser Bemerkung, die eher den Charakter einer Randbemerkung trägt, lässt sich eine weitere hinzufügen: In der etwa zeitgleich mit dem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ - in dem die göttliche und die mythische Sphäre der Gewalt rigoros getrennt werden - entstandenen Schrift über „Schicksal und Charakter“ (ca. 1919) wird die „moralische Infantilität“ des Helden in der Tragödie als jenes Moment vorgestellt, das die Dämonie des Schicksals durchbricht (GS II, 175). Ein gewisser kindlicher Umgang mit der Sprache könnte also im Umkreis dieser Schriften Benjamins als Möglichkeit begriffen werden, die mythische Sphäre des Rechts, mitsamt ihren Schicksals- und Schuldzusammenhängen erfahrbar und kritisierbar zu machen. 27 Im Grunde genommen wiederholt sich dieses 27 Diese These könnte v.a. für eine Lektüre jener Texte Benjamins fruchtbar gemacht werden, in denen er sich mit den Schriften Franz Kafkas beschäftigt. Eine Lektüre 2. Zur frühen Sprachphilosophie 52 Gedankenmuster bezüglich geschichtsphilosophischen Überlegungen auch in späteren Texten, nämlich in der Charakterisierung der Kindheit als Möglichkeit zum Erwachen aus dem durch kapitalistischen und technologischen Wandel verursachten Traumschlaf, der in der Passagen-Arbeit konstatiert und analysiert wird. 28 Einerseits drückt sich im Verhältnis des Namens zum Schicksal also aus, dass eine mythologisierende Auffassung des Namens diesen quasi-‚bildlich‘ an seinen Träger bindet, denn der Träger und sein Name verbindet, anstatt ein ‚konventionelles, ein ‚natürliches‘ Band, das den einen zum Abbild des anderen macht und umgekehrt. Andererseits ist diese Auffassung verkürzt, weil die reale Ausdruckslosigkeit des Namens die Immanenz dieses Verhältnisses sprengt. Damit skizziert Benjamin eine Doppelbewegung die durchaus als charakteristisch für sein Denken betrachtet werden könnte und die ihn inkompatibel mit Denkern wie Ludwig Klages werden lässt, der eher einer Art ‚mystischen Sprachtheorie‘ anhängt, die in den Begriff der ‚Schauung‘ mündet; - das Moment der Erneuerung, das in Benjamins Sprachphilosophie steckt, geht Klages ab. Seine Restitution der Bildlichkeit des Namens und seines Ausdrucksgehalts trägt einen mythisierenden Zug, der durch die radikale Immanenz des Eigennamens, nichts außer sich zu bedeuten, unterlaufen wird. Die Übersetzungstheorie, die Benjamin in seinem frühen Sprachaufsatz formuliert, ist auf jener Ebene zu verorten, wo die Benennung der Dinge im Vordergrund steht. Dass es um den Versuch geht, die ‚natürliche‘ und ‚konventionelle‘ Sprachauffassung zu verbinden, markieren bereits die Gedanken, die sich mit Empfängnis und Spontaneität auseinandersetzen, denn das Empfangen des ‚Namenlosen‘, nämlich der Sprache der Dinge (aus der das schöpferische Wort Gottes scheint), erinnert an Mystizismus, während das Moment der Spontaneität wiederum eher konstruktivistische Züge hat. Das schaffende Gotteswort in der Sprache der Dinge, durch das der Mensch diese Sprache empfangen und letztlich im Namen erkennen kann, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite besteht darin, dass der Mensch die Aufgabe der Übersetzung hat, die keine mystische Wesensschau darstellt und sich als Prozess auch nicht eigentlich abschließen dieser Art wird im Laufe dieser Arbeit noch vorgestellt werden. 28 Vgl. GS V, 492: „Der Traum wartet heimlich auf das Erwachen, der Schlafende übergibt sich dem Tod nur auf Widerruf, wartet auf die Sekunde, in der er mit List sich seinen Fängen entwindet. So auch das träumende Kollektiv, dem seine Kinder der glückliche Anlaß zum eignen Erwachen werden.“ Vgl. auch eine gegen Klages gerichtete Passage auf der nächsten Seite: „Es gibt keine seichtere, hilflosere Antithese als die reaktionäre Denker wie Klages zwischen dem Symbolraum der Natur und der Technik sich aufzustellen bemühen. Jeder wahrhaft neuen Naturgestalt - und im Grunde ist auch die Technik eine solche, entsprechen neue ‚Bilder‘. Jede Kindheit entdeckt diese neuen Bilder um sie dem Bilderschatz der Menschheit einzuverleiben.“ 2.4. Kindliches Benennen 53 lässt: „Die Übersetzung ist die Überführung der einen Sprache in die andere durch ein Kontinuum von Verwandlungen. Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke durchmißt die Übersetzung.“ (GS II, 151) Das ist eine relativ deutliche Absage an jene mystischen Theorien, die sich auf sinnlich wahrnehmbare Ähnlichkeit zwischen dem Namen und dem Benannten stützen. Um diese quasitheologische Ebene zu verlassen, kann man sich im Anschluss an die von Benjamin skizzierte ‚Theorie des Eigennamens’ nun die Frage stellen, ob nicht der Erwachsene in der Benennung des Kinds jene sprachliche Erfahrung evoziert, die in der Kindheit immer wieder vollzogen wird, weil das Kind, da es an der Schnittstelle von Sprache und Rede zu verorten ist, sich selbst in einer Art ‚Verwandlungssprache‘ oder ‚Schwellensprache‘ ausdrückt. In einem Text, der einige Jahre nach den eben behandelten verfasst wurde, nämlich 1931, und der den Titel „Ich packe meine Bibliothek aus“ trägt, schreibt Benjamin über das Kind und die vielfältige Tätigkeiten, die er mit dem kindlichen Verhalten in Verbindung bringt: Die Kinder nämlich verfügen über die Erneuerung des Daseins als über eine hundertfältige, nie verlegene Praxis. Dort, bei den Kindern, ist das Sammeln nur ein Verfahren der Erneuerung, ein anderes ist das Bemalen der Gegenstände, wieder eines das Ausschneiden, noch eines das Abziehen und so die ganze Skala kindlicher Aneignungsarten vom Anfassen bis hinauf zum Benennen. (GS IV, 389 f.) Das Benennen scheint in dieser Aufzählung ‚kindlicher Aneignungsarten’ an der Spitze der Pyramide zu stehen, in der auch weitere Praxen wie etwa das Sammeln, Bemalen und Anfassen vorzufinden sind. Möglicherweise schwingt auch in dieser Hierarchisierung der Aneignungsarten noch eine theologische Komponente mit, jedoch lässt sich wahrscheinlich unabhängig davon konstatieren, dass die Sprache - ihr Erlernen - und das Benennen eine zentrales Moment in der kindlichen Erfahrung und Erkundung der Umwelt darstellen. Dass Benjamin in diesem Zusammenhang von Erneuerung spricht, muss vielleicht kurz in den Kontext der Sätze gestellt werden, die dem zitierten Abschnitt vorausgehen. Benjamin charakterisiert das Sammeln und dessen Funktionslogik. Die Aufmerksamkeit des Sammelns richtet sich bekanntlich häufig auf Objekte, die im Rahmen ihrer ‚ursprünglichen’ Zirkulationssphäre ihren ‚eigentlichen’ Gebrauchs- und Tauschwert eingebüßt haben. Deswegen schreibt Benjamin, dass für „den wahren Sammler […] die Erwerbung eines alten Buches dessen Wiedergeburt“ darstelle: darin läge das „Kindhafte, das im Sammler sich mit dem Greisenhaften“ durchdränge (GS IV, 389). „Die alte Welt erneuern - das ist der tiefste Trieb im Wunsch des Sammlers[.]“ (GS IV, 390). ‚Erneuerung’ ist 2. Zur frühen Sprachphilosophie 54 eine Vokabel, die bei Benjamin durchaus öfters vorkommt. In den frühen Texten über die Jugend (etwa in „Das Leben der Studenten“, wo festgehalten wird, dass nur „die eingestandene Sehnsucht nach einer schönen Kindheit und würdigen Jugend […] die Bedingung des Schaffens [ist]. Ohne dies wird keine Erneuerung ihres Lebens möglich sein [.]“ GS II, 86) oder auch in späteren, politisch-gefärbten Texten (etwa in „Erfahrung und Armut“, in den Kommentaren zu Bert Brecht, in „Der Autor als Produzent“). In diesen späteren Texten wird er aber zumeist pejorativ verwendet, in „Der Autor als Produzent“ wird er mit dem Adjektiv ‚geistig’ gar mit einer Forderung der ‚Fascisten’ in Verbindung gebracht (vgl. GS II, 691), der stattdessen mit Brecht die ‚technische Neuerung’ als Anspruch entgegengehalten wird, den ‚Produktionsapparat’ nicht nur zu beliefern, sondern ihn gleichzeitig „nach Maßgabe des Möglichen, im Sinne des Sozialismus zu verändern“. Trotz des pejorativen Gebrauchs des ‚Erneuerungs’-Begriffs in diesem explizit politisch-ästhetischen Kontext scheint hingegen sein Gebrauch im Rahmen des Sammelns und der kindlichen Praxen der Erneuerung positiv besetzt zu sein. Auch im Übersetzer-Aufsatz rund um den mittlerweile bekannt gewordenen Ausdruck des ‚Fortlebens’ heißt es bereits: „Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original.“ (GS IV, 12) Erneuerung bedeutet demnach auch in diesem Kontext eine durchaus positiv besetzte Veränderung, die tatsächlich statthat und mit dem Leben oder Fortleben verbunden wird. ‚Geburt‘, ‚Erneuerung des Lebendigen‘, ‚Erneuerung des Daseins‘ - all diese Begriffe oder Verbindungen weisen zunächst auf die starke Kraft, die Benjamin der Sprache und v.a. einem schöpferischen Moment in ihrer Handhabung zuweist, das freilich auch mit einem Moment der Destruktion und Zersplitterung einhergeht. Demnach ist es möglich, das kindliche Namengeben oder Benennen mit dem Lebendigen und dem Begriff der Veränderung zu verbinden, wie er uns auch bezüglich Ausführungen über das Politische entgegentreten kann. Die oben angesprochene Praxis der Erneuerung, die nicht nur mit dem Benennen, sondern, wie deutlich geworden sein sollte, auch mit dem Sammeln zusammenhängt, findet sich auch in der „Einbahnstraße“ unter dem Titel „Baustelle“: Pedantisch über Herstellung von Gegenständen - Anschauungsmitteln, Spielzeug oder Büchern -, die sich für Kinder eignen sollen, zu grübeln, ist töricht. Seit der Aufklärung ist das eine der muffigsten Spekulationen der Pädagogen. Ihre Vergaffung in Psychologie hindert sie zu erkennen, daß die Erde voll von den unvergleichlichsten Gegenständen kindlicher Aufmerksamkeit und Übung ist. Von den bestimmtesten. Kinder nämlich sind auf besondere Weise geneigt, jedwede Arbeitsstätte aufzusuchen, wo sicht- 2.4. Kindliches Benennen 55 bar die Betätigung an Dingen vor sich geht. Sie fühlen sich unwiderstehlich vom Abfall angezogen, der beim Bauen, bei Garten- oder Hausarbeit, beim Schneidern oder Tischlern entsteht. In Abfallprodukten erkennen sie das Gesicht, das die Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein, zukehrt. In ihnen bilden sie die Werke der Erwachsenen weniger nach, als daß sie Stoffe sehr verschiedener Art durch das, was sie im Spiel daraus verfertigen, in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen. Kinder bilden sich damit ihre Dingwelt, eine kleine in der großen, selbst. […] (GS IV, 92 f.) In dieser Passage, die sich fast wörtlich auch in der Rezension „Alte vergessene Kinderbücher“ von 1924 findet 29 , wird die Welt des Kindes von der Ordnung der Erwachsenenwelt geschieden. Die Bemühungen der Erwachsenen, der Welt des Kindes eine Ordnung aufzuzwingen, in sie ihre für das Kind vorgesehenen Gegenstände einzubringen, scheitern. Es klingt an, was unter dem Titel „Vergrößerungen“ - ebenfalls in der „Einbahnstraße“ - über das „Unordentliche Kind“ gesagt wird: Das Kind ist ein Sammler und Jäger dessen, was im Wertesystem der Erwachsenen seinen Gebrauchs- und Tauschwert eigentlich eingebüßt hat: von Abfällen und Resten. Diese disparaten Stoffe werden in eine ‚sprunghafte Beziehung’ zueinander gesetzt, in die Welt des Kindes transferiert, wo sie hinsichtlich ihrer Funktion und ihres Werts eine Transformation erfahren. Kinder üben also nicht bloß eine Praxis des Sammelns aus, sondern sie setzen die Dinge - eben weil die Dingwelt ihnen allein in den Abfallprodukten das ‚Gesicht zukehrt’ - in eine Beziehung, die zu einer alternativen Sicht auf sie führt. Jenseits der Wahrnehmungsordnung der Erwachsenenwelt spielt in dieser Sicht der Abfall als Ausgeschiedenes aus der Zirkulationssphäre von Gebrauchsgegenständen, Waren und Zeichen eine zentrale Rolle. In diesem Abschnitt wird deutlich vom Angeblicktwerden durch die Dinge und dem ‚Bilden’ gesprochen. 30 Es heißt zweimal, dass die Kinder ‚bilden’, nämlich dass sie 29 Vgl. GS III, 16 f. 30 Im letzten Kapitel wurde bereits darauf verwiesen, dass Ludwig Klages bei seiner Methode des ‚Wörtlich-Nehmens‘ der Namen auch dem Begriff der Einbildung, des Bild oder des Bildens - was im Zusammenhang seines Denkens wenig überrascht - einige Überlegungen angedeihen ließ. Auch im Kosmogonischen Eros finden sich Ausführungen zum Verb ‚bilden‘ oder zu seiner adjektivierten Form, die mit Benjamins Text über die bildende Tätigkeit der Kinder in einiger Nähe steht. Vgl. Ludwig Klages, Vom Kosmogonischen Eros, S. 77: „Der uns wenigstens für eine Gruppe von Künsten geläufige Ausdruck ‚bildende Kunst‘ erinnert uns aber daran, daß jedes gestaltende Tun die Vergegenständlichung von Bildern bezwecke, und läßt uns vermuten: das Ereignis, das den Geist zu bildnerischen Bemühungen zwinge, hänge irgendwie mit dem Aufleuchten eines ‚Bildes‘ zusammen. Wir tun daher zum Verständnis des Wesens der Ekstasis den, wenn nicht bereits entscheidenden, so doch alles weitere vorbestimmenden Schritt, wofern wir erkunden, wodurch vom willkürbaren Wahrnehmungsakt, der uns Dinge gibt, verschieden sei die jedenfalls nur erleidbare Schauung sich ereignender ‚Bilder‘.“ Klages stellt hier bezüglich der 2. Zur frühen Sprachphilosophie 56 das Werk der Erwachsenen nicht nachbildeten, sondern sich ihre eigene Dingwelt - „eine kleine in der großen“ - bildeten. Dieses Bilden, das hier also angesprochen ist, und bei dem es sich nicht um ein Abbilden handelt, kann man auch auf der Ebene der Sprache wiederfinden. Das kindliche Benennen ist nämlich ein Bilden dieser Art. Es ist ein Bilden, das disparate Stoffe miteinander in Beziehung setzt und dabei etwas Neues entstehen lässt, nämlich ein Name, der innerhalb der Sprache der Erwachsenen, die sich hauptsächlich an der Semantik orientiert, keinen fest zuweisbaren Sinn hat. Beim kindlichen Akt des Benennens kann es sich in gewissen Fällen also um eine Art ‚Fortleben‘ handeln, wenn dieser Bezug zur Sentenz aus dem Übersetzer-Aufsatz gemacht werden darf; ‚Fortleben‘ insofern, als hier eine ‚originale‘ Konstellation von Dingen und sie bezeichnenden Wörtern oder Namen durch einen kindlichen Übersetzungsprozess erneuert wird. Eine solche ‚Übersetzung‘ spielt sich freilich nicht ganz auf derselben Ebene ab wie die Übersetzung eines Werks in eine andere Sprache. Aber wie es auch seltsam wäre, im Falle der Übersetzung eines literarischen Texts in eine fremde Sprache von einer Weise des ‚Abbildens‘ zu sprechen, so unangebracht wäre es auch im Fall des kindlichen Benennens. Denn beim kindlichen Akt des Benennens kann von Abbilden tatsächlich nicht die Rede sein. Das Kind bildet, weil es einen Gegenstand oder dessen Bild nicht einfach wahrnimmt und dann über Kriterien der sinnlichen Ähnlichkeit mittels der Einbildungskraft in irgendeinem Material reproduziert oder abbildet, sondern ihn bzw. es in eine Konstellation bringt, die keinen Rückschluss mehr auf das ‚Original‘ oder die ‚originalen‘ Zusammenhänge zulässt, die durch bestimmte Muster einer kausalen Logik hergestellt werden könnten. Ein bekanntes Beispiel für ein Namengeben oder Bilden dieser Art findet sich in dem Stück „Die Mummerehlen“ der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, die als Buch zu Lebzeiten Benjamins nie erschienen ist und deren Anlage darum immer wieder - angesichts der Erinnerungs- und Konstruktionsthematik zu Recht - stark problematisiert wurde. 31 In diesem Stück werden mehrere Beispiele für das kindliche Ver- Tätigkeit des ‚Bildens‘ hinsichtlich einer phylogenetischen Dimension genau jenen mimetischen Zusammenhang her, der in Benjamins (eher auf die Ontogenese bezogenen) Kinderbeispiel auch eine Rolle spielen dürfte. Das Kinderspiel changiert ebenfalls zwischen einer von Benjamin passiv verstandenen Phantasie (oder Schau) und einer produktiven Tätigkeit, was später, in Benjamins Ausführungen über die Illustrationen in Kinderbüchern, nochmals deutlicher wird. Jedoch gilt es abermals, eine Differenz festzuhalten: es geht bei den Kindern nicht um eine urbildhafte Wesensschau - und eine anschließende Reproduktion -, sondern, wie bereits festgehalten, ebenso um eine Transformation und Erneuerung der Dinge, um Produktivität und Produktion. 31 Einerseits von den Herausgebern der Gesammelten Schriften selbst (vgl. etwa GS VII, 691 ff.), andererseits auch von der Forschung in jüngerer Zeit, beispielsweise bei Davide Giuriato, Mikrographien, München 2006. 2.4. Kindliches Benennen 57 halten gegeben, das eine sprachlich-bildliche Handlung und einen sprachlich-bildlichen Ausdruckskomplex im Zuge des Namengebens nach dem Empfang von Eindrücken oder aufgeschnappten Worten demonstriert. Auf der Ebene des Textes ist dabei v.a. interessant, wie diese Beispiele sprachlich inszeniert werden. Man kann bei dieser Inszenierung nämlich den Eindruck gewinnen, dass der Text selbst sich dem dort Verhandelten und Präsentierten - nämlich das mimetische Vermögen des Kindes und sein Verhältnis zur Sprache, etwa auch zu ihren gestischen und onomatopoetischen Qualitäten - gleichsam mimetisch, aber auf der Ebene der semiotischen Sprache, annähert. Bei den angesprochenen Beispielen, von denen es in der ‚Berliner Kindheit‘ noch mehrere gibt, handelt es sich um das ‚Mummerehlen‘-Beispiel selbst, in dem der Name einer Figur aus einem Kindervers, die Muhme Rehlen, einen neuen Namen erhält, der mit verschiedensten Kontexten in Verbindung gebracht wird, die Bezüge zu flüssigen und schwer fassbaren Phänomenen aufweisen, auch zum Malen, Tuschen und zu einem vorsprachlich-bildlichem Ausdruck. Und es handelt sich um das Kupferstich-‚Kopf-verstich’-Beispiel, das bei Benjamin in verschiedenen Texten auftaucht. Dort wird das Wort ‚Kupferstich‘ für das Kind zum Anlass genommen, mit der Bildung des abgeänderten Worts oder Namens ‚Kopf-verstich‘ den Kopf unter dem Stuhl hervor zu stecken. Dieses produktive Missverstehen, wie es in dem Stück heißt (vgl. GS IV, 260), das dem Kind auf eine positive Art so die Welt ‚verstellt‘, weist auf die späten sprachphilosophischen Texte über das mimetische Vermögen, die im Umkreis dieser Beobachtungen und Überlegungen entstanden sind. Sie stehen darüber hinaus in einem Dialog mit empirisch-psychologischen Untersuchungen über die Sprache des Kindes in dieser Zeit, sogar teilweise in einem sehr persönlichen, weil Äußerungen Benjamins selbst in einer dieser Untersuchungen auftauchen. Die mit seinen Eltern teilweise verwandten Entwicklungspsychologen William und Clara Stern sammelten vorwiegend Äußerungen der eigenen Kinder, nahmen aber auch solche fremder Kinder in ihr Buch auf. 32 Dieser Befund unterstreicht nochmals die Problematik des autobiographischen Schreibens, der Poetik der Erinnerung und der hohen Poetizität der Textstücke der ‚Berliner Kindheit’, auf die an 32 Die Untersuchung der Sterns war ziemlich einflussreich. Auch Jean Piaget, auf den im nächsten Kapitel noch eingegangen wird, bezieht sich auf ihre Untersuchung zur Kindersprache. In dieser Untersuchung findet sich auch das Kupferstich-‚Kopfverstich’-Beispiel, das Benjamin in den ‚Mummerehlen’ beschreibt. Vgl. Clara und William Stern, Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung, Leipzig 1907, beispielsweise S. 377: „Der kleine Walter B. aus Berlin nannte […] das Hindurchstecken des Kopfes durch eine Türspalte kopferstich.“ Vgl. dazu auch Heinz Brüggemann, Benjamin über Spiel, Farbe und Fantasie, S. 87. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 58 dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. 33 Hier soll nur festgehalten werden, dass diese Art von autobiographischem Schreiben sich nicht ausschließlich auf wirklich Erlebtes als Referenz stützt, sich frei von fiktionalen Elementen hält. Gerade ein zentrales Problem des Gedächtnisses, dass die Möglichkeit, sich irgendwelcher Dinge zu erinnern, immer auch schon mit dem Vergessen konfrontiert ist - wie Benjamin anhand von Proust und Freud etwa in „Über einige Motive bei Baudelaire“ (GS I, 606 ff.) theoretisch ausformuliert -, wird nicht nur motivisch verhandelt („Das bucklichte Männlein“), sondern auch in der Form deutlich reflektiert. Dass die Unverfügbarkeit des Erlebten und damit auch die Problematik dessen, was man gemeinhin als die Beschreibung des eigenen Lebens linear zu produzieren und rezipieren bereit ist, thematisiert wird, ist in der Forschung mittlerweile ein Gemeinplatz. Auf eine weitere Ebene stößt aber etwa Davide Giuriato vor, wenn er Benjamins Schreiben als ‚Auto’graphie‘ fasst, wobei die Apostrophierung eine Auslöschung des Lebens (bios) wie einen gleichzeitigen Transfer ins Schreiben markiert. Und dieses Schreiben wiederum wird auch auf der materiellen Ebene des Textes untersucht, wo es in der Schreibbewegung, so beispielsweise gerade auch in Streichungen, ein poetologisches Reflexionsspiel herstellt. 34 33 Es handelt sich freilich um ein zentrales Thema bei Benjamin, nicht bloß in der ‚Berliner Kindheit‘. Es ist aber in der Sekundärliteratur bereits so oft behandelt worden, dass der Fokus meiner Arbeit auf anderen Themen liegt. Bereits die Ende der Siebziger Jahre erschienene Dissertation von Anna Stüssi nimmt sich dieses Themas kompetent an. Vgl. Anna Stüssi, Erinnerungen an die Zukunft. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, Göttingen 1977. Vgl. für einen Überblick auch Detlev Schöttker, Erinnern, In: Michael Opitz und Hartmut Wizisla (Hrsg.), Benjamins Begriffe, 2. Bände, Frankfurt am Main 2000, S. 260-298. Nichtsdestotrotz bleibt das Erinnern und v.a. auch das Vergessen ein Nebenthema vieler Kapitel dieser Arbeit. Meist bezieht es sich dabei aber weniger auf die Ontogenese als auf die Phylogenese. 34 Vgl. Davide Giuriato, Mikrographien, S. 87: „Wenn es tatsächlich zutrifft, dass das Schreiben des ‚Lebens‘ eine doppelte Bewegung von ‚Kreuz- und Quer[schrit]zügen‘ ist, die schreibend durchstreichen und durchstreichend schreiben und damit immer auch die Negation dieses ‚Lebens‘ produzieren, dann ist Benjamins erinnerndes Schreiben der Kindheit als testamentarische Schreibbewegung zu lesen, die in der fortschreitenden Selbstdarstellung die eigene Selbstauslöschung voraussetzt und zugleich realisiert. Die paradoxe Struktur dieses Schreibens soll hier mit dem Begriff der Auto’graphie zunächst systematisch aus Benjamins frühen Kindheitserinnerungen entfaltet werden. Damit wird bezüglich seiner Poetologie mikrographischen Schreibens ein Aspekt anvisiert, der gerade in der Negation und Unerfahrbarkeit eines biographistisch und chronistisch zugerichteten ‚Lebens‘ die Ermöglichung des Selbstschreibens findet und der bei Benjamin zunächst zum Versuch führt, den Rahmen des Autobiographischen erinnerungspoetologisch neu zu definieren.“ 2.5. Annäherungen (Menninghaus - Agamben) 59 2.5. Annäherungen (Menninghaus - Agamben) Die Dimension der Reflexivität des Textes selbst, die mit Giuriatos Vorschlag, die Sphären des ‚Sinns‘ und der ‚Materialität‘ nicht zu trennen, wenn es um die Untersuchung poetologischer Verfahren geht, angesprochen wurde, kann als eine in der Forschung bislang eher vernachlässigte betrachtet werden. Nicht ganz so vernachlässigt wurde hingegen von der Forschung die Aufmerksamkeit für poetologische Verfahren auf der Ebene Sinns, auf der bestimmte Aussageformationen hinsichtlich ihres Zusammenspiels untersucht werden. Aber auch diese Lektürestrategien können sich in ihrer Vorgehensweise deutlich unterscheiden. Es ist nicht so leicht, die beiden folgenden Lektürevorschläge zu etikettieren, jedoch zeugen sie von einer kritischen Auseinandersetzung mit einem strukturalistischen Erbe, dem sie gleichzeitig einiges zu verdanken haben. Beide stammen aus einer Zeit, in der in der Benjamin-Rezeption poststrukturalistische Interpretationen erprobt wurden. Diesen hier nur knapp skizzierten Auseinandersetzungen mit Benjamins Sprachphilosophie verdanken sich Einsichten in den Kontext der behandelten Texte, aber auch die Fokussierung wichtiger Motive, so dass durch sie das Verständnis der Philosophie des Namens durchaus gefördert werden konnte. 35 Hier geht es nun darum, zwei bestimmte Momente dieser Interpretationen herauszugreifen, um sie für den Fokus einer weitergehenden Lektüre fruchtbar zu machen. Bei diesen Momenten handelt es sich einerseits um die Würdigung bestimmter Textstrategien selbst, andererseits um die Wahrnehmung philosophischer Schwellenphänomene. Denn beide hier vorgestellten Autoren interessieren sich für einen Schwellenbereich der Sprache, der insofern wichtig für die folgende Untersuchung ist, als sich bestimmte Aspekte der Sprachlichen und bestimmte Aspekte des Bildlichen gerade in solchen Schwellenbereichen immer wieder treffen. Nochmals zurück zum Namengeben: Bereits in Winfried Menninghaus‘ Dissertation über Benjamins Sprachphilosophie wird konstatiert, dass es sich beim Namen um ein zentrales Moment dieser Philosophie handelt. Zugleich wird moniert, dass es die meisten Interpretationen vor der Menninghaus‘schen jedoch unterlassen hätten, das „bedeutendere Moment in Benjamins Reinterpretation des mystisch-theologischen Terminus, nämlich die Theorien des ‚magischen’ Transzendierens der ‚verbalen Inhalte’“ 36 zu untersuchen. Stattdessen sei das viel „konturlosere Verhältnis zur traditio- 35 Ein weiterer zentraler Text, der dieses Thema poststrukturalistisch angeht, stammt von niemand Geringerem als Jacques Derrida. Vgl. Jacques Derrida, Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Alfred Hirsch (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt am Main 1997, S. 119-165. 36 Vgl. Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt am Main 1995, S. 41. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 60 nellen Arbitraritätsfrage“ viel zu stark beachtet worden. Damit spricht Menninghaus vor allem das Verhältnis zwischen Wort und Ding an, das seiner Meinung nach in seiner Wichtigkeit hinter das ‚magische’ Moment zurückfalle. Er betont die Nichtarbitrarität im Verhältnis des Namengebens zur Sprache der Dinge und das gleichzeitige Transzendieren des Gesprochenen im Benennen, das ja auch das innerste Wesen der Sprache selbst ausdrücke: Im mystisch-theologischen Topos des Namens ‚gipfeln’ […] also zwei Gestalten sprachlicher ‚Unmittelbarkeit’: die ‚extensive’ zwischen ‚Sprache’ und ‚Dingen’ und die ‚intensive’ zwischen ‚Prinzip’ der Sprachbewegung als solcher und ‚Wesen’ eines ‚Sprechers’ bzw. Kunstwerks. Die Verknüpfung dieser beiden Elemente sprachlicher Nicht-Instrumentalität führt Benjamin anschließend zum Begriff einer ‚immanenten eigenen Magie’ der ‚konkreten Sprachelemente’ (= ‚Namensprache’) […]. Demgegenüber wird dann die ‚Magie’ jener Sprachelemente, die nicht gleichzeitig eine innere Relation zur ‚Sprache der Dinge’ aufweisen (= ‚abstrakte Sprachelemente’), als eine ‚andere’, eine ‚von außen’ produzierte Magie definiert[.] 37 Menninghaus betont also die Magie, eine innere, die mit der Konkretheit des Namens zusammenhängt, und eine ‚äußere’, die im Theoriegefüge des angesprochenen Sprachaufsatzes durch den Sündenfall entsteht, in dem der Name abstrakt wird, d.h. etwas ‚außer sich’ zu bedeuten anfängt. Er spielt damit auf die Sätze aus dem Sprachaufsatz an, die den Sündenfall als die Geburtsstunde des ‚menschlichen Wortes’ (in Benjamins Text kursiv, also hervorgehoben) bezeichnen, „in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namensprache, der erkennenden, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraustrat, um ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch zu werden“ (GS II, 153). Menninghaus gliedert die Argumentation des Sprachaufsatzes in drei Teile. Er rekonstruiert eine Fokussierung auf ‚magische’ Elemente auf einer allgemeinen Ebene der Sprache, die sich dann in einem zweiten Schritt - völlig unabhängig von der Frage nach der Arbitrarität oder Nicht- Arbitrarität der Sprache - auf konkrete Sprachelemente wie den Namen bezieht und drittens dann auf die abstrakten, arbiträren Sprachelemente. Auch wenn die Rekonstruktion von Menninghaus alles andere als unplausibel ist, so ist es doch angebracht - unabhängig von der Frage nach der Magie der Sprache -, nach den sprachlichen oder literarischen Verfahren zu fragen, die durch das Mittel einer durchaus arbiträren Sprache jene magischen Qualitäten zu inszenieren versuchen. Trotz den Bemühungen, die Kontexte des Benjaminschen Schreibens aufzuzeigen, den Text Benja- 37 Ebd., S. 40. 2.5. Annäherungen (Menninghaus - Agamben) 61 mins in das ‚Licht der Vernunft’ zu stellen, also kritisch mit ihm und kritisch mit allzu mystisch anmutender Sekundärliteratur umzugehen, gelangt Menninghaus selten auf jene Ebene des Verfahrens oder zum performativen Gehalt des Benjaminschen Textes, die bzw. den die dekonstruktiven Lektüren in den Blick genommen haben 38 , - auch wenn sie dafür im Gegenzug wiederum häufig den Aspekt des Kontextes vernachlässigten. Häufig wurde dabei beispielsweise die Bedeutung der Allegorie für Benjamins Denken überbetont. 39 Das erstaunt nicht groß, da selbst Menninghaus auf den nicht abwegigen Gedanken stößt, die Magie der abstrakten Sprache mit der abstrakten Arbitrarität der Allegorie in Verbindung zu bringen. 40 Man kann der Studie von Menninghaus nicht direkt vorwerfen, kein Bewusstsein für das angesprochene Problem des Verfahrens der Texte, ihrer poetischen Qualität zu besitzen, denn bezüglich des Schreibens Johann Georg Hamanns und seiner Auffassung des Stils wird sehr wohl thematisiert, wie Reflexionen, die im Text angestellt werden, sich direkt in der Gestalt des Schreibens selbst niederschlagen. 41 Aber selten oder gar nicht wird dieses Thema tatsächlich bei der Analyse von Benjamins Schreiben selbst durchgeführt. Menninghaus hat verdienstvoll nachzuweisen versucht, dass die Spekulationen über die paradiesische Sprache und das adamitische Namengeben im deutschen Sprachraum hauptsächlich durch Jakob Böhme verbreitet wurden 42 , und dass wichtige Gewährsleute für Benjamin, wie etwa 38 Vgl. dazu exemplarisch Paul de Man, Schlussfolgerungen: Walter Benjamins ‚Die Aufgabe des Übersetzers‘, in: Alfred Hirsch, Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt am Main 1997, S. 182-228. 39 Man konsultiere in diesem Punkt die scharfsichtige Studie von Cornelia Zumbusch, in der dieser Befund etwa für die gerne vorgenommene Gleichsetzung des Begriffs des ‚dialektischen Bilds’ mit dem Konzept der Allegorie gemacht wird: Wissenschaft in Bildern, Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, München 2004, S. 13 und S. 52. 40 „Daß diese trotz ihrer Arbitrarität nicht nur eine ‚bloße Weise der Bezeichnung’ sei, sondern an sich selbst und unmittelbar einen nicht-instrumentellen ‚Ausdruck’ (I, 339) realisiere (eben dies meint ja die Rede von einer spezifischen ‚Magie’ auch der ‚abstrakten Sprachelemente’), ist das abstrakte Kernstück von Benjamins unterschiedlichen Theorien der Allegorie.“ Vgl. Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 47. 41 Ebd., S. 212: „Hegel ist es, der vielleicht am deutlichsten das zeitgenössische Bewußtsein von der Bedeutung der Stilphänomene und Stilreflexionen in Hamanns Werk dokumentiert: ‚Hammans Schriften’, so Hegel, ‚haben nicht sowohl einen eigentümlichen Stil als daß sie durch und durch Stil sind.’ Keine Interpretation Hamanns, die sich nicht - wie hier im Falle der mystisch-profanen Antithetik in Inhalt und Form (Metaphorik) der Sprachtheorie des Magus versucht - an dieser Einsicht Hegels neu zu bewähren hätte.“ 42 Vgl. dazu v.a. Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 201 f. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 62 Hamann und vornehmlich die Frühromantiker, sich in ihren Reflexionen über die Sprache auf die Spekulationen Böhmes und damit auch auf die Signatura-Lehre stützen. 43 Auch bei Philosophen wie Leibniz, Herder oder Hegel, die der Geschichtsphilosophie zugeneigt waren, stößt man auf Texte oder Passagen, die sich mit dem Sprachursprung und dem adamitischen Namengeben beschäftigen. Auch betont Menninghaus den Zusammenhang der Sündenfallerzählung mit geschichtsphilosophischen Überlegungen Benjamins, schlägt gar eine Brücke von diesen frühen Spekulationen, die er rhetorisch im Zuge seiner Argumentation häufiger abwertet und gar als „in ihrer Abstraktheit relativ nichtssagende Metaphysicis“ bezeichnet 44 , zur viel später skizzierten Theorie der Allegorie rund um die Baudelaire- Studien, die materialistisch-geschichtsphilosophische Züge trägt. Auch hier und etwa bei der vergleichenden Darstellung bestimmter Gedankenfiguren zwischen Benjamin, Hamann und den Frühromantikern unterlässt er es trotz der scharfen Konturierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, eine weiterführende Reflexion zu unternehmen, die einen Blick auch auf verschiedene Phänomene ermöglichen würde, die über den engeren Kreis der immer wieder skizzierten Begriffe (Name, Offenbarung, etc.), die um das Sprachmagie-Thema kreisen, hinausweisen. Ein wenig mutiger ist in dieser Hinsicht das sechs Jahre später erschienene Buch „Schwellenkunde“, in der die angesprochenen Verflechtungen im Schreiben durchaus intensiver reflektiert werden. 45 Vielleicht etwas zu plakativ ist dort zu lesen, dass Benjamin „nicht zuletzt deshalb so monomanisch am ‚Passagen-Mythos’ [arbeitete] (V 515 f.), weil sein ganzes Denken selbst eine Passage des Mythos ist“. 46 Interessanterweise lässt sich über die Thematik der Schwellen die Nähe zu einem anderen Benjamin-Rezipienten feststellen, der einer weiterführenden Analyse festgestellter Parallelen bestimmter Diskursformationen weiter getrieben hat als Menninghaus, nämlich Giorgio Agamben. Obwohl dieser zwar einen philologischen Anspruch hat, den er an verschiedenen Stellen seiner Arbeiten immer wieder betont, kann natürlich nicht die Rede davon sein, dass in einem Text wie „Kindheit und Geschichte“ („Infanzia e storia“) im selben Maße und mit demselben Anspruch Benjamin-Philologie betrieben wird wie in Menninghaus’ Studien. Vielmehr geht bereits der frühe Agamben - „Kindheit und Geschichte“ ist bereits 1979 erschienen - 43 Ohne Menninghaus‘ Verdienst schmälern zu wollen, wird diese Verbindung sehr stark in einem Buch von Paul Hankamer geleistet, das Benjamin nachweislich studiert hat. Vgl. Paul Hankamer, Die Sprache. Ihr Begriff und ihre Deutung im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, Bonn 1927. 44 Vgl. Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 48. 45 Vgl. Winfried Menninghaus, Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt am Main 1986. 46 Ebd., S. 8. 2.5. Annäherungen (Menninghaus - Agamben) 63 relativ frei mit Benjaminschen Gedanken und Textstellen um, nutzt sie eher als Anregung zur Formulierung eigener Thesen oder Gedanken- und Begriffs-Konstellationen, die nichtsdestotrotz im besten Falle wiederum ein Licht auf das Benjaminsche Denken und Schreiben selbst zurückwerfen. Hier ist deshalb von Belang, dass Agambens Begriffs-, Gedanken- und Autoren-Konstellationen, die einem relativ essayistischem Schreiben geschuldet sind, analoge Figuren eines Textes, sich stark gleichende bis analoge Argumentationsketten oder Textbewegungen sichtbar zu machen imstande sind. So zeigt er in seinem ebenfalls frühen Buch „Die Sprache und der Tod“ („Il linguaggio e la morte“) 47 wie selbst Hegel in jungen Jahren im Rahmen einer Vorlesung (1803/ 04) einen adamitischen Sprachzustand beschwört, um über eine bestimmte Auffassung des Namens Unterschiede zwischen Menschen und Tieren treffen zu können. 48 Bereits in dieser frühen Schrift wird deutlich, dass sich Agamben sehr stark für Schwellenphänomene oder ‚Ursprungsphänomene’ interessiert, die zwischen Diachronie und Synchronie, Geschichte und Struktur verortet werden müssen, und zu denen auch die Kindheit gerechnet werden kann. In seinem frühen Buch über die Sprache und den Tod referiert Agamben unter anderem Vorlesungsnotizen Hegels, in denen dieser das Anbrechen der Existenz des Bewusstseins mittels des Namengebens zu beschreiben versucht. 49 Hegel ist eher der Seite jener zuzuweisen, die das eidetische Moment der Sprache oder des Namens privilegieren. Hegel zeigt nach Agamben eine Bewegung auf, die eine Entwicklung des Namens in Richtung Konventionalität annimmt. Er argumentiert demnach gegen eine natürliche Motiviertheit der Namen für die Dinge. Obwohl es nicht weiter bemerkenswert ist, dass Hegel so argumentiert, frappiert es dennoch, dass er sich mit dem adamitischen Namengeben auseinandersetzt. So behauptet er, dass durch das adamitische Namengeben 47 Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität, Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, Frankfurt am Main 2007. 48 Vgl. dazu auch Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Aus dem Italienischen von Davide Giuriato, Frankfurt am Main 2003. 49 Vgl. G.W. F. Hegel zit. nach Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 76: „Im Namen ist sein empirisches Sein, daß es ein Konkretes in sich Mannigfaltiges und Lebendes und Seiendes ist, aufgehoben, ist zu einem schlechthin in sich einfachen Ideellen gemacht. Der erste Akt, wodurch Adam seine Herrschaft über die Tiere konstituiert hat, ist, daß er ihnen Namen gab, d.h. sie als Seiende vernichtete und sie zu für sich Ideellen machte. Das Zeichen war in der vorhergehenden Potenz als Zeichen ein Name, der für sich noch etwas Anderes als ein Name ist, selbst ein Ding; und das Bezeichnete hatte sein Zeichen außer ihm; es war nicht gesetzt als ein Aufgehobenes. Ebenso hat das Zeichen nicht an ihm selbst eine Bedeutung, sondern nur in dem Subjekte; man mußte noch besonders wissen, was es damit meine. Der Name aber ist an sich, bleibend, ohne das Ding und das Subjekt. Im Namen ist die fürsichseiende Realität des Zeichens vernichtet.“ 2. Zur frühen Sprachphilosophie 64 die Singularität des Dings aufgehoben wird, Adam das Ding also via Name zu einem Ideellen und Allgemeinen macht. Dennoch wird auch dieses Ideelle und Allgemeine wiederum zu einem Ding, nämlich zu einem Namen, der nun als Zeichen für dieses Referenzobjekt fungiert. Der Name ist also nicht einfach selbst nur ein Ding, verstanden als Zeichen bezieht er sich auf ein Referenzobjekt, er bedeutet also auch noch ein (anderes) Ding außer sich. Das benennende Subjekt bezieht den Namen willkürlich auf ein Ding, in diesem Subjekt hat das Zeichen eine Bedeutung. Weil der Name als Zeichen eine von sich verschiedene Wirklichkeit bedeutet, muss das Subjekt den Namen aufheben: im Subjekt bedeutet der Name, er ‚verneint‘ das Benannte und „existiert als Sprache, - sie ist der existierende Begriff des Bewußtseins, - die sich also nicht fixiert, ebenso unmittelbar aufhört, als sie ist“. 50 Das bedeutet, dass der Name, wie bereits gesagt, „die von seiner Bedeutung verschiedene Wirklichkeit“ durch das Aufheben des konkreten Dings in ihm beseitigt. 51 In der menschlichen Sprache verwirklicht sich das Bewusstsein, weil in ihr der Name als Idealität eines existierenden Dings existiert. Diese Idealität im Namen ist demnach wiederum ein unmittelbares Nicht-Existieren des Benannten. Agamben legt den Fokus in seinen Ausführungen über die Rolle des adamitischen Sprachzustand in Hegels Vorlesung auch auf die Unterschiede zwischen Mensch und Tier und stellt sich im Anschluss an das Ausgeführte die Frage nach der Besonderheit der Stimmen des Menschen und des Tiers. Hegel nimmt nämlich, um das menschliche Bewusstsein begründen zu können, eine ‚leere Stimme des Tiers’ an, die im Tönen der gegliederten, in Vokale und Mitlaute geteilten, menschlichen Stimme (im Namen) aufgehoben wird. 52 Die Artikulation wird zu einem Prozess der Unterscheidung durch Vokale, so dass jeder Ton eine Bedeutung hat und die ‚leere Stimme des Tiers’ aufbewahrt: die animalische, vokale Stimme wird in eine Stimme des Bewusstseins verwandelt. Diese Aufbewahrung der Tier-Stimme unterhält eine doppelte Beziehung zum Tod, weil das Tier nach Hegel nur „im gewaltsamen Tode eine Stimme“ habe und sich damit 50 Vgl. G.W. F. Hegel zit. nach Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 76. 51 Ebd. 52 Vgl. Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 77, wiederum Hegel zitierend: „Die leere Stimme des Tiers - schreibt Hegel - erhält eine unendlich in sich bestimmte Bedeutung. Das reine Tönende der Stimme, das Vokale, unterscheidet sich selbst, indem das Organ der Stimme seiner Gliederung als eine solche in ihren Unterscheidungen zeigt. Dieses rein Tönende wird durch die stummen [Mitlaute] unterbrochen, das eigentlich Hemmende des bloßen Tönens im Gesange nicht für sich bestimmte Unterschiede sind, sondern sich erst durch den vorhergehenden und folgenden Ton bestimmen. Die als tönend gegliederte Sprache ist Stimme des Bewußtseins darin, daß jeder Ton Bedeutung hat, d.h. daß in ihm ein Name existiert, die Idealität eines existierenden Dings, das unmittelbare Nicht-Existieren desselben.“ 2.5. Annäherungen (Menninghaus - Agamben) 65 als „aufgehobenes Selbst aus[spreche]“. 53 „Wenn es stirbt, hat das Tier eine Stimme, haucht es die Seele in einer Stimme aus. Es spricht sich aus und bewahrt sich als totes.“ 54 Agamben kommentiert: Deshalb ist die signifikante Sprache im wahrsten Sinne des Wortes ‚Leben des Geistes’, das den Tod ‚erträgt’, und in ihm ‚sich erhält’; und deshalb - nämlich insofern sie im Negativen verweilt - verfügt sie über jene ‚Zauberkraft’, die das Negative ‚in das Sein umkehrt’. Doch sie verfügt über diese Kraft, sie verweilt in der Berührung mit dem Tod in der Tat bloß deshalb, weil sie die Artikulation jener ‚verschwindenden Andeutung’ ist, als die sich die animalische Stimme erweist; das heißt, lediglich deshalb, weil sich im gewaltsamen Tod das Tier bereits in der Stimme selbst als aufgehobenes ausgesprochen hat. Aufgrund ihrer Einschreibung in den Ort der Stimme ist die Sprache auf zweifache Weise Stimme und Gedächtnis des Todes: Tod, der den Tod erinnert und bewahrt, und Artikulation und Grammatik der ‚Andeutung’, der Spur des Todes. 55 Agamben deckt hier eine Figur der Negativität auf. Er skizziert das Schema einer Stimme, die durch eine doppelte Negativität bestimmt ist, da es sich einerseits um eine aufgehobene Stimme handelt, die eine Schwelle vom Lebewesen zur Sprache markiert, andererseits um eine ungesagte Stimme in der Rede, deren ursprüngliches Stattfinden - als Ereignis der Sprache selbst - sie zwar deiktisch anzeigt, aber eben nicht sagt. Bei Agamben selbst begegnet man dieser Gedankenfigur des Negativen oder der Negativität häufiger. Agamben markiert damit Grundzüge seiner Auffassung dessen, was er - geschult an Martin Heidegger und Jacques Derrida - als ‚Metaphysik‘ bezeichnet. Jene Stimme, die als Schwellenphänomen einer positiven Bestimmung entzogen ist, wird in der Übersetzung des Agambenschen Textes in Kapitälchen wiedergegeben: Insofern die Spracherfahrung der Metaphysik ihren letzten negativen Grund in einer Stimme hat, ist diese Erfahrung je schon in zwei unterschiedliche Ebenen geteilt: die erste, die nur gezeigt werden kann, entspricht dem von der Stimme erschlossenen Stattfinden der Sprache selbst; die zwei- 53 Vgl. G.W. F. Hegel zit. nach Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 78: „Jedes Tier hat im gewaltsamen Tode eine Stimme, spricht sich als aufgehobnes Selbst aus. (Vögel haben den Gesang, den die anderen entbehren, weil sie dem Elemente der Luft angehören, - artikulierende Stimme, ein aufgelösteres Selbst.) In der Stimme kehrt der Sinn in sein Inneres zurück; er ist negatives Selbst, Begierde. Er ist Mangel, Substanzlosigkeit an ihm selbst […].“ 54 Vgl. Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 79. 55 Ebd., S. 80. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 66 te hingegen ist jene der signifikanten Rede, also dessen, was in diesem Stattfinden gezeigt wird. 56 Die Sprache wird also in zwei irreduzible Bereiche aufgeteilt, die mit saussure’schen Termini leicht als die Ebenen der ‚langue‘ und der ‚parole‘ zu identifizieren sind. Aber es ist keineswegs leicht, diese Ebenen auch positiv zu bestimmen, ohne auf die jeweils andere zurückgreifen zu müssen, so also in einen Zirkel zu geraten, der lineare Festschreibungsversuche transzendiert. Der Begriff der ‚Erfahrung‘, den Agamben einführt, macht relativ rasch klar, um was es Agamben - neben dem Hinweis auf die Opposition von Zeigen und Sagen - geht: Erfahrung eines ‚ursprünglichen‘ Schwellenbereichs, der herkömmliche Ursprungslogiken übersteigt, weil er nicht eigentlich linear zu fassen ist. Folgerichtig stößt Agamben bereits in seinem frühen Buch über den Ort der Negativität auf die Kindheit, die er in seinem Buch über „Kindheit und Geschichte“ dann zu seinem Hauptgegenstand macht: Wenn aber die Stimme der mystische Grund ist, auf dem unsere gesamte Kultur, ihre Logik und ihre Ethik, ihre Theologie und ihre Politik, ihr Wissen und ihr Wahnsinn beruhen, dann wird ein anderes Denken, ein Denken jenseits des Horizonts der Metaphysik, an dessen äußerster Grenze - dem Nihilismus - wir uns noch immer bewegen, im Mystischen nicht begründet werden können, da es nichts anderes als das Unsagbare, das heißt der negative Grund der Onto-theo-logik ist. Einzig die Liquidierung des Mystischen könnte einem Denken (einem Sprechen) Platz schaffen, das die Stimme und ihre Sigetik hinter sich ließe: einem Denken, das nicht auf unsagbarem Grund, sondern in der In-fanz, der Kindheit des Menschen angesiedelt wäre. 57 Die Kindheit des Menschen wird demnach der Negativität als positives Korrelat entgegengehalten, als eine Erfahrung der Sprache, die nicht durch Negativität bedingt ist. Mit dem Hinweis auf die Etymologie des Wortes, auf seine lateinische Wurzel, die ein verneinendes Präfix enthält und damit einen sprachlichen Schwebezustand markiert, wird den beiden gespaltenen Ebenen, die durch die ‚ Stimme‘ erzeugt werden - etwa jene zwischen Zeigen und Sagen, Sein und Seiendem, Welt und Ding -, eine positive entgegengehalten. Die ‚ Stimme‘ könne nur erfasst werden, wenn man jenseits dieser Oppositionen das Absolute denke, was nichts anderes als der negative Grund der Philosophie selbst sei. Das Absolute impliziere jedoch immer eine Reise, ein „Verlassen des Ursprungsortes, Entfremdung und Außersichsein“, so dass die Philosophie von Anfang an nicht zuhause sei, 56 Vgl. Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, Hervorhebung im Original. 57 Ebd., S. 150, Hervorhebung im Original. 2.5. Annäherungen (Menninghaus - Agamben) 67 „ursprünglich nicht im Besitz ihrer selbst“, so dass sie eine Bewegung der Rückkehr zu sich selbst vollziehen müsse. 58 Die Strukturähnlichkeit dieser Argumentation zur Ursprungsdebatte rund um das adamitische Namengeben ist rasch ersichtlich. Gerade der paradiesische Sprachzustand ist mit dem Sündenfall, und bekräftigt durch Babel, das Paradigma jenes ‚Außersichseins‘, von dem Agamben spricht. Damit ergibt sich für Agamben eine ethische Perspektive, in dem Sinne, dass ‚ethos‘ als Gewohnheit, als ‚gewohnte Bleibe‘ aufgefasst wird, die immer schon vom Negativen geteilt ist und die als Ort der Teilung erfahren werden muss: Vielleicht gibt es keine abgründigere Erfahrung, als in der Sprache zu sein, ohne von einer Stimme gerufen zu werden, schlicht und einfach zu sterben, ohne vom Tod gerufen zu werden; aber sie ist eben auch die gewöhnlichste Erfahrung, die der Mensch machen kann, sein Ethos, seine Bleibe, die in der Geschichte der Metaphysik je schon dämonisch in Lebendes und Sprache, Natur und Kultur, Ethik und Logik zerfällt und daher nur in der negativen Artikulation einer Stimme greifbar wird. Womöglich wird erst mit dem Niedergang der Stimme, mit dem Nicht-mehr-Stattfinden der Sprache und des Todes in der Stimme dem Menschen eine Erfahrung seines Ethos zuteil, die nicht mehr bloß eine Sigetik wäre. Vielleicht muß der Mensch - das Tier, dem weder eine Natur noch eine spezifische Identität zuzukommen scheint - seine Armut auf noch radikalere Weise erfahren. 59 Einerseits bezieht sich Agamben in den hier zitierten Abschnitten deutlich auf Heidegger und teilt in gewisser Weise dessen These der Unaussprechlichkeit des Absoluten, aber gleichzeitig weist er die Sigetik zurück, die im Negativen einen Zugang zu diesem sucht. Beim Lesen der Ausführungen fällt auf, dass Agamben auf zahlreiche Texte oder Gedanken Benjamins anspielt, ohne sie zu markieren, ja, dass er Benjamins Begriffe zu benutzen scheint, um der Philosophie der Negativität eine andere Wendung oder Perspektive zu geben. Er spielt erstens auf die weiter oben bereits angesprochenen Ausführungen zur Tragödie in „Schicksal und Charakter“ an, auf die ‚moralische Infantilität‘ des Heros, der in ‚moralischer Sprachlosigkeit‘ das dämonische Schicksal durchbricht (GS II, 175) und er spielt in den letzten Zeilen auf „Erfahrung und Armut“ an, wo die Diagnose einer Erfahrungsarmut und eines Zerfalls mitteilbarer Erfahrung mit dem Hinweis auf das Verstummtsein derjenigen untermauert wird, die lebend von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs heimkehrten (GS II, 214). Alles in allem ist die radikale Erfahrung der Armut, die Agamben in diesem Zitat anspricht, nichts anderes als eine Chiffre für das Schwellenphänomen der Kindheit, die er als 58 Vgl. Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 152. 59 Ebd., S.. 157 f., Hervorhebungen im Original. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 68 Intervall über die (von Negativität geprägte) Geschichte der Metaphysik hinaushebt. Möglicherweise markiert Agamben seine Anleihen bei Benjamin deshalb nicht, weil seine eigene Gedanken und Schlüsse primär eher von Hegelschen und Heideggerschen Motiven durchsetzt sind und weniger Benjaminsche Argumentationsmuster rekonstruieren. Benjamin ist der heimliche Stichwortgeber einer Kritik dieser Motive und eine an ihm entwickelte Kindheitstheorie wird zum Ausgangspunkt wie auch zur Perspektive eines alternativen ‚Ethos‘. Wenn in „Die Sprache und der Tod“ ziemlich explizit ist, dass Agambens eigenes Denken v.a. Hegelschen und Heideggerschen Gedankenfiguren Tribut zollt, so stößt man in „Kindheit und Geschichte“ nicht mehr auf so viele explizite, sondern vielmehr auf implizite Hinweise auf die beiden genannten Denker. In „Kindheit und Geschichte“ wird stattdessen vielmehr Benjamins Diagnose der Erfahrungsarmut zum Ausgangspunkt genommen, um die Figur der Kindheit, die im früheren Text nur kurz zur Sprache kommt, als jenes Phänomen in Stellung zu bringen, das dort erst zögerlich gegen die Negativität gedacht wird. In „Kindheit und Geschichte“ wird Kindheit als eine transzendentale Erfahrung skizziert, die dem Menschen als mit Sprache begabtem Wesen zu machen aufgegeben ist. Kindheit wird bei Agamben zu einem ‚experimentum linguae‘, zu einem Sprachexperiment, weil das Transzendentale, das erfahren werden soll, die Sprache selbst ist. 60 Sprache steht hier rund um diesen hauptsächlich durch Kant geprägten Terminus im Zentrum, weil Agamben - und an dieser Stelle sind wir auf Menninghaus‘ Buch über Benjamins Theorie der Sprachmagie zurückverwiesen - im Anschluss an Walter Benjamins Texte „Über das Programm der kommenden Philosophie“, Kant durch Hamann korrigierend, das ‚Transzendentale‘ oder die ‚transzendentale Erfahrung‘ in „Hinblick auf dessen Beziehung zur Sprache“ revidieren und als die Erfahrung der Sprache selbst herausstellen möchte. Wie bereits der Titel des Buchs andeutet, versucht Agamben, Kindheit über die Ontogenese hinauszudenken. Dass sie eine Beziehung zur Geschichte unterhält, soll aber auch nicht einfach bedeuten, dass sie stattdessen phylogenetisch gefasst wird. Das von Agamben vorgeschlagene Geschichtsdenken übersteigt so gut wie die Sphäre der Kindheit als Transzendentales, ein Denken, das diese beiden Phänomene chronologisch zu fassen bestrebt ist. Wie in „Die Sprache und der Tod“ arbeitet Agamben stark mit Dichotomien. Eine der zentralen binären Oppositionen von „Kindheit und Geschichte“ ist, weiter oben wurde sie bereits im Zusammenhang mit „Die Sprache und der Tod“ angesprochen, jene von ‚Sprache‘ und ‚Rede‘. Auch 60 Vgl. Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte, S. 9. 2.5. Annäherungen (Menninghaus - Agamben) 69 Agamben selbst erzählt in seinem Buch die Geschichte vom Sündenfall, auch er ist demnach in gewisser Weise auf eine Art ‚Mythos‘ angewiesen, wenn wir den Sündenfall unter diese, nun vielleicht noch weniger zu fassende, Kategorie rechnen dürfen 61 : Die Kindheit und die transzendentale Erfahrung der Differenz zwischen Sprache und Rede eröffnen zum ersten Mal einen Raum für Geschichte. Deswegen ist Babel, d.h. der Fall aus der reinen Sprache Edens und der Eintritt ins Stammeln der Kindheit […], der transzendentale Ursprung der Geschichte. Erfahren bedeutet in diesem Sinne notwendigerweise, den Zugang zur Kindheit als transzendentaler Heimat der Geschichte wiederzufinden. Das Rätsel, das die Kindheit für den Menschen gebildet hat, kann in der Tat nur in der Geschichte gelöst werden. Ebenso ist die Erfahrung als Kindheit und Heimat des Menschen etwas, aus dem der Mensch immer schon in die Sprache und die Rede fällt. Deswegen kann die Geschichte nicht der kontinuierliche Fortschritt der sprechenden Menschheit entlang der Linearität der Zeit sein, sondern ist ihrem Wesen nach Intervall, Diskontinuität, epoché. Was in der Kindheit seine ursprüngliche Heimat besitzt, muss zur Kindheit und durch die Kindheit auf der Reise bleiben. 62 Auch hier wird wieder von der ‚Heimat‘ gesprochen, gar von einer ‚ursprünglichen‘, und es ist wohl nicht abwegig zu behaupten, dass jener Topos uns in „Die Sprache und der Tod“ noch als ‚gewohnte Bleibe‘ begegnet ist. Auch ist hier die Rede von einer ‚Reise’, sodass sich der Eindruck nicht abwehren lässt, dass diese Argumentation bis in den Wortlaut stark jener ähnelt, die sich in „Die Sprache und der Tod“ um das ‚Absolute’ dreht, zu dem je schon verlassenen ‚Ursprungsort‘. Kindheit wird zu einem solchen Ursprungstopos, an den man sich nicht chronologisch oder auf einem linearen Weg nähern kann, sondern der an jener Grenze zwischen der Sprache in ihrer semiotischen und ihrer semantischen Dimension, zwischen der Sprache als System und der Sprache als Diskurs. Im Durchgang von der einen in die andere Dimension, die für Agamben durch einen irreduziblen Hiat voneinander geschieden sind, sind die Kindheit und die Geschichte als Intervall zu verorten. Genau so sind wohl auch jene Erzählungen zum Sprachursprung zu fassen, die in verschiedensten Diskursen durchgeführt werden, d.h. bei solchen, die Agamben referiert bis hin zu Benjamin selbst. Interessant ist deshalb auch, dass Agamben noch vor 61 Vgl. dazu Manfred Franks Ausführungen ‚zum‘ Mythos. Einzelne Mythen seien Erzählungen und nacherzählbar, ‚der‘ Mythos hingegen nicht. Wenn man von ‚dem‘ Mythos spricht, gehe es meist um die Möglichkeit mythischen Denkens. Aber ein Problem, das sich ergebe, wolle man ein Phänomen aus seinen Ursachen erklären, sei folgendes: man müsse zuerst wissen, welches Phänomen man eigentlich erklären wolle. Vgl. Manfred Frank, Der kommende Gott, S. 74 ff. 62 Vgl. Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte, S. 77 f. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 70 der Erscheinung von Menninghaus’ Studie über Benjamins Theorie der Sprachmagie, also völlig unabhängig davon, im Zusammenhang mit seiner Beschreibung der Kindheit und ihrem Verhältnis zur Geschichte ebenfalls auf Hamann und Humboldt eingeht, also die Fäden aufnimmt, die Benjamin in seiner frühen Arbeit über die ‚Sprache des Menschen und die Sprache überhaupt’ spannt, sie aber nicht als expliziten Kontext der Benjaminschen Arbeiten rekonstruiert, sondern in seine eigene Argumentation einbettet. 63 Auch wenn man Agambens Einschätzungen, Schlüsse und Behauptungen nicht teilte, und man schon gar nicht die Haltung vertreten müsste, dass es sich um philologisch präzise Rekonstruktionen von bzw. Lektüreinstrumente für Benjamins Texte handelt, so schärfen sie doch als Momente einer Auseinandersetzung mit Benjaminschen Theoremen, diskursiven Elementen oder Schemata den Blick für das Funktionieren von Mustern, die sich analog oder ähnlich gestaltet auch in anderen philosophischen Erzählungen finden lassen. Die Frage ist nun durchaus, ob jene Charakterisierung, die die Figuren des Anfangs, der Sprache oder dass etwa auch das Motiv der Kindheit durch Agamben erfährt, hinsichtlich eines Zugangs zur Sprachphilosophie oder zum Kindheitstopos bei Benjamin von Wert ist oder ob vielleicht über Benjamin hinaus ein Lektüreinstrument gegeben wird, das der Bestimmung irgendwelcher Charakteristika poetischer Sprach- und Kindheitsverhandlungen dienlich sein könnte. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass das Netz von Kindheit, Sprache, Geschichte und Ursprungserzählungen als eine durchaus produktive Konstellation fungiert, die diese Phänomene wechselseitig beleuchtet und die sich in variierenden Formationen zumindest bei Benjamin immer wieder vorfinden lassen. Doch was bei Agamben fehlt, vielleicht weil er häufig ein privilegiertes Phänomen - nämlich die Sprache - in seine dichotomischen Elemente zerlegt, ist trotz seiner Affinität zu Elementen der Sprache, die damit in Verbindung gebracht werden könnten (etwa immer wieder die Deixis), der Hinweis auf das Bild. Gerade in der Theorie des (Eigen-)Namens und des Namengebens, die bei Menninghaus durchaus Beachtung findet, ist eine Verbindung zum Bild oder zur Bildlichkeit hergestellt, die mit einer relevanten Seite der eingangs skizzierten Sprachphilosophie in Verbindung zu 63 Vgl. Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte, S. 71 ff. Dabei fungiert bereits Humboldt als Gewährsmann jener Interpretation vom ‚Ursprung’, die Agamben vergleichend weitertreibt. Vgl. ebd., S. 71 f.: „Aber bereits seit Humboldt hat die Sprachwissenschaft gezeigt, daß eine solche Vorstellung des Sprachursprungs auf Leichtfertigkeit beruht: Wir neigen stets zur kindlichen Vorstellung eines Ursprungs, in dem ein vollendeter Mensch auf einen ebenso vollendeten Menschen treffe, und aus dieser Begegnung entstünde allmählich die Sprache. Das sei, so Humboldt, reine Phantasie. Wir fänden den Menschen nie losgelöst von der Sprache vor und sähen ihn nie in dem Augenblick, in dem er Sprache erfinde.“ 2.5. Annäherungen (Menninghaus - Agamben) 71 bringen ist. Diese Seite zieht sich von den frühen Überlegungen, wo es um die Frage der Abbildung der Dinge im Namen, zu den Überlegungen in der ‚Erkenntniskritischen Vorrede’, in der der platonisch angehauchte Begriff der ‚Idee’ im Zentrum steht, bis hin zu den Überlegungen rund um das mimetische Vermögen des Menschen und damit auch der Kinder. Diese Dimension gerät bei Agamben nur ungenügend in den Blick, sogar in einem seiner neusten Bücher. 64 Dort geht es nämlich u.a. um die paracelsische Lehre der Signaturen, die so, oder beispielsweise auch vermittelt durch Jakob Böhmes Traktat „De signatura rerum“, einigen von Benjamins frühen Gewährsleuten bekannt gewesen sein dürfte. Agamben unterscheidet den Terminus der Signatur - der so etwas wie eine Kraft markiert, die die Eigenschaften eines Dings via Zeichen manifestiert - zwar strikt von dem des Zeichens, an gewissen Stellen werden die Signaturen auch mit dem Begriff des Bildes in Verbindung gebracht, jedoch unterlässt Agamben eine bildtheoretische Erörterung. Denn auch im Kontext der Signaturen- Lehre privilegiert er klar die Sprache, wenn er Paracelsus paraphrasierend die Sprache als ursprüngliche Signatur, ja gar als das Paradigma der Signaturen ausweist und festhält, „[d]aß der Archetyp der Signatur, die Kunst Signata par excellene, die Sprache ist“. Damit sei die Ähnlichkeit zwischen der Signatur und dem Signierten „nicht mit etwas Physischem gleichzusetzen, sondern […] nach einem analogischen und immaterialen Modell zu verstehen“. 65 Adam wird bei Paracelsus zum ersten ‚Signator’, weil er den Dingen die ‚rechten Namen’ gegeben hat, d.h. die Namen haben der Natur und besonderen Fähigkeiten des benannten Dings entsprochen. Unabhängig davon, dass hier eine Argumentation angelegt ist, die die Sprachwissenschaft immer wieder beschäftigen wird, konstatiert Agamben auch bei Benjamin eine ‚Philosophie der Signaturen’: „Auch wenn Benjamin den Terminus nicht verwendet, verweist das, was bei ihm ‚das Mimetische’ oder ‚immateriale Ähnlichkeit’ heißt, ohne jeden Zweifel auf die Sphäre der Signaturen“. 66 Agamben interpretiert das Verhältnis von unsinnlicher Ähnlichkeit und semiotischer Dimension der Sprache als Komplement zum Verhältnis von Signatur und Zeichen. Agamben schreitet auch von der Theorie des mimetischen Vermögens unmittelbar zum Begriff des dialektischen Bilds voran und reklamiert auch für diesen Begriff den Kontext einer Theorie der Signaturen. So schreibt er in diesem Zusammenhang: „Das historische Objekt ist […] niemals in neutraler Weise gegeben, sondern stets begleitet von einem Index oder einer Signatur, die es als Bild erst konstituieren und vorübergehend seine Lesbarkeit bestimmen und bedingen“. 64 Vgl. Giorgio Agamben, Signatura rerum. Zur Methode, Aus dem Italienischen von Anton Schütz, Frankfurt am Main 2009, insbesondere Teil 2, „Theorie der Signaturen“, S. 41-99. 65 Ebd., S. 44. 66 Ebd., S. 87. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 72 Er fährt fort: „Der Historiker sucht seine Dokumente nicht blind oder aufs Geratewohl in der unbewegten und unendlichen Masse des Archivs: er folgt dem dünnen, unmerklichen Faden der Signaturen, die verlangen, hier und jetzt gelesen zu werden.“ 67 Selbst an den wenigen Stellen, in denen er es explizit tut, erörtert Agamben den Begriff des Bildes bei Benjamin nicht sonderlich breit. Jedoch scheint es durch die Vielzahl der Verweise auf das Bild oder die Bildlichkeit der Sprache oder des Sprechens, wie sie im Zusammenhang mit dem Namengeben oder kindlichen Sprachverfahren aufgezeigt wurde, angebracht, einen näheren Blick auf diese Dimension in den Überlegungen zur Sprache und ihrer Verwendung im Umfeld des Kindes oder der Kindheit zu werfen und dabei, mit einem Seitenblick auf die Rekonstruktionen Agambens, die argumentativen Bewegungen und poetischen Verfahrensweisen der Benjaminschen Texte nicht aus den Augen zu verlieren. Denn dieses Moment kann man Agamben zugutehalten. Es scheint auch ein Moment zu sein, dass ihn von der Lektüre Menninghaus‘ unterscheidet. Dieser schenkt dem Bilddiskurs bei Benjamin, wie bereits festgehalten wurde, wenig Beachtung. Menninghaus‘ rekonstruiert Diskurse und Gedanken, um Theoreme herauszuarbeiten, die kompatibel mit poststrukturalistischen Thesen zur Sprache sind, d.h. er arbeitet Theoreme der Performanz heraus, unterlässt es aber, performative Verfahren zu untersuchen. Agamben hingegen versucht gerade, diese Dimension für sein eigenes Denken fruchtbar zu machen. 2.6. Differenz von Sprache und Bild: Verschiebungen Es ist keineswegs evident, dass der Name etwas mit dem Bild zu tun hat. Dennoch ist es frappant, wie er in verschiedensten Diskursen immer wieder mit dem Bild in Verbindung gebracht wird. Vielleicht gerade deshalb, weil es sich beim Namen um ein komplexes Schwellenphänomen der Sprache selbst handelt und gerade die höchsten Berührungspunkte und gleichzeitigen Differenzen zwischen dem Bild und der Sprache ebenfalls auf einer Schwelle zu verorten sind. Der Name ist ein Schwellenphänomen insofern, als er erstens nicht klar der semiotischen Dimension der Sprache zugerechnet werden kann. Er insistiert - so zumindest in sprachmystischen Theorien - als autoreferentielles Phänomen und stellt die Arbitrarität in Frage. Durch diesen Aspekt wird er unter einer sprachgeschichtlichen Perspektive als Konkretes dem abstrakten Zeichen entgegengesetzt. Damit ist er wiederum auf einer weiteren Schwelle angesiedelt. Deshalb, weil kein absoluter Anfang mehr angenommen wird, die Namensprache als bereits 67 Vgl. Giorgio Agamben, Signatura rerum, S. 90 f. 2.6. Differenz von Sprache und Bild: Verschiebungen 73 existente fungiert, in ihrer ‚Reinheit‘ jedoch nicht mehr begriffen werden kann. ‚Nicht mehr‘, weil sie aus einem pseudo-geschichtlichen Blickwinkel in ihrer ‚Reinheit‘ als ein Zustand angenommen wird, der mittlerweile - nach einer Entwicklung der Sprache hin zur Semiotik und Schriftlichkeit - vergangen ist. Die Argumentation ist an dieser Stelle negativ: noch finden sich in der aktuellen Sprachsituation Namen vor, die von einer vergangenen, nicht mehr positiv zugänglichen Stufe der Sprachentwicklung zeugen. Zugang erhält man über die Negation abstrakter Momente des Status quo. Diese Position findet sich bei Ludwig Klages, der durch die Negation der abstrakten und ‚intelligiblen‘ Seite der Namen auf eine sinnliche Dimension des Ausdrucks zu stoßen vorgibt. Oder indirekt findet sie sich auch bei Benjamin, der durchaus davon spricht, dass sich der Name ‚intentional‘ auf das Wesen der benannten Sache selbst beziehe, während das bedeutende Wort sich bereits nicht mehr auf das Wesen der Sache beziehe, sondern sie schlicht repräsentiere. Darüber hinaus fasst Benjamin das Zeichen als etwas, das sich gar nicht mehr auf die Sache beziehe, sondern nur noch auf das Wort (vgl. GS VI, 12). Anders als Klages behauptet Benjamin aber nicht, hinter diesen sprachlichen Zustand zurückzugehen. Dem Namen kommen demnach Eigenschaften zu, die auch dem Bild zugesprochen werden, wenn es als das Andere der Sprache begriffen wird. Folgenreich wurde diese Differenz in Bezug auf die Künste der Poesie und der Malerei ganz besonders in Lessings Laokoon-Schrift diskutiert. 68 Diese bildet im Grunde genommen eine Art Matrix der Auseinandersetzung über dieses Thema, auch wenn sie selbst bestimmte Annahmen über ihren Gegenstand trifft, die nicht ohne weiteres zu akzeptieren sind. Dennoch hielt oder hält sich diese Unterscheidung bis in zeitgenössische Theorieentwürfe, auch wenn ein Rückgang auf die Genesis und den Sprachursprung das nicht sofort kenntlich macht. Ralf Simon schreibt in seinem Buch über den poetischen Text als Bildkritik: Schon der alttestamentarische Bericht von der adamitischen Namensgebung führt die Dinge der Welt an Adam vorbei, als ginge er durch ein Museum, um auf die Bilder der Dinge zu blicken. Indem er ein jedes benennt, konsti- 68 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 2003, S. 113: „Wenn nun aber die Malerei, vermöge ihrer Zeichen oder der Mittel ihrer Nachahmung, die sie nur im Raume verbinden kann, der Zeit gänzlich entsagen muß: so können fortschreitende Handlungen, als fortschreitend, unter ihre Gegenstände nicht gehören, sondern sie muß sich mit Handlungen nebeneinander, oder mit bloßen Körpern, die durch ihre Stellungen eine Handlung vermuten lassen, begnügen.“ 2. Zur frühen Sprachphilosophie 74 tuiert er durch diesen Akt der Namensgebung zugleich auch die Individualität eines jeden Dinges im Unterschied zu einem jeden anderen benannten. 69 Es scheint, wie Simon zeigt, eine sprachphilosophische Tradition zu geben, die den Sprachursprung auch als Bildursprung zu denken versucht. Was dabei aber zu wenig beachtet wurde, ist die Sonderstellung, die der Name im Zusammenhang der Sprachphilosophie einnimmt. Zentral für Simons Lektüre der Verknotung von Sprach- und Bildursprung ist Johann Gottfried Herders „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“. Die bekannte Szene mit dem Schaf, dessen Blöken auf einen fingierten Wahrnehmenden einen tiefen sinnlichen Eindruck hinterlässt, so dass er anhand dieses Merkmals einen Namen für das Wahrgenommene bildet, versucht Simon jedoch nicht-phonozentrisch zu lesen, wie das oft getan wurde: Am Schaf werden Merkmale unterschieden und das Blöken dem Weißen, Sanften und Wolligen vorgezogen. Ebenso werden Funktionen unterschieden, es wird nämlich statt des triebhaften Begehrens die nichtpraktische Weise der Aneignung (Jonas) vorgezogen, also die Etablierung eines Vorstellungsbildes, welches mit einem Namen versehen zum Merkmal wird. Diese Kombination von Bild und Name als resultierend aus Unterscheidungsakten ist nichts anderes als die Etablierung eines Gedächtnisses. 70 Diese Szene lässt sich sprach- und bildtheoretisch lesen, da es darum geht, aus etwas Flüchtigem ein Beständiges zu schaffen, das vermeintliche Paradox eines sprachlichen Bilds. Herder nimmt beispielsweise in geschichtsphilosophischen Überlegungen an, dass die ägyptische Hieroglyphik ein Versuch darstellt, den artikulierten Lauten ein entsprechendes ‚materielles‘ Bild zur Seite zu stellen: Indem Herder diese Theorie, die von der ideographischen Schrift herkommt, auf die alphabetische Schrift anwendet, stellt er zugleich die These auf, dass in allen Wörtern ein bildlicher Rest vorhanden sein muss. In ihren Wurzeln stecken die ursprünglichen Bilder, aus denen sie herkommen. Folglich wird für Herder die Etymologie zu einer Wissenschaft, in der sich die Bildlichkeit der Sprache entdecken und beweisen lässt. 71 Ähnliche Theoreme zur Etymologie kann man, wie wir anhand von Ludwig Klages gesehen haben, auch noch im 20. Jahrhundert finden - und dieser ist beileibe nicht der bekannteste philosophische Exponent, der der 69 Vgl. Ralf Simon, Der poetische Text als Bildkritik, München 2009, S. 114, Hervorhebungen im Text. 70 Ebd., S. 125. 71 Ebd., S. 145. 2.6. Differenz von Sprache und Bild: Verschiebungen 75 Etymologie eine gewisse Aufmerksamkeit entgegengebracht hat. Wichtig ist aber an Simons Lektüre des ‚siebenfachen‘ Sprachursprungs, dass Herder über die Vervielfältigung der verschiedenen Aspekte eines möglichen Sprachursprungs sämtliche Positionen seiner Zeit integriert, gleichzeitig im Einzelnen aber auch widerlegt, um einem ‚systemtheoretischen Philosophieren‘ Vorschub zu leisten. 72 Mithilfe dieser These versucht Simon, Herder in gewisser Weise ‚performativ‘ zu lesen. Denn er behauptet nichts anderes, als dass eine naive Lektüre des Textes bloß auf dessen Widersprüche zurückgeworfen bleibe, nicht jedoch eine Lektüre, die die ‚selbstreflexive Ikonizität‘ des Herderschen Textes berücksichtige. Diese Lektürebewegung wurde auch bezüglich der Rezeption der Benjaminschen Texte aufzuzeigen versucht, nämlich anhand der Texte von Menninghaus und Agamben. Simon versucht, den Text ebenfalls kontextuell zu situieren, die Thesen des Herderschen Textes kompatibel mit zeitgenössischen Positionen zu machen, er wirft dabei aber auch einen Blick auf diejenigen Bausteine des Textes, die sich ihrem Gegenstand mittels performativer Reflexion annähern. Damit wirft er einen notwendigen Blick auf den strategischen Umgang des Textes und seiner Verfahren mit dem behandelten Gegenstand. Wenn es sich beim Bild tatsächlich um einen so kontroversen Gegenstand handelte, der der Sprache immer wieder polar entgegenzusetzen ist und ohne den sie aber nicht auskommen könnte, muss das ja zwangsläufig Spuren am Text hinterlassen. Dabei sollte man aber Vorsicht walten lassen, damit der Begriff der ‚Bildlichkeit‘ nicht zu einem Verlegenheitsbegriff für eine textuelle Funktion verkommt, die auch mit anderen Begriffen zu fassen wäre. Eine weitere Feststellung führt über die Beobachtung hinaus, dass „Sprache und Bild in der Urszene des Sprachursprungs eine untrennbare Verknüpfung eingehen“ 73 . Sie besteht darin, eine Divergenz zwischen Sprache und Bild anzunehmen: 72 Vgl. Ralf Simon, Der poetische Text als Bildkritik, S. 145 f.: „Er integriert auf der Ebene eines ersten Sprachursprungs La Mettrie. Er integriert Rousseau und Condillac in seinen zweiten Sprachursprung. Er integriert den göttlichen Sprachursprung, zumindest metaphorisch, und damit Süßmilch auf der dritten Ebene. Er integriert die Logos-Mystik, das Luthersche Wort der Seele, im vierten Sprachursprung. Im fünften Sprachursprung könnte man auf Theoreme von Leibniz zurückgreifen, nach denen sich die Monade ihre eigene Artikulations- und Äußerungsgestalt schafft. Der siebte Sprachursprung schließlich integriert Theoreme derjenigen, die meinen, dass die Sprache aus des symbolischen Interaktion erwachsen wäre. Gleichzeitig kann Herder alle diese Theoreme, die er als Gedankenschritte seines Systems benutzt, wiederum auch widerlegen, denn ein jedes dieser Theoreme kann nur an einem bestimmten Ort seinen Geltungsanspruch begründen und hat somit an sechs anderen argumentativen Orten Argumente gegen sich.“ 73 Vgl. Ralf Simon, Der poetische Text als Bildkritik, S. 262. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 76 Diese Theorie der Divergenz von Sprechen und Bild in der Sprache markiert den Ort, an dem die philosophische Reflexion auf den aisthetischpoietischen Grund durchbricht und also den literarischen Grund des Philosophierens in Augenschein nimmt. Es handelt sich um die Zäsur, in der die Literaturwissenschaft wiederum in das Geschehen der Ursprungsdebatte eintritt. Auf die philosophische Theorie der Konvergenz von Sprache und Bild folgt die literaturwissenschaftliche Theorie von der Divergenz von poetischem Text und Bildlichkeit. 74 Mit Herder formuliert Simon die Abhängigkeit der Poesie von der Sprache und der Sprache vom Bild. Jedoch konstatiert er trotz dieser Abhängigkeit eine kritische Bewegung gegen das Bild, die durch die Diskontinuität der diskreten Sprachzeichen zustande kommt. Damit wird eine relativ klassisch gewordene Unterscheidung zwischen Bild und Sprache, die oben mit Lessing assoziiert wurde, reproduziert: „Das Bild, auch als eidetischer Gegenstand, ist kontinuierlich, analog, von gleichmäßig geschlossener Dichte. Die Sprache ist diskontinuierlich, vergleichsweise digital, von einer Dichte, die offen ist.“ 75 ‚Bildkritik‘ wird damit zu einem Moment zweier Systeme, die ohne das andere nicht existieren können, aber eigentlich inkompatibel sind. Literatur semantisiert Bilder, übersetzt sie in ein semiotisches System, das sie zerstückelt und wieder als poetisches Bild zusammensetzt. Andererseits gibt es Ansätze, die ganz anders als Simon nicht der Literatur eine ‚bildkritische‘ Tendenz zuschreiben, sondern eine Unabhängigkeit der ‚Macht‘ des Bildes von der Sprache behaupten. 76 Gottfried Boehm versucht mittels der Annahme einer ‚ikonischen Differenz‘ die ‚Logik‘ des Bildes mit der Materialität des Bildträgers zu verknüpfen, der quasi gleichzeitig die Wiederholbarkeit und Differenz des eidetischen Bildinhalts garantieren soll. Simon hingegen möchte das Bild radikal von Bildträger - in 74 Ebd., S. 262, Hervorhebungen im Text. 75 Ebd., S. 266 f. 76 Vgl. beispielsweise Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild? , München 1994, S. 30 f.: „Was auch immer ein Bildkünstler darstellen wollte, im dämmrigen Dunkel prähistorischer Höhlen, im sakralen Kontext der Ikonenmalerei, im inspirierten Raum des modernen Ateliers, es verdankt seine Existenz, seine Nachvollziehbarkeit und Wirkungsstätte der jeweiligen Optimierung dessen, was wir die ‚ikonische Differenz‘ nennen. Sie markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die Eigenart des Bildes kennzeichnet, das der materiellen Kultur unaufhebbar zugehört, auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen läßt, der zugleich alles Faktische überbietet. Das stupende Phänomen, daß ein Stück mit Farbe beschmierter Fläche Zugang zu unerhörten sinnlichen und geistigen Einsichten eröffnen kann, läßt sich aus der Logik des Kontrasts erläutern, vermittels derer etwas als etwas ansichtig wird. Was der Satz (der ‚Logos‘) kann, muß auch dem bildnerischen Werke zu Gebote stehen, freilich auf seine Weise.“ 2.6. Differenz von Sprache und Bild: Verschiebungen 77 seinem Fall die Sprache oder der poetische Text - und Bildobjekt unterschieden wissen 77 , verleiht für seine These von der bildkritischen Bewegung des poetischen Texts aber dennoch, in gewisser Weise gar nicht so weit weg von Boehm, dem Bildträger damit eine gewisse Macht, auch wenn dessen Materialität zu einem Teil aus ‚willkürlichen‘ und nicht aus ‚natürlichen‘ Zeichen zusammengesetzt ist. Um die in diesem Exkurs vorgetragenen Ausführungen auf das eingangs Festgestellte zu beziehen, soll nochmals deutlich gemacht werden, dass in theoretischen Diskursen immer wieder eine Verknotung von Sprache und Bild stattfindet, die diese beiden Sphären punktuell konvergieren wie auch fundamental divergieren lässt. Ob es sich nun darum handelt, semiotisches Vokabular auf das Bildliche anzuwenden (Nelson Goodman 78 ) oder ob es darum geht, die ‚Logik‘ des Bildes radikal von der Logik der Sprache zu unterscheiden (Gottfried Boehm), es besteht die besagte Differenz zwischen den beiden unvereinbar geltenden Sphären. Nur scheint es Phänomene zu geben, die diese polare Differenz unterminieren, um eine weitere Differenz zu erzeugen, die diese Phänomene nur schwer der einen oder anderen Seite zuteilbar macht: in unserem Fall würde es sich dabei beispielsweise um die Differenz des Namens handeln, den man als Phänomen spontan wohl eher dem Bereich der Sprache zurechnen würde, weniger dem des Bildes. Wie wir aber gesehen haben, funktioniert das nicht so leicht. Der weiter oben kurz erwähnte Hans Jonas, der sich in seinem Aufsatz über den ‚Homo pictor‘ der Bildfrage anthropologisch nähert, baut in seiner Argumentation ebenfalls auf eine strikte Trennung von Sprache und Bild. Er eröffnet seinen Aufsatz zum ‚Homo pictor‘ mit der Frage nach dem Wesen des Menschen und meint, dieses über die Differenz zu den Tieren bestimmen zu können. Sein wichtigstes Differenzkriterium findet er dabei im Begriff des ‚Bildens‘, den er auch auf den Namen bezieht. 79 Obwohl 77 Vgl. Ralf Simon, Der poetische Text als Bildkritik, S. 26 f. Simon entnimmt die ‚doppelte Unterscheidung‘ des Bilds von Bildträger und Bildgegenstand von Hans Jonas, der wiederum von Edmund Husserls Unterteilung des ‚Bilds‘ in Bildobjekt (Darstellung), Bildträger (Darstellendes) und Bildsujet (Dargestelltes) beeinflusst scheint. Vgl. dazu Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005, S. 30 ff. 78 Vgl. Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Cambridge 1976. 79 Vgl. Hans Jonas, Homo pictor. Von der Freiheit des Bildens, In: Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild? , München 1994, S. 105: „Die Frage nach dem Wesen des Menschen kann gestellt werden als die Frage nach dem, was den Menschen von den übrigen Lebewesen, also vom Tier, unterscheidet.“ Vgl. auch ebd., S. 106: „Es besteht bessere Hoffnung auf ein vorausgehendes Einverständnis darüber, was ein Bild ist, als darüber, was ein Wort ist. In der Tat mag ein Verstehen des schlichteren Bildvermögens etwas zum Verstehen des weit verwickelteren Problems der Rede beitragen.“ 2. Zur frühen Sprachphilosophie 78 Jonas mit großem Aufwand darzulegen versucht, wie der Mensch befähigt ist, ein Ding wahrzunehmen und dass er die Freiheit hat, es mittels der Imagination psychisch wie auch physisch bildlich zu reproduzieren 80 - und dabei eine ausreichend komplexe Definition des Bilds bemüht -, kommt er von der Sprache nicht los. Der ‚Homo pictor‘ ist primär doch auch einer, der den Dingen Namen gibt. Gegen Schluss seines Aufsatzes lässt sich Jonas abermals auf die ‚geistige‘ Seite des ‚Bildens‘ ein: Die Bibel erzählt (Gen. 2, 19), daß Gott die Tiere des Feldes und die Vögel der Luft schuf, es aber Adam überließ, sie zu benennen. Eine Haggada zu dieser Stelle (Genesis Rabba XVII 5) sagt, daß Gott vor den Engeln die Weisheit Adams pries: indem er allen Geschöpfen, sich selbst und sogar Gott Namen gab, habe Adam getan, was die Engel nicht vermocht hätten. Die Benennung der Dinge ist hier als die erste Tat des neugeschaffenen Menschen angesehen und als vorzüglich menschlicher Akt. Es ist ein Schritt über die Schöpfung hinaus. 81 Der Mensch als Schöpfer von Gattungs- und Artnamen wiederholt mit dem namengebenden Akt quasi die Schöpfung auf einer symbolischen Ebene noch einmal: „So ist die symbolische Verdoppelung der Welt durch Namen zugleich ein Ordnen der Welt gemäß ihre generischen Urbildern.“ 82 Ähnlich wie schon bei Hegel, der weiter oben von Agamben referiert wurde, geht es hier primär um die Verallgemeinerung des benannten Gegenstands im Namen, die Einrichtung eines Gedächtnisses, das jedes Individuum wiederum unter die eingerichtete Ordnung garantieren sollte. Jonas vergleicht die Allgemeinheit des Namens mit der Allgemeinheit des Bildes, da auch das gezeichnete oder materialisierte Bild das „innere Bild ausdrücklich“ mache, durch dessen „Allgemeinheit es sich auf die vielen Individuen beziehen kann“. 83 Für Jonas wiederholt so das Bildmachen „den schöpferischen Akt, der im Residuum des Namens verborgen“ sei: „das 80 Vgl. Hans Jonas, Homo pictor, S. 121 f., Hervorhebung im Original: „Was wir hier vor uns haben ist ein trans-animalischer, einzigartig menschlicher Tatbestand: eidetische Kontrolle der Motilität, d.h. Muskeltätigkeit, regiert nicht von festen Reiz- und Reaktionsschemata, sondern von frei gewählter, innerlich imaginierter und vorsätzlich projizierter Form. Die eidetische Kontrolle der Motilität , mit ihrer Freiheit äußerer Ausführung, ergänzt so die eidetische Kontrolle der Imagination, mir ihrer Freiheit inneren Entwerfens. Ohne die letztere gäbe es kein rationales Vermögen, aber ohne die erstere wäre sein Besitz umsonst, weil wirkungslos. Beide zusammen ermöglichen die Freiheit des Menschen. Homo pictor, der beide in einer anschaulichen, unteilbaren Evidenz zum Ausdruck bringt, bezeichnet den Punkt, an dem homo faber und homo sapiens verbunden sind - ja, an dem sie sich als ein und derselbe erweisen.“ 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 122 f. 2.6. Differenz von Sprache und Bild: Verschiebungen 79 symbolische Noch-einmal-Machen“ der Welt. 84 Diese Parallelisierung von Bildern und Namen enthält Setzungen, auf die kurz hingewiesen werden soll. Erstens definiert Jonas ‚Bilder‘ stark über Kriterien sinnlicher Ähnlichkeit, die artifiziell und intentional hergestellt wurde. Über dieses für ihn entscheidende Kriterium bei der Produktion von (Ab-)Bildern verliert Jonas hinsichtlich des Benennens kein Wort. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil die Diskussion rasch verkompliziert würde, würde man das Verhältnis des ‚Eidos‘, um das es Jonas im angesprochenen Punkt hauptsächlich geht, zur sprachlichen Äußerungsform nochmals bezüglich der Motiviertheit untersuchen. Man könnte an dieser Stelle festhalten, dass Jonas ein relativ ‚enges‘ Bildverständnis hat, das sich einerseits auf ein ‚inneres‘ Bild bezieht, andererseits eine Materialisierung nach Maßstäben sinnlicher Ähnlichkeit erfordert. Über diese Kriterien zur Definition eines Bildes ließe sich streiten. Hier ist aber nicht der Ort, diese Definition in Frage zu stellen, es soll nur wiederholt konstatiert werden, dass dadurch eine Trennung von Bild und Sprache vorgenommen wird, die diese beiden Phänomene irreduzibel trennt, obwohl sie gerade wiederum im Namen einen Berührungspunkt zu finden scheinen, der auch im Falle der Argumentation von Jonas‘ diesem eine unausgesprochene Magie beschert, die sonst dem Bild vorbehalten zu sein scheint. Hier wurde zu zeigen versucht, dass in der Geschichte der Annäherung an diese beiden Momente, einerseits jene scheinbar irreduzible Differenz zwischen Sprache und Bild, andererseits die gleichzeitige Feststellung von Schnittmengen oder Überkreuzungen, in Bezug auf ein Phänomen wie dem Namen, eine gewisse Konstanz besteht. Damit soll zuerst einmal gesagt sein, dass die Diskussion existiert und aktuell zu sein scheint, Sprache und Bild voneinander zu trennen, dem einen Eigenschaften zuzuschreiben, die dem anderen entgegengesetzt sind, dann jedoch auch wieder Gemeinsamkeiten dieser beiden ‚symbolisierenden‘ Ausdruckssysteme festzustellen, um letztlich auf Phänomene zu treffen, die eine klare Zuordnung erschweren. Andere, aber ähnliche Zuordnungsprobleme ergeben sich beispielsweise auch, wenn man sich die Frage stellt, ob das sprachliche Phänomen der Lautmalerei oder auch das Phänomen sprachlicher Deixis bildlich sei, oder wenn man, präziser, nach der Art dieser Bildlichkeit fragt, um die es im nächsten Kapitel gehen wird. Hier soll aber auch etwas anderes festgehalten werden: Trotz der Koexistenz des Bilds und der Sprache im Ursprung zeichnete sich eine dialektische Bewegung ab. Etwas, das im Ursprung vollumfänglich präsent war, wurde im Laufe der Zeit verschüttet und abgelöst. Der Einfachheit halber seien die damit angesprochenen Dimensionen der Sprache und des Bilds ‚sinnlich‘ und ‚konkret‘ genannt, man könnte sie auch ‚natürlich‘ nennen. Zurückgedrängt oder abgelöst 84 Ebd., S. 123. 2. Zur frühen Sprachphilosophie 80 wurde diese durch eine ‚intelligiblere‘ und ‚symbolischere‘ Auffassung der Verhältnisse. Und im Rahmen dieser ‚Intelligibilität‘ und ‚Symbolik‘ wiederum wurde das nun Verdrängte wieder aufgespürt, um es entweder zu nobilitieren und aufzuwerten oder um es kritisch zu reflektieren oder gar der Liquidation zuzuführen. Die Verschiebung vom ‚Sinnlichen‘ zum ‚Intelligiblen‘ - oder in die umgekehrte Richtung - lässt sich auch in Bezug auf eine Auseinandersetzung mit dem Thema des Sprach- oder Bildursprungs selbst feststellen. Von der metaphysisch geprägten Diskussion des Themas hin zu einer anthropologischen beispielsweise ist eine Versinnlichung wahrnehmbar. Das ist etwa bei Hans Jonas großenteils so, wenn er gerade nicht vom Namen spricht, das ist aber auch bei Benjamin feststellbar, wenn er sich mit zeitgenössischen Ansätzen auseinandersetzt, die den Sprachursprung untersuchen. Die Phänomene der ‚Deixis‘ und der ‚Onomatopoesie‘, die dort prominent diskutiert werden, weisen auch für uns heute noch scheinbar ‚sinnlichere‘ Qualitäten auf als der Name. Denn dieser ist innerhalb einer semiotischen Auffassung der Sprache genauso ‚abstrakt ‘ zu fassen wie ein Wort. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 3.1. Onomatopoesie, Geste, Mimesis Wie in den vorigen Kapiteln angedeutet, stößt man in Benjamins eigenen Überlegungen zur Sprache immer wieder auf anthropologische Themen und Annahmen. Diese Dimension kommt zwar selten ausschließlich und ausführlich zur Sprache, aber dafür relativ regelmäßig. Auch in einem Text, der als Sammelreferat konzipiert wurde, findet eine Diskussion anthropologischer Facetten sprachphilosophischer Ansätze statt. Benjamin geht darin vorwiegend auf zeitgenössische Theorien ein. Das Referat, das etwa Ende 1934 verfasst wurde und 1935 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen ist, trägt den Titel „Probleme der Sprachsoziologie. Ein Sammelreferat“ (vgl. GS III, 452-480). An Werner Kraft schreibt Benjamin am 30. 1. 1936, dass dieses Referat „genau an die Stelle führt“, wo Benjamins „eigene Sprachtheorie, die [er] auf Ibiza vor mehreren Jahren in einer programmatischen Notiz niedergelegt habe, einsetzt“ (GB V, 237). Dieses Referat geriet erst vor Kurzem vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit der Benjamin-Rezeption. Anja Lemke hat im Benjamin-Handbuch zur ‚späteren Sprachphilosophie‘ einen Artikel geschrieben, außerdem hat sich die Dissertation von Günter Karl Pressler ausschließlich mit dem Sammelreferat befasst. 1 Vielleicht, weil es sich ‚nur’ um ein Referat handelt und sich darüber hinaus mit Ansätzen auseinandersetzt, die bislang in der Benjamin- Forschung eher wenig Beachtung gefunden haben, ist die breite Rezeption ausgeblieben. Bei der ‚eigenen Sprachtheorie’ von der Benjamin redet, sind sehr wahrscheinlich die beiden kurzen Texte über die „Lehre vom Ähnlichen“ und ihre Überarbeitung „Über das mimetische Vermögen“ gemeint, die beide im Jahr 1933 verfasst wurden. Diese wiederum - und das ist nicht unwichtig - sind nach einer brieflichen Mitteilung Benjamins an Gershom Scholem aus den Arbeiten an der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ entstanden. Am 28. 2. 1933 schreibt er, nachdem er Scholem mitteilt, dass er das ‚letzte Stück’ der ‚Berliner Kindheit’ - das der damals geplanten Reihenfolge nach das erste hätte werden sollen - abgeschlossen habe, es sei nun „unter so bewandten Umständen dennoch eine neue - Sprachtheorie 1 Vgl. Anja Lemke, Zur späteren Sprachphilosophie, in: Burkhardt Lindner (Hrsg.), Benjamin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart, Weimar 2006, S. 643-653 und Günter Karl Pressler, Vom mimetischen Ursprung der Sprache. Walter Benjamins Sammelreferat Probleme der Sprachsoziologie im Kontext seiner Sprachtheorie, Frankfurt am Main 1992. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 82 entstanden“ (GB IV, 163). „Bemerken will ich nur, dass sie bei Studien zum ersten Stücke der ‚Berliner Kindheit’ fixiert wurde.“ (Ebd.) Bei diesem ersten Stück der ‚Berliner Kindheit’ handelt es sich um kein geringeres als das bereits zitierte Stück „Die Mummerehlen“, das in demselben Brief auch als „Pendant zum letzten - dem ‚Bucklicken Männlein’“ bezeichnet wird. Benjamin verlangt von Scholem, dass er ihm die Kopie seiner eigenen frühen Spracharbeit „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ schickt, weil er sie für die Abfassung der neuen Arbeit benötigt. Auch scheint im Kontext eines erst in Band VII, 2 der Gesammelten Schriften edierten Textes, eines Entwurfs zu den ‚Mummerehlen’ mit Titel „Zur ‚Lampe’“, auf, dass ein altes Motiv der frühen Spracharbeit, nämlich die Lampe, in diesen eher späteren Texten zur Sprache erneut eine Rolle spielt (vgl. GS VII, 792 ff.). Man hat es bei dieser späten Sprachtheorie also demnach wiederum mit einem komplexen Geflecht von Bezügen zu tun, die, wie die Eingangsbemerkung klar gemacht haben sollte, auch das späte Sammelreferat über die ‚Probleme der Sprachsoziologie’ betreffen. In diesem Kapitel soll es primär um die Aufarbeitung dieser Bezüge gehen. Ausserdem wird mit Blick auf unser Thema auch eine argumentative Verschiebung interessant. Im vorigen Kapitel war der Sprachursprung ziemlich deutlich als solcher zu erkennen, die ‚bildliche‘ Dimension der Sprache blieb relativ ‚abstrakt‘ und bezog sich eher auf den Namen als ‚urbildliches‘ Fundament der Sprache. Hier jedoch kommen ‚bildliche‘ Phänomene zur Sprache, die im Sprachursprung als sinnlich-konkrete ins Feld geführt werden. Die hier rekonstruierte Argumentation stützt sich auf die Erzählung, dass dieses sinnlich-konkrete Moment nach und nach in der semiotischen Sprache ins Abstrakte transformiert wird. Ist es zu Beginn noch fast ausschließlich Basis der Kommunikation, bleibt es später als ein Sinnlich-Konkretes zwar in der Sprache als Rudiment erhalten, seine Funktion hat es als Intelligibel-Abstraktes nun aber auch in der semiotischen Lautsprache bis hin zur Schrift. Um diese abstrakten Sätze auf ein konkretes Beispiel zu beziehen: Die ‚Geste‘ hat diese doppelte Bedeutung. Sie kann einerseits noch immer als sinnlich-konkrete Dimension der Sprache wahrgenommen werden, als Zeigegeste in einer Kommunikationssituation, in der sich die Sprecher leibhaftig begegnen, wo Mimik und das Gestikulieren mit den Händen ein Bestandteil der Kommunikation darstellt, andererseits kann sie innerhalb des semiotischen Sprachsystems auch als eine ins Abstrakte transformierte Funktion begriffen werden - in einer mündlichen Sprechsituation bei Präsenz der Sprechenden wie auch in der schriftlichen Kommunikation. Die im vorigen Kapitel konstatierte Dialektik kann unter anderen Vorzeichen auch hier festgestellt werden. In Bezug auf die ‚Geste‘ wird deutlich, dass sie zwar ‚konkreter‘ als der Name bleibt, dass aber auch sie eine Abstraktionsbewegung vollzieht, der ihr über den Transfer in die semiotische Sprache das Moment der sinnlichen Ähnlichkeit abzieht und 3.2. Über „Die Probleme der Sprachsoziologie“ 83 sie in den symbolischen Bereich der Sprache integriert. 2 Das deiktische Moment konserviert jedoch durch seinen hinweisenden Charakter das Konkrete, egal, ob es auf etwas außerhalb der Sprache weist oder am Ende auf die Sprache selbst, auf ihr „Ins-Werk-Setzen“, wie Giorgio Agamben schreibt. 3 Jedenfalls wird deutlich, dass diese Dimension der Sprache, gerade weil sie in den Symbolraum transferiert wurde, als transzendentale Bedingung bildlich-sprachlichen Kommunizierens wieder von Interesse ist. 3.2. Über „Die Probleme der Sprachsoziologie“ Da der besagte Text über die ‚Sprachsoziologie‘ laut Benjamin an jene Stelle führt, wo seine eigene Sprachtheorie einsetzt, soll diesem Text nun zuerst einige Aufmerksamkeit geschenkt werden. Nicht wie bei seinen anderen Texten zur Sprache setzt Benjamin sich in diesem Text, weil es sich eben um ein Referat handelt, vermehrt und explizit mit zeitgenössische Ansätzen auseinander. Obwohl der Titel impliziert, dass Benjamin sich soziologischen Ansätzen zuwenden wird, fällt auf, dass er sich stark mit psychologisch oder anthropologisch ausgerichteten Texten beschäftigt. Es fällt auch auf, dass er bestimmte Texte und Ansätze, die seinen eigenen Arbeiten entgegenkommen, nur streift, anderes dagegen, das seinem Denken weniger entspricht, breiter ausführt. Benjamin räumt zu Beginn seines Referats auch ein, dass es sich bei dem Thema um ein Grenzgebiet handle, das, trete man ihm näher, Berührungspunkte mit weiteren Disziplinen eröffne: [S]o gehört die Einwirkung der Sprachgemeinschaft auf die Sprache des Einzelnen als Kernproblem der Kinderpsychologie an; die immer noch zur Verhandlung stehende Frage des Verhältnisses von Sprache und Denken ist, wie zu zeigen sein wird, ohne die Materialien der Tierpsychologie kaum 2 In diesem Zusammenhang ist der folgende Hinweis Giorgio Agambens auf die von Roman Jakobson (nach Otto Jespersen) festgestellten ‚Shifters‘ interessant. Er charakterisiert sie als ein Schwellenphänomen zwischen Symbol und Index: „Im Rückgriff auf Peirce‘ Unterscheidung zwischen dem Symbol (das mit dem repräsentierten Gegenstand aufgrund einer konventionellen Regel assoziiert wird) und dem Anzeichen (das in einer existenziellen Beziehung mit dem von ihm repräsentierten Gegenstand steht) definiert er die shifters als eine besondere Zeichenklasse, die beide Funktionen in sich vereint: als ‚anzeigende Symbole‘ (indexical symbols).“ Vgl. Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 48. Als Beispiel wird das Personalpronomen ‚ich‘ angeführt, das einerseits symbolisch-konventionell bedeutet, andererseits aber in einer ‚existenziellen Beziehung‘ zum Sprecher steht. Vgl. dazu Roman Jakobson, Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen, München 1974, S. 35-54, besonders S. 37 f. 3 Vgl. Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod, S. 50. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 84 in Angriff zu nehmen; die neuen Auseinandersetzungen über Hand- und Lautsprache sind der Ethnologie verpflichtet; und endlich hat die Psychopathologie mit der Lehre von der Aphasie, der schon Bergson weittragende Aufschlüsse abzugewinnen suchte, auf Fragen, die für die Sprachsoziologie von Bedeutung sind, Licht geworfen. (GS III, 452 f.) Benjamin steckt im Grunde bereits in diesem Zitat den Diskurs seiner Gewährsleute ab, der sich neben der Soziologie und Linguistik eben auch auf Kinder- und Tierpsychologie, Psychopathologie und Ethnologie abstützt. Etwa bei Jean Piaget und seinem Buch über das Sprechen und Denken des Kindes von 1923, das Benjamin in seinem Referat noch ausführlich, und v.a. mehrheitlich affirmativ zitiert - was angesichts seiner kritischen Haltung gegenüber psychologischen und pädagogischen Diskursen nicht selbstverständlich ist -, findet man auf den ersten Blick die meisten der von Benjamin angesprochenen Probleme oder Fragen wieder. 4 Darüber hinaus findet man auch auf den ersten Blick Äußerungen über das Verhältnis von ersten Worten des Kindes, primitiven Denkens und mimetischen wie auch magischen Sprachverhaltens, die im Kontext der späten Sprachtheorie Benjamins diese, so kryptisch sie scheinen mag, durch die Beziehung zu zeitgenössischen Diskursen, die nicht einfach mit dem Prädikat der Esoterik versehen werden können, weitaus nachvollziehbarer macht. 5 Dennoch bezieht sich Benjamin in seinem Sammelreferat auch auf eher ‚esoterische‘ Texte, etwa auf eine Arbeit des Sprachphysiognomikers Heinz Werner 6 4 Vgl. Jean Piaget, Sprechen und Denken des Kindes, übersetzt von Nicole Stöber, Düsseldorf, 3. Auflage 1976. 5 Vgl. beispielsweise Jean Piaget, Sprechen und Denken des Kindes, S. 17: „Man findet z.B. unter den allerersten Worten ganz offensichtlich die Liebesschreie, mit denen der sexuelle Akt eingeleitet wird. Daher bleiben diese Worte und alle Worte, die auf diesen Akt anspielen, unmittelbar emotional geladen. Diese Tatsachen erklären die allgemeine Tendenz beim primitiven Denken, den Namen von Personen und Dingen und die Bezeichnung von Ereignissen als Träger der Eigenschaften dieser Dinge oder Ereignisse zu sehen.“ Und einen Abschnitt weiter: „So spricht schließlich vieles dafür, daß die ursprüngliche Sprache des Kindes viel komplexere Funktionen hat, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Selbst wenn man den Details dieser Theorien mit größtem Vorbehalt gegenübersteht, müssen wir einsehen, daß viele Ausdrücke, die für uns nur begriffliche Bedeutung haben, für das Kleinkind lange Zeit eine Bedeutung behalten, die nicht nur affektiv, sondern quasi magisch oder wenigstens an gewisse Verhaltensweisen gebunden ist, die wir isoliert erforschen sollten, wobei wir unsere Erwachsenenmentalität vergessen müssen.“ 6 Werner ist, wie Ludwig Klages, aber auch andere Leute mit anthropologischphilosophischem Hintergrund (etwa Max Scheler oder Helmuth Plessner), stark am Ausdruck interessiert. Neben dem nonverbalen Ausdruck, der etwa in Form der Mimik zentrale Bedeutung jene anthropologischen Philosophen hat, ist immer auch das Verhältnis dieser ‚unmittelbaren‘ Ausdrucksform zum ‚mittelbaren‘, nämlich zu jenem der ‚abstrakten‘ Zeichensprache, von Interesse. Bei Heinz Werner stößt man auf eine analoge Bewegung gar auf der nächsten Ebene, nämlich innerhalb der verbalen 3.2. Über „Die Probleme der Sprachsoziologie“ 85 und auf ein Buch Rudolf Leonhards, den er in dem kurzen Text über die Lehre vom Ähnlichen nochmals namentlich - in jenem über das mimetische Vermögen nicht mehr namentlich - zitiert. Gleich im nächsten Abschnitt seines Sammelreferats kommt Benjamin auf das Thema des Sprachursprungs zu sprechen, den er als jenen Schnittbereich ausmacht, in dem die „Kardinalprobleme“ der Sprachwissenschaft und der Soziologie aufeinanderträfen. Der Sprachursprung erscheint ihm gar als ein „Fluchtpunkt“, „auf den die verschiedensten Theorien sich ungezwungen ausrichten“ ließen (GS III, 453). Benjamin bezieht sich mit dieser starken These auf Henri Delacroix, der in seinem Buch „Le langage et la pensée“ 7 den nicht abwegigen Gedanken äußerst, dass es eigentlich unmöglich sei, über das Studium der Sprachgeschichte zu den Ursprüngen der Sprache zu gelangen, da Sprache gerade die Vorbedingung für Geschichte darstelle. 8 Delacroix referiert, wie Benjamin auch festhält, im Anschluss an die von Benjamin übersetzte Stelle Hypothesen, mit denen die Sprachwissenschaftler besagte Ursprünge zu rekonstruieren versucht haben. Trotz der Konventionalität, der Intentionalität und der Willkür, die der Sprache eindeutig anhaften, sei unklar, wie der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem zustande gekommen ist. Eine der wichtigsten Erklärungsversuche sei daher, die Sprache könne durch die Nachahmung von Tönen Sprache: An dieser Stelle klingt Kulturkritik an, die, obwohl sie hier nicht als solche präsentiert wird, zu dieser Zeit nicht ganz unüblich ist und die einem auch bei Klages begegnet, der von Werner freilich gelesen wurde. Vgl. Heinz Werner, Grundfragen der Sprachphysiognomik, Leipzig 1932, S. 10: „Mit der zunehmenden Theoretisierung und Technisierung der menschlichen Welt werden Sinn und Funktion der Sprache gewandelt, wird die Sprache des Ausdrucks zur Begriffssprache. In einer Welt des Ausdrucks hat die Sprache ein unmittelbares Verhältnis zur Welt der Dinge, denn im letzten Grunde gibt es hier nur eine Realität und das ist die Realität ausdrucktragender Gegenständlichkeiten. Das wird anders, wenn nicht die konkreten Gegenstände, sondern ihre abstrakten Begriffe gefaßt und sprachlich abgebildet werden. Dann wird die Wirklichkeit, dann wird jedes Ding und jede Eigenschaft ein versinnlichtes Exemplar des abstrakten Begriffs.“ 7 Vgl. Henri Delacroix, Le langage et la pensée, Paris 1930. 8 Vgl. GS III, 453, eine Passage aus Delacroix‘ Buch (S. 128 f.), in der Übersetzung Benjamins, die nicht immer ganz wortgetreu, sinngemäß aber durchaus korrekt ist - Delacroix spricht etwa nicht von der ‚Sprachgeschichte‘, sondern vom ‚Linguisten‘: „Ursprünge pflegen, wie man weiß, im Dunkel zu liegen… Die Sprachgeschichte führt nicht zu den Ursprüngen zurück, da Sprache ja die Vorbedingung der Geschichte darstellt. Die Sprachgeschichte hat es immer nur mit sehr entwickelten Sprachen zu tun, die eine gewichtige Vergangenheit, von welcher wir nichts wissen, hinter sich haben. Der Ursprung von bestimmten Sprachen ist nicht identisch mit dem Ursprung der Sprache selbst. Die ältesten bekannten Sprachen… haben nichts Primitives. Sie zeigen uns nur die Veränderungen, denen die Sprache unterworfen ist; wie sie entstanden ist, das lehren sie uns nicht.“ 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 86 entstanden sein. 9 Delacroix räumt aber ein, dass dieses onomatopoetische Erklärungsmuster ‚fragil‘ sei, dass in verschiedenen Sprachen Begriffe durch völlig verschiedene Töne ausgedrückt würden 10 , die außerdem in gewisser Weise ‚subjektiven‘ Charakter hätten. Dennoch nimmt auch Delacroix eine sprachliche Entwicklung an, die vom Konkreten („Beaucoup des mots sont nés vraisemblablement de noms propres, sortes de Leitmotivs, qui en sont venus ensuite à désigner les particularités les plus caractéristiques de la personne.“ 11 ) hin zum Abstrakten und zu grammatikalisch komplexeren Einheiten verlief. Im nächsten Abschnitt geht Benjamin deshalb auf die populärste Konstruktion ein, mit der Forscher „diese Kluft des Nichtbekannten zu überbrücken versucht“ hätten - wie oben bereits festgehalten, handelt es sich hierbei nach Delacroix um die Onomatopoesie. Er stößt dabei mit Delacroix auf den für das Sprachursprungsdenken zentralen Theoretiker des 18. Jahrhunderts, nämlich Johann Gottfried Herder, aus dessen „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ er den bekannten Satz zitiert: „‘Der Mensch erfand sich selbst Sprache! - aus Tönen lebender Natur‘ sagt Herder.“ (GS III, 453) Obwohl Benjamin dieses Zitat bei Delacroix findet, soll kurz auf den Kontext, aus dem es stammt, eingegangen werden. Beim Abschnitt, aus dem das Zitat stammt, handelt es sich um den dritten Abschnitt der Abhandlung Herders, in dem er das zuvor in seinem Text eingeführte Beispiel mit dem Schaf, das durch sein Blöken ein Merkmal liefert, das sich dem Menschen einprägt und durch das er es benennen kann, verstärkt auf den Gehörsinn bezieht. Im ersten Beispiel geht es noch darum, dass der Mensch - nicht wie das Tier - ohne von seinen Instinkten überwältigt zu werden, mittels balancierter Sinnenwahrnehmung ein ‚Bild‘ des Schafs empfangen kann, das sich anhand eines Merkmals und des inneren Sinns des Menschen wiederum ‚bildlich‘ - auf welcher Ebene auch immer - durch ihn reproduzieren lässt. 12 Im anderen Abschnitt aber, in 9 Vgl. Henri Delacroix, Le langage et la pensée, S. 130, der deutsche Satz lautet - ohne die Nennung Herders - im Original so, F.G.: „Le langage provient-il de l’imitation des sons? ‘La langue des premiers hommes ne fut, en quelque sorte, que l’écho de la nature dans la conscience humaine.’ ‘Der Mensch erfand sich selbst Sprache aus Tönen lebender Natur.’“ 10 An dieser Stelle lohnt sich die Wiedergabe eines Satzes, mit dem Delacroix ausdrückt, was er beschreibt. Vgl. Delacroix, Le langage et la pensée, S. 131: „Dans les différentes langues les mêmes notions sont exprimées par des sons très divers. Le sens attaché aux mots varie sans que varient les sons, ou bien les sons varient sans que le sens varie.“ 11 Ebd., S. 135, Hervorhebung im Original. 12 Vgl. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, In: Johann Gottfried Herder: Werke, Hrsg. von Martin Bollacher et al., Frankfurt am Main 1985ff., 10 Bände, hier Band I, S. 724: „Nicht so dem Menschen! so bald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet ihn kein Instinkt: so reißt ihn 3.2. Über „Die Probleme der Sprachsoziologie“ 87 dem der Ausruf „Ha! du bist das Blöckende! “ auch eine Rolle spielt, wird dieses spezifisch akustische Merkmal zum entscheidenden stilisiert. 13 Herder beschreibt in diesem Abschnitt selbst sehr bildlich oder malerisch, wie sich die Dinge der Natur über tönende Merkmale dem Menschen einprägen und ihn dazu bewegen, ihnen Namen zu geben. 14 Herder prägt in seiner Schrift Argumentationsweisen, die auch hundert Jahre später noch ziemlich modern klingen. Gegen simple theologische Sprachursprungstheorien führt Herder seine sprachgeschichtlichen Überlegungen ins Feld 15 , die mehr oder weniger auf sensualistische Argumente bauen: kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin, oder davon ab: es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht — seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal, — das Schaf blöcket! sie hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn würket. Dies Blöcken, das ihr am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht — sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal — es blöckt, und nun erkennet sies wieder! ‚Ha! du bist das Blöckende! ‘ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal erkennet, und nennet.“ 13 Vgl. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 735: „Da ist z. E. das Schaf. Als Bild schwebet es dem Auge mit allen Gegenständen, Bildern und Farben auf Einer großen Naturtafel vor — wie viel, wie mühsam zu unterscheiden! Alle Merkmale sind fein verflochten, neben einander — alle noch unaussprechlich! Wer kann Gestalten reden? Wer kann Farben tönen? Er nimmt das Schaf unter seine tastende Hand — Das Gefühl ist sicherer und voller; aber so voll, so dunkel in einander — Wer kann, was er fühlt, sagen? Aber horch! das Schaf blöcket! Da reißt sich ein Merkmal von der Leinwand des Farbenbildes, worin so wenig zu unterscheiden war, von selbst los: ist tief und deutlich in die Seele gedrungen: ‚Ha! sagt der lernende Unmündige, wie jener blind Gewesene Cheselden's: nun werde ich dich wieder kennen — Du blöckst! ‘ Die Turteltaube girrt! der Hund bellet! da sind drei Worte, weil er drei deutliche Ideen versuchte, diese in seine Logik, jene in sein Wörterbuch! Vernunft und Sprache taten gemeinschaftlich einen furchtsamen Schritt und die Natur kam ihnen auf halbem Wege entgegen durchs Gehör. Sie tönte das Merkmal nicht bloß vor, sondern tief in die Seele hinein! es klang! die Seele haschte — da hat sie ein tönendes Wort! “ 14 Ebd., S. 736: „Nun lasset dem Menschen alle Sinne frei; er sehe und taste und fühle zugleich alle Wesen, die in sein Ohr reden - Himmel! Welch ein Lehrsaal der Ideen und der Sprache! Führet keinen Merkur und Apollo, als Opernmaschinen von den Wolken herunter — Die ganze, vieltönige göttliche Natur ist Sprachlehrerin und Muse! Da führet sie alle Geschöpfe bei ihm vorbei; jedes trägt seinen Namen auf der Zunge, und nennet sich, diesem verhülleten sichtbaren Gotte! als Vasalli und Diener. Es liefert ihm sein Merkwort ins Buch seiner Herrschaft, wie einen Tribut, damit er sich bei diesem Namen seiner erinnere, es künftig rufe und genieße.“ 15 Dass dieser Text sehr komplex, vielschichtig und immer wieder widersprüchlich argumentiert, legt Ralf Simon dar, der die plausible These vertritt, dass je nach sprachphilosophischem Ansatz, den es für Herder zu widerlegen gilt, ein anderes Register gezogen wird und dass man damit bei Herder nicht auf einen einzigen Sprachursprung stößt, sondern auf mehrere. Dieser letzte Punkt würde sich wiederum mit den Thesen Delacroix‘ decken und unterstriche nochmals Herders Moderni- 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 88 Das erste Wörterbuch war also aus den Lauten aller Welt gesammelt. Von jedem tönenden Wesen klang sein Name; die menschliche Seele prägte ihr Bild drauf, dachte sie als Merkzeichen, - wie anders, als daß diese tönenden Interjektionen die ersten würden, und so sind z.E. die morgenländischen Sprachen voll Verba als Grundwurzeln der Sprache. Der Gedanke an die Sache selbst schwebte noch zwischen dem Handelnden und der Handlung: der Ton mußte die Sache bezeichnen, so wie die Sache den Ton gab; aus den Verbis wurden also Nomina und Nomina aus den Verbis. Das Kind nennet das Schaf, als Schaf nicht: sondern als ein blöckendes Geschöpf, und macht also die Interjektion zu einem Verbo. Im Stufengange der menschlichen Sinnlichkeit wird diese Sache erklärbar, aber nicht in der Logik des höhern Geistes. 16 Aus der komplexen Dichte eines Bildes wird ein besonderes Merkmal unterschieden, ein Ding handelt, tönt und teilt dem Menschen durch seinen spezifischen Klang - hier klingt gar der Rest einer Art Signatura-Lehre an 17 - seinen Namen mit. Die Bezeichnung, die ein Ding danach erhält, kann sich aber wandeln, kann eine Reihe verschiedener Wortarten durchlaufen, wobei dieser Wandel auf eine phylogenetische wie ontogenetische Ebene bezogen wird. Herder entwirft also nicht nur eine sich auf die Phylogenese beziehende Theorie des Sprache und des Gedächtnisses, sondern verweist auch immer wieder auf das Kind. Was Benjamin an Herder zunächst zu tät. Vgl. Ralf Simon, Der poetische Text als Bildkritik, München 2009, S. 133: „Es dürfte klar geworden sein, dass Herders Text einer Struktur und Redeweise unterliegt, in der Widersprüche zur Schreibstrategie gehören. Eine Lektürestrategie, die eine begriffliche schlussfolgernde Argumentation erwartet, ist einer Revision zu unterziehen. Angesichts eines solchen verwundenen, in sich reflektierten, vielleicht sogar hochironischen Argumentationsganges ist die Voraussetzung aufzugeben, man würde bei Herder in einem fortschreitenden, explikativen und in sich zusammenhängenden linearen Gedankengang die Begründung der These eines einzigen Sprachursprungs finden.“ 16 Vgl. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 738. 17 Das sieht wohl auch Benjamin, wenn er bemerkt, dass Herder mit seinem Diktum, dass sich der Mensch die Sprache aus Tönen lebender Natur erfand, bloß auf „Überlegungen des siebzehnten Jahrhunderts zurück[griffe], dessen geschichtliche Bewegtheit er als erster ahnte und das in seinen Spekulationen über den Ursprung aller Sprache von Hankamer in einem beachtenswerten Werk behandelt wurde.“ (GS III, 453 f.) Das besagte Buch von Paul Hankamer („Die Sprache“, 1927) zeichnet sich neben der Rekonstruktionsarbeit, die es für die Sprachtheorie des Barock leistet, auch dadurch aus, dass die Figur Jakob Böhmes stark gemacht wird, wie Benjamin in einer Rezension bemerkt: „Sie [die Arbeit] setzt sich vielmehr, wie in den meisten, auch besten literarhistorischen Büchern die Regel ist, am Ende des behandelten Zeitraums im Werke eines Mannes oder einer Schule - es ist in diesem Falle das des Jakob Böhme - einen Punkt, auf welchen zu die Fluchtlinien der Deutung laufen, statt perspektivisch in das Innerste der Zeit zu führen.“ (GS III, 59 f.) 3.3. Deixis 89 interessieren scheint, ist die onomatopoetische Dimension des Sprachursprungs, die in seiner Sprachtheorie unleugbar mitschwingt. 18 Benjamin konstatiert, dass die Bedeutung der Onomatopoesie von der Wissenschaft immer wieder einzuschränken versucht wurde, schlägt aber nichtsdestotrotz von der Ebene der Lautmalerei bei Herder einen Bogen zu den zeitgenössischen Theorien, die er in seinem Referat untersucht, namentlich zu Karl Bühler. Die Onomatopoesie ist nur ein Aspekt, den Benjamin interessiert. Obwohl er sieht, dass eine onomatopoetische Fundierung des Sprachursprungs wenig plausibel ist, möchte er die Bedeutung der Onomatopoesie für die Sprache nicht aufgeben - das lässt sich auch in den Texten über das mimetische Vermögen gut zeigen. Damit bleibt er mit Herder verbündet. Aber weder Benjamin noch Herder stützen sich einseitig auf die Onomatopoesie oder sinnliche Dimension der Sprache. Cornelia Zumbusch hält fest, dass es bemerkenswert sei, dass die menschliche Sprache weder bei Benjamin noch bei Herder „einseitig aus der sinnlichen Rezeptivität noch aus der spontanen Vernunfttätigkeit“ abgeleitet werde, beide suchten vielmehr „ihren Kreuzungspunkt“. 19 Es bleibt spannend, weshalb Benjamin Karl Bühler ins Spiel bringt, der einer arbiträren Auffassung der Sprache anhängt. Bühler ist für die Wichtigkeit der onomatopoetischen Funktion der Sprache gerade kein Gewährsmann. Aber er ist der Gewährsmann einer anderen Facette der Sprache, die man mit der Sinnlichkeit oder gar einer Art ‚Bildlichkeit‘ verbinden kann. Die Rede ist vom Zeigen, von der Deixis. Gerade die Deixis ist eine wichtige sprachliche Funktion für Bühler und sein Modell. Aber es versteht sich von selbst, dass Bühler die ‚sprachmagischen‘ Momente der Onomatopoesie nicht in seine Konzeption der Deixis einspeisen kann. Die Unterschiede zwischen Benjamins eigener Auffassung und derjenigen Bühlers sollen nun dargelegt werden. 3.3. Deixis Karl Bühler wird in Benjamins Text auffällig oft zitiert, unter den zitierten Schriften ist unter anderen auch sein wohl bekanntestes Buch mit dem Titel „Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache“, das anthropologische wie auch psychologische Forschungsergebnisse mit in die sprachtheoretische Reflexion einbezieht. Es fällt aber auf, das bemerkt auch Günter Karl Pressler in seiner Monographie zum Sammelreferat, dass sich Benjamin nicht groß auf die philosophischen Implikationen Bühlers einlässt, vielmehr macht er „lediglich auf dessen ‚systematische Leistung‘ aufmerk- 18 Dass es sich aber nur um eine Facette des Sprachursprungs handelt, zeigt Simon im Anschluss an Gaier. Vgl. Ralf Simon, Der poetische Text als Bildkritik, S. 140 ff. 19 Vgl. Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 190. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 90 sam und bringt diese in seine Fragestellung an thematisch wichtigen Brennpunkten (Onomatopoetik, Organonmodell und Mimesis) ein“. Wie Pressler richtig schreibt, „zeigt sich bei ihm keinerlei Neigung, die Bühlersche Axiomatik mit ihren reichhaltigen empirischen Belegen systematisch aneignen oder sie bearbeiten zu wollen“. 20 Bühler widmet der Onomatopoesie ein ganzes Teilkapitel in jenem größeren Kapitel seines Buchs, wo es um das Symbolfeld, also den Kontext der Sprechsituation, geht. Das scheint auch der Grund zu sein, weshalb sich Benjamin zunächst überhaupt für Bühlers Ansatz interessiert. Bühler lehnt den Gedanken, dass der Sprache eine onomatopoetische Dimension eignet, nicht ab, aber er versucht ihn relativ stark einzuschränken: „Die Sprache wäre nicht, was sie ist, wenn es ein kohärentes, leistungsfähiges Malfeld in ihr gäbe. Die Sprache ist aber tolerant genug, an bestimmten Grenzen, wo ihre eigengesetzlichen Mittel erschöpft sind, das andersartige Malprinzip zuzulassen.“ 21 Was Bühler klar zu machen versucht, ist die klare Dominanz der symbolisierenden Sprache über das, was man wortwörtlich als Lautmalerei bezeichnen müsste (‚Onomatopoiesis‘, darauf weist Bühler hin, heißt hingegen eigentlich ‚Wortmalerei‘). Bühler meint, dass der Mensch auf einer seiner frühsten Entwicklungsstufen sich nicht dafür entschieden habe, den Weg der ‚archaischen Logik‘ und Lautmalerei einzuschlagen, obwohl es ihm wohl freigestanden hätte. Er habe sich stattdessen vielmehr für die symbolisierende Sprache entschieden. Denn „nicht aber wäre es möglich gewesen, nach einer erheblichen Strecke links [d.h. auf der Schiene der Onomatopoesie] den Weg zurückzufinden und die Spuren der Erstentscheidung derart radikal zu tilgen, wie es nach dem Zeugnis der rezenten Sprache geschehen sein müßte.“ 22 Nichtsdestotrotz räumt Bühler der Lautmalerei innerhalb der Sprachfunktionen einen gewissen Stellenwert ein, denn von der Hand weisen lässt sich ihre Existenz nicht ganz, was auch die beeindruckende Liste von Theoretikern nahelegt, die er in Auseinandersetzung mit einem zeitgenössischen Sprachforscher oder Entwicklungspsychologen namens Heinz Werner 23 erstellt, der den alten Versuch aufzuwärmen versuchte, „die Sprache anschaulich mit den Dingen direkt 20 Vgl. Günter Karl Pressler, Vom mimetischen Ursprung der Sprache. Walter Benjamins Sammelreferat Probleme der Sprachsoziologie im Kontext seiner Sprachtheorie, Frankfurt am Main 1992, S. 34. 21 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, ungekürzter Neudruck der 3. Auflage von 1934, Stuttgart 1999, S. 196. 22 Ebd., S. 198. 23 Heinz Werner ist der Verfasser der Studie „Grundfragen der Sprachphysiognomik“ (Leipzig 1932). Weiter unten wird Werner, der auch von Benjamin kurz erwähnt wird, nochmals näher vorgestellt. 3.3. Deixis 91 zu verbinden“. 24 Dieser Versuch wird durch eine ‚platonische‘ Interpretation der Natursprache geleistet. Denn Werner sieht das Imitationsverhältnis, das Ding und Sprache in der ‚Natursprache‘ zugeschrieben wird, nicht auf der sinnlichen, sondern auf der ‚geistigen‘ Ebene - auf jener des ‚Wesens‘ - gegeben: „Das tönende Wort ist keine Kopie der Dinge, sondern ist die sprachsinnliche Form der Wesenheit der Dinge.“ 25 Daher geht es Werner auch nicht um reine Nachahmung 26 , sondern er legt den Akzent stark auf den Schöpfungsakt, der der ‚Ausdruckssprache‘ zugesprochen werden müsse: sie sei als eine „geistige Aktivität, als Medium des Logos, als Denkinstrument zum Zwecke der Wirklichkeitserfassung“ aufzufassen. 27 Er beruft sich dabei nicht nur auf Platon, sondern - ähnlich wie Paul Hankamer - auf den barocken Nürnberger Dichterkreis, auf Jakob Böhme und schließlich auch auf Hamann und Herder. Obwohl Bühler sich klar von Werner distanziert 28 , hält er mit einer gewissen Unbedenklichkeit am Terminus des Bildes fest, wenn er die Bedeutung der akustischen Sphäre - so spricht er vom ‚akustischen Antlitz‘ - gegenüber der optischen für die Sprache unterstreicht: Wenn unter den Sachverständigen eine Abstimmung stattfände darüber, wer reicher ausgestattet sei mit Malmitteln: der Farbmaler oder ein Stimmaler, so gäbe ich unbedenklich dem zweiten meine Stimme. Und würde nach 24 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie, S. 196. In der besagten Liste werden Namen wie Platon, „deutsche Barockdichter und Sprachdeuter aus dem 16. Und 17. Jahrhundert“, Jakob Böhme, „Herder, Hamann und andere Romantiker bis herunter auf W. von Humboldt“ angeführt. Vgl. ebd. S. 197. 25 Vgl. Heinz Werner, Grundlagen der Sprachphysiognomik, S. 15. 26 Das sieht auch Reinhart Meyer-Kalkus so, der aufzeigt, dass Werner auf Überlegungen Lichtenbergs, Herders und der deutschen Romantik zurückgreift. Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 188 f. 27 Vgl. Heinz Werner, Grundlagen der Sprachphysiognomik, S. 16. 28 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie, S. 204 f.: „Die Versuchspersonen Werners holen z.B. an dem Wortklang Seife Zug für Zug heraus, was nach ihrer Auffassung den Gegenstand ‚Seife‘ malend charakterisiert. Bestimmte Eigenschaften des Dinges wie das Schlüpfrige, Schaumige u. dgl. m. sollen getroffen sein durch was? Die Protokolle, wie sie schwarz auf weiß im Buche stehen, können gar nicht anders als Laut für Laut das Wort abwandern, um jeweils zu sagen, es liege etwas von der malenden Schilderung des Gesamtcharakters in dem S, etwas in dem ei, etwas in dem f. Daß man so vorgeht, ist kein Zufall, sondern im Hinblick auf den Tatbestand der Phonologie zu erwarten. Denn jedes Phonem (Lautzeichen) läßt einen Spielraum der Realisierung offen und in diesen Spielraum können Malpointen angebracht, herausgearbeitet werden; die Dauergeräusche in S und F können überlaut und überlang herausgearbeitet werden, von einem Sprecher; das ei kann meinethalben schaummalerisch moduliert werden.“ Bühler erläutert auf diesen Seiten auch, dass eine lautmalerische Komponente nur insoweit abgewandelt werden kann, dass kein Phonem-Sprung stattfinde. Das ist neben dem Syntax-Riegel eine weitere Einschränkung der Lautmalerei innerhalb der Grenzen der bestehenden Sprache. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 92 allem schon Gesagten noch ausführen, daß die Silbengliederung als solche ein ganz eigenartiges Malverfahren ermöglichen müßte, das (wenn der Name nicht schon vergeben wäre) ‚Tonfilm‘ heißen sollte. Nicht, weil etwas Optisches hinzukommt, sondern weil kleine Tonbilder sukzessive darin abrollten. Nicht Sprachsilben natürlich, sondern echte Lautbildchen, Miniaturaufnahmen der tönenden Welt; es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß ein darin geübter komplexe Geschehnisse ebenso systematisch abfahren und malend wiedergeben könnte, wie heute einer, der geübt ist, einen optischen Film zu „drehen“. 29 Anhand dieses Zitats wird klar, dass Bühler die Möglichkeiten der Lautmalerei ziemlich hoch einschätzt. Er hält deutlich fest, dass er der Meinung sei, die Silben böten einen Baukasten, mithilfe dessen es möglich sei, die tönende Welt beliebig wiederzugeben. Bühler denkt dabei eben weniger an die Malerei, auch wenn er zunächst von einem ‚Stimmaler‘ spricht, als an die Produktion eines Films, der bekanntlich aus lauter photographischen Einzelbildern besteht. Damit spricht er dem Produkt des ‚Stimmalers‘ dynamische Qualitäten zu, die ein ‚Farbmaler‘ wohl kaum erreicht. Silben bestehen schließlich aus relativ diskreten, aber dennoch sinnlich relativ konkreten Einheiten. Man meint hier werde eine ‚Zeitkunst‘ gegen eine ‚Raumkunst‘ ausgespielt, wenn man diese an Lessing angelehnten Begriffe hier einstreuen darf. Bereits Herder hat bezüglich des Vorgehens poetischer Texte ähnliche Feststellungen geäußert. Wenn man es nicht besser wüsste und es nicht um einen Anachronismus handelte, könnte man fast meinen, auch Herder hätte an den Film gedacht, wenn er in den ‚Kritischen Wäldern zur Ästhetik‘ in seinen Beschreibungen der poetischen Verfahren Homers im Grunde genommen vom Abrollen kleiner narrativer Bildeinheiten spricht. Und das in einem Stil, der die raschen Schnitte der filmischen Erzählweise fast schon sprachlich simuliert: Das Bild des klingenden Bogens wäre alsdenn verloren: es wird erst wieder erweckt - fürchterlich also erklingt der silberne Bogen; nun faßt der Pfeil, der erste, der andre, Tiere, Hunde, Menschen, Scheiterhaufen flammen: so flogen die Pfeile des Gottes neun Tage durch das Heer - - Jetzt ist das Gemälde zu Ende: der Gott, Bogen, Pfeil, die Wirkung derselben, alles ist vor Augen: kein Zug verloren; keine Farbe mit einem vorbeifliegenden Worte weggestorben: er weckte jede zu rechter Zeit wiederholend wieder auf: das Bild rollet zirkelnd weiter. 30 29 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie, S. 202. 30 Vgl. Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder zur Ästhetik. Erstes Wäldchen, In: Johann Gottfried Herder, Werke, Hrsg. von Martin Bollacher et al., Frankfurt am Main 1985ff., 10 Bände, hier Band 2, hrsg. von Gunter E. Grimm, Kapitel 19, S. 189 f. 3.3. Deixis 93 Auch Bühler also, den man aufgrund seiner Vorliebe für das Zeigen und das Symbolisieren nicht so einfach der von Benjamin mit Delacroix festgestellten Herderschen Tradition der akustisch geprägten Sprachursprungs- Auffassung zugerechnet hätte, streitet also mitnichten den Stellenwert der Lautmalerei ab. Dennoch ist evident, dass er ihn einschränkt. Denn selbst wenn man lautmalerisch schreibt - wie etwa Homer, Herder oder Benjamin selbst etwa in den ‚Mummerehlen‘, in der er sehr malerisch, nämlich thematisch und mittels Worten, die das reflektierte Zer-Fließen lautmalerisch abbilden, den vermuteten Ort der Mummerehlen zu schildern versucht 31 -, ist dieser Effekt für Bühler doch immer nur sekundär. Unmissverständlich versucht Bühler immer wieder zu verdeutlichen, dass es nicht die ‚bildlichen‘ Qualitäten der Sprache sind, die als die entscheidenden betrachtet werden dürfen. Auf derselben Seite, von der der oben zitierte Ausschnitt stammt, relativiert er die tonfilmhaften Eigenschaften der Sprache: [E]s entstehen wohlgeformte Wörter, Wortfolgen, Sätze, die allem anderen voraus dem Bildungs- und Kompositionsgesetz der Sprache unterstehen. Und darüber hinaus erst weisen sie so etwas wie den sekundären Hauch eines Lautgemäldes auf“ 32 Bühler meint also, dass man, wo immer man „Sprache als Darstellungsmittel“ benutze, nur „‘trotzdem’ malen“ könne „und soweit es […] die Syntax der Sprache“ zulasse. Denn für ihn existiere am „Tore zur lautmalenden Sprache“ ein sogenannter „Syntax-Riegel, der leichter oder schwerer zu umgehen“ 33 sei. Die Annahme dieses ‚Syntax-Riegels‘ drückt nochmals aus, dass Bühler bei der Beobachtung oder Feststellung bildlicher Eigenschaften der Sprache wohl ein ungutes Gefühl beschleicht. Trotz des Einräumens der Möglichkeit, mittels der Sprache bildliche Qualitäten zu evozieren, scheint er hinsichtlich der Bewertung des Sprachursprungs oder der Grundeigenschaften der Sprache darauf hinweisen zu wollen, dass sie symbolisierenden, arbiträren, diskontinuierlichen Grundcharakters sei und das klanglich feststellbare Ähnlichkeit keinen Sprung auf die Ebene der 31 „Im Mummelsee war sie vielleicht zu Haus und seine trägen Wasser lagen ihr wie eine graue Pelerine an. Was man von ihr erzählt hat - oder mir wohl nur erzählen wollte -, weiß ich nicht. Sie war das Stumme, Lockere, Flockige, das gleich dem Schneegestöber in den kleinen Glaskugeln sich im Kern der Dinge wölkt. Manchmal wurde ich darin umgetrieben. Das war, wenn ich beim Tuschen saß. Die Farben, die ich dann mischte, färbten mich. Noch ehe ich sie an die Zeichnung legte, vermummten sie mich selber. Wenn sie feucht auf der Palette ineinanderschwammen, nahm ich sie so behutsam auf den Pinsel, als seien sie zerfließendes Gewölk.“ (GS IV, 262) 32 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie, S. 202. 33 Ebd., S. 203. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 94 Struktur einer Sprache erlaube. Überraschend ist dieser Befund freilich nicht, da die Grundauffassung der ‚Zweifelderlehre‘ Bühlers ja gerade darin besteht, dem abstrakten und begrifflichen Erfassen der Welt anschauliches Zeigen und Präsentieren zur Seite zu stellen. Die ‚anschauliche‘ Dimension der Sprache anerkennt Bühler. Jedoch konzentriert sich diese ‚anschauliche‘ Seite, wie bereits deutlich geworden sein sollte, auf das Zeigen und nicht auf Lautmalerei. Das ‚Zeigfeld‘ der Sprache ist ein vom ‚Symbolfeld‘ unterschiedener Bereich, in dem das „sprachlich Deiktische“ situativ oder kontextuell - je nach Sprecher- und Empfängerposition - seine „Bedeutungserfüllung und Bedeutungspräzision“ erfährt. 34 Bühler nutzt für die Schilderung der Eigenschaften seines Zeigfelds - wie bereits die Sprachtheorien, die bislang vorgestellt wurden - eine Art evolutionäres Narrativ. Er geht von der ‚konkreten‘ Geste des Zeigefingers aus und landet bei der Anapher: „Die Modi des Zeigens sind verschieden; ich kann ad oculos demonstrieren und in der situationsfernen Rede dieselben Zeigwörter anaphorisch gebrauchen.“ 35 Der Hauptfokus Bühlers scheint aber weniger auf der konkreten Zeigegeste als auf der abstrakten Deixis im Rahmen einer arbiträren Sprachsituation zu liegen. Auch scheint er wiederum den von ihm so bezeichneten ‚modernen Mythos über den Sprachursprung‘ nicht unbedingt zu stützen, der behauptet, die stumme Deixis - der Zeigefinger oder mimische Zeigegesten - sei im Zuge der menschlichen Sprachentwicklung als die Vorläuferin ‚mitdemonstrierender‘ Lautzeichen zu betrachten, sodass die Zeigwörter als „Urwörter der Menschensprache schlechthin“ erscheinen könnten. 36 Dezidiert steht Bühler für eine Trennung von ‚Nenn-‘ und ‚Zeigwörtern‘ ein, ein Fortschritt besteht für Bühler höchstens darin, falls denn überhaupt das stumme Zeigen vor Lautäußerungen verortet werden könnte, dass der Laut etwas zum Zeigen hinzubringt, denn „wie immer man die Dinge auch drehen und wenden mag, so kann dieses Plus aus keiner anderen Quelle kommen als aus der Nennfunktion des Lautes“: „Auch eine stumme Gebärde kann das ‚Bedeutete‘ charakterisieren, indem sie es nachbildet; der Laut symbolisiert es.“ 37 Bühler mag sich nicht für einen Sprachursprungsmythos entscheiden, auch 34 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie, S. 80, vgl. auch S. 81: „Genau so wie die Zeigwörter fordern, daß man sie als Signale bestimmt, verlangen die Nennwörter eine andere, den Signalen inadäquate Bestimmung; nämlich die herkömmliche. Die Nennwörter fungieren als Symbole und erfahren ihre spezifische Bedeutungserfüllung und präzision im synsemantischen Umfeld; ich schlage den Namen Symbolfeld für diese andere, keineswegs mit den Situationsmomenten zu verwechselnde Ordnung vor. Es ist also rein formal bestimmt eine Zweifelderlehre, die in diesem Buche vorgetragen wird.“ 35 Ebd., S. 80. 36 Ebd., S. 86. 37 Ebd., S. 87. 3.3. Deixis 95 stumme Kommunikation ist für ihn nicht ursprünglicher und auch nicht ‚primitiver‘ als eine Kommunikation mittels Lauten. Obwohl Bühler beide Ausdrucksformen als gesonderte betrachtet, so treten sie dennoch bezüglich bestimmter sprachlicher Phänomene in Kombination auf. Linguisten, die Bühler zitiert, und er selbst, unterscheiden verschiedene Formen der Deixis, so etwa die ‚Der-Deixis‘ oder die ‚Hic-Deixis‘. Nun geht Bühler davon aus, dass an der ‚Wurzel‘ der ‚Der-Deixis‘ die Finger-Geste steht, an der Wurzel der ‚Hic-Deixis‘ jedoch der Klang: „Genau so wie in dem Gesamtausdruck dér ist es gewesen die Fingergeste unentbehrlich ist, so ist in dem Gesamtausdruck hier ist es trocken das anschauliche ortsbestimmende Moment der Klangherkunft unentbehrlich.“ 38 Aber Bühler versteift sich nicht auf den Klang. Er kennt auch einen dritten Modus des Zeigens, die von der ‚demonstratio ad oculos‘ - zu der er Zeigefinger und einen bestimmte Form des Klangs rechnet - unterschieden wird, nämlich die bereits erwähnte ‚Anaphora‘, die er eher dem ‚Symbolfeld‘ zuordnet, oder die sogenannte ‚Deixis am Phantasma‘. Bühlers Begriff der ‚Deixis am Phantasma‘ bezeichnet deiktische Sprachqualitäten in einer Rede oder einem Text, bei der beziehungsweise dem eine konkrete räumliche Orientierung zwischen dem Sender und dem Empfänger nicht gegeben ist: Der am Phantasma Geführte kann nicht dem Pfeile eines vom Sprecher ausgestreckten Armes und Zeigefingers mit dem Blicke folgen, um das Etwas dort zu finden; er kann nicht die räumliche Herkunftsqualität des Stimmklanges ausnützen, um den Ort eines Sprecher zu finden, welcher hier sagt; er hört in der geschriebenen Sprache auch nicht den Stimmcharakter eines abwesenden Sprechers, welcher ich sagt. 39 Er bezeichnet das Funktionieren deiktischer Elemente bei Abwesenheit eines konkreten Orientierungs- oder Referenzraums, eine Orientierung mithilfe des ‚inneren‘ oder ‚geistigen‘ Auges und Ohrs und eines inneren Ausgangspunkts für Sinnesdaten, der eine räumlich markierte Orientierung ermöglichen soll und den Bühler ‚Origo‘ oder ‚Koordinatenausgangspunkt‘ nennt - mit sprachlichen Mitteln kann jemandem so etwas Abwesendes phantasmatisch vergegenwärtigt werden. Um uns nicht zu weit von Benjamins Text wegzubewegen, soll an dieser Stelle nochmals festgehalten werden, dass auch die Deixis am Phantasma eher der Seite des Symbolfelds der Sprache zuzuschlagen ist. Auch wenn es manchmal anders klingen mag, kennt Bühler im Grunde genommen nur zwei Felder der Sprache, selbst wenn er manchmal von einem ‚Malfeld‘ spricht. Die Frage, „ob die 38 Ebd., S. 92, Hervorhebung im Original. 39 Ebd., S. 125, Hervorhebung im Original. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 96 Sprache, wie wir sie kennen, außer dem Symbolfeld ein echtes Malfeld besitzt“, beantwortet Bühler schließlich negativ: Das Ergebnis ist negativ und weist den unbestrittenen Lautmalereien eine strukturanalytisch sekundäre und verkümmerte Existenzweise nach. Das anschauliche Moment der Sprache im Sinne des tiefdurchdachten Wortes von Kant, daß die Begriffe leer bleiben ohne Anschauung, ist nicht zu suchen in den Malpotenzen, sondern im Bereich des Zeigfeldes der Sprache. 40 Auch mit Bezug auf Lessing und die Unterscheidung von Malerei und Poesie hält er unmissverständlich fest, dass die Sprache hauptsächlich symbolisiere. Die Sprache male nicht in dem Ausmaß wie es mit „menschlichen Stimmitteln möglich wäre“, sondern sie symbolisiere: „[E]benso wie die Farben des Malers einer Malfläche, so bedürfen die sprachlichen Symbole eines Umfeldes, in dem sie angeordnet werden. Wir geben ihm den Namen Symbolfeld der Sprache.“ 41 Auch wenn Bühler einräumt, dass lautmalerische Elemente möglicherweise Urphänomene darstellen, die der Entstehung der Phoneme vorausgingen, so ist sein Interesse für diesen ‚Mythos‘ beschränkt. Benjamin beschäftigt sich deshalb auch gar nicht viel länger oder eingehender mit Bühler - ein Phänomen wie die Deixis am Phantasma, das auf den ersten Blick eine Parallele zur These bietet, dass Franz Kafkas Literatur lauter Gesten böte, scheint Benjamin nicht zu interessieren. 42 Sogar Bühlers Beobachtungsbeispiele für ‚schlichteste‘ Deixis am Phantasma, das chinesischen Theater sowie das Kinderspiel, scheinen von Benjamin ignoriert zu werden, auch wenn beides im Kafka-Aufsatz selbst mit der vorgestellten Gesten-These verbunden wird. 43 40 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie, S. 153. 41 Ebd., S. 150 f. 42 Siehe das Kapitel zu Benjamins Kafka-Rezeption in dieser Arbeit. 43 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie, S. 140, Hervorhebungen im Original: „Psychologisch gesehen ist das gar nichts anderes als ein systematisiertes, von tausend Konventionen und mit souveräner Willkür aber zu guter Letzt doch mit ähnlichen Mitteln in allen Kinderstuben der Welt tagtäglich gespielt wird. Das Kind und das chinesische Theaterspiel - vielleicht wären das gutgewählte Beobachtungsbeispiele; Endpunkte in vieler Hinsicht einer Entwicklungslinie und nahe benachbart in anderer Hinsicht. Jedenfalls belehrt beides uns faßlich an den hin- und hergeschobenen, sinnlich konkreten Dingen über das, was im Falle des dramatischen Verfahrens mit und im Falle des epischen Verfahrens ohne solch gröbere Hilfen überall, wo einer den anderen am Phantasma führt, vonstatten geht.“ 3.4. Geste 97 3.4. Geste Zwar teilt Benjamin grundsätzlich die Befunde Bühlers, dass die Sprache vornehmlich symbolisierenden Charakters ist, aber er taxiert sie als zu ‚vorsichtig‘ (GS III, 455). 44 Für Benjamin scheinen sich Deixis und Onomatopoiesis nicht so vehement auszuschließen oder zwei so grundsätzlich verschiedenen Ordnungen anzugehören. Jedenfalls deutet wenig darauf hin, dass Benjamin die Zweifeldtheorie wirklich adaptiert, im Gegenteil. Es ist relativ gut erkennbar, dass in diesem Text das geschieht, was Benjamin in seinem Brief an Werner Kraft formuliert hat: Benjamin referiert die Texte, ob er ihre Stoßrichtungen teilt oder eher nicht, so, dass sie den Boden für seine eigene Sprachtheorie bereiten, die magische und bildliche Elemente mit den repräsentativen oder symbolischen Funktionen verbindet. Obwohl man eine ähnliche Bewegung auch bei Bühler vorfindet, ist Bühler in dieser Hinsicht wohl nicht spekulativ oder - je nach Standpunkt - konsequent genug. Nichtsdestotrotz scheint Benjamin dem Begehren Bühlers, die Sprachtheorie auf ‚linguistische Fakta’ zu begründen und nicht Physik, Physiologie oder Psychologie zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Sprachbetrachtung zu nehmen, einiges abzugewinnen, da Bühlers ‚Organonmodell der Sprache’, das die Umstände der Kommunikation zu berücksichtigen versucht „der Soziologie weit entgegenkomm[e]“ (GS III, 468). Benjamin widmet Bühler einige Zeilen seines Referats, zeigt, wie dessen Modell aufgebaut ist, referiert die Änderung der Bühlerschen Termini für die ‚Urfunktionen’ der Sprache, nämlich ‚Kundgabe’, ‚Auslösung’ und ‚Darstellung’, in ‚Ausdruck’, ‚Appell’ und ‚Darstellung’ und demonstriert immer wieder sein Interesse für die Verbindung von Gestik und Lautsprache, die auch bei Bühler rund um die Zeigfeld-Theorie immer wieder thematisiert wird. Bühler stellt sich nämlich die Frage, „ob es unter den lautsprachlichen Zeichen solche g[ebe], welche wie Wegweiser“ funktionierten. 45 Wie oben gezeigt, bejaht Bühler diese Frage, denn für ihn funktionieren ‚Zeigwörter’ wie ‚hier’ und ‚dort’, aber auch an Sender und Empfänger gebundene Wörter wie Personalpronomen so ähnlich wie Wegweiser. Seine ‚Zweifelderlehre’, die ein Zeigfeld und ein Symbolfeld behauptet - also ein Feld, in dem die Bedeutung der Zeigwörter, die an ein Ereignis gebunden sind, nur von Fall zu Fall erfahren werden kann, und ein anderes Feld, in dem Nennwörter als Symbole fungieren - bevorzugt aber die Symbolfunktion der Sprache. (Bühler konstatiert auch ein drittes 44 Cornelia Zumbusch schätzt, dass Bühler für jene „bürgerliche Sprachauffassung“ stehe, die Benjamin in seinem frühen Sprachaufsatz über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen kritisiert, weil sie die Sprache als bloßes Mittel zum Zweck auffasse und d.h. die Ausdrucksdimension, ihre ‚Medialität‘ im Sinne Benjamins, nicht berücksichtige. Vgl. Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 186. 45 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie, S. 79. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 98 Feld, das er als eine Unterart des Zeigfelds begreift, ein kontextliches Zeigfeld, das die beiden anderen zusammenschließt.) Auch Zeigwörter sind für ihn nicht nur etwas anzeigende Signale für den Empfänger, sondern immer schon Symbole. Benjamin registriert das, wenn er, nachdem er Bühlers Ausführungen zur Loslösung der Sprache von konkreten Sprachsituationen zitiert hat, resümierend festhält: „Die Emanzipierung der sprachlichen Darstellung von der jeweils gegebenen Sprechsituation stellt den Gesichtspunkt dar, unter dem der Verfasser den Sprachursprung einheitlich zu begreifen sucht.“ (GS III, 470) Benjamin braucht Bühlers Modell, um entwicklungsgeschichtlich zeigen zu können, dass eine nicht näher zeitlich zu spezifizierende Verschiebung von einer dominanten Funktion der Sprache auf eine andere stattfindet - nämlich auf die symbolische -, in der die ehemals praktizierte aber bewahrt ist. Alles, was also allzu esoterisch erscheint - wie beispielsweise die Behauptung eines onomatopoetischen Sprachursprungs und eine damit verbundene ‚enge’ Auffassung von Mimesis als über eine sinnliche Ähnlichkeit funktionierende Nachahmung -, lässt sich somit bequem auf ein anderes Modell, das sprachwissenschaftlich plausibler erscheint, übertragen. Die deiktische Funktion wird also an den Anfang gesetzt, Mimesis wird von der Onomatopoesie gelöst, aber trotzdem als ein in der semiotischen Dimension der Sprache Aufgehobenes bewahrt. 46 Im Begriff der ‚Geste‘ scheint Benjamin so etwas wie eine Synthese dieser vermeintlich unvereinbaren Ausdrucksformen denken zu wollen. Er möchte damit wohl das Onomatopoetische mitaufwerten, ohne es einer banalen oder ‚engen‘ Auffassung preisgeben zu müssen. So wechselt Benjamin denn in seinem Sammelreferat das Forschungsgebiet, um die Plausibilität seiner Auffassung zu demonstrieren. Er macht dies allerdings nicht vermittels einer linearen, kausalen Argumentation, sondern schreitet - möglicherweise bedingt durch die Form des Sammelreferats - verschiedene Ansätze ab. Er kommt so beispielsweise auch auf Ergebnisse der ethnologischen Forschung zu sprechen. Vor allem Lucien Lévy-Bruhl, der die ‚geistigen‘ oder ‚mentalen‘ Funktionen oder Strukturen 46 Dieser argumentative Strang hält sich bis zum Ende des Aufsatzes durch, wo Benjamin auf die sprachpsychologische Forschung von Richard Paget und Marcel Jousse verweist, die behaupten, das phonetische Element der Sprache gründe auf einem mimisch-gestischen. Bei Jousse findet Benjamin folgende Befunde vor: „Die Aufgabe des Tons ist es vielmehr zunächst, die Bedeutung einer bestimmten mimischen Gebärde zu vervollkommnen. Aber er ist lediglich Begleiterscheinung, akustische Unterstützung einer optischen, in sich verständlichen Gebärdensprache. Allmählich trat zu jeder charakteristischen Gebärde ein ihr entsprechender Ton.“ (GS III, 477) Für Benjamin tritt in diesen Theorien der „überholten onomatopoetischen Theorie, die man als eine mimetische im engeren Sinne bezeichnen kann, eine mimetische in sehr viel weiterem Sinne entgegen“ (GS III, 478). 3.4. Geste 99 in ‚primitiven‘ Gesellschaftsformen‘ 47 erforscht hat, zieht Benjamins Aufmerksamkeit auf sich. Lévy-Bruhl interessiert sich für die Sprache der ‚Primitiven‘, die den ‚sociétés inferieures’ angehören, und deren Gebärdenfunktion: „Die Auffassung der primitiven Sprachen als beschreibender Stimmgebärden eröffnet nach der Überzeugung dieses Forschers erst das Verständnis für die magischen Qualitäten, die ihr im Sinn der Primitiven eignen […]“ (GS III, 456). Benjamin richtet sein Augenmerk zunächst auf die magischen Qualitäten der Sprache der ‚Primitiven’. Und interessanterweise verbindet er diese mit dem Bild. Auch Lévy-Bruhl selbst spricht vom Bilderreichtum der ‚Primitiven’-Sprache, von der die unsrige uns nur noch einen entfernten Begriff zu geben vermöge, denn bei den ‚Primitiven’ sei alles durch ‚images-concepts’ repräsentiert. 48 Benjamin übersetzt: „Jede Gegenstandsform, jedes plastische Bild, jede Zeichnung hat mystische Qualitäten: der sprachliche Ausdruck, der ein mündliches Zeichnen ist, hat sie mithin notwendig ebenfalls. Und diese Macht kommt nicht nur den Eigennamen zu, sondern allen Wörtern, gleichviel von welcher Art sie sind.“ (GS III, 457) 49 Die Theorie der ‚Wortmagie’, die Benjamin bei Lévy-Bruhl vorfindet, fasziniert ihn, auch wenn er nicht ohne weiteres sämtliche Schlüsse und Setzungen Lévy-Bruhls teilt. Außerdem bemängelt er stark, dass Lévy- Bruhl zu keinen historischen oder sozialen Erklärungsversuchen für die von ihm beschriebenen Phänomene komme. Denn Lévy-Bruhl interessiere sich laut Benjamin zwar für den Hang der ‚Primitiven‘ zu ‚prälogischem‘ 50 , 47 Vgl. Lucien Lévy-Bruhl, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, Paris 1922. 48 Ebd., S. 192. 49 Ebd., S. 199: „Toute forme d’un objet, toute image plastique, tout dessin a des vertus mystiques: l’expression verbale, qui est un dessin oral, en a donc nécessairement aussi. Et cette puissance n’appartient pas seulement aux noms propres, mais à tous les termes quels qu’ils soient.“ 50 Charaktersierungen für dieses Denken findet man auch in Lévy-Bruhls Buch über „Die geistige Welt der Primitiven“. Dort wird ausgeführt, dass sichtbare und unsichtbare Welt für ‚Naturvölker‘ eine Einheit ausmachten, Raum, Zeit und Kausalität anders vorgestellt und empfunden würden, und Träume und Widersprüchlichkeiten das Denken beherrschten. „Der Europäer bedient sich der Abstraktion fast ohne daran zu denken, und die einfachen logischen Operationen werden ihm durch seine Sprache so erleichtert, daß sie ihm keine Anstrengung kosten. Bei den Primitiven aber haben Gedanke und Sprache einen fast ausschließlich konkreten Charakter.“ Vgl. Lucien Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, übersetzt von Margarethe Hamburger, Darmstadt 1966, S. 339. Vgl. auch S. 348: „Diese Mentalität, die wesentlich mystisch und prälogisch ist, richtet sich auf andere Gegenstände und gelangt auf anderen Wegen dahin, wie sie unser Geist einschlagen würde. Es genügt, die Bedeutung zu betrachten, die in ihren Augen Weissagung und Magie erlangt haben. Um ihren Schritten zu folgen, um deren leitende Grundsätze festzustellen, müssen wir sozusagen unseren geistigen Gewohnheiten Gewalt antun und uns den ihrigen anpassen. Die Anstrengung ist fast unmöglich durchzuführen und doch wird uns ohne sie diese Mentalität wohl unverständlich bleiben.“ 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 100 ‚konkretem‘ Sprechen und Denken, verfalle aber ins Abstrakte, wenn er bei „divergenten sprachlichen Erscheinungen von vornherein Symptome prälogischen Verhaltens“ wittere und das ‚mythische‘ Denken bloß mentalitätsgeschichtlich zu erklären versuche. Gerade weil es sich für Lévy-Bruhl bei der ‚primitiven Mentalität‘ um eine völlig von der ‚europäischen‘ oder ‚unsern‘ (was auch immer diese wiederum problematischen Kategorien bedeuten mögen) verschiedenen handelt, weil sie auf ‚Kollektivvorstellungen aufbaut, fällt es ihm methodisch schwer, sie mittels (individualpsychologischer und auch soziologischer) Kategorien zu fassen 51 , die aufgrund anderer gesellschaftlicher Zustände gewonnen wurden und demnach für die Analyse von Wahrnehmungs- und Denkmustern ‚Primitiver‘ als unpassend erscheinen müssen. Im Gegensatz zu Lévy-Bruhl interessieren sich andere Forscher (Olivier Leroy, Charles Bally) für ‚materialistischere‘ Erklärungsmuster des konkreten Bilderreichtums der Sprache ‚Primitiver‘ („besondere Verhältnisse der Wirtschaftsform, der Umwelt, der Sozialverfassung“ GS III, 459), die Benjamin gegen ersteren ins Feld führt. 52 Ihm fehlt bei Lévy-Bruhl die Vermittlung zwischen „primitiver und geschichtlicher Geisteshaltung“. Dass Lévy-Bruhl diese Vermittlung nicht leisten kann, erscheint ihm gar „bedenklicher“ als die Opposition oder „Konfrontation“ von ‚primitiver‘ und ‚geschichtlicher‘ Mentalität überhaupt (GS III, 460). In der Kontroverse „der beiden Forscher“ - Lévy-Bruhl und Olivier Leroy - sei „ein Punkt von besonderer Tragweite“: „Es handelt sich um das Problem der Gebärdensprache.“ (GS III, 461) Für Leroy habe die Gebärdensprache nichts pittoreskes, sie sei eine Folge sekundärer Umstände, sich auf weite Strecken - etwa bei der Jagd - lautlos verständigen zu können. Für Lévy-Bruhl hingegen sei die Sprache der Hand die älteste. Benjamin fokussiert - obwohl Lévy-Bruhl eigentlich sehr oft von zeitgenössischen ‚Primitiven‘ spricht - immer wieder stark auf die phylogenetische Dimension dieser Untersuchungen. ‚Primitiver‘ als die ‚Lautmalerei’, das Malen mit Tönen, ist in Benjamins sprachgeschichtlicher Rekonstruktion anhand seiner Referenztexte die Gebärdensprache. Benjamin referiert einige anthropologischentwicklungsgeschichtlich motivierte Erklärungsversuche für die Gebärdensprache - etwa jene des bekannten russischen Sprachforschers Nikolaj 51 Vgl. dazu auch Günter Karl Pressler, Vom mimetischen Ursprung der Sprache, S. 51. 52 Vgl. GS III, 457: „Die Auseinandersetzung mit Lévy-Bruhl hatte zwischen zwei Ausgangspunkten die Wahl. Man konnte die Unterscheidung, die er zwischen der höheren und der primitiven Mentalität zu fundieren sucht, durch die Kritik an jenem überkommenen Begriff der höheren erschüttern, der die Züge eines positivistischen trägt; man konnte aber auch die besondere Prägung in Zweifel ziehen, die der Begriff der primitiven Mentalität bei diesem Forscher gefunden hat. Den ersten Weg ging Bartlett in seiner ‚Psychology and primitive culture‘; den zweiten Leroy in seiner ‚Raison primitive‘.“ 3.4. Geste 101 Marr („Über die Entstehung der Sprache“ 53 ) - und den Hinweis, dass das deiktische Hinweisen auf etwas ein Ausdrucksmittel sei, das durch die Verwendung der Hand als Werkzeug eben nochmals den Unterschied des Menschen zur Tierwelt unterstriche (GS III, 461). Was Benjamin in seinem Referat verschweigt, was sich aber beispielsweise in seinem Kafka-Aufsatz gut rekonstruieren lässt, ist die Rückführung eines Modells, das die Zeigegeste an den Anfang stellt, auf Leute wie Wundt und Klages (bei Bühler ist das gut ersichtlich). Die Gebärde also, die bei Benjamin immer wieder Anlass für wichtige Überlegungen liefert (auch in Zusammenhang mit Brecht und dem Theater, der Graphologie, der Pädagogik), erweitert zwingend das zu enge Konzept der Onomatopoesie, an dem er aber, wie im Unterkapitel über die Mimesis gezeigt werden soll, dennoch festhält. Marr ist einer der russischen Linguisten, die Kritik an der Indoeuropäischen Linguistik geübt haben. Er hält die indoeuropäische Sprache für die Sprache einer herrschenden Klasse - genauso wie übrigens die Lautsprache, die in Verbindung mit Magie ein Instrument der herrschenden Klasse gewesen sein soll 54 - und nimmt stattdessen ein alternatives paradigmatisches Konstrukt an, dass er die ‚japhetitische‘ Sprache nennt. Rudimente dieser Sprache seien noch im Baskischen, im Albanischen und Armenischen und auch andernorts, in Bulgarien und Russland, auffindbar. Interessant an Marrs Ansatz - und das wird bei Benjamin nicht hervorgehoben - ist der Hinweis auf die Bildhaftigkeit der ‚japhetitischen‘ Sprache. Analog zu Lévy-Bruhls Annahme eines vorlogischen Denkens hält Marr fest, dass es „Grundeigenschaft der japhetitischen Sprache die Anschaulichkeit der Sprachschöpfung in vorgeschichtlichen Zeiten ist, als die Begriffe untereinander nicht durch logisches Denken verbunden wurden, sondern durch bildhaftes Denken, durch das Denken in Bildern.“ 55 Marr bringt ein paar Seiten weiter Beispiele für diese Bildhaftigkeit. Ein Nomen etwa müsse „semantisch bildhaft sein, eine bildhafte Vorstellung von dem Gegenstande geben“ - sein Beispiel bezieht sich dann aber auf die Verben „aufgehen“ und „untergehen“. Nachvollziehbarer, jedoch nicht minder 53 Vgl. Nikolaj Marr, Über die Entstehung der Sprache, in: Josef Stalin, Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft, herausgeben von Hans-Peter Gente, aus dem Russischen von Heinz D. Becker, München 1968, S. 85-146. Zu dieser Ausgabe sei angemerkt, dass es sich beim Text Stalins um eine Stellungnahme zu sprachwissenschaftlichen Fragen handelt, bei der er unter anderem einräumt, dass die Sprache weder der ‚Basis‘ noch dem ‚Überbau‘ zuzurechnen sei, aber keine ‚Superstruktur‘ oder „‘Zwischen‘-Erscheinung“ darstelle. Er polemisiert im Aufsatz gegen Marr, der genau von dieser These ausgeht. Deshalb ist der Gegenstand von Stalins Kritik, nämlich Marrs Aufsatz über die Entstehung der Sprache, in diese Ausgabe aufgenommen worden. Benjamin selbst zitiert freilich aus einer anderen Ausgabe, nämlich einer frühen Ausgabe der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus“. 54 Vgl. Nikolaj Marr, Über die Entstehung der Sprache, S. 117 und S. 121. 55 Ebd., S. 102. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 102 merkwürdig ist seine Feststellung, dass die Hand die Zunge des Menschen gewesen sei - Marr bestreitet nämlich die These vom Primat des Lauts und behauptet, die Bildhaftigkeit der urzeitlichen Lautsprache sei durch die Bildhaftigkeit der noch ursprünglicheren Gestensprache bedingt gewesen: Und tatsächlich ging die Art und Weise, wie die Bilder der Handsprache miteinander verbunden sind, auf die Lautsprache über; dies hat sich sogar in den uns zugänglichen japhetitischen Sprachen erhalten. So könnte man z.B. denken, daß aus dem Zeitwort „nennen“, „benennen“ das Wort für „Name“ hervorgeht; in Wirklichkeit hat sich gezeigt, daß das Wort für „Name“ in seiner Eigenschaft als „Bezeichnung“, „Hinweis“ von dem Worte für „Hand“ stammt, als dem „hinweisenden“ Körperteil[.] 56 Jedoch räumt Marr auch ein, dass die Handsprache gewisse Defizite aufwiese, schließlich sei sie im Dunkeln nicht gerade brauchbar, außerdem sei sie bezüglich des Aufkommens bestimmter Begriffe und Vorstellungen limitiert, die durch die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens und neuer Denkformen entstanden seien. 57 Zuerst fungierte die Lautsprache laut Marr als Ergänzungs- und Hilfsmittel der Handsprache, genauso, wie heute das Umgekehrte der Fall sei. Der Grund zur Schöpfung der Lautsprache sei durch einen produktiven Arbeitsprozess gelegt worden, denn „die Entstehung der artikulierten Sprache selbst“ konnte nicht „vor dem Übergang der Menschheit zur produktiven Arbeit mit Hilfe künstlich bearbeiteter Werkzeuge [erfolgen]“. 58 Marr nimmt also an, dass die Hand nicht durch die Zunge ersetzt werden konnte, bevor sie nicht endgültig durch Werkzeuge und verfeinerte Produktionsverhältnisse von ihrer Aufgabe, materielle Güter zu produzieren, entlastet wurde. Der Grund, weshalb auf die oben erwähnte Bildhaftigkeit der japhetitischen Sprache verwiesen wurde, ist einfach: Es ist gerade dieser Punkt, der an entscheidender Stelle von Lew Wygotski wieder aufgenommen wird. Und zwar dort, wo es um die ‚egozentrische Kindersprache‘ geht, die im nächsten Kapitel thematisiert werden soll. Neben Marr referiert Benjamin auch einen anderen russischen Forscher, den eben erwähnten Psychologen Lew Wygotski. Wygotski interessiert sich im Text, den Benjamin rezipiert 59 , vor allem für das Verhältnis von Sprache und Denken und dessen ‚genetische‘ Wurzeln. Mittels Versuchen an Schimpansen sei damals festgestellt worden, dass Tiere zwar denken 56 Ebd., S. 131, Sperrung im Original. 57 Ebd., S. 134. 58 Ebd., S. 137. 59 Vgl. Lew Wygotski, Die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache, in: Unter dem Banner des Sozialismus, III. Jahrgang 1929, Heft 3, S. 450-470 und III. Jahrgang 1929, Heft 4, S. 607-624. 3.4. Geste 103 könnten, aber keine menschenähnliche - und d.h. symbolisierende - Sprache besäßen - weder eine, die auf Zeigegesten noch eine, die auf Lauten fußt. Die intellektuellen oder denkerischen Fähigkeiten der Schimpansen sei von der Sprache - im Sinne der menschlichen - verschieden und damit sei auch das Denken und die Sprache selbst genetisch verschieden. Wygotski wie auch Nikolaj Marr kommen zum Schluss, dass es so etwas wie ein ‚Werkzeugdenken‘ gäbe, das unabhängig von der menschlichen Sprache existierte. Sogar ‚vor‘ der menschlichen Sprache, wie Benjamin mit Blick auf die Ursprungs-Dimension festhält: Wir dürfen unmittelbar an die Lehre von Marr anschließen, derzufolge die Handhabung von Werkzeugen der Handhabung von Sprache müsse vorangegangen sein. Da nun die erstere nicht ohne Denken möglich ist, so heißt das, es müsse eine Art von Denken geben, die früher sei als das Sprechen. Dieses Denken ist in der Tat neuerdings mehrfach gewürdigt worden; Bühler belegte es mit dem Namen des Werkzeugdenkens. (GS III, 472) Obwohl Benjamin hier Bühler zitiert, rezipiert er an dieser Stelle hauptsächlich den Aufsatz von Wygotski, der wiederum selber ziemlich viele Forschungsergebnisse und -thesen aufnimmt, wiedergibt und kritisch kommentiert. Eine zentrale Feststellung für Wygotski ist - es wurde oben angedeutet -, dass die Entwicklung des Denkens und der Sprache nicht parallel und gleichmäßig stattgefunden hat und dass demnach dass Denken und die Sprache genetisch verschiedene Wurzeln hätten. 60 Deshalb interessiert sich Wygotski für die Primatenforschung, weil dort so etwas wie Intellekt entdeckt wurde und in gewisser Weise auch Sprache. Dennoch kommt Wygotski letztlich zum Schluss, dass bei den untersuchten Schimpansen zwar das „Vorhandensein eines menschenähnlichen Intellekts“ festgestellt werden konnte, jedoch „bei gleichzeitigem Fehlen einer auch nur einigermaßen in dieser Hinsicht menschenähnlichen Sprache und Unabhängigkeit der intellektuellen Operationen der Schimpansen von ihrer ‚Sprache‘“. 61 Die ‚Sprache‘ der Schimpansen bringe hauptsächlich ihre „Begierden und ihren subjektiven Zustand zum Ausdruck“. Das ist freilich eine etwas eindimensionale Kommunikation, denn diese Äußerungen seien bloß emotional, aber niemals „ein Zeichen von irgend etwas Objektivem“. 62 60 Vgl. Lew Wygotski, Die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache, S. 453. 61 Ebd., S. 454. 62 Ebd., S. 456. An dieser Stelle soll noch angemerkt werden, dass die Thesen Wygotskis teilweise exakt mit denen eines so angesagten Forschers wie Michael Tomasello übereinstimmen. Vgl. etwa Michael Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2009, S. 340: „Affen lernen viele ihrer Gesten (durch ontogenetische Ritualisierung) und setzen sie daher flexibel, ja absichtlich ein, einschließlich der Beobachtung der 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 104 Affen könne man also ‚Sprache‘ zusprechen, jedoch höchstens als subjektive Äußerung und nicht als Zeichensprache. 63 Ihre Mimik und Gestik verstünden die Primaten gegenseitig, sie drücke Gefühlszustände aus, Wünsche und Triebe - aber dieser ‚Sprache‘ funktioniere unabhängig vom Intellekt oder Denken, ja die „emotionale und besonders die Affektreaktion [verhinderten] die Intelligenzleistung des Schimpansen ganz“. 64 Die Affensprache markiert also einen Zwischenschritt, in der Terminologie Wygotskis befindet sie sich auf einer Art Schwelle zwischen ‚emotioneller‘ und ‚objektiver‘ Sprache, weil die Funktion ihrer Gesten auch keine wirklichen Zeigebewegungen seien, sondern, nach Wundt, die „niedrigste Stufe in der Entwicklung der menschlichen Sprache“ darstelle. Deshalb befinde diese Geste sich bei ihnen im „Übergangsstadium zwischen Greif- und Zeigebewegungen“ und sei genetisch von der ‚objektiven‘ Sprache verschieden. 65 Affen, so ist sich Wygotski mit seinen Gewährsleuten sicher, schaffen keine Zeichen, selbst wenn sie Werkzeuge benutzten und ‚malten‘, und auch wenn ihr Nachahmungstrieb optische Stimulationen aufnehme. Benjamin ist mit dieser Einsicht einverstanden, denn er schreibt ziemlich deutlich, dass „kaum bezweifelt werden“ könne, dass die „emotionellreaktive Funktion der Sprache“ laut Wygotski zu den „biologisch ältesten Verhaltungsformen gehör[e]“ - sie stehe „mit den optischen und Lautsignalen der Führer in Tierverbänden in genetischer Verwandtschaft“ (GS III, 473). 66 Zwar sei diese emotionale Sprache eher instinktiven Charakters, aber dennoch nicht ganz unabhängig vom Intellekt. Das Ergebnis dieser Spekulationen sei nach Benjamin die „Fixierung des geometrischen Punkts, an dem die Sprache im Schnittpunkt einer Intelligenz- und einer gestischen Aufmerksamkeit bestimmter anderer. Das steht in völligem Kontrast zu ihren ungelernten, unflexiblen, emotionalen Vokalisierungen, die unterschiedslos in die Welt ausgesendet werden.“ Auch sonstige Thesen Tomasellos stimmen mit denen Marrs und Wygotskis relativ gut überein. Vgl. auch S. 347 des eben zitierten Buchs: „(1) Die menschliche kooperative Kommunikation entwickelte sich anfangs im Bereich der Gesten (Zeigegesten und Gebärdenspiel); (2) diese Entwicklung wurde durch Fertigkeiten und Motivationen geteilter Intentionalität potenziert, welche sich ihrerseits ursprünglich im Kontext von gemeinschaftlichen Tätigkeiten entwickelten; (3) völlig arbiträre sprachliche Konventionen konnten nur im Kontext von intrinsisch sinnvollen, gemeinschaftlichen Tätigkeiten entstehen, die durch ‚natürliche‘ Formen der Kommunikation wie Zeigegesten und Gebärdenspiel koordiniert wurden.“ 63 Vgl. Lew Wygotski, Die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache, S. 464: „Trotzdem hat […] der Schimpanse seine eigene reiche und noch in einigen anderen Beziehungen sehr menschenähnliche Sprache. Aber diese verhältnismäßig hoch entwickelter Sprache hat noch unmittelbar wenig mit seiner ebenfalls verhältnismäßig hoch entwickelten Intelligenz zu tun.“ 64 Ebd., S. 465. 65 Ebd., S. 457. 66 Benjamin zitiert an dieser Stelle Wygotski. Vgl. Lew Wygotski, Die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache, S. 465. 3.4. Geste 105 (Hand- oder Laut-) Koordinate ihren Ursprung“ habe (Ebd.). Wygotski selbst formuliert chiastisch: „[I]n der Philogenese des Denkens und der Sprache können wir unzweifelhaft eine vorsprachliche Phase in der Entwicklung des Intellekts und eine vorintellektualistische Phase in der Entwicklung der Sprache feststellen.“ 67 Sprache muss also irgendwo zwischen unsichtbarem Denken und empfindbarem Zeigen oder Klingen verortet werden, zwischen Intellekt und Wahrnehmungsapparat. Auch an dieser Stelle stellt wiederum der Begriff des ‚Bildes‘ eine Verbindungsmöglichkeit dar. In seiner Doppeldeutigkeit als ‚inneres‘ und ‚äußeres‘ Bild böte er sich an, um diese beiden Sphären zu verbinden. Eine vorläufige Vermutung dieses Kapitels ist, dass Benjamin das in seinem Begriff der Geste mitbedenkt. Vor allem auch mit Blick auf das kindliche Verhalten lässt sich diese These plausibilisieren. Aber zunächst soll nochmals kurz auf ein anderes wichtiges Stichwort eingegangen werden, das weiter oben gefallen ist, und ‚Werkzeugdenken‘ lautet. Bei Marr wird nämlich wie bei Bühler klar, dass nicht nur die gesellschaftlich-konventionelle Dimension der Sprache - auch in ihrem Ursprung - als entscheidende betrachtet wird, sondern genauso die symbolische. Für Marr ist die manuelle Dimension der Sprache sozusagen ursprünglicher als die lautliche. Ein ‚produktiver Arbeitsprozess‘ musste, laut Marr, - ein Verweis auch auf die Wichtigkeit des Kollektivs und des kollektiven Arbeitens innerhalb der Entwicklung des Menschen - mithilfe künstlicher Werkzeuge der Herausbildung der Lautsprache vorangegangen sein, denn diese künstlichen Werkzeuge entlasteten die Hand selbst als Werkzeug und ermöglichten ihre Verwendung zur sprachlichen Kommunikation - eine Prothesentheorie mit medienwissenschaftlichen Implikationen also. 68 Benjamin hält die Erklärungen Marrs in diesem Bereich wohl für schlüssig, bemerkt auch gegen Lévy-Bruhl - so sympathisch ihm auch dessen Hervorhebung der Wichtigkeit der Gebärden für die Entwicklung der Sprache ist -, dass Marr die „phantastischen Elemente der Theorie von Lévy-Bruhl durch konstruktive“ ersetze. Die entscheidende Dimension, die Marr für die Entstehung der Sprache konstatiert, ist eine gesellschaftliche, die die Wichtigkeit der Produktionsverhältnisse zur Erklärung eines jeden sozialen Phänomens nochmals unterstreichen soll: statt um Völker und Rassen geht es bei ihm um soziale Dynamiken und Klassen. 67 Vgl. Lew Wygotski, Die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache, S. 466. 68 Vgl. GS III, 461: „Es sei nämlich, so meint er [Marr], völlig undenkbar, daß die Hand, ehe Werkzeuge sie als Erzeugerin materieller Güter ablösten, als Erzeugerin eines geistigen Werts, der Sprache, ersetzt werden und daß damals schon eine artikulierte Lautsprache an die Stelle der Handsprache treten konnte.‘ Es mußte vielmehr ‚der Grund zur Schöpfung der Lautsprache‘ ‚durch irgendeinen produktiven Arbeitsprozeß‘ gelegt werden.“ 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 106 Das ‚Werkzeugdenken‘ meint primär, dass es eine von der Sprache unabhängige Dimension des Denkens geben müsse. 69 Und diese soll erst dazu geführt haben, dass sich die menschliche Sprache durch die Entlastung der Hand ausbilden konnte. Aufgrund dessen also, dass intellektuelle Reaktionen bei Affen unabhängig von ihrer (emotionell-reaktiven) Sprache festgestellt werden konnten, gehen die Psychologen um Bühler und Wygotski davon aus, dass der menschlichen Sprache phylogenetisch das Werkzeugdenken vorausgegangen sein musste, „d.h. ein Begreifen mechanischer Kombinationen und Erfindung mechanischer Mittel zu mechanischen Endzwecken, oder auch, kürzer gesagt, noch vor der Sprache wurde die Handlung subjektiv sinnvoll, d.i. gleichbedeutend mit bewußt zweckvoll.“ 70 Wygotski nimmt also mit Bühler an, dass Sprache und Denken zwei völlig unterschiedliche Sphären darstellen, dass sie jedoch nicht ohne Überschneidungen seien. Denn man könnte diese Situation als „schematisch durch zwei sich schneidende Kreise darstellen“ - dabei entstünde eine dritte Sphäre, nämlich die „Sphäre des sogenannten ‚sprachlichen Denkens‘“. Und vor allem gebe es „ein ausgedehntes Gebiet des Denkens, das zum Sprachdenken keine unmittelbare Beziehung“ habe: „wie dies Bühler nachgewiesen hat, das technische und Werkzeugdenken und überhaupt das ganze Gebiet des sogenannten praktischen Verstandes“. 71 Ein Erklärungsmuster, das Onomatopoesie im Bereich der ursprünglichen Sprache stark machen würde, wird durch diese These insofern aufgeweicht, als von Anfang an die soziale Dimension und auch die Hand eine entscheidende Rolle spielen. Diese beiden Momente verabschieden noch nicht die Bedeutung des Lauts für die Sprache, bevorzugen aber eher das Auge in seiner Wichtigkeit für die Sprache und das Denken und weniger das Ohr. Ein Problem der Primatenforschung und der Psychologie ist zwar, dass die strikte Trennung von Intelligenz und Sprache beim Menschen nicht so deutlich feststellbar ist, sondern dass, wie oben festgehalten wurde, stattdessen vielmehr deutliche Überschneidungen existieren, aber auch in diesem Fall, im Fall des sprachlichen Denkens, ist nicht der Laut - etwa in der Form des Flüsterns - entscheidend. Sprache, als auf Deixis fundiertes Kommunikationsphänomen, wie auch das Denken, das sich in der Verwendung von Werkzeugen niederschlagen kann, weisen eine Verbindung zur Hand - und somit zur Geste - als Ausdrucksmedium auf. 69 „Die Leistungen der Schimpansen sind ganz unabhängig von der Sprache; auch im späteren Leben des Menschen ist das technische, das Werkzeugdenken in viel geringerem Grade an die Sprache und an Begriffe gebunden, als andere Formen des Denkens.“ Karl Bühler, zitiert bei Lew Wygotski, Die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache, S. 455. 70 Vgl. Lew Wygotski, Die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache, S. 467, Sperrung im Original. 71 Ebd., S. 615. 3.5. Die egozentrische Kindersprache 107 Durch diese Verbindung kann man bereits im Ursprung der Sprache eine Beziehung zum Bildlichen festhalten. Die Hand und das Auge bestimmen die erste sprachliche Kommunikation, die sich mittels Zeigegesten die Produktions- und Wahrnehmungsmöglichkeiten sinnlicher Ähnlichkeit zunutze macht. Benjamin möchte den Begriff der Geste jedoch nicht alleine auf die Hand und die visuelle Dimension angewandt wissen. Ebenso bezieht er ihn auf Lautphänomene. Durch das bleibt das Bildliche nicht nur auf die Hand bezogen. Sinnliche Ähnlichkeit taucht auf der phonetischen Ebene auf, denn niemand kann bestreiten, dass die Entwicklung der Lautsprache stark auf Nachahmung beruht. Aber Nachahmung ist nicht alles: ein schöpferisches Moment beschert der Sprache ihre partielle Ablösung von der Sinnlichkeit. Der Gestus steht nicht alleine für sinnliche Ähnlichkeit, er steht auch für eine Bewegung der Symbolisierung, die Ähnlichkeit allenfalls noch auf einer abstrakten Ebene, auf der Ebene der Logik, zulässt. Auch dort werden wiederum Differenzierungen vorgenommen: etwa in Form der ‚egozentrischen Logik’, deren Dominanz am Anfang der ontogenetischen Entwicklung verortet wird. Das Bildliche spielt in diesem Zusammenhang zwar auch eine Rolle, jedoch hat es sich von der Sinnlichkeit losgelöst. Dass auch das eine relativ abstrakte These bleibt, ist in diesem Fall dem Umstand geschuldet, dass so etwas wie eine ‚egozentrische Logik’ des Kindes, deren Eigenschaften im nächsten Kapitel kurz umrissen werden, nicht in Reinform existiert. Der Begriff des ‚Gestus’, den Benjamin immer wieder verwendet, stellt demnach also etwas wie ein Versuch dar, Eigenschaften, die bezüglich eines Sprach- oder Denkstadiums graduell unterschiedlich sind, mittels eines Begriffs zu verklammern. 3.5. Die egozentrische Kindersprache Es fällt auf, dass Benjamin wie auch Wygotski sich dem Kind zuwenden. Von der Phylogenese und der Entwicklung der Lautsprache aus der Hand- oder Gestensprache kommen sie beide zur Ontogenese. Bei Wygotski geht es um die Frage, ob auch beim Kind ein vorsprachliches Stadium des Denkens feststellbar ist, oder ob es sich dabei nur um eine anhand der Untersuchung von Schimpansen gewonnene Annahme handelt, die auf die Phylogenese projiziert werden konnte. Außerdem interessiert ihn der umgekehrte Fall, nämlich die ‚vorintellektuellen‘ Wurzeln der Sprache in der Entwicklung des Kinds, die mit dem Denken nichts zu tun haben. Aber das wichtigste, das wir von der Entwicklung des Denkens und der Sprache beim Kinde wissen, ist, daß in einem bestimmten Augenblick (ungefähr um das zweite Lebensjahr herum), die Entwicklungslinien des Den- 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 108 kens und der Sprache, die bisher parallel verliefen, sich kreuzen, zusammenfallen und den Anfang zu einer ganz neuen, für den Menschen so charakteristischen Verhaltensform finden. 72 Dieser Augenblick, in dem das Denken und die Sprache sich kreuzen, ist für Wygotski entscheidend. Mit dem bekannten Entwicklungspsychologen William Stern - übrigens ein Cousin von Benjamins Vater und der Lehrer von Heinz Werner, der in diesem Kapitel noch näher vorgestellt wird - hält er fest, dass das der Punkt sei, an dem im Kind das Bewusstsein für Sprache erwache. Das sei auch der Zeitpunkt, an dem das Kind den Willen zur Sprachbeherrschung entwickelte und an dem es entdeckte, dass die Dinge einen Namen hätten. Zwei Momente lieferten den Hinweis, ob dieser Sprung, wo die „Sprache intellektualistisch und das Denken sprachlich wird“ 73 , bereits getan wurde: die aktive Erweiterung des Wortschatzes durch das Erfragen der Namen für die Dinge und die gleichzeitig sprunghaft vonstattengehende Vergrößerung des kindlichen Wortschatzes. Aber mit diesen Feststellungen ist man hinsichtlich der Frage nach den Anfängen der sprachlichen Entwicklungen schon relativ weit fortgeschritten. Benjamin selbst kommt nochmals auf die Frage nach dem Ursprung der Sprache zu sprechen, die „ihre ontogenetische Entsprechung im Umkreis der Kindersprache“ habe und zitiert den eingangs erwähnten Delacroix: Das Kind […] lernt nur darum sprechen, weil es in einer Sprachwelt lebt und jeden Augenblick sprechen hört. Der Spracherwerb setzt einen sehr umfassenden und stetigen Anreiz voraus. Er hat die menschliche Gesellschaft zur Bedingung. Im übrigen entspricht das Kind dem in gleich umfangreichen Maße… Es lernt in der Gesellschaft und es lernt allein. Diese Bedingungen fehlen dem Experiment von Yerkes… Und wenn sein Tier, das sogar bisweilen in einer menschlichen Umwelt lebt, im Gegensatz zum Kind gleichgültig gegen die Laute verbleibt, welche die Menschen in seiner Gegenwart vernehmen lassen, und die Sprache nicht bei sich im Stillen lernt, so muß das seinen guten Grund besitzen. (GS III, 473 f.) Mit Delacroix sagt Benjamin also, dass die Tiersprache - in diesem Fall die ‚Sprache‘ der Schimpansen, die neben ihrem Intelligenzgrad auch einen akustisch-motorischen Nachahmungstrieb besäßen - sich von der Sprache des Menschen durch die sogenannte soziale ‚Sprachwelt’ unterscheide oder durch eine sprachlich geprägte Gesellschaft. Das ist ein nicht unwichtiger Punkt. Denn obwohl evident ist - auch mit Blick auf das Bühlersche Organonmodell -, dass Sprache immer einen Sender und einen Empfänger voraussetzt, stellten Psychologen noch eine weitere Dimension der Sprache 72 Vgl. Lew Wygotski, Die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache, S. 467. 73 Ebd., S. 468. 3.5. Die egozentrische Kindersprache 109 beim Kind fest. Neben die ‚sozialisierte Sprache’ setzt etwa der von Benjamin rezipierte Wygotski in der kindlichen Sprachentwicklung eine von Jean Piaget beschriebene ‚egozentrische Sprache’. Diese sei nicht auf Mitteilung aus, sondern stelle eine „eigentliche Sprache nur für das sprechende Subjekt selbst“ dar, wie Benjamin schreibt (GS III, 475). Sender und Empfänger fallen bei der egozentrischen Kindersprache in einer Person zusammen. Wygotski führt die egozentrische Kindersprache an, nachdem er sich die Frage stellt, wie ‚innere‘ und ‚äußere‘ Sprache sich zueinander verhalten. Dieses Verhältnis muss immer noch im Licht der Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sprache verstanden werden, weil nämlich das Denken beim Erwachsenen von gewissen Psychologen als eine ‚innere‘ Sprache betrachtet wurde, so wie sie auch annahmen, Kinder dächten laut. John B. Watson etwa soll geglaubt haben, dass die Entwicklung der ‚inneren‘ Sprache oder des Denkens über das Flüstern lief, also bei Kindern die Sequenz ‚laute Sprache‘ - ‚Flüstern‘ - ‚innere Sprache‘ existierte. Wygotski fragt sich, weshalb man annehmen könne, „funktionell (soziale und individuelle Anpassungen) und strukturell (Veränderungen des Sprachprozesses bis zur Unkenntlichkeit durch Abkürzungen, Kurzschlüsse und Ersparnisse) so verschiedene Prozesse, wie die Prozesse der inneren und äußeren Sprache“ sich als „genetisch parallel, als gemeinsam verlaufend“ vorzustellen. Und wie man darauf käme, diese beiden Sphären „durch einen dritten Übergangsprozeß (das Flüstern)“ verbunden zu denken, „der rein mechanisch und formell nach einem äußeren quantitativen Merkmal, d.h. rein phenotypisch diese Mittelstellung zwischen beiden anderen Prozessen“ einnehme, aber „weder in funktioneller noch in struktureller Beziehung, d.h. genotypisch […] einen Übergang“ darstelle. 74 Letztlich kommt er mittels Experimenten zum Schluss, dass die Flüstersprache eher mit der ‚äußeren‘ Sprache zusammenhänge, nicht mit der ‚inneren‘. Seine Lösung zur Charakterisierung des Übergangsprozesses von der ‚äußeren‘ zur ‚inneren‘ Sprache sieht er in Piagets ‚egozentrischen Kindersprache‘: Wir sagen von vornherein, daß wir in der egozentrischen Sprache ein Übergangsstadium in der Entwicklung der Sprache von der äußeren zur inneren erblicken möchten. Zwar gibt Piaget selbst keine direkte Grundlage zu einer solchen Annahme und gibt nirgends einen Hinweis, daß die egozentrische Sprache als Übergangsetappe zu betrachten ist. Eine ganze Anzahl objektiver Daten, zum Teil auch unsere eigenen Untersuchungen, sprechen jedoch für eine solche Vermutung, die freilich nur eine Hypothese ist, aber in An- 74 Ebd., S. 608. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 110 betracht all dessen, was wir zur Zeit über die Entwicklung der Kindersprache wissen, die in wissenschaftlicher Beziehung bestfundierte Hypothese. 75 Wygotski wandelt die Bedeutung der egozentrischen Kindersprache bei Piaget ein wenig ab. Sie ist ihm ein Schwellenphänomen, anzusiedeln zwischen der ‚äußeren‘ und der ‚inneren‘ Sprache, jedoch nicht zu verwechseln mit dem Denken selbst oder der ‚vorintellektualistischen‘ Sprache, weder die ‚egozentrische Kindersprache‘ noch die ‚innere‘ Sprache des Erwachsenen kann bei Wygotski mit Denken gleichgesetzt werden, auch wenn bei Benjamin steht, die ‚egozentrische Sprache’ könne als „Vorläuferin, ja Lehrerin des Denkens“ bezeichnet werden (GS III, 476). Mit diesem Argument wendet sich Benjamin mit Wygotski aber bloß gegen den Behaviorismus, der das Denken, wie Benjamin schreibt, als eine ‚innere Rede’ auffasste. Bei Wygotski entspricht die ‚egozentrische Kindersprache‘ einem bestimmten Stadium der menschlichen Entwicklung. Es handelt sich aber bei weitem nicht um das erste. Das erste Stadium ist für Wygotski das „primitive natürlich Stadium“, dem das vorsprachliche Denken oder - umgekehrt - die vorintellektualistische Sprache entsprechen. 76 Auf dieses Stadium folgt das Stadium der „naiven Psychologie“, das einer ‚naiven‘ Erfahrung des eigenen Körpers und der Objekte der Umwelt (darunter auch Werkzeuge) entspricht, kurz: es umfasst den praktischen Verstand. Auf der Ebene der Sprache beherrsche das Kind in diesem Stadium bereits Grammatik, jedoch weniger ‚logische Strukturen‘ und diesen Formen entsprechende Operationen. Nach diesem Stadium trete das Kind in das „Stadium des äußeren Zeichens, der äußeren Operation, mit deren Hilfe das Kind irgendeine innere psychologische Aufgabe lös[e]“. 77 Diesem Stadium entspreche in der Entwicklung der Sprache die egozentrische Kindersprache. Diesem Stadium folgt dann das letzte, das „Stadium des ‚Nachinnenwachsens‘“, weil da diese vorhin genannte ‚äußere Operation‘ nach ‚innen‘ wandere. Wenn das Kind vorher noch an den Fingern gerechnet habe, so würde es jetzt, in diesem vierten Stadium, mit dem Kopf rechnen können. Dass das Kind demnach auch die ‚äußere Struktur‘ der Sprache vor der ‚inneren‘ begreife, ist für die Betrachtung weiterer Aspekte, die Benjamin interessieren - nämlich das mimetische Vermögen -, nicht unwesentlich. Denn das bedeutet nichts anderes, als dass „das Wort für das Kind lange Zeit eher als Eigenschaft“ eines Dings wahrgenommen werde, und erst später „als Symbol“: Das Kind begreife zunächst „die äußere Struktur: Wort-Ding, die erst später zur symbolischen Struktur“ werde. 78 Die symbo- 75 Ebd., S. 610. 76 Ebd., S. 613 f. 77 Ebd., S. 614. 78 Ebd., S. 620. 3.5. Die egozentrische Kindersprache 111 lische Funktion der Sprache entdecke ein Kind also erst spät, erst nach einer gewissen Zeit gelange es zum Bewusstsein, dass Wörter eine symbolische Bedeutung haben können. Außerdem nehme es lange an, bei einem Wort handle es sich, wie wir gesehen haben, um die Eigenschaft eines Dings. Ein funktionaler Zeichengebrauch findet in der frühen Kindheit, im Stadium der ‚naiven Psychologie‘, demnach laut Wygotski noch nicht statt. Erst mit der Zeit trete das Kind aus diesem Stadium heraus und vermöge ‚innerlich‘ zu denken. Erst in einem weiteren Stadium beherrsche es die Sprache als abstrakte und symbolische. Die „innere Sprache“ entwickle sich also durch „Anhäufung langanhaltender funktioneller und struktureller Veränderungen“ und zweige „zusammen mit der Differenzierung der sozialen und egozentrischen Funktionen der Sprache von der äußeren Sprache“ ab, so dass die „sprachlichen Strukturen, die sich das Kind aneignet, zu den grundlegenden Strukturen seines Denkens“ würden. 79 Wygotski ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Entwicklung des ‚inneren‘ Denkens von außen bestimmt wird, äußere Einflüsse - also vornehmlich das Soziale - eine große Rolle spielen. Das sprachliche Denken ist für Wygotski somit keine „natürliche, urwüchsige Verhaltensweise“, sondern eine „historische Form“. 80 Auch bei Piaget spielt das Soziale eine gewisse Rolle, auch schon bei der ‚egozentrischen Kindersprache‘, die bei ihm der ‚sozialisierten‘ Sprache entgegengehalten wird. Diese Gegenüberstellung muss marxistischinspirierten Denkern wie Wygotski oder Benjamin wohl zu kurz greifen. Dennoch sei die ‚egozentrische Kindersprache‘ bei Piaget hier kurz skizziert, weil sie eine Nähe zu dem aufweist, was Benjamin in Texten zur Kindersprache - wie etwa in den ‚Mummerehlen‘ - als das sprachliche Verhalten des Kindes zur Umwelt schildert. Für Piaget zeichnet sich die ‚egozentrische Kindersprache‘ zunächst einmal dadurch aus, dass das sprechende Kind sich dabei nicht darum kümmert, „mit wem es spricht und ob man ihm zuhör[e]“: „Es spricht entweder mit sich selbst oder des Vergnügens willen, irgendjemanden an seiner unmittelbaren Handlung teilnehmen zu lassen. Diese Sprache ist egozentrisch zunächst einmal, weil das Kind nur von sich erzählt, vor allem aber, weil es nicht versucht, auf den Standpunkt des Zuhörers einzugehen.“ 81 Wie Piaget an einer anderen Stelle sagt, frage sich das Kind „nie, ob es verstanden“ werde: beim Reden denke es nicht an andere, es beziehe „alles auf es selbst“. 82 79 Ebd., S. 622. 80 Ebd., S. 623. 81 Vgl. Jean Piaget, Sprechen und Denken des Kindes, S. 21. 82 Ebd., S. 47. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 112 Piaget charakterisiert die ‚egozentrische Kindersprache‘ näher und die Charakteristika sind nicht uninteressant. Es gebe drei Kategorien ‚egozentrischer Sprache‘: erstens die Wiederholung oder Echolalie. Dabei handle es sich um die „Wiederholung von Silben und Worten“, egal ob es mit jemandem spreche und ob die Worte einen Sinn hätten: das sei ein „Überbleibsel des Lallens der Säuglinge, das natürlich von einer Sozialisation noch weit entfernt sei“. Bei der zweiten Kategorie handelt es sich um den Monolog, bei dem das Kind für sich spreche, als denke es laut. Die dritte Kategorie ist der „Monolog zu zweit oder der kollektive Monolog“, bei der der ‚Gesprächstpartner‘ nur eine Stimulanz darstelle, nicht jedoch als tatsächlicher Teilnehmer eines Dialogs fungiere. 83 Piaget stellt, wie bereits geschrieben, der ‚egozentrischen Sprache‘ die sozialisierte gegenüber. An dieser Stelle soll davon abgesehen werden, diese auch noch fein zu charakterisieren. Grundsätzlich lässt sich darüber sagen, dass es sich um eine dialogische Form der Kommunikation handelt, bei der auf den Gesprächspartner eingegangen wird. Piaget entwickelt darüber hinaus ein Instrument, den sogenannten ‚Egozentrismus-Koeffizienten‘, mit dem sich die egozentrische Kindersprache messen lassen soll, um individuell festzustellen, bis zu welchem Alter welches Maß an Egozentrismus vorliegt. Weshalb ist nun die ‚egozentrische Kindersprache‘ interessant für das bisher skizzierte Thema? Zunächst aus dem einfachen Grund, weil ihm nach Piaget unter anderem ein Denken in Bildern zugrunde liegt. Piaget bringt nämlich die egozentrische Kindersprache mit dem von Psychoanalytikern so genannten ‚ungelenkten Denken‘ (pensée non dirigée) in Verbindung, einem Denken, das von Eugen Bleuler als ‚autistisches Denken‘ bezeichnet wurde. 84 Im Gegensatz zum ‚gelenkten Denken‘, das der Wirklichkeit angepasst sei, auf sie einzuwirken versuche, Wahrheit und Irrtum („empirische oder logische Wahrheit“) aufnehme, durch die Sprache mitteilbar und intelligent sei, sei das ‚autistische Denken‘ „unterbewußt“ - und die Ziele die es verfolge seien dem „Bewußtsein nicht gegenwärtig“ 85 : Es ist der äußeren Wirklichkeit nicht angepasst, sondern es schafft sich selbst ein aus Imagination oder Träumen bestehende Wirklichkeit; es versucht nicht, Wahrheiten festzustellen, sondern Wünsche zu erfüllen; es bleibt streng individuell und läßt sich nicht durch die Sprache mitteilen. Dieses Denken vollzieht sich vor allem in Bildern und muß, um sich mitzuteilen, indirekt vorgehen, wobei es Gefühle, die es begleiten, durch Symbole und Mythen hervorruft. 83 Ebd., S. 22. 84 Ebd., S. 49. 85 Ebd., S. 50. 3.5. Die egozentrische Kindersprache 113 Piaget spricht von zwei völlig unterschiedlichen Denkweisen, die aber gemeinsam wirkten. Die ‚egozentrische Kindersprache‘ ist nicht völlig durch autistisches Denken bestimmt, vielmehr tritt hier - wenn es um das Kind geht, ist das mittlerweile fast schon eine absehbare Pointe - eine Zwischenform in Erscheinung, die Piaget eher dem ‚gelenkten Denken‘ zuspricht, nämlich das ‚egozentrische Denken‘. Das autistische Denken wecke Einfälle und Assoziationen, eine Klärung und Beweise würden anschließend aber vom gelenkten oder intelligenten Denken geleistet bzw. geliefert. Piaget geht von zwei verschiedenen Logiken aus: das ‚gelenkte Denken‘ folge den „Gesetzen der Erfahrung und der eigentlichen Logik“, das autistische hingegen einer „Gesamtheit besonderer Gesetze (Gesetze des Symbolismus, der unmittelbaren Befriedigung usw.)“. 86 Das autistische Denken, das bildlichen Vorstellungen, körperlicher Aktivität verhaftet bleibt und individuell sei, ist nur ein Pol, der andere Pol bildet das intelligente Denken. Und zwischen diesen Polen gibt es viele Zwischenformen, die Piaget mit dem Begriff des ‚egozentrischen Denkens‘ belegt. 87 Das egozentrische Denken verfährt beispielsweise über Analogien, Bilder, Schemata, lässt sich aber nur schwer mitteilen, wenn es für jemand anderen in einzelne Denkschritte zerlegt werden soll - deshalb konstatiert Piaget zwei verschiedene Formen von Logik für die mitgeteilte Intelligenz und das egozentrische Denken: 1. Die egozentrische Logik ist intuitiver, eher ‚synkretistisch‘ als deduktiv, die Denkprozesse sind also nicht explizit. Das Urteil geht direkt von den 86 Ebd. Es drängt sich unweigerlich der Gedanke auf, dass das autistische Denken an dieser Stelle mit Charakterisierungen des ‚primitiven‘ Denkens in Zusammenhang zu bringen ist, wie man es etwa von Lévy-Bruhl kennt. Nicht überraschend erhärtet sich dieser Verdacht, wenn man Piagets Beispiel anschaut, mit dem er die zwei verschiedenen Denkweisen skizzieren möchte: er zieht dabei das Wasser als einzuordnendes Phänomen heran. „Für das intelligente Denken ist das Wasser eine natürliche Substanz, man kann seinen Ursprung erklären oder doch wenigstens seine Entstehung empirisch beobachten. […] Dem autistischen Denken dagegen ist das Wasser nur interessant im Zusammenhang mit der Befriedigung organischer Bedürfnisse. Es dient als Getränk. Als solches und wegen seines Aussehens ist es in der Phantasie aller Völker, in der von Kindern und im Unterbewußtsein von Erwachsenen, zu einem rein organischen Bild geworden. Es wurde mit den aus menschlichen Körpern austretenden Flüssigkeiten verbunden und wurde so zum Symbol der Geburt selbst, wie zahlreiche Mythen […], Riten […], Träume und Erzählungen von Kindern zeigen.“ 87 Piaget erstellt ein Schema. Zum ‚nicht mitteilbaren Denken‘ gehört das ‚autistische‘ wie auch das ‚egozentrische Denken‘, das eine - das autistische - ist jedoch ‚nicht gelenkt‘, das andere rechnet er zum ‚gelenkten Denken‘. Daneben existiert logischerweise auch ein „mitteilbares Denken“, zu dem er auf der Seite der ‚nicht gelenkten Denkens‘ das sogenannte ‚mythologische Denken‘ zählt, auf die Seite des ‚gelenkten Denkens‘ gehört die „mitgeteilte Intelligenz“. Vgl. Jean Piaget, Sprechen und Denken des Kindes, S. 51. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 114 Prämissen zur Schlußfolgerung über, es überspringt dabei die Zwischenstufen. - 2. Sie legt wenig Wert auf die Beweisführung und nicht einmal auf die Kontrolle der Behauptungen. Man vertraut auf Visionen von einem Gesamtzusammenhang und fühlt sich viel schneller in Sicherheit, als wenn die Beweisketten explizit wären. - 3. Diese Logik gebraucht persönliche Analogieschemata, Erinnerungen an frühere Schlußfolgerungen, die die künftigen Schlußfolgerungen leiten, ohne daß dieser Einfluß jedoch bewußt empfunden wird. - 4. Die visuellen Schemata spielen eine große Rolle, ersetzen sogar die Beweisführung und die Deduktion. - 5. Die persönlichen Werturteile schließlich beeinflussen das egozentrische Denken viel mehr als das mitteilbare Denken. 88 Auf derselben Seite charakterisiert Piaget auch die ‚mitgeteilte Intelligenz‘. Sie versuche deduktiv vorzugehen, expliziere Verbindungen zwischen Behauptungen, lege Wert auf die Beweisführung, schließe Analogieschemata, ja visuelle, nicht-mitteilbare Schemata aus und eliminiere persönliche Werturteile. Piaget charakterisiert diese ‚mitgeteilte Intelligenz’ also im Sinne eines Denkens, das bestrebt ist, sich mittels kausal zerleg- und nachvollziehbaren Schritten eines Gegenstands zu nähern - dabei scheint Begriffslogik eine große Rolle zu spielen, Abstraktions- und Klassifikationsvermögen, nicht jedoch ‚bildliches’ Denken. ‚Bildlich‘ und ‚subjektiv’, demnach in gewisser Weise esoterisch, gehe dagegen das ‚egozentrische Denken’ vor. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, mit der Charakterisierung der egozentrischen Logik die Charakterisierung eines Denkens zu erhalten, das mitnichten nur eine präoperationale Logik eines Stadiums der Kindheit beschreibt. Charakteristika der Logik, die Piaget als egozentrisch apostrophiert, kann man auch in der Charakterisierung von ‚primitivem‘ Denken oder in literarischen Texten begegnen. Indirekt kann man damit auch eine Kritik an der Einteilung des Denkens in starre Entwicklungsschritte äussern. Bei Piaget wird deutlich, dass ein Kind ein neues Stadium nicht erreicht, wenn ein altes in seiner Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Der Starrheit dieses Konzepts begegnet Lew Wygotsky mit der These, dass ein Kind maßgeblich in Interaktion mit seiner Umwelt und im Dialog mit anderen lernt. Benjamin, der festhält, dass „[d]er gegenwärtige Zusammenhang“ es verlange, „auf Piagets Begriff der egozentrischen Kindersprache einzugehen.“ (GS III, 474), bezeichnet die ‚egozentrische Kindersprache‘ als „Vorläuferin, ja Lehrerin des Denkens“ (GS III, 475). Erneut begegnet damit einem Anfangszustand: noch vor dem Denken waltet die egozentrische Kindersprache. Das Denken und der sprachliche Ausdruck des Kinds fol- 88 Ebd., S. 52 f. 3.6. Mimesis 115 gen einer spezifisch bildlichen Logik, die auch im späteren Denken einen Widerhall findet. Aber sprunghaft wie sich das ganze Sammelreferat ausnimmt, geht Benjamin - seinen Fokus trotz laufender Verschiebung immer wieder auf sein Hauptinteresse zurückrichtend - von Piaget rasch wieder zur Frage vom Verhältnis der Sprache und des Denken über, um - wie Wygotski - die These der Flüstersprache als Bindeglied zwischen diesen beiden Bereichen zu widerlegen. Benjamin hält nichts von der These, dass das Denken eine ‚innere Rede‘ sei. Diese Art von phonetischer Theorie scheint ihm nicht plausibel. Einige Sympathie kann er dagegen Richard Pagets These abgewinnen, dass die Sprache eine „Gestikulation der Sprachwerkzeuge“ sei: „Primär ist hier der Gestus, nicht der Laut.“ (GS III, 476) Man kann an der Betonung des Primats des Gestus bereits ablesen, was genau Benjamin an Pagets Theorem interessant findet: dass das „phonetische Element ein auf dem mimisch-gestischen fundiertes“ sei (GS III, 477). Wenn man sich nochmals an die Vermutung Wygotskis erinnert, dass ein ‚Werkzeugdenken‘ existiert haben könnte, das dem Sprechen vorausgegangen sein soll, so dass die Werkzeuge allmählich erst die Hand frei machten „für die Aufgaben der Sprache“, und dass sich gleichzeitig neben diesen „Lehrgang des Intellekts“ auch den „Lehrgang des gestischen oder akustischen Ausdrucksvermögens“ entwickelt habe, wird die Übersicht über all die Ursprungstheoreme nicht vereinfacht. Nochmals an den eingangs dieses Kapitels erwähnte Herder zurückgedacht, haben wir es auch bei Benjamin mit einer komplexen Vielfalt von Ursprüngen zu tun, an dem sich die wildesten und scheinbar widersprüchlichsten Theoreme der zeitgenössischen Wissenschaft kreuzen, ein ‚geometrischer Punkt‘ vielleicht, an dem die Sprache im Schnittpunkt einer „Intelligenz- und einer gestischen (Hand- oder Laut-)Koordinate ihren Ursprung hat“ (GS III, 473), bleibt relativ abstrakt. Vielleicht besteht eine Möglichkeit, die Vielfalt der verschiedenen Ursprünge - ob die Hand oder der Laut und wie die Hand oder der Laut am Anfang der Sprache standen -, zu bündeln, im Mimesis- Begriff. 3.6. Mimesis Immer wieder wird man bei bestimmten Formulierungen, die Benjamin aus den Texten seiner Gewährsleute zitiert und übersetzt stark an Formulierungen aus seinen kleinen Schriften über das mimetische Vermögen oder die Lehre vom Ähnlichen erinnert. Das überrascht nicht, da Benjamin, wie eingangs festgehalten wurde, die Nähe des Sammelreferats zu seinen früheren, auf Ibiza verfassten Texten über das mimetische Vermögen selbst konstatiert hat. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 116 Gegen den Schluss seines Aufsatzes kommt Benjamin dann auch tatsächlich nochmals verstärkt auf das zu sprechen, was ihn eigentlich an all diesen Aufsätzen am meisten interessiert hat. Der genauere Blick auf den immer wieder auch unvermittelt auftauchenden Begriff ‚Gestus’ hat bestätigt, dass es Benjamin, wenn schon der Sprachursprung zur Rede kommt, um die These vom mimetischen Vermögen geht. Das wird unterstrichen durch die Paraphrase des oben erwähnten Richard Pagets, den Benjamin gegen die These ins Feld führt, dass es beim Spracherwerb nicht bloß um das Nachplappern bestimmter Laute geht, sondern dass es der Gestus sei, der einem anthropologischen Ausdrucksbedürfnis des Menschen entspreche (Sprache als ‚Gestikulation der Sprachwerkzeuge‘). Nicht der Laut sei entscheidend - man könne sich auch flüsternd verständigen -, sondern das mimisch-gestische Moment, auf dem das lautliche gründet. Paget geht davon aus, dass das Flüstern, evolutionär gesehen, eine Folge von Zungen- und Lippen-Gesten sei. 89 Benjamin scheint dieser These etwas abgewinnen zu können, wenn er mit seinen eigenen Worten meint, dass „die gesprochene Sprache nur eine Form eines fundamentalen animalischen Instinkts“ sei: „des Instinkts mimischer Ausdrucksbewegung durch den Körper“ (GS III, 478). Marcel Jousse, ebenfalls ein Vertreter jener Theorie, die den Gestus vor den Laut stellt, zitiert Benjamin mit den Worten, dass der „charakteristische Ton“ nicht „notwendigerweise onomatopoetischer Art“ sei - die „Aufgabe des Tons“ sei es „vielmehr zunächst, die Bedeutung einer bestimmten mimischen Gebärde zu vervollkommnen“ (GS III, 477). Jousse vertritt tatsächlich auch die These, dass der Ton lediglich eine Begleiterscheinung der Gebärde darstelle: „Allmählich trat zu jeder charakteristischen Gebärde ein ihr entsprechender Ton. Und wenn solche durch Mund und Kehle vermittelte Gestikulation weniger ausdrucksvoll war, so war sie auch minder anstrengend, forderte weniger Energie als die Gebärde des Körpers oder selbst der Hand.“ (Ebd.) Durch diese Theorie findet Benjamin wohl seinen eigenen Mimesis-Begriff bestätigt, der über eine enge Auffassung sinnlicher Ähnlichkeit hinausgeht. Allmählich wird nun auch klar, weshalb Benjamin nach wie vor an der Annahme festhält, dass die Sprache onomatopoetische Momente enthält. Das ist wohl deshalb so, weil die Be- 89 Vgl. Richard Paget, The nature of human speech, Oxford 1925, S. 28 f., Hervorhebung im Original: „In the beginning man no doubt used his larynx to roar and grunt with, as his animal ancestors had done before him. He also used grimaces, as the anthropoid apes still do, to express his emotions of pleasure, pain, anger and affection, &c. As his hands became more occupied with craftsmanship he specialized more and more on movements of his face, lips, and tongue, as a means of expression. Then he found that by blowing air through his mouth or nose (or both) while he was grimacing, the grimace became audible at distances up to say 50 yards in calm weather - so as to be recognizable by ear alone, without the need of sight. He could now communicate with other individuals in the dark, or when his or his listener’s back was turned.” 3.6. Mimesis 117 griffe ‚Gestus’ und ‚Mimesis’ bei ihm eine weite Bedeutung aufweisen: „Mit den Aufstellungen von Paget und Jousse tritt der überholten onomatopoetischen Theorie, die man als eine mimetische im engeren Sinne bezeichnen kann, eine mimetische in sehr viel weiterem Sinne entgegen.“ (GS III, 478) Sogleich greift er mit Mallarmé auf Motive zurück, die sich in seinen eigenen Aufsätzen finden. Der Tanz als eine mimetische Geste, die vor aller Sprache lesbar gewesen sein muss, wird auch in seinem Aufsatz über das mimetische Vermögen behauptet (vgl. GS II, 213: „Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen.“): „Die Tänzerin“, heißt es bei Mallarmé, „ist nicht eine Frau, sondern eine Metapher, die aus den elementaren Formen unseres Daseins einen Aspekt zum Ausdruck bringen kann: Schwert, Becher, Blume oder andere.“ Mit solcher Anschauung, die die Wurzeln des sprachlichen und tänzerischen Ausdrucks in ein und demselben mimetischen Vermögen erblickt, ist die Schwelle einer Sprachphysiognomik beschritten, die weit über die primitiven Versuche der Onomatopoetiker hinausführt, ihrer Tragweite wie ihrer wissenschaftlichen Dignität nach. (GS III, 478) Die Tänzerin verliert ihre Identität als Frau und wird zu einem potentiellen Ausdruck elementarer Daseinsformen. Der Tanz wird zu einem in der Mimesis fussenden Medium, dass jenseits eines klar zugeordneten Signifikats Raum lässt für ein potentielles Bedeuten im performativen Ausdruck. Tanz ist dynamischer Ausdruck, der erst im Vollzug eine Bedeutung erzeugt, die unabhängig von einer arbiträr festgelegten Signifikanz angeschaut werden kann. Diese Schwelle der „Sprachphysiognomik“ sieht Benjamin auch von Heinz Werner und Rudolf Leonhard beschritten, die sich jedoch nicht mit dem Tanz, sondern mit dem Wort beschäftigen. Letzteren zitiert er bereits in der „Lehre vom Ähnlichen“ mit dem Satz „Jedes Wort ist - und die ganze Sprache ist - onomatopoetisch.“ 90 Dieses Zitat kommentiert Benjamin mit den Worten: „Der Schlüssel, welcher diese These eigentlich transparent macht, liegt in dem Begriff einer unsinnlichen Ähnlichkeit versteckt. Ordnet man Wörter der verschiedenen Sprachen, die ein gleiches bedeuten, um jenes Bedeutete als ihren Mittelpunkt, so wäre zu erforschen, wie sie alle - die miteinander oft nicht die geringste Ähnlichkeit besitzen - ähnlich jenem Bedeuteten in ihrer Mitte sind.“ (GS II, 207) Es fällt auf, dass Werner und Leonhard im Sammelreferat über die Sprachsoziologie nur sehr kurz erwähnt werden - Benjamin geht inhaltlich auch nicht wirklich 90 Vgl. Rudolf Leonhard, Das Wort, Berlin 1932, S. 6. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 118 auf sie ein. 91 Dass er sich aber mit beiden beschäftigt hat, steht fest. Denn er erwähnt sie rund um seine Arbeit an den beiden kurzen Texten über das mimetische Vermögen. Diese Texte sind beide nicht besonders umfangreich. Die „Lehre vom Ähnlichen“ und ihre Überarbeitung, „Über das mimetische Vermögen“, sind nur wenige Seiten lang. Außerdem existieren noch zwei, drei Manuskripte, die ebenfalls auf das Thema eingehen und teilweise Lesenotizen zu Texten enthalten, die im Sammelreferat gegen Ende des Textes kurz erwähnt werden. Um nachvollziehen zu können, was Benjamin an Werner und Leonhard interessiert, werden diese bzw. die Texte, auf die sich Benjamin hauptsächlich bezieht, in den kommenden Unterkapiteln kurz besprochen. 3.6.1. Heinz Werner und Rudolf Leonhard Heinz Werner wurde weiter oben schon in Zusammenhang mit Karl Bühler erwähnt. Bühler kritisiert an Werner, die Sprache anschaulich mit den Dingen direkt verbinden zu wollen. Die platonisch angehauchte Formel, das Wort als ‚sprachsinnliche Form der Wesenheit der Dinge’ begreifen zu wollen, musste Karl Bühler mit seiner Zweifeldtheorie reichlich esoterisch vorkommen. Die objektivistische Auffassung 92 der Sprache etwa, die sie nicht nur der Welt stellvertretenden Zeichen zuschlägt, sondern auch einer ‚gegenständlich-bildhaften Welt‘, durch die die Sprache eine unmittelbare Beziehung zur Dingwelt unterhält, passen nicht zu Bühlers Theorie. Interessant ist, dass Werners Sprachauffassung auch zu einem weiteren Ausdruckstheoretiker passt, zu dem Benjamin ein problematisches Verhältnis 91 Das bemerkt auch Pressler: „Benjamin nennt zwei Autoren - Heinz Werner und Rudolf Leonhard - (die Forschungen Werners hatten schon bei anderen Autoren Erwähnung gefunden); zu einer ausführlichen Besprechung kommt es im Sammelreferat jedoch nicht. Der „Physiognomiker Benjamin“ (Hermann Schweppenhäuser) sah wohl bei den beiden Autoren seinen ureigensten Gegenstand behandelt, wollte ihn aber offensichtlich nicht in den Vordergrund spielen.“ Vgl. Günter Karl Pressler, Vom mimetischen Ursprung der Sprache, S. 92. Eine spekulative These, weshalb Benjamin diese beiden Autoren nur kurz erwähnt, könnte lauten, dass der eher esoterische Inhalt beider Schriften nicht so gut zur Wissenschaftlichkeit der restlichen Ansätze passte, die er sonst behandelt. Bühler, den Benjamin ja eher affirmativ zitiert, äußert sich, wie weiter oben gezeigt wurde, relativ kritisch über Heinz Werners Buch und Ansatz. 92 Vgl. Heinz Werner, Grundfragen der Sprachphysiognomik, S. 33: „So sehr die Sprache ein von den Sprechenden immer neu geformtes Gebilde ist, so sehr ist sie zugleich eine objektive Wirklichkeit, die man sinnhaft anzuschauen oder begrifflich zu deuten vermag. Je nachdem das letztere oder das erstere geschieht, gehört die Sprache der Welt der Zeichen oder der gegenständlich-bildhaften Welt an. Die ‚gegenständlichen Bilder‘ sind zum Unterschied von den ‚Zeichen‘ objektive Gebilde, die ihre Bedeutung unmittelbar in ihrem So-Sein präsentieren, während Zeichen eine Bedeutung ‚vertreten‘.“ 3.6. Mimesis 119 hatte, nämlich Ludwig Klages. Ein bisschen ähnlich wie Klages ‚Urbilder’, die nur mittels Seelenschau wahrzunehmen sind 93 , glaubt Werner, das die Dinge als Ganzes über ihr physiognomisches Ausdrucksbild - und die „physiognomische Fassung“ 94 - wahrgenommen werden könnten. 95 Durch einen Abstraktionsprozess - ebenso wie bei Klages technisch und begrifflich fundiert - würde jedoch der Mensch diese ‚innere Dynamik’ der Dinge, ihr Ausdruckvermögen immer weniger erfassen. 96 Es handelt sich auch bei Werner um eine Bewegung der ‚Abstraktion’, durch die nicht mehr ‚konkrete Gegenstände’, sondern nur noch Begriffe sprachlich reproduziert werden. ‚Abstraktion’ - bei Klages und Benjamin thematisiert - steht auch hier für den Übertritt zur Arbitrarität und Symbolhaftigkeit der Zeichensprache, die mit dem bildlichen, magischen, physiognomischen Moment ringt. Wie schon weiter oben festgehalten, wird dabei jenes letzte Moment 93 Nichtsdestotrotz ist freilich zu differenzieren. Die ‚Urbilder‘ Klages’, die von bestimmten Bildern abgeleitet werden können, tragen als Teil einer Urgrammatik der Ausdrucksformen einen objektiven Sinn. Werner hingegen geht durchaus davon aus, dass eine Kenntnis der kulturellen Zusammenhänge sprachlicher Ausdrücke vonnöten ist, um ihn zu erfassen. 94 Vgl. Heinz Werner, Grundfragen der Sprachphysiognomik, S. 2: „Es gibt keinen sinnlichen Gegenstand, keine sinnliche Eigenschaft, die nicht begrifflich-sachlich, ebenso aber auch ihrer inneren Bewegung, ihrem Ausdruck nach angeschaut werden könnten. Es ist nicht so, dass es objektiv zwei Welten gäbe, die Welt der ausdrückenden und die Welt der sachlichen Gegenstände, sondern es sind verschiedene Seins- Fassungen, die wir an ‚demselben‘ Gegenstande zu vollziehen vermögen: die rationale begriffliche Fassung und die Fassung dem Ausdrucke, der inneren Dynamik nach. / Ich nenne diese letztere ‚physiognomische Fassung‘, weil das Grundbeispiel dieser Schau für den Kulturmenschen angesichts des animalischen Leibes, der menschlichen und tierischen Physiognomie verwirklicht wird.“ 95 Vgl. Heinz Werner, Grundfragen der Sprachphysiognomik, S. 49: An dieser Stelle beschreibt Werner, dass eine analytische Vorgehensweise bezüglich der Beschreibung dieser Bilder versagen muss, dass aber die Wissenschaft mit diesem Paradox zu ringen hat: „Eine wissenschaftlich brauchbare Deskription von Ausdrucksformen kann daher nur angewendet werden, wenn die Analyse nicht nach ‚geometrischer‘ Art, nämlich im Sinne der Gliedhaftigkeit der durch Teile fundierten Gestalt, sondern im Sinne der bedeutungshaften, unteilbaren Ganzheit durchgeführt wird.“ 96 Obwohl Günter Pressler den Vergleich mit Klages nicht zieht, weil er ihn vielleicht nicht gut kennt, nimmt er andere Analogien wahr, die eigentlich auf der Hand liegen. Vgl. Günter Karl Pressler, Vom mimetischen Ursprung der Sprache, S. 96: „Diese hier von Werner benannte Wahrnehmung der ‚inneren Bewegung’ hat ihre Nähe zu einem ‚vorlogischen’ bzw. ‚prälogischen Denken’, wie es von Marr bzw. Lévy-Bruhl formuliert wird. Dieser Vergleich ermöglicht Zugänge zu einem Verständnis der ‚Abstraktion’, wie es in der Assoziationsfähigkeit anderer Kulturvölker und -stufen immer wieder notiert wird. Dieser Begriff der ‚Abstraktion’ meint nicht die begrifflichsachliche, die auch Benjamin verwirft und mit dem Erscheinen des ‚Urteils’, also der Unterscheidung von ‚gut und böse’, auftauchen sieht; er meint vielmehr eine ‚Wort- Bild-Wahrnehmung’ (Marr), die den westlichen bzw. indogermanischen Kulturmenschen verloren gegangen sein dürfte.“ 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 120 zu einem schöpferischen stilisiert (auch das entspricht relativ gut dem frühen Sprachaufsatz Benjamins). Das sprachphysiognomische Erleben von Wörtern versucht Werner anhand von Experimenten mit Versuchspersonen aufzuzeigen. Wie weiter oben klar geworden sein sollte, hat Karl Bühler von diesen Experimenten nichts gehalten, seine Kritik, dass ein Phonem einen Realisierungsspielraum offen ließe und dass etwa bei einem Wort wie ‚Seife’ bestimmte Phoneme besonders lange ausgesprochen werden könnten, um das Schaumige klanglich zu evozieren, leuchtet ein. Dennoch sind Werners Beobachtungen für unseren Zusammenhang nicht uninteressant. Denn im Grunde geht es bei dieser Form onomatopoetischer Wort- Wahrnehmung um ein synästhetisches Erlebnis, das wiederum eine naive Auffassung des ‚Sehens‘ unterläuft und also den Begriff des Bildes ausdehnt: „In dieser Welt der physiognomischen Wörter […] erscheint das Optische eng verschwistert mit dem Tastsinn. Das Auge, in der sachlichen Sphäre längst optisch kühler Spiegel der Dinge, wirkt hier in einer ganz realen Bedeutung als Greiforgan, das die Wörter packt, an ihnen entlang tastet, in sie eindringt.“ 97 Werners Versuchspersonen geben vor, ein Bild des Gegenstands zu sehen, wenn sie sich Buchstaben für Buchstaben vornehmen, Phonem für Phonem in ein Wort ‚eindringen‘. Gegen zwei Missverständnisse versucht sich Werner abzusichern, nämlich einerseits, dass etwa das Wort ‚Holz‘ nicht deshalb hölzern klinge, weil die Lautmelodik eine hölzerne sei, andererseits der Sinn des Wortes von vornherein schon feststehe, so dass eine nachträgliche Interpretation den Eindruck der Hölzernheit verschulde. Seine Erklärung, weshalb diese Missverständnisse aber geschähen, hört sich wiederum reichlich mystisch an: „Ist Sprache eine ‚tiefe‘ Schöpfung der Menschheit, so äußert sich diese Tiefe auch in dem einzelnen Worte darin, daß es in differenzierter Weise, dem Beschauer entsprechend, sein Gesicht abzuwandeln vermag und diesem gestattet, mit verschiedener Intensität in sein ideelles Wesen einzudringen, seinen Sinn zu fassen.“ 98 Diesen ‚Sinn‘ zu erfassen, läuft bei Werner nicht über das Vehikel des konventionellen Zeichens. ‚Sinn‘ existiert für ihn in Bezug auf die Sprache dreifach, das Wort als Zeichen eines Begriffs ist nur eine Dimension des Sinns. Neben dieser, sagen wir ‚konventionellen‘, Auffassung des Sinns, nimmt Werner an, dass ein Wort außerdem als ‚Signal‘ anschaulicher Vorstellungen aufzufassen sei und als ‚physiognomischer Ausdruck‘. Dieses dreifache Schema lässt sich einfach aufschlüsseln: das Zeichen ist intelligibel, der Ausdruck ist sinnlich, das Signal steht dazwischen. Damit versucht Werner, den ganzen Perzeptionsapparat für die Sprache in Anspruch zu nehmen und schafft ein Verbindungsglied. Ein durch Vorstellungen ver- 97 Vgl. Heinz Werner, Grundfragen der Sprachphysiognomik, S. 34. 98 Ebd., S. 45. 3.6. Mimesis 121 sinnlichtes Zeichen habe mit der ausdrückenden Sprache die Anschaulichkeit, mit der Begriffszeichensprache das Fehlen des Abbildcharakters gemein. Begriffszeichen und Ausdruck teilten die Eigenschaft, dass sie den Sinn direkt darstellten, während die Veranschaulichung bloß indirekte Sinngebung sei, die stärker von einem Individuum abhänge als der Ausdruck, der als Teil der kollektiven Sprachwirklichkeit aufgefasst werde. 99 Durch Vorstellungsassoziationen gegebenes Auffassen sei indirektes Auffassen, nicht jedoch das Ausdruckserlebnis oder das begriffliche ‚Begreifen‘. Verschieden sind Ausdruck und Zeichen also nicht durch Unmittelbarkeit bzw. Mittelbarkeit - eine Unterscheidung, die durchaus auch in Benjamins frühem Sprachaufsatz festgestellt werden kann -, sondern durch Allgemeinheit und Besonderheit: Der Begriffsname erhebt Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, die Fassung des Namens als eines physiognomischen Ausdrucks hingegen bringt immer eine bestimmte Ansicht des begrifflichen Wesens, die verschieden ist je nach der Sprache, verschieden - innerhalb einer Sprache - je nach dem Dialekt - je nach der Persönlichkeit - je nach Einstellung und Stimmung. Um diesen Tatbestand zu illustrieren, nehmen wir als Beispiel das deutsche Wort ‚Seife‘! ‚Seife‘ als Begriff ist bestimmt durch eine Gruppe von Merkmalen, die als notwendig und hinreichend gedacht sind, um das Wesen der Seife und damit aller Arten von Seife zu umfassen. Im Begriff ‚Seife‘ wird der allgemeine Charakter gewußt oder gemeint. Die veranschaulichende Vorstellung von Seife, die beim Hören dieses Wortes auftauchen kann, hängt von dem subjektiven Bedürfnis der Veranschaulichung und der Erfahrung des Individuums ab: eine Vp. [Versuchsperson] stellt sich etwa bildhaft unter Seife ein festes Stück in einer bestimmten Situation, nämlich auf dem Waschtisch liegend vor. Das physiognomische Erlebnis ist aber anders: im Wortklang (oder auch im Druckbild) erschaut diese Vp. eine salbenartig sich ziehende, schmierhafte Qualität ohne feste Form und Konsistenz. 100 Obwohl dieses Beispiel wohl nicht nur Karl Bühler nicht unmittelbar einleuchtete, lässt sich festhalten, dass Werner davon ausgeht, dass einerseits ein allgemeiner Begriff eines Gegenstands besteht, dann eine im Subjekt aktualisierte Vorstellung und schließlich ein sinnliches Erlebnis, das noch- 99 Ebd. Vgl. auch S. 46: „Hunderte von Beispielen belegen die Differenz zwischen ausdrucksmäßigem und vorstellungsmäßigem Spracherlebnis. ‚Gold‘ ist beispielsweise für die meisten Personen vorgestellt von jener gelblichen Farbe, wie wir sie an den goldenen Gegenständen gewöhnlich vorfinden. Dagegen wird ‚Gold‘ - wie unsere Versuche beweisen - dem Ausdrucke nach häufig als feurige, mehr rote als gelbe, kugelförmig geschlossene Materie, die mindestens in der Farbe von der sachlichen Erfahrung stark abweicht, erlebt.“ 100 Ebd., S. 46 f. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 122 mals seine Qualitäten ‚bildlich‘ erlebbar macht. Beim Wort als Ausdruck spricht Werner deshalb auch vom Sinnbild: „das physiognomische Wort ist Sinnbild“. 101 Das Wort zeigt demnach als physiognomischer Ausdruck dem Rezipienten sein ‚Gesicht‘. Es handelt sich demnach nicht bloß um ein Begreifen des Worts, ebenso geht das Wort den es Wahrnehmenden an. Und zwar geht es ihn in seiner Gesamtheit an, in seiner ‚ungeteilten Ganzheit‘ oder in seinem ‚Gehalt‘. Werner behauptet nun, dass diese ‚unteilbare Ganzheit‘ sich logischerweise nicht teilen und zerlegen lässt. Damit vertritt er eine relativ traditionelle Auffassung des Bildes als eidos, als schwebendes Drittes zwischen Bildträger und Abgebildetem, das - mehr oder weniger - intensiv auf den Betrachter wirkt. Es sind nicht die Teile, die die Wirkung eines Bildes ausmachen, sondern das wie auch immer geartete ‚Ganze‘. Aber eigentlich ist hier ja nicht von ‚Bildern‘ im klassischen Sinne die Rede - wenn man darunter Plastiken oder Gemälde versteht -, sondern vom Wort. Um auch hier die obskure Macht oder Kraft des nicht in seinen Einzelteilen fassbaren Bildes auch behaupten zu können, versteigt sich Werner in paradoxale Gedanken und Formulierungen. Es sei gerade der größte Abstand von formalen Eigenschaften, die das Wesen des Ausdrucks am klarsten hervorbrächten (sprachlich interessant ist, dass Werner ‚scheinen‘ und ‚hervorleuchten‘ gebraucht): „In solchen Fällen des größten Abstandes von formalen Eigenschaften scheint nun das Wesen des Ausdrucks am klarsten hervorzuleuchten: als spezifische Dynamik und Spannung nämlich, welche das ganze Wort durchzieht.“ 102 Damit sind wir wieder bei der eingangs erwähnten ‚Dynamik‘ angelangt. Auch wenn dieses Thema in Bezug auch auf ‚unbewegte‘ Bilder - der Gegensatz soll nur einen Unterschied etwa zwischen Gemälden und Filmen markieren - nach wie vor einen gewissen Reiz auszuüben scheint 103 , so ist er wissenschaftlich nicht einfach zu erklären. Durchaus mit lebensphilosophischen Begriffen versucht Werner diese Dynamik irgendwie zu fassen. Sie sei nicht identisch mit Bewegung schlechthin, weil Bewegung ein ‚geometrischer Begriff‘ sei. Vielmehr sei die ‚physiognomische Dynamik‘ eine „anschaubare Kraft, Lebendigkeit und Spannung“; und der „physiognomische Gehalt […], der, ungreifbar im geometrischen Sinn“ sei, gebe „dennoch höchst real dem Ganzen Leben und Farbe“. 104 Leider schafft es Werner nicht wirklich, so viele Beispiele er auch anführt, seine Lehre zu plausibilisieren. Werner ahnt das wohl, wenn er schreibt, dass „die übliche wissenschaftliche Beschreibung und Analyse an der Natur unseres Gegenstandes scheitern“ müsse, denn eine solche Analyse setze voraus, dass es 101 Ebd., S. 47. 102 Ebd., S. 50. 103 Vgl. Gottfried Boehm, Die Wiedergewinnung der ikonischen Zeit, in: Walter Schweidler (Hrsg.): Weltbild - Bildwelt, Sankt Augustin 2007, S. 97-124. 104 Vgl. Heinz Werner, Grundfragen der Sprachphysiognomik, S. 51. 3.6. Mimesis 123 sinnvoll sei, „in einzelne Teile, Stücke zu zerlegen“. 105 Benjamin selbst merkt in einer Notiz, die die Herausgeber der Gesammelten Schriften um 1933 datieren, an: „Der Wernerschen ‚Sprachphysiognomik‘ fehlen Angaben über die Versuchspersonen. Aus welchem Milieu stammen sie? Gewiß eignen sich intellektuell Ungeschulte wenig für diese Versuche, weil sie eine hohe Technik der Selbstbeobachtung verlangen. Andererseits macht der Gegenstand es schwer, auf sie zu verzichten. Gerade die Reaktion einfacher Leute aus dem Volk wie auch der Kinder wäre zu ermitteln gewesen.“ (GS II, 957) Kritik an der Auswahl der Wernerschen Gewährsleute ist nicht das Einzige, was Benjamin kritisch anzumerken hat. Benjamin bemängelt v.a. noch das Fehlen einer historischen Dimension der Untersuchung: „Und doch hätte schon die Bemerkung, daß die hier einschlägigen Erscheinungen in den primitiven Sprachen besonders stark auftreten, in eine Erforschung der ursächlichen Zusammenhänge führen müssen, die sich im physiognomischen Charakter der Sprache niedergeschlagen haben.“ Als eine zweideutige Stärke wertet er die Rückschlüsse, die Werners Untersuchung für die Entstehung des Lyrischen zulassen: „Daß die Eule der Minerva erst bei Eintritt der Dämmerung ihren Flug beginnt, bestätigt sich an dem Wernerschen Buch. Es führt näher als frühere an die Quellen der lyrischen Dichtung im Sprachbereiche heran, und das eben zu einer Zeit, da die lyrische Dichtung selbst zu verstummen beginnt.“ (GS II, 957) Rudolf Leonhard hat im Gegensatz zu Heinz Werner kein Problem mit der Wissenschaftlichkeit. Er hat nämlich von vornherein gar nicht den Anspruch, sich seinem Gegenstand wissenschaftlich annähern zu wollen. Das bemerkt auch Benjamin, der an Scholem über die Studie schreibt, „ihr völliger Mangel an theoretischer Fundierung“ sei „bedenklich“ - dennoch aber empfiehlt er sie Scholem, da sie „Stoff zum Nachdenken“ gebe (GB IV, 140 f.). Leonhard richtet sich - ähnlich wie Benjamin in seinem frühen Sprachaufsatz - gegen die Auffassung der Sprache als Mittel zu einem bestimmten Zweck. Die Sprache sei nicht einfach Mitteilungsmittel, sondern „ursprünglich Ausdrucksmittel“ und es sei ein Glück, dass dieses Mittel aufgefasst und verstanden werden könne. 106 Wissenschaft oder Philologie zeigten zwar Entwicklungsgesetze der Sprache auf, aber das Ergebnis selbst und weshalb es zu diesen Entwicklungen komme, bleibe außen vor. Leonhard hält deshalb unmissverständlich fest: Die hier vorliegende Schrift will nicht Entwicklungsgesetze, sondern Seinsgesetze feststellen (die, wie alles Seiende, selbst veränderlich und entwicklungsfähig sein mögen). Sie ist ganz bewußt unhistorisch: sie tut, als ob sie 105 Ebd., S. 48. 106 Vgl. Rudolf Leonhard, Das Wort, Berlin 1932, S. 3. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 124 von Etymologie und andern sprachlichen Entwicklungsvorgängen nichts wüßte, sie tut sogar […] so, als ob es sie nicht gäbe. 107 Leonhard, der Schriftsteller, der sich nicht groß um Wissenschaft kümmert, möchte die Sprache als Organismus auffassen, als Phänomen mit eigener Existenz und eigenen Gesetzen. Diese Auffassung teilt er durchaus mit Werner. Leonhards ‚Onomatopoesie‘ behauptet ebenfalls, dass es eine „eindeutige, unauflösliche und gesetzmäßige Beziehung zwischen der formierten Lautfolge, die ‚Wort‘ heißt, und der entsprechenden, die Realität repräsentierenden Vorstellung“ bestünde. 108 Etwas radikaler in seinem Bekenntnis zur Sprachmystik steht Leonhard offen dazu, vom Axiom auszugehen, dass nichts an der Sprache zufällig sei. Er geht davon aus, dass alle Wortbeziehungen - hier nähern wir uns dem von Benjamin in der „Lehre vom Ähnlichen“ zitierten Satz - notwendig seien. Ein Schlüsselbegriff lautet in diesem Zusammenhang ‚Assoziation‘: Dieses Buch hier erkennt die Notwendigkeit aller Wortbeziehungen; die sind so stark und so sicher, daß zum Beispiel alle zivilisierten und genügend reichen Sprachen die Vokale genau unter die Farbwörter aufgeteilt haben, daß sie also alle Assoziationsmöglichkeiten aufgeteilt - und festgelegt haben. Das Buch will die Gesetzmäßigkeit dieser Assoziationen erkennen, und hofft, einige dieser Gesetze sogar festgestellt und angedeutet zu haben. 109 Leonhards Methode erscheint ziemlich esoterisch. Er entwickelt eine eigene Terminologie, um seine Auffassung, dass Klang, Bild und Sinn eine Einheit darstellen, zu plausibilisieren, etwa den Begriff ‚Klanglogik‘. Alles in allem fällt auf, dass auch er eine Affinität zum Begriff des Bildes hat: „‘Klangleib‘ und ‚Wortleib‘ heißt die einmalig geformte Komposition von Lauten, die, lesbar, sprechbar, hörbar, das Wort bildet. ‚Wortbild‘ ist die Vorstellung, die, allgemein einheitlich und nur mit individuellen Nüancen, notwendig auch beim abstrakten Wort (denn auch dem Abstraktum ist ein Wortbild zugeordnet; die Sprache ist sinnlich) im Sprecher oder Hörer entsteht.“ 110 Auch Leonhard argumentiert stark über den Leib, das Sinnliche, das Bild. Doch die Frage bleibt bestehen, ob dieses Bildliche plausibel gemacht werden kann. Wenn man etwa einen Blick auf Leonhards Betrachtung des Worts ‚endlos‘ wirft, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Bühlers Kritik an Werner auch hier durchaus angebracht wäre: 107 Ebd., S. 4. 108 Ebd., S. 5. 109 Ebd., S. 6. 110 Ebd., S. 9. 3.6. Mimesis 125 ENDLOS. Das Wortbild ist eine vage erst steigende, dann fallende (also genau dem hörbaren Rhythmus des Wortes entsprechende), erst straffe, dann lockere Bewegung. Vage nämlich in Beziehung auf die Substanz, das Bewegte; in der Richtung sogar sehr bestimmt. Wir finden die Ähnlichkeit mit einem in die Länge verzerrten Munde. Als letztes Resultat einer Anspannung der Anschauung gewinnen wir: ein Band (das der Leiter der beschriebenen Bewegung ist) - und nun zeigt sich die erstaunliche konsonantische Übereinstimmung von „end“ und „Band“. „End-lich“ dagegen fällt, nach eben so langem, aber viel vagerem Ausholen, in die schwache Endsilbe erschöpft, zufrieden ab. Wie bei Werner schleicht sich auch bei Leonhard nach der Lektüre seiner Beispiele eine gewisse Ratlosigkeit ein. Man kann bloß erahnen, weshalb - im Falle Werners - eine Versuchsperson oder Leonhard mittels der Rezeption eines Worts bestimmte Eindrücke empfangen. Kritisch lässt sich hier zusätzlich anmerken, dass diese Eindrücke wiederum in Sprache übersetzt werden. Und zwar in ‚Begriffssprache‘, die mittels klanglicher Ähnlichkeit und sinnhafter Assoziationen wohl die Ausdrucksrezeption als Rezeption eines Sinnbilds plausibel machen sollen. Wenn das nicht gelingt, könne das, nach Werner, nur am Betrachter liegen, denn durch eine „falsche leibliche Einstellung“ werde „der Ausdruck des Wortes entweder überhaupt nicht oder verkehrt entwickelt“. 111 3.6.2. Lehre vom Ähnlichen Der Einstieg, den beide Texte - die „Lehre vom Ähnlichen“ und „Über das mimetische Vermögen“ - wählen, behauptet die zentrale Bedeutung des mimetischen Vermögens beim Menschen, der die „allerhöchste Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten“ habe (GS II, 204). Zuerst äußert sich Benjamin eher zur Phylogenese. Rasch wird klar, dass auch hier eine Art Ursprungsfigur aufgerufen wird, die jedoch keine wissenschaftlich fundierte Rekonstruktion erfährt wie im später verfassten Sammelreferat. „Die Gabe, Ähnlichkeit zu sehen, die er [der Mensch] besitzt, ist nichts als ein Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten.“ (GS II, 210) Diese Aussage ist, liest man sie bildtheoretisch, durchaus spannend. Ähnlichkeiten zu sehen, bedeutete demnach - „ehemals“ - ebenso auch ein „Zwang“, ähnlich zu werden. Mimesis ist hier nicht das Erkennen von Ähnlichkeiten und anschließendes, zweckrationales Nachahmen und Abbilden eines Objekts, es ist ein umfassender Modus 111 Vgl. Heinz Werner, Grundfragen der Sprachphysiognomik, S. 57. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 126 des aktiven wie auch passiven Verhaltens 112 - wahrscheinlich auf einer Ebene, wo nicht zwischen Sensibilität und Intelligibilität getrennt werden kann, wo Sinnlichkeit und Unsinnlichkeit noch zusammenspielen und die Trennung von Subjekt und Objekt nicht klar gegeben ist. Dieser Zustand ist aber vergangen, denn nur noch als Rudiment des ehemals kompletteren Vermögens, ähnlich zu werden, ist die Fähigkeit vorhanden, Ähnlichkeit zu sehen. Trotz der hier angetönten Passivität und trotz der Sinnlichkeit des Sehens handelt es sich bei dieser nun rudimentären Fähigkeit wohl um eine, die eher unter dem Zeichen des Intellekts steht. Etwas schwierig zu fassen sind diese Aussagen Benjamins, weil er einen Wandel konstatiert und weil seine Beispiele, nimmt man ernst, dass der festgestellte Wandel tatsächlich stattgefunden hat, für einen aktuellen Leser unnachvollziehbar bleiben müssen: „Dabei ist zu bedenken, daß weder die mimetischen Kräfte, noch die mimetischen Objekte, oder Gegenstände, im Laufe der Jahrtausende die gleichen blieben. Vielmehr ist anzunehmen, daß die Gabe, Ähnlichkeiten hervorzubringen - zum Beispiel in Tänzen, deren älteste Funktion das ist - und daher auch die Gabe, solche zu erkennen, sich im Wandel der Geschichte verändert hat.“ (GS II, 211) Immerhin ist hier der Tanz genannt, der auch im Sammelreferat als Beispiel dient. Dort wird die Tänzerin - mit Mallarmé - ja mit einer Blume, einem Becher oder Schwert verglichen, um unter anderem zu zeigen, dass Sprache und Tanz in einem einzigen mimetischen Ausdrucksvermögen wurzeln und dass die Sprache unter dem Gesichtspunkt der Sprachphysiognomik äußerst weitreichend ist. Sprache und v.a. das mimetische Vermögen gehen über die Optik und das Auge hinaus, sie betreffen den Leib als Ganzes. 113 Magische Korrespondenzen und Analogien scheint der ‚moderne Mensch‘ nicht mehr so leicht wahrnehmen zu können - mit der Frage jedoch, ob es bei der wachsenden Hinfälligkeit des mimetischen Vermögens um „den Verfall dieses Vermögens oder aber um dessen Transformierung handelt“ (GS II, 2011), 112 Vgl. GS II, 211: „Jene natürlichen Korrespondenzen aber erhalten erst ihr eigentliches Gewicht mit der Erkenntnis, daß sie samt und sonders Stimulantien und Erwecker des mimetischen Vermögens sind, welches im Menschen ihnen Antwort gibt.“ 113 Vgl. auch GS VI, 127: „Die Erkenntnis, daß die erste Materie, an der sich das mimetische Vermögen versucht, der menschliche Körper ist, wäre mit größerem Nachdruck, als es bisher geschehen ist, für die Urgeschichte der Künste fruchtbar zu machen. So sollte man sich fragen, ob die früheste Mimesis der Objekte in der tänzerischen und bildnerischen Darstellung nicht weitgehend auf der Mimesis der Verrichtungen beruht, in denen der primitive Mensch zu diesen Objekten in Beziehung trat. Vielleicht zeichnet der Mensch der Steinzeit das Elentier nur darum so unvergleichlich, weil die Hand, die den Stift führte, sich noch des Bogens erinnerte, mit dem sie das Tier erlegt hat.“ Anhand dieser Sätze sieht man gut, dass die mimetische Theorie auch immer von einer Theorie des Gedächtnisses begleitet wird. Das Gedächtnis bezieht sich hier - wie auch an anderen Stellen bei Benjamin, durchaus auch mit Blick auf moderne Phänomene - auf den Leib, festgehalten werden bestimmte Innervationen. 3.6. Mimesis 127 scheint seine Rettung mitbedacht worden zu sein. Als Bindeglied zwischen den vergangenen Fähigkeiten, jene magischen Korrespondenzen wahrnehmen zu können und der Verkümmerung dieses Vermögens beim ‚modernen Menschen‘ dient einmal mehr das Kind. In beiden Texten über das mimetische Vermögen kommt Benjamin rasch auf die ontogenetische Dimension zu sprechen. Nur durch die Ontogenese (und eventuell noch durch das ‚prälogische Denken‘ der ‚Primitiven‘) - man denke dabei an Piaget und die egozentrische Logik, die bekanntlich häufig ‚subjektive‘ Analogien bemüht und ‚bildlich‘ verfährt - lässt sich die These vom Wandel auf der phylogentischen Ebene behaupten. Die Sätze zum Kinderspiel, die dazu gleich zu Beginn beider Texte formuliert werden, darf man durchaus mit Blick auf die ‚Mummerehlen’ aus dem ‚Berliner Kindheit’-Kontext lesen: „Das Kinderspiel ist überall durchzogen von mimetischen Verhaltungsweisen; und ihr Bereich ist keineswegs auf das beschränkt, was wohl ein Mensch dem anderen nachmacht. Das Kind spielt nicht nur Kaufmann oder Lehrer sondern auch Windmühle und Eisenbahn.“ (GS II, 210) 114 Das Kind wird so also mit dem verglichen, was Benjamin bezüglich der phylogenetischen Ebene ‚die Alten’ nennt. Die geschwundenen Kräfte werden jedoch nicht bloß auf der phylogenetischen Ebene beschworen, auch auf der ontogenetischen Ebene wird hinsichtlich der kollektiven wie individuellen Entwicklungsgeschichte ein Kräftezerfall konstatiert. Der „Lebenskreis, der ehemals von dem Gesetz der Ähnlichkeit durchwaltet schien“, ist nicht nur im Verhältnis zu den ‚Alten‘ extrem geschrumpft, auch im Verhältnis zum Kind und Kindsein (GS II, 205 oder 210). In den Genuss ‚magischer Korrespondenzen’ zwischen Dingen und Menschen dürfte der ‚moderne Mensch’ als ‚moderner Mensch‘ und auch als Erwachsener nicht mehr oft kommen. Benjamin hält einen doppelten Absterben des Vermögens fest: eines in ontogenetischer und eines in phylogenetischer Hinsicht. Nun stellt sich freilich die Frage, ob dieses Absterben in ontogenetischer Hinsicht auch schon in der ‚Vorzeit‘ stattgefunden haben mag. Diese esoterisch anmutende Frage stellt Benjamin nicht direkt, aber er liefert eine Antwort auf sie: „Wenn aber wirklich das mimetische Genie eine lebensbestimmende Kraft der Alten gewesen ist, dann ist es kaum anders möglich, als den Vollbesitz dieser Gabe, insbesondere die vollendete Anbildung an die kosmische Seinsgestalt, dem Neugeborenen beizulegen.“ (GS II, 206) Der Vollbesitz der Gabe wird nur dem Neugeborenen beigelegt. Der „Augenblick der Geburt“ - ein „Nu“ -, die Korrespondenz zwischen dem Menschen und einer Gestirnkonstellation, wird 114 Auch beim bereits erwähnten Heinz Werner finden sich analoge Beispiele. Vgl. Heinz Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie, Leipzig 1926, S. 325: „In den Spielen können Kinder ohne weiteres einen Pfosten, eine Straßenlaterne, einen Spiegel, einen Baum darstellen.“ 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 128 deshalb angeführt, um die Aussage zu untermauern, dass Vorgänge am Himmel früher nachahmbar gewesen seien und dass das Wissen der Astrologie von dieser Seite her einmal einer gewissen Erfahrung entsprungen sei. Diese Erfahrung charakterisiert Benjamin in einer Notiz, die die Herausgeber der Gesammelten Schriften auf 1933 datieren: Die Astrologie ist eine späte Theorie, die zudem windschief zu jener frühen Praxis steht, deren Daten sie willkürlich und häufig irrig auslegt. Es geht nicht um Gestirneinflüsse oder Kräfte sondern um das archaische Vermögen des Menschen, dem Gestirnstand einer Stunde sich anzuähnlichen. Es ist die Stunde der Geburt; in ihr mag sich einmal der erste, unvergleichlich weittragende Akt einer Anpassung zugetragen haben: die Anpassung an den gesamten Kosmos durch die Angleichung an ihn. Das mimetische Vermögen des Menschen hat sich immer auf die Sprache zurückgezogen und sich immer subtiler ausgebildet. (GS II, 956) Das Beispiel erstaunt nicht, ist doch eine Gestirnkonstellation vergleichbar mit den Konstellationen, die die Sprachphysiognomie (Heinz Werner oder Rudolf Leonhard) zwischen Worten und Worten, Worten und Dingen behaupten; denn auch dort spielt die Gestalt oder das Ganze als sinnlich (und geistig) wahrnehmbarer Zusammenhang die entscheidende Rolle. Dort haben wir gesehen, dass dieser Gehalt - das Ganze oder das Wesen - des Worts mit dem Bild und einer psychophysischen Dimension der Wahrnehmung verbunden wurde. Wie das Wort in der Theorie der Sprachphysiognomie zeigt auch eine Sternenkonstellation dem Betrachter ihr Gesicht. Häufig geht die wahrnehmbare Dimension des Gesichts über die Optik hinaus, so dass die Korrespondenz zwischen Konstellation und Neugeborenen wohl als synästhetisches Phänomen der Präsenz gedacht wird, das einen einzelnen Sinn transzendiert. Erinnert wird man an dieser Stelle auch wieder einmal an Ludwig Klages und den kosmogonischen Eros. Für Klages ist der Kosmos lebendig und polarisiert nach Seele und Leib - „Die Seele ist der Sinn des Leibes, das Bild des Leibes die Erscheinung der Seele. Was immer erscheint, das hat einen Sinn; und jeder Sinn offenbart sich, indem er erscheint. Der Sinn wird erlebt innerlich, die Erscheinung äußerlich. Jener muß Bild werden, wenn er sich mitteilen soll, und das Bild muß wieder innerlich werden, damit es wirke.“ 115 Diese Wechselwirkung von Ausdruck bzw. Erscheinung und Erlebnis ist ein Muster für das Verhalten zur Welt. In der Ekstase, die Klages als eine „Seelenentgeistung“ oder „Seelenentselbstung“ auffasst, werde der ‚Geist‘ - Klages‘ Feindbild, eine Macht, die seine beiden Pole zu entzweien strebt - durch die „Lebensgewalt der Welt [entkräftet]“. 116 Durch die Ekstase korrespondiert der 115 Vgl. Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, S. 43. 116 Ebd., S. 46. 3.6. Mimesis 129 Mensch wiederum mit dem ‚Rhythmus‘ des kosmischen Lebens. Nur verhält es sich beim Neugeborenen freilich anders. Es muss sich nicht erst vom ‚Geist‘ befreien, von ihm ist im Zustand der Geburt wahrscheinlich noch nicht viel zu spüren. Deshalb wird eine Verbindung mit dem Kosmos dort sowieso noch stärker behauptet werden können. Nach Klages findet eine Art Abstraktionsprozess statt (der Geist und der Begriff unterwerfen sich die Pole). Auch hinsichtlich des mimetischen Vermögens bei Benjamin kann man von Abstraktion sprechen. Eine Art von Abstraktion halten auch andere Denker fest, an die Benjamin im Umkreis der Überlegungen zum mimetischen Vermögen gedacht haben könnte, etwa Karl Marx, Georg Simmel oder Wilhelm Worringer, den er explizit erwähnt (vgl. GS II, 957). Auch die Kunsttheorie Worringers ist durchsetzt mit anthropologischen Erklärungsmustern. Sein Begriff der ‚Abstraktion‘ ist ebenfalls in eine phylogenetische Entwicklungsgeschichte eingebettet. Abstraktion firmiert als Trieb oder Drang, der den primitiven Menschen befallen habe, weil er durch die Welt der zusammenhangslosen Erscheinungen beunruhigt wurde. Im Gegensatz zu Klages ist bei Worringer die Abstraktion Folge eines feindlichen Verhältnisses von Mensch und Natur - die Hinwendung zur abstrakten, lebensverneinenden Form schafft Ordnung, ‚abstrakte‘ Kunst entreißt bei Worringer das Zufällige dem Naturzusammenhang und nähert es einem „absoluten Werte“ an. 117 Bei Klages stößt man auf den Verfall, bei Worringer ist die Abstraktion ein anthropologisch motiviertes Verhaltensmuster des Menschen zu seiner Umwelt. Bei Benjamin ist die Abstraktion im Bereich der Sprache anzusiedeln - bereits in seiner frühen Sprachursprungsschrift findet sich diese Tendenz: vom Göttlichen zum Menschlichen hin, vom Zustand vor dem Sündenfall zum 117 Vgl. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, München 1921, 1. Auflage, S. 22. Vgl. auch S. 19 f., um die phylogenetische Dimension des Abstraktionsdrangs nochmals zu vergegenwärtigen: „Welches sind nun die psychischen Voraussetzungen des Abstraktionsdranges? Wir haben sie im Weltgefühl jener Völker, in ihrem psychischen Verhalten dem Kosmos gegenüber zu suchen. Während der Einfühlungsdrang ein glückliches pantheistisches Vertraulichkeitsverhältnis zwischen dem Menschen und den Aussenwelterscheinungen zur Bedingung hat, ist der Abstraktionsdrang die Folge einer grossen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Aussenwelt und korrespondiert in religiöser Beziehung mit einer stark transzendentalen Färbung aller Vorstellungen. Diesen Zustand möchten wir eine ungeheure geistige Raumscheu nennen.“ Vgl. auch S. 21, der die Bewegung des Abstraktionsdrangs hin zur abstrakten Formschöpfung nochmals beschreibt: „Von dem verworrenen Zusammenhang und dem Wechselspiel der Aussenwelterscheinungen gequält, beherrschte solche Völker ein ungeheures Ruhebedürfnis. Die Beglückungsmöglichkeit, die sie in der Kunst suchten, bestand nicht darin, sich in die Dinge der Aussenwelt zu versenken, sich in ihnen zu geniessen, sondern darin, das einzelne Ding der Aussenwelt aus seiner Willkürlichkeit und scheinbaren Zufälligkeit herauszunehmen, es durch Annäherung an abstrakte Formen zu verewigen und auf diese Weise einen Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht zu finden.“ 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 130 Zustand nach dem Sündenfall. In dem hier behandelten Kontext findet diese Verschiebung vom Konkreten zum Abstrakten in phylowie auch ontogenetischer Hinsicht statt. 118 Obwohl es Benjamin im Gegensatz zu Worringer nicht um eine Kunsttheorie geht, schreibt er, dass das Ornament eine „Vorlage für das mimetische Vermögen“ sei - „diese Abstraktion ist die hohe Schule der Einfühlung.“ (GS II, 958) Aber Benjamin geht auch hier viel weiter. Er bringt nämlich Ornamente mit den Sternkonstellationen in Verbindung, die ihnen ein Vorbild abgegeben haben könnten und spekuliert über den Zusammenhang der Astrologie mit Erfahrungen der Aura (ein Begriff, den man wiederum ebenfalls bei Klages findet). „Gibt es irdische Lebewesen sowohl wie Sachen, die aus den Sternen zurückblicken? die eigentlich erst am Himmel ihren Blick aufschlagen? Sind die Gestirne mit ihrem Blick aus der Ferne das Urphänomen der Aura? “ (GS II, 958) Die Aura als „sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (GS II, 378), wird gemeinhin eher mit der frühen Photographie in Verbindung gebracht, weil die spätere, technisch fortgeschrittenere angeblich zu ihrer Zertrümmerung beiträgt. Das Beispiel, das Benjamin jedoch für das ‚Atmen‘ der Aura anbringt, nämlich mit den Augen einem „Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig“ zu folgen, „bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat“ (GS II, 378), weist vielmehr auf das archaische Lesen, auf die ‚Urform‘ des Lesens aus „Wipfeln, Wolken, Eingeweiden“ (GS VII, 796). Wenn nun aber die Aura plötzlich rund um Sternenkonstellationen eine Rolle spielt, dann kann man sie vielleicht auch mit anderen Konstellationen in Verbindung bringen, mit anderen Dingen, die - je nach Betrachter - auf diesen zurückblicken. Und diesem Zeigen des Gesichts, diesem ‚Den-Blick-Aufschlagen‘ begegnet man prominent in den Texten über die Kindheit. Nochmals zurück zum Zeitpunkt der Geburt und der Gestirnkonstellation: Das Kind nimmt an diesem Punkt einmal mehr eine Schwellenposition ein, erstens zwischen dem Neugeborenen und dem Erwachsenen, zweitens zwischen den ‚Alten‘ und dem ‚modernen Menschen‘. Im Vollbesitz des mimetischen Vermögens dürfte das Kind wohl kaum sein. Etwas defensiver - so dass eher die Annahme berechtigt ist, bei dem erwähnten Neugeborenen handelt es sich um eines der ‚Alten‘ - formuliert Benjamins 118 Diese beiden Dimensionen sind auch bei Worringer präsent. Aufgrund einer elitären Kunstauffassung wehrt er sich aber dagegen, „‘Kunstleistungen‘ afrikanischer Naturvölker“ und „Kritzeleien eines Kindes“ mit der „eigentliche[n] Kunst“ zu vergleichen. Vgl. ebd., S. 70. Auf S. 71 schreibt Worringer über die ‚Kritzeleien‘ eines Kindes: „Die Kritzeleien eines Kindes, mögen sie auf noch so scharfer Beobachtung beruhen und noch so geschickt sein, als künstlerische Erzeugnisse anzusehen, widerspricht einer höheren Auffassung, die nur das als Kunst anerkennt, was aus psychischen Bedürfnissen entstanden, psychische Bedürfnisse befriedigt.“ Es ist an dieser Stelle eigentlich müßig, auf die Fragwürdigkeit dieser ‚höheren Auffassung‘ hinzuweisen. 3.6. Mimesis 131 im Text über das mimetische Vermögen. Dort heißt es Benjamin nämlich, „daß im Vollbesitz jener Gabe […] das Neugeborene gedacht wurde“ (GS II, 210). Dass der „Augenblick der Geburt, der hier entscheiden soll, […] ein Nu“ sei (GS II, 206), lässt wiederum annehmen, mit dem Anbrechen der Kindheit sei dieser Moment bereits wieder vergangen. Der Vollbesitz des ‚mimetischen Genies’ ist an ein sofortiges Verschwinden gebunden, aber dennoch wirkt die Gabe der Mimesis im Kind stark fort. Diese Auffassung wird in der Vorstudie zu den ‚Mummerehlen‘, im Text „Zur ‚Lampe‘“ vertreten, der starke Ähnlichkeit auch mit den beiden sprachtheoretischen Texten aufweist: Gewiß ist, daß die Kindheit so uns an die Dinge kettet; ja vielleicht durchwandert sie die Dingwelt auf Stationen einer Reise, von deren Ausmaß wir uns nichts ahnen lassen. Könnte es nicht sein, daß sie bei dem Entlegensten den Anfang macht? Zuerst, im Augenblicke der Geburt, dem Fernsten sich in der tiefen unbewußten Schicht des eignen Daseins ähnlichen macht, um später den Dingen seiner Umwelt Schicht für Schicht sich anzubilden, so daß, was Erziehung und Menscheneinfluß tut, nur eine Kraft im Felde vieler Wirkungskräfte ist, auf die das Kind mit jener Gabe der Mimesis erwidert, die der Menschheit in ihren frühen Zeiten eigen war und heute nur noch im Kinde ungebrochen wirkt (GS VII, 792). Diese Argumentation des Verschwindens wird also an einigen Stellen erprobt, dabei geht es freilich nicht wirklich um ein chronologisches Erfassen dieses Befunds, wenn auch Zeit immer wieder eine Rolle spielt. Denn Verschwinden kann sich einerseits auf ein Schwinden des Vermögens beziehen, andererseits aber auch auf die Wahrnehmung von Ähnlichkeit. Diese sei ja an ein „Aufblitzen gebunden“, sie husche vorbei und könne nicht „wie andere Wahrnehmungen festgehalten werden.“ (GS II, 206). In den beiden Texten geht es deshalb darum, eine Verwandlung des Vermögens festzustellen, denn nur so lässt sich plausibilisieren, dass man nach wie vor von etwas sprechen kann, das in der für die Vergangenheit konstatierten Form nicht mehr wahrzunehmen ist. Waren die Alten noch befähigt, Ähnlichkeit zwischen Sternenkonstellationen und Menschen wahrzunehmen, schaffe das die Wahrnehmung des modernen Menschen nicht mehr. Benjamin spricht deshalb vom Phänomen einer ‚unsinnlichen Ähnlichkeit’, die nun vorherrsche. ‚Unsinnliche Ähnlichkeit‘ ist ein paradoxes Konstrukt, denn zunächst will einem zu dieser Begriffskombination wohl nicht viel einfallen. Geklärt werden könne deren Bedeutung für den modernen Menschen aber in einem bestimmten ‚Kanon‘ 119 , nämlich im ‚Kanon’ der Sprache: 119 Wenn es eine gewisse Konsistenz dieses Begriffs in Benjamins Texten gäbe, könnte man ihn als eine Art Medium verstehen, aus dem der Ausdruck hervorginge (vgl. 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 132 Schon von jeher hat man einem mimetischen Vermögen einigen Einfluss auf die Sprache zugebilligt. Jedoch geschah das ohne Grundsatz und ohne dass dabei ernstlich an eine Bedeutung, geschweige denn Geschichte des mimetischen Vermögens wäre gedacht worden. Vor allem aber blieben solche Überlegungen aufs engste an den geläufigen (sinnlichen) Bereich der Ähnlichkeit gebunden. Immerhin hat man nachahmendem Verhalten in der Sprachentstehung als onomatopoetischem Element seinen Platz zugestanden. Wenn nun aber die Sprache, wie es für Einsichtige auf der Hand liegt, nicht ein verabredetes System von Zeichen ist, so wird man ja in dem Versuch ihr sich zu nähern immer wieder auf Gedanken zurückgreifen müssen, wie sie in ihrer rohesten, primitivsten Form in der onomatopoetischen Erklärungsart vorliegen. (GS II, 207) Benjamin weist partiell zurück, was naheliegend ist: dass man die unsinnliche Ähnlichkeit in der Sprache mit dem Onomatopoetischen in Verbindung bringt, partiell zumindest, da nicht vergessen werden darf, dass das Onomatopoetische von Benjamin relativ weit gefasst wird, ebenso der Begriff ‚Sprache‘. Onomatopoesie - in einer engen Bedeutung - ist freilich stark mit sinnlicher Ähnlichkeit verbunden, denn es geht in diesem Fall hauptsächlich um die Nachahmung bestimmter Laute, also um Ähnlichkeit auf der Ebene des Klangbilds. Benjamin erweitert mit einem Rückgriff auf einen Satz von Rudolf Leonhard, den er bereits am Schluss seines Sammelreferats erwähnt, und der behauptet, dass jedes Wort und die ganze Sprache onomatopoetisch sei, den Begriff des Onomatopoetischen und die Art von Ähnlichkeit, die sich mit ihm verbinden lässt, mittels eines Beispiels aus. Mit dieser Ausweitung des Begriffs des Onomatopoetischen wird aber auch gleichzeitig der Begriff der ‚Sprache‘ ausgeweitet, die, nimmt man jene onomatopoetische Ausdrucksdimension bei Leonhard und auch Werner als gesetzt an, nicht mehr bloß auf ihre Zeichenhaftigkeit reduziert werden kann: Ordnet man nämlich Wörter der verschiedenen Sprachen, die ein Gleiches bedeuten, um jenes Bedeutete als ihren Mittelpunkt, so wäre zu erforschen, wie sie alle - die miteinander oft nicht die geringste Ähnlichkeit besitzen mögen - ähnlich jenem Bedeuteten in ihrer Mitte sind. Jedoch ist diese Art von Ähnlichkeit nicht nur an den Verhältnissen der Wörter für Gleiches in den verschiedenen Sprachen zu erläutern. Wie sich denn überhaupt die Überlegung nicht aufs gesprochene Wort beschränken kann. Sie hat es vielmehr genau so sehr mit dem geschriebenen zu tun. (GS II, 212) z.B. GS VII, 20 f.). Der Begriff kommt im nächsten Kapitel dieser Arbeit vermehrt zur Sprache. 3.6. Mimesis 133 Benjamins Beispiel, das übrigens auch auf seinen Übersetzer-Aufsatz anspielt 120 , verweist auf die Wichtigkeit, die Überlegungen zur Konstellation oder zur Korrespondenz in Benjamins Sprachauffassung spielen. Wenn er vom Geschriebenen spricht, spricht Benjamin durchaus nicht von einer Hieroglyphenschrift, auch wenn er in der ‚Lehre vom Ähnlichen’ auf Runen eingeht, die er als Übergangsschrift auffasst. Er meint explizit die semiotische Buchstabenschrift. Auch das Beispiel der Graphologie, die in „Handschriften Bilder, oder eigentlich Vexierbilder“ erkennt, die „das Unbewußte des Schreibers darinnen versteckt“, kann nicht verhehlen, dass Benjamin sich im Klaren darüber ist, dass es hinter die semiotische Dimension der Sprache kein Zurück gibt. Vielmehr schreibt er, dass „[alles] Mimetische der Sprache“ - „der Flamme ähnlich“ - nur an einer „Art Träger in Erscheinung treten“ könne, der letztlich das Semiotische sei (GS II, 213). „Der Sinnzusammenhang der Wörter oder Sätze“ und nicht etwa visuellbildliche Ähnlichkeitsbezüge bilden den Träger, „an dem erst, blitzartig, die Ähnlichkeit in Erscheinung tritt“ (GS II, 213). Einmal mehr bemüht Benjamin die Blitzmetapher. Sie lässt an die Photographie denken, an den Prozess und an ein Bild, das einen je schon vergangenen Moment mit dem Auge und Gedächtnis eines Photographen, mit dem ‚Auge‘ und dem ‚Gedächtnis‘ eines Apparates verknüpft, einen vergangenen Moment mit dem ‚gegenwärtigen‘ Erfahrungshorizont eines Betrachters verschränkt, der immer zugleich auch der ‚künftige‘ Rezipient des bildlich-materialisierten Ausdrucks jenes Nicht-mehr-Habhaften ist. Auch die Rede vom Mimetischen als Flamme, die am Semiotischen blitzhaft aufflammt - die Assoziation eines „von der Streichholzflamme“ betroffenen „Häufchen Magnesiumpulver[s]“ liegt nicht fern (GS VI, 516) -, erinnert mit seiner Reminiszenz ans Licht an ein optisch, sinnlich-bildlich wahrnehmbares Phänomen. Auch die hier angedeutete Parallele zwischen einer photographischen Konstellation und der Konstellation, von der Benjamin spricht, schlägt erneut eine Brücke zu Bildern im klassischen Sinn. Der Vergleich mit der Photographie hinkt aber. Wenn Benjamin etwa schreibt, dass „[w]as der Gestirnstand vor Jahrtausenden im Augenblicke des Geborenwerdens in einem Menschendasein wirkte, […] sich auf Grund der Ähnlichkeit hinein[wob]“ (GS II, 210), werden eindeutige Textmetaphern in diesen Zusammenhang eingespeist. Die Formulierungen in den 120 Vgl. „Die Aufgabe des Übersetzers“, GS IV, 14: „In ‚Brot’ und ‚pain’ ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In der Art des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben; am Gemeinten aber, daß sie, absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten. Während dergestalt die Art des Meinens in diesen beiden Wörtern einander widerstrebt, ergänzt sie sich in den beiden Sprachen, denen sie entstammen. Und zwar ergänzt sich in ihnen die Art des Meinens zum Gemeinten.“ 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 134 beiden Texten haben eine Nähe zum ‚dialektischen Bild‘, bei dem es sich bekanntlich um ein sprachliches Phänomen handelt, ein Phänomen, das eng mit dem ‚Lesen‘ verknüpft ist („Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d.h. nicht archaische Bilder. Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.“ GS V, 578). Paradoxerweise haben wir es demnach mit Sprachbildern zu tun, die zwar nicht ‚sinnlicher Ähnlichkeit‘ Vorschub leisten, aber auch nicht einer Semiotik zugeschlagen werden können, die gemeinhin als eher ‚unsinnlich‘ gilt. Mit einem Hinweis auf ‚mystische Sprachlehren‘ hält Benjamin denn auch fest, dass es demnach schon seit jeher Untersuchungen des „Schriftbildes von Wörtern oder Lettern zu dem Bedeuteten bezw. dem Namengebenden“ gegeben habe, die das „Wesen der unsinnlichen Ähnlichkeit“ erklärten - „So hat der Buchstabe Beth den Namen von einem Haus.“ Das soll ein Beispiel dafür sein, dass die unsinnliche Ähnlichkeit das Gesprochene bzw. Geschriebene und das Gemeinte - und auch das Gesprochene und Geschriebene - in ein Verhältnis zueinander setzt: „Und jedesmal auf eine völlig neue, originäre, unableitbare Weise.“ (GS II, 208) Die „wichtigste von diesen Verspannungen“ ist für Benjamin jene zwischen dem Geschriebenen und Gesprochenen - denn die „hier waltende Ähnlichkeit“ sei die „vergleichsweise unsinnlichste“. Der „Sinnzusammenhang, der in den Lauten des Satzes steckt“, also der vornehmlich durch die Semiotik gelieferte Sinn, nicht die Sinnlichkeit, sei der „Fundus, aus dem erst blitzartig Ähnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein kommen“ könne (GS II, 209). Auch das Wort ‚Lesen‘ - sowie das Wort ‚Sprache‘ oder ‚Onomatopoesie‘ - erhält bei Benjamin eine mehrfache Bedeutung: durch die unsinnliche Ähnlichkeit kann man für das Lesen eine ‚profane‘ und ‚magische‘ Bedeutung konstatieren. Um die doppelte Bedeutung zu exemplifizieren, wird erneut die Astrologie als Beispiel herangezogen: „der Astrolog liest den Gestirnstand von den Sternen am Himmel ab“ - das ist die profane Dimension -, „er liest zugleich aus ihm die Zukunft oder das Geschick heraus“: das ist die eher magisch zu nennende Seite (GS II, 209). Auch wenn Benjamin also Onomatopoesie oder Schriftbildlichkeit als Beispiele heranzieht, so erliegt er doch nicht der banalen Auffassung, man könne über die darin erkennbare sinnliche Ähnlichkeit gesicherte Rückschlüsse auf den Ursprung der Sprache ziehen. Benjamin spricht explizit vom Verhältnis des Geschriebenen zum Gesprochenen vom ‚wichtigsten‘. Sein Verhältnis zu Bildern, die in der Sprache wahrnehmbar oder vielmehr ‚lesbar’ werden, ist demnach deutlich eines, das sich auf die semiotische Dimension abstützt. Doch die semiotische Dimension allein liefert keine inneren Bilder oder eine irgendwie geartete Ähnlichkeit, die semiotische 3.6. Mimesis 135 Dimension ist an ihrer Grenze immer mit dem verbunden, was Benjamin über seine Rekonstruktion der Sprachursprünge herausarbeitet. Damit sind etwa die Magie des Namens gemeint oder die Geste und sonstige deiktischen Qualitäten - im Grunde also mimetische Funktionen der Sprache. Das ist wichtig, denn Benjamin hält deutlich fest, dass das „Symbol definierbar als Zeichen“ sei, „an dem keinerlei Ähnlichkeit erscheinen“ könne (GS VII, 796). Sprache ist immer mehr als ihre symbolische Dimension. Sie ist für Benjamin schließlich „die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit“ (GS II, 213), was nicht heißt, dass potentielle Korrespondenzen, die analog zum Sternenhimmel so etwas wie ein Bild ergeben, überhaupt nicht sinnlich wahrnehmbar sind. Aber es ist, wie vorhin bereits angedeutet, die Dimension des Sinns und nicht die der Sinnlichkeit, die als Träger fungiert, und dem Lesenden zuerst entgegentritt. Benjamin spricht deutlich davon, dass die „mimetische Begabung“, in „jahrtausendlangem Gange der Entwicklung ganz allmählich in Sprache und Schrift hineingewandert“ sein könnte, so dass sie sich in „ihnen das vollkommenste Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten geschaffen“ hätte. 