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Die Poetik des Experiments

2014
978-3-7720-5545-4
A. Francke Verlag 
Jochen Kriens

Die Studie untersucht die dichotome Bedeutungsstruktur des Experimentbegriffs in der Literatur Friedrich Dürrenmatts, die sich dramentheoretisch in einer epistemologischen Dimension und als ethische Kategorie menschlichen Handelns in den Stücken realisiert. Ausgehend von dramentheoretischen Äußerungen Dürrenmatts und einem Abriss über die erkenntnistheoretische Entwicklung des Experiments in den Naturwissenschaften wird nachgewiesen, dass sich für Dürrenmatt im künstlerischen Experiment eine wissenschaftsäquivalente Dimension des Heuristischen verbirgt, die sich im Akt einer autonomen dramaturgischen Methode organisiert.

Jochen Kriens Die Poetik des Experiments Provozierte Erfahrung und künstlerische Erkenntnis bei Friedrich Dürrenmatt Die Poetik des Experiments Mainzer Forschungen zu Drama und Theater herausgegeben von Wilfried Floeck, Winfried Herget und Friedemann Kreuder im Auftrag des »Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Band 47 Jochen Kriens Die Poetik des Experiments Provozierte Erfahrung und künstlerische Erkenntnis bei Friedrich Dürrenmatt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 - Philosophie und Philologie - der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2014 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Referent: Prof. Dr. Wolfgang Düsing Korreferent: Prof. Dr. Gunther Nickel Tag des Prüfungskolloquiums: 10. Februar 2014 © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0940-4767 ISBN 978-3-7720-8545-1 Dorota und Julian Dank Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Wolfgang Düsing, danke ich für die wohlwollende, umsichtige und engagierte Begleitung all meiner Ideen und viele gute Ratschläge. Besonderer Dank gilt meinem Vater Günter Kriens für unzählige Gespräche und viele konstruktive Hinweise. Er wurde über die unermüdliche Auseinandersetzung mit den Themen der Arbeit selbst zu einem Dürrenmatt- Liebhaber. Meiner Mutter Margrit Kriens und meiner Schwester Petra Kriens gebührt Dank für ihren kontinuierlichen norddeutschen Zuspruch, ebenso meiner Tante Inge Wolke, die mir, seit ich denken kann, Lebensbegleiterin und liebevolle Gesprächspartnerin ist. Matthias Krack danke ich für seine Freundschaft sowie seine Fähigkeiten als Motivator, Zuhörer und Experte auf den Gebieten der Psychologie und der Erkenntnistheorie. Tiefer Dank meinem Sohn Julian, der immer an mich geglaubt hat, und Dorota Lechka für ihre Liebe. Du zeigst mir, was wirklich wichtig ist. Hamburg, im April 2014 J. K. Inhaltsübersicht 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Dürrenmatts dichotomer Experimentalbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.3 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.3.1 Forschungsstand Friedrich Dürrematt . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.3.2 Forschungsstand zum Thema „ Experiment in der Literatur Friedrich Dürrenmatts “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Hauptteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1 Das Experiment im Spannungsfeld von Kunst und Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1.1 Die enzyklopädische Definition des Begriffs „ Experiment “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1.2 Wissenschaftstheoretische Positionen zum Experiment . 33 2.1.2.1 Etymologische Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1.2.2 Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.1.2.3 Johann Wolfgang Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1.2.4 Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.1.2.5 Wilhelm Wundt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.1.2.6 Ernst Mach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.1.2.7 Pierre Duhem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.1.2.8 Albert Einstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.1.2.9 Werner Heisenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.1.2.10 Hugo Dingler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.1.2.11 Karl Popper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.1.2.12 Arthur Eddington . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.1.2.13 Kuhn, Feyerabend, Hacking, Rheinberger . . . . . 47 2.1.2.14 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.1.3 Zur Affinität von Experiment und Kunst . . . . . . . . . . . . . . 50 2.1.3.1 Literaturtheoretische Positionen zum Experiment in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.1.3.2 Diskursive Forschungspositionen zu einem umstrittenen Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.2 Die menschlichen Grundstrukturen im künstlerischen Experiment erkennbar machen - Dürrenmatts Werke als epistemologische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.2.1 Zur Äquivalenz von Künstler und Naturwissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.2.2 Die Wahrscheinlichkeit als qualifizierte Möglichkeit . . . . 80 2.2.3 „ Hypotheses fingo “ - Die Induktion als experimenteller Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.2.4 Der Einfall als experimentelle Ausgangssituation . . . . . . 87 2.2.5 Der Mythos als Modell der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.2.6 „ Ich warf die Leiter weg. “ - Im Spannungsfeld von physikalischer Erkenntnistheorie und experimenteller Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2.2.7 Das Experiment als spielerische Interaktion zwischen Künstler und Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.2.8 Das Theater als „ eine der Chancen, die Welt zu erkennen “ - Zur gegenständlichen und heuristischen Abgrenzung von Kunst und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2.2.9 Dürrenmatts fiktive Gegenwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2.2.9.1 Das Als-Ob als bewusster Status des Experimentellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2.2.9.2 Vaihingers Fiktionen als zweckgebundene Setzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.2.9.3 Zur Beschreibung der Wirklichkeit mit Hilfe der Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2.2.9.4 Die Entblößung der Fiktion als Akt der Selbstsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2.2.9.5 Wesen und Struktur als experimentelle Erkenntniskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2.2.9.6 Die Unwirklichkeit der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . 161 2.2.9.7 Von Vaihingers „ Als-Ob “ zu Wittgensteins „ Wie . . .wenn “ - Die künstlerische Fiktion als Gedankenexperiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Exkurs a: „ Der Besuch der alten Dame “ (1957) . . . . . . . 187 Exkurs b: „ Abendstunde im Spätherbst “ (1956), „ Dichterdämmerung “ (1980) . . . . . . . . . . . . . . . 188 Exkurs c: „ Die Panne “ (Hörspiel 1955, Erzählung 1955/ 56, Komödie 1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 X 2.3 Das Experiment als Parameter menschlichen Handelns . . . . . . 203 2.3.1 Die schlimmstmögliche Wendung in einer Katastrophenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2.3.2 Nietzsches voluntaristische Experimentaldefinition . . . . 206 2.3.3 Poppers soziale Experimente kleinen Maßstabs . . . . . . . . 208 2.3.4 Dürrenmatts planender Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2.3.5 Der Zufall als paradoxe Faktizität - das Experiment, das aus dem Ruder läuft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2.4 Zusammenfassung: Kierkegaards experimentierender Einzelner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3. Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 XI 1. Einführung „ Meine Geschichten sind alle Gleichnisse oder literarische Experimente. “ 1 „ Es gibt nichts Schöneres als eine Geschichte anzufangen, es ist der Beginn eines Abenteuers, dessen Ausgang ungewiß ist. “ 2 1.1 Dürrenmatts dichotomer Experimentalbegriff „ Es gibt keinen Stil mehr, sondern nur noch Stile, ein Satz, der die Situation der heutigen Kunst überhaupt kennzeichnet, denn sie besteht aus Experimenten und nichts anderem, wie die heutige Welt selbst. “ 3 Wenn Friedrich Dürrenmatt in dem 1954 gehaltenen Vortrag „ Theaterprobleme “ , seiner bis zu jenem Zeitpunkt wichtigsten poetologischen Stellungnahme, das Wesen des Verhältnisses von Welt und Kunst gerade im Begriff des Experiments lokalisiert, und dieses auch aufgrund der Bestimmtheit des Vergleichs als ein vehement kausatives, beiden Sphären - der Wirklichkeit und der Kunst als Entgegnung darauf - inhärentes, zumindest partiell identisches Prinzip ansieht, dann ist die Frage indiziert, welche semantischen Bezüge des Experimentalbegriffs der Schriftsteller hier miteinander verwebt. Der Satz wäre nur unzureichend erschlossen, verstünde man den Begriff des Experiments in der Kunst lediglich als ein mehr oder weniger zielloses Herumprobieren oder als die stilistisch-formalistischen Versuche einer künstlerischen Avantgarde 4 . Auf dem „ Feld für Experimen- 1 G IV 83. Zu den Zitaten Friedrich Dürrenmatts, die den „ Gesprächen “ entnommen sind, werden in den Fußnoten stets der Buchstabe „ G “ für Gespräche, die Bandnummer (in römischer Schreibweise) und die Seitenzahl (in arabischer Schreibweise) angegeben. 2 Vinter, WA 29 207. Zu den Zitaten Friedrich Dürrenmatts, die der Werkausgabe entnommen sind, werden in den Fußnoten stets der (Kurz-)Titel des betreffenden Textes (in kursiver Schrift), die Buchstabenkombination „ WA “ für Werkausgabe, die Bandnummer und die Seitenzahl (hintereinander in arabischer Schreibweise) angegeben. 3 Theaterprobleme, WA 30 41 f. 4 Marita Alami weist in ihrer Analyse zu Recht darauf hin, dass sich der Begriff des Experiments bei Dürrenmatt nur peripher auf die unter Avantgardisten der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts (zu denen Dürrenmatt sich selbst nicht zählte [Anmerkung. d. Verf.]; vgl.: Persönliche Anmerkung, WA 32 214, G III 19) verbreitete Erprobung neuer literarischer Ausdrucksformen bezieht. (Vgl.: Marita Alami: Die Bildlichkeit bei 1 te “ 5 , welches das Theater des 20. Jahrhunderts für Dürrenmatt darstellt, finden viel eher Versuche statt, die durch das Bestreben bzw. das Vermögen geprägt sind, die Wirklichkeit unserer Welt, „ dieses Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muß, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf “ 6 , künstlerisch zu bewältigen, d. h. auch, sie mit Hilfe künstlerischer Experimente erkennbar zu machen und die entsprechenden Schlüsse aus diesen Erkenntnisprozessen zu ziehen. Die Wirklichkeit, um die es Dürrenmatt geht, ist in vielerlei Hinsicht und auf sämtlichen Gebieten menschlichen Strebens revolutionär, ja zeitigt gerade im vergangenen Säkulum einen umfassend paradigmatischen Wandel von nie dagewesener weltverändernder Dynamik: Zwei Ereignisse können wohl aber aufgrund ihrer singulären, in höchstem Maße faktisch-existenziellen, aber auch symbolischen Kraft nachgerade als Synonyme für das 20. Jahrhundert herangezogen werden: Zum einen setzen zweiter Weltkrieg, Holocaust und Atombombe dem aufklärerischen Leitbild vom vernunftbegabten Menschen einen absoluten Kontrapunkt entgegen. Zum anderen sorgen Relativitäts- und Quantentheorie für einen Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften, mit dem ein vollkommen neues Denken beginnt. Im Gegensatz zu den Überzeugungen der klassischen Physik kann nun in vielen Themenfeldern definitiv nicht mehr von festen Größen, strenger Kausalität und einer potenziellen Erkennbarkeit der Realität - bis hin zu ihrer Vorhersagbarkeit - gesprochen werden. 7 Kants konstruktivistischer Experimentalbegriff 8 wird durch quantentheoretische Experimentalsysteme durchbrochen, die mit Begriffen wie Wahrscheinlichkeit, Zufall und Möglichkeit operieren und sich durch eine konstitutive Offenheit auszeichnen; Poppers Friedrich Dürrenmatt. Computergestützte Analyse und Interpretation mythologischer und psychologischer Bezüge. Köln u. a.: Böhlau 1994 (= Kölner germanistische Studien Bd. 35). S. 41.) Siegfried J. Schmidt distanziert sich in seinen „ Thesen zum Thema ‚ Experiment in der Kunst ‘“ von „ Vorgänge[n] des planlos vagen Herumprobierens “ , sieht einen Schwerpunkt in der Arbeit des experimentierenden Künstlers aber durchaus darin, „‚ neue ‘ Dimensionen im Form- und Inhaltsbereich zu erschließen “ (Siegfried J. Schmidt: Was heißt ‚ Experiment in der Kunst ‘ / ‚ Kunst als Experiment ‘ ? Einige Diskussionsthesen. In: Das Experiment in Literatur und Kunst. Hrsg. v. Siegfried J. Schmidt. München: Wilhelm Fink 1978 (= Grundfragen der Literaturwissenschaft - Neue Folge Bd. 3). S. 8 - 12. Hier: S. 10.). 5 Theaterprobleme, WA 30 41 6 Theaterprobleme, WA 30 63 7 Vgl. hierzu: Michael Hänel: Begriff, Wissenschaft und Wirklichkeit: Ernst Cassirers ‚ Begriffsreform ‘ und die ‚ Krise der Wirklichkeit ‘ . In: Krise des Historismus - Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880 - 1932. Hrsg. v. Otto Gerhard Oexle. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. S. 295 - 311. Hier: S. 310 f. 8 S.: Kap. 2.1.2.2 2 kritischer Rationalismus konstatiert, dass Experimente generell keine Hypothesen verifizieren, sondern bestenfalls falsifizieren können. „ Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen “ 9 , fasst Heisenberg 1927 die erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser neuen Physik zusammen: „ Deshalb ist alles Wahrnehmen eine Auswahl aus einer Fülle von Möglichkeiten und eine Beschreibung des zukünftig Möglichen. “ 10 Die Wirklichkeit ist grundsätzlich unbestimmbar geworden, dies führt zu einem grundlegenden Wandel in der physikalischen Erkenntnistheorie. 11 Parallel dazu hat sich der Mensch, vor allem auch mit den Möglichkeiten, welche die Naturwissenschaften der Technik offenbaren, eine Welt geschaffen, die sich, statt beherrschbar zu sein, als hochgradig unkontrollierbar erweist 12 - Dürrenmatts Katastrophenwelt hat hier ihren Ursprung: Sie symbolisiert das menschliche Paradoxon und ist primäres künstlerisches Leitmotiv. Im „ Mitmacher-Komplex “ (1973 - 76) beschreibt Dürrenmatt den Figurentypus des negativen Mitmachers als einen Menschen, der in erster Linie egoistische Ziele verfolgt: [E]r macht nicht der Sache, sondern sich zuliebe mit. Das negative Mitmachen ist ein Sich-nicht-Kümmern um die Erkenntnis (die auf die Sache gerichtet ist, bei der man mitmacht), auch ein Nicht-Verwirklichen der Erkenntnis, ein nicht nach der Erkenntnis Handeln, ein Handeln wider die Erkenntnis, daß die Sache, bei der man mitmacht, nicht nur nicht notwendig, sondern sogar schlecht ist. 13 Der Mensch geht in seinen Experimenten hohe Risiken ein - auch dadurch beschwört er das Unheil herauf. 1978 konstatiert der Autor bereits für den 9 Werner Heisenberg: Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik. In: Zeitschrift für Physik 43 (1927). S. 172 - 198. Hier: S. 197. 10 Ebd. 11 Worte ähnlichen Inhalts legt Dürrenmatt in den „ Physikern “ Möbius in den Mund: „ Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen. Wir wissen einige genau erfaßbare Gesetze, einige Grundbeziehungen zwischen unbegreiflichen Erscheinungen, das ist alles, der gewaltige Rest bleibt Geheimnis, dem Verstande unzugänglich. Wir haben das Ende unseres Weges erreicht. “ (Die Physiker, WA 7 74) 12 Auch dieser Gedanke taucht in den „ Physikern “ auf, wenn Möbius angesichts der möglichen Konsequenzen seiner Erkenntnisse konstatiert: „ Das Resultat ist verheerend. Neue, unvorstellbare Energien würden freigesetzt und eine Technik ermöglicht, die jeder Phantasie spottet “ (Die Physiker, WA 7 69) und: „ Was die Welt mit den Waffen anrichtet, die sie schon besitzt, wissen wir, was sie mit jenen anrichten würde, die ich ermögliche, können wir uns denken. “ (Die Physiker, WA 7 73). In „ Die Brücke “ deutet Dürrenmatt diesen Gedanken experimentell: „ Ob es sich um die Abschreckung durch Atombomben, um Atomkraftwerke, um die Lagerung von Atommüll, um die Plünderung unseres Planeten usw. handelt, immer reden diejenigen, welche daran glauben, uns ein, wir sollen glauben, was sie tun, sei absolut sicher. “ (Die Brücke, WA 29 111). 