121 Nicht mehr direkt ließen sich somit die Dinge verbinden, nur mehr in ihren „flüchtigsten und feinsten Substanzen, ja Aromen“ begegneten sie sich nun (GS II, 209). Mit den Dingen, anhand deren man konstellativ etwas ablesen konnte, veränderte sich mit dem ‚Lesen‘ natürlich auch die Wahrnehmung selbst. Die ‚Lektüre‘ von Bildern - klassisch verstanden -, also von Bildern mit einem nicht-arbiträren Bildträger, geht für gewöhnlich wohl in einem höheren Tempo vonstatten wie die Lektüre eines Textes, der sich aus alphabetischen Schriftzeichen zusammensetzt. Benjamin geht schließlich auch auf diesen Punkt ein: Das Tempo aber, jene Schnelligkeit im Lesen oder Schreiben, welche von diesem Vorgang sich kaum trennen läßt, wäre dann gleichsam das Bemühen, die Gabe, den Geist an jenem Zeitmaß teilnehmen zu lassen, in welchen Ähnlichkeiten, flüchtig und um sogleich wieder zu versinken, aus dem Fluß der Dinge hervorblitzen. So teilt noch das profane Lesen - will es nicht schlechterdings um das Verstehen kommen - mit jedem magischen dies: daß es einem notwendigen Tempo oder vielmehr einem kritischen Augenblicke untersteht, welchen der Lesende um keinen Preis vergessen darf, will er nicht leer ausgehen. (GS II, 209 f.) 121 Vgl auch die Notiz in GS VII, 796: „Das Herauslesen - auf Grund von Ähnlichkeit - als die Urform des Lesens. Die Runen als Übergangsform zwischen Wipfeln, Wolken, Eingeweiden auf der einen und Buchstaben auf der andern Seite. Die magische Funktion des Alphabets: der unsinnlichen Ähnlichkeit den dauerhaften semiotischen Fond zu liefern, auf dem sie erscheinen kann.“ 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 136 In gewisser Weise hat diese Konzeption des Lesens wieder jene anamnestischen Qualitäten, die Benjamin bereits in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ seines ‚Trauerspielbuchs‘ für das adamitische Benennen festhielt und auf seine Ideenlehre übertrug („Das adamitische Namengeben ist so weit entfernt Spiel und Willkür zu sein, daß vielmehr gerade in ihm der paradiesische Stand sich als solcher bestätigt, der mit der mitteilenden Bedeutung der Worte noch nicht zu ringen hatte. In dieser Erneuerung stellt das ursprüngliche Vernehmen der Worte sich wieder her.“ GS I, 217). So ähnlich wie die dort vorgestellten Ideen - als Monaden (vgl. GS I, 228) oder Sonnen („Jede Idee ist eine Sonne und verhält sich zu ihresgleichen wie eben Sonnen zueinander sich verhalten.“ GS I, 218) - scheint auch das, was als Ähnliches erscheinen kann, sich zueinander zu verhalten. Denn was nun nur noch flüchtig erscheint, sei früher „frei von der Verflüchtigungstendenz“ gewesen (GS VII, 795). Das Aufblitzen einer Ähnlichkeit ist demnach ans Vergessen oder Erinnern gebunden - derjenige, der diese aufblitzende Ähnlichkeit erkennt, wurde auf der Suche nach der verlorenen Ähnlichkeit fündig. 122 Es lässt sich gut erkennen, dass die Lehre vom Ähnlichen, die ja auf Korrespondenzen und Konstellationen baut, selbst in ein Netz von Korrespondenzen eingesponnen ist. Die Lehre vom Ähnlichen blitzt in zahlreichen Texten Benjamins immer wieder auf. Es ist freilich nicht so, dass mimetisch vollzogen wird, was die Lehre vom Ähnlichen konstatiert, aber eine Lektürebewegung durch Benjaminsche Texte fördert zumindest den Eindruck, dass trotz der thematischen Verschiedenheit der Texte, ähnliche Motive wiederkehren. Das alleine trifft jedoch noch nicht jenes ‚Lesen‘, das Benjamin in seinen beiden Texten über das mimetische Vermögen zu charakterisieren und einzufangen versucht. Die Frage ist, ob dieses Lesen - analog auch zur Argumentation Heinz Werners‘ bezüglich der physiognomischen Ausdrucksdimension der Sprache - analytisch begriffen werden kann oder ob es - ähnlich wie bei Leonhard - auf einer poetischen Ebene inszeniert zu werden hat. 122 Dass Proust im Rahmen der Lehre vom Ähnlichen eine nicht unerhebliche Rolle spielt, zeigt plausibel die Studie von Doris M. Fittler auf. Sie widmet ein ganzes Kapitel Proust und seinem Verhältnis zur Kindheit. Außerdem zeigt sie auf, dass der Begriff der Ähnlichkeit „auch die Zentralkategorie der unwillkürlichen Erinnerung“ umfasse. Die ‚mémoire involontaire‘ bringe „Ähnlichkeiten in unserem Leben zum Vorschein“. Vgl. Doris M. Fittler, „Ein Kosmos der Ähnlichkeit“. Frühe und späte Mimesis bei Walter Benjamin, Bielefeld 2005, S. 297 f. Man ziehe dazu einige Passagen aus „Zum Bilde Prousts“ heran, etwa folgende: „Das Widerspiel von Altern und Erinnern verfolgen, heißt in das Herz der proustschen Welt, ins Universum der Verschränkung dringen. Es ist die Welt im Stand der Ähnlichkeit und in ihr herrschen die ‚Korrespondenzen‘, die zuerst die Romantik und die am innigsten Baudelaire erfaßte, die aber Proust (als Einziger) vermochte, in unserem Leben zum Vorschein zu bringen.“ (GS II, 320) 3.6. Mimesis 137 3.6.3. Mimetisches Schreiben? In seinem mittlerweile breit rezipierten Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, der sich vor allem mit der Photographie und dem Film auseinandersetzt, schreibt Benjamin in einer Fußnote auch über das mimetische Vermögen: Der Nachahmende macht, was er macht, nur scheinbar. Und zwar kennt das älteste Nachmachen nur eine einzige Materie, in der es bildet: das ist der Leib des Nachmachenden selber. Tanz und Sprache, Körper - und Lippengestus sind die frühsten Manifestationen dieser Mimesis. - Der Nachahmende macht seine Sache scheinbar. Man kann auch sagen: er spielt die Sache. Und damit stößt man auf die Polarität, die in der Mimesis waltet. In der Mimesis schlummern, eng ineinandergefaltet wie Keimblätter, beide Seiten der Kunst: Schein und Spiel. (GS VII, 368) In dieser Fußnote werden Schein und Spiel zusammengebracht und als eine grundlegende Polarität der Mimesis präsentiert, die für die Kunst selbst entscheidend sind. Beide Momente, Schein und Spiel, markieren eine Differenz und trennen die von der Kunst geschaffenen Abbilder von den nicht-scheinhaften, nicht-gespielten Originalen oder Naturdingen, die nachgeahmt oder reproduziert werden. Durch die Einführung des Leibs als eines Mediums der Nachahmung wird der Nachahmende selbst zu einem Teil der Nachahmung - ebenso verhält es sich mit der Sprache im weitesten Sinn. Es ist also nicht abwegig, diese Befunde erneut mit dem Kind und dem Kinderspiel in Verbindung zu bringen, das ja nach Benjamin vom mimetischen Verhalten durchdrungen ist. Dass dieses Spiel nicht dem Ernst entgegengehalten wird, sondern selbst durchaus ernsthaften Charakter hat, legt das Moment des Zwangs nahe, das damit verbunden wird. Im Text „Die Mummerehlen“ ist von diesem „alten Zwang[], ähnlich zu werden und sich zu verhalten“ nochmals explizit die Rede (GS IV, 261). Wie oben bereits festgehalten, handelt es sich bei diesem Text um ein Stück der geplanten, aber nie zu einem Abschluss gebrachten „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, das laut einer brieflichen Mitteilung an Scholem einmal hätte am Anfang stehen sollen (vgl. GB IV, 163). Die Stücke der ‚Berliner Kindheit‘ sind nicht die einzigen Texte, bei denen es um Lebenserinnerungen geht. Auch die „Berliner Chronik“ - ebenfalls ein nicht fertig gestellter Text (vgl. dazu GS VI, 797) - befasst sich mit diesem Thema. Die Stücke der ‚Berliner Kindheit‘ erscheinen, wie Gershom Scholem schreibt, als „dichterisch und literarisch verwandelte“ (ebd.) Erinnerungen, während die „Berliner Chronik“ noch stärker als autobiographische Aufzeichnungen erkennbar sind. Im Gegensatz zur „Berliner Chronik“ handelt es sich bei der ‚Berliner Kindheit‘ auch nicht um einen durchgehenden Text, sie begegnet uns in in sich geschlossen erscheinenden Blöcken von 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 138 meist wenigen Seiten. Das ist zu berücksichtigen, wenn man ‚bildliche‘ Korrespondenzen auf der Verfahrensebene der Benjaminschen Texte selbst wahrnehmen zu können glaubt. Anders verhält es sich natürlich auf der Ebene der Motive: Wenn etwa das kindliche Verhalten zur Umwelt beschrieben wird und dabei das Erlernen von Sprache und Schrift mitreflektiert wird, so ist nicht die semiotische Dimension im Fokus des Interesses, wenn auch sie diejenige ist, die dem Leser entgegentritt: Sie war das Stumme, Lockere, Flockige, das gleich dem Schneegestöber in den kleinen Glaskugeln sich im Kern der Dinge wölkt. Manchmal wurde ich darin umgetrieben. Das war, wenn ich beim Tuschen saß. Die Farben, die ich dann mischte, färbten mich. Noch ehe ich sie an die Zeichnung legte, vermummten sie mich selber. Wenn sie feucht auf der Palette ineinanderschwammen, nahm ich sie so behutsam auf den Pinsel, als seien sie zerfließendes Gewölk. (GS IV, 262) Das schreibt Benjamin über die ‚Mummerehlen’ und die Unmöglichkeit, diesen leeren Namen mit einer fixen Bedeutung aufzuladen - semiotische Bedeutungsstiftung kollidiert mit einer sinnlichen Dimension des Sprachmaterials. Die ‚Mummerehlen’ ist wandelbar und zunächst bloß ein ‚missverstandener’ Name, der reflexiv mit dem Verhalten des Kindes verschränkt ist. Tuschen ist als eine Tätigkeit aufzufassen, die noch vor der Beherrschung der semiotischen Buchstabenschrift mit dem auf sinnliche Ähnlichkeit aufbauendem Zeichnen verbunden ist und sich demnach auch sinnlich auf die abgebildeten Dinge bezieht. Assoziative Ketten bilden eine Konstellation von Wörtern, die nicht nur das ‚Mummen’ lautmalerisch reflektieren, sondern sich auch auf Gesten beziehen, die im Medium der Farbe an einem mimetisch-sprachlichen Ausdruck mitarbeiten, der die Arbitrarität des Verhältnisses von sprachlichem Ausdruck und Ding unterläuft. Das Kind ist hier sprachlich noch vor dem Reich der Schrift und jener Sprache anzusiedeln, die sich strikt an Konventionen zu halten versucht, um Bedeutungen festzulegen und zu kommunizieren. Es schwingt hier noch das mit, was mit Piaget als ‚egozentrische’ Sprache bezeichnet wurde, der auf der Ebene der Phylogenese das von Wygotski beschriebene Werkzeugdenken entspricht, ein Bereich also, der als ‚vorsprachlich’ bezeichnet wurde. Es wird so nochmals deutlich, dass das Kind immer wieder an der Grenze der Sprache verortet wird, an Schwellen oder Schnittpunkten, die eine Einordnung des Phänomens Kindheit und des kindlichen Verhaltens enorm erschweren. Selbst mit dem Rückgriff auf psychologische oder anthropologische Konzepte geht es Benjamin selten bis nie um eine chronologische Situierung der Kindheit oder auch nicht um eine Erfassung mittels anderer linear beschreibbaren Kategorien. Sie korrespondiert deshalb mit der Ambivalenz des Benjaminschen Ursprungsbegriffs, der in der ‚Er- 3.6. Mimesis 139 kenntniskritischen Vorrede’ des Trauerspielbuchs entwickelt wird und mit der naiven Auffassung eines chronologisch situierbaren Anfangs nicht viel zu tun hat. Wie durch die Rekonstruktion der Bedeutung des Namens, der Geste oder der Mimesis für Benjamins Sprachphilosophie bereits angedeutet wurde und wie noch anhand verschiedener Lektüren zu zeigen sein wird, koexistieren Ursprungsphänomene dieser Art immer mit bestehenden Strukturen, die meist einen dialektischen Charakter haben. So sollte sich auch bereits abgezeichnet haben, dass gerade strukturelle Phänomene wie Sprache allgemein, Schrift im Speziellen, wiederkehrende Momente im motivischen Geflecht dieser Texte darstellen. Das häufig inszenierte vexierbildhafte Changieren von Motiven und Verfahren des Schreibens tritt dem Leser immer wieder als konstellatives Moment vor Augen, das nicht allein auf der Ebene des Sinns erfassbar ist. Es scheint, als ob dieses Schreiben, dass sich bewusst ist, einer konventionellen, arbiträren Sprache verhaftet zu sein, letztlich nur allzu lesbar ist, wenn es die ihm inhärente mimetische Dimension auszustellen vermocht hat: damit betreibt dieses Schreiben ein Aufbauen bildlicher, mimetischer Momente - die sich im Fall des Sprachmaterials tendenziell auf der Ebene der Form, im Fall der Motive tendenziell auf der Ebene des Inhalts ausmachen lassen - und ihre gleichzeitige Liquidation. Ein weiteres Beispiel dazu liefert folgende Passage: Die Mummerehlen aber war noch schwerer aufzuspüren. Gelegentlich vermutete ich sie im Affen, welcher auf dem Tellergrund im Dunst von Graupen oder Sago schwamm. Ich aß die Suppe, um ihr Bild zu klären. Im Mummelsee war sie vielleicht zu Haus und seine trägen Wasser lagen ihr wie eine graue Pelerine an. Was man von ihr erzählt hat - oder mir wohl nur erzählen wollte -, weiß ich nicht. (GS IV, 262) Wie bereits in der weiter oben zitierten Passage - die übrigens eigentlich im Anschluss an die eben zitierte folgt - fällt auch in dieser das Spiel mit Alliterationen oder Assonanzen auf. Die vielen Worte mit einem S-Laut scheinen die im Text konstatierte flüssig-flüchtige Beschaffenheit der Mummerehlen sinnlich nachahmen zu wollen. 123 Mittels der Laute wird quasi eine Geste - das Essen bzw. Schlürfen der Suppe - evoziert, die wiederum an ein animistisches Einverleiben des gesuchten Gegenstands erinnert. Durch den Schleier der trüben Flüssigkeit schimmert dieser durch, er 123 Vgl. dazu auch die Ausführungen von dem im Sammelreferat zitierten Paget zum Übergang von der Geste des Schlürfens zum Wort ‚Suppe‘: „It was at this stage that speech was really developped; the inaudible smile became a breathed or whispered ‚ha ha‘ - the gesture of eating became the audible (whispered) ‘mnya mnya’ - the gesture of sucking in drink in small doses was the forefather of the modern word ‘soup’.)“ Vgl. Richard Paget, Human Speech, S. 29 3. Anthropologische Dimensionen des Sprache-Bild-Verhältnisses 140 muss aber, auch wenn die trübe Flüssigkeit aufgesogen ist, verloren bleiben. Denn der Affe auf dem Tellergrund ist nicht die Mummerehlen. Verschwindet die trübe Flüssigkeit als Medium, das die Illusion ermöglicht hat, wird der wohl gemalte Affe auf dem Tellergrund sichtbar, verschwindet das ‚Bild‘ der Mummerehlen. Es scheint hier gleichzeitig ein Diskurs über das Schreiben selbst und das Erinnern geführt zu werden, der mit der Flüssigkeit und Flüchtigkeit des Gegenstands, um den es vornehmlich geht, korrespondiert. Der Gegenstand, um den das Schreiben kreist, kann nicht vollständig fixiert werden, vielmehr bleibt er unfassbar wie ein Gespenst, auf das die Nennung des Mummelsees, der mit der Ballade „Die Geister am Mummelsee“ von Eduard Mörike literarisch verewigt wurde, gewiss auch verweisen soll. Das ‚Bild‘ der Mummerehlen wird so aber bestimmt auch nicht geklärt. Im Gegenteil, das Zusammenwirken sinnlicher Ähnlichkeit und semiotischer Sprache vermögen genausowenig ein starres Bild zu erzeugen wie das ‚Ich‘ des Textes, das, wenn es beim Tuschen saß, durch die Farben vermummt wurde, noch ehe sie an die Zeichnung gelegt werden (vgl. GS IV, 263). Und dennoch entstehen alles in allem Eindrücke eines Phänomens, die nicht auf die Leistung eines bestimmten Bildträgers oder eine bestimmte Ebene des Sinns alleine bezogen werden können. 124 Letztlich ist es ein Konglomerat von Möglichkeiten der Vermittlung von sensibel oder intelligibel wahrnehmbaren Sinns im Medium des poetischen Textes, das dem ‚Leser‘ und ‚Betrachter‘ ein ‚Bild‘ liefert. Die Sätze mit dem Wort ‚Wolke‘ sind auffällig zahlreich im ‚Mummerehlen‘-Text. Im Kontext dieses Textes markiert das Wort ‚Wolke‘eine ‚figure of defiguration‘, wie Werner Hamacher in seinem Aufsatz über dieses Wort schreibt. 125 Aber es weist über die reine Beschaffenheit von Worten hinaus, auch wenn es naheliegt, diesen Text primär auf das Erlernen der Sprache zu beziehen. 126 Das ‚Wolkige‘ ist genauso ein Bestandteil der im Text durchscheinenden Farb- und Bildtheorie. Der letzte Satz des Textes lautet: „Ich ähnelte dem Porzellan, in das ich mit einer Farbenwolke Einzug hielt.“ (GS IV, 263). Damit wird nicht nur nochmals das durch das mimetische Vermögen geprägte Kinderspiel aufgerufen, die Verwandlung in eine 124 Bei einem Blick auf das Gießener Typoskript des Textes wird deutlich, dass sogar das Schriftbild selbst mit zum angesprochenen Gefüge gehört. In dieser Fußnote lässt sich das nicht darstellen, aber im Satz „Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen.“ (GS IV, 261) ‚schweben‘ dort das Wort ‚Wolken‘ und ‚mich zu mummen‘ handschriftlich eingefügt über dem maschinenschriftlichen Text. Vgl. dazu Davide Giuriato, Mikrographien, S. 190 und vor allem S. 299. 125 Werner Hamacher, The Word Wolke - If It Is One, In: Rainer Nägele (Hg.), Benjamin’s Ground. New Readings of Walter Benjamin, Detroit 1988, S. 147-175. 126 Ebd., S. 163: “Whoever disguises himself in words turns into their interior and thus into that which they ‚properly’ are, into clouds.“ 3.6. Mimesis 141 Farbenwolke enthält auch weitere bildtheoretische Implikationen. Sie verweist nochmals auf die Schwierigkeit, ein deutliches Bild mit klaren Konturen wiederzugeben und auf den fragilen Charakter des eigenen Ausdrucks. Außerdem liefert das Stichwort ‚Farbenwolke‘ einen Bezug zu frühen ästhetischen Überlegungen Benjamins, die unter dem Zeichen des Regenbogens stehen. Diesen Überlegungen wird das nächste Kapitel gewidmet. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 4.1. Farbe und Phantasie In diesem Kapitel spielen Überlegungen eine Rolle, die Benjamin bereits sehr früh anstellt, etwa um 1914 oder 1915. Es handelt sich um ästhetische Überlegungen zur Malerei, zur Farbe und zur Rolle der Phantasie. Auch Kinderbüchern und ihren Illustrationen widmet er früh einige kürzere Texte. Außerdem stellt Benjamin im Kontext dieser Themen metaphysische Reflexionen nicht nur über die Wahrnehmung an, sondern auch über Gefühle oder leibliche Ausdrucksweisen, namentlich über die Scham oder das Erröten. Diese werden wiederum vor allem auch auf kindliches Verhalten bezogen. Immer wieder taucht das Kind an hochspekulativen Stellen dieser Texte auf, um eine bestimmte Weise der Wahrnehmung oder des Ausdrucks zumeist in einer gewissen ‚Reinheit‘ zu präsentieren, auf die man so beim Erwachsenen nicht mehr trifft. Überliefert sind diese teilweise kryptischen und schwierig nachzuvollziehenden Gedanken hauptsächlich in der Form von Notizen und kurzen Texten, die meist zu Lebzeiten nicht publiziert wurden. Einige Formulierungen und Thesen tauchen jedoch in späteren Texten Benjamins wieder auf, auch in Texten, die als Rezensionen oder Beschreibungen von Kinderbüchern und Spielfibeln tatsächlich veröffentlicht wurden. Einer dieser frühen Texte aber hat eine besondere Form und ist von den Herausgebern der Gesammelten Schriften erst relativ spät gefunden worden (vgl. GS VII, 560 f.), er unterscheidet sich von den anderen durch seine dialogische Anlage. Der Text stellt ein „Gespräch über die Phantasie“ dar - so zumindest der Untertitel - und trägt den Übertitel „Der Regenbogen“. Der Text ist insofern außergewöhnlich, als er dem Leser in der Gestalt eines fiktiven Gesprächs zwischen zwei Gesprächspartnern entgegentritt, die auf eine esoterisch anmutende Weise ästhetische Beobachtungen mit theoretischem Gehalt besprechen. Handlung kann man aus dem Dialog nicht groß ablesen - die Schilderung eines Traums mit farbiger Landschaft wird zum Anlass genommen, weitere Überlegungen zu den bereits oben genannten Themen Farbe und Phantasie anzustellen. Deshalb wird der Dialog in diesem Kapitel der Arbeit ausführlicher besprochen. Das Malen, aber auch das Kritzeln und Schreiben hat immer eine physiologische Dimension. Mit jeder Dimension des (körperlichen) Ausdrucks gehen aber auch Dimensionen des Eindrucks einher. Und um diese wird es in den nachfolgenden Zeilen hauptsächlich gehen. Benjamin war ein begeisterter Sammler von Kinderbüchern. Da man seinem Interesse für Sprache auch ein Interesse für Bilder zur Seite stellen kann, erstaunt es nicht, 4. Urphänomene der Wahrnehmung 144 dass Kinderbücher und Lesefibeln schon relativ früh seine Aufmerksamkeit erhalten haben, denn sie enthalten beides. Dabei geht es nicht nur um produktions-, sondern auch um rezeptionsästhetische Aspekte. Sein Augenmerk richtet sich bei den Arbeiten, die von diesem Interesse zeugen, denn auch explizit auf die Illustrationen, auf ihre Beschaffenheit und Farbe. Laut Benjamin wirkten sich kolorierte und schwarzweiße Illustrationen in verschiedener Weise auf die kindliche Phantasie aus. So harmlos dieses Thema hier klingt, so grundlegend ist es bei der Sozialisation und Entwicklung. Benjamin geht es letzten Endes nicht um rein ästhetische Überlegungen. Schließlich stecken hinter den gestalterischen Konzepten der Kinderbücher und Lesefibeln für gewöhnlich auch pädagogische Ideen und Absichten. Zu pädagogischen Absichten der Vergangenheit wie auch der Gegenwart äußert sich Benjamin in seinen Rezensionen zu Fibeln und seinen Texten über Kinderbücher immer wieder kritisch, in gewissen Fällen, etwa im Fall der Fibeln von Tom Seidmann-Freud, lobt er sie auch deutlich. Man darf an dieser Stelle nicht vergessen, dass Benjamin selbst pädagogische Ideen ausgearbeitet hat, beispielsweise im „Programm eines proletarischen Kindertheaters“ (Ende 1928) (GS II, 763 ff.) oder etwa in der Rezension „Eine kommunistische Pädagogik“ (1929) (GS III, 206 ff.). Die hier umrissene Thematik berührt verschiedenste Bereiche. Deshalb müsste man vielleicht an dieser Stelle zwei Themenbereiche unterscheiden, die im weiteren Verlauf der Arbeit bearbeitet werden sollen: Einerseits spricht Benjamin von Kinderbüchern allgemein, von ihrer Wirkung auf das Kind und dessen Phantasie, andererseits konkret von Lesefibeln und der Bedeutung des Lesen- und Schreibenlernens für das Kind. Beide Bereiche touchieren die Pädagogik, die jedoch in diesem Kapitel nicht primär untersucht werden soll. Vielmehr werden die eingangs erwähnten ästhetischen Überlegungen über die Wahrnehmung und die Phantasie untersucht, weil es sich dabei eher um Beobachtungen passiver Vermögen handelt, die stark mit dem Bild verbunden sind. Erst im nächsten Kapitel soll es konkreter um Lesefibeln und um den Schrifterwerb gehen, weil diesbezüglich eher aktivere Vermögen gefordert sind. Diese können zwar auch mit dem Bild in einem Zusammenhang stehen, sie kippen jedoch stärker auf die Seite der Sprache beziehungsweise fallen sie in den Bereich einer semiotischen Buchstabenschrift, die das Bildliche in den Hintergrund treten lässt. Auch zu diesem Themenbereich finden man bei Benjamin einerseits publizierte Texte, etwa Rezensionen oder in Zeitungen veröffentliche Textstücke aus der Berliner Kindheit, andererseits Notizen und Fragmente. Nun soll es aber primär um jene seit circa 1914 verfassten Aufzeichnungen gehen, die sich mit der ästhetischen Wirkung von Farbe und ihrem Verhältnis zur Phantasie beschäftigen. Von diesen Themenbereichen schlägt Benjamin immer wieder einen Bogen zur Anthropologie des Kindes und der Kinderbuchliteratur. 4.2. Farbige Bilderbücher 145 4.2. Farbige Bilderbücher Zunächst geht es also um eine Sammlung von Notizen und Texten, die relativ früh geschrieben wurden. Einige dieser frühen Notizen enthalten Formulierungen, die sich so oder leicht abgewandelt in den später verfassten Kinderbuchrezensionen der Dreißiger Jahre wiederfinden lassen. Sie sind deshalb auch Gegenstand der folgenden Paraphrasen und Interpretationen. Außerdem wird auch der bereits erwähnte Dialog mit dem Titel „Der Regenbogen“ näher betrachtet und der eher fragmentarisch anmutende kurze Text mit dem Titel „Der Regenbogen oder die Kunst des Paradieses“. Beide Texte wurden von den Herausgebern der Gesammelten Schriften relativ spät aufgefunden und ediert, sie stehen aber in einem klar ersichtlichen Zusammenhang mit den eben erwähnten Notizen Benjamins wie auch mit den Rezensionen. Ein Motiv aus dem Text über den Regenbogen, das auch immer wieder in den Notizen durchscheint und in einer Variante von Benjamin gar dem früh verstorbenen Jugendfreund Fritz Heinle zugeschrieben wird, erinnert zudem stark an Sätze aus „Die Mummerehlen“. In einem kurzen, etwas kryptischen Text mit dem Titel „Zur Phantasie“, den die Herausgeber der Gesammelten Schriften nicht genau datieren können, aber auf 1920/ 1921 schätzen, heißt es: „(Vgl. Heinle: Wäre ich von Stoff, ich würde mich färben)“ (GS VI, 121). Die Sätze aus dem Dialog „Der Regenbogen“, die eine gewisse Margarethe an ihren Dialogpartner Georg richtet, klingen durchaus ähnlich: „Und was ich sah, waren nicht Dinge, Georg, nur Farben. Und ich selbst war gefärbt in dieser Landschaft.“ (GS VII, 20). Ein ähnlicher Satz taucht nicht nur im Dialog über den Regenbogen auf, er erinnert zudem an eine zentrale Passage aus der ‚Mummerehlen‘: „Sie war das Stumme, Lockere, Flockige, das gleich dem Schneegestöber in den kleinen Glaskugeln sich im Kern der Dinge wölkt. Manchmal wurde ich darin umgetrieben. Das war, wenn ich beim Tuschen saß. Die Farben, die ich dann mischte, färbten mich.“ (GS IV, 262). All diese Sätze drehen sich um ein Subjekt, das mit seiner farbigen Umgebung interagiert. Im Kontext des ersten Satzes, der Heinle zugeschrieben wird, geht es aber um Landschaften, die je nach Jahreszeit eine spezifische Färbung erhalten und die durch ihre symbolische Deutung (Herbst als Untergang, Winter als Tod) in einen Zusammenhang mit Reaktionen oder Gefühlen des Menschen gebracht werden, die eine Färbung evozieren (das Erbleichen bei einer Schreckreaktion, schamhaftes Erröten). Der zweite Satz beschwört ebenfalls ein Verhältnis des Menschen mit bestimmten Landschaften, nämlich mit Traumlandschaften. Im dritten Satz geht es schließlich tatsächlich um das Malen, Zeichnen oder Schreiben mit Tusche. Bei jedem dieser Beispiele ist die Interaktion des Subjekts mit der Farbe oder demjenigen, das Farbe verleiht, jedoch nicht auf eine Situation bezogen, in der dieses die Farbe als Mittel zum Zweck des Färbens (eines Objekts) verwen- 4. Urphänomene der Wahrnehmung 146 det. Es ist jedes Mal so, dass das Subjekt selbst potentiell oder auch tatsächlich zum Stoff oder zur Fläche wird, der oder die gefärbt wird - in den ersten beiden Beispielen wird der passiven oder transitiven Tätigkeit des Färbens keine weitere aktive Tätigkeit zugrundegelegt als das Sehen. Beim dritten Beispiel mischt das Subjekt, das sich färbt, immerhin noch Farben. In all diesen Beispielen steht die Färbung nicht in einem Abbild-Verhältnis zu irgendetwas, es geht darin also nicht um einfache Nachahmung. Zentral für weiterführende Überlegungen ist der Umstand, dass hier mehr noch als von einer Interaktion des Menschen mit der Farbe von einem Verhältnis des Kinds zur Farbe gesprochen wird - in den Kinderbuchrezensionen ist das offensichtlich, in den Notizen wird es gelegentlich deutlich. Wie oben angesprochen weisen diese Verbindungen auf ein Motiv, das Benjamin in seinen Überlegungen zum mimetischen Vermögen vertieft. Bei der Ausarbeitung der Theorien des mimetischen Vermögens geht es ja, wie wir gesehen haben, nicht um ein abbildhaftes Verhältnis nach Kriterien sinnlicher Ähnlichkeit zwischen einem kulturellen Erzeugnis oder einem Verhalten und einem Bezeichneten, einem Ding oder der Natur. Es geht eher um eine Art Mimesis, die über die gemeine, vornehmlich begriffliche Logik nicht mehr als solche identifizierbar ist. So ist denn auch im Regenbogen-Dialog zwar oft vom Abbildcharakter der Kunst die Rede und auch bezüglich der Kinderbuch-Illustrationen thematisiert Benjamin ebenfalls den Abbildcharakter der Malerei oder Zeichnung. In beiden Fällen wird er aber nicht müde, gerade dieses Moment abzuwerten. In einem Fragment, das die Herausgeber der Gesammelten Schriften auf 1919 datieren (vgl. GS VI, 695) 1 , das mit „Über die Fläche des unfarbigen Bilderbuches“ betitelt ist und einige Gedanken oder Formulierungen enthält, die 1 Die Herausgeber nehmen die Bestimmung unter anderem mit Aussagen Scholems vor, die dieser in seinem Buch über seine Freundschaft mit Benjamin tätigt: „In diese Zeit fallen auch die Anfänge seiner Sammlung alter Kinderbücher, die er im Juli 1918 in einem gedruckten Brief an Ernst Schoen geschildert hat. Sie wurde durch Doras Begeisterung für diese Spezies erst richtig auf die Beine gebracht. Dora liebte auch sehr Sagen und Märchenbücher. Beide pflegten sich mindestens bis 1923, solange ich mit ihnen zusammen war, zu ihren Geburtstagsagen illustrierte Kinderbücher zu schenken und machten vor allem Jagd auf handcolorierte Exemplare. Er zeigte mir etwa Lysers Sachen mit einem Entzücken, in dem sich die Freude an der Entdeckung mit der am künstlerischen Erlebnis innig verbanden. Er liebte es, über Bücher dieser Art kleine Vorträge vor Dora und mir zu halten, um besonders die unerwarteten Assoziationen herauszustreichen, die dabei in den Texten unterliefen. Im Juni 1918 fanden wir bei einem Antiquar in Bern den ersten Band des Bilderbuchs für Kinder von Bertuch - aus dem Weimarer Kreis -, von dem er dann noch mehrere Bände erwarb. Es bildete einen besonderen Focus seiner liebevollen Versenkung.“ Vgl. Gershom Scholem, Walter Benjamin - Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1975, S. 85 f. 4.2. Farbige Bilderbücher 147 in der Rezension über „Alte vergessene Kinderbücher“ von 1924 auftauchen, schreibt Benjamin: Wollte man dem Kinde - um einen exemplarischen Fall zu konstruieren - neben die Abbildung eines Balls einen, dieser Abbildung bis ins kleinste gleichenden wirklichen legen, so könnte es nicht damit sein Bewenden haben, daß das Kind hier irgendwie die Gleichheit des Abgebildeten mit dem Wirklichen ‚erkennt’. Vielmehr würde sich hierbei das Erkennen erst als echt und klar erweisen, wenn das Kind die Gleichheit beider Bälle auf seine Weise ausspräche, oder - wo ihm noch alle Worte fehlen - den Namen zu wissen verlangen würde. Es zeigt sich also, daß die Abbildung, und zwar gerade in ihrem naturalistischen Sinne, nicht unmittelbar und sprunglos auf die Wirklichkeit verweist, daß der Sinn sich mit solchem Verweise nicht zufrieden geben würde. Er verlangt vielmehr das Wort. (GS VI, 112) Benjamin macht in seinem relativ kurzen Text deutlich, dass er von einem naturalistischen Färben von Illustrationen nichts hält. Es gehe nicht darum, dem Kind mittels farbiger Bilder die Wirklichkeit näherzubringen, anhand von Abbildern also das Wirkliche erkennbar zu machen - das wäre vergeblich. Das abbildende Bild verlange vielmehr noch nach dem Wort. Um exakt zu sein, präzisiert Benjamin, dass nur das „schlechthin abbildende Bild“ nach dem Wort verlange, und zwar „unerbittlich nach dem Worte“ verlange. Was hat es also mit diesem ‚abbildenden Bild‘ auf sich? Benjamin unterscheidet es jedenfalls vom Kunstwerk und den Erscheinungen der Phantasie. Beide seien nicht beschreibbar. Bloß die abbildenden Bilder harrten der Beschreibung. Das Kind wird demnach durch solche Bilder zur Beschreibung animiert. ‚Beschreibung’ meint dabei nicht einfach eine Beschreibung mittels mündlich ausgesprochener Worte, ‚Beschreibung’ heißt hier wortwörtlich auch, dass das Kind dazu gebracht wird, die Bilder vollzukritzeln. Diese Bilder riefen im Kind „das Wort wach“ - es beschreibe sie in Worten und Gedanken, ‚sinnfällig‘ dem „Tastsinn“ und den „Augen“, so dass man davon sprechen könne, dass das Kind in diesen Bildern gar wohne. „Deren Fläche ist nicht, wie die der Kunstwerke, ein Noli me tangere - weder ist sie’s an sich, noch für das Kind. Sie ist vielmehr nur gleichsam andeutend bestellt und einer unendlichen Verdichtung fähig“ (GS VI, 113). Das Kind dichte in diese Fläche hinein, „[e]s bekritzelt sie, es dichtet in diese Bilder hinein“. Zugleich mit der Sprache, nämlich in dem das Kind die Bilder in Gedanken und mit Worten beschreibe, lerne es anhand der Fläche dieser unfarbigen Kinderbücher auch die Schrift - „und zwar eine dichtende, schaffende Schrift: Hieroglyphik“. Dieser Satz macht nochmals klar, wie doppeldeutig die Worte sind, die Benjamin an dieser Stelle in seinen Notizen wählt. Mit dem Verb ‚dichten‘ spielt Benjamin nicht nur auf ein assoziatives (Be-)Schreiben mit Worten 4. Urphänomene der Wahrnehmung 148 an, das Verb rekurriert auch auf die ‚Dichte‘ des Bilds und der Bilderschrift, die das Kind übt. Das Entscheidende also bei den Lesefibeln ist nicht die naturalistische Abbildung existierender Gegenstände, um den Kindern einen Zugang zur Welt und zu den Dingen zu verschaffen. Im Gegenteil, die Bilder der hier angesprochenen Lesefibeln sind ja nicht einmal farbig, sondern schwarzweiß. Auch Bilder haben keinen unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit, der so etwas wie eine Kongruenz des Abbildes mit dem Abgebildeten zuließe. Deshalb fordern die Fibeln das Wort des Kindes, die aktive Tätigkeit des ‚Beschreibens’, denn wie das Kind „diese Bilder mit Worten beschreibt, so beschreibt es sie in der Tat“ (GS III, 20). Mit den Fibeln verbindet sich also ein spezifisches Verhältnis von Sprache und Bild, das dem Kind einen Zugang zu den Sachen gewährt, der sich, wie gesagt, nicht durch Unmittelbarkeit auszeichnet, sondern durch bildlich-sprachliche Vermittlung. Das ist wohl ebenfalls mehrdeutig zu verstehen. Einerseits geht es darum, dass sich das Kind mittels der begrifflichen Sprache eine Orientierung verschafft, dass diese aber auch mit einer zunehmenden Distanz zu den Dingen erkauft wird. Andererseits ist gerade die Sprache wiederum das Medium, in dem der Gehalt oder die Bedeutung der Dinge in ihrem Bezug zur Wirklichkeit zum Vorschein zu bringen ist. Nicht alleine die Fibeln - in denen die Sprache dominiert - spuren also das Verhalten des Kindes, seinen Zugang zur Welt vor, bereits die farbigen Kinderbücher tun dies, aber sie scheinen noch einer anderen Stufe des Zugangs zur Welt zu entsprechen, auf der die Begriffslogik noch eine untergeordnete Rolle spielt. Mit einer Formulierung, die derjenigen aus der ‚Mummerehlen’ ähnelt, wird im Aufsatz „Aussicht ins Kinderbuch“, der 1926 in der Zeitschrift „Die literarische Welt“ erschienen ist, auf das aktive Schauen des Kindes angesichts der märchenhaften Bilderwelt der Kinderbücher verwiesen: „Nicht die Dinge treten dem bildernden Kind aus den Seiten heraus - im Schauen dringt es selber als Gewölk, das mit dem Farbenglanz der Bilderwelt sich sättigt, in sie ein.“ (GS IV, 609). Auf der einen Seite thematisiert Benjamin demnach den Effekt einer vornehmlich farbigen Bilderwelt, wie sie uns aus Märchenbüchern bekannt ist, auf die kindliche Phantasie und Sinne, die gar ein Eindringen des Kindes in diese Welt ermöglicht, auf der anderen Seite ein interaktives Verhältnis zu den Fibeln, die ebenfalls zur Wahrnehmung und Konstruktion einer Sprach- und Bilderwelt mit besonderem Bezug zur Schrift führt: „Das farbige Bild versenkt die kindliche Phantasie träumerisch in sich selbst. Der schwarz-weiße Holzschnitt, die nüchterne prosaische Abbildung führt es aus sich heraus.“ (GS III, 20) Die erste Dimension, die dieser Satz anspricht, das farbige Bild, das die kindliche Phantasie träumerisch in sich selbst versenke, soll Thema 4.2. Farbige Bilderbücher 149 dieses Kapitels sein. Die zweite Dimension wird im nächsten Kapitel dieser Arbeit ausführlicher besprochen. Farbige Kinderbücher stehen für Benjamin also mit der kindlichen Phantasie in einem zentralen Verhältnis. Immer wieder wird ein literarisches Vorbild genannt, das sich beispiellos mit der Phantasie des Kindes zu beschäftigen wusste: Jean Paul und seine „Levana“. Durch seine eigene Phantasie sei er in der Lage gewesen, angemessen und spielerisch mit der Phantasie des Kindes umzugehen. Wie die Spielfibeln Tom Seidmann- Freuds, die Benjamin positiv aufnimmt 2 , richte sich Jean Pauls „Levana“, wie auch Heinz Brüggemann festgestellt hat 3 , entgegen der Absicht, Kinder zu dressieren, an die Phantasie und den Spieltrieb der Kinder. So wird denn auch seine Dichtung von Benjamin den Illustrationen des Künstlers Johann Peter Lyser als sprachliches Komplement zur Seite gestellt. Über Lyser plante Benjamin einen eigenen Aufsatz, der letztlich aber nie realisiert wurde. 4 Lysers Lithographien werden als passend zu den „verhärmten Gesellen, der schattenhaften Landschaft, der Märchenstimmung, die nicht frei ist von einem ironisch-satanischen Einschlag“ charakterisiert, als etwas, das nicht einfach mit Genuss rezipiert werden konnte, sondern „gebraucht“ wurde „wie Kochrezepte oder wie Sprichwörter“ (GS IV, 613). Mit dieser Dimension des Gebrauchs werden wir an die Ausführungen in der anderen Rezension über Kinderbücher erinnert, nämlich an „Alte vergessene Kinderbücher“, wo es, wie bereits festgehalten wurde, heißt, dass das Kind mit Märchenstoffen „so souverän und unbefangen zu schalten“ wisse wie mit „Stoffetzen und Bausteinen“ (GS III, 17). Dort steht auch, dass sich die Kinder mit den Illustratoren über die Köpfe der Pädagogen hinweg verständigt hätten. Und so heißt es auch weiter in „Aussicht ins Kinderbuch“, dass diese zum Gebrauch befähigten Bilder Lysers von dem, „was die Romantik Überschwänglichstes sich je erträumte“, „die volkstümliche, ja die kindliche Variante“ darstellten: „Jean Paul ist darum ihr Schutzpatron“. „Die mitteldeutsche Feenwelt seiner Geschichten hat in jenen Bildchen sich niedergeschlagen. Deren selbstgenügsam prangender Farbenwelt ist keine Dichtung näher als die seine verwandt.“ (GS IV, 613) Die Farbenwelt Lysers und die Dichtung Jean Pauls bringt Benjamin mit der Phantasie zusammen. Sie ist es auch, um die sich zahlreiche der frühen Studien Benjamins drehen. Er widmet ihr mehrere theoretische Versuche und verwertet seine Einsichten häufig in Aufsätzen und Rezensionen. Es ist jedoch nicht so, dass Benjamin eine einfach zu fassende Vorstellung von Phantasie hätte. Wenn Benjamin über die Phantasie der Jean 2 Vgl. „Chichleuchlauchra. Zu einer Fibel“, GS III, 267-272. 3 Vgl. dazu auch Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, S. 81. und S. 210. 4 Vgl. GS VI, 123 f.: „Zu einer Arbeit über die Schönheit farbiger Bilder in Kinderbüchern. Bei Gelegenheit über Lyser“. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 150 Paulschen Dichtung schreibt, könnte man zunächst meinen, er spreche dessen schöpferischen Genius an. Benjamin unterscheidet aber Phantasie von Einbildung oder Einbildungskraft. Phantasie verbindet er mit Anschauung und Farbe, Einbildung stattdessen mit Schöpfung und Form. Dabei zeichnet sich jene Differenz ab, die er bezüglich der Kinderbücher oder Fibeln immer wieder konstatiert, nämlich jene, die für zwei verschiedene Bildtypen - farbige Bilder einerseits, schwarzweiße andererseits - eine unterschiedliche Reaktion der Kindes hervorbringt: „Im Reich der farblosen Bilder erwacht das Kind, wie es in dem der bunten seine Träume austräumt.“ (GS III, 21) Benjamin nimmt also an, dass der Mensch, seine schöpferische Einbildungskraft, im Reich der Farbe an eine Grenze stößt: Im Farbensehen läßt die Phantasieanschauung im Gegensatz zur schöpferischen Einbildung sich als Urphänomen gewahren. Aller Form nämlich, allem Umriß, den der Mensch wahrnimmt, entspricht er selbst in dem Vermögen, ihn hervorzubringen. Der Körper selbst im Tanz, die Hand im Zeichnen bildet ihn nach und eignet ihn sich an. Dieses Vermögen aber hat an der Welt der Farbe seine Grenze; der Menschenkörper kann die Farbe nicht erzeugen. Er entspricht ihr nicht schöpferisch, sondern empfangend: im farbig schimmernden Auge. (Auch ist ja, anthropologisch gesprochen, das Sehen die Wasserscheide der Sinne, weil es Form und Farbe zugleich auffaßt. Und so gehören ihm zu rechter Hand die Vermögen aktiver Korrespondenzen an: Formsehen und Bewegung, Gehör und Stimme, zur Linken aber die passiven: Farbsehen gehört zu den Sinnesbereichen von Riechen und Schmecken. Die Sprache selbst faßt in „[aus-]sehen“, „riechen“, „schmecken“, die vom Objekt [intransitiv] wie [transitiv] vom menschlichen Subjekte gelten, diese Gruppe zur Einheit zusammen.) Kurz: die reine Farbe ist das Medium der Phantasie, die Wolkenheimat des verspielten Kindes, nicht der strenge Kanon des bauenden Künstlers. (GS IV, 613 f.) An dieser Stelle argumentiert Benjamin erneut anthropologisch. In den ersten Sätzen taucht einmal mehr ein Hinweis auf das mimetische Vermögen des Menschen auf. Der Mensch vermag den Formen, die er wahrnimmt, selber zu entsprechen, in dem er sie hervorzubringen imstande ist. Bei der Farbe aber stößt der Mensch an seine Grenzen: Er kann Farbe bloß empfangen und nicht von sich aus erzeugen. Dennoch scheint mit dem ‚farbig schimmernden Auge’ eine mögliche Art körperliche Entsprechung der Farbe als Ausdruck des Empfangenen angesprochen. Die Klammerbemerkung enthält eine komplexe Nebenbemerkung, die von Benjamin, für seinen Schreibduktus nicht ganz unüblich, mit einem etwas wie Selbstverständlichkeit markierenden ‚ja’ eingeleitet wird. Das ‚Sehen’ bedeutet demnach eine Synthese von Form und Farbe, von schöpferischem und empfangendem Moment. Dem schöpferischen Moment des Sehens, dem ‚Formsehen’ werden zugleich ‚aktive’ Vermögen zugeordnet, ‚Gehör’ und 4.2. Farbige Bilderbücher 151 ‚Stimme’, dem Farbensehen hingegen ‚passive’ wie ‚Riechen’ und ‚Schmecken’ - bereits die Sprache markiert für Benjamin den speziellen Status des ‚Aussehens’ 5 , auch wenn im Sprachgebrauch die passiven Sinne (das ‚Aussehen’ mit dem ‚Riechen’ und ‚Schmecken’) in einer Art Aufzählung nebeneinanderstellt werden, weil auch sie ‚rein aus sich’ empfangen werden können. Es ist in diesem Zitat gegen Schluss nicht nur vom Kind die Rede. Die Rede ist auch vom Künstler. Es wird gesagt, die ‚reine Farbe‘ sei das ‚Medium der Phantasie‘ und nicht der ‚strenge Kanon des bauenden Künstlers‘. Auch hier liegen, esoterisch verdichtet, Bausteine einer Theorie der Farbe, der Form und des künstlerischen Schaffens vor, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen dürften. Die Wortwahl ist mit Bedacht gewählt, ‚reine Farbe‘ und ‚Kanon‘ weisen auf komplexe theoretische Überlegungen, die Benjamin in verschiedenen Notizen und in einem Dialog mit dem Titel „Der Regenbogen“ expliziert hat. Festhalten lässt sich an dieser Stelle zunächst, dass ‚reine Farbe‘ nicht unbedingt etwas mit Malerei und auch nichts mit künstlerischem Schaffen zu tun hat. Auch lässt sich nochmals unterstreichen, dass er diese ‚reine Farbe‘ strikt von der Form unterscheidet. Das ‚Formensehen‘, wie er oben sagt, entspreche einer aktiven Variante des Sehens, nicht aber das Farbensehen. Wenn in den nächsten Unterkapiteln also immer wieder die Rede auf die Farbe, die Phantasie oder Formen kommt, gilt es, sich immer wieder daran zu erinnern, dass die hier getroffene Unterscheidung von Passivität und Aktivität weiter von Belang ist und dass auch rund um diese Theorie eine zeitliche Dimension mit reflektiert zu werden hat. Im Zuge der Rede über die Reinheit der Farben und über die Phantasie ist nämlich immer wieder die Rede vom Kind, von der Unschuld oder vom Paradies. Einerseits weist diese Rede demnach in eine unvordenkliche Vergangenheit, trägt aber auch Züge messianistischen Denkens, was angesichts der anthropologischen Grundfärbung des Gedankenkomplexes etwas seltsam anmuten mag. Jedoch ist eine gewisse Dialektik feststellbar, 5 Im Gespräch über den Regenbogen sagt der Dialogpartner mit Namen Georg: „Auch verstehe ich erst jetzt, was die Sprache sagt, wenn sie vom Aussehen der Dinge spricht. Sie weist eben auf das Gesicht der Farbe hin. Die Farbe ist der reine Ausdruck des Weltanschauens, die Überwindung des Sehenden. Durch die Phantasie berührt sie sich mit Geruch und Geschmack und es werden die vornehmsten Menschen Phantasie im ganzen Bezirk ihrer Sinne frei entwickeln.“ (GS VII, 23) ‚Aussehen’ wird hier reziprok verstanden, intransitiv vom Objekt, wie Benjamin im Aufsatz „Aussicht ins Kinderbuch“ schreibt und transitiv vom Subjekt. Die Dinge oder die Farbe (unser farbiges Auge, wie Margarethe sagt) sehen und sie sehen im Grunde nichts als sich selbst, so dass ein eigentliches Subjekt des Sehens, der Sehende, überwunden wird. Stattdessen werden reine Phantasien aus sich selbst empfangen. Georg: „Ich wenigstens glaube, daß erlesene Geister Phantasien des Geruchs, ja des Geschmacks rein aus sich selbst empfangen, wie andere Phantasien der Farbe.“ (Ebd.) 4. Urphänomene der Wahrnehmung 152 die das Unvordenkliche eben in die Gegenwart hineinprojiziert, so dass die Betrachtung der Kinderbücher oder die Beschäftigung mit Jean Paul ebenfalls unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten sind. Beides zeugt als Beschäftigungsgegenstand von Spuren dessen, was nicht mit voller Absicht über Begriffe und Formen hervorgebracht werden kann, sondern vorwiegend über die Wahrnehmung rezeptiv zugänglich ist. Und dennoch geht es um mehr als eine Theorie unbewusster oder irrationaler schöpferischer Kräfte und um mehr als eine kontemplative Rezeption künstlerischer Gebilde. Denn der Wahrnehmung, von der die Rede ist, darf wohl eine aktive Komponente zugeschrieben werden, die produktiver Erkenntnis Vorschub leistet. 4.3. Scham und Erröten - „Farbe im Sinne der Kinder“ In einer Notiz, die nach Angaben der Herausgeber der Gesammelten Schriften wohl um 1920 entstanden ist, hält Benjamin fest: „Hochentwickeltes Schamgefühl bei Kindern. Daß sie sich so häufig schämen hängt damit zusammen, daß sie soviel Phantasie haben, besonders im frühesten Alter.“ (GS VI, 120) Diese Notizen und weitere Aufzeichnungen aus diesem Kontext stoßen oft in anthropologische Bereiche vor. Peter Fenves‘Studie mit „The Messianic Reduction“ 6 rückt sie in die Nähe der Phänomenologie und früher phänomenologischer Studien Benjamins („Eidos und Begriff“, „Über die Wahrnehmung“ etc.). Allerdings hat Benjamin diese phänomenologischen Studien nicht weit vorangetrieben. Auf was er aber immer wieder zurückkommt, sind anthropologische Überlegungen, denen die oben zitierten Notiz, die mit „Erröten in Zorn und Scham“ übertitelt ist, durchaus zuzurechnen sind (die Herausgeber der Gesammelten Schriften sprechen von einem „moralisch-anthropologischen Grundtenor[]“, GS VI, 675). An die Spekulationen über die Form im Regenbogen-Dialog erinnernd heißt es dort, dass Farbe als ‚farbiges Licht‘ nicht in Formen erscheinen könne, was wiederum mit dem „formlosen Erscheinen der Phantasie zusammen[hänge]“ (GS VI, 120). Offenbar gibt es laut Benjamin einen Zusammenhang zwischen der Phantasie und dem Erröten. Bei Kindern wohl vor allem diesen, dass beides neben dem offensichtlichen Bezug zur Farbe nicht unter der Kontrolle des Bewusstseins gehalten werden kann. Benjamin hat eine seiner Notizen der Scham selbst gewidmet. Er beginnt den ersten Abschnitt mit einem Hinweis auf Goethe, da eine Bemerkung aus Goethes ‚Farbenlehre‘ „[a]uf die geheimste Bedeutung der Röte 6 Vgl. Peter Fenves, The messianic reduction. Walter Benjamin and the shape of time, Stanford, California 2011. 4.3. Scham und Erröten - „Farbe im Sinne der Kinder“ 153 [führe], welche mit der Scham über den Menschen komm[e]“. Besagte Stelle, die Benjamin zitiert, lautet folgendermaßen: Wenn bei Affen gewisse nackte Teile bunt, mit Elementarfarben, erscheinen, so zeigt dies die weite Entfernung eines solchen Geschöpfs von der Vollkommenheit an: denn man kann sagen, je edler ein Geschöpf ist, je mehr ist alles Stoffartige in ihm verarbeitet; je wesentlicher seine Oberfläche mit dem Innern zusammenhängt, desto weniger können auf derselben Elementarfarben erscheinen. Denn da, wo alles ein vollkommenes Ganzes zusammen ausmachen soll, kann sich nicht hier und da etwas Spezifisches absondern. 7 Goethe beobachtet einen Kontrast zwischen den Elementarfarben, die bei sonstigen Lebewesen vorkommen, und der Hautfarbe des Menschen. Je mehr das Innere mit der Oberfläche zusammenhänge, desto weniger erschienen auf besagter Oberfläche Elementarfarben. Benjamin charakterisiert die Farbe des Menschen in diesem ersten Abschnitt selbst mit den Begriffen „erhabne Unbestimmbarkeit 8 , ja Unscheinbarkeit“. Er übernimmt demnach Goethes Bestimmung der Hautfarbe des Menschen als tendenziell unbestimmbare. ‚Unbestimmbar‘ markiert in gewisser Weise ein negatives Potential: der Grundton des Menschen lässt sich nicht farblich bestimmen, auch wenn wir versucht sind, das immer wieder zu tun, sei es sprachmalerisch wie auch mit Mitteln der gemeinen Malerei auf einer Leinwand. Er schreibt, dass die Röte der Scham diese Unscheinbarkeit der menschlichen Oberfläche quasi vernichte. Scham, die sich im Erröten des Menschen zeigt, deutet demnach einen farblichen Kontrast zu seinem sonstigen, von Benjamin als ‚fast entfärbt’ bezeichneten ‚Grundton‘ an. Interessanterweise vertritt Benjamin die These, dass die Scham nichts Innerliches anzeige. Scham steige nicht „aus dem Innern hoch“, sondern 7 Vgl. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre, Herausgegeben von Manfred Wenzel, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Herausgegeben von Hendrik Birus et al. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Band 23/ 1, Frankfurt am Main 1991, S. 217. 8 Bei Goethe ist übrigens an der von Benjamin zitierten Stelle explizit die Rede von den Elementarfarben. Er spricht an dieser Stelle von allen Farbentypen der menschlichen Haut. Auch bräunliche, gelbliche Hauttypen erinnerten nicht an die Elementarfarben. Jedoch - und hier lässt sich schon eine Art Rassismus ablesen - bezeichneten sie „mehr oder weniger die Stufenhöhe des Wesens, dem sie angehör[t]en“, vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Die Farbenlehre, S. 216. Außerdem finden sich auch Aussagen, die Physiognomik und Rassentheorie verbinden und darauf hinweisen, dass hauptsächlich Mitteleuropäer der höchsten Stufe entsprechen.. Benjamin hätte sich wohl kaum zu einer solchen Aussage hinreißen lassen: „Wir getrauen uns aber in Gefolge alles dessen, was bisher vorgekommen, zu behaupten, dass der weiße Mensch […] dessen Oberfläche am gleichgültigsten erscheint, am wenigsten zu irgend etwas Besonderem hinneigt, der schönste sei.“ Ebd., S. 218. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 154 von „außen von oben her übergieß[e] sie den Beschämten und lösch[e] in ihm die Schande und entzieh[e] ihn zugleich den Schändern“ (GS VI, 70). Der rote „Schleier“, mit dem derjenige, der sich schämt, überzogen würde, entzöge ihn den Blicken. Das heißt also, die Scham macht denjenigen, der sich schämt, quasi unsichtbar. Umgekehrt sieht derjenige, der sich schämt, auch nichts, weil er völlig auf sich selbst zurückgeworfen ist. Zwar spielt in diesem Zusammenhang eine Farbe die Hauptrolle, jedoch durchkreuzt sie auf eine ungewöhnliche Weise das Visuelle. Scham durchkreuzt auch auf eine besondere Weise eine mögliche Steuerbarkeit. Ihr Ausbruch lässt sich vom Beschämten nicht kontrollieren, ebenso wenig lässt sie sich auf das richten, was sie wachruft. „[D]ie Scham [ist] ein Affekt, der sich nie gegen das richtet was ihn wachruft sondern gegen den der ihn hat.“ (GS VI, 56) Das schreibt Benjamin in einer Notiz über den ‚Cynismus‘, die wohl um 1918 geschrieben wurde (GS VI, 668). Scham zeige eine Ohnmacht vor sich selbst an, da die „Wunde ihres Gefühls“, die „Scham“, nicht selber heilbar ist. Das wiederum nutze der ‚Cyniker‘ aus, der durch seine Lebensweise eine gewisse Macht über andere gewinne, indem er sie beschäme und somit mit ihrer Ohnmacht vor sich selbst konfrontiere. Deswegen lässt sich die Scham auch auf die Moral beziehen. Eine Geste, die ebenfalls die Moral herausfordert, ist das negative Pendant der Scham, die Schamlosigkeit. Sie weist wie die Scham auf eine gewisse Ohnmacht, nämlich auf die mangelnde Fähigkeit zur Selbstreflexion. Der ‚Cyniker‘, der die Scham wachruft, erinnert an eine andere Figur, der es im Gegensatz zum Kyniker vermeintlich an Selbstreflexion mangelt, nämlich an das schmutzige Kind. In der Interpretation eines Brechtschen Gedichts („Vom Kind, das sich nicht waschen wollte“, GS II, 564), schlägt Benjamin einen Bezug zu Charles Fourier. Nicht nur der Dichter, in diesem Falle Brecht, ist Parteigänger des ‚Schmutzkinds‘, auch Fourier, dessen Phalanstère als eine pädagogische Utopie betrachtet werden könne. Kinder werden in Fouriers Utopie in Gruppen eingeteilt („petites bandes“ und „petites hordes“) und übernehmen je nach Gruppenzugehörigkeit vordefinierte Arbeiten in der Phalanstère. Die „petites hordes“ geben sich eher mit den unsauberen und schmutzigen Dingen ab. Obwohl Fourier den „petites hordes“ neben Hochmut, „Unsubordination“ und „Freude am Schmutz“ auch „Schamlosigkeit“ zuschreibt (GS II, 565), so erinnert die Leidenschaft des ‚Schmutzkinds‘ für den Schmutz darüber hinaus insofern an das Treiben des ‚Cynikers‘, als die „Gesellschaft“ diese „keiner nützlichen und guten Verwendung“ zuzuführen vermag. Die Leidenschaft für den Schmutz bleibt ein „Stein des Anstoßes“, bleibt als „eine dunkle Mahnung ihrer Ordnung im Weg“ stehen. Schamlosigkeit und Scham liegen manchmal nahe beieinander, genauso wie Scham und Schmutz, wie eine Szene aus der „Einbahnstraße“ bezeugt: 4.3. Scham und Erröten - „Farbe im Sinne der Kinder“ 155 Ein Kind, im Nachthemd, ist nicht zu bewegen, einen eintretenden Besuch zu begrüßen. Die Anwesenden, vom höheren sittlichen Standpunkt aus, reden ihm, um seine Prüderie zu bezwingen, vergeblich zu. Wenige Minuten später zeigt es sich, diesmal splitternackt, dem Besucher. Es hatte sich inzwischen gewaschen. (GS IV, 90) Beides, die Scham wegen des Schmutzes sowie auch die nackte Scham, die die gleichzeitige Schamlosigkeit des Kindes demonstriert, bilden für Benjamin wohl beide eine „dunkle Mahnung“ der gesellschaftlichen „Ordnung“ (GS II, 565). Die künstliche ‚Farbe‘ des Schmutzes oder der ‚Asche‘, mit der sich das Brechtsche ‚Schmutzkind‘ einreibt, unterscheidet sich jedoch gewiss von der Schamesröte, von der Benjamin in seiner Notiz über die Scham spricht. Interessant ist jedoch, dass beide das Kind glauben machen, es entzöge sich der Ordnung des Sichtbaren. Der Affekt der Scham bringt das Kind in eine seltsame visuelle Ordnung. Die Scham, die den Beschämten „von oben her übergieß[e]“ und den Beschämten „den Schändern [entziehe]“ (GS VI, 70), sowie sie den Beschämten auf sich selbst zurückwerfe, erzeugt diese seltsame Aufhebung von Subjekt und Objekt des Sehens. Das Kind färbt sich und sieht nichts als Farbe: Subjekt und Objekt des Sehens entsprechen sich demnach. Wie fasst Benjamin nun die Schamesröte als Farbe? Im Gegensatz zur Asche lässt sie sich nicht äußerlich auftragen und dennoch scheint die Schamesröte für ihn keine Farbe zu sein, die von Innen die unscheinbare Hautfarbe des Beschämten färbt. Mit Blick auf Goethe fragt er sich, was diese Röte von „jenen bunten denunzierenden Farben der Natur unterscheidet“: „Was unterscheidet die Schamröte von der bunten Scham eines Affen und was den Ton der menschlichen Haut von dem einer tierischen? “ (GS VI, 70) Benjamin stellt fest, dass Goethe die Farben eines organischen Wesens auf ihr Inneres bezieht. Im Zitat, das Benjamin am Anfang der Notiz in extenso anführte, wurde das augenscheinlich. Benjamin schreibt nun aber, dass es dem „reinen Wesen der Farbe nicht“ entspreche, „Ausdruck eines Farbigen, Ausdruck vom Innern eines Farbigen zu sein.“ Der reine Ausdruck hafte an dem Färbenden, weniger an der Farbe und schon gar nicht an der Färbung. Benjamin spricht plötzlich vom ‚Schein‘ und letztlich vom ‚Strahl‘, um einen Begriff einzuführen, der seine These stützen soll. Der Strahl als ‚Geistiges‘ der Farbe schieße nur aus der Sonne (‚anorganisch‘) und dem Menschenantzlitz (‚höchste organische Welt‘) auf. Als Strahl sei die Farbe nie Ausdruck eines Innern, eher seine ‚Wirkung‘. Sie verrate, je reiner sie sei, desto weniger vom Innern. Wenn sie dennoch Ausdruck des Innern sei, dann sei sie trüb und ‚ungeistig‘. Das „färbende Licht“ erscheine nur auf dem „Menschenantlitz, wenn es zu strahlen ganz“ aufhöre, 4. Urphänomene der Wahrnehmung 156 versammle „es sich mit der dunklen Röte“: „Die Farbe der Scham ist rein: ihr Rot ist nicht Farbiges noch Farbe sondern Färbendes.“ (GS VI, 71) An dieser Stelle, wo deutlich wird, dass Benjamin die reine Immanenz der Farbe zu denken versucht, bringt er wieder die Phantasie ins Spiel. Jenes „reinste Färbende Licht“, schreibt er, sei „kein anderes als das farbige, vielfarbige der Phantasie“. Die Theorie der Farbe, die hier vorgestellt wird, entspricht der goetheschen Farbenlehre kaum mehr, obwohl sie mit Goethe, wie noch zu zeigen ist, in einem gewissen Zusammenhang steht. Es geht nicht mehr um ‚physikalische‘ oder ‚pathologische‘ Farben, vielmehr wird die Farbe auf eine ‚geistige‘ Dimension zurückgeführt. 9 ‚Phantasie‘ und ‚Scham‘ sind bloß Vehikel, um so etwas wie eine reine Farbe einzuführen und eine Theorie der Immanenz der Farben zu entwerfen. Scham wie auch Phantasie sind Momente, die einer aktiven Hervorbringung durch das sie erfahrende Subjekt zuwiderlaufen, man kann sie weder von einem transzendenten Standpunkt aus erfassen noch kontrollieren. Der Bezug zu Goethe, der eben erwähnt wurde, ergibt sich dadurch, dass diese Notizen bei der Abfassung des Aufsatzes über die ‚Wahlverwandtschaften‘ entstanden sind und gegen Schluss einen Begriff einführen, der dort von einiger Bedeutung ist. Benjamin bekräftigt in der Notiz über die Scham nochmals, dass der Phantasie also Farben ‚eigneten‘, „in denen ein Wesen“ erscheine, ohne aber „Ausdruck eines Innern zu sein“ und dass erst „diese farbige Erscheinung“ ‚rein‘ sei und „unvergleichlich mächtig“ wirke: „nicht aufs Verstehen, dem sie nichts verrät, sondern auf die Seele, der sie alles“ sage: „Ausdruckslos bedeutende Erscheinung ist die Farbe der Phantasie. Ausdruckslos bedeutende Erscheinung des Vergehens die Röte der Scham.“ (GS VI, 71) 9 Eine interessante Parallele dieser Theorie besteht zur Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ von Wassily Kandinsky, die Benjamin bereits relativ früh - wohl Ende 1919 - begeistert gelesen hat, wie er Gershom Scholem mitteilt (vgl. GB II, 68 und GB II, 76). Kandinsky hält fest, dass der Malerei zwei Mittel zur Verfügung stünden, um eine „rein malerische Komposition“ zu erreichen, die Form und die Farbe. Er sagt, die Form könne „selbständig existieren“, nicht jedoch die Farbe. „Die Farbe läßt sich nicht grenzenlos ausdehnen. Man kann sich das grenzenlose Rot nur denken oder geistig sehen. Wenn man das Wort Rot hört, so hat dieses Rot in unserer Vorstellung keine Grenze.“ Vgl. Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, S. 70. Benjamin hält an anderer Stelle fest - nämlich in der Rezension einer Neuausgabe von Goethes ‚Farbenlehre‘ -, dass man „interessante Vergleiche“ zwischen „Goethes Farbendeutung und der außerordentlichen in Kandinskys Werk ‚Über das Geistige in der Kunst‘“ anstellen könne (GS III, 149). Trotz dieser Nähe und der mehrmals konstatierten Bewunderung unterscheidet sich jedoch Benjamins eigene Konzeption von beiden ‚Vorbildern‘, auch wenn Kandinsky späteres Diktum „Form ohne Inhalt ist tot. Inhalt ohne Form lebt“. Benjamins Auffassungen relativ nahe stehen. Vgl. Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, S. 171. 4.3. Scham und Erröten - „Farbe im Sinne der Kinder“ 157 Der letzte Satz spielt mit der Doppeldeutigkeit des Worts ‚Vergehen‘, das auf ein Verschwinden und Unsichtbar-Werden verweist, jedoch auch auf die sich anbahnende Vergängnis oder den Tod. 10 Die Farbe der Scham, die Schamröte, ist ausdruckslose Erscheinung des Vergehens. Ausdruckslos insofern, als sie nicht kausal von einem ‚Innen‘ abhängt. Das ‚Ausdruckslose’ spielt, wie bereits angedeutet, auch im Aufsatz über die ‚Wahlverwandtschaften‘ eine wichtige Rolle. Das Ausdruckslose nimmt dort die Funktion eines Erstarrens ein - was im Zuge der Jahreszeiten-Metaphorik, die Benjamin beim Stichwort ‚Vergehen‘ bemüht, interessant ist. Das Ausdruckslose im Wahlverwandtschaften-Aufsatz charakterisiert Benjamin als moralische, kritische Gewalt, die dem Schein im Kunstwerk Einhalt gebietet, als eine quasi-performative Instanz, die das Konstatierte unterläuft. Hölderlins kryptische Anmerkungen zum Ödipus, die Benjamin anführt, stehen Pate für den Begriff des Ausdruckslosen. Hölderlin selbst kreist um diesen unfassbaren Begriff mit den Begriffen ‚Cäsur‘, ‚reines Wort‘ oder ‚gegenrythmische Unterbrechung‘, mit der sich nach Benjamin mit der „Harmonie zugleich jeder Ausdruck“ lege, „um einer innerhalb aller Kunstmittel ausdruckslosen Gewalt Raum zu geben“ (GS I, 182). Etwas „jenseits des Dichters“ falle mit dem Ausdruckslosen „der Dichtung ins Wort“. Diese Konstruktion, auf die hier nur ungenügend eingegangen werden kann, weil damit eine Konzeption des Wahren, des Schönen und des Scheins zusammenhängt, die Benjamin im Wahlverwandtschaften- Aufsatz mit Blick auf Goethes Text entwickelt, läuft dem Bedeuten im Sinne eines Verstehens zuwider. Genauso wie bei der Scham geht es um ein Wirken auf die ‚Seele‘. Die ‚Cäsur‘ als kritische Gewalt lässt sich mit Blick auf die Formulierungen, die die Untergangsthematik anhand des Beispiels der Jahreszeiten reflektieren, als ein wörtlich zu nehmendes Zu-Grunde- Gehen verstehen. Wenn Benjamin schreibt, dass im Ausdruckslosen die „erhabne Gewalt des Wahren“ erscheine und es daher die „falsche, irrende Totalität“ zerschlage („was in allem schönen Schein als die Erbschaft des Chaos noch“ überdaure, GS I, 181), ist eine Bewegung hin zum Grund angesprochen - den man auch ‚Chaos‘ nennen könnte -, die mit der Form oder dem schönen Schein bricht (nicht jede Form ist freilich zwingend schön, wie Benjamin selbst festhält, vgl. GS VI, 128). 11 Die ‚erhabne Gewalt‘, in der das 10 Vgl. auch GS VI, 122, wo davon gesprochen wird, dass sich ‚Vergehen‘ in Färbung manifestiere, etwa die Röte der Blätter im Herbst vor dem ‚Entfärben‘, dem ‚Erbleichen‘ und dem Tod im Winter. Darauf folgen diese Sätze, die einen Zusammenhang zwischen der Schamröte und dem Vergehen herstellen: „Zusammenhang der Phantasie mit der Scham / ‚Er wird rot - er möchte vergehen‘“. 11 Vgl. GS I, 180 f.: „Künstlerisches Schaffen ‚macht‘ nichts aus dem Chaos, durchdringt es nicht; genau so wenig wird, wie Beschwörung dies in Wahrheit tut, aus Elementen 4. Urphänomene der Wahrnehmung 158 ‚Wahre‘ im ‚Ausdruckslosen‘ erscheint, deutet demnach auch eine Art Erhabenheitstheorie an. In ‚Goethes Wahlverwandtschaften‘ reagiert Benjamin mit ‚Hölderlin‘ auf die Hegelsche These - wobei hier explizit darauf verwiesen werden muss, dass ‚Hegel‘ hier durch die komplexe Überlieferungsgeschichte seiner ästhetischen Theorie in Anführungszeichen gesetzt zu werden hat -, dass sich in der durch die Kunst manifestierte Schönheit das sinnliche Scheinen der Idee zeige. 12 Der Schein oder die Täuschung wie auch die Form, mit der die Kunst arbeitet, mag notwendig zu ihr gehören, um die Werke überhaupt vom Chaos abzuheben, aber sie führen weder zur Erkenntnis des Wahren noch des Scheins als Schein. 13 Das Ausdruckslose erst durchbricht die Harmonie oder den Schein von Totalität, um durch die Markierung des Scheins als Schein negativ das Unfassbare zu spiegeln und es so quasi nicht-begrifflich und in gewisser Weise auch ‚unsinnlich‘ dennoch erfahrbar zu machen. 14 . Mit anderen Worten leistet das Ausdruckslo- jenes Chaos Schein sich mischen lassen. Dies bewirkt die Formel. Form jedoch verzaubert es auf einen Augenblick zur Welt.“ 12 In einer Zeit, in der in der Ästhetik ‚Schönheit‘ nicht mehr dieselbe Rolle spielt wie zu Hegels Zeiten, stellt Benjamin eine eigene These von der Schönheit in den Raum. Er meint, dass die „eigentliche Zeit der Schönheit“ bestimmt sei „vom Verfall des Mythos bis zu seiner Sprengung“: Schönheit habe das „latente Wirken des Mythos zu seiner Voraussetzung“: eine Dichtung wäre nicht ‚schön‘, enthielte sie nicht noch mythische Elemente (GS VI, 128). Schönheit bleibt demnach ein Orientierungspunkt bei der ästhetischen Kritik von Kunstwerken, sie fordert aber auch eine Kritik des Mythischen. 13 Goethes Roman ist zu komplex, um hier konkret festzuhalten, wie er den hier konstatierten Widerspruch vollzieht. Mit Beda Allemann, der in seinem Aufsatz „Die Schwierigkeit zu enden“ Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ einige Seiten widmet, könnte man davon sprechen, dass „die ‚Botschaft‘ eines Romans […] hinter die Szenerie seines Handlungsverlaufs verlegt sein kann, und konkret, dass sich damit ein Spannungsfeld öffnet zwischen Struktur und Thematik, das beachtet sein will, wenn nicht die oberflächlichen Vorurteile Oberhand gewinnen sollen“. Vgl. Beda Allemann, Die Schwierigkeit zu enden, in: Jürgen Söring (Hrsg.), Die Kunst zu enden, Neuchâtel 1990, S. 131. 14 Obwohl diese Theorie an einem Kunstgegenstand des frühen 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, will sich der Eindruck nicht verflüchtigen, dass sie ein Kind ihrer Zeit ist und ihr eigentlich die Kunst der Moderne vorschwebt. Lyotards Ausführungen zum Erhabenen in der modernen Malerei erinnern frappant an die Theorie des Ausdruckslosen: „Aber wie kann man sichtbar machen, daß es etwas gibt, das unsichtbar ist? Kant selbst zeigt an, welchem Weg hier zu folgen ist, indem er das Formlose, die Abwesenheit von Form als möglichen Index des Nicht-Darstellbaren bezeichnet. Von der leeren Abstraktion, die der Einbildungskraft auf ihrer Suche nach einer Darstellung des Unendliche (ein weiteres Nicht-Darstellbares), sagt er auch, daß diese Abstraktion selber gleichsam eine Darstellung des Unendlichen, seine negative Darstellung ist. Er zitiert das ‚Du sollst dir kein Bildnis machen usw.‘ (Exodus 2,4) als die erhabenste Stelle der Bibel, insofern darin jegliche Darstellung des Absoluten untersagt ist. Man braucht diesen Bemerkungen kaum viel hinzuzufügen, um eine Ästhe- 4.3. Scham und Erröten - „Farbe im Sinne der Kinder“ 159 se eine Art Synthese des Disjunktiven, es ist möglicherweise nahe an dem dran, was Benjamin später mit dem ‚dialektischen Bild‘ auf einer erkenntnistheoretischen und fast schon methodologischen Ebene zu fassen versucht. Was hat das aber nun wiederum mit der Farbe, der Phantasie oder der Scham zu tun? Jedenfalls kann man nicht leichtfertig die Ebene, auf die man mit dem Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften gerät, als ästhetische von der anthropologisch anmutenden Ebene abgrenzen, auf der man die Rede über die Farben anzusiedeln geneigt ist. Beide Redeweisen über das ‚Ausdruckslose‘ zielen darauf ab, sinnlicher Wahrnehmung eine wichtige Erkenntnisdimension zuzusprechen, die nicht derjenigen der Begriffslogik entspricht. Eine weitere Gemeinsamkeit beider Redeweisen ist demnach ihre schwierige Stellung gerade gegenüber dieser Logik. Auch wenn der Begriff der Form nicht eindeutig ist, aber schon gar nicht als Moment der (begrifflichen) Identifizierbarkeit verschiedener Ausdrucksmodi aufgegeben werden kann, so dreht sich die Rede über das Ausdruckslose doch auch darum, dieses Moment kritisch zu beleuchten. Denn Benjamin konzipiert die Farbe als „farbiges Licht“, das „nicht in Formen erscheinen“ könne. „Dies häng[e] mit dem formlosen Erscheinen der Phantasie zusammen“ (GS VI, 120). Ein solches Verständnis widerspricht einem gemeinen Verständnis der Farben, auch wenn die Erfahrung von Licht durchaus schwierig mit der Form in Einklang zu bringen ist. Die Farbe, von der Benjamin also im Zusammenhang mit den Kindern und der Scham spricht, ist demnach durchaus verschieden von einem Farbenverständnis, das diese von materiellen Trägern ableitet - oder gar als ‚innerliche‘ Farben im Sinne der ‚pathologischen Farben‘ konzipiert, wie sie in Goethes Farbenlehre vorgestellt werden. Das hält er auch deutlich im Text mit dem Titel „Die Farbe vom Kinde aus betrachtet“ fest. Darin versucht Benjamin die Farbe von ihrer Betrachtung über die Form zu lösen. Es ist deshalb auch nicht die Malerei, die an diese Art der Betrachtung von Farbe heranführt, auch wenn die hier konzipierte Ästhetik ohne die ‚moderne‘ Malerei (oder ‚moderne‘ Kunst, die sich gegen eine bestimmte Auffassung von Ähnlichkeit, Harmonie etc. richtet) wohl kaum denkbar ist. Es seien die „Bunten Stücke des Stäbchenspiels, Ausnähsachen, Abziehbilder, Teespiele, sogar Ziehbilderbücher und in geringem Maße auch Papierflechtarbeiten“, die sich „auf diese Natur der tik der erhabenen Malerei zu skizzieren: Als Malerei würde diese zwar etwas ‚darstellen‘, aber nur in negativer Weise, sie würde also alles Figurative und Abbildliche vermeiden, sie wäre ‚weiß‘ wie ein Quadrat von Malewitsch, sie würde nur sichtbar machen, indem sie zu sehen verbietet, sie würde nur Lust bereiten, indem sie schmerzt.“ Vgl. Jean-François Lyotard, Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985, Aus dem Französischen von Dorothea Schmidt, unter Mitarbeit von Christine Pries, 2. Auflage, Wien 1996, S. 24 f. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 160 Farbe“ beziehen ließen (GS VI, 110). In eine ähnliche Richtung, ein Transzendieren der Form mittels Wandelbarkeit andeutend, zielt auch die Bemerkung, dass Kinder „Freude an der Veränderung der Farbe im beweglichen Übergang von Nüancen (Seifenblase)“ hätten: „Die Farbe ist für sie von feuchter Art, das Medium aller Veränderungen“. Deutlich machen das auch die Bemerkungen zur Phantasie und zu den kindlichen Sinnesvermögen. Benjamin schreibt, dass das kindliche Auge nicht auf das Plastische gerichtet sei - diesem näherten sich Kinder durch den Tastsinn an. Farbe würde deshalb von Kindern hauptsächlich durch den Gesichtssinn wahrgenommen: Die kindliche Auffassung der Farbe bringt den Gesichtssinn zur höchsten künstlerischen Ausbildung, zur Reinheit, indem sie ihn isoliert, sie erhebt diese Bildung zu einer geistigen, da sie die Gegenstände nach ihrem farbigen Gehalt anschaut und folglich nicht isoliert, sondern sich die zusammenhängende Anschauung der Phantasiewelt in ihnen sichert. (GS VI, 110) Der kindliche Gesichtssinn unterlaufe demnach die Form der Gegenstände, denn er isoliere sie nicht, er schaue sie nach ihrem ‚farbigen Gehalt‘ an, so dass eine ‚zusammenhängende Anschauung‘ sich in ihnen sichere. Diese Begriffskonstellation könnte man auch ins Ästhetische übersetzen, denn die Rede ist von der ‚höchsten künstlerischen Ausbildung‘ des Gesichtssinns. Zentral ist demnach im Zusammenhang mit Farben nicht mehr die transzendente ‚Form‘ als Möglichkeit, ein farbiges Ding als ein künstlich geschaffenes wahrzunehmen oder zu identifizieren, sondern eher eine ‚immanente‘, ‚einmalige‘ Form. Der Gehalt, der über den einzelnen Gegenstand hinaus einen Zusammenhang herstellt, unterschreitet eine klassifikatorische Logik. „Phantasie kann sich nämlich niemals auf die Form beziehen, die Sache des Gesetzes ist, sondern nur die lebendige Welt vom Menschen aus schöpferisch im Gefühl anschauen“ (GS VI, 111), heißt es ein paar Zeilen weiter unten. ‚Schöpferisch im Gefühl anschauen‘ ist freilich eine etwas paradox anmutende Formulierung, denn ‚Anschauung‘ assoziiert man gewöhnlich nicht mit ‚Schöpfung‘. Aber die Ästhetik, die hier vorgestellt wird, ist sowieso ein paradoxes Unterfangen, denn der Text, der klar begrifflich vorgeht, imaginiert sich dabei in die nicht-begriffliche Betrachtungsweise von Farben durch die Augen eines Kindes. „Erwachsene, produktive Menschen finden an der Farbe keinen Halt, für sie ist sie nur in gesetzlichen Beziehungen möglich“, behauptet Benjamin. Stattdessen sei die „Farbe im Leben des Kindes […] der reine Ausdruck [seiner] reinen Empfänglichkeit, sofern sie sich auf die Welt richte[]“ (GS VI, 111). Auch in dieser Formulierung wird eine extreme Spannung deutlich. Einerseits existiert eine Gerichtetheit auf die Welt und damit auf „Farbe, die gewiss im höchsten Grade gegenständlich aber nicht raumgegenständlich erscheint“ - 4.3. Scham und Erröten - „Farbe im Sinne der Kinder“ 161 ‚reines Sehen‘ sei „nicht auf den Raum und auf den Gegenstand gerichtet“ -, gleichzeitig ist die Rede von ‚reiner Empfänglichkeit‘. Einerseits scheint das Auge eine Art organisches Modell für dieses Konzept abzugeben, andererseits werden dem Sehen aber über die Physiologie hinausgehende Qualitäten zugesprochen. Durch die Phantasie sehen Kinder anders. Ihr Sehen sei nicht auf die Umrisse, auf die ‚Formen‘ oder die Farbigkeit gerichtet, eher auf die ‚Inhalte‘: Die Buntheit affiziert nicht animalisch weil ständig die ungebrochene Phantasie-Tätigkeit des Kindes der Seele entspringt. Weil sie dies aber rein sehen, ohne sich seelisch verdutzen zu lassen, ist es etwas Geistiges[.] (GS VI, 111) So wird verständlich, weshalb Benjamin schreibt, die Farbe sei „daher ursprünglich für sich“ und sie beziehe sich nicht auf Dinge und nicht auf ihre „Erscheinung in Farbflecken“: Sie ließe sich nur „auf die höchste Konzentration des Sehens“ beziehen (GS VI, 117). Die Farbe wird rein immanent gedacht. Folgende Formulierungen mögen davon zeugen: „Das Aussehen der Farben und ihr gesehen Werden ist gleich / Das heißt: die Farben sehen sich.“ (GS VI, 118) Im Grunde wird hier demnach von einer Art Verschmelzung mit der Farbe gesprochen, die aber nicht im Modus eines Sehens wahrgenommen werden kann, der sich hauptsächlich an Formen und Umrissen orientiert. „Die Farbe“ gehöre „einer nur aufgenommenen geistigen Welt an“, „[d]aher ihre Bedeutung für das Kind, der Erwachsene deutet sie symbolisch“. Andernorts heißt es, die „malerische Farbe“ könne „nicht für sich gesehen werden“, sie habe „Beziehung“ und sei „substantiell als Oberfläche oder Grund, irgendwie schattiert und auf Licht und Dunkel bezogen“ (GS VII, 564). „Die Farbe im Sinne der Kinder“ stehe dagegen „ganz für sich“ und sei „auf keinen übergeordneten Farbbegriff (durch Entwicklung) zu beziehen“. Die Rolle der Phantasie in diesem Zusammenhang ist rätselhaft, aber sie trägt ihren Teil dazu bei, diese ‚geistige‘ Farben-Rezeption überhaupt zu ermöglichen. Der Mensch trete der Farbe „nur im selbstvergessenen Weben der Phantasie gegenüber“, heißt es in derselben Notiz. Da verweile er „im Stande der Unschuld: weil er nicht das Geistige bewegt und die Verbindung mit dem Ich in d[ie] Schöpfung zerstörend bringt“: „Das Leben in der Farbe ist die Verheißung der kindlichen geistigen Welt.“ Den ‚Stand der Unschuld‘ kann man wohl allerhöchstens noch mit dem Kind verbinden. Im weiter oben erwähnten Text mit dem Titel „Zu einer Arbeit über die Schönheit farbiger Bildern in Kinderbüchern. Bei Gelegenheit des Lyser“ wird mehrmals auf das Paradies verwiesen. So schreibt er, dass, wenn es „überhaupt so etwas wie die platonische Anamnesis“ gebe, sie bei Kindern auftrete, „deren Anschauungsbilderbuch das Paradies“ sei 4. Urphänomene der Wahrnehmung 162 (GS VI, 124). 15 Das knappe Stichwort ‚Anamnesis‘ verweist in gewisser Weise darauf, dass die hier angesprochenen ‚Bilder‘ wohl ‚geistiger‘ Natur sind, wie es auch weiter oben heißt. Wenn man Kindern demnach ein tatsächliches, farbiges Bilderbuch vorsetzt, meint Benjamin, sollen diese „die Farbe des Paradieses wie die Flügel der Schmetterlinge ihren Schmelz noch an sich tragen, soweit überhaupt Menschen sie einem Blatte zu verleihen verstehen“. Der hier gelieferte Vergleich ist wohl durchdacht. Erstens ist der angesprochene ‚Schmelz‘ staubähnlich, zweitens ständig in Bewegung - sowie der Schmetterling überhaupt mit einer flatterhaften Beweglichkeit oder transitorischen, metamorphotischen Qualitäten assoziiert werden kann. Selbst das Wort ‚Blatt‘ rundet den Vergleich auf eine doppeldeutige Weise ab, da wohl eigentlich das Blatt als Bildträger angesprochen wird, die Formulierung jedoch auch das Bild eines pflanzlichen Blatts oder einer Blüte weckt, auf dem beziehungsweise der sich kurz ein Schmetterling niederlässt. Die ‚platonische Anamnesis‘, die eigentlich doch, wie Benjamin einräumt, „nicht ganz die eigentümliche Erinnerungsform der Kinder“ sein könne, weil sie nicht „ohne Sehnsucht und Bedauern“ sei, wird noch näher charakterisiert: „Sie lernen in der Erinnerung ihre erste Anschauung. Und sie lernen am Bunten, weil im phantastischen Spiel der Farbe die Heimat der sehnsuchtslosen Erinnerung ist, welche ohne Sehnsucht bleiben kann, weil sie ungetrübt ist.“ (GS VI, 124) Das scheint in diesem Text auch der Hauptunterschied zwischen einer kindlichen Erinnerung und einer anamnestischen Erinnerung zu sein, die sich an der Kunst entzündet. Benjamin meint, die Sehnsucht und das Bedauern markierten eine „Spannung zum Messianischen hin“, die das „Eigentum der Wirkung eigentlicher Kunst“ sei - zur Erinnerung mischt sich also in diesem Kontext Sehnsucht: „Dem Erwachsenen ist die Sehnsucht nach dem Paradies die Sehnsucht der Sehnsuchten. Nicht nach Erfüllung; die, ohne Sehnsucht zu sein.“ Anhand dieses Satzes zeigt sich nochmals, dass immer wieder eine Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern gezogen wird, und dass der hier formulierten kindlichen Farben- Konzeption eine radikale Immanenz eignet, die der immer schon durch Transzendenz gekennzeichneten Farbenkonzeption der Erwachsenenwelt nicht einfach zugänglich ist. 15 An dieser Stelle sei nochmals an das Kapitel über die Bidlichkeit der Namen und an Klages erinnert, der den Begriff der Anamnesis bekanntlich für die archaischen Bilder der Seele in Anspruch nimmt. Benjamins Satz markiert an dieser Stelle eine deutliche Differenz, denn er verlegt die potentiellen Bilder dieser Anamnesis und auch denjenigen, der sie haben kann, in eine unverfügbare zeitliche und räumliche Dimension. 4.4. Regenbogen 163 4.4. Regenbogen In den vorgestellten Notizen fällt immer wieder das Wort ‚Regenbogen‘. In „Die Farbe vom Kinde aus betrachtet“ taucht er prominent im zweiten Satz auf: Die Farbe ist etwas Geistiges, etwas dessen Klarheit geistig ist oder dessen Vermischung Nüance, nicht Verschwommenheit ist. Der Regenbogen ist ein reines kindliches Bild. In ihm ist die Farbe ganz Kontur, sie ist die Grenzbezeichnung für den kindlichen Menschen, nicht der schichthafte Überzug der Substanz, wie für den Erwachsenen. (GS VI, 110) In diesem Abschnitt wird der Regenbogen als eine prekäre Grenze vorgestellt. Mittels des Regenbogens wird der Versuch unternommen, ein Paradox auszudrücken. Die Farbe wird wieder als etwas Geistiges charakterisiert, was wohl bedeutet, dass der Raum und die Form eine untergeordnete Rolle spielen. Trotz dieses Umstands möchte Benjamin nicht den Eindruck erwecken, die Farbe ließe sich trotz dieser ‚Formlosigkeit‘ bloß verschwommen wahrnehmen. Mittels der Begriffe ‚Nüance‘ und ‚Kontur‘ wird diesem möglichen Eindruck entgegengewirkt. Der Regenbogen scheint das passende Bild einer ephemeren Grenze abzugeben, die trotzdem Konturen aufweist. In einer anderen Notiz wird der Regenbogen ebenfalls angeführt. Dort steht in einer Klammerbemerkung „Die gleiche versöhnende Macht im Regenbogen als dem Symbol des Friedens“ (GS VI, 123). Die ‚gleiche versöhnende Macht‘ bezieht sich auf die ‚Farben der Phantasie‘. Der vorhergehende Satz lautet: „Das Einende, was hier mit Beziehung auf Licht und Finsternis von der Morgenröte ausgesagt wird, das harmonisch erklingende Farbenspiel eignet durchaus den Farben der Phantasie, die zwischen Aufgang und Untergang spielen.“ Bei diesen Farben wird demnach eine Schwellenhaftigkeit konstatiert, die beispielsweise auch der Morgenröte zugeschrieben wird. Zwar handelt es sich jeweils um eine Grenze, aber um eine formlose. Alleine die Farbe (eine sich verändernde ‚Röte‘) markiert den Übergang. Die hier skizzierte Prekarität des Regenbogens als Grenze, die Schwierigkeit, jene ‚Farben der Phantasie‘ zu fassen, wird in einem Dialog nochmals aufgegriffen, der den Titel „Der Regenbogen. Gespräch über die Phantasie“ trägt und Benjamins damaliger Verlobter, Grete Radt, gewidmet ist. Wie einem Brief an Ernst Schoen zu entnehmen ist (GB I, 261), scheint er anfangs 1915 entstanden zu sein und weist deutliche Bezüge zu den anderen Texten über Phantasie und Farbe auf. Die beiden Protagonisten des Dialogs heißen Margarethe und Georg. Der Dialog beginnt damit, dass Margarethe Georg am Morgen einen 4. Urphänomene der Wahrnehmung 164 Traum mitteilen will, ehe die Erinnerung an ihn verblasst. Bei Georg scheint es sich um einen Maler zu handeln, der am Morgen ganz mit seinen Bildern allein sei und Margarethe deshalb nicht erwartet hätte. Margarethe ist - sagt Georg - durch den Regen gegangen, um zu Georg zu gelangen. Kaum ist sie da, fällt es ihr aber schwer, über ihren Traum zu sprechen, da sich ein Traum „nicht sagen“ lasse (GS VII, 19). Bereits in den Anfangssätzen zeichnet sich ab, dass Bilder oder die Bildlichkeit für den Dialog zentral sind. Margarethe scheint sich bald doch grob zu erinnern, was sie geträumt hat: „Es war eine Landschaft. Aber sie glühte in Farben; ich habe solche Farben noch niemals gesehen. Auch die Maler kennen sie nicht.“ Interessant ist die Formulierung, dass sie solche Farben noch ‚niemals gesehen‘ habe und dass sie sie auch nicht von den Malern kenne bzw. die Maler sie nicht kennten. Georg weiß aber, um welche Farben es sich gehandelt haben muss, er sagt: „Es waren die Farben der Phantasie, Margarethe.“ Margarethe charakterisiert die Farben näher, die Landschaft habe in ihnen geschimmert, die Natur, Blätter, Bäume etc. hätten „unendlich viele Farben in sich“ gehabt. Das ist ebenfalls ein wichtiger Hinweis. Häufig werden im Zusammenhang mit den Farben der Phantasie natürliche Phänomene beigezogen. Die Kunst jedoch scheint mit anderen Farben zu operieren, auch wenn Georg sagt, er kenne diese Farben und sie ‚stünden in ihm‘, wenn er male: „Ich mische die Farben und ich sehe dann nichts als Farbe. Fast sage ich: ich bin Farbe.“ Und Margarethe sagt: „[I]ch war nichts als Sehen. Alle anderen Sinne waren vergessen, verschwunden. […] Ich war keine Sehende, ich war nur Sehen. Und was ich sah, waren nicht Dinge, […], nur Farben.“ (GS VII, 19 f.) Margarethe ist auf ihr Sehen reduziert. Vielleicht kann in diesem Sinne, wie das Fenves in seiner Studie zu skizzieren versucht 16 , tatsächlich von einer Art ‚phänomenologischer Reduktion‘ gesprochen werden, aber es handelt sich um eine, in der das ‚Ich‘ oder das Bewusstsein vollständig zurücktritt. Margarethe räumt ein, dass sie selbst während des ‚Sehens‘ nicht ‚war‘, „nicht mein Verstand, der die Dinge aus den Bildern der Sinne erschließt“ (GS VII, 20) - sie war ‚Sehen‘. Und nicht ‚Dinge‘ sieht sie, denn diese wären durch ihre Form von ihr unterschieden. Sie sieht ‚nur Farben‘ und färbt sich deshalb selbst, wie sie bekräftigt: „Und ich selbst war gefärbt in dieser Landschaft.“ Es ist, wie sie weiter unten sagt, „das reine Aufnehmen im Selbstvergessen.“ Georg präzisiert diese ‚Schau‘ der Dinge, er scheint diese Erfahrung auch schon gemacht zu haben: „Von allem nahm ich nur das wahr, 16 Vgl. Peter Fenves, The messianic reduction, S. 4 oder S. 9, wo davon die Rede ist, dass sich die ‚phänomenologische Reduktion‘ bei Benjamin - falls überhaupt von einem solchen Konzept die Rede sein kann - nicht willentlich erreichen lässt, dass sie Kindern widerfährt oder Margarethe im Traum. 4.4. Regenbogen 165 wodurch ich in den Dingen war: ihre Eigenschaften, durch die ich sie durchdrang. Ich war selbst Eigenschaft der Welt und schwebte über ihr. Sie war von mir erfüllt wie von Farbe.“ Man darf an dieser Stelle nicht vergessen, dass es ein Maler ist, der spricht. Deshalb nimmt der Dialog auch eine ästhetische Wendung. Von dieser eher ‚esoterischen‘ - sprichwörtlichen - Sicht der Dinge kommt der Dialog daher auch auf die Tätigkeit des künstlerischen Bildens zu sprechen, und zwar so, dass irgendeine Ähnlichkeit zu bestehenden ästhetischen Theorien sichtbar wird. Margarethe sagt, die Phantasie sei das „innerste Wesen der Kunst“, worauf ihr Georg widerspricht. Er meint: „Die Kunst schafft. Und sie schafft gegenständlich, das heißt mit Beziehung auf die reinen Formen der Natur. […] Sie schafft nach einem unendlichen Kanon, der unendliche Schönheitsformen begründet.“ Das ist quasi eine Kernaussage der Ästhetik, die Georg proklamiert. Dahinter steckt eine Ästhetik die sich auf so etwas wie ideale Formen bezieht, die nur in der Natur existieren, aber nicht im jeweiligen tatsächlichen Ding verkörpert sind - diese Ästhetik trägt platonische Züge, so dass das Kunstwerk wohl als ‚Bild‘ dritten Grades zu betrachten ist, als Schein des Scheins. Der ‚Kanon‘ - in dem „die innern, die schaffenden Formen des Empfangens“ ruhten - fungiert dabei als ein Medium der Form, auf das letztlich jedes Kunstwerk bezogen bleibt. Das minimalste Merkmal der Malerei sei es deswegen, von der ‚Form‘ auszugehen, die bei ihr das Erfassen des ‚lebendigen Raums‘ bedeute: „Nach einem Prinzip ihn zu konstruieren; denn das Lebendige ist nicht aufzunehmen außer durch Zeugung. Das Prinzip ist ihr Kanon.“ Die Fläche, in der der Raum seiner Unendlichkeit nach ‚lebe‘, sei das Wesen der Malerei. An dieser Stelle schwingt - wie bereits im letzten Kapitel mit Bezug auf die Farbe bemerkt wurde - eine Theorie der Immanenz mit, die sich dieses Mal auf die Fläche bezieht. „Der geistige Grund im Bild ist die Fläche und wenn du wahrhaft sehen gelernt hast, so siehst du: die Fläche erhellt die Farbe, nicht umgekehrt.“ (GS VII, 21) Es ist also nicht die Farbe, mit der der Maler einen Raum oder eine Fläche schafft - die man hier eher ‚Grund‘ nennen möchte -, es ist die Fläche, die in gewisser Weise primordial ist. Das widerspricht nicht der Farben-Theorie, die im letzten Kapitel skizziert wurde. Denn auch im Regenbogen-Dialog ist an dieser Stelle von der ‚reinen Farbe‘ die Rede - und diese ist nicht nur ebenfalls ‚unendlich‘, sie ist auch verschieden von der Farbe der Malerei, die nur ihr Abglanz sei. Aber nicht nur ein Abglanz der ‚reinen Farbe‘ ist die Farbe der Malerei, sondern auch ein Abglanz der ‚Phantasie‘. Die Phantasie nimmt eine besondere Stellung ein. Sie ist in diesem Zusammenhang wiederum keine produktive Einbildungskraft, sondern sie sei empfangend. Dem Künstler erscheine „das Einfach-Schöne, die Vision, das Beglückende des reinen Schauens“ - und dabei handle es sich um eine Art ‚Urbild‘: „Die Muse gibt 4. Urphänomene der Wahrnehmung 166 dem Künstler das Urbild der Schöpfung.“ Und der Schöpfer kenne keine ‚Vorbilder‘. Einer allzu simplen Mimesis-Theorie, die besagte, die Kunst ahme die Natur nach, wird demnach widersprochen. Widersprochen wird auch einer Art Genie-Theorie, die das Moment der Phantasie zu einem Merkmal der individuellen Kreativität erhebt. Phantasie wird zur ‚Gabe der reinen Empfängnis’, die, wie Margarethe sagt, auch in Tanz und Gesang, sogar in „Gang und Sprache“ wie im „reinen Sehen der Farbe“ sei. Das Besondere dieser Phantasie-Theorie ist nun, dass der Farbe in ihr eine Sonderstellung zukommt. Die Farbe entspricht der Phantasie nämlich insofern am besten, als ihr „in dem Menschen kein schöpferisches Vermögen“ entspreche (GS VII, 22). Es gibt zahlreiche künstlerische Eindrucks- und Ausdrucksformen, jedem rezipierten Ausdruck entspricht dabei auch eine Möglichkeit, diesen Eindruck produktiv wiederzugeben - bei der Farbe ist das laut Georg aber anders: Die Linie ist nicht so rein empfangen, weil wir sie durch Bewegung im Geiste verwandeln können und der Ton ist nicht absolut, weil wir die Gabe der Stimme haben. Sie sind nicht von der reinen, unantastbaren, der erscheinenden Schönheit der Farbe. (GS VII, 22) An dieser Stelle setzen im Dialog dann auch wieder anthropologische Spekulationen ein, die denen ähneln, die bereits im Eingangskapitel kurz umrissen wurden. Die Sinne, die sich mit dem Gesicht verbinden lassen, nehmen eine Sonderstellung ein. Diese Sonderstellung rührt daher, dass man von den Eigenschaften der Gegenstände, die durch den Gesichtssinn wahrgenommen werden, in derselben Art und Weise spricht wie von der Sinnestätigkeit selbst. Benjamin bezeichnet diese Vermögen in seinem illustrierten Aufsatz „Aussicht ins Kinderbuch“ als passive. Das Farbensehen gehöre zu den Sinnesbereichen ‚Riechen‘ und ‚Schmecken‘, das sagt auch Georg nochmals 17 : Farbwahrnehmung, Geruch und Geschmack. Sieh, wie deutlich und scharf das die Sprache bezeichnet. Von diesen Gegenständen sagt sie das gleiche, wie von der Tätigkeit der Sinne selbst: sie riechen und schmecken. Von ihrer Farbe aber: sie sehen aus. Denn so sagt man von den Gegenständen niemals, um die reine Form an ihnen zu bezeichnen. (GS VII, 22) Im Grunde genommen sagt ‚Georg’ nicht viel mehr als Benjamin in seiner Aufsatz über das Kinderbuch, dennoch wirft seine Aussage nochmals ein 17 Zur Erinnerung nochmals die Stelle aus „Aussicht ins Kinderbuch“, vgl. GS IV, 614: „Die Sprache selbst faßt in ‚[aus-]sehen’, ‚riechen’, ‚schmecken’, die vom Objekt [intransitiv] wie [transitiv] vom menschlichen Subjekte gelten, diese Gruppe zur Einheit zusammen.“ 4.4. Regenbogen 167 Licht auf Benjamins Einteilung der Vermögen in passive und aktive. Das Gehör scheint zu den aktiven Vermögen zu gehören - was ja zunächst nicht evident ist -, weil es dem Ton zugeordnet wird, der durch den Menschen und seine Stimme hervorgebracht werden kann. Deshalb fungiert nur die Farbe als ‚reine Farbe’, weil sie nicht durch irgendein physisches Vermögen erzeugt werden könne. Die Linie dagegen, die wohl für eine ‚Form’ im Geist steht, und der Ton, sollen durchaus vom Menschen hervorgebracht werden können. Farbe wird zu etwas ‚Reinem’, weil sie sich nicht verformen, aber auch weil sie sich nicht einfach sinnlich empfinden ließe. Sie ist, wie Georgs Dialogpartnerin Margarethe sagt, eine reine „Eigenschaft“, „in nichts“ sei sie „Substanz“ oder bezöge sich auf sie - deshalb habe sie auch keine Eigenschaft (GS VII, 23). Die anderen sinnlich empfangenden Bereiche, etwa Geruch und Geschmack, würden das von ihnen Aufgenommene als Eigenschaft einer Substanz wahrnehmen, die Farbe aber sei ‚rein geistig’. „In der Farbe ist das Auge rein dem Geistigen zugewandt, sie erspart den Weg des Schaffenden durch die Form in der Natur. Sie läßt im reinen Aufnehmen den Sinn unmittelbar auf das Geistige treffen, auf die Harmonie.“ (GS VII, 23) Es scheint so zu sein, dass das ‚reine Aufnehmen‘ kein wirklich sinnliches Aufnehmen mehr ist, sondern eine Art geistige Schau. Das erinnert alles in allem ein wenig an die Urbild-Theorie von Klages, die im ersten Kapitel vorgestellt wurde. Als eine Art ‚Urphänomen‘ der Wahrnehmung scheint die Farbe etwas Drittes zwischen Leib und Geist anzusprechen. Wir erinnern uns, dass der Klages’sche Terminus in „Die Farbe vom Kinde aus betrachtet“ auch tatsächlich gefallen ist. Dort heißt es, wie bereits weiter oben zitiert, dass die Farbe „ohne die Anschauung empirisch zu streifen sogleich auf den geistigen Gegenstand“ ginge: Dabei hebe sie aber auch die „intellektuellen Verbindungen der Seele auf“ und schaffe die „reine Stimmung“ (GS VI, 111). Die Buntheit affiziere „nicht animalisch weil ständig die ungebrochene Phantasie-Tätigkeit der Seele des Kindes“ entspringe. Der Begriff der ‚Seele‘ taucht in diesen Zusammenhängen immer wieder mal auf. Nicht nur in Bezug auf die Farbe fällt er manchmal, auch über die Phantasie heißt es in einer Notiz, die fast ausschließlich diesem Gegenstand gewidmet ist und deswegen gesondert zu betrachten wäre, sie sei „leise beseeligend“ (GS VI, 115). Aber freilich sind auch hier die Voraussetzungen und die Stoßrichtung der Theorie nicht dieselben. Es ist auffällig, dass das, was mit dem ‚Bildlichen‘ in Verbindung gebracht werden kann - Farbe, Phantasie, das Urbild -, mit einer Anfangsfigur belegt ist, nämlich wieder stark mit dem Kind oder dem Kindlichen. Dazu ist später resümierend noch mehr zu sagen. Aber gesagt werden kann bereits an dieser Stelle, dass der Dialog gegen Schluss ebenfalls sehr stark auf das Kind eingeht und 4. Urphänomene der Wahrnehmung 168 seine Stellung im Reigen der Begriffe, mit denen Benjamin jongliert, ausgelotet wird. An die Ausführungen von eben anknüpfend wird den Farben zunächst mit einer stark metonymisch oder gar anthropomorphistisch klingenden Wendung die Fähigkeit zugesprochen, sich selbst zu sehen. Eine ‚materialistische‘ Wendung in diesem Satz bringt die Regenbogenhaut des Auges, die Iris, mit dem Farbensehen zusammen - der Regenbogen ist hier ein Merkmal des Auges selbst: „Die Farben sehen sich selbst, in ihnen ist das reine Sehen und sie sind sein Gegenstand und Organ zugleich. Unser Auge ist farbig. Farbe ist aus dem Sehen erzeugt und färbt das reine Sehen.“ (GS VII, 23) Wie bereits in der Formulierung weiter oben wird eine Art Reziprozität zwischen Subjekt und Objekt des Sehens behauptet. Dieser begegnet man - hier wird eine Parallele zu Ausführungen über das Kind sichtbar - auch in den Texten über das mimetische Vermögen, besonders mit Blick auf das Kind. Die „Farbe ist der reine Ausdruck des Weltanschauens, Überwindung des Sehenden“, wie Georg sagt. Die Überwindung des sehenden Subjekts bedeutet in diesem Kontext einen Durchbruch zu einer synästhetischen Phantasie, die Farbe berühre sich mit Geruch und Geschmack und „die vornehmsten Menschen“ würden „im ganzen Bezirk ihrer Sinne [Phantasie] frei entwickeln“. Georg stellt also die Behauptung auf, dass „erlesene Geister“ auch „Phantasien des Geruchs, ja des Geschmacks rein aus sich selbst empfangen“ könnten, so wie das für die Farbe behauptet wird. Georg nennt Baudelaire als Bürgen und bringt diese Art von Phantasie mit der Unschuld zusammen. Margarethe fragt - und freilich wirkt diese Frage etwas suggestiv -, ob diese wiederum nicht mit dem Kind in Verbindung zu bringen sei: Unschuld nennst du den Bezirk der Phantasie, in dem die Empfindungen noch rein als Eigenschaften an sich selbst leben, ungetrübt noch im empfangenden Geiste. Ist diese Sphäre der Unschuld nicht die der Kinder und Künstler? Ich sehe nun klar, daß beide in der Welt der Farbe leben. Daß Phantasie das Medium ist, in dem sie empfangen und schaffen. Ein Dichter schrieb: „Wäre ich aus Stoff, ich würde mich färben.“ (GS VII, 23 f.) Beim eher unbekannten Dichter, der diesen Satz geschrieben hat, der an das kindliche Verhalten erinnert, wie Benjamin es in seiner Berliner Kindheit schildert, handelt es sich, wie ein Blick in Notizen zeigt, die wohl als Grundlage dieses Gesprächs über den Regenbogen gedient haben, um Benjamins früh verstorbenen Jugendfreund Fritz Heinle. Auch der Aufsatz „Aussicht ins Kinderbuch“ ziert ein Motto Heinles: „Grüne Schimmer schon im Abendrot“ steht unter dem Titel (GS IV, 609). Auf der ersten Seite findet man eine Formulierung, die das erste Zitat Heinles für Benjamin ausdeutet: „Nicht die Dinge treten dem bildernden Kind aus den Seiten 4.4. Regenbogen 169 heraus - im Schauen dringt es selbst als Gewölk, das mit dem Farbenglanz der Bilderwelt sich sättigt, in sie ein.“ Es meistere die „Trugwand der Fläche und zwischen farbigen Geweben, bunten Verschlägen“ betrete es eine „Bühne, wo das Märchen“ lebe. Die Fläche als Barriere überschreitet das Kind, das sich mit dem Märchen-Stoff verbindet, wie die Farben selbst wird es zu einem Diffusen, das die klar gezogenen Formen unterläuft, das als ‚Gewölk‘ in einen osmotischen Farbenaustausch mit dem Bilderbuch tritt. ‚Unschuld’ ist bei Benjamin selten ein ‚unschuldiges’ Wort, ihm eignen häufig theologische Implikationen. So schreibt Benjamin in einem frühen Text über „Das Glück des antiken Menschen“, die Moderne wüsste nicht mehr um die naive Bedeutung der Unschuld. Dem Modernen sei sie eine „mikroskopische Diminutivunschuld, in Form einer Seele, die von der Natur nichts weiß“ (GS II, 127). Ebenso verhielte es sich bei der Vorstellung vom „kindlichen Glück“, da sie auch im „Kinde nicht das fühlende, reine Wesen“ sehe, „dem unmittelbar als einem andern Gefühl zum Ausdruck“ werde, sondern sie betrachte das Kind als „egozentrisches Kind, eines das aus Unwissenheit und Verspieltheit die Natur umdeute[…] und verkleiner[e] zu uneingestandenen Gefühlen“. Georg und Margarethe scheinen da anders zu denken - sie trennen den vollendeten Künstler und das Kind nicht als Subjekt, das durch Reflexion in einen Gegensatz zur Natur gestellt wird. Georg antwortet Margarethe auf das weiter oben platzierte Zitat: „Empfangend zu schaffen ist die Vollendung des Künstlers. Diese Empfängnis aus Phantasie ist keine Empfängnis des Vorbilds sondern der Gesetze selbst. Sie würde den Dichter seinen Gestalten selbst vereinigen im Medium der Farbe. Ganz aus Phantasie schaffen, hieße göttlich sein.“ (GS VII, 24) Aus den ‚Gesetzen‘ schaffen, erläutert Georg, bedeute, frei zu sein von der Beziehung der Gesetze auf Formen. Georg sagt weiter: „Gott schafft aus einer Emanation des Wesens, wie die Neuplatoniker sagen; da dieses Wesen nichts anderes mehr wäre, als die Phantasie, aus deren Wesen der Kanon hervorgeht“. Margarethe entgegnet: „So verweilen nur die Kinder ganz in der Unschuld, und im Erröten gehen sie selbst in das Dasein der Farbe zurück. In ihnen ist die Phantasie so rein, daß sie es vermögen.“ An dieser Stelle findet wieder ein Rückgriff auf die Theorie der Scham statt. Das Erröten in der Scham ist laut dieser Theorie bekanntlich die einzige Möglichkeit, Farbe selbst hervorzubringen. Beinahe beschleicht einen das Gefühl, dass das Kind an dieser Stelle einen göttlichen Abglanz erhält. Denn die ‚Reinheit‘ der kindlichen Phantasie und das Vermögen, Farbe hervorzubringen, legen diesen Schluss nahe. Kompliziert gibt sich der Dialog an dieser Stelle vor allem deshalb, weil von diffusen Konzepten wie etwa der Göttlichkeit die Rede ist, vom Kind, das in Bezug auf die Farbe emanative Fähigkeiten hat, und letztlich auch 4. Urphänomene der Wahrnehmung 170 vom Künstler, der aber im Gegensatz zum Göttlichen und dem Kind um die Form, die für die beiden erstgenannten Figuren keine Rolle zu spielen scheint, kaum herumkommt. Ein zentraler Begriff in diesem Zusammenhang ist deshalb auch der Begriff des ‚Kanons’, weil er als Basis zur Schöpfung künstlerischer Formen vorgestellt wird. Es dürfte sich abgezeichnet haben, dass im Rahmen der im Dialog konzipierten Auffassung von Schöpfung und Phantasie eigentlich nichts der Phantasie zugrundeliegen darf. Die Phantasie kennt keine sie dirigierende Instanz, nichts, aus dem sie beispielsweise ‚schöpft‘. Der ‚Kanon‘ kann in dieser Logik also nur aus ihr hervorgehen. So sagt ja Georg, wie oben zitiert, deutlich, dass die Empfängnis aus Phantasie die Empfängnis der Gesetze selbst sei. Just in dem Moment, wo sich die beiden über eine Art ‚reine‘ Phantasie sprechen, über die göttliche Phantasie als Emanation, aus der der Kanon - wiederum als Grundbedingung der Form - hervorgeht und über die kindliche Phantasie, die so „rein“ ist, dass sie es vermag, im Erröten ins „Dasein der Farbe zurück“ zu gehen, bemerkt Margarethe einen Regenbogen: „- Aber sieh, es hat zu regnen aufgehört“, meint sie unvermittelt, „Ein Regenbogen.“ Daraufhin entgegnet Georg: Der Regenbogen. Sieh ihn an; er ist nur Farbe, nichts an ihm ist Form. Und er ist das Sinnbild des Kanons, wie er göttlich aus der Phantasie hervorgeht, denn in ihm ist die Folge der Schönheit die der Natur. Sein Schönes ist das Gesetz selbst, nicht mehr in Natur nicht mehr im Raum verwandelt, nicht mehr durch Gleichheit, Symmetrie und Regeln schön. Nicht mehr durch Formen, abgeleitet aus dem Kanon, nein, in ihm selbst schön. In der Harmonie, da Kanon und Werk zugleich ist. (GS VII, 24) Eine doppelte Aufforderung zu sehen begleitet das Naturphänomen. Margarethe und Georg geben sich imperativisch vor, zu sehen. Beinahe erhält man das Gefühl, es bräuchte, gerade weil der Regenbogen - obwohl es sich um einen ‚Bogen‘ handelt - nicht primär alleine durch seine Form, vielmehr durch das Zusammenspiel der Form mit den diffusen Farben bewundert wird, und möglicherweise, weil er kein perspektivenunabhängiges Phänomen ist, eine nachdrückliche Aufforderung zu sehen, um ihn wahrzunehmen. Der Regenbogen ist das ‚Sinnbild‘ des ‚Kanons‘, der, wie Georg weiter unten sagt, in der „reinen Anschauung“ stehe und „allein in der Farbe“ erscheine. Der Regenbogen ist von ‚immanenter‘ Schönheit, weil er als etwas Prä-Transzendentes gedacht wird, er ist - wie Georg über die Farbe sagt - „wirklich Urbild der Kunst nach ihrem Dasein in der Phantasie“. Er fungiert als eine Art Schwellenphänomen, zwischen Regen und unbestimmtem Ende des Regens. Wenn er der Form nicht untergeordnet werden kann, handelt es sich wohl um eine Art ausdruckslose Erschei- 4.4. Regenbogen 171 nung, die - gerade weil seine Schönheit das Gesetz selbst ist - etwas zutiefst Verbindendes hat - ein verbindendes Moment trotz aller Distinktion. Der Regenbogen ist, Benjamin erinnert selbst daran, ein Symbol des Friedens; ihm eigne eine „versöhnende Macht“ (GS VI, 123) wie den Farben der Phantasie, die zwischen Aufgang und Untergang spielten. Er ist ja nicht zuletzt ein Symbol des Bundes zwischen Gott und dem Menschen in einer Situation, in der es um Aufgang und Untergang geht (Noah). Dieses verbindende Moment greift Georg auch mit Bezug auf die Phantasie auf, wenn er sagt, die Natur lebe „innerst in ihr, als die Gemeinschaft aller Dinge, die nicht schaffend, nicht geschaffen wurden“. Sie lebt also in einer Gemeinschaft der Dinge, die noch nicht ausdifferenziert wurden, die aber als Dinge durchaus voneinander distinguiert sind. Der Regenbogen entspricht demnach einer Logik der Immanenz. Der Regenbogen markiert keine klare Grenze, er ist ein ‚feuchtes‘ Phänomen. Von ‚Feuchte‘ und ‚feuchten Farben‘ ist im Zusammenhang mit der Phantasie bei Benjamin oft die Rede (vgl. beispielsweise GS III, 417 oder GS VI, 110). Und so wässrig oder fließend wie der Regenbogen selbst sind auch die Übergänge zwischen seinen Farben. Diese Fluidität der Farben wird immer wieder thematisiert, Georg geht auch darauf ein. Wie bereits oben skizziert, erläutert Georg den immanenten Charakter der Farben. Er sagt, die Farbe sei „ohne Übergänge und spiel[e] doch in unzähligen Nüancen“. Sie sei „feucht, verwisch[e] die Dinge in der Färbung ihrer Kontur“ - sie sei, der Status des Begriffs ist bekannt, weil er bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit rund um die immanente Logik der Sprache im frühen Sprachaufsatz zur Sprache kam - ein „Medium, reine Eigenschaft von keiner Substanz, bunt und doch einfarbig, eine farbige Ausfüllung des einen Unendlichen durch Phantasie.“ (GS VII, 25) Farbe ist ein Medium. Und ein Medium ist kein Mittel, deshalb ist sie keine Eigenschaft einer Substanz und vereinigt als ‚reine Eigenschaft‘ paradoxerweise völlig kontradiktorische ‚Eigenschaften‘. Ein wenig willkürlich klingt die Auswahl der Phänomene, von denen die Phantasie ‚Farbe sei‘. „Sie ist die Farbe der Natur, der Berge, Bäume, Flüsse und Täler, aber vor allem der Blumen und Schmetterlinge, des Meeres und der Wolken. Durch die Farbe sind die Wolken der Phantasie so nahe“, sagt Georg. Diese Affinität für die Farben der Landschaft findet man auch in Benjamins Briefen. An Fritz Radt, den Bruder von Grete Radt, der der Regenbogen-Dialog gewidmet ist, schreibt er vom ‚malerischen‘ Tegernsee: Am schwarzwolkigen Abend bei Wind und wenigen Sternen, als kein Regen mehr fiel, gingen wir lange am See. Heute brach nun am Mittag weiße Sonne aus den Wolken und wir stiegen den Abhang gegen den blauen Himmel gerade empor. Vor uns standen Bäume voll gelben Laubs und die 4. Urphänomene der Wahrnehmung 172 schwach beschneiten Berge dahinter. Schnell verwandelte sich die klare Bläue zu glanzlosen Schneewolken die überall matt übers Gebirge zogen. Es wurde kalt und wir gingen in unsre schönen Zimmer. In Gretes stehen zwei kräftige weiße Rosen. (GB I, 287) Es fällt auf, dass hier relativ wenige ‚Farben‘ beschrieben werden, verschiedene Blautöne, das gelbe Laub, ansonsten ist nur von Weiß und Schwarz die Rede. Letztlich ist es auch Schwarzaufweiß, das diese Farben evoziert, die Buchstaben des Briefes. Auffällig ist auch, dass diese Fluidität der Farben, die hier im Brief vom Tegernsee malerisch wiedergegeben werden, bereits in der Verbindung von Kindheit und Farbe zur Sprache gekommen sind. Das wurde bereits weiter oben, im Zusammenhang mit den Texten zu den farbigen Kinderbüchern kurz erwähnt, und taucht auch im Regenbogen-Dialog wieder auf. Margarethe erinnert sich nämlich an ihre Kindheit: Eine Welt von Erinnerung ist um mich. Ich denke an die Farben der Kinder. Wie ist sie dort überall das rein Empfangene, der Ausdruck der Phantasie. Verweilen innerhalb der Harmonie, über der Natur in Unschuld. Das Bunte und Einfarbige, die schöne seltsame Technik meiner ältesten Bilderbücher. Weißt du, wie dort überall die Konturen in einem regenbogigen Spiele verwischt waren, wie Himmel und Erde mit durchsichtigen Farben getuscht waren! Wie die Farben geflügelt immer über den Dingen schwebten, sie recht sehr färbten und verschlangen. Denke an die vielen Kinderspiele, die alle auf die reine Anschauung in der Phantasie gehen! Seifenblasen, Teespiele, die feuchte Farbigkeit der Laterna magica, das Tuschen, die Abziehbilder. Immer war die Farbe möglichst verschwommen, auflösend, ganz monoton nüanciert, ohne Licht- und Schattenübergänge. Wollig manchmal, wie bunte Wolle zum Ausnähen. Es gab keine Mengen, wie in den Farben der Malerei. Und scheint es dir nicht, daß diese eigene Welt der Farbe, die Farbe als Medium, als Raumloses, vortrefflich durch Buntheit dargestellt war? Eine zerstreute, raumlose Unendlichkeit der reinen Aufnahme, so war die Kunstwelt des Kindes gebildet. (GS VII, 25) In diesem längeren Dialogausschnitt erinnert sich Margarethe also an die Bilderbücher ihrer Kindheit. Ein wenig stakkatoartig reiht sie zunächst ein paar Sätze aneinander, malt mittels Worten selbst eine Art buntes ‚Bild‘, das die Grenzen zwischen Erinnerungen und theoretischen Feststellungen verwischt. Von den Bilderbüchern, ihren Illustrationen, die eine tiefe Wirkung auf sie gemacht haben müssen, esoterisch anmutenden Bemerkungen zur Passivität der Phantasie, der Harmonie und Unschuld, kommt sie plötzlich auch auf Kinderspiele zu sprechen, denen gemeinsam ist, dass sie visuelle Bilder oder Eindrücke liefern, die verschwommene Farbübergänge aufweisen. 4.4. Regenbogen 173 Die Seifenblasen, das Tuschen, das Verschwimmen deckt sich stark mit den Kinderspielen, die im ‚Farben‘-Text der Berliner Kindheit beschrieben werden. Dort geht es nämlich auch um das mimetische Wechselverhältnis zwischen dem Kind und seiner farbigen Umwelt. Das Kind nimmt die Farben seiner Umwelt auf und begibt sich gleichzeitig chamälaonhaft in sie hinein. So werden die farbigen Fenster eines ‚morschen Pavillons‘ geschildert, die den Effekt haben, dass die Außenwelt in verschiedene Farben getaucht wird, wenn man in seinem Innern an ihnen vorbeigeht. Durch den Umstand, dass das Sonnenlicht in diese Fenster fällt, färbt sich beim Betrachten der farbigen Landschaft jenseits der Fenster auch das Kind diesseits. Das farbige, wandelbare Subjekt der Berliner Kindheit meint daraufhin vergleichend: Es ging mir wie beim Tuschen, wo die Dinge mir ihren Schoß auftaten, sobald ich sie in einer feuchten Wolke überkam. Ähnliches begab sich mit Seifenblasen. Ich reiste in ihnen durch die Stube und mischte mich ins Farbenspiel der Kuppel bis sie zersprang. Am Himmel, mit einem Schmuckstück, in einem Buch verlor ich mich an Farben. (GS IV, 263) Diese Hingabe oder dieser Selbstverlust an die Farben passt zur ‚raumlosen Unendlichkeit der reinen Aufnahme‘ die Margarethe im Zitat aus dem Regenbogen-Dialog schildert. Es geht hier nicht mehr um die zweidimensionale Fläche des Kinderbuchs, der Staffelei oder der Leinwand. Auch übersteigt diese Rezeptions- und gleichzeitige Verhaltensfähigkeit den dreidimensionalen Raum, in dem sich eine Seifenblase bewegt oder den das farbige Fenster als Medium der Betrachtung erzeugt. Die kindliche Phantasie übersteigt den Raum und die Möglichkeit, eine Farbe im Raum klar zu verorten. Die kindliche Phantasie zeichnet sich durch farbige Wandelbarkeit aus, sie bringt die Farbe nicht hervor, sie gibt sich in sie hinein. Wenn Benjamin am Lesen- oder Schreibenlernen, an der Rezeption, v.a. aber auch Funktion der Farbe interessiert ist, dann nicht bloß um abstrakter, anthropologischer Interessen willen. Was in anderen Kontexten, nämlich etwa im Kontext der Passagen-Arbeit oder bei den pädagogischen Überlegungen zum proletarischen Kindertheater, offensichtlicher ist, scheint hier nur verschleiert durch. Es erfordert schließlich Abstraktionsvermögen, um von der Wandelbarkeit der Farbe den subversiven Charakter des Kinderspiels herauslesen zu wollen. In „Die Farbe vom Kinde aus betrachtet“ heißt es, dass die Farbe „das Einzelne“ sei, „aber nicht als tote Sache und eigensinnige Individualität, sondern als Beflügeltes, welches von einer Gestalt zur anderen überflieg[e]“. Wie um es diese permanente Gestaltwandlung zu illustrieren, schiebt Benjamin nach: „Kinder machen Seifenblasen.“ (GS VI, 110) 4. Urphänomene der Wahrnehmung 174 Benjamin differenziert zwischen den Sinnesvermögen der Erwachsenen und der Kinder, wenn er schreibt, dass bei Kindern „die Differenziertheit innerhalb einer Sinnesauffassung (Gesicht, Gehör u.s.f.) [vermutlich] größer als beim Erwachsenen“ sei. Außerdem sei der kindliche Gesichtssinn besonders ausgeprägt: Die kindliche Auffassung der Farbe bringt den Gesichtssinn zur höchsten künstlerischen Ausbildung, zur Reinheit, indem sie ihn isoliert, sie erhebt diese Bildung zu einer geistigen, da sie die Gegenstände nach ihrem farbigen Gehalt anschaut und folglich nicht isoliert, sondern sich die zusammenhängende Anschauung in ihnen sichert. (GS VI, 110) Kinder schaffen also einen Zusammenhang, wo eigentlich Disparates verstreut auf eine Wahrnehmung wartet, die den reinen Gesichtssinn übersteigen würde. Die kindliche Wahrnehmung schafft diesen Zusammenhang durch die Fähigkeit, mittels ihres übersteigerten Gesichtssinns und ihrer Phantasie, farbige Gehalte zu verbinden. Damit ist eine lebendige Art der Wahrnehmung angesprochen, die so etwas wie voneinander isolierte Formen, die als distinkte und mittels mehrerer Sinne in eine Beziehung gebracht werden, nicht kennt. Die lebendige Wahrnehmung des Kindes geht von farbigen Gehalten oder Intensitäten aus, von einer Art Ebene der Immanenz vielleicht. Eine nicht-lebendige Form der Wahrnehmung hingegen, jene des Erwachsenen, „der die sogar entwickelte Korrespondenz verschiedner Sinnesvermögen hat“, ist eher eine transzendent zu nennende Wahrnehmungsweise, die nicht ‚rein empfänglich‘ ist wie jene des Kindes, sondern auf eine ‚unschöpferische’ Weise ‚produktiv‘. Über Erwachsene heißt es: „Erwachsene, produktive Menschen finden an der Farbe keinen Halt, für sie ist sie nur in gesetzlichen Beziehungen möglich, denn sie haben eine Weltordnung zu geben, aber nicht die innersten Gründe und Wesensarten aufzufassen, sondern eben sie zu entwickeln.“ (GS VI, 111) Erwachsene hätten, wie es heißt, eine Weltordnung zu geben, Farbe nehmen sie nur in gesetzlichen Beziehungen wahr, d.h. die Zusammenhänge und Formen, die sie den farbigen Dingen oder der Farbe geben, ist transzendent, von ihnen gesetzlich gestiftet. Kinder hingegen fassen, will man die negativ gegebene Charakterisierung des erwachsenen Umgangs mit der Farbe im eben zitierten Satz auf den kindlichen als seinen Gegensatz verstehen, die innersten ‚Gründe’ und ‚Wesensarten’ auf; oder eben, wie weiter oben festgehalten wurde, ‚Gehalte’. Die Rede vom Gehalt erinnert übrigens durchaus an den Versuch Benjamins, in seiner Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der Romantik Goethes Position bezüglich des ‚Inhalts’ eines Kunstwerks zu erfassen. Dort ist öfters vom Gehalt die Rede, oder auch vom Ideal oder Urbild. 4.4. Regenbogen 175 Goethe wird in Benjamins Beschreibung die Rolle zuteil, dem ‚Inhalt’ des Kunstwerks mit seiner Theorie des Ideals adäquat begegnet zu sein, wohingegen die Romantiker mit ihrem Begriff der ‚Idee’ eher auf das Problem der ‚Form’ reagiert hätten. Damit versucht Benjamin, zwei zentrale Kategorien der ästhetischen Theorie um Achtzehnhundert aufzugreifen und quasi schablonenhaft mit idealtypischen Standpunkten - Goethe auf der einen Seite, die Frühromantiker auf der anderen - zu verbinden. Um die Position Goethes, wie sie sich Benjamin darstellt, kurz zu rekapitulieren: Bei Goethe fungiert das Ideal als Einheit, im Grunde als Urbild, das in keinem singulären Werk auffindbar ist. Goethe bringt mit seinem Begriff des Urbilds oder Urphänomens Erzeugnisse der Kunst mit der Sphäre der Natur zusammen. Benjamin meint, dass er die Natur selbst gar „zum Urbild der Kunst (zum reinen Inhalt) zu machen“ bestrebt sei (GS I, 112). 18 Das einzelne Werk muss in puncto Vollkommenheit hinter sein Ideal, d.h. die Natur selbst, zwingend zurückfallen: ihm gegenüber muss es Torso bleiben, es kann seinen Urbildern immer nur ‚gleichen’ und kommt nicht an sie heran. 19 Dem einzelnen Werk ist es nach dieser Auffassung außerdem auch nicht vergönnt, in Gemeinschaft mit anderen Werken zur Einheit des Ideals „lebendig zusammenzuwachsen“ (GS I, 114). Benjamin interpretiert das Ideal der Kunst oder den ‚Gehalt‘, wie er das Ideal auch nennt, als eine Einheit, die nicht als ein Medium verstanden werden darf, das „den Zusammenhang der Formen in sich birgt und aus sich bildet“ (GS I, 111), vielmehr identifiziert er es mit den Musen, mit einer „begrenzten Vielheit reiner Inhalte, in die es sich zerlegt“. Das Musi- 18 Der Naturbegriff, den Benjamin hier bei Goethe herauszuarbeiten meint, führt bezogen auf die Kunst nicht zu einem Naturalismus. Mit Blick auf Zeuxis und die gemalten Trauben, die von Vögeln irrtümlicherweise für echte gehalten werden, spricht Benjamin bezüglich Goethe von einer „wahren Natur“, von einer „urphänomenalen Natur“, die sich vielleicht erst in der Kunst überhaupt darstellt. Benjamin stellt sich vor, dass diese „wahre Natur“ in der Welt selbst „zwar präsent aber verborgen (durch die Erscheinung überblendet)“ sei (GS I, 113). 19 Diese Idee zieht sich durch bis in die Lebensphilosophie von Ludwig Klages, den Benjamin bereits 1914 zu einem Vortrag über Graphologie vor der „Freien Studentenschaft“ in Berlin eingeladen hatte. Klages schreibt in seinem wichtigen Buch über „Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft“ (1913): „Wenn aber im neuen Individuum weder das alte Individuum noch auch dessen Materie erhalten bleibt, was ist es denn eigentlich, das durch Abertausende von Geschlechtern ununterbrochen h i n d u r c h r e i c h t ? Die Antwort lautet: ein B i l d ! […] ‚Fortpflanzung’ heißt der physikalisch ewig unzugängliche Vorgang der Weitergabe des Urbilds der Gattung von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit. Das wandernde aber ist ein s i c h w a n d e l n d e s Bild, und unser Vermögen des Wiedererkennens der Gattung in jeglichem Einzelträger zusamt der Befähigung, nach jener ihn zu benennen, gründet wiederum im Erlebnis der Ä h n l i c h k e i t . “ Vgl. Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, 2. Auflage, Leipzig 1921, Sperrungen im Original. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 176 sche ist das Ideal, dem die Werke immer nur zu ‚gleichen‘ vermögen. Vielleicht kann man also das kindliche Verhältnis zu Farbe und Phantasie auch ‚musisch’ nennen. Freilich ist keine klare Analogie zwischen der Urbild- Theorie, wie sie im Kunstkritik-Text dargestellt wird, und der Theorie der Farbe und Phantasie, wo sie sich auf das Kind bezieht, aufzustellen. Denn es wird in der Dissertation klar von Kunstwerken gesprochen, die sich auf eine bestimmte Art und Weise zur Natur als Vorbild verhalten. Interessant scheint mir aber, dass diese Seite des Urbilds, des Ideals oder Gehalts auch bei der kindlichen Farbwahrnehmung eine Rolle zu spielen scheint. Den Erwachsenen hingegen wird ein Verhalten gegenüber Farbe zugesprochen, das eher dem Verhalten der Romantiker gegenüber den Kunstwerken entspricht. Die Erwachsenen nehmen im Medium der Form wahr. Benjamins Satz, dass „Phantasie […] sich nämlich niemals auf die Form beziehen [kann], die Sache des Gesetzes ist“, sondern „nur die lebendige Welt vom Menschen aus schöpferisch im Gefühl an[zu]schauen“ vermag (GS VI, 111), unterstreicht das. Erwachsene scheinen wenig bis keine Phantasie zu haben, ihre Farbwahrnehmung ist von der Formwahrnehmung geprägt. Im Grunde geht es Benjamin in seiner Dissertation auch um die Frage der Kritisierbarkeit von Kunstwerken, sie heißt ja „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“. Da sich Goethe am Ideal aufhält, ist für ihn kein Kunstwerk tatsächlich kritisierbar, es bleibt gegenüber dem Ideal notwendig schlicht unvollkommen. Bei den Romantikern hingegen ist Kritik und die Kritisierbarkeit von Werken integraler Bestandteil ihrer Kunsttheorie. Mit Goethes Torso-Gedanken und mit dem Charakter des Zufälligen am Kunstwerk hätten die Romantiker, schreibt Benjamin, vor allem Friedrich Schlegel rezipierend, nichts anfangen können. Die ‚Idee’ steht bei ihnen über allem, die ‚Gesetzmäßigkeit’, nicht der Zufall, sei bei ihnen entscheidend. Kritik ist das Medium, dass erst zu einer Vervollkommnung des Kunstwerks führt: „Indem es sich in seiner Form beschränkt, macht es sich in zufälliger Gestalt vergänglich, in vergehender Gestalt aber ewig durch Kritik.“ (GS I, 115). Die Charakterisierung der romantischen Kunsttheorie, die Benjamin in seiner Dissertation erarbeitet, soll wohl auch erklären, weshalb Frühromantikern wie Friedrich Schlegel oder Novalis nicht der Vorwurf gemacht werden könne, keine großen Dichter gewesen zu sein: der Stellenwert der Kritik und der Sympoesie innerhalb ihres theoretischen Horizonts lässt gerade das als Ziel ihres poetischen Schaffens obsolet erscheinen. Eine klare Zuteilung der Charakterisierung der frühromantischen Kunsttheorie zum erwachsenen Umgang mit Farbe und Gesetzen, wie sie auf den vorigen Seiten rekonstruiert wurde, ist wohl kaum befriedigend zu leisten. Die Analogie greift - trotz der Affinität zur Form - nicht ganz. Denn auch bezüglich der Romantiker bzw. ihrer Dichtung beobachtet Ben- 4.4. Regenbogen 177 jamin, sie sei „sowohl regellos“ wie „maßlos“ (GS I, 119), da sie den Begriff der Schönheit verwerfe und damit auch das Maß, welches für Goethe im Gehalt in Erscheinung trete. Schließlich spricht Benjamin ja auch häufig von den romantischen Malern und Koloristen, die dem Geist der Kinderspiele mit ihren Illustrationen entsprochen hätten. Um das „Fühlen“ dieser romantischen Illustrationen zu beschreiben, zieht er aber in „Aussicht ins Kinderbuch“, wie weiter oben bereits gezeigt wurde, ausgerechnet Goethe und seine Farbenlehre heran (vgl. GS IV, 614). Goethe und die Gestaltung stehen aber der Form und der Entformung bzw. Entstaltung, die die Phantasie bewirkt, laut Benjamin selbst diametral entgegen. Die These, dass die Farb- und Phantasietheorie, die Benjamin rund um das Kind aufbaut, aber trotzdem stark von seiner Goethe-Interpretation geprägt ist, wurde bereits ersichtlich durch den Zusammenhang, der zwischen all diesen Notizen mit der Arbeit am Wahlverwandtschaften-Essay besteht. Immer wieder tauchen deshalb Formulierungen auf, die diese Nähe zu untermauern scheinen, etwa solche, die die Urphänomen- Thematik ins Spiel bringen. Heinz Brüggemann hält in seiner Studie zu „Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie“ fest, dass das Verb ‚gewahren‘ in Benjamins Satz, die Phantasieanschauung ließe sich im Gegensatz zur schöpferischen Einbildung im Farbensehen als „Urphänomen gewahren“ (GS IV, 613), den zweideutigen Charakter von Abstraktion und Wahrnehmung habe, der auch dem zweideutigen Charakter des Urphänomens selbst, als abstrakte Idee und gleichzeitig real existierende Naturform, entspreche. Die „problematische Zweideutigkeit“ der Urphänomene bestehe nämlich laut Heinz Brüggemann „darin, daß die ‚Idee der Natur’ im Urphänomen zum einen als gedanklich konstruierte erscheint, sich zum anderen als real existierende Urform soll auffassen lassen, mithin auch wirklich anschaubar, in der Natur emphatisch wahrnehmbar sein will. Diese Reflexionen muß man sich vergegenwärtigen, wenn Benjamin für die selbstgenügsam prangende Farbenwelt des Lyser, aber auch für die wahlverwandte Dichtung Jean Pauls, den Begriff des Urphänomens in Anspruch nimmt, und auch ganz explizit von der Phantasieanschauung so handelt, daß sie sich im Farbensehen ‚als Urphänomen’ gewahren lasse.“ 20 Was Brüggemann hier so selbstverständlich formuliert, ist nicht so einfach zu verstehen. Vor allem letzteres - die Anschauung einer real existierenden Urform - ist gedanklich wohl konstruierbar, es darf aber bezweifelt werden, dass dieser Wahrnehmungsmodus realiter und in seiner Gänze anders als in seiner Potenz existiert. Am ehesten könnte man dieses Konstrukt - 20 Vgl. Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, S. 211. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 178 dieser bloß potentiell zu erlangende Wahrnehmungsmodus -, dem man sich durch die Negation des Aktuellen und durch Abstraktion nähert, mit dem in Verbindung bringen, was Peter Fenves mit Blick auf die phänomenologische Reduktion ‚messianische Reduktion‘ nennt. 21 In dem hier vorgestellten Zusammenhang kann dieser Zustand mit dem Kind assoziiert werden, dem man sich ja genauso negativ annähert wie diesem Wahrnehmungsmodus selbst. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass all die hier skizzierten Phänomene - um mit Fenves zu sprechen - ‚messianische‘ Züge tragen, aber vielleicht reicht diese Charakterisierung noch nicht aus. Die Phantasieanschauung als ‚Urphänomen’, als Intensität und eher der Immanenz zuzurechnendes Phänomen, ist im Horizont der hier vorgestellten Studien und auch im Regenbogen-Dialog ein integraler Bestandteil der Charakterisierung des Kindlichen. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Auch wenn vorhin gesagt wurde, die Form entspreche eher dem Erwachsenen, so lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die Kindheit ebenfalls von der Form bestimmt wird, etwa wenn es um die ‚Entstaltung’ geht oder aber auch um das mimetische Vermögen. Das mimetische Vermögen als eines der zentralen Vermögen des Kindes bezieht sich meist auch auf die Form - es sei denn, man würde das ‚Unsinnliche‘, von dem Benjamin bezüglich des mimetischen Vermögens häufig spricht, so stark abstrahieren, dass es sich nur noch auf ein rein Geistiges beziehen ließe. Das ist nicht so abwegig, wie es klingt, da die ‚unsinnliche‘ Ähnlichkeit sich ja tatsächlich auf ‚Geistiges‘ bezieht. Aber ‚unsinnliche‘ Ähnlichkeit ist nicht die einzige Art von Ähnlichkeit, von der Benjamin mit Blick auf das Kind spricht. Oftmals zeugen seine Beispiele von sinnlicher Ähnlichkeit. Und gerade in dieser Hinsicht kommt letztlich die Form ins Spiel. Benjamin hält bekanntlich fest, dass der Wahrnehmung der Form das Vermögen entspreche, das Wahrgenommene mimetisch zu reproduzieren: Farbe als etwas Formloses kann der Mensch nach Benjamin - als eine etwas mystisch anmutende Ausnahme scheint das Erröten zu fungieren 22 - nicht 21 Vgl. Peter Fenves, The messianic reduction, S. 2: Fenves beschreibt dort, wie Benjamin eine eigene Version der Reduktion erstrebte. Husserls Reduktion habe zum Ziel, eine Haltung reiner Rezeptivität zu erlangen, die es dem Phänomenologen ermögliche, Phänomene - unabhängig von irgendwelchen Störungen des Bewusstseins, durch theoretische Vorannahmen etc. - so wahrzunehmen, wie sie tatsächlich seien. Benjamin dagegen sei nie davon ausgegangen, dass es einen unmittelbaren Zugang zu den Phänomenen geben könne. Erst der Messias könne eine vollständig ‚reduzierte‘ Sphäre schaffen. Eine Vorahnung diese Sphäre gebe jedoch der Affekt der Scham. 22 Brüggemann spekuliert in diesem Punkt, Georges Didi-Hubermans Studie über „Die leibhaftige Malerei“ zitierend, dass Benjamin möglicherweise „hier in verschobener Form die farbtheoretische Diskussion über das Inkarnat, die Farbe der menschlichen Haut, hat aufnehmen wollen, gewissermaßen des Kolorits par excellence, das ‚dem kategorischen Imperativ eines Dazwischen [entre-deux]: zwischen Oberfläche und Tiefe’ untersteht.“ Vgl. Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, S. 214. Wie wir 4.4. Regenbogen 179 selbst hervorbringen. Das Kind ist also nicht einfach über eine Zuteilung zu Goethe’schen Theoremen zu verstehen. Es enthält Elemente des Romantischen, verbindet also Inhalt und Form auf komplexe Weise in demselben Phänomen - nämlich Farbe und Phantasie in der Anschauung - und über dieses Phänomen hinaus auch auf einem anderen, mit dem Bereich der Anschauung verwandten Gebiet, wo es leicht variiert ebenfalls Inhalt und Form spielerisch vermittelt: nämlich im Ausdruck. Das Kind ist also einerseits stark dem Bereich der Phantasie zugeordnet, es nimmt in diesem Bereich die Dinge wahr, nimmt Farbe auf, färbt sich selbst, wird von der Phantasie wie ein Fließblatt aufgesogen. Phantasie drückt sich nicht positiv aus, von Phantasie spricht Benjamin in inversen Kategorien. Sie ‚entstalte‘, wie er in einer Notiz über die Phantasie schreibt. Sie löse Gebilde auf, unterscheide sich aber „von allem zerstörerischen Verfall der Empirie durch zwei Momente“: Sie sei „erstens zwanglos“, komme „aus dem Innern“, sei „frei und daher schmerzlos, ja leise beseeligend“ und führe zweitens „niemals in den Tod, sondern verewig[e] den Untergang den sie heraufführ[e] in einer unendlichen Folge von Übergängen.“ (GS VI, 115) Dieser Schwellenhaftigkeit entspricht teilweise nicht nur die Kindheit selbst, auch das Kinderspiel und gewiss auch ein etwaiger schriftlichsprachlicher Ausdruck, der das Kind nach und nach erlernt, sind schwellenhaft. Gewiss muss berücksichtigt werden, das im Zusammenhang mit dem Bilderbuch und einfachen Kinderspielen einerseits eine kindliche Ausdrucksfähigkeit angesprochen wird, die noch vorschriftlicher Natur ist, andererseits werden aber dennoch Prozesse thematisiert, die mit Kritzeleien oder dem Schreibenlernen im Umgang mit Lesefibeln zusammenhängen. Letzteres steht klar im Zeichen des Gesetzes, die Schrift markiert den Übertritt in das Reich des Erwachsenen. Dabei zeichnet sich eine dialektische Bewegung ab. Es handelt sich um eine Dialektik der Farben, der Phantasie und bildlicher Phänomene, die gesehen haben, hat das Erröten bei Benjamin tatsächlich mit Blick auf Goethes Farbenlehre in ‚verschobener Form‘ mit dem Inkarnat zu tun, Brüggemanns Intuition zielt in die richtige Richtung. Auch wenn die Sache mit dem ‚Dazwischen‘ intuitiv richtig ist, so führt aber der Punkt mit der Tiefe auf eine falsche Fährte, weil er paradigmatisch von der Malerei ausgeht, auf die Benjamin mit seinen Thesen über die Scham und das Erröten nicht abzielt. Zwar ist die ‚Schwellenhaftigkeit‘ - vielleicht an dieser Stelle ein besserer Begriff als das ‚Dazwischen‘ - wichtig, aber eher mit Bezug auf die Fluidität der reinen Farben und die Fluidität der Phantasie. Das Inkarnat ist bloß die unscheinbare Folie, auf der die einzig mögliche Weise des Farbenausdrucks durch den Menschen geschehen kann, die, wie zu zeigen versucht wurde, gerade eigentlich ‚ausdruckslos‘ ist. Im Lichte der kritischen Bewegung, die der Ausdruckslosigkeit zugeschrieben wird, geht es also nicht um die vollkommene Farbe in der Malerei, eher um die Demaskierung der Unvollkommenheit eines jeden Ausdrucks, der als schöner Schein zu walten fähig ist. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 180 eine Art Vorstufe und dann Nebenstufe der Formenproduktion und des formellen Ausdrucks bilden. Von den Eindrücken der Phantasie und der Immanenz der Farben findet eine Verschiebung zum Ausdruck, zur Form, zur Transzendenz statt. Und dort wiederum, wenn man dem hier nur äußerst grob skizzierten Schema folgen will, ist eine Konfrontation mit Phänomenen möglich, die durch ihre Schwellenhaftigkeit nochmals die Verhältnisse im Ganzen selbst beleuchten, eine vermeintliche Chronologie und ein vermeintlicher Fortschritt durchkreuzen und eine Art Intervall setzen. Möglicherweise führt eine solche Logik des Intervalls mehr als jedes andere hier vorgestellte Phänomen zu jener Art von ‚Reduktion‘, die mit Peter Fenves vorhin angesprochen wurde. 4.4.1. Malen und Zeichnen Eines dieser Schwellenphänomene, die keinen klaren Übertritt vom einen Phänomen zum anderen markieren, sondern eine schwer fassbare Zwischenstufe einschalten, ist beispielsweise das Tuschen. Benjamin schreibt, und seine Worte scheinen fast nur diese Ausnahme zuzulassen: Der einzige Fall, in dem Linie und Farbe sich zusammenfinden, ist das getuschte Bild, auf dem die Konturen des Stiftes sichtbar und die Farbe durchsichtig aufgetragen ist. Der Untergrund ist dort, wenn auch gefärbt, erhalten. (GS II, 606) Die Rede vom Untergrund hängt an dieser Stelle mit Benjamins Auffassung zusammen, das Zeichen und die es auszeichnende Linie („die Linie der „Geometrie, die Linie des Schriftzeichens, die graphische Linie, die Linie des absoluten Zeichens“ GS II, 603), v.a. die graphische Linie durch die Fläche zu bestimmen: „Es ist nämlich der graphischen Linie ihr Untergrund zugeordnet. Die graphische Linie bezeichnet die Fläche und bestimmt damit diese indem sie sie sich selbst als ihrem Untergrunde zuordnet.“ (GS II, 603) Benjamin meint, dass eine Zeichnung - diesen Begriff führt er auf das ‚Zeichen’ zurück - aufhörte, eine solche zu sein, wenn sie ihren Untergrund restlos bedecken würde. Das ist ein durchaus noch verständliches Argument. Darüber hinaus behauptet Benjamin aber, in der Malerei gebe es keinen Untergrund und keine graphische Linie. Er scheint an dieser Stelle wohl die komplexe „Disegno und Colore“-Diskussion um Giorgio Vasari aufgenommen zu haben, er grenzt sich aber von Vasaris Position und Aufwertung des ‚Disegno’ ab, die eine weitgehende Abwertung der Farbe mit sich brachte - Farbe wurde dem Bereich des Sinnlichen zugeschlagen, das ‚Disegno’ hingegen unterhielt eine Verbindung zur Sphäre 4.4. Regenbogen 181 des Intellekts mit teilweise metaphysischer Qualität. 23 Zwar geht es auch bei Vasari explizit um Malerei und nicht um Graphik, dennoch vertrat dieser die Haltung, die Zeichnung konstituiere ein Gemälde so weit, dass die Farbe nur noch zu ihr hinzutrete. 24 Benjamin dagegen schreibt, gerade auch mit Blick auf Raffael, der innerhalb des ‚Disegno’-Diskurses eigentlich das beste Beispiel für den richtigen Ausdruck und die richtige Erzählweise im Bild galt (im Gegensatz zu Tizian und der venezianischen Schule): „Die gegenseitige Begrenzung der Farbflächen (Komposition) auf einem Raffaelschen Bilde beruht nicht auf der graphischen Linie. Dieser Irrtum kommt zum Teil aus der ästhetischen Verwertung der rein technischen Tatsache, daß Maler vor dem Malen ihre Bilder zeichnerisch komponieren. Das Wesen solcher Komposition hat aber mit Graphik gar nichts zu tun.“ (GS II, 606) Das Wort ‚Komposition’ ist in diesem Zusammenhang entscheidend: Komposition gibt es nämlich auch in der Malerei - nur unabhängig von der Graphik. Und dabei spielt auch die Sprache eine Rolle, denn „wäre das Bild nur Mal“, schreibt Benjamin, „so wäre eben damit es ganz unmöglich, es zu benennen“ (GS II, 606). Das Bild wird also auf etwas bezogen, das es nicht selbst ist, „d.h. auf etwas, das nicht Mal ist, und zwar indem es benannt wird“ (GS II, 606). Die Komposition leistet diesen Bezug auf etwas das Mal Transzendierendes. Somit ist das Mal ein Medium genau in jenem Sinn, in dem auch der Name im Gegensatz zum Wort ein Medium ist. Das sprachliche Wort tritt also auch im Bezirk der Malerei auf den Plan: das sprachliche Wort lässt sich, „nur in der Komposition sich offenbarend“, im „Medium der malerischen Sprache“ nieder (GS II, 607). Benjamin meint an 23 Dass die Diskussion um das ‚Disegno’ weitaus komplexer ist als angedeutet, zeigt Wolfgang Kemps Aufsatz „Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607“. In: Wolfgang Kemp, Kemp-Reader. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Kemp, herausgegeben und eingeleitet von Kilian Heck und Cornelia Jöchner, München 2006, S. 145-173. Vgl. S. 168, wo drei Etappen des Bedeutungswandels des Begriffs kurz umrissen werden: „1. Disegno-Forma und Idea-Invenzione stehen in einem einfachen Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Durch das Medium des Disegno findet der geistige Entwurf seinen vorläufigen Ausdruck. (Kunsttheorie vor 1547 und nach 1607; Venezianer) 2. Der Disegno wird zu einer Art synthetischem Urteilsvermögen, zu eine ‚scienza’. Er ‚formt’ die Idee nach Maßgabe der Kunstregeln und Naturgesetze und sorgt zugleich dafür, daß sie ins Werk gesetzt wird. (Varchi? Vasari, die von Vasari abhängigen Theoretiker) 3. Disegno ist mit Idea gleichgestellt und mehr noch: er wird begriffen als das Gefäß aller geistigen Vorgänge. Er ist das eigentliche, gottähnliche und naturgleiche kreative Prinzip. Der Disegno ist autark; aus seiner Vollkommenheit spaltet er einen niederen Aspekt seiner selbst ab, der die Ausführung des unmittelbar im Geist erzeugten Concetto bewerkstelligt. (Doni - im Ansatz, Cellini, Zuccari)“ 24 Vgl. zum Begriff des ‚Disegno‘ auch das Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, herausgegeben von Ulrich Pisterer, Stuttgart, Weimar 2003, S. 72. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 182 dieser Stelle nicht eine Sprache, die malerisch verfährt, sondern eine genuine Sprache der Malerei. Bereits eingangs hält Benjamin in seinem frühen Sprachaufsatz - der übrigens nicht viel früher als die hier besprochenen Texte über die Malerei verfasst wurde - fest, dass jede Äußerung menschlichen Geisteslebens als eine Art Sprache aufgefasst werden kann. Und wahrscheinlich in dieser Art ist es auch an dieser Stelle über die Malerei gemeint. Was nicht deutlich wird, ist, dass Benjamin im Zusammenhang mit Malerei und Graphik, wie in Briefen an Gershom Scholem ersichtlich ist, auch über Malerei nachdenkt, die mit zentralperspektivischem und abbildhaften Malen nichts zu tun hat, die sich also sowieso nicht so einfach einem Grund-Figur-Schema zuweisen lässt, das einen Rückschluss auf eine graphische Dimension, die der Malerei verdeckt eignet, nahelegen würde. Das Raffael-Beispiel ist also eher irreführend, denn der Anstoß zu den paraphrasierten Überlegungen scheinen Benjamin eher Klee, Kandinsky, Chagall und andere zeitgenössische Maler gegeben zu haben. An Gershom Scholem schreibt er am 22. Oktober 1917: Das Problem des Kubismus liegt von einer Seite her gesehen in der Möglichkeit einer, nicht notwendig farblosen, aber radikal unfarbigen* [Fußnote: Dieser Unterschied müßte natürlich erst erklärt und dargestellt werden] Malerei in der lineare Gebilde das Bild beherrschen - ohne daß der Kubismus aufhörte Malerei zu sein und zur Graphik würde. Ich habe dies Problem des Kubismus weder von dieser noch einer andern Seite berührt einerseits, weil es mir bisher vor einzelnen konkreten Bildern oder Meistern noch nicht entscheidend aufgegangen ist. Der einzige Maler unter den neuen der mich in diesem Sinne berührt hat ist Klee, andrerseits aber war ich mir über die Grundlagen der Malerei noch viel zu sehr im unklaren um von dieser Ergriffenheit zur Theorie fortzuschreiten. Ich glaube daß ich später dazu kommen werde. Von den modernen Malern Klee Kandinsky und Chagall ist Klee der einzige der offensichtliche Beziehungen zum Kubismus aufweist. Doch ist er soweit ich darüber urteilen kann wohl keiner, wie eben diese Begriffe im Überblick der Malerei und ihrer Grundlegung unentbehrlich sind, jedoch der einzelne große Meister nicht gerade nur durch einen bestimmten dieser Begriffe theoretisch erfaßbar wird. Wer in diesen Kategorien der Schulen als einzelner Maler relativ zulänglich erfaßt werden kann, wird kein Großer sein, weil Ideen der Kunst (denn Schulbegriffe sind solche) sich auch in der Kunst nicht unmittelbar ausdrücken können ohne kraftlos zu werden. In der Tat habe ich bisher vor Picassos Bildern immer diesen Eindruck des Kraftlosen und Unzulänglichen gehabt, den Sie mir zu meiner Freude bestätigen; gewiß weil Sie nicht, wie Sie es schreiben, zu dem rein künstlerischen Inhalt dieser Dinge keinen Zugang hätten, sondern weil, wie Sie schreiben, Sie einen solchen zu der geistigen Mitteilung die diese Dinge ausströmen haben: und beides: Künstlerischer Inhalt und geis- 4.4. Regenbogen 183 tige Mitteilung sind doch ganz genau dasselbe! Wie ich denn auch bei meinen Notizen das Problem der Malerei in das große Gebiet der Sprache einmünden lasse, dessen Umfang ich schon in der Spracharbeit andeute. (GB I, 349 f.) Gerade bei den angesprochenen Malern ist ein Bruch mit der rektangulär organisierten Bildwelt zu beobachten, die das Untergrund-Linie-Schema, das Benjamin für die Graphik aufstellt, auf neue Weise organisiert. Diese Organisation bringt mit sich, dass der Untergrund als statischer Raum, in dem die ‚dynamischen‘ und ‚diskreten‘ Figuren aufgestellt sind, teilweise aufgelöst wird. 25 Das ist bei Raffael natürlich weitaus weniger der Fall wie etwa bei Klee oder anderen Zeitgenossen, was Benjamin natürlich auch merkt, wenn er schreibt, er habe das Raffaelsche Beispiel absichtlich herangezogen, weil er erweisen wollte, inwiefern eben ein Raffaelsches und ein kubistisches Bild „wesenhaft übereinstimmende Merkmale neben den trennenden“ miteinander gemein hätten (GB I, 394). Nochmals deutlich wird in diesem Briefausschnitt, dass auch in diesen Überlegungen die Rolle der Sprache in ihrem Verhältnis zur Malerei zu bedenken ist. Was in einem Bereich der ‚Disegno’-Debatte dem ‚Disegno’ zugeschrieben wird, nämlich so etwas wie das Konzept, das mit einem Ins-Werk-Setzen, mit der Ausführung verbunden wird, wird hier nicht etwa auf das Zeichen oder die Graphik bezogen, sondern aufs Wort, oder vielleicht sogar konkreter noch auf den Namen. Die Frage, inwiefern Name und Wort sich vom Zeichen unterscheiden, leistet Benjamin in anderen Notizen (vgl. etwa GS VI, 11 ff.). In dem Text über die Malerei sagt er zunächst nur, dass Mal und Komposition „Elemente“ eines jeden „Bildes“ seien, „welches auf Benennbarkeit Anspruch“ mache. Denn ein Bild, „das dies nicht täte, würde aufhören ein solches zu sein und nun freilich mit in das Medium des Mals überhaupt eintreten, wovon wir uns aber gar keine Vorstellung machen“ könnten (GS II, 607). Ein Bild im Sinne der hier verhandelten Gemälde wird also nur zu einem, wenn es benennbar ist, da es ansonsten gar nicht vorgestellt werden kann. Das „Medium des Mals“ scheint also eine Art schwarzes Loch bezüglich unserer Vorstellungswelt zu sein, wenn denn Vorstellung, wie Benjamin hier suggeriert, so etwas wie Sprache voraussetzt. Benjamin führt hier demnach mit der Sprache - auch wenn ‚Name’, ‚künstlerischer Inhalt’ oder ‚geistige Mitteilung’, also jene Elemente, die 25 Vgl. Gottfried Boehm, Die Wiedergewinnung der ikonischen Zeit, S. 109. An dieser Stelle diskutiert Boehm v.a. die Gemälde des britischen Romantikers William Turner, der das „überkommene Gefüge des Bildes [mit ganz neuartigen Konfigurationen] in Frage gestellt habe“, etwa durch den Verlust der Horizontale des Bodens in alpinen Szenerien oder durch die Darstellung von tangential wegstrebenden Kräften, die Bewegung und Geschwindigkeit simulieren. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 184 Benjamin im Brief an Scholem nennt, auf anderes hindeuten - eine Kategorie ein, die das Mal transzendiert. Die Medialität des Mals wird in diesem Fall mit der eher zentrifugal wirkenden Kraft der Sprache konfrontiert, die ein Bild als Bild für uns erst wahrnehmbar macht. Wie sieht es aber mit der Graphik aus und dem Zeichnen von Buchstaben, also Zeichen? Inwiefern ist dort die Sprache beteiligt? Wie wir gesehen haben, spielt dort die Farbe eine untergeordnete Rolle. Benjamin hebt beispielsweise bei Spielfibeln ja eher ihr schwarzweißes Erscheinungsbild hervor, das er vom Erscheinungsbild der farbigen Kinderbücher abhebt. Jedenfalls tendieren beide, Graphik wie auch Schrift, stärker zur Form wie die Farbe. Deshalb haben wir es mit einer weiteren Stufe der Transzendenz zu tun, die sich von der Immanenz des Bildlichen wegbewegt. „Aller Form nämlich, allem Umriss, den der Mensch wahrnimmt, entspricht er selbst in dem Vermögen, ihn hervorzubringen. Der Körper selbst im Tanz, die Hand im Zeichnen bildet ihn nach und eignet ihn sich an. Dieses Vermögen aber hat an der Welt der Farbe seine Grenzen; der Menschenkörper kann Farbe nicht erzeugen.“ (GS IV, 613). Jenseits dieser Grenze der Farbe wartet die Form. Sie wird im nächsten Überkapitel, wo es ums Schreibenlernen geht, mit Blick auf das Kind nochmals eingehender thematisiert. An dieser Stelle stellt sich mit Blick auf den Künstler jedoch nochmals eine andere Frage. Denn immer wieder ist ja vom Künstler die Rede. An derselben Stelle, wie eben zitiert, im Aufsatz „Aussicht ins Kinderbuch“, geht es nochmals um den „strenge[n] Kanon des bauenden Künstlers“, der nicht die formlose „reine Farbe“ sei, die als „Medium der Phantasie, die Wolkenheimat des verspielten Kindes“ bilde (GS IV, 614). Ein Künstler scheint in diesem Kontext jedoch eher auf der Seite der Farbe beheimatet zu sein. Es handelt sich um Jean Paul. Sein „Ingenium“ ruhe „so gut wie das der Farbe, in Phantasie, nicht in Schöpferkraft“ (GS IV, 613). Seine Dichtung sei der Bilderbuchwelt verwandt. Gegen Ende des angesprochenen Aufsatzes zitiert Benjamin nochmals Goethes ‚Farbenlehre‘. Es handelt sich um Passagen ganz am Ende des Textes, aus der „Zugabe“ der ‚Farbenlehre‘, um Passagen aus einem Brief Philipp Otto Runges, den Goethe „ganz mit[zu]teilen“ beabsichtigt. Benjamin montiert am Ende seines Kinderbuch-Aufsatzes also ein paar Paragraphen zusammen, die einige Unterschiede zwischen den durchsichtigen und den undurchsichtigen Farben verhandeln. Bei den undurchsichtigen Farben handelt es sich um solche mit Weiß-, Schwarz- und Grauanteilen, Farben, die man erhält, wenn man die anderen mischt. Der Begriff ‚reine Farbe‘ bezieht sich in den besagten Passagen der ‚Farbenlehre‘ schlicht auf Rot, Gelb oder Blau. Daraus könne man jeweils ein reines Orange, ein Violett oder ein Grün mischen - mische man in diese ‚reinen‘ Mischungen etwas anderes (etwa in ein Orange ein Blau), würde die Mi- 4.4. Regenbogen 185 schung ‚unrein‘. Mische man zu gleichen Teilen, erhielte man ein „unscheinendes Grau“. Interessant scheint mir, dass der Grund für die ‚Unreinheit‘ von Schwarz und Weiß bei Benjamin einen völlig anderen Akzent erhält. Es geht bei ihm nicht um die Eigenschaft bestimmter Farben und um Mischungen, es geht um die Verbindung zur Form - etwa als Schrift. Er bettet diesen Reinheitsdiskurs bei Goethe demnach zunächst einmal in seine eigenen ästhetischen Überlegungen ein. Zwar lässt sich auch bei Goethe eine ‚sittliche Dimension‘ feststellen, aber bei Benjamin bezieht sie sich nicht ausschließlich auf die Farbe. 26 Benjamin zitiert die Passagen aus der ‚Farbenlehre‘ aber so, dass sie fast eine Miniatur seiner eigenen Theorie abgeben, so als ob Themen wie das Schwarzweiß im Gegensatz zu den ‚Farben‘, die Fluidität der Farben und auch die ‚Geistigkeit‘ der Farben dort so behandelt würden wie bei ihm selbst. So zitiert er unter anderem: „Die durchsichtigen Farben sind in ihrer Erleuchtung wie in ihrer Dunkelheit grenzenlos[.]“ Oder mit Blick auf die ‚Fluidität‘ der Farben: „Das Verhältnis des Lichts zur durchsichtigen Farbe ist, wenn man sich darein vertieft, unendlich reizend, und das Entzünden der Farben und das Verschwimmen ineinander und Wiederentstehen und Verschwinden ist wie das Odemholen in großen Pausen von Ewigkeit zu Ewigkeit[.]“ Über die ‚undurchsichtigen‘ heißt es nun aber, sie stünden wie „Blumen dagegen, die es nicht wag[t]en, sich mit dem Himmel zu messen“, aber sie seien trotzdem fähig - wenn sie sich nicht gerade mit Weiß oder Schwarz vermischten (was Benjamin auslässt) -, „so anmutige Variationen und Effekte hervorzubringen, daß… die durchsichtigen am Ende nur wie Geister ihr Spiel darüber haben und nur dienen, um sie zu heben.“ (GS IV, 614) 27 Benjamin kommentiert abschließend, dass die Farbenlehre hier dem Geist der Kinderspiele und dem „Fühlen dieser braven Koloristen“ - gemeint sind die Bilderbuchillustratoren des Biedermeier“ - gerecht würde, obwohl von beidem in diesem Passus der Farbenlehre keine Rede ist. Interessant ist nicht nur, dass Benjamin diesen Passus auf etwas bezieht, auf das er nicht im geringsten abzielt, sondern auch, dass Benjamin die differenzierte Äußerung zum Schwarz und Weiß mittels Auslassungspunkten weglässt, wie er auch die Bemerkung weglässt, dass sich an die undurchsichtigen Farben „gerade der praktische Gebrauch der Ideen halten müsse“. Denn diese Passagen passen nämlich nicht so gut zu Benjamins Interpretation des Kinderspiels und zum Umstand, dass die Illustrationen 26 In der ‚Farbenlehre‘ steht etwa, um diese Dimension mittels der Wortwahl etwas zu veranschaulichen: „Das Produkt der drei undurchsichtigen Farben, Grau, kann durch das Licht nicht wieder zu einer Reinheit kommen, noch durch eine Mischung dazu gebracht werden; es verbleicht entweder zu Weiß oder verkohlt sich zu Schwarz.“ Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre, S. 289. 27 Oder vgl. Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre, S. 291. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 186 gedruckte Geschichten bebildern. Sie beziehen sich schlicht auf anderes. Benjamin nutzt aber die Begriffe, die dort fallen, traumwandlerisch sicher und reiht sie so auf, dass sie im Rahmen einer assoziativen Logik - man ist fast versucht von einer ‚bildlichen‘ Logik zu sprechen - mit seinen Ausführungen übereinstimmen. Der Reinheitsdiskurs bei Goethe wird plötzlich zu einem Diskurs, der sich auf Kinderbücher und Kinderspiele beziehen lässt. Damit wird Goethe bei Benjamin zu einer Art Mitstreiter des ‚weisen Kinds‘ Jean Paul, der in dieser Hinsicht sowieso als eine Art Schutzpatron fungiert. Auf eine Art Ekphrasis, die mehr als eine Ekphrasis ist, läuft schließlich auch der letzte Abschnitt dieses Aufsatzes über das Kinderbuch hinaus, er bezieht sich nämlich nochmals auf Lyser und die Beschreibung des Titelbilds von „Lina’s Mährchenbuch“: In ihnen allen [de[n] Kinderspielen […], welche alle auf die Anschauung in der Phantasie gehen: Seifenblasen, Teespiele, die feuchte Farbigkeit der Laterna magica, das Tuschen, die Abziehbilder] schwebt geflügelt über den Dingen die Farbe. Denn nicht am farbigen Ding oder an bloßer toter Farbe hängt ihr Zauber, sondern am farbigen Schein, am farbigen Glanz, am farbigen Strahl. Am Ende ihres Panoramas mündet die Aussicht in das Kinderbuch auf einen biedermeierlich beblümten Felsen. Gelehnt an eine himmelblaue Göttin, lagert dort der Dichter mit den melodischen Händen. Was ihm die Muse eingibt, zeichnet ein Flügelkind neben ihm auf. Verstreut umher liegen Harfe und Laute. Zwerge im Schoß des Berges blasen und geigen, Am Himmel aber geht die Sonne unter. So hat Lyser einmal die Landschaft gemalt, in deren buntem Feuer Blick und Wangen der Kinder über Büchern erstrahlen. (GS IV, 614 f.) Weshalb ist also diese Ekphrasis mehr als eine Ekphrasis? Gewiss ist es so, dass keine Beschreibung eines Gemäldes dieses erschöpfend beschreiben kann. Das Problem einer jeden Ekphrasis ist nicht nur im Verhältnis der Sprache zu einem wie auch immer gearteten ‚Bild ‘ zu suchen, auch die beschreibenden Sätze selbst harren wiederum einer weiteren Beschreibung. Und in diesem Sinne haben diese Sätze Benjamins eine eigene Qualität, die mit einem Blick auf den Stich Lysers nicht zu umreißen ist. Es sind ja auch die Kinderspiele, die ihn erneut dazu veranlassen, seine Theorie der Farbe - mit dem Verweis auf den Schein, den Glanz, den Strahl -mit dem Stich Lysers zu verbinden. Über das hinaus scheint er aber gerade auch Dichtung und Zeichnung, Sprache und Bild, durch die Beschreibung des Stichs auf der Ebene der reinen Beschreibung zusammenzuführen. Der Dichter mit den melodischen Händen sei auf dem Stich abgebildet - und was ihm die Muse eingibt, wahrscheinlich ‚Bilder‘ - zeichnet ein Flügelkind auf. Auf mehreren Ebenen wird somit Sprache, Bild, Phantasie, Kindheit übereinander gelegt und verschränkt. In der Rezension zu Max Kommerells Buch 4.4. Regenbogen 187 über Jean Paul taucht die Beschreibung dieses Titelbilds übrigens erneut auf, dieses Mal voll auf Jean Paul bezogen, der mit dem abgebildeten Mann auf dem Stich gleichgesetzt wird. Der angeblich auf dem Lyserschen Stich abgebildete „Dichter mit den melodischen Händen“ (GS III, 417) ist dort niemand geringeres als der sich im Besitz der Phantasie befindliche Jean Paul selbst, das ‚weise Kind‘. Was hat nun aber Jean Paul mit einem Kind gemein? Es ist laut Benjamin die Phantasie: 28 Jean Paul war ein Geschöpf, welches „mit Staat, Sitte, Beruf, Weib und Geschäft bloß in Form der Niederlage bekannt werden konnte“. Dafür ist ihm der „eingetunkte Zauberstab“ zuteil geworden, der „die Form an der materiellen Welt mit einem Schlage“ ändert. Der Zauberstab, von dem die Rede ist, ist der der Phantasie; die Feuchte, die ihn benetzt, die des Humors, den man aus unergründlicher Quelle sprudelnd sich denken mag. Zu Füssen eines biedermeierlich geblümten Felsens springt sie auf. Gelehnt an eine himmelblaue Göttin lagert dort der Dichter mit den melodischen Händen. (GS III, 417) Die Beschreibung des im Führen einer durchorganisierten, ‚gesetzten‘, bürgerlichen Existenz scheiternden Jean Pauls mündet in die Beschreibung des Titelbilds von „Lina’s Mährchenbuch“, dem bereits erwähnten kolorierten Kupferstich von Johann Lyser. „So hat Lyser einmal die Landschaft gemalt, in deren buntem Feuer die Gestalten Jean Pauls wandeln und sich verwandeln.“ (GS III, 417) Jean Paul wird direkt mit einem Märchenbuch in Verbindung gebracht, dessen kolorierte Stiche es Benjamin besonders angetan haben. Das „Reich des Wandels“ ist das Reich der Phantasie - „[i]hre Wolkenheimat, in der 28 In einem Fragment über die Phantasie wird an einer Stelle Jean Pauls Dichten und Wirken mit Verweis auf die Phantasie beschrieben. Obwohl Benjamin bekanntlich festhält, dass Phantasie nichts Konstruktives eignet, so liege sie doch jedem Kunstwerk zugrunde. Als ‚Entstaltendes’ beziehe sie sich immer auf etwas ‚Gestaltetes’ als Referenz, und werde „notwendigerweise grundlegend“, wo sie „in das Werk eintritt“ (GS VI, 116). Die ‚Entstaltung’ führt nicht zum Tod des Gestalteten, sondern „verewigt den Untergang den sie heraufführt in einer unendlichen Folge von Übergängen“ (GS VI, 115). Benjamin scheint Jean Pauls Werk in diese Richtung zu deuten. Jean Paul selber wird als Dichter charakterisiert, der „die größte Phantasie hatte, in diesem Geist der reinen Empfängnis zugleich den Kindern sehr nahestand und zuletzt eben daher der geniale Lehrer der Erziehung war“ (GS VI, 116). All das heißt nicht, dass die Texte Jean Pauls völlig aus dem Ruder laufen. Benjamin räumt nämlich der Sprache eine gewisse Macht über die Phantasie ein. Jean Paul vielleicht in diesem Punkt nicht ganz gerecht werdend meint er: „- In den Ausdruck des Werkes aber vermag allein die Sprache bisweilen die Phantasie aufzunehmen, denn nur die kann im glücklichsten Falle die entstaltenden Mächte in ihrer Gewalt behalten. Jean Paul entglitten sie meist, Shakespeare ist - in seinen Komödien - ihr unvergleichlicher Gewalthaber.“ (GS VI, 116) 4. Urphänomene der Wahrnehmung 188 Formen sich weniger gestalten als entstalten“ - so gut wie das Reich der Kindheit und der Jean Paul‘schen Dichtung. „‘Wo ist denn das hin‘, sagt Jean Paul, ‚das gefärbte Gewölk, das seit dreißig Jahren an diesem Ich vorüberzog und das ich Kindheit, Jugend, Leben hieß? ‘“ (GS III, 417) Benjamin stellt die Vermutung an, dass jene Kunst, die unterm „Walten reiner Phantasie sich der Gestalt entfremdet“, „vielleicht nur Bilder des tausendjährigen Reichs vorweg“ nehme (GS III, 417). Die Beziehung zwischen der ‚entstaltenden‘ Phantasie, dem Kindlichen und dem Messianischen, die bereits an anderer Stelle konstatiert wurde, scheint in diesem Zusammenhang auch der Literatur - hier durch Jean Paul verkörpert - subversive Qualitäten zuzusprechen. 4.5. Jean Paul Jean Paul, der vielschreibende - aber nicht anders als mit der Sprache ‚malende‘ - Dichter, wird in dem hier vorgestellten Zusammenhang, in den erwähnten Rezensionen Benjamins wie auch in seinen Notizen, meist positiv erwähnt. Jedoch skizziert Benjamin Jean Pauls Phantasie in einem seiner Texte auch als eine unkontrollierbare. In seiner Notiz über die Phantasie schreibt Benjamin, dass die ‚entstaltenden Mächte‘ der Phantasie im glücklichsten Fall nur von der Sprache in ihrer Gewalt behalten werden könne, nur die Sprache könne sie in den Ausdruck des Werks nehmen. Jean Paul jedoch „entglitten“ diese Mächte „meist“ (GS VI, 116). Phantasie selbst sei unfähig, ein Kunstwerk zu konstruieren, sie beziehe sich immer auf ein „Gestaltetes außerhalb ihrer selbst“, jedoch würden Phantasie und Gestaltetes manchmal auseinanderklaffen. Etwa bei Jean Paul, „der die größte Phantasie hatte, in diesem Geist der reinen Empfängnis zugleich den Kindern sehr nahestand und zuletzt eben daher der geniale Lehrer der Erziehung war.“ Das Aussage ist ambivalent, weil es sich eigentlich um eine ‚Kritik‘ an seinem Schreiben handelt. Jean Paul wird wegen seiner Nähe zu den Kindern und als Pädagoge gewürdigt, nicht unbedingt als Schriftsteller. Diese beiden ‚Kritikpunkte‘ müssen aber fast schon ironisch scheinen, wenn man bedenkt, welche Affinität Benjamins eigene Texte zur Kindheit aufweisen. Es fällt durchaus auf, dass der Name Jean Pauls oft in den Texten zu den farbigen Kinderbüchern ins Spiel gebracht wird, mit denen Jean Pauls poetische Texte, seine Romane etwa, eigentlich nicht viel zu tun haben. Benjamin erwähnt denn häufig auch nicht diese, sondern Jean Pauls „Levana“. Seltsamerweise wird in Benjamins „Aussicht ins Kinderbuch“ dennoch Jean Pauls Dichtung den Illustrationen Lysers zur Seite gestellt. Lysers Lithographien seien ganz passend zu den „verhärmten Gesellen, der schattenhaften Landschaft, der Märchenstimmung“, welche „nicht frei“ sei „von 4.5. Jean Paul 189 einem ironisch-satanischen Einschlag“. Die Kunst zu dieser Zeit - bei Benjamin fungiert sie unter dem Etikett ‚Biedermeier‘ - habe sich dem kleinbürgerlichen Alltag verbunden, so dass sie angeblich „gebraucht [wurde] wie Kochrezepte oder wie Sprichwörter“ (GS IV, 613); mit ästhetischem Genuss hätte sie nichts zu tun gehabt. Mit dieser Dimension des Gebrauchs werden wir an die Ausführungen in der anderen Rezension über Kinderbücher erinnert, nämlich an „Alte vergessene Kinderbücher“, wo es, wie bereits festgehalten wurde, heißt, dass das Kind mit Märchenstoffen „so souverän und unbefangen zu schalten“ weiß wie mit „Stoffetzen und Bausteinen“ (GS III, 17). Dort steht auch, dass sich die Kinder mit den Illustratoren über die Köpfe der Pädagogen hinweg verständigt hätten. Und steht auch weiter in „Aussicht ins Kinderbuch“, dass diese zum Gebrauch befähigten Bilder Lysers von dem, „was die Romantik Überschwänglichstes sich je erträumte“, „die volkstümliche, ja die kindliche Variante“ darstellten: Jean Paul sei „darum ihr Schutzpatron“. „Die mitteldeutsche Feenwelt seiner Geschichten hat in jenen Bildchen sich niedergeschlagen“ heißt es dort relativ unbestimmt. Und weiter: „Deren selbstgenügsam prangender Farbenwelt ist keine Dichtung näher als die seine verwandt.“ (GS IV, 613) Ob diese Beschreibung von Jean Pauls Dichtung treffend oder erhellend ist, darüber lässt sich freilich streiten. Es scheint mir bemerkenswert, dass Jean Paul immer wieder beiläufig und positiv erwähnt wird, kaum jedoch ein konkreter Text eingehender gewürdigt wird. Jean Paul verkörpert stattdessen paradigmatisch die Phantasie. Selbst wenn Benjamin indirekt über Jean Paul spricht, nämlich etwa in seiner Rezension von Max Kommerells Buch „Jean Paul“ 29 , wird das deutlich. Er zitiert gegen Schluss der Rezension Kommerell und charakterisiert Jean Paul als eine Person, die mit dem Alltag nicht ganz zurechtgekommen sei, die aber stattdessen Phantasie hatte (vgl. nochmals GS III, 417). Die Rezension des Buches von Max Kommerell endet, wie bereits oben festgehalten, mit der Beschreibung des Lyserschen Titelkupfers von Albert Grimms ‚Mährchenbuch‘ („Zu Füssen eines biedermeierlich geblümten Felsens springt sie auf. Gelehnt an eine himmelblaue Göttin lagert dort der Dichter mit den melodischen Händen.“ GS III, 417). Diese ‚Rezension‘ wird hier nochmals erwähnt, weil sie mit Formulierungen und Gedanken gesättigt ist, die man aus den Notizen und Überlegungen rund um die Farbe, die Phantasie etc. kennt. Erstaunlicherweise gibt sie fast mehr Auskunft über diese Theorien Benjamins als über Kommerell, Jean Paul und sein Werk. Gerade deshalb soll es in den folgenden Zeilen um ein Buch Jean Pauls gehen, das Benjamin wenigstens immer wieder namentlich erwähnt, nämlich die „Levana oder Erziehlehre“, 1807 in Braunschweig erschienen. An Gershom Scholem schreibt er am 23. 7. 1920 mittlerweile relativ bekannte 29 Vgl. Max Kommerell, Jean Paul, Frankfurt am Main 1933. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 190 Zeilen über dieses Buch. Den Abschnitt leitet er damit ein, dass die Lektüre der „Levana“ ihm die Trennung von seinem Sohn Stefan schwer machte. Er fährt mit positiven Worten fort, die aber eine Einschränkung enthalten: In diesem Werke ist einem wirklich einmal die Mühe abgenommen über den Gegenstand ein eignes zu schreiben. Man kann, wenn man von der Einwirkung der Religions- und Volksgemeinschaft abstrahiert, also nur von den nächsten Verhältnissen von Eltern zum Kinde ausgeht durchaus nicht einsichtiger und beseelter über die Erziehung in der Kindheit reden als Jean Paul es tut. Die Deutschen wissen auch hier wieder nicht, was sie besitzen. Wie streng, nüchtern und maßvoll der phantasiereichste Geist die Kinder zu behandeln weiß. (GB II, 93) Jean Paul selbst schreibt die „Levana“ zwar erst ab 1805, erste Notizen zum Thema schreibt er bereits relativ früh nieder. Folgt man dem Kommentar zur „Levana“, die übrigens nach einer römischen Göttin benannt ist, die man anrief, als dem römischen Vater das Neugeborene vor die Füße gelegt wurde, um es durch Aufheben (lat. „levare“) als sein eigenes anzuerkennen, dann soll er sie hauptsächlich unter Eindrücken seiner Lektüre von Rousseaus „Emile“ geschrieben haben (vgl. SW I/ 5, 1252). Unabhängig von diesen literarischen Eindrücken macht Jean Paul jedenfalls relativ früh - in den Jahren 1786-1796 - eigene Erfahrungen als Hauslehrer und er zieht daraus wohl auch seine eigenen pädagogischen Schlüsse. Es fällt auf, dass Jean Paul gewissenhaft Buch über die Erziehung seiner drei eigenen Kinder führte. Ähnlich wie Benjamin sammelt Jean Paul in der „Levana“ lustige Einfälle und Wortspiele (etwa die „Bonmots-Anthologie meiner Eleven“) von Kindern (vgl. SW I/ 5, 1252 f.). Stark sichtbar ist auch der Einfluss Herders, der vor allem die anthropologisch gefärbte Seite der Kindheitsbetrachtungen maßgeblich beeinflusst haben dürfte. Hans-Heino Ewers zeichnet das in seiner Studie zur ‚Kindheit als poetischen Daseinsform‘ nach 30 , betont aber als eigenständige Leistung Jean Pauls eine stark metaphysische Dimension, die Ewers wiederum stark von der anthropologischen abzugrenzen versucht. Wenn man sich Jean Pauls „Levana“ zu Gemüte führt, ist man erstaunt ob der Zärtlichkeit, mit der Jean Paul sich seinem Gegenstand widmet. Leicht ist man - wie Benjamin es tut - versucht, von Einsicht zu sprechen, die Formulierung, Jean Paul sei ein ‚phantasiereicher Geist‘, legt gewiss den Schluss nahe, es handle sich beim Verfasser selbst um ein ‚weises Kind‘ (ein Zitat Max Kommerells, das Benjamin in seiner Rezension von dessen Jean Paul-Buch anführt, vgl. GS III, 409). Auch wenn gerade im 30 Vgl. dazu Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989. 4.5. Jean Paul 191 Verlaufe des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger beschauliche Facetten des Kindes untersucht und hervorgehoben werden (Stichwort: Sexualität des Kindes, neues Barbarentum), so werden doch jene, die Jean Paul betont und auch die reformpädagogischen Ansätze, die sich in der „Levana“ finden, von Benjamin stets positiv hervorgehoben. Jean Paul prägt immerhin Sätze wie „Schulet Kinder durch Kinder! “ (SW I/ 5, 608), die auch aus Benjamins ‚Programm eines proletarischen Kindertheaters‘ stammen könnten. Jean Paul ruft dem Leser auf den ersten Zeilen in Erinnerung, dass „[i]n der Kinderwelt […] die ganze Nachwelt vor uns“ stehe, „in die wir, wie Moses ins gelobte Land, nur schauen, nicht kommen; und zugleich erneuert sie uns die verjüngte Vorwelt, hinter welcher wir erscheinen mußten“ (SW I/ 5, 533). In diesem Satz thematisiert er nicht bloß das Zukunftsmoment, das man mit der Kindheit verbinden kann, zugleich eröffnet sich eine Gedächtnisproblematik. Ziemlich auffällig ist auch eine Beobachtung zur unwillkürlichen Erinnerung, die Jean Paul - nicht viel anders als Proust - mit dem Geruchssinn verbindet: Und wer hat nicht an sich meine Erfahrung gemacht, daß oft ein ländlicher Blumenstrauß, welcher uns als Kindern im Dorf ein Lustwald gewesen, in späten Mannjahren und in der Stadt durch seine alten Düfte unnennbare Zurückentzückungen in die göttliche Kindheit gegeben, und wie er, gleich einer Blumengöttin, uns in das erste umfassende Autorengewölke der ersten Gefühle hineingehoben! - Aber wie könnte eine solche Erinnerung so stark an uns selber berauschen, wäre nicht die kindliche Blumen- Empfindung so stark und innig gewesen! (SW I/ 5, 596) Mit dem von dieser Aussage ableitbaren Respekt nähert er sich demnach seinem Untersuchungsgegenstand. 31 Dieser Respekt führt ihn zu erstaunlichen Beobachtungen, die leicht ins Spekulative münden und die sich auch Benjamin für seine eigenen Überlegungen zu Farbe und Phantasie zunutze zu machen scheint. In einem Brief an Carl Linfert vom 7. 4. 1934 formuliert Benjamin seine Beschäftigung mit Kinderbüchern, der „Levana“ und Jean Paul so, dass diese Formulierungen den Schluss zulassen, es sei umgekehrt gewesen: die Beschäftigung mit farbigen Kinderbüchern habe ihn zu Ge- 31 Dabei handelt es sich wohl um einen durch Rousseau beeinflussten Respekt vor dem Kind als Fremden. Vgl. dazu Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989, S. 97: „Ihnen [Rousseau, Herder, Jean Paul, Anm. FG] ist die Kindheit ein dem gegenwärtigen Zeitalter Fremdes. Sie alle gehen von einem Gegensatz zwischen Kindheit und Zeitgeist aus und machen sich zum Anwalt der Kindheit, ihrer Eigenart und ihrer Autonomie.“ 4. Urphänomene der Wahrnehmung 192 danken über die Farbe inspiriert, sowie sie ihm auch Aufschlüsse über Jean Paul geliefert habe: Die Bemerkungen über Farbe, auf die Sie eingehen, sind im Umkreise meiner mehr als ein Jahrzehnt durchgehaltnen und leidenschaftlichen Beschäftigung mit alten farbigen Kinderbüchern erwachsen, von denen ich - wie ich Ihnen vielleicht einmal sagte - eine sehr schöne Sammlung zustande gebracht habe. Auch existiert diese noch, nur nicht mehr in meinem Besitz. Der gleichen Sammlung sowie der „Levana“, auf die ich leider in jenem Zusammenhang nicht eingehen könnte, verdanke ich auch sonst Aufschlüsse über Jean Paul. Neuerdings spinne ich manchmal an einer höchst skurrilen, aber nicht ganz substanzlosen Analogie: der zwischen Jean Paul und Fourier. (GB IV, 384) Diese ‚skurrile Analogie‘, die Benjamin zwischen Jean Paul und Charles Fourier zieht, lässt sich an gewissen Notizen der Passagen-Arbeit ablesen. So ist etwa von „materialistische[n] Tendenzen im Bürgertum (Jean Paul, Pestalozzi; Fourier“ zu lesen (GS V, 1221) oder es ist davon zu lesen, dass Fourier in „der strengen Formenwelt des Empire die farbige Idylle des Biedermeier“ etabliere (GS V, 1225). „In der Tat ist Jean Paul in seiner ‚Levana‘ dem Pädagogen Fourier […] verwandt“ (GS V, 1227). Die Passagen seien das Sinnbild der Fourierschen Utopie: ursprünglich transitorischen Zwecken dienend würden sie bei ihm zu schlaraffenlandähnlichen Wohnstätten. In seinen Notizen kann man sehen, dass diese ‚skurrile Analogie‘ aber bereits von jemand anderem als Benjamin aufgestellt wurde. 1934 rezensiert Benjamin das Buch „Fourier et le socialisme“ von Auguste Pinloche. 32 Er rezensiert das Buch einigermaßen positiv, zumindest als „Einführung in Fourier“, deren „wertvollster Teil“ die „Blütenlese aus Fouriers eigenen Schriften und in Schriften seiner Anhänger“ seien (GS III, 428). Fourier werde von Pinloche als Alternative zum Marxismus präsentiert, die ideale Gesellschaftsordnung sei „nach Fouriers Überzeugung in der Natur angelegt; sie [ließe] sich im Verfolg ihrer aufmerksamen Pflege und Wartung finden“. Bei Pinloche liest man denn auch tatsächlich - die Formulierung lässt keinen Zweifel zu, wem die Sympathie gilt -: Le marxisme, au contraire, dont le Manifeste communiste de Marx et Engels nous donne l’évangile, commence par dénoncer la doctrine fouriériste de la transformation pacifique de la Société comme une utopie. Il veut cette transformation immédiate et violente, par la destruction de la classe bourgeoisie propriétaire, dont se chargera le prolétariat triomphant, donc par la révolution et la conquête du pouvoir politique. 33 32 Vgl. Auguste Pinloche, Fourier et la socialisme, Paris 1933. 33 Vgl. Auguste Pinloche, Fourier et la socialisme, S. 54. 4.5. Jean Paul 193 Benjamin bestreitet den utopischen Gehalt der Gedanken Fouriers nicht, er fasst sie ebenfalls als utopische auf. Obwohl Pinloche versucht habe, die utopischen und „pittoresken Elemente zugunsten ihrer konstruktiven“ zurücktreten zu lassen, würde der „utopische Kern, welcher der Vorstellung einer gegen die Politik indifferenten Arbeit am Aufbau der Gesellschaft anhaftet“ um „so drastischer hervor“ treten (GS III, 428). Und diese Elemente interessieren Benjamin an Fourier wohl am meisten. Vielleicht sind das die Elemente, die Fourier auch mit einem zeitgenössischen Literaten wie Jean Paul verbindet. Jedenfalls ist diese ‚skurrile Analogie‘, welche Benjamin weiter oben als seine eigene ausgibt, bereits bei Pinloche nachzuweisen. In den Notizen zur Passagen-Arbeit zitiert er aus Pinloches bereits angegebenem Buch: „Les paroles de Jean Paul que j’ai citées en tête de la biographie Fourier: ‚De toutes les fibres qui vibrent dans l‘âme humaine, il n’en coupait aucune, mais il accordait toutes’, - ces paroles s’appliquent admirablement à ce socialiste et ne sauraient s’appliquer entièrement qu’à lui seul. Il serait impossible de mieux caractériser que par elles la philosophie phalanstérienne.“ 34 Auch Pinloche zitiert dieses Jean Paul-Zitat nur. Von ihm stammt der Kommentar, es passe perfekt zu Fourier und charakterisiere die Philosophie der Phalanstère. Pinloche zitiert nämlich das Motto der Biographie „Charles Fourier“ von Charles Pellarin, der ein Schüler Fouriers war. 35 Obwohl dort angegeben ist, dass dieses Zitat aus Jean Pauls „Titan“ stammt, ist unklar, ob das tatsächlich der Fall ist. Unabhängig von dieser Frage ist dennoch der Umstand bemerkenswert, dass bereits ein Zeitgenosse beider - Jean Pauls wie Charles Fouriers - dieser Analogie Benjamins den Weg bereitet hat. Pinloche - ein Zeitgenosse Benjamins - hat diesen Vergleich dagegen philosophisch zu nutzen verstanden - nämlich für einen utopischen Sozialismus gegen den Marxismus. Gleichzeitig bringt das Zitat eine Geisteshaltung auf den Punkt, die Benjamin wohl bei Fourier wie auch bei Jean Paul zu entdecken vermeint hat. Nämlich das, was er den „anthropologischen Materialismus“ nennt. Das Interesse für den Menschen und demnach auch spezifisch für das Kind ist beiden zuzusprechen. Auch Fourier hat sich mit der Erziehung der Kinder auseinandergesetzt und eigens für sie ein utopisches Programm entworfen - so zum Beispiel das weiter oben erwähnte Phalanstère, das nur von Kindern hätte bewohnt werden sollen. Benjamin exzerpiert einige solcher programmatischen Entwürfe und Ideen für seine Passagen-Arbeit (vgl. GS V, 766 f., vgl. auch GS V, 792 zu den „petites hordes“ und den „petites bandes“, unterschiedliche Kindergruppierungen, die in der Phalanstère verschiedene Funktionen einnehmen sollten: „concorde sociale“ 34 Ebd., S. 17 f. Vgl. auch Benjamins Exzerpt in GS V, 764. 35 Vgl. Charles Pellarin, Charles Fourier, 2. Auflage, Paris 1834. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 194 oder „charme social“). 36 Außerdem vergleicht er Fouriers Pädagogik auch explizit nochmals mit derjenigen Jean Pauls. So schreibt er, dass der anthropologische Materialismus das Verbindungsglied sei: „Der fourierschen Pädagogik, genau wie der Pädagogik Jean Pauls ist im Zusammenhang des anthropologischen Materialismus nachzugehen.“ (GS V, 779) Der Unterschied zwischen dem ‚anthropologischen Materialismus‘ Fouriers und Jean Pauls sei jedoch, dass in Frankreich das Kollektiv, in Deutschland das Individuum im „Mittelpunkt der Interessen“ gestanden habe. „Die Geschichte des anthropologischen Materialismus reicht in Deutschland von Jean Paul bis zu Keller (über Georg Büchner und Gutzkow); in Frankreich sind die sozialistischen Utopien und die Physiologien sein Niederschlag.“ Von Jean Paul bis Gutzkow handelt es sich um Schriftsteller, die stark auf politische Verhältnisse reagiert haben, die sich aber nicht einer materialistischen Philosophie oder einem dialektischen Materialismus im Sinne des Marxismus verschrieben haben. Fourier scheint übrigens auch als Satiriker aufgefasst worden zu sein, was ihn durchaus mit Jean Paul verbindet (vgl. GS V, 770, ein Zitat Friedrich Engels‘: „Fourier ist nicht nur Kritiker, seine ewig heitere Natur macht ihn zum Satiriker, und zwar zu einem der größten Satiriker aller Zeiten.“). Ebenso erinnert die Feststellung, seine Beschreibungen des Landbaus bei den „harmoniens“ läsen sich wie „die Beschreibung farbiger Bilder aus Kinderbüchern“ (GS V, 796) auch an Jean Paul. Genauso die Erwähnung von Fouriers „Humor“ oder die These, er habe „in der strengen Formenwelt des Empire die farbige Idylle des Biedermeier“ etablieren wollen (GS V, 1227). Mit dem Begriffspaar ‚anthropologischer Materialismus‘ bezeichnet Benjamin wohl eine Perspektive, die das menschliche Zusammenleben von bestimmten physiologischen Bedingungen und Umweltbedingungen abhängig macht, nicht aber von im Sinne einer marxistischen Interpretation auf die Dialektik der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte bezieht. Besagter ‚anthropologischer Materialismus‘ ist aber auch ein Streitpunkt zwischen Adorno und Benjamin, weil Adorno Benjamin selbst vorwirft, er sei dem ‚anthropologischen Materialismus‘ verfallen. Im Brief an Benjamin vom 6. 9. 1936, wo sich Adorno über den Erzähler-Aufsatz äußert, schreibt er, dass er „alle die Punkte“, in denen er „bei der prinzipiellsten und konkretesten Übereinstimmung sonst“ von Benjamin „differiere“, sich „unter 36 Vgl. dazu GS III, 565: „Die petites bandes haben es mit dem Gartenbau und mit andern ansprechenden Obliegenheiten zu tun. Die petites hordes haben sich mit dem Unsaubersten abzugeben. Die Wahl zwischen beiden Gruppen steht jedem Kinde frei. Die sich für die petites hordes entschieden hatten, waren die geehrtesten. […] In den Angehörigen der petites hordes sah Fourier vier Leidenschaften am Werke: den Hochmut, die Schamlosigkeit, die Unsubordination. Die wichtigste von allen war aber die vierte: der goût de la saleté, die Freude am Schmutz.“ 4.5. Jean Paul 195 dem Titel eines anthropologischen Materialismus“ zusammenstellen ließen, dem er „die Gefolgschaft nicht leisten“ könne: „Es ist, als sei für Sie das Maß der Konkretion der Leib des Menschen.“ Recht hegelianisch hält Adorno fest: „Der ist aber eine ‚Invariante von der Art, daß ich glaube, dass sie das entscheidend Konkrete (das dialektische eben und nicht das archaische Bild) verstellt“ (vgl. ABB, 193). Die ‚Geste der Unmittelbarkeit‘, die Adorno bei Benjamin entdecken zu können vermeint, lässt für ihn die kritische Reflexion vermissen, sie geht zu stark vom Leib und wohl vom Unbewussten aus und ist damit bloß vermeintlich konkret, mit anderen Worten: es fehlt die Vermittlung (durch den reflektierenden ‚Geist‘). Sehr wahrscheinlich greift diese Kritik zu kurz, wobei es etwas schwierig wäre, sie an dieser Stelle exakt zu rekonstruieren. In gewisser Weise bringt Adorno diese Kritik immer wieder vor, beispielsweise in seinen Briefen vom 2.-4. August 1935, wo er Einwände gegen die ‚immanente Fassung des dialektischen Bildes‘ vorbringt (ABB, 139), oder im mittlerweile bekannten Brief vom 10. 11. 1938, wo er sich gegen die mangelnde ‚Vermittlung‘ im Zusammenhang mit den Baudelaire-Studien beklagt und nochmals das Begriffspaar ‚anthropologischer Materialismus‘ bemüht: In dieser Art des unmittelbaren, fast möchte ich wiederum sagen, des anthropologischen Materialismus steckt ein tief romantisches Element, und ich spüre es umso deutlicher, je krasser und rauher die Baudelairesche Formwelt mit der Notdurft des Lebens von Ihnen konfrontiert wird. Die „Vermittlung“, die ich vermisse und verdeckt finde durch materialistischhistoriographische Beschwörung, ist nun aber nichts anderes als eben Theorie, die Ihre Arbeit ausspart. Das Aussparen der Theorie affiziert die Empirie. Es verleiht ihr einen trügend epischen Charakter auf der einen Seite und bringt auf der anderen die Phänomene, als eben bloß subjektiv erfahrene, um ihr eigentliches geschichtsphilosophisches Gewicht. (ABB, 368) Um diesen Punkt kurz abzuschließen: Benjamin wehrt sich, beruft sich auf seine in der Wahlverwandtschaftsarbeit getroffene Unterscheidung von Sachgehalt und Wahrheitsgehalt und meint, Adornos Kritik bezöge sich vor allem auf die philologische Rekonstruktion dieses Sachgehalts, die die Vorbedingung einer kritischen Deutung darstelle. 37 Diese ‚philologische‘ 37 Zur Erinnerung vgl. GS I, 125: „Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt. Das Verhältnis der beiden bestimmt jenes Grundgesetz des Schrifttums, demzufolge der Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, desto unscheinbarer und inniger an seinen Sachgehalt gebunden ist. Wenn sich demnach als die dauernden gerade jene Werke erweisen, deren Wahrheit am tiefsten ihrem Sachgehalt eingesenkt ist, so stehen im Verlaufe dieser Dauer die Realien dem Betrachtenden im Werk desto deutlicher vor Augen, je mehr sie in der Welt absterben. Damit aber tritt der Erscheinung nach Sachgehalt und Wahrheitsgehalt, in der Frühzeit des Werkes geeint, auseinander mit seiner Dauer, weil der letzte 4. Urphänomene der Wahrnehmung 196 Haltung charakterisiert Benjamin selbst als eine ‚magische‘. Ganz verkehrt ist Adornos Kritik also nicht, bestätigt sie doch eine Grundintention von Benjamin selbst 38 , und ganz Unrecht hat Adorno auch nicht damit, diese Haltung als eine „staunende[] Darstellung der Faktizität“ zu bezeichnen (ABB, 379 f.). Dass eine philologische Haltung im sprichwörtlichen Sinn einige Affinität zum behandelten Gegenstand aufweist, darf nicht überraschen. Der ‚anthropologische Materialismus‘, den Benjamin bei Jean Paul vorzufinden meint und der ‚anthropologische Materialismus‘, der Adorno bei Benjamin am Werke sieht, gleichen sich, wenn man diese tatsächlich festschreiben und genauer umreißen könnte, wohl hauptsächlich darin, dass dieser Materialismus sich nicht primär auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezieht, er reflektiert sie zwar mit, aber er geht dennoch stark vom Individuum aus, von dessen leiblicher Beschaffenheit, er spielt mit anderen Worten ins Psychologische. Zwar haben die von Benjamin angeführten Autoren eine gewisse Sensibilität für das Soziale, für das Kollektiv und für die Auswirkungen der sozialen Organisation auf den Einzelnen, aber eine Interpretation der Verhältnisse im Sinne des historischen Materialismus bleibt aus. Vielmehr bietet das Material Anlass zu utopischen Träumereien, es zeugt gerade als Pseudo-Vergangenes, als Pseudo- Archaisches von bereits vergangenen, aber nicht eingelösten Zukunftsträumen. Im Material sind Vergangenheit und Zukunft auf diese eigentümliche, nicht-lineare Weise verschränkt. Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet die Surrealisten - die Benjamin gerade in diesem Punkt auch sehr beschäftigt hatten - eine Affinität zu Fourier besaßen. Interessant an der Konstellation Jean Paul-Benjamin ist mit Blick auf das eben Ausgeführte, dass die Texte über Jean Paul und jene, die damit in einer thematischen Verwandtschaft stehen, stark anthropologische Komponenten enthalten. Nicht bloß durch die Kindheitsthematik wird das augenscheinlich, auch die Notizen über die Farbe und die Phantasie lehnen sich eher an anthropologische Diskurse an als an ökonomische oder sozialkritische. Dabei fällt auf, dass Benjamin in Notizen, die sich mit der Phantasie oder dem Spiel beschäftigen, nicht immer auf Jean Paul verweist. Jedoch findet man bei Jean Paul teilweise bereits Überlegungen vor, die in eine ähnliche Richtung zielen. immer gleich verborgen sich hält, wenn der erste hervordringt. Mehr und mehr wird für jeden späteren Kritiker die Deutung des Auffallenden und Befremdenden, des Sachgehaltes, demnach zur Vorbedingung.“ 38 Benjamin schreibt: „Die Philologie ist diejenige an den Einzelheiten vorrückende Beaugenscheinigung eines Textes, die den Leser magisch an ihn fixiert. Fausts schwarz auf weiß nach Haus Getragenes und Grimms Andacht zum Kleinen sind eng verwandt. Sie haben das magische Element gemeinsam, das zu exorzieren der Philosophie, hier dem Schlußteil, vorbehalten ist.“ (ABB, 380) 4.5. Jean Paul 197 So spricht Jean Paul davon, dass die „gewöhnlichen Spiele der Kinder“ ernste Tätigkeiten in „leichtesten Flügelkleidern“ seien, und er teilt die Spiele - zumindest schreibt er das einem fiktiven Verfasser eines „Werkchen[s] über die Kinderspiele“ zu - in zwei Klassen ein, nämlich in Spiele der „empfangenden, auffassenden, lernenden Kraft“ und in solche der „handelnden, gestaltenden Kraft“ (SW I/ 5, 602). Jean Paul bindet das Spiel mit dieser Unterscheidung an den menschlichen Leib. Er schreibt im selben Abschnitt, dass die eine Klasse die Tätigkeit „von außen hinein“ bezeichne, „gleich den Sinn-Nerven“, die andere die Tätigkeit „von innen hinaus, gleich den Beweg-Nerven“. Die erste Klasse nennt er auch die „theoretische“, die zweite die „praktische“. Diese Ausführungen passen durchaus zu Benjamins eigenen Ausführungen, weil Jean Paul meint, dass bei der ‚praktischen‘, von innen nach außen stattfindenden spielerischen Tätigkeit die „dramatische Phantasie“ einen Anteil habe. Benjamin spricht in diesem Kontext zwar gerade nicht von Phantasie, aber die Konzeption der produktiven Einbildungskraft passt dazu. In den ersten Lebensmonaten, schreibt Jean Paul, würden Kinder bloß ‚empfindendes Spielen‘ kennen, „unter der einströmenden Sinnenwelt richtet[e] sich die überschüttete Seele noch nicht zu den selbsttätigen Spielen auf, in welchen sich später die überschießende Kraft beweg[e]“ (SW I/ 5, 604). Erst später, nachdem „in den fünf Akten der fünf Sinne die Erkennung der Welt geschehen“ sei, hebe die „größere Freiheit des Selbstspiels an“: es rege sich „die Phantasie, deren Flügelknochen erst die Sprache befiedert“. „Nur mit Worten“ erobere „das Kind gegen die Außenwelt eine innere Welt, auf der es die äußere in Bewegung setzen“ könne. Diese Passagen sind bezüglich der Sprache-Bild-Thematik nicht außer Acht zu lassen. Sprache und Bilder spielen bei der Phantasie und im Spiel beide eine wichtige Rolle. Auch die unterschiedliche Bedeutung von farbigen Bilderbüchern und schwarzweißen Illustrationen wird schon bei Jean Paul getroffen. Benjamin und Jean Paul treffen sich in dieser scheinbar eigentümlichen Ansicht. Jean Paul schreibt nämlich über die farbigen Abbildungen in Kinderbüchern: Kinder haben - ausgenommen ein- und zweijährige, welche noch den Farben-Stachel bedürfen - nur Zeichnungen, nicht Gemälde vonnöten; Farben gleichen den obigen Reichtümern des Spielzeugs und erschöpfen durch Wirklichkeit die Schöpfungskraft. Daher komme kein Spielzeug schon durch Anschauen vollendet an, sondern jenes tauge zu einem Arbeitzeuge. (SW I/ 5, 607) Auch bei Jean Paul scheinen die farbigen Illustrationen die Schöpfungskraft zu hemmen, aber als Bilder nötig zu sein, um die aufnehmenden Sinne des kleinen Kinds zu schulen. ‚Phantasie‘ hat bei Jean Paul eine Doppelbedeutung, während Benjamin diese Doppelbedeutung mit einer 4. Urphänomene der Wahrnehmung 198 Unterscheidung von Phantasie und Einbildungskraft einzufangen versucht. 39 Die Doppelbedeutung formuliert Jean Paul so: „Aber von derselben Phantasie, welche, gleich der Sonne, den Blättern die Farbe aufträgt, wird sie ihnen auch ausgezogen.“ (SW I/ 5, 606) 40 Deshalb braucht die Phantasie auch jene Nüchternheit, die sich eher in der Zeichnung findet oder im Material, das dem Kind noch nicht als vollendetes Spielzeug vorgesetzt wird: „Jedes Stückchen Holz ist ein lackierter Blumenstab, an welchen die Phantasie hundertblätterige Rosen aufstengeln kann.“ (SW I/ 5, 604) Erst durch diese Nüchternheit vermag sich die produktive Variante der Phantasie zu entfalten. Im Unterschied zu Jean Paul interessiert sich Benjamin viel stärker für das Bildliche selbst, für die Illustration. Obwohl Jean Paul diese Nüchternheit zwar auch - aber nicht nur - auf das Bilderbuch bezieht, spricht er auch allgemein vom Spielzeug. Wenn man eine Parallele bei Benjamin finden wollte, würde man in dieser Hinsicht wohl in „Alte vergessene Kinderbücher“ fündig werden (oder in der „Baustelle“), wo es bekanntlich heißt, dass die Kinder aus den Rest- und Abfallstoffen der Erwachsenenwelt ihre eigene Dingwelt aufbauen (vgl. GS III, 16). Es fällt auf, dass Bildbegriffe bei Jean Paul eine zentrale Rolle bei der Entfaltung der Phantasie spielen. Die verwendeten Bildbegriffe reichen 39 Bei Jean Paul selbst ist die Einbildungskraft nicht auf derselben Stufe wie die Phantasie angesiedelt. In der Vorschule der Ästhetik schreibt er: „Einbildungskraft ist die Prose der Bildungskraft oder Phantasie. Sie ist nichts als eine potenzierte hellfarbigere Erinnerung, welche auch die Tiere haben, weil sie träumen und weil sie fürchten. Ihre Bilder sind nur zugeflogne Abblätterungen von der wirklichen Welt; Fieber, Nervenschwäche, Getränke können diese Bilder so verdicken und beleiben, daß sie aus der inneren Welt in die äußere treten und darin zu Leibern erstarren.“ (SW I/ 5, 47) Wie man sieht, stuft Jean Paul die Einbildungskraft als eine ziemlich niedrige Form ‚poetischer Kräfte‘ ein. 40 Konkreter ist Jean Paul auch hier in der ‚Vorschule der Ästhetik‘. Dort spricht er von der bildlichen Kraft der Phantasie, die als „Hieroglyphen-Alphabet“ der Natur „alle Teile zu Ganzen“ macht, die alles „totalisieret“, auch „das unendliche All“ (SW I/ 5, 47). Er unterscheidet verschiedene Grade: „Der kleinste ist, wo sie nur empfängt.“ (SW I/ 5, 49) Dieser Grad entspricht etwa dem, was auch Benjamin „Phantasie“ nennt. Der höchste Grad sei der, wo die Phantasie „unter dem Namen Genie poetisch erschaff[e]“. Jean Paul kennt nun aber einige Stufen der Phantasie. Die zweite sei jene, in der „mehrere Kräfte vorragen, z.B. der Scharfsinn, Witz, Verstand, mathematische, historische Einbildungskraft usw., indes die Phantasie niedrig steht“ (SW I/ 5, 50): Jean Paul nennt jene, die diesen Grad besitzen, „Talent-Menschen“ („der künstlerische Schauspieler und nachhandelnde Affe des Genies“ SW I/ 5, 52). Eine Stufe weiter oben steht das ‚Grenz-Genie‘ bzw. passive Genie, das eher empfängt als schafft: „Im Empfinden herrschen sie mit besonnener Phantasie über alle Kräfte; im Erfinden werden sie von einer Nebenkraft umschlungen und vor den Pflug der Gemeinheit gespannt.“ Auf der obersten Stufe steht freilich das Genie: „Im Genius stehen alle Kräfte auf einmal in Blüte; und die Phantasie ist darin nicht die Blume, sondern die Blumengöttin, welche die zusammenstäubenden Blumenkelche für neue Mischungen ordnet, gleichsam die Kraft voll Kräfte.“ (SW I/ 5, 56) 4.5. Jean Paul 199 aber über die bloße Phantasie hinaus. Jean Paul entwirft mit Blick auf das Kind in der „Levana“ eine anthropologisch anmutende Stufenfolge der bildenden Kräfte. Gewiss geht es diesbezüglich um die Produktivität, die Schöpfungskraft des Einzelnen, um die Poesie. All das hat mit dem, was man landläufig mit dem Bildbegriff assoziiert, auf den ersten Blick wenig zu tun. Es ist aber tatsächlich so, dass das Gegenteil der Fall ist. Das Bild oder das Bildliche spielt nicht nur im Sinne mentaler Bilder eine Rolle. Es wurde schon einige Male daraufhin hingewiesen, dass der Bildträger meist in irgendeiner Form materielle Qualitäten aufweist. Im Sinne der doppelten Unterscheidung des Bilds vom Träger und dem Referenzobjekt haftet ihm häufig etwas Immaterielles an. Die Rede von den Bildern kann demnach ein integraler Bestandteil von Texten sein, die sich mit den Anfängen des Sprechens und Denkens auseinandersetzen. Jean Paul äußert sich also zum Bildungstrieb und entwirft eine quasi-genetische Stufenordnung. Er unterscheidet den ‚geistigen Bildungstrieb‘ vom ‚Willen‘, da letzterer nur in sich selber zeuge. Der Bildungstrieb hingegen vergrößere seine Welt mit neuen Geschöpfen - er zeichne den Menschen aus: Der geistige Bildungstrieb, der höher als der körperliche nach und durch Willen schafft, nämlich die neue Idee aus den alten Ideen, ist das Abzeichen des Menschen. Kein Wollen bedingt die Vorstell-Reihe des Tiers; im Wachen denken wir selber, im Traume werden wir gedacht, dort sind, hier werden wir unserer bewußt; im Genie erscheint dieses Ideen-Schaffen als schöpferisch, im Mittel-Menschen nur als besonnen und notwendig; wiewohl der Unterschied nur so klein ist als der im Zeugen, das oft Riesen und Zwerge gibt. Die Entwickelungen der Bildungkraft sind 1) die Sprache und 2) die Aufmerksamkeit, welche beide durch Eingrenzen und Abmarken einer Idee näher vor die Seele - bringen 3) die Ein- oder Vorbildungkraft, welche eine ganze Ideenreihe festzuhalten vermag, damit aus ihr die unbekannte, aber gesuchte und folglich geahnte Größe vorspringt, als Teil, Folge, Grund, Symbol, Bild - 4) der Witz - 5) die Reflexion - 6) die Erinnerung. (SW I/ 5, 826) Wieder öffnet Jean Paul mit dieser Stufenfolge einen ganzen Fächer an Attributen und Vermögen, die mit der Sprache und Bildern in einem vielfältigen Zusammenhang stehen. Die Sprache steht - und das ist bei einem Schriftsteller wie Jean Paul auch nicht ganz überraschend - an erster Stelle. Alle weiteren Entwicklungsstufen der ‚Bildungkraft‘ stehen mit ihr in einer Beziehung, sind aber auch stark mit dem Bild verbunden: etwa das Eingrenzen und Markieren von Ideen, um sie vor die Seele zu bringen, das Festhalten einer ganzen Ideenreihe, damit eine Größe vorspringt, die Jean Paul auch Symbol und Bild nennt, ebenso sind auch Witz (Jean Paul unterscheidet zwischen unbildlichem und bildlichem Witz), Reflexion und Erin- 4. Urphänomene der Wahrnehmung 200 nerung mit Bildern zu verbinden. Während beim unbildlichen Witz der Verstand (oder die Reflexion) maßgeblich sei, wirke beim bildlichen Witz die Phantasie. Trotzdem handelt es sich bei der Phantasie nicht um den bildlichen Witz oder umgekehrt. Es handelt sich bei der einen Sache um ein Vermögen, beim anderen um ein sprachliches Verfahren, das stark auf Figuren und Tropen aufbaut: Von der bildlichen Phantasie schlägt der Weg des bildlichen Witzes sich weit ab. Jene will malen, dieser nur färben. Jene will episch durch alle Ähnlichkeiten nur die Gestalt beleben und verzieren; dieser, kalt gegen das Verglichene und gegen das Gleichende, löset beide in den geistigen Extrakt ihres Verhältnisses auf. (SW I/ 5, 187) Der bildliche Witz zersetzt also mehr als dass er gestaltet. Er ‚entkörpere‘ das Leben, meint Jean Paul. Das heißt aber nicht, dass der bildliche Witz nicht auch zur Beseelung von ‚Körpern‘ oder zur Verkörperung von ‚Geistigem‘ fähig wäre. Rund um den bildlichen Witz entwirft Jean Paul, wahrscheinlich inspiriert durch Herder, eine Metapherntheorie, die auch an gewisse Thesen in Nietzsches mittlerweile zum Allgemeinplatz gewordenen Schrift „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn“ 41 erinnert, die übrigens indirekt Herder auch einiges verdankt. 42 Jean Paul schreibt nämlich, dass die eben aufgezählten beiden Seiten des bildlichen Witzes ‚ursprünglich‘ - „wo der Mensch noch mit der Welt auf einem Stamme geimpfet blühte“ (SW I/ 5, 184) - noch eins waren. Dass Jean Paul 41 Vgl. Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn, in: ders.: Kritische Studienausgabe I, Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 875-890. Zum Verhältnis der Sprache zu den Dingen äußert sich Nietzsche folgendermaßen: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue. […] Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“ Ebd., S. 879. Und zur Wahrheit - dem Sujet seines Textes - schreibt Nietzsche, die mittlerweile selbst fast schon ‚abgenutzten‘ Worte: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“ Ebd., S. 880 f. 42 Vgl. Anthonie Meijers, Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche, in: Nietzsche Studien 17, Berlin 1988, S. 369-390. 4.5. Jean Paul 201 hier selbst metaphorisch schreibt und mit dem ‚Blühen‘ auf die Metapher für die Metapher selbst anspielt, ist selbstredend kein Zufall. 43 Der auch aus anderen Argumentationszusammenhängen bekannte Verweis auf die Kinder folgt sogleich: [D]ie Metaphern waren, wie bei Kindern, nur abgedrungene Synonymen des Leibes und des Geistes. Wie im Schreiben die Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte. Das tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern. (SW I/ 5, 184) Jean Paul spricht nicht nur vom Kind, er spricht auch explizit vom Wilden. 44 Der Diskurs über die Primitiven, der hundert Jahre später nochmals 43 Eine andere Stelle demonstriert das augenscheinlich, vgl. SW I/ 5, 183, wo Jean Paul schreibt, dass die „kleine poetische Blume“ als „Name der Metapher […] selber eine verkleinerte Wiederholung eines Beweises“ sei. 44 Ewers zeigt, dass Jean Paul diesen Diskurs über das Primitive von Herder übernehme, räumt aber ein, dass er den Enthusiasmus Herders für das Primitive nicht teile, vgl. Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989, S. 118: „Bei Jean Paul bleibt die primitive Seite des Kindes, die er ganz wie Herder sieht, ohne Bedeutung für die Kindheit. Deren zentrale Kategorien, insbesondere die der kindlichen Weltverklärung, finden keine wesensmäßige Verknüpfung mit Bestimmungen des Primitiven. Ja, das Göttliche im Kinde kommt für Jean Paul zu einem Zeitpunkt zu umfänglicher Ausprägung, an dem das Kind seine primitiven Züge abzustreifen beginnt.“ Dass Ewers‘ ziemlich tendenziös - und stark repetitiv - vorgetragene These nicht ganz unproblematisch ist, zeigen Stellen auf derselben Seite und der Umstand, dass er sich stark am „hohen Menschen“ orientiert, einem Jean Paulschen Typus, der in bestimmten Texten (z.B. in der „Unsichtbaren Loge“ oder im „Titan“) auftaucht und den ein gewisser Idealismus und Jenseitsdrang beseelt, der aber gerade im „Titan“ kritisch reflektiert wird. Obwohl Ewers schreibt, dass Jean Paul bei der Beschreibung der „primitiven Konstitution des Kindes“ in Herderschen Bahnen verbleibe, spielt er diesen Punkt herunter: „[D]ie metaphysische Auszeichnung der Kinder wird nicht auf geschichtliche Anfangsstadien der Menschheit oder auf primitive Völker übertragen. Jean Pauls Metaphysik der Kindheit bleibt ohne Wendung ins Geschichtsphilosophische. Allenfalls ließe sich eine heilsgeschichtliche Analogie ausmachen.“ Ganz exemplarisch für die oben aufgestellte Diagnose ist folgende Passage auf S. 125: „Am Kinde erfahren nur die Züge und Eigenschaften eine metaphysische Auszeichnung, die auf den Jüngling vorausweisen; nur das gilt als ein Hohes, Göttliches am Kinde, das im Jüngling fortlebt und hier zur eigentlichen Fülle gelangt. Die spezifisch kindlichen Eigenschaften dagegen, seine primitive Konstitution, sein Animismus, die es in eine Beziehung zu den wilden Völkern, zur archaischen Menschheit setzen, gewinnen für Jean Pauls Metaphysik der Kindheit keine Bedeutung.“ 4. Urphänomene der Wahrnehmung 202 Hochkonjunktur hat, wird an dieser Stelle nebenbei geführt: „Jedes Bild ist hier ein wundertätiges Heiligenbild voll Gottheit; seine Worte sind Bilder- Statuen, seine Statuen sind Menschen, und Menschen sind er.“ (SW I/ 5, 185) Wann ‚Ich‘ und ‚Welt‘ auseinandertreten, wann sich die Metaphern zum ‚eigentlichen Ausdruck‘ entfärbten, darüber wird - wie in diesen Argumentationsstrategien üblich - keine Auskunft gegeben. Im Gegenteil, die Schreibweise des Autors legt nahe, dass noch nicht alle Metaphern völlig verblasst sind, sondern sich nach wie vor ‚farbig‘ oder ‚bunt‘ geben kann: dahinter steckt Kalkül. In der ‚Levana‘ spricht Jean Paul, wie weiter oben gezeigt wurde, nun auch noch davon, dass bestimmte Formen des bildlichen Ausdrucks vor dem Witz kämen. Das legt den Schluss nahe, dass die sogenannten ‚Wilden‘ oder ‚Kinder‘ nicht über dieselben Fähigkeit zur Produktion des Witzes verfügen wie der zivilisierte oder erwachsene Mensch, der diese Stufen verlassen hat, also ohne Kalkül scheinbar witzige Verbindungen produzierten und demnach in ihrer Ausdrucksfähigkeit durch die ‚bildliche‘ Sprache - und in gewisser Weise durch eine unwillkürlich produzierende Phantasie - determiniert seien. 4.5.1. Die „Bildungkraft“ Am Anfang steht, darüber lässt Jean Paul keine Zweifel offen, die ‚Sprache‘. Sie ist die erste Stufe, durch die die ‚Bildungkraft‘ sich äußert. Sprache-Lernen ist ein zentrales Moment der Bildung. Dabei lobt Jean Paul vor allem die Muttersprache, die er als „Sprach-Mutter“ bezeichnen möchte. Jede neue Sprache würde „nur durch das Verhältnis und Ausgleichung mit der ersten verstanden, das Ur-Zeichen wird nur wieder bezeichnet; und so bildet sich die neuere Nachsprache nicht der neuen und eine der andern, sondern alle sich der ersten Vor-Sprache nach.“ (SW I/ 5, 828) Mit diesen Sätzen spricht sich Jean Paul dagegen aus, voreilig den ‚alten Sprachen‘ ein Lob als Bildungsmittel zu erteilen. „Sprache-Lernen“ sei „etwas Höheres als Sprachen-Lernen“. Durch das Sprache-Lernen könne „das Äußere wie eine Insel erobert“ werden, es werde „vorher dazu gemacht, wie durch Namengeben Tiere bezähmt“. Jean Paul erkennt die Wichtigkeit der Deixis und des symbolischen Zeigfelds, um mit Bühler zu sprechen: Ohne das Zeige-Wort - den geistigen Zeigefinger, die Rand-Hand (in margine) - steht die weite Natur vor dem Kinde wie eine Quecksilbersäule ohne Barometer-Skala (vor dem Tiere gar ohne Quecksilber-Kugel), und kein Bewegen ist zu bemerken. Die Sprache ist der feinste Linienteiler der Unendlichkeit, das Scheidewasser des Chaos, und die Wichtigkeit dieser Zerfällung zeigen die Wilden, bei denen oft ein Wort einen ganzen Satz enthält. (SW I/ 5, 828) 4.5. Jean Paul 203 Die Deixis konzentriert die Aufmerksamkeit des Sprechenden auf etwas bestimmtes, erst durch sie lassen sich die Dinge unterscheiden, markieren, festhalten und durch die Einbildungskraft letztlich reproduzieren. Mehrere Stufen der ‚Bildungkraft‘ wurden hier bereits erklommen, um einen distinktiven Akt der Sprache möglich zu machen. Aber die ‚Bildungkraft‘ geht über den rudimentären Sprechakt hinaus. Sie ist vielmehr die Grundvoraussetzung einer fruchtbaren Erziehung. Jean Pauls anthropologisch gefärbte Theorien kreisen immer wieder auch um das ‚Genie‘. So widmet er etwa der ‚Aufmerksamkeit‘ einige Passagen und meint letztlich, dass es „keine unausgesetzte Aufmerksamkeit für den Menschen“ gebe und dass die „kindliche mit der elterlichen“ leider „nicht immer“ zusammentreffe (SW I/ 5, 835). Er erdichtet dann aber auch eine ‚geniale Aufmerksamkeit‘, die nur dem Genie eignet. „Letzte“ könne nur „erkannt, geschont und gepflegt werden, obwohl nicht erschaffen“. Dabei sollten die Erzieher aufpassen, nicht dass sie dem „Genie“, das sie „mit Kräften und Blitzen“ überrasche eine entgegengesetzte Aufmerksamkeit abforderten, etwa „einem Haydn ein Maler-Auge, einem Aristoteles ein Gedicht“ (SW I/ 5, 836). Unklar ist, ob an der oben zitierten Stelle bereits jene Kraft im Spiel ist, die Jean Paul ‚Vorbildungkraft‘ nennt. 45 Der Zusammenhang, in dem diese Kraft eingeführt wird, ist jedenfalls die Pestalozzische Pädagogik und der einfache mathematische Unterricht. Jean Paul spricht von dieser Kraft hauptsächlich im Zusammenhang mit dem, was man gemeinhin als abstraktes Denken bezeichnet. Die ‚Vorbildungkraft‘ mache es möglich, „eine ganze Ideenreihe festzuhalten“, damit aus ihr „die unbekannte, aber gesuchte und folglich geahnte Größe“ als „Teil Folge, Grund, Symbol, Bild“ vorspringe. Während die Einbildungskraft stückweise auffasse, die Phantasie Gestalten erzeuge, helfe die vorbildende, überschauende Kraft, die Dinge geistig zu überblicken und anzuschauen. Es handelt sich also um ein ‚bildliches‘ Vermögen, das zwischen der rezeptiven Einbildungskraft und der produktiven Phantasie steht, weil sie mehr als bloß aufzufassen vermag, aber auch weniger als die produktive Phantasie kann. Nichtsdestotrotz setzt die ‚Vorbildungkraft‘ Abstrakta in ‚konkrete‘, wenn wohl auch flüchtige Bilder um: Da man den Strahl der einfachen Geistestätigkeit schon in die Farben mehrerer Seelenkräfte gebrochen hat: so wird ja noch eine mehr zu benennen 45 Es ist generell schwierig herauszufinden, von welchen Altersstufen bei Jean Paul jeweils die Rede ist. Zwar ist an einer Stelle von den ersten drei Lebensjahren als Zeit, in der das Kind „aus Mangel an Kunstsprache“ noch im „tierischen Kloster“ lebe und „nur hinter dem Sprachgitter der Naturzeichen mit uns zusammenkomm[e]“ (SW I/ 5, 594), häufig aber überlagern sich Abschnitte und Fähigkeiten. Vgl. dazu auch Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform, S. 99 f. 4. Urphänomene der Wahrnehmung 204 verstattet sein, nämlich jene Kraft, welche sowohl von der Einbildungskraft, die nur stückweise auffaßt, als von der Phantasie, die erzeugt, verschieden ist, und welche dem Philosophen in seinen Kettenschlüssen, dem Mathematiker in seinen Kettenrechnungen und jedem Erfinder in seinen Planen beisteht, indem sie ihnen lange Reihen in täglich wachsenden Massen von Ideen, Zahlen, Linien, Bildern nebeneinander schwebend vorhält und anzuschauen gibt. (SW I/ 5, 840) Die vorbildende und überschauende Kraft ist bezüglich der Anwendung einer mathematischen Methode nicht schaffend, Jean Paul räumt ein, dass nur beim Erfinder der mathematischen Methode eine schaffende Kraft am Werk gewesen sei. Jean Pauls Erziehungskonzept sieht nicht vor, das Kind allzu früh philosophisch und dichterisch zu fordern - jede „künstliche Entwickelung der Seele“ schade dem Kind eher als dass es ihm nutze (SW I/ 5, 841). Nur beim Witz verhält es sich laut Jean Paul anders. Der Witz sei unschädlich - und im Gegensatz zur ‚Vorbildungkraft‘ schaffend. „Die Erstgeburten des Bildungtriebes sind witzige.“ (SW I/ 5, 843) Noch vor der ‚Reflexion‘ und der ‚Phantasie‘ soll der Witz in der „Kinder- und Schulstube anfangs, wie in Vorzimmern und Nähsälen“ den Vortritt erhalten. Und Jean Paul machte sich auch selbst daran, diesen Witz zu fördern. In seiner Zeit als Hauslehrer der Geschwister Georg, Samuel und Wilhelmine Cloeter in Schwarzenbach (von März 1790 bis Mai 1794) legte Jean Paul die sogenannte „Bonmots-Anthologie“ seiner Schüler an: [N]ach einem halben Jahre täglichen fünfstündigen Unterrichts, in dessen Wiederholungen, wie es der Zufall gab, witzige Ähnlichkeiten gesucht wurden, und während desselben die Kinder die spartische Erlaubnis hatten, aufeinander Einfälle zu haben […], machte der Verfasser, um aufzumuntern und aufzubewahren, ein Schreibbuch, betitelt: „Bonmots-Anthologie meiner Eleven“, in welches er vor ihren Augen jeden […] Einfall eintrug. (SW I/ 5, 844) Wie bereits gesagt, erinnern diese Aufzeichnungen teilweise auch an jene Aufzeichnungen, die Benjamin über Wortspiele seines Sohns Stefan anfertigte oder an Aufzeichnungen aus den entwicklungspsychologischen Schriften William Sterns, in denen ja ein paar wenige kindliche Wortspiele des Kindes „Walter B.“ selbst festgehalten wurden. Man könne den Kindern nicht nur unidirektional Sprache lehren, man könne durch sie Sprache auch lernen, meint Jean Paul an einer Stelle: „kühne und doch richtige Wort-Bildungen“ (SW I/ 5, 829). Daraufhin zählt er einige dieser Wortbildungen auf, die er von drei- und vierjährigen Kindern aufgeschnappt hat: „der Bierfässer, Saiter, Fläscher (der Verfertiger von Fässern, Saiten, Flaschen) - die Luftmaus (gewiß besser als unser Fledermaus) - die Musik 4.5. Jean Paul 205 geigt - das Licht ausscheren (wegen der Lichtschere) - dreschflegeln, drescheln - ich bin der Durchsehmann (hinter dem Fernrohr stehend) - ich wollte, ich wäre als Pfeffernüßchenesser angestellt, oder als Pfeffernüßler - am Ende wird‘ ich gar zu klüger - er hat mich vom Stuhle heruntergespaßt - sieh, wie Eins (auf der Uhr) es schon ist - etc.“ (SW I/ 5, 830). Dabei handelt es sich jedoch noch nicht um die Einträge aus seiner Bonmots- Anthologie. Diese sind weitaus komplexer, denn es handelt sich um ‚witzige‘ oder ‚bildliche‘ Vergleiche oder Assoziationen, die eindeutig von älteren Kindern stammen. Von einem Zwölfjährigen berichtet Jean Paul, er habe gesagt, der Mensch werde von vier Dingen nachgemacht, „vom Echo, Schatten, Affen und Spiegel“ (SW I/ 5, 844). Derselbe Junge meinte auch: „Die Luftröhre, die intoleranten Spanier und die Ameisen dulden nichts Fremdens, sondern stoßen es aus.“ Oder: „Die Alten brauchten einen Gott, um nur alle ihre Götter zu merken.“ (SW I/ 5, 844 f.) Beide Beispiele setzen bereits ein historisches und kulturelles Wissen voraus, das sehr junge Kinder so wohl noch nicht haben dürften. Auch zum Thema Entfaltung oder Unterdrückung des Witzes hat Jean Paul pädagogische Empfehlung parat, die wiederum selbst von einigem Witz zeugen: „Der Verfasser der Bonmots-Anthologie erlaubte der Schule sogar Einfälle auf (nicht gern) ihn selber.“ (SW I/ 5, 845) Reflexion wie auch Erinnerung sind wohl die am meisten entwickelten Vermögen der ‚Bildungkraft‘, jedoch werden diese Vermögen - geht man von eben dieser Entwicklung aus - wohl auch am spätesten voll entwickelt sein. Jean Paul äußert sich nicht eben weitschweifig über die Reflexion. Er bemerkt dazu lapidar: „Über das Wichtigste kann ich am kürzesten sein[.]“ (SW I/ 5, 846) Mit Reflexion ist das reflektierende Selbstanschauen gemeint und darüber gebe es laut Jean Paul genügend Abhandlungen. In die Ausführungen zur Reflexion ist auch eine Kritik verpackt. Denn sie könne bis zu einer Art Solipsismus gehen, so dass sich jeder „als sein eigener Bandwurm selber bewohnen möchte“ und sich „ihm das Universum, wenn nicht verluftigt, doch verglaset“ - oder bis dahin, dass gewisse ‚philosophische Naturen‘ „die idealistische Gartenleiter, weil sie auf sich selber lehnt, für den Obstbaum“ hielten, und „die roten Sprossen für lebendige Zweige, und Steigen für Pflücken“ (SW I/ 5, 846 f.). Nur der Dichtkunst gelinge letztlich eine Balance zwischen Außen- und Innenwelt und verhindere, dass man sich auf das eine oder andere versteife. Bei der letzten Stufe der ‚Bildungkraft‘ hat es sich um die Erinnerung. Diese scheidet Jean Paul vom Gedächtnis. Das Gedächtnis sei kein schaffendes Vermögen, bloß ein aufnehmendes. Es sei unter allen geistigen Erscheinungen am meisten von körperlichen Bedingungen abhängig, da es mit steigender körperlicher Entkräftung abnehme und auch Tiere ein Gedächtnis hätten. Die Erinnerung dagegen sei eine schaffende Kraft und gehöre ins Reich des Erziehers. Sie könne „aus gegebnen Gedächtnis-Ideen 4. Urphänomene der Wahrnehmung 206 eine folgende“ wecken - eine „dem Tiere versagte Willkür“ - und gehorche mehr als das Gedächtnis „dem Geiste […] und [wachse] daher mit dessen Ausbildung“ (SW I/ 5, 849). Auch in diesem Fall, bei der Erinnerung, die als zur ‚Bildungkraft‘ gehörigen Kraft freilich zu den schaffenden Kräften gehört, gibt es einen starken Bezug zur Sprache. Bei all diesen Kräften gibt es gewiss auch einen Bezug zum ‚Bild‘. Jede Facette der ‚Bildungkraft‘ scheint zwischen Bildlichkeit und Sprachlichkeit zu gleiten. Auch bezüglich der Erinnerung spricht man ja häufig von ‚Erinnerungsbildern‘ und die Rede von den ‚Gedächtnis-Ideen‘, aus denen die Erinnerung eine folgende zu erwecken vermag, evoziert Bildlichkeit. Aber je höher man die Stufenleiter der ‚Bildungkräfte‘ klettert, desto vermeintlich abstrakter und komplexer wird die ‚Bildlichkeit‘ beziehungsweise findet eine Schwerpunktverlagerung in Richtung Sprachlichkeit statt, die ein weit entwickelter Umgang mit der semiotischen Sprache und der Grammatik voraussetzt: Um die Verbindkraft der Erinnerung zu üben, so lassen folglich eure Knaben schon von frühsten Jahren an Geschichten, z.B. die seines Tages, oder eine fremde oder ein Märchen wiederholen; daher früher der Verflechtungen wegen die weitläufigste Geschichte die beste ist. Ferner: wenn er recht schnell in einer fremden Sprache und zugleich im Erinnern wachsen soll, so lern‘ er nicht Wörter, sondern ein ausländisches Kapitel, das er einigemal durchgegangen, auswendig; die Erinnerung steht dem Gedächtnis bei; Worte werden durch Wortfügung gemerkt, und das beste Wörterbuch ist ein Liebling-Buch. (SW I/ 5, 850) Relativ deutlich wird an dieser Stelle, in welche Richtung Jean Pauls Überlegungen gehen. Obwohl etwa Ewers stets die ‚Metaphysik der Kindheit‘ betont und meint, die Weltverklärung, die Kinder mittels ihrer entwicklungstechnischen Disposition betrieben, mache sie zu ‚poetischen Wesen‘ im Sinne einer unwillkürlichen Poesie 46 , scheint mir die Richtung der Erziehungsbemühungen durchaus auch auf die Bildung der Fähigkeit hinauszulaufen, ‚willkürliche‘ Poesie produzieren zu können. Kindheit ist - durch Jean Pauls organologisches Verständnis - gewiss nichts, das man vollständig hinter sich lassen kann. Aber bestimmt ist ihre Wichtigkeit dadurch gegeben, dass man an die poetischen Kräfte, die im Kind schlummern, über die verschiedenen Stufen der ‚Bildungkraft‘ hinweg anzuknüpfen vermögen muss, um die Balance zwischen Innen- und Außenwelt zu finden. Es ist nicht bloß der Jugendidealismus, der als Kräftevorrat für folgende Lebensabschnitte zu entfalten ist, weil der Erwachsene nicht mehr die Kraft habe, das Ideale zu entdecken und in sich aufzurichten 47 , es ist wohl bereits die poetische Kraft des Kindes. Bei dieser han- 46 Vgl. Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform, S. 117. 47 Ebd., S. 126. 4.6. Von der Farbe zur Form 207 delt es sich aber um eine anthropologisch zu konstatierende Eigenschaft, die deshalb wohl nicht in die von Ewers emphatisch betriebene Interpretation des Kindheitstopos bei Jean Paul als ‚Metaphysik der Kindheit‘ passt, sondern Jean Paul wieder in die Nähe von Herder brächte. Es ist deutlich geworden, dass Benjamin nicht groß auf dessen poetische Texte im engeren Sinne eingeht. Aber er rezipiert die eher im theoretischen und pädagogischen Gewand erscheinende ‚Levana‘. Aber auch dieser Text nähert sich seinem Gegenstand auf der Fertigungsebene an. Gewiss vollzieht er kein kindliches Stammeln oder Stottern, aber er baut sprachlich auf jene ‚Bilder‘, die er als wichtige Komponenten der Entwicklung und Bildung beschreibt. So theoretisch die ‚Levana‘ erscheint, so poetisch - und voller Witz, wenn man Jean Pauls Stufen der Bildungkraft folgen will - ist sie eigentlich. Das ist kein leeres Prädikat, sondern die Nachzeichnung der eigenen Absicht des Textes selbst. Jean Pauls Anthropologie vollzieht sich in der Sprache des hier vorgestellten Textes. Vor diesem Hintergrund muss auch die Frage beantwortet werden, die rhetorisch zu Beginn dieses Kapitels aufgeworfen wurde, nämlich wie es sich mit der Phantasie und den Bildern bei einem Vertreter der schreibenden Zunft verhält. Jean Paul, zu dem sich Benjamin partiell in eine Art Wahlverwandtschaft begibt, beantwortet die Frage in der doppelten Logik seines Textes, der einerseits die besagten Themen abhandelt, andererseits sie aber auch schreibend und darstellend einzuholen versucht. Die Frage bleibt, ob Jean Paul es schafft, diese Bereiche harmonisch zu verbinden. Bei Benjamin jedenfalls geht es um die Erzeugung einer Konstellation, die nicht harmonisch funktioniert. Die Interpretation dieser Denkfigur im Sinne eines Sternbilds lässt das Insistieren eines Kippmoments zu, aber nicht unbedingt im Sinne eines Vexierbilds, sondern eines Kippmoments zwischen begrifflicher Logik und bildlicher Logik. Die einzige Möglichkeit einer Balance ist dort dem Zufall anheimgegeben, sie lässt sich nicht willentlich herbeiführen. Sie bleibt - ganz im Sinne von Jean Pauls Kindervision - eine in der Gegenwart verankerte Erinnerung an einen messianistisch gefärbten Zustand in einer nicht vorwegzunehmenden Zukunft. 4.6. Von der Farbe zur Form Wie zu sehen war, teilen Benjamin und Jean Paul ein gewisses Themenspektrum miteinander. Die ‚Levana‘, die Benjamin immer wieder positiv hervorhebt, enthält Themen, die für Benjamins eigene Überlegungen an der Phantasie von einem gewissen Interesse gewesen sein könnten. Dazu kommt das Interesse für das eigentliche Thema das Buchs: das Kind. Gerade zum Kind schreibt Benjamin, wie bereits oft gezeigt wurde, einiges, aber nirgendwo in diesem Umfang und so systematisch wie Jean Paul in seiner 4. Urphänomene der Wahrnehmung 208 ‚Levana‘. Und doch unterscheiden sich nicht nur Umfang und Systematik. Wie etwa auch in der Rezension zu Max Kommerells Buch über Jean Paul zu sehen ist, nutzt Benjamin das Motiv oder die Figur Jean Pauls, um seine eigenen Ansichten über Phantasie, Farbe, Mimesis etc. mitzuteilen. Diese Ansichten finden sich bei Jean Paul so nicht direkt. Wenn es dort etwa heißt, „[e]ntstaltendes Geschehen“ sei der „Stoff Jean Paulscher Dichtung“, und das sei auch „die Stelle, an der sie mit der Traumwelt sich berühr[e]“ (GS III, 416), oder wenn danach gesagt wird, die „Phantasieanschauung - der Gegensatz aller gestaltenden Einbildung - [sei] in der Welt der Farbe zu Hause“, ist der Bezug zu Jean Paul nicht mehr unmittelbar gegeben. Der folgende Satz, dass „[a]ller Form nämlich, allem Umriß, den der Mensch wahrnimmt, […] er selbst mit dem Vermögen [entspräche], ihn hervorzubringen“, dass aber an der Farbe dieses Vermögen „seine Grenze“ habe (GS III, 417), macht nochmals deutlich, dass hier Benjamin selbst spricht. Zwar kann man der Rezension nicht absprechen, dass sie sich tatsächlich zu Kommerell und Jean Paul äußert und dabei auch etwas Charakteristisches über beide aussagt, dennoch werden beide einer starken, da eigenwilligen Auffassung der Phantasie dienstbar gemacht. Man erinnere sich nochmals an den Satz, dass „[d]ie Kunst, die unterm Walten reiner Phantasie sich der Gestalt entfremdet, […] damit vielleicht nur Bilder des tausendjährigen Reichs vorweg[nehme].“ Kommerell selbst hat diesen Vergleich forciert, er irre nicht, schreibt, Benjamin „wenn er erklärt: ‚Im Ganzen genommen sind Jean Pauls Urteile chiliastisch, weshalb Herder es liebte, seinen Namen Johannes und Richter sinnbildlich zu nehmen.‘“ (GS III, 417) Johannes und Richter verweisen auf die Apokalypse und das Jüngste Gericht. Und damit wird die Phantasie zu einer messianischen Kategorie. Dass die Kunst sich unter dem Walten der Phantasie der Gestalt, also der Form, entfremde und stattdessen Bilder liefere, die das Tausendjährige Reich vorwegnähmen, ist gewiss eine Aussage, die sich nur schwer imaginieren lässt. Die ‚Bilder‘, die hier angesprochen wurden, müssen wohl besonderer Art sein. Jedenfalls dürften sie wohl - entsprechend den Farben, von denen ständig die Rede ist - nur schwer nachhaltig rezipiert werden können - vielleicht deswegen, weil es sich in gewisser Weise um Urbilder handeln muss, die nicht nur im Diskurs um Kunstwerke alleine eingeführt wurden, sondern ebenso im Diskurs über das Kind. Jean Paul, als „weises Kind“ (GS III, 417), ist innerhalb der Logik, die in den Notizen Benjamins vorherrscht, wohl nicht weit entfernt von den Kindern, deren „Anschauungsbilderbuch das Paradies“ sei (GS VI, 124). Komplex sind die in den Notizen aufgestellten Thesen, weil zwischen völlig verschiedenen Bereichen Bezüge hergestellt werden. Neben Illustrationen in Kinderbüchern, die plötzlich neben anamnestischen Erinnerungsbildern von Kindern stehen, wird gleichzeitig ein ästhetischer Diskurs über Kunst geführt, der ‚wahre‘ Kunst von den Kinderbuch- 4.6. Von der Farbe zur Form 209 Illustrationen abgrenzt, aber nicht etwa, wie man zunächst meinen könnte, zuungunsten letzterer. Gerade im ästhetischen Diskurs mischen sich auf eine verworrene Weise anthropologische Auffassungen, die ein wenig an den ästhetischen Diskurs Baumgartens erinnern, und Begriffe des ästhetischen Diskurses um 1800, die - wenn es um das Erhabene geht - von Kant zu stammen scheinen, ansonsten aber eher an die Hegelsche Ästhetik anknüpfen. Wie im Wahlverwandtschaften-Essay letztlich breit diskutiert, drehen sich viele der Notizen immer wieder um das Problem der Schönheit und des Scheins - zwei Begriffe, die als ‚schöner Schein‘ ein wesentliches Merkmal der Kunst im Rahmen des ästhetischen Diskurses darstellen. ‚Scheinlose Schönheit‘ sei gar nicht mehr „wesentlich Schönheit“, heißt es in den Notizen zum Wahlverwandtschaften-Essay (GS I, 829). Sie sei sogar noch etwas Größeres. Denn in den Notizen steht, dass nur ‚natürliche tote Dinge‘ „vielleicht ohne scheinhaft zu sein, schön sein können“ (GS VI, 129) - andernorts wird deutlich, dass das Ideal der Schönheit die ‚schöne Natur‘ ist. So wird auch häufiger vom Verführerischen des schönen Scheins bzw. der Schönheit gesprochen, die „auf der Schamlosigkeit, der Nacktheit des Scheins“ (GS I, 830) beruhe. Die Phantasie - die mit der Scham eine intensive Beziehung unterhält - führe als Entstaltung gerade zur „unendliche[n] Auflösung des gereinigten, von aller Verführung entladenen schönen Scheins“ (GS VI, 115). Im Grunde zeichnet sich durch diese Begriffe und ihre Konstellationen ab, dass es sich um verschiedene Kräfteverhältnisse handelt, die zwischen Produktion und Auflösung - oder Transformation - spielen. Teilweise sind die Begriffe deshalb schwierig zu fassen, weil sie unter bestimmten Bedingungen auf die eine oder andere Seite tendieren, manchmal Kontur anzunehmen scheinen, andernorts eignet ihnen aber auch eine Flüchtigkeit, die zuvor gerade als Charakteristikum eines anderen Begriffs vorgestellt wurde. Je nachdem geschieht das beispielsweise mit dem Begriff der Farbe, stärker noch mit dem Begriff des Bilds. In diesem Kapitel gab sich - wie bereits in vorherigen - eine Art Dialektik zu erkennen. Eine ‚untergründige‘ Welt des Kinds, der Farbe, der Phantasie, des Bildlichen wurde abgelöst durch eine ausdrucksvolle Formensprache. In dieser aber, beispielsweise verkörpert durch konkrete Phänomene - gewisse Kinderspiele, das Kinderbuch, bestimmte Kunstwerke, bestimmte Illustrationen oder poetische Texte -, scheint diese Welt durch. Aber sie bleibt unfassbar, in einigen Fällen zeichnet sie sich durch eine Art Wolkenhaftigkeit - ebenfalls mit Flüssigkeit in Verbindung zu bringen - oder fluide Beweglichkeit aus. Auch das Herbeiziehen der Iris oder Regenbogenhaut als seltsam anthropologisch-materialistisches Sinnbild für die Ambivalenz eines solchen ‚Sehens‘ trägt wenig zu einer wirklichen Explikation bei. Es ist nicht so, dass die Phänomene, in denen jene Regenbogenhaftigkeit des Bildes nochmals durchscheint, diese deutlich 4. Urphänomene der Wahrnehmung 210 auszudrücken vermögen. Eine gewisse Regelhaftigkeit im Umgang mit Phänomenen oder Tätigkeiten dieser Art sucht man vergebens. Es ist paradoxerweise das Gegenteil der Fall. Die Anthropologie oder Ästhetik, die in den Notizen erprobt wird, zielt auf das, was die Regelhaftigkeit unterläuft. Obwohl also immer wieder vom Bild gesprochen wird, von Malern und Illustratoren, so scheinen gerade die Eigenheiten des Bildlichen durch das, was gemeinhin damit verbunden wird - etwa die Materialität des Werkzeugs oder der Ausdrucksmittel, ja das Trägermaterial überhaupt -, verschüttet. Was immer wieder mit der ‚Geistigkeit‘ angesprochen wird, ist jedoch auch nicht jenes schwebende Dritte eines ‚konkreten‘ Bildes zwischen Bildträger und Bildobjekt. Vielmehr ist es eine negativ postulierte bildliche Differenz, die als Medium von einer mehr oder weniger paradiesischen Bilder-Welt zeugt, die man sich mit starkem Hang zur Immanenz denken kann. Bar jeden Ausdrucks scheint diese Welt zwar aus differenten Bildern zu bestehen, doch scheinen sie in der Immanenz verbunden. Diese Bilder wären nichts wirklich Präexistentes, sondern etwas, dass, wie weiter oben bereits gesagt wurde, aktualisierten Bildern zugrunde liegt. Und damit wären sie in gewisser Weise das Medium des Ausdrucks, jedoch nicht der Ausdruck selbst. Ganz so wie die Phantasie als die Grundlage des Schöpferischen dargestellt wird, jedoch selbst keinen ‚konstruktiven‘ Anteil innehat. Zwar liege sie „jedem Kunstwerk zu Grunde“ (GS VI, 116), jedoch sei sie unfähig, von sich aus „ein Kunstwerk zu konstruieren, weil sie sich als Entstaltendes immer auf ein Gestaltetes außerhalb ihrer selbst beziehen“ müsse. Nur die Sprache, heißt es an derselben Stelle, könne im glücklichsten Falle „die entstaltenden Mächte in ihrer Gewalt behalten“, nur sie vermag die Phantasie in „den Ausdruck des Werkes“ aufzunehmen. Und auf Sprache laufen diese Überlegungen letztlich auch hinaus. Durch und durch sprachlicher Natur sind ja auch diese Überlegungen. Wie so häufig aber weist diese Sprache, weisen diese notizenhaften Texte Wendungen auf, die sich ihrem Gegenstand anzupassen versuchen - sie bleiben oft kryptisch, schwer zu fassen, wolkenhaft, sie bleiben selber so entrückt wie die Lyserschen Märchenbuch-Illustrationen, zu denen ein Text hätte geschrieben werden sollen, der nie zustande gekommen ist. Nachdem das Kind sich der Farbe hingegeben hat, wird es zur Form gebracht. Deshalb wird es im nächsten Kapitel vermehrt um das Schreibenlernen gehen. So wie hier der Anstoß der Überlegungen farbige Bilderbücher waren, so wird im nächsten Kapitel die Spielfibeln und das Schwarzaufweiß diese Rolle zukommen. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Schritt von der Immanenz zur Transzendenz, vom ‚geistigen‘ Inhalt zur Form, es handelt sich auch um einen Schritt von einer Bildlichkeit, die mit der Malerei assoziiert wird, zu einer, die stärker mit der semiotischen Schrift zusammenhängt. 5. Schreibenlernen 5.1. Bildlichkeit der Buchstaben Es liegen zahlreiche Texte Benjamins vor, die sich ganz explizit mit dem Schreibenlernen befassen. Einerseits schreibt er wiederum über Kinderbücher, er rezensiert Spielfibeln und er schreibt, wie bereits angedeutet wurde, nicht zuletzt auch in der Berliner Kindheit über das Erlernen der Schrift und Sprache. Zudem gibt es eine Handvoll Aufzeichnungen Benjamins, die sehr früh verfasst wurden, noch vor den Zwanziger oder Dreißiger Jahren, aus denen die meisten publizierten Rezensionen und Kinderbuchbetrachtungen stammen. Sie enthalten manchmal ziemlich kryptische Überlegungen und Formulierungen, die sich dennoch teilweise mit einigen Formulierungen in den publizierten Aufsätzen und Rezensionen decken. Demnach können diese frühen Überlegungen also in gewisser Weise als Vorüberlegungen betrachtet werden, stellen aber eigene Texte dar. Einigen dieser Überlegungen sind wir bereits im letzten Kapitel begegnet, wo es um die Bedeutung der Farbe für die kindliche Phantasie ging. Dort wurde auch bereits angedeutet, dass Benjamin die Anfänge des Schreibens in ontogenetischer Hinsicht und eine damit verbundene Tendenz zum Schwarzweiß als eine Weise der aktiven Produktion von der eher passiv skizzierten Farbwahrnehmung und der Phantasie abgrenzt. Das ist aber nicht alles, was er über die Anfänge des Schreibens zu sagen hat. Bei der Einleitung in das Thema des letzten Kapitels war die Rede davon, dass es Bilder gebe, die im Kind das Wort wach riefen, die es dazu animierten, die Dinge zu benennen oder sich ihnen mittels der Zeichnung oder der Schrift zu nähern. Es ging darum, dass ein unmittelbarer Bezug zwischen den Dingen und Abbildungen nicht gegeben ist bzw. dass die Abbildung bestimmter Dinge in einem Kinderbuch nicht dazu führten, das Kind mit einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit vertraut zu machen (zu der letztlich zwar auch das Buch selber gehören würde). Eine erkenntnistheoretische Ebene wurde dort eingeführt, nämlich jene, dass das Kind die Gleichheit eines Balls und seiner Abbildung im Kinderbuch nur erkennen könne, wenn eine Vermittlung durch das Wort stattfände. „Nur die abbildenden Darstellungen, nicht das Kunstwerk, noch die Erscheinungen der Phantasie“ seien beschreibbar (GS VI, 113). Die abbildenden Darstellungen animieren das Kind, sie zu beschreiben, im Sinne einer Deskription, gar einer Art Ekphrasis wie natürlich auch im Sinne eines Vollkritzelns mit dem Stift. Nur beherrscht das Kind ja nicht von Anfang an die Alphabetschrift, weswegen es in die Welt der einzelnen Buchstaben eingeführt zu werden hat. Der Schrift wird in diesem Kapitel 5. Schreibenlernen 212 demnach das Hauptaugenmerk geschenkt. Die Schrift und alle anderen Arten des sprachlichen Ausdrucks teilen eine Gemeinsamkeit: sie lassen sich auf den Leib beziehen. Und sowie die Schrift mit Blick auf die Ontogenese thematisiert wird, so bringt Benjamin sie auch in eine Verbindung mit der Phylogenese. Dass im Rahmen des Schrifterwerbs auch bildliche Komponenten wichtig sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Gerade in der Anfangsszene des Schreibens spielt das Zeichnen eine beträchtliche Rolle. Diese zeichnerischen Linien sind es, die von einer sinnlich-dichten Dimension in eine abstrakte überführt werden sollen, die zwar nicht nichtsinnlich ist, bei der aber die Wiederholbarkeit des Einzelbuchstabens entscheidend ist, der als einzelner Buchstabe wie vor allem auch im Buchstabenverbund vorderhand keine unwillkürliche Beziehung mehr zum Signifizierten unterhält. Bilder sind es aber, die in der Schrift immer wieder durchbrechen oder durchscheinen, die zwar durch die semiotische Schrift vermeintlich verdrängt werden, in Form des Schriftbilds aber wieder auftauchen können. Das bildliche Moment an der Schrift ist es auch, das rund um einen phylogenetischen Ursprung von Benjamin thematisiert wird. Es steht mitunter am Anfang der Schrift. Ähnlich wie auch bezüglich des Sprachursprungs überhaupt lässt sich im Zusammenhang mit dem Schrifterwerb eine Art Sündenfallproblematik ausmachen. Zwar mag der Schrifterwerb gegenüber der Bilderproduktion zunächst als ein Fortschritt erscheinen, jedoch ist dieser Fortschritt äußerst ambivalent, weil er eine Dressur des Leibes bedeutet und weil sich mit der Schrift auch sonst herrschaftliche Gewalt manifestieren kann. Die Schrift ist in mehrfacher Weise auf einer Schwelle anzusiedeln. Eine Schwellensituation stellen Lesen- und Schreibenlernen insofern schon dar, als von denen, die diesen Prozess (ein)leiten und dirigieren möchten, etwas nachzuvollziehen ist, das einerseits für sie scheinbar bereits vergangen ist, andererseits aber als etwas für sich und für andere (Eltern und natürlich Kinder) präsent gemacht werden muss, das einen prozessualen Charakter hat: nämlich das Lernen. In gewisser Weise wird so die strikte Grenze zwischen dem Kind und dem Erwachsenen aufgeweicht. Das gilt nicht nur für Pädagogen, die eine Lesefibel erstellen, sondern auch für jene wie Benjamin, die über den Prozess des Schreibenlernens schreiben (in „Der Lesekasten“ schreibt Benjamin etwa: „Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr.“ Vgl. GS IV, 267; das verweist einerseits darauf, dass es ein erstes Mal nicht mehr gibt, aber auch, dass es gerade dieses erste Mal ist, das im Diskurs wiederum aktualisiert zu werden hat, um das Gehen bzw. Schreiben als Aktivität in der Gegenwart erfassen zu können). Eine zusätzliche Dimension der Schwellenhaftigkeit ergibt sich außerdem durch den Umstand, dass beim Schrifterwerb mittels eines Schreibens, das zunächst mehr ein Zeichnen ist, die - denkt man an Lessings Laokoon 5.2. Kritik an der Pädagogik 213 - scheinbar klare Grenze zwischen dem Bild und der Schrift immer wieder unterlaufen wird. Wo hört die dichte, nicht-arbiträre Zeichnung auf, wo - wenn überhaupt - fängt die diskrete Zeichenschrift an? Gibt es einen Übergang von der Sinnlichkeit der bildlichen Wahrnehmung und Darstellung hin zu einer intelligiblen? Drittens geht es um eine weitere Schwelle, die mit den ersten beiden zusammenhängt, sie wurde oben bereits angedeutet. Diese Schwelle bezieht sich auf eine gewisse Sündenfall- und Herrschaftsproblematik, die Benjamin in die Überlegungen zum Schreibenlernen einfließen lässt und die mit der Schrift-/ Bildproblematik verbunden werden kann. 5.2. Kritik an der Pädagogik Die Einführung in die Welt der Buchstaben wird von Benjamin, dem begeisterten Sammler alter Kinderbücher, immer wieder einer historischen Betrachtung unterzogen. Einerseits gewinnt er alten Büchern wie auch zeitgenössischen Fibeln positive Aspekte ab, andererseits spart er aber auch nicht mit Tadel. Kritik übt Benjamin bereits an den Kinderbüchern der Aufklärung. Die Intention der damaligen Pädagogen, aus dem „Naturwesen schlechtweg“, dem Kind, „den frömmsten, besten und geselligsten“ Menschen „heranzuziehen“ ohne die gesellschaftlichen Umstände mitreflektieren zu können (GS III, 15), sieht Benjamin dieser Epoche jedoch noch nach. Mit den Zeitgenossen aber, die nach wie vor „Rousseauschen Träumen nachhängen“ (GS IV, 515), geht er weitaus härter ins Gericht. Alles in allem diagnostiziert Benjamin regelrechte ‚Verirrungen‘ im zeitgenössischen pädagogischen Schrifttum: Im Aufsatz „Alte vergessene Kinderbücher“, der hier schon mehrmals zitiert wurde, hält er fest, dass die „überwundenen Fehler geringfügig gegen die Verirrungen“ seien, die „Dank der vermeintlichen Einfühlung in das kindliche Wesen heute im Schwange sind: trostlose verzerrte Lustigkeit der gereimten Erzählungen und die grinsenden Babyfratzen, die von gottverlassenen Kinderfreuden dazu gemalt werden“ (GS III, 15). Benjamin polemisiert in diesem Aufsatz, der auch eine Passage enthält, die einem in Form des „Einbahnstraße“- Stücks „Baustelle“ begegnet, gegen die Einfühlungsphantasien der zeitgenössischen Pädagogen. In der „Einbahnstraße“ heißt es also: Pedantisch über Herstellung von Gegenständen - Anschauungsmitteln, Spielzeug oder Büchern -, die sich für Kinder eignen sollen, zu grübeln, ist töricht. Seit der Aufklärung ist das eine der muffigsten Spekulationen der Pädagogen. Ihre Vergaffung in Psychologie hindert sie zu erkennen, daß die Erde voll von den unvergleichlichsten Gegenständen kindlicher Aufmerksamkeit und Übung ist. Von den bestimmtesten. Kinder nämlich sind 5. Schreibenlernen 214 auf besondere Weise geneigt, jedwede Arbeitsstätte aufzusuchen, wo sichtbar die Betätigung an Dingen vor sich geht. Sie fühlen sich unwiderstehlich vom Abfall angezogen, der beim Bauen, bei Garten- oder Hausarbeit, beim Schneidern oder Tischlern entsteht. In Abfallprodukten erkennen sie das Gesicht, das die Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein, zukehrt. In ihnen bilden sie die Werke der Erwachsenen weniger nach, als daß sie Stoffe sehr verschiedener Art durch das, was sie im Spiel daraus verfertigen, in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen. Kinder bilden sich damit ihre Dingwelt, eine kleine in der großen, selbst. Die Normen dieser kleinen Dingwelt müßte man im Auge haben, wenn man vorsätzlich für die Kinder schaffen will und es nicht vorzieht, eigene Tätigkeit mit alledem, was an ihr Requisit und Instrument ist, allein den Weg zu ihnen sich finden zu lassen. (GS IV, 92 f.) Das sind deutliche Worte. Im Aufsatz über Kinderbücher schreibt Benjamin zusätzlich: „Das Kind verlangt vom Erwachsenen deutliche und verständliche, doch nicht kindliche Darstellung.“ (GS III, 15) Aus diesen Worten wird klar, dass Benjamin von Seiten der Erwachsenen Sachlichkeit erwartet. Aber das ist nur eine Hälfte der Erwartungen oder Forderungen an die Pädagogik. Benjamin ist schließlich auch dafür, den kindlichen Spieltrieb zu entfachen. Und dass das nicht immer über Deutlichkeit und Verständlichkeit geschehen kann, liegt auf der Hand. Er legt deshalb auch Wert auf pädagogische Strategien, die darauf abzielen, bei jedem einzelnen Kind einen individuellen Umgang mit den gestellten Aufgaben zu provozieren. Das bedeutet, dass die Aufgaben über eine bestimmte Deutlichkeit hinaus dem Kind viel Spielraum gewähren. Man könnte in dieser Hinsicht fast von einer Art reglementiertem Anarchismus sprechen, den er von den pädagogischen Programmen der Fibeln verlangt. Auch das Fazit des Artikels über „Altes Spielzeug“ legt diesen Schluss nahe. Dort heißt es: „[D]ie nachhaltigste Korrektur des Spielzeugs vollziehen nie und nimmer die Erwachsenen, seien es Pädagogen, Fabrikanten, Literaten, sondern die Kinder selber im Spielen.“ (GS IV, 515). Die Forderung nach einer bestimmten Umgang mit dem kindlichen Spiel, das es weniger reglementiert, sondern stärker seine Entfaltung begünstigt, scheint umso dringlicher, als Benjamin die Entwicklung der Kinderbücher und v.a. Fibeln eher kritisch betrachtet und nach wie vor eher als restriktiv verfahrend beurteilt. Nicht erst die zeitgenössischen Fibeln erscheinen ihm dabei wert, kritisiert zu werden, auch ab der Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachtet er eine Art ‚Niedergang‘. Diesen Niedergang bringt Benjamin durchaus in eine Beziehung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen. Kultur- und technikkritisch - man kennt diese Position auch aus anderen Zusammenhängen, etwa aus dem Umkreis der Baudelaire-Arbeiten oder der Passagen-Arbeit - hält er für die vierziger Jahre 5.2. Kritik an der Pädagogik 215 des 19. Jahrhunderts fest, dass der „Aufschwung der technischen Zivilisation“ mit einer „Nivellierung der Kultur“ einherging, die die „feinsten edelsten Substanzen […] zuunterst geraten“ ließen (GS III, 19). Gerade in „den Niederungen des Schrift- und Bildwerks, wie in den Kinderbüchern“ finden sich noch jene Elemente, die man in den „anerkannten Kulturdokumenten“ der Zeit vergeblich suchte. Benjamin hat dabei eine konkrete Figur im Sinn, nämlich den bereits erwähnten Johann Peter Lyser. An ihm interessieren ihn die Illustrationen. Denn die Illustrationen bilden für Benjamin einen Bereich, in dem auch die „altmodischsten, befangensten“ Werke dieser Epoche rehabilitiert werden können. Es sei ein Bereich, der sich „der Kontrolle der philanthropischen Theorien“ entzogen habe und in dem „über die Köpfe der Pädagogen hinweg Künstler und Kinder sich verständigt“ hätten (GS III, 17). Hart ins Gericht geht Benjamin mit den Fibeln bzw. Kinderbüchern aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Es ist die Psychologie, mittels der die Pädagogen aus dieser Zeit einen Zugriff auf das Wesen des Kindes zu haben vermeinen. „Der Stolz auf ein psychologisches Wissen vom kindlichen Innenleben“ habe eine „Literatur großgezogen, die im selbstgefälligen Buhlen um die Aufmerksamkeit des Publikums den sittlichen Gehalt verloren“ habe, der noch „den sprödesten Versuchen der klassizistischen Pädagogik ihre Würde“ gegeben habe (GS III, 21). In Bezug auf diese Epoche fällt Benjamins Urteil härter aus. Nicht einmal mehr über die Illustration und das Bildliche gibt es noch eine Verbindung zum Kindlichen, das nicht durch ein herrschaftliches Gefälle geprägt wäre: „Die heimliche Verständigung zwischen dem anonymen Handwerker und dem kindlichen Betrachter fällt fort; Schreiber wie Illustrator wenden sich mehr und mehr durch das unlautere Medium der akuten Sorgen und Moden zum Kinde. Die süßlichste Geste, die nicht dem Kinde, sondern den verdorbenen Vorstellungen von ihm entspricht, wird in den Bildern heimisch.“ (GS III, 21) Das sind ziemlich deutliche Aussagen. Aber es ist nicht so, dass Benjamin diesem ‚Kitsch‘, wie er sagt, nicht auch etwas abgewinnen könnte. Schließlich handelte es sich dabei um wertvolle kulturhistorische Dokumente. Interessant ist an diesen Ausführungen und Urteilen nicht bloß, dass Benjamin scharf gegen Pädagogen schießt, auch wenn es doch bemerkenswert ist, dass er den „Anfang des Elends in der Kinderliteratur“ dort verortet, wo sie in die „Hände der Spezialisten fiel“, wie er auch in einer Rundfunkarbeit für Kinder bekräftigt (GS VII, 252). Spannend ist die Rolle, die er dabei dem Bild zuweist. Er schreibt, wie oben bereits hinsichtlich Lyser und der Illustrationen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angedeutet wurde, dass es das „große Glück“ für das Kinderbuch gewesen sei, dass „die Pädagogen dem illustrativen Teile der Bücher lange nur eine geringe Beachtung schenkten, zumindest mit Normen nicht beikommen konnten“ (GS VII, 252 f.). Das lässt auf eine Art Anarchismus der Bilder schließen. Aber es lässt auch den Schluss zu, dass 5. Schreibenlernen 216 Bildern eine enorme Wichtigkeit beim Schreiben- und Lesenlernen zugeschrieben werden darf. Einige Passagen aus diesem Rundfunkvortrag weisen in diese Richtung. Erstens scheint das Bild im Kinderbuch-Kosmos bereits sehr früh eine wichtige Rolle eingenommen zu haben, Benjamin kommt immer wieder auf den „Orbis pictus“ des Amos Comenius zu sprechen (1658 publiziert), in dem sich zahlreiche Abbildungen bestimmter Gegenstände und Begriffe finden, die mit Erläuterungen in lateinischer Sprache und der jeweils am Erscheinungsort vorherrschenden Landessprache versehen wurden. Zweitens konstatiert Benjamin einen zeitgenössischen Wandel der Wichtigkeit der „Anschauung“, wenn er schreibt, das die „außerordentliche Aktualität, die alle Versuche eines Anschauungsunterrichts“ besäßen, darauf beruhte, dass ein „neues, ein genormtes und wortloses Zeichensystem heute auf den verschiedensten Lebensgebieten - in Verkehr, Kunst, Statistik, im Andringen scheint“ (GS VII, 251). Das Anschauungsbilderbuch auch textlich zu durchdringen, sei eine schwierige Aufgabe, meint Benjamin. Er sieht sie aber einigermaßen gut gelöst in einem Anschauungskinderbuch von Johann Paul Wich („Steckenpferd und Puppe“) von 1848, in dem er folgende Verse findet: Vor dem Städtlein sitzt ein Zwerglein,/ Hinterm Zwerglein steht ein Berglein,/ Aus dem Berglein fließt ein Bächlein,/ Auf dem Bächlein schwimmt ein Dächlein,/ Unterm Dächlein steckt ein Stüblein,/ In dem Stüblein sitzt ein Büblein,/ Hinterm Büblein steht ein Bänklein,/ Auf dem Bänklein ruht ein Schränklein,/ In dem Schränklein steht ein Kästlein,/ In dem Kästlein liegt ein Nestlein,/ Vor dem Nestlein sitzt ein Kätzlein,/ Merken will ich mir das Plätzlein. (GS IV, 610) In „Aussicht ins Kinderbuch“ kommentiert Benjamin die Verse mit dem Satz „‘Wie das Kind ein Plätzlein sich merkt‘, mit Auge und Finger seine Bilderlandschaft durchquert, sagt dieser musterhafte Kinderreim aus einem alten Anschauungsbuch“. Dieser Vers erinnert nicht von ungefähr an das ‚Bucklichte Männlein‘, auch in ihm sieht man die Dinge verkleinert. In den hier zitierten Versen sind nicht zufällig die per se schon auf etwas Kleines weisenden Wörter ‚Bub‘ und ‚Zwerg‘ mit dem diminuierenden Suffix ‚lein‘ enthalten. Benjamin lässt hier im Zitat jenes im ‚Bucklichten Männlein‘ thematisierten ‚Nachsehn‘ anklingen 1 , das die Dinge schrump- 1 Vgl. GS IV, 303: „Wo es erschien, da hatte ich das Nachsehn. Ein Nachsehn, dem die Dinge sich entzogen, bis aus dem Garten übers Jahr ein Gärtlein, ein Kämmerlein aus meiner Kammer und ein Bänklein aus der Bank geworden war. Sie schrumpften, und es war, als wüchse ihnen ein Buckel, der sie selber nun der Welt des Männleins für sehr lange einverleibte. Das Männlein kam mir überall zu vor. Zuvorkommend stellte sich’s in den Weg. Doch sonst tat er mir nichts, der graue Vogt, als von jedwedem Ding, an das ich kam, den Halbpart des Vergessens einzutreiben[.]“ 5.3. Chichleuchlauchra 217 fen lässt und sie der „Welt des Männleins für sehr lange einverleib[e]“ (GS IV, 303). Ebenfalls wird mit dem Verb ‚merken‘ die Erinnerungsproblematik angesprochen, die einem beim Männlein begegnet, das von jedem Ding den „Halbpart des Vergessens“ eintreibe, auf das gewiss auch bereits das vieldeutige Wort ‚Nachsehn‘ anspielt. Die Reihe der Dinge, die im Vers gebildet wird, ist ja mitnichten eine, die tatsächliche Orientierung verspricht. Sie ist vielmehr der Dichte der Bilder nachempfunden, die eine lineare Ordnung unterlaufen. Benjamins Rückbindung der Lektürebewegung an den Leib ist - mit dem Verweis auf den Finger ist bestimmt die Geste mitgemeint - ernst zu nehmen. Die Verse verdichten nicht nur auf der Ebene des Klangs die Wörter ineinander, sie wecken auch auf der Ebene des Sinns Vorstellungsbilder, die wiederum für eine ‚Lektürepraxis‘ stehen, die Bilder, die auf Bildträgern wie der Zeichnung oder dem Stich aufgerufen werden, als zu Lesende genauso umfasst wie Texte. Es geht dabei nicht bloß um ein ‚abstraktes‘ Entschlüsseln semiotischer Buchstabenfolgen. Dennoch aber ist eine gewisse Ordnung erkennbar, es handelt sich um eine Folge. Trotz der Folgenhaftigkeit wird Benjamin jedoch selten müde, das Wilde und Karnevaleske zu betonen, das nicht nur Kindern selbst eignet, sondern auch den Illustrationen. Dieses Moment, das neben der Repetition und Strenge seit je auch einen Platz in den Kinderbüchern hatte - v.a. in der Gestalt des Bildlichen, aber auch über bestimmte Textstrategien -, findet sich auch in den Fibeln Tom Seidmann-Freuds, denen Benjamin mehrere Rezensionen widmet. 5.3. Chichleuchlauchra „Chichleuchlauchra“ ist ein Wortungetüm, das Benjamin zum Titel einer Rezension gemacht hat, die sich vornehmlich Tom Seidmann-Freuds Spielfibel Nummer 1 widmet, die den Titel „Hurra, wir lesen! Hurra, wir schreiben! “ trägt. Chichleuchlauchra steht für eine pädagogische Haltung und entstammt wohl einer Lesefibel aus dem 16. oder 17. Jahrhundert. Man wollte mit solchen Wörtern Kinder daran hindern, die Wörter zu erraten, anstatt sie Buchstabe für Buchstabe zu lesen. Benjamin hält von dieser Auffassung des Lesenlernens nichts, er meint, dass „Lesenlernen zum guten Teil eben Ratenlernen“ sei (GS III, 267). Benjamin begegnete Seidmann-Freuds Arbeiten positiv. Sie ist die Verfasserin illustrierter Kinderbücher wie auch vierer Fibeln (zweier Lese- und Schreibfibeln und zweier Rechenfibeln). Ihr Buch „Das Zauberboot“ von 1929 nennt Benjamin in seinem kurzen Text „Was schenke ich einem Snob? “ „das schönste aller neuen Kinderbücher“ (GS III, 211) - es handelt sich um ein Buch, das durch seinen Bilderreichtum auffällt. Die Illustrationen bieten häufig die Möglichkeit, mittels bestimmter beweglicher Teile 5. Schreibenlernen 218 neue Bildinhalte zu erzeugen. Diese veränderbaren Illustrationen wiederum tragen ihren Teil zur Erzählung der dort versammelten kleinen Geschichten bei. 2 Tom Seidmann-Freud ist früh gestorben. Trotz ihres frühen Tods - sie hat sich nach dem Selbstmord ihres Mannes Jakob Seidmann das Leben genommen - hat sie aber, wie man sieht, einige Bücher und postum auch Fibeln hinterlassen. Mit „Chichleuchlauchra. Zu einer Fibel“ (1930) und „Grünende Anfangsgründe. Noch etwas zu Spielfibeln“ (1931) widmet Benjamin letzteren, wie bereits erwähnt, zwei Rezensionen. Benjamin schien zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ihrem Tod gewusst zu haben. Tom Seidmann-Freud war mit Gershom Scholem persönlich bekannt. 3 Und dieser unterrichtete Benjamin erst anfangs 1930 über ihren frühen Tod, als dieser die Rezensionen ihrer Fibeln bereits geschrieben hatte (vgl. den Brief vom 15. 1. 1933 in GB IV, 156: „Dennoch bleibt manches zu beanstanden: sei es, daß ich das Wissenswerte viel zu spät erfahre, wie Deine Kunde von der Seidmann-Freud, die Du mit frecher Stirn für dich behieltest, indessen ich in meiner Ahnungslosigkeit Dir meine Rezension ihrer Bücher schickte[.]“). Es soll nun aber nicht der Eindruck entstehen, dass Benjamin bloß Tom Seidmann-Freuds Bücher positiv bespricht oder erwähnt. Positive Befunde seinerseits trifft man auch bei seinen Einschätzungen älterer Bücher an. Auch das Spielerische, das Seidmann-Freuds Fibeln auszeichnet und das Benjamin rühmt, findet sich bereits in frühen Büchern. So betont Benjamin in einer 1924 veröffentlichen Rezension über Karl Hobreckers „Alte vergessen Kinderbücher“ etwa eigens, dass Friedrich Bertuch, der gegen Ende 2 Noch heute erfahren ihre Bücher durch ihre ‚Modernität‘ eine vorbehaltlos positive Bewertung: „Mit ihren Bilderbüchern Das Wunderhaus und Das Zauberboot / The Magic Boat nahm Tom Seidmann-Freud die Idee des Verwandlungsbuchs wieder auf, die sie auf moderne Weise interpretierte. Sie beschränkte sich nicht darauf, Bildteile beweglich zu machen und damit zusätzliche Spielmöglichkeiten zu erschließen, sondern sie setzte Dreh-, Zieh und Klappmechanismen methodisch ein, um Kinder zu einem freien, fantasievollen Umgang mit den Texten anzuregen.“ Vgl. Wolfgang Wangerin (Hrsg.), Der rote Wunderschirm. Kinderbücher der Sammlung Seifert von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus, Göttingen 2012, S. 147. 3 Vgl. Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, S. 78: „Es ist die 1892 in Wien geborene Tom (eigentlich Martha Gertrude) Freud, eine Nichte Sigmund Freuds, die nach einem Studium am Königlichen Kunstgewerbemuseum in Berlin ihre Begabung als Kinderbuchautorin und -illustratorin entdeckt, während ihrer zwei Jahre in München 1919/ 1920 zu einem intellektuellen Kreis junger jüdischer Studenten aufnimmt, zu denen Gershom Scholem, Heinz Pflaum und der Dichter Schmuel Agnon gehören, nach ihrer ihrer Ausweisung aus der bayerischen Hauptstadt nach Berlin zurückkehrt, wo sie 1921 den Schriftsteller und Verleger Jakob/ Jankew Seidmann heiratet. Scholem, der uns ein kleines Porträt aus ihrer Münchner Zeit hinterlassen hat, beschreibt sie als ‚eine ans Geniale grenzende Illustratorin von Kinderbüchern, zum Teil auch deren Verfasserin‘“. 5.3. Chichleuchlauchra 219 des 18. bis Mitte 19. Jahrhundert das zwölfbändige „Bilderbuch für Kinder“ 4 - eine Enzyklopädie mit vielen kolorierten Stichen von Tieren, Pflanzen, Mineralien, Stadt- und Land- und Gebäudeansichten - herausgegeben hat, in seiner „Vorrede ganz unbefangen zum Ausschneiden der Bilder“ aufforderte. „Heute würden die meisten Eltern sich vor der Zumutung entsetzen, eine solche Kostbarkeit in Kinderhände zu legen“ (GS III, 16). Benjamin streicht nicht nur dort, sondern immer wieder heraus, mit welcher Hingabe in früheren Zeiten für Kinder gearbeitet wurde. Er hebt, wie im letzten Kapitel bereits gesagt wurde, jedoch auch bei negativ bewerteten Büchern manchmal hervor, dass zumindest bei der Illustration ein Bereich bestand, durch den sich „Künstler und Kinder“ über die „Köpfe der Pädagogen hinweg“ gemeinsam verständigt hätten (GS III, 17): das ‚bildliche‘ Element dieser Bücher steht in dieser Hinsicht also gar über dem textuellen. Dieser Punkt soll an dieser Stelle nochmals etwas vertieft werden. Der Illustration spricht Benjamin, wie im letzten Kapitel deutlich geworden sein sollte, je nach Beschaffenheit der Farbe, einen Einfluss auf den Wahrnehmungs- und Produktionszusammenhang des Kindes zu. Weil es in diesem Zusammenhang besonders auch um das Lesen und den Schrifterwerb gehen soll, interessiert zunächst mal die Charakterisierung schwarzweißer Bilder als Stimulantien. Schwarzweiß sind aber nicht nur bestimmte Stiche und Zeichnungen, sondern auch die semiotische Buchstabenschrift wird bekanntlich ja mehrheitlich schwarz auf weiß gedruckt: Für die kindliche Anschauung eröffnet in ihren schwarz-weißen Holzschnitten sich eine eigene Welt. Ihr ursprünglicher Wert ist dem der kolorierten gleich: seine polare Ergänzung. Das farbige Bild versenkt die Phantasie träumerisch in sich selbst. Der schwarz-weiße Holzschnitt, die nüchterne prosaische Abbildung führt es aus sich heraus. Mit der zwingenden Aufforderung zur Beschreibung, die in dergleichen Bildern liegt, rufen sie im Kinde das Wort wach. Wie es aber diese Bilder mit Worten beschreibt, so beschreibt es sie in der Tat. Es wohnt in ihnen. Ihre Fläche ist nicht wie die farbige ein Noli me tangere - weder ist sie’s an sich noch für das Kind. Vielmehr ist sie gleichsam nur andeutend bestellt und einer gewissen Verdichtung fähig. Das Kind dichtet in sie hinein. Und so kommt es, daß es auch in der anderen, sinnlichen Bedeutung diese Bilder ‚beschreibt’. Es bekritzelt sie. Es lernt an ihnen zugleich mit der Sprache die Schrift: Hieroglyphik. […] Denn keine anderen Bilder führen wie diese das Kind in Sprache und Schrift ein - eine Wahrheit, in deren Gefühl man den ersten 4 Vgl. Friedrich Johann Justin Bertuch, Bilderbuch für Kinder. Enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Früchten, Mineralien ... alle nach den besten Originalen gewählt, gestochen und mit einer ... den Verstandes-Kräften eines Kindes angemessenen Erklärung begleitet, Weimar, Frankfurt am Main 1977. 5. Schreibenlernen 220 Worten der alten Fibeln die Zeichnung dessen mitgab, was sie bedeuten. Farbige Fibelbilder wie sie jetzt aufkommen sind eine Verirrung. Im Reich der farblosen Bilder erwacht das Kind, wie es in dem der bunten seine Träume austräumt. (S: 20 f.) Abgesehen vom Verdikt, dass farbige Fibelbilder eine Verirrung seien, wird nochmals deutlich, inwiefern die Anfänge des Schreibenlernens, das in gewisser Weise auch zu den Anfängen im Umgang mit Sprache gehört, mit dem Bild verbunden sind. Die Bilder enthalten einen Imperativ, der das Wort wach rufe. Untrennbar ist die mündliche und schriftliche Beschreibung dieser Bilder, die auch in der Mehrdeutigkeit des Worts ‚Verdichtung’ gespiegelt wird. Gerade die sogenannte ‚Dichte’ der Bilder, die ihre Übersetzbarkeit oder - wenn man an die sprachlichen Verfahrensweisen oder überhaupt an die Verhaltensweisen des Kinds in den ‚Mummerehlen’ denkt, das sich den Dingen ähnlich macht - mit Recht auch Verdichtung in Sprache provoziert, ermöglicht die Entfaltung eines Seh-, Lese- und Schreibprozesses, der Sprache und Bild verschmilzt, der Zeichnung und Schrift zu einer Art ‚Hieroglyphik’ zusammenführt. Mit dieser Hieroglyphik ist bestimmt keine Hieroglyphik im Sinne einer semiotisch zu entschlüsselnden gemeint. Viel eher spielt Benjamin hier wohl auf eine ältere Auffassung der Hieroglyphe als einer Art Rebus oder Emblem an (vgl. etwa GS I, 346 f.), bei der eine Beziehung des abbildhaften ‚Zeichens‘ zum Bezeichneten bestanden haben soll, die nicht-arbiträr ist. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass das, was man vielleicht allzu leichtfertig das ‚bildliche‘ Moment der Zeichnung nennt, weil es mit einer abbildenden Funktion verbunden werden kann, das hier vorherrschende ist. Viel eher werden durch die Zusammenführung von ‚Sprache‘ und ‚Bild‘ in der Zeichnung bestimmte Momente aufgelöst, die gemeinhin mit der einen oder anderen Sphäre in Verbindung gebracht werden, nämlich etwa sinnliche Mimesis und Abbildhaftigkeit bei der Zeichnung und Arbitrarität und Unsinnlichkeit bei der Schrift. Die Zeichnung wird bei dieser Art von Schreibenlernen transzendent gemacht, in das Register eines aus diskreten Zeichen bestehenden Sprachsystems umgedichtet, während die transzendente, aus arbiträren Zeichen bestehende Schrift verdichtet und der Immanenz des Bildlichen angenähert wird. Diese Überkreuzung von Semiotik, diskretem Buchstaben und der Dichte des zeichnerischen Strichs, der bezüglich der Orientierung an einem abzubildenden Referenzobjekt durchaus sinnlicher Ähnlichkeit folgen kann, bedeutet nicht, dass die Zeichnung oder der gezeichnete Strich zwingend symbolisch aufgeladen sein muss oder dass der Buchstabe wiederum zwingend Qualitäten aufzuweisen hat, die für gewöhnlich dem Bild zugesprochen werden. Dass aber in einer Anfangsszene, nämlich jener des 5.3. Chichleuchlauchra 221 Lesen- und Schreibenlernens, auf diese Verbindung gewiesen wird, ist bemerkenswert hinsichtlich ihrer Qualität als eines Schwellenphänomens. Diese Anfangsszene kann an dieser Stelle nämlich auf zwei verschiedene Arten als Schwellenszene gelesen werden: erstens weil ein Übertritt in das Reich der Schrift stattfinden soll, zweitens diese Schrift sich aber hier nur schwach vom Bildlichen löst. Gerade bei der Lese- und Schreibfibel, die sich gattungsbedingt vom Bildlichen wie auch Kindlichen lösen muss und dennoch irgendwie damit umzugehen hat, stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis zu diesen Schwellen. Ein bestimmtes Moment kindlicher ‚Infantilität‘ - wenn man an Agamben denkt - soll durch die Lese- und Schreibfibeln überwunden werden, gerade deshalb muss das, was mit dieser Infantilität verbunden wird, in der Sprache der Fibel - und damit des Erwachsenen, der die Fibel schafft oder das Kind mit deren Inhalten konfrontiert - bewahrt werden. Diese komplexe Verbindung von Zeichnung und Schrift findet sich nun auch in den Fibeln Tom Seidmann-Freuds. Seidmann-Freuds Versuch, sich dem Lesen- und Schreibenlernen spielerisch zu nähern, stellt diese Verbindung aus. Dieses spielerische Element in den Fibeln ist jedoch nichts grundsätzlich Neues, in diesem Punkt steht sie durchaus in der pädagogischen Tradition. Das kann man auch bei Karl Hobrecker nachlesen, den Benjamin ja bereits 1924 rezensiert hat. Dieser schreibt: Beim Lesen allein entwickeln die Sechsjährigen noch keine Ausdauer. Unsere Kinder sind mitten im Spielalter, wenn wir sie in die Schule schicken, ihnen die Weisheit spielend beizubringen, liegt deshalb nahe. Es braucht hier nur daran erinnert zu werden, daß man z.B. auch das Abc aus Lebkuchenteig backte, und so den Kleinen die Kenntnis der Buchstaben auf angenehmsten Wege einverleibte. 5 5 Vgl. Karl Hobrecker, Alte vergessene Kinderbücher, Berlin 1924, S. 26. Dieses ‚Einverleiben‘ verleiht dem ganzen Aufnahme- und Ausdrucksprozess rund um die Buchstaben-Sprache freilich noch eine zusätzliche Dimension der Sinnlichkeit, die bei Seidmann-Freud so nicht gegeben ist. Auch Benjamin fällt diese Dimension natürlich auf, er geht darauf in einem kurzen Text über „Deutsche Sonderlinge“ ein (GS IV, 829), nimmt diese Metapher des Verschlingens oder Einverleibens aber auch in seinem Rundfunkbeitrag über „Kinderliteratur“ wieder auf. Dort heißt es: „Vielleicht kann man wirklich Lesen und Verzehren vergleichen. Vor allem muß man freilich sich dabei gegenwärtig halten: warum wir uns ernähren müssen und warum wir essen hat nicht so ganz identische Gründe. Die ältere Ernährungstheorie ist darum so lehrreich, weil sie vom Essen ausgeht. Sie sagte: wir ernähren uns durch Einverleibung der Geister der gegessenen Dinge. Nun ernähren wir uns zwar nicht dadurch, aber wir essen doch um einer Einverleibung willen, die mehr ist als ein Bedürfnis der Lebensnotdurft. Einer solchen Einverleibung wegen lesen wir auch. Also nicht um unsere Erfahrung, unsern Gedächtnis- und Erlebnisschatz zu erweitern. […] Wir lesen nicht um unsere Erfahrungen sondern um uns selber zu mehren. Ganz besonders aber und immer lesen die Kinder so: einverleibend, nicht sich einfühlend. Ihr Lesen 5. Schreibenlernen 222 Ein in dieser Hinsicht ‚einverleibendes‘ Lesen, das den Körper und das Bild 6 dermaßen beansprucht, findet man bei Seidmann-Freud zwar nicht unbedingt eins zu eins vor, dennoch ist der Spielcharakter in ihren Kinderbüchern unübersehbar und dieser Spielcharakter verleiht der Sprache auch eine Dimension der Wirksamkeit und Wandelbarkeit. Zur Erinnerung: Ihr Buch „Das Zauberboot“ beinhaltet ja mechanisch zu bewegende Teile, die den Illustrationen etwas Lebendiges geben und das ganze Buch zu einer Art Spielzeug macht. Was Benjamin zu imponieren scheint und was er als ein Moment des Neuen bei Seidmann-Freud hervorhebt, ist jenes, dass bei ihr Lesen und Schreiben gleichermaßen als zu Lernendes spielerisch vermittelt werden. Seidmann-Freud bietet dem Kind auf einem ansprechend gestalteten Raum Möglichkeiten, zu zeichnen und dabei auch das Schreibenlernen zu erproben. Dieser ansprechend gestaltete Raum ist jedoch sparsam bemessen, d.h. das Kind wird dazu animiert, den Bann und die Fläche des Blatts zu überwinden: Und in der Tat ist es gar nicht möglich, Schreiben auf dem hier ausgesparten Raum - so reichlich er auch bemessen ist - zu erlernen. Aber wie klug ist das! Verglichen mit der lähmenden Öde der Schreibhefte, die am Anfang der Zeile, oft nur der Seite, die Vorschrift haben, die wie eine Kirchturmspitze aus der Schneewüste ragt, und von welcher die reisende Kinderhand beim Üben sich immer weiter entfernen muß, stellen diese Blätter dicht besiedelte Buchstabenländer dar, und die Versuchung, mit dem Bleistift von Station zu Station zu reisen, würde sich auch ohne die Anweisung einstellen: ‚Schreibe diese Linien mit den neuen Buchstaben voll.’ Es sind so wenige, daß das Kind sehr schnell aus dem Buch herausgeht. Und damit ist ein Hauptzweck der Verfasserin schon erfüllt. (GS III, 268) Man fühlt sich an das in den ‚Mummerehlen’ beschworene Schneegestöber in den kleinen Glaskugeln erinnert, wo durch die Dichte des Gestöbers keine Kirchturmspitze herausragt, sondern ein metonymisches Spiel der Lettern wolkenhafte Sprachformationen zeugt, die über den eng abgesteckten Bereich der Glaskuppel hinausgehen. Genau so animiert der spielerische Umgang mit Lesen und Schreiben, der durch die Fibeln der Seidmann-Freud vermittelt wird, die Kinder, über das Buch hinauszugehen bzw. es zum Bestandteil ihres Alltags zu machen, es als Teil ihrer Lebenswelt wahrzunehmen und eine produktive Handhabung auszugestalten. Sie schafft es Benjamins Auffassung nach, die Fibel für das Kind zu einer klei- steht im innigsten Verhältnis viel weniger zu ihrer Bildung und Weltkenntnis als zu ihrem Wachstum und ihrer Macht.“ (GS VII, 257) 6 Vgl. auch dazu Karl Hobrecker, Alte vergessene Kinderbücher, S. 27. 5.3. Chichleuchlauchra 223 nen „Enzyklopädie seines Daseins“, zu machen, „in der Farbstifte und Kinderpost, Bewegungsspiele und Blumensammlung als Ausmalbilder, Briefkuverts, ‚Schreibturnen’, und Wortrubriken zu ihrem Recht kommen“ (GS III, 268). Seidmann-Freud möchte das schreibende und malende Kind in eine Richtung lenken, die dazu führt, dass das Schwarzaufweiß - das in den Kindern zwar das Wort wach rufe, aber auch mehrmals als jener „Bannkreis des Schwarzaufweißen“ beschworen wird, der mit Gesetz und Recht in Verbindung stehe und hinter den das Kind nicht mehr zurückzukehren vermöge (GS III, 314) - mit viel Farbe konfrontiert wird. Gegen die ‚lähmende Öde‘ von Schreibheften, die das Kind mittels Vorschrift zum Schreiben bringen möchten, wird hier ein spielerischer Umgang mit den Buchstaben nahegelegt, auch wenn, wie später gezeigt werden soll, dieses Spiel keineswegs harmlos zu sein scheint: Kinder lieben es, in Bücher zu kritzeln. Die Verfasserin macht sich das mit dem Vorschlag zunutze: „Streiche in dieser Geschichte aus: alle R rot, alle G gelb, alle B blau, alle S schwarz.“ Schwarzweiß behält fast auf keinem Blatte das letzte Wort, und es gibt keine Fibel, in der die Buchstaben so lange antichambrieren müssen, ehe sie in den Worten miteinander Bekanntschaft machen. (GS III, 268) Malen und Zeichnen sind bei Seidmann-Freud, wie nun nochmals deutlich geworden sein sollte, ein fester Bestandteil des Schreibenlernens. Einzelne Buchstaben werden bei ihr sogar in der Form eines Abbilds eingeführt, das sich aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einem Buchstaben verbinden lässt oder das gar selbst mit jenem Buchstaben beginnt, dessen Gestalt es ähnelt (man stelle sich etwa die Gestalt eines ‚T’s vor, das durch einen Tisch präsentiert wird). Aber um diese figürliche Analogie von Gegenstand und Buchstabe alleine geht es nicht. Die Frage ist vielmehr, was diese Analogien motiviert. Eine Antwort darauf liefert eine überraschende Wendung in Benjamins Rezension. Denn wiederum geht es bei dieser Anfangsszene, in dem Bild und Sprache aufeinandertreffen, auch um eine Ebene, die auf einer phylowie auch ontogenetischen Rekonstruktion der Schrift und ihrer Bildlichkeit an einem unvordenklichen Anfang anzusiedeln wäre. So wie „Kunstwissenschaftler“ angeblich „gern von der ‚Handschrift‘ der Graphiker“ - damit sind Bilderproduzenten in einem klassischen Sinn gemeint, Illustratoren etwa - sprächen (GS III, 269), so ließe sich in Bezug auf den Buchstaben kritzelnden Schreiber mit den Graphologen von einer ‚Bilderschrift‘ reden. Relativ unvermittelt führt Benjamin in seinen Aufsatz neuste ‚Erkenntnisse‘ der Graphologie ein. Damit meint er hauptsächlich Anja und Georg Mendelssohns Ansatz, der nicht nur von Ludwig Klages und seinen anthropologischen Spekulationen über die ‚Urbilder‘ beeinflusst ist, sondern auch 5. Schreibenlernen 224 stark durch die Psychoanalyse geprägt wurde, die sich in gewisser Weise ja auch - bei C.G. Jung sogar wie bei Klages in Bezug auf die Phylogenese - dadurch auszeichnet, eine Dechiffrierung diverser Bilder - etwa Traumbilder, archaische Bilder - leisten zu wollen. Unter dem Stichwort ‚Biomorphismus der Lettern’ wird dieser Ansatz nun unter einen Hut mit der ‚Fibel des Barockzeitalters’ gebracht: „Es ist erwiesen“, schreibt Anja Mendelssohn in ihrem Buche „Der Mensch in der Handschrift“, „daß unsere Buchstabenschrift aus einer Bilderschrift entstanden ist. Alle unsere Buchstaben waren Bilder, und bei einigen von ihnen ist das zugrunde liegende Bild noch ohne weiteres erkennbar. Es macht keine Schwierigkeiten, einem Kinde klar zu machen, daß das P einen Mann mit einem Kopf bedeutet, daß das O ein Auge ist… Das Kind versteht auch ohne weiteres, daß das H und E einen Zaun darstellen, und bereichert das E sogar mit dem vierten Querstrich, den es einmal besessen und erst in der frühesten Periode der griechischen Schrift verloren hat.“ Die Fibeln des 17. Jahrhunderts sind in Richtung auf einen solchen Biomorphismus der Lettern besonders weit gegangen: den Abgrund zwischen Sache und Zeichen trickhaft zu überwinden, war eine Aufgabe, die für den Menschen des Barockzeitalters die ungeheuerste Faszination haben mußte. (GS III, 269) 7 Was in unvordenklicher Zeit mit der Erfindung der arbiträren Alphabetschrift einmal verloren gegangen sein soll, wo also in der Ontogenese noch der Rest eines Vermögens zur Überwindung des Abgrunds zwischen Sache und Zeichen sichtbar wird, das durch die historische Entwicklung der Schrift und in ihrer aktuellen Gestalt längst verschüttet ist, tritt plötzlich im Barock und in der Kinderfibeltradition - oder eben in der Graphologie - hervor. Anja Mendelssohn beispielsweise glaubt, aus den Zügen der Unterschrift einer Versuchsperson den übersteigerten Egozentrismus des Signierenden herauslesen zu können, der sich vor allem im Wunsch äußere, der Welt möglichst viele Nachkommen zu bescheren: In den Schnörkeln der Unterschrift erkennt sie einen Embryo. 8 Bei dieser Diagnose handelt es sich freilich um eine auf eine bestimmte Person beschränkte und stark psychoanalytisch geprägte, nichtsdestotrotz meint sie, zwischen einem alphabetischen Buchstaben und den Wünschen des Schreibenden eine Beziehung herstellen zu können, die sich über die bildliche Gestalt eines Embryos manifestiert. 7 Diese These geht weiter als die bereits angestaubte These, dass der Alphabetschrift eine Bilderschrift - quasi Hieroglyphen - vorausgegangen sei. Sie meint nämlich, auch in arbiträren Zeichen noch sinnliche Ähnlichkeit erkennen zu können. 8 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 9. 5.3. Chichleuchlauchra 225 In diesem ‚Schriftbild‘-Beispiel verbünden sich, ebenso wie in den von Benjamin angesprochenen barocken Fibeln, Bild und Schrift zu einer ‚Bilderschrift‘. Auch wird anderes zusammengebracht: Plötzlich beziehen sich Urzeit und Kindliches aufeinander, eine barocke Sprachauffassung geht Hand in Hand mit einer psychoanalytisch inspirierten Graphologie. Erneut - und wie so oft - klingt hier eine Art Signatura-Lehre an, die durch den ‚Biomorphismus der Lettern’ die Arbitrarität der semiotischen Schrift abschwächt, und zwar im Stadium ihres Erwerbs. Wie Agamben schreibt, verschwindet der „Begriff der Signatur aus der okzidentalen Wissenschaft mit der Aufklärung“. 9 Es überrascht deshalb nicht, dass Benjamin den Sprung zurück in den Barock macht. Das Alphabet, das in den barocken Fibeln kraft Ähnlichkeit repräsentiert wird, trägt signaturhafte Züge. Der Buchstabe ist in diesem Zusammenhang nicht reines Zeichen, sondern durch die abbildhafte Ähnlichkeit mit einem Gegenstand soll er wirkmächtig gemacht werden. Auch auf der Ebene des Lauts, wie das von Benjamin angeführte Beispiel der „Deutschen Sprachkunst“ von Tilemann Olearius zeigt. 10 Dort kann man nicht nur das kleine ‚A‘ in der Form eines Aals bewundern, oder das ‚O‘ in der Form eines Ohrs, auch bei den Umlauten ist die Illustration bemüht, das ‚e‘ des Umlauts mit darzustellen. Beim ‚Ä‘ heißt es deshalb unter der Darstellung zweier Aale, die dort ‚äle‘ heißen: „zween äle / da einer dem andern den Kopff abbeisset.“ 11 Der abgebissene Kopf des einen Aals bildet 9 Vgl. Giorgio Agamben, Signatura rerum, S. 84. Agamben hält fest, dass der Begriff der Signatur unter anderem Namen wieder auftaucht. Das ‚Indiz‘ wird zu einer neuen ‚Signatur‘. Mit diesem Hinweis stößt Agamben unbewusst auf einen interessanten Zusammenhang. Die hier aufgewiesene Parallele von der Analyse einer Unterschrift (Signatur) mit der Signaturalehre, die im 19. Jahrhundert laut Agamben (oder Ginzburg) in der Form des Indizes wieder auftaucht, ist insofern interessant, als dieses indizielle Vorgehen - das wohl auf Giovanni Morelli zurückgeht - Sigmund Freuds Aufmerksamkeit erregt und die Psychoanalyse beeinflusst hat, auch ohne weiteres mit der Graphologie verbunden werden kann, wie im nächsten Kapitel auch anhand eines Exoten der Graphologie (Raffael Schermann) deutlich gemacht werden soll. „Die Details, die Morelli sammelt, etwa in Hinblick auf die Umrisse der Ohrläppchen oder die Form der Nägel, die Spuren, die Holmes in Schmutz und Zigarettenasche erkennt, die ‚Abfälle‘ oder Lapsus, auf die Freud seine Aufmerksamkeit konzentriert, sind alle Signaturen, die es dadurch, daß sie aus der semiotischen Beziehung im engen Sinn austreten, erlauben, eine Serie von Details mit der Identifikation oder der Charakterisierung eines bestimmten Individuums oder Ereignisses in Beziehung zu setzen.“ Ebd., S. 86 f. Agambens Analogie könnte man erweitern, denn dasselbe gilt wohl auch für das Verhältnis der Züge und Details einer Handschrift zum Charakter der schreibenden Person. 10 Vgl .Tilemann Olearius, Deutsche Sprachkunst. Aus den allergewissesten / der Vernunfft und gemeinen brauch Deutsch zu reden gemässen / gründen genommen. Sampt angehengten newen methodo, die Lateinische Sprache geschwinde und mit lust zu lernen, Halle 1630. 11 Ebd. S. 28. 5. Schreibenlernen 226 das den Umlaut markierende ‚e‘. Schließlich findet sich aber interessanterweise noch eine onomatopoetische Verbindung, wenn unter der Abbildung zweier Schlangen, die nicht etwa für das ‚S‘ herhalten müssen - das ‚S‘ wird durch ein Seil dargestellt -, sondern für das ‚Z‘, steht: „zischen der schlangen.“ 12 An dieser Stelle wird die Kluft zwischen Sache und Zeichen (bzw. Zeichnung) also durch den Laut überbrückt. Besonders schön ist auch das Beispiel Benjamins mit dem ‚W‘, bekanntlich der Anfangsbuchstabe seines Vornamens, der in einer Fibel „aus der Mitte des Jahrhunderts“ eine Korrespondenz zwischen einem w-förmigen Hinterteil und dem Wehklagen des dazugehörigen, abgestraften Knaben herstellt und als Szene paradigmatisch das disziplinarische Moment des Lesen- und Schreibenlernens wiederholt, das - was bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wohl keine Seltenheit war - mittels Schlägen sanktioniert werden konnte. Das ‚W‘ wird rund um den Biomorphismus der Lettern also gar in den Leib ‚geritzt‘ und aus dem Leib geprügelt. Der Erwerb einer vermeintlich kulturell überlegenen Kommunikationsweise geht demnach an dieser Stelle Hand in Hand mit Unterdrückung und Pein: Groteske Formen nahm diese Methode - alphabeticum lusu nannte man sie - in späteren Fibeln aus der Mitte des Jahrhunderts an. Da kommen denn, beispielsweise, zu Ehren des W in einem Bilde das entblößte Hinterteil des abgestraften Schulknaben, das mit seinen Linien den Buchstaben nachbildet, und der vor Schmerzen aufgerissene Mund, dem der W-Laut entfährt, zusammen. Eine kluge und reizende Abart dieses altmodischen Biomorphismus hat nun die neue Fibel. Da gibt es nämlich schon auf der zweiten Seite ein Reihe mit einfachsten Strichen gezeichneter Gegenstände: Zaun, Wagen, Gießkanne, Leiter, Dach usw. Die Linien dieser Zeichnungen sind von Haus aus schwarz. In jeder aber wird ein Teil von ihnen durch rote Überstriche herausgehoben. Diese überstrichenen Teile machen die Buchstaben, so daß die sechsundzwanzig Bildchen die Lettern stellen. (GS III, 270) Was hat es in diesem Kontext nun mit dieser ‚reizenden Abart‘ des ‚altmodischen‘ Biomorphismus der Lettern auf sich? Das Blatt, auf das Benjamin anspielt, erinnert, wenn man einen Blick darauf wirft, wenig an das zwei Zeilen weiter oben beschriebene W-Schauspiel. Beim Zaun ist es zufälligerweise tatsächlich das ‚Z‘, das sich in die Konstruktion des abgebildeten Zauns einfügt, beim Wagen oder der Gießkanne sieht es aber anders aus. Bei diesem bilden zwei ‚O’s die Räder, bei jener stellt das ‚P‘ den Rücken samt einem Griff dar. Die Zeichnungen sind schlicht, der Buchstabe ist in ihnen versteckt und, wie Benjamin schreibt, farblich und durch Fettdruck hervorgehoben. 12 Ebd., S. 34. 5.3. Chichleuchlauchra 227 Der Biomorphismus ist zwar da, trägt aber weitaus harmlosere Züge. Der Erwerb der Schrift wird auch an dieser Stelle zu einer Schwelle stilisiert, auf der Sprache und Bild noch keine klare Trennung erfahren haben. Buchstabe und abbildhafte Zeichnung fügen sich vexierbildhaft ineinander. Und dennoch scheint auch dieses Versteckspiel, das mit „Wo sind die Buchstaben? “ übertitelt ist, nicht ganz so harmlos. So wenig dem Betrachter der Fibeln die Trennung von Bild und Sprache klar vor Augen liegt, so unklar ist eigentlich, wie es um den Status des Erwachsenen bestellt ist. In der alten Fibel ist der Erwachsene als strafende Instanz durchaus noch präsent, dennoch scheint das Spiel selbst dort die Herrschaft des Erwachsenen in Frage zu stellen.Wie souverän ist aber ein Erwachsener bzw. eine Erwachsene, die schreibt, dass die „alte Schule“ zu einem „unausgesetzten Laufen nach Zielen, zu einem Miteinanderringen um das ‚Können‘ von dem, was der allmächtige Erwachsene verlangt“ zwinge? 13 Im Geleitwort steht auf derselben Seite, dass Seidmann-Freuds Fibeln ein Lernen beförderten, das ganz dem Kinde gemäß sei, ja gar „dem Wesen des Kindes Rechnung [trage], für das das Lernen, wie alles übrige, von Natur aus ein großes Abenteuer bedeutet“. Das Kind solle ‚gefesselt‘ werden, es sollen ihm die Schwierigkeiten gar nicht erst bewusst werden. Die Ausführungen dieses Geleitworts, das übrigens auf einer perforierten Seite gedruckt ist und sich somit - durch einen kleinen Vandalenakt - heraustrennen lässt, sind nicht unproblematisch. So sympathisch die Zeilen auch klingen mögen - der Erwachsene solle nicht damit rechnen, dass das „Kind nach jeder Seite schon mit einem bestimmten Resultat aufwarten“ könne; der „Haupterfolg einer Schulstunde“ bleibe zunächst latent, „um sich dann unerwartet bei einer ganz anderen Gelegenheit zu zeigen“ -, sie bleiben ambivalent. Denn diese Fibeln werden schließlich von Erwachsenen gestaltet: Der Rahmen wird gesteckt, auch wenn er zu einem möglichst freien Spiel animieren soll. Benjamin bewertet diese Bestrebungen zunächst positiv. „Es sind kluge Anmerkungen“, schreibt er, „gewiß die fortgeschrittensten Formulierungen, die sich dem Gegenstande heute widmen lassen.“ (GS III, 271) Doch auch er sieht Ambivalenzen. Die unbewusste Animation des Spieltriebs, der die Fibeln Seidmann-Freuds leisten sollen, ordnet Benjamin in den zeitgenössischen Kontext ein. Er meint, dass das relativ freie Spiel ins Zentrum der Fibel-Pädagogik erst gestellt werden konnte, nachdem Sigmund Freud das Unbewusste erfunden und Ludwig Klages den Willen als ein zweckrationales Hemmnis der Entfaltungsmöglichkeiten der Seele konzipiert hatte. Das klingt zunächst relativ neutral, aber dieser Befund hindert Benjamin nicht daran, am Ende seiner Rezension nochmals eine Bewertung dieser von ihm selbst ausgemachten Entwicklung vorzunehmen: 13 Vgl. das Geleitwort in Tom Seidmann-Freud, Spielfibel No 2, Berlin 1931, S. 56. 5. Schreibenlernen 228 Der entscheidende Durchbruch des Spiels in das Zentrum des Elementarunterrichts ist also, unbeschadet aller früheren Anläufe, doch nicht möglich gewesen, ehe die wissenschaftliche Grundlage in Gestalt der Freudschen Lehre vom Unbewußten, der Klagesschen vom Willen als der das Gegenteil bewirkenden Hemmvorrichtung zur Geltung gekommen waren. Es hieße aber oberflächlichen Gebrauch von dieser anmutigen Auslieferung der Lettern an den Spieltrieb machen, wollte man nicht ihre Kehrseite gleichfalls ins Auge fassen. Wenn ein Kind mit dieser Fibel fertig ist, heißt es im Nachwort, wird es dadurch „gewißermaßen auf eine hinterlistige Weise“ veranlaßt worden sein, zu lesen oder zu schreiben. (GS III, 271) Die sogenannte Kehrseite dieser Animation des Spieltriebs manifestiert sich nicht nur in der Hinterlistigkeit, mit der dieser Trieb stimuliert wird. Benjamin nimmt über diese Absicht hinaus eine Bewertung der Charakteristika moderner Fibeln vor. Über die Absicht zur Steuerung von Lernprozessen hinaus wird nämlich in diesem Punkt für Benjamin eine unbeabsichtigte Information über die „ungemeine Fragwürdigkeit“ mitgeliefert, „die das Kennzeichen unserer Bildung geworden ist“ (GS III, 272). Denn überall schicke „die freie entbundene Hand über die ernste schwerfällige sich zu siegen an.“ Nun wagt Benjamin aber eine These, die sich sehr leicht mit seiner Diagnose des Erfahrungsverlustes, wie sie uns etwa in „Erfahrung und Armut“ von 1933 begegnet, in Übereinstimmung bringen lässt. Benjamin moniert, dass es nicht leicht zu sagen sei „wieviel von jener Entbundenheit Schwäche, von jener Freiheit Verlegenheit“ sei, denn „[n]icht die Fortschritte der Wissenschaft sind ja der stärkste Antrieb dieser radikalen Pädagogik gewesen, sondern der Untergang der Autorität.“ (GS III, 272) Auch in „Erfahrung und Armut“, im Aufsatz über „Der Erzähler“ oder im Karl Kraus-Essay ist von einem Niedergang der Autorität die Rede: die sich entwickelnde Erfahrungsarmut, die Benjamin mit dem rasanten Anwachsen der Technik im Laufe des 19. Jahrhunderts thematisiert, das Schwinden der Tradition und des klassischen Erzählens, der Zuwachs an nichtiger, aber „plausibler“ Information durch Massenmedien (GS II, 444) führt nicht nur zum Verlust einer bestimmten Autorität, sondern auch zu einer Art „neuem Barbarentum“ (GS II, 215). 14 Dieses neue Barbarentum bringe die Menschen dahin, wieder von vorn zu beginnen. Als Beispiele für diese Fähigkeit, aus Wenigem Neues zu konstruieren, dienen Künstler wie Paul Klee, der Physiker Albert Einstein, der Architekt Adolf Loos oder der Schriftsteller Paul Scheerbart. Das ‚Entmenschte’ an Scheerbartschen oder 14 Vgl. dazu auch den Aufsatz von Nicola Gess, Gaining Sovereignty: On the figure oft he Child in Walter Benjamin’s Writing. In: Modern Language Notes, Vol. 125, Nr. 3, 2010, S. 882-708, bes. S. 683 ff. 5.3. Chichleuchlauchra 229 Kleeschen Erzeugnissen wird in „Altes Spielzeug“, 1928 in der Frankfurter Zeitung erschienen, durchaus auch mit dem Kind in Verbindung gebracht. Dort heißt es, dass das 20. Jahrhundert Kinder als „kleine Menschen nur mit Vorbehalt gelten“ lasse (GS IV, 515). „Man stieß auf die grausame, die groteske, die grimmige Seite im Kinderleben. Während lammfromme Pädagogen immer noch Rousseauschen Träumen nachhängen haben Schriftsteller wie Ringelnatz, Maler wie Klee das Despotische und Entmenschte an Kindern begriffen. Erdenfern und unverfroren sind Kinder.“ (GS IV, 515) Dieses ‚Entmenschte’ wird von Benjamin nicht negativ bewertet. Auch Karl Kraus, der mit einem destruktiven Moment in Zusammenhang gebracht wird („Zerstörend ist denn auch die Gerechtigkeit, die destruktiv den konstruktiven Zweideutigkeiten des Rechtes Einhalt gebietet; zerstörend ist Kraus dem eigenen Werke gerecht geworden[.]“ GS II, 367), wird als „Geschöpf zwischen Kind und Menschenfresser“ charakterisiert. Bei Loos oder Kraus wird das Moment des „Schöpferischen“ im Sinne eines Schöpfungsbegriffs, der sich auf den Menschen bezieht, fragwürdig. Im Karl Kraus-Essay schreibt Benjamin denn auch: „Die aufgegebene, kontrollierte Arbeit [...] hat Schmutz und Abfall, greift zerstörend in den Stoff ein, verhält sich abnutzend zum Geleisteten, kritisch zu ihren Bedingungen und ist in alledem das Gegenstück zu der des Dilettanten, der im Schaffen schwelgt.“ (GS II, 366) Das destruktive Moment, das der Arbeit von Figuren wie Loos oder Kraus eignet, wird von Benjamin als etwas dargestellt, das eine reinigende Funktion hat. 15 Damit verbunden ist das fast schon übermenschliche Motiv, dass „der Unmensch als der Bote realeren Humanismus unter uns“ stehe (GS II, 366 f.). Ein solcher ‚Bote‘ - der Anklang an Engel ist kein Zufall, sondern wird von Benjamin ein paar Zeilen weiter geleistet - ist wohl auch das Kind. Mit dem hier schon oft zitierten Satz aus der ‚Baustelle‘, der für überflüssig taxiert, Kindern vorsätzlich das Spiel und die Spielzeuge vorzuschreiben, weil sie sich aus Abfall und Kaputtem eine eigene Welt erschaffen können, steht mit dem eben ausgeführten in nächstem Zusammenhang. Auch in „Altes Spielzeug“ hält Benjamin nochmals fest, was 15 Gewiss lässt sich im Zuge dieser Argumentation eine etwas unangenehme Assoziation nicht verdrängen. Die Rede ist von der Kriegsbegeisterung einiger Exponenten der Jugendbewegung vor dem 1. Weltkrieg. Diese Kriegsbegeisterung, die mit dem Krieg kathartische Hoffnungen verband, die Benjamin in keiner Weise teilte, war aber gerade mitunter ein Grund, weshalb er mit seinem einst geschätzten Lehrer Gustav Wyneken gebrochen hat. Auch wird der 1. Weltkrieg im Rahmen des „Erfahrung und Armut“-Aufsatzes gerade als eine, die Erfahrung zerstörende Gewalt, charakterisiert. Bei der Stilisierung der oben genannten Figuren zu ‚destruktiven Charakteren‘ geht es auch darum, eine neue Art der Erfahrung zu gewinnen, zu der diese Figuren einen entscheidenden Teil beitragen. 5. Schreibenlernen 230 auch in der ‚Baustelle’ oder in dem Text über „Alte vergessene Kinderbücher“ mit anderen Worten gesagt wird: dass Kinder im Spiel zerstörend wirken können, aber auch etwas Neues erzeugen: [D]ie nachhaltigste Korrektur des Spielzeugs vollziehen nie und nimmer die Erwachsenen, seien es Pädagogen, Fabrikanten, Literaten, sondern die Kinder selber im Spielen. Einmal verkramt, zerbrochen, repariert, wird auch die königlichste Puppe eine tüchtige proletarische Genossin in der kindlichen Spielkommune. (GS IV, 515) In diese Richtung zielt auch der Schluss von „Chichleuchlauchra“, die Rezension von Tom Seidmann-Freuds Spielfibel. Dort wird zwar der Autoritätsverlust diagnostiziert, und es wird konstatiert, dass kollektive Unterweisung ohne Autorität wohl nicht glückte, positiv hervorgehoben wird aber, dass sich jene Fibel gerade an das „in sich versunkene [Spiel] des einzelnen Kindes“ richte (GS III, 272), nicht an die Masse. Auch in „Grünende Anfangsgründe“, der zweiten Rezension, die Seidmann-Freud gewidmet ist, wird gegen Schluss eine ähnliche Diagnose aufgestellt. Nachdem er schreibt, dass vielleicht der eine oder andere noch die Fibeln aufbewahrt, aus welcher die eigene Mutter lesen lernte, meint Benjamin: „Es sei nichts gegen diese Fibeln gesagt.“ (GS III, 314) Dieser Satz ist zweideutig. Denn einerseits klingt Kritik an, andererseits wird damit aber eine Scheu davor ausgedrückt, sie offen zu kritisieren. „Und wie könnte einer, der aus ihnen lerne, sich gegen sie auflehnen? “ fährt er fort. „Was von all dem, was ihm im späten Leben begegnete, könnte es mit der Strenge und Sicherheit aufnehmen, mit der diese Züge an ihn herantraten, welche Unterwerfung erfüllte ihn so mit der Ahnung ihrer unermesslichen Tragweite wie die Unterwerfung unter die Letter? “ An dieser Stelle wird nochmals in Erinnerung gerufen, dass das Lesen- und Schreibenlernen ein Akt der Gewalt ist, das Kind werde unter die Letter gestellt, ihr unterworfen. Gleichzeitig aber scheint diese Unterwerfung auch eine gewisse Sicherheit zu bieten. Das „bezaubernd-entzaubernde Spiel mit den Lettern“, dem die „Fibeln der Seidmann-Freud eine so tiefe Vernunft abgewinnen“, sind nämlich wiederum möglicherweise der „Preis“ für das „Elend, die Rechtlosigkeit, die Unsicherheit unserer Tage“ (GS III, 314). Diese Wendungen am Ende der beiden Rezensionen vermögen durchaus Erstaunen zu wecken. Zwar wird ja, wie oben gezeigt wird, durchaus Kritik an der Pädagogik laut, die Einordnung der Seidmann-Freudschen Fibeln in das Schema einer Gesellschaftsdiagnose aber kommt relativ überraschend. Der einzige Hinweis auf eine solche wird im Laufe der ersten Rezension durch die wissenschaftsgeschichtliche These gegeben, dass das Spiel ins Zentrum des Elementarunterrichts gelangte, nachdem Freud das 5.3. Chichleuchlauchra 231 Unbewusste entdeckt und Klages den Willen als dessen Hemmvorrichtung herausgestellt hatte. Die Umgehung dieses Willens und des Bewussten haben nun demnach auch ihre Kehrseite. Und dieser Kehrseite ist sich Benjamin als Schreibender bewusst. Denn das freie Spiel - das man ja auch bei Vertretern des Surrealismus als Gegenstand ihrer künstlerischen Bestrebungen immer wieder findet - ist eben nur ein Bestandteil des Schreibens. Der andere Bestandteil, der neben das Spielerische tritt, bezeichnen wohl Begriffe wie ‚Fleiß‘ und ‚Mühe‘ - dessen ist sich Benjamin wohlbewusst. Dass er aber der Strenge der alten Fibeln nur sehr beschränkt nachtrauerte, darf wohl ebenso als gegeben betrachtet werden. Ein interessantes Licht auf das Verhältnis von ‚Fleiß‘ und Freiraum wirft übrigens auch ein Text der „Ibizenkischen Folge“, der den Titel „Übung“ trägt und diesen Begriff relativ eigentümlich definiert. Das Kennzeichen der Meisterschaft sei es, heißt es in diesem Text, den schöpferischen Pausen Spielraum zu geben. „Denn dieser Lohn eben ist es, vor den die Götter den Schweiß gesetzt haben.“ (GS IV, 406) Arbeit, welche mäßigen Erfolg verspreche sei ein Kinderspiel gegen jene, die das „Glück“ herbeirufe. „So rief Rastellis ausgestreckter kleiner Finger den Ball herbei, der wie ein Vogel auf ihn heraufhüpfte. Die Übung von Jahrzehnten, die dem voranging, hat in Wahrheit weder den Körper noch den Ball ‚unter seiner Gewalt‘, sondern dies zustande gebracht: daß beide hinter seinem Rücken sich verständigten.“ (GS IV, 406) Dieser letzte Satz ist der entscheidende: Es geht nicht einfach darum, etwas durch Übung unter seine Gewalt zu bringen, sondern vielmehr darum, den Willen auszuschalten. In diesen Überlegungen zur Übung steckt demnach wieder Klages drin, aber auch Proust und das ‚unwillkürliche‘ Erinnern klingen an. Es handelt sich um eine Dialektik, auf die man bei Benjamin in dieser und anderer Form häufiger stößt, wo das Bewusstsein das Unbewusste abgelöst hat, um durch eine bewusste Technik der repetitiven Intentionslosigkeit dieses Unbewusste in eine neue Beziehung zum vermeintlich Bewussten zu bringen und dadurch, nämlich durch eine Verbindung dieser beiden Aspekte, die Sache zu einem gänzlich neuen Bewusstsein bringen zu können, sie so zu sehen, wie es vorher nicht möglich war: Den Meister durch Fleiß und Mühe bis zur Grenze der Erschöpfung zu ermüden, so dass endlich der Körper und ein jedes seiner Glieder nach ihrer eigenen Vernunft handeln können - das nennt man üben. Der Erfolg ist, daß der Wille, im Binnenraum des Körpers, ein für alle Mal zu Gunsten der Organe abdankt - zum Beispiel der Hand. (GS IV, 406) Bei diesem Passus fällt das Wort ‚Erschöpfung‘ auf. Übung bedeutet, den Willen als übergeordnete Organisationseinheit des Körpers und seiner Organe zu verabschieden, so dass die Organe selbst in einer gewissen Au- 5. Schreibenlernen 232 tonomie schöpferisch werden können. Erschöpfung bedeutet also nicht, dass nun ein unproduktiver Endzustand eintritt, sondern dass eine Instanz suspendiert wird, die Gewalt über kleinere Einheiten ausgeübt hat. Eine Verständigung der einzelnen Organe oder des Körpers mit den Dingen jenseits des Willens oder Bewusstseins, eine Verständigung der unkontrollierten Organe und der Dinge ‚hinter dem Rücken‘, ist der zentrale kommunikative Akt des hier entworfenen Übungsbegriffs. Benjamin führt als Beispiel für dieses Phänomen ja Enrico Rastelli an und wenn man sich noch heute die wenigen Aufnahmen anguckt, die von ihm existieren, so entsteht - auch durch den Eindruck der Mühelosigkeit des Dargebotenen - tatsächlich der Eindruck, dass sich dort Hände, Körper und Gegenstände - Bälle, Teller, Kegel - teilweise sprichwörtlich ‚hinter dem Rücken‘ des Jongleurs miteinander verständigten. Es entsteht der Eindruck eines ‚Kinderspiels‘ in doppeltem Sinne. Und wie wir bereits beim ‚Baustellen‘-Text aus der ‚Einbahnstraße‘ gesehen haben, zeichnet sich dieses gerade dadurch aus, dass der Vorsatz, das Diktat der ‚Großen‘ suspendiert wird, um kleineren Organisationseinheiten Platz zu machen, die die Dinge hinter dem Rücken verwandeln. In „Unordentliches Kind“, ebenfalls in der ‚Einbahnstraße‘ schreibt Benjamin über das Kind: Es geht ihm wie in Träumen: es kennt nichts Bleibendes; alles geschieht ihm, meint es, stößt ihm zu. Seine Nomadenjahre sind Stunden im Traumwald. Dorther schleppt es die Beute heim, um sie zu reinigen, zu festigen, zu entzaubern. Seine Schubladen müssen Zeughaus und Zoo, Kriminalmuseum und Krypta werden. „Aufräumen“ hieße einen Bau vernichten voll stachliger Kastanien, die Morgensterne, Stanniolpapiere, die ein Silberhort, Bauklötze, die Särge, Kakteen, die Totembäume und Kupferpfennige, die Schilde sind. (GS IV, 115) Genauso stoßen auch dem Jongleur oder irgendeinem anderen Geübten die Dinge zu. Traumwandlerisch vermag es der, der den Willen ausschaltet, mit den Dingen so zu spielen, das sie eine neue Funktion und Form erhalten. ‚Entzauberung‘ durch ‚Zauber‘: Marx‘ Fetisch der Ware klingt an, die ‚theologischen Mucken‘ werden hier aber völlig übertrieben, die Beute hat keinen Warenwert. Es dürfte sich um keinen Zufall handeln, dass am Ende dieses kurzen Textes über die Übung die Hand ins Spiel kommt. 16 Zwar beschäftigt sich 16 Vgl. dazu Barbara Wittmann, Zeichnen, im Dunkeln. Psychophysiologie einer Kulturtechnik um 1900, In: Werner Busch et al. (Hrsg.), Randgänge der Zeichnung, München 2007, S. 165-186. Wittmann beschreibt die Auffassung des Zeichnens „als Manifestationen und graphische Registrierungen von psychophysischen Prozessen“ (Ebd., S. 168). Sie zeigt auf, wie zwischen Auge und Hand ein ‚Spalt‘ konstatiert wurde. Wenn das Auge also für das ‚bewusste‘ Wahrnehmen und Verfolgen der Zeichnung 5.3. Chichleuchlauchra 233 Benjamin an dieser Stelle wieder einmal mit der Gedächtnis-Problematik und dem unwillkürlichen Erinnern - er beschreibt nämlich, wie jemand nach langem Suchen das Vermisste vergisst, dass dieses ihm aber bestimmt wieder in die Hand falle, wenn er eines Tages irgendetwas anderes suche -, aber die Stelle ist insofern für die Thematik von Bedeutung, als erneut deutlich wird, dass in dieser Szene eine sprunghafte Verständigung stattfindet, die über eine bewusst angestrebte, intentionale Art der Verständigung hinausgeht. „Die Hand hat sich der Sache angenommen und im Handumdrehen ist sie einig mit ihr geworden.“ (GS IV, 407) 17 So lautet der Schlusssatz des Textes. Und es ist wohl nicht weit hergeholt, wenn man ihn mit dem Schreiben verbindet und nochmals daran erinnert, dass auch das Schreiben ‚Übung‘ erfordert. 18 Dass das auch Benjamin so sieht, legt ein kurzer Text nahe, der zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht geblieben ist. Der Titel des angesprochenen Textes lautet „Schreibendes Kind“: Die schreibende Hand hängt im Gerüst der Linien wie ein Athlet im schwindelnden Gestänge der Arena (des Schnürbodens). Maus, Hut, Haus, Zweig, Bär, Eis und Ei füllen die Arena, ein blasses, eisiges Publikum sehen sie ihren gefährlichen Nummern zu. Saltomortale des s / Beachte die Hand, wie sie auf dem Blatt die Stelle sucht wo sie ansetzen will. Schwelle vo[r]m Reich der Schrift. Die Hand des Kindes geht beim Schreiben auf die Reise. Eine lange Reise, mit Stationen, wo sie übernachtet. Der Buchstabe zerfällt in Stationen. Angst und Lähmung der Hand, Abschiedsweh von der gewohnten Landschaft des Raumes: denn von nun an darf sie sich nur in der Fläche bewegen. (GS VI, 200) 19 steht - für eine Art nachträgliches Überprüfen -, wird die geübte Hand fast schon die unwillkürliche Vollstreckerin des zeichnerischen Strichs. Das ist freilich auch in Bezug auf das Erlernen der Schrift interessant, auch wenn die Schrift andere Fertigkeiten erfordert wie ein unspezifisches ‚Kritzeln‘, das auch schon unter ‚Zeichnen‘ fallen könnte. 17 Vgl. nochmals Barbara Wittmann, Zeichnen im Dunkeln, S. 182 f. über eine Annahme von Pädagogen und Kinderzeichnungsforschern um 1900 zum Zeichenunterricht: „Am Anfang des Unterrichts steht eine Automatisierung des Bewegungsapparates, die gemeinsam mit der Stärkung des Tastsinns das ‚Handgedächtnis‘ trainieren soll, weil das Gedächtniszeichnen dem Naturzeichnen […] entwicklungspsychologisch vorausgehe.“ Die Rede vom ‚Handgedächtnis‘ passt zur Übungsthematik und der These zur Ausschaltung des Willens. 18 Ebd., S. 185: „Die Konstitution der Zeichnung als Notationssystem psychophysiologischer Phänomene und Störungen geht mit einer Entdifferenzierung von Schrift und Zeichnung einher, beiden Kulturtechniken liegen nach Goldschneider und Baldwin dieselben Funktionen zugrunde.“ 19 Vgl. dazu Davide Giuriato, Mikrographien, S. 23 ff. 5. Schreibenlernen 234 Die schreibende Hand des Kindes wird mit einem Athlet verglichen, der an einen Zirkusartisten erinnert. Neben dem Jongleur betritt hier also noch jemand anderes die Arena, die von Benjamin andernorts als „älteste Form, in der je Publikum ist angeordnet worden“ (GS III, 70) bezeichnet wird. Maus, Hut, Haus etc. weisen deutlich auf die Fibel - schließlich sind es genau diese Protagonisten, die auf einer imaginierten Seite von Mutters Fibel in „Grünende Anfangsgründe“ auch aufgezählt werden, aber sie weisen auch auf ein barbarisches oder ‚entmenschtes‘ Zeitalter. Wie oben ausgeführt wurde, handelt es sich bei Mutters Fibel um die strenge Fibel - das ‚blasse, eisige Publikum‘, das in diesem kleinen Text angeblich die Arena füllt, korrespondiert direkt mit diesem Schluss von „Grünende Anfangsgründe“, der die Unterwerfung unter die Letter beschwört. Dass die Hand des geübten Schreibers in diesem kleinen Text just an dieser Stelle ins Stolpern gerät, wo von einem ‚Saltomortale‘ die Rede ist, wo daraufhin der Imperativ ‚Beachte die Hand‘ zu stehen kommt, übersteigt schon fast das Maß möglichen Zufalls. Wie man es auch wendet, die Stelle lässt sich traumwandlerisch auf die Ausführungen über die Übung beziehen, sie bestätigt sozusagen durch ihr Schriftbild die dort getätigten Ausführungen, ob der Schreibende sich nun intentional verschrieben hat oder ob ihm die Hand ‚hinter seinem Rücken‘ durchgebrannt ist. Auch eine weitere Unsicherheit im Schriftbild der Handschrift ist bedeutsam: die Stelle mit der Schwelle. Ob dort nun die Präposition ‚vom‘ oder ‚vor‘ steht, macht einen Unterschied. Aber es steht eigentlich beides dort, so dass dieser Unterschied zu einer Schwelle wird, die auch in den Strichen oder Wellen der Buchstaben verschwimmt. Auf dieser in Kleinstschrift und in Tinte verfassten Notiz, auf der ein Stehen vor bzw. ein Übertritt über eine Schwelle inszeniert wird, markiert eine Störung des Schriftbilds („Schwelle vo[r]m Reich der Schrift“) die Zweideutigkeit der ganzen Situation. Einerseits kann sich der Schreibende beim Schreiben gar nicht hinter der Schwelle befunden haben - obwohl dass das Stolpern suggeriert -, andererseits beschwört er eben diese Schwelle streng genommen mit jedem Ansetzen des Stifts von neuem. Gänzlich ‚vor‘ der Schrift - in einem zeitlichen Sinn und an dieser Stelle auch in einem örtlichen Sinn - kann sich der Schreibende nicht befunden haben, weil wir es mit einem Schreiber zu tun haben, der von der Kindheit in der Retrospektive schreibt und der die Alphabetschrift schon länger übt. Und dennoch steht jeder Schreibende, sowie er unter die Letter unterworfen wurde, immer ‚vor‘ der Schrift. Somit behält jeder Schreiber auch etwas Kindliches. Im Schreiben drückt sich demnach etwas aus, das eigentlich verdrängt oder gezähmt werden musste, um die Schwelle zu passieren. Doch die Passage bewahrt dieses Verdrängte auf, sie lässt es immer wieder aufblitzen. Der Schreibende steht auf der Schwelle vom Reich der Schrift und im Unscheinbarsten, das man mit einem Makel verwechseln könnte, drückt 5.3. Chichleuchlauchra 235 diese textliche Miniatur aus. Sie verweist die semiotische Dimension der Sprache durch das Schriftbild auf ihre Bildlichkeit, sodass die Fläche - hier die scheinbaren Grenzen, die das Papier für die semiotische Schrift bildet - selbst zu einer Schwelle wird, die die Hand in gewisser Weise von ihrem Bann befreit, die Lähmung zeitweilig aufhebt. Obwohl das ‚schreibende Kind‘ - zumindest suggeriert der Titel, das hier ein Kind schreibt - durch die Fibel in das Reich der Schrift eintritt, und sich somit der semiotischen Dimension der Sprache ergeben muss, die diese in diskrete Einheiten spaltet (dadurch reist die Hand auch von Station zu Station), verliert es das Bildliche, das durch die Gesetze und die Strenge der Schrift verabschiedet werden soll, nicht. Zwar wird es gebannt, durch die semiotische Schrift vermeintlich alleine auf Vorstellungsbilder reduziert, aber durch die Schriftbildlichkeit kehrt es spielerisch zurück und erzeugt eine Art Vexierbild. Benjamin schafft mit diesem kleinen Text fast schon einen widerspenstigen Aphorismus, der auf sämtlichen Ebenen der Darstellung, die in gewisser Weise unter diesen Bedingungen als unvereinbar hätten erscheinen können, Bild und Sprache miteinander in einen fruchtbaren Dialog treten lässt. Dabei wird nicht nur eine mögliche Definition von ‚Bild‘ oder ‚Sprache‘ gestört, sondern durch das ‚kindliche Schreiben‘ auch ein mögliches Bild der Kindheit selbst. Kindheit ist nicht eine von der schreibenden Hand einfach abzulösende anthropologische Kategorie, sie gehört immer schon zum Reich der Schrift und stellt ihr als Schwellenphänomen - sozusagen hinter ihrem Rücken - ihre Bildlichkeit vor Augen. Die Hand darf sich zwar nur noch in der Fläche bewegen, sich hält sich aber nicht daran. Was nun im Zusammenhang mit dieser Notiz noch wenig zur Sprache gekommen ist, ist, wie Giuriato hervorhebt, der Umstand, dass die Verkleinerungstechnik, die hier zum Tragen kommt, ein „Signum des Kinderspiels“ ist. 20 Ebenso weist Giuriato nochmals auf das Barbarische und Entmenschte der Zirkusszene. Und bekanntlich - es wurde bereits gesagt - kann oder muss man dieses Entmenschte mit dem Anfang in einen Zusammenhang setzen. Giuriato schreibt, dass das kindliche Schreiben „jenem barbarischen Vonvornbeginnen verpflichtet“ sei und „damit - negativ und entgegen jeder Vorstellung unvermittelter Originalität - die Uneinholbarkeit ihres eigenen Anfangs und - positiv - einen Bereich der Schrift [markiere], der in der 20 Vgl. Davide Giuriato, Mikrographien, S. 24: „Denn durch Verkleinerung kann eigentlich jeder Gegenstand aus der Sphäre des Gebrauchs gezogen und zum Spielzeug werden. Benjamin hält dies auch in kulturkritischer Ausrichtung für eine Zeit fest, in der das Größerwerden der Spielzeuge deren Spielerisches zerstört.“ Dass das „Unscheinbare, Winzige, Verspielte“ den Spielsachen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abhandenkommt, ist, wie Giuriato zeigt, eine These Benjamins aus seinem Aufsatz „Kulturgeschichte des Spielzeugs“ (GS III, 115) 5. Schreibenlernen 236 erinnernden Reflexion auf deren verlorene Entstehung jenen Hiat ausstell[e], in dem all das suspendiert bzw. aufs Spiel gesetzt [werde], was die Ordnung im Reich der Schrift gewähren sollte“. 21 Diese Prekarität des Anfangs der Schrift verweist in diesem Zusammenhang auf die Prekarität auch eines jeden rechtlichen Anfangs. Jacques Derrida hat diese Schwierigkeit in seinem Buch „Gesetzeskraft“, das zu einem großen Teil auch Benjamin gewidmet ist, herauszustellen versucht. Um nochmals auf die Zirkusszene zurückzukommen: gerade in ihr wird auch das Menschsein, folgt man Benjamins Zirkustext, in gewisser Weise suspendiert. Die Archaik der Arena korrespondiert mit einer eigentümlichen Infragestellung des Menschlichen oder mit der ‚Entmenschung‘. Benjamin beschreibt eine weitere Schwellensituation, nämlich das Betreten des Zirkus, das den Menschen mit zwei Formen des ‚vor‘ und des ‚von‘ konfrontiert: nämlich mit seiner Kindheit und seiner Animalität. Dass auch die Animalität ein Teil des Menschen ist, versteht sich von selbst. Giorgio Agamben zeigt in seinem Buch „Das Offene“, dass die Grenze zwischen Humanem und Animalischem im Inneren des Menschen verläuft und dass die ‚Überwindung‘ des Animalischen kein abgeschlossenes Geschehen darstellt, sondern dass diese ‚Überwindung‘ eine Art Dezisionismus darstellt, der biopolitische Konsequenzen zeitigt, weil er das Leben spaltet (das ‚vegetative Leben‘ mit blinden und bewusstlosen Funktionen und ein relationales). 22 Das Animalische ist deshalb aber noch lange nicht endgültig verabschiedet, es scheint jenes Gesetz zu begleiten, das es dem Menschen ermöglicht, seine eigene Animalität abzustoßen. Im Zirkus scheint die Hierarchie fast schon aufgehoben. Bis auf die Schwellen des Zirkus, bis in die „Umgänge, Passagen, Tore hinein“ ist alles von „animalischen Leben erfüllt“ - selbst die Leute im Publikum verwandeln sich, wenn sie zum Buffet strömen, sprichwörtlich in Tiere: Denn das ist ja das Geheimnis des besonderen Gefühls, mit dem ein jeder den Zirkus betritt: Im Zirkus ist der Mensch ein Gast des Tierreichs. Die Tiere stehen doch nur scheinbar unter der Botmäßigkeit des Dompteurs, die Kunststücke, die sie machen, sind ihre Art den jüngeren Bruder zu unterhalten und zu zerstreuen, da sie ja Besseres mit ihm nicht anfangen können. Die Zirkusleute haben von ihnen gelernt. Wie Vögel von Ast zu Ast, so fliegen von Trapez zu Trapez Akrobaten, die Hände des Zauberers schießen durch den Raum wie zwei Wiesel, als Schmetterling läßt auf den Pferderücken die Schulreiterin sich nieder, der dumme August schnuppert wie ein Tapir sich durch den Sand der Manege und nur der Stallmeister mit der Peitsche fällt als der Herr der Schöpfung aus dem anarchischen Tierparadiese heraus. Wie sie so ist im Zirkus auch alles andere bis in die Umgänge, 21 Vgl. Davide Giuriato, Mikrographien, S. 26 f. 22 Vgl. Giorgio Agamben, Das Offene, S. 25 f. und S. 88. 5.3. Chichleuchlauchra 237 Passage, Tore hinein von animalischem Leben erfüllt. In den Pausen drängt das Publikum zum Buffet, denn nichts macht Appetit wie ein Abend im Zirkus. (GS III, 72) Das ‚anarchische Tierparadies‘ erinnert nicht umsonst auch an das Kindliche, auch die Kinderwelt trägt anarchische Züge. Jedenfalls ist mit dem ‚Anarchischen‘ und dem ‚Paradies‘ auch das Archaische angesprochen. Dass das Tierische wie das Kindliche in gewisser Weise ‚vor‘ dem Menschlichen anzusiedeln sind, darauf weist die Formulierung ‚jüngerer Bruder‘ hin - der Mensch sei der ‚jüngere Bruder‘ des Tieres, das ihn im Zirkus ‚zerstreut ‘. Dieses ‚Zerstreuen‘ durch das Amüsement, den Konsum des Dargebotenen führt zu einem Vergessen dessen, was die eigene Identität bedroht, etwa die Gefahr der Selbstentfremdung durch die modernen Produktionsgesetze, die den Menschen von den von ihm hergestellten Produkten und von sich selbst durch die Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse entfremdet. Aber dieses Zerstreuen hat vielleicht zwei Seiten. Denn es könnte sein, dass andererseits gerade auch eine Destabilisierung jener Produktionsverhältnisse stattfindet, die jenes prekäre, immer von der Entfremdung bedrohte Menschsein produzieren. Die vermeintliche Fortschrittlichkeit jener Verhältnisse, die die Animalität suspendieren, könnte durch die artistische Zerstreuung im Zirkus wiederum aufgehoben werden. Der Zirkus und seine Arena, seine ‚Tore‘ und ‚Passagen‘, bildeten dann ein Schwellenreich, das von seltsamen Figuren bevölkert wird, die hinsichtlich ihrer Identität stets auf der Kippe sind. Das gilt nicht nur für die Zirkusleute, die per se Schwellenfiguren darstellen, die von ihrer Animalität nicht zu scheiden sind. Es scheint auch für das Publikum selbst zu gelten, wie der Schluss der Textstelle nahelegt. Im Bann der Arena verwandeln sich die Menschen wie Schmetterlinge. Jene Schulreiterin, die sich wie ein Schmetterling auf dem Rücken des Pferdes niederlässt, steht exemplarisch für die Wandelbarkeit im Bann der Zirkusarena. Vielleicht findet sich auf dieser Schwelle auch eine Reminiszenz an die Kindheit wieder, in der die Schmetterlingsjagd, wie man weiß, auch eine gewisse Rolle gespielt hat. In diesem Stück, das im Rahmen der ‚Berliner Kindheit‘ entstanden ist, wird die ‚alte Jägersatzung‘ beschworen: „[J]e mehr ich selbst in allen Fibern mich dem Tier anschmiegte, je falterhafter ich im Innern wurde, desto mehr nahm dieser Schmetterling in Tun und Lassen die Farbe menschlicher Entschließung an, und endlich war es, als ob der Fang der Preis sei, um den einzig ich meines Menschendaseins wieder habhaft werden könne.“ (GS IV; 244) Diese Szene führt nochmals vor Augen, wie das Kind sich seines Menschseins (noch) nicht in jedem Moment versichern kann. Sie führt außerdem vor Augen, dass der Erwachsene retrospektiv sich seines Erwachsenseins und seiner wandelbaren Erinnerungen nicht sicher wähnen darf. Und sie führt schließlich vor Augen, wie prekär der 5. Schreibenlernen 238 Prozess des Schreibens und der Jagd auf Worte ist (denn seit dem Sündenfall und vor allem Babel sind die Söhne Sems und die Wörter ‚zerstreut‘ 23 ). Das führt auch ein anderer Text vor Augen, um den es im nächsten Kapitel gehen soll und der insofern mit dem ‚Bild‘ einer schmetterlingshaften Schulreiterin in Verbindung steht, weil es in der Lese- oder Schreibschule, die die Fibel darstellt, darum geht, dass der Buchstabe selbst zum Pferd wird, auf den der ‚kleine Reiter‘ in den Fibeln Tom Seidmann-Freuds gesetzt werde (vgl. GS III, 312). Eine These des nächsten Kapitels wird lauten, dass es nicht bloß das Animalische und das Kindliche ist, die durch die Gesetze der Schrift verdrängt werden, sondern auch das, was man gemeinhin das ‚Bildliche‘ nennt. Wie deutlich zu sehen war, ist diese Verdrängung aber eine fragile. Die Frage ist, welche Techniken erforderlich sind, um diese Verdrängung tatsächlich bewusst zu machen. 5.4. Der Bannkreis des Schwarzaufweißen Bekanntlich wird von den Fibeln der Elterngeneration in „Grünende Anfangsgründe“ gesagt, dass aus ihnen noch der ‚Ernst des Lebens’ gesprochen haben soll, und dass „der Finger, der ihre Zeilen entlangfuhr“, […] die Schwelle eines Reichs überschritten [hatte], aus des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt: er war im Bannkreis des Schwarzaufweißen, von Gesetz und Recht, des Unumstößlichen, des für die Ewigkeit gesetzten Wesens.“ (GS III, 314) Die Schwelle, die das Kind mit dem Eintritt in die Welt der arbiträren Zeichen überschreitet, ist also zugleich ein Reich des Rechts und des Gesetzes, dem man nicht mehr entkommt, ist man einmal in seinen Bann geraten. Wurde zu Beginn dieses Kapitels das Schwarzweiße in Form der Illustration als etwas vorgestellt, dass die kindliche Einbildungskraft befördert, unterhält es nun als das Schwarzaufweiß der Schrift plötzlich eine Beziehung zur Gewalt. Die einzige Verwandtschaft zwischen der schwarzweißen Illustration und dem schwarzen Buchstaben auf weißem Grund ist möglicherweise ihr Bezug zur Form. Während die Farben im letzten Kapitel eine Kategorie für sich bildeten, standen ihr der Umriss und die Form entgegen. Diese beiden Momente lassen sich natürlich auch mit der Zeichnung verbinden, die wiederum das Bindeglied zwischen Illustration und Buchstabe darstellt. Form ist ein wesentliches Moment der Repräsentation und dient insofern auch der Reproduktion. In der Zeichnung ist Reproduktion an abbildhafte Ähnlichkeit gebunden, im Buchstaben in gewis- 23 Vgl. Jacques Derrida, Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Alfred Hirsch (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt am Main 1997, S. 119- 165. 5.4. Der Bannkreis des Schwarzaufweißen 239 ser Weise auch, aber nicht bezüglich seines Referenzobjekts - obwohl, wie man sehen konnte, die Ausführungen Anja Mendelssohn und auch die biomorphistischen Lettern auf das Gegenteil schließen lassen. Jedenfalls kann der formelle Ausdruck durchaus als das Ziehen einer Grenze betrachtet werden. Es geht um eine Setzung, die trotz ihrer Iterabilität, wie Derrida sagen würde, trotz ihrer ursprünglichen Nicht-Ursprünglichkeit, die Integrität des Akts und des Gesetzten halten möchte. Der Bann des Schwarzaufweißen bezeichnet eine Schwelle, die ein Schreibender schon immer überschritten haben muss, auf der er sich aber gleichzeitig auch aufhält, weil der Akt der Setzung im Bann dieser Schwelle immer bereits ein Akt der ‚Über‘-Setzung ist, dem die Souveränität des originären Setzungsakts abgehen muss. Wie wir im vorher kurz vorgestellten Text über das ‚schreibende Kind‘ gesehen haben, zeichnet sich das Kind nun wahrscheinlich gerade dadurch aus, dass es jene Schwelle noch nicht ganz überschritten hat, dass es sich auf ihr aufhält - es befindet sich im Bannkreis des Schwarzaufweißen. Deshalb läuft die Dimension des Kindlichen, aber vielleicht auch jene des Bildlichen wohl neben der anderen her, selbst wenn beide Dimensionen mit dem Übertritt in die Buchstabenschrift verdrängt zu werden im Begriffe sind. Es lohnt sich an dieser Stelle nochmals, einen Blick auf die Schwellensituation zu werfen, die mit dem Übertritt in die Welt der Buchstaben geschieht. Der noch ungeklärten Beziehung dieser Schwellensituation zu den Bereichen Recht und Gewalt, die Benjamin herstellt, muss dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil diese Dimension bislang noch zu kurz kam. Es ist zwar so, dass der Spracherwerb - wo er eben primär als ein Akt der Aufklärung oder des Fortschritts betrachtet wird - häufig mit harmloseren Begriffen in Verbindung gebracht wird 24 , bei Benjamin ist aber hinsichtlich des Schrifterwerbs explizit von der Gewalt die Rede. Der Begriff ‚Gewalt‘ spielt im hiesigen Kontext in gewisser Weise auch auf eine juridische Situation an, die logischerweise den Bereich der Religion streift. Die Schwelle, die hier überschritten wird, erinnert durchaus an eine Art Sündenfall. Und der Sündenfall wiederum hängt bei Benjamin, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, unmittelbar mit einer sprachlichen Verände- 24 Konkret soll hier im Zuge eines emphatischen Philologie-Begriffs auf die ‚Liebe‘ (zum Buchstaben) angespielt werden. Und zur Deutung der Ursprünge des Alphabets als „Wunsch einer akustischen Kultur […], noch mehr Sound zu machen“. Die Erkenntnis aber, dass das Alphabet „keinen Schaden angerichtet [habe], sondern erst einmal Gesang“, bedeutet nicht, dass diese Technik, die einen vermeintlichen Fortschritt oder Zuwachs bedeutete, im Sinne einer Dialektik der Aufklärung, nicht auch gewaltsame Tendenzen zeitigen konnte. Vgl. Friedrich Kittler, Philologische und Homerische Frage, in: Jürgen Paul Schwindt (Hrsg.), Was ist eine philologische Frage, Frankfurt am Main 2009, S. 299 und S. 301. 5. Schreibenlernen 240 rung zusammen, die rechtliche Folgen zeitigt. Das ‚richtende Wort‘, das Urteil also, die Erkenntnis von Gut und Böse, verstoße „die ersten Menschen aus dem Paradies“ - „sie selbst“ hätten „es zitiert“, schreibt Benjamin, „zufolge einem ewigen Gesetz, nach welchem dieses richtende Wort die Erweckung seiner selbst als die einzige, tiefste Schuld bestraft - und erwartet“ (GS II, 153). Diese unheilvolle und schicksalhafte Dialektik findet sich auch in „Zur Kritik der Gewalt“ wieder, wo jene „ungeheure Ironie“ - im Aufsatz über Sprache überhaupt das „Kennzeichen des mythischen Ursprungs des Rechtes“ (GS II, 154) - in „einer flüchtigen Betrachtung der antiken Schicksalsvorstellung“ mit den Worten Hermann Cohens als ‚planvolle Zweideutigkeit‘ der mythischen Gewalt und Rechtsordnung herausgestellt wird: es seien, mit Cohen gesprochen, die Ordnungen selbst, „welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen“ (GS II, 199). Dieselbe Formulierung taucht, wie später gezeigt werden soll, in Benjamins Arbeiten über Kafka nochmals auf. Benjamins ziemlich breit - und auch kontrovers - diskutierter Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ fängt mit den Worten an: „Die Aufgabe einer Kritik der Gewalt läßt sich als die Darstellung ihres Verhältnisses zu Recht und Gerechtigkeit umschreiben. Denn zur Gewalt im prägnanten Sinne des Wortes wird eine wie immer wirksame Ursache erst dann, wenn sie in sittliche Verhältnisse eingreift.“ (GS II, 179) Wenn man grundlegende Bereiche der Kommunikation auch zu den sittlichen Verhältnissen rechnet, und den Bannkreis des Schwarzaufweißen als ein Bereich von Gesetz und Recht versteht, ist es wohl nicht abwegig, dafür einen weitreichenden Begriff von Gewalt anzunehmen. Gewalt steht nach Benjamin am Ursprung der Rechtsordnung und sie ragt repräsentativ „in das Bestehende hinein“ (GS II, 188). Sprache und Schrift lassen sich mit Blick auf Benjamins Aufsatz insofern als „Rechtsinstitute“ betrachten, als ihre ‚mittelbare‘ Dimension gewaltsam ist und zwar in einem rechtsetzenden wie auch in einem rechtserhaltenden Sinne (GS II, 190). Gewaltsam muss Schrift (ein-)gesetzt werden, gewaltsam wird sie als System erhalten, auf einer abstrakten wie im Falle der Fibeln auch eher konkreten Ebene. „Schwindet das Bewußtsein von der latenten Gewalt in einem Rechtsinstitut, so verfällt es.“ (Ebd.) Wenn man diese Diagnose, die sich an dieser Textstelle auf das Parlament bezieht, auf die Sprache überträgt, denkt man rasch an Benjamins Aufsatz über Karl Kraus und in gewisser Weise auch an die Diagnose des Autoritätsverlusts am Ende der Spielfibeln. Es ist nicht abwegig, Benjamins Bewertung dieser ‚Institutionen‘ in einen Zusammenhang mit der politischen Situation der Weimarer Republik zu bringen - schließlich verweist Benjamins Aussage über die ‚Unsicherheit unserer Tage‘ selber darauf. Aber es ist auch nicht abwegig, sie auf weitreichendere Überlegungen zu bezie- 5.4. Der Bannkreis des Schwarzaufweißen 241 hen. 25 Denn so wie Gewalt und Sprache zusammengebracht werden können, weil vor allem Rechtsetzung und Rechtserhaltung häufig und grundlegender Weise auch über Sprache geschieht, so ist die Sprache aber auch gerade jene „Sphäre menschlicher Übereinkunft“, die der „Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre der ‚Verständigung‘“ (GS II, 192). Wobei Benjamin hier einräumt, dass es wiederum gerade das Recht ist, dass „den Gebrauch völlig gewaltloser Mittel“ einschränke, „weil diese reaktiv Gewalt erzeugen könnten“. 26 Jedenfalls wird gegen Schluss des Aufsatzes deutlich, dass es neben der ‚mittelbaren‘ Dimension der Gewalt auch eine ‚unmittelbare‘ gebe, nämlich im Moment der ursprünglichen Rechtsetzung selbst: Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich zwiefach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht aber die Gewalt nicht abdankt, sondern sie nun erst im strengen Sinne und zwar unmittelbar zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung. (GS II, 198) 25 Für Jacques Derrida ist das - mit Blick auf den Benjaminschen Aufsatz zur Kritik der Gewalt - ein Einsatzpunkt für die dekonstruktive Lektüre der Rechtsetzung beziehungsweise -gründung überhaupt: „Als rechtsbegründende oder rechtsetzende muß die Gewalt ‚nicht unmittelbar [im Vertrag] gegenwärtig sein‘ (S. 190). Sie ist nicht unmittelbar gegenwärtig, wird aber von dem Supplement vertreten, das ein Ersatz bildet. In dieser différance, in der Bewegung, die die Gegenwart ersetzt (die unmittelbare Gegenwart der Gewalt, die sich als solche, ihren Zügen und ihrem Geist gemäß identifizieren läßt) - in dieser differantiellen Vertretbarkeit, in diesem differantiellen Repräsentationscharakter ereignet sich das Vergessen der ursprünglichen Gewalt. Ein solcher das Gedächtnis auslöschender Bewußtseinsschwund geschieht nicht zufällig. Er ist nichts anderes als der Übergang von der Gegenwart oder Anwesenheit zur Repräsentation: der Übergang, der den Weg des Niedergangs, der institutionellen Entartung, des Verfalls* vorzeichnet.“ Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt am Main 1991, S. 97 f. 26 Benjamin bezieht sich an dieser Stelle auf die Lüge oder den Betrug und weist daraufhin, dass beide im römischen und altgermanischen Recht straffrei gewesen seien. Der Betrug wurde angeblich nur verboten „aus Furcht vor den Gewalttätigkeiten, die er im Betrogenen auslösen konnte“ (GS II, 192) - was wiederum natürlich auch Gewalt gegen die Rechtsordnung selbst hätte bedeuten können. 5. Schreibenlernen 242 Der Moment, in dem das Recht gesetzt wird, hat einen ‚mittelbaren‘ und einen ‚unmittelbaren‘ Charakter. Einerseits wird Gewalt als Mittel zum Zweck eingesetzt, andererseits muss diese Gewalt irgendwo verbürgt werden. Bei einer ‚ursprünglichen‘ Situation der Setzung aber gibt es nicht als den unmittelbare und mediale Dimension der Setzung selbst. Deshalb bleibt die Rechtsetzung auf tragische Weise prekär, die Grenzen, die sie setzt, sind instabile: das gesetzte Recht bleibt selbst jederzeit von Gewalt bedroht. Benjamin bringt diese Art der Setzung mit einer mythischen Ordnung zusammen. Da diese Ordnung vor allem „in Urzeiten“ auf „ungeschrieben Gesetze[n]“ fußte, konnten sie umso ahnungsloser überschritten werden (GS II, 198). Aber auch geschriebene Gesetze bleiben prekär, wenn sie auf der mythischen Ordnung basieren, die im Grunde einer unheilvollen Dialektik gehorcht, wie Benjamin gegen Ende des Aufsatzes nochmals deutlich festhält. „Ein nur aufs Nächste gerichteter Blick vermag höchstens ein dialektisches Auf und Ab in den Gestaltungen der Gewalt als rechtsetzender und rechtserhaltender zu gewahren.“ (GS II, 202) Das „Schwankungsgesetz“ dieser Dialektik läuft letztlich auf eine Art Verfallsprozess hinaus, weil, wie Benjamin schreibt, „jede rechtserhaltende Gewalt in ihrer Dauer die rechtsetzende, welche in ihr repräsentiert ist, durch die Unterdrückung der feindlichen Gegengewalten indirekt selbst schwäch[e]“ (GS II, 202). Fatalistisch oder eben schicksalhaft - Benjamin verbindet die mythische Ordnung ja mit dem Schicksal - klingt es, wenn es weiter heißt, dass dies so lange währe, bis „bis entweder neue Gewalten oder die früher unterdrückten über die bisher rechtsetzende Gewalt siegen und damit ein neues Recht zu neuem Verfall begründen“. (Ebd.) Doch kann dieser Zyklus in gewisser Weise auch ‚entsetzt‘ oder durchbrochen werden, durch den Menschen aber wiederum bloß nur durch eine Form von Gewalt, nämlich durch „revolutionäre Gewalt“. Vielleicht führt dieser Exkurs nun ein wenig weit weg vom Schrifterwerb, außerdem wird er der Komplexität des Benjaminschen Aufsatzes 27 mit seinen Überlegungen zur göttlichen Gewalt, zum gerechten Menschen und zum Generalstreik gewiss nicht ‚gerecht‘ - vor allem in Anbetracht der Überlegungen zur Gerechtigkeit, die darin angestellt werden -, dennoch sollten einige Grundzüge der Ausführungen Benjamins über Gewalt im Kopf behalten werden, wenn nun rund um den Schrifterwerb davon die Rede ist. Die Ausführungen sind insofern interessant, als die Argumentation in den folgenden Texten über den Schrifterwerb diesen ähnelt. Diese Lektüre kann man durchaus vor dem Hintergrund der Verbindung von Gewalt und Sprache betrachten, die Benjamin selbst leistet, die aber auch von Jacques Derrida bei seiner bereits ange- 27 Vgl. dazu den Sammelband von Anselm Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida - Benjamin, Frankfurt am Main 1994. 5.4. Der Bannkreis des Schwarzaufweißen 243 sprochenen Interpretation des Benjaminschen Aufsatzes herausgearbeitet wurden. 28 In einem illustrierten Aufsatz, der am Ende des Jahres 1928 in einer Beilage zur Frankfurter Zeitung („Für die Frau“) erschienen ist, beschreibt Benjamin die Buchstaben im allgemeinen tatsächlich als „Säulen eines Tores, über dem ganz gut geschrieben stehen könnte, was Dante über den Pforten der Hölle las“ (GS IV, 619). 29 Die „rauhe Urgestalt“ der Buchstaben sollte die ‚Kleinen‘ nicht abschrecken, deshalb behängte man sie in Fibeln mit „Girlanden und Arabesken“, um sie anziehender zu gestalten; die Skelette wurden geschmückt. Unabhängig davon, ob es sich um einen berechtigte Forderung handelt, die Zierde wegzulassen und unabhängig davon, ob das in der Moderne dann geschehen ist, ist die Stilisierung des Reichs der Buchstaben als Höllenpforte eine brisante Wendung. Der Übertritt zu ‚ewigem Schmerze’ und jene Aufforderung, die mit ihm verbunden ist, alle Hoffnung fahren zu lassen, scheint im Zusammenhang mit dem Schrifterwerb doch etwas übertrieben. Dennoch sollen angeblich ‚Gerechtigkeit’, ‚Liebe’ und ‚Weisheit’ die Triebfedern der Schöpfung dieser Höllenpforte gewesen sein, geschaffen wurde sie als erstes Ding überhaupt. Wenn man diese theologische Argumentation mit den Buchstaben, der Schrift und der Sprache in Verbindung bringt, klingt nicht nur beinahe Kafkas Welt an, sondern, wie auch oben gezeigt wurde, Benjamins früher Sprachaufsatz. Denn Gerechtigkeit und Weisheit werden im Sündenfall gerade verabschiedet, es entsteht nach der Logik des Sprachaufsatzes mythisches Recht, die nichtige Erkenntnis von Gut und Böse, eine Ordnung, die der Mensch erhält, sowie er ihr auch ausgeliefert ist. Es scheint nun durchaus so, dass der Ebene der Schrift eine Art Schöpfungsmythos wiederholt wird, nur dass es dieses Mal, wie im frühen Sprachaufsatz, nicht um die Sprache überhaupt geht, um das Verhältnis der Sprache des Menschen zur Sprache Gottes und um das Namengeben, sondern um ihren materiellen Ausdruck, der zwischen Code und Nicht-Code hin und her schwankt. Offenbar ist gerade der Code in Form des Gesetzes, die die semiotische Schrift darstellt, an dieser Stelle das Entscheidende: eine neue Art Sündenfall. Seltsam ist freilich, dass derjenige, der hier über den Erwerb der Schrift schreibt, seit jeher ein Schreibender ist. Doch wie jeder andere Schreibende 28 Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft, S. 103 f. 29 Über dem Tor zur Hölle steht bei Dante: „Durch mich geht es in die Stadt des Leidens,/ durch mich geht es in das ewige Leid,/ durch mich geht es unter die verlorenen Scharen./ Gerechtigkeit bewog meinen hohen Schöpfer,/ mich schuf die göttliche Allmacht,/ die höchste Weisheit und die erste Liebe./ Vor mir gab es keine geschaffenen Dinge,/ nur ewige, auch ich verbleibe ewig./ Gebt alle Hoffnung auf, ihr, die ihr eintretet.“ Vgl. Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, In Prosa übersetzt von Walter Neumann, Darmstadt 1997, S. 19. 5. Schreibenlernen 244 auch, ist dieser Schreibende nicht Herr über die Schrift. Der Umstand, dass gerade dieser Schreibende immer wieder größte Mühe mit seinen Schreibutensilien bekundete und nur unter bestimmten Bedingungen davon sprechen konnte, im „Arkadien [s]einer Schriftstellerei“ zu sein 30 , tritt als Konsequenz zu den Bedingungen des Schrifterwerbs hinzu. Denn am Anfang, an der Schwelle, denn ein ‚vor’ gibt es wohl nicht, zumindest ist es nicht schreibend durch den Schreibenden bestimmbar, wo noch nicht entschieden werden kann, ob derjenige, der das Schreiben erlernt, tatsächlich schreibt, ob er vielleicht zeichnet, malt oder sich nur irgendwie mimetisch verhält, wird die ganze Zweideutigkeit der Schrift erfahren. So wenig ein Zustand vor dem Sündenfall der Sprache denkbar ist, so wenig ist wohl ein Zustand vor der Schrift denk- und beschreibbar. Die Schrift ist ein technisches Mittel zur Erschließung einer gesetzlich geregelten Welt, Lesen und Schreiben sind, mit Blick auch auf die Problematik der Aphabetisierung, offenkundig Mittel zur Partizipation an der Gesellschaft, gewiss aber auch Mittel der Herrschaft. Sowie der Erwerb der Schrift durch Fibeln und Schulen gesteuert werden kann, so ist die Beherrschung des Alphabets noch längst kein Garant für die Beherrschung der Schrift überhaupt. Der Schreibende ist immer auch von der Schrift selbst beherrscht, er ist der Ordnung der Schrift logischerweise verfallen. Ihr Umschlag in Tyrannei oder Despotie gehört zu ihr wie ihre Teilhabe an Recht und Sicherheit. Wenn die Schrift mit Gewalt in einen Zusammenhang gebracht werden kann und wenn mit ihrem Erwerb in gewisser Weise eine Dimension der Vorzeit - die Animalität - gebändigt wird, erstaunt es auch nicht, dass das ‚Kind‘ in der Beschreibung der Seidmann-Freudschen Fibel scheinbar selbst zu einer Art Dompteur wird: Bei alledem wird das Kind niemals vor, immer über den Lehrgegenstand gestellt: als würde es beispielsweise im zoologischen Unterricht nicht vor das Pferd geführt, sondern, als Reiter, darauf gesetzt. So ein Pferd ist hier jeder Buchstabe, jedes Wort und Sache des Zeichnens - das alle Stadien dieses Lehrgangs begleitet - ist es, mit seinen Kurven, wie mit Zaum und Kummet den Widerspenstigen unter die Gewalt des kleinen Reiters zu bringen. (GS III, 312) 30 Vgl. GS IV, 112 f.: „Wenn der Zigarettenrauch in der Spitze und die Tinte im Füllhalter gleich leichten Zug hätten, dann wäre ich im Arkadien meiner Schriftstellerei.“ Vgl. zur Problematik, dass das Schreibzeug Benjamin immer wieder Widerstände geboten hat und dass das auf der Ebene der Texte auch reflektiert wird, Davide Giuriato, (Mechanisiertes) Schreiben, in: Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti (Hrsg.): „ SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR.“ Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München 2005, S. 7-20. 5.4. Der Bannkreis des Schwarzaufweißen 245 Aber das problematische Wort ‚vor‘, das neben der räumlichen Markierung auch eine als eine zeitliche Bestimmung begriffen werden könnte, lässt einen eigentümlichen Gedanken zu. Nämlich, dass der sogenannte Reiter in gewisser Weise - wie der Artist im oben vorgestellten Zirkus - mit seinem Pferd zunächst verschmilzt. Den Buchstaben gerade mittels der Zeichnung unter die ‚Gewalt des kleinen Reiters zu bringen‘ ist ebenfalls ein seltsames Unterfangen. Diese Formulierung lässt wiederum fast schon darauf schließen, dass auch das ‚bildliche‘ Moment innerhalb dieser Schreibszene sich mit dem Kindlichen und Animalischen verbündet. Kind, Tier, Bild würden demnach ein Trio bilden, das die Schrift allmählich bändigt. Sowie das Animalische und das Kindliche der ungebändigte Teil des Menschen sind, so ist das Bildliche der ungebändigte Teil der Schrift. Gewiss gibt es im hier geschilderten Bereich der Abc-Bücher und Lesefibeln keine beschreibbare Welt der Bilder oder Zeichnungen, die von der Schrift unabhängig wäre. Aber das gilt auch für das Kindliche und das Animalische, das im hier geschilderten Bereich der Literatur oder der Fibeln nicht unabhängig vom Erwachsenen oder ‚Menschlichen‘ existiert. Denn die Gewalt, die hier angesprochen wird, ist wohl ebenso mehrdeutig wie der oben verhandelte, allgemeine Gewaltbegriff, und zwar, weil zusätzlich zu den beiden Dimensionen der Gewalt als Mittel zur ‚Bändigung‘ und der transzendentalen oder unmittelbaren Bedingungsmöglichkeit ihrer selbst als Mittel noch eine weitere Dimension angedeutet wird, die mit den ersten beiden zusammenhängt: durch die Anwendung oder Ausführung der Gewalt verabschiedet sich das Kind als Kind quasi von sich selbst. Die ‚restlose‘ Aktivierung des kindlichen Spieltriebs durch das Bestreben der Fibel, eine innige Verbindung von „Schreiben und Zeichnen“ (GS III, 310) zu fördern, bedeutet zwar, dass Bildliche, das Kindliche, das Animalisch-Triebhafte zu wahren, es bedeutet aber auch, es allmählich zum Verschwinden zu bringen, es zu verkleinern. Man könnte meinen, das Zeichnen und Kritzeln von Symbolen, die als Buchstaben miteinander möglicherweise einmal einen Sinn ergeben sollen, wird bloß mit dem Zureiten eines widerspenstigen Pferds verglichen. Der Clou dieser Beschreibung ist aber, und das wird in den Rezensionen und auch in den - übrigens perforierten - Geleitworten zu Seidmann-Freuds Fibeln klar, dass das Kind unvermittelt ‚auf’ den Gegenstand gesetzt wird und also in ihn hineinprojiziert wird. Obwohl bei Benjamin so etwas wie Anstrengung durchscheint, die Buchstaben letztlich in den Griff zu bekommen, betont Seidmann-Freud den Spielcharakter, den sie dem kindlichen Arbeiten mit ihren Fibeln bewahren wollte. Sie schreibt: „Der Haupterfolg einer Spielstunde wird natürlicherweise zunächst latent bleiben, um sich dann unerwartet bei einer ganz anderen Gelegenheit zu zeigen. Die Fibeln sollen ja ausdrücklich das 5. Schreibenlernen 246 unbewusste Aufnehmen fördern.“ 31 Benjamin betont oftmals den agonalen Charakter dieses Prozesses, der zum Spiel dazuzugehören scheint. 32 Das Spiel ist nicht frei von Gewalt. Auch wenn er im Sinne Seidmann-Freuds bekräftigt, dass ihre Fibel versuche, dem „Spielenden die Souveränität zu wahren, ihn keine Kraft an den Lehrgegenstand verlieren zu lassen und das Grauen zu bannen, mit dem die ersten Ziffern oder Lettern so gern als Götzen vor dem Kinde sich aufbauen“ (GS III, 312), wird deutlich, dass Gewalt dazugehört. Diese Götzen waren, so Benjamin, nichts anderes „als ein Verrat durch das Vertrauteste und Liebste, was das Kind nach seiner Mutter hatte: die Geschichten“ (GS III, 312). Seidmann-Freud hingegen fordere auch bei einer schlichten Rechenaufgabe das Kind dazu auf, eine Geschichte dazu zu erfinden und sie aufzuschreiben. Das ‚Grauen’, das die ‚Götzen‘ verursachen, löst nämlich Sprachlosigkeit aus, wie Benjamin in einer eher frühen Notiz schreibt. „Plötzlich im Vollbesitz aller übrigen Kräfte, inmitten von Menschen, am hellen Tag von Sprache, von jeder Ausdrucksmöglichkeit verlassen zu sein“ (GS VI, 77) sei ein Urerlebnis des Grauens. So reicht wohl alle Sprache in dem Moment, in dem sich erste Ziffern und Lettern vor dem Kind als Götzen aufbauen, nicht aus, um ihnen souverän zu begegnen. Seidmann-Freud scheint mit ihrer Fokussierung auf das kindliche Spiel einen kindlichen Umgang mit dem Material zu fördern, der es nicht dazu kommen lässt, dass Buchstaben zu starren Götzen mutieren. Dieser Hinweis auf den Götzencharakter, den Ziffern und Lettern in alten Fibeln annehmen konnten, könnte natürlich auch bildkritisch gelesen werden. Der Buchstabe als Götze, die es anzubeten gilt, transportiert eine animistische Bildauffassung, die den Bildträger mit einer Souveränität als Referenzobjekt so zusammenfallen lässt, dass in gewisser Weise kein eidetischer Gegenstand daraus resultiert. Die Götze bleibt leer, starr, sinnlos: Sie absorbiert Kraft und Souveränität, weil sie bloß dazu anhält, ihre eigene Leere zu wiederholen. Bei Seidmann-Freud dagegen werden über das Vehikel der ‚Geschichte‘ Sprache und Bild so konfiguriert, dass Sprachlosigkeit verhindert wird. Die Sprache fügt ein Moment der Differenz in die leere Wiederholung des Götzenbilds ein. Das ist freilich auch nicht so harmlos, da die auf diese Weise erkaufte Souveränität nach wie vor im 31 Vgl. das Geleitwort in Tom Seidmann-Freud, Spielfibel No 2, S. 56. 32 Man beachte die teilweise sehr kriegerischen Metaphern, die Benjamin in seiner Rezension verwendet: „Es ist ganz außerordentlich, wie die Verfasserin die Kommandogewalt, die für das kindliche Spiel so entscheidend ist, von Anfang an auch der Zahlenreihe gegenüber zur Geltung bringt. Das Punktschema muß schon nach den ersten paar Seiten abdanken, dann folgen rote oder schwarze Bataillone von Fischen oder Insekten, Schmetterlinge oder Eichhörnchen, und wenn das Kind ans Ende jeder Reihe deren Zahl setzt, so malt es die Ziffer nicht anders, als wenn es einen Sergeanten vor der Riege aufpflanzt.“ (GS III, 312) 5.4. Der Bannkreis des Schwarzaufweißen 247 Bann eines Gesetzes steht, dieses Mal eher im Bann des Gesetzes der Sprache. Das Kind, das als Reiter auf die Buchstaben gesetzt wird, wird in gewisser Weise von der Sprache als Repräsentantin des Gesetzes, der Form, übermannt, während es gleichzeitig angehalten ist, Kontrolle über das Pferd, das die Sprache ist, zu gewinnen. Die Sprache bleibt ja nicht herrenloses Pferd, vielmehr kann sie zum Gesetz nur werden, wenn sie auch ausgeführt bzw. angewandt wird. Interessanterweise wird gerade diese strikte Trennung von Pferd und Reiter rund um die kindliche Souveränität in Frage gestellt. Nicht uninteressant ist deshalb auch, dass gerade die Einführung des ‚Sinns‘ in die leere Wiederholung der Götze beim Kind nicht ohne Probleme vonstattengeht. So wenig Pferd und Reiter, Tier und Mensch, Bild und Sprache voneinander getrennt werden können, so wenig lässt sich ein Sinn einführen, der vom Unsinn strikt geschieden werden könnte. Die kindliche Souveränität wird gewahrt, indem all das, was vermeintlich mit dem Erlernten strikt geschieden werden können soll, in der Schwebe gehalten wird. „Denn schickt es sich nun an, das kaum Gelernte zu verquatschen, Unfug und Widersinnigkeiten mit ihm anzustellen, ist wiederum dies Buch sein bester Freund.“ (GS III, 313) ‚Widersinnigkeiten‘ können auch deshalb angestellt werden, weil ein striktes Unterscheiden- Können von ‚richtig’ und ‚falsch’ bei Seidmann-Freud unterlaufen wird. Das Kind braucht durch die offene Aufgabenstellung keine Angst vor Fehlern zu haben. Wenn es etwa anhand bereits bestehender Textbruchstücke eine Geschichte erfinden soll, so steht es ihm frei, die Lücken zu füllen wie es ihm beliebt. Die eine solche Geschichte begleitende Aufforderung, „passende Worte in die Lücken“ zu schreiben und „der Geschichte eine Überschrift“ zu geben 33 , lässt großen Spielraum für kindlichen Sinn oder Unsinn, kaum ein Substantiv ist bereits vorgegeben. Auch Benjamin fallen die weißen Stellen der Fibel auf, sie mahnen das Kind nicht einfach, sie mit ‚sauber’ geschriebenen Buchstaben zu füllen, sondern diesen Raum für Kreaturen der kindlichen Einbildungskraft zu öffnen, die das ‚Territorium’ der Erwachsenenwelt möglicherweise eher marginalisieren würde: „Es hat ja weiße Stellen genug zum Bemalt- und Bekritzeltwerden, weite fruchtbare Territorien, auf denen alle Unholde und Lieblinge seines Besitzers geräumig angesiedelt werden können.“ (GS III, 313) 34 Einerseits scheint der Bannkreis des Schwarzaufweißen das Kind demnach gefangen zu nehmen, es scheint das Kindliche durch die Gewalt des Buchstabens ausgetrieben zu bekommen. Andererseits scheint aber gerade die Fibel Seidmann-Freuds diesen Bannkreis in gewisser Weise zu suspen- 33 Vgl. Tom Seidmann-Freud, Spielfibel No 2, S. 24. 34 Eine Anmerkung am Rande: Das Exemplar, das der Verfasser dieser Arbeit sich aus einer öffentlichen Bibliothek besorgt hat, enthielt Spuren kindlichen Gekritzels. 5. Schreibenlernen 248 dieren. An dieser Stelle gilt es nochmals, einen Blick auf die Rolle des spielerischen Umgangs mit Bild und Sprache zu werfen, den ihre Fibeln gewähren. 5.5 Karneval Die Unholde, von denen Benjamin spricht, werden durch die Aufforderungen bzw. die Texte in der Fibel selbst beschworen. Die Sprache erhält durch kleine, minimale Abweichungen eine andere Gestalt. Als ‚Räubersprache‘ verweist sie auf ihren gesetzlich fragwürdigen Status. Denn die ‚Räubersprache‘ läuft der Sprache des Rechts logischerweise zuwider. Sie regt aber auch die kindliche Einbildungskraft an: Aber zu welchen Festen sieht es nicht nach getaner Arbeit sich eingeladen! Da ziehen sich jene Girlanden durchs Leseland, die schon in der ersten Fibel als Spuren des „Schreibturms“ auftauchten, und die Buchstaben geben sich zu karnevalesken Verkleidungen her. „As wer aunmel aun klaunas mēdchan, des hetta auna windarketza. Duasa ketza konnta sprachan“, fängt es in einer Mundart zwischen Althochdeutsch und Räubersprache an; daneben aber ist Platz für die Demaskierung: „Schreibe die Geschichte ab, aber setze für jedes a ein e und umgekehrt; für jedes i ein u und umgekehrt.“ Ganz unter der Hand ist damit gleichzeitig eine alte pädagogische Streitfrage entschieden: ob man Kindern Falsches zur Warnung vormachen dürfe? Antwort: Ja, wenn man übertreibt. (GS III, 313) Ein Changieren zwischen Maskieren und Demaskieren, der Karneval, die Räuber verweisen auf den subversiven Charakter dieser Übungen, die doch einerseits die Sprache näherbringen sollen, andererseits aber einen Umgang mit ihr beibringen, der durchaus politisch wirkt - eine Mundart zwischen Räubersprache und Althochdeutsch steht nicht nur im Sinne der kleinen Literatur von Gilles Deleuze und Félix Guattari im Kontrast zur Schriftsprache 35 , auch im Sinne Michail Bachtins könnte man von der Entfaltung zentrifugaler Kräfte sprechen, die die zentripetalen Kräfte der ‚Einheitssprache‘ an dieser Stelle unterlaufen. 36 In der Aneignung einer ‚frem- 35 Vgl. Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kafka, S. 24 ff. 36 Vgl. Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, S. 165: „Die Hochsprache selbst erscheint unter diesem Aspekt nur als eine der Sprachen der Redevielfalt und sie ist ihrerseits wiederum in Sprachen (von Gattungen, Richtungen u.a.) aufgesplittert. Und diese faktische Aufspaltung und Vielfalt der Rede ist nicht nur die Statik, sondern auch die Dynamik des sprachlichen Lebens: die Aufspaltung und die Redevielfalt verbreitern und vertiefen sich, solange die Sprache lebendig ist und sich entfaltet; neben den zentripetalen Kräften verläuft die ununterbrochene Arbeit der zentrifugalen Kräfte der Sprache, neben der verbal-ideologischen Zentralisierung und Verein- 5.5 Karneval 249 den’ Form der Sprache, nämlich der Schrift, lassen diese karnevalesken Aufgaben wiederum die Schrift und die mit ihr festgeschriebene, institutionalisierte Form der Sprache selbst ‚fremd’ werden, indem sie eine Art Geheimsprache oder eine Schreib- und Lesepraxis fördern, die sich einem leichten Zugriff durch den genormten Blick durchaus entziehen. Nicht zuletzt wird gar die Frage aufgeworfen, ob die Übertreibungen in den Fibel-Geschichten nicht gar als Übertreibungen der „Weltordnung“ überhaupt aufgefasst werden könnten (vgl. GS III, 314). Zweitens deutet der Satz, dass es in der Fibel weiße Stellen genug zum Bemalt- und Bekritzeltwerden habe, auf ein zweites Moment hin, dass jene ‚fruchtbaren Territorien’ für Unholde und Lieblinge kindlicher Phantasie, zu einem gefährlichen Terrain für Erwachsene macht, nämlich die Bedeutung des Bildlichen. Wahrscheinlich bringt Benjamin nicht umsonst neben Gulliver, Robinson, Alice im Wunderland auch explizit den Struwwelpeter und Max und Moritz ins Spiel (vgl. GS III, 314). Gewiss entsprechen diese nach wie vor aktuellen, von der Illustration lebenden Geschichten nicht den Kinderzeichnungen, aber ähnlich wie die ‚Räubersprache’ in der Fibel Seidmann-Freuds demonstrieren die dort vorgeführten Kindertaten Subversionen der Erwachsenenwelt und Erwachsenenpädagogik. „Aber übertrieben ist auch der Struwwelpeter, übertrieben ist auch Max und Moritz, übertrieben auch Gulliver.“ (GS III, 314) Das verweist aber auf mehr als subversive Kindertaten. Denn die Illustrationen dieser Geschichten sind voller Absurditäten, die nicht nur die Ordnung der Erwachsenenwelt durcheinanderbringen, sondern auch die Ordnung der Welt bzw. Gesetze der Physik oder Verhältnisse des Menschen zu seiner Umwelt. Diese illustrierten Geschichten können somit, analog zu Benjamins Grandville- Deutung 37 , als Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels betrachtet werden, der sich für Benjamin mit dem Kapitalismus verbinden lässt oder gar mit den Surrealisten und Walt Disney in eine Verwandtschaftsbeziehung zu bringen sind (vgl. GS V, 121), wo Widerspenstigkeit nicht nur Menschen und Tieren eignet, sondern v.a. der außer Kontrolle geratenen Dingwelt. heitlichung finden ununterbrochene Prozesse der Dezentralisierung und Differenzierung statt.“ 37 Vgl. beispielsweise auch GS V, 267: „Grandvilles Maskierung der Natur - des Kosmos sowohl wie der Tier- und Pflanzenwelt - im Sinne der um die Jahrhundertmitte herrschenden Mode läßt die Geschichte, in der Figur der Mode, aus dem ewigen Kreislaufe der Natur hervorgehen. Wenn Grandville einen neuen Fächer als éventail d'lris vorstellt, wenn die Milchstraße eine nächtliche, von Gaskandelabern erhellte avenue darstellt, ‚la lune peinte par elle-même’ statt auf Wolken auf neumodischen Plüschkissen liegt - so ist die Geschichte ebenso rücksicht(s) los säkularisiert und in den Naturzusammenhang eingebracht wie das dreihundert Jahre früher die Allegorie vollzogen hat.“ 5. Schreibenlernen 250 Grandville, eigentlich Jean Ignace Isidore Gérard, dessen Illustrationen v.a. rund um die Passagen-Arbeit wichtig für Benjamin sind, illustrierte übrigens, was Benjamin bekannt gewesen sein durfte 38 , „Gullivers Reisen“, die auch - freilich stark verkürzt - in der Spielfibel No.2 von Tom Seidmann-Freud nacherzählt werden. Verkleinerungen und Vergrößerungen 39 , die verkehrte Welt - ein zentrales Thema in Benjamins Kindheitsüberlegungen, tragen auch die Geschichte Gullivers und prägen nicht zuletzt auch Grandvilles Illustrationen. Diese Art von ‚Übertreibungen‘ finden sich in Kindergeschichten wie auch in Illustrationen. In den ‚Übertreibungen’, die die Illustrationen Grandvilles zeigten, sah Benjamin in den Überlegungen der Passagen-Arbeit den Warenfetischismus und andere durch den Kapitalismus und die Industrialisierung vorangetriebene Phantasmen abgebildet. Grandville nehme den Zauber der Reklame vorweg. Somit wird Grandville zwar ‚kritisiert’, aber er fungiert, in Benjaminscher Manier, als veritabler Ausdruck eines ‚epochalen’ Problems, so dass er zu ihrem Verständnis und dem Verständnis neuerer Entwicklungen maßgeblich beiträgt. In „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ heißt es: Die Inthronisierung der Ware und der sie umgebende Glanz der Zerstreuung ist das geheime Thema von Grandvilles Kunst. Dem entspricht der Zwiespalt zwischen ihrem utopischen und ihrem zynischen Element. Ihre Spitzfindigkeiten in der Darstellung toter Objekte entsprechen dem, was Marx die „theologischen Mucken“ der Ware nennt, Sie schlagen sich deutlich in der „spécialité“ nieder eine Warenbezeichnung, die um diese Zeit in der Luxusindustrie aufkommt. Unter Grandvilles Stift verwandelt sich die gesamte Natur in Spezialitäten. Er präsentiert sie im gleichen Geist in dem die Reklame - auch dieses Wort entsteht damals - ihre Artikel zu präsentieren beginnt. Er endet im Wahnsinn. (GS V, 51) Weiter steht ebenda: „Die Weltausstellungen bauen das Universum der Waren auf. Grandvilles Phantasien übertragen den Warencharakter aufs Universum. Sie modernisieren es. Der Saturnring wird ein gußeisener Balkon, auf dem die Saturnbewohner abends Luft schöpfen.“ (GS V, 51) Das ist nochmals ein schöner Ausdruck für jene ‚Säkularisierung‘ der Geschichte, die Grandville betreibt. Er fügt die Geschichte - wie Benjamin bereits im 38 Seine Illustrationen von „Gullivers Reisen“ wurden angeblich am häufigsten reproduziert. Seine Illustrationen liefern eine Ergänzung oder Interpretation des Swiftschen Textes, so dass er gar als „Swift of the pencil“ bezeichnet wurde. Vgl. Wolfgang Wangerin (Hrsg.), Der rote Wunderschirm, S. 254. 39 Anscheinend hatte Jonathan Swift, der Verfasser von „Gullivers Reisen“ selbst den Wunsch, dass seine Geschichte illustriert würde und interessanterweise machte er auch Vorschläge, welche Stellen sich dafür besonders eigneten, nämlich jene mit den stärksten Kontrasten. Vgl. Wolfgang Wangerin (Hrsg.), Der rote Wunderschirm, S. 254. 5.5 Karneval 251 Trauerspielbuch für die Allegorie gezeigt hat - in den Naturzusammenhang ein, so wie er ‚Natur‘ in Ware verwandelt, sie maskiert, Totes verlebendigt. Das verleiht den durch technischen Fortschritt erzeugten Produkten und ihrer Funktion in der Gesellschaft eine seltsam archaische Dimension. Benjamin ist, wie er an mehreren Stellen der Passagen-Arbeit deutlich macht, der Auffassung, dass jene utopischen Bilder, die das Heraufkommen des Neuen begleiten, auf die Urzeit zurückgreifen. 40 Die sakrale Auffassung der Geschichte und der Fortschrittsglaube wird durch die Übertreibung, jene Einbettung des industriell erzeugten Dingwelt in den Kreislauf der Natur, über sich hinausgetrieben. Auch in einem kurzen Text über Rätsel schreibt Benjamin über Grandville. Er erwähnt auch zwei weitere Karikaturisten, nämlich Cham (eigentlich Amédée Charles Henri de Noé) und Honoré Daumier, die beide auf ihre Art mit ihren Illustrationen kleine Geschichten zu erzählen imstande waren. Benjamin zieht eine Parallele zur Schrift, wie in der folgenden Passage ersichtlich wird. In „Worüber sich unsere Großeltern den Kopf zerbrachen“, einem illustrierten Artikel, der anfangs 1929 in „Das illustrierte Blatt“ erschienen ist, schreibt Benjamin also: Und eben damals blühte das Bilderrätsel, das sich über die Autorität der Rechtschreibung genau so hinwegsetzte wie ein Cham oder Daumier über die Autoritäten des Ministeriums. Der eigentliche Patron dieser Rebus aber war der geniale Illustrator Grandville, dessen zeichnerische Demagogie nicht nur Himmel und Erde, sondern Möbel, Kleider und Instrumente gegen den Herrn der Schöpfung mobil machte und noch den Buchstaben die Gliedmaßen und den Übermut lieh, mit denen sie hier den Leser mystifizieren. (GS IV, 623) 40 Vgl. GS V, 1224 f.: „Der Form des neuen Produktionsmittels, die am Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx) entsprechen im gesellschaftlichen Überbau Wunschbilder, in denen das Neue sich mit dem Alten in phantastischer Art durchdringt. Diese Durchdringung erhält ihren phantastischen Charakter vor allem daher, daß das Alte im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung sich niemals scharf gegen das Neue abhebt, das letzte aber, im Bestreben sich gegen das Veraltete abzusetzen, archaische, urzeitliche Elemente erneuert. Die utopischen Bilder, die das Heraufkommen des Neuen begleiten, greifen gleichzeitig stets auf Urvergangnes zurück. In dem Traum, in dem jeder Epoche ihre folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint diese vermählt mit Elementen der Urgeschichte. Die Spiegelungen des Unterbaus durch den Überbau sind also inadäquat nicht darum, weil sie durch die Ideologen der herrschenden Klasse bewußt verfälscht worden wären sondern weil das Neue, um sich bildhaft zu gestalten, seine Elemente stets mit solchen der klassenlosen Gesellschaft verbindet. Das kollektive Unbewußte hat an ihnen mehr Anteil als das Bewußtsein des Kollektivs. Aus ihm stammen die Bilder der Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens von den Bauten bis zu den Moden, ihre Spur hinterlassen haben.“ 5. Schreibenlernen 252 Nochmals wird auch in diesem Text deutlich, dass diese Art der Verlebendigung toter Gegenstände in gewisser Weise ein Akt des Widerstands markiert. Das Bilderrätsel, das sich über die Autorität der Rechtschreibung hinwegsetzt, die ‚zeichnerische Demagogie‘, die Buchstaben mit den Gliedmaßen und dem Übermut, sie alle verweisen auf subversive Gehalte des Bildlichen. Beinahe will es so erscheinen, als ob im Zusammenhang mit diesen illustrierten Geschichten das Bildliche selbst nicht nur ein Instrument, sondern auch ein Ausdruck von Widerspenstigkeit ist. Wie jene Verbündung von Kindern und Illustratoren über die Köpfe der Pädagogen hinweg, spielt auch bei diesem Beispiel das Bildliche eine subversive Rolle. ‚Übertrieben‘ sind nicht nur die Geschichten, die man in Seidmann-Freuds Fibeln findet, übertrieben sind auch die Illustrationen in Fibeln und Kinderbüchern. Dabei ist dieses Übertriebene oder das ‚Falsche‘ in Benjamins pädagogischem Universum also alles andere als verpönt. Die Buchstaben- und Bildsprache, die durch die Aufgabenstellung der Fibeln oder die Bilderbücher übermittelt oder angeregt wird, scheinen die Normen auf eine positive Weise ins Wanken zu bringen. Denn, wie bereits kurz zitiert und betont, fördert die Übertreibung eine ‚karnevaleske Maskerade‘. Diese Maskerade findet aber nicht nur auf der Ebene der Illustration statt, sie kann sich mitunter auch direkt auf Sprache beziehen. So wie Tom Seidmann-Freuds Lesefibeln selbst Buchstabenspiele und Geschichten anbieten, in denen maskierte Buchstaben auftreten, regen sie auch an, bestehendes Sprachmaterial zu entstellen, die Lücken in einer Geschichte mit ‚Sinn’ auszufüllen, dessen Logik durch pädagogische Absichten nicht gänzlich vorgeprägt werden kann. Nicht nur Worte ‚vermummen’ sich im Kontext des kindlichen Lese- und Schreibverhaltens. Auch auf der Ebene der Buchstaben sind wir dem Mummenschanz in den klassischen Lesefibeln unter dem Stichwort ‚Biomorphismus der Lettern’ schon begegnet. „Bis in den ernsteren Raum der Buchstabier- und Lesebücher tollt dieser Karneval hinein.“ (GS IV, 611). Vexierbilder, die die Maskerade, das immer wieder sich ereignende Changieren zwischen mehreren sichtbaren oder auszumachenden Gegenständen, wie kaum ein anderer Bildtypus als eine ihrer Funktionen thematisieren, sind im Zusammenhang mit Lesebüchern auch eingesetzt worden. Der Renner-Verlag in Nürnberg ließ in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine Folge von vierundzwanzig Blättern erscheinen, die die Buchstaben selber vermummt - wenn man so sagen darf - vorführten. F tritt in der Verkleidung eines Franziskaners, K als Kanzlist, T als Träger auf.“ (GS IV, 611) Vermummung findet also gar auf der Ebene des Buchstabens statt, der Buchstabe selbst, dem als arbiträres Zeichen keine mimetisch-sinnliche Ähnlichkeit mehr anhaftet, wird im Kinderbuch auf die Ebene dieser Ähnlichkeit zurückgeholt. Es stellt sich die Frage, wie diese Vermummung zu 5.5 Karneval 253 fassen ist. Ist es bloß der arbiträre Buchstabe, der eine Vermummung erfährt, weil er mit einem bildlich-figürlichen Gegenstand verbunden wird, dessen Anfangsbuchstabe zufälligerweise mit dem bildlich so ausgestalteten Buchstaben zusammenfällt oder vermummt gar der arbiträre Buchstabe eine auf sinnlicher Ähnlichkeit beruhende bildliche Darstellung selbst, für die er symbolisch einsteht? An diesem Punkt würde man dann eher wieder davon sprechen können, dass das bildliche Moment des Buchstabens beziehungsweise die offensichtlich wahrnehmbare Verbindung zwischen der Sache und dem Zeichen im Laufe der Zeit allmählich durch das semiotische Moment verdrängt oder vergessen wurde, eine These, auf die Benjamin bei Anja Mendelssohn gestoßen ist, und die, stellt man sie auf den Kopf, einem eben in den Kinderbüchern begegnet. Auf den ‚Biomorphismus der Lettern’ trifft man dort in einer grotesken wie - mit Blick auf die Fibeln Seidmann-Freuds auch in einer ‚reizenden Form’: Groteske Formen nahm diese Methode - alphabeticum lusu nannte man sie - in späteren Fibeln aus der Mitte des Jahrhunderts an. Da kommen denn, beispielsweise, zu Ehren des W in einem Bilde das entblößte Hinterteil des abgestraften Schulknaben, das mit seinen Linien den Buchstaben nachbildet, und der vor Schmerzen aufgerissene Mund, dem der W-Laut entfährt, zusammen. Eine kluge und reizende Abart dieses altmodischen Biomorphismus hat nun die neue Fibel. Da gibt es nämlich schon auf der zweiten Seite ein Reihe mit einfachsten Strichen gezeichneter Gegenstände: Zaun, Wagen, Gießkanne, Leiter, Dach usw. Die Linien dieser Zeichnungen sind von Haus aus schwarz. In jeder aber wird ein Teil von ihnen durch rote Überstriche herausgehoben. Diese überstrichenen Teile machen die Buchstaben, so daß die sechsundzwanzig Bildchen die Lettern stellen. (GS III, 270) Einfachste, kleine Striche bilden einen Gegenstand, wenige rote Striche genügen, um in ihm einen Buchstaben sichtbar zu machen - manchmal beginnt der Name des Gegenstands sogar mit dem in seiner Darstellung enthaltenen Buchstaben. Es herrscht auch hier eine Art Maskerade vor. Einer Maskerade der Sprache bzw. in diesem konkreten Fall der Worte begegnet man aber etwa auch in den Texten über das mimetische Vermögen oder in solchen, in denen die Mimesis eine tragende Rolle spielt. Dabei geht es um die Rezeption von Maskierten ebenso wie um karnevaleske Produktionsleistungen. In „Aussicht ins Kinderbuch“, einem ebenfalls illustrierten Aufsatz Benjamins, 1926 in „Die literarische Welt“ erschienen und im letzten Kapitel bereits zitiert, schreibt er: In solch farbenbehängte, undichte Welt, wo bei jedem Schritt sich alles verschiebt, wird das Kind als Mitspieler aufgenommen. Drapiert mit al- 5. Schreibenlernen 254 len Farben, welche es beim Lesen und Betrachten aufgreift, steht es in der Maskerade mitten inne und tut mit. Beim Lesen - denn es haben auch die Worte zu diesem Maskenball sich eingefunden, sind mit von der Partie und wirbeln, tönende Schneeflocken, durcheinander. „Prinz ist ein Wort mit einem umgebundenen Stern“, sagte ein Junge von sieben Jahren. Kinder, wenn sie Geschichten sich ausdenken, sind Regisseure, die sich vom „Sinn“ nicht zensieren lassen. Man kann darauf sehr leicht die Probe machen. Gibt man vier oder fünf bestimmte Worte an und läßt sie schnell zu einem kurzen Satz zusammenfügen, so wird die erstaunlichste Prosa zum Vorschein kommen: nicht Aussicht, sondern Wegweiser ins Kinderbuch. Da werfen sich mit einem Schlag die Worte ins Kostüm und sind im Handumdrehen in Gefechte, in Liebesszenen oder Balgereien verwickelt. So schreiben, so aber lesen auch die Kinder ihre Texte. (GS IV 609) Es ist angebracht, noch ein paar Worte zum Kontext dieses Abschnitts zu verlieren. Die Passage stammt aus einem illustrierten Aufsatz mit dem Titel „Aussicht ins Kinderbuch“, der 1926 in der Zeitschrift „Die literarische Welt“ erschienen ist, und der sich unter anderem Büchern aus Benjamins eigener Kinderbuchsammlung widmet. Eingangs wird dort mit Blick auf ein Märchen von Hans Christian Andersen geschildert 41 , wie aus einem Bilderbuch Tiere und Menschen hervorgehen, die beim Umblättern der Seiten wieder auf die Fläche, der sie entstammen, gebannt werden. Nicht wirklich eines der Hauptmotive von Andersens Erzählung, nimmt Benjamin diese trotzdem zum Anlass, festzuhalten, dass Andersen damit „haargenau an dem vorbei[gehe], worauf es hier ankomm[e]“, denn „[n]icht die Dinge treten dem bildernden Kind aus den Seiten heraus - im Schauen dringt es selber als Gewölk, das mit dem Farbenglanz der Bilderwelt sich sättigt, in sie ein“ (GS IV; 609). Diese Formulierung erinnert nicht nur an die ‚Mummerehlen’ mit ihrer Wolkenmetaphorik, sie erinnert auch an die in den Kinderbuchrezensionen oder Notizen immer wieder leicht variierte These, dass das farbige Kinder- 41 Die Herausgeber der Gesammelten Schriften meinen irrtümlich, Benjamins Schilderung bezöge sich auf „Das Unglaublichste“. In diesem Märchen wird demjenigen, der das Unglaublichste zu vollbringen imstande sei, die Tochter des Königs und das halbe Reich versprochen. Ein junger Mann erfindet eine Uhr, aus der bei jedem Stundenschlag verschiedene ‚lebendige Bilder’ zum Vorschein kommen, Figuren, die sich bewegen, reden und singen können. Obwohl Benjamin ein ähnliches Motiv anspricht, bezieht sich seine Paraphrase aber auf „Die wilden Schwäne“, in der die Eingangsszene vom Lesen- und Schreibenlernen handelt. Die elf Söhne des Königs und seine Tochter Elisa gehen zur Schule, ihre Brüder schreiben mit Diamantgriffeln auf Goldtafeln, Elisa hingegen besitzt ein Bilderbuch, das ‚für das halbe Königreich erkauft‘ war. Aus ihm treten in einem Traum lebendige Vögel und Menschen heraus. 5.5 Karneval 255 buch die Phantasie des Kindes träumerisch in sich versenke, während das schwarzweiß-bebilderte das Kind animiere, aus sich herauszugehen. Um nochmals zurück zur oben zitierten Passage zu kommen: das Kind wird gleichsam mimetisch zu einem Mitspieler der Kinderbuchwelt. Dabei lässt es sich, wie Benjamin schreibt, vom ‚Sinn’ nicht zensieren: „Es macht vor seinem ausgemalten Buche die Kunst der taoistischen Vollendeten wahr: es meistert die Trugwand der Fläche und zwischen farbigen Geweben, bunten Verschlägen betritt es eine Bühne, wo das Märchen lebt.“ (GS IV, 609) - Sehr wahrscheinlich spielt Benjamin hier auf jene Geschichte an, die er in den ‚Mummerehlen‘ (und im Kafka-Aufsatz) erzählt und an die ihn das mit Tusche bemalte China-Porzellan erinnerte: Sie stammt aus China und erzählt von einem alten Maler, der den Freunden sein neuestes Bild zu sehen gab. Ein Park war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am Wasser und durch einen Baumschlag hin, der lieg von einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Einlaß bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. (GS IV, 262 f.) Jener chinesische Maler schafft es ebenfalls, die ‚Trugwand der Fläche‘ zu meistern, ebenso ist das ‚Ich‘ des Stücks aus den ‚Mummerehlen‘ ins Bild entstellt, wie auch das Kind vor dem ausgemalten Buche. Der Bann der Fläche, der mit dem Schreiben erzeugt wird, wird demnach durch ein bildliches Moment subvertiert. Der Maskenball der Worte findet mit dem Bild statt. Die Logik des Bildes ist es, die die Logik des ‚Sinns‘ herausfordert. Übrigens klingt bei dem Satz über das Wort Prinz, das ein Wort mit einem umgebundenen Stern sei, eine von Benjamin protokollierte Äußerung seines Sohns Stefan an. 42 Wie auch Michael Schwarz in seinem kurzen, einleitenden Text zu dieser nicht vollständig erhaltenen Sammlung festhält, geht es hier weniger um eine Dokumentation des kindlichen Spracherwerbs im Sinne der Wissenschaft, sondern eher um „besondere Aspekte des kindlichen Denkens und Sprechens, die Umwege, in denen es verläuft“; - nicht um Berichtigung gehe es Benjamin, meint Schwarz, sondern um eine Teilnahme an den die Sprache ‚durchwebenden’ „Ähnlichkeiten und Korrespondenzen“, die sich „an dem Mummenschanz der Wörter“ offenbarten. 43 Auch andere mimetische Verhaltensweisen beobachtete Walter Benjamin an Stefan, wie folgende kurze Nacherzählung zeigt: „Eine 42 Vgl. Walter Benjamins Archive, Bilder, Texte und Zeichen, Herausgegeben vom Walter Benjamin Archiv, Frankfurt am Main 2006, S. 111: „Stefan redet von ‚komischen Worten’ ‚Prinz’ ist ein Wort mit einem umgebundnen Stern. (Nach mehrfachen Fragen wird abends, im Bett, ‚Schlange’ genannt, die [x] manchmal noch immer eine Krone hat - und erläutert: ‚einen ,Schlangenkamm[? ].’“ 43 Ebd., S. 78. 5. Schreibenlernen 256 ganz kurze Zeit lang bildete er leblose Gegenstände mimisch nach, z.B. eine Birne indem er sich auf der Erde zusammenrollte.“ 44 Am meisten Platz nehmen aber die Beschreibung von Wortverdrehungen und assoziativen Verbindungen wahr, die das Kind zwischen einzelnen Worten und Situationen herstellt. Dabei spielt oftmals jene Entstellung eine Rolle, die Benjamin auch in den ‚Mummerehlen’ schildert, eine Entstellung der Worte, die sich zu anderen Worten und Situationen so verhält, dass neue ‚Sinn‘-Konstellationen entstehen. Diese wiederum verstellen die Welt, aber, wie Benjamin selbst betont, auf eine positive Art und Weise. Jene Verstellung kann Worte maskieren, aber genauso auch denjenigen, der die Worte ausspricht. Sie vermag dem Alltag, Althergebrachten oder Gewöhnlichen ungewöhnliche Aspekte abzugewinnen: „Stern bäckt bei uns öfters Mohnkuchen. Bei Mama fragt er als der Mond am Himmel steht: Ist der Mond gebacken? Und bei Dora: Kann man denn aus Mond einen Kuchen backen? “ 45 Wie Benjamin oben schreibt, ‚werfen’ sich die Worte hier ‚mit einem Schlag ins Kostüm’ und sind rasch in irgendwelche Szenen verwickelt, die mit dem Auslöser der Situation, nämlich dem Mohnkuchen-Backen, in einer eher überraschenden Verbindung stehen, die dem alltäglichen Gebrauch und Sinn eine neue Wendung geben. Diese neue Wendung ist aber nicht nur harmlos. „Der Karneval ist ein Ausnahmezustand. Abkömmling der antiken Saturnalien, an denen das Unterste sich zu oberst kehrt“ (GS IV, 765), legt Benjamin in seinem „Gespräch über dem Corso“, 1935 unter dem Pseudonym Detlef Holz in der Frankfurter Zeitung erschienen, einem dänischen Bildhauer in den Mund. Da das Ich der Erzählung festhält, dass das „Übertriebene […] die Seele der Karnevalsfiguren“ sei (GS IV, 768), liegt die in diesem Kapitel gezogene Verbindung vom Karneval der Worte und Buchstaben, von übertriebenen Bildern und literarischen Wendungen zum Recht und seiner Subversion also relativ nahe. Interessant ist der Dialog, den der Ich-Erzähler und der Däne führen, aber auch insofern, als darin die Sprache im Zuge der Diskussion über die Übertreibung und den Karneval auch auf die Unschuld kommt. Es gebe zwei Sphären völliger Unschuld, sagt der Däne, und sie lägen an den „beiden Grenzen, an denen unsere, die menschliche Normalstatur in das Riesenhafte oder in das Winzige“ übergehe (GS IV, 769). Das Gespräch dreht sich plötzlich um märchenhafte Gestalten wie Riesen und um Kinder. Richtig interessant ist für den hier beschriebenen Zusammenhang aber erst, was der Däne gegen Ende des Gesprächs sagt: 44 Ebd., S. 83. 45 Ebd., S. 95. 5.5 Karneval 257 Sie sprachen vorhin von der Welt des Zarten und Winzigen, die Goethe in der „Neuen Melusine“ gestaltet hat. Und sie meinten, das sei - im Gegensatze zur Welt der Riesen - die Welt, in der die kindliche Unschuld zu Hause ist. Wissen Sie, daß ich da meine Zweifel habe? Die kindliche Unschuld, meine ich, wäre keine menschliche, wenn sie nicht in beiden Reichen zu Hause wäre - bei den Riesen so gut wie bei den Zwergen. Denken Sie doch nicht nur an das Zarte und Rührende, das Kinder haben, wenn sie Gärtchen im Sande bauen oder mit einem Kaninchen spielen. Denken Sie auch an die andere Seite - das Ungeschlachte, Unmenschliche, das in Ihren berühmtesten Kinderbüchern den Ton angibt und „Max und Moritz“ oder den „Struwwelpeter“ nicht nur so beliebt, aber auch so nützlich gemacht hat. Denn es präsentiert sich in ihnen in seiner Unschuld. Ich möchte es das Menschenfresserische nennen, das Sie auch dem Prinzen Karneval von den Lippen ablesen können. Das Wunderbare an Kindern ist, daß sie ohne alle Umstände zwischen den beiden Grenzbereichen des Menschlichen wechseln können und dabei im einen oder anderen verweilen, ohne den mindesten Kompromiß mit der Gegenwelt nötig zu haben. Diese Kompromißlosigkeit ist es wohl, die uns später abhanden kommt. Wir können uns zum Winzigen wohl herunterbeugen, aber nicht mehr ganz in ihm aufgehen, und am Ungeheuren können wir unseren Spaß haben, aber nicht ohne eine leise Befangenheit. Kinder, die vielleicht Scheu vor Erwachsenen sind, bewegen sich unter den Riesen da unten wie unter ihresgleichen. (GS IV, 770 f.) In dieser langen Passage legt der dänische Künstler dem Ich-Erzähler und seinem Dichter-Freund am Karneval in Nizza nochmals seine Auffassung über die Unschuld der Kinder dar. Interessant ist dabei, dass diese Unschuld mit Übertreibung und Karneval verbunden wird. Gerade diese beiden Elemente verschaffen der Unschuld eine seltsame Würze. Denn es ist wieder die Kehrseite des Zarten und Niedlichen, die mit den winzigen Kleinen verbunden wird, das riesenhaft Ungeschlachte, Menschenfresserische. 46 Im Gegensatz zum Protagonisten in Goethes ‚Neuer Melusine‘, der 46 Benjamins Freund Florens Christian Rang, mit dem er in relativ jungen Jahren bis zum Tod des letzteren im Jahr 1924 in regem Austausch stand, was sich vor allem im Trauerspielbuch niederschlagen sollte, thematisiert in seinem Aufsatz über die „Historische Psychologie des Karnevals“ immer wieder die Bedeutung des Fressens, Beissens, Zerreissens (auch in Anlehnung an bacchische Umzüge) für den Karneval. Beim ‚menschlichen Hohngelächter‘, das er als der „Urwesenszug“ des Karnevals bezeichnet, handle es sich um eine Geste des Beißen-Wollens, um ein geistiges Zerreißen. Vgl. Florens Christian Rang, Historische Psychologie des Karnevals, Berlin 1983, S. 8 ff. Rang, den Benjamin als jemand beschrieben hat, dem es möglich sei, „die Tradition auf ihrem eigenen Rücken zu befördern, statt sie seßhaft zu verwalten“ (GS III, 320), stellt vor allem eine Beziehung des Karnevals zur Antike und zum kommenden Gott Dionysos her. Das Mittelalter wertet er ab, das Christentum und der unschöpferische „Rausch der Askese“ hätten das Lachen erstickt. „Den Männern ist das Glück- 5. Schreibenlernen 258 sich zwar für seine Geliebte zum Zwerg schrumpfen lässt, aber sich letztlich dagegen entscheidet, bei den Zwergen zu bleiben, wird hier den Kindern zugesprochen, problemlos zwischen den Grenzbereichen wechseln zu können: gegen die Verniedlichung der Kinder wird hier auch die zweite Dimension erwähnt, die wiederum - es erstaunt nicht - in illustrierten Kinderbüchern wie ‚Max und Moritz‘ oder dem ‚Struwwelpeter‘ zur Sprache kommt. Auch dort wird oftmals das Gesetz der Erwachsenen- oder Menschenwelt - durch Kinder und Tiere! (Vgl. „Die Geschichte vom wilden Jäger“ 47 ) - auf übertriebene Art gebrochen - was wiederum völlig übertriebene Konsequenzen zeitigt: Man denke nur daran, wie Max und Moritz beim Müller enden oder was mit den Protagonisten des Struwwelpeter geschieht, etwa mit den Tintenbuben, die von einem riesenhaften Pädagogen („Nikolas“), weil sie einen Mohren wegen seiner Hautfarbe getriezt haben, in ein übergroßes Tintenfass getaucht werden. 48 Was in diesen Geschichten deutlich wird, ist außerdem die Ambivalenz des Kinderspiels. So wenig das Kind auf das Zarte und Niedliche reduziert werden kann, so wenig kann das kindliche Spiel auf ‚Gärtchen im Sande bauen‘ und ‚mit Kaninchen spielen‘ reduziert werden. Das wird in Benjamins Rezension des Buchs vom Volkskundler und Spielzeugsammler Karl Gröber, „Kinderspielzeug aus alter Zeit. Eine Geschichte des Spielzeugs“, nochmals unterstrichen. Eigentlich kann man davon sprechen, dass Gröber in gewisser Weise eine ‚Kulturgeschichte‘ des Spielzeugs zu schreiben unternahm. Er interessiert sich zum einen für die Kontinuität im Kosmos der Spielzeuge - auf der Ebene der Spielzeugarten und -formen selbst wie auch auf der Ebene der ontogenetischen Entwicklung - 49 , zum anderen aber auch für das Material und die technischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen bestimmte Spielzeuge wiederum entstanden sind. Dabei wird für gewöhnlich auch ein Licht auf die Stellung der Kindheit innerhalb einer bestimmten historischen Epoche und eines geographischen Gebiets geworfen. Die grausame Seite der Kinderspielwelt zeigt sich nicht nur an dem Lachen abhanden gekommen, und nur den Weibern und Kindern geblieben.“ Vgl. ebd., S. 44. 47 Vgl. beispielsweise Reimar Klein, „Sieh einmal, hier steht er! “ Struwwelpeters beschädigte Kinderwelt, Frankfurt am Main 2005, S. 53 ff. 48 Vgl. dazu aber auch zum Thema dieses Kapitels überhaupt Davide Giuriato, Tintenbuben. Kindheit und Literatur um 1900 (Rainer Maria Rilke, Robert Walser, Walter Benjamin), In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Herausgegeben von Joachim Küpper, 42. Band, Heft 3-4, München 2010, S. 325-351. 49 Vgl. Karl Gröber (und Juliane Metzger), Kinderspielzeug aus alter Zeit, 2. Auflage, Hamburg 1965, S. 11: „Mit jedem Kind beginnt wieder derselbe Kreislauf des Spieltriebes. Bei der Klapper des Säuglings, beim Ball des kleinen Kindes fängt er an und leitet dann über die Puppe und das Steckenpferd hinüber zu jener Zeit, wo aus den Spielen die ernste Tätigkeit, die Arbeit, sich herausschält.“ 5.5 Karneval 259 Bedürfnis der Kinder, sich mit martialischen Spielzeugen wie Zinnsoldaten oder Spielzeugguillotinen 50 - obwohl diese freilich, wie Gröber betont von Erwachsenen gemacht wurden 51 -, sondern auch in einer Verbindung des Spieltriebs mit dem Todestrieb. Benjamin schlägt in seiner Rezension vor, dass doch endlich eine Studie dem „großen Gesetz“ nachgehen solle, das „über allen einzelnen Regeln und Rhythmen die ganze Welt der Spiele regiert: dem Gesetze der Wiederholung“ (GS III, 131). Benjamin verweist auf die Freudsche Psychoanalyse: dieses das Kind beglückende „noch einmal“, sei ähnlich einem weiteren „dunkle[n] Drang nach Wiederholung“, jener Wiederholung, die im Spiel „kaum minder gewaltig“ sei als in der „Liebe der Geschlechtstrieb“ (GS III, 131). Neben dem brisanten Gehalt dieser Aussage, die das kindliche Spiel in die Nähe der Sexualität rückt, spielt Benjamin mit dieser Aussage auch auf die Schilderung jenes Spiels an, das als Fort-Da-Spiel bekannt ist. Ein Kind - Freuds Enkel - lässt eine Holzspule an einem Bindfaden mit einem Laut („o-o-o-o“), der dem Wort „fort“ ähnelt, zuerst verschwinden, um sie danach mit einem „da“ wieder zur Erscheinung zu bringen. Freud deutet das Fort-Da-Spiel als eine Ersatzhandlung für den Triebverzicht, der aus dem Fortgehen der Mutter erfolgt und der dieses erträglich macht. 52 Dabei könnte, wie Freud schildert, dieses Fortgehen einerseits als Vorbedingung eines freudigen Wiedererscheinens begriffen werden; andererseits könnte man das Spiel aber auch als „Befriedigung eines im Leben unterdrückten Racheimpulses gegen die Mutter“ auffassen, „weil sie vom Kinde fortgegangen ist, und dann die trotzige Bedeutung haben: Ja, geh‘ nur fort, ich brauch‘ dich nicht, ich schick‘ dich selber weg.“ 53 50 Vgl. Karl Gröber, Kinderspielzeug aus alter Zeit, S. 89: „Die größte Entgleisung des Geschmacks auf dem Gebiet des Kinderspiels stammt freilich aus der Zeit der französischen Revolution. Die Spielzeuggeschäfte brachten kleine Guillotinen auf den Markt, mit denen Aristokraten-Puppen geköpft werden konnten. Einige dieser sinnigen Belustigungsmaschinen blieben erhalten, von denen eine die Jahreszahl 1794 trägt. Es sind keine Modelle, sondern wirkliches Spielzeug. Wir haben dafür einen Kronzeugen, von dem niemand erwartet hätte, daß er ein so blutrünstiges Spielzeug seinem Sohne schenken wollte. Es ist kein geringerer als Goethe. Im Dezember 1793 bestellte er bei seiner Mutter in Frankfurt für seinen kleinen August eine solche Spielzeug-Guillotine.“ 51 Ebd.S. 99: „Das Problem ist nicht, ob wir gegen oder für die Technik, gegen oder für Soldaten sind. Es muß erreicht werden, daß die großen Leute, die für die kleinen Leute verantwortlich sind und also auch ihre Spielsachen und Lehrmittel besorgen, in erster Linie dabei an die Kinder denken.“ 52 Vgl. Sigmund Freud, Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt am Main 1992, S. 201. 53 Ebd. 5. Schreibenlernen 260 Freud interpretiert diese Spielszene demnach als eine Ermächtigungsbewegung des Kindes, die äußerst gewaltsam ist, da es einem Gegenstand oder ‚Spielgefährten‘ das Unangenehme zufügt, das ihm selbst widerfahren ist. Paradoxerweise wird beim Kinderspiel so Unlust mit Lust verbunden und umgekehrt: „Wiederholungszwang und direkte lustvolle Triebbefriedigung scheinen sich dabei zu verschränken.“ 54 Wie sich herausstellt, sei dieser Wiederholungszwang nicht so harmlos, wo er sich „im Gegensatz zum Lustprinzip“ befinde, zeige er seinen „dämonischen Charakter“. 55 Als Trieb ziele der Wiederholungszwang auf die „Wiederherstellung eines früheren Zustandes“. 56 Freud macht in diesem Zusammenhang die Entdeckung, dass es sich bei diesem konservativen Trieb, der nicht nach einem nie zuvor erreichten Zustand strebe, sondern nach einem Ausgangszustand, um nichts anderes als den Todestrieb handle: „Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende.“ 57 Freuds Denken ist, wie er selbst einräumt, dualistisch und konzipiert verschiedene Triebe als Widersacher, so dass eine Art, Freud sagt, ‚Zauderrythmus‘ das Leben der Organismen bestimmt: Gewisse Triebe streben nach dem Tod, andere begünstigen einen Umweg oder die Wiederholung. Benjamin selbst wiederholt in seinen Ausführungen über das Spiel diese Theorie andeutungsweise: „In der Tat: jedwede tiefste Erfahrung will unersättlich, will bis ans Ende aller Dinge Wiederholung und Wiederkehr, Wiederherstellung einer Ursituation, von der sie den Ausgang nahm.“ (GS III, 131) Benjamin schildert das Kind als unersättlich, wenn es darum geht, eine Sache im Spiel immer wieder aufs Neue zu repetieren. Wie Freud, der das Fort-Da-Spiel als Ergreifung einer aktiven Rolle in der Bewältigung eines Mangels interpretiert, schreibt Benjamin diesem Wiederholungszwang ebenfalls zu, nicht bloß eine Art Strategie zu sein, um „furchtbarer Urerfahrungen Herr zu werden, sondern auch Triumphe und Siege aufs intensivste immer wieder durchzukosten“. Im Grunde sind das aber zwei Seiten einer Medaille, sie zeugen von einem Ermächtigungsdrang, der wiederum auf dem angesprochenen Mangel fußt. „Verwandlung der erschütterndsten Erfahrung in Gewohnheit, das ist das Wesen des Spielens.“ (GS III, 131) Benjamin sagt also nichts anderes, als dass durch das Spiel erschütternde Erfahrungen durch die Verwandlung in Gewohnheiten erträglich gemacht werden. „Essen, schlafen, anziehen, waschen, müssen dem kleinen zuckenden Balg spielhaft, nach dem Rhythmus begleitender Verschen eingeimpft werden. Als Spiel tritt die Gewohnheit ins Leben, und 54 Vgl. Sigmund Freud, Das Ich und das Es, S. 208. 55 Ebd., S. 220. 56 Ebd., S. 221. 57 Ebd., S. 223, Hervorhebungen im Original. 5.5 Karneval 261 in ihr, in ihren starrsten Formen noch, überdauert eine Restchen Spiel bis ans Ende.“ Wendet man diese Sätze zurück auf die Fibeln, könnte man die Reihe, die Benjamin oben anführt, erweitern. Auch das Erlernen der Schrift müssen dem ‚zuckenden Balg‘, auch der ‚zuckenden Hand‘ vielleicht, eingeimpft werden. Die ‚Verschen‘ übernehmen bei den obigen Beispielen eine Rolle, die in den Fibeln durch die spielerischen Anweisungen zum Umgang mit der Schrift übernommen werden. Möglicherweise kann auch den über die sinnliche Ähnlichkeit hergestellten Bildern einen Anteil an diesem Spiel zugeschrieben werden. Sie begleiten den Schrifterwerb schließlich von Anfang an und sind selbst Teil eines gewissen Fort-Da-Spiels. Denn um die präzise Wiederholungsmaschinerie der abstrakten Buchstabenschrift in Gang zu setzen, hat das konkrete Bild zu verschwinden. Als eine starre Form, die über die Gewohnheit ins Leben des Kindes tritt, lässt sich die Schrift begreifen. Vielleicht ist es gerade das Verdienst der Fibeln Seidmann-Freuds, dass diese jenes ‚Restchen Spiel‘ konservieren und kultivieren, das die „[u]nkenntlich gewordene[n] versteinerte[n] Formen unseres ersten Glücks, unseres ersten Grauens“, die die Gewohnheiten sind, aufzubrechen vermögen. Die karnevalistische Maskierung der Buchstaben und Wörter, die in der Fibel Seidmann-Freuds statthat, weisen in gewisser Hinsicht gar auf das Theater. Die Maske als „Zauber-Kleid“, aber auch „Stern-Kleid“ unterhält im Karneval und auf dem Theater eine Beziehung zum Untergang und gleichzeitig zum Neuen, da damit eine Zäsur gefeiert wird, die durchaus revolutionäre Züge trägt. 58 Revolutionär nicht nur in einem gesellschaftlichen Sinne, sondern revolutionär auch in Bezug auf die Vorgänge am Himmel, da der Karneval einen Rechenbruch im Kalender deckt, die veränderte Stellung der Gestirne und himmlischen Mächte, die Ablösung der Herrschergestirns des Altjahres durch ein neues Herrschergestirn. Es geht also, mit anderen Worten, um eine neue Konstellation himmlischer und irdischer Kräfte, die durch die Riten des Karnevals auch Eingang in den Zirkel oder Halbzirkel des Theaters gefunden haben. 59 Benjamin und Rang haben sich über diese Thematik ausführlich unterhalten, dazu gibt es schriftliche Aufzeichnungen (vgl. „Agon und Theater“, GS I, 891). In ihnen rückt nochmals eine agonale Dimension des Theaters oder Spiels ins Zentrum: das Theater als Agon erscheint als Gericht gegen Gott, in dem ein höherer Gott erbeten wird. Das entspricht auch der Konstellation des Karnevals. Bezieht man das nun auf die Bild- und Buchstabenthematik, so wird nun deutlich, dass der agonale Charakter des Schrifterwerbs ebenfalls 58 Vgl. Florens Christian Rang, Historische Psychologie des Karnevals, Berlin 1983, S. 38 ff. 59 Ebd., S. 12 ff. 5. Schreibenlernen 262 auf eine neue Konstellation hinausläuft. Die Hierarchie zwischen der Bildlichkeit und dem Buchstabensystem als Repräsentationssystem eines höheren Gesetzes wird verkehrt und neu konstelliert, um das Gesetz zu subvertieren und es abzulösen. Dass Benjamin auch in späteren Texten mit dem Theater einige revolutionäre Kraft verbinden sollte, nicht nur mit Blick auf Brecht, sondern vor allem im Zusammenhang mit Kindern, ist Thema des nächsten Abschnitts. 5.6. Eine „kommunistische“ Pädagogik Die Nachworte Tom Seidmann-Freuds sind relativ kurz gehalten, umso erstaunlicher ist es, was Benjamin, der leidenschaftliche Kinderbuch- Sammler, aus den Fibeln, ihrer Formensprache und ihrer Aufgabenstellungen herausliest. Oder sollte man in Anbetracht dessen, dass Benjamin in seinen Rezensionen Thesen und Formulierungen verwendet, die auch anderorts auftauchen - teils in früheren Texten, teils in später verfassten -, besser sagen: in sie hineinliest? Jedenfalls ist seinen Gedanken und Beobachtungen zu Kinderbüchern und -fibeln, zum Kind überhaupt, eine gewisse politische Grundhaltung nicht abzusprechen. Das wird in den Rezensionen zu den Kinderbüchern und Fibeln deutlich, aber auch in den Betrachtungen über das Spiel und das Spielzeug. Neben des oben erwähnten Textes zu Gröbers Buch über „Kinderspielzeug aus alter Zeit“ gibt es noch einen zweiten, die Rezension „Kulturgeschichte des Spielzeugs“, ebenfalls aus dem Jahr 1928, jedoch circa einen Monat früher erschienen, im Literaturblatt der Frankfurter Zeitung. Darin verschränken sich - wie oft bei Benjamin - anthropologisch gefärbte Einsichten über das Kind mit materialistisch geprägten Rekonstruktionen der Gegenstandsproduktion für Kinder, die im Falle des Spielzeugs freilich gewisse pädagogische Absichten und Auffassungen verraten. So werden einige kulturgeschichtlichen Diagnosen aufgestellt, beispielsweise über das Format des Spielzeugs, nämlich dass Künstler, die früher für die Kirche schufen, sich durch die Reformation genötigt sahen, sich auf die Herstellung von „kunstgewerblichen Bedarf umzustellen“ und mit anderen Handwerkern zusammen jene „winzige[…] Dingwelt“ produzierten, die dann durch die Industrialisierung eingegangen sei (GS III 114 f.). Die Spielsachen wurden größer und „das Unscheinbare, Winzige, Verspielte“ sei „ihnen langsam abhanden[gekommen]“: „Nun lag der falschen Einfachheit des neuen Spielzeugs freilich die echte Sehnsucht zugrunde, den Anschluß an die Primitive wiederzugewinnen, an den Stil einer Heimindustrie, die doch um eben diese Zeit in Thüringen, im Erzgebirge einen immer aussichtsloseren Kampf um ihr Dasein führte.“ (GS III, 115) 5.6. Eine „kommunistische“ Pädagogik 263 Hier handelt es also um eine Diagnose über den Wandel in der Produktion des Spielzeugs ebenso wie um eine Diagnose des Wandels der Wahrnehmung, die mit der Veränderung der Gegenstände einhergeht. Anhand dieser Diagnose lässt sich freilich auch die Ideologie der zeitgenössischen Pädagogik ablesen - der Hinweis auf den Primitivismus unterstreicht das. Eine alternative Auffassung kindlichen Umgangs mit den Dingen liefert Benjamin selbst, indem er in der Rezension über Gröbers Spielzeug-Buch diesem bescheinigt, es leiste dieser alternativen Sichtweise - gegen einen „sturen Naturalismus“ - Vorschub: „Heute darf man vielleicht schon hoffen, den gründlichen Irrtum zu überwinden, der das vermeint, der Vorstellungsgehalt seines Spielzeugs bestimme das Spiel des Kindes, da es in Wahrheit sich eher umgekehrt verhält.“ (GS III, 116) An dieser Stelle setzt Benjamins Mimesis-Theorie ein: „Das Kind will etwas ziehen und wird Pferd, will mit Sand spielen und wird Bäcker, will sich verstecken und wird Räuber oder Gendarm.“ Gegen eine Mimesis in der Spielzeugproduktion, die sinnliche Ähnlichkeit des Spielzeugs zu realen ‚Vorbildern‘ herstellt, sagt Benjamin: „[J]e schrankenloser in ihnen [den Spielsachen] die Nachahmung sich bekundet, desto weiter führen sie vom lebendigen Spielen ab.