13 Nachwort, WA 14 106 f. 3 Menschen an sich: „ Unser Problem ist die Nichtanwendung der Vernunft: Warum ist der Mensch gescheiter, als er handelt? “ 14 Und 1989: „ Ich sehe den Menschen natürlich paradox. Seine eigene Fähigkeit ist großartig, doch seine Möglichkeit und sein Sein sind auseinandergeraten. “ 15 Dürrenmatts zentrale Schlussfolgerung daraus ist eine Poetik, welche die Mimesis ebenso ausschließt wie jede Utopie - jene, weil Dürrenmatts Ansicht nach kein künstlerisches Abbild mehr dieser ungeheuerlichen, unbestimmbaren Welt tatsächlich gerecht zu werden vermag, diese, weil jeder Versuch, ein wie auch immer geartetes Weltbild als sinnstiftende Größe und Postulat der Einheit zu propagieren, in einer Welt der Zersplitterung, der verlorenen Einheit, der Unkenntlichkeit zwangsläufig ins Leere laufen muss. 16 Hierin liegt für Irmscher auch der grundlegende Unterschied zwischen den Dramentheorien Brechts und Dürrenmatts: Während Brecht - wie Irmscher tatsächlich fälschlicherweise annimmt 17 - analog eine klassische Physik, die Physik Newtons, repräsentiere, indem er deduktiv vorgehe, d. h. dramatische Modelle für eine bestehende Theorie experimentell entwirft und damit im Sinne des Kantschen Experimentalbegriffs dasjenige in der Natur entdeckt, 14 G II 255 15 G IV 45. Zum Begriff des Paradoxen vgl. auch: Vera Schulte: Das Gesicht einer gesichtslosen Welt. Zu Paradoxie und Groteske in Friedrich Dürrenmatts dramatischem Werk. Köln Univ., Diss. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1987 (= Europäische Hochschulschriften Reihe 1 Bd. 1002). 16 Arnolds Beurteilung „ Nicht der Glaube an eine Ideologie, sondern der Zweifel an den Heilslösungen ist das Movens der Dürrenmattschen Dramatik “ (Heinz Ludwig Arnold: Theater als Abbild der labyrinthischen Welt. Versuch über den Dramatiker Dürrenmatt. In: Text und Kritik (1976). H. 50/ 51. S. 19 - 29. Hier: S. 22.) erscheint vor dem Hintergrund vieler Äußerungen Dürrenmatts und der kompromisslosen Schärfe seines Denkens in zweierlei Hinsicht nicht hinreichend zu sein. So kann bei Dürrenmatt kaum nur von einem Zweifel an Heilslösungen und ideologischem Denken gesprochen werden, sondern viel eher von einer radikalen Ablehnung postulierter Weltbilder. In diesem „ Zweifel “ darüber hinaus den zentralen Antrieb für die Dürrenmattsche Dramatik zu sehen, kann ebenso begründet in Frage gestellt werden, insofern eher eine existenzielle Notwendigkeit und epistemologische Dynamik dahinter zu vermuten sind. 17 Emter weist vollkommen zu Recht darauf hin, dass das dramaturgische Denken Brechts, der sich nachgewiesenermaßen mit der modernen Physik beschäftigte und der in intensivem Kontakt zu dem Physiker Hans Reichenbach stand, nicht von der Physik Newtons geprägt ist: „ Die Loslösung vom strengen Determinismus, wie sie dem modernen physikalischen Weltbild zugrunde liegt, stellt für Brecht die Voraussetzung dar, an die Möglichkeit einer Veränderung bestehender Verhältnisse zu glauben. “ (Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925 - 1970) Berlin, New York: de Gruyter 1995 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Bd. 2). S. 163.) 4 was er vorher in sie hineingedacht hat, wähle Dürrenmatt den umgekehrten Weg. Sein künstlerischer Experimentalbegriff entspreche dem einer neuen Physik, indem er nicht von einem Allgemeinen ausgehe und dieses experimentell bestätigen möchte, sondern den Einzelfall zugrunde lege und diesen als systematisierte, evozierte Erfahrung und mit der Offenheit eines gespannten gestaltenden Beobachters zur Basis von empirischer Anschauung und Erkenntnis mache. 18 Eine solche Bestimmung erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil Induktion und Deduktion keineswegs konstituierende Elemente der alten oder der neuen Physik, sondern vielmehr zeiten- und epochenübergreifende logische und epistemologische Verfahren darstellen. Irmscher sieht den Dürrenmattschen Experimentalbegriff multikausal, vor allem aber philosophisch motiviert: Er verweist u. a. auf den Abschnitt „ Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft “ aus Kants „ Kritik der reinen Vernunft “ , der Vaihinger als Basis seiner „ Philosophie des Als-Ob “ diente und den Fiktionsbegriff in einer spekulativen Vernunft verortet, die nicht mit tatsächlichen physikalischen Gegenständen, sondern lediglich mit deren Ideen umgehe. 19 In der Tat lassen sich die Sätze Kants über das Denken in Ideen, welches sich als ein intellektuelles Umgehen mit Begriffen ohne real-empirische objektive Entsprechung darstellt, auch als eine Beschreibung der Methode des Gedankenexperiments lesen: Es ist ein großer Unterschied, ob etwas meiner Vernunft als ein ‚ Gegenstand schlechthin ‘ , oder nur als ein ‚ Gegenstand in der Idee ‘ gegeben wird. In dem ersteren Falle gehen meine Begriffe dahin, den Gegenstand zu bestimmen; im zweiten ist es wirklich nur ein Schema, dem direct kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstände vermittelst der Beziehung auf diese Idee nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirect uns vorzustellen. 20 Doch erfordert die Einordnung des Dürrenmattschen Experimentalbegriffes weit mehr als die Formulierung der Annahme, er entspreche mehr oder weniger der neuen Physik, weil Dürrenmatt sich, auch wenn dies zutreffen mag, im Gegensatz zu Brecht meistenteils eines induktiven Verfahrens bediene. Eine nachhaltige Analyse des Dürrenmattschen Experimentalbegriffes wird zum einen eine dezidierte Betrachtung physikalischer Experimental- und Erkenntnisformen zur Grundlage haben müssen und zum anderen auf 18 Vgl.: Hans Dietrich Irmscher: Das Schachspiel als Metapher. Bemerkungen zum ‚ komödiantischen Denken ‘ Friedrich Dürrenmatts. In: Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck. Hrsg. v. Hans Dietrich Irmscher u. Werner Keller. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983. S. 333 - 348. Hier: S. 348. 19 Vgl.: Ebd. 20 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 2. Hrsg. v. Rolf Tomann. Köln: Könemann 1995. S. 556. 5 dieser Basis eine Untersuchung des künstlerischen Experiments, wie es Dürrematt tatsächlich vorschwebt und wie er es umsetzt. Darüber hinaus ist es unverzichtbar, einen Blick auf Dürrenmatts Verhältnis zu den Naturwissenschaften zu werfen und daraus die Beschaffenheit des Verhältnisses von naturwissenschaftlichem und künstlerischem Experiment abzuleiten. Nun gibt es in der Forschung zahlreiche divergente Einschätzungen über das Verhältnis zwischen Dürrenmatt und den Naturwissenschaften und den Grad, in welchem der Schriftsteller von ihnen in seiner Kunst beeinflusst worden ist, also naturwissenschaftliche Konzepte, Inhalte, Theorien oder Methoden strukturell auf die Kunst überträgt. Elisabeth Emter etwa geht in ihrer Studie „ Literatur und Quantentheorie “ , um eine sehr konsequente Position zu nennen, weit über die Feststellung einer bestehenden Analogie zwischen Physik und Kunst im Denken Dürrenmatts hinaus, sie plädiert dafür, Dürrenmatts Dramaturgie der Unwahrscheinlichkeit ihrem Wesen nach quantentheoretisch motiviert zu sehen. 21 Wie auch immer mit solch apodiktischen Standpunkten umzugehen ist, inwieweit also die Quantenphysik als Folie für Dürrenmatts künstlerische Versuchsanordnungen auch gelten mag: Mit Sicherheit kann konstatiert werden, dass Dürrenmatt sich in seinen künstlerischen Experimenten in erster Linie mit dem Menschen, und demzufolge mit einem Gegenstand beschäftigt, der sich einer rein physikalischen Anschauung entziehen muss. Die Frage, die sich stellt, ist demzufolge, ob Dürrenmatt tatsächlich eine rein naturwissenschaftliche Theorie zur Grundlage seiner Kunst gemacht hat, ob von mehr als einer Analogie oder nicht vielmehr von einem eigenen spezifischen künstlerischen Denken die Rede sein muss. In der Tat treffen die erkenntnistheoretischen Implikationen der Physik bei ihm auf fruchtbaren Boden: Doch möchte ich hier einmal den Verdacht anmelden, ob nicht die Form der heutigen Philosophie die Naturwissenschaft sei, [. . .] ob es nicht einfach so sei, daß wir bei Einstein und Heisenberg die Ansätze einer neuen Philosophie finden und nicht bei Heidegger. 22 Dürrenmatts Auffassung ist, dass eine Kunst, die sich als Philosophie versteht und, einer festen allgemeinen Überzeugung folgend, Stücke als projizierte Lösungen hervorbringt, schon durch die Ausschließlichkeit dieser Bestimmung in einen Konflikt mit der Wirklichkeit gerät, da eine eindeutige Zuordnung vielleicht in einem abgeschlossenen logischen System möglich, hinsichtlich der Natur des Menschen aber letztlich unmöglich ist. Diese grundlegende Skepsis kann auch als Argument gegen die Behauptung 21 Vgl.: Emter 1995: S. 264. 22 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 62 6 angeführt werden, Dürrenmatt übertrage die Quantentheorie auf die Kunst, da er in diesem Fall zwar ein neues, aber nichtsdestoweniger ebenso paradigmatisches Weltbild zur Grundlage der Kunst gemacht hätte. Der Mensch in seiner Paradoxie aber ist für Dürrenmatt nicht herleitbar, er entzieht sich jeder quantisierenden Theorie, die Welt ist für Dürrenmatt keine bestimmbare Größe, weshalb Mensch und Welt sich prinzipiell einem objektiven Zugriff durch die Naturwissenschaften entziehen müssen, wie Dürrenmatt in „ Die Brücke “ anhand seiner F. D.-Variation exemplarisch darstellt: Die Wahrheit versagt sich uns im Falle F. D.s kategorisch. [. . .] F. D. etwa, als Allgemeinbegriff behandelt, als ‚ Mensch an sich ‘ , gehört dem Bereich des Logischen an [. . .]. Will man jedoch F. D. als den ganz bestimmten F. D. von einem allgemeinen deduzieren, steht man vor der Unmöglichkeit, aus dem Logischen das Existenzielle abzuleiten. 23 Wenn sich Dürrenmatt als Künstler nun aber dem Existenziellen nähert und die Wirklichkeit der menschlichen Existenz erfassen möchte, dann ist sein Weg dieser künstlerischen Bewältigung eben nicht die Deduktion, also eine aufgestellte (allgemeine) Theorie in das Stück hineinzulegen, um sie mit Hilfe des Dargestellten quasi zu belegen, sondern der eines induktiven Vorgehens - d. h. einen Einzelfall zu konstruieren, Dürrenmatts Gegenwelten, und, indem er diesen in Gedanken weiterentwickelt, Erkenntnisse über den Menschen und die Welt zu gewinnen. Er fragt sich, wie und warum Menschen in bestimmten Situationen so handeln, wie sie handeln, und macht diese Fragen zu den inhaltlichen Ausgangspunkten seiner Stücke. Seine Methode ist, die Personen Grenzerfahrungen auszusetzen und zu beobachten, wie sie reagieren. Diese Form des Denkens ähnelt in gewisser Weise der eines Wissenschaftlers, der ein Experiment durchführt und daraus induktiv Erkenntnisse gewinnt. 24 Physikalischer Natur wären diese Experimente, führte man sie in 23 Die Brücke, WA 29 94 f. 24 Tetens unterscheidet zwischen zwei wesentlichen Phasen eines physikalischen Experiments: dem „ gemachte[n] Teil eines Experiments “ und dem „ dem ‚ Wirken ‘ der Natur überlassene[n] Teil eines Experiments “ . (Holm Tetens: Experimentelle Erfahrung. Eine wissenschaftstheoretische Studie über die Rolle des Experiments in der Begriffs- und Theoriebildung der Physik. Hamburg: Felix Meiner 1987. S. 16.) Diese Struktur lässt sich als Analogie auf die Architektur eines Stückes übertragen, in dem die Ausgangssituation als der „ gemachte Teil “ des künstlerischen Experiments, und der anschließende Handlungsverlauf als das „‚ Wirken ‘ der Natur “ betrachtet werden könnte. Ein wesentlicher Störfaktor in dieser Analogie besteht freilich darin, dass es im künstlerischen Experiment keine Natur im physikalischen Sinne gibt, die beobachtet werden kann. Alles wird lediglich im Kopf des Künstlers konstruiert. Die Beobachtung ist szs. eine Beobachtung des eigenen Denkens. 7 Wirklichkeit durch, indes nicht, eher psychologischer oder soziologischer. 25 Wenn sich auch Ähnlichkeiten finden lassen und Dürrenmatt sich selbst hier und da mit einem Physiker vergleicht: Eine Übertragung der einen Sphäre auf die andere bleibt unscharf, muss unscharf bleiben - doch lässt sich natürlich die Frage nach einer strukturellen Parallelität hinsichtlich der unterschiedlichen Wege der Erkenntnisgewinnung stellen. Das Experiment in der Kunst stellt für Dürrenmatt ein Äquivalent zum naturwissenschaftlichen Experiment dar - stets betont er Analogie und parallele Struktur - , allein es muss, ebenso wie das naturwissenschaftliche Experiment in seiner Sphäre, als autark in einem künstlerischen Erkenntnisuniversum gelten. Denn mit ebensolcher Deutlichkeit, mit der Dürrenmatt Analogien zwischen beiden Welten hervorhebt, grenzt er gleichzeitig seine künstlerische Form des experimentellen Vorgehens immer wieder von der Methodik der naturwissenschaftlichen Forschung ab. Dieser attestiert er Beweiskraft, jener nicht; außerdem erkennt er beide Disziplinen als nebeneinander existierende Erkenntnisverfahren mit unterschiedlichen Gegenstandsbereichen an. Dass Dürrenmatt sich als Künstler dennoch explizit mit einem Naturwissenschaftler vergleicht, kommt nicht von ungefähr: Eddington, Vaihinger und Mach - Autoren mit großem Einfluss auf Dürrenmatts Denken - befassen sich in ihren Schriften ebenfalls mit prozeduralen Schnittmengen, Ähnlichkeiten und Unterschieden in den Verfahren dieser beiden Wege der Welterkenntnis. Doch lässt sich - jenseits einer potenziellen Übertragung naturwissenschaftlicher Verfahren auf die Kunst - ein bedeutender Verdacht kaum ausräumen, wenn die Frage gestellt wird, was auch ein Zweck sein könnte, die Kunst in die Terminologie der Physik zu hüllen - nämlich das Ansinnen ihrer Legitimierung und Bestätigung als Erkenntnisverfahren in einer Zeit, in der die ästhetische Tätigkeit sich neben der allgewaltigen (vermeintlichen) Weltdurchdringung von Naturwissenschaft und Technik mehr und mehr zu einer Nebensächlichkeit ohne große Wirkungskraft entwickelt zu haben scheint. 25 Wenn diese Dürrenmattschen Experimente zu wissenschaftlichen Zwecken tatsächlich durchgeführt würden, handelte es sich wohl um welche, die Holzkamp als Experimente der „ Gegenstandsart ‚ andere Menschen ‘“ der Psychologie zuordnen würde. Tatsächliche Experimente solcher Art werden aus Sicht der Psychologie abgelehnt, da sie einen „ Mißbrauch der Versuchsperson “ darstellen: „ Von solchen ‚ Mißbräuchen ‘ mag man etwa sprechen, wenn den ‚ Versuchspersonen ‘ vom Experimentator besondere Belastungen oder Entbehrungen zugemutet werden, wenn der Experimentator den Vpn. nicht die Wahrheit sagt und wenn die Vpn. vom Experimentator ohne ihr Wissen beobachtet werden. “ (Klaus Holzkamp: Theorie und Experiment in der Psychologie. Eine grundlagenkritische Untersuchung. Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1964. S. 85.) 