“ Jene Nachahmung, auf die es Benjamin ankommt, ist demnach nicht in den Spielsachen zu finden, sondern im lebendigen Spiel selbst. Auf dem engen Raum, den eine Rezension bietet, kommt Benjamin gegen Schluss noch auf einen anderen Aspekt zu sprechen. Der Begriff des Spielzeugs könne nicht allein aus dem Geist des Kindes erklärt werden, das Kind sei kein Robinson, Kinder keine abgesonderte Gemeinschaft - „sondern ein Teil des Volkes und der Klasse, aus der sie kommen“ (GS III, 117). Anhand dieser Schlagworte lässt sich ermessen, in welche Richtung Benjamins eigene pädagogische Empfehlungen gehen. Jedoch wird es hier nicht darum gehen zu bewerten, inwiefern der durch das Bildungsbürgertum erzogene Benjamin durch seine lettische Bekanntschaft Asja Lacis beeinflusst war oder gewesen sein könnte. Viel eher sollen nochmals jene Punkte dieses pädagogischen Programms in den Blick genommen werden, die spezifisch das Verhältnis von Sprache und Bild betreffen. Es soll nun dennoch ein kurzer Abriss jener Texte gegeben werden, die sich mit einer kommunistischen Pädagogik auseinandersetzen. In seiner 1929 erschienen Rezension eines im selben Jahr erschienen Buchs von Edwin Hoernle über Grundfragen der proletarischen Erziehung, umreißt Benjamin die Eckpfeiler der bürgerlichen Erziehung. Psychologie und Ethik seien die Grundwerte der bürgerlichen Pädagogik, da sie sich einerseits für die „Natur des Zöglings“ interessiere, für die „Psychologie der Kindheit, des Jugendalters“ und andererseits ein klares ethisches Ziel verfolge, nämlich das Kind zu einem „Vollmensch[en]“ oder „Staatsbürger“ zu erziehen (GS III, 206). 5. Schreibenlernen 264 Die Pädagogik versuche nun, diese beiden Momente - Natur und Ideal - einander anzupassen und - hier erinnert man sich an den Schluss der beiden Rezensionen von Freud-Seidmanns Fibeln, wo vom Niedergang der Autorität die Rede ist - dabei zunehmend „List an Stelle der Gewalt zu setzen“. Der Hauptunterschied zwischen der bürgerlichen Klasse und der proletarischen sei, dass dem Bürgertum sein Nachwuchs als „Erbe [gegenübersünde]; den Enterbten als Helfer, Rächer, Befreier“ (GS III, 207). Das Proletarierkind sei von Anfang an - „ja schon im Mutterleibe“ - von der Lage seiner Klasse geprägt. Hoernle stellt die These auf, dass die Proletarierfamilie ihren Kindern keinen Schutz vor den krassen sozialen Unterschieden in der Gesellschaft böte und dass diese somit bereits früh auch zu revolutionären Maßnahmen greifen müssten, um sich zu behaupten. Die proletarischen Kinder sollen sich relativ früh bewusst werden, welche sozialen Verhältnisse vorherrschen, gegen die sie sich zu wenden haben. Das soll vor allem auch durch eine polytechnische Erziehung vorangetrieben werden, die das „Auseinanderklaffen von Praxis und Theorie“ zugunsten einer „aktiven und praktischen Universalität“ (des „Bereitseins“) überwinde (GS III, 208). Benjamin kritisiert an Hoernles Ausführungen aber, dass sie die Spezifik der Kindlichen, wenn es um Erziehung geht, dennoch nicht erfassen würden: „alle Vorarbeiten zu einer marxistischen, dialektischen Anthropologie des Kindes fehlen“ (GS III, 209). Anstatt in bzw. durch Institutionen erzogen zu werden, die Benjamin als „Werkzeuge einer antiproletarischen Schulung der Proletarier“ auffasst, nämlich etwa in „Volks- und Berufsschule, Militarismus und Kirche, Jugendverbände und Pfadfindet“ sollen den proletarischen Kindern Alternativen geboten werden, die ihnen eine ihrer Klasse gemäßen Schulung entspricht. Eine Variante dieser Schulung sollte wohl jenes ‚proletarische Kindertheater‘ bieten, das Benjamin in einem programmatischen Text angeblich für das Berliner Liebknecht-Haus in Verbindung mit Asja Lacis Ende der Zwanziger Jahre skizziert. Laut Lacis habe sie Johannes R. Becher und Gerhart Eisler von ihrer Theaterarbeit mit Kindern erzählt, so dass diese sie dazu anregten, ein Programm für das Liebknecht Haus zu schreiben. Lacis schreibt über Benjamins Reaktion: „‚Ich werde das Programm schreiben‘, sagte er, ‚und deine praktische Arbeit theoretisch darlegen und begründen.‘ Er schrieb es wirklich. Aber in der ersten Fassung wurden meine Thesen ungeheuer kompliziert dargestellt.“ Überliefert ist demnach die zweite, überarbeitete Fassung, die erste, ‚komplizierte‘, konnte laut den Herausgebern der Gesammelten Schriften nicht gefunden werden (GS II, 1495). Asja Lacis liefert selbst den historischen Kontext ihrer Arbeit. Bereits 1918 habe sie in Orel ein Kindertheater gegründet und geleitet. Es habe zu dieser Zeit lauter Kriegswaisen gegeben, die entweder in Banden organi- 5.6. Eine „kommunistische“ Pädagogik 265 siert räuberisch in den Straßen marodierten, sogenannte ‚Besprisorniki‘, oder solche, die laut Lacis in „Erziehungshäusern und Werkstätten“ untergekommen seien (GS II, 1491). Letztere schienen ziemlich traumatisiert und lethargisch gewesen zu sein, so dass Lacis sie mittels des Theaters zu animieren versuchte. Dabei grenzt sie sich aber vom bürgerlichen Theater und der Aufführung als dessen Ziel ab. Lacis habe die Kinder stattdessen zeichnen (für das Bühnenbild), musizieren, turnen lassen: „Verborgene Kräfte, die durch den Arbeitsprozess freigesetzt, die Fähigkeiten, die ausgebildet wurden, vereinigten wir durch die Improvisation. So entstand das Spiel.“ (GS II, 1492, Sperrung im Original) Anscheinend schaffte es Lacis durch diese eher defensive Organisation und Konzertierung des Ganzen selbst jene ‚Besprisorniki‘ ins Theater zu integrieren. Letztlich drängte, wie sie schreibt, alles zu einer Aufführung - für die anderen Kinder der Stadt. „Die öffentliche Aufführung wurde zu einem Fest. Die Kinder unseres Studios gingen in einer Art Karnevalsumzug zur Freilichtbühne der Stadt.“ (GS II, 1494) Lacis rühmt sich, völlig als Leiterin hinter die Kinder zurückgetreten zu sein und diesen keine Ideologie aufgedrängt zu haben. „[S]ie eigneten sich an, was ihren Erfahrungen entsprach. Auch wir, die Erzieher, lernten und sahen vieles neu.“ 60 Benjamins Programm klingt etwas anders, auch wenn es mit den von Lacis vorgestellten Intentionen partiell konvergiert. Es unterscheidet sich durch seinen Duktus aber auch deutlich von den Schilderungen Lacis‘. Benjamins Diskurs konzipiert das Kind von Anfang an als potentieller Träger revolutionärer Gewalt. So wird die „neue Generation“ im ersten Satz als „allerstärkste aber auch allergefährlichste“ Kraft dargestellt, die sich für die proletarische Bewegung ergibt, wenn sie einmal der „parlamentarischen Diskussion“ entronnen sei - über Kinder hätten „Phrasen gar keine Gewalt“ (GS II, 763). So gefährlich der Satz für heutige Ohren klingen mag, zeugt er wohl von einer in der Zeit der Weimarer Republik von Links bis Rechts wahrgenommenen Schwäche der Parlamente. In den ersten beiden Passagen des Programms wird deutlich gemacht, dass weder parlamentarische Diskussionen noch das Parteiprogramm oder sonstige ideologischen Phrasen das Kind (und damit wahrscheinlich wohl den Proletarier überhaupt) erreichten - ‚proletarische Erziehung‘ müsse anders vonstattengehen. Die ‚proletarische Erziehung‘ müsse den Rahmen schaffen, „in dem erzogen“ werde; nicht, „wie die Bourgeoisie, eine Idee, zu der erzogen“ werde (GS II, 764, Hervorhebungen im Original). Dieser Rahmen, von dem Benjamin spricht, solle das ‚proletarische Kindertheater‘ bilden. 60 Diese Auszüge werden nach den Gesammelten Schriften zitiert, sie stammen aber eigentlich aus einem Buch Asja Lacis mit dem Titel „Revolutionär im Beruf. Berichte über proletarisches Theater, über Meyerhold, Brecht, Benjamin und Piscator“, hrsg. von Hildegard Brenner, München 1971. 5. Schreibenlernen 266 Dieses Theater grenzt Benjamin dezidiert von einem Theater ab, das „ökonomisch durch den Profit bestimmt“ werde und vor und hinter den Kulissen ein „Instrument der Sensation“ sei, kurz, vom Theater „der heutigen Bourgeoisie“ (GS II, 764). Die Bourgeoisie und ihre Pädagogik fürchte das Kindertheater, weil das Theater Kräfte freisetze, die möglicherweise nicht mehr zu kontrollieren sind, wo „Wirklichkeit und Spiel für Kinder sich verschmelzen“ dürften, „so eins werden, daß gespielte Leiden in echte, gespielte Prügel in wirkliche übergehen könnten“ (GS II, 765). Jedoch seien die Aufführungen - wie bereits Lacis betonte - nicht das eigentliche Ziel dieses Theaters. Aufführungen kämen „nebenbei, man könnte sagen: aus Versehen zustande, beinahe als ein Schabernack der Kinder, die auf diese Weise einmal das grundsätzlich niemals abgeschlossene Studium unterbrechen“. Die Rolle des Regisseurs und des erwachsenen Publikums wird - auch als normatives Ideal - als eher zurückhaltend bis passiv gezeichnet. Das eigentliche Publikum des proletarischen Kindertheaters sei das „kindliche Kollektivum“, das die „aktuellsten“ und „gewaltigsten Kräfte“ ausstrahle (GS II, 766). Der Leiter solle sich am besten in Beobachtung üben, alles andere sei „sentimental und eitel“. „Der Beobachtung aber - hier fängt Erziehung erst an - wird jede kindliche Aktion und Geste zum Signal.“ Dieses Signal sei kein Signal des Unbewussten, der Latenzen und Verdrängungen, sondern ein „Signal aus einer Welt, in welcher das Kind lebt und befiehlt“. An dieser Stelle tritt Benjamins Bild vom barbarischen Charakter des Kindlichen in den Vordergrund - und wieder klingen die Sätze in Anbetracht der historischen Situation ziemlich schrill -, wenn er schreibt, dass das Kind „in seiner Welt als Diktator“ lebe und jede „kindliche Geste […] Befehl und Signal in einer Umwelt [sei], in welche nur selten geniale Menschen einen Blick eröffnet“ hätten - Benjamin meint damit etwa Jean Paul. Mit diesem Stichwort flicht Benjamin auch seine alten Überlegungen zur Rolle der Phantasie im kindlichen Verhalten ein, denn er schreibt, dass es die Aufgabe des Leiters sei, „die kindlichen Signale aus dem gefährlichen Zauberreich der bloßen Phantasie zu erlösen und sie zur Exekutive an den Stoffen zu bringen“ (GS II, 766). Es mag etwas erstaunen, dass Benjamin es an dieser Stelle mühelos schafft, eher konservativ klingende anthropologische Thesen in den Zusammenhang des Programms mit revolutionärem Anspruch einzubetten. So zitiert er etwa Konrad Fiedler und meint thetisch, dieser habe in seinen „Schriften über Kunst“ als „erster bewiesen“ - in diesem Zusammenhang eine sehr starke Formulierung -, dass der „Maler kein Mann“ sei, „der naturalistischer, poetischer sieht als andere Leute“, sondern vielmehr „ein Mann, der mit der Hand da näher zusieht, wo das Auge erlahmt, der die aufnehmende Innervation der Sehmuskeln in die schöpferische Innervation 5.6. Eine „kommunistische“ Pädagogik 267 der Sehmuskeln in die schöpferische Innervation der Hand überführt“ (GS II, 766). Es stellt sich durchaus die Frage, ob diese auf die Physiologie abzielende Theorie, die dem Auge aufnehmende und der Hand schöpferische Qualitäten zuspricht, tatsächlich im Sinne einer marxistischen Theoriebildung ist. Jedoch nutzt Benjamin Fiedlers Theorie wohl dazu, die Wichtigkeit des Gestischen als Verbindungsglied zwischen aufnehmenden Sehens und schöpferischen Tuns hervorzuheben. Fiedler selbst schreibt in seinem wichtigen Aufsatz über den „Ursprung der künstlerischen Tätigkeit“: Selbst in der den Augenblick ihrer Entstehung nicht überlebenden Gebärde, in den elementarsten Versuchen einer bildnerisch darstellenden Tätigkeit tut die Hand nicht etwas, was das Auge schon getan hätte; es entsteht vielmehr etwas Neues, und die Hand nimmt die Weiterentwickelung dessen, was das Auge tut, gerade an dem Punkte auf und führt sie fort, wo das Auge selbst am Ende seines Tuns angelangt ist. 61 Fiedler argumentiert, wie bereits gesagt, eher auf der Ebene der Physiologie als auf einer sozialen Ebene. Aber er versucht nochmals grundlegende Dimensionen der Kommunikation und des Ausdrucks mit einem Subjekt zu verbinden, das nicht nur mittels seines Geistes, seiner Vorstellungskraft, schöpferisch ist. Dabei geraten die Sinnesorgane in ein Zusammenspiel mit der Hand und anderen Ausdrucksmöglichkeiten, die wiederum auf eine Kommunikationssituation und also soziale Interaktion ausgerichtet sind. Das unterstreicht für Benjamin wohl nochmals die basalen Ausdrucksmöglichkeiten, die dem Theater eignen und es zum legitimen Ort des Klassen- und Generationkampfs machen: ohne dabei verpflichtet zu sein, ein mit irgendeiner Parteidoktrin kompatibles Stück aufzuführen oder überhaupt eine durchdachte marxistische Interpretation gesellschaftlicher Kämpfe darzustellen. Benjamin spricht der kindlichen Geste hinsichtlich ihrer kommunikativen Funktion quasiseismographische Charakteristika zu: das Kind nehme auf und gebe schöpferisch ab. „Schöpferische Innervation in exaktem Zusammenhang mit der rezeptiven ist jede kindliche Geste.“ In Übereinstimmung mit Lacis‘ Beschreibungen hält Benjamin fest, dass die Entwicklung dieser kindlichen Geste zu verschiedenen Formen des Ausdrucks (Malerei, Rezitation, Tanz etc.) den verschiedenen Theatersektionen zufalle. Von Gesten ist bei Lacis jedoch nicht die Rede. Es handelt sich hierbei eher um einen stark durch Benjamins Denken geprägten Terminus und erinnert in diesem Zusammenhang auch stark an die Gestentheorie, die er 61 Vgl. Konrad Fiedler, Schriften über Kunst, Erster Band, München 1913, S. 275. 5. Schreibenlernen 268 auf Brechts episches Theater bezieht. 62 Weiter weist er aber auch auf die Gestentheorie, die in Bezug auf die anthropologische Sprachtheorie vorgestellt wird: auch dort steht die Geste als ‚sprunghaftes‘ Kommunikationselement einer linearen Sprache entgegen. Die kindliche Geste avanciert im Rahmen dieses Programms zum zentralen Motiv des revolutionären Gehalts des Kindertheaters. So hebt zwar auch Benjamin die Wichtigkeit der Improvisation hervor. Aber nur, um auch dieses Moment seiner Theorie der Geste unterzuordnen: „Die Improvisation herrscht; sie ist die Verfassung, aus der die Signale, die signalisierenden Gesten auftauchen. Und Aufführung oder Theater muß eben darum die Synthese dieser Gesten sein, weil nur sie die unversehentliche Einmaligkeit hat, in welcher die kindliche Geste als in ihrem echten Raume steht.“ (GS II, 767) Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass jene Art von Gesten, um die es hier geht, nichts mit konventionellen bzw. konventionalisierten zu tun haben. Es handelt sich vielmehr um Ausdrucksformen, die die Konvention übersteigen und in einem bestimmten, alternativen Rahmen für einen spontanen Ausdruck sorgen. Wenn man Benjamins Überlegungen zum Kindlichen kennt, ist freilich hier klar, in welche Richtung diese Konzeption zielt. Fast schon blitzartig leistet das konstellative Zusammentreten des hier vorgestellten theatralen Rahmens und die schöpferische Geste der Kinder einer Erkenntnis gesellschaftlicher Zustände Vorschub, die nicht durch Erwachsene vorhergesehen werden kann: „Denn keine pädagogische Klugheit kann vorhersehen, wie Kinder die geschulten Gebärden und Fertigkeiten mit tausend überraschenden Varianten zu einer theatralischen Totalität zusammenfassen.“ Das „Genie der Variante“, das Benjamin dem Kind zuspricht, der „radikale[n] Entbindung des Spiels“ könne der Erwachsene „einzig und allein zusehen“. Diese Charakteristika des Kindes, seiner Ausdrucksweise und Kräfte mögen stark den Konzepten entsprechen, die Benjamin diesen Gegenständen immer wieder unterschiebt, die Frage stellt sich bei der Lektüre aber 62 Vgl. die Essays „Was ist das epische Theater? “ in GS II, S. 519-539. Benjamin spricht in seinem ersten Essay davon, dass das epische Theater den Zustand der „Dialektik im Stillstand“ aufdecke: „Denn wie bei Hegel der Zeitverlauf nicht etwa die Mutter der Dialektik ist, sondern nur das Medium, in dem sie sich darstellt, so ist im epischen Theater nicht der widersprüchliche Verlauf der Äusserungen oder der Verhaltungsweisen Mutter der Dialektik sondern die Geste selbst.“ Vgl. GS II, 530. Die ‚Dialektik im Stillstand‘ verweist wiederum auf das Konzept des ‚dialektischen Bilds‘, das ein konstellatives Zusammentreten bestimmter Elemente als erkenntnisfördernd vorstellt. Ähnlich wird auch die Funktion der Geste im proletarischen Kindertheater definiert. Benjamin führt auch immer wieder den Film als Beispiel dafür an, dass eine lineare Handlungsabbfolge von Intervallen (oder Schnitten) durchbrochen wird. Das epische Theater korrespondiere mit dem Film, aber es unterscheidet sich durch sein performatives Moment natürlich auch deutlich von ihm. 5.6. Eine „kommunistische“ Pädagogik 269 schon, inwiefern sie jener ‚proletarischen Pädagogik‘ entsprechen können, die Benjamin in seinem Programm immer wieder beschwört. So etwa hüte sich das Proletariat angeblich davor, die Kinder - wie das laut Benjamin die Bourgeoisie täte - zu disziplinieren. „Die proletarische Pädagogik erweist ihre Überlegenheit, indem sie Kindern die Erfüllung ihrer Kindheit garantiert.“ (GS II, 768) Diese Sätze klingen fast zu schön, um wahr zu sein; und auch der Satz, dass Klassenkämpfe ‚spielweise‘ Platz im Universum der kindlichen Erziehung finden müssen, wirft die Frage auf, wie das ohne Ideologie und ‚Disziplin‘ gehen soll. Die Beantwortung solcher Fragen ist aber die Sache des Programms nicht. Ähnlich wie bereits weiter oben angedeutet und im vorigen Kapitel beschrieben, wird die Aufführung des Kindertheaters zur „schöpferischen Pause im Erziehungswerk“: sie sei im „Reiche der Kinder, was der Karneval in alten Kulten gewesen ist“. „Das Oberste wird zuunterst gekehrt und wie in Rom an den Saturnalien der Herr den Sklaven bediente, so stehen während der Aufführung Kinder auf der Bühne und belehren und erziehen die aufmerksamen Erzieher.“ (GS II, 768) Die Aufführung des Kindertheaters setze neue Kräfte frei, „von denen oft dem Leiter unter der Arbeit nichts ahnte“ - erst in der „wilden Entbindung der kindlichen Phantasie“ lerne er sie kennen. Und die Kinder wiederum, die so spielten, würden durch diese Aufführungen ‚frei‘, oder mit noch mehr Pathos oder Drastik ausgedrückt: „Im Spielen hat sich ihre Kindheit erfüllt. Sie nehmen keine Restbestände mit, die später eine unsentimentale Aktivität durch larmoyante Kindheitserinnerungen hemmen.“ Solch deutliche Stellen über den revolutionären Gehalt von Kinderspielen findet man sonst bei Benjamin nicht so oft. Deshalb fehlt nach der martialisch klingenden Formulierung, dass im Kindertheater die Kraft liege, „welche das pseudorevolutionäre Gebaren des jüngsten Theaters der Bourgeoisie vernichten wird“, wie bei Texten über die Kindheit üblich, auch die Öffnung hin auf Künftiges nicht: „Wahrhaft revolutionär wirkt das geheime Signal des Kommenden, das aus der kindlichen Geste spricht.“ (GS II, 769) Das ist der letzte Satz des Programms. Auffällig ist dabei wiederum, dass Benjamin von der Geste spricht. Gerade weil die Konzeption der Geste bei Benjamin auf eine Art des Ausdrucks verweist, die nicht vollständig einer arbiträren und auf Konventionen beruhende Sprache entspricht, sondern jene ‚bildlichen‘ Elemente aufweist, die im zweiten Kapitel dieser Arbeit vorgestellt wurden, lässt sich eine Verbindung zum Oberthema dieses Kapitels herstellen. 6. Graphologie 6.1. Annäherung an die Graphologie Walter Benjamin hat sich schon früh mit der Graphologie beschäftigt. Er hat sich sogar so eingehend mit ihr beschäftigt, dass er, als er sich in finanzieller Not befunden hatte, zeitweilig Geld mit graphologischen Gutachten verdienen und graphologischen Privatunterricht erteilen konnte. 1 In Kontakt mit der Graphologie kam er wohl hauptsächlich durch Ludwig Klages. Klages‘ graphologischer Ansatz war - diese Einschätzung Anja Mendelssohns stimmt mit der Einschätzung anderer Zeitgenossen überein 2 - innerhalb der Kreise derer, die sich mit Graphologie damals beschäftigten, ziemlich einflussreich. Auch der junge Benjamin war von Klages beeindruckt, er lud ihn bereits 1914 zu einer Vortragsveranstaltung ein - Klages referierte zum Thema „Dualität der Persönlichkeit und Wesensunterschied von Geist und Seele“ - und schrieb ihm immer wieder 1 Vgl. den Brief an Scholem vom 26. 5. 1920, GB II, 89: „Diesen Monat habe ich 110 M mit drei graphologischen Gutachten verdient.“ Im Brief an Scholem vom 25. 1. 1922 gibt er Auskunft über den Unterricht: „Von morgen ab soll ich einem Grunewald- Backfisch, die hier nebenan wohnt, Graphologie-Stunden geben, das Stück zu dreißig Mark. Ich habe mir im KDW einen Zauberstab gekauft. Mit dessen Hilfe hoffe ich, die Sache sehr in die Länge zu ziehen.“ (GB II, 236) Bei Scholem selbst findet sich in seinem Buch über ihre Freundschaft mit Benjamin die etwas merkwürdige Stelle: „Um Geld zu verdienen, hatte Benjamin auch auf die Graphologie zurückgegriffen, in der er beträchtliche Fähigkeiten besaß. In Bern hatte ich ihm einmal einen Brief des mir in der zionistischen Jugend am nächsten stehenden Freundes gezeigt, von dessen Charakter ich das genaueste Bild zu haben glaubte. Er sah den Brief kurz, aber scharf an, sagte in ziemlicher Erregung: ‚Blödsinnige Redlichkeit‘, und war zu keiner weiteren Äußerung mehr zu bewegen, als ob ihn dieser Typus besonders erbittert hätte. Redlichkeit war nun in der Tat genau das, was von diesem Menschen ausstrahlte.“ Vgl. Gershom Scholem, Walter Benjamin - Die Geschichte einer Freundschaft, S. 115 f. 2 Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, Leipzig 1928, S. 2: „Herrschend ist heute die Auffassung von Ludwig Klages, die - was häufig verkannt wird - an die ganz persönliche Philosophie und Metaphysik dieses bedeutenden Kopfes gebunden ist.“ Eine ähnliche Analyse nimmt auch der Graphologe und Diplomat Robert Saudek vor: „Ich habe im Ausland (in England, Amerika, Holland und der Tschechoslowakei), wo die Leistungen der deutschen Forscher auf diesem Gebiete praktisch unbekannt waren, so stark anerkennende Worte für die Lebensarbeit von Klages geschrieben, daß es mir erlaubt sein mag, vor meinen deutschen Lesern besonders deutlich auf die Mängel einer Lehre hinzuweisen, die so starr aufgebaut ist, daß ihre lebendige Weiterentwicklung kaum möglich wäre, wenn wir nicht etliche der von ihm errichteten Außenmauern wieder abtragen, Teile seiner Lehre abbauen und dadurch den Weg freimachen, der aus dem geschlossenen Kreis wieder ins Freie führt.“ 6. Graphologie 272 Briefe, in denen er sich positiv zu seinen Schriften äußerte (vgl. etwa die Briefe vom 10. 12. 1920 und 28. 2. 1923 3 ). Letztlich war aber auch Benjamin der Auffassung Anja Mendelssohns, dass Klages‘ graphologischer Ansatz an seine ‚ganz persönliche Philosophie‘ gebunden sei. 4 Dieses Verdikt ist nicht abwegig und hinsichtlich der Bewertung der Graphologie als ‚Wissenschaft‘ aus heutiger Sicht freilich interessant. Denn so wird deutlich, dass selbst die wichtigsten Exponentinnen und Exponenten den Grundlagen und Gründungsvätern der Disziplin von Anfang an ein kritisches Bewusstsein entgegengebracht haben. Klages hat denn tatsächlich ein ziemlich eigenständig erscheinendes Gedankengebäude errichtet, dessen reaktionäre Momente, wie sie bereits in den vorigen Kapiteln zur Sprache gekommen sind, immer wieder durchscheinen. Trotz der esoterischen Züge seines Werks und des Umstands, dass Klages‘ nicht an einer Universität gelehrt hat, sondern eher ‚Privatgelehrter‘ war, darf sein Einfluss auf Kreise, an denen auch Benjamin ein gewisses Interesse hatte und die mit Vertretern der Wissenschaft Kontakt hatten bzw. denen selbst Wissenschaftler angehörten, nicht unterschätzt werden. Damit ist beispielsweise nicht nur der engere George-Kreis gemeint, sondern etwa auch ein intellektueller Zirkel, dem Benjamin in seiner Münchner Studienzeit nahestand. 5 München war überhaupt die Wirkungsstätte der sogenannten ‚Kosmiker‘ um Alfred Schuler, Karl Wolfskehl, Stefan George und Klages, über die 3 Im ersten Brief verlangt Benjamin Auskunft über einen Aufsatz Klages‘ („Vom Traumbewußtsein“), der ihm laut Brief „außerordentliche und wenn ich sagen darf, ersehnte Perspektiven [eröffnete]“ (vgl. GB II, 114), im zweiten Brief erkundigt er sich für einen Verwandten bei Klages über dessen Honorarvorstellungen für ein Gutachten. Am Schluss des Briefes schreibt Benjamin: „Ich gestatte mir bei Gelegenheit dieser Zeilen es Ihnen auszusprechen, welche Freude und welche Bestätigung eigner Gedankengänge ich dankbar Ihrer Schrift über den kosmogonischen Eros entnommen habe.“ (vgl. GB II, 319) 4 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 31: „Man muß sich darüber klar sein, daß man mit der Klagesschen Graphologie zugleich eine bestimmte Weltanschauung übernimmt, die bis ins kleinste die Beurteilung jeder Handschrift mit ihren Wertungen durchdringt. Klages erkennt einen Antagonismus von Geist und Leben, er bekämpft den Geist als lebenzerstörende Macht. Das ‚Formniveau‘ zeigt den Lebendigkeitsgrad einer Schrift und ist für Klages zugleich ein absoluter Wertmesser[.]“ 5 Gemeint ist ein Kreis, der sich um eine Privatvorlesung, die Benjamin 1915 bei Walter Lehman, einem Arzt und Amerikanisten, besuchte, gebildet hatte. Lehmann referierte in einem relativ überschaubaren Zirkel über „mexikanische Kultur“ (vgl. GB I, 290). Dort lernte Benjamin auch Rainer Maria Rilke und Felix Noeggerath kennen, den er gegenüber Scholem und anderen mehrheitlich nur als das ‚Genie‘ oder das ‚Universalgenie‘ bezeichnete, mit dem er in langen Gesprächen „vergleichende Mythologie“ betrieben haben soll (GB I, 299). Dessen Gedankengebäude, schildert Benjamin Fritz Radt, beruhe vornehmlich auf „einer sehr bedeutenden Vereinigung und Durchdenkung der Kritik der reinen Vernunft und der Gedanken Georges.“ (GB I, 301) Benjamin fügt sogleich an: „Neulich führte er mich mit Wolfskehl zusammen[.]“ 6.1. Annäherung an die Graphologie 273 sich Benjamin später durch Franz Hessel unterrichten ließ. 6 Völlig unabhängig davon hörte der junge Benjamin Klages möglicherweise bereits 1913 auf dem Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner sprechen. Dort sprach Klages freilich nicht über Graphologie, vielmehr übte er Fortschrittskritik und zeichnete - kurz vor Kriegsausbruch - ein düsteres Bild der zeitgenössischen Gesellschaft. Darauf soll nun kurz eingegangen werden, um nochmals kurz zu zeigen, weshalb Benjamin in einer Rezension auch vom „Streiter Klages“ spricht (GS III, 137). Im Namen des ‚Lebens‘ geißelt Klages in seinem Vortrag mit dem Titel „Mensch und Erde“ die Zerstörung des natürlichen Ökosystems durch den Menschen und die Übertragung dieser zerstörerischen Haltung auf die Gesellschaft überhaupt. Mit Pathos erklärte er der Jugend die Folgen dessen, was er als ‚Fortschritt‘ bezeichnete: Im gleichen Stil werden schonungslos hingemordet Antilopen, Nashörner, Wildpferde, Känguruhs, Giraffen, Strauße, Gnus in den tropischen, Eisbären, Moschusochsen, Polarfüchse, Walrosse, Seehunde in den arktischen Zonen. Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen, die ‚Zivilisation‘ trägt die Züge entfesselter Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch. So also sähen die Früchte des „Fortschritts“ aus! 7 Auch eine Art Kapitalismuskritik findet man in diesem Vortrag, zumindest geht sie soweit, Kritik an der Unterwerfung des Menschen unter den Takt der Maschinen und einseitige ökonomische Interessen zu formulieren: Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr, sei es als Sklaven des „Berufs“, die sich maschinenhaft im Dienste großer Betriebe verbrauchen, sei es als Sklaven des Geldes, besinnungslos anheimgegeben dem Zahlendelirium der Aktien und Gründungen, sei es endlich als Sklaven großstädtischen Zerstreuungstaumels; ebenso viele aber fühlen dumpf den Zusammenbruch und die wachsende Freudlosigkeit. In keiner Zeit noch war die Unzufriedenheit größer und vergiftender.[…] Und da der Mensch sich die Welt stets nach dem Bilde des eigenen Zustands deutet, so glaubt er auch in der Natur ein wüstes Ringen um Macht zu sehen, wähnt sich im Recht, wenn er allein im „Kampf ums Dasein“ überblieb, malt sich die Welt nach dem Gleichnis einer großen Maschine, wo immer die Kolben nur stampfen, die Räder schnurren müssen[.] 8 6 Vgl. GS II, S. 1431: „In meine Münchner Studienzeit fiel eine wenig authentische Kunde von den mythologischen Einsichten, die im Kreise Georges umgingen und endlich, Jahre später, kamen durch Franz Hessel stichhaltigere Berichte weniger über einzelne Lehrstücke als über die eine Person Alfred Schulers.“ 7 Vgl. Ludwig Klages, Mensch und Erde, München 1920, S. 24. 8 Ebd., S. 33 f. 6. Graphologie 274 Das sind am Vorabend des Ersten Weltkriegs gewiss Worte, die in diesem Duktus auch heute noch durch Mark und Bein gehen. Und man denkt dabei sicher auch an Formulierungen Benjamins, etwa an jene aus dem Erzähler-Aufsatz, die von einer ähnlichen Erschütterung zeugen -wo er beispielsweise von der Generation schreibt, „die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren“ sei und dann „unter freiem Himmel in einer Landschaft“ stand, „in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken“; und unter diesen Wolken, fährt Benjamin fort, finde sich plötzlich „in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper“ (GS II, 439). Der menschliche Leib als Medium der Erfahrung, dem noch der gemächliche Rhythmus der Pferdebahn - abhängig von einem lebendigen Organismus als Antriebskraft -, ‚eingeschrieben‘ ist, wird plötzlich maschinellen Kräften ausgesetzt, die zwar vom Menschen angestoßen wurden, aber längst nicht mehr kontrollierbar scheinen. Klages‘ düsterer Vortrag zielt auf dieses Gefühl der Ohnmacht. Sein Vortrag ist durchdrungen von der Terminologie seines philosophischen Gedankengebäudes, die trotz ihrer Anlehnung an klassische Begriffe der Philosophiegeschichte genauso von den Ängsten und Vorstellungen der Jetztzeit zeugen. Für ihn korrespondiert der durch den ‚Geist‘ - seine Chiffre für die Ratio, die bei ihm eher negativ konnotiert ist - oder die Technik vollzogene Raubbau am ‚Leben‘ mit dem ‚Untergang der Seele‘: Vertilgte Tier- und Pflanzenarten erneuern sich nicht, die heimliche Herzenswärme der Menschheit ist aufgetrunken, verschüttet der innere Born, der Liederblüten und heilige Feste nährte, und es blieb ein mürrischkalter Arbeitstag, mit dem falschen Flitter lärmender ‚Vergnügungen‘ angetan. Kein Zweifel, wir stehen im Zeitalter des Untergangs der Seele. 9 Die Seele ist für Klages ein Mittelding zwischen ‚Geist‘ und ‚Leib‘. Und seine Philosophie hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Untergang der ‚Seele‘, den der ‚Geist‘ befördert, aufzuhalten und umzukehren. Eine gewisse Parallele zu Diagnosen, die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ anstellen, lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, aber Klages betreibt oder analysiert nicht eigentlich eine Dialektik. Zwar münden bei ihm die Bestrebungen des ‚Geistes‘ in Barbarei, aber Klages wendet sich gegen den Status quo zugunsten eines Status quo ante, der nicht nur die Basis seiner Argumentation, sondern auch seinen Fluchtpunkt bildet: Die ‚pelasgische Urzeit‘ ist für ihn die Sphäre, in der ein nicht-entfremdetes Leben - um nochmals auf die Terminologie der ‚Kritischen Theorie‘ zurückzugreifen - möglich war. 9 Ebd., S. 32. 6.2. Klages und Mendelssohn 275 Klages‘ Konzeption der Urzeit ist insofern interessant, als sie auf Johann Jakob Bachofen verweist, der nicht nur in Benjamins Kafka-Lektüre Eingang findet, sondern auch für den graphologischen Diskurs wichtig ist. Obwohl Klages ihn in den besagten Diskurs eingebracht hat, ist Bachofen auch für Anja Mendelssohn ein Bezugspunkt. Diese personelle und intellektuelle Konstellation sollte einige Probleme für Benjamin mit sich bringen. Deren politische Fragwürdigkeit mag möglicherweise mitunter dazu führen, dass Benjamin es nicht schafft, bei Max Horkheimer mit seiner Idee, eine Arbeit über Klages und C.G. Jung (über das „archaische Bild“ oder den ‚reaktionären Bildbegriff‘, wie Adorno Horkheimer schreibt, GS VII, 868) zu schreiben, im Jahr 1937 grünes Licht zu erhalten. 10 In Bezug auf Benjamin zeigt das jedenfalls, dass ein nicht geringes Interesse für Klages - wenn auch mit deutlich kritischerer Haltung als anfangs der Zwanziger Jahre - auch in späten Jahren noch deutlich auszumachen ist. 11 Mit Blick auf die Graphologie ist das von einer gewissen Relevanz, da der Kontext dieser ‚Wissenschaft‘ dieser Problematik in nichts nachsteht. An dieser Stelle soll gezeigt werden, dass es nicht einfach ist, die Graphologie mittels eindimensionaler politischer Kategorien zu bewerten, so wie es auch schwierig ist, Benjamins Haltung zu skizzieren. Obwohl Benjamins Interesse für die Graphologie retrospektiv als politisch fragwürdig erscheinen mag, ist es wichtig, diese Facette seines Denkens zu rekonstruieren. Gerade um zu zeigen, dass eine einseitge Vereinnahmung Benjamins für politische Zwecke nicht einfach möglich ist und seine Texte auf ihre Verankerung in zeitgenössischen Diskursen befragt werden müssen. 6.2. Klages und Mendelssohn In einer eigenen Bestandsaufnahme der Rolle der Graphologie im universitären oder wissenschaftlichen Raum („Alte und neue Graphologie“) hält Benjamin fest, dass es Klages war, der der französischen Schule der Graphologie eine andere Deutungsmöglichkeit von Handschriften entgegengehalten habe. Dabei ist anzumerken, dass Hippolyte Michon, ein Franzose, die moderne Graphologie begründete. Benjamin hebt jedoch hervor, dass die Graphologie - „mit gewissen Vorbehalten“ - „durchaus als eine deutsche Schöpfung“ angesehen werden könne (GS IV, 596). Das stimmt 10 Vgl. dazu die Rekapitulation des Problems im Schlusskapitel dieser Arbeit. 11 Vgl. dazu auch den Artikel von Michael Pauen in „global benjamin“, der die geistige Nähe und gleichzeitige Ferne - übrigens zwei Begriffe, die in der Philosophie von Klages wie auch von Benjamin eine wichtige Rolle spielen (nicht zuletzt wird auch die ‚Aura‘, ein Begriff, den Klages noch vor Benjamin verwendet, bei Benjamin über Ferne und Nähe definiert) - der beiden rekonstruiert: Michael Pauen, Eros der Ferne, S. 693-716. 6. Graphologie 276 mit Blick auf die französische Schule so aber nicht. Benjamin zeigt sich in seinem ‚Bericht‘ erstaunt darüber, dass es an keiner Universität „einen Lehrstuhl für Handschriftendeutung“ gebe. Er erwähnt jedoch, dass die „Lessing-Hochschule in Berlin“ sich neuerdings „ein Zentralinstitut für Graphologie (unter der Leitung von Anja Mendelssohn)“ angegliedert habe. Die Eröffnung jenes Instituts scheint der Anlass dieses ‚Berichts‘ gewesen zu sein, den Benjamin gegen Ende 1930 - wohl in anderer Form - als Vortrag im Rundfunk verlesen hat (vgl. GS IV, 1047). Es fällt auf, dass sich die Urteile über die Bedeutung Klages‘ sowie auch der kurze historische Abriss, den Benjamin liefert, stark mit den Ausführungen decken, die Robert Saudek - den Benjamin zwar nicht zitiert, aber erwähnt - in seinem Buch über die „Wissenschaftliche Graphologie“ anstellt. 12 In diesem Bericht wird die französische Schule der Graphologie eher kritisch beurteilt - eine Einschätzung, die Benjamin übernimmt. So teilt er etwa mit, dass Jules Crépieux-Jamin, ein Schüler des oben erwähnten Michon, der Eröffnung des ‚Zentralinstituts für Graphologie‘ beiwohnte. Benjamin nutzt diesen Umstand, um kurz die französische Schule der Graphologie zu charakterisieren, danach aber Klages zu würdigen. Er folgt, was er aber nicht schreibt, der „Geschichte der Graphologie“, die Saudek in seinem Buch liefert. Benjamin reproduziert also eine bereits existierende zeitgenössische Genealogie der Graphologie, die ein bekannter Exponent der Graphologie selber liefert. Obwohl die Vertreter der französischen Schule, wie Benjamin schreibt, „eine große Dosis gesunden Menschenverstands im Verein mit kombinierendem Scharfsinn“ auszeichneten, ebenso den „scharfe[n] Blick für Handschriften“, meinten sie, „ganz bestimmte Schriftzeichen“ als Deutungsschablonen für die Charaktereigenschaften eines Schreibers oder einer Schreiberin verwenden zu können. Genau dasselbe steht auch bei Saudek. Dort wird außerdem deutlich, dass dieses Urteil über die französische Schule von keinem Geringeren als Ludwig Klages selbst beeinflusst wurde. Dieser schreibt, wie man bei Saudek liest, dass Michon eine „wirklich brauchbare Beweisführung nicht einmal vorbereitet“ hätte, sondern mit seiner Unmenge an gesammelten ‚Zeichen‘ einfach „Erfahrungsregeln“ aufstellte, mittels denen vorerst bloß das „Objekt der Wissenschaft“ er- 12 Vgl. Robert Saudek, Wissenschaftliche Graphologie, München 1926. Auch Max Pulver, den Benjamin ebenfalls im Artikel erwähnt, schreibt in einem - allerdings erst 1931 erscheinenden - Buch einen historischen Abriss, der trotz seiner Kürze scharfsinnige Einsichten in die Verbindungen einzelner Graphologen oder graphologischen Schulen zu psychologischen Schulen gewährt. Vgl. Max Pulver, Symbolik der Handschrift, Zürich 1931. 6.2. Klages und Mendelssohn 277 zeugt worden sei, jedoch noch keine wissenschaftliche Theorie der Graphologie. 13 Erst dem oben erwähnten Crépieux-Jamin hingegen sei es vorbehalten gewesen, die Befunde seines Lehrers, Michon, logisch zusammenzufassen und zu revidieren. Aber auch von ihm sagt Saudek, er sei zwar ein „unübertrefflicher Praktiker, mit einem den romanischen Rassen eigentümlichen Einfühlungsvermögen“, jedoch kein „Wissenschaftler im strengen Sinne des Wortes“. 14 Zumindest komme ihm aber das Verdienst zu, Michons Theorie von den „bestimmten Zeichen (signes fixes) über den Haufen“ geworfen zu haben, indem er erkannte, dass ein „vereinzeltes Zeichen niemals eine symptomatische Beweiskraft haben“ könne und dass ein „jedes Symptom verschiedene Ausdrucksformen“ anzunehmen fähig sei. 15 Jedoch glaube er immer noch irrtümlich, der „charakterologische Wert der Handschrift“ bestehe darin, dass sie „eine graphische Fixierung menschlicher Gesten und Bewegungen“ darstelle, und dass er nicht wisse, „wie viele andere Faktoren beim Entstehen einer Schrift außerdem noch mitwirk[t]en.“ 16 13 Vgl. Robert Saudek, Wissenschaftliche Graphologie, S. 15. Ein Blick in Michons Buch „System der Graphologie“ bestätigt diesen Befund. Mehr als die Hälfte von Michons Buch besteht in einer Sammlung von Klassifikationsmerkmalen eines Charakters, dem er dann bestimmte Merkmale einer Schrift zuweist. So schreibt er etwa - um wahllos ein Beispiel herauszugreifen - über die Habgier: „Die Habgierigen machen am Anfang und am Ende des großen M ganz kleine Häkchen. Sie bevorzugen die spinnwebartige Paraphe, falls sie nicht fürchten, dabei zu viel Tinte zu verschwenden. In diesem Fall handelt es sich um Vorsichtige und Geschäftstüchtige. Solche Leute haben harte Linienzüge und keulenförmige Endungen; ihre Schrift ist trocken und streng. Wo es um den Pfenning geht, sind sie unerbittlich.“ Vgl. Jean-Hippolyte Michon, System der Graphologie, Übersetzt nach der elften französischen Auflage von Wanda von Dallwitz, München/ Basel 1965, S.159. Ein Blick in Michons Buch lohnt sich, da sich bei ihm beispielsweise zeigt, dass seine frühe Graphologie gar mit der Lavaterschen Physiognomik zusammenhängt und moralische Implikationen hat - etwas, das Benjamin andernorts in Bezug auf die Graphologie generell verurteilt. Das ‚moralische Sein‘, so Michons und Lavaters Überzeugung, komme noch in der geringsten Bewegung des Körpers zum Ausdruck und somit vor allem auch in der Sprache und insbesondere in der Handschrift - die Schrift sei „das dem Auge faßbare Abbild der Seele“. Vgl. ebd., S. 25. 14 Ebd., S. 17. Die Formulierung mit der Rasse reiht sich in weitere rassistische Formulierungen bei Saudek ein, die so etwas wie Grundcharakteristika eines Volkes einzufangen versuchen. Saudek lebte lange in England, sein Buch wirft deshalb - was er bei Klages als einen Mangel diagnostiziert - einen Blick über einen nationalen Handschriften-Korpus hinaus. Viele seiner Beispiele stützen sich auf englische Handschriften, die aus diversen Gründen andere Grundcharakteristika aufweisen als der Querschnitt deutscher Handschriften, so dass die Regeln der Deutung angepasst oder modifiziert zu werden haben. Vgl. dazu insbesondere auch S. 28 f. 15 Ebd., S. 18. 16 Ebd., S. 19. 6. Graphologie 278 In diesen Passagen wird deutlich, dass diese vorwiegend deutschen Graphologen darum bemüht sind, die Graphologie als eine wissenschaftliche Disziplin zu etablieren und eine eigene Geschichte der Graphologie zu schreiben, die sich nicht in die Abhängigkeit der Franzosen stellt. Klages war jedoch nicht der erste deutsche Graphologe, es gab vor ihm andere. Diese hätten laut Saudek aber unter dem Einfluss der Arbeit ihrer französischen Kollegen gestanden. Saudek attestiert nur einem, die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie geschaffen zu haben, nämlich Klages, dem er in seinem Buch auch eigens ein Kapitel widmet. Klages habe nicht nur der ‚Physiologie des Schreibens‘ - den mechanischen und physischen Voraussetzungen einer Schrift - zuallererst eine gewisse Wichtigkeit eingeräumt, er habe im Bereich der ‚Psychologie des Schreibens‘ das „Gesetz der periodischen Aufmerksamkeits-Schwankungen“ entdeckt, das den Graphologen angeblich befähige, zwischen „natürlichen und unnatürlichen Handschriften zu unterscheiden“. 17 Mittels dieses Gesetzes sei es möglich, Willkür zu entlarven. Klages teilt außerdem die Schriftmerkmale in ein Schema ein, welches die Leichtigkeit oder Schwere ihrer Offenheit für willkürliche Beeinflussung ausweist. Damit sollen die ‚willkürlichen‘ Änderungen und ‚unnatürlichen‘ Merkmale rasch diagnostiziert werden. Hinter dieser detektivischen oder entlarvenden Methode steckt aber mehr. Es werden damit Anklänge an Klages‘ Philosophie deutlich: die ‚nackte‘ Seele, die Klages bekanntlich über alles stellt, verschafft sich selbstredend unwillkürlich Raum, der Geist oder der Wille dagegen ‚verkleiden‘ oder verdecken das ‚Eigentliche‘ tendenziell eher. Klages richtet seine Aufmerksamkeit auf die Schwankungen der Intensität bestimmter Merkmale oder ‚Schriftelemente‘ (dazu gehören beispielsweise ‚Geschwindigkeit‘, ‚Ausgiebigkeit‘ und ‚Wucht‘) einer Handschrift. 18 Das alleine ist aber nicht das Hauptmerkmal seiner Graphologie. Für Saudek scheinen diese Elemente wichtig zu sein, weil er meint, dass die individuellen Schwankungen der drei Schriftelemente innerhalb der englischen Handschriften grösser seien als bei kontinentalen, da ‚die englische Handschrift‘ zu den ‚non-expressiven‘ gehöre. Zur Erinnerung: Die englischen Handschriften bilden Saudeks Hauptuntersuchungsgegenstand. Klages hingegen interessieren diese nationalen Verschiedenheiten nicht groß, ihn interessiert mehr die Betrachtung einer bestimmten Schrift als ein einziges Gesamtbild. Das ist sowieso ein Grundmerkmal seiner Philosophie oder ‚Psychologie‘: die Betrachtung der „Totalität eines Bildes“ 19 und 17 Ebd., S. 26. 18 Ebd., S. 33. 19 Vgl. Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie, Leipzig 1910, S. 11, Sperrungen im Original: „Das Nahesein nämlich hält den Blick an einem Punkte fest, vereinzelt den Gegenstand der Nahbetrachtung und führt unausweichlich zu jenem Atomismus des Denkens, von dem die Schulpsychologie ein Beispiel bot, wohingegen die hori- 6.2. Klages und Mendelssohn 279 allgemeiner, die Bindung dieses Ausdrucks an den Körper und die Geste. Klages deute die „Handschrift grundsätzlich als Geste, als Ausdrucksbewegung“, schreibt Benjamin treffend. Dieser Akzent auf die Dynamik der Schrift als Erweiterung des Körpers ist wichtig. Bei ihm sei „nirgends von bestimmten Zeichen die Rede, sondern nur von allgemeinen Merkmalen der Schrift, die nicht auf irgend einer bestimmte Form gewisser Buchstaben beschränkt“ seien (vgl. GS IV, 597). Klages Vorgehen ist demnach allgemeiner als das seiner Vorgänger und scheinbar weniger willkürlich, gerade weil es flexibel und dynamischer ist und sich stärker mit individualistischen Zügen befasst. Deshalb ist es eher kompatibel mit einem anthropologischen Grundinteresse, das sich jeglichen Formen des leiblichen Ausdrucks als Kommunikationsträger zuwendet. Klages untersucht nicht einfach einzelne Zeichen wie seine französischen Vorgänger, sondern das gesamte Erscheinungsbild einer Schrift. Klages liest an der Schrift gewissermaßen eine Bewegung ab, eine gewisse Dynamik im Ausdruck, aber er gewinnt durch sie auch paradoxerweise einen Totaleindruck. Dass Klages ganz allgemein auf das Ganze zielt, zeigt auch seine Auseinandersetzung mit Lavater. In „Handschrift und Charakter“ zitiert er einige Passagen des Physiognomikers, unter anderem solche, aus denen klar wird, dass wohl beide glauben, aus Einzelteilen der Physiognomie - oder im Falle von Klages der Handschrift -, den ganzen Charakter eines Menschen ablesen zu können. 20 Dem Schriftbild als Ausdruck einer Bewegung weist Klages ein ‚Formniveau‘ zu, das sich auf einer Skala von eins bis fünf befindet. 21 Je nach Niveauhöhe werden bestimmte Charakteristika der Schrift dann positiv oder negativ bewertet. Um auf Klages‘ Skala ein hohes Niveau zu errei- zonterweiternde ‚Ferne‘ ein gleichsam wanderndes Auge fordert, das dem Glauben an die Gegenständlichkeit des einzelnen die Totalität eines Bildes entgegenhält.“ 20 Vgl. Ludwig Klages, Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriss der graphologischen Technik. Mit 137 Figuren und 21 Tabellen, 2. Auflage, Leipzig 1920, S. 39 f. 21 Die Mendelssohns folgen ihm in dieser Hinsicht. Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 30 f.: „Es gibt kein Schema, keine ein für allemal vorgeschriebene Analysemethode. Der Gang der Analyse wird bestimmt von einem e r s t e n T o t a l e i n d r u c k (bei Klages: das Formniveau) und wird im weiteren Verlauf von der Schrift selbst angegeben. Der erste Eindruck, der die Handschrift als einzigartige Erscheinung erst einmal erfasst, enthält die Summe aller später zu findenden Einzelmerkmale.“ (Sperrung im Original) Es muss vielleicht noch gesagt werden, dass Crépieux-Jamin das „Niveau“ der Schrift bestimmt, und zwar bestimmt er „die Zeichen des überlegenen oder untergeordneten Geisteszustands“, vgl. Robert Saudek, Wissenschaftliche Graphologie, S. 147 und 160. Bei ihm fehlt jedoch die Kategorie des Rhythmus‘, die bei Klages zentral ist. Er spricht eher von harmonischem Gleichmaß der Schrift, von „Tätigkeitsfreude, die sich in schnellem Schreibakt äußert“, von kultivierten und trotz Einfachheit schönen Zügen, die sich leicht lesen lassen. 6. Graphologie 280 chen, sollte eine Handschrift gegenüber der Norm eine gewisse Eigenständigkeit aufweisen, aber so, dass diese Eigenständigkeit wiederum nicht als zu disharmonisch erscheint; eine Regelmäßigkeit der Züge ist innerhalb des Klages’schen Werteschemas eindeutig erwünscht. Klages gibt in seinen Büchern durchaus Beispiele für Handschriften, deren Formniveau er für besonders hoch hält, ansonsten würde es für andere Leute schwierig, diese Niveauunterschiede nachzuvollziehen: Seine Bücher arbeiten mit Abbildungen von Schriftbildern. Der Wert „1“ bezeichnet ein „sehr hohes Formniveau“. 22 Hinter den Schriften auf diesem Niveau verbergen sich - wohl nicht ganz zufällig - Schreiber, die einen gewissen historischen Stellenwert - im Bereich des Geistes wie auch im Bereich der Politik - innehaben: etwa Friedrich Nietzsche, von dem Klages im Grunde die wichtigsten Stichworte seiner eigenen Lebensphilosophie entnehmen zu können glaubt 23 , oder der wohl wichtigste deutsche Staatsmann der damaligen jüngeren Vergangenheit, Otto von Bismarck. Nietzsches Handschrift gilt Klages als „ein Beispiel der höchsten Stufe“: „Trotz größter Leserlichkeit hat sie vollendete Eigenart, welche niemals aussetzend jeden Buchstaben, ja noch seine Bestandteile stempelt, und einen perlenden Rhythmus, der die Schärfen zahlreicher Winkel spielend einverleibt.“ 24 An dieser Stelle soll nun nicht Klages‘ Vokabular allzu spitzfindig analysiert werden, nur der Hinweis auf den Begriff des ‚Rhythmus‘ soll noch gegeben werden, der bei Klages als Kontrapunkt zum durch die Technik 22 Vgl. Ludwig Klages, Handschrift und Charakter, S. 40. Vgl. auch S. 41, dort findet sich die Beschreibung einer Handschrift mit Formniveau 1: „Allein sie zeigt in der Massenverteilung einen störungslos perlenden Rhythmus und zwingt mit scheinbar spielender Leichtigkeit jede Einzelform unter dasselbe, freilich wie stets nur erfühlbare, Bildungsgesetz. Kein Buchstabe, der nicht im besten Sinne ‚geistvoll‘ durchgemodelt wäre, und nirgends die kleinste Ermattung! […] Trotz vollendetem Ebenmaß ist die Schrift ohne starre Gesetzlichkeit; trotz äußerster Einfachheit formenreich, fließend, leichtfüßig, härtelos, biegsam; trotz erheblich wechselnder Längenunterschiedlichkeit von übrigens wunderbarer Belebungskraft im ganzen horizontal gelagert. Wie durch ein fließendes Mittel von kristallischer Durchsichtigkeit - man weiß nicht, ob es helle Mittagsluft oder klarblaues Wasser sei - scheinen Gebilde von gewachsener Plastik zu leichten.“ Das Heranziehen von Elementen wie Wasser und Luft zur Beschreibung der Schrift erinnert fast ein wenig an Benjamins Wolkenmetaphern oder an die Naturbeschreibungen, die er anstellt, wenn er die Aura definiert. Der Vergleich mit der Plastik, die beinahe organisch zu sein scheint, ist ebenfalls spannend, weist sie doch auf die Bildlichkeit der Schrift. Die Beschreibung changiert exemplarisch zwischen Dynamik und Statik, Individualität und Regelhaftigkeit. 23 Vgl. etwa Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie, Leipzig 1910, S. 10, Sperrungen im Original: „Man kann für und wider die Logik Partei ergreifen und - das ist die bedeutendste Wendung Nietzsches - man tut das letztere, sofern man auf Seiten des Lebens steht, als welches ungeistig und alogisch ist. Leben und Geist fallen auseinander und zwar ist nach Auffassung Nietzsches der Geist eine Krankheitsform des Lebens.“ 24 Vgl. Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 141. 6.2. Klages und Mendelssohn 281 und Eintönigkeit kontaminierten ‚Takt‘ für gewöhnlich zu hohen Ehren kommt - Klages unterlässt es an dieser Stelle denn auch nicht, der ‚rhythmischen‘ Handschrift Nietzsches vollendete Eigenart zuzusprechen, unabhängig davon, ob ihre Leserlichkeit gerade auf eine Prägung durch den ‚Takt‘ der Schule hindeuten könnte. Nur alleine anhand dieser kürzesten und allgemeinsten Analyse der Nietzscheschen Handschrift lässt sich demnach ersehen, wie sehr die Graphologie Klages‘ durch seinen eigenen philosophischen Denkhorizont geprägt ist. Besonders wissenschaftlich erscheint dieses Vorgehen auf den ersten Blick nicht, da die verwendeten Begriffe in ihrer Gebrauchsweise eher esoterisch anmuten. ‚Rhythmus‘ als ‚lebendige‘ Form der Raum- und Zeiteinteilung (im Gegensatz zum mechanischen ‚Takt‘) ist denn auch tatsächlich das Hauptkriterium für das Formniveau. An Saudeks zeigt sich, wie die Exponenten der Graphologie darum bemüht sind, ihre Disziplin wissenschaftlich zu etablieren, jedoch lässt die rigide Kritik am Rationalismus ihre Befunde paradoxerweise normativ erscheinen. Saudek erweist sich durchaus als Schüler Klages, der seine geistkritische Fortschrittskritik übernimmt, wenn er diesem nachspricht, dass der ‚ursprüngliche‘ (individuelle) Rhythmus phylowie auch ontogenetisch unter das Gesetzmäßige ‚gezwungen‘ werden musste. 25 Er schreibt: Sklavische Nachahmung dieser [althergebrachten, traditionellen] Regeln beweist gedankenlose Befolgung; individuelle Änderung alter Regeln und Formen kann mancherlei sein, nur eines nicht, nämlich nicht Gedankenlosigkeit, nicht blinde Annahme des Althergebrachten. Je mehr sich die Formen des Geschriebenen dem Schulvorbild nähern, um so unorigineller und gedankenloser ist der Urheber. 26 Eine andere Grundunterscheidung von Klages - der sehr oft mit binären Oppositionen argumentiert - ist jene zwischen Darstellung und Ausdruck. Das „allgemeinste Gesetz des Darstellungstriebes“, das er in einigen seiner Bücher dem „Ausdrucksgesetz an die Seite“ stellt, lautet: „[J]ede willkürbare Bewegung des Menschen wird in jedem Augenblick gemodelt von unwillkürlichen Erwartungen ihres anschaulichen Erfolges.“ 27 Das ist eine These, die jede leibliche Regung des Menschen zu einem Mittel der Kommunikation erhebt, das einem Zweck unterstellt wird. Dieser Zweck ist die Provokation einer Reaktion, welche einen registrierbaren Erfolg zeitigt. All das geschieht aber unbewusst oder unwillkürlich. Und bei diesen ‚unwillkürlichen Erwartungen‘ setzt die Graphologie an. Sie schiebt dem willkürlichen Ausdruck - der relativ geregelten Schrift, mittels der sich eine Per- 25 Vgl. Robert Saudek, Wissenschaftliche Graphologie, S. 148. 26 Ebd., S. 149. 27 Vgl. Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 101. 6. Graphologie 282 son bewusst ausdrückt - eine unbewusste Dimension unter, die sie entschlüsseln zu können vorgibt. Die Ausdrucksbewegung sei eine Bewegung, in der sich nämlich gleich die ganze Persönlichkeit ausdrücke. In der Darstellungsregung zeige sich nichts Geringeres als der ‚Charakter‘ einer Person, schreibt Klages in „Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft“. Der Mensch drückt sich aus, und ob er will oder nicht, wird sein Ausdruck unwillkürlich von einem Erfolgsstreben beeinflusst, das auch gleich seinen Charakter offenbart. Klages führt deshalb den Begriff des ‚Leitbilds‘ ein, ein erwartetes ‚Bild‘, das mit der Erwartung des oben angesprochenen Bewegungserfolgs korrespondiert und dessen Darstellung in allen Bewegungen ein unbewusstes Bedürfnis der Persönlichkeit sei: „[J]ede willkürbare Bewegung des Menschen wird unbewußt mitbestimmt von seinem persönlichen Leitbild.“ 28 Das sei die „unbewußte Wahlverwandtschaft zu bestimmten Gestalten, Bewegungsformen, Lagerungen und hinwieder zu den reliefverstärkenden Farben, Klängen und Gerüchen“. Klages geht eigentlich wie Anja Mendelssohn davon aus, dass die Schrift ursprünglich eine bildliche Schrift gewesen sein muss, aber diese ‚phylogenetische‘ Dimension der Schrift wird einfach auf die gegenwärtige Schrift übertragen, wo eine gewisse ‚Konkretheit‘ des Schriftbilds - die durch geringe Lücken zwischen Wörtern und Zeilen ausgedrückt werde - eher von einem sinnlichen und ‚phantasievollen‘ Urheber zeuge, größere Lücken dagegen auf das Walten des Geistes (und Begriffes) schließen ließen. Die „bedeutungsmäßig stark gegliederte Schrift“ sei also dem „begrifflich unterscheidenden Denken“ zuzuordnen, die „bedeutungsmäßig ungegliederte Schrift mit lediglich bildhaft angeordneten Massen“ dagegen sei dem „Vorwalten des sinnlichen Anschauungsvermögens“ verwandt. 29 Ein ‚abstrakter Kopf‘, wie Klages schreibt, werde unwillkürlich Wörter wie auch Zeilen weit voneinander trennen und so eine sichtbare Gliederung erzeugen, der ‚sinnliche Kopf‘ dagegen werde ein ‚schwachgegliedertes Schriftfeld‘ hervorbringen. Klages geht es dabei nicht um das Erscheinungsbild der einzelnen Buchstaben, sondern um das Erscheinungsbild der gesamten Schrift einer Person. Ein Abglanz ‚ursprünglicher‘ Bildlichkeit kann also über das Leitbild, das an der Handschrift ablesbar wird, auf eine eigentlich durch und durch semiotische Schrift appliziert werden, so dass der Urheber der Handschrift durch die Klages’sche Deutung eine Charakterisierung erfährt, die seine Sinnlichkeit oder Phantasie erfassen soll. Klages‘ Begriff der ‚Ausdrucksbewegung‘ „als Symbolhandlung innerer Antriebe“ 30 bezeichnet eine zentrale Kategorie seiner Graphologie, die aber 28 Vgl. Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 102. 29 Ebd., S. 104. 30 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 2. 6.2. Klages und Mendelssohn 283 von Max Pulver und Anja Mendelssohn, wie Benjamin in „Alte und neue Graphologie“ richtig schreibt, beanstandet wird. Diese ‚neue Richtung‘ der Graphologie - Benjamin meint Mendelssohn und Pulver - suche im Gegensatz zu Klages den „Weg zu einer ‚ideographischen‘ Schriftdeutung freizumachen, d.h. einer Graphologie, welche die Schrift auf die unbewußten Bildphantasien hin deutet, die sie enthält“ (GS IV, 598). Der Begriff der ‚Ideographie‘ entnimmt Benjamin seinen Quellen. Diese möchten mit diesem Begriff markieren, dass sie die Bildlichkeit der Buchstaben ernst zu nehmen gewillt sind. Was aber vor allem auffällt, sind die Sympathien, die Pulver und Mendelssohn der Psychoanalyse und ‚Bildern‘ des Unbewussten entgegenbringen. Freilich hat es auch Klages‘ Philosophie mit ‚Bildern‘ zu tun, doch handelt es sich bei seinen Bildern eher um ‚Urbilder‘, die der Platonischen Ideenlehre, die für Klages nicht bildlich fundiert ist, sondern sich auf den ‚Begriff‘ und somit ‚Geist‘ stütze, eine Alternative entgegenhalten will. Benjamin hält fest - das entnimmt er Klages‘ ‚Kosmogonischem Eros‘ -, dass Klages‘ Bilder „wirkliche und wirkende Bestandteile [seien], kraft deren eine tiefere, in der Ekstase einzig sich erschließende Welt in die Welt der mechanischen Sinne durch das Medium des Menschen hineinwirk[e]“ (GS III, 44). 31 Bei Klages wird der Mensch zum Medium der Bilder. Und was im ‚Kosmogonischen Eros‘ die Ekstase bewirkt, offenbart sich in der Schrift durch das Unterbewusstsein des Schreibenden: Auch durch die Schrift ist jene ‚tiefere‘ Welt noch präsent. Benjamin weist jeder graphologischen Schule auch ihre ‚philosophische‘ zu, um den politisch-philosophischen Hintergrund anzudeuten. Klages weist er die „Lebensphilosophie der Georgeschen Schule“ zu, Robert Saudek, auf den er auch kurz eingeht, die Wundtsche Psychophysik, Max Pulver und Mendelssohn Sigmund Freuds Psychoanalyse, die er die Freudsche „Lehre vom Unbewußten“ nennt (GS IV, 598). Ergänzend muss festgehalten werden, dass die Zuweisung Klages‘ zur Georgeschen Schule, die Zuweisung Saudeks zu Wundt, wie auch letztlich die Zuweisung Mendelssohns und Pulvers zu Freud zu kurz greift. Wenn überhaupt, so lässt 31 Das Motiv der Bilderwelt, die einer archaischen Stufe der Menschheit noch vollständig zugänglich war, findet man bei Klages immer wieder vor. Vgl. etwa Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, Leipzig 1921, S. 20: „Während man dergleichen Wörter [wie ‚Eindruck‘, ‚einprägen‘ und ‚ins Gedächtnis rufen‘] nutzbar machte, ließ man dagegen unverwertet die wohl noch folgenreicheren Fingerzeige, die uns ‚einbilden‘ und ‚Einbildung‘ zu geben vermögen. Wir betreten mit ihnen eine Erlebniszone, von der wir die unmittelbare Kenntnis zu verlieren beginnen. Vom anschaulichen Vergegenwärtigen, das damals den Platz unseres ‚Vorstellens‘ innehatte […] gingen für ein lebensvolleres Bewußtsein so ungemein starke Wirkungen aus, daß es den Bildern die Realität von Körpern lieh, die gleich den Keimen einer ansteckenden Krankheit von Person auf Person übertragbar seien.“ 6. Graphologie 284 sich von dieser Schablone nur als einer äußerst groben ausgehen. Anja und Georg Mendelssohn selbst weisen in ihrem Buch auch Alfred Adler und Carl Gustav Jung als Begriffslieferanten aus; in anderen Schriften wird ersichtlich, dass letzterer sehr wichtig für Anja Mendelssohns Ansatz war. 32 Obwohl sie zweifellos von Klages beeinflusst sind - wie auch Saudek und Pulver -, werfen Anja und Georg Mendelssohn ihm vor, die Sexualität in seine Analysen nicht einzubeziehen. 33 In diesem Sinne lässt sich mit Benjamin also schon davon sprechen, dass sie von Freud - oder eben der Psychoanalyse - beeinflusst seien. Das unterstreicht auch der folgende Satz, den Anja Mendelssohn zu Klages und seinem Verhältnis zur Sexualität schreibt: „Er ignoriert ihre deutlichsten Manifestationen im graphischen Bild und - was schwerwiegender ist - ihre feineren Manifestationen im Seelenleben.“ 34 Auch wenn Benjamin Klages‘ Bedeutung für die Graphologie akzeptiert, so scheint er doch die größte Affinität für den Ansatz Anja Mendelssohns zu haben. 35 Ihrem mit ihrem Bruder verfassten Buch „Der Mensch in der Handschrift“ widmet er 1928 schließlich eine längere Rezension, in der er dem Buch großen Erfolg prophezeit, der als „ein durchaus verdienter“ (GS III, 135) apostrophiert wird. Es stelle den Versuch dar, „die Handschrift auch der zivilisierten Menschen durchaus als Bilderschrift zu erfassen“ (GS III, 136). „Und die Autoren“ hätten, schreibt er, „den Kontakt mit der Bilderwelt in einem vordem unerreichten Maß zu bewahren verstanden.“ (Ebd.) In dieser Bindung ans Bild sieht Benjamin eine Chance: „Es ließe sich leicht entwickeln, wie gerade diese Bindung an das Bild die Gabe hat, im Graphologen den Widerstand gegen die Versuchung moralischer 32 Vgl. Anja Mendelssohn, Schrift und Seele. Wege in das Unbewusste, Leipzig 1933, S. VIII ff. 33 Später räumt Anja Mendelssohn hingegen ein, dass sie die Sexualität anfänglich überbewertet habe und sich von deshalb von Freud ab- und Jung zuwandte. Damit stand sie theoretisch im Grunde auch Klages wieder näher. Vgl. Anja Mendelssohn, Schrift und Seele. Wege in das Unbewusste, Leipzig 1933, S. VIII. 34 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 4. 35 An Alfred Cohn schreibt er am 18. Juni 1928: „Im übrigen hat mich in den letzten Tagen eine neue Graphologie von Anja Mendelssohn sehr beschäftigt, ein ausgezeichnetes Buch, von dem Du noch hören wirst.“ (GB III, 388). Am selben Tag schreibt er an Gershom Scholem: „Ein Buch hat mich in den letzten Tagen sehr bewegt: Anja und Georg Mendelssohn: Der Mensch in der Handschrift. Ich bin im Begriffe, nach seiner Lektüre den Sinn für Schriften, der mir vor ungefähr 10 Jahren verloren ging, wieder zu gewinnen. Es ist ein Buch, das genau die Richtung hält, die ich im Grunde der Betrachtung von Schriften gesucht und doch selbständig nicht gefunden habe. Intuition und Ratio zugleich sind in diesem Gebiete niemals weiter vorgetrieben worden. Es enthält eine ebenso kurze wie treffende Auseinandersetzung mit Klages.“ (GB III, 393) Diese Sätze an Scholem zeigen nochmals schön, dass die Graphologie und auch Klages für Benjamin v.a. in frühen Jahren eine Rolle gespielt haben, sich danach aber an den Rand seiner Aufmerksamkeit bewegt haben. 6.2. Klages und Mendelssohn 285 Schriftauswertung hervorzubringen, der heut und bis auf weiteres von ihm verlangt werden“ müsse (GS III, 137). Damit spricht Benjamin eine Kritik an jenen graphologischen Ansätzen aus, die meinen, sie könnten moralische Charakterkunde betreiben. Für Benjamin lässt sich das Moralische nicht auf die Physiognomie oder einen gestischen Ausdruck zurückführen, alles Moralische sei, so Benjamin, „ohne Physiognomie, ein Ausdrucksloses“. An dieser Stelle zitiert Benjamin eine Passage aus Mendelssohns Buch, um festzuhalten, dass sich moralische Werte nicht einfach am Ausdruck oder Charakter ablesen liessen. Mendelssohn schreibt in der erwähnten Passage, dass der „Mensch sowohl die Lichtals auch die Schattenseiten seiner Eigenart in sich [trage] und daß auch der ‚lebendigste‘ Mensch schwach und bestimmbar, ein unlebendiger und wenig eigenartiger dennoch zum mindesten in einem Teil seines Wesens ein gütiger Mensch sein [könne].“ 36 Diese Stelle relativiert mittels des Verweises auf die ‚Lebendigkeit‘ das Klages’sche Formniveau als erster Totaleindruck eines Schriftbilds, und zwar, weil der ‚Lebendigkeitsgrad‘ bei Klages zum absoluten Wertmesser wird. Bei einem hohem Formniveau, also einem positiven Wert, wird der Charakter positiv bewertet, bei einem negativen Wert eben negativ. Wenn bei den Mendelssohns also steht, dass auch der ‚lebendigste‘ Mensch schwach und bestimmbar sein könne, stellen sie den Absolutheitscharakter des Klages’schen Formniveaus in Frage. Zwar wird auch in „Der Mensch in der Handschrift“ eine Art erster Gesamteindruck - ohne das Stufenmodell zu übernehmen - geltend gemacht, der auch so etwas wie das „Maß der lebendigen Eigenart […] auf den ersten Blick […] spüren“ lassen soll, jedoch aber ohne dass damit ein „positives oder negatives Vorzeichen vor jedes Ausdrucksmerkmal“ gesetzt wäre. 37 Obwohl sich die Mendelssohns kritisch von Klages abzugrenzen versuchen, etwa indem sie konstatieren, dass neben der ‚inneren Lebendigkeit‘ auch die „geistige Höhe einer Persönlichkeit das Gesamtniveau der Handschrift heben“ würde 38 , sind es gerade solche Aussagen die die Wissenschaftlichkeit ihres eigenen Projekts aus unserer Perspektive doch in Frage stellen, denn was ‚geistige Höhe‘ ist, und wie sie sich messen lassen soll, wird nicht deutlich. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass sich Benjamin mit den Mendelssohns in seiner Rezension gegen Klages verbündet, indem er dessen in die Graphologie übertragenen Kulturpessimismus in Frage stellt. So zitiert er einen Satz Klages‘, in dem dieser diagnostiziert, dass „Lebensfülle der Menschheit und Ausdrucksgehalt ihrer seelischen Niederschläge seit der französischen Revolution in reißendem Absinken begriffen“ seien und dass 36 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 31. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 32. 6. Graphologie 286 deshalb „die reichste und begabteste Persönlichkeit von heute […] nur allerhöchstens die Fülle dessen erreicht, was vor vier oder fünf Jahrhunderten Durchschnitt war.“ (Klages, zitiert bei Benjamin, GS III, 137 39 ). Im Anschluss an dieses Zitat weist er jedoch nicht einfach nur Klages‘ Diagnose zurück, er verteidigt auch die Graphologie: „Daß solche Gedankengänge für den Streiter Klages ihren Ort und ihr Recht haben, ist nichts Neues. Es wäre aber unleidlich, die Graphologie als Schwingungsmedium für solche Lebensphilosophien oder Geheimlehren sich denken zu müssen.“ (GS III, 137) In welchem Grade es ihr gelänge, sich „von jedem Sektenwesen unabhängig zu behaupten, ist für den Augenblick ihre Existenzfrage“, spitzt Benjamin zu (GS III, 138). Es ist ihm also durchaus bewusst, dass esoterische Ansichten seit jeher im Diskurs der Graphologie auffindbar ist. Ein leichtes Unwohlsein seines Autors lässt sich in diesem Satz wohl nicht verbergen. Denn auch die Texte der Mendelssohns sind trotz ihrer ‚Intuition‘ und ‚sprachlichen Darstellungskunst‘, die Benjamin lobend hervorhebt, auch nicht ganz gegen wissenschaftliche Einwände gefeit. So geben sie offen zu, dass der „Vorgang der Schriftanalyse […] im Grunde etwas Unbeschreibbares“ sei, „eine Mischung von Ahnung und Wissen, von Erfahrung und Intuition“. 40 In Benjamins oben zitiertem Satz scheint aber dennoch der Graphologie das Potential zugeschrieben zu werden, sich vom sogenannten ‚Sektenwesen‘ unabhängig behaupten zu können. Neben der von den Mendelssohns eingeräumten Schwierigkeit, sich wissenschaftlich mit den charakterologischen Bedeutungen der Handschrift von unbekannten Personen auseinanderzusetzen, analysieren die Verfasser von „Der Mensch in der Handschrift“ ausführlicher bloß Handschriften bekannter Persönlichkeiten, von denen über verschiedene schriftliche Zeugnisse bereits vorher feststeht, was man vermeintlich aus der bildlichen Dimension ihrer Handschriften lesen kann. 41 Nicht ganz zufällig analysieren die Mendelssohns - aber tatsächlich ohne es zu sagen - die Handschrift von niemand Geringerem als Franz Kafka. Bereits zu dieser Zeit wurden dessen Texte mittels psychologischer und psychoanalytischer Deutungsmuster ausgelegt; dass das auch mit seiner Handschrift geschehen ist, hat durchaus etwas Merkwürdiges. Wenn man Sätze wie die fol- 39 Siehe Ludwig Klages, Handschrift und Charakter, S. 42 f. 40 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 32. 41 Sie sind damit beileibe nicht die Einzigen, auch bei Saudek oder anderen ist das so. Das Grundproblem ist ja eigentlich, dass die Eigenschaften unbekannter Verfasser handschriftlicher Erzeugnisse einem Lesepublikum nicht bekannt sein können, und dass die Verifizierung eines graphologischen Urteils an ihnen nicht geleistet werden kann. Bei bekannten Persönlichkeiten hingegen sind allgemein kolportierte Charaktereigenschaften eher bekannt - häufig warten die graphologischen Urteile auch nicht mit Überraschungen auf. 6.2. Klages und Mendelssohn 287 genden liest, fragt man sich unweigerlich, ob das wirklich alles aus der schriftbildlichen Betrachtung von Kafkas Handschrift gelesen werden kann oder ob in diese Schrift nicht auch ein Bild Kafkas hineinprojiziert wurde, das stark durch Kenntnisse von Kafkas Biographie und seiner Texte geprägt wurde: Es handelt sich hier um einen Menschen von äußerst labilem Nervensystem (Fadenbindung und Unregelmäßigkeit), der aber aus dieser Labilität seine größte Kraft erwachsen läßt. Die Schrift ist aufgelöst, aber gerade aus dieser Auflösung entstehen jene Ligaturen der schöpferischen Eigenart, die Wortbilder, die eben nur seine Wortbilder sind. Zu einer unerhörten Empfänglichkeit für die wechselnden Eindrücke des Lebens gesellen sich schärfste Logik und ein ganz ungewöhnliches Assoziationsvermögen. Den Boden bildet immer wieder Leidenschaft, drängende Lebenssehnsucht. Der Schreiber ist niemals intellektuell verdünnt, er ist. immer ganz da, ganz geistig und voll von Leben. Diese Schrift gibt das Bild eines Menschen der Zeit, eines Mannes, der mit dem Erbgut schon angekränkelter Nerven und begabt mit einem rastlos und rasend arbeitenden Gehirn einer unerbittlichen Welt begegnet: der seine Kampfmittel schärft, nämlich seine geistigen Waffen; der mit Klugheit und Diplomatie, mit Einfühlung und mit verzweifeltem Vorstoßen sein Wesen verwirklicht. 42 Weiter werden eingehender auch die Handschriften Rainer Maria Rilkes („Sie verrät Klugheit, aber ist alles andere als intellektuell. Fast ist sie primitiv, aber vielleicht ist das eine Absage an menschliche Komplikationen und Zerrissenheiten, die abfallen, wenn man sich in einer oberen Welt zu Hause fühlt.“ 43 ) und des Serienmörders Friedrich Haarmann analysiert. Es ist Anja Mendelssohn bewusst, dass es heikel ist, die Handschriften bekannter Persönlichkeiten zu analysieren: „So sehr der Graphologe sich auch von vorgefassten Meinungen über die Person des Schreibers freimachen mag -“ schreibt Mendelssohn, „irgendwelche Beeinflussungen schleichen sich nur allzu leicht ein“. Und gerade die „Absicht, sich nicht beeinflussen lassen zu wollen“, hemme dann oftmals das „freie Spiel der intuitiven Fähigkeiten“. 44 Über Haarmanns Schrift urteilt Anja Mendelssohn dann aber durchgehend negativ. Sie schreibt, dass sie komische Affekte bei der Betrachtung der Haarmannschen Schrift befallen hätten: „Bei dieser Handschrift erlebte die Verfasserin so stark wie bei keiner andern einen Gesamteindruck, der durch die Summe aller Einzelheiten nicht voll- 42 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 38. 43 Ebd., S. 52. 44 Ebd., S. 50. 6. Graphologie 288 kommen zu erklären war.“ 45 Die negativen Attribute, die sie heranzieht, um Haarmanns Schriftzüge zu beschreiben, frappieren durch ihre Ausdruckskraft. Schon nur alleine die Beschreibung des ‚Drucks‘, mit dem das Haarmannsche Schreibgerät auf das Papier gesetzt wurde, lässt für Anja Mendelssohn keinen Zweifel über den Charakter des Schreibers aufkommen: Und damit kommen wir wieder zum Druck. Die Schrift ist nicht nur teigig und an manchen Stellen druckstark, sondern sie ist neben den ganz dünnen Stellen auch in eigentümlicherweise verschmiert. Hier äußert sich ein Mensch, dessen dickflüssige Sinnlichkeit das alleinherrschende Prinzip ist. Dies Gebilde in Schwarzweiß ist hingeflezt ohne jeden Zügel der Kultur, es ist nur Stoff, schmierige Materie, Sexus, Trieb. Aber diese sinnliche Gier taucht nur sporadisch auf (die ungleiche Druckverteilung), sie überrennt den Schreiber, der ihr freudlos und schwächlich erliegt (die geneigten Oberlängen, die ausgefransten Grundstriche). 46 Man könnte noch eine Menge weiterer Sätze zitieren, die fast durch jedes Adjektiv, welches die Schrift charakterisieren soll, ihren Urheber als durch und durch perversen Menschen zeichnen. Abschließend bemerkt Anja Mendelssohn: „Der asoziale Mensch, der ‚Verbrecher‘ - er ist aus dieser Handschrift zweifellos zu erkennen.“ - Dennoch räumt sie ein, dass man den „Mörder“ hingegen nicht aus der Handschrift herauslesen könne. „Die Welle seines Blutes brauste über ein unfähiges Gehirn, trotz allen Handelns war in ihm mehr Erleiden als Wollen.“ 47 Trotz dieser augenscheinlichen Zweifelhaftigkeit, die auch den Untersuchungen von Anja Mendelssohn anhaften, ist Benjamin an einer positiven Bewertung des Mendelssohn‘schen Ansatzes interessiert. Er betont in seiner Rezension ausserdem immer wieder, wie bereits angedeutet, dass der Mendelssohn‘sche Ansatz den Bildern verpflichtet sei. Ihr Buch stelle den Versuch dar, „die Handschrift auch des zivilisierten Menschen durchaus als Bilderschrift zu erfassen.“ Außerdem hätten es die Autoren verstanden, „den Kontakt mit der Bilderwelt in einem vordem unerreichten Maß zu bewahren“ (GS III, 136). Benjamin ist es wichtig, das ‚Bild‘ an dieser Stelle von Tropen oder anderen sprachlichen Funktionen zu unterscheiden: Man hat das Rechts und Links, das Oben und Unten, das Schräg und Steil, das Schwer und Fein einer Handschrift von jeher für ausschlaggebend gehalten. Aber darinnen geisterte immer noch ein vager Rest von Analogie 45 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 58. 46 Ebd., S. 59 f. 47 Ebd., S. 62. 6.2. Klages und Mendelssohn 289 und Metapher. Wenn es bei einer engen Schrift hieß: „Der hält das Seine zusammen, d.h. er ist sparsam“, so war das zwar richtig, aber die Sprache hatte die Kosten der graphologischen Einsicht zu tragen. Auch die „seelische Schaukraft“, die Klages aufruft, um sie zum Richter über das Formniveau, über das Mehr oder Minder von Reichtum, Fülle, Schwere, Wärme, Dichtigkeit oder Tiefe der Schrift zu machen, wird an entscheidenden Stellen auf das Bild stoßen, das wir schreibend in unsere Handschrift wickeln. (GS III, 136 f.) Auch wenn dieses Zitat nun suggeriert, auch Klages‘ Ansatz operiere mit Bildern und er sei ein Wegbereiter für den Ansatz von Anja Mendelssohn, so grenzt Benjamin ihre beiden Bildverständnisse voneinander ab. Das Bild determiniere die ‚Geste‘, diese auf den Leib zurückgeführte Bewegung des Ausdrucks, die bei Klages als Determinierendes der Schrift aufgefasst werde. 48 Gerade das Bild habe die „Gabe“, im „Graphologen den Widerstand gegen die Versuchung moralischer Schriftauswertung hervorzubringen“, denn das Moralische lässt sich - als Ausdrucksloses - nicht am Ausdruck des Leibs ablesen (GS III, 137). Benjamin bringt Mendelssohn und Klages in Opposition. Er ordnet beiden Ansätzen jeweils einen Bereich zu, von dem diese seiner Meinung nach ihren Ausgang nehmen. Anja Mendelssohn gehe vom Bild aus, das dem Leib und dem ‚Innen‘ zugehöre, Klages‘ Ansatz dagegen, der sich zentral für den Ausdruck interessiert, von der Sprache und damit dem ‚Außen‘: Die Sprache hat einen Leib und der Leib hat eine Sprache. Dennoch - die Welt gründet auf dem, was am Leibe nicht Sprache ist (dem Moralischen) und an der Sprache nicht Leib (dem Ausdruckslosen). Dahingegen hat freilich die Graphologie durchaus es mit dem zu tun, was an der Sprache der Handschrift das Leibhafte, am Leibe der Handschrift das Sprechende ist. Klages geht von der Sprache aus: will sagen vom Ausdruck, Mendelssohn vom Leibe: will sagen vom Bild. (GS III, 138) Beides gerät in den Fokus der Graphologie, der ‚Ausdruck‘ und das ‚Ausdruckslose‘, die ‚Sprache‘ und das ‚Bild‘ beziehungsweise der ‚Leib‘. Benjamins Auffassung des Leiblichen ist an dieser Stelle nicht ganz durchsichtig, da sie sich auf den Körper wie auch auf die Sprache beziehen lässt (und beides nicht unabhängig voneinander existiert). Der Leib ist jedenfalls in vielerlei Hinsicht „unzugänglich“, wie er in einer Notiz („Wahrnehmung und Leib“) schreibt (GS VI, 67). Vor allem der eigene Leib lässt sich nicht 48 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 27: „Da reicht die Erklärung der Handschrift als ‚fixierte Ausdrucksbewegung‘ nicht aus. Sie sagt: die Schrift ist determiniert durch die Geste - aber man kann diese Theorie erweitern: die Geste ist ihrerseits determiniert durch das innere Bild.“ 6. Graphologie 290 vollständig sehen. Und dennoch ist der Leib das, was - nach einer anderen Notiz („Psychologie“) - „fremdes Seelenleben“ zu sehen gebe (GS VI, 65). Jedoch scheint Benjamin der Ansicht zu sein, dass Moralisches am Leib nicht-sprachlich ist und sich an ihm demnach auch nicht ablesen lässt. Das Sprechende am Leib der Handschrift und die inneren Bilder zum Ausgangspunkt zu nehmen, erinnert an die Psychoanalyse, mit der Benjamin den Mendelssohn’schen Ansatz, wie erwähnt, hauptsächlich verbindet, aber er erinnert eben - gerade der Begriff der ‚Geste‘, durch die die Schrift determiniert sei, zeigt das an - auch an die Affinitäten des Mendelssohn‘schen Ansatzes zu Bachofen. Anstatt moralische Urteile über den Charakter einer Person mittels der Analyse des sprachlichen Ausdrucks vorzunehmen, wird der ‚Leib‘ der Schrift auf eine Art phylogenetische Dimension bezogen. Mit ihren Spekulationen über die Anfänge der Schrift, die eigentlich einst eine ‚Bilderschrift‘ gewesen sei, geben sich die Mendelssohns Reflexionen über in der Gegenwart verschüttete ‚Ur-Bilder‘ hin, die aber auch eine gewisse Relevanz für die Entwicklung einer individuellen Handschrift hätten. Anja und Georg Mendelssohn legen ihren Fokus nämlich auf die sogenannten „Schriftzonen“. Sie gehen davon aus, dass die Schrift in drei horizontale Zonen eingeteilt werden kann. In die untere Zone reichen die Schleifen der kleinen Buchstaben, etwa der Buchstaben g, f, j etc. Die mittlere Zone wird von den kleinen Buchstaben generell eingenommen, während die obere Zone von den Oberlängen bestimmter Buchstaben (f, l, s etc.), Großbuchstaben und ‚Oberzeichen‘ tangiert wird. Diese Zonen werden nun symbolisch ausgedeutet. Dabei handelt es sich um ein traditionelles ‚Wissen‘, wie die Mendelssohns schreiben: „Schon die ältere Graphologie wollte in der unteren Zone die materielle Welt, in der mittleren die Seele und in der oberen den Geist erblicken. Es ist anzunehmen, daß diese Vorstellung noch aus der Zeit stammt, wo die Graphologie mit der Chiromantie und anderen Geheimwissenschaften verknüpft war.“ 49 Die Mendelssohns sehen diese Auffassung, die die Graphologie noch mit ältesten Geheimlehren verknüpft, in denen Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen dem Kosmos und dem Menschen eine wesentliche Rolle spielten - es sei dabei an Benjamins Texte über die Lehre vom Ähnlichen oder das mimetische Vermögen gedacht -, als „richtig orientiert“, wenn auch als unvollständig an. Auch Ludwig Klages bezieht sich übrigens auf diese drei Schriftzonen, schließlich lassen sie sich ziemlich gut auf die Trias Leib, Seele, Geist übertragen, die seine Philosophie prägt. Für die mittlere Zone zeige er - obwohl die Seele sonst sehr wichtig für ihn ist - wenig Interesse, meinen die Mendelssohns: „[E]s mag sein, daß sein strenger Dualismus 49 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 70, Sperrungen im Original. 6.2. Klages und Mendelssohn 291 und seine Abneigung gegen den Begriff des Unterbewußten hierfür der Grund sind“. 50 Die Mendelssohns hingegen haben, wie man bereits durch die Einschätzung Benjamins weiß, alles andere als eine Abneigung gegen das ‚Unterbewusstsein‘: Wir unsererseits glauben, daß der Wert dieser Zonen und Richtungen durch uralte mythologische Vorstellungen bedingt ist. Diese Anschauung kann heute, nachdem Freud uns gezeigt hat, wieviel Prähistorisches noch in unserer Seele lebt, kein Befremden mehr hervorrufen. Wir suchen also kurz entschlossen bei Bachofen, dem ersten, der auf diese Dinge aufmerksam gemacht hat, nach Aufklärung. Nach Bachofen ist die Erde, der Mutterschoß, für die Vorstellung der Alten mit allem Sexuellen aufs tiefste verbunden. Das Pflügen und Säen ist identisch mit dem Akt der Befruchtung. Die geordnete Ehe erhebt die Geschlechter aus dem Sumpf der regellosen Triebbefriedigung in die lunare Region, über der sich die solare, die Herrschaft der Sonne und des Geistes, ausbreitet. Erde, Mond und Sonne würden unseren drei Schriftzonen entsprechen. In einer modernen Terminologie: das Reich der Sexualität und des Materiellen, die Region des persönlichen Seins, der Seele, vielleicht auch des Unterbewußtseins, und die Region des Geistigen, der Sublimierung. 51 Indem die Mendelssohns, ähnlich wie Klages, auf die Forschungen von Johann Jakob Bachofen zurückgreifen, sind sie in reaktionärer wie auch progressiver Gesellschaft. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war, folgt man Mircea Eliade, eine ‚Sehnsucht nach dem Ursprung‘ immer noch - oder wieder - weit verbreitet. 52 Der Abstieg in ‚tiefste Zonen‘ der Naturgeschichte, der menschlichen Geschichte und auch der Psyche sollte unvordenkliche, archaische Bereiche erhellen, die vorher als unzugänglich galten. 53 Die Sehnsucht nach einer Rekonstruktionsmöglichkeit der menschlichen Geschichte förderte aber nicht nur eine neue Mythenbildung, die einer kulturpessimistischen Gegenwartskritik aus der Perspektive der 50 Ebd., S. 71. 51 Ebd., S. 71 f., Hervorhebungen im Original. 52 Vgl. Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung, Frankfurt am Main 1976. 53 Ebd. S. 73 f.: Man kann die psychoanalytische Methode, wie sie von Freud erarbeitet wurde, nicht besser beschreiben als zu sagen, dass sie ein desensus ad inferos ist, ein Abstieg in die tiefsten und gefährlichsten Zonen der menschlichen Psyche. Als Jung die Existenz des kollektiven Unbewussten enthüllte, erinnerte die Erforschung dieser unvordenklichen Schätze - die Mythen, Symbole und Bilder der archaischen Menschheit - an die Techniken der Ozeanographie und Speläologie. Wie der Abstieg in die Tiefen des Meeres oder die Expeditionen in die Höhlentiefen Elementarorganismen zum Vorschein gebracht hatten, die schon lange von der Oberfläche der Erde verschwunden gewesen waren, brachte die Analyse Formen des tiefen psychischen Lebens an die Oberfläche, die sich vorher einer Erforschung entzogen hatten.“ 6. Graphologie 292 Vergangenheit Vorschub leistete, sie förderte auch utopische Zukunftsentwürfe oder messianische Hoffnungen - die Kosmiker, zu denen auch Ludwig Klages gehörte, und der George-Kreis bezogen sich auf Bachofen. Benjamin bezieht sich in seinen Interpretationen der Schriften Franz Kafkas ebenfalls auf Bachofen. Die Mendelssohns nehmen Ausführungen Bachofens dankbar auf, um damit graphologische Grundannahmen zu bestätigen. So übertragen sie Ausführungen Bachofens über die Gräbersymbolik - wo links für die passive, mütterliche Seite steht, rechts für die männliche, aktive Seite - auf die Schreibbewegung von links nach rechts. Eine schriftgeschichtliche Veränderung wird von ihnen demnach für die Analyse einer Schreibbewegung und die Analyse einer tendenziellen Ausrichtung der individuellen Handschrift fruchtbar gemacht. Bei den Ausführungen der Mendelssohns ist interessant, dass sie nicht bloß behaupten, die Handschrift als ‚Bilderschrift‘ stünde mit der Vorwelt in Verbindung, vielmehr setzen sie die konkreten Zonen der Schrift mit den Gestirnen und mit bestimmten Attributen in eine Beziehung, die jeweils auf die Eigenschaften eines einzelnen Menschen übertragbar sind. Damit schaffen sie eine Korrespondenz zwischen der Handschrift, den Eigenschaften des Menschen und dem Kosmos. Auf die pauschale Beurteilung von Handschriften zugerichtet, klingen diese Übertragungen konkret folgendermaßen: „Es kann als sicher gelten, dass die Bilder sexueller Vorgänge, sexueller Wünsche ihren Ausdruck in den Unterlängen finden. Sie stoßen unter die Zeile, in den Mutterschoß der Erde, in die Welt des Dunklen, des Triebs.“ 54 Die Komplexe und Verdrängungen der Menschen befinden sich logischerweise hauptsächlich in der mittleren Zone der Schrift, da diese mit dem Unbewussten korrespondiert. So wird anhand des Schriftbilds ein Koordinatensystem erstellt, indem die Eigenschaften eines Schreibers mit der Vorwelt und versteckten Trieben verbunden werden - mit den Unterlängen stößt der Schreiber oder die Schreiberin in die Tiefen der ‚Erde‘ oder ‚Vorwelt‘ und gibt den Graphologen Aufschluss über seine bzw. ihre sexuelle Ausrichtung - so wird beispielsweise aus den ‚abgeschnürten‘ Unterlängen von Frauenschriften auf einen ‚Männlichkeitskomplex‘ der Schreibenden geschlossen oder der unbewusste Wunsch abgeleitet, den Mann kastrieren zu wollen (‚verkümmerte Unterlängen‘, die auf Resignation im Sexualleben schließen lassen sollen, ‚vergrößerte Unterschleifen‘ als Kompensationsversuche und nach rechts gerichtete, ‚druckstarke Querstriche‘ bei einer Frauenschrift verleiten die Mendelssohns tatsächlich dazu, die Diagnose ‚Haustyrannei‘ aufzustellen). Wenn die Unterlängen in die Materie oder Erde vorstoßen, muss die Zeile für die Mendelssohns also den Erdboden darstellen. Wenn also sogar 54 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 73. 6.2. Klages und Mendelssohn 293 die (unsichtbare) Zeile symbolisch gedeutet werden kann, geschieht dasselbe freilich mit den Buchstaben. Diese lassen sich gar in bildliche Darstellungen von ‚Körpern‘ zurückverwandeln: Die Buchstaben stehen seit einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung, wie wir gesehen haben, auf der Zeile, wie ihre Urbilder, Menschen, Tiere und Dinge auf dem Erdboden standen. Man darf sich durch die Tatsache der unter die Erdoberfläche stoßenden Unterlängen nicht davon abhalten lassen, die Beine auf der Zeile zu suchen, wenn man sich Buchstaben in körperliche Darstellungen zurückverwandelt. Auf gleicher Höhe, daneben, können in anderen Buchstaben Kopf, Auge, Mund, Hand stehen, ebenso wie in der frühen Kinderzeichnung, die eine Zusammenordnung und Proportionierung von Körperteilen noch nicht kennt[.] 55 Die Mendelssohns bringen immer wieder Bilder ins Spiel, in diesem Fall ‚Urbilder‘. Das mag vielleicht damit zusammenhängen, dass beide bei Klages studiert hatten und Anja Mendelssohn stark von C. G. Jung geprägt war. Nichtdestotrotz finden sich bei ihnen relativ plastische Vergleiche zur anthropomorphen Gestalt der Buchstaben oder Vergleiche zu Kinderzeichnungen, die gut zu Benjamins eigenen Ausführungen passen. Besonders interessant - Benjamin sagt ‚bedeutungsvoll‘ - in ihrem Buch über den Menschen in der Handschrift ist das Kapitel über die ‚Kubische Graphologie‘. Dort wird deutlich, dass die Mendelssohns von einem ziemlich traditionellen Bildbegriff und vom ‚Bilden‘ ausgehen. 56 Für sie ist unbestreitbar, dass der Mensch ein Bedürfnis nach plastischen Bildern habe und dass die Schrift für viele Leute das einzige Mittel geblieben sei, um diesem bildnerischen Trieb Ausdruck verleihen zu können. Deshalb meinen sie auch, dass die Schrift und die Schreibbewegung gar nicht so sehr an die Ebene gebunden seien. Die Schrift stelle vielmehr ein räumliches Gebilde dar, da eine Schreibfeder zwischen zwei Worten ja eine kleine Strecke in der Luft zurücklege. Eine weitere Besonderheit ihrer Annahme, dass die Schrift nicht an die Ebene gebunden sei, besteht des Weiteren darin, dass sie auch behaupten, die Feder dränge hinter die Schreibfläche zurück: Dieses Vorstoßen haben wir im Druck. Es wird erzeugt durch eine Bewegung der Feder, die unleugbar in die Richtung hinter das Papier zielt. Das 55 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 76. 56 Damit argumentieren sie auf einer anthropologischen Schiene, die auch in aktuellen Bild-Debatten noch eine Rolle spielt. Vgl. etwa Hans Jonas, Homo Pictor. Von der Freiheit des Bildens, in: Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild? , München 1994, S. 105-124. 6. Graphologie 294 Papier setzt dieser Bewegung Widerstand entgegen […], die Feder spaltet sich, und es entsteht in der Schrift das, was wir eben als Druck kennen. 57 Mit dieser Bewertung des Drucks als eines Vorstoßens in einen dreidimensionalen Raum trotz seiner Bindung an die Fläche des Papiers, erhalten die Mendelssohns eine neue Ebene der Schrift, die sie als ‚Tiefen‘-Dimension charakterisieren. Durch diese zusätzliche Dimension gewinnen sie nun in Kombination mit den alten Zonen - den drei horizontalen Streifen, der Rechts-Links-Einteilung - zwölf Kuben. Die Schrift wird so zu einem räumlichen Gebilde, in dem die Eigenschaften eines Schreibers plastisch - wie ein dreidimensionales Bild - sichtbar sein sollen. Man könnte hier von einem veritablen Leib- und Bildraum sprechen, der sich alleine aufgrund bestimmter Eigenschaften der Handschrift auftut. Diesen Einfall entnehmen sie, wie sie selbst schreiben, einer Arbeit von Magdalene Ivanovic, die die Vorstellung verfolgt, mithilfe „winziger Zeichen am Ende eines Striches und am Anfang des nächsten den Start und die Landung der Federbewegung festzustellen“, aufgrund der, mit einem Terminus von Ivanovic, ‚immaterielle Kurven‘ hätten nachgezeichnet werden sollen. 58 Ivanovic hat den Anspruch, den Strich der Feder beinahe mathematisch zu zerlegen. Sie schreibt: Wenn wir nun die Züge einer Handschrift graphologisch untersuchen, so müssen wir uns in die Bewegungen der Feder zurückversetzen, die sie entstehen ließen und müssen das komplizierte Gebilde dieser Bewegungen in seine einzelnen Teile auflösen und sie ordnen. Da entdecken wir allerlei geometrische Figuren: Kurven, gerade und schiefe Linien, rechte, stumpfe und spitze Winkel usw.; denn die Natur wirkt - wie überall - so auch in der Handschrift nach geometrischen Linien und - wie sich später zeigen wird - nach mathematischen Gesetzen. 59 Auch Ivanovic spricht übrigens, wenn es um die Graphologie überhaupt und um Eindrücke geht, die eine Handschrift vermittelt - hier ist sie wohl von Klages geprägt - von Bildern. Sie sagt, dass die „Kurven, Linien und Winkel“ der Handschrift nicht nur etwas Formelles seien, „sondern ein Bild, eine Ausdrucksbewegung, ein Symbol dessen, was innerlich vorhanden“ sei. 60 Außerdem spricht sie davon, dass die „Bilder der Handschrift [….] - wie alle Mienen und Gesten - eine Form unserer Gedanken und 57 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 85. 58 Ebd., S. 87. 59 Vgl. Magdalene Ivanovic (Magdalene Thumm-Kintzel), Die Gesetze der modernen Graphologie, zweite, von der Verfasserin verbesserte und erweiterte Auflage, Prien 1920, S. 4. 60 Ebd., S. 5. 6.2. Klages und Mendelssohn 295 Empfindungen [seien], eine Form zwar klein, unscheinbar, anspruchslos, aber doch etwas in sich tragend von jener Kraft, die sie prägte.“ 61 Ganz so mathematisch, wie sie immer wieder suggeriert, ist der Ansatz von Ivanovic nicht. Was man ihr jedoch nicht absprechen kann, ist ein Hang zum Systematischen. So liegen ihrem Buch über die Gesetze der Graphologie mehrere Tabellen bei, die idealtypische Beispiele für 184 verschieden ausgeprägte Kurven, Linien und Winkel diverser Buchstaben anführen, die sich kombinieren lassen. Auch wenn Ivanovic ebenfalls von ‚Bildern‘ spricht, so ist doch die Rekonstruktion der „flachen Schrift in ein räumliches Gebilde“ ein Verdienst, das Anja Mendelssohn für sich beansprucht, trotz der Nähe zu Ivanovics Ansatz. 62 Was heisst es aber, den dreidimensionalen Raum der Schrift zu berücksichtigen. Anja Mendelssohn gibt ein Beispiel: In seiner berühmten Analyse des Bismarckschen Namenszugs sah Michon im Schlußzug des k einen Säbelhieb. Bismarck war aber ein zu guter Fechter, um jemals so nach unten zu schlagen. Wenn wir diesen Zug nach unserer jetzt gewonnen Einsicht in den Raum projizieren, geht er genau dorthin, wo der Gegner des Fechters gestanden hat und wird erst wirklich das, was Michon trotz der Ablenkung durch das Papier sah: ein Säbelhieb. 63 Nicht Michon irrt sich also in seiner Analyse, indem er etwas tollkühn einen Namenszug mit einem Klischee - der selbst im Schreiben mit dem Säbel hantierende Politiker - verbindet, dank der auf den dreidimensionalen Raum angewandten Analysemethode Anja Mendelssohns behält Michon am Ende recht. Letztlich will es häufig so scheinen, dass eine unbestimmte, aber umso umstrittenere Kraft mittels solcher theoretischer Konstruktionen gerechtfertigt werden soll. Die Rede ist von dem, was im Jargon der Graphologen auch ‚Intuition‘ heißt. Und in diesem Zusammenhang taucht eine etwas merkwürdig anmutende Figur auf, die möglicherweise der Idee vom dreidimensionalen Schriftraum Pate gestanden haben könnte, ein esoterischer Graphologe namens Rafael Schermann: Der intuitive Mensch sieht Bilder. Er sieht sie zugleich räumlich. Er vermag den Sprachrhythmus und den Dialekt des Schreibenden zu hören. Er spürt den Herzschlag aus dem Zucken der Buchstaben und er sieht den Zustand des Schreibers nicht als abgezogenen Begriff, etwa als Depressionen, körperliche Müdigkeit, sondern er sieht einen Menschen, der den Kopf in die Hände stützt. Die Bilder und Menschen fangen an, sich zu bewegen, nach 61 Vgl. Magdalene Ivanovic (Magdalene Thumm-Kintzel), Die Gesetze der modernen Graphologie, S. 6. 62 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 87. 63 Ebd., S. 89 f. 6. Graphologie 296 rechts und links, in Vergangenheit und Zukunft. ‚Wenn ich eine Schrift ansehe, lösen sich die Buchstaben, das Blatt Papier wird mir zum Spiegel, darin ich Figuren erscheinen und sich bewegen sehe wie auf einem Film‘ (Rafael Schermann). Die Symbolik der Handschrift wird dem Intuitiven zur Wirklichkeit. 64 Auch wenn Anja und Georg Mendelssohn Rafael Schermann gegenüber kritisch eingestellt sind und nicht das Gefühl haben, er habe - wie er selbst suggeriert - tatsächlich telepathische Fähigkeiten, anerkennen sie doch seine ‚Intuition‘. Schermann ist für sie auf dem Gebiet der Graphologie ein Konkurrent. Und in Sachen ‚Intuition‘ ist er ihnen im Grunde voraus. Trotz ihrer Auffassung, dass die ‚Wissenschaft‘ einen adäquateren Zugang zur Analyse der Handschriften bietet, anerkennen sie die Wichtigkeit der ‚Intuition‘. Schermann bedroht die Wissenschaftlichkeit der Disziplin, deshalb geht unter anderem auch Saudek eher kritisch mit Schermann um. Anja Mendelssohn schreibt in ihrem Vorwort mit Blick auf die Bildlichkeit der Schrift selbstbewusst: „Wir sehen, daß der Intuitive hier voraneilt, aber wir halten es für möglich, ihn einzuholen! “ 65 Schermanns Erkenntnisse sollten deshalb wissenschaftlich eingeordnet werden. Wenn Schermann im Schriftbild Gestalten vernehmen zu können vorgibt, führen Anja und Georg Mendelssohn das auf den Umstand zurück, dass die Buchstabenschrift, wie weiter oben festgehalten, einst in ihren ‚Anfängen‘ eine Bilderschrift gewesen sei. 66 Dass damit nicht gemeint sein kann, dass es vor der Buchstabenschrift eine Bilderschrift gegeben haben könnte wie etwa eine Hieroglyphenschrift, sollte nun klar geworden sein. Außerdem - und das schließt an die Auffassung auch der modernen Schrift als ‚Bilderschrift‘ an - nutzen die Mendelssohns Schermanns ‚seherische‘ Fähigkeiten, etwa die Fähigkeit, aus der Unterschrift eines Kunstfliegers einen Propeller und ein Flugzeug herauszulesen, um ihre Theorie der Dreidimensionalität der Schrift zu untermauern: „Auch seine Rekonstruktionen von Handschriften sind ohne kubisches Empfinden der Schrift undenkbar. Für ihn sind Schreiben auf der Fläche und Sich-Bewegen im Raum nicht zwei so grundverschiedene Dinge - sie liegen nahe beieinander, wenn man beide als dreidimensional verlaufend sieht.“ 67 Schermann bleibt zwar ein Esoteriker, seine ‚intuitiven‘ Einsichten jedoch werden in das ‚System‘, wie die Mendelssohns am Anfang ihres Buches schreiben, integriert. Schermann passt in die Theorie der Bilderschrift. Auch Benjamin sieht das so. Er versucht aber - und in diesem Sinne ist er 64 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 96. 65 Ebd., S. 5. 66 Ebd., S. 11. 67 Ebd., S. 93. 6.3. Schermann und Freud 297 ‚unwissenschaftlicher‘ als die Mendelssohns - nochmals die Telepathie ins Spiel zu bringen, die die Mendelssohns gerade ausschließen wollten: Ob der kubische Bildraum der Schrift ein mikrokosmisches Abbild des Erscheinungsraums der Hellsicht ist? Ob in ihm die telepathischen Schriftdeuter wie Rafael Schermann ihre Aufschlüsse holen? Jedenfalls eröffnet die Theorie vom kubischen Schriftbild die Aussicht, eines Tages die Handschriftendeutung der Erforschung telepathischer Vorgänge dienstbar zu machen. (GS III, 139) Benjamin driftet an dieser Stelle, zwar in Möglichkeits- oder Frageform, ins Esoterische ab. Mit einiger Begeisterung endet denn auch die Rezension des Buchs. „Wer zu sehen versteht wie sie“, schreibt er, „für den ist jeder Fetzen beschriebenen Papiers ein Freibillet fürs große Welttheater“ (GS III, 139). Dem ‚Sehenden‘ zeige sich „die Pantomime des ganzen Menschenwesens und Menschenlebens in hunderttausendfacher Verkleinerung“. Diese Sätze drücken nochmals einen gewissen Enthusiasmus für die Graphologie und Schermann aus und muten etwas seltsam an. Aber Benjamin ist nicht der Einzige, der sich zu Schermann äußert. Neben Saudek und Mendelssohn fühlte sich auch Sigmund Freud genötigt, sich zu Schermann und dem Problem der Telepathie zu äußern. In diesem Zusammenhang soll das kurz rekonstruiert werden, weil Benjamin wiederum in einem Aufsatz Freuds auf das Phänomen der Telepathie gestoßen ist. 6.3. Schermann und Freud Rafael Schermann scheint auf seine Zeitgenossen Eindruck gemacht zu haben. Freud selbst hat zu Schermann ein ambivalentes Verhältnis, suggeriert mittels einer amüsanten Anekdote über eine Schriftprobe seiner selbst, die Schermann ohne dessen Wissen vorgelegt wurden, auch Scharlatanerie: Er [R. Schermann] soll nicht nur im Stande sein, zu einer Schriftprobe den Charakter der Person zu ergänzen, sondern auch ihre Beschreibung dazu zu geben und Vorhersagen daran zu knüpfen, die später vom Schicksal bestätigt werden. Viele dieser merkwürdigen Kunststücke beruhen allerdings auf seinen eigenen Erzählungen. Ein Freund hat einmal ohne mein Vorwissen den Versuch gemacht, ihn über eine Schriftprobe von mir phantasieren zu lassen. Er brachte nur heraus, dass die Schrift von einem alten Herrn herrührt - leicht zu erraten -, mit dem sich schwer leben lässt, weil er ein unausstehlicher Haustyrann ist. Dies würden nun meine Hausgenossen 6. Graphologie 298 kaum bestätigen. Aber bekanntlich gilt auf okkultem Gebiet der bequeme Grundsatz, dass negative Fälle nichts beweisen. 68 Freud scheint aber dennoch an eine Art von Telepathie zu glauben, denn er führt mehrere Beispiele an, in denen seinen Patienten von Wahrsagern Prophezeiungen gemacht wurden, die insgeheim, so Freud, eigentlich nur ihren unbewussten Wünschen Ausdruck verschafften: „Es gibt Gedankenübertragung. Der astrologischen Arbeit der Wahrsagerin fiele dabei die Rolle einer Tätigkeit zu, welche ihre eigenen psychischen Kräfte ablenkt, in harmloser Weise beschäftigt, so dass sie aufnahmsfähig und durchlässig für die auf sie wirkenden Gedanken des Anderen, ein richtiges ‚Medium‘, werden kann.“ 69 Freud geht es nur um diesen Punkt. Er meint, die unbe- 68 Vgl. Sigmund Freud, Psychoanalyse und Telepathie, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 17, Schriften aus dem Nachlass 1892-1938, Frankfurt am Main 1999, 26-44, hier S. 41. Dieser Text von Sigmund Freud war Benjamin vielleicht nicht bekannt, jedoch lernte er 1935 einen anderen Text Freuds über die Telepathie kennen („Zum Problem der Telepathie“, in: Adolf Josef Storfer (Hrsg.): Almanach der Psychoanalyse, Wien 1934, S. 9-34), während er das Buch der Mendelssohns schon 1928 rezipiert. Festzuhalten ist, dass auch in dem Freud-Text, den Benjamin kennt, von Schermann die Rede ist, er wird nur nicht namentlich genannt, sondern fungiert als ‚Schriftkundiger‘. Benjamin interessiert am Freud-Text die Rolle der Telepathie im Allgemeinen, die er in den Zusammenhang seiner Überlegungen über das mimetische Vermögen einbettet und die letztlich wiederum in seinem Sammelreferat zur Sprachsoziologie auftauchen. An Gretel Adorno schreibt er: „Im Verlauf seiner Überlegungen nämlich konstruiert Freud - im Vorübergehen, wie er oft die größten Gedanken aufnimmt - einen Zusammenhang zwischen Telepathie und Sprache, indem er die erstere als Mittel der Verständigung - er weist erläuternd auf den Insektenstaat hin, der ohne Verständigung nicht existieren kann - phylogenetisch zur Vorläuferin der zweiten macht. Hier finde ich Gedanken wieder, die entscheidend in einem kleinen Entwurf aus Ibiza - ‚Über das mimetische Vermögen‘ - behandelt sind.“ (GB V, 172) Ein Exzerpt des Freud-Textes bzw. der Stelle, die Benjamin besonders interessiert, findet sich in GS II, 958. 69 Ebd., S. 35. Vgl. auch die Stelle in „Zum Problem der Telepathie“ (in: Adolf Josef Storfer (Hrsg.): Almanach der Psychoanalyse, Wien 1934, S. 30), wo Freud sich mit Schermann auseinandersetzt, ohne ihn zu nennen. Es geht um einen Fall, in dem Schermann die Handschrift eines Klienten von Freud deutet, der eine ‚Lebedame‘, mit der er eine Liebesbeziehung unterhält, mit Worten verhöhnt. Freud deutet dies als Ersatzhandlung für seine von einer Geliebten einst verschmähten Liebe. Ein Gutachten Schermanns zur Handschrift dieser ‚Lebedame‘ entblößt nach Freud den unbewussten Wunsch seines Klienten nach einer stellvertretenden Rache an der einstigen Geliebten, die ihn zurückgewiesen hat: „Ich bin kein Schriftenkenner und halte nicht viel von der Kunst, aus der Schrift den Charakter zu erraten, noch weniger glaube ich an die Möglichkeit, auf diesem Wege die Zukunft des Schreibers vorherzusagen. Sie sehen aber, wie immer man über den Wert der Graphologie denken mag, es ist unverkennbar, daß der Sachverständige, wenn er versprach, daß der Schreiber der ihm vorgelegten Probe sich in den nächsten Tagen umbringen werde, wiederum nur einen starken geheimen Wunsch der ihn befragenden Person ans Licht gezogen hatte.“ 6.3. Schermann und Freud 299 wussten Wünsche desjenigen, der sich von einem Wahrsager beraten lässt, würden in der Wahrsagerei zum Ausdruck gebracht. Auch bei Schermann sieht er einen solchen Mechanismus im Gange: „Sie haben verstanden, in welchem Sinn ich diese meine Erfahrungen mit Schermann deuten möchte. Sie sehen, dass all mein Material den einzigen Punkt der Gedankeninduktion behandelt, über all die anderen Wunder, die der Okkultismus behauptet, habe ich nichts zu sagen.“ 70 Etwas seltsam mutet diese Erklärung trotzdem an. Wie genau diese ‚Gedankeninduktion‘ funktionieren soll, von der er spricht, beschreibt Freud nicht wirklich. Das Kuriose ist, dass Schermann nicht nur aus den Handschriften Dinge liest, also aus einer Handschrift etwas Abwesendes erfassen kann, sondern, dass er auch durch einen bloßen Blick auf eine anwesende Person ihre Handschrift, ohne sie jemals gesehen zu haben, zu reproduzieren vermag. Bild und Schrift verschmelzen bei Schermann. Das Bild der Schrift ermöglicht es ihm nicht nur, Dinge zu sehen, die den Charakter einer Person betreffen. Schermann gibt auch vor, die Zukunft einer Person, also Ereignisse, die der Person widerfahren werden, oder auch Handlungen, die sie vollziehen wird, durch das Schriftbild sehen zu können. Andererseits verschafft ihm, wie erwähnt, das Bild einer Person einen Eindruck über ihr potentielles Schriftbild, das er - ohne die betreffende Handschrift angeblich gesehen zu haben - von sich aus abbildhaft, mit einiger Ähnlichkeit, wiedergeben kann. Ob er das wirklich kann, lässt sich anhand der Proben in seinem Buch nicht beurteilen - der Leser muss ihm glauben, dass er die zu reproduzierende Schrift noch nie vorher gesehen hat. Schermann lässt den Leser sowieso über seine Kriterien der Deutung im Unklaren, bei ihm ist hauptsächlich von der ‚Intuition‘ die Rede. Es gibt bei ihm jedoch im Gegensatz zu den Mendelssohns keine Bestrebungen, diese zu systematisieren. Seine Erlebnisse sind deshalb auch sehr autobiographisch wiedergegeben, er scheut sich nicht, von Ermüdungszuständen zu sprechen, die ihn heimsuchen, wenn wieder einmal zu viele Experimente mit ihm durchgeführt wurden, um seine übernatürlichen Fähigkeiten zu erforschen. Die in seinem Buch „Die Schrift lügt nicht! “ erzählten Anekdoten und Proben seines Könnens dienen häufig nur dazu, seine übersinnlichen Fähigkeiten zu unterstreichen: Ich erinnere mich einer Begebenheit aus meiner Jugend, als ich in der Realschule bei einem Kollegen die Schrift seines Vaters sah, Der Anblick der Schrift vermittelte mit das Bild eines im wilden Galopp dahersprengenden Reiters. Als ich dies meinem Schulfreunde mitteilte, bestätigte er mir, daß er 70 Vgl. Sigmund Freud, Psychoanalyse und Telepathie, S. 43. 6. Graphologie 300 sich tatsächlich mit seinem Vater niemals auszureiten getraue, da dieser sein Pferd sofort zu schärfster Gangart antreibe. 71 Bereits zu seiner Schulzeit hatte Schermann also graphologische Fähigkeiten, zu einer Zeit, in der er von der ‚wissenschaftlichen‘ Graphologie noch kaum Ahnung haben konnte. Zumindest suggeriert er selbst immer wieder, dass seine ‚Gabe‘ nichts mit der erlernbaren Form der Graphologie zu tun hat. Ein weiteres, immer wieder variiertes Beispiel, um seine ‚seherischen‘ Fähigkeiten auszuweisen, ist die Vorherschau künftiger Ereignisse, etwa eines Selbstmords. Mit einer gewissen Dramatik schildert er: „Wenn man unterhalb des Vornamens eine gerade Linie zieht, verschwindet der Zuname, man sieht ihn nicht mehr, er ist schon ‚unten‘. Tatsächlich hat die Frau zwei Monate nach Absendung dieser Karte Selbstmord begangen.“ 72 Das ist gewiss Effekthascherei und soll den Leser - der übrigens mit einem fotografischen Porträt Schermanns vertraut ist, auf dem dieser einen stechenden Blick präsentiert - wohl von der Übersinnlichkeit der Schermannschen Fähigkeiten überzeugen. Um dennoch nicht vollkommen esoterisch zu erscheinen, führt Schermann nicht nur immer wieder ‚wissenschaftliche‘ Experimente an, denen er sich selber unterzogen hat, er versucht auch, sein eigenes Verfahren ‚wissenschaftlich‘ zu nobilitieren, indem er seiner Methode der Handschriftendeutung den Namen ‚Psychographologie‘ verleiht: Um nur z.B. primitivste Äußerungen zu nehmen: ein Lachen oder Weinen in der Schrift fühlen und sehen zu können, führt bereits in das Neuland der Psychographologie. Ihr Weg geht immer über das Erfassen der ganzen Seele des Menschen, die sich mit untrüglichen Zeichen in die Schrift verwebt. Mit Gesetzen lassen sich die Tiefen der Seele nicht ausschöpfen. Zu ihnen muß die Intuition ergänzend hinzutreten. 73 Auch wenn diese Sätze in ihrer Exzentrik harmlos anmuten mögen und der Begriff der ‚Intuition‘ dem ganzen Unterfangen einen zwanglosen Anstrich verleiht, so darf man nicht unterschätzen, was für Folgen dieser Versuch, die ‚ganze Seele des Menschen‘ über das Schriftbild zu erfassen, gehabt haben mochte. So schildert nämlich Schermann in seinem Buch, wie er Leute in einer öffentlichen Veranstaltung des Ehebruchs überführt habe oder wie er für die Polizei mittels seiner Psychographologie Verbrecher zu Geständnissen bringen konnte. Die Graphologie ist - gerade weil sie auf relativ tönernen Füssen steht - in gewissen Anwendungsbereichen mehr als ein Scherz. 71 Vgl. Rafael Schermann, Die Schrift lügt nicht! Erlebnisse von Rafael Schermann, Berlin 1929, S. 6 f. 72 Ebd., S. 23. 73 Ebd., S. 28, Sperrungen im Original. 6.3. Schermann und Freud 301 Gerade auch die Bestrebungen, sie ‚wissenschaftlicher‘ zu machen, machen sie nicht harmloser. Nüchtern betrachtet sagt Schermann aber überaus deutlich, dass man die ‚Tiefen der Seelen‘ mit Gesetzen nicht ausschöpfen könne. Es brauche sie zwar, durch ihre Degradation und die Ausrichtung seiner Psychographologie auf seine Person kann er seinen Ansatz jedoch auch nie gegen - berechtigte - Zweifel verteidigen. Damit steht er gewiss in einem Gegensatz zu Graphologinnen und Graphologen, die um Wissenschaftlichkeit bemüht sind. Aber auch diese treffen sich, trotz ihrer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit, in bestimmten Auffassungen und Grundannahmen mit Schermann. 74 Gerade das Moment der ‚Intuition‘ etwa bekommen auch sie nicht weg. Deshalb hatte es die Graphologie wohl schwer, einer gewissenhaften Prüfung ihrer Methoden und Ergebnisse standzuhalten. Was aber gerade am Beispiel Schermanns besonders deutlich wird, an einem ‚unwissenschaftlichen‘ Vertreter der Graphologen, ist die Affinität der Graphologie zu Bildern und einer Art Mimesis oder mimetischen Vermögens. Der dreidimensionale Schriftraum spannt den Raum einer plastischen Kommunikationsmöglichkeit auf, die das rein Sprachliche, das mit der Schrift verbunden wird, übersteigt. Die Graphologie führt die Schrift als Teil der Sprache auf etwas vermeintlich Konkretes zurück, auf eine konkrete Bildlichkeit, die einen Schreiber und seinen Charakter oder seine Triebe als Ganzes plastisch vor Augen führen soll und die menschlichen Grundemotionen wie Lachen und Weinen und ihr mimischer Ausdruck deutlich übersteigen. Dieser Art von ‚archaischer‘ Bildlichkeit, wenn man so will, entspricht auch die Telepathie, von der Benjamin am Ende seiner Mendelssohn-Rezension spricht, und die bei Schermanns psychographologischen Lektüren präsent ist, handelt es sich doch um eine Kommunikationsweise, die nicht auf einen als abstrakt verstandenen sprachlichen Ausdruck angewiesen ist. Aus dem Aufsatz Sigmund Freuds mit dem Titel „Zum Problem der Telepathie“ hat Benjamin ein relativ großes Stück exzerpiert. Dieses Stück betrifft das Verhältnis von Sprache und Telepathie, das Freud, „im Vorübergehen, wie er oft die größten Gedanken“ aufnehme (GB V, 172), in seinem Aufsatz als Abschweifung - und nicht als Gewissheit - skizziert: Gewöhnt man sich erst an die Vorstellung der Telepathie, so kann man mit ihr viel ausrichten, allerdings vorläufig nur in der Phantasie. Man weiß bekanntlich nicht, wie der Gesamtwille in den großen Insektenstaaten zustande kommt. Möglicherweise geschieht es auf dem Wege solch direkter psychischer Übertragung. Man wird auf die Vermutung geführt, daß dies der 74 Man denke etwa nochmals an Magdalena Ivanovic und ihre quasi-mathematische Zerlegung des Federstrichs einerseits und an ihre Rede von den Bildern andererseits. 6. Graphologie 302 ursprüngliche, archaische Weg der Verständigung unter den Einzelwesen ist, der im Lauf der phylogenetischen Entwicklung durch die bessere Methode der Mitteilung mit Hilfe von Zeichen zurückgedrängt wird, die man mit den Sinnesorganen aufnimmt. Aber die ältere Methode könnte im Hintergrund erhalten bleiben und sich unter gewissen Bedingungen noch durchsetzen, z.B. auch in leidenschaftlich erregten Massen. Das ist alles noch unsicher und voll von ungelösten Rätseln, aber er ist kein Grund zum Erschrecken. (GS II, 958) 75 Nimmt man diese Spekulation ernst, so könnte man aus ihr auch von Freud ein Zugeständnis an das Vorhandensein eines rudimentären Rests telepathischer Kommunikationsmöglichkeiten in der Sprache ablesen. Dass Benjamin diesen Gedanken ziemlich apart findet, zeigt dieses lange Exzerpt, das die Herausgeber der Gesammelten Schriften im Umkreis der Materialien oder Studien zum mimetischen Vermögen veröffentlicht haben. Es ist auch ziemlich offensichtlich, was Benjamin an dieser Beobachtung Freuds interessiert. Es ist der Verweis auf eine Sphäre der Kommunikation oder Sprache, die phylogenetisch noch vor die Zeichensprache zu stellen wäre, die aber nach wie vor latent präsent ist - und sich gar unter gewissen Umständen manifestieren könnte. Dabei wird aber diese vor-zeichensprachliche Form der Kommunikation, die man mit dem Bild oder dem Bildlichen in Verbindung bringen könnte - zumindest die Graphologie legt diese Verbindung nahe -, nicht dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung zugerechnet, sondern einer eher ‚geistigen‘ Dimension. Die ‚Zeichen‘ werden laut Freud mit den ‚Sinnesorganen‘ aufgenommen, nicht aber telepathisch vermittelbare Informationen. Freud spricht in diesem Kontext von ‚direkter psychischer Übertragung‘. Benjamin scheint mit seiner Frage, ob das ‚kubische Schriftbild‘ es dereinst ermöglichte, die „Handschriftendeutung der Erforschung telepathischer Vorgänge dienstbar zu machen“ (GS III, 139), auch in diese Richtung zu gehen. Die Argumentationsstruktur bei Freud, die eine archaische Kommunikationsform an der Schnittstelle von Sprache und Bild, die verschüttet wurde, mit der Spekulation verknüpft, dass sie in gewissen aktuellen Situationen - etwa im Phänomen der ‚leidenschaftlich erregten Masse‘ - durchbrechen könnte, kommt den Thesen, auf die man bei Benjamin immer wieder stößt, entgegen. Die leidenschaftlich erregte Masse taucht in diesem Kontext überraschend auf; Massenpsychologie oder die Psychologie eines Ameisenhaufens sind von Freud, wenn man den Rest des Aufsat- 75 Benjamin exzerpiert diese Stelle wortgetreu aus dem Aufsatz Freuds im Almanach der Psychoanalyse, herausgegeben von Adolf Josef Storfer, Wien 1934, S. 32 f. 6.3. Schermann und Freud 303 zes kennt, nicht unbedingt zu erwarten. Eigentlich kommt er in seinem Aufsatz oder Vortrag eher auf eine ontogenetische Ebene zu sprechen. Freud schildert den Fall einer Mutter, die bei ihm in Analyse ist und von einem Goldstück spricht, das in ihrer Kindheit eine Rolle gespielt haben soll. Nach der Sitzung wieder zu Hause bringt ihr ihr Kind eine Goldmünze, das es vor einigen Monaten zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Sie solle die Münze für das Kind aufbewahren. Freud wertet diese Begebenheit nun als Gedankenübertragung zwischen Mutter und Kind. Denn eine „Analyse des Kindes“ hätte „keinen Aufschluß“ gebracht, „die Handlung“ habe „ sich wie ein Fremdkörper in das Leben des Kindes an jenem Tage gedrängt“. 76 So richtig überzeugend will diese Analyse zwar nicht erscheinen und so richtig scheint Freud diese Szene auch nicht erklären zu können. Aber er nutzt sie, um nochmals Spekulationen über die Telepathie als Moment der Ontogenese anzustellen: Wenn es eine Telepathie als realen Vorgang gibt, so kann man trotz ihrer schweren Erweisbarkeit vermuten, daß sie ein recht häufiges Phänomen ist. Es würde unseren Erwartungen entsprechen, wenn wir sie gerade im Seelenleben des Kindes aufzeigen könnten. Man wird da an die häufige Angstvorstellung der Kinder erinnert, daß die Eltern alle ihre Gedanken kennen, ohne daß sie sie ihnen mitgeteilt hätten, das volle Gegenstück und vielleicht die Quelle des Glaubens Erwachsener an die Allwissenheit Gottes. 77 Freud verquickt in diesen zwei Zeilen ein Phänomen der Ontogenese, nämlich jenes, dass Kinder das Gefühl hätten, die Eltern kennten ihre Gedanken, mit einem Phänomen, das nicht unbedingt zur Ontogenese gehört, dem Glauben Erwachsener an die Allwissenheit Gottes. Ein Phänomen wie die Religion greift über die Individualpsychologie hinaus auf eine Dimension, die sich eher mit dem Kollektiv und der Phylogenese verbinden lässt. Deshalb erstaunt es nicht, dass Benjamin in seinem Brief an Gretel Adorno schreibt, dass er in den kurzen Passagen bei Freud „Gedanken wieder[finde], die entscheidend in einem kleinen Entwurf aus Ibiza - ‚Über das mimetische Vermögen‘ - behandelt“ seien (GB V, 172). Denn obwohl es dort nicht unbedingt um Telepathie geht, so geht es doch um Verhältnisse von Sprachlichkeit und Bildlichkeit und einer Form von Kommunikation, die einer präsemiotischen Logik zu gehorchen scheint. 76 Vgl. Sigmund Freud, Zum Problem der Telepathie, S. 34. 77 Ebd., S. 33. 6. Graphologie 304 6.4. Von der Mimesis zur Schrift Die Argumentationen von Freud und Benjamin gleichen sich durchaus. Man vergegenwärtige sich, dass Benjamin etwa in seiner Notiz „Zur ‚Lampe’“ davon spricht, dass die „Gabe der Mimesis, die der Menschheit in ihren frühen Zeiten eigen war […] heute nur noch im Kinde ungebrochen wirk[e]“ (GS VII, 792). Auch Benjamin bemüht eine argumentative Strategie, die etwas, das dem Erwachsenen wie auch dem zeitgenössischen Menschen über direkte Wege der Erkenntnis oder der sprachlichen Vermittlung nicht mehr zugänglich ist, als noch immer (verborgen) ‚Wirkendes‘ herausstellt. Beide, Benjamin wie Freud, bemühen in ihren Thesen phylogenetische und ontogenetische Entwicklungen. Die Bewegung oder die Verlagerung, die bei dieser ‚Entwicklung‘, wenn es denn tatsächlich eine ist, stattfindet, ist jeweils gar nicht so einfach auf die verschiedenen ästhetischen Bereiche und physischen Vermögen aufzuteilen. Ob etwa eine Verschiebung vom Sinnlichen, Konkreten, Bildlichen hin zum Geistigen, Abstrakten, Sprachlichen vonstattengeht, lässt sich nicht ohne weiteres behaupten. Solche Verschiebungen dürften wohl kaum einseitig stattfinden. Wenn der Mensch in archaischen Zeiten imstande gewesen zu sein scheint, Phänomene, die heute abstrakt oder symbolisch erfasst werden, sinnlich wahrzunehmen, so wie er imstande gewesen sein soll, telepathisch oder geistig zu kommunizieren, wo heute - selbst bei der semiotischen Sprache - immer eine sinnliche Dimension (Laute, Zeichen) in einer Kommunikationssituation als Vermittelndes mitwirkt, so darf bezweifelt werden, dass es nicht auch umgekehrte Verhaltens- und Kommunikationsweisen gegeben haben dürfte. Sie sind letztlich der Ausgangspunkt für Spekulationen in der Art, wie sie Freud und Benjamin anstellen. Das, was eins war, lässt sich nämlich unter den Bedingungen der verschobenen Wahrnehmungs- und Ausdrucksdisposition, die von Freud und Benjamin behauptet wird, eigentlich nicht mehr unmittelbar nachvollziehen. Nichtsdestotrotz ist es interessant, dass gerade der Bereich der Sprache, um den es in diesem Kapitel hauptsächlich ging, zu einem Kommunikationsmittel wird, das auf diese eigentlich komplexe und kontraintuitive Weise Zugang zur archaischen Bilderwelt gewähren soll. Denn die Schrift zeichnet sich ja, wie Benjamin in seinen Texten zum mimetischen Vermögen selbst schreibt, durch eine gewisse Abstraktheit aus. Die Schrift, die wir verwenden, gründet auf arbiträren Zeichen. Diese Arbitrarität wird freilich mit der These, dass unsere Buchstabenschrift einst eine Bilderschrift gewesen sei, grundsätzlich in Frage gestellt. Angewandt werden kann die These von der Bilderschrift, wie wir gesehen haben, sogar auf die Druckschrift. 6.4. Von der Mimesis zur Schrift 305 Dass die Handschrift nun zusätzlich quasi-bildlich Rückschlüsse auf Wünsche und Triebe eines Schreibenden geben kann, ist eine andere These. Sie suggeriert, dass auf das Papier gezeichnete Striche kausal mit dem Leib eines Schreibenden verbunden sind. Dieser Leib manifestiert sich gestisch und drückt, so die Annahme zahlreicher Graphologen, aus, was man ‚innere‘ Bilder nennen könnte. Dabei bleiben diese ‚Bilder‘ interessanterweise nicht auf das rein Abstrakte beschränkt. Es gibt auch Beispiele ‚konkreterer‘ Bilder in der Handschrift. So sieht etwa Anja Mendelssohn in der verschnörkelten Unterschrift eines Schreibers die „Wahnidee“ verborgen, er sei „ein so hervorragender Mensch, daß er der Welt möglichst viele Nachkommen hinterlassen müsse“. 78 Und zwar sieht sie diese ‚Wahnideen‘ nicht alleine in den „riesigen Unterlängen (P)“ repräsentiert, die, wie wir mit der an Bachofen geschulten Symbolik gelernt haben, in den dunklen Bereich der Sexualität und Triebe hinabreichen, sie sieht in der Unterschrift „im Schluß rechts unten das Bild eines Embryos im Uterus“. Es erfordert zwar ein gewisses Maß an Phantasie, dort wirklich einen Embryo im Uterus zu erkennen, aber der letzte Schnörkel der Unterschrift ist durchaus elliptisch oder eiförmig und enthält einen weiteren Schnörkel, so dass das Erkennen eines Eis mit Inhalt nicht gänzlich abwegig ist. An dieser Stelle vermischen sich demnach ‚abstrakte‘ Schrift und ‚konkrete‘ Zeichnung. Freilich handelt es sich hierbei eher um einen Ausnahmefall graphologischer Lektüremöglichkeiten. Größtenteils ist die Handschrift nicht wie eine Art Gemälde zu betrachten, wenn auch, wie bei Klages - analog zu einem Gemälde - als Gesamtbild. Denn Klages‘ Formniveau zielt in diese Richtung. Der fließende ‚Rhythmus‘ - Klages‘ zentrales Konzept -, der stetig ist und dennoch die Dinge im Sinne einer sich verschiebenden Wiederkehr verwandelt, durchwaltet für ihn den ganzen Kosmos bis hin zur Schrift. 79 Selbst die Fortpflanzung wird unter das Gesetz des Rhythmus gestellt und, wie Klages explizit schreibt, unter das Gesetz des Bildes. Klages behauptet nämlich, dass durch „Abertausende von Geschlechtern“ nur etwas ununterbrochen hindurchreiche, und zwar „ein Bild! “ 80 In jedem Individuum einer bestimmten Gattung kehre ihr Bild wieder: „Fortpflan- 78 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 9. 79 Vgl. Ludwig Klages, Handschrift und Charakter, S. 34: „Die eine Seite seines wesentlichen Eigencharakters enthüllt uns bereits der Name ‚Rhythmus‘, von rheein = fließen, mit dem nicht zu verkennenden Hinweis auf jene schon flüchtig berührte Stetigkeit, die uns am schönsten der Anblick der Wasserwelle versinnlicht. Ihr unablässiger von Berg und Tal vollzieht sich ohne Einschnitt, Sprung oder Riß aus einer unmerklich allmählichen Wandlung zwischen zwei Grenzzuständen. Sie offenbart uns auch gleich das zweite Wesensmerkmal des Rhythmus: nämlich in stets nur ähnlichen Zeiten immer nur Ähnliches wiederzubringen! “ 80 Vgl. Ludwig Klages, Handschrift und Charakter, S. 36. 6. Graphologie 306 zung“ heiße der „physikalisch ewig unzugängliche Vorgang der Weitergabe des Urbilds der Gattung von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit“. Deshalb kann das mimetische Vermögen, von dem Benjamin ausgeht, auch bei Klages ausgemacht werden. Durch seinen Rhythmus-Begriff sieht er die Ähnlichkeit, deren Erlebnis nämlich die Schau des Bildes über Generationen hinweg garantieren soll, nicht nur in den Gestirnen, im Wasser, bei Pflanzen und Tieren am Werk, sie durchwaltet bei ihm schlicht alles. Klages schreibt, dass diese Ähnlichkeiten nur im Groben beschrieben werden könnten, da jedes ‚Folgeglied‘ dem vorhergehenden zwar nahe stehe, aber auch völlig verschieden sei. Dieses „Gepräge der Eigenart“ habe auch jede handschriftlich erzeugte Schriftgestalt. 81 Auch wenn Klages freilich einen Unterschied macht zwischen ‚außergeistigen‘ Formen des Lebens (Pflanzen, Naturerscheinungen) und ‚geistigen‘ wie der Schrift, so sieht man doch, dass all diesen ‚Formen‘ ein Bildkonzept zugrunde liegt, auch wenn dieses ‚Bild‘ nicht ‚als solches‘ identifizierbar zu sein scheint. Aber mittels des ‚Formniveaus‘ entwickelt er ein Instrument, mit dessen Hilfe er den Grad an Lebendigkeit, die Intensität des Rhythmus und damit auch die Nähe zum Urbild ablesen zu können vermeint. Handelt es sich in Anlehnung an Nietzsche um eine ‚ewige Wiederkehr‘, so wäre das wohl die Wiederkehr einer Variation des Urbilds. Wenn also auch Benjamin davon spricht, dass über das mimetische Vermögen Ähnlichkeiten erkannt und hervorgebracht werden konnten, ist er nicht weit weg von Klages. Und er ist vor allem nicht weit von ihm weg, wenn er von einer Verschiebung von der Mimesis zur Semiotik spricht, da diese Verschiebung genau jener von der ‚außergeistigen‘ Form zur ‚geistigen‘ entspricht, vom Rhythmus zur ihn einschränkenden Kraft des Takts, der Regel oder des künstlichen Gesetzes. Dass all die anderen Graphologen diesen Thesen ebenfalls nahe stehen, sollte deutlich geworden sein. Ihre Abgrenzungsversuche sind nachvollziehbar und teilweise plausibel, jedoch ist ebenso sehr ersichtlich, dass die gezogenen Grenzen auf einer strukturellen Ebene relativ durchlässig sind. Deutlich geworden sein sollte auch, dass eine Gemengelage von Bildbegriffen angeführt wurde, die durchaus etwas miteinander zu tun haben können, die jedoch auch starke Unterschiede aufweisen. Klages‘ Urbildkonzept und die Bilderschrift, von der Anja Mendelssohn spricht, haben etwas miteinander gemein, die Konzepte zeitigen in der Praxis jedoch völlig unterschiedliche Konsequenzen. Während Klages mit dem ‚Bild‘ eine Wertung vollzieht, die die Nähe oder Ferne zum Lebendigen ausweisen soll - ein höheres Formniveau und eine Nähe zum Lebendigen ist deutlich besser -, erschließt Mendelssohn sexuelle Dispositionen: bei beiden aber 81 Vgl. Ludwig Klages, Handschrift und Charakter, S. 36. 