8 „ Ich bin Experimentator - aber das ist eine andere Sache. “ 26 : Der Begriff des Experimentators ist hier zwar beiläufig, mitnichten aber leichtfertig gewählt, zielt er doch ins Zentrum einer lebenslangen Beschäftigung Dürrenmatts mit der Frage, in welchem Verhältnis Kunst und Wirklichkeit zueinander stehen. Für den Künstler Dürrenmatt stellt die Herausforderung, die Wirklichkeit gedanklich in immer neuen, unabgeschlossenen Modellen zu fassen, ein lebenslanges Abenteuer dar - es ist sein Experiment schlechthin. In einem seiner letzten Werke, der Erzählung „ Der Versuch “ von 1989, heißt es über seinen Protagonisten, der die Aufgabe übernimmt, die Wirklichkeit in einer Stadt zu einem bestimmten Zeitpunkt zu dokumentieren: „ Es zeigt sich, daß Professor (? ) Artur Poll die Schwierigkeiten des Experiments, die Wirklichkeit darzustellen, noch immer unterschätzt. “ 27 Zum einen steckt hierin Dürrenmatts klarer Blick für die generellen methodischen Schwierigkeiten einer Wirklichkeitserkenntnis, einschließlich und im besonderen auch der der Naturwissenschaften, zum anderen handelt es sich um eine humorvolle, selbstironische Rechtfertigung der eigenen künstlerischen Tätigkeit, nämlich mit Hilfe des tatsächlichen „‚ [p]oetische[n] Experiment[s] ‘“ 28 zu versuchen, die Wirklichkeit zu erkennen, einen Weg also zu beschreiten, der die eigene Erfahrung und das eigene Denken zur Konstruktion fiktionaler Entsprechungswelten nutzt. Gleichwohl sieht Dürrenmatt das Experiment auch in der Kunst als das zentrale Verfahren zur Gewinnung von Erkenntnis an. Er definiert eine Poetologie, die, wenn sie sich dem 20. Jahrhundert, in dem allerorten die Herrschaft geschlossener Weltbilder rigoros von einem der Kontingenz, der Offenheit und der spielerischen Auslotung des Möglichen verpflichteten Denken abgelöst wird, gewachsen zeigen will, selbst zum Experiment werden muss, d. h. als Denkakt, als gesteuerte, zielgerichtete Erfahrung die Wirklichkeit ins Visier nehmen muss - eine Wirklichkeit, die ihrerseits durch die Experimente der Menschen zu der Wirklichkeit geworden ist, die wir vorfinden. Wenn Dürrenmatt in den „ Theaterproblemen “ diagnostiziert, die Macht in seinem Jahrhundert sei mit einem Eisberg zu vergleichen, „ nur zum kleinsten Teil sichtbar, [. . .] der größte Teil im Gesichtslosen, Abstrakten versunken “ 29 , dann lassen sich die Experimente seiner Figuren als konkretisierende Modelle für die im Verborgenen liegenden Experimente im 26 G II 235 27 Der Versuch, WA 37 114 28 Der Versuch, WA 37 113 29 Theaterprobleme, WA 30 59 9 Großen, ja als Paradigma menschlichen Handelns und als Ausdruck einer Objektivation menschlicher Macht interpretieren. Dürrenmatt selbst tut das, wenn er den Radiosprecher in „ Der Besuch der alten Dame “ die Aktivitäten der Claire Zachanassian in Güllen als „ [e]ine Riesensensation [. . .] und damit eines der größten sozialen Experimente unserer Epoche “ 30 beschreiben lässt. Hier tritt zum einen deutlich zutage, mit welch scharfer Ironie Dürrenmatt vorgeht, wenn er das von Rache ausgelöste Handeln der alten Dame an den Güllenern positiv umdeutet, also das euphemistisch etikettiert, was im Grunde ein Verbrechen ist, und wie sehr ihn als Künstler die Allianz von Ethik und Experiment fasziniert: „ [D]ie heutigen Staatsaktionen sind nachträgliche Satyrspiele, die den im Verschwiegenen vollzogenen Tragödien folgen. “ 31 In der Tat lassen sich in vielen Stücken Figuren finden, deren Handlungen experimentelle Züge aufweisen, die sich also dadurch auszeichnen, dass auf der Basis einer Hypothese eine bestimmte Tat zu einem bestimmten Resultat führen soll. Ein weiteres exponiertes Beispiel hierfür ist Dr. h. c. Isaak Kohler in „ Justiz “ , dessen groß angelegter gesellschaftlicher Feldzug als Experiment den Regeln des Billard-Spiels folgt: „ Ein Anstoß hätte genügt “ 32 , erkärt der Kantonsrat, fast 100-jährig, auf einem Empfang seinen staunenden Zuhörern. Kohler setzt den Mord an Winter in den Kontext eines Wirtschaftskrieges, der ihn zum Ergreifen der Initiative gezwungen hätte: „ Da sei ein schneller chirurgischer Griff vonnöten und abzuwarten, ob er erfolgreich gewesen sei oder nicht. “ 33 Der Begriff des „ Abwartens “ ist hier von besonderer Bedeutung. Er beschreibt den Zustand, der nach Tetens zwischen dem Abschluss des ersten, dem „ gemachte[n] Teil eines Experiments “ und dem zweiten, „ dem ‚ Wirken ‘ der Natur überlassene[n] Teil eines Experiments “ 34 liegt. Es handelt sich um einen Moment der Spannung, da sich in ihm entscheidet, ob Versuchsaufbau, Erwartung und tatsächliches Resultat übereinstimmen. Im „ Besuch der alte Dame “ zieht dieser Zustand sich hin - Claires „ Ich warte “ 35 am Ende des ersten Aktes markiert den Abschluss der Versuchsvorbereitung und signalisiert gleichzeitig ihre Erfolgsgewissheit. Eine entsprechende Variante stellt Matthäi in „ Das Versprechen “ dar: Auch er wartet an seiner Tankstelle - vergebens - und wird damit zum Repräsentanten derjenigen Experimentierenden innerhalb des Dürrenmattschen Per- 30 Der Besuch der alten Dame, WA 5 120 31 Theaterprobleme, WA 30 60 32 Justiz, WA 25 203 33 Justiz, WA 25 202 34 Tetens 1987: S. 16. 35 Der Besuch der alten Dame, WA 5 50 10 sonals, die scheitern, bei denen der erwartete Erfolg nicht eintritt: „ [D]er Mann verkam, versoff, verblödete “ 36 . 37 Dürrenmatts Kunst verbindet damit beide für ihn wesentlichen Kategorien des Experimentellen - die epistemologisch-methodische und die existentiell-ethische; zusammen bilden sie eine dichotome Grundstruktur seines poetologischen Konzepts, die Verbindung von künstlerischer Erkenntnistechnik, mit methodischer Rekurrenz auf die Naturwissenschaften, und einer inhaltlichen Relevanz, welche die dramatisch-systemische Natur der menschlichen Beziehungen definiert. 38 Diese hybride Konzeption ist in vielen seiner Stücke vorhanden, sie ist die Grundlage des übergeordneten Versuchs Dürrenmatts, einer im Zeitalter der Atombombe und der Quantentheorie fast unmöglich gewordenen Wirklichkeitserkenntnis Rechnung zu tragen. Der ernste Glaube an die Möglichkeit einer Hypothese geht jedem ernsthaften Experiment als erkenntnistheoretische Bedingung voraus; er vereint den wissenschaftlichen Versuch und jedwedes unwissenschaftliche experimentelle menschliche Handeln. Doch was unterscheidet sie? Ihre Differenz liegt vor allem in der Qualität ihres Zwecks - dies ist bereits der dichotomen Semantik des Begriffs „ Experiment “ immanent: Das wissenschaftliche Experiment hat das Primärziel, eine Erkenntnis zutage zu 36 Das Versprechen, WA 23 141 37 Dasselbe Phänomen findet sich in „ Die Frist “ , wo Exzellenz die Weigerung Arkanoffs, den Generalissimus zu operieren, mit den Worten „ Abwarten, Arkanoff, abwarten “ (Die Frist, WA 15 21) quittiert. Wie bei Claire Zachanassian zeugen die Worte von der Gewissheit, den eigenen Plan tatsächlich verwirklichen zu können. In „ Die Physiker “ hingegen geht der Plan des in der Irrenanstalt wartenden Möbius nicht auf, er wird durch die Wirklichkeit eines Besseren belehrt. Auch Schwitter scheitert in „ Der Meteor “ , das Warten auf den Tod wird von dessen Eintritt nicht gekrönt. Das untätige Warten Romulus des Großen wiederum muss als erfolgreiches Experiment gewertet werden. Auch wenn er, wie angenommen, von den Germanen nicht getötet wird, erfüllt sich sein Plan, das römische Imperium dem Untergang zuzuführen. Neben Claire Zachanassian darf wohl Kantonsrat Kohler als fulminanter Experimentator gewertet werden, dessen Warten im Gefängnis als eine bewusst herbeigeführte Etappe eines trotz vieler Imponderabilien präzise geplanten und ablaufenden Experiments interpretiert werden darf. 38 Der Begriff des Experiments ist bei Dürrenmatt darüber hinaus auch hinsichtlich anderer Inhalte relevant, etwa wenn es um dekonstruktivistische Modifikationen literarischer Gattungen ( „ Für die stets neuen Inhalte muß ich stets neue Formen suchen “ (G II 94)) oder das Arbeiten in unterschiedlichen Medien geht, wie Dürrenmatt 1957 in „ Vom Anfang her “ ausführt: „ [S]o ist mir heute die Schriftstellerei ein Beschäftigen und Experimentieren mit verschiedenen Materien geworden. Ich schlage mich mit Theater, Rundfunk, Romanen und Fernsehen herum “ (Vom Anfang her, WA 32 12). Diese „ formalen “ Varianten des Experimentierens stehen bei Dürrenmatt natürlich in Zusammenhang mit der dichotomen Grundstruktur des Experiments, können aber in der vorliegenden Arbeit nur peripher betrachtet werden, da sie aufgrund ihrer Komplexität den gesteckten Rahmen sprengen würden. 11 fördern, mit der eine zuvor aufgestellte Hypothese bestätigt wird. Das „ wagnishafte, risikoreiche Handeln “ hingegen, als welches das Experiment im fachsprachenunabhängigen Kontext definiert wird, verfolgt ein Ziel, das jenseits einer mit ihm verbundenen Erkenntnis liegt. Die Erkenntnis ist eher Begleitphänomen des Erfolgs einer bestimmten absichtsvollen Tat. Die Erkenntnisfunktion des Experiments ist also in diesem Fall nachrangig, das Wesentliche ist die reale beabsichtigte Wirklichkeitsformung, die als Annahme unter Zugrundelegung präsupponierter extrasubjektiver Reaktionen einen bestimmten Zustand antizipiert, dessen Erreichung die Erkenntnis dahingehend als eine Bestätigung beinhaltet, dass der Experimentalaufbau, also die vorbereitenden Tätigkeiten in ihrer Summe, tatsächlich zum avisierten Zustand geführt hat. Bei dieser Art des Experimentierens, deren Vorkommen sowohl im alltäglichen zwischenmenschlichen Leben einer kleinbürgerlichen Ehe ( „ Play Strindberg “ ) als auch in weltpolitischen Dimensionen ( „ Achterloo “ ) zu gewärtigen ist, handelt es sich um ein verhaltenspsychologisches Muster, dessen grundlegende Struktur die subjektive Motivation ist, bei dem vor allem also die Zielerreichung im Fokus des Handelnden steht. In beiden Sphären handelt es sich um eine - wie Gamper es nennt - „ provozierte Erfahrung “ 39 , ein Begriff, den Zola als „ provozierte Beobachtung “ in seinem Essay „ Der Experimentalroman “ von dem Arzt Claude Bernard aus dessen Schrift „ Introduction à l ’ étude de la médicine expérimentale “ übernommen hat 40 . Diese Einführung macht deutlich, weshalb eine eingehende wissenschaftliche Analyse des Experimentbegriffs im Werk Friedrich Dürrenmatts, wie sie die vorliegende Arbeit anstrebt, geboten ist. Dürrenmatt verleiht dem Experiment eine Bedeutung, die es, da in ihm das persönliche Verständnis seiner schriftstellerischen Tätigkeit, ja das Prinzip seines künstlerischen Schaffens liegt, auf eine erkenntnistheoretische Meta-Ebene hebt: Das Experiment stellt die Gedankentechnik seiner individuellen Dramaturgie dar, die Initiative eines explorativen Schreibens, das auf die Erkenntnis der Welt gerichtet ist und diese Erkenntnis in den metabolischen Raum von Welt und Kunst, zwischen Wirklichkeit und künstlerisches Gegenbild, in ein Denkspiel des Möglichen platziert. Seine poetologische Beschäftigung mit dem Begriff des Experiments macht deutlich, welchen Stellenwert das Verfahren der Induktion als ästhetische Kategorie in seinem Denken und Schaffen einnimmt: Dürrenmatt stellt sich als Künstler in das Zentrum eines Transformationsprozesses, in dem die Weltrezeption durch den künstlerischen Akt 39 Michael Gamper: Einleitung. In: Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Hrsg. v. Michael Gamper. Göttingen: Wallstein [2010]. S. 9 - 14. Hier: S. 11. 40 Vgl.: Emile Zola: Der Experimentalroman. Eine Studie. Leipzig: Julius Zeitler 1904. S. 9. 12 in eine Welterkenntnis umgewandelt wird. Der Kern dieses Prozesses ist die dramatische Ausgangssituation, bei Dürrenmatt der Einfall - er bildet die Versuchsanordnung, initiiert und leitet den dramatischen Versuchsverlauf. Diese Form des künstlerischen Experimentierens behält Dürrenmatt nach Abschluss seiner expressionistischen Phase Ende der 1940er Jahre im Grunde zeit seines künstlerischen Schaffens bei. Seine Kunst repräsentiert damit das Theater in seiner epistemologischen Dimension: Dennoch ist eine Dramaturgie vielleicht denkbar, eine Dramaturgie aller möglichen Fälle eben, so wie es eine Geometrie gibt, die alle möglichen Dimensionen einschließt. Die Dramaturgie des Aristoteles wäre in dieser Dramaturgie nur eine der möglichen Dramaturgien. Von einer Dramaturgie wäre zu reden, welche die Möglichkeiten nicht einer bestimmten Bühne, sondern der Bühne untersuchen müsste, von einer Dramaturgie des Experiments. 41 Diese Überlegungen aus den „ Theaterproblemen “ deuten an, dass Dürrenmatt in der Linie einer wissensgeschichtlich-literarischen Tradition steht, die im Experiment eine wechselseitige Annäherung von Wissenschaft und Kunst sieht, die sich also keineswegs in der Übernahme von Techniken, Denkmodellen oder Weltbildern aus jener Sphäre in diese erschöpft, sondern - bei gegenseitiger Beeinflussung - sowohl die Literarizität in der Wissenschaft als auch das Experimentelle in der Kunst entdeckt. 42 Dass dieses künstlerische Denken oft von einer geistigen Nähe zu den Naturwissenschaften inspiriert, ja geprägt ist, was sich an vielen Beispielen belegen lässt, welche die Literaturgeschichte hervorgebracht hat, reduziert das Experiment in der Kunst keineswegs auf den Versuch einer Verwissenschaftlichung der Kunst, sondern exponiert es vielmehr als eigenständiges epistemologisches Verfahren, das sich ganz eigener konstitutiver Mittel bedient. Angesichts einer ubiquitären künstlerischen Perzeption des Experimentellen im 20. Jahrhundert und im Hinblick auf die Schattierungen, die das Verhältnis von Experiment und Kunst sowohl poetologisch als auch im konkreten Vollzug annehmen kann, in welcher Weise ein Künstler also seine spezifische Relation zum Experimentellen definiert und kontrastiert, bedarf in jedem Fall, so auch hier, einer individuellen Untersuchung. Diese fehlt in der Dürrenmatt- Forschung bisher. Das Ziel zu verfolgen, mit der vorliegenden Arbeit eben dies zu bewerkstelligen, und zwar die poetologischen Dimensionen des Experimentellen in der Literatur Friedrich Dürrenmatts zu ergründen, heißt auch, wie Gamper und Bies es generell für die Betrachtung von Literatur unter experimenteller Hinsicht formulieren, „ darauf vorbereitet zu sein, dass 41 Theaterprobleme, WA 30 42 42 Vgl.: Gamper [2010]: S. 11. 13 die untersuchte ‚ Literatur ‘ nach der Analyse des Materials nicht mehr die gleiche ist wie vorher. “ 43 1.2 Zielsetzung Die dargelegten Ausführungen zeigen, dass Dürrenmatts Kunst eine dichotome Bedeutungsstruktur des Experimentbegriffs zugrunde liegt. Hieraus ergeben sich für die vorliegende Arbeit folgende Thesen: 1. Das Kunstwerk stellt für Dürrenmatt ein alternativloses epistemologisches Verfahren zur Erkenntnis der Wirklichkeit dar: Dürrenmatt bedient sich bei der Herstellung seiner Fiktionen einer gedanklichen Experimentaltechnik, die strukturelle Ähnlichkeiten mit der naturwissenschaftlichen Erkenntnispraxis des Experimentes aufweist, nicht aber schlicht als eine Übernahme dieser auf die Kunst betrachtet werden darf, sondern - in Anlehnung an diese - eine erkenntnistheoretische Autonomie besitzt. 2. Menschliche Handlungen sind experimentell geprägt. Die Welt des 20. Jahrhunderts besteht für Dürrenmatt aus Experimenten, also aus gefährlichen, risikoreichen Handlungen der Menschen mit unabsehbaren Folgen und ungewissen Auswirkungen. Diese Diagnose - versinnbildlicht im Begriff der Katastrophenwelt, die der Mensch sich geschaffen hat - lässt sich zum einen auf dessen Natur zurückführen, als ein Impuls zur Ausübung von Macht und zur Durchsetzung individueller Interessen, zum anderen auf eine technologische Entwicklung, die eben diesem Machtstreben eine universelle Dimension an Gefährlichkeit verleiht. Die Betrachtung dieser bipolaren Fokussierung Dürrenmatts auf das Experiment - einerseits seine Funktion als epistemologisches Verfahren, andererseits als das risikoreiche Handeln der Menschen - bildet den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit; sie folgt damit den beiden wichtigsten Koordinaten, die Dürrenmatt seiner Experimentalpoetik selbst verleiht. Das eingangs erwähnte Zitat kann gerade deshalb als Leitspruch dieser Untersuchung gelten, da ihm - jenseits anderer Kontexte, in denen Dürrenmatt den Begriff des Experiments ebenfalls nutzt - die zwei genannten zentralen Konnotationen inhärent sind und sie pointiert miteinander verknüpft. 43 Michael Bies u. Michael Gamper: Arbeit am Sprachmaterial - eine Einleitung. In: „ Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte “ . Experiment und Literatur III 1890 - 2010. Hrsg. v. Michael Bies u. Michael Gamper. Göttingen: Wallstein 2011. S. 9 - 28. Hier: S. 13. 14 Das Mittel des künstlerischen Experiments stellt für Dürrenmatt den Brückenschluss von Lebenswelt und Erkenntnis dar; es setzt für ihn dort an, wo die Sphäre der Wissenschaften endet, und ist geeignet, Einsichten über einen Gegenstand zu liefern, der sich konsequent einer naturwissenschaftlichen Beobachtung entwindet: die Natur des Menschen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Konstituenten Dürrenmatts Experimentalbegriff bilden und welche Auswirkungen eine derartige experimentelle Herangehensweise auf die Werke selbst, ihre Konstruktion und ihre Interpretation, hat. Gegenstand wird hierbei nicht die Frage sein, wie der Autor zu seinen Stoffen kommt - private Erlebnisse, autobiographische Bezüge und textgenetische Entwicklungen einzelner Werke sind bereits vor allem auf der Grundlage des Dürrenmattschen Nachlasses eingehend beleuchtet 44 und bleiben auch deshalb außer acht - , sondern deren konkrete künstlerische Ausgestaltung und das ihr zugrunde liegende poetologische und epistemologische Konzept. In diesem Komplex enthalten ist freilich auch die Rolle des Autors selbst, der sich in der paradoxen Situation befindet, einerseits Experimentator - und gleichzeitig Beobachter seiner von ihm selbst produzierten Fallstudien zu sein. Seine Kunstwerke versteht Dürrenmatt als gedankliche Versuchsanordnungen, die - als fiktionale Eigenwelten mit einer ihr immanenten Logik angelegt - über einen spezifischen Erkenntniswert verfügen, der jenseits einer wissenschaftlichen Beweisbarkeit liegt. In ihnen zeigt der Autor den Menschen in exponierten Situationen einer künstlich hergestellten, fokussierten, destillierten und damit modellhaften lebenswirklichen Laborsituation. Diese Analyse wird sich in hohem Maße an Dürrenmatts theoretischen Schriften, Vorträgen, den Gesprächen, sachdienlicher Sekundärliteratur sowie ausgewählten literaturtheoretischen Schriften orientieren. Eine derartige Untersuchung hat darüber hinaus einen Blick auf Dürrenmatts Verständnis der Fiktion und des Gedankenexperiments und auf die Einschätzung seines Verhältnisses zu den Naturwissenschaften unter experimenteller Hinsicht zu werfen. Die vorliegende Arbeit versteht sich in diesem Zusammenhang auch als ein Beitrag zu einem Forschungsdiskurs, der sich seit Mitte der 90er Jahre mit der Frage beschäftigt, welchen Einfluss die Naturwissenschaften auf Dürrenmatts Poetik tatsächlich ausgeübt haben. Außerdem 44 Vgl. hierzu auch: Rudolf Probst: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich Dürrenmatts Stoffe als Quadratur des Zirkels. Paderborn: Wilhelm Fink 2008 (= Zur Genealogie des Schreibens Bd. 8); Rudolf Probst: Autobiographische Konzepte in der Entwicklung von Friedrich Dürrenmatts Stoffen. In: Die Verwandlung der ‚ Stoffe ‘ als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Hrsg. v. Peter Rusterholz u. Irmgard Wirtz. Berlin: Erich Schmidt 2000. S. 55 - 75. 15 muss berücksichtigt werden, dass Dürrenmatt mit der Aufnahme des Experimentbegriffs in die Kunst sich in eine literarhistorische Tradition einreiht, die mit Novalis und der Frühromantik beginnt, mit Zola und Boelsche den Naturalismus in Frankreich und Deutschland prägt, ins 20. Jahrhundert - zu Brecht, Musil und den Avantgarde-Künstlern der 60er und 70er Jahre - führt und weiterhin anhält. Die literaturwissenschaftliche Forschung beschäftigt sich seit nunmehr etwa zwei Jahrzehnten intensiv mit der systematischen Korrelation von Kunst und Wissenschaft, eine Beziehung, die im Begriff des Experiments in der Kunst ihren vieldeutigen Ausdruck gefunden hat. Beachtung wird anhand exemplarischer Szenen einzelner Werke auch finden, wie Dürrenmatt seine experimentelle Methode praktisch umsetzt - also Poetik und menschliches Handeln inhaltlich-korrelativ miteinander verknüpft. Dieser Analyse ist eine Revision des Figurentypus des „‚ großen Experimentators ‘“ 45 immanent, mit dem Auge die Personen klassifiziert, welche „ die Welt als Versuchsobjekt behandel[n], als ein Testfeld ihrer Macht und ihres Intellektes. “ 46 Denn es sind kaum nur die schillernden Ausnahmegestalten wie Kohler oder Zachanassian, deren Handlungen die Züge des Experimentellen tragen. Auges Diagnose, „ [a]llen von Dürrenmatts Figuren durchgeführten Experimenten gemeinsam ist, daß mit ihnen die Mechanismen ergründet werden sollen, nach denen die menschliche Gesellschaft - und damit die Welt - funktionieren “ 47 , ist spätestens dann in Zweifel zu ziehen, wenn erstens nicht Welterkenntnis das primäre Ziel des menschlichen Strebens darstellt, sondern eine subjektive Hypothese über ein zukünftiges menschliches Verhalten experimentell bestätigt werden, also etwas Bestimmtes eintreten soll, und zweitens das Experimentelle nicht nur als Merkmal der Handlungen der Großen, sondern als generelles Attribut menschlichen Tuns - als das Charakteristikum des „ [p]lanmäßig vorgehende[n] Menschen “ 48 verstanden wird. In diesem Sinne zeichnet sich das Experimentelle auf der Handlungsebene als strukturelles, dialogisches Phänomen ab; es bestimmt letztlich die menschlichen Konflikte in den Stücken Dürrenmatts. Die künstlerischen Experimentalanordnungen des Autors indes sind selbstverständlich nicht deckungsgleich mit den Experimenten seines Personals: Die Position des Autors kann im Verhältnis zu der seiner Figuren als eine nochmalig höhergestufte, außerhalb der Experimentalanordnung 45 Bernhard Auge: Friedrich Dürrenmatts Roman ‚ Justiz ‘ . Entstehungsgeschichte, Problemanalyse, Einordnung ins Gesamtwerk. Mainz, Univ., Diss., 2001. Münster: Lit 2004 (= Germanistik Bd. 27). S. 298. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 92 16 befindliche auktoriale Meta-Ebene gesehen werden 49 , auch wenn Dürrenmatt sich selbst als diese Instanz immer wieder in unterschiedlichen Formen der Autoinszenierung in seine eigenen Stücke integriert - ein Trick, der, wie zu zeigen sein wird, Illusion verfremdet und gleichzeitig die Wirklichkeit und Ernsthaftigkeit des Gedankenexperimentellen, das seine Werke auszeichnet, zum Ausdruck bringt. Das experimentelle Handeln seiner Figuren kann vielmehr als das Spielmaterial verstanden werden, das Dürrenmatts künstlerischen Experimenten systematisch als Versuchsgegenstand dient. Die aufgestellte These lautet, dass die experimentelle Poetik seiner Stücke im weitgehend ergebnisoffenen Durchdenken eines an einer bestimmten Figurenkonstellation durchgespielten Konfliktes besteht. Aus diesem Prozess lassen sich Erkenntnisse über die Motive und das Verhalten von Menschen - oder wie Dürrenmatt selbst sagt, über „ die Natur des Menschen “ 50 , ableiten. 1.3 Forschungsüberblick 1.3.1 Forschungsstand Friedrich Dürrematt Dürrenmatts Werken ermangelt es in Forschung und kultureller Öffentlichkeit seit langem an umfänglicher Resonanz. Dieses Eindrucks kann sich nicht erwehren, wer zum einen die Anzahl wissenschaftlicher Titel zugrunde legt, die seit Anfang der 90er Jahre auf niedrigem Niveau stagniert, und zum anderen einen Blick auf die Spielpläne der großen Bühnen wirft. Während seine beliebten Klassiker, die „ Alte Dame “ und die „ Physiker “ in der deutschsprachigen Theaterlandschaft noch sporadisch in den Programmen auftauchen 51 und sich neben den Kriminalromanen weiterhin als Standard- 49 Dies kann hier kurz an dem Stück „ Der Besuch der alten Dame “ erläutert werden: Während Claire innerhalb der Fiktion das experimentierende Subjekt ist, dessen Motive sich auf die Rache an Ill und den Güllenern richtet, sind ihre motivationale Struktur und die Auswirkungen ihres Handelns (auch in Bezug auf ihre eigene Person) aus Dürrenmatts künstlerischer Sicht auch Objekt seiner experimentellen Beobachtung, sie haben also gegenständlichen Charakter und sind somit Teil seiner künstlerischen Versuchsanordnung. 50 G I 104 51 Laut Deutschem Bühnenverein rangiert Friedrich Dürrenmatt in der Spielzeit 2006/ 07 mit 4 Werken, 19 Inszenierungen und 498 Aufführungen bundesweit auf dem 15. Platz der nach Aufführungszahlen meistgespielten Autoren. 2007/ 08 belegt Dürrenmatt nur noch Platz 26 mit wiederum 4 Werken, 21 Inszenierungen und 335 Aufführungen. 2008/ 09 und 2009/ 10 schafft kein Werk Dürrenmatts es unter die 20 meistgespielten Stücke. 2010/ 11 erlebt „ Der Besuch der alten Dame “ sicherlich auch wegen des 20. Todestages des Autors ein Comeback; es wird mit 21 Inszenierungen und 377 Aufführungen das am 17 lektüre auf den Lehrplänen der Schulen finden 52 , bleibt Dürrenmatts Werk, das seit Mitte der 1960er Jahre entstanden ist, bis heute tatsächlich defizitär beachtet 53 . Das Interesse der Forschung, so konstatiert Auge 2004, sei in Korrelation zum schwächer werdenden Erfolg des Autors generell zurückgegangen, numerische Ausschläge nach oben in besonderen Jahren - nach Erscheinen der Gesamtausgabe 1980 etwa oder in dem Jahr nach Dürrenmatts Tod - bilden Ausnahmen in einer weitestgehend kontinuierlichen Rezession. 54 Diese Stagnation, die bis heute unverändert auf einem relativ übersichtlichen Publikationsniveau anhält, dokumentiert auch die Dürrenmatt- Bibliographie des Schweizer Literatur-Archivs, das Dürrenmatts Nachlass verwaltet und unter der Internetadresse www.nb.admin.ch/ sla/ 03495/ 03499/ 03504/ index.html? lang=de eine nach Erscheinungsjahr geordnete Übersicht der wissenschaftlichen Sekundärliteratur seit 1987 führt. Passend zu dieser allgemeinen Entwicklung diagnostiziert Rüedi eine in weitesten Teilen ablehnende Haltung der Feuilletons dem Autor gegenüber in den 1980er Jahren sowie eine bis heute inadäquate Wahrnehmung von Dürrenmatts Spätwerk durch Forschung und Öffentlichkeit. 55 Eine Abwärtstendenz sieht auch Ulrich Weber hinsichtlich der Inszenierungsfrequenz von Dürrenmatts Stücken an deutschen Bühnen, da vor allem innerhalb „ der ersten Garde der Theaterleute “ ein nur noch sehr beschränktes Interesse an den Dramen des Schweizer Autors herrsche. 56 In der Forschung macht Weber eine Entwicklung aus, die sich in einer verstärkten Fokussierung vor allem der erkenntnistheoretischen Implikationen der Dürrenmattschen Kunst manifestiert und die in der Vergangenheit vorherrschende Betonung des Moral-Themas nunmehr überlagere. 57 Nichtsdestoweniger ist festzustellen, dass die Forschung innerhalb ihres zwar letzthin quantitativ rückläufigen Diskurses innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte bedeutende Arbeiten hervorhäufigsten gespielte Stück an deutschen Bühnen (alle Daten online verfügbar unter: http: / / www.buehnenverein.de/ de/ presse/ pressemeldungen.html (Stand: 03. 03. 2013)). 52 Vgl.: Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Von der Lust, die Welt nochmals zu erdenken. Bern u. a.: Haupt 2006. S. 132. 53 Jürgen Kost konstatiert: „ Das Werk nach dem Meteor wurde stiefmütterlich, ja abschätzig behandelt. Erst in den letzten Jahren ändert sich diese Perspektive. “ (Jürgen Kost: Ulrich Weber, Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus der ‚ Mitmacher ‘ -Krise. Eine textgenetische Untersuchung. 2007. In: Arbitrium. 28/ 1 (2010). S. 118 - 119. Hier: S. 118 (online verfügbar unter: http: / / www.degruyter.com/ view/ j/ arbi.2010.28.issue-1/ arbi.2010035/ arbi.2010035.xml Stand: 25. 08. 2012).) 54 Vgl.: Auge 2004: S. 25. 55 Vgl.: Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen. Biographie. Zürich: Diogenes 2011. S. 16. 56 Weber 2006: S. 133 f. 57 Vgl.: Ebd., S. 134. 18 gebracht hat, die dokumentieren, welches künstlerische und gedanklich komplexe Potenzial Dürrenmatts Werk - auch das späte - zu bieten hat. Hier seien vor allem genannt: Elisabeth Emters Studie zu „ Literatur und Quantentheorie “ (1995), Thomas Wünsches Arbeit „ Dürrenmatts stereoskopisches Denken “ (1996), Anette Mingels ’ Studie zu „ Dürrenmatt und Kierkegaard “ (2003), Bernhard Auges textgenetische Analyse zu „ Friedrich Dürrenmatts Roman ‚ Justiz ‘“ (2004), Ullrich Webers Arbeit über „ Dürrenmatts Spätwerk “ (2007), Sabine Schus Untersuchung zum Thema „ Deformierte Weiblichkeit bei Friedrich Dürrenmatt “ (2007), Elena Wassmanns Analyse über „ Die Novelle als Gegenwartsliteratur “ (2009) bis hin zu Peter Rüedis „ Dürrenmatt “ -Biographie (2011). Diese Forschung zeigt, welche Faszination Dürrenmatts Werk, vielleicht gerade auch das - unbequeme - Spätwerk in seiner künstlerischen Radikalität heute ausübt. Es wird zum anderen deutlich, wie sehr Dürrenmatt seiner Zeit voraus war - seine scharfe episodische Kompositionstechnik aus dem „ Mitmacher “ oder „ Durcheinandertal “ , welche mit zeitlichen und räumlichen Verschränkungen und Überlagerungen spielt, findet sich Jahrzehnte später auch in Hollywoodproduktionen von Quentin Tarantino und David Lynch. 2001 nahm sich Regisseur Sean Penn filmisch des Romans „ Das Versprechen “ (mit Jack Nicholson in der Hauptrolle) an, was ebenfalls die zeitlose und kulturübergreifende Brisanz Dürrenmattscher Stoffe dokumentiert. Es hat den Anschein, als werde das aus einer damals weitestgehend systematischen vorschnellen Ablehnung seiner Werke heraus entstandene negative Bild Dürrenmatts seit einigen Jahren berechtigterweise einer nachhaltigen Korrektur unterzogen. In der zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage seiner Monographie über Friedrich Dürrenmatt von 1993 bezeichnet Gerhard P. Knapp dessen späte Erzähltexte noch „ als mehr oder weniger gelungene Experimente “ 58 , attestiert dem gesamten Spätwerk „ [e]inen Mangel an sprachlicher Disziplin und gedanklicher Schärfe “ 59 und stellt die Frage, „ [o]b man in dieser ‚ Offenheit ‘ Dürrenmatts Beitrag zum relativierenden Diskurs der ‚ Postmoderne ‘ erblicken soll “ 60 . Dass Knapp mit dieser unspezifischen Einschätzung eine weitverbreitete kritische Tendenz der 1970er und 80er Jahre repräsentiert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie verfehlt diese dennoch ist. Die moderne Forschung weiß mittlerweile zu würdigen, was Dürrenmatt bereits 1973 als künstlerisch unabdingbar erkennt: 58 Gerhard P. Knapp: Friedrich Dürrenmatt. 2. überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1993 (= Sammlung Metzler Bd. 196). S. 142. 59 Ebd. S. 18. 60 Ebd. S. 18 f. 19 Für die stets neuen Inhalte muß ich stets neue Formen suchen, ein Umstand, der nicht unproblematisch ist. Ich stelle mich damit gegen das Publikum und die Kritiker, die im Grunde keine neuen Experimente wollen, sie wünschen sich ihren Autor unverändert. Jedes Experiment prägt mich, je größer sein Erfolg ist; mit einem neuen Experiment trete ich mir selbst als Gegner gegenüber. [. . .] Je ernsthafter Sie nach neuen Formen suchen, je weniger Sie auf Unterhaltung, oder was heute oft das gleiche ist, auf gängige Weltanschauung machen, desto schwieriger haben Sie es mit der Kritik, desto schwieriger wird es aber auch für die Kritik, notgedrungen, sie ist auf Stilmöbel dressiert, nicht auf Einzelleistungen, um es etwas boshaft auszudrücken. Brecht machte sich schon früh daran, einen eigenen Brecht-Stil zu entwickeln, untermauert durch Theorie, ein Fressen für die Kritiker. Sie wissen, woran sie sind, während sie bei mir nicht dahinterkommen. 