6.4. Von der Mimesis zur Schrift 307 findet eine Transformation und ein Transfer statt. Das Bild wird verschoben, wiederholt, aber es verwandelt sich auch. Benjamin interessiert sich für diesen ambivalenten Aspekt und nimmt ihn ernst. Benjamin sagt aber auch deutlich, dass „wir in unserer Wahrnehmung dasjenige nicht mehr besitzen, was es einmal möglich machte, von einer Ähnlichkeit zu sprechen, die bestehe zwischen einer Sternkonstellation und einem Menschen“ (GS II, 207). Das Beispiel für die ‚unsinnliche Ähnlichkeit‘, die er in seiner „Lehre vom Ähnlichen“ gibt, erinnert durchaus an die Ubiquität des Bildes in den hier skizzierten Diskursen. Er schreibt: „So hat der Buchstabe Beth den Namen von einem Haus. Es ist somit die unsinnliche Ähnlichkeit, die die Verspannung nicht zwischen dem Gesprochenen und Gemeinten sondern auch zwischen dem Geschriebnen und Gemeinten und gleichfalls zwischen dem Gesprochnen und Geschriebnen stiftet.“ (GS II, 208) Man kann sich den Buchstaben Beth durchaus als ein liegendes Haus vorstellen. Zwingend ist das - wie auch beim Fötus-Beispiel Anja Mendelssohns - freilich nicht. Doch sieht man anhand dieses Beispiels gut, dass hier auf verschiedenen Ebenen auf einen Bilddiskurs zurückgegriffen wird, in dem auch eine durchaus sinnliche Ähnlichkeit noch eine Rolle spielen dürfte. „Die neuste Graphologie hat gelehrt, in den Handschriften Bilder, oder eigentlich Vexierbilder zu erkennen, die das Unbewußte des Schreibers darinnen versteckt“ (GS II, 208), schreibt Benjamin. Deshalb sei anzunehmen, dass „das mimetische Vermögen, welches dergestalt in der Aktivität des Schreibenden zum Ausdruck“ komme, „in sehr entrückten Zeiten, als die Schrift entstand, von größter Bedeutung für das Schreiben“ gewesen sein müsse. Der Unterschied zwischen Benjamin und Klages - und wahrscheinlich auch Mendelssohn - ist aber, dass Benjamin gerade nicht vom Bild ausgeht: „So ist der buchstäbliche Text der Schrift der Fundus, in dem einzig und allein sich das Vexierbild formen kann.“ (GS II, 208 f.) Die Apodiktik dieses Satzes lässt keinen Zweifel zu, dass hinter die semiotische Dimension der Sprache nicht zurückgegangen werden kann. Es sind nicht die ‚konkreten‘ Gesten und die durch den leiblichen Ausdruck transformierten Bilder, die das ‚Vexierbild‘ hauptsächlich formen. Es ist der buchstäbliche Text, von dem man ausgehen muss - und damit also von einer irreduziblen Dimension symbolischer Bedeutung. Das legen auch die Sätze in der „Lehre vom Ähnlichen“ nahe, die von der Hellsicht sprechen. Sie besagen, dass das mimetische Vermögen, das früher ein Fundament der Hellsicht gewesen sein könnte, nun wohl in Sprache und Schrift hineingewandert sei und diese nun als das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit zu betrachten seien. Die Sprache sei deshalb ein „Medium, in das ohne Rest die frühern Merkfähigkeiten für das Ähnliche so eingegangen seien, daß nun sie das Medium darstellt, in dem sich die Dinge nicht mehr direkt wie früher dem Geist des Sehers oder Priesters sondern in 6. Graphologie 308 ihren Essenzen und feinsten Substanzen, ja Aromen begegnen und zu einander in Beziehung treten.“ (GS II, 209) Benjamin schiebt nach: „Mit anderen Worten: Schrift und Sprache sind es, an die die Hellsicht ihre alten Kräfte im Laufe der Geschichte abgetreten hat.“ Trotz der Irreduzinilität der semiotischen Dimension weisen die buchstäbliche Schrift und die Sprache, auch wenn von ‚Essenzen und feinsten Substanzen‘ die Rede ist, eine sinnliche und materielle Dimension auf. Es geht hier also nicht um einen Gegensatz zwischen Sensibilität und Intelligibilität in ihren Reinformen und darum, eine strikte Verschiebung vom ‚Bild‘ zur ‚Sprache‘ zu behaupten. Vielmehr scheint es unter der Bedingung veränderter Wahrnehmungsdispositionen und Ausdrucksmöglichkeiten darum zu gehen, der verloren gegangenen ‚Gabe‘ der Mimesis nachzuspüren und damit auch eine veränderte Form der Bildlichkeit in einem auf den ersten Blick ‚bildfernen‘ Medium zu entdecken. „Was nie geschrieben wurde, lesen.“ (GS II, 213) Das steht im Text „Über das mimetische Vermögen“. Benjamin zitiert diesen Satz Hofmannsthals „Der Tor und der Tod“, um im Anschluss daran zu sagen, dass „[d]ies Lesen […] das älteste“ sei, das Lesen aus den Formen und den Bewegungen des Leibs, den Bildern der Natur, „das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen“. Es ist, allgemein gesprochen, damit wohl schlicht das ‚Lesen‘ von ‚Bildern‘ gemeint. Ein ‚neueres‘ ‚Lesen‘ kann deswegen kaum unidirektional von einem ‚Bild‘ - etwa vom Gesamteindruck eines Schriftbilds wie bei Klages, noch von einem einzelnen Buchstaben als ikonisch zu entziffernder - oder von der semiotischen Sprache ausgehen. Es müsste eher ein Lesen von „Korrespondenzen“ sein, von denen die „Merkwelt des modernen Menschen“ nur noch „gering Rückstände“ enthielte (GS II, 211). In diesem Punkt trifft sich Benjamin wohl aber wiederum mit den meisten Graphologen und ihren Problemen: Seine Theorie ist in diesem Punkt keineswegs unproblematischer. Denn ein solches Lesen kann kaum nach strikten Regeln verfahren. Und auch wenn es nach Regeln vorgehen muss, so ist es zu einem guten Teil ‚intuitiv‘. Beides, Regeln und Intuition, sind - und darüber mag der Diskurs möglicherweise ein wenig hinwegtäuschen - historisch und damit auch gesellschaftlich bedingt. Durch dass Benjamin von der Irreduzibilität der semiotischen Dimension der Sprache ausgeht, distanziert er sich von Systematisierungsversuchen der Bildlichkeit, aber auch von der Autorität der Intuition eines Individuums. Die Unhintergehbarkeit des Geschichtlichen führt die Aufgabe des Schriftdeuters zurück in die Gegenwart. Seine Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf eine diffuse Nähe von Schriftbildern zu Urbildern als Chiffre schöpferischer Kräfte. Eher wohl auf das in der Schrift Überlieferte, das der Deutung einer Umwelt dienen könnte, die von Schrift und Bildern geprägt ist und diese wiederum ebenfalls formt. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 7.1. Benjamins Kafka-Lektüre Die bislang vorgestellten Bilddiskurse waren vielfältig und unterschiedlich. Häufig konnte man aber eine bestimmte dialektische Bewegung festhalten, die vom Bild zur Sprache reichte, so dass die Sprache das Bildliche unter Umständen ablöste. Dennoch verschaffte sich das Bildliche unter anderen Vorzeichen häufig erneut Geltung. Die Eigenschaften der sprachlichen wie auch der bildlichen Sphäre veränderten sich unter diesen Voraussetzungen. In Benjamins Kafka-Aufsatz fließen einige der Aspekte der vorgestellten Bilddiskurse zusammen, denn Benjamin nimmt sich vor, Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ zu deuten (GS II, 678). Diese Absicht bekräftigt Benjamin an mehreren Stellen in den Notizen zum Essay wie auch im Entwurf eines Briefs an Gershom Scholem, wo er unterstreicht, dass seine Interpretation Kafkas „von Bildern“ ausginge und nicht vom Begriff des Gesetzes (GS II, 1245). Aber Scholem scheint mit dieser Absicht nicht viel anfangen zu können. Die „Richtigkeit“ der Benjaminschen Interpretation scheint ihm „problematisch, problematisch in jenen letzten Punkten, die hier mit entscheidend“ seien: „Zu 98% […] leuchtet sie ein, aber das Sigel fehlt, und du hast das gespürt, denn du hast mit der Interpretation der Scham (und da hast du ins Schwärzeste des Schwarzen getroffen) und des Gesetzes (da bist du ins Gedränge geraten! ) jene Ebene verlassen“, schreibt Scholem an Benjamin am 9. Juli 1934 (GB IV, 463). Scholem vermisst die theologische Dimension, das spricht er mit der verlassenen ‚Ebene‘ an. Sein Verweis auf das Gesetz meint kein Gesetz profaner Art. Benjamin gibt Scholem diesbezüglich keine klare Antwort. Seine Replik vom 8. 11. 1934, er wolle sich auf den Begriff des Gesetzes „explizit nicht einlassen“, er wolle aber ebenso einer „theologischen Interpretation an sich nicht den Weg verlegen“, da er sie „doch selbst [praktiziere]“ (GB IV, 479) 1 , zeigt eine gewisse Verworrenheit an. 1 Bereits am 20. 7. 1934 schreibt Benjamin dazu (indem er auch Stellung zu einer Art ‚Lehrgedicht‘ von Scholem bezieht, das ebenfalls etwas zur Kafka-Deutung beitragen will): „Ich erkenne nicht nur an diesem Gedicht die theologische Möglichkeit als solche unumwunden an sondern behaupte, daß auch meine Arbeit ihre breite - freilich beschattete - theologische Seite hat. Gewandt habe ich mich gegen den unerträglichen Gestus des theologischen professional, der - wie du nicht bestreiten wirst - die bisherige Kafka-Interpretation auf der ganzen Linie beherrscht und uns seine süffisanten Manifestationen noch zugedacht hat.“ GB IV, 459. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 310 Bereits Auszüge dieser Korrespondenz zeigen, dass eine Interpretation des Benjamin-Aufsatzes etwa jene Anstrengung erfordert, die Benjamin selbst Kafka zuteil kommen lässt. Scholem ist nämlich bei weitem nicht der Einzige, der Benjamin sein Unverständnis kommuniziert. Wobei es unfair wäre, von einem kompletten Unverständnis zu sprechen. Meist teilen seine Gesprächspartner in dieser Angelegenheit ihm aber Anregungen mit, die teilweise darauf schließen lassen, dass ihnen der Inhalt der Arbeit sich nicht erschlossen haben dürfte. Gewisse Gesprächspartner schweigen sich über bestimmte Teile des Aufsatzes auch aus, was Benjamin nicht verborgen bleibt, wenn er Adorno schreibt, dass der vierte Teil „selbst Leser wie Sie und Scholem nicht zur Stellungnahme vermocht“ habe (GB V, 13). Im nächsten Satz teilt er Adorno mit, dass auch Brechts Stimme nicht fehle und dass sich „alles in allem eine Klangfigur um“ den Aufsatz gebildet habe, der er „noch manches abzulauschen“ hätte. Zu Benjamins Lebzeiten wurde der in den Gesammelten Schriften präsentierte Essay „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“ 2 nie vollständig publiziert. Jahrelang zog sich die Arbeit an diesem Sujet hin - das übrigens auch in anderen Texten verhandelt wurde -, sodass zur zehnten Wiederkehr von Kafkas Todestag denn auch einige Teile des ‚Essays‘ noch nicht geschrieben vorlagen. Die Gründe für diesen scheinbar nicht abzuschließenden ‚Prozess‘ sind vielfältig und wohl nicht bloß inhaltlicher Natur, wenn auch dieser Verdacht, wie sich zeigen wird, naheliegen mag. Durch seinen Status als mittelloser Flüchtling fehlen Benjamin nämlich häufig wichtige Arbeitsmaterialien. Es fällt auf, dass er immer wieder versucht, an eine Abschrift, die er Scholem einst zukommen ließ, heranzukommen. Außerdem wirkt sich auch der angesprochene Austausch mit verschiedenen Gesprächspartnern auf das Vorankommen des Aufsatzes aus. Gershom Scholem, Bertolt Brecht, Werner Kraft und Theodor W. Adorno machen ihre eigene Meinung zum Gegenstand geltend und beinahe alle - am wenigsten noch Adorno - haben ihre spezifischen Einwände gegen Benjamins Überlegungen. Diese Einwände wiederum berücksichtigt Benjamin teilweise im weiteren Verlauf der Arbeit durchaus, manchmal finden sie auch ihren Weg in die Korrespondenz Benjamins mit jeweils anderen Dialogpartnern. So spricht er mit Kraft über Scholem und mit Scholem über Brecht (vgl. etwa GS II, 1163 f.). Hans Mayer hat in seinem Text über „Walter Benjamin und Kafka“ wohl nicht zu Unrecht davon gesprochen, dass rund um Benjamins Essay-Pläne ein regelrechtes „Kafka- Symposion“ abgehalten wurde. 3 2 Vgl. GS II, 409-438. 3 Vgl. Hans Mayer, Walter Benjamin und Kafka. Bericht über eine Konstellation, in: Literatur und Kritik 140 (1979), S. 79-97, hier S. 79. Vgl. dazu auch Alexander Honold, Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2000, S. 280 f. Honold wagt aufgrund dessen bereits eine These, die sich im Verlaufe 7.1. Benjamins Kafka-Lektüre 311 Ganz ohne Misstöne kam dieses ‚Symposion‘ aber nicht aus. Durch die Hermetik des Essays fühlte sich etwa Brecht - laut Benjamins Tagebuch - dazu animiert, den Vorwurf anzubringen, Benjamin leiste „dem jüdischen Faschismus Vorschub“ und „vermehre und breite das Dunkel um diese Figur [Kafka] aus statt es zu zerteilen“ (GS II, 1165). Brechts Vorschlag, „Kafka zu lichten, das heißt, die praktikablen Vorschläge zu formulieren, welche sich seinen Geschichten entnehmen ließen“, vermag, gepaart mit dem Vorwurf des jüdischen Faschismus, aus der heutigen Perspektive jedoch seltsam anmuten. Weshalb Brecht Benjamin Faschismus vorwerfen konnte, lässt sich nur beantworten, wenn der Inhalt des Essays näher seziert wird. Zuerst sollen jedoch noch zwei, drei formale Charakteristika angeführt werden, die die angesprochene Hermetik des Aufsatzes mitbedingen. Benjamin nimmt sich in seinem längsten Text über Kafka auf verhältnismäßig wenig Raum dessen Romane, viele Stücke der ‚Kleinen Prosa’, Aufzeichnungen aus den Quartheften und auch Tagebuchnotizen vor. Es ist nicht erstaunlich, dass er angesichts der Fülle des Materials und des Ziels, einen Essay zu schreiben, nicht das betreibt, was man als ‚close reading‘ bezeichnen möchte. Vielmehr versammelt er Motive Kafkas, verknüpft sie mit kurzen Erzählungen und Legenden anderer Autoren und vermischt dabei teilweise Aussagen über die Texte mit Aussagen zu vermeintlichen Charakteristika der Person Kafkas. Er teilt den Essay in vier Kapitel ein, denen er Titel gibt, die auf den ersten Blick wenig mit Kafka zu tun haben: „Potemkin“, „Ein Kinderbild“, „Das bucklicht Männlein“ und „Sancho Pansa“. Schon anhand dieser Titel kann man ablesen, dass Benjamin nicht rein werkimmanent vorgeht. Schließlich führt Benjamin Autoren an, die mit Kafka zu verbinden einem nicht so rasch einfallen würde. Da wäre etwa zum einen der Basler Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen, dem Benjamin einen längeren Aufsatz widmete (GS II, 219-233), und zum anderen Franz Rosenzweig, der Verfasser des für Benjamins Denken wichtigen Buchs „Der Stern der Erlösung“. Er zitiert auch Hermann Cohen, der für den jungen Benjamin wichtige Neukantianer. Eher kritisch geht er mit zeitgenössischen Kafka- Exegeten um, darunter Hellmuth Kaiser, Johannes Schoeps, Bernhard Rang, Willy Haas und auch Max Brod, über dessen Kafka-Biographie er aus vielerlei Gründen den polemischen Satz schreibt, sie sei das „Zeugnis einer Freundschaft, die nicht zu den kleinsten Rätseln in Kafkas Leben gehören dürfte“ (GS III, 529). 4 Benjamin grenzt sich dezidiert von zwei der hier vorgestellten Lektüre auch ergibt: „Man hat sich demnach von der Vorstellung einer linearen oder kontinuierlichen ‚Annäherung‘ Benjamins an Kafka zu lösen.“ 4 Vgl. auch den Brief an Scholem vom 12. 6. 1938, worin Benjamin ausführlich darüber schreibt, weshalb er Brod und dessen Kafka-Biographie ablehnt. Der oben zitierte 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 312 ganz bestimmten ‚Wegen‘ oder Methoden ab, „Kafkas Schriften grundsätzlich zu verfehlen“ (GS II, 425), nämlich der ‚natürlichen‘ und der ‚übernatürlichen‘ Auslegung, der ‚psychoanalytischen‘ und der ‚theologischen‘. Gegen allzu simple psychoanalytische und ‚theologische Schablonen‘ 5 setzt Benjamin den Anspruch, an Kafka eine ‚schwierigere‘ Methode zu erproben, nämlich die bereits angesprochene „Deutung des Dichters aus der Mitte seiner Bildwelt“ (GS II, 678). 6 Mit ‚Bild‘ oder ‚Bildern‘ sind dabei bestimmt nicht primär Bilder im Sinne von Gemälden gemeint, aber die Schwierigkeit des Begriffs und seiner Verwendung zeigt sich nur alleine schon am Beispiel, das Benjamin in „Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer“ gibt. Dort beschreibt er nämlich die niedrigen Decken, die in Kafkas ‚Process‘ auftauchen, und die Eigenart der Zuschauer auf der Empore, sich mit einem Kissen auf dem Kopf dagegen zu stemmen: Das ist nun aber das genaue Bild dessen, was wir als Kapitäl - als fratzengeschmückten Aufsatz - an den Säulen so vieler mittelalterlicher Kirchen kennen. Natürlich ist nicht die Rede davon, dass Kafka das nachbilden wollte. Wenn wir sein Werk aber als eine spiegelnde Scheibe nehmen, so kann ein solches längst vergangenes Kapitäl sehr wohl als eigentlicher unbewusster Gegenstand solcher Schilderung erscheinen, und die Deutung hätte nun seine Spiegelung im Gegensinne genauso weit vom Spiegel abgerückt wie das gespiegelte Modell zu suchen. Mit anderen Worten, in der Zukunft. (GS II, 678) Bereits anhand dieses Beispiels ist eine Gemengelage von Bildbegriffen erkennbar, die Benjamin anführt. Erstens spricht er von der Plastik, die den Abschluss einer Säule bildet. Mit dieser vergleicht er eine Szene in der Prosa Kafkas - ob man bezüglich dieser Szene selbst auch von einem ‚Bild‘ Satz kommt darin, leicht abgewandelt, ebenfalls vor. Benjamin schreibt, Brod „überschreite das „Maß sowohl in der Art, in welcher er Kafka huldig[e], als in der Vertrautheit, mit der dieser von ihm behandelt [werde].“ (GB VI, 109) 5 Vgl. GS II, 425 f.: „Das hat ihn [Willy Haas, FG] nicht davor bewahren können, das Gesamtwerk im Sinne einer theologischen Schablone auszudeuten. ‚Die obere Macht,‘ so schreibt er über Kafka, ‚den Bereich der Gnade, hat er dargestellt in seinem großen Roman ‚Das Schloß ‘, die untere, den Bereich des Gerichts und der Verdammnis, in seinem ebenso großen Roman ‚Der Prozeß ‘. Die Erde zwischen beiden, … das irdische Schicksal und seine schwierigen Forderungen hat er in strenger Stilisierung zu geben versucht in einem dritten Roman ‚Amerika‘.‘“ 6 In Briefnotizen für einen Brief an Scholem notiert Benjamin bezüglich eines etwas anderen Aspekts (wobei Gesetz hier vor allem eine religiöse Dimension hat): „Ich halte Kafkas stetes Drängen auf das Gesetz, von welchem nie etwas verlautbart, für den toten Punkt seines Werkes, für die Schublade des Geheimnsikrämers. Gerade mit diesem Begriff will ich mich nicht einlassen. Sollte er in Kafkas Werk dennoch eine Funktion haben - was ich dahingestellt sein lasse - so wird auch eine Interpretation, die von Bildern ausgeht - wie die meinige - auf sie führen.“ (GS II, 1245) 7.1. Benjamins Kafka-Lektüre 313 sprechen kann, sei dahingestellt. Zweitens spricht er von der ‚spiegelnden Scheibe‘ und vom ‚Kapitäl‘ als ‚Modell‘, das sich darin spiegle. Interessanter ist aber fast noch die Dimensionen der Zeit, die Benjamin in diesem kurzen Beispiel aufspannt. Es ist von der Vergangenheit die Rede, die - nicht als Nachbild, wie es heißt - gespiegelt wird, und von der Zukunft. Ein mit der Vergangenheit assoziierter Gegenstand wird mit dem Adjektiv ‚unbewusst‘ versehen. In diesem Abschnitt deutet sich bereits an, in welche Richtung Benjamins Interpretation auch in seinem größeren Essay führt. ‚Bilder‘ werden stark mit der Zeit und dem Unbewussten verknüpft - das sind zwei Dimensionen des Bildlichen, die auch in den vorigen Kapiteln dieser Arbeit bereits zur Sprache gekommen sind. Es fällt vor allem auf, dass die Zeitlichkeit eine der wichtigsten Dimensionen der Benjaminschen Interpretation darstellt. Und weiter muss man festhalten, dass gerade das ‚längst Vergangene‘ auf einen der wichtigsten Punkte der Interpretation zielt. In diesem ‚längst Vergangenen‘ ist jenen Bildern nachzuspüren, um die es Benjamin hauptsächlich geht. Auch Sigrid Weigel hält überzeugend fest, dass jene Bilder „jenseits von Abbildung, Nachahmung oder gar Wiederspiegelung“ zu suchen seien. Sie interpretiert die Rede von den „Spiegelung[en] im Gegensinn“ als bezogen „auf eine Gleichzeitigkeit der Weltalter“ bei Kafka, „ganz zeitgenössisch, prophetisch und zugleich ins Uralte hineinreichend“. 7 Der Begriff des „Weltalters“ oder der „Welt“ überhaupt (auch „Bildwelt“ enthält den Begriff) taucht in Benjamins Kafka-Lektüre sehr oft auf. Er ist ebenfalls undenkbar ohne seine zeitlichen Bezüge. Diesen zeitlichen Bezügen eignen utopistische Dimensionen, die in in zwei Richtungen zielen, nämlich einerseits in die Vergangenheit, andererseits in die Zukunft. Folgt man Mircea Eliade, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ‚Sehnsucht nach dem Ursprung‘ immer noch - oder wieder - weit verbreitet. 8 Der Abstieg in ‚tiefste Zonen‘ der Naturgeschichte, der menschlichen Geschichte und auch der Psyche sollte unvordenkliche, archaische Bereiche erhellen, die vorher als unzugänglich galten. 9 Die Sehnsucht nach einer Rekonstruktionsmöglichkeit der menschlichen Geschichte förderte aber 7 Vgl. Sigrid Weigel, Walter Benjamin, S. 183. 8 Vgl. Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung, Frankfurt am Main 1976. 9 Vgl. ebd., S. 73 f.: „Man kann die psychoanalytische Methode, wie sie von Freud erarbeitet wurde, nicht besser beschreiben als zu sagen, dass sie ein desensus ad inferos ist, ein Abstieg in die tiefsten und gefährlichsten Zonen der menschlichen Psyche. Als Jung die Existenz des kollektiven Unbewussten enthüllte, erinnerte die Erforschung dieser unvordenklichen Schätze - die Mythen, Symbole und Bilder der archaischen Menschheit - an die Techniken der Ozeanographie und Speläologie. Wie der Abstieg in die Tiefen des Meeres oder die Expeditionen in die Höhlentiefen Elementarorganismen zum Vorschein gebracht hatten, die schon lange von der Oberfläche der Erde verschwunden gewesen waren, brachte die Analyse Formen des tiefen psychischen Lebens an die Oberfläche, die sich vorher einer Erforschung entzogen hatten.“ 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 314 nicht nur eine neue Mythenbildung, die einer kulturpessimistischen Gegenwartskritik aus der Perspektive der Vergangenheit Vorschub leistete, sie förderte auch utopische Zukunftsentwürfe oder messianische Hoffnungen. Diese Ambivalenz findet man in Benjamins Kafka-Lektüre ebenfalls vor, aber sie folgt nicht dem Schema, eine ideale Vergangenheit als Ideal in die Zukunft zu projizieren, auch wenn die Gegenwart als eine Art katastrophaler Zustand interpretiert wird. Wie das vorige Kapitel gezeigt hat, ist Benjamin das Werk Ludwig Klages durchaus bekannt. Die Stoßrichtung von dessen Schriften, die Gegenwart kritisch zu lesen und in der Vergangenheit eine archaische Bildwelt zu entdecken, teilt auch der Kafka- Aufsatz. Nicht zuletzt stützt Benjamin sich bei dieser Lektüre auf die Gedanken Johann Jakob Bachofens, dessen Untersuchungen archaischer Gesellschaftsformen (‚Gynaikokratie‘) er vor allem über Klages kennenlernt, dem er aber später einen ganzen Aufsatz widmet (vgl. GS II, 219-233). Benjamin interessiert sich für Bachofens Umgang mit dem Mythos, der die Hauptquelle seiner Untersuchungen und Rekonstruktionen archaischer Gesellschaftsformationen bildet, und für seine damit zusammenhängende archaische Bilderwelt. Von frühen bis zu den ganz späten Texten stößt man bei Benjamin auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos, ganz überraschend ist es deshalb nicht, dass sie sich auch in der Kafka- Rezeption bemerkbar macht. Drei Ebenen der Zeit gelangen in der Interpretation der ‚Welt‘ Kafkas zu einer gewissen Bedeutung, das soll in den nachfolgenden Kapiteln gezeigt werden. Anhand der Auseinandersetzung mit Bachofen ermittelt Benjamin eine Sphäre, die als ‚urzeitlicher‘ Grund einer Gegenwart fungiert, die stark durch den Mythos beziehungsweise eine mythische Ordnung geprägt wird. Man hat es mit einer transzendentalen Vergangenheit zu tun, die auf einer phylogenetischen Ebene als ‚Sumpfwelt‘ oder ‚Vorwelt‘ bezeichnet wird, auf der ontogenetischen aber durchaus auch die Form einer relativ unspezifischen ‚Kindheit‘ annehmen kann. Beide Formen dieser ‚reinen Vergangenheit‘ waren niemals gegenwärtig, auch wenn sie mit der Gegenwart koexistieren. Diese ‚reine Vergangenheit‘ wird nicht willkürlich erinnert, sie taucht eher - in Anlehnung an Proust, aber von Benjamin durchaus auch auf eine kollektive Dimension bezogen - unwillkürlich auf, aus dem Vergessen. Die ‚Vor‘- oder ‚Sumpfwelt‘ ist die Welt der (Ur-)Bilder, die durch die Ordnung des Mythos zwar verschüttet wurden, aber immer wieder in ihr durchbrechen. Neben den Dimensionen der ‚reinen Vergangenheit‘ in Form der Sumpfwelt und der ‚Gegenwart‘ in Form einer schuldbehafteten, durch den Mythos geprägten Welt, stößt Benjamin bei Kafka aber auch auf eine dritte Dimension der Zeit, die utopische oder messianische Qualitäten hat. Auch diese Dimension findet nach Benjamin im Kafkaschen Personal und 7.2. Kafkas Welt(en) 315 seinen Verhaltensweisen einen Ausdruck. Sie steht mit Bildern in einem Zusammenhang, da der Begriff des ‚Gestus‘ darin von zentraler Bedeutung ist. Kafkas ‚Bildwelt‘ raffe nach Benjamin Weltalter zusammen und reiße Löcher in die Kontinuität geschichtlicher Verläufe. Dass diese Anordnung messianische Perspektiven eröffnet, unterstreichen weitere Begriffe, die Benjamin bei seiner Interpretation ins Feld führt: Das ‚Studium‘ oder die ‚Umkehr‘ bezeichnet Benjamin selbst als „Kafkas messianische Kategorie[n]“ (GB IV, 479). Theologisch in einem gemeinläufigen Sinn ist Benjamins Aufsatz deswegen aber nicht. Die ‚Theologie‘, die Benjamin selbst zu praktizieren vorgibt, könnte man mit Adorno vielleicht höchstens als eine „‚inverse‘ Theologie“ bezeichnen (GS II; 1174). 7.2. Kafkas Welt(en) Wie bereits angedeutet, sind ‚Bildwelt‘ und ‚Weltalter‘ keine rein durch Kafka inspirierten Begriffe. Was Benjamin aber eigentlich nicht erwähnt, ist die Nähe der Begriffe zum Vokabular des ‚Lebensphilosophen‘ Ludwig Klages. Benjamin kam durch Klages mit den Gedanken Bachofens in Kontakt. Von dessen mythologischen Forschungen sind die Begriffe inspiriert. Diese indirekte Verbindung zu Klages ist insofern wichtig, als eine Fortschrittskritik, welche in Benjamins Kafka-Lektüre eine Rolle spielt, auch in Klages‘ Philosophie vorzufinden ist. Dort tritt bekanntlich der rationale und rationalisierende ‚Geist‘ als Widersacher der ‚Seele‘ auf, die in Korrespondenz mit einer archaischen Bilderwelt steht, in der ‚Leib‘ und ‚Seele‘ noch unmittelbarer miteinander und der Natur im Einklang stehen. 10 Dieser Antagonismus findet in Benjamins Essay ein Echo. Und zwar treten an die Stelle des ‚Geists‘ bei Klages die Institutionen des Rechts und der Familie, der Beamtenapparat und das Gesetz des Vaters in Kafkas Benjamin- Rezeption. Anders als bei Klages wird aber das diesem Stadium vorhergehende nicht positiv konzipiert. Seinen Essay leitet Benjamin mit den Worten „Es wird erzählt: “ ein. Benjamin wird also selbst zum Erzähler, was etwas seltsam anmutet. Die 10 Vgl. Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, S. 43: „Der Kosmos lebt, und alles Leben ist polarisiert nach Seele (Psychae) und Leib (Soma). Wo immer lebendiger Leib, da ist auch Seele; wo immer Seele, da ist auch lebendiger Leib. Die Seele ist der Sinn des Leibes, das Bild des Leibes die Erscheinung der Seele. Was immer erscheint, das hat Sinn; und jeder Sinn offenbart sich, indem er erscheint. Der Sinn wird erlebt innerlich, die Erscheinung äußerlich. Jener muss Bild werden, wenn er sich mitteilen soll, und das Bild muss wieder innerlich werden, damit es wirke. Das sind, ohne Gleichnis gesprochen, die Pole der Wirklichkeit.“ Zur geschichtlichen Abfolge von Seele und Geist, vgl. ebd., S. 44: „Auf die vorgeschichtliche Menschheit der herrschenden Seele - das sei uns hier einzuschalten verstattet - folgte die geschichtliche des herrschenden Geistes.“ 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 316 Anekdote, die Benjamin wiedergibt, stammt nicht von Kafka selbst, sie hat mit Kafka primär nichts zu tun. Es handelt sich nämlich um eine Anekdote Puschkins über den depressiven Potemkin, dem ein scheinbar findiger, unbedeutender Kanzlist namens Schuwalkin zur Erledigung dringender Akten die Unterschrift abluchsen will. Schuwalkin möchte sich damit bei seinen direkten Vorgesetzten empfehlen, denen in dieser Sache die Hände gebunden sind. Der nägelkauende, in einem verschlissenen Schlafrock auf seinem Bett sitzende Potemkin unterschreibt dem dreisten Schuwalkin auch tatsächlich die Akten, „wie im Schlaf vollzog Potemkin die Unterschrift“ (GS II, 409), doch was Schuwalkin zunächst nicht merkt: Potemkin unterschreibt mit ‚Schuwalkin‘. Diese kurze Erzählung, in der ein forscher Kanzlist, ohne es zu merken, zum Opfer einer institutionellen Maschinerie wird, deren er sich bedienen zu können vermeint, wird mit Kafkas Prosa verglichen. Der Vergleich stützt sich nicht nur auf die Feststellung eines ähnlichen Milieus - die Beamtenwelt -, er stützt sich ebenso auf die Beobachtung, dass die Gewalthaber bei Kafka häufig zunächst seltsam schwächlich und kränklich erscheinen, um das plötzliche Hereinbrechen der Gewalt über jenen, der sich mit ihnen abgibt, dafür umso furchtbarer erscheinen zu lassen. Benjamin schreibt, dass diese Geschichte „wie ein Herold“ sei, „der dem Werke Kafkas zweihundert Jahre vorausstürm[e]“ (GS II, 410). Und: „Die Rätselfrage, die sich in ihr wölkt, ist Kafkas. Die Welt der Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt.“ (GS II, 410) Schuwalkin sei wie Kafkas K., Potemkin hingegen ein ‚Ahn‘ jener Gewalthaber in Kafkas Geschichten (Richter, Sekretäre, Väter etc.), die immer etwas von ‚Versinkenden‘ hätten. Das ist wohl so zu deuten, dass diese Art von Gewalt, die sie repräsentieren, marode ist. Sie ist präsent, kann unmittelbar auftauchen, aber im Grunde ist sie wurmstichig und fragil. Die Versinkenden - der in seiner Depression und seinem Bett versunkene Potemkin wie auch die ‚Gewalthaber’ Kafkas mit den auf die Brust gesenkten Köpfen - sind Gewalthaber, deren Autorität, mit Derrida gesprochen, mystisch fundiert ist. 11 Dass sie „auf einmal unvermittelt in ihrer ganzen 11 Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft, Frankfurt am Main 1996. Derrida problematisiert in diesem Text u.a. den Ursprung oder Grund des Rechts, vgl. S. 27: „Das Aufkommen des Rechts und der Gerechtigkeit, (…) das Moment ihrer Stiftung impliziert eine performative Kraft (Gewalt), das heißt es impliziert regelmäßig eine deutende Kraft (Gewalt): jetzt nicht in dem Sinne, daß das Recht einer Macht dient, daß es ein folgsames, unterwürfiges und also äußerliches Instrument der herrschenden Mächte ist, sondern in dem, daß es mit der sogenannten Kraft, Gewalt, Macht, Gewalttätigkeit in einem Verhältnis steht, das tiefer ins Innere reicht und eine höhere Komplexität aufweist.“ Das Mystische ist in diesem Kontext die Grenze, die die performative Kraft eines rechtlichen Diskurses selbst zeichnet: Es darf keinen Metadiskurs außerhalb geben, der das Recht rechtfertigt. Auf S. 29 wird dieser Gedanke nochmals pointiert formuliert: „Weil sie sich definitionsgemäß auf nichts anderes stützen können als auf 7.2. Kafkas Welt(en) 317 Machtfülle auftauchen können“ (GS II, 410), hat etwas Furchtbares für denjenigen, der diese Manifestation der Macht plötzlich über sich hereinbrechen sieht, sie zeugt aber auch von der Unverfügbarkeit des Gesetzes, dessen Vollstrecker die ‚Gewalthaber‘ immer nur als von der Gewalt Bedrohte sein können. Kafkas Erzählung ‚Das Urteil‘ scheint das für Benjamin exemplarisch zu zeigen. Er zitiert, wie Georg Bendemanns - des Protagonisten in ‚Das Urteil‘ - Vater unvermittelt aufrecht im Bett stehend seinem Sohn die Worte zuschleudert „’Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! ’“ (GS II, 411). Dieser Satz scheint für den Adressaten vernichtend, er zeugt aber genauso von der prekären Existenz des Vaters. Dieser schlägt seinen Sohn Georg in dieser Szene nochmals in den Bann des Gesetzes, erinnert ihn daran, dass er einem unverfügbaren Gesetz untersteht. Das Hineingeraten in den Bereich des Gesetzes bedeutet zugleich ein Außer-sich-Treten (oder möglicherweise auch immer schon ein Übertreten-Haben). Georg wird vom Vater mit seiner Beziehung zu ihm und sich selbst konfrontiert - ein reines Kind- und Unschuldigsein kann der Vater nicht gelten lassen. Georg ist nicht mehr ‚Kind‘. Und ob er jemals ein ‚unschuldiges Kind‘ war, ist ob der Formulierung ‚warst du ja eigentlich‘ durchaus fraglich. Es scheint eher so, dass er statt ‚Kind‘ vielmehr immer schon Sohn war: potentiell also derjenige, dem beschieden ist, das prekäre Erbe des Vaters - sein Gesetz - anzutreten; der aber gleichzeitig auch nicht anders kann, als den Vater und dessen Gesetz zu verdrängen, um sein Nachfolger zu werden. Er ist demnach der Erbe eines belasteten Verhältnisses und Träger einer Schuld. „Die Sünde, deren er [der strafende und gleichzeitig anklagende Vater] den Sohn bezichtigt, scheint eine Art von Erbsünde zu sein“ (GS II, 412), schreibt Benjamin. ‚Erbsünde‘ darf durchaus in dem skizzierten, doppelten Sinne verstanden werden: auf die Vergangenheit genauso wie auf die Zukunft weisend. Was hier theologisch klingt, kann genauso psychoanalytisch oder anthropologisch verstanden werden. Die ‚Sünde‘ ist ein Begleiter der familiären Ordnung. Die Konstellation von Vater und Sohn zeugt von einer Art Gesetz der Familie, von einer Verstrickung ihrer Mitglieder in eine Ordnung, die schicksalhaft über ihren Häuptern schwebt. Mit Hermann Cohen sagt Benjamin, dass es die „Ordnungen selbst sind, welche dieses Heraustreten, sich selbst, sind der Ursprung der Autorität, die (Be)gründung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst eine grund-lose Gewalt(tat).“ 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 318 diesen Abfall“ aus sich „zu veranlassen und herbeizuführen scheinen“ (Ebd.). 12 Das ist die Ordnung des Mythos, die Benjamin in seinem Text „Zur Kritik der Gewalt“ immer wieder beschwört. Zwar gibt es Gesetze, die eine Ordnung stiften, aber diese Ordnung ist keine friedliche oder harmonische. Gewalt verschafft sich in ihr immer wieder schicksalhaft einen Ausdruck. Ironisch ist dabei, dass jene, die im Sinne eines Fortschritts die alte Ordnung abzulösen gedenken, doch derselben Gewalt verfallen, die sie aufzuheben trachteten. Als ein „immerwährender Prozeß“ bezeichnet Benjamin deshalb diese Verstricktheit der Familie mit jener höheren Ordnung - und diese Verstrickung bedingt, nach Benjamins Kafka-Lektüre, eine gewisse Hoffnungslosigkeit. Wie Benjamin schreibt, habe Max Brod dazu ein Wort Kafkas überliefert, nämlich dass die Menschheit nichts weiter sei als „nihilistische Gedanken“, „Selbstmordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen“. „[U]nsere Welt“ sei „nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag“. Auf die Frage, ob es „außerhalb dieser Erscheinungsform Welt, die wir kennen“ denn Hoffnung gebe, soll Kafka gesagt haben: „Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung - nur nicht für uns“ (GS II, 414). Benjamin meint nun, dieses ‚uns’ bezöge sich auf alle, die noch im Bann der Familie stünden. Das Überraschende seiner Interpretation ist, dass er selbst die Tiere, „Kreuzungen oder Gespinstwesen, wie das Katzenlamm oder Odradek“ als Wesen bezeichnet, die diesem Bann nicht entronnen seien (Gregor Samsa etwa verwandle sich in der elterlichen Wohnung, das Katzenlamm sei ein „Erbstück aus des Vaters Besitz“ und Odradek die „Sorge des Hausvaters“ 13 ). Nicht in diesem Bann stünden aber die „Gehil- 12 Hermann Cohens „Ethik des reinen Willens“ (2. Auflage, Berlin 1907) zitiert Benjamin auch in „Zur Kritik der Gewalt“. In Cohens Buch findet sich auf S. 363 folgende Passage: „Den Grundbegriff, der den eigentlichen Kern des Schicksals bildet, haben wir in dem Begriffe der Schuld zu erkennen. Die Ate erstreckt sich über ein Geschlecht; über ein bevorzugtes Geschlecht, an dem das Menschenschicksal sich veranschaulicht. Das ist die Herrschaft, welche das Schicksal ausübt, dass sie die Individuen in diesem Geschlechte unterwirft. Werden die Individuen dadurch entselbstet? Diese Frage erhebt der Mythos nicht. Er sieht noch keine Differenz zwischen dem Individuum und seinem Geschlechte; so wenig Zeus aufhört, ein individueller Gott zu sein, weil er dem Fatum unterworfen ist. Das Böse ist die Schuld. Und die Schuld ist das Verhängnis. Der Mythos nimmt an dieser Verbindung der Begriffe keinen Anstoß. Weh’ dir, dass du ein Enkel bist. Wehe bedeutet hier nicht etwa Mitleid, sondern Verdikt.“ Selbst der Göttervater, der eine bestimmte Ordnung aufrecht zu erhalten scheint, ist gegen die Macht des Schicksals nicht gefeit. Das Schicksal verbindet die Individuen zu einem Geschlecht, das einer überindividuellen Schuld unterliegt. 13 Der philologischen Aufrichtigkeit wegen muss festhalten werden, dass in den Notizen nicht immer ganz klar wird, ob für die Tiere und Kreuzungen nicht doch Hoffnung vorhanden ist, sprich ob sie tatsächlich im Bann der Familie stehen: „‚Es ist unendlich viel Hoffnung da, nur nicht für uns.’ Für wen dann? Für das Geschlecht der Türhüter und Gehilfen, der Hunde und Maulwürfe, der Titorelli und Odradek, der 7.2. Kafkas Welt(en) 319 fen“, der „Bauernfänger“, der „Student“, die „Narren“ oder die „Boten“: Sie seien „unfertige Geschöpfe, Wesen im Nebelstadium“ (GS II, 414), dem Mutterschoss der Natur noch nicht völlig entronnen und demnach nicht Teil der symbolischen Familien-Ordnung. Diese unfertigen Geschöpfe hätten ihr eigenes ‚Gesetz’, wohl ihren nomadischen ‚nomos’: 14 Was zart unverbindlicher am Walten dieser Boten erkennbar wird, das ist auf lastende und düstere Art Gesetz für diese ganze Welt von Kreaturen. Keine hat ihre feste Stelle, ihren festen, nicht eintauschbaren Umriß: keine die nicht im Steigen oder Fallen begriffen ist; keine die nicht mit ihrem Feinde oder Nachbarn tauscht; keine welche nicht ihre Zeit vollbracht und dennoch unreif, keine welche nicht tief erschöpft und dennoch erst am Anfang einer langen Dauer wäre. Von Ordnungen und Hierarchien zu sprechen, ist hier nicht möglich. Die Welt des Mythos, die das nahelegt, ist unvergleichlich jünger als Kafkas Welt, der schon der Mythos die Erlösung versprochen hat. (GS II, 415) Kübelreiter und Geschichtsschreiber.“ (GS II, 1216) Ähnlich und doch entscheidend anders heißt es in einer anderen Notiz: „Für das Geschlecht der Türhüter und Gehilfen, der Hund und Maulwürfe, der Titorelli und Sortini, der Kübelreiter und Statisten von Oklahoma.“ (GS II, 1224) Andernorts werden die Gespinstwesen hingegen klar der Familie zugeordnet: „Die Monstra sind im Familienschoß ausgebrütet.“ (GS II, 1222). 14 Die Nomaden tauchen immer wieder in Benjamins Notizen zu Kafka auf. Vgl. z.B. GS II, 1216 f., wo Benjamin „Ein altes Blatt“ kommentiert, ein Stück aus Kafkas ‚Kleiner Prosa’, in der tatsächlich von Nomaden die Rede ist, die die Ordnung auf den Kopf stellen: „Rechts und links sind [in] ihrem Bilde vertauscht.“ Werner Hamacher versucht die Entstellungen, von denen Kafkas Texte handeln, auf Namen oder Namensgeflechte zu beziehen und kommentiert die Nomaden-Geschichte in seinem Aufsatz „Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka“ (in: ders.: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt am Main 1998, S. 280-323) ebenfalls. Der Name der Nomaden fungiert dabei als ‚nomadisierender Name’, der die Gesetze der Sprache disseminiere. Vgl. S. 299 f.: „In Frage steht also nicht allein, was ein Name besagt, sondern ob er überhaupt etwas sagen kann, ob er zur Sprache gehört und also ob eine Namenssprache überhaupt Sprache, ein Name überhaupt Name ist - und nicht vielmehr, wie Kafkas ‚Nomaden’ nahelegen, eine monströse Gewalt, die jeden Namen, der sprechen könnte, wegnimmt: keine Gabe der Sprache, sondern eine Sprachnahme. ‚Sprechen kann man mit den Nomaden nicht’: in Kafkas Inszenierung seines Namens macht sich ein Zug bemerklich, der offenbar jedem Namen in seiner Singularität eigen ist: Der Name gehört nicht zum System der Sprache, die etwas mitteilt, sondern zu jenen Markierungen in ihm, die nur die Mitteilbarkeit selber sichern. Sie ‚sagen’ nicht, sie markieren. Insofern sind sie die bedeutungsresistenten Stelen in einem System, das ganz und gar auf Bedeutung angelegt scheint.“ Die Interpretation des Namens, die Hamacher hier vorlegt, entspricht seiner Skizzierung als ein Schwellenphänomen der Sprache, wie im ersten Kapitel dieser Arbeit zu zeigen versucht wurde. Obwohl Hamacher nicht vom ‚Bild‘ spricht, weist die Rede von der ‚Stele‘ und vom ‚Markieren‘ statt ‚Sagen‘ genau in diese Richtung. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 320 Dieses ‚Gesetz’ der nomadischen Kreaturen ragt aber in die Welt des Mythos hinein, die erst besagte Ordnungen und Hierarchien kennt, die sich etwa an der Familie ablesen lassen. Die Welt Kafkas ist älter als der Mythos, und doch ist sie in gewisser Weise auch jünger, sodass ein kompliziertes zeitliches Geflecht vorliegt, ein Geflecht der Welten und Gesetze. Denn dass diese Boten ‚unfertige Geschöpfe‘ seien, suggeriert ja zunächst, dass sie sich als noch nicht fertige Geschöpfe in einem Anfangsstadium befinden und also relativ jung sein müssen. Das ‚Anfangsstadium‘, das sie nicht verlassen haben, ist aber in Wirklichkeit älter als die Welt, in der sie sich jetzt nomadisch aufhalten. Die Welt Kafkas umfasst demnach mehrere ‚Weltalter‘. Ein Gesetzesübertritt kann in einer solchen Welt, gerade weil sie mehrere Weltalter umspannt, deshalb auch ohne das Wissen des Übertretenden geschehen. Denn Benjamin schreibt, dass „in der Vorwelt ungeschriebene Gesetze“ (GS II, 412) geherrscht hätten, die man nicht sehen dürfe („Man darf sie aber nicht sehen.“), so dass man sie zwangsläufig übertrete, ohne es zu wissen. Weit „hinter die Zeit der Zwölf-Tafel- Gesetzgebung in eine Vorwelt“ führe der oben beschriebene, familiäre Schuldzusammenhang bei Kafka denn auch: „Hier steht zwar das geschriebene Recht in Gesetzesbüchern, jedoch geheim, und auf sie gestützt, übt die Vorwelt ihre Herrschaft nur schrankenloser.“ (Ebd.) Die ‚Vorwelt‘ wird zu einer Chiffre nicht bewusster Schuld, die bis in die Welt des Mythos hineinragt, in der das Schicksal drohend über den Häuptern der Menschen schwebt. 15 Der Mythos stellt also eine Ordnung und Gesetze, die ex negativo von einer ganz anderen Welt - ohne Schrift! - zeugen, die vergessen ist. Positiv lassen sich diese uralten Gesetze nicht mehr ausmachen, sie wirken entstellt im Mythos. Im Mythos ist die ihn begründende Welt vergessen gegangen, deshalb erscheint die Macht des Mythos, wenn sie sich denn manifestiert, auch als unbegründet. Die Welt des Mythos suggeriert zwar durch ihre scheinbare Rationalität einen Fortschritt über die Vorwelt, aber überwunden hat sie sie nicht eigentlich. Der Mythos selbst weist, wie Benjamin in seinem Text „Zur Kritik der Gewalt“ 15 So ist denn auch die Entsühnung eines Schuldigen durch die rechtsvernichtende „göttliche Gewalt“ nach Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ nicht die Entsühnung von „einer Schuld, sondern vom Recht. Denn mit dem bloßen Leben hört die Herrschaft des Rechts über den Lebendigen auf. Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst, die göttliche Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen.“ (GS II, 200) In diesen Zusammenhang lässt sich auch die Frage nach der Hoffnung setzen: Hoffnung gibt es in der Sphäre des Rechts keine. Gerade die in ihrer Kreatürlichkeit gefangenen Geschöpfe, die nicht von den Gesetzen wissen, „die diesen Leib mit höheren weiteren Ordnungen verbinden“ (GS II, 680), sind auf ihr ‚bloßes Leben’ zurückgeworfen. Genau deshalb könnte das Messer des Fleischers für das ‚Kreuzwesen’ Katzenlamm die Erlösung bedeuten. Hoffnung hingegen ist für jene reserviert, die dem ‚Mutterschoß’ der Natur noch nicht entronnen sind, die (noch) keine fertigen Kreaturen sind. 7.2. Kafkas Welt(en) 321 herausarbeitet, dunkle Stellen auf - die Ordnung, die der Mythos liefert, ist, wie weiter oben bereits gezeigt wurde, äußerst fragil, sie bietet keinen wirklichen Fortschritt, sondern ein „dialektisches Auf und Ab“ und im Grunde sogar eine Art Verfallsgeschichte, weil der aktuell herrschenden Ordnung bereits von Anfang an ihre Niederlage eingeschrieben ist. 16 Kafka rafft die Welt des vermeintlichen Fortschritts zusammen, so dass in ihr das Verschüttete durchbricht. Dieses Verschüttete hat sich nicht aufgelöst, es konnte, dialektisch gesprochen, im Neuen nicht so ‚aufgehoben‘ werden, dass es nun keine Last mehr darstellte. Im Gegenteil, die Vorwelt insistiert als Last. Deshalb kann Benjamin von Kafka zu Beginn seines Essays sagen, er denke in „Weltaltern“, die seine Figuren noch in der „unscheinbarsten Geste“ zu bewegen hätten (GS II, 410). Obwohl also die Welt des Mythos eine organisierte Welt ist, zu der auch die Familie als Organisation gehört, handelt es sich um keine unbeschwerte Welt. Schuld, deren Grund man nicht wirklich zu kennen scheint, ist in ihr ubiquitär. 17 Auch Kafka selbst wird als jemand dargestellt, auf dem diese Schuld lastet. Kafka wird sogar mit dem Mythos des Sisyphos in Verbindung gebracht. Dem „Geheiß“ einer unbekannten Familie aus Menschen und Tieren „folgend“, die ihn zwinge, „Weltalter im Schreiben zu bewegen“, wälze er „den Block des geschichtlichen Geschehens wie Sisyphos den Stein.“ 16 Vgl. GS II, 202: „Ein nur aufs Nächste gerichteter Blick vermag höchstens ein dialektisches Auf und Ab in den Gestaltungen der Gewalt als rechtsetzender und rechtserhaltender zu gewahren. Dessen Schwankungsgesetz beruht darauf, daß jede rechtserhaltende Gewalt in ihrer Dauer die rechtsetzende, welche in ihr repräsentiert ist, durch die Unterdrückung der feindlichen Gegengewalten indirekt selbst schwächt. […] Dies währt so lange, bis entweder neue Gewalten oder die früher unterdrückten über die bisher rechtsetzende Gewalt siegen und damit ein neues Recht zu neuem Verfall begründen. Auf der Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsformen, auf der Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter.“ Das ist eine Passage vom Schluss des Aufsatzes „Zur Kritik der Gewalt“, die die Dialektik des mythischen Rechts skizziert und mit der ‚Entsetzung des Rechts‘ auch gleichzeitig eine Fluchtperspektive entwirft. Entscheidend ist das ‚Schwankungsgesetz‘, das Benjamin in dieser Stelle anführt und die Verfallsgeschichte. Es lässt sich auf die Dialektik von Vorwelt und Mythos im Kafka-Essay durchaus anwenden. Auch dort wird der Mythos als ein ‚neues Recht zu neuem Verfall‘ konzipiert. 17 Möchte man eine Brücke zur Sprachphilosophie Benjamins schlagen, so kommt man wohl nicht umhin, die Sündenfallszene zu zitieren. Gerade durch den Baum der Erkenntnis wird letztlich die Bedingung der Möglichkeit, die eigene Schuld nachzuvollziehen, verstellt. Denn diese Erkenntnis erforderte ein Urteil, das bereits im Zeichen einer kontaminierten Rechtsordnung steht, nämlich jener des Mythos: „Der Baum der Erkenntnis stand nicht wegen der Aufschlüsse über Gut und Böse, die er zu geben vermocht hätte, im Garten Gottes, sondern als Wahrzeichen des Gerichts über den Fragenden. Diese ungeheure Ironie ist das Kennzeichen des mythischen Ursprungs des Rechtes.“ (GS II, 154) Vgl. auch die ‚Magie des Urteils’, GS II, 153. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 322 (GS II, 428) Dabei geschehe es, „daß dessen untere Seite ans Licht“ geriete, die „nicht angenehm zu sehen“ sei. Kafka sei imstande, diese seltsame untere Seite zu ertragen. Das Bild des Steins erinnert an jenes Schwankungsgesetz, von dem Benjamin in „Zur Kritik der Gewalt“ gesprochen hat, an jenes Auf und Ab. Deswegen ist jeder Glaube an Fortschritt, der Glaube an Erlösung, verfehlt: „Das Zeitalter, in dem Kafka lebt, bedeutet ihm keinen Fortschritt über die Uranfänge“, heißt es ein paar Zeilen weiter unten. „Seine Romane spielen in einer Sumpfwelt.“ (GS II, 428) ‚Sumpfwelt‘ ist ein interessantes Stichwort. Es handelt sich nämlich um einen Begriff, der auf Bachofen verweist. Als ‚Mythopoiie‘ 18 darf Bachofens Methode bezeichnet werden, aus Mythen einen neuen Mythos zu erschaffen. 19 Für die hetärische Stufe der Menschheit, die Benjamin mit dem Begriff der ‚Sumpfwelt‘ herbeizitiert („Die Kreatur erscheint bei ihm auf der Stufe, die Bachofen als die hetärische bezeichnet.“ GS II, 428), gibt es keine Beweise, da keine Gesetze oder Regeln - wiederum keine originalen schriftlichen Erzeugnisse - von ihr zeugen. 20 Diese Sumpfwelt ist präexistent und nicht eigentlich repräsentierbar. Deshalb interpretiert Benjamin Kafkas ‚unfertige‘ und ‚enstellte‘ Geschöpfe als die geeigneten Zeugen der Sumpfwelt. Wie es weiter oben hieß, handelt es sich ja um Geschöpfe, die dem Mutterschoß der Natur noch nicht völlig entronnen seien. Die rund um Klages angesprochene Fortschrittsskepsis lässt sich hier durchaus ablesen, jedoch ist das Vergangene hier weder positiv noch negativ besetzt, auch wenn die Zeugen dieser Vergangenheit einen etwas befremdlichen Eindruck machen mögen. Deutlich wird jedoch, dass der Mythos mit seiner neuen Ordnung die Vorwelt zwar ablöst, dass er aber nicht ‚besser‘ ist als sie. Ein anderer Aspekt ist eben, dass der Mythos sie nicht endgültig verdrängen kann, seine Kräfte siegen nicht endgültig über die 18 Georg Dörr, Muttermythos und Herrschaftsmythos, S. 59. 19 Vgl. Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Frankfurt am Main 1975, S. 8: „Der Anfang aller Entwicklung aber liegt in dem Mythus. Jede tiefere Erforschung des Altertums wird daher unvermeidlich zu ihm zurückgeführt. Er ist es, der die Ursprünge in sich trägt, er allein, der sie zu enthüllen vermag.“ 20 Vgl. Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht, S. 29: „Wie auf die Periode des Mutterrechts die Herrschaft der Paternität folgt, so geht jener eine Zeit des regellosen Hetärismus voran.“ Oder auf S. 33 f.: „Wir erkennen den Gegensatz der Ackerbaukultur und der iniussa ultronea creatio, wie sie in der wilden Vegetation der Mutter Erde, am reichsten und üppigsten in dem Sumpfleben, den Blicken des Menschen sich darstellt. Dem Vorbild der letztern schließt der Hetärismus des Weibes, der erstern das demetrisch-strenge Ehegesetz der ausgebildeten Gynaikokratie gleichartig sich an. Beide Lebensstufen ruhen auf demselben Grundprinzipe, der Herrschaft des gebärenden Leibes; ihr Unterschied liegt nur in dem Grade der Naturtreue, mit welcher sie das Muttertum auffassen. Die tiefste Stufe der Stofflichkeit schliesst sich der tiefsten Region des tellurischen Lebens an, die höhere der höhern des Ackerbaus[.]“ 7.2. Kafkas Welt(en) 323 „stofflich-mütterlichen“, hetärischen Kräfte der Sumpfwelt. Der Mythos ist trotz - und hier besteht eine Parallele zur Mythos-Rezeption in der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 21 - oder gerade vielleicht wegen seiner scheinbar rationaleren Organisationsweise ein fatales Weltalter, dessen patriarchalische Familiensituation jeden in kreatürliche Schuld verstrickt. 22 Die Überwindung des Hetärismus ist, überspitzt formuliert und mit Blick auf Kafka, erkauft mit der Pervertierung des Verstands in Form der Techniken des Wissens, der Verwaltung, der materiellen Produktion, des Zusammenlebens: man denke an die Bürokratie, an die perversen Strafsysteme (‚Strafkolonie‘). Deshalb bietet der Mythos keinen wirklichen Fortschritt, vielmehr befindet er sich de facto in einem Leerlauf. Aber es ist nicht so, dass trotz dieser Fortschrittskritik völlige Hoffnungslosigkeit herrsche. Diese Sumpfwelt enthalte einen Schimmer Hoffnung, eine Hoffnung im Kleinen. Die Figuren, denen Hoffnung beschieden sei - weiter oben wurden sie erwähnt, es sind „die Gehilfen“ -, seien in einer Mittelwelt zuhause, in „jener kleinen, zugleich unfertigen und albernen Mittelwelt“ (GS II, 416). Jene kleine und unfertige Welt befindet sich laut Benjamin in den „Kellerlöchern“ des Potemkinschen Palasts (in einem solchen Loch soll in der ‚Berliner Kindheit‘ übrigens auch jenes bucklige Männlein wohnen, das im Kafka-Aufsatz ebenfalls noch prominent auftauchen wird), in denen Kafka auf „Josefine, jene singende Maus“ gestoßen sei. Über diese und ihr Tun schreibt er, dabei Kafka direkt zitierend: „Et- 21 Der Mythos-Diskurs in der „Dialektik der Aufklärung“ erinnert in gewissen Zügen - teilweise bis in die Wortwahl - immer wieder an einige Texte Benjamins, die hier auch schon zur Sprache gekommen sind (z. B. an „Schicksal und Charakter“, an „Zur Kritik der Gewalt“ oder eben an den Kafka-Essay). Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988, S. 17 f.: „Die Mythologie selbst hat den endlosen Prozeß der Aufklärung ins Spiel gesetzt, in dem mit unausweichlicher Notwendigkeit immer wieder jede bestimmte theoretische Ansicht der vernichtenden Kritik verfällt, nur ein Glaube zu sein, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja der Aufklärung zum animistischen Zauber geworden sind. Das Prinzip der schicksalhaften Notwendigkeit, an der die Helden des Mythos zugrunde gehen, und die sich als logische Konsequenz aus dem Orakelspruch herausspinnt, herrscht nicht bloß, zur Stringenz und formaler Logik geläutert, in jedem rationalistischen System der abendländischen Philosophie, sondern waltet selbst über der Folge der Systeme, die mit der Götterhierarchie beginnt und in permanenter Götzendämmerung den Zorn gegen mangelnde Rechtschaffenheit als den identischen Inhalt tradiert. Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann.“ 22 Hier tritt ein Moment hinzu, das Benjamin bei Hermann Cohen findet: „Den Grundbegriff, der den eigentlichen Kern des Schicksals bildet, haben wir in dem Begriffe der Schuld zu erkennen.“ Vgl. Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens, S. 363. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 324 was von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch bestehenden und nicht zu ertötenden Munterkeit.“ (Ebd.) Die arme kurze Kindheit ist eine Kindheit, die selbst im Kinderbild von Kafka, das im zweiten Kapitel des Essays („Ein Kinderbild“) angeführt wird, bloß aufblitzt. Denn Kindheit ist in der von Benjamin gemeinten und beschriebenen Photographie eine für die Kamera inszenierte und durch den Zeitgeist geprägte - „selten ist die ‚arme kurze Kindheit‘ ergreifender Bild geworden“ (Ebd.). Doch das Atelier des Photographen, das mit „Palmen, Gobelins und Staffeleien“ stickige und schwüle („gepolsterte“) Tropen als Hintergrund liefert, verweist nicht nur durch sein Arrangement auf das Theater, das Benjamin in Gestalt des ‚Naturtheaters von Oklahoma‘ („Die Welt ist ein Welttheater“, GS II, 422) thematisiert, sondern auch auf die bereits angesprochene Sumpfwelt. In der Tiefe (in den Kellerlöchern, oder auf der unteren Seite des Sisyphos- Steins) befindet sich diese vergessene Welt, die in die Gegenwart hinein ragt. Wenn Benjamin also von ‚Welt‘ spricht, von ‚vorweltlichen Gewalten‘, die man mit „gleichem Recht auch als weltliche unserer Tage betrachten“ könne, schwingt eine Doppelbedeutung von ‚Welt‘ mit. Eine säkularisiert gewähnte Sphäre hat einen doppelten Boden. Einerseits einen archaischen, der vormals durch Mythos und Religion gebändigt wurde, andererseits eben diesen mythischen und religiösen selber, der durch die aufklärerischen Prozesse oder den ‚Fortschritt’ vermeintlich überwunden wurde. Dieser doppelte Boden sieht Benjamin in der Gegenwart latent vorhanden. Die Bachofensche Sumpfwelt ist für Benjamin die unterste Stufe dieser Kafkaschen Romanszenerie: Die Kreatur erscheint bei ihm auf der Stufe, die Bachofen als die hetärische bezeichnet. Daß diese Stufe vergessen ist, besagt nicht, daß sie in die Gegenwart nicht hineinragt. Vielmehr: gegenwärtig ist sie durch diese Vergessenheit. Eine Erfahrung, die tiefer geht als die des Durchschnittsbürgers, trifft auf sie auf. „Ich habe Erfahrung“, lautet einer der frühesten Aufzeichnungen Kafkas, „und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist.“ (GS II, 428) 23 23 Es mag an dieser Stelle erscheinen, als ob Kafka selbst diese Aussage gemacht habe, tatsächlich handelt es sich aber um die Aussage einer literarischen Figur aus dem unfertigen Text „Beschreibung eines Kampfes“. Alexander Honold bringt sie über eine Formulierung in einer Textvariante mit einer Bibelstelle zusammen, in der der betrunkene Noah in seinem Zelt von seinem Sohn Ham mit entblößtem Geschlechtsteil entdeckt wird. Damit erlangt diese Szene eine gewisse Verwandtschaft zu der mit Georg Bendemann und seinem Vater: „Doch als Vater, Stammvater gar, inauguriert Noah die Dialektik der erzwungenen Pietät, denn er herrscht und straft, wo er am schwächsten ist. Seine Macht wächst an ihrem Gegenteil. Wenn Georg Bendemann in 7.2. Kafkas Welt(en) 325 Eine Erfahrung, die also ‚tiefer‘ geht als die des Durchschnittsbürgers, eine Erfahrung, die sich in einer der ‚frühesten‘ Aufzeichnungen Kafkas findet, zeigt an, dass sich der Begriff der Erfahrung, der sich mit der Erfahrung der Vergessenheit jener frühen Stufe verbindet, nicht einfach auf die Sphäre des Individuellen reduzieren lässt - die ‚Tiefe‘ bezieht sich nicht nur auf das eigene Bewusstsein oder Unterbewusstsein. Sie bezieht sich genauso auf die Geschichte - und also ein kollektives Bewusstsein oder Unterbewusstsein. Deutlich wird demnach an dieser Stelle, dass die hier angesprochene Erfahrung einen zweifachen Bezug aufweist, auf die Onto- und die Phylogenese. 24 Diese ‚Tiefe‘ lässt sich auf eine chthonische Entwicklungsstufe beziehen, auf die üppige, sexuell regellose Sumpfwelt, die demjenigen, der ihrer in der Gegenwart - dem ‚festen Land‘, das auf diesem ‚Sumpf‘ aufbaut - gewahr wird, eine Art ‚Seekrankheit‘ bescheren dürfte. In den Notizen spricht Benjamin in einer Variante zur oben zitierten Stelle davon, dass man Kafkas „Überlegungen“ folge, als „ginge es über Moorboden“. 25 Auch bezüglich des Stichworts ‚Ontogenese‘ sollte festgehalten werden, dass die ‚Kindheit‘, um die es an dieser Stelle geht, natürlich auch keine individuelle ist. Die vorher erwähnte ‚kurze Kindheit‘, die von Benjamin im Zusammenhang mit Josefine und dem Volk der Mäuse angeführt wurde, darf - die Bezeichnung ‚Volk‘ weist darauf hin - als Kindheit ganzer Geschlechter betrachtet werden. Überlieferung spielt deshalb eine nicht unwichtige Rolle in den Benjaminschen Überlegungen zu Kafka. In einem frühen Schematisierungsversuch zu Kafka wird das ebenfalls deutlich. Dort schreibt Benjamin über Kafkas Welt, dass sie sich „nach ihrer Naturseite, bei ihm im Stadium, das Bachofen das hetärische genannt hat“, be- Kafkas Urteil seinen Vater zu Bett bringen möchte, geschieht dies aus der Absicht, sich gegen das peinigende Diktat der Entblößung, der zur Schau gestellten Schwäche zu wappnen.“ Vgl. Alexander Honold, Der Leser Walter Benjamin, S. 386 f. 24 „Das Vergessene - mit dieser Erkenntnis stehen wir vor einer weiteren Schwelle von Kafkas Werk - ist niemals nur individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein. Vergessenheit ist das Behältnis, aus dem die unerschöpfliche Zwischenwelt in Kafkas Geschichten ans Licht drängt.“ (GS II, 430) 25 „Um dies Vergessene und Vergessenste heimzuholen, nimmt Kafka die ganze Welt in eine rückwärtige Stellung zurück. Er räumt Jahrtausende der Kulturentwicklung. Die Welt befindet sich, nach ihrer Naturseite, bei ihm in dem Stadium, das Bachofen das hetärische genannt hat. Kafkas Romane spielen in einer Sumpfwelt. Aber diese Welt ist dann auch wieder die unsere: eben darum, weil wir sie nicht bewältigt, sondern nur verdrängt und vergessen haben. Kafkas Logik ist darum eine Sumpflogik. Den Überlegungen, die er anstellt, folgt man als ginge es über Moorboden. Und eine seiner frühsten Aufzeichnungen sagt: ‚Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, dass es eine Seekrankheit auf festem Lande ist.’“ (GS II, 1236) 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 326 finde. Das hat noch nicht viel mit Überlieferung zu tun, denn wir erinnern uns, dass Bachofen selbst von der Regellosigkeit dieser Stufe spricht. Dieser Seite hält er aber in seinem Schematisierungsversuch einem anderen Pol entgegen, dieses Mal keinem unspezifischen ‚Mythos‘, sondern dem Judentum. Kafka konfrontiere „in seinen Büchern“ diese hetärische Welt „mit der gesetzlichen des Judentums“: Es ist als wenn Kafka experimentell die sehr viel größere Angemessenheit der Thora an eine, obzwar in ihr verschollene, prähistorische Stufe der Menschheit erweisen wollte. Aber ganz verschollen ist diese Stufe auch in der Thora nicht. Die Reinigungs- und Speisegesetze beziehen sich auf eine Vorwelt, von der nichts mehr erhalten ist als diese Abwehrmaßnahmen gegen sie. (GS II, 1192) Benjamin argumentiert hier wiederum ex negativo. Die Thora zeuge von einer prähistorischen Stufe der Menschheit, aber nur indirekt. Anhand der Speise- und Reinigungsgesetze lasse sich das noch sehen, weil sie eine Abwehrmaßnahme darstellten. Diese Gesetze wiederum bilden im jüdischen Schrifttum eine eigene Gattung. Zumindest suggeriert Benjamin das mit einem Gegensatz, den er in beinahe allen seinen Kafka-Texten bemüht. Die Rede ist vom Gegensatz von Aggada und Halacha 26 , um Kafkas Texte letztlich als eine Art von Aggada auszuweisen. Kafkas Bücher seien die „fehlende Hagada zu dieser Halacha“, die Benjamin mit den Speisegesetzen und der Sumpfwelt anspricht (Ebd.). Kafka schreibe also Texte, die den „Geschichten und Anekdoten des rabbinischen Schrifttums, die der Erklärung und Bestätigung der Lehre - der Halacha - dienen“, ähnelten (GS II, 679). Folgt man Chaim Bialik, dessen Aufsatz über die Halacha und Aggada Benjamin gelesen hat oder zumindest indirekt kannte, weil er von Scholem ins Deutsche übertragen wurde, so sind Halacha und Aggada zwei Seiten 26 Vgl. Gershom Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt am Main 1970, S. 97: „Die Bemühungen der Schriftgelehrten um die Einbeziehung aller Lebensbereiche in die nun hochkommende, im Midrasch gründende Tradition zerfallen nach der Auffassung der jüdischen Quellen in zwei Gebiete, Halacha und Aggada. Halacha bedeutet dabei wörtlich Norm oder Regel, nach der man sich richtet, das heißt eine Aussage über die Verhaltungsweise im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen der Tora oder ihrer Anwendungen, wie sie von der Tradition festgestellt wurden. Aggada ist wörtlich ‚Aussage’, nämlich Aussage der Schrift, die den Schriftgelehrten, die in ihr forschen, etwas sagt, was über den ersten Eindruck des Wortlauts hinausgeht. Im genauen Sinne sind damit Aussagen gemeint, die den nichtgesetzlichen Teil der Tora betreffen und bei denen, da sie keinen Bereich der Anwendung des Gesetzes im konkreten Leben betrafen, eine viel größere Freiheit der Exegese statthatte.“ 7.2. Kafkas Welt(en) 327 einer Medaille, „zwei Dinge, die eines sind, zwei Gesichter eines Wesens“. 27 Halacha und Aggada sind für Bialik Ausdruck eines ‚lebendigen Volkes‘, sie zeugten von einer ‚lebendigen‘ Tradition und prägten auch das künftige ‚Leben‘. „Lebendige und kraftvolle Halacha“ sei „vergangene oder zukünftige Aggada und umgekehrt“ - „Anfang und Ende beider“ seien „miteinander verflochten“. 28 Und was sind alle 613 Gebote in der Thora anderes als das letzte Resultat, Synthese auf Synthese mythischer Worte, Aggada und uralter Gebräuche - einer Thora des Lebens, einer Thora des Mundes und Herzens - die seit Urzeiten Jahrtausende hindurch gleichsam im Äther schwebten, bis die Zeit kam, wo sie sich in der Gestalt von Satzungen kristallisierten, die in Stein gehauen oder auf Pergament niedergeschrieben wurden? 29 Bei der Lektüre des Bialik’schen Aufsatzes, den Benjamin von Scholem mehrmals brieflich angefordert hatte, wird deutlich, dass Halacha und Aggada in das Überlieferungsgeschehen eingebettet sind und dass beide zusammen gehören. Vor allem die Aggada, mit der Benjamin Kafkas Literatur vergleicht, ist stark mit der ‚lebendigen Tradition‘ verknüpft und deshalb auch vielstimmig. Jedoch mag man nicht sofort an Kafka beziehungsweise an die Charakterisierung seiner Prosa durch Benjamin denken, wenn es in einem anderen Text von Bialik über die Aggada und ihren Stil heißt: Es ist ein klarer und einfacher, leichter und flüssiger Stil, ein Stil des Behagens und der schrankenlosen Weite. Er hat viel von der Bestimmtheit und Genauigkeit einer entwickelten Literatursprache, viel von der verhaltenen, treuen, inneren Wärme der Sprache des Herzens, viel von der Bildhaftigkeit und der Hyperbolik der Volksphantasie und viel von der Prägnanz und Schärfe der Sprache der Gelehrten und Volkssprüche. In einigen alten Teilen der Aggada (in den Mischnajoth und Baraithoth) ist auch noch viel von der Vitalität und Jugendfrische einer wahrhaften Volkssprache aufbewahrt; dieser Sprache Erdgeruch ist noch nicht ganz verweht, das Band der Natur bindet sie noch immer irgendwie an ihr Volk und das Volk an sie. 30 Und doch ist man in gewisser Weise an Kafka erinnert, wenn man diese Charakterisierung nicht auf das jüdische Volk bezieht, das Bialik in seinen 27 Vgl. Chaim Nachman Bialik, Halacha und Aggada, Deutsch von Gershom Scholem, in: Der Jude. Eine Monatsschrift, IV. Jahrgang, Heft 1/ 2, April-Mai 1919, S. 61-77, S. 62, kursiv im Original. 28 Vgl. Chaim Nachman Bialik, Halacha und Aggada, S. 62. 29 Ebd., S. 62. 30 Vgl. Chaim Nachman Bialik, Essays, autorisierte Übertragung aus dem Hebräischen von Viktor Kellner, Berlin 1925, S. 73. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 328 Ausführungen immer wieder anführt, sondern auf jenes Volk, das Benjamin beschwört - das ‚Volk‘ der seltsamen Wesen, die Kafkas Romane bevölkern. Und dieses ‚Volk‘ ist ja, wie man immer wieder lesen kann, nicht nur ein ‚Volk‘ der Vergangenheit, sondern auch eines der Zukunft. Aufs „innigste verschränkt aber mit diesem hagadischen Text“ enthielten „seine Bücher einen prophetischen“, schreibt Benjamin (GS II, 1192). Die halachische Seite, die sich in Kafkas Literatur finde, bringt Benjamin mit dem Judentum in Verbindung. Er schreibt nämlich, dass das Judentum dem „hetärischen Natursein der Menschen […] die Strafe entgegen[hielte]“. Das Kommende sei nicht Wirkung einer „jüngstvergangenen Ursache sondern als Strafe einer, unter Umständen längstvergangenen Schuld zugeordnet“, heißt es ebenda. Das Judentum, das Benjamin bei Kafka zu entdecken vermeint, ist reduziert auf eine Zeugenschaft für einen schuldhaften Zustand, der - ebenso wie die Strafe - über Kafkas ‚aggadischen‘ oder ‚hagadischen‘ Erzählungen liegt. Das mutet etwas seltsam an, da vom Judentum in Bachofens Mythopoiie eigentlich nicht die Rede ist. Die Figuren aus der ‚Tiefe‘, die bei Kafka auftauchen, besonders die zahlreichen Frauengestalten, ordnet Benjamin mit Bachofen der ‚hetärischen‘ Sumpfwelt zu. Benjamin schildert ausführlich eine Szene aus dem Schloss, in der sich K. in einer Bierpfütze wälzend mit dem Ausschankmädchen Frieda einlässt 31 , und weist auf Leni aus dem ‚Process’, die als Stellvertreterin für alle Frauen durch ein amphibisch anmutendes Verbindungshäutchen zwischen Mittel- und Ringfinger diese als „Sumpfgeschöpfe“ 32 ausweisen soll. Kafkas Welt ist demnach immer mit den Uranfängen 31 GS II, 413: K. und das Mädchen umfassen sich, rollen am Boden rum, ‚versumpfen’ in gewisser Weise, liegen nämlich „in kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt“ ist. K.s Körper - im Essay wird die Körperlichkeit als derjenige Teil thematisiert, der auf eine vergessene Weise mit der Vorwelt verbunden ist und deshalb als fremd erscheint (Benjamin führt beispielsweise Kafkas Husten an, den dieser als ‚das Tier’ bezeichnet) - ist auf eine für ihn undurchschaubare Weise mit dem Sumpf verbunden, wenn er sich etwa „in der Fremde“ wähnt, „wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren“. Der Körper als Fremdes, gar Feindliches, wird auch andernorts im Essay thematisiert: „Denn so wie K. im Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper; er entgleitet ihm, ist ihm feindlich. Es kann geschehen, daß der Mensch eines Morgens erwacht, und er ist in ein Ungeziefer verwandelt. Die Fremde - seine Fremde - ist seiner Herr geworden.“ (GS II, 424) 32 Vgl. GS II, 429: „Sie sind Sumpfgeschöpfe wie Leni, die ‚den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand’ auseinanderspannt, ‚zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger’ reicht. - ‚‘Schöne Zeiten,’’ erinnert die zweideutige Frieda sich ihres Vorlebens, ‚’du hast mich niemals nach meiner Vergangenheit gefragt.’’ Diese führt eben in den finsteren Schoß der Tiefe zurück, wo sich jene Paarung vollzieht, ‚deren regellose Üppigkeit’, um mit Bachofen zu reden, 7.3. Kurze Kindheit, Hoffnung im Kleinen 329 verbunden, mehrere ‚Welten’ vermengen sich in ihr, so dass von einer gewöhnlichen Chronologie nicht mehr ausgegangen werden kann. Es sind unvordenkliche Zeiten, die in Kafkas Welt mit der Gegenwart koexistieren. Und diese Gegenwart, so Benjamin, interessiere Kafka nicht groß, „sie scheide also für Kafka vollkommen aus“ (GS II, 1192). Sein ganzes Interesse gelte eigentlich „dem Neuen, der Strafe, in deren Lichte freilich die Schuld schon zur ersten Stufe der Erlösung“ würde. So lässt sich auch die Sympathie für jene Geschöpfe erklären, die von dieser Schuld zeugen. Denn sie weisen gleichzeitig auf die Erlösung. Das paradoxe Bild des den Stein des Sisyphos wälzenden Kafkas, der die untere Seite ans Licht bringt, veranschaulicht diesen Umstand gut, gerade weil es unmöglich ist, sich dieses Bild zu vergegenwärtigen. Diese untere Seite ist nach Benjamin in Kafkas Welt völlig real, auch wenn sie nur auf verstörende Weise - oder eben: entstellt - sichtbar gemacht wird. Das Beladensein mit Schuld, das Verdrängen dieser Schuld und die Entstellung als Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen, sorgen dafür, dass die Figuren und Motive Kafkas die komplexe zeitliche Struktur, die Benjamin in Kafkas Welt bloßlegt, immer wieder zum Ausdruck bringen und für das Längstvergangene wie gleichzeitig das Künftige stehen. Diese doppelte Bedeutung kommt häufig der Kindheit zu. Auch sie ist - aus der Perspektive des Erwachsenen - vergangen und steht gleichzeitig für das Künftige. 7.3. Kurze Kindheit, Hoffnung im Kleinen In Kafkas Welt hat es Platz für das Kind oder Kindliche. Auffällig ist, dass für gewöhnlich die kleinen Erzählungen oder Texte, auf die die Untertitel von Benjamins Essays verweisen („Potemkin“, „Das bucklicht Männlein“, „Sancho Pansa“), von ihm ausgelegt werden. Ein Untertitel verweist aber auf keine Geschichte, sondern er könnte sich auf eine Photographie Kafkas beziehen, die Benjamin kurz beschreibt. Besagter Untertitel lautet „Ein Kinderbild“. Die Photographie Kafkas, die Benjamin am Anfang dieses Kapitels beschreibt, wird, wie Adorno schon bemerkt hat, jedoch nicht groß interpretiert. Es ist nur knapp von der ‚armen kurzen Kindheit’ die Rede, die in dieser Photographie ergreifend Bild geworden sei („Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die ‚arme kurze Kindheit‘ ergreifender Bild geworden.“) (GS II, 416). ‚den reinen Mächten des himmlischen Lichts verhaßt ist (…).‘“ Auch hier wird eine individuell erscheinende Vergangenheit mit einer phylogenetischen Ebene verknüpft. Außerdem fallen die Stichworte ‚regellos‘, ‚Mächte des himmlischen Lichts‘. Die hier skizzierte Sexualität überbordet offensichtlich die eingangs geschilderte, ‚geregelte‘ - aber nicht minder prekäre - Sexualität der Familie. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 330 Das Kindliche, das auf dieser Photographie zu sehen ist, scheint entstellt. Einige Zeilen weiter oben wurde der Satz mit Josefine, der singenden Maus, zitiert, worin auch die Rede von der armen kurzen Kindheit ist. Es ließ sich feststellen, dass ‚Kindheit‘ sich in diesem Kontext nicht auf eine individuelle Ebene beschränkt. Die Welt Kindheit bezieht sich genauso aufs Kollektiv. Der Hinweis, dass das Modell auf der Photographie, also Kafka, in stickigen und schwülen, gepolsterten Tropen steht, zeigt, dass seine Kindheit mit der quasi-phylogenetischen Sumpfwelt in einem Zusammenhang steht. Aber wie für die Sumpfwelt ist in der Gegenwart für die Kindheit kein Platz. Sie ist bereits vergessen, bevor sie überhaupt ausgelebt werden konnte. Deswegen findet Benjamin auch eine Art Trauer in diesem Bild vor. Benjamin schreibt: „Unermeßlich traurige Augen beherrschen die ihnen vorbestimmte Landschaft, in die die Muschel eines großen Ohrs hineinhorcht.“ (GS II, 416) Viel mehr wird über dieses Bild eigentlich nicht gesagt. Dem Leser des ‚Mummerehlen‘-Textes fällt freilich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Beschreibung der Photographen-Szene auf, die dort geliefert wird. Auch dort wird die Szenerie, in die das Kind beim Photographen gestellt wird, in Melancholie getaucht. Außerdem herrscht eine gewisse Widersprüchlichkeit vor. Einerseits wird das Kind oder ‚ich‘ dort als Älpler geschildert, andererseits erhält es am Ende des Textes plötzlich einen „gewaltigen Sombrero“, den es „mit einstudierter Grazie“ in der Linken hält - die „Rechte“ sei mit „einem Stock befaßt, dessen gesenkter Knauf im Vordergrund zu sehen“ sei, „indessen sich sein Ende in einem Büschel von Pleureusen birgt, die sich von einem Gartentisch ergießen“ (GS IV, 261). Wenn man sich das Kinderphoto Kafkas anguckt, das am Ende von Band VII/ 1 der Gesammelten Schriften abgedruckt ist, erkennt man deutlich, dass hier eine Parallelisierung stattgefunden hat. Interessant dabei ist aber nicht nur, dass das ‚Ich‘ der ‚Berliner Kindheit‘ sich - „entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist“ - mit Kafka oder einer Photographie identifiziert. Interessant ist auch, dass die Beschreibung dieser Photographie Elemente enthält, die im Rahmen der Kindheitsthematik generell - und textübergreifend - relevant zu sein scheinen. Dem hier mehrfach erwähnten Stück „Die Mummerehlen“ kommt bekanntlich eine exzeptionelle Stellung zu. Im ‚enstellten‘ Vers „Ich will dir was erzählen von der Mummerehlen“ (GS IV, 262) habe die „ganze entstellte Welt der Kindheit“ Platz, heißt es dort. „Die Muhme Rehlen, die einst in ihm saß, war schon verschollen als ich es [das Verschen] zuerst gesagt bekam.“ Der Ort, an dem der ‚Mummerehlen‘ vom erzählenden ‚Ich‘ nachgespürt wird, liegt meist in der Tiefe (im Tellergrund des Suppentellers, im Mummelsee) oder sonst im Flüssigen (im Dunst oder Gewölk). 7.3. Kurze Kindheit, Hoffnung im Kleinen 331 Die Beschreibung dieser Kindheitsszene geht auch hier deutlich über das Individuelle hinaus. Der Vers ist Teil eines kollektiven Überlieferungszusammenhangs. Die Entstellung des Verses mag eine individuelle Reaktion auf einen falsch verstandenen Namen darstellen. Aber der Umstand, dass die Muhme Rehlen schon lange verschollen gewesen sei, als das Verschen zum ersten Mal an die Ohren des Kindes drang, sagt mehr aus. Es lässt sich vermuten, dass sie bereits in eine Art unvordenkliche Vergangenheit abgesunken sein muss, die älter ist als das zu Ende gehende neunzehnte Jahrhundert, an das sich der Ich-Erzähler im Stück noch halbwegs zu erinnern vermag. Es klingt nichts anderes an als jene Vorwelt, die im Kafka-Essay so prominent thematisiert wird. In den Notizen zu Kafka heißt es: „Jene Welt des Staubs, des Plüsch und des Muffs, aus welcher, wie aus einer Vorwelt, Kafkas Frauen steigen, erscheint ihm selber auf einer Photographie beigegeben. Es ist ein Kinderbild und gewiß eines der ergreifendsten.“ (GS II, 1225) Benjamin vergleicht die Staffage beim Photographen - Plüsch, Staub und Muff erinnern an das bürgerliche Interieur im neunzehnten Jahrhundert, das bald durch weniger ornamentales Eisen und Glas abgelöst werden sollte - explizit mit der Vorwelt. Aus dieser Vorwelt scheinen also auch die entstellten Figuren der Kindheit wie die ‚Mummerehlen‘ und das ‚Bucklige Männlein‘ zu kommen. Und durch sie ist auch die Kindheit mit der Vorwelt verbunden. Mit der Vorwelt ragt auch eine präindividuelle Kindheit in die Gegenwart. Diese virtuelle Kindheit erscheint in der Aktualität nur als entstellte und in gewisser Weise unbestimmte. In einer gewissen Spannung steht das Stück über die ‚Mummerehlen‘, folgt man Benjamins Ausführungen (vgl. den Brief an Scholem vom 28. 2. 1933, GB IV, 163), zu jenem über das ‚Bucklige Männlein‘. Auch das ‚Bucklige Männlein‘ ist, wie die ‚Mummerehlen‘ und die Kindheit selbst, entstellt. Man könnte sogar sagen, dass diese Entstelltheit nirgends deutlicher ausgedrückt wird als in jenem Kindervers, dem Benjamin in seiner Berliner Kindheit eine zentrale Stellung einräumt und der als Namengeber eines ganzen Kapitels des Kafka-Essays dient. Das bucklige Männlein taucht im Kafka-Essay - immer wieder ein wenig entstellt - als ‚bucklichtes’ oder ‚buckliches’ auf. Dieses Männlein ist die Chiffre einer entstellten Kindheit, die nur durch eine Art von Umkehr erfahrbar wird, denn nicht umsonst spielt die Rückenmetaphorik rund um den Buckligen im Essay eine entscheidende Rolle. 33 Dieser „Insasse des 33 Benjamin führt im Zusammenhang mit den Gebeugten und Buckligen auch die Maschine der Strafkolonie an, die „verschnörkelte Lettern in den Rücken der Schuldigen eingraviert, die Stiche mehrt, die Ornamente häuft solange, bis der Rücken der Schuldigen hellsehend wird, selber die Schrift entziffern kann, aus deren Lettern er den Namen seiner unbekannten Schuld entnehmen muß. Es ist also der Rücken, dem es aufliegt“ (GS II, 432) Das Beladensein geht mit dem Vergessen einher. Das Vergessene ist etwas, das nur entstellt wahrnehmbar ist. Genauso ist auch der Entstellte 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 332 entstellten Lebens“ (GS II, 432), das sich selbst im Umlaut und Suffix seines Namens darstellt, fungiert auch als ‚Urbild der Entstellung’ (GS II, 431). „Wo es erschien, da hatte ich das Nachsehn“, heißt es in der „Berliner Kindheit“. „Ein Nachsehn, dem die Dinge sich entzogen, bis aus dem Garten übers Jahr ein Gärtlein, ein Kämmerlein aus meiner Kammer und Bänklein aus der Bank geworden war. Sie schrumpften, und es war, als wüchse ihnen ein Buckel, der sie selber nun der Welt des Männleins für sehr lange einverleibte.“ (GS IV, 303) Dieses Urbild der Entstellung entzieht die Dinge konstanten Gesetzen des Wahrnehmens, es lässt sie schrumpfen und bucklig werden; und es bringt sie in Vergessenheit. Das Männlein ist selber nicht sichtbar, durch seine Entstelltheit ist es konturlos, vermag als Urbild nicht gesehen zu werden, blickt dafür aber uns an. Das Männlein hat Bilder „von uns allen“, die jenen ähneln, aus denen sich das Leben zusammensetzt, das „vorm Blick der Sterbenden vorbeizieht“: Sie flitzen rasch vorbei wie jene Blätter der straff gebundenen Büchlein, die einmal Vorläufer unserer Kinematographen waren. Mit leisem Druck bewegte sich der Daumen an ihrer Schnittfläche entlang; dann wurden sekundenweise Bilder sichtbar, die sich voneinander fast nicht unterschieden. (GS IV, 304) Diese rasch vorüberziehenden Bilder, die das Männlein von uns hat, erinnern an einen Zeitraffer. Diesem Männlein rafft sich die Welt zusammen. Diese Perspektive ist vergleichbar mit jener, die auch Kafka zugeschrieben wird - es handelt sich bekanntlich um eine Perspektive jenseits der Chronologie, in der sich Weltalter zusammenfügen. Dadurch wird etwas sichtbar, das dem chronologischen Blick, der weniger ‚entstellt‘ als glättet, verborgen bleiben muss. Auf der Ebene des Individuums ist das Schrumpfen und Bucklig-Werden der Dinge in einen notwendigen Prozess des Vergessens eingebunden, der das Leben des Individuums nach bestimmten wiederkehrenden Gesetzen strukturiert. Die entstellten Dinge erlangen dann den Status von Zeugnissen dieses Prozesses der Identitätsbildung. Gleich- selbst nur im Rücken - als Last - wahrnehmbar. Das Vergessene spürt man im Rücken, es ist zwar nicht sichtbar, aber im eigenen Erblicktsein ist es spürbar. Über das bucklige Männlein heißt es: „Allein, ich habe es nie gesehn. Es sah nur immer mich. Und desto schärfer, je weniger ich von mir selber sah.“ (GS IV, 304) Sich selbst zu ‚erblicken‘, stellt sich als eine Unmöglichkeit heraus. Der Blick auf sich selbst war in diesem Zusammenhang schon immer ein delegierter Blick, über den das ‚Ich‘ nicht verfügt, den es aber notwendig braucht, um sich zu konstituieren. Das ‚Ich‘ verfügt nicht über sein eigenes ‚Bild‘. Deshalb hat das Bild eine unkontrollierbare Macht über das ‚Ich‘. Die Konstitution des ‚Ichs‘ im Schreiben mag sich unter diesen Bedingungen als in seinem zwingenden Scheitern möglicherweise erfolgreichen Versuch erweisen, die Macht des Bilds zu stören. 7.3. Kurze Kindheit, Hoffnung im Kleinen 333 zeitig aber geht mit diesem individuellen Prozess des Vergessens auch die Verkennung oder das Vergessen derjenigen Elemente einher, die eine Individuation erst möglich machen, etwa Umstände und Regeln - und diese sind überindividuell und älter als das Individuum. Das bucklichte Männlein ist ein steter Begleiter eines Lebens, das ständig mit diesen Entstellungen konfrontiert ist: es ist der „Insasse des entstellten Lebens“, wie Benjamin schreibt und deshalb wohl auch das Symbol einer Kindheit, die nur als ‚entstellte‘ zugänglich ist. Weiter schreibt er, das Männlein werde „verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, daß er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde.“ (GS II, 432) Zunächst ist der Messias aber nicht da; doch das Männlein hat seine Bilder von ‚uns‘. Das Männlein wird auch mit Odradek verglichen, jener Figur, die die Sorge des Hausvaters ist und deren Name so rätselhaft ist wie sein Aussehen oder Verhalten. Das unmögliche Bild eines Lachens, das etwa so klänge wie das Rascheln in gefallenen Blättern, wird auch mit dem bucklichten Männlein assoziiert, von dem es in einem Vers heißt, es finge „als an zu lachen“. Dieses Lachen ist eine Antwort auf die Frage, was das bucklige Männlein oder die vergessenen Dinge von uns wüssten (GS II, 1241). Dieses Lachen ist wohl nichts als eine Geste oder ein Bild, das nicht wirklich funktioniert, da es sich, wie Kafka in „Die Sorge des Hausvaters“ selbst schreibt, um ein Lachen ohne Lunge handelt. Genauso ist fraglich, wie sich die Bilder vorstellen lassen, die das Männlein von ‚uns‘ haben soll. Es müsste sich fast - so paradox das klingen mag - um Bilder handeln, die man nicht sieht oder sich imaginieren kann. Um Bilder, die der unteren Seite des Steins des Sisyphos gleichen, wie Benjamin Kafkas Verhältnis zur Zeit schildert. Den Blick des Männleins nehmen ‚wir‘ bloß in unserem Rücken war, wir können ihn nicht aktiv erwidern, da sich das Männlein selbst nicht (er)blicken lässt. Darin ähnelt der Blick des Männleins der Linse des Photographen, die die ‚unermesslich traurigen Augen‘ von Kafka auf Zelluloid bannt. Diese Augen erwidern den Blick der Linse nicht, sie blicken in die Ferne. In einem übertragenen Sinn können sie es auch gar nicht, da die Linse ein immer schon Vergangenes (das sich verändernde Objekt) aufnimmt wie auch repräsentiert (der sich stets ändernde Blick, der vergangene und künftige, der das Objekt immer nur als Vergangenes wahrnimmt). Der in diesen Blicken anwesende Tod 34 ver- 34 Der Tod und das Leben spielen auch in Benjamins Photographie-Aufsatz eine entscheidende Rolle. Nicht nur zeugt der Blick des „Fischweib[s] aus New Haven“ von etwas, das „nicht zum Schweigen zu bringen ist, ungebärdig nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat, die auch hier noch wirklich ist und niemals gänzlich in die ‚Kunst‘ wird eingehen wollen“, auch das Bild von Karl „Dauthendey, dem Photographen“ überschattet der Tod: die Photographie mit seiner Braut zeigt jene „Frau, die er dann eines Tages, kurz nach der Geburt ihres sechsten Kindes, im Schlafzim- 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 334 leiht dem ‚Kinderbild‘ von Anfang an eine äußerst melancholische Atmosphäre. Diese Melancholie scheint sich auf das Bild überhaupt beziehen zu lassen: erstens mit Bezug auf die Photographie, zweitens mit Bezug auf die Beschreibung des Bilds. Denn dass das ‚Kinderbild‘ sprachlich beschrieben wird, markiert im Kontext der ‚vorsprachlichen‘ Sumpfwelt die Entstellung der Bildwelt überhaupt. Unterscheidungsmerkmale des Bildes zur Sprache, die vor allem über das Kriterium der Ähnlichkeit des Abgebildeten mit seinem Referenzobjekt getroffen werden, greifen bei diesem Bild nicht mehr. Das Bildliche figuriert dabei als eine Form, die das Vergessene bezüglich der Sprache angenommen hat. Nur so lässt sich auch die Wichtigkeit des Gestus erklären, den Benjamin in seinem Essay immer wieder anführt und der mit dem Vergessenen zusammenhängt. Der Gestus fungiert dabei als das, was übrig bleibt, wenn Kafka den Dingen den Sinn abzapft. Wenn man die Logik und den Zusammenhang dieser Motive nochmals zu rekonstruieren versucht, stößt man auf mehrere Bereiche, in denen Sprache und Bild eine zentrale Rolle spielen. Im Kontext des Benjaminschen Denkens handelt es sich bei der Kindheit, wie sie in einigen Texten der ‚Berliner Kindheit’ und in den Texten über das mimetische Vermögen gezeichnet wird, um einen Bereich, in dem Bildliches mit Sprachlichem konvergiert. Kindheit wird - auch wenn in diesen Texten ein gegenteiliger Eindruck entstehen könnte - nicht als ein festgelegter Lebensabschnitt, sondern als eine Sphäre betrachtet, die sich in chronologische Abläufe nicht ohne Schwierigkeiten einfügen lässt. Zumindest ist in ihr eine Verbindung zu unvordenklichen Zeiten angelegt, die ziemlich unbestimmt bleibt. Eine Bestimmung, die nicht wirklich fassbar ist, erhält sie im Kafka-Essay durch den Verweis auf das hetärische Stadium bei Bachofen oder in Form der Vor- oder Sumpfwelt, die mit Begriffen aus dem Kindheitsumfeld angereichert werden. Diese relativ unbestimmten Sphären ragen alle in die Gegenwart hinein. Was dem Kind oder dem Kinderspiel bezüglich seines Verhältnisses zur Sprache und zur Umwelt zugeschrieben wird, findet einen Reflex im Verhalten des Erwachsenen. In diesem Sinne ragt die Vor- mer seines Moskauer Hauses mit durchschnittenen Pulsadern fand. Sie ist hier neben ihm zu sehen, er scheint sie zu halten; ihr Blick geht an ihm vorüber, saugend an eine unheilvolle Ferne geheftet.“ (GS II, 370 f.) Vgl. auch Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt am Main 1989, S. 106: „Das Photo ist schön, schön auch der Bursche: das ist das studium. Das punctum aber ist dies: er wird sterben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist. Indem die Photographie mir die vollendete Vergangenheit der Pose (den Aorist) darbietet, setzt sie für mich den Tod in die Zukunft. Was mich besticht, ist die Entdeckung dieser Gleichwertigkeit. Das Kinderphoto meiner Mutter vor Augen, sage ich mir: sie wird sterben[.]“ 7.3. Kurze Kindheit, Hoffnung im Kleinen 335 welt in die sittliche Ordnung der Gegenwart und in die Sphäre des Rechts hinein und in diesem Sinne ist das Mimetische noch an der semiotischen Sprache entzündbar. 35 Damit wird immer wieder gezeigt, dass in einer vermeintlich chronologischen, kontinuierliche ablaufenden Gegenwart, die nach bestimmten Ordnungen und Gesetzen homogen strukturiert wird - das lässt sich auch auf die Auffassung der Sprache beziehen -, Momente durchbrechen, die diese Homogenität aufsprengen. Als vergessene und verdrängte sind diese Momente aber gerade in der Entstelltheit jener Homogenität erst erfahrbar - diese Erfahrung ist so paradox wie jene ‚Seekrankheit auf festem Lande‘, von der Kafka spricht. Gerade in einer Zeit, in der der Fortschrittsglaube oder der Glaube an das Heil der Technik besonders intensiv ist, muss deswegen eine Literatur, die das Augenmerk auf die verdrängten Elemente dieses Glaubens richtet, als eine kritische erscheinen. Es handelt sich demnach um eine Literatur, die die Last des durchorganisierten Lebens wahrnimmt und ihr höchste Aufmerksamkeit schenkt. An die Schlussverse aus dem Volkslied über das bucklichte Männlein („Liebes Kindlein, ach ich bitt,/ Bet’ für’s bucklicht Männlein mit! “ GS II, 432) schließt Benjamin mit Überlegungen an, die Kafka selbst in die Nähe dieses entstellten Kinds - des Kindleins - bringen. Obwohl Benjamin es ist, der das Lied zitiert, entstellt er sich selbst, indem er es Kafka in den Mund legt: So endet das Volkslied. In seiner Tiefe berührt Kafka den Grund, den weder „das mythische Ahnungswissen“ noch die „existenzielle Theologie“ ihm gibt. Es ist der Grund des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen. Wenn Kafka nicht gebetet hat - was wir nicht wissen - so war ihm doch aufs höchste eigen, was Malebranche „das natürliche Gebet der Seele“ nennt - die Aufmerksamkeit. Und in sie hat er, wie die Heiligen in ihre Gebete, alle Kreatur eingeschlossen. (GS II, 432) Der Grund, den Kafka angeblich berührt, ist das Vergessene. Die Akzent des letzten Satzes scheint auf diesem ‚alle’ zu liegen, das sogleich an die Figuren oder Geschöpfe Kafkas erinnert, die mit „der Kürze des Lebens“ rechnen (GS II, 434). Mit dieser Kürze wird eine kleinstmögliche zeitliche Einheit angezeigt. Diese Kürze erinnert an jene ‚arme, kurze Kindheit’, die bezüglich Josefine und Kafka konstatiert wird. Kindheit erlangt dann den Status von etwas je schon Vergangenem und kann auch den Gehilfen und Studenten nicht mehr zugeschrieben werden („Beiläufig hört man von den Gesichtern der Gehilfen, sie ließen ‚auf Erwachsene, ja fast auf Studenten schließen.’“ GS II, 434), auch wenn es andererseits scheint, dass ihnen 35 „So ist der Sinnzusammenhang der Wörter oder Sätze der Träger, an dem erst, blitzartig, die Ähnlichkeit in Erscheinung tritt.“ (GS II, 213) 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 336 trotzdem eine gewisse Kindlichkeit eignet („‚Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin.’ Man muß an die Kinder denken: wie ungern gehen sie zu Bett! “ GS II, 434). Kindheit, wie sie hier angedeutet wird, steht nicht so sehr im Bann der Familie wie das berüchtigte Vater-Sohn-Verhältnis. Im Gegenteil, sie scheint sich von einer Kindheit innerhalb der familiären Ordnung und im familiären Bann zu unterscheiden. Sie ist ein Zeichen dafür, dass diese Ordnung Kindheit nur als eine fixierte, eine in bestimmte Abläufe eingebettete erlebt und sie ihrer Differenz beraubt. Der Kindheit und de Gesten, die ihr rund um diesen Kafka-Komplex zugeschrieben werden, kommt man nicht mit gewöhnlichen Deutungsmustern, oder mittels einer bestimmten Ordnung des Sinns bei, was Benjamin selbst in einem kurzen Abschnitt seiner „Einbahnstraße“ demonstriert: Ein Kind, im Nachthemd, ist nicht zu bewegen, einen eintretenden Besuch zu begrüßen. Die Anwesenden, vom höheren sittlichen Standpunkt aus, reden ihm, um seine Prüderie zu bezwingen, vergeblich zu. Wenige Minuten später zeigt es sich, diesmal splitternackt, dem Besucher. Es hatte sich inzwischen gewaschen. (GS IV, 90) Die Gebärde der Scham ist bekanntlich nicht nur eine intime Reaktion des Menschen, wie Benjamin im Kafka-Kommentar schreibt, sondern auch eine gesellschaftlich anspruchsvolle. Scham kann nicht nur Scham vor den andern sein, auch für andere ist Scham möglich. Und diese Scham steht mit einem Leben in Verbindung, über das Kafka nach Benjamin gesagt haben soll: „Er [Kafka] lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie… Wegen dieser unbekannten Familie… kann er nicht entlassen werden.“ (GS II, 428) Die Geste des Waschens, die das Kind vollzieht, ist eine, die ein Zeigen vorbereitet, das sich der Deutungsfähigkeit oder der Konventionen der Erwachsenenwelt entzieht: nämlich ein nacktes oder bloßes Zeigen. Damit wird das Kind Teil einer aufsteigenden Bildwelt, die in Kontrast zur Sprache des Erwachsenen und zur Sprache des Gesetzes (vom ‚höheren sittlichen Standpunkt’ aus ‚reden’ die Erwachsenen ihm zu - und genauso an ihm vorbei) steht. An dieser Stelle sei nochmals an das Kapitel zur Scham und zum Erröten in dieser Arbeit erinnert: Scham ist ein immanentes ‚Gefühl‘, es ist von einem transzendenten, höheren sittlichen‘ Standpunkt aus weder erfassnoch kontrollierbar. Das Kind verbleibt in Kontrast zur angesprochenen transzendenten Ordnung deshalb häufig in der Immanenz der Sprache. Dadurch findet eine Arbeit an der Sprache statt, die schwer zu kontrollieren ist. Benjamins bereits mehrfach angesprochenes Sisyphos- Beispiel passt dazu. 7.3. Kurze Kindheit, Hoffnung im Kleinen 337 Die Ambivalenz oder das doppelte Gesicht, die bzw. das allen Gesten eignet, eignet auch der Kindheit, die mit der Vorwelt als einer Welt, die das Individuelle übersteigt, in Verbindung steht. Deshalb werden die Gesten der Kindheit und der Vorwelt in der ‚Gegenwart’ nicht verstanden. ‚Kindheit‘ mag hier zwar an eine ‚prähistorische’ Kindheit erinnern, sie steht aber im Bann einer Ordnung, in der diese bloß als eine entstellte anwesend ist. Die entstellte Kindheit ist nicht in eine chronologische, historische Ordnung zu stellen, sie ist höchstens als ein längst Vergangenes zu aktualisieren und steht in einer spannungsreichen Beziehung zur ‚armen, kurzen Kindheit‘, die in eine familiäre Ordnung eingebunden ist. Die Sprache dient als Mittler dieser Beziehung, aber sie ist - auch wenn das gerade die semiotische Sprache nahelegt - dennoch kein Werkzeug, das diese Beziehung nach dem Willen eines Subjekts herzustellen vermöchte. Virtuell enthält die semiotische Sprache durchaus jene magischen Momente, die in der Vorwelt und der eigentlichen Kindheit aktuell sind, sie treten an ihr als Trägerin aber nur blitzhaft in Erscheinung. Wenn man diese Theoreme in die Beschäftigung mit der Literatur zurück überträgt, könnte man meinen, dass gerade die poetische Welt dazu prädestiniert ist, diese Erscheinung herbeizuführen. Die poetische Welt erzeugt ein Feld, auf dem jene völlig differenten Qualitäten mehr oder weniger mittelbar dargestellt werden können. Deswegen betreibt Benjamin mit seiner Deutung Kafkas aus der Mitte seiner Bildwelt eine Art von Bildkritik. Die Welt der magischen Sprache, in der auch die Gesten anzusiedeln sind, ist keine, in der Bild und Sprache getrennt vorkommen. Die Forcierung dieser Ungeschiedenheit bzw. die Herausstellung der Bildlichkeit der Sprache, treibt vor allem die poetische Sprache voran. Durch diese Forcierung ist die poetische Sprache aber auch der Ort der Kritik an jenem magischen Moment. 36 Durch die Möglichkeit, in der Literatur jenen Sinn abzuziehen, der das Ideal einer Sprache bildet, die über sich hinaus intentionalen Charakter besitzt, tritt in ihr das Moment der Geste, das nicht einfach nur ein Motiv ist, sondern auch einer ihrer Züge, besonders deutlich hervor. In der Aufmerksamkeit des Lesers auf jene motivischen und sprachlichen Gesten, die bei Kafka wie auch bei Benjamin gezeigt werden, hat er Teil an jener Aufmerksamkeit, die auch Kafka zugeschrieben wird. Obwohl die Geste des Studiums - so wie sie im Kafka-Essay skizziert wird - in ihrer Ausweglosigkeit als eine durch und durch fanatische Geste erscheint - weil sie ein Ritt gegen den Sturm darstellt, „der aus dem Vergessen herweht“ (GS IV, 36 Vgl. GS II, 213: „Dergestalt wäre die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit: ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie soweit gelangten, die der Magie zu liquidieren.“ 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 338 436) -, so ist gerade dieses Studium die einzige Möglichkeit, die Korrespondenzen, die zwischen dem Vergessenen und dem Jetzt walten, aufzudecken. Der Leser selbst muss diesen Ritt in die Wege leiten, um einen Text les- und deutbar zu machen, der auf den ersten Blick nicht anders als rätselhaft erscheint. Dass etwas zur Lesbarkeit gelangt, heißt dann nämlich nicht, dass in einer linearen Lektürebewegung homogener, stringenter Sinn erzeugt wird. Den Gesten und also dem Bildlichen Aufmerksamkeit zu schenken, bedeutet in etwa das, was Benjamin in der ‚Lehre vom Ähnlichen’ bezüglich eines jeden Lesens formuliert: vielfältige Bezüge, flüchtige Konstellationen wahrzunehmen, die aus dem (Lese-)Fluss hervorblitzen. 37 In diesem Kontext ist sein Beispiel für eine unsinnliche Ähnlichkeit interessant, die sich anhand verschiedener Sprachen einstellen könnte: „Ordnet man Wörter der verschiedenen Sprachen, die ein gleiches bedeuten, um jenes Bedeutete als ihren Mittelpunkt, so wäre zu erforschen, wie sie alle - die miteinander oft nicht die geringste Ähnlichkeit besitzen - ähnlich jenem Bedeuteten in ihrer Mitte sind.“ (GS II, 207) Wenn im Kafka-Essay gesagt wird, das Studium sei die „Pforte der Gerechtigkeit“, an die Kafka aber keine Verheißungen knüpfen wollte, so ist doch nicht gesagt, dass es eine Alternative zum Studium gäbe. Das Studium verspricht nichts, es bleibt Studium. „Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt.“ (GS II, 437) Diese Umkehr ist der Versuch, dem Entstellten Aufmerksamkeit zu schenken, wie der Reiter, „der der Vergangenheit auf leerer, fröhlicher Reise entgegenbraust und seinem Renner keine Last mehr ist“ (GS II, 436). Das Entstellte oder die Vergangenheit werden zu Momenten eines Gedenkens, das die Gegenwart als eine immer schon Zukünftige erst lesbar macht. Die Perspektive auf die Zukunft ist rund um die Thematik des traurigen Kinderbilds evident. Der Trauer einer entstellten Kindheit wird etwas entgegengehalten, das nicht einfach in die Vergangenheit zurückführt, sondern in die Zukunft weist. Aber es ist nicht nur der Messias, der ihr utopisch entgegengehalten wird und auch nicht nur eine ominöse Hoffnung auf Erlösung für Kafkas unfertige Kreaturen. Im Essay ist ein utopisches Moment angelegt. Nach der Beschreibung des ‚Kinderbilds‘ kommt Benjamin auf etwas anderes zu sprechen, nämlich auf den Wunsch, Indianer zu werden. Er schreibt: „Der inbrünstige ‚Wunsch, Indianer zu werden‘ mag einmal diese große Trauer verzehrt haben“, die sich in den auf der 37 Vgl. GS II, 209 f.: „Das Tempo aber, jene Schnelligkeit im Lesen oder Schreiben, welche von diesem Bemühen, die Gabe, den Geist an jenem Zeitmaß teilnehmen zu lassen, in welchem Ähnlichkeiten, flüchtig und um sogleich wieder zu versinken, aus dem Fluß der Dinge hervorblitzen. So teilt noch das profane Lesen - will es nicht schlechterdings um das Verstehen kommen - mit jedem magischen dies: daß es einem notwendigen Tempo oder vielmehr einem kritischen Augenblicke untersteht, welchen der Lesende um keinen Preis vergessen darf, will er nicht leer ausgehen.“ 7.4 Der bildliche Gestus 339 Photographie abgebildeten ‚unermesslich traurigen’ Augen spiegelte (GS II, 416). Benjamin verschiebt mit dem Indianer-Wunsch den Fokus auf ‚Amerika’, wo „der Autor“, der „sich nie anders als mit dem gemurmelten Initial ansprach“, plötzlich „mit vollem Namen auf dem neuen Erdteil seine Neugeburt“ erlebt. Das Motiv der Neugeburt in Amerika ist ein alter Topos, den auch Mircea Eliade in seinem bereits erwähnten Buch über die ‚Sehnsucht nach dem Ursprung‘ beleuchtet: Neu-England, Neu-York, Neu-Haven - alle diese Namen drücken nicht nur Heimweh nach dem verlassenen Vaterland aus, sondern vor allem die Hoffnung, dass in diesen neuen Ländern und in diesen neuen Städten das Leben neue Dimensionen bieten würde. Und nicht nur das Leben: alles in diesem Kontinent, den man als ein irdisches Paradies betrachtete, musste grösser, schöner, stärker sein. In Neu-England, das als dem Garten Eden gleich beschrieben wurde, waren angeblich die Rebhühner so groß, dass sie nicht mehr fliegen konnten, und die Truthühner fett wie Lämmer. Diese amerikanische Vorliebe für das Grandiose, die ebenfalls religiösen Ursprung hat, wird auch von den hellsten Köpfen geteilt. 38 Dazu passt, dass Benjamin schreibt, der Autor erlebe in Amerika seine Neugeburt. Und zwar erlebe er sie auf dem „Naturtheater von Oklahoma“ (GS II, 417). Das Naturtheater von Oklahoma sei ein „gestisches“ (GS II, 418) und es scheint in einer nicht auf den ersten Blick ersichtlichen Beziehung zur Sumpfwelt und zur Kindheit zu stehen, weil auf ihm, analog zu jenen beiden anderen Bereichen, eigene Gesetze herrschen, die sich der herrschenden Ordnung zu entziehen scheinen. Weder zeitliche noch räumlich-kontinentale Grenzen sind in dieser Gemengelage von Bezügen auszumachen. So heißt es etwa, dass das Naturtheater von Oklahoma auf das chinesische Theater zurückweise. Die Sumpfwelt und die Kindheit sind zeitlich nicht eindeutig situierbar, aber man weiß, dass sie in einer Differenz zur chronologischen Ordnung stehen und dass sie sich auch von den Sphären des Rechts und der Familie unterscheiden. Ebenso wenig ist klar, wie es sich mit dem Theater von Oklahoma verhält, wo es sich befindet, oder wann es statthat. Der Gestus jedoch ist ein gemeinsames Element all dieser (zeitlichen und räumlichen) Nicht-Orte. 7.4 Der bildliche Gestus Vom Gestus ist in Benjamins Essay viel die Rede, jedoch ist damit nicht ein Gestus gemeint, den man über Konventionen aufschlüsseln könnte. Wenn 38 Vgl. Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung, S. 138. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 340 bei Benjamin von Gebärden oder Gesten die Rede ist, so handelt es sich meist nicht um konventionalisierte Gebärden oder Gesten. Benjamin meint, „Kafkas ganzes Werk“ stelle einen „Kodex von Gesten“ dar, aber diese hätten „keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung“, vielmehr würden sie „in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen“ (GS II, 418). Die Gesten werden demnach in stets anderen Konstellationen erst symbolisch deutbar. 39 Wenn beispielsweise anhand dieser theatralischen Gesten eine Brücke zur Sumpfwelt, zur Welt der Tiere oder zur Welt der Kindheit geschlagen werden könnte, dann ist klar, dass es sich bei dieser Gestensprache um eine Sprache handelt, die nicht gleichzusetzen ist mit der Ordnung einer semiotischen Sprache. Es handelt sich bei dieser Gestensprache wohl eher um eine ‚bildliche‘ Sprache in dem Sinne, der im dritten Kapitel dieser Arbeit dargelegt wurde und die durch die Rede vom ‚Leibraum‘ oder von der Funktion der Geste im Theater zu entschlüsseln ist. 40 39 Auch Nicolas Pethes teilt diese Einschätzung: „Der gestischen Bilderschrift ist - wie der barocken Allegorie - die Vergänglichkeit ihrer Bedeutung eingeschrieben, mehr noch: die Geste ist eine Setzung, die ihr eigenes Vergehen impliziert.“ Vgl. Nicolas Pethes, Die Transgression der Codierung. Funktionen gestischen Schreibens (Artaud, Benjamin, Deleuze), in: Margreth Egidi et al. (Hg.), Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, Tübingen 2010, S. 299-314, hier S. 309. 40 Gewiss ist auch der Stummfilm eine Referenz, der noch stärker als das Theater auf einen Kodex von Gesten angewiesen ist. Adorno bringt diese Parallele auf. In einem bereits zitierten Brief schreibt er Benjamin: „Wollte man nach dem Grund der Geste suchen, so wäre er vielleicht weniger im chinesischen Theater zu suchen, scheint mir, als in der ‚Moderne‘, nämlich dem Absterben der Sprache. In den Kafkaschen Gesten entbindet sich die Kreatur, der die Worte von den Dingen genommen worden sind. So erschließt sie sich gewiß, wie Sie es sagen, der tiefen Besinnung oder dem Studium als Gebet - als ‚Versuchsanordnung‘ scheint sie mir nicht zu verstehen und das einzige, was mir an der Arbeit materialfremd dünkt ist die Hereinnahme von Kategorien des epischen Theaters. Denn dies Welttheater, da es ja nur Gott vorgespielt wird, duldet keinen Standpunkt außerhalb, für den es als Bühne sich zusammenschließen würde; so wenig, wie Sie sagen, der Himmel darin im Bildrahmen an die Wand sich hängen ließe, so wenig gibt es einen Bühnenrahmen für die Szene selbst […] und daher gehört zur Konzeption der Welt als des ‚Theaters‘ der Erlösung, in der sprachlichen Übernahme des Wortes, konstitutiv hinzu, daß Kafkas Kunstform […] zur theatralischen in der äußersten Antithese steht und Roman ist. […] Kafkas Romane sind nicht Regiebücher fürs Experimentiertheater, weil ihnen der Zuschauer prinzipiell abgeht, der ins Experiment eingreifen könnte. Sondern sie sind die letzten, verschwindenden Verbindungstexte zum stummen Film (der nicht umsonst fast genau gleichzeitig mit Kafkas Tod verschwand)[.]“ (ABB, S. 94 f.) An dieser Stelle lässt sich gut Adornos angespannte Beziehung zu Brecht ablesen, seinem Einwand mit der mangelnden Eingriffsmöglichkeit des Zuschauers beim Roman wie beim Film lässt sich die Plausibilität aber dennoch nicht absprechen. Benjamins Text zielt jedoch eigentlich in eine andere Richtung, er hält an seiner eigenwilligen Theaterkonzeption fest, auch wenn er in seinen Notizen durchaus Adornos Hinweis auf den Stummfilm 7.4 Der bildliche Gestus 341 Es sei an dieser Stelle nochmals an das Sammelreferat mit dem Titel „Probleme der Sprachsoziologie“ (GS III, 452-480) erinnert. In diesem Referat interessiert sich Benjamin für die Auseinandersetzung einiger zeitgenössischer wissenschaftlicher Ansätze mit dem Problem des Sprachursprungs. Eine Möglichkeit, sich dem Sprachursprung zu nähern, sind Spekulationen über die Frage, auf welche Weise sich erstmals der Ausdruck auf das Ausgedrückte bezogen haben mag. Wenn man von einer ursprünglichen Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem ausgeht, stößt man auf der Ebene der Laute auf Lautmalerei, also Onomatopoesie, oder auf der Ebene des körperlichen Ausdrucks auf Mimik oder Zeigegesten. Benjamin scheint beiden Theorien eine gewisse Plausibilität abzugewinnen, favorisiert aber letztere. Mit Verweisen auf Untersuchungen über die Kommunikation ‚Primitiver‘ (Lucien Lévy-Bruhl) oder der Kindersprache (Jean Piaget) soll plausibilisiert werden, dass auch unsere abstrakte und konventionalisierte, semiotische Sprache im Grunde genommen auf einer bildlichen Sprache fußt. Von dieser bildlichen Dimension der Sprache finden sich - und hier ist die Argumentationsweise analog zur Sumpfwelt-Mythos-Debatte im Kafka-Essay - in der semiotischen nur noch Überreste. Lautmalereien oder Gesten weisen zwar noch zurück auf diese Dimension, aber sie haben freilich nicht mehr dieselbe Bedeutung und Funktion wie in der ‚Urzeit‘. Nichtsdestotrotz hat die bildliche Dimension der Sprache noch eine Funktion oder Qualität, aber eine nicht über die abstrakte und semiotische Dimension leicht aufzuschlüsselnde. Diese Art von Genealogie der Sprache teilen die Interpretationen Benjamins durchaus mit den Ideen Klages‘, die jedoch um einiges drastischer formuliert sind und auch eine starke Wertung enthalten, nämlich zuungunsten der Sprache. 41 Klages liest, wie im Kapitel über die Graphologie gezeigt, an der Dimension des ‚Leibs‘(innere oder seelische) Bilder ab, die Leib-Seele-Differenz ist bei ihm zugunsten einer Opposition zum ‚Geist‘ aufgehoben. Bei Benjamin geht es nicht darum, gegen diesen ‚Geist‘ zu opponieren oder die Bildlichkeit zu restituieren und gegen die ‚Begriffe‘ oder die semiotische Dimension der Sprache eine vergangene Bildwelt ins Feld zu führen, die wieder zugänglich gemacht werden müsse. Es geht ihm vielmehr darum, diese bildliche und leibliche Dimension zu reflektieren, etwas abgewinnen kann. Er interpretiert ihn als eine Art Zäsur, die der menschlichen Sprache den Verzicht auf „ihre geläufigste Dimension“ aufzwang (vgl. GS II, 1257). 41 Vgl. Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, S. 851: „Am Anfang steht das Symbol und für das davon geleitete Denken der symbolische Name; ihm folgt die Person und für den schon menschengläubigen Denker das, was ihm Personheit zunächst vom Nichtpersönlichen scheidet: das Urteilsvermögen oder der Geist; am Ende steht ein in sich verfeindetes Doppelgebilde: der zur Selbstherrlichkeit der sogenannten Idee emporgeschraubte Begriff und der nicht minder selbstherrlich sich gebärdende Gegenstand[.]“ 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 342 sie abzulesen auch an sprachlichem Material, das nicht primär, sondern bloß verschüttet von ihr zeugt, um das ‚Neue‘ oder das ‚Jetzt‘ in einem kritischen Augenblick lesbar zu machen. Der Funktion der Geste im epischen Theater, eine Dialektik im Stillstand zu erzeugen, soll der literarische Gestus Kafkas entsprechen. 42 Deshalb deutet Benjamin Kafka aus der Mitte seiner Bildwelt. Bildwelt ist bei Benjamin nicht metaphorisch gemeint. Die Welt der Bilder ist da, aber begriffen in einer dialektischen Spannung zwischen der Sumpfwelt, d.h. der Welt der Ungeschickten und Unfertigen, der Tiere und der Kindheit, und dem Mythos oder der Welt der Beamten und Väter. Gemeint ist mit der Bildwelt deshalb keine nur visuell wahrnehmbare Welt jenseits der Sprache. Sowie es wohl auch nicht ganz richtig ist, zu sagen, diese Bildwelt sei nur über die Sprache zugänglich. Diese binäre Opposition lässt sich an dieser Stelle nicht fruchtbar machen. Wenn man denn von zwei Medien sprechen kann, dann müsste man mit Blick auf Benjamins Lektüre konstatieren, dass jedes das jeweils andere als blinden Fleck enthält. Benjamin selbst würde wohl von einer ‚wolkigen Stelle‘ sprechen, wie er es in vielen seiner Texte tut, die das Bild-Sprache-Problem verhandeln: „Etwas war immer nur im Gestus für Kafka fassbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln. Aus ihm geht Kafkas Dichtung hervor.“ (GS II, 427) Diese Unverständlichkeit ist - analog zur Sphäre des Rechts oder des Urteils - auch der Boden der semiotischen Ordnung. Die Rätselhaftigkeit dieser wolkigen Stellen erinnert, um nochmals Ausführungen des letzten Unterkapitels aufzugreifen, erneut an das Verhältnis des Kindes zur Sprache, wo der Konflikt einer semiotischen Ordnung mit einer anderen, eher bildlichen, zum Ausdruck kommt. Ein Aspekt dieses Verhaltens wird im bereits zitierten Stück „Die Mummerehlen“ aus der ‚Berliner Kindheit‘ eindrücklich vor Augen geführt, wobei es dort weniger um ‚wolkige Stellen‘ als um ‚wolkige Worte‘ geht. In einer Episode, in der von Kupferstichen die Rede ist, die das Kind mithilfe einer Geste und einer Benennung zum ‚Kopf-verstich‘ macht („So wollte es der Zufall, daß in meinem Beisein einmal von Kupferstichen war gesprochen worden. Am Tag darauf steckte ich unterm Stuhl den Kopf hervor: das war ein ‚Kopf-verstich‘.“), heißt es: Wenn ich dabei mich und das Wort entstellte, tat ich nur, was ich tun mußte, um im Leben Fuß zu fassen. Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen. Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwanges, 42 Vgl. im Zusammenhang mit Benjamins Interpretation der Kafkaschen Gesten vor dem Hintergrund des epischen Theaters auch Alexander Honold, Der Leser Walter Benjamin, S. 352 f. 7.4 Der bildliche Gestus 343 ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Den aber übten Worte auf mich aus. Nicht solche, die mich Mustern der Gesittung, sondern Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich machten. (GS IV, 261) Unzweifelhaft ist hier vom mimetischen Vermögen des Kindes die Rede. Nicht nur das Wort ist in dieser Szene entstellt, auch die den Wörtern korrespondierende Umwelt und der Vermittler zwischen Sprache und Umwelt - das Kind - ist entstellt. Mit dem Aussprechen der Worte wird nicht einfach ein arbiträres Zeichen für einen Gegenstand aktualisiert, gleichzeitig wird damit auch eine virtuelle Ähnlichkeit realisiert, die über bestimmte gesetzliche Muster hinausgeht, die man mit der Ordnung der Repräsentation allgemein oder auch mit der Ordnung der semiotischen Sprache in Verbindung bringen könnte. Denn der ‚alte Zwang’ ähnlich zu werden, mahnt an die Vorwelt und an verdeckte Fähigkeiten, die in der Gegenwart nicht bewusst aktualisiert werden können. Von diesem Zwang ist nichts mehr übrig als ein ‚schwaches Überbleibsel’, ein Rest, der noch in der semiotischen Sprache - der Sprache des Gesetzes - als Echo widerhallt. 43 Ebenso stößt man auf ein Echo der kindlichen Sprache in der Sprache des Erwachsenen, möchte man diese Gegenüberstellung überhaupt aufrecht erhalten; die Alliteration in ‚Worte’ und ‚Wolken’ markiert eine klangliche Ähnlichkeit, die auch im Verb ‚mummen’ und dem Titel „Die Mummerehlen“ anklingt. In diesem kurzen Ausschnitt ist man demnach auf mehreren Ebenen mit dem beschriebenen mimetischen Vermögen konfrontiert, das in gewisser Weise selbst unfassbar und wolkig bleibt. Denn alleine auf die Möglichkeit, phonetische Ähnlichkeiten und assoziative Verkettungen zu produzieren, lässt sich das mimetische Vermögen nicht reduzieren - weder beim Kind noch im Schreiben Benjamins. Aber in diesem Text wird ein Effekt erzeugt, der das Gestische der Sprache an einem Objekt, das gestisch mit seiner Umwelt interagiert, hervorkehrt. Im Kinder(bei)spiel ‚zeigt‘ sich der gestische Charakter der Sprache. Ist der Gestus in der kindlichen Sprache als das Residuum einer verloren gegangen Kraft zu betrachten, lässt sich erneut eine Parallele zur Vorwelt bei Kafka herstellen. Auch hier ist von einem Anfang die Rede, der nicht eigentlich chronologisch einzuordnen ist, sondern mit der Gegenwart koexistiert. Das Wolkige und Rätselhafte oder der Gestus, den selbst Kafka nicht versteht, zeugt von einer Art Bildlichkeit in der Sprache selbst. So wie durch eine winzige, kaum hör- und sichtbare Entstellung im Wort (Kupfer- 43 In seinen kleinen Texten über die „Lehre vom Ähnlichen“ und „Über das mimetische Vermögen“, wo übrigens auch die Rede vom Kinderspiel und seinem Durchzogensein von mimetischen Verhaltensweisen ist (GS II, 210), spricht Benjamin davon, dass sich das Semiotische über die Zeit hinweg als Träger des Mimetischen entwickelt habe. Erst an ihm könne es blitzartig in Erscheinung treten (GS II, 213). 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 344 stich wird zu Kopf-verstich‚ Muhme Rehlen wird zu Mummerehlen) ein Verschen aufgerufen wird, in dem „die ganze entstellte Welt der Kindheit […] Platz“ habe (GS IV, 262), so blitzt im von Kafka beschworenen Gestus, in den Gesten seiner Figuren die vergessene Vorwelt auf. Man stößt bei näherer Betrachtung des Stücks „Die Mummerehlen“ aus der Berliner Kindheit und den Notizen zu Kafka auf eine weitere Korrespondenz, die untersucht zu werden verdient. Den Mutmaßungen, die im Text der Berliner Kindheit über den Verbleib der verschollenen ‚Muhme Rehlen’ oder über den Aufenthaltsort der ‚Mummerehlen’ angestellt werden und die im Satz kulminieren, sie sei wohl das „Stumme, Lockere, Flockige, das gleich dem Schneegestöber in den kleinen Glaskugeln sich im Kern der Dinge wölkt“ (GS IV, 262), folgt eine Passage zu Farben, zum Tuschen und Malen. Zuerst wird beschrieben, wie das Mischen der Farben das Kind färbt („Noch ehe ich sie an die Zeichnung legte, vermummten sie mich selber“). Danach wird eine Geschichte wiedergegeben, die sich so ähnlich auch in den Notizen zu Kafka findet. Die Version in der Berliner Kindheit hebt mit dem bekannten Erzählduktus aus der Perspektive der ersten Person an: Von allem aber, was ich wiedergab, war mir das China-Porzellan am liebsten. Ein bunter Schorf bedeckte jene Vasen, Gefäße, Teller, Dosen, die gewiß nur billige Exportartikel waren. Mich fesselten sie dennoch so, als hätte ich damals die Geschichte schon gekannt, die mich nach so viel Jahren noch einmal zum Werk der Mummerehlen hingeleitet. Sie stammt aus China und erzählt von einem alten Maler, der den Freunden sein neuestes Bild zu sehen gab. Ein Park war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am Wasser und durch einen Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Einlaß bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr still, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spalt. So war auch ich bei meinen Näpfen und den Pinseln auf einmal ins Bild entstellt. Ich ähnelte dem Porzellan, in das ich mit einer Farbenwolke Einzug hielt. (GS IV, 262 f.) Neben der komplexen zeitlichen Struktur dieser kleinen Passage - ein Kind projiziert sich beim Mischen von Farben (denn es ist unklar, ob es den Malakt tatsächlich vollzieht) ins chinesische Porzellan, von dem seltsame, undefinierbare Formen starren, zu denen es selber wird, so dass ein ‚erwachsenes’ Ich bei einer späteren Wiedergabe dieser Szene eine Korrespondenz zu einer chinesischen Geschichte aufbauen kann, die die frühere Szene in Erinnerung gerufen haben soll -, wird auch eine komplexe bildliche Struktur erzeugt, die man wohl kaum anders als literarisch zu evozieren vermöchte. Die ganze Passage beschreibt zwei Malvorgänge, zwei Einzüge ins 7.4 Der bildliche Gestus 345 Bild, zwischen denen sie eine Korrespondenz aufbaut. Explizit wird ein Verweis auf die ‚Mummerehlen‘ gemacht, der sich der Text an anderen Stellen, wie schon oft gezeigt wurde, häufig mit ‚bildlicher‘ Sprache näherte. In dieser Passage jedoch wird ein Sinn erzeugt, der genauso rätselhaft ist wie jene ‚bildlichen‘ Wortspielereien und ‚bildlich‘ schlecht vorgestellt werden kann. So wolkig wie jene Worte, mit der der ‚Mummerehlen‘ auf den Leib gerückt wird, ist jenes Bild der ‚Farbenwolke‘, welche in das Porzellan, zu dem das Kind in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu stehen vorgibt, Einzug hält. Die ‚Wolke‘, wie in dieser Arbeit bereits mit Bezug auf die Phantasie gezeigt wurde, wird zu einem Schwellenphänomen stilisiert, durch das Sprache und Bild miteinander interagieren, sich gegenseitig aufbauen und auch wieder auflösen. Nochmals zurück zum Maler: In den Notizen zum Kafka-Aufsatz findet sich die Passage vom chinesischen Maler, der in seinem Bild verschwindet, ein wenig verändert wieder. In dieser Geschichte bittet ein großer chinesischer Maler seine Freunde in seine Kammer, „an deren Wand das letzte Bild seiner Hand, die Vollendung langen Bemühens und der Malerei überhaupt hing“ (GS II, 1261). Zuerst starren die Freunde auf das Bild und wollen sich zum hinter sich gewähnten Maler umdrehen, um ihn für sein Bild zu beglückwünschen. Doch der steht nicht mehr hinter ihnen, sondern winkt ihnen, als sie sich wieder zum Bild drehen, aus diesem zurück, in dem er in der „Tür eines gemalten Pavillons“ verschwindet. Benjamin kommentiert: „Er war, um mit Kafka zu reden, selbst Gleichnis geworden. Eben damit aber hatte sein Bild magischen Charakter erlangt und war keins mehr. Sein Schicksal teilt Kafkas Welt.“ (GS II, 1261) Mit dem Gestus, der den Maler ins eigene Gemälde setzt, differenziert sich das Bild von sich selbst. Es wird zu einer Art ‚reiner‘ Bildlichkeit, die sich nicht auf das im Bild Dargestellte, weder auf den Maler noch den Bildträger reduzieren lässt. Es wird zu einer eigenen Bild-Welt, die keine Referenz mehr zulässt, deshalb ist es auch „keins mehr“. Der Maler ist, wie Benjamin in den ‚Mummerehlen‘ schreibt, „ins Bild entstellt“ (GS IV, 263). Mit einer „Farbenwolke“ hält er in dieses Bild genauso Einzug wie das ‚Kind‘ der „Berliner Kindheit“ in das Porzellan, dem es laut Text ähnelt. In einem früheren Kapitel dieser Arbeit wurde bereits darauf hingewiesen, dass es hier unter anderem um die Meisterung der „Trugwand der Fläche“ gehe (GS IV, 609). Die Fläche als Ebene einer zweidimensionalen Schrift bzw. des Buchs wird dort durch eine bildliche Verhaltensweise auf eine dritte Dimension erweitert. Bei der Geschichte über den chinesischen Maler geschieht aber dasselbe mit der vermeintlichen Zweidimensionalität des Gemäldes. Die „Mummerehlen“ bringt ihre Sprach- und Bildkritik also auf mehreren Ebenen an. Durch den oben geschilderten sprachspielerischen Akt des Kindes öffnet sich eine irreduzible Differenz der virtuellen Bildlichkeit, die in der Sprache des Textes und in der Geschichte des chine- 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 346 sischen Malers gespiegelt wird. Die Frage ist natürlich, ob es diesem Text wiederum gelingt, dem Beschriebenen und Inszenierten ähnlich zu werden, also die Ähnlichkeit und somit ‚Bildlichkeit‘ zu vollziehen. Folgt man Davide Giuriatos Interpretation des Textes, geschieht bei Benjamin auf der Ebene des Inhalts wie auch der Handschrift genau das. In seinen Ausführungen zum Textstück „Die Mummerehlen“, das sich im Zuge seiner Überlegungen als ein Text erweist, der alleine durch sein Thema durch Benjamin laufend umgeschrieben zu werden hatte, hält Giuriato fest, dass die „Bildwerdung der Worte“ auch „aus einer handschriftlichen Über- Schreibung“ hervorgingen. 44 Auf dem sogenannten Gießener Typoskript macht Benjamin durch Streichung getippte Worte unkenntlich und fügt darüber handschriftlich neue ein - nach Giuriato ein Nachvollzug der Vermummung und Bildwerdung der Worte, die im Text thematisiert werden: „Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich xxxxxx Wolken waren, einzuxxxxxxx mich zu mummen .“ […] Die Wolken-Metapher schwebt hier schriftbildlich über leerem Grund, als wäre der Vergleich tatsächlich beim Wort genommen und als würden sich die Worte selbst wie Wolken auflösen. Augenfälliger kann es die Auto’graphie nicht zeigen, daß sie in dem Moment, in dem sie ein Bild von sich selbst sucht, nur sagen kann, daß sie sich selbst nie ähnlich werden kann und daß das Schreiben stets „über - über“ dem Abgrund seiner eigenen Unverfügbarkeit schwebt. Was daraus resultiert, sind Worte, die vor der Unterscheidung in eigentliche und uneigentliche Bedeutung liegen und die in ihrer Dinghaftigkeit sagen, daß sie „nichts sagen“. 45 Was hier ‚nicht gesagt‘ wird, wird dennoch eindringlich deutlich. Das „Du sollst dir kein Bildnis machen“, das Benjamin als Leitfaden des Kafkaschen Schreibens herausstellt, wird in Benjamins eigenem Kindheits-Text, der so viele Parallelen zu seinem Essay über Kafka aufweist, plausibilisiert. Im Schreiben wird man eigentlich nichts und niemandem ähnlich und dennoch ist es eine Form des Ausdrucks, die so etwas wie eine Annäherung simuliert. Das ‚nichts sagen‘, das Giuriato im Rahmen seiner Deutung des ‚Mummerehlen‘-Textes herbeizitiert, ist nicht weit von der Kafka-Deutung entfernt, wo das ‚Nichts‘ paradoxerweise gerade als das wesentlichste Merkmal jener Geste herausgestellt wird, die als das ‚Studium‘ bezeichnet wird. 44 Vgl. Davide Giuriato, Mikrographien, S. 190. 45 Ebd. 7.4 Der bildliche Gestus 347 7.4.1. Die Geste der Zukunft Verschiedene Dimensionen der Zeit nehmen im Rahmen der Kafka- Deutung unbestritten einen wichtigen Platz ein. Neben dem Längstvergangenen wird im Zusammenhang des Benjaminschen Essays immer wieder die Zukunft ins Spiel gebracht. Der Gestus oder die Bildlichkeit der Sprache zeugen nicht nur von einer ‚primitiven Kommunikationsform, sie bilden auch den Hort jenes seltsamen Messianismus, den Benjamin in Kafkas Welt vorzufinden glaubt und der darin bestehen soll, dass der einst erscheinende Messias die Welt „nur um ein Geringes […] zurechtstellen werde“ (GS II, 432). Im Kafka-Essay wird das Künftige an verschiedenen Orten reflektiert. Etwa im Zusammenhang mit dem utopisch anmutenden Naturtheater von Oklahoma oder etwa mit dem bereits erwähnten Konzept des ‚Studiums’, das Benjamin als messianische Kategorie auffasst. Der Gestus, der im Kontext von Benjamins Kafka-Deutung auf eine ‚urtümliche‘, bildliche Dimension der Sprache verweist, lässt sich also auch auf das Theater beziehen. In diesem Fall handelt sich um ein fiktives Theater, Benjamin spricht aber auch mit Blick auf das Epische Theater oder das Pädagogische Kindertheater von Gesten. Benjamin schreibt, Kafkas Werk liefere einen Kodex von Gesten und diese sollen in stets neuen ‚Versuchsanordnungen‘ und Zusammenhängen angegangen werden, damit ihnen überhaupt eine Bedeutung abgerungen werden kann. Er meint nun, das Theater sei der Ort dieser Versuchsanordnungen. Damit spricht Benjamin wohl zum einen das Naturtheater von Oklahoma an, auf dem die Schauspieler sich selber spielen („Eine der bedeutsamsten Funktionen dieses Naturtheaters ist die Auflösung des Geschehens in das Gestische.“ GS II, 418), zum anderen auch das ominöse ‚Welttheater’ Kafkas. 46 Kafkas ‚Welttheater‘ ist nicht mit dem Naturtheater 46 „Jeder [Gestus] ist ein Vorgang, ja man könnte sagen ein Drama, für sich. Die Bühne, auf der dieses Drama sich abspielt, ist das Welttheater, dessen Prospekt der Himmel darstellt. Andererseits ist dieser Himmel nur Hintergrund; nach seinem eigenen Gesetz ihn durchforschen, hieße den gemalten Hintergrund der Bühne gerahmt in eine Bildergalerie hängen. Kafka reißt hinter jeder Gebärde - wie Greco - den Himmel auf; aber wie bei Greco - der der Schutzpatron der Expressionisten war - bleibt das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die Gebärde.