61 Diesem künstlerischen Experimentalismus, der die formale Gestaltung eines Werkes als individuelle Repräsentation eines gedanklichen Konstruktes von Fall zu Fall neu entwickelt - was Dürrenmatt ja zweifelsohne mit größter Freude an Spiel und außergewöhnlichen Ideen immer wieder tut - , wird insofern heute adäquater Rechnung getragen, als die Werke nun auf eine Forschergeneration treffen, die Unkonventionalität und künstlerischer Diversifizierung generell offener gegenübersteht und die labyrinthischen Strukturen einzelner Werke Dürrenmatts als Quellen eines hochkomplexen Weltverständnisses begreift. So wird das Bild des späteren und späten Dürrenmatt zurecht durch die Forschung einer strukturellen Revision unterzogen. Wenn auch nicht davon auszugehen ist, dass die Werke seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte noch die Beliebtheit einer größeren Öffentlichkeit erringen werden, so sind sie doch allemal spannendes und reichhaltiges Zeugnis einer unbezähmbaren, störrischen und konsequenten künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt, in der Dürrenmatt lebt. In „ Rollenspiele “ (1983 - 1986) heißt es dazu: D: Wie kriegst du die heutige Zeit in den Griff, wie fängst du die heutige Zeit ein? Es ist paradox. Du bist informiert wie noch nie durch Zeitungen, Radio, Fernsehen, du wirst unter einer Nachrichten- und Bilderlawine vergraben, aber unter dieser Lawine siehst du die Zeit nicht mehr, in der du lebst. [. . .] Du mußt dir selber ein Bild zu schaffen suchen, du mußt aus dir heraus die Welt zu verstehen versuchen, und dann mußt du schreien. 62 61 G II 94 f. In einem Gespräch von 1990 nimmt Dürrenmatt diesen Gedanken erneut auf, wobei er ihn hier ausdrücklich auf das Publikum bezieht: „ Also sagen wir mal, jedes Experiment in der Kunst ist für viele etwas sehr Befremdliches. “ (G IV 83) 62 Rollenspiele, WA 18 160 f. 20 Dass diese Schreie in ihrer zuweilen wenig anheimelnden Intonation auch ablehnenden Widerhall hervorrufen, liegt wohl auch in der künstlerischen Natur ihres Senders begründet, der seine Töne nicht den Erwartungen anderer anpasst, sondern sie stets nur der eigenen subjektiven Schöpferkraft entringt. Dennoch bleibt zu hoffen, dass im Zuge der sich zunehmend positiv wandelnden Aufnahme der späten Werke Dürrenmatts durch eine aufgeschlossene Forschung diese auch in der Wahrnehmung einer interessierten Öffentlichkeit noch zu zarter Blüte gelangen werden. 1.3.2 Forschungsstand zum Thema „ Experiment in der Literatur Friedrich Dürrenmatts “ Hinsichtlich der Beurteilung des Experiments in der Literatur Friedrich Dürrenmatts sind die bisherigen Forschungsbeiträge eigentümlich disparat. Das kann zum einen daran liegen, dass Dürrenmatt selbst den Begriff des Experiments in seinen theoretischen Schriften nur unsystematisch und wenn, dann mit unterschiedlichen Bedeutungsschwerpunkten benutzt und sich darüber hinaus eines eigenen kohärenten Beitrags zu dem ab den 60er Jahren in Fachkreisen herrschenden Diskurs zum Thema „ Experiment und Literatur “ 63 enthält; zum anderen daran, dass sich die Dürrenmatt-Forschung über lange Zeit schwerpunktmäßig vor allem auf Begriffe wie den des Labyrinths, des Grotesken, des Zufalls und der schlimmstmöglichen Wendung konzentriert hat. Zwei Forscher, die sich in den 1960er Jahren in Aufsätzen auf diachrone, überblicksartige Weise mit dem Begriff des Experiments in der Literatur auseinandersetzen, sind Beda Allemann (1963) und Hans Schwerte 64 (1968). 63 Vgl. hierzu u. a.: Hans Magnus Enzensberger: Die Aporien der Avantgarde. In: Ders.: Scharmützel und Scholien. Über Literatur. Hrsg. v. Rainer Barbey. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2009. S. 144 - 173. Hier: S. 165 - 167; Helmut Heißenbüttel: 13 Hypothesen über Literatur und Wissenschaft als vergleichbare Tätigkeiten. In: Ders.: Über Literatur. Olten, Freiburg im Breisgau: Walter 1966. S. 206 - 215; Bodo Heimann: Experimentelle Prosa. In: Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Hrsg. v. Manfred Durzak. Stuttgart: Reclam 1971. S. 230 - 256; Das Experiment in Literatur und Kunst. Hrsg. v. Siegfried J. Schmidt. München: Wilhelm Fink 1978 (= Grundfragen der Literaturwissenschaft - Neue Folge Bd. 3); Siegfried J. Schmidt: Kunst und Experiment und. Siegen: Muk 1982. 64 Bei Hans Schwerte handelt es sich eigentlich um den deutschen Literaturwissenschaftler Hans Schneider, geb. 1909, gest. 1999, der sich ab 1945 aufgrund seiner NS-Vergangenheit in Hans Schwerte umbenannte und 1995 enttarnt wurde. (Vgl.: Ernst Klee: Das Personenlexikon zum dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Koblenz: Kramer 2011. S. 552.) 21 Beide lokalisieren den Ursprung der fruchtbaren Allianz von Kunst und Experiment in der Frühromantik, speziell bei Novalis und dessen konkreten Stellungnahmen zur Vergleichbarkeit von Naturwissenschaftler und Künstler 65 , verweisen auf die komplexe historische Entwicklung, die in der perzeptiven Aneignung des Begriffs Experiment durch die Kunst zu unterschiedlichsten Ausprägungen in inhaltlicher und formaler Hinsicht geführt haben, skizzieren bei Zola, Bölsche und Hauptmann eine deterministisch orientierte Poetik, wonach Kunst uneingeschränkt den naturwissenschaftlichen Kausalitätsgesetzen zu folgen hat, und münden über Brecht und seine Modellexperimente in der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: einer Zeit, geprägt von ausschweifenden Formversuchen einer zeitgenössischen Avantgarde, in der allenthalben auf den Begriff des Experiments zu stoßen sei, der nach Schwerte inzwischen nachgerade inflationär häufig und weitestgehend losgelöst von einem naturwissenschaftlichen Hintergrund gebraucht werde und all das bezeichne, was vordem „ modern “ , „ avantgardistisch “ oder „ revolutionär “ genannt wurde. 66 Allemann kommt in Ansehung dieser literarhistorischen Entwicklung zu dem Urteil, dass „ [e]s wenig Sinn [hat], BECKETT, IONESCO oder DÜRRENMATT als Experimentatoren zu bezeichnen. “ 67 Er empfindet deren absurdes Theater - und zählt Dürrenmatt befremdlicherweise hier ausdrücklich dazu - „ als reine Modelle für die Sachverhalte, in denen wir leben. Das Absurde selbst wird zur Chiffre, welche die Struktur der Situation veranschaulicht, sei es auch in einer schon fast abstrakt zu nennenden Weise. “ 68 Allemann deutet Dürrenmatts Dramatik hier ausschließlich intentional und philosophisch, er unterstellt ihm, planmäßig und zielgerichtet Modelle für eine bestimmte Weltanschauung zu konstruieren, negiert einen explorativen Impuls seiner Dramatik und bezeichnet es daher als wenig sinnvoll, Dürrenmatt einen Experimentator zu nennen. Er übersieht jedoch, das gerade Dürrenmatt diesen Weg der deduktiven Produktion ablehnt, eben nicht vom Allgemeinen ausgeht, sondern über den Einzelfall das Modell konstruiert. Allemann kommt in 65 Vgl. hierzu: Hans Schwerte: Der Begriff des Experiments in der Dichtung. In: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hrsg. v. Reinhold Grimm u. Conrad Wiedemann. Berlin: Erich Schmidt 1968. S. 387 - 405. Hier: S. 388; Jürgen Daiber: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 66 Vgl.: Schwerte 1968: S. 387. 67 Beda Allemann: Experiment und Erfahrung in der Gegenwartsliteratur. In: Experiment und Erfahrung in Wissenschaft und Kunst. Hrsg. v. Walter Strolz. Freiburg, München: Karl Alber 1963. S. 266 - 296. Hier: S. 282. 68 Ebd. 22 der Frage nach dem Experiment in der Kunst ganz im Sinne bestimmter kritischer, ablehnender Stimmen zu folgendem negativen Ergebnis: Der Literaturwissenschaftler ist im allgemeinen der Versuchung kaum ausgesetzt, seinen Untersuchungsbereich als Experimentierfeld anzusehen. Er hat es von vornherein mit ‚ Ergebnissen ‘ (ANDERSCH) und ‚ hinterlassungsfähigen Gebilden ‘ (BENN) zu tun. Die naturwissenschaftlichen Experimentalverfahren können für ihn nur in seltenen Spezialfällen von Interesse sein, und seine Methode lässt sich nicht in Analogie zu ihnen entwickeln. 69 Schwerte ist in seinem Urteil weniger apodiktisch, zögert aber auch, das poetische Experiment uneingeschränkt als einen Erkundungsversuch anzuerkennen, durch den einer Befragung der Natur entsprechend bislang Ungewusstes ermittelt wird. Auch er schlägt sich auf die Seite Enzensbergers, „ der jeden Bezug von Experiment auf Dichtung für unsinnig und ‚ simplen Bluff ‘ erklärte “ 70 , schließt aber mit einem Hinweis auf die moderne Physik, deren „ Experimente nicht mehr allein Demonstrationen, sondern Erkundungen, Versuche [sind] “ 71 , und lässt somit zumindest eine Option offen für eine experimentelle literarische Wirklichkeitserkundung. Schwerte führt Dürrenmatt zur Verdeutlichung eines Experimentalbegriffs, der eine stilistische Vielfalt in der Kunst des 20. Jahrhunderts transportiere, immerhin wörtlich mit dessen Zitat aus den „ Theaterproblemen “ an ( „ Es gibt keinen Stil mehr, sondern nur noch Stile “ ) und lässt ihn als Repräsentanten gelten für eine Kunst, welche unbedingt die Resultate der Wissenschaft aufnehmen und berücksichtigen müsse, bezeichnet dessen Dramen aber nicht explizit als experimentell im Sinne einer sie auszeichnenden erkenntnisgenerierenden Funktion. 72 Wer dies fünf Jahre später ausdrücklich tut, indem er das experimentellepistemologische Potenzial von Dürrenmatts Poetik und Dramen herausarbeitet, ist Wolfram Buddecke. In seinem Aufsatz „ Friedrich Dürrenmatts experimentelle Dramatik “ skizziert Buddecke 1973 auf wenigen Seiten dessen poetologisches Konzept als eine dem naturwissenschaftlichem Experiment analoge Methode - und grenzt diese streng zur Dramatik Brechts ab, der sein Theater zwar ausdrücklich als ein experimentelles verstehe 73 , im Gegensatz zu 69 Ebd., S. 296. 70 Schwerte 1968: S. 400 f. 71 Ebd., S. 402. 72 Ebd., S. 392. 73 Vgl.: Wolfram Buddecke: Friedrich Dürrenmatts experimentelle Dramatik. In: Universitatis 28 (1973). S. 641 - 652. Hier: S. 642. Dürrenmatts Aufsätze „ Theaterprobleme “ (1954) und „ Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit “ (1956) lassen sich als eine Art Entgegnung auf Brechts Aufsatz „ Über experimentelles Theater “ (1939/ 40) lesen. Dort diagnostiziert Brecht: „ Der heutige Mensch weiß wenig über die Gesetzlichkeiten, die 23 Dürrenmatt jedoch seine dramatischen Modelle nicht zur Generierung von Erkenntnissen nutze, „ die im Bewußtseinshorizont des Autors noch keinen festen Stellenwert haben “ 74 , also den Charakter der Innovation und Exklusivität besitzen, sondern zur Exemplifizierung bestimmter sozialer Gesetzmäßigkeiten und Zustände, von deren Geltung der Autor bereits überzeugt ist, und als Basis eines Appells an den Zuschauer zur gezielten Veränderung. 75 Buddecke nennt beide Formen Gedankenexperimente, unterscheidet aber strikt zwischen den Brechtschen „ Demonstrationsmodellen “ , welche im Grunde ein Prinzip konkretisieren, und den Dürrenmattschen „ Erkundungsmodellen “ , die eine tatsächliche Exploration anstreben 76 , eine Unterscheidung, die Dürrenmatt selbst auch vollzieht, wenn er die deduktive Dramatik von der induktiven separiert. Ob es sich bei Demonstrationsmodellen überhaupt um Gedankenexperimente handelt, ist umstritten, sie illustrieren im Grunde lediglich, was als Erkenntnis bereits vorliegt. 77 Insofern stellt gerade Dürrenmatts Experimentalpoetik eine dramaturgische Konzeption dar, die als Äquivalent zur physikalischen induktiven Methode gelten darf: Einerseits erteilt sie, wie Schwerte betont, als Replik auf die moderne Naturwissenschaft einem „ scheinbar verbindlichen Stil- und Gattungskodex “ eine Absage 78 , andererseits ist sie angelegt als ein Erkundungsunternehmen, das Erkenntnisse nicht voraussetzt, sondern auf sie abzielt. 79 sein Leben beherrschen. “ (Bertolt Brecht: Über experimenteller Theater. In: Ders.: Schriften 1920 - 1956. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005 (= suhrkamp taschenbuch 3732). S. 403 - 421. Hier: S. 412.). Dürrenmatt konstatiert: „ Der Mensch versteht nicht, was gespielt wird, er kommt sich als ein Spielball der Mächte vor, das Weltgeschehen erscheint ihm zu gewaltig, als daß er noch mitbestimmen könnte; was gesagt wird, ist ihm fremd, die Welt ist ihm fremd. “ (Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 64). Brecht kommt zu dem Urteil: „ In der Tat herrscht auf unseren Theatern als Folge vieler verschiedener Experimente heute eine geradezu babylonische Verwirrung der Stile. “ (Ebd., S. 407.). Dürrenmatt entgegnet: „ Es gibt keinen Stil mehr, sondern nur noch Stile [. . .]. “ (Theaterprobleme, WA 30 41 f.). Dürrenmatt kommt jedoch, wie Buddecke zu Recht feststellt, hinsichtlich eines Theaters für das wissenschaftliche Zeitalter zu anderen Schlussfolgerungen als Brecht. (Vgl.: Buddecke 1973: S. 642.) 74 Buddecke 1973: S. 642. 75 Vgl.: Ebd. 76 Vgl.: Ebd. 77 Ein berühmtes Beispiel hierfür ist Galileis Widerlegung des Aristotelischen Fallgesetzes von 1638, worin er anhand eines logischen Gedankenspiels anschaulich macht, was ihm vorher schon bekannt war, dass nämlich unterschiedlich schwere Gegenstände mit der selben Geschwindigkeit fallen. (Vgl.: Ulrich Kühne: Die Methode des Gedankenexperiments. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 1742). S. 31 - 57.) 78 Schwerte 1968: S. 392. 79 Buddecke 1973: S. 643. 24 Damit erkennt Buddecke etwas, was vielen anderen entgeht, dass Dürrenmatt mit seiner Kunst nämlich Wissen ermittelt - und nicht umsetzt, was dazu führt, dass Interpretationen, die prüfen, ob die Aussagen stimmen, die Dürrenmatt vermeintlich in den Text hineingelegt habe, recht eigentlich am Kern seiner Kunst vorbeigehen. Rolf Müller etwa, der Dürrenmatt etwas holzschnittartig einen „ Spieler “ nennt, „ der das Leben als ein Experiment begreift, dessen ungewisser Ausgang von der Versuchsanordnung abhängt “ 80 , deutet Dürrenmatt insofern entsprechend prinzipiell deduktiv, als er davon ausgeht, Dürrematt unterwerfe seine Kunst dem Zweck, das Atomzeitalter darstellen zu wollen: „ In ihrer Zeitgebundenheit ist sie [die Komödie] besser in der Lage, den Zeitgeist zusammenzufassen und ihm Ausdruck zu verleihen. “ 81 Jan Knopf kommt in seiner Monographie „ Friedrich Dürrenmatt “ - immerhin auch in der 4. Auflage von 1988 noch - zu einem der Analyse Buddeckes diametral entgegengesetzten Urteil: Er weist zwar auf den Begriff des Experiments in Dürrematts Dramentheorie hin, sieht in ihm aber, im Gegensatz zum Modellexperiment Brechts, eine strikte Trennung von Wissenschaft und Kunst vollzogen: Mit der Bühne verbindet sich in Zukunft der Begriff des ‚ Experiments, der weniger im Brechtschen Sinn einen wissenschaftlichen Versuch meint, der der ‚ Verfremdung ‘ der Wirklichkeit dienen soll, sondern den Vorgang beschreibt, der nötig ist, den empirischen Stoff in eine theatergemäße Gestalt umzusetzen; sind Brechts Überlegungen von der nachzubildenden Realität bestimmt, so die Dürrenmatts von der Kunst; will Brecht mit seiner Kunst auf die Wirklichkeit zeigen, so baut Dürrenmatt theatralische Alternativen zur Wirklichkeit. 82 Knopf sieht die naturwissenschaftliche Entsprechung der Brechtschen Dramatik, ähnlich wie Buddecke, gerade in einem Theater, das ein allgemeines Weltbild exemplifiziert, deutet Dürrenmatt aber ostentativ anti-wissenschaftlich: „ Hier zeigt sich der größte Abstand [Dürrenmatts] zu Brecht, der Wissenschaft und Kunst gerade miteinander verbunden hat, in der Kunst die wissenschaftlichen Prinzipien fortsetzte. “ 83 Dass Dürrenmatt dies ebenso tut, dass er seine Fiktionen letztlich zwar nicht als Abbild-, jedoch als Strukturmodelle der Wirklichkeit vor dem Hintergrund eines induktiven Experimental- und Wissenschaftsbegriffes entwirft, weshalb sie sich kaum als 80 Rolf Müller: Komödie im Atomzeitalter. Gestaltung und Funktion des Komischen bei Friedrich Dürrenmatt. Frankfurt a. M. Univ., Diss. [1987]. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1988. (= Europäische Hochschulschriften Reihe 1 Bd. 1050). S. 1. 81 Ebd., S. 7. 82 Jan Knopf: Friedrich Dürrenmatt. 4., neubearb. Aufl. München: Beck 1988 (= Beck ’ sche Reihe Autorenbücher 611). S. 88. 83 Ebd., S. 89. 