“ (GS IV, 419) Prospekt könnte man hier mehrdeutig verstehen - als Theaterleinwand und als Fluchtpunkt -, auch das ‚andererseits’, mit dem der folgende Satz anhebt, bestärkt diese Deutung. Aber der Himmel ist nicht das Entscheidende, sondern die Gebärde, die sich von dem seltsamen Hintergrund abhebt und mit ihrem Aufriss wohl nichts anderes demonstriert als ihre eigene Entstelltheit oder sprichwörtliche Monstrosität. Sie verbleibt somit unterhalb der Welt des himmlischen Lichts, die ihr eine scharfe Kontur zu geben versprochen hätte. Vielmehr wird gezeigt, dass der Himmel als Hintergrund selbst auf einem Prinzip der Verschachtelung, der Rahmung fußt, das gemeinhin ausgeblendet wird, wenn den Dingen vor ihm - d.h. wenn er als Grund fungiert - Kontur verliehen 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 348 von Oklahoma gleichzusetzen, wie aus einer Notiz deutlich wird: „Wenn es bei Kafka etwas wie einen Gegensatz zwischen Verdammnis und Seligkeit gibt, so hat man ihn […] allein in dem Gegensatz zwischen Welt- und Naturtheater [zu suchen]“ (GS II, 1262). Im Naturtheater treten die Leute ihrer Natur nach auf, d.h. ihnen wird nichts anderes zugetraut, als sich selbst zu spielen (GS II, 422). Das mache sie in gewisser Weise zu Seligen, sie seien frei, insofern als sie nämlich vom Zwang zur Nachahmung befreit sind. Sven Kramer meint, dass im Naturtheater der Druck der Vorwelt von den Schauspielern genommen sei, weil in ihm Gleichzeitigkeit herrsche: „[A]uf den Gesten lastet kein vorweltliches Erbe, das abgeworfen werden müßte“. 47 Wenn sich die Schauspieler selber spielen, ist es egal, ob sie etwas vergessen haben, das sie nun belasten könnte. Das Spiel entlastet sie vom Zwang, einer Rolle oder Identität gerecht werden zu müssen - sie können tun, was sie wollen. Den Schauspielern des Naturtheaters sei der „identifikatorische Schrecken genommen, dem sie im Welttheater“ unterlägen, meint Kramer. In der Logik des Essays stelle dies ein „Skandalon“ dar, weil ein „Bild des erlösten Menschen gezeichnet“ werde, das den Anspruch erhebe, „den erlösten Zustand bereits jetzt beschreiben zu können“. 48 Doch Kramer räumt andererseits ein, dass die Rolle, die die Figuren auf dem Theater spielen, womöglich - gerade weil es sich um ein Theater handelt - nur ein Scheinbild der Erlösung zeichnen könne, so dass das Erlösungsbild des Naturtheaters korrumpiert werde. Vielleicht ist es aber sogar einfacher, als Kramer meint. Es ist durchaus möglich, dass die Rolle, die der Schauspieler spielt, zwar ‚stimmt’ - wenn man Kramers Terminologie beibehält -, der Schauspieler aber trotzdem nicht einfach einen ‚erlösten Menschen‘ darstellt. Vielmehr ist die Kategorie ‚Mensch’ auf die erlösten Schauspieler gar nicht anwendbar. Wenn in einer Notiz, auf der mit rotem Farbstift kreisförmig „Kindheit“ und „Gestisches Theater“ als Hauptstichworte vermerkt sind, Benjamin mit Blick auf Franz Rosenzweig schreibt, der ‚innere Mensch’ in China sei „charakterlos“ und stelle den ‚Durchschnittsmenschen’ dar (GS II, 1223), und diese Charakterlosigkeit im Essay mit dem Naturtheater in Verbindung gebracht wird, so hat man es bei den Schauspielern des Naturtheaters definitiv mit einer übersteigerten Charakterlosigkeit zu tun, die ihnen im Grunde alle Menschlichkeit abzieht. 49 In einer Szene werden die Schau- wird. Der Riss, den die Gebärde vollzieht, bedeutet das Aufsteigen einer Monstrosität oder eines Grunds, die bzw. der den Rahmen sprengt, weil die Geste nichts zeigt als sich selbst in ihrer nur schwer einzuordnenden Entstelltheit. 47 Vgl. Sven Kramer, Rätselfragen und wolkige Stellen. Zu Benjamins Kafka-Essay, Lüneburg 1991, S. 41. 48 Ebd. 49 Auch die Statisten des Naturtheaters sind nicht einwandfrei menschliche Wesen: „Denn fast sind die Statisten von Oklahoma richtige Engel: hätten sie nur sich keine 7.4 Der bildliche Gestus 349 spieler des Naturtheaters an einen Tisch gesetzt und bewirtet. Für die Schauspieler, die selber etwas Engelhaftes haben, werden Engelpuppen aufgestellt. Benjamin kommentiert die Szene folgendermaßen: Engel werden zur Feier von den Statisten aufgestellt. Sie stehen auf hohen Postamenten, die von wallenden Gewändern überdeckt in ihrem Innern eine Treppe haben. Die Zurüstungen einer ländlichen Kirmes, vielleicht auch eines Kinderfests, bei dem der eingeschnürte, aufgeputzte Knabe, von dem wir sprachen, die Traurigkeit seines Blicks verloren hätte. - (GS II, 423) Auch wenn es seltsam scheint, mit diesen Schauspielern und der Mechanik des Theaters etwas Messianisches zu verbinden, tut dies Benjamin: „Denn so wenig ein Göttliches ganz abwesend in den brütenden Sumpffrauen und ermüdeten Titanen“ sei, „die seit Urzeiten in der Fron stehen“, so wenig schlösse „der Trick, die Maschinerie, der Mechanismus es aus.“ (GS II, 1231) Und immerhin wird diesem Mechanismus die Fähigkeit zugeschrieben, den traurigen Blick des ‚aufgeputzten Knaben‘ - eine Anspielung auf das zuvor angesprochene Kinderporträt - verschwinden zu lassen. Der Blick des Knaben, der seinem eigenen Bilde ähnlich werden soll, würde auf dem Naturtheater wie seine Schauspieler von diesem Zwang befreit. Zwar bringt Benjamin die Schauspieler mit der Geste des ‚Studiums‘ zusammen, die in seiner Logik eine Geste der noch Unerlösten ist - nämlich der Studenten -, aber im Unterschied zu den Schauspielern studieren die Studenten etwas anderes als ihre Rolle. Die Studenten sind keine Schauspieler. Die Schauspieler spielten sich selbst, ihre Rolle stelle sie selbst dar. Aber dass sie „im Ernstfall sein könnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich der Möglichkeit aus“ (GS II, 422 f.) Herkömmliche Repräsentationsverhältnisse und eine Ordnung, die es ermöglichte, die Schauspieler klar zu kategorisieren, werden unterlaufen. In Kontrast zu den ‚Studenten‘, die fanatisch und entschlossen, ja völlig atemlos studieren - ohne zu wissen für was -, sind die Schauspieler davon entbunden, ‚etwas‘ zu studieren. Sie brauchen keine Angst davor zu haben, ‚etwas‘ zu vergessen. Während für den Studenten das „Vergiß das Beste nicht! “ gilt („Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung.“, GS II, 434), spielt das Vergessen für den Schauspieler des Naturtheaters insofern keine Rolle, als er sich noch in einem kindlichen Naturzustand ohne Zweck, Fortschritt oder Richtung aufzuhalten scheint. Wer keine Geschichte hat, braucht nichts zu vergessen. Flügel umgebunden. So nimmt der Schein bei Kafka immer wieder in letzter Stunde das Wort zurück, das das Wesen uns geben wollte.“ (GS IV, 1231) 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 350 Für sie [die Schauspieler] ist in der Tat „‘das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts‘“ - wenn es nämlich in ihrer Rolle steht. Diese Rolle studieren sie; der wäre ein schlechter Schauspieler, der ein Wort oder einen Gestus aus ihr vergäße. Für die Glieder der Truppe von Oklahoma aber ist sie ihr früheres Leben. Daher die „Natur“ dieses Naturtheaters. Seine Schauspieler sind erlöst. (GS II, 435) Der erste Satz spielt auf einen kurzen Text Kafka an, in dem gesagt wird, dass es einem ‚Ich‘ ein Wunsch ‚für das Leben‘ gewesen sei, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen, in der es als ein Nichts erkannt werde. Dieser Wunsch wird mit dem verglichen, einen Tisch zu zimmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun. Und zwar so, dass man nicht davon - diese Sätze werden von Benjamin zitiert - sagen solle, ihm sei das „Hämmern ein Nichts“, sondern so, dass man sagen könne „‘Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts‘, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.“ 50 Benjamin schreibt, diese Tätigkeit, die er mit dem Studium vergleicht, stünde dem „Tao“ nahe, „jenem Nichts […], das das Etwas erst brauchbar“ mache (GS II, 435). 51 In diesem Sinne geht er von einer Art Zurücknahme des Handlungszwecks aus, um die Nichtigkeit der Intention einer jeden Handlung zu offenbaren. Das Spiel der Schauspieler auf dem Naturtheater ist in diesem Sinne von Anfang an ziemlich zwecklos. Wenn es heisst, sie ‚studierten‘ eine Rolle, die ihr ‚früheres Leben‘ sei, mute dieses Treiben ziemlich absurd an. Die Schauspieler scheinen nämlich keine Vergangenheit zu haben und ihr ganzes ‚Studium‘ wie auch ihr Dasein gleicht einem Kinderspiel, das zeitlich nicht zu situieren ist. ‚Natur’ weist auf diesen Umstand. Denn ‚Natur‘ bedeutet nicht nur, dass die Schauspieler sich selber spielen - was auch immer dieses Selbst ist -, sondern, dass dieses Sich-selber-Spielen ein seltsam kindliches Spiel im Naturzustand ist. Man erinnere sich an das Kinderphoto Kafkas: Das dort abgebildete Kind ist keins mehr, man verlangt von ihm zwar Ähnlichkeit mit ihm selber, doch diese Ähnlichkeit vermag es nicht zu leisten, da es in einer ent- 50 Vgl. Franz Kafka, Tagebücher, Herausgegeben von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1990, S. 855. 51 Dieses Moment lernte Benjamin vermutlich bei Rosenzweig kennen, den er immer wieder anführt, wenn es um Vergleiche mit dem chinesischen Kulturkreis geht. In seinem „Stern der Erlösung“ schreibt Rosenzweig: „Aus jener Quelle des Nicht-Tuns entspringt alle Fülle der Tat. Aus jenem Urgrund des Einen erhebt sich die unzählbare Fülle der Wesen. Das Geheimnis des Herrschens ist hierin beschlossen: nicht zu herrschen, nicht vielgeschäftig berechnend zu gebieten und zu verbieten, sondern selber wie die Wurzel der Dinge ‚ohne Tun und ohne Nichttun‘ zu sein: so werde sich die Welt ‚von selber‘ gestalten.“ Vgl. Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt am Main 1988, S. 64 f. 7.4 Der bildliche Gestus 351 stellten Welt lebt und selbst entstellt ist. Ebenso ergeht es dem Kind in der Berliner Kindheit, das sich allem ähnlich zu machen versteht, außer sich selber: „Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst verlangte. Das war beim Photographen. Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Leinwandschirmen, Polstern, Sockeln, die nach meinem Bilde gierten wie die Schatten des Hades nach dem Blut des Opfertieres.“ (GS II, 261) Die Schauspieler auf dem Naturtheater müssen sich bekanntlich nicht ähnlich sein, sie spielen sich von Anfang an. Sie brauchen nichts nachzuahmen, nichts ähnlich zu sein, vielmehr stellen sie ein nichtiges Spiel zur Schau, im Grunde ein reines Spiel, das ‚nichts’ ist. 52 Wenn es heißt, dass sie ihre Rolle studierten, dann handelt es sich um ein ‚leeres‘ Studium, weil es schlicht nichts zu studieren gibt: Sie stellen bloß die Geste des Studiums aus. Sie halten sich demnach auf einer Schwelle auf, auf der das Etwas überhaupt erst anbricht und zwar in der bloßen Geste. Das Studium wird nämlich bei Benjamin als die „Krone“ der Askese bezeichnet, die von Kafka „aus den versunkenen Knabenjahren an den Tag“ gebracht würde. Kafka zitierend fährt er fort: „Nicht viel anders - jetzt war es schon lange her - war Karl zu Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben 52 In der Diskussion mit Gershom Scholem spielt das Nichts eine wichtige Rolle. Scholem schickt Benjamin ein (Lehr-)Gedicht, in dem er das Nichts als eine zentrale Kategorie seiner eigenen Kafka-Deutung herausstellt. So heißt es in der vierten Strophe: „So allein strahlt Offenbarung/ in die Zeit, die dich verwarf./ Nur dein Nichts ist die Erfahrung,/ die sie von dir haben darf.“ In der achten Strophe heißt es: „Keinem kann Erlösung frommen,/ dieser Stern steht viel zu hoch,/ wärst du auch dort angekommen,/ stündst du selbst im Weg dir noch.“ (Vgl. GB IV, 463 f.) Die Konzeption des Naturtheaters von Oklahoma widerspricht Scholem diametral. Man könnte meinen, es handle sich um ein parodistisches Echo dieses kabbalistisch angehauchten Lektüreversuchs von Kafkas Schriften, weil es das Unmögliche zu verbinden schafft. Die Konsequenz, die Benjamin aus der Existenz des Naturtheaters ableitet, besteht nicht in seiner Idealisierung und auch nicht im Schluss, das Nichts der Offenbarung sei das zentrale Moment Kafkas. Benjamin entgegnet Scholem: „[I]ch habe versucht zu zeigen, wie Kafka auf der Kehrseite dieses ‚Nichts’, in seinem Futter, wenn ich so sagen darf, die Erlösung zu ertasten gesucht hat. Dazu gehört, dass jede Art von Überwindung dieses Nichts wie die theologischen Ausleger um Brod sie verstehen, ihm ein Gräuel gewesen wäre.“ (Ebd., S. 460) Das unmögliche Bild von der Kehrseite oder dem Futter des Nichts bindet den Himmel (an den das Naturtheater mit seinen Engeln durchaus erinnert) wieder am Boden fest, auf dem sich die entstellten Kreaturen tummeln („Ich gehe von der kleinen widersinnigen Hoffnung, sowie von den Kreaturen denen einerseits diese Hoffnung gilt, in welchen andererseits dieser Widersinn sich spiegelt, aus.“ Ebd., S. 478). Kafkas Ertasten hat eine sinnliche Komponente, ist eine Art unhintergehbarer Gestus, der sich ähnlich planlos gebärdet wie das Studium. Scholem wirft am Ende des Gedichts Fragen über die Schöpfung auf, die sich dem Menschen als unbeantwortbar erweisen. Benjamin hingegen sagt, Kafka habe zwar keine Antwort auf die Fragen gehabt, aber sie stellten sich ihm in Form des Gestus. In einer Welt, in der die Antworten die Fragen weg höben, habe Kafka diese wie im „Fluge oder Traum erhascht“ (Ebd.). 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 352 geschrieben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe zog.“ (GS II, 434 f.) Kurz darauf kommentiert Benjamin: „Vielleicht sind diese Studien ein Nichts gewesen. Sie stehen aber jenem Nichts sehr nahe, das das Etwas erst brauchbar macht -“. Dieses ‚Etwas‘ brauchbar zu machen, ist jedoch nicht die Sorge der Schauspieler auf dem Naturtheater. Der Satz bezieht sich wohl eher auf den Rest des Personals, die Figuren auf dem ‚Theater ‘, das Benjamin Kafkas „Welttheater“ nennt. Die Figuren auf dem Welttheater studieren anders als die Schauspieler des Naturtheaters. Sie haben ihre Kindheit verloren und sind im Alltag mit einer entstellten Welt konfrontiert, in die die Vorwelt als Vergessenes hineinragt. Die Figuren auf dem Welttheater studieren nicht einfach ihre Rolle, auch die Studenten nicht, die zur Sippe jener Mischwesen gehören, von der zu Beginn dieses Kapitels die Rede war, und für die es noch Hoffnung gäbe. Benjamin schreibt deswegen auch dezidiert, der Student sei im Gegensatz zum Schauspieler „noch nicht“ erlöst (GS II, 435). Benjamin zeichnet also mitnichten ein „Bild des erlösten Menschen“, wie Kramer meint; vielmehr entwirft er eine Sphäre, an der jede Repräsentationslogik scheitert, kein Bild also, und auch jenseits von Sprache: Das Naturtheater zeichnet sich nur durch undenkbare, nichtige Gesten aus. Möglicherweise lässt sich dieses Naturtheater von Oklahoma, trotz seines Namens, der sich auf einen Ort bezieht, deshalb auch nicht wirklich lokalisieren, wie sich der Anzeige entnehmen lässt, mit dem das Theater für sich wirbt. 53 Wer an seine Zukunft denke, gehöre zum Theater, heißt es dort, wer sich für das Theater entschieden habe, den beglückwünsche es gleich an einem nirgends anders als in der Anzeigenschrift verortbaren ‚hier‘. Inwiefern ist aber das Studium des Studenten etwas anderes als das Studium der Schauspieler und damit mehr als eine ‚bloße‘ Geste? Was die Trennung verschiedener Begriffsbereiche voneinander nicht gerade erleich- 53 Das Theater von Oklahoma kann man als Utopie weder zeitlich noch räumlich lokalisieren, auch man es mittels der Ortsbezeichnung in seinem Namen lokalisieren zu können vermeint. Benjamin zitiert in seinem Essay folgende Stelle, in der Karl Roßmann aus ‚Der Verschollene’ eine Anzeige des Theaters liest: „Das große Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! “ (GS IV, 417) Neben dem Versprechen einer ‚Zukunft‘ und ‚Glück‘, das den utopischen Charakter markiert, enthält die Anzeige einige deiktische Hinweise, die sich auf alle und keinen beziehen lassen, genauso wie das Theater überall und nirgendwo zu sein scheint. Es erinnert an den Namen von Samuel Butlers Nicht-Ort „Erewhon“, der sich anagrammatisch als ‚now‘ und ‚here‘ genauso wie als ‚nowhere‘ entschlüsseln lässt. 7.4 Der bildliche Gestus 353 tert, ist der Umstand, dass Benjamin häufiger die Ebenen vermischt. Manchmal spricht er explizit vom Studenten und seinem Studium und meint damit die Figur des Studenten in Kafkas „Der Verschollene“ (bzw. „Amerika“), andernorts ist das Studium auch auf den Menschen - nicht bloß auf den Romanmenschen, sondern überhaupt - oder gar auf Kafka bezogen, fungiert also allgemein als „Kafkas messianische Kategorie“. 54 Wie um nochmals auf die Thematik zurückzukommen, die Benjamin mit der Kinderphotographie anspricht, führt er an jener Stelle im Essay, wo er von der Vergegenwärtigung des studentischen Gestus spricht, den Verweis auf neuere Medien ein: auf den Film und das Grammophon. In beiden Medien, die nach Benjamin im Zeitalter der „aufs Höchste gesteigerten Entfremdung“ erfunden wurden, erkennt sich der Mensch selber nicht: Im Film erkennt der Mensch den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stimme. „Experimente beweisen das. Die Lage der Versuchsperson in diesen Experimenten ist Kafkas Lage. Sie ist es, die ihn auf das Studium anweist.“ (GS II, 436) Das Studium wird also Kafka selbst zur Möglichkeit Erfahrungen zu machen, die sich der Rolle der Schauspieler des Naturtheaters annähern. Denn angeblich stößt Kafka im Studium auf „Fragmente des eigenen Daseins, welche noch im Zusammenhang der Rolle stehen“. Weiter spekuliert Benjamin im Stile des Sisyphos-Gestus über Kafka: „Er würde den verlorenen Gestus zu fassen bekommen wie Peter Schlemihl seinen verkauften Schatten. Er würde sich verstehen, aber wie riesenhaft wäre die Anstrengung! “ (GS II, 436) Im Unterschied dazu besteht die Rolle der Schauspieler des Naturtheaters bekanntlich darin, sich selber zu spielen, sie spielen sich vollständig und sind nicht nur auf Fragmente ihres Daseins zurückgeworfen. Für die Schauspieler gibt es keinen verlorenen Gestus, sie sind nicht mit der Vorwelt konfrontiert und haben demnach nichts vergessen oder verloren. Ganz anders die Studenten oder der von Benjamin gar auf die Bühne geschickte Kafka. Die Figuren auf dem Welttheater müssen sich unermesslich anstrengen, um sich einzufangen. Und mit einer Formulierung, die an die geschichtsphilosophische These rund um den Klee‘schen Angelus Novus erinnert, hält Benjamin fest: „Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessenen herweht. Und das Studium ein Ritt, der dagegen angeht.“ (GS II, 436) Wenn man sich dieses Bild vergegenwärtigt, stellt sich durchaus die Frage, wie es demjenigen ergeht, der gegen diesen Sturm anreitet. In einer solchen Situation scheint sprichwörtlich kein Fortschritt möglich. Vielmehr kündigt sich ein Scheitern an, das mit großen Mühen verbunden ist und dem sich weder die Figuren noch ihr Schöpfer entziehen können. Kafka rechnete sich, wie Benjamin schreibt, selbst zu denen, „die scheitern mussten“: „Gescheitert ist sein großartiger Versuch, die Dichtung in die Lehre zu überführen und als 54 Vgl. GB IV, S. 479. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 354 Parabel ihr Haltbarkeit und die Unscheinbarkeit zurückzugeben, die im Angesicht der Vernunft ihm als die einzig geziemende erschienen ist. Kein Dichter hat das ‚Du sollst dir kein Bildnis machen’ so genau befolgt.“ (GS II, 428) 55 Diese These lässt sich gut mit der Wichtigkeit der Gesten für Kafka verbinden. Dieses ‚Du sollst dir kein Bildnis’ machen, bedeutet nämlich nicht, dass es bei Kafka nicht um Bilder ginge, sonst wäre Benjamins Versuch, Kafka aus der Mitte seiner Bildwelt zu deuten, ja sinnlos. Vielmehr darf man Kafkas Befolgung des Gebots als Weigerung verstehen, Abbilder zu produzieren, die sich nach Maßgabe einer repräsentativen Ordnung in Begriffen der Identität, der Ähnlichkeit, der Analogie oder des Gegensatzes auf irgendein Original als Abgebildetem beziehen ließen. Jene Ähnlichkeit, die dennoch mit den Bildern Kafkas in Erscheinung tritt, hängt mit dem Vergessenen zusammen. Wie im Traum gelingt ihm das, was bei vollem Bewusstsein niemandem gelingen würde: Er schafft eine Verbindung des Aktuellen mit dem längst Vergessenen und produziert so ‚Bilder‘, die für Benjamin wohl über eine unsinnliche Ähnlichkeit lesbar machen, was nie geschrieben wurde. 56 Benjamins Kafka möchte demnach, folgt man seiner 55 Werner Hamacher untersucht in einem Text zu Benjamin und Kafka einen pseudofragmentarischen Satz Kafkas selbst, der das darin quasi-gesetzlich Postulierte durch seinen Abbruch möglicherweise zu vollziehen versucht - aber negativ. Hamacher fasst die Suspension eines totalen Abschlusses durch eine Ellipse als Bedingungsmöglichkeit der Sprache auf. Gerade in der Abwesenheit von Sprache und durch eine vermeintliche Evokation des Bilds durch die unvollständige Syntax soll die Sprache das Gesetz nicht nur eröffnen, sondern vor allem auch offen lassen: „Er [Kafka] hat die Fragmentierung des Zitats in einer Mikro-Parabel festgehalten. Sie lautet: ‚Ihr sollt euch kein Bild -.’ In den Satz interveniert das Verbot, das es auszusprechen im Begriff ist, und macht ihn zum Fragment einer Sprache, die diesem Verbot entsprechen würde. Durch die Einhaltung des Verbots ist aber auch der Satz unterbrochen, in dem allein es sich als Gesetz darstellen könnte. Dieser Satz spricht nicht mehr - oder noch nicht - als Gesetz, das in ursprünglicher Tathandlung die Sprache, die rein sprachliche, bildlose, einsetzt; er spricht nicht mehr - oder noch nicht - als performativer Sprachakt, der eine Konvention des Sprechens oder das Sprechen überhaupt inauguriert; sondern er spricht als Eröffnung der bloßen Möglichkeit solchen Sprechens, als Adformativ, als Ermöglichung, die in keiner Form ihre Erfüllung finden kann, als Ermöglichung und Verunmöglichung, als Handlung und zugleich Nichthandlung: als Afformativ der Sprache. Was bleibt, ist nicht ein Satz, der das Gesetz der Sprache verkündet, sondern die Ellipse - die Geste -, die es eröffnet und offen läßt.“ Vgl. Werner Hamacher, Entferntes Verstehen, S. 322 f. Hamacher scheint die ‚Geste‘ hier nicht mit dem ‚Bild‘ zu assoziieren, sowie er dem Bild - das immerhin das Objekt des Satzes darstellt - wenig Aufmerksamkeit schenkt. Seine Interpretation der Geste lässt sich zwar zumindest bildkritisch verstehen, dass sie ironischerweise aber selber ‚bildlicher‘ Abkunft ist, bleibt unreflektiert. 56 Im letzten Abschnitt seines Textes über das mimetische Vermögen zitiert Benjamin Hofmannsthal: „’Was nie geschrieben wurde, lesen.’ Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen. Später ka- 7.5. Schriftbild 355 Lektüre, keine verschütteten oder archaischen Bilder zum Vorschein bringen, sondern sie brechen durch in der Zeichnung der mythisierten Gegenwart und eröffnen einen Aspekt der Zukunft. 57 Der Gestus offenbart sich in diesem Kontext als etwas zu Deutendes und als gleichzeitiges Mittel zur Deutung. Und zwar einer ‚Schrift‘, die, wie Benjamin an mehreren Stellen schreibt, abhanden gekommen ist („Seine Gehilfen sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die Schrift abhanden kam.“ GS II, 437). Das Leben, das seine Verbindung zur Vorwelt vergessen hat, ist die Grundlage eines Gestus, der zwar größtenteils unverständlich ist, der aber der Lesbarkeit dieses Lebens zuarbeitet. Dieser Unverständlichkeit begegnet Benjamin, indem er Kafka nicht linear liest, sondern, wie er meint, aus der ‚Mitte seiner Bildwelt‘. 7.5. Schriftbild Was hat es nun also mit der Schrift auf sich? Gewiss geht es im Kafka- Essay um eine religiöse Dimension der Schrift. Das ist ein wichtiges Sujet im Austausch mit Gershom Scholem. Aber vielleicht sollte man auch nochmals auf eine konkrete Bedeutung des Wortes eingehen, das in den letzten Kapiteln zur Sprache kam. Ein Aspekt, der etwa im Aufsatz über die Lehre vom Ähnlichen oder in jenem über das mimetische Vermögen immer wieder zur Sprache kommt, ist das Verhältnis der Schrift zur Ähnlichkeit. Benjamin meint nämlich, dass die Fähigkeit, unsinnliche Korrespondenzen oder Ähnlichkeiten zu erkennen, in die Schrift gewandert sei. Das wurde bereits erwähnt, soll hier aber nochmals deutlich gemacht werden: Die neueste Graphologie hat gelehrt, in den Handschriften Bilder, oder eigentlich Vexierbilder zu erkennen, die das Unbewußte des Schreibers darinnen versteckt. Es ist anzunehmen, daß das mimetische Vermögen, welches dergestalt in der Aktivität des Schreibenden zum Ausdruck kommt, in sehr entrückten Zeiten, als die Schrift entstand, von größter Bedeutung für men Vermittlungsglieder eines neuen Lesens, Runen und Hieroglyphen in Gebrauch. Die Annahme liegt nahe, daß dies die Stationen wurden, über welche jene mimetische Begabung, die einst das Fundament der okkulten Praxis gewesen ist, in Schrift und Sprache ihren Eingang fand.“ (GS II, 213) 57 Vgl. dazu die treffende Deutung Werner Hamachers: „Es gehört vielmehr zur Paradoxie des magischen Charakters von Kafkas Bildern, daß sie aufhören, Bilder, Nachbilder oder Vorbilder, zu sein. Ihre Magie kommt dadurch zustande, daß sie sich dem schlechthin Unähnlichen ähnlich machen, dem Unbekannten, Unvertrauten und Nichtantizipierbaren. Dieses schlechthin Unähnliche aber ist ein Aspekt der Zukunft.“ Vgl. Werner Hamacher, Entferntes Verstehen, S. 292 f. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 356 das Schreiben gewesen ist. Die Schrift ist so, neben der Sprache, ein Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten, unsinnlicher Korrespondenzen geworden. (GS II, 208) Wie bereits im letzten Kapitel festgehalten, beschäftigte sich Benjamin immer wieder mit der Graphologie. In seiner Rezension zu „Der Mensch in der Handschrift“ 58 betont er, dass die beiden Autoren einen Kontakt mit der Bilderwelt bewahrt hätten, die über das Metaphorische hinausgehe. Damit ist man - zumindest durch den Begriff ‚Bilderwelt’ - sogleich an Benjamins Beschäftigung mit Franz Kafka und seiner ‚Bildwelt‘ erinnert. Über das Buch der Mendelssohns schreibt er bekanntlich: Es stellt den Versuch dar, die Handschrift auch des zivilisierten Menschen durchaus als Bilderschrift zu erfassen. Und die Autoren haben den Kontakt mit der Bilderwelt in einem vordem unerreichten Maß zu bewahren verstanden. (GS III, 126) In Benjamins Beschäftigung mit der Graphologie und im speziellen mit diesem Buch tritt noch ein anderes Moment hervor, das an die Kafka- Interpretation erinnert. Die Rezension von „Der Mensch in der Handschrift“ geht auch auf Ludwig Klages ein. Dieser wird von Benjamin in der Rezension zwar kritisiert, aber sowie Klages eine wichtige Figur der Graphologie ist, ist er auch eine äußerst wichtige Figur bezüglich Benjamins Bachofen-Lektüre. Benjamins Bachofen-Kenntnisse wurden anfangs nämlich durch Schriften von Klages vermittelt oder von solchen, die sich auf Klages stützten. Es ist deshalb vielleicht nicht erstaunlich, dass Bachofen - Klages ebenso - auch im Buch von Anja und Georg Mendelssohn auftaucht. Dort, wo von Richtungen und Zonen der Schrift die Rede ist, von einer mittleren, die von kleinen Buchstaben eingenommen wird, von einer unteren, die Schleifen von g’s oder f’s enthält und von einer oberen Zone, die von Oberzeichen, von Großbuchstaben beherrscht wird, werden bestimmte Theoreme Bachofens ins Feld geführt. Diese Zonen werden nämlich mit der materiellen Welt (untere Zone), mit der Seele (mittlere Zone) oder mit dem Geist (obere Zone) in Verbindung gebracht. Klages-Leser dürfte diese Trias bekannt vorkommen, ist sie beispielsweise in seinem ‚kosmogonischen Eros’ mit zentralen (‚geist’feindlichen) Thesen verknüpft. 59 58 Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, Leipzig 1928. 59 Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, beispielsweise S. 44: „Die Geschichte der Menschheit zeigt uns im Menschen und nur im Menschen den Kampf ‚bis aufs Messer’ zwischen dem allverbreiteten Leben und einer außerraumzeitlichen Macht, welche die Pole entzweien und dadurch vernichten, den Leib entseelen, die Seele entleiben will: man nennt sie den Geist (Logos, Pneuma, Nus).“ 7.5. Schriftbild 357 Bei den Mendelssohns korrespondiert die Schrift - will man Benjamins Terminologie aus dem Kafka-Aufsatz aufgreifen - durchaus mit der Vorwelt. So wird etwa von der Richtung der Schrift gesprochen und die These aufgestellt, der Lauf der Zeile von links nach rechts sei ein Symbol für den Sieg des griechischen, apollinischen Geistes über die asiatische Aphrodite, weil die linke die passive, „weibliche“, die rechte aber die aktive, „männliche Naturseite“ sei. Bilder sexueller Vorgänge und Wünsche würden ihren Ausdruck in Unterlängen finden, die unter die Zeile stießen, in die ‚Erde’, in die Welt des ‚Dunklen’ und des ‚Triebs’. Man könnte also mit Blick auf die von Benjamin geprägten Begriffe zu Kafka meinen, dass das Schriftbild eine unsinnliche Ähnlichkeit ausstellt, die über Entstellungen in einem ansonsten apollinischen, Ordnungen und Gesetzen des Geistes gehorchenden Notationssystem von einer verdrängten und nicht überwundenen Vorwelt zeugt. Benjamin meint im Buch der Mendelssohns auf Hinweise zu stoßen, durch die man in den Reichtum der Bilddimensionen eingeführt wird. Und man merkt, dass Benjamin gerade auch an der graphologischen Theorie der Mendelssohns ein Komplex von Elementen interessiert, der rund um das Projekt, Kafka aus der Mitte seiner ‚Bildwelt‘ zu deuten, von Belang zu sein scheint. Auch im Unscheinbaren verstünden es die Mendelssohns, sich einen „Bilderfonds zu eröffnen“, schreibt er. „Nichts geistvoller und doch sachgemäßer als der folgende Vergleich zwischen Handschrift und Kinderzeichnung, in dem die Zeile den Erdboden darstellt“ (GS III, 138). Der Vergleich von Handschrift und Zeichnung dürfte uns nicht unbekannt vorkommen, schließlich ist er uns bereits im Kapitel über die Lesefibeln öfters begegnet. Hier jedoch wird nochmals eine weitere Dimension dieses Vergleichs geltend gemacht: Der Begriff ‚Erdboden‘ ist ein deutlicher Rekurs auf die Bachofen-Anleihen bei Anja Mendelssohn und damit ein Hinweis auf eine temporale Dimension. Benjamin zitiert nach diesem affirmativ erwähnten Vergleich einen Ausschnitt aus „Der Mensch in der Handschrift“, der aus dem Kapitel stammt, in dem Bachofen behandelt wird. Mendelssohn anstatt Benjamins Zitat wird an dieser Stelle zitiert, weil Benjamin im Zitieren das wichtige Stichwort ‚Zone‘ weglässt: Zwischen unterer und mittlerer Zone liegt als Grenze die Zeile. Es wird nach dem Bisherigen nicht mehr überraschen, daß die Zeile den Erdboden darstellt. Die Buchstaben stehen seit einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung, wie wir gesehen haben, auf der Zeile, wie ihre Urbilder, Menschen, Tiere und Dinge auf dem Erdboden standen. Man darf sich durch die Tatsache der unter die Erdoberfläche stoßenden Unterlängen nicht davon abhalten lassen, die Beine auf der Zeile zu suchen, wenn man sich Buchstaben in körperliche Darstellungen zurückverwandelt. Auf gleicher Höhe, daneben, können in anderen Buchstaben Kopf, Auge, Mund, Hand stehen, eben- 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 358 so wie in der frühen Kinderzeichnung, die eine Zusammenordnung und Proportionierung von Körperteilen noch nicht kennt. 60 Benjamin bekräftigt mit diesem extensiven Zitat nochmals das Verhältnis von Kinderzeichnung und Bildhaftigkeit der Schrift. Außerdem sind gewisse Teile der Rezension auf Benjamins Sprachphilosophie rund um das mimetische Vermögen zurückzubeziehen. Wenn Benjamin nämlich darauf hinweist, dass die Druckgebung der Handschrift davon zeuge, dass für den Schreibenden eine plastische Tiefe oder ein Raum hinter der Schriftebene existiere 61 , wird man an diese späten sprachphilosophischen Texte erinnert. Seine Ausführungen verleiten ihn, wie bereits im Kapitel zur Graphologie ausgeführt wurde, zur Frage, ob der „kubische Bildraum der Schrift ein mikrokosmisches Abbild des Erscheinungsraums der Hellsicht ist? “ (GS III, 139) Nicht allein diese Frage weist auf das mimetische Vermögen zurück, das es Menschen ermöglicht haben solle, in den Sternen zu lesen, auch die Kinderzeichnung, die mit Proportionen noch nicht so recht umzugehen weiß und stattdessen mit Konstellationen von Strichen arbeitet, markiert einen Zusammenhang zum kubischen Bildraum und dem mimetischen Vermögen. Überlegungen zum Prozess des Lernens, des Gehenlernens, aber auch des Zeichnen- und Schreibenlernens, klingen in diesen Ausführungen an: Denn durch den Vergleich der Zeile mit dem Erdboden kann Schreibenlernen ohne weiteres auch mit dem Gehenlernen in Verbindung gebracht werden. Benjamins Stück aus der ‚Berliner Kindheit’ mit dem Titel „Der Lesekasten“ macht genau das. Dort spricht Benjamin davon, dass man Vergessenes nie ganz zurückgewinnen könne. „Vielleicht ist, was Vergessenes so beschwert und trächtig macht, nichts anderes als die Spur verschollener Gewohnheiten, in die wir uns nicht mehr finden können.“ (GS IV, 267) Der Lesekasten, der Thema des Stücks ist, sei ein Gegenstand, der jene Fähigkeiten formte, die das Dasein des erzählenden Ichs am stärksten mitbestimmten: Lesen und Schreiben. Die Sehnsucht, die er mir erweckt, beweist, wie sehr er eins mit meiner Kindheit gewesen ist. Was ich in Wahrheit in ihm suche, ist sie selbst: die ganze Kindheit, wie sie in dem Griff gelegen hat, mit dem die Hand die Lettern in die Leiste schob, in der sie sich zu Wörtern reihen sollten. Die Hand kann diesen Griff noch träumen, aber nie mehr erwachen, um ihn wirklich zu vollziehen. So kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr. (GS IV, 267) 60 Vgl. Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der Handschrift, S. 76. 61 Ebd. S. 87. 7.5. Schriftbild 359 Gerade diese vergangene Geste, dieser Griff, in dem - virtuell - die ganze Kindheit gelegen haben soll, wird aktuell handschriftlich, also mit der Hand oder dem Griffel beschrieben, auch wenn die Hand selbst diesen Griff in den Lesekasten scheinbar nicht mehr zu vollziehen imstande ist. Es wird also eine Differenz ausgestellt zwischen dem, der aktuell schreibt, und dem Griff in den Lesekasten. Gleichzeitig auch die Differenz zwischen dem Reich der Schrift überhaupt und dem ersten Griff nach den Lettern. Auch blitzt eine Analogie auf: Diese Urszene des Schreibens, die vor Augen führen soll, dass das Schreiben-Lernen nie mehr rein wiederholt werden kann, weist beinahe in nuce auf ein Montageverfahren 62 , das auf einer anderen Ebene - skizziert in vielen Überlegungen des sogenannten ‚Passagen-Werks’ - ein Erwachen aus Träumen erwirken soll, die die Wahrnehmung jener Spannung zwischen dem Jetzt und dem Gewesenen gerade verstellen. Abgesehen von diesem Zusammenhang werden wir mit dem Verweis auf die Möglichkeit, den besagten Griff noch zu träumen, auch an Kafka und dessen Fähigkeit erinnert, die nicht zu beantwortenden Fragen über die Schöpfung, die sich ihm in der Geste formen, letztlich im Traum zu erhaschen. Neben all diesen feinen intertextuellen Verweisen findet darüber hinaus eine Konfrontation mit der Materialität des Schreibens statt. Benjamin unterstreicht mit seiner Lesekasten-Geschichte die Differenz von Hand- und Maschinenschrift, die auch andernorts immer wieder reflektiert wird - auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene. 63 Benjamin selbst hat äußerst 62 Auf dieses Verfahren stößt man häufiger in Benjamins „Einbahnstraße“. Will man dieses Verfahren mit der Kindheit in Verbindung bringen, sei auf die „Baustelle“ verwiesen, wo dieser Zusammenhang explizit wird: „Pedantisch über Herstellung von Gegenständen - Anschauungsmitteln, Spielzeug oder Büchern -, die sich für Kinder eignen sollen, zu grübeln, ist töricht. Seit der Aufklärung ist das eine der muffigsten Spekulationen der Pädagogen. Ihre Vergaffung in Psychologie hindert sie zu erkennen, daß die Erde voll von den unvergleichlichsten Gegenständen kindlicher Aufmerksamkeit und Übung ist. Von den bestimmtesten. Kinder nämlich sind auf besondere Weise geneigt, jedwede Arbeitsstätte aufzusuchen, wo sichtbar die Betätigung an Dingen vor sich geht. Sie fühlen sich unwiderstehlich vom Abfall angezogen, der beim Bauen, bei Garten- oder Hausarbeit, beim Schneidern oder Tischlern entsteht. In Abfallprodukten erkennen sie das Gesicht, das die Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein, zukehrt. In ihnen bilden sie die Werke der Erwachsenen weniger nach, als daß sie Stoffe sehr verschiedener Art durch das, was sie im Spiel daraus verfertigen, in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen. Kinder bilden sich damit ihre Dingwelt, eine kleine in der großen, selbst. Die Normen dieser kleinen Dingwelt müßte man im Auge haben, wenn man vorsätzlich für die Kinder schaffen will und es nicht vorzieht, eigene Tätigkeit mit alledem, was an ihr Requisit und Instrument ist, allein den Weg zu ihnen sich finden zu lassen.“ (GS IV, 92 f.) 63 Vgl. dazu das erhellende Vorwort von Davide Giuriato im Sammelband „SCHREIB- KUGEL IST EIN DING GLEICH MIR. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. Vgl. Davide Giuriato, (Mechanisiertes) Schreiben, S. 7-20. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 360 klein geschrieben, und mehrheitlich mit der Feder. Die Feder musste er sogar manchmal umdrehen, um das seinen Vorstellungen entsprechende Schriftbild zu erzielen. Rund um den Kafka-Aufsatz hat Benjamin aber noch anderes unternommen: Er hat Überlegungen zu bestimmten Motiven auf Papier festgehalten, das er dann zu kleinen Zetteln verschnitten hat. Auf diesen Zetteln finden sich auch farbige Zeichnungen oder Symbole, die markieren, zu welchem Themenkomplex das Geschriebene gehört. Unabhängig von diesem Umstand zeugen diese Zettel von einem gestischen Schreiben, von einem handschriftlichen Verfahren, das die semiotische Sprache mit ihrer leiblichen Dimension verknüpft, um sich jener Bildlichkeit anzunähern, die gleichzeitig das Motiv dieses Schreibens ist. Losgelöst von einer graphologischen Deutbarkeit verknüpft sich dieses Schriftbild oder diese Sprache mit ihrer magischen Seite, mit dem Gestus und ihrer Leiblichkeit, die von etwas Vergessenem zeugt, dem man sich zuzuwenden hätte, wenn man inmitten der Ordnung, die das Lebendige Gesetzen homogener Wiederholung unterwirft, jenes Neue oder Nu zu erhaschen vermöchte, das mit der Freiheit korrespondiert (siehe Kafkas ‚Bucephalus‘ 64 oder seine - nach Benjamin - vollkommenste Geschichte über den heiteren Sancho Pansa, der sich von seiner Last befreit hat 65 ). Gerade deshalb legt Benjamins Versuch, Kafka aus der Mitte seiner Bildwelt zu deuten, auch nahe, vielleicht den einen oder anderen Blick Benjamins eigenen Aufzeichnungen zu schenken, in denen die Gestaltung und ihr Verhältnis zu etwaigen Zonen mit den Spannungen, die die Kafkasche Welt nach Benjamin auszeichnen, zu korrespondieren scheinen. Einige Notizblätter, auf denen die Überlegungen zu Kafka niedergeschrieben sind, sind schlicht entstellt. Nicht nur die Schrift, sondern die Blätter selbst sind von auffälliger Kleinheit und so zugeschnitten, dass sie als nicht ganz 64 Vgl. GS II, 437: „Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt. Ihr Lehrmeister ist jener Bucephalus, der ‚neue Advokat’, der ohne den gewaltigen Alexander - und das heißt: des vorwärtsstürmenden Eroberers ledig - den Weg zurück nimmt. ‚Frei, unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher.’ […] [A]ls Rechtsgelehrter bleibt der Bucephalus seinem Ursprung treu. Nur scheint er - darin dürfte im Sinne Kafkas das Neue für den Bucephalus und seine Advokatur liegen - nicht zu praktizieren. Das Recht, das nicht mehr praktiziert und nur noch studiert wird, das ist die Pforte der Gerechtigkeit.“ 65 Vgl. GS II, 438, wo Benjamin Kafkas Geschichte des Sancho Pansa zitiert: „Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.“ 7.5. Schriftbild 361 unversehrt erscheinen müssen. Man findet darauf Zeilen einer relativ kompakten Schrift, die bis auf den Boden und den Rand des Papiers reichen. Ebenso sieht man am oberen Rand noch Buchstabenreste, die genau von jener Zone herrühren, die die Mendelssohns mit dem Erdboden oder der Vorwelt in Verbindung bringen: entstellte Buchstaben auf einer Zeilenzone, die auf ihre Verstricktheit mit der Sumpfwelt weist. Genau in dieser Region sind auch Farbenstriche auszumachen, die bestenfalls an eine Kinderzeichnung erinnern. Auch die Symbole, der Kreis, der das Wort „Kindheit“ und „Gestisches Thea(ter)“ einkreist, haben kindlichen Charakter, der mit der kunstvollen Kleinheit und Gedrängtheit des restlichen Schriftbilds auf eine frappante Weise mit den Überlegungen zu Kafka in einer unheimlichen, man möchte sagen unsinnlichen Ähnlichkeit zu stehen scheint. 66 Der Gestus dieser Notizen macht sie zu einem Teil der Kafka’schen Bildwelt, zu deren Deutung sie selbst beizutragen sich anschickten. Mit diesen kleinen Fetzen beschriebenen und bemalten Papiers wird eine lineare Arbeitsmethode, eine lineare Lektüre, der Sinn der semiotischen Sprache wie auch eine mögliche Lesbarkeit von Bildlichkeit über Ähnlichkeitsgesetze an ihren Abgrund getrieben. Denn weder lässt sich anhand des Schriftbilds oder der gemalten Symbole auf Kafka schließen noch hilft die Entzifferung der Buchstaben weiter. Beides wird durchkreuzt, aber als Teil einer konstellativen Lektüre muss sowohl Bildlichkeit als auch Buchstäblichkeit ernst genommen werden. Denn durch den Blick auf das Schriftbild und Benjamins Arbeitsweise werden die Spannungen nachvollziehbar, die den Kafka-Essay durchziehen, der - wie bereits gesagt wurde - zu Benjamins Lebzeiten nie vollständig publiziert wurde. Mit den Schlusssätzen aus Benjamins Rezension über das Buch der Mendelssohns ließe sich - mit Blick auf das Welttheater, das uns Kafka liefert - vielleicht abschließend zu Benjamins eigenen Notizblättern sagen, dass „jeder Fetzen beschriebenen Papiers ein Freibillet fürs große Welttheater“ sein kann. Wer genau hinschaut, dem kann ein solcher Fetzen „die Pantomime des ganzen Menschenwesens und Menschenlebens in hunderttausendfacher Verkleinerung“ zeigen (GS III, 139) - oder auch bescheidener: beredt Zeugnis über eine intensive Beziehung des Schreibenden mit seinem Gegenstand ablegen. 66 Ein Faksimile dieses Notizzettels findet sich in: Walter Benjamin Archiv (Hrsg.): Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen, Frankfurt am Main 2006, S. 174. 7. Kafka „aus der Mitte seiner Bildwelt“ gedeutet 362 7.6. Fazit Benjamins Kafka-Studien bieten eine Fülle von Deutungsangeboten. Ein großes Thema bildet aber zweifelsohne die ‚Bildwelt‘ Kafkas und ihre zeitlichen Bezüge. Nach Benjamin korrespondiert die Thematik von Kafkas Werk mit einer historischen Situation, nur wird diese bei Kafka im Medium der Literatur verhandelt. Die komplexe Verflechtung der Zeitebenen in Benjamins Kafka-Deutung weisen auf ein dialektischen Modell, das keine positiv zu konstatierende Synthese kennt: Die Utopie ist nicht die Synthese aus Sumpfwelt und Mythos. Den archaischen Urbildern der Sumpfwelt, die in der Welt des Mythos durchbrechen, korrespondiert kein Zukunftsbild; die Zukunft bleibt eine notwendige Leerstelle oder Differenz, an die sich die Hoffnung bindet - das unterscheidet Benjamin (und mit ihm sein Verbündeter Kafka) von reaktionären Denkern wie Bachofen und Klages. Das sperrt Benjamins Kafka auch gegen Lektüren, die Kafka symbolisch - sei es mit Bezug auf die Religion, sei es mit Bezug auf die Psychoanalyse - (aus)deuten möchten. Durch das zeitliche Modell, das Benjamin Kafka unterlegt, demonstriert er, dass keine lineare Kafka-Lektüre möglich ist. Eine lineare oder symbolische Ausdeutung Kafkas bedeutete wohl selbst eine Erzeugung archaischer Bildwelten und eine Anwendung von Lesegesetzen, die die bei Kafka entblößte mythische Struktur des Gesetzes reproduzierte. Als ob Benjamin diesen Umstand spiegeln wollte, verunmöglicht er auch eine lineare Lektüre seines eigenen Texts. Und als ob er dies auch auf der materiellen Ebene seines Textes zusätzlich ausdrücken wolle, zerstückelt er seine Notizen. Wie Kafkas ‚Kodex von Gesten‘ haben diese Notizen keine „sichere symbolische Bedeutung“, vielmehr müssen auch sie „in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen“ werden. Die Notwendigkeit, das Material und seine inhaltlichen Bezüge in stets neue Lektüre-Konstellationen zu bringen, erschwert demnach die Lektüre der Benjaminschen Kafka-Deutung und macht es schwer, die Ebenen auseinanderzuhalten. Gerade weil man diese Lektüre nicht so einfach ausschöpfen kann, hat sie uns nach wie vor etwas zu sagen. Sie suspendiert demnach genau jene Kräfte, die sie kritisch beleuchtet und hält sich und ihren Gegenstand offen. Auch damit versucht sie in Interaktion mit ihrem Leser im Vollzug dessen, was sie selbst erprobt, eine ihrer Botschaften deutlich zu machen: dass auch im Scheitern noch Hoffnung liegt. 8. Zum Denken mit dem Bild 8.1. Denkbild Bislang wurde in dieser Arbeit, in der die Dialektik der Bilder oder die Dialektik des Bildlichen verhandelt wird, noch kaum vom ‚Dialektischen Bild‘ gesprochen und auch nicht vom ‚Denkbild‘, das sich bereits in der frühesten Benjamin-Rezeption als Schlagwort einzurichten begann. Theodor W. Adorno hat den Begriff des ‚Denkbilds‘ in seiner Rezension zur „Einbahnstraße“ populär gemacht 1 , nachdem einige Texte Benjamins für die Frankfurter Zeitung mit dieser Überschrift erschienen sind. 2 In den Gesammelten Schriften wird dann gleich einer beträchtlichen Anzahl von Texten diese Bezeichnung als Übertitel verliehen, sodass von den Herausgebern suggeriert wird, man habe es mit einer Gattung zu tun. 3 Bei der Folge jener kürzerer Texte also, die in der Frankfurter Zeitung veröffentlich wurden, ist nicht klar, ob ihr Titel „Denkbilder“ von Benjamin selber stammt. Detlev Schöttker wirft die Frage auf, ob der Titel nicht von Siegfried Kracauer gesetzt wurde, da er in der Redaktion der Frankurter Zeitung der verantwortliche Redakteur und Ansprechpartner Benjamins war. Schöttker meint, für diese These spreche, dass der Begriff „in seinem [Benjamins] Werk ansonsten nie auftaucht oder erläutert wird“. 4 Es ist tatsächlich so, dass Benjamin selbst den Begriff im Sinne einer Gattungsbezeichnung nicht braucht. So wird Benjamin beispielsweise von Carl Linfert in einem Brief auf diese kurze „Denkbilder“-Textfolge angesprochen. Linfert schreibt, er habe Benjamins „Denkbilder gelesen und sich vieles davon eingeprägt“ (GB IV, 314). Benjamin antwortet ihm daraufhin, Linfert habe „in der recht ungleichen Folge - deren Wahl unter einem Vorrat verwandter Notizen durch äußere Rücksichten bestimmt war - sogleich die [ihn] am tiefsten betreffende Stelle herausgefunden“ (GB IV, 313). Zweierlei fällt bei dieser Antwort auf. Benjamin spricht dieser Folge einen 1 Vgl. Theodor W. Adorno, Walter Benjamins ‚Einbahnstraße’, In: Über Walter Benjamin. Mit Beiträgen von Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Rychner, Gershom Scholem, Jean Selz, Hans Heinz Holz und Ernst Fischer, Frankfurt am Main 1968, S. 55-61. 2 In den ‚Gesammelten Schriften’ finden sie sich in GS IV, 428-433; sie wurden am 15.11.1933 in der Frankfurter Zeitung unter dem Pseudonym ‚Detlef Holz’ veröffentlicht. 3 Vgl. GS IV, 305-438. 4 Detlev Schöttker, Konstruktive Aphoristik. Walter Benjamins Einbahnstraße. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Band 48, Heidelberg 1998, S. 495-504, hier S. 501. 8. Zum Denken mit dem Bild 364 intrinsischen Zusammenhang ab, das heißt, zwar hängen die Texte zusammen, aber vermutlich hätten auch weitere Texte in die Folge aufgenommen werden können, denn er spricht ja außerdem von einem ‚Vorrat verwandter Notizen‘, dem diese Texte anzugehören scheinen. ‚Notizen‘ nennt Benjamin diese Texte und er scheint damit die adäquate - und unprätentiöse - Bezeichnung für andere Texte von ihm gefunden zu haben. Auch über seine „Einbahnstraße“-Texte teilt er einmal brieflich an Scholem mit, es handle sich nicht eigentlich um ‚Aphorismen‘, sondern um ‚Notizen‘ (GB III, 207). Meines Wissens braucht Benjamin den Begriff des Denkbilds selbst - falls denn der Titel der angesprochenen Folge in der Frankfurter Zeitung tatsächlich von Kracauer stammen sollte - tatsächlich nur in einem einzigen Text. Dieser in französischer Sprache verfasste Text - erschienen am 15.1.1938 in einer französischen Zeitschrift (vgl. GS IV, 1048) - trägt den Titel „Peintures chinoises à la bibliothèque nationale“ (GS IV, 601-605). Dort taucht der Begriff in seiner französischen Übersetzung als „image-pensée“ auf. Der Begriff ist für den Kontext dieser Arbeit interessant, aber nicht, weil er in der Forschung inflationär auf Benjamins Denken und Schreiben angewandt wurde, sondern weil er an einem konkreten Gegenstand entwickelt wird. Benjamin schreibt in diesem Text über die chinesische Kalligraphie und über das Tuschen - ein Thema, das im Kapitel über das Schreibenlernen aufgegriffen wurde. Er schreibt, dass ein Bild etwas Ewiges enthalte, das durch den fixierten und stabilisierten Strich oder Zug ausgedrückt werde. Die Ewigkeit werde aber auch durch das Flüssige oder Sich-Verändernde des Tusche-Strichs ausgedrückt („Cette éternité s’exprime par la fixité et la stabilité du trait, mais elle peut aussi s’exprimer, de façon plus subtile, grâce à une intégration dans l’image même de ce qui est fluide et changeant.“ GS IV, 604). Diese Fluidität ist nicht einfach wörtlich zu nehmen und auf die flüssige Beschaffenheit von Tusche zu beziehen. So wie Benjamin das Stabile des kalligraphischen Strichs mit den Wolken vergleicht („Ce qu’elles fixent n’a jamais que la fixité des nuages.“ GS IV, 604), so wird die Fluidität, die man aufs Material beziehen könnte, mit dem Bezug auf das Denken verflüchtigt. Es sei die Kalligraphie, die an der Erforschung des Denkbilds - des „image-pensée“ - teilhabe, schreibt Benjamin, nachdem er festhält, dass die chinesischen Maler, die man als ‚Gebildete‘ oder ironischerweise ‚Belesene‘ betrachten müsse (das französische Wort „lettré“ lässt das offen), es fertigbrächten, die genaue Mitte von Literatur und Malerei zu treffen oder das zu vereinen, was sich entgegenstünde: das Denken und das Bild (GS IV, 603). Benjamin zieht die chinesische Kalligraphie heran, um sie durch ihren Schwebezustand zwischen Schrift und Zeichnung, zwischen Erstarrtem und Bewegung als eine Praxis des Denkens mit dem Schrift-Bild zu charakterisieren. Dieser Praxis des schrift-bildlichen Denkens ist Benjamins eigenes Schreiben manchmal sehr nahe, wenn man etwa an die Notizzettel 8.2. Dialektisches Bild 365 zum Kafka-Essay denkt, die im letzten Kapitel dieser Arbeit thematisiert wurden. Dem Denken in der Schrift und seine Reflexion im Schriftbild begegnet man bei Benjamin sicher auch andernorts, wie auch in anderen Kapiteln zu zeigen versucht wurde, aber diese Praxis lässt sich schlecht zur allgemeingültigen Praxis des Benjaminschen Schreibens erheben. 8.2. Dialektisches Bild Den Begriff des ‚dialektischen Bilds‘ hingegen benutzt Benjamin sehr wohl, aber auch dieser Begriff wird - wie sich anhand des Briefwechsels zwischen Adorno und Benjamin sehen lässt 5 - gerne von Adorno forciert. Da der Begriff in einem erkenntnistheoretischen Zusammenhang aber von Benjamin selbst verwendet und in gewissem Maße auch entwickelt wird, ist er zu wichtig, um ihn nicht zu berücksichtigen. Deshalb soll er nun kurz vorgestellt werden, jedoch mit der wichtigen Anmerkung, dass die in dieser Arbeit skizzierte Dialektik des Bildlichen nicht damit gleichzusetzen ist. Das widerspräche der in der Einleitung vorgestellten Intention dieser Arbeit, bestimmte Begriffe aus dem benjaminschen Textuniversum zuungunsten konzeptueller Analogien und Ähnlichkeiten zu alleserklärenden Schlagwörtern aufzuwerten. Wie viele Begriffe, denen man bei Benjamin begegnet, eröffnet der Begriff des ‚dialektischen Bilds‘ einen weiten Horizont und ist in seiner Bedeutung nicht so leicht zu fassen. Dementsprechend gibt es innerhalb der Forschung kein einheitliches Verständnis des Begriffs, die wenigsten Forscher explizieren ihn, benutzt wird er aber in allen möglichen Zusammenhängen und fast selbstverständlich. 6 Das mag wiederum daran liegen, dass der Begriff von Benjamin nirgendwo systematisch aufbereitet wird. Dass die Systematisierung eines Begriffs bei Benjamin selten vorgenommen wird, wurde bereits in der Einleitung dieser Arbeit konstatiert. Bei der Rekonstruktion seiner Bedeutung stützen sich viele Interpreten deshalb auf die Quelle, in der der Begriff am häufigsten auftaucht und exemplifiziert wird, auf die Notizen zur Passagen-Arbeit. Das macht auch Ansgar Hillach in seinem Artikel zum ‚dialektischen Bild‘ in „Benjamins Begriffe“. 7 5 Vgl. etwa den langen Brief vom 2.-4. und 5. August 1935, ABB, 138 ff. oder den vom 6. September 1936, ABB, 191 ff. 6 Exemplarisch dafür steht etwa das frühe Buch von Michael Jennings, das, obwohl hier ein kritischer Ton herausgehört werden könnte, hervorragende Lektüren Benjaminscher Texte bietet: Michael Jennings, Dialectical Images. Walter Benjamin’s Theory of Literary Criticism, Ithaca 1987. 7 Vgl. Ansgar Hillach, Dialektisches Bild, In: Michael Opitz und Hartmut Wizisla (Hrsg.), Benjamins Begriffe, 2. Bände, Frankfurt am Main 2000, S. 186-229. 8. Zum Denken mit dem Bild 366 Hillach weist zunächst auf den paradoxen Charakter der Begriffsverbindung, da er eine Auffassung vom Bild vertritt, in dem „die Zeit, die an seinem Entstehen Anteil hatte, zum Stillstand gekommen“ sei, während die Dialektik „wesentlich auf Entfaltung in der Zeit“ verweise. 8 Wahrscheinlich steckt hinter Hillachs Bildverständnis die Charakterisierung des Bilds durch seine Räumlichkeit, die auf der Unterscheidung von sogenannten Raum- und Zeitkünsten fußt. Da Benjamin das dialektische Bild in der Sprache verortet - und diese im Gegensatz zum Bild gemeinhin mit der Zeit assoziiert wird -, kann man demnach tatsächlich festhalten, dass dem dialektischen Bild per definitionem eine zeitliche Dimension inhärent ist. Hillachs erste Definition des ‚dialektischen Bilds‘ lautet: Das dialektische Bild ist eine Konfiguration im historischen Prozeß, die dadurch aus dem Fluß des Geschehens sich als Bild heraushebt, daß sie einem aktiv fixierenden Moment des Erkennens unterliegt und damit auf eine Wirklichkeit ungelebten Lebens verweist. 9 Diese Definition lässt Fragen offen, da eine Beziehung der Wirklichkeit ‚ungelebten Lebens‘ zu einem aktiv fixierenden Moment des Erkennens meines Erachtens nicht automatisch das Bild erfordert. Der erste Teil der Definition verweist also darauf, dass aus einem diffusen Fluss des Geschehens ein Moment aktiv herausgehoben und erkannt wird. Der zweite Teil erklärt dieses Moment zum Verweis auf ‚ungelebtes Leben‘. Ein wichtiges Charakteristikum dieser Konzeption der Erkenntnis, die Hillach an dieser Stelle betont, ist ihre Opposition zu Erkenntnisweisen, die auf eine klare Trennung von Subjekt und Objekt bauen. Dieser Hinweis verhindert, das ‚aktiv fixierende Moment des Erkennens‘ nicht einfach auf ein erkennendes Subjekt zu beziehen. Genauso ist die Rede von der ‚Wirklichkeit des ungelebten Lebens‘ nur verständlich, wenn man den Kontext berücksichtigt, den Hillach bemüht. Er zitiert, leicht verschlungen, eine Stelle in Ernst Blochs Aufsatz zu Georg Lukàcs‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“, in dem wiederum Bloch Karl Marx mit folgenden Worten zitiert: „Es wird sich dann zeigen […], daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“ 10 Die Rede vom ‚Traum‘ ist in Benjamins Versuchen, das dialektische Bild zu fassen, in den Notizen zur Passagen-Arbeit häufig präsent. Im Exposé „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, schreibt Benjamin: 8 Vgl. Ansgar Hillach, Dialektisches Bild, S. 186. 9 Ebd., S. 187. 10 Ebd. 8.2. Dialektisches Bild 367 Dieser Epoche entstammen die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es […] mit List. Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind. (GS V, 59) Die Rede vom Traum und dem Erwachen lässt sich gut mit der Aussage von Marx kombinieren, dass die Welt längst einen Traum von einer Sache besäße, bevor sie das Bewusstsein von ihr habe. Die Passagen und auch Panoramen sind ein tatsächlich realisierter Zukunftstraum, der von der Gegenwart eingeholt wurde. Die Passagen wurden entsprechend dieser Logik ihrer erträumten Funktion beraubt, als sie noch kaum vollendet waren: ‚Ruinen noch ehe sie zerfallen sind‘. Der unaufhaltsame Fortschritt stellt diese ‚Ruinen‘ als Einzelstücke aus und ermöglicht an ihnen eine Reflexion, die anhand der Erkenntnis eines im Moment bereits antiquierten Zukunftstraums ein Erwachen aus dem gegenwärtigen Schlummer bewirkt. Verallgemeinert lässt sich dieses Potential auch als ‚ungelebtes Leben‘ verstehen. Man kann sich nun aber fragen, was das genau mit dem Bild zu tun hat, ohne das Bild dabei nicht zu einem Stellvertreter-Begriff verkommen zu lassen. Es scheint, dass Begriffe wie ‚Konfiguration‘ oder ‚Traum‘, aber auch der Begriff des ‚Intervalls‘, der in diesen Zusammenhängen angeführt wird, um die Zäsur zu bezeichnen, die das Erwachen erzeugt, die Rede vom Bild befördert. Es ist, wie Hillach ja hervorhebt, das Stillstellen der Zeit, das das Bild auszeichnet. Benjamin spricht, wie Hillach zeigt 11 , vom „Zeitdifferential“ (GS V, 1038), in welchem allein das dialektische Bild wirklich sei. Bekanntgeworden ist in diesem Zusammenhang auch die Begriffskombination „Dialektik im Stillstand“. Hillach meint, dass die „Stillstellung des Wahrgenommenen in der Wahrnehmung“ die „Voraussetzung dafür [sei], dass ein Bild aktiv wahrgenommen werden“ könne. 12 Mit dieser Wendung weist Hillach darauf hin, dass diese aktive Wahrnehmung nicht von einem Subjekt aktiv herbeigeführt wird, sondern dass das bereits angesprochene Erwachen für diese verantwortlich ist. Dass das ‚Erwachen‘ eher geschieht, oder einem Träumenden - egal ob Individuum oder Kollektiv - widerfährt, als aktiv herbeigeführt wird, versteht sich von selbst. Aber es versteht sich dennoch nicht ganz von selbst, unter welchen Bedingungen dieses Erwa- 11 Vgl. Ansgar Hillach, Dialektisches Bild, S. 190. 12 Ebd., S. 194. 8. Zum Denken mit dem Bild 368 chen genau vonstatten geht. Wenn Benjamin etwa schreibt, die „neue dialektische Methode der Historik lehr[e] mit der Schnelligkeit und Intensität von Träumen im Geiste das Gewesene durchzumachen, um so die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die zuletzt sich der Traum bezieh[e]“, oder wenn er festhält, es gebe „‘noch nicht bewusstes Wissen‘ vom Gewesenen, dessen Förderung die Struktur des Erwachens“ habe (GS V, 1058), so lässt sich zwar erahnen, um was es Benjamins Passagen-Arbeit zu tun ist, aber dennoch sieht die genaue Beschreibung einer für den Historiker brauchbaren Methode anders aus. Es ließen sich noch weitere Begriffe anführen, die um das dialektische Bild kreisen, aber sie erhellen es nur partiell. Die Rede ist von den Begriffen ‚Ferne‘ und ‚Nähe‘, die an das Konzept der ‚Aura‘ gemahnen, oder auch vom ‚Eingedenken‘, das uns in die Nähe von Prousts ‚mémoire involontaire‘ brächte. Die ‚mémoire involontaire‘ zitiert Bennjamin in seinen Notizen zur Passagen-Arbeit zwar öfter explizit, aber er möchte das ‚unwillkürliche Eingedenken‘ auf das Kollektiv übertragen, da er dieses Phänomen bei Proust auf das Individuum reduziert sieht (vgl. GS V, 497). Die Schwierigkeit, die sich mit dem dialektischen Bild ergibt, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass Gegenstand und Methode in eins fallen. Cornelia Zumbusch hält fest: Im Rahmen des Passagen-Werks siedelt Benjamin Bildlichkeit auf zwei Ebenen an: Erstens zeigt sich dem Geschichtsschreiber die Geschichte in dialektischen Bildern, die er zu deuten hat, zweitens legt das dialektische Bild als Darstellungsmodus eine Anschaulichkeit in der Geschichtsschreibung nahe. Das dialektische Bild ist sowohl Gegenstand und als auch Methode des Passagen-Werks. Diese verwirrende und nicht immer klar auseinander gehaltene Doppelfunktion hat die Rezeption der Fragment gebliebenen Bildkonzeption erschwert. 13 Dieser Analyse ist beizupflichten. Ebenso trifft Zumbuschs Feststellung zu, dass nicht „klar abzulesen“ sei, „ob das dialektische Bild den Mythos des neunzehnten Jahrhunderts entzauber[e] oder ob es selbst mythisch“ sei, ob es sich auf die im Unbewussten des Kollektivs „gespeicherten Bilder“ beziehen lasse oder ob es dem „deutenden Blick des Geschichtsschreibers“ entspringe. 14 Zumbusch skizziert Benjamins dialektisches Bild als etwas zwischen ‚magischem Symbol‘ und ‚arbiträrem Zeichen‘, als etwas zwischen klassisch verstandener Bildauffassung und Semiotik. Gerade der Zwischen- oder Schwellenbereich, in dem eine solche Auffassung das Phänomen verortet, erschwert seine Fassbarkeit. Und noch schwieriger ist es, 13 Vgl. Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 5. 14 Ebd., S. 18. 8.3. Leib und Bild 369 dieses Phänomen auf andere Bereiche des Benjaminschen Schreibens zu übertragen, wo davon nicht explizit die Rede ist. Man gerät damit in eine ähnliche Verlegenheit wie mit dem ‚Denkbild‘: Man erhält eine Ahnung des Begriffs und ist versucht, ihn auf alle möglichen Texte zu übertragen und erklärt damit am Ende wenig bis gar nichts, gerade weil er relativ unspezifisch bleibt. Es erscheint alles andere als fruchtbar, davon zu sprechen, dass Benjamin an einer bestimmten Textstelle ein dialektisches Bild produziert oder dass dem Leser eines irgendwo entgegentritt. Ebenso erscheint es unfruchtbar, Benjamins Denken als ein Denken in Bildern zu charakterisieren und vermeintliche ‚Denkbilder‘ aus den Texten zu extrahieren, ohne zu explizieren, was für eine Bewegung oder Konstellation damit bezeichnet wird. 8.3. Leib und Bild Weshalb ist in dieser Arbeit die Rede von der Dialektik des Bildlichen, wenn doch gesagt wurde, dass Begriffe wie das ‚Denkbild‘ oder das ‚dialektische Bild‘ oft zu rasch als generalisierende Konzepte zur Beschreibung von Phänomene in Texten Benjamins verwendet wurden? Mit der Dialektik des Bildlichen ist kein spezifisches Konzept oder spontan zu beschreibendes Phänomen in gewissen Texten gemeint, vielmehr handelt sich um eine Bewegung in einer Vielzahl von Texten. Es geht um mehr als um eine Spielerei auf struktureller Ebene. Die zeitliche Dimension des Bildlichen ist in der Tat ein Bestandteil des sprachlichen Denkens und Schreibens. Das Bildliche markiert gegenüber der Sprache oder dem Sprachlichen für gewöhnlich eine Grenze. Diese Grenze wird aber je anders erfahren, so dass sie in verschiedenen Kontexten auf eine unterschiedliche Weise zum Thema werden kann. Mit dieser Beobachtung lässt sich auch ein historischer Aspekt verbinden. So hält etwa Hans Heinz Holz fest, dass sich in den Jahren nach 1910 in Deutschland ein Prozess vollzogen habe, der den „Denkhabitus einer ganzen, höchst fruchtbaren Generation modellierte: die Wiedergewinnung signifikativer Bildhaftigkeit für die Begriffssprache“. 15 Er bezieht dieses Phänomen auf den ‚Expressionismus‘ und stellt die These auf, dass das Verändern der Welt an die Imagination des veränderten Zustands geknüpft wurde, so dass das ‚Bild‘ zum Motor für Veränderungen avancieren konnte. „Die bildliche Komponente des Denkens“ wurde „zur Triebkraft des Handelns, mithin zum unerlässlichen Bestandteil der Theorie-Praxis-Einheit.“ 16 15 Vgl. Hans Heinz Holz, Philosophie der zersplitterten Welt. Reflexionen über Walter Benjamin, Bonn 1992, S. 79. 16 Ebd., S. 79. 8. Zum Denken mit dem Bild 370 Wie man auch mit Blick auf einige Intellektuelle und Künstler sagen könnte, reibt sich das Denken und das Vorstellungsvermögen damals womöglich am rasanten Fortschreiten technischer und gesellschaftlicher Veränderungen, die in Kunst und Philosophie zum expliziten Thema gemacht werden. Im Falle von Klages, der in dieser Arbeit öfters Thema ist, bleibt die Flucht ins Bild als Möglichkeit bestehen, das Archaische und ‚Natürliche‘als Kontrapunkte zur scheinbar bildlosen Rationalisierung zu erfassen. 17 Dass die Zertrümmerung der ‚Aura‘ - ein Begriff Klages‘ - wiederum von bildgenerierenden Medien wie der Photographie vorangetrieben wurde, entbehrt nicht der Ironie. Im Gegensatz dazu war es Benjamin nicht um die Flucht in eine archaische Bildlichkeit zu tun, sondern darum, diese Bildlichkeit auch dort aufzuspüren, wo sie nicht mehr offensichtlich, da verdrängt ist. Und zwar nicht, um ein wie auch immer geartetes Bild zu restaurieren, sondern um es im kollektiven ‚Symbolraum‘ als virtuelles Material zu bewahren, das als Transformierbares zur Aktualisierung zu einer gegebenen Zeit bereitliegt. Benjamins Dialektik geht von einer „zunehmenden Verdichtung (Integration) der Wirklichkeit“ aus, „in der alles Vergangene (zu seiner Zeit) einen höheren Aktualitätsgrad als im Augenblick seines Existierens erhalten kann.“ (GS V, 495) Das Wort ‚Verdichtung‘ weist unmittelbar auf die Rolle der Bilder in diesem Zusammenhang. Nicht Sukzession, Linearität, diskrete Segmente charakterisieren den virtuellen Bilderfonds, aus dem die Erinnerung oder Vorstellung schöpft. „Wie es als höhere Aktualität sich ausprägt, das schafft das Bild als das und in dem es verstanden wird“, heißt es an derselben Stelle. Diese Formulierung ist mehrdeutig. Sie impliziert nicht nur das delikate ‚Verständnis‘ des Bilds als ein Verständnis für einen Gegenstand, der nicht jeder Verständnisweise einfach zugänglich ist, sie impliziert auch, dass das Bild selbst am Verständnis des Bilds beteiligt ist. Jedes Verständnis, soll es aber reproduzierbar sein, ist auch auf die Sprache angewiesen. In der Sprache und im Schreiben ein Verständnis des Bilds zu gewinnen, heisst auch, ein anderes Verhältnis zur Sprache und zur Kindheit zu erlangen: Aufgabe der Kindheit: die neue Welt in den Symbolraum einzubringen. Das Kind kann ja, was der Erwachsene durchaus nicht vermag, das Neue wiedererkennen. Uns haben, weil wir sie in der Kindheit vorfanden, die Lokomotiven schon Symbolcharakter. Unsern Kindern aber die Automobile, denen wir selber nur die neue, elegante, moderne, kesse Seite abgewinnen. Es 17 Seltsamerweise wird bei einer solchen Auffassung des Bildlichen gerade das ausgeblendet, was gemeinhin unter einem ‚Bild‘ verstanden wird, etwa Gemälde, photographische Bilder und filmische Bilder. Man stößt in Klages’ Texten permanent auf ‚Bilder‘, der Begriff wird beinahe inflationär verwendet. Fast nie jedoch ist dabei die Rede von den Bildern, die man im Blick hat, wenn man in der Zeit Klages’ von einer Bilderflut spricht. 8.3. Leib und Bild 371 gibt keine seichtere, hilflosere Antithese als die reaktionäre Denker wie Klages zwischen dem Symbolraum der Natur und der Technik sich aufzustellen bemühen. Jeder wahrhaft neuen Naturgestalt - und im Grunde ist auch die Technik eine solche, entsprechen neue „Bilder“. Jede Kindheit entdeckt diese neuen Bilder um sie dem Bilderschatz der Menschheit einzuverleiben. (GS V, 493) Der Kindheit wird eine Aufgabe zugeteilt. Sie soll das Neue in den ‚Symbolraum‘ einbringen, dem ‚Bilderschatz der Menschheit‘ einverleiben. Kinder stehen der ‚Bilderwelt‘ näher als der Erwachsene. Ihnen wird zugesprochen, einen Zusammenhang zwischen dem ‚Neuen‘ und dem ‚Archaischen‘ oder der ‚Natur‘ zu sehen. Wie in Benjamins Kafka-Essay wird das ‚Archaische‘ oder die ‚Natur‘ durch die Kinder in die Geschichte eingebracht und umgekehrt, im ‚Neuen‘ erscheint das Längstvergangene. Der Gegensatz von ‚Technik‘ und ‚Natur‘, den man bei Klages vorfindet, ist deshalb für Benjamin nicht haltbar. Es geht nicht darum, das ‚Neue‘, Zeugnisse der ‚Technik‘, zugunsten der Natur abzuwerten, um einen Zugang zur Natur zu finden, zu den wahren Bildern, gar zur Kindheit. Nach Benjamin findet eine permanente Rekonfiguration dieser Verhältnisse statt. Kinder und Bilder sind nichts, das in ferne Zeiten zurückführt, aber sie versprechen die Erkennbarkeit der Gegenwart, um sie zu verändern. Sowie sich auch in den Vorstellungsbildern der Kindheit die ‚Bilder‘ der Zukunft andeuten, die sich irgendwann einmal realiter in Bauwerken, Transportmitteln usw. manifestieren können. Diese ‚Kindheit‘ ist eine nur schwer bestimmbare, im Rahmen der Interpretation des Kafka-Essays wurde sie als eine Alternative zu jener Kindheit vorgestellt, die durch den Blick des Erwachsenen zur Erstarrung gebracht wird. Sie verkörpert selbst eher „das Bild der erstarrten Unruhe“ (GS V, 402), von dem Benjamin mit Blick auf das Ende eines Baudelaire’schen Gedichts spricht. Und um nochmals zum Stichwort Kafka zurückzukehren: Der ‚Symbolraum‘, von dem die Rede ist, ist jenem Raum verwandt, in dem bei Kafka die Sumpfwelt und ihre archaische Gestik mit der Neuzeit konfrontiert wird, oder er ist jenem ‚Raum‘ des Kinderspiels verwandt, der in die „Mummerehlen“ vorgestellt wurde. Eine Eigenschaft dieses Raums ist seine ‚Neutralität‘ bezüglich der Subjekt-Objekt-Opposition, wie Hillach mit Blick auf den mit dem dialektischen Bild hantierenden Historiker festhält. 18 Cornelia Zumbusch liefert wichtige Hinweise, um jenen ‚Raum‘ begreifbar zu machen, wenn sie schreibt, dass Benjamin bereits in seiner Berner Studienzeit durch eine Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Paul Häberlin eine Herangehensweise an das psychophysische Problem kennen- 18 Vgl. Ansgar Hillach, Dialektisches Bild, S. 211. 8. Zum Denken mit dem Bild 372 lernt, das auf sein Denken eine gewisse Nachwirkung ausübt. 19 Das Theorem von der „Identität von Seele und Leib in der Wahrnehmung“ 20 , um die Begriffe Häberlins anzuführen, zieht sich durch zahlreiche Konzepte Benjamins, die sich auf den Einbzw. den Ausdruck beziehen lassen. Das ist nichts anderes als ein Gedanke für das, was bei Kafka oder mit Blick auf das Kinderspiel beschrieben wird. Das Verhältnis der Subjekte zu sich und sie umgebende Objekte in der Wahrnehmung wird als eines beschrieben, das eine klare Distinktheit unwahrscheinlich sein lässt. Die Dingwelt besteht in dieser Auffassung nicht aus klar identifzierbaren Körpern, die nichts mit der Wahrnehmung eines Subjekts zu tun hätten. Das Entscheidende dabei ist jedoch nicht die metaphysische Verbindung der Körper, die eine durch die Naturwissenschaften geprägte Geisteswissenschaft annehmen könnte, wichtiger sind die Synthetisierungsmöglichkeiten des ‚Seelischen‘, die für Leute wie Häberlin untrennbar mit dem sogenannten ‚Leib‘ verknüpft sind. Wenn an dieser Stelle kurz rekapituliert wird, welche der Formen des Ausdrucks als sprach-bildliche Komplexe vorgestellt wurden, beispielsweise der Name, der Gestus, die Farben und die Phantasie, das Erlernen der Schrift, die Graphologie, dann bestätigt sich die Beobachtung, dass eine Art ‚leibliche‘ oder ‚physiognomische‘ Psychologie damit verwandt sein könnte. Häberlin versucht die Leib-Seele-Differenz über den Begriff der Wahrnehmung aufzuheben und opponiert so gegen die Psychophysik, die den Körper im Verhältnis zur Seele aufwertet. 21 Häberlin hält etwa deutlich fest, dass es ein „Nur körperliches“ nicht gebe und dass alles Wahrgenommene „psychisch gemeint“ sei. 22 Gegen die Naturwissenschaft will er zeigen, dass die Wahrnehmung des Wirklichen einen psychischen Charakter habe. Empirische Wissenschaft bekenne sich, wenn sie ihrem „materialen Prinzip treu“ bleibe - das bedeutet für Häberlin: von der Wahrneh- 19 Vgl. Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 203. 20 Ebd., S. 204. 21 Vgl. Uwe Steiner, Von Bern nach Muri, S. 480 f.: „Die von ihm [Häberlin] geprägte Bezeichnung ‚Psychometaphysik‘ für die in Frage stehende philosophische Strömung muß als polemischer Gegenbegriff zum Begriff der ‚Psychophysik‘ Fechnerscher Observanz verstanden werden. Diese polemische Intention findet ihr erst in diesem historischen Kontext verständliches Pendant in Häberlins ausdrücklicher Ablehnung einer ‚Psychologie ohne Seele‘, die er als eine völlig unangebrachte Verbeugung vor der zudem noch mißverstandenen naturwissenschaftlichen Denkweise zurückweist. Mit dieser Wendung steht das psychophysische Problem für Häberlin erneut auf der Tagesordnung philosophisch-psychologischer Reflexion. In seiner in Benjamins Brief erwähnten Studie legt er seinen Lösungsversuch dar, der davon ausgeht, ‚daß der Mensch in seiner Realität ganz Seele ist und nichts als Seele.‘ Zu dieser Auffassung gelangt Häberlin durch den Rückgang auf die unreflektierte Wahrnehmung, den er als einen kopernikanischen Weg zurück hinter die Erfahrung begreift.“ 22 Vgl. Paul Häberlin, Leib und Seele, Bern 1921, S. 9. 8.3. Leib und Bild 373 mung auszugehen, aber von allem, was nicht „wertfreier Wahrnehmungsinhalt“ sei 23 , zu abstrahieren -, ebenfalls zu diesem Prinzip, dass „alles Wirkliche psychisch sei“, und damit zu einer psychophysischen Dualität. 24 Das ist für unseren Zusammenhang insofern interessant, als Häberlin mit dieser Auffassung den Körper oder Leib nicht komplett zugunsten der Psyche abwertet. Der Leib ist für ihn eine sogenannte „Erscheinungsform“ des Menschen, da es nichts „Körperliches am Menschen [gebe], was nicht ‚Ausdruck‘ eines Seelischen wäre“. 25 Alles am Menschen sei „physiologisch“, der ganze Mensch stelle sich als „körperlicher Organismus, als Leib“ dar, aber seine Wirklichkeit sei nicht sein Leib - der eben seine ‚Erscheinungsform‘ sei -, sondern die Seele. 26 Diese verschlungene Argumentation spricht für den ‚Leib‘, sie setzt jedoch deutlich den stärkeren Akzent auf die ‚Seele‘. Beide jedoch sind untrennbar miteinander verbunden: Wir halten fest, daß der Mensch nicht aus einem Körper und einer Seele zusammengesetzt ist, im Sinne zweier Realitäten, die etwa auf Lebenszeit eine Personalunion eingegangen hätten. Wir halten an der erkannten Einheit des Menschen fest. Der Mensch ist, in seiner Wirklichkeit Seele, ganz Seele und nichts als Seele. Er erscheint aber, in Fremdwahrnehmung, sinnlich körperhaft, und ist als halbverstandener „physiologisch“. Der Körper ist sein „Gewand […], besser: seine Repräsentationsform. Der Körper ist keine Wirklichkeit, sondern Ausdruck von Wirklichkeit, „Symbol“. 27 Bei Häberlin ist, wie auch Uwe Steiner ausdrücklich schreibt, die Wahrnehmung entscheidend. 28 Er geht nicht von einem Dualismus von Leib und Seele in der Sphäre des Wirklichen aus, sondern bezieht diesen ausschließlich auf die Wahrnehmung. Man habe also nicht von zwei verschiedenen Realitäten auszugehen, wenn man vom Leib und der Seele spreche, nur von zwei verschiedenen Wahrnehmungsarten. Den Körper als ‚Symbol‘ zu verstehen, ist im Zusammenhang der hier bereits vorgestellten, von der Physiognomie inspirierten Diskurse keine überraschende Wendung. Uwe Steiner verweist auf eine gewisse Affinität Häberlins zu Ludwig Klages 29 , an den man unweigerlich denkt, wenn man ein Zitat wie das obige vor Augen hat. Seele und Leib sind zwar als miteinander verbunden gedacht, aber der Mensch ist am Ende dennoch ‚ganz Seele und nichts als Seele‘. 23 Ebd., S. 13. 24 Ebd., S. 15. 25 Ebd.. S. 16. 26 Ebd., S. 18. 27 Ebd., S. 19, Sperrungen im Original. 28 Vgl. Uwe Steiner, Von Bern nach Muri, S. 481. 29 Ebd., S. 482. 8. Zum Denken mit dem Bild 374 Ähnliche Theoreme lassen sich, wie wir wissen, aber auch bei Benjamin selbst finden, sei es in den im Rahmen dieser Arbeit vorgestellten Texten, aber auch in Notizen, die sich teilweise ganz explizit mit dem Problem des Leibs oder dem psychophysischen Problem auseinandersetzen. Beispielsweise in der von den Herausgebern der Gesammelten Schriften auf 1917/ 1918 datierten Notiz über die „Psychologie“ 30 findet man solche Stellen oder auch in der aus einer ähnlichen Zeit stammenden Notiz „Wahrnehmung und Leib“, in der Benjamin festhält, dass wir durch unsere Leiblichkeit, „letzten Endes am unmittelbarsten durch unsern eignen Leib, in die Wahrnehmungswelt, also in eine der höchsten Sprachschichten hineingestellt“ seien (GS VI, 67). Diese Wendung hin zur Sprache ist bei Benjamin nicht überraschend, im Kontext des Diskurses jedoch schon. Es lässt sich so nochmals gut sehen, dass Benjamin einen weiten Sprachbegriff besitzt, der die Wortsprache übersteigt. In dieser Arbeit sollte deutlich geworden sein, dass der Leib von Benjamin deutlich in den Bezirk der Sprache gestellt wird. Aber dieser Leib hält auch bei Benjamin Einschränkungen bereit: Sehr bedeutsam ist es, daß uns der eigne Leib in so vieler Beziehung unzugänglich: wir können unser Gesicht, unsern Rücken nicht sehen, unsern ganzen Kopf nicht, also den vornehmsten Teil des Leibes, wir können uns nicht mit den eignen Händen aufheben, können uns nicht umschlingen u.a.m. Wir ragen in die Wahrnehmungswelt gleichsam mit den Füßen hinein, nicht mit dem Haupt. (GS VI, 67) Der mehrdeutige Vergleich - zugleich die konkrete Beobachtung der eigenen Füße thematisierend - am Ende dieses Abschnitts zeigt es an: Gerade die Sinne, die mit dem Kopf zusammenhängen, sind in ihrer Selbstwahrnehmung beschränkt - das eigene Gesicht lässt sich nicht unmittelbar sehen -, ebenso ist der Tastsinn mittels der Hände (die für das Menschsein und den sprachlichen Ausdruck eine wichtige Funktion innehaben) in Bezug auf den eigenen Leib eingeschränkt. Die Wahrnehmung ist für Benjamin demnach auch nicht alleine auf der Seite des Leibs zu verorten. Der nach dem oben zitierten Abschnitt folgende Satz lautet: „Daher die Notwendigkeit, daß im Augenblick der reinen Wahrnehmung unser Leib sich uns verwandle; daher die erhabne Qual des Exzentrischen an seinem Leibe.“ (GS VI, 67) Benjamin versucht auch bezüglich der Wahrnehmung eine 30 Vgl. GS VI, 65: „Die angebliche Differenz, daß fremdes Seelenleben uns im Gegensatz zum eignen nur mittelbar durch Deutung fremder Leiblichkeit gegeben sei(,) besteht nicht. Fremdes wie eignes Seelenleben ist uns unmittelbar und zwar immer in einer bestimmten Verbindung oder mindestens auf einem bestimmten Grunde von Leiblichkeit gegeben. Fremdes Seelenleben wird nicht prinzipiell anders als eignes wahrgenommen, es wird nicht erschlossen, sondern im Leiblichen, das ihm als Seelenleben zugehört, gesehen.“ 8.3. Leib und Bild 375 Sphäre zu finden, die gleichsam transzendentale Qualitäten zu haben scheint. Um was es sich dabei handelt, wird aus den Notizen nicht wirklich klar. Benjamin bezieht dieses Reine wohl wiederum auf einen Idealzustand. Über die Psychologie und ihren Untersuchungsgegenstand schreibt er: Die Wahrnehmung, die in ihr beschrieben ist, ist eine reine, und zwar die reine (apokalyptische) Wahrnehmung vom Menschen. Desjenigen am Menschen, was nach der moralischen Katastrophe, nach der Umkehr und Reinigung in ihm übrig bleibt. Dies ist nichts ‚Innerliches‘ ‹- i›nnerlich ist nur das Moralische (und auch dieser Satz ist natürlich eine Metapher) ‹-›, sondern etwas Äußerliches: seine Wahrnehmung, die er den Mitmenschen gibt. (GS VI, 65) Die Zusammenhänge sind schwierig herzustellen. In diesem Abschnitt ist plötzlich von der Moral die Rede. Bei der Moral handelt es sich um ein Phänomen, das Benjamin in vielen seiner Notizen beschäftigt, ihr unvermitteltes Auftauchen erstaunt nicht gänzlich. 31 Hinsichtlich der moralischen Infantilität des Helden oder der Scham ist der Begriff in dieser Arbeit auch schon gefallen. Benjamin versucht immer wieder, die anthropologischen Probleme, die ihn in den Notizen beschäftigen, mit metaphysischen Problemen zu verbinden. Die Rede von der ‚apokalyptischen Wahrnehmung vom Menschen‘ oder von der ‚Katastrophe‘ oder der ‚Umkehr‘ zeigt 31 Bereits sehr früh beschäftigt sich Benjamin in Anschluss an Immanuel Kant mit Fragen der Moral. Ganz deutlich in seinem Aufsatz „Der Moralunterricht“ von 1913, in dem er die Frage stellt, ob es einen vom Religionsunterricht unabhängigen Moralunterricht geben könne. Benjamin hält fest, dass „der Vorgang der sittlichen Erziehung prinzipiell jeder Rationalisierung und Schematisierung widerstreite[…].“ (GS II, 49). Der „Alltag einer sittlichen Gemeinschaft“ sei „religiös geprägt“ (GS II, 50). Das Höchste im Menschen sei ‚gestaltlos‘, sagt Benjamin bereits da mit Goethe, deshalb stehe der Moralunterricht vor einer „unerfüllbaren Aufgabe“, setze er sich zum Ziel, die „Legalisierung des reinen Willens“ über die Freiheit des Einzelnen hinaus zu betreiben (GS II, 51). Der Artikel mündet in einer Kritik des bestehenden Moralunterrichts, weil die Gefahr bestünde, dass „die legale Konvention“ überschätzt würde, da der Unterricht mit seiner „rationalistischen und psychologischen Begründung niemals die sittliche Gesinnung, sondern nur das Empirische, Vorgeschriebene treffen“ könne (GS II, 53). Mit dieser Kritik verbindet Benjamin aber die Hoffnung, der Moralunterricht möge in einen neuen Geschichtsunterricht münden, der es vermöge, „die Geschichte des Bildungsmaterials, des objektiven Geistes selbst zu erfassen“, anstatt dem Bildungsstoff von außen Herr zu werden (GS II, 54). Damit verbindet sich wohl auch die Hoffnung, eben nicht mit binären Oppositionen - mit Blick auf Klages muss man sagen, dass Benjamin bereits dort die Auffassung des „Sinnlich-Gute[n]“ und des „Geistig-Böse[n]“ verwirft - an diesen Stoff heranzutreten, sondern durch die hier bereits skizzierte Dialektik auch die Gegenwart selbst lesbar machen zu können. Denn es heißt am Schluss, dass durch den neuen Geschichtsunterricht auch die „Gegenwart ihre kulturhistorische Einordnung“ finden möge. 8. Zum Denken mit dem Bild 376 das auch in diesem Abschnitt an. Weiter oben wurde gesagt, dass die Wahrnehmung auf die Sprache bezogen wird. Die Sprache sei der „Kanon der Wahrnehmung“, schreibt Benjamin in der bereits zitierten Notiz mit dem Titel „Psychologie“ (GS VI, 66). Die „Beziehung der Menschengestalt zur Sprache“ sei der Gegenstand der Psychologie. Und „solange das Moralische problematisch bleib[e]“, sei die Gestalt verborgen. In Klammern fügt Benjamin an: „Wenn ich mit einem Menschen spreche, und es steigt ein Zweifel an ihm in mir auf, trübt sich sein Bild, ich sehe ihn noch, aber ich kann ihn nicht mehr wahrnehmen“ (GS VI, 66). In diesem Zusammenhang wird eine Affinität zur Physiognomik sichtbar, die mit Blick auf die Stichwortgeber dieses Diskurses nicht verwundern. In der Beziehung der ‚Menschengestalt zur Sprache‘ klingt eine physiognomische Lektüremöglichkeit an, die aber mit Verweis auf das Moralische relativiert wird. Die Klammerbemerkung mit dem ‚Zweifel‘ verstärkt dieses Bild. Sie spiegelt fast schon das Zweifelhafte physiognomischer Lektüren überhaupt, die manchem unabhängigen Beobachter häufig den Eindruck eines getrübten Bilds ihrer Schlüsse und Interpretationen liefern. Benjamin weitet also nicht nur den Lektürebegriff aus, er interpretiert auch die Möglichkeit einer Lektüre des Leibs um. Ebenso erfährt auch der Begriff der ‚Gestalt‘ bei ihm einen Bedeutungswandel. Zwar könnte man meinen, es handle sich um einen gängigen Begriff aus dem psychologischen Kontext seiner Zeit (Stichwort „Gestalttheorie“), er erhält jedoch im Umkreis dieser Notizen fast schon einen religiösen Einschlag. Auf derselben Seite schreibt Benjamin nämlich: Die Beziehung der Menschengestalt zur Sprache d. h. wie Gott sprachlich ihn gestaltend in ihm wirkt ist der Gegenstand der Psychologie. Hierher gehört auch das Leibliche, indem Gott unmittelbar - und vielleicht unverständlich - sprachlich in ihm wirkt. (GS VI, 66) Im Begriff der Sprache steckt also die Gestaltung, und das heißt im Kontext der Benjaminschen Sprachphilosophie, eine sprachliche Gestaltung. Im Leiblichen wirke Gott ‚unmittelbar sprachlich‘, was nichts anderes bedeutet, als dass der Leib für Benjamin im weitesten Sinne sprachlich verfasst ist. Die ‚Gestalt‘ sei die „Zone“ der „Identität“ von Geist und Leib (GS VI, 78). Diese beiden Begriffe bezeichnen ungefähr die beiden Sphären, mit denen es jemand, der die Dinge nach Benjamins lesend erfassen möchte, zu tun bekommt. Den Leib möchte Benjamin dabei scharf vom Körper unterschieden wissen. Der Körper bezeichne nämlich eine Art Substrat oder Substanz des Realen. Anhand dieses Zitats wird das nochmals deutlich: Alles wovon der Mensch an sich selbst irgend wie Gestaltwahrnehmung hat, das ganze seiner Gestalt sowohl wie die Glieder und Organe sofern sie 8.3. Leib und Bild 377 ihm gestaltet erscheinen, gehört zu seinem Leibe. Alle Begrenzung, die er an sich selbst sinnlich wahrnimmt gehört als Gestalt ebenfalls zu diesem. Daraus folgt, daß die sinnlich wahrgenommene Einzelexistenz des Menschen Wahrnehmung von einer Beziehung ist, in der er sich findet, nicht aber Wahrnehmung von einem Substrat, einer Substanz seiner selbst, wie der Körper sinnlich eine solche darstellt. (GS VI, 79) Auch dieses Zitat verweist nochmals auf den Umstand, dass die Gestaltwahrnehmung beschränkt ist. Der Körper selbst als Substrat kann nicht wahrgenommen werden. Denn mit dem Körper verbindet Benjamin Lust und Schmerz. Nur in der Lust oder im Schmerz, in denen keine Gestalt und Begrenzung wahrgenommen werde, manifestiere sich der Körper. Es heißt auch, dass der Körper sich ohne bestimmte „gestaltete Begrenzung“ erstrecke. Benjamin scheint also der Auffassung zu sein, dass nur der Leib als Gestalt einer begrenzten Wahrnehmung zugänglich ist und somit Konturen erhält. Aber er ist es nur insofern, als er mit der geistigen Dimension zusammenhängt. ‚Gestalt‘ ist der Begriff für eine Art Bindeglied für Geist und Leib, keiner der beiden Bereiche steht somit für sich alleine da. Der Körper jedoch, soviel ist klar, scheint nochmals eine von Leib und Geist unterschiedene Dimension. Es deutet einiges daraufhin, dass dort, wo vom „Augenblick der reinen Wahrnehmung“ die Rede war, in dem sich der Leib verwandle, und von der „erhabne[n] Qual des Exzentrischen [am] Leibe“ (GS VI, 67), der Körper angesprochen war, den Benjamin andernorts auch „ein moralisches Instrument“ nennt (GS VI, 82). Auch die Rede von der ‚reinen (apokalyptischen) Wahrnehmung‘ weist in diese Richtung. Denn Benjamin hält fest, dass „die leibliche Natur [...] ihrer Auflösung entgegen[gehe], die körperliche dagegen ihrer Auferstehung“ (GS VI, 80). Diese Ausführungen rücken die ganze Angelegenheit wiederum in eine religiöse Dimension, die auf den ersten Blick nicht so leicht ersichtlich ist, wenn man die Notizen überfliegt. Aber es fällt auf, dass Benjamin auch in diesen Notizen die Geschichte und die Erlösung anklingen lässt, die in späten Texten rund um das ‚dialektische Bild‘ immer wieder auftauchen. Der Leib sei eine „Erscheinung in der Belichtung des historischen ‚Nu‘“ (GS VI, 78) oder er sei die „Funktion der geschichtlichen Gegenwart im Menschen“ (GS VI, 80). Der Leib könne zum „Leibe der Menschheit“ wachsen, er könne also den Einzelnen übersteigen und zur „Menschheit als Individualität“ werden: Diese sei dann aber die „Vollendung und zugleich der Untergang des leiblichen Lebens“, während der Körper in der Auferstehung gerettet bleibe. Benjamin entwirft in seinen frühen Texten so eine ‚Naturgeschichte‘ mit messianischem Einschlag, die er direkt auf Ludwig Klages bezieht (vgl. GS VI, 84). Er scheint, wie Uwe Steiner festhält, einer „Zeichenlehre“ das Feld bereiten zu wollen, „in deren Rahmen die religiöse und moralische Bedeutung leiblicher und dem äußeren Leben des Men- 8. Zum Denken mit dem Bild 378 schen zugehörender Zeichen allererst zu thematisieren wäre“. 32 Durch die Zusammenfassung von Leib und Geist in der Kategorie der Gestalt und durch die Rede von der „Geistleiblichkeit“ (GS VI, 78) als eines Charakteristikums der Gestalt des Geschichtlichen versucht er wohl, das, was Steiner „Zeichenlehre“ nennt, vorzubereiten. Vielleicht ist diese ‚Zeichenlehre‘ aber - wie bei Klages - auch bei Benjamin genauso eine ‚Bilderlehre‘. Cornelia Zumbusch sieht einen Zusammenhang zwischen den Ausführungen zum Leib und denen zum ‚dialektischen Bild‘ gegeben - Formulierungen, wie die Geistleiblichkeit sei die Kategorie des „Nu“ der geschichtlichen Gestalt, oder der Leib sei eine „Erscheinung in der Belichtung des historischen ‚Nu‘“ unterstreichen diesen Befund. Durch das Konzept der ‚Dialektik im Stillstand‘ und durch das Konzept des ‚Jetzt der Erkennbarkeit‘ 33 als Augenblick des Erwachens beerbe „das dialektische Bild den Begriff der Gestalt des Frühwerks“. 34 Das dialektische Bild greife also nur auf, was im Begriff der ‚Gestalt‘ vom frühen Benjamin bereits konzipiert wurde. Sowie die Gestalt die ‚Zone der Identität‘ von Geist und Leib sei, sei das dialektische Bild die ‚Zone der Identität‘ von Traum und Wachen. „Mit dem dialektischen Bild teil[e] die Gestalt auch ihre Zeitstruktur“, beide würden „im ‚Nu‘, also einem besonderen Augenblick sichtbar“. 35 Mit dem Begriff des Leibs, der diese Theorien begleitet, sieht Zumbusch ein „Resonanzfeld zwischen Innen und Außen, Eindruck und Ausdruck“ gegeben; der „Körperausdruck“ bilde eine „Zwischensphäre, wie sie auch Cassirer und Plessner dem Ausdrucksverhalten und der Ausdruckswahrnehmung anw[ie]sen“. Diese Konzeption des Ausdrucks greife einer „Neufassung des Bildbegriffs“ vor: das Bild werde als „Stillstellung eines Handlungsablaufs“ skizziert, der die Bewegung „zum Bildsinn verdichte“. 36 Diese Ausführungen machen es nochmals deutlich: das Konzept, das hinter dem ‚dialektischen Bild‘ steckt, ist älter als die Begriffsverbindung. Es ist aber nicht einfach der Begriff der ‚Gestalt‘, der diesem Konzept entspricht. Vielmehr konnte auch im Zusammenhang mit dem Begriff der ‚Geste‘ und der ‚Dialektik im Stillstand‘ Ähnlichkeiten festgestellt werden. Freilich unterscheidet sich der Kontext der Äußerungen. Denn wie wir 32 Vgl. Uwe Steiner, Von Bern nach Muri, S. 486. 33 Nochmals zur Erinnerung eine der bekanntesten Definitionen des dialektischen Bilds in den Notizen zur Passagen-Arbeit: „Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt eine dialektische: nicht zeitlicher sondern bildlicher Natur. Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d.h. nicht archaische Bilder. Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.“ (GS V, 578) 34 Vgl. Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 207 f. 35 Ebd., S. 209. 36 Ebd., S. 211. 8.4. Das archaische Bild 379 gesehen haben, ist der Beschäftigungsgegenstand, denen sich die Konzepte annähern, jeweils ein leicht anderer. Im einen Fall ist von Psychologischem die Rede, im anderen von der Sprachgeschichte; und im Falle des ‚dialektischen Bilds‘ in der Passagen-Arbeit geht es um eine epistemologische Fragestellung rund um eine Geschichtsschreibung, die sich darüberhinaus mit marxistischen Problemen beschäftigt. Eine ‚Dialektik des Bildlichen‘ liegt jedoch all diesen Begriffen und Konzepten zugrunde. 8.4. Das archaische Bild Bis in späte Notizen und Arbeitspläne hinein zeigt sich, dass Benjamin die hier angeführten Konzepte und damit verbundene Problemstellungen, die ihn schon früh beschäftigt haben, umtreiben. Adorno versucht im Jahr 1936 immer wieder, bei Max Horkheimer für einen Aufsatz zu werben, den Benjamin zu Ludwig Klages und C.G. Jung hätte verfassen sollen. Adorno schreibt Horkheimer, dass eine „Kritik der falschen Psychoanalyse“ zu schreiben sei und dass sich Benjamin unbedingt mit „Jung und der Lehre vom kollektiven Unbewussten kritisch“ auseinandersetzen müsse, „um sein Passagenbuch vor Anfechtungen von jener Seite zu sichern“ (GS V, 866). Dieser Satz bedeutet nicht nur, dass sich einmal jemand kritisch mit Klages, Jung und der Theorie des kollektiven Unbewussten auseinandersetzen müsse, er impliziert auch eine Nähe Benjamins zu diesen Denkern, die einer Absicherung durch kritische Distanz bedarf. Horkheimer mag das Thema wie auch besagte Nähe nicht behagt haben, jedenfalls zieht er diesem Projekt einen Baudelaire-Aufsatz klar vor. Benjamin selbst räumt in einem Brief an Horkheimer Ende 1936 ein, er habe „bisher sehr wenig von Jung gelesen“ (GB V, 441), was diesen Entscheid Horkheimers möglicherweise nochmals bekräftigt haben dürfte. Tatsächlich sucht man eine vertiefte Auseinandersetzung mit Jung bei Benjamin vergeblich. Und deshalb wird es vermutlich letzten Endes mehrere Gründe gegeben haben, weshalb der Aufsatz nicht zustande gekommen ist. Fast interessanter scheint, dass die Pläne und Diskussionen um den potentiellen Aufsatz eigentlich von einer intellektuellen Auseinandersetzung zwischen Adorno und Benjamin zeugen, denn vor allem Adorno scheint sich dafür zu interessieren, dass Benjamin seine ‚dialektischen Bilder‘ strikt von den ‚archaischen Bildern‘ Jungs abgrenzt. In der Passagen-Arbeit finden sich bloß verstreute Notizen und Bruchstücke zu diesem Thema, Benjamin nimmt bekanntlich häufiger Versatzstücke seiner brieflichen Korrespondenz, und seien es nur Anregungen, in seine Notizen auf. An einer Stelle zitiert er einen längeren Abschnitt aus Jungs Aufsatz „Über die Be- 8. Zum Denken mit dem Bild 380 ziehung der analytischen Psychologie zum Dichterischen Kunstwerk“ 37 , wo es um die Bedeutung und Wirkung des Archetypus für den schöpferischen Prozess und die Gestaltung des Kunstwerks geht, und kommentiert das Zitat mit den Worten, die „Lehre von den archaischen Bildern“ habe für Jung eine „eindeutig rückschrittliche Funktion“ (GS V, 589). Worin diese rückschrittliche Funktion besteht, expliziert Benjamin nicht weiter. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass das rückschrittliche Moment der archaischen Bilderlehre bei Jung mit dem der Klages’schen Bilderlehre korrespondiert. Die ‚unbewusste Belebung‘ des Archetypus, den Jung zur Voraussetzung des schöpferischen Prozesses macht, entsteht aus einer Kritik an der Gegenwart. Die ‚Unbefriedigung an der Gegenwart‘, die die Sehnsucht des Künstlers auf das Urbild lenken soll, das die ‚Einseitigkeit des Zeitgeistes‘ kompensiere, gleicht auch der Klages’schen Kritik an der durchrationalisierten und vom ‚Geist‘ beherrschten Gegenwart. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Jung vom ‚Zeitgeist‘ spricht, dem er das ‚Unbewusste‘ und das ‚Bild‘ entgegenhält. Klages‘ und Jungs Kritik an der Gegenwart gleichen sich damit fast bis in die Wahl der Begriffe. Jedenfalls unterscheidet sich diese Art von Bilderschau, die das Bild in archaischen Zonen des eigenen Unbewussten sucht, von Benjamins ‚Bildern‘. Benjamins ‚Choc‘ oder ‚Dialektik im Stillstand‘ ist der ‚Rührung‘, von der Jung mit Blick auf den Archetypus spricht, jedenfalls diametral entgegengesetzt. Diese ‚Rührung‘ entspricht eher der ‚Ekstase‘, die Klages im ‚Kosmogonischen Eros‘ als Bedingung der ‚Schauung‘ (seiner Urbilder) anführt. Jung schreibt über die ‚Schau‘ der Archetypen: Jede Beziehung auf den Archetypen, sei sie erlebt oder bloß gesagt, ist „rührend“, d.h. sie wirkt, denn sie löst eine stärkere Stimme in uns aus, als die unsrige. Wer mit den Urbildern spricht, spricht wie mit tausend Stimmen, er ergreift und überwältigt, zugleich erhebt er das, was er bezeichnet, aus 37 Vgl. Carl Gustav Jung, Seelenprobleme der Gegenwart, Zürich 1932, S. 71: „Der schöpferische Prozeß, soweit wir ihn überhaupt zu verfolgen vermögen, besteht in einer unbewußten Belebung des Archetypus und in einer Entwicklung der Ausgestaltung desselben bis zum vollendeten Werk. Die Gestaltung des urtümlichen Bildes ist gewissermaßen eine Übersetzung in die Sprache der Gegenwart, wodurch es sozusagen jedem ermöglicht wird, wieder den Zugang zu den tiefsten Quellen des Lebens zu finden, die ihm sonst verschüttet wären. Darin liegt die soziale Bedeutsamkeit der Kunst: sie arbeitet stets an der Erziehung des Zeitgeistes, denn sie führt jene Gestalten herauf, die dem Zeitgeist am meisten mangelten. Aus der Unbefriedigung der Gegenwart zieht sich die Sehnsucht des Künstlers zurück, bis sie jenes Urbild im Unbewußten erreicht hat, welches geeignet ist, die Mangelhaftigkeit und Einseitigkeit des Zeitgeistes am wirksamsten zu kompensieren. Dieses Bild ergreift sie, und indem sie es aus tiefster Unbewusstheit emporzieht und dem Bewußtsein annähert, verändert es auch seine Gestalt, bis es vom Menschen der Gegenwart nach seinem Fassungsvermögen aufgenommen werden kann.“ 8.4. Das archaische Bild 381 dem Einmaligen und Vergänglichen in die Sphäre des immer Seienden, er erhöht das persönliche Schicksal zum Schicksal der Menschheit, und dadurch löst er auch in uns all jene hilfreichen Kräfte, die es der Menschheit je und je ermöglicht haben, sich aus aller Fährnis zu retten und auch die längste Nacht zu überdauern. 38 Jung behauptet, dass man einen direkten Bezug zu den ‚Urbildern‘ herstellen könne. Der Zugriff auf ‚Urbilder‘ gehe jedoch nicht ohne Ergriffenheit vonstatten; ebenso vermöge die Reproduktion dieser Bilder eine ergreifende Wirkung auf andere zu erzielen. Über das Momentum und den Einzelnen hinaus ist die Reproduktion der ‚Urbilder‘ die Herstellung einer Sphäre ‚des immer Seienden‘. Die ‚Archetypen‘ oder ‚Urbilder‘ sind für Jung die Inhalte des Unbewussten oder in seinen Worten: die „in der Tiefe verborgenen Fundamente der bewußten Seele, oder […] ihre Wurzeln, die sie nicht nur in die Erde in engerm Sinne, sondern in die Welt überhaupt gesenkt [habe]“, wie er in seinem Aufsatz „Seele und Erde“ schreibt. 39 ‚Archetypen‘ gehen über den Einzelnen hinaus, sie sind ein kollektives Phänomen, wie Benjamin ja auch feststellt. Durch die ‚Archetypen‘, die übrigens „Bild und Emotion“ seien, ist der Mensch (als Gattung) mit der Erde und Welt verbunden. Jung sagt, dass uns in den ‚Urbildern‘ „die seelische Wirkung der Erde und ihrer Gesetze wohl am deutlichsten entgegen[trete]“. 40 Aber nicht nur die Erde und die Natur spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle. Jung vertritt die These, dass in der ‚Vorzeit‘ Menschen gegenüber der „rauhen Natur ihr kärgliches Dasein verteidigten“ und dass diese Menschen noch im „Vollbesitz ihrer Instinkte“ waren. Dieser Vollbesitz der Instinkte würde sich nicht mit einem „starken und umfangreichen Bewußtsein“ vertragen, in dessen Besitz der gegenwärtige Mensch sei. 41 Deshalb weicht, wie viele andere Anthropologen, auch Jung auf den Primitiven und die Kindheit aus, um über diesen ‚Anschauungsgegenstand‘ den Zeitgenossen eine Ahnung dieses vom Instinkt regierten Status zu geben. In der Kindheit wiederhole sich „nach dem phylogenetischen Grundgesetz noch ein Anklang an die Prähistorie der Rasse und der Menschheit überhaupt“: Wir seien phylogenetisch und auch ontogenetisch „aus der dunklen Enge der Erde emporgewachsen“. 42 Als ‚Archetypen‘ führt Jung ‚Mutter‘ und ‚Vater‘ an. Sie seien ‚mächtige Archetypen‘, die in der Seele des Kindes lebten. Vom Gottesbild, das das Kind anfänglich vom ‚Vater‘ habe, werde dieser im Verlauf der Zeit vermenschlicht. An die Stelle des Vaters trete die Gesellschaft der Männer, an die Stelle der Mutter die Familie. Das, 38 Vgl. C.G. Jung, Seelenprobleme der Gegenwart, S. 70 f. 39 Ebd., S. 179. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 180 f. 42 Ebd., S. 181. 8. Zum Denken mit dem Bild 382 was an die Stelle der Eltern trete, sei jedoch kein Ersatz für den nicht zu vermeidenden ‚Urbilder‘-Verlust, sondern eine „mit den Eltern verbundene Wirklichkeit, die mit und durch das elterliche Urbild in die Seele des Kindes hineingewirkt“ habe. 43 Jung vergleicht die Mutter Symbolen, die er über ihre Funktion mit ihr assoziiert, beispielsweise die schützende Höhle, der Acker, die ‚milchgebende Kuh‘. Er behauptet, dass diese Dinge, die zunächst im Hintergrund gewirkt hätten, stärker hervorträten, wenn das Bild der Eltern sich für das Kind vermenschlichte. Das „Stoffliche und Dynamische der Erde“ würde dann plötzlich erscheinen, sie enthüllten sich „als die eigentlichen Mächte, die zuvor die Maske der Eltern trugen“. 44 Deshalb geht Jung tatsächlich davon aus, dass das ‚Urbild der Mütter‘ ein ‚Gesamtbild aller Mütter der Vorzeit‘ sei, ein überindividuelles Bild also, das in seiner begehrenswerten Form als ‚Anima‘ bei unterschiedlichen Männern übereinstimmende Züge aufweise. Über seine Lehre von den archetypischen Bildern schafft es Jung, bestimmte Züge des Begehrens und des Verhaltens mittels einer Rückbindung an die Urgeschichte zu naturalisieren. Gesellschaftliche Zusammenhänge und Dynamiken spielen in diesem Erklärungszusammenhang eine untergeordnete Rolle. Es handelt sich um einen anthropologischen Diskurs, der eine diffuse, unvordenkliche Geschichte für seine Zwecke instrumentalisiert und auf eine kollektive Psyche überträgt. Einerseits steht diese Argumentation Benjamins eigener Argumentation nahe, aber sie unterscheidet sich auch in einigen Punkten deutlich. Benjamin setzt keine archaischen, in die Gegenwart hineinwirkenden Bilder voraus. Zwar ist eine Verbindung des ‚dialektischen Bilds’ mit der ‚Urzeit‘ herstellbar, wenn Benjamin explizit sagt, es gehe bei ihm um eine Lektüre dessen, was nie geschrieben wurde, aber so ist es eigentlich nicht gemeint. Man kann das bildliche, nie geschriebene Moment auch in einer weniger weit zurückliegenden Vergangenheit verorten. Und es ist ja so, dass der Akzent anders gelagert ist: Das ‚dialektische Bild‘ entfaltet seine Wirkung vornehmlich in der ‚Jetztzeit‘, es ist kein im Unbewussten verborgenes, vergangenes Bild, das von da aus in der Gegenwart auf die Psyche des Kollektivs wirkt. Benjamins Bilder-Konzeption ist dynamischer. Seine ‚Bilder‘ haben nicht den Jung’schen Ewigkeitscharakter und prägen das Verhalten der Menschen nicht vor. Seine ‚Bilder‘ sind keine Verhaltensdispositive, sie sind eine epistemologische Größe, die sich im Rahmen einer gesellschaftlichen und historischen Situation je nachdem entfalten kann. Die Erkenntnis, die ein ‚dialektisches Bild‘ zeitigen soll, ist auch nicht die Erkenntnis, das hinter begehrenswerten, begehrten oder überhöhten Objekten höhere Mächte stünden, also archetypische Bilder, sondern dialektische 43 Ebd., S. 187. 44 Ebd., S. 188. 8.5. Zur Koexistenz von Bild und Sprache 383 Bilder entblössen als Teil einer dialektischen Schwankungsgesetzen unterworfenen Geschichte die Verstricktheit der Gegenwart und ihrer scheinbar neuen Objekte in archaischen Mustern. Sie bleiben dabei aber auf doppeldeutige Weise kritischer Teil dieses Zusammenhangs. 8.5. Zur Koexistenz von Bild und Sprache Die Formulierung, Benjamins ‚Bilder‘ seien eine epistemologische Größe, ist nicht ganz korrekt und hauptsächlich auf das ‚dialektische Bild‘ zu beziehen. Die hier vorliegende Arbeit ist von einem vielfältigeren Bildbegriff ausgegangen und auch auf eine mehrfache Bedeutung des Bilds für Benjamins Denken gestoßen. Das Thema umfasst Variationen eines Zusammentreffens von Bildlichkeit und Zeitlichkeit in und durch die Sprache. Auf die ‚Entfaltung in der Zeit‘, wie mit Hillach weiter oben gesagt wurde, weist nicht nur die Dialektik hin, auch die Sprache bedarf einer Entfaltung in der Zeit. Und da es immer wieder um eine Auseinandersetzung des Bilds mit der Sprache und der Sprache mit dem Bild gegangen ist, wurde von Anfang an einem doppelten Aspekt des Zeitlichen nachgegangen. Der eine Aspekt wurde als eine Grundqualität der Sprache hervorgehoben - Sprache entfaltet sich in der Zeit, es braucht Zeit, um sie zu rezipieren -, beim anderen Aspekt handelt es sich um eine dialektische Bewegung, die sich durch das Zusammenwirken von Sprache und Bild ergibt oder ergeben hat: Die Rede ist von den vor einem spezifischen sprachphilosophischen Hintergrund konstatierten Anfangsnarrativen, die Bild und Sprache koexistieren oder konfligieren lassen. Zwar ist unbeantwortbar, ob an einem wie auch immer denkbaren, eigentlich unvordenklichen Anfang Sprache oder Bild ‚war‘, deutlich sollte jedoch geworden sein, dass im einen wie auch im anderen Fall, in jedem der hier vorgestellten Narrative, das eine dem anderen jeweils als Komplement zur Seite gestellt werden musste. Das erzeugt notwendig eine dynamische Spannung: Bilder wirken auf die Sprache sowie die Sprache auf Bilder wirkt. Das Problematische an diesem Befund bleibt, dass Sprache und Bilder einander gegenüber gestellt werden. Das ist insofern delikat, als es Grundcharakteristika geben müsste, die dem einen wie auch dem anderen unzweifelhaft zugeschrieben werden könnten. Diese Charakteristika wurden erwähnt und jeweils am Gegenstand zu rekonstruieren versucht, aber sie haben sich insofern als durchlässig erwiesen, als immer wieder Schwellenphänomene ausgemacht werden konnten, die eine starre Zuordnung zur Welt ‚abstrakter‘, ‚intelligibler‘, ‚symbolischer‘ und arbiträrer Zeichen einerseits wie auch zur Welt ‚konkreter‘, ‚sinnlicher‘, ‚abbildhafter‘, ‚dichter‘ Bilder andererseits erschwert oder gar verunmöglicht hat. Einerseits muss also bei der Beschreibung eines dieser Phänomene aus 8. Zum Denken mit dem Bild 384 heuristischen Gründen von bestimmten Charakteristika ausgegangen werden, diese werden jedoch immer wieder unterlaufen. Um auf die Ebene der Kapitel zu wechseln: Im Kapitel über den Sprachursprung und den Namen wurde beispielsweise ersichtlich, dass selbst metaphysische Sprachursprungstheorien und Schöpfungsmythen, die stark auf Sprache bauen, nicht auf das Bild verzichten. Gerade das wichtigste Element besagter Theorie, der Name, wird in diesem Zusammenhang mit dem Bild zusammengebracht. Obwohl der Name in einem gemeinen Sprachverständnis, das auf der Auffassung einer Arbitrarität der Zeichen beruht, sich als Gattungsnamen auf Allgemeines beziehen lässt, eignet ihm als Eigenname jene Dimension des Singulären, die auch dem Bild oft zugesprochen wird, wenn man von einem Bildverständnis ausgeht, das sich hauptsächlich auf Gemälde, Photographien und Plastiken beziehen lässt. Dies, weil sich das Bild dann auf eine sinnlich wahrnehmbare Ähnlichkeit zwischen Abgebildeten und Abbildung stützt und davon ausgegangen wird, dass das Referenzobjekt oder eben ‚Gemeinte‘ durch seine Räumlichkeit und Zeitlichkeit einzigartig ist. Durch diese spezifische Beziehung zwischen Dargestelltem und Darstellenden kann man dem Namen weitere Charakteristika zusprechen, die ihn in die Nähe einer Bildauffassung bringt, die sich am Gemälde, der Photographie oder der Plastik orientiert. Immer wieder wird die Behauptung laut, die Beziehung des Namens zu den Gegenständen, die er benennt, sei nicht willkürlich, sondern ‚natürlich‘ motiviert. Er fungiert deshalb nicht als ‚abstraktes‘ Phänomen, sondern als ‚konkretes‘, in dem das ‚Abgebildete‘ sozusagen auch ‚sinnlich‘ repräsentiert wird. Mit Ludwig Klages und Hans Jonas wurde auch eine mit den eben erwähnten Charakterstika zusammenhängende urbildhafte Funktion des Namens hervorgehoben. Bei beiden hat der Name als Urbild eine ordnende und erkenntnistheoretische Funktion inne. Das Namengeben (durch Adam) als Verdoppelung des Schöpfungsereignisses oder die Möglichkeit, über den Namen zum Wesen der Dinge vorzustoßen, zeugt von dessen epistemologischer Wichtigkeit für Theorien, die die ‚abstrakte‘ Rationalisierungsbewegung der Worte als alleiniges Vehikel eines Erkenntnisprozesses ablehnen. Zusammenfassend lässt sich also hierzu sagen, dass auch in ‚abstrakten‘ sprachphilosophischen Theorien bildtheoretische Elemente auffindbar sind, die, wie im Zusammenhang mit dem ‚archaischen‘ Bild, reaktionäre Funktionen haben können. Eine konkretere Stufe der Sinnlichkeit weisen jene sprachlichen Phänomene auf, die im dritten Kapitel dieser Arbeit verhandelt wurden, obwohl auch hier noch eine gewisse Abstraktheit gegenüber jenen Bildphänomenen konstatiert werden muss, die auf visueller Abbildung mit geringem symbolischen Gehalt fußen. Die Rede ist hier beispielsweise von der ‚Geste‘. Das sinnlich-konkrete Moment des Zeigens mit dem Leib wird als eine Art Ausgangspunkt der Sprache konstruiert, der sich aber rasch transfor- 8.5. Zur Koexistenz von Bild und Sprache 385 miert, wenn die Sprache abstrakter wird. Generell kann die ‚Geste‘ doppelt aufgefasst werden. Sie kann einerseits eine sinnlich-konkrete Dimension des leiblichen Ausdrucks und der Sprache (oder eines Schwellenbereichs, wie z.B. des Zeichnens) bilden, unabhängig von einer Ursprungserzählung kann sie aber auch als Zeigegeste aufgefasst werden, in der sich zwei Sprecher ‚nonverbal‘ leibliche Signale vermitteln - die nicht bloß symbolischen Gehalt haben, sondern etwas vermittels einer sinnlichen Ähnlichkeit abbilden. Andererseits kann sie innerhalb des semiotischen Sprachsystems auch als eine ins Abstrakte transformierte Funktion begriffen werden, mündlich wie auch schriftlich. Dieser Auffassung steht Karl Bühler und seine Konzeption der ‚Deixis‘ nahe. Die Geste bleibt konkreter als der Name, aber auch sie wird abstrakter, je stärker das semiotische Moment der Sprache betont wird. Ihr Transfer in die semiotische Sprache reduziert ihre mimetische Dimension. Ihre hinweisende Funktion, die sich entweder auf einen Gegenstand außerhalb des sprachlichen Materials oder auch auf das sprachliche Material selbst beziehen kann, bewahrt das Situative oder Aktuelle, das häufig auch als Konkretes wahrgenommen wird, aber niemand würde wohl ernsthaft behaupten, eine in die semiotische Sprache übersetzte ‚Geste‘ in Form der ‚Deixis‘ habe einen abbildhaften Charakter, der sinnlich wahrnehmbar sei. Sinnliche Ähnlichkeit eignet zwar onomatopoetischen Lauten, die Rede von der Bildlichkeit ist in diesem Kontext aber wiederum fragwürdig, da der Aspekt der Visualität weitgehend entfällt. Benjamins Mimesis- und Gesten-Theorie erweist die Konkretheit der ‚Geste‘ jedenfalls als trügerisch. Zwar bleibt ein mimetisches Moment Bedingung sprachlich-bildlichen Kommunizierens, aber es ist auch in diesem Fall nicht so, dass es als archaisches Element der Kommunikation wieder aktualisiert zu werden hätte, nachdem es durch die Verfeinerung der semiotischen Sprache verdrängt worden ist. Benjamins Überlegungen zielen nicht darauf ab, die ‚Geste‘ als archaisches Mittel der Kommunikation zu restituieren, Benjamins ‚Aufhebung‘ eignet ein Moment der Bewahrung wie der Liquidation. Die Formulierung, dass das ‚Mimetische‘, einer Flamme ähnlich, nur am Träger des Semiotischen in Erscheinung treten könne (GS II, 213), verdeutlicht das nochmals. Dass die Ähnlichkeit am „Sinnzusammenhang der Wörter und Sätze“ als Träger „blitzartig“ in Erscheinung trete, unterstreicht die Bezüge zur jener Dialektik, die auch das ‚dialektische Bild‘ konstituiert. Eine ‚unkritische‘ Haltung zur ‚Geste‘ und zur ‚Mimesis‘, die sie jenseits der semiotischen Dimension nobilitiert, wäre wohl nichts als eine Art Götzendienst. Ähnlich verhält es sich mit der Kindheit, die rund um diese zahlreichen Sprachanfänge ins Spiel gebracht wird und zentraler Gegenstand jener Kapitel dieser Arbeit ist, die sich mit der Farbe, der Phantasie und dem Schrifterwerb befassen. Kindheit wurde in dieser Arbeit öfters als Zustand beschrieben, der, analog zu den Sprachursprüngen, imaginäre Qualitäten 8. Zum Denken mit dem Bild 386 hat. Kindheit wird analog zu anderen Anfangsnarrativen als ein Schwellenphänomen erfasst, das zwar längst vergangen ist, aber auch in der Gegenwart seine Wirkung hat. Bei der Farbe und der Phantasie handelt es sich um ‚Urphänomene‘ der Wahrnehmung, die in der Logik der vorgestellten Texte nur im Zustand der Kindheit ungetrübt wirken. Es sind eher passivische Dispositive der Wahrnehmung, die vermittels Eindrücke so etwas wie Vorstellungsbilder erzeugen, die nicht ausgedrückt werden. Im Zusammenhang mit dem Schwellenphänomen Kindheit stellt ein weiteres Schwellenphänomen das Zeichnen und das Schreiben dar, weil die kindliche Vorstellungswelt dort mit der ‚Form‘ konfrontiert wird, die den Vorstellungen Konturen verleiht. In gewisser Weise handelt es sich dabei um eine Art kindlichen Sündenfall, da in der Logik der hier rekonstruierten Texte die Reinheit der Phantasie und der Farbe durch die aktive Produktion von Formen kompromittiert wird. Obwohl die Sprache auch bei den ‚Urphänomenen der Wahrnehmung‘ eine Rolle spielen kann, ist sie auf der Ausdruckseite des Zeichnens und Schreibens offensichtlicher involviert. Bevor das Kind zu schreiben lernt, ist es stärker mit farbigen Bilderbüchern beschäftigt, suggeriert Benjamins Theorie von der Bedeutung der Kinderbücher für die Kinder. Es findet also auch hier eine Verschiebung statt, die die Sprache als eine Schwelle konzipiert - an einer Stelle gar als ‚Höllenpforte‘(GS IV, 619) -, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Das Kapitel über die farbigen Bilderbücher und das Kapitel über die Lesefibeln gehören also zusammen. Über beide Kapitel hinweg wird wiederum mit Blick auf anthropologische Dispositionen, aber auch mit einem Akzent auf ästhetischen Überlegungen, eine Bewegung nachgezeichnet, die der Abstraktionsbewegung entspricht, die in den vorhergehenden Kapiteln in Bezug auf die Sprachphilosophie festgehalten wurde. Auch in dem Kapitel über die Phantasie und in dem über die Fibeln geht es noch immer um den Erwerb der Sprache, die sich ihre Stellung beim Erwerb kommunikativer Fähigkeiten aber jeweils mit dem Bild teilen muss. Rund um die Phantasie ist das offensichtlich, beim Schrifterwerb ist es weniger selbstverständlich. In beiden Kapiteln, in dem zur Phantasie und Farbe wie auch in dem zum Schreibenlernen, werden Bewegungen nachgezeichnet, die sich zwischen den Polen des Bildlichen und des Sprachlichen ergeben. Aber diese Pole sind nicht strikt als solche auszumachen, es gibt Bereiche, in denen die eine Sphäre sich mit der anderen überschneidet, so dass sich fast schon eine chiastische Struktur ausmachen lässt. Denn wenn auch die in den Kapiteln vorgestellten, anthropologisch aufgefächerten Bereiche des Eindrucks und des Ausdrucks auf zwei Kapitel verteilt sind, so lassen sie sich natürlich nicht trennen. Zwar entspricht es einer chronologischen Logik, die Bedingungen des Eindrucks bzw. der Wahrnehmung vor denen des Ausdrucks abzuhandeln, aber es versteht sich von selbst, dass beide Bereiche koexistieren. 8.5. Zur Koexistenz von Bild und Sprache 387 Obwohl der Akzent im früheren Kapitel auf das Bildliche gelegt wird und im nachfolgenden auf die Sprache in Form des schriftlichen Ausdrucks, lassen sich in beiden lauter Übergänge und Überschneidungen vorfinden. Gerade in den hier skizzierten Anfangsszenen, in denen sich Kindheit, Urgeschichte, Anfänge der Kommunikation und menschliche Grunddispositionen, die diese ermöglichen, überschneiden, zeigt sich, dass eine lineare Narration nicht möglich ist. Die vermeintlichen Pole, die gesetzt zu werden haben, um die Narration in Gang zu bringen, mögen sich auf den ersten Blick gegenüberstehen und einander ablösen, aber sie enthalten auch je schon das Andere. Deshalb stehen sie in einer gewissen Spannung zueinander, die - trotz einer vermeintlichen Fortschrittserzählung - auch Phänomene durchzieht, die, wie das Schriftbild, nicht der ‚Urzeit‘ entstammen können. Im Kapitel über die Fibeln wird es deutlich: Das Bildliche ist ein verführerisches und wichtiges Element der Sprache, aber damit die Sprache zum beherrschbaren Instrument werden kann, muss es zurücktreten. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht jederzeit wieder hervorbrechen kann. Der Hinweis auf die Bedeutung des Unbewussten für die Übung der Schrift zeigt an, dass durch die Einbeziehung dieses Bereichs in den Vorgang der Ausübung der Wille unterlaufen werden kann: Schreiben bleibt prekär. Die Gewalt, die vom Schreiben ausgeht, kann jederzeit auf das Schreiben selbst zurückwirken. Dass das Bildliche, das im Schreiben durchbricht, nicht immer in der Gewalt des Schreibenden ist, zeigt das Kapitel über die Graphologie. Die Graphologie ist ein Phänomen, das in der Zeit Benjamins eine Blüte erlebt, ein Phänomen, das bald darauf auch wieder verblüht und heute wohl nur noch von geringer Relevanz ist. Anhand der Graphologie und ihrem Verhältnis zur Handschrift und zum Schriftbild wurde sichtbar, dass das im Rahmen einer Fortschrittserzählung abstrakt gewordene Medium ‚Schrift‘, wenn es in anthropologischer Manier an den Leib zurückgebunden wird, wieder eine gewisse Konkretion erfährt. Bei Anja Mendelssohn führt das Schriftbild in eine Bilderwelt zurück, die durchaus archaische Züge trägt - was nicht erstaunt, wenn man weiß, dass sie bei C. G. Jung studierte und Klages‘ Graphologie im deutschsprachigen graphologischen Diskurs einen hohen Stellenwert hatte. Über die Handschrift des Menschen in der Moderne erschließt sich bei ihr die Welt archaischer Bilder. Der schriftliche Ausdruck verschafft der Graphologin oder dem Graphologen eine Art Zugang zum Leib des Schreibenden und letztlich auch zu jenen ‚seelischen‘ Dispositionen, die nicht der Kontrolle des ‚Geistes‘ unterliegen. Anhand dieses Kapitels wird deutlich, was sich bereits vorher abzeichnete: Die rationalere, da ‚symbolischere‘ Schrift trägt zur Bändigung des Bilds bei, aber ‚unbewusst‘ kann es sich trotzdem immer wieder manifestieren. Benjamins Haltung gegenüber der Graphologie bleibt ambivalent. Zwar dis- 8. Zum Denken mit dem Bild 388 tanziert sich Benjamin immer wieder kritisch, aber eine gewisse Faszination lässt sich ebenfalls unbestreitbar konstatieren. In Bezug auf die Literatur verhält es sich für Benjamin in hinsichlich der oben skizzierten dialektischen Bewegung wohl ähnlich bei Franz Kafka. Benjamin zeichnet in dessen Dichtung eine Dialektik des Bildlichen nach, die das Archaische im Gegenwärtigen sichtbar macht, das Bild in der Sprache wie auch das Sprachliche im Bild. Bei Kafka rückt das Nicht-Bewusste drastisch zu Bewusstsein. Benjamins Fixierung auf den ‚Gestus‘ bei Kafka - den dieser analog zum ‚Unbewussten‘ nicht verstehen kann - unterstreicht diesen Befund. Der ‚Gestus‘ ist ein Schwellenphänomen zwischen Bild und Sprache, mittels dem man sich Kafka annähern muss, wenn der Benjaminsche Anspruch verfolgt wird, ihn einerseits aus der Mitte seiner ‚Bildwelt‘ zu deuten, andererseits aber auch sein Gebot, man solle sich kein ‚Bildnis‘ machen, ernst nimmt. Die Dialektik des Bildlichen erweist sich als ein Schema, das das ‚Wi(e)derrufen‘ des Bildlichen ermöglicht, wenn diese Ambivalenz in einem Wort ausgedrückt werden darf. Einerseits ist damit ein Hervorrufen archaischer Bilder gemeint, ein Aufzeigen und Bewusstmachen dessen, was im Unterbewussten - des Individuums und des Kollektivs - schlummert, andererseits ist damit auch eine Annullierung gemeint, eine Zurücknahme zugunsten eines tendenziell eher sprachlich geprägten Erkenntnisprozesses. Es handelte sich um ein Missverständnis, würde man nun meinen, zugunsten der Sprache würden die Bilder liquidiert. Aber es wäre auch naiv zu glauben, dass Erkenntnis und Denken angesichts der Bilderflut und Bilderfülle bloß an eine richtige Weise des Sehens zu gewöhnen seien. Politisch wäre eine solche Annahme fragwürdig, ist es ja gerade der aufklärerische Geist der Lesefibeln - also ein sprachlicher Aufklärungsprozess -, den Benjamin positiv hervorhebt. Karikaturen wie jene von Grandville oder Photographien wie jene von John Heartfield mögen zwar ein kritisches Licht auf zeitgenössische Vorgänge werfen, aber diese Künste bleiben auf die Sprache angewiesen. 45 Zwar ist das Zwingen der Kinder unter das ‚Joch‘ der Buchstaben ein Akt der Gewalt, aber die Gewalt, die 45 Über Heartfields mit der Montagetechnik arbeitenden Photographien schreibt Benjamin: „Sie [die Surrealisten] verkannten die soziale Durchschlagkraft der Photographie und damit die Wichtigkeit der Beschriftung, die als Zündschnur den kritischen Funken an das Bildgemenge heranführt (wie wir das am besten bei Heartfield sehen).“ (GS III, 505) Gewiss bringt diese Deutung der Photographie sie auch in die Nähe des Emblems, bei dem der ‚Pictura‘ ein Motto und eine ‚Subscriptio‘ beigegeben war. Über die Malerei sagt Benjamin ebenfalls, sie sei in gewisser Weise auf die Sprache angewiesen. Eine bestimmte Rede über die Malerei kritisiert Benjamin aber, nämlich das Genre der ‚Kunstkritik‘. Sie sei ein „Slang, der von Saison zu Saison“ wechsle. Die Kunstkritik diene „nur scheinbar dem Publikum, in Wahrheit dem Kunsthandel.“ (GS III, 498) 8.5. Zur Koexistenz von Bild und Sprache 389 der Verzicht auf den Buchstaben provoziert, unterschätzte Benjamin nicht. Einerseits birgt die Befreiung des Bilds schöpferisches Potential, andererseits aber auch reaktionäre Gewalt. Für den Schriftsteller Benjamin dürften deshalb Schreiben und Lesen die Bedingung für einen adäquaten Umgang mit dem Bildlichen abgegeben haben, auch wenn man nicht vergessen sollte, dass auch die Sprache durch sämtliche ihrer Facetten durch und durch bildlich geprägt ist. Benjamins Interesse für das Thema und die Omnipräsenz des ‚Bildes‘ in Diskursen seiner Zeit und in seinen eigenen Texten vermag nicht über eine ausgeprägte Neigung zur Sprache und Sprachphilosophie hinwegzutäuschen. ‚Bildkritik‘ ist bei Benjamin durchaus auszumachen, aber sie hat mehrere Gesichter. Er registriert die Ubiquität des Bildes und des Bildlichen, er spürt ihm auch in der Sprache nach, seine ‚Bilderschau‘ dient jedoch nicht einfach der Huldigung im Sinne Ludwig Klages oder C. G. Jungs. Vielmehr avanciert das Bild zum Vehikel und gleichzeitigen Gegenstand einer Kritik, die paradoxerweise in der Sprache selbst statthat. Man gerät an einen Punkt, der bereits in der Einleitung mittels des Verweises auf die Kritik als ‚Wertschätzung‘ angesprochen wurde. Kritik heißt dann nicht einfach, sich vom betrachteten Gegenstand abzugrenzen, um ihn einer Bewertung zuzuführen, sondern sich ihm anzunähern, um in einer vertieften Auseinandersetzung, eine Schätzung seines produktiven Werts vorzunehmen. Die Dialektik des Bildlichen zeugt von einer Auseinandersetzung mit dem Bildlichen und dem Sprachlichen und auch von einer Auseinandersetzung der Kräfte des Bildlichen und des Sprachlichen. Es mag wie ein Widerspruch klingen, aber die Wertschätzung des Bildlichen führt gerade dazu, es als ein Moment auszumachen, das im Denken und im Sprachlichen eine gewisse Gewalt innehat. Die notwendige Kritik des Bildlichen ist deshalb nicht bloß seine Liquidation, es ist auch seine Aufbewahrung im Medium der Sprache. Ohne dem Begriff hier allzu viel Bedeutung einzuräumen, bezeichnet das ‚Denkbild‘ möglicherweise das: Erst durch eine Arbeit an der Sprache, die zugleich eine Arbeit am und mit dem Bild ist, wird deren Linearität aufgebrochen, um einem dichten Denken den Boden zu bereiten, das seiner Schwellenhaftigkeit und Prekarität bewusst ist, ohne kraftlos zu werden. Die Dimension der Wahrnehmung oder die Ästhetik lässt sich somit als ein integraler Bestandteil dieses Denkens konstatieren: Es ist nicht einfach die Materialität des Schreibens, die ‚an den Gedanken mitarbeitet‘, um ein Diktum Nietzsches abzuwandeln, Denken ist - wenn jemand sich der Sprache bedient - von Anfang an von einer Gemengelage von bildlich-sprachlichen Komplexen abhängig, die die Materialität mitumfasst. Bei Adornos Kritik von einer „staunenden Darstellung der Faktizität“ (ABB, 379 f.) könnte man den Akzent auch tatsächlich auf das Problem der Darstellung legen: Die Frage der Darstellung ist entscheidend für das Wirkungspotential eines Denkens. Dass dieser Umstand 8. Zum Denken mit dem Bild 390 bei der Rekonstruktion eines Denkens, das sich dieser Frage widmet und in seiner eigenen Darstellungsweise reflektiert, mitbedacht werden musste, versteht sich von selbst. Eine Dialektik des Bildlichen, wenn es denn so etwas gibt, kann demnach gar nichts anderes als selbst eine Art ästhetisches Verfahren sein. 9. Bibliographie Siglenverzeichnis: ABB: Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, Herausgegeben von Henri Lonitz, Frankfurt am Main 1994. GB: Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz, 6 Bände, Frankfurt am Main 1995-2000. GS: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Unter Mitwirkung von Theodor W. 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Dabei geht es vor allem um die Frage nach dem Einsatz des Bildlichen in Texten, die sich mit den Anfängen des Sprechens und Schreibens unter philosophischen, anthropologischen, ästhetischen oder poetischen Vorzeichen beschäftigen. Die Spannung, die sich durch dieses Aufeinandertreffen von Bild und Sprache ergibt, erweist sich dabei als ein Produktivmoment des untersuchten Schreibens und Denkens. Dieses Moment leistet einer Erkenntnisweise Vorschub, die Brüche zulässt und Homogenisierungstendenzen zuwiderläuft. Die „Dialektik des Bildlichen“ ist dabei ein Befund wie auch eine Strategie, der der Autor in den Texten Benjamins nachspürt. Inwiefern kann das Bildliche als konstitutives Moment der Sprache begriffen werden, ohne dieses Moment mystifizieren zu müssen und ohne die Bedeutung der semiotischen Dimension in Frage zu stellen? N° 97