25 „ Alternativen zur Wirklichkeit “ verstehen lassen - ein Ausdruck, der Dürrenmatts Überzeugung zuwiderläuft, der Schriftsteller habe zuerst „ zu begreifen, daß er in dieser Welt zu leben hat. Er dichte sich keine andere [. . .] “ 84 - , ignoriert Knopf zugunsten der Behauptung eines von der Wissenschaft vollkommen losgelösten poetologischen Konzepts, welches die Kunst „ gegen die allgemeine Technologie der modernen Welt verteidigt. “ 85 Wer die Poetik Dürrenmatts - in expliziter Abwendung von Knopf - 1995 in einen exklusiv von der modernen Wissenschaft inspirierten Kontext stellt, ist Elisabeth Emter. In ihrer Studie „ Literatur und Quantentheorie “ kommt sie zu dem Ergebnis, dass Dürrenmatt nicht wie Brecht das Einzelne über das Allgemeine zu erreichen versucht, sondern „ das Unwahrscheinliche zum Gegenstand seiner Dramatik “ [macht], um die Unberechenbarkeit des Einzelschicksals zu demonstrieren. “ 86 Emter deutet Dürrenmatts Poetik in erster Linie quantentheoretisch, ja, sie unterstellt, der Autor ( „ Dürrenmatt überträgt die Erkenntnisse der Mikrophysik auf den Menschen [. . .]. “ 87 ), setze den Einzelnen, der und dessen Schicksal letztlich unberechenbar seien, mit dem kleinsten Teil quantenphysikalischer Natur gleich; seine Poetik der Unwahrscheinlichkeit sei daher unbedingt vor dem Hintergrund eines rein physikalischen Verständnisses zu sehen: Dürrenmatts Begriff der Unwahrscheinlichkeit muß im Kontext der modernen Physik betrachtet werden. Dieser Kontext ist für Dürrenmatt jedoch im wesentlichen über das erkenntnistheoretische Potential der modernen Physik, wie es vor allem in der Deutung Eddingtons vorliegt, vermittelt. 88 Eine Kritik an Emters Position könnte dort ansetzen, wo sie die Grenzen einer flexiblen Analogie von Kunst und Physik zugunsten der Behauptung eines regelrechten Transformationsprozesses in Dürrenmatts Denken überschreitet und dramaturgische Überlegungen des Autors selbst dort quantentheroretisch auslegt, wo er selbst tatsächlich auf existenziell-philosophischer Basis argumentiert - den Menschen in seiner Freiheit, unter Auslassung eines allgemeinen Weltbildes, nämlich nur darstellen zu können, indem er dessen fiktive Handlungen als der Wahrscheinlichkeit unterworfen betrachtet, immer mit dem Zusatz versehen, dass der Begriff des Wahrscheinlichen auch das Unwahrscheinliche mit einschließt. Emter ist der Ansicht, Dürrenmatt wolle „ einen Einzelfall darstellen, der sich für ihn nicht in der All- 84 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 67 85 Knopf 1988: S. 89 f. 86 Emter 1995: S. 264. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 269. 26 gemeinheit entfaltet “ 89 . Gegen diese These spricht allerdings der Modellcharakter, den Dürrenmatt seinen dramatischen Einzelfallstudien explizit zuerkennt und über den diese also über sich selbst als Einzelfall hinausweisen, indem sie die ahnbaren Strukturen einer menschlichen Wirklichkeit erkennen lassen. Spätestens aber bei dem Vergleich von Quanten und Menschen kommen berechtigte Zweifel an Emters Theorie auf, die in der Frage kulminieren, ob für den Menschen als ein bewusstes, fühlendes, denkendes Wesen derselbe Wahrscheinlichkeitsbegriff zugrunde gelegt werden kann, der in der Quantenphysik über die strukturelle Unbestimmtheit der Wirklichkeit hinweghilft. Es gibt Grund zu der Vermutung, dass Dürrenmatt seine experimentelle Poetologie eher als ein koevolutionäres Konzept entwickelt hat, denn als ein substanziell aus der Physik transformiertes. Es scheint, dass Dürrenmatt den Begriff der Wahrscheinlichkeit einführt als ein erkenntnistheoretisches Hilfskonstrukt, um den Menschen überhaupt in einem Bezug zur Wirklichkeit, ohne auf ein allgemeines Weltbild zu rekurrieren, künstlerisch darstellen zu können. Es ist wiederum Elisabeth Emter, die in dem Aufsatz „ Geschichte der Stoffe als Geschichte des Denkens. Dürrenmatts Gedankenexperiment Die Brücke im Kontext der modernen Physik “ ein zentrales Argument gegen die exakte Übertragbarkeit von Quantentheorie und Dürrenmatts dramaturgische Überlegungen und damit recht eigentlich gegen die eigene Theorie ins Feld führt: Der Erfolg der Quantenmechanik bei der Beschreibung der Welt der kleinsten Teilchen beruht darauf, daß sie sich mit Wahrscheinlichkeitsaussagen begnügt. Sie klammert den Einzelfall, der nicht exakt vorausgesagt werden kann, einfach aus. Der Einzelfall ist jedoch für Dürrenmatt genau das, was für den Menschen von Belang ist. Die Wirklichkeit des Menschen geht nicht in der Statistik auf. 90 Ob daher die Quantentheorie als ausschließlicher Bezugsrahmen für Dürrenmatts Poetik und seine künstlerischen Versuche gelten darf, bleibt fraglich, wenn nicht zweifelhaft. Vor diesem Hintergrund traf denn auch Emters Studie auf geteilte Meinungen. 91 Die Beschaffenheit des Dürrenmattschen Verhältnisses zu den Naturwissenschaften beschäftigt auch Ulrich Weber (2006) und Peter Rüedi (2011). 89 Ebd., S. 268. 90 Elisabeth Emter: Geschichte der Stoffe als Geschichte des Denkens. Dürrenmatts Gedankenexperiment Die Brücke im Kontext der modernen Physik. In: Die Verwandlung der ‚ Stoffe ‘ als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Hrsg. v. Peter Rusterholz u. Irmgard Wirtz. Berlin: Erich Schmidt 2000. S. 77 - 90. Hier: S. 86. 91 In vielen Fällen wird Emters Behauptung, Dürrenmatt übertrage die Quantentheorie auf die Kunst, einfach kritiklos übernommen, so z. B. von Meier. (Vgl.: Thomas Markus Meier: Dürrenmatt und der Zufall. Diss., Univ. Tübingen 2011. Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2012 (= Theologie und Literatur Bd. 26). S. 43.) 27 Beide beurteilen dieses allerdings deutlich moderater als Emter. Weber kommt zu dem Ergebnis, dass Dürrenmatt „ die Charakteristika seiner Poetik in impliziter oder expliziter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften - insbesondere der Physik - im 20. Jahrhundert [entwickelt]. “ 92 , wobei er insbesondere Vaihingers Fiktionstheorie in den Fokus rückt. 93 Rüedi argumentiert in ähnlicher Weise vage. Er beschreibt Dürrenmatt in dessen Beschäftigung mit den Naturwissenschaften als unerbittlichen Laien, der „ den Stand der mathematischen, physikalischen, astronomischen, kosmologischen, biologischen Erkenntnisse so wenig einholen konnte wie Achilles die Schildkröte “ 94 , und bezweifelt vor diesem Hintergrund, dass von einer lediglich einseitigen Beeinflussung Dürrenmatts durch die Quantanphysik die Rede sein kann: War das Huhn zuerst da oder das Ei? Dürrenmatt konnte jedenfalls im Umgang mit den Naturwissenschaften seine Auseinandersetzung mit den Spannungsfeldern zwischen Determination und Aleatorik, Kausalität und Zufall auf einem anderen Feld fortführen. 95 Bei der Beurteilung von Emters Arbeit bleibt Rüedi trotz Lob im Modus des Konjunktivs, wenn er konstatiert, sie zeige „ plausibel, dass die Beschäftigung mit der Quantentheorie Dürrenmatt in der Konkretisierung seiner ‚ Dramaturgie des Zufalls ‘ bestärkt haben könnte “ 96 . Beide, Weber und Rüedi, ebenso wie Emter, die den Begriff nur einmal erwähnt, vermeiden im Rahmen ihrer Betrachtungen übrigens den Begriff des Experiments und fokussieren sich explizit auf die Begriffe „ Fiktion “ und „ Eigenwelt “ für Dürrenmatts künstlerische Entsprechungen zu naturwissenschaftlichen Gedankengebäuden. Hierzu führt Rüedi in Anlehnung an Poppers physikalisches „ Vermutungswissen “ 97 , dem immer ein Glaube beigemischt sei, zu Dürrenmatts Kunst aus: Die Phantasie des Schriftstellers folgt den gleichen Denkstrukturen wie die Einbildungskraft des Physikers. Beides sind Versuche, der Welt ein Bild abzuringen: des Schriftstellers durch seine Fiktionen, des Wissenschaftlers durch seine Hypothesen. 98 92 Weber 2006: S. 111. 93 Vgl.: Ebd. 94 Peter Rüedi: Friedrich Dürrenmatt und die Ahnung vom Ganzen. Bild, Sprache, Gedanke: Der Stoff, aus dem die Stoffe sind. In: Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. Hrsg. v. Schweizerischen Literaturarchiv, Bern, u. Kunsthaus Zürich. Zürich: Diogenes 1994. S. 17 - 39. Hier: S. 31. 95 Rüedi 2011: S. 634. 96 Ebd., S. 635. 97 Karl R. Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. 6. Aufl. München: Piper 1991. S. 52. 98 Rüedi 2011: S. 627. 28 Diese Reflexionen zielen, auch wenn dies nicht ausdrücklich dargelegt wird, auf einen künstlerischen Experimentalbegriff, den Dürrenmatt strukturell in Analogie zu den modernen Wissenschaften, gleichzeitig aber auch in scharfer thematischer Abgrenzung zu diesen entwickelt. Sicher ist, dass, wie Weber und Rüedi darlegen, eine intensive Auseinandersetzung des Autors mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften dessen dramaturgische Überlegungen flankieren, sie sich daraus aber nicht hinlänglich herleiten lassen. Eine genaue Begriffsbestimmung des Experimentellen in der Literatur Dürrenmatts unterbleibt derweil bei beiden Autoren. Diese ist aber gerade für eine Beschreibung des Fiktionalen bei Dürrenmatt - seine Entstehung und seine kontrastive erkenntnistheoretische Dimension - unerlässlich. Einen flexiblen Experimentalbegriff, der die literarhistorische integrative Entwicklung der Verbindung von Experiment und Literatur als die Geschichte eines komplexen, inhaltlich und formal breitgestreuten Phänomens der Wissensherstellung umfasst, und das aus der Wissenschaft kommende Experiment in der Kunst ebenso wiederfindet wie die Literarizität in den Wissenschaften, legt die neueste literaturwissenschaftliche Forschung vor: Hervorgetreten sind mit umfassenden Kompendien vor allem Michael Gamper sowie Raul Calzoni und Massimo Salgaro. Gamper wendet sich in der Frage nach einem Zusammenspiel von Kunst und Experiment gegen einen Kritizismus, wie er etwa von Alfred Andersch und Hans Magnus Enzensberger vertreten wird, die dem Begriff des Experiments in der Kunst generell ablehnend gegenüberstehen. Er legt seiner Arbeit eine Definition des Experiments zugrunde, die darin „ ein Verfahren [erkennt], das in der Verschmelzung von performativen und repräsentativen Verfahren Kenntnisse hervorbringt - und zwar Kenntnisse, die sich einer gewissen provozierten Erfahrung verdanken. “ 99 Calzoni plädiert für eine „ differentiale Definition “ des Experiments in der Literatur: „ Es hängt erstens immer vom naturwissenschaftlichen Experimentbegriff ab, auf den es sich bezieht. Zweitens setzt sich eine ‚ experimentelle Literatur ‘ immer von einer ‚ klassischen ‘ oder ‚ traditionellen ‘ Tradition ab [. . .]. “ 100 Gampers Experimentbegriff geht darüber noch hinaus. Zwar negiert er nicht die Möglichkeit einer Beziehung von wissenschaftlichem und künstlerischem Experiment, löst ihn aber aus einer strengen analogischen Abhängigkeit zu einer „ irritationsresistenten Theo- 99 Gamper [2010]: S. 11. 100 Raul Calzoni: Das ‚ Experiment ‘ in der Literatur. Eine Einleitung. In: „ Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment “ . Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. Hrsg. v. Raul Calzoni u. Massimo Salgaro. Göttingen: V&R unipress 2010 (= Interfacing Science, Literature, and the Humanities/ Acume 2, Vol. 3). S. 11 - 28. Hier: S. 22. 29 rie “ 101 heraus und rekurriert auf einen „ spezifische[n] Fokus “ 102 und einen „ konkreten Kontext “ 103 ; diese seien nötig, um das Experiment in der Kunst überhaupt zu einer spezifischen Präsenz und Auslotung bringen zu können. 104 Verblüffend ist, dass sowohl bei Gamper als auch bei Calzoni und Salgari ein bestimmter Schweizer Schriftsteller - trotz eines überdeutlichen experimentellen Potenzials seiner Kunst - keinerlei Beachtung findet: Friedrich Dürrenmatt. Gamper erwähnt in dem der dreiteiligen literarhistorischen Buchreihe zugrunde liegenden theoretischen Band (2010) auf der vorletzten Seite im Rahmen einer überblicksartigen Auflistung mit einem Hinweis auf Emters Arbeit zwar die „‚ Dramaturgie des Unwahrscheinlichen ‘“ 105 Dürrenmatts, die mit „ quantentheoretischen Theoremen durchsetzt “ 106 sei; in dem Band, der sich anhand konkreter Beispiele und repräsentativer Autoren mit den künstlerischen Umsetzungen einer experimentellen Poetik zwischen 1890 und 2010 beschäftigt (2011), fehlt Dürrenmatt jedoch vollends. Auch in dem von Calzoni und Salgari 2010 herausgegebenen Sammelband erfährt Dürrenmatt keinerlei Berücksichtigung. Das ist umso erstaunlicher, als es sich bei dem Schweizer um einen Autor handelt, der sowohl ein enges Verhältnis zu den Naturwissenschaften auf der Grundlage einer jahrzehntelangen intensiven Beschäftigung mit diesen pflegt, als auch als exponierter Vertreter einer Dramatik gelten darf, welche auf die Erlangung des Neuen und die Generierung von Erkenntnis im experimentellen Schreibakt gerichtet ist. 101 Michael Gamper: Einleitung. In: Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Hrsg. v. Michael Gamper. Göttingen: Wallstein [2010]. S. 9 - 14. Hier: S. 10. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Vgl.: Ebd. 105 Michael Gamper: Experimentelles Nicht-Wissen. Zur poetologischen und epistemologischen Produktivität unsicherer Erkenntnis. In: Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Hrsg. v. Michael Gamper. Göttingen: Wallstein 2010. S. 511 - 545. Hier: S. 544. 106 Ebd. 30 2. Hauptteil 2.1 Das Experiment im Spannungsfeld von Kunst und Naturwissenschaft 2.1.1 Die enzyklopädische Definition des Begriffs „ Experiment “ Um die Art und Weise der künstlerischen Entfaltung des Experimentellen in der Kunst Dürrenmatts, seiner Hinwendung zu einer der wissenschaftlichen Erkenntnismethodik äquivalenten Bestimmung des Experiments in der Kunst sowie seiner offenkundigen approximativ-kritischen Transformation wissenschaftlicher Erkenntnis und durch die Wissenschaften generierter Meinungsbilder in Poetik und Kunst beschreiben und somit dem in der literaturwissenschaftlichen Dürrenmatt-Forschung bestehenden vielstimmigen Dissens eine klare Analyse gegenüberstellen zu können, ist es nötig, zuerst den Begriff des Experiments in seinem wissenschaftlichen Bezug und anschließend in seiner Beziehung zur Kunst zu definieren. Hierzu sei als erstes ein Beitrag aus der „ Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften “ zitiert, in dem es heißt: EXPERIMENT - E. ist ein methodisches Verfahren zur Gewinnung bzw. Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das E. ist Kernstück der experimentellen Methode, zu der neben der eigentlichen Experimentausführung dessen Vorbereitung und dessen Ausführung gehören. Umgangssprachlich werden auch Unternehmungen, deren Ausgang höchst unsicher ist, verschiedentlich als E. bezeichnet. Dann steht das Wort für ungewisse ‚ Versuche ‘ (lat. experimentum) bzw. mehr oder minder regelloses ‚ Probieren ‘ . Darüber hinaus werden manche Kunstrichtungen als experimentelle charakterisiert. Damit sind in der Regel spezifische Darstellungsmethoden (etwa des Dadaismus, des Konstruktivismus u. a.) gemeint. Im folgenden geht es ausschließlich um das E. als eine regelgeleitete wissenschaftliche Erkenntnismethode, dessen Stellung im Methodengefüge der Wissenschaften und der mit dem E. aufgeworfenen erkenntnistheoretischen Probleme. E. werden ausgeführt, um wesentliche Zusammenhänge zwischen Objekten und Prozessen in Natur, Gesellschaft und im Denken zu erkennen. Sie münden zwar in Beobachtungen [. . .] oder Messungen, sind aber einfachen Beobachtungen methodisch weit überlegen. Entscheidend dafür ist, daß im E. ein Teil der für das Verhalten der Objekte bzw. Prozesse relevanten Bedingungen vom Experimentator durch den Einsatz geeigneter technischer Hilfsmittel bewußt und planmäßig gestaltet und auch von Versuch zu Versuch im Rahmen eines E. variiert werden kann. Damit befreit sich das erkennende Subjekt von dem Zwang, die zufällige Realisierung der für die jeweiligen Zusammenhänge günstigen Beobachtungsbedingungen abwar- 31 ten zu müssen. [. . .] Andererseits ist zu berücksichtigen, daß nicht alle Objekte und Prozesse [. . .] experimentell untersucht werden können bzw. aus ethischen Gründen (etwa in der Psychologie oder Medizin) nur bedingt Experimenten unterworfen werden dürfen. In diesen Bereichen erlangen Modellbildungen [. . .] und Beobachtungen besondere Bedeutung zur Gewinnung bzw. Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse. E. sind gegenüber einfachen Beobachtungen durch einen höheren Grad der Aktivität des erkennenden Subjekts im Erkenntnisprozess charakterisiert; ihr Wesen besteht aber ebenso wie das von Beobachtungen darin, objektiver Analysator der Wirklichkeit innerhalb der Subjekt-Objekt-Dialektik des Erkenntnisprozesses zu sein. 1 Diese Definition macht deutlich, vor welche Schwierigkeiten sich eine Kunst gestellt sieht, die den Begriff des Experiments als einen auf Erkenntnis ausgerichteten methodischen Prozess für ihre Ziele nutzen möchte. Jenseits der hier als experimentell gekennzeichneten Kunstrichtungen, um die es bei Dürrenmatt und somit in der vorliegenden Arbeit nicht gehen kann, stellt gerade die Wissenschaftlichkeit, die im Rahmen eines realen Versuchsaufbaus in der wiederholbaren, regelgeleiteten Durchführung und exakten Messung der Ergebnisse besteht, eine unüberwindliche Hürde dar. In einer epistemologischen Kunst muss also eine begriffliche Öffnung stattfinden, die zwar strukturell die Konstituenten des wissenschaftlichen Experiments - Vorbereitung, Anordnung, Durchführung und Ergebnisprotokoll - beibehalten kann, jedoch hinsichtlich der Objektivität und exakten Messung realer Naturvorgänge wissenschaftlichen Anforderungen nicht standhält und gar nicht standhalten kann. Gamper plädiert daher dafür, innerhalb des Themenkomplexes Experiment und Kunst „ die Möglichkeit einer sinnvollen Beschränkung auf eine theoretische Methodenlehre [zu] bezweifeln “ 2 und anstelle der Natur auch die Erfahrung als Arbeitsmaterial gelten zu lassen. 3 In der Kunst, sieht man von eigens von Künstlern selbst durchgeführten wissenschaftlichen Experimenten ab, können Versuche nur in der Phantasie durchgeführt werden, allein mit Hilfe der Sprache, die zwar eine auf die Lebenswelt verweisende Inhaltsseite hat, die aber im Moment der Versuchsdurchführung auf keine im Labor konkret gegebene separierte, präparierte und zu messende natürliche Realität Bezug nimmt. Exakte Messung und Eindeutigkeit im Ergebnis müssen hier von Intuition, Vorstellungskraft, Phantasie und Mehrdeutigkeit ersetzt werden - was schon deshalb unumgänglich ist, weil sich die Natur des Menschen apparativ nicht messen lässt, unquantifizierbar ist und 1 Ulrich Röseberg: Art. ‚ Experiment ‘ . In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Bd. 1. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1990. S. 977 - 980. Hier: S. 977. 2 Gamper [2010]: S. 11. 3 Vgl.: Ebd., S. 10. 32 somit höchstens theoretisch-philosophisch beschrieben oder künstlerisch fiktional dargestellt werden kann. Dass darüber hinaus Begriffe wie Intuition, Phantasie, Kreativität und Vorstellungskraft auch in den exakten Wissenschaften eine immer bedeutendere Rolle spielen, hebt eine strukturelle Ähnlichkeit beider Sphären hervor, die es sich auf unterschiedliche Weise zur Aufgabe gemacht haben, die Natur zu erforschen. Ein Blick auf zentrale wissenschaftstheoretische Positionen zum Experiment - gerade auch von Autoren, die nachweislich einen elementaren Einfluss auf Dürrenmatt hatten - wird eine Zuordnung des Experimentellen innerhalb seiner Kunstauffassung erleichtern bzw. erst ermöglichen. 2.1.2 Wissenschaftstheoretische Positionen zum Experiment 2.1.2.1 Etymologische Definition Der Begriff Experiment stammt aus dem Lateinischen, von experiri = einen Versuch machen, versuchen, erproben, prüfen, sich im Kampf mit jemandem messen, mit jemandem anbinden, mit jemandem gerichtlich streiten, etwas riskieren, es auf etwas ankommen lassen, durch eigene Erfahrung kennenlernen, an sich erfahren, erleben, (Unangenehmes) erleiden, durchmachen, bestehen; von experimentum = Versuch, Probe, Versuchsobjekt, Probestück, Beweismittel, Erfahrungsbeweis und experientia = Versuch, Probe, Erfahrung, Übung. Im naturwissenschaftlichen Kontext hat dieser Terminus eine lange Tradition und durch die Geschichte - angefangen bei Francis Bacon (1561 - 1626), der als der Pionier der modernen Naturwissenschaft und als Verfechter der experimentell-induktiven Methode gilt, über Galileo Galilei (1564 - 1642), Johannes Kepler (1571 - 1630), Isaac Newton (1643 - 1727), James Clerk Maxwell (1831 - 1879) und Albert Einstein (1879 - 1955) bis hin zur Teilchenphysik des 20. und 21. Jahrhunderts - unzählige Modifikationen und Abwandlungen sowie Übertragungen in andere Wissenschaftsbereiche erfahren, Weltbilder durchlaufen, Theorien begleitet, begründet, bewiesen und widerlegt. Ungeachtet dessen, verfügt das naturwissenschaftliche Experiment über konstante Elemente, etwa seine Bedeutung als anerkanntes regelgeleitetes Verfahren zur Verifizierung oder Falsifizierung einer Hypothese, das den Anspruch der Nachvollziehbarkeit zu erfüllen hat und willkürlich, d. h. jederzeit unter gleichen Bedingungen überprüfbar und wiederholbar sein muss. Hieraus ergibt sich sein Wert als funktionelle, regelgeleitete Methode zur Befragung der Natur mit technischen Hilfsmitteln zu deren Messung. Außerdem haben sich die Verfahren der Induktion und der Deduktion herausgebildet: Jene schließt von Einzelergebnissen auf eine 33 allgemeine Gesetzgebung, eine Hypothese oder Theorie, diese bestätigt ein allgemeines Gesetz mit Hilfe von nach diesem Gesetz ausgedachten Experimenten oder widerlegt es. 2.1.2.2 Immanuel Kant Mit der „ Kritik der reinen Vernunft “ vollzieht Immanuel Kant 1781, indem er Empirismus und dogmatischen Rationalismus einer Synthese zuführt, einen Paradigmenwechsel im Denken, der unter dem Begriff der Kopernikanischen Wende in der Philosophie berühmt geworden ist und seither - mit Einfluss bis in die heutige Gegenwart - als Grundstein modernen Denkens gilt. Einen zentralen, das erkenntnistheoretische System Kants repräsentierenden Satz stellt die Experimentaldefinition aus der Vorrede zur zweiten Auflage von 1787 dar. Sie fasst ein Denken zusammen, das die Vernunft zur zentralen Instanz der menschlichen Erkenntnis sinnlicher Empfindungen erhebt und im wissenschaftlichen Experiment seine prozessual-systematische Anwendung findet: Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. 4 Mit dieser Konzeption entwickelt Kant die wissenschaftstheoretische Legitimation und Untermauerung der Newtonschen Physik, inauguriert sie als strenge Wissenschaft und stellt, indem die Natur gezielt nach Maßgabe einer Gesetzmäßigkeiten aufstellenden Vernunft befragt und gezwungen wird, Auskunft zu erteilen, das Experiment in den Dienst einer Vermittlung zwischen bestimmendem Subjekt und sich fügendem Objekt. Er schreibt ihm also eine besondere Bedeutung bei der ordnungsgemäßen Deduktion von natürlichen Einzelerscheinungen auf der Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung zu: Sie [die Naturforscher] begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Principien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nöthigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem nothwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. 5 4 Kant 1995: S. 29. 5 Ebd., S. 28 f. 34 Dürrenmatt rekurriert oft auf Kant und die „ Kritik der reinen Vernunft “ , kritisiert aber dessen Postulat von der strikten Trennung von Glauben und Wissen 6 - zwei Kategorien, die für Dürrenmatt erkenntnistheoretisch nicht voneinander zu trennen sind - und ist, ebenso wie zahlreiche zeitgenössische Wissenschaftstheoretiker, der Ansicht, dass die moderne Physik die Kantsche Vernunftkritik „ weiterentwickelt und widerlegt “ habe. 7 Gleichwohl stellt das Wissen an sich für Dürrenmatt seit Kant ein unlösbares Problem dar. 8 2.1.2.3 Johann Wolfgang Goethe Auch Goethe beschäftigt sich - in Anlehnung an Kant, ohne diesen allerdings zu erwähnen - mit dem naturwissenschaftlichen Experiment als der künstlichen Herbeiführung von Beobachtungsbedingungen, wobei er zwischen beabsichtigten, also erwarteten, und sich aus dem Experiment unerwartet ergebenden Ergebnissen unterscheidet. In dem Aufsatz „ Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt “ von 1792 heißt es: Wenn wir die Erfahrungen, welche vor uns gemacht worden, die wir selbst oder andere zu gleicher Zeit mit uns machen, vorsätzlich wiederholen und die Phänomene, die teils zufällig, teils künstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen wir dieses einen Versuch. Der Wert eines Versuchs besteht vorzüglich darin, dass er, er sei nun einfach oder zusammengesetzt, unter gewissen Bedingungen mit einem bekannten Apparat und mit erforderlicher Geschicklichkeit jederzeit wieder hervorgebracht werden könne, so oft sich die bedingten Umstände vereinigen lassen. 9 Goethe betrachtet das Experiment im Übrigen streng von der Kunst separiert, insofern der Künstler sein Werk als Ergebnis losgelöst von dessen gedanklicher und schöpferischer Entstehung präsentiert, der Wissenschaftler jedoch die Genesis seiner Erkenntnisse so nachzuzeichnen habe, dass eine willkürliche Wiederholung des Experiments jederzeit möglich sei: Man hat daher in wissenschaftlichen Dingen gerade das Gegenteil von dem zu tun, was der Künstler rätlich findet: denn er tut wohl, sein Kunstwerk nicht öffentlich sehen zu lassen, bis es vollendet ist [. . .]. In wissenschaftlichen Dingen hingegen ist es schon nützlich, jede einzelne Erfahrung, ja Vermutung öffentlich mitzuteilen; und es ist höchst rätlich, ein wissenschaftliches Gebäude nicht eher aufzuführen, bis der Plan dazu und die Materialien allgemeinbekannt, beurteilt und ausgewählt sind. 10 6 Vgl.: Das Haus, WA 29 123 f. 7 Das Haus, WA 29 122 f. 8 Vgl.: Das Haus, WA 29 124 9 Johann Wolfgang Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt. In: Ders.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Bd. 16. Hrsg. v. Ernst Beutler. Zürich: Artemis 1949. S. 844 - 855. Hier: S. 848. 10 Ebd., S. 847 f. 35 Einen erkenntnistheoretischen Grundgedanken, der erstmals von David Hume in dessen 1740 erschienenen Schrift „ A Treatise of Human Nature “ formuliert und im 20. Jahrhundert von Karl Popper wiederaufgenommen und weiterentwickelt wird, nämlich das sog. Induktionsproblem, das die Schwierigkeit thematisiert, von beobachteten Einzelphänomenen auf deren kausales Verhältnis als Ursache und Wirkung, also auf eine natürliche Grundsätzlichkeit zu schließen, wird auch von Goethe angesprochen. Er gibt zu bedenken, dass der Forscher sich nicht vorschnell aus persönlichen, subjektivistischen Motiven zu Schlussfolgerungen verleiten lassen dürfe, die nicht bewiesen sind: Man kann sich daher nicht genug in acht nehmen, aus Versuchen nicht zu geschwind zu folgern: denn beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens sowohl den handelnden Weltmann als auch den stillen, vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter. 11 2.1.2.4 Friedrich Nietzsche Der stark am Systemdenken Kants, Hegels und Schopenhauers orientierten Philosophie seiner Zeit sowie einer von Deduktivismus und Selbstsicherheit geprägten Physik, deren Erkenntnisse zur Industrialisierung und zum Glauben an die Beherrschbarkeit der Welt führen, stellt Friedrich Nietzsche in „ Die fröhliche Wissenschaft “ , die erstmals 1882 erscheint, ein experimental-philosophisches Werk entgegen, das von einer tiefen Skepsis allen Postulaten umfassender Erkenntnis innerhalb eines aufgestellten Systems gegenüber angeleitet ist. Nietzsches Parole ist der Widerspruch, das In-Frage-Stellen, die Weigerung, postulierte Wahrheiten eines Systems anzuerkennen, das axiomatischen Voraussetzungen folgt, Prämissen, die unhinterfragt bleiben: Fienge nicht die Zucht des wissenschaftlichen Geistes damit an, sich keine Ueberzeugungen mehr zu gestatten? . . . So steht es wahrscheinlich: nur bleibt übrig zu fragen, ob nicht, damit diese Zucht anfangen könne, schon eine Ueberzeugung da sein müsse, und zwar eine so gebieterische und bedingungslose, dass sie alle anderen Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt. 12 11 Ebd., S. 848 f. 12 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Stuttgart: Reclam 2000 (= Reclams Universalbibliothek Nr. 7115). S. 235. 36 Dem Dogma des Denkens setzt Nietzsche ein „ pluralistisches Universum “ 13 entgegen. Er ist der Auffassung, Philosoph und Wissenschaftler müssen mutig auf dem Weg zur Erkenntnis vorangehen, in gedanklicher Offenheit, mit der Bereitschaft, auch die eigene Meinung zu revidieren und „ überhaupt in Bezug auf Alles, was in uns fest werden will, misstrauisch zu sein “ 14 . Dem Experiment kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Mit seiner Hilfe sei es möglich, sich dem Korsett eines erstarrten Weltbildes zu entwinden, diesem eine mannigfaltige Menge kleiner Erkenntnisse aus vielen Beobachtungen entgegenzusetzen und damit viel eher einer Natur zu entsprechen, die sich laut Nietzsche vielleicht nicht ohne Grund „ hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat “ 15 : Wahrheitssinn. - Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu antworten: ‚ Versuchen wir ’ s! ‘ Aber ich mag von allen Dingen und Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören. Diess ist die Grenze meines ‚ Wahrheitssinns ‘ : denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht verloren. 16 Nietzsche plädiert für die Unabgeschlossenheit eines systemfreien Denkens. In einem nachgelassenen Fragment aus dem Frühjahr 1880 sinniert er über den menschlichen Willen und stellt eine Definition des Experiments auf, die zwar auch als eine Beschreibung einer naturwissenschaftlichen Verfahrensweise gelesen werden kann, viel eher aber das Experimentelle im praktischen Leben des Menschen als eine natürliche Kategorie und als Mittel einer schrittweisen Bewusstseinsausbildung erkennt: „ In Wahrheit heißt etwas wollen, ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir ‚ können ‘ ; darüber kann uns allein der Erfolg oder Mißerfolg belehren. “ 17 Die ethische Komponente dieses Satzes lässt sich nicht übersehen. Nietzsche sieht im Experiment ein Mittel der Selbst- und der Welterfahrung und, indem er es mit dem freien menschlichen Willen koppelt, auch eine Machtkomponente, die darin besteht, aus freien Stücken, planvoll und zielgerichtet auf die Außenwelt einzuwirken. Mit Hilfe von eigenen individuellen Versuchen - dafür steht der Nietzsches Experimentalphilosophie konkretisierende Satz Pindars „ Werde, der du bist “ - ist der Mensch in der Lage, sein eigenes Wertesystem und sich selbst zu einem selbstbestimmten Individuum zu entwickeln. 13 Walter Kaufmann: Nietzsche. Philosoph, Psychologe, Antichrist. Aus d. Amerikan. übers. v. Jörg Salaquarda. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982. S. 88. 14 Nietzsche 2000: S. 197. 15 Ebd., S. 14. 16 Ebd., S. 77. 17 Friedrich Nietzsche: Fragment 3 [120]. In: Ders.: Nachgelassene Fragmente 1880 - 1882. Kritische Studienausgabe 9. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzoni Montinari. Neuausgabe. München: DTV 1999. S. 86. 37 2.1.2.5 Wilhelm Wundt Zur wissenschaftstheoretischen Untermauerung der Psychologie entlehnt Wilhelm Wundt, der aber nicht nur Psychologe, sondern auch Physiker und Philosoph war, den Experimentalbegriff der Naturwissenschaften. In seinem „ Grundriss der Psychologie “ von 1886 unterscheidet er zwischen Experiment und Beobachtung: Das Experiment besteht in einer Beobachtung, die sich mit der willkürlichen Einwirkung des Beobachters auf die Entstehung und den Verlauf der zu beobachtenden Erscheinungen verbindet. Die Beobachtung im engeren Sinn untersucht die Erscheinungen ohne derartige Einwirkungen, so wie sie sich in dem Zusammenhang der Erfahrung von selbst dem Beobachter darbieten. 18 Diese Unterscheidung bezieht Wundt sowohl auf die Psychologie als auch auf die Naturwissenschaften: Im Experiment ist es im Grunde erst die willkürliche, willentliche Einwirkung des Experimentators sowohl auf die Experimentalanordnung als auch auf deren Verlauf, durch welche eine Beobachtung eine systematische Qualifikation erhält. Das Handeln des Experimentators, sei es zur Modifikation bestimmter Variablen, um deren Auswirkungen zu prüfen, oder als eine Form der experimentellen Manipulation, um innerhalb komplexerer Experimente deren ordnungsgemäßen Fortgang flexibel steuern zu können, ist es letztlich, was die Erkenntnis von Kausalitäten und Abhängigkeiten provoziert und damit über die Protokolle loser, u. U. zufälliger Beobachtungen hinausgeht. Wundt nimmt damit einen Gedanken auf, der für die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts von wachsender Bedeutung sein wird: Der Experimentator selbst gewinnt durch seine individuelle Art des Experimentierens Einfluss auf Verlauf und Ergebnis eines Versuchs - und somit auch auf die Erkenntnis, die daraus zu ziehen ist. 2.1.2.6 Ernst Mach Einen wesentlichen, stark empirisch geprägten Beitrag zum Experiment liefert auch Ernst Mach. In dem bereits in Teilen 1897 veröffentlichten Aufsatz „ Über Gedankenexperimente “ bezeichnet er die menschliche Neigung zum Experimentieren als eine instinktive, die bereits am Kleinkind zu beobachten ist und Relevanz nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch im praktischen Leben der Menschen hat, was nämlich dann spürbar und ersichtlich wird, wenn diese - Mach zitiert „ das sprichwörtliche ‚ Vorgetan und Nach- 18 Wilhelm Wundt: Grundriss der Psychologie. 6., verb. Aufl. Leipzig: Wilhelm Engelmann 1896. S. 25. 38 bedacht ‘“ 19 - sich etwas vornehmen, es ausführen und am angestrebten Ziel vorbeigehen. Der wissenschaftliche Experimentator hat sein Experiment intellektuell vorzubereiten, ja zu antizipieren, bevor er zur Tat schreitet und es als tatsächliches Experiment umsetzt. In dem Maße, in dem systematisches Denken und Erkundungswille an diesem Vorgang beteiligt sind, gelangt es zur Wissenschaftlichkeit: „ Das durch Denken geleitete Experiment begründet die Wissenschaft, erweitert mit Bewußtsein und Absicht die Erfahrung. “ 20 In dem Aufsatz „ Das physische Experiment und dessen Leitmotive “ führt Mach den strukturellen Zusammenhang von tatsächlich durchgeführtem Experiment und Gedankenexperiment als dessen prinzipiell vorangehendes und dieses stets begleitendes Verfahren weiter aus: Das Experiment kann als die selbsttätige Aufsuchung neuer Reaktionen, bezw. neuer Zusammenhänge derselben bezeichnet werden. Das physische Experiment haben wir schon als die natürliche Fortsetzung des Gedankenexperiments kennen gelernt, welche überall da eintritt, wo eine Entscheidung durch ersteres zu schwierig, oder zu unvollständig, oder unmöglich ist. 21 Mach definiert die Methode des Experiments als die der Variation von Elementen. Sein Grundgedanke ist ein systemischer, der darin besteht, dass innerhalb einer Anordnung verschiedene Elemente miteinander korrelieren und die Veränderung eines Elements Auswirkungen auf die anderen Elemente des Systems hat. Hierin liegt der Reiz, aber auch die Schwierigkeit des Experiments begründet: Wächst die Zahl der Elemente, so steigt die Zahl der durch den Versuch zu erprobenden Kombinationen, wie einfache Rechnungen lehren, so rasch, daß eine systematische Erledigung der Aufgabe immer schwieriger und schließlich praktisch unmöglich wird. [. . .] Wenn wir also an eine experimentelle Untersuchung gehen, so wissen wir wenigstens ungefähr, von welchen Umständen wir vorläufig absehen können. 22 19 Ernst Mach: Über Gedankenexperimente. In: Ders.: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Unveränd. reprograf. Nachdruck d. 5., mit der 4. übereinstimmenden Aufl. Leipzig 1926. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980. S. 183 - 200. Hier: S. 187. 20 Ebd., S. 186. 21 Ernst Mach: Das physische Experiment und dessen Leitmotive. In: Ders.: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Unveränd. reprograf. Nachdruck d. 5., mit der 4. übereinstimmenden Aufl. Leipzig 1926. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980. S. 201 - 219. Hier S. 201. 22 Ebd., S. 203. 39 2.1.2.7 Pierre Duhem 1906 veröffentlich der französische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Pierre Duhem sein Werk „ Ziel und Struktur der physikalischen Theorien “ , in dem er einen für die moderne Wissenschafts- und Erkenntnistheorie wegweisenden Gedanken zum Experiment formuliert. Seiner Ansicht nach teilt sich das physikalische Experiment in zwei Teile: Es besteht in erster Linie in der Beobachtung gewisser Tatsachen. Um diese Beobachtung ausführen zu können, genügen Aufmerksamkeit und aufnahmsfähige Sinne. [. . .] Sie [die Beobachtung] besteht in zweiter Linie in der Interpretation der beobachteten Tatsachen. 23 Duhem positioniert das Experiment damit als Teil eines Gedankenprozesses, innerhalb dessen sein Erkenntniswert nicht nur in der Anschauung bestimmter provozierter Phänomene besteht, sondern vor allem auch in deren Deutung und Auslegung. Um diese ordnungsgemäß durchführen zu können, ist nach Duhem eine genaue Kenntnis der physikalischen Zusammenhänge und der Theorie, die zugrunde gelegt wird, nötig, in deren Rahmen physikalische Experimente überhaupt nur richtig, d. h. zusammenhängend und theoriegebunden, gedeutet werden können: Ein physikalisches Experiment ist die genaue Beobachtung einer Gruppe von Erscheinungen, die verbunden wird mit der INTERPRETATION derselben; diese Interpretation ersetzt das konkret Gegebene, mit Hilfe der Beobachtung wirklich Erhaltene durch abstrakte und symbolische Darstellungen, die mit ihnen übereinstimmen auf Grund der Theorien, die der Beobachter als zulässig annimmt. 24 Im Gegenzug zum physikalischen Experiment beschreibt Duhem das gewöhnliche, also nicht-physikalische Experiment als eines, für das diese genannten Bedingungen nicht gelten: „ Das Resultat des gewöhnlichen Experiments ist die Konstatierung einer Beziehung zwischen verschiedenen konkreten Tatsachen. Eine bestimmte Tatsache wurde künstlich hervorgebracht, eine andere resultierte daraus. “ 25 Die Durchführung eines physikalischen Experiments dient nach Duhem nun keineswegs ausschließlich dazu, konkrete Tatsachen zu konstatieren, ihr Sinn liegt vielmehr in der Formulierung interphänomenaler Kausalitäten: „ Es [das Resultat] ist der Ausdruck eines Urteils, das gewisse abstrakte symbolische Begriffe mit einander verbindet, deren Abhängigkeit von den wirklich beobachteten Tatsachen allein 23 Pierre Duhem: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. Autoris. Übers. v. Friedrich Adler. M. e. Vorwort v. Ernst Mach. M. e. Einl. u. Bibliogr. hrsg. v. Lothar Schäfer. Hamburg: Felix Meiner 1998 (= Philosophische Bibliothek Bd. 477). S. 189 f. 24 Ebd., S. 192. 25 Ebd., S. 193. 40 durch die Theorien hergestellt wird. “ 26 Einen ähnlichen Gedanken formuliert Dürrenmatt in den „ Nachgedanken “ : „ Eine rein objektive Wissenschaft halte ich für unmöglich, Begreifen ist ein Interpretationsproblem. “ 27 2.1.2.8 Albert Einstein 1914 spricht Albert Einstein in seiner „ Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften “ über die „ Prinzipien der theoretischen Physik “ . Er umschreibt darin die Arbeit seiner Disziplin als eine engagierte Integration von theoretischer und experimenteller Forschung, die in der Form einer gegenseitigen Befruchtung eine Fortschrittsbewegung initiiert und dadurch zu einer reziproken Korrelation von Induktion und Deduktion führt, wobei er eine generelle Schwierigkeit der induktiven Vorgehensweise thematisiert: Die Methode des Theoretikers bringt es mit sich, daß er als Fundament allgemeine Voraussetzungen, sogenannte Prinzipe, braucht, aus denen er Folgerungen deduzieren kann. [. . .] Hier gibt es keine erlernbare, systematisch anwendbare Methode, die zum Ziele führt. Der Forscher muß vielmehr der Natur jene allgemeinen Prinzipe gleichsam ablauschen, indem er an größeren Komplexen von Erfahrungstatsachen gewisse allgemeine Ziele erschaut, die sich scharf formulieren lassen. 28 Ein grundlegendes Problem, aber auch Ansporn und Grund zu weiterer Erkenntnisentwicklung erkennt Einstein in experimentellen Ergebnissen, die sich einem solchen Prinzip nicht oder noch nicht unterordnen lassen: Wir haben festgestellt, daß die induktive Physik an die deduktive und die deduktive Physik an die induktive Fragen stellt, deren Beantwortung die Anspannung aller Kräfte erfordert. Möge es bald gelingen, durch vereinte Arbeit zu endgültigen Fortschritten vorzudringen! 29 Dürrenmatt setzt sich an verschiedenen Stellen mit Einstein und der grundlegenden Beziehung von Induktion und Deduktion auseinander, wobei er Einsteins Einschätzung teilt, wie er in den „ Nachgedanken “ ausführt, dass es „ logisch keinen sicheren Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine, von der Beobachtung auf die Idee [gibt] “ 30 , dass es vielmehr eines Gedankensprunges bedarf, um zu einer Theorie zu gelangen. „ Dieser Sprung verlangt 26 Ebd. 27 Nachgedanken, WA 35 179 28 Albert Einstein: Prinzipien der theoretischen Physik. Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften. In: Ders.: Mein Weltbild. Hrsg. v. Carl Seelig. 31. Auflage. [o. O.]: Ullstein 2010. S. 122 - 125. Hier: S. 123. 29 Ebd., S. 125. 30 Nachgedanken, WA 35 167 41 Phantasie, Intuition, aber auch Kühnheit, die Pedanterie des Logischen zu verlassen. “ 31 2.1.2.9 Werner Heisenberg Die Kategorie der experimentellen Beobachtung selbst erlangt durch die Quantenphysik im 20. Jahrhundert eine dramatische, einschneidende Wendung; und zwar durch die 1927 erstmals formulierte „ Heisenbergsche Unschärferelation “ . Sie besagt, dass Ort und Impuls eines Teilchens nicht zugleich mit beliebiger Genauigkeit gemessen werden können: „ Wenn wir die eine Größe mit großer Genauigkeit kennen, können wir die andere nicht mit hoher Genauigkeit bestimmen, ohne die erste Kenntnis wieder zu verlieren. “ 32 Für Heisenberg sind hierfür zwei wesentliche Gründe verantwortlich: Zum einen, dass ein Quantum sich noch nicht einmal theoretisch genau erfassen lässt, zum anderen, dass der Beobachtungseingriff Auswirkungen auf das beobachtete Phänomen selbst hat, so dass eine konkrete Bestimmung, wie sie von der klassischen Physik angenommen und zur Vorhersagbarkeit physikalischer Phänomene gesetzt worden war, für die neue Physik unmöglich wird. Dies hat die Einführung der Wahrscheinlichkeitsfunktion zur Folge, also eines Begriffes, der bis dato in der Physik keine Rolle spielte, und nun mit weitreichenden Folgen zu einer approximativen Beschreibung der Wirklichkeit herangezogen wird: Wir könnten uns z. B. für die Bewegung eines Elektrons in einer Nebelkammer interessieren und könnten durch irgendeine Beobachtung die Anfangslage und Geschwindigkeit des Elektrons bestimmen. Aber diese Bestimmung kann nicht genau sein. Sie wird zum mindestens die Ungenauigkeiten enthalten, die aus den Unbestimmtheitsrelationen zwangsläufig folgen, und sie wird außerdem wahrscheinlich noch sehr viel größere Ungenauigkeiten enthalten, die durch die Schwierigkeiten des Experiments bedingt sind. [. . .] Eine Wahrscheinlichkeitsfunktion wird niedergeschrieben, die die experimentelle Situation zur Zeit der Messung darstellt, einschließlich der möglichen Ungenauigkeit der Messung. 33 Eine wichtige Komponente dieser Entwicklung der Physik, die anstelle distinkter Werte nun Tendenzen der Wirklichkeit setzt, ist das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität. Objektivität ist nach Heisenberg unbedingt anzunehmen, insofern eine feste Wahrscheinlichkeitsfunktion mittels der berechneten Kontinuität infolge einer Vielzahl von Versuchen gegeben ist, 31 Nachgedanken, WA 35 168 32 Werner Heisenberg: Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie. In: Ders.: Physik und Philosophie. 7. Auflage. Mit einem Beitrag von Günther Rasche und Bartel L. van der Waerden. Stuttgart: S. Hirzel 2007. S. 67 - 85. Hier: S. 74. 33 Ebd., S. 68. 42 Subjektivität aber für den Einzelfall des Wissenschaftlers gilt, da er andere Beobachtungsergebnisse erzielen kann als ein Kollege, der das gleiche Experiment durchführt: Eben aus diesem Grunde kann das Ergebnis einer Beobachtung im allgemeinen nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden. Was man vorhersagen kann, ist die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Ergebnis der Beobachtung, und diese Aussage kann nachgeprüft werden, indem man das Experiment viele Male wiederholt. 34 Heisenbergs Schlussfolgerung ist, dass die Quantentheorie vor dem Hintergrund einer bestehenden und empirisch nachgewiesenen Wahrscheinlichkeitsfunktion einerseits „ keine eigentlich subjektiven Züge [enthält], sie führt nicht den Geist oder das Bewußtsein des Physikers als einen Teil des Atomvorgangs ein “ 35 , andererseits ein subjektives Element in dem Sinne enthalten ist, als „ die Meßanordnung ja vom Beobachter konstruiert worden [ist]; und wir müssen uns daran erinnern, daß das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist. “ 36 Heisenberg grenzt das „ Paradoxon der Quantentheorie “ in diesem Sinne vom Ideal einer objektiven Physik ab, die im Newtonschen Verständnis ein festgefügtes naturwissenschaftliches System darstellt - und führt einen neuen Experimentalbegriff ein, der sich dadurch auszeichnet, dass „ [d]er Übergang vom Möglichen zum Faktischen [. . .] während des Beobachtungsaktes statt- [findet] “ 37 und die Wahrscheinlichkeitsfunktion einer „ unstetige[n] Änderung [. . .] im Moment der Registrierung “ 38 unterworfen ist. 2.1.2.10 Hugo Dingler Der Wissenschaftstheoretiker und Philosoph Hugo Dingler legt 1928, an der Schwelle zu einem neuen Denken, während Relativitäts- und Quantentheorie die alte Physik mit Wucht revolutionieren, eine systematische Analyse des Experiments vor, in der er sich klar gegen den Empirismus Machs positioniert. In seinem Werk „ Das Experiment. Sein Wesen und seine Geschichte “ kritisiert Dingler „ die naive Auffassung vom Experiment “ 39 , der zufolge die Natur im Experiment befragt wird und eine Antwort liefert, die - vom Experimentator losgelöst - als allgemeingültig und quasi als Naturgesetz 34 Ebd., S. 80. 35 Ebd., S. 82. 36 Ebd., S. 85. 37 Ebd., S. 80. 38 Ebd., S. 81. 39 Hugo Dingler: Das Experiment. Sein Wesen und seine Geschichte. München: Ernst Reinhardt 1928. S. 39. 43 gelten darf, und plädiert für einen Experimentbegriff, der dem Handlungsanteil am experimentellen Vorgang eine deutlichere Dominanz zuerkennt, die erhebliche Auswirkungen erkenntnistheoretischer Art zeitigt. Dingler entwickelt hier Gedanken, die später von Eddington wiederaufgenommen werden: Durch die Handlung des Wissenschaftlers, seine konkrete Art der Fragestellung und dem sich daraus entwickelnden individuellen, manipulativ-separierenden - zerlegenden - Eingriff, der im Versuchsaufbau realisiert wird, werden die Ergebnisse automatisch in ein Verhältnis zum Subjekt gesetzt, das nicht abgezogen werden kann, ohne dass die Beobachtung eine konkrete Veränderung erfährt: Das ganze Experiment ist also schon seinem innersten Wesen nach nicht etwas, das auf ein ‚ Erkennen ‘ im alten Sinne geht, sondern auf ein ‚ Formen ‘ , nicht auf ein Passives, sondern auf ein Aktives. Diese Einsicht verändert von Grund aus die erkenntnistheoretische Auffassung des Experiments. 40 Dieser Akt der Performanz hat also einen entscheidenden Einfluss auf die erzielten Ergebnisse, ja binden diese unweigerlich und untrennbar an den Experimentator selbst. 2.1.2.11 Karl Popper Dem wissenschaftstheoretischen Denken seiner Zeit, das durch Atom- und Quantentheorie einen Paradigmenwechsel erfahren hat, und dessen positivistischer Ausrichtung setzt Karl Popper 1934 mit „ Logik der Forschung “ einen in höchstem Maße kritischen, dezidierten Beitrag entgegen. Popper geht vom sog. Induktionsproblem aus, demzufolge es aus logischen Gründen unmöglich ist, von Einzelerfahrungen experimenteller Art auf Allgemeinsätze, etwa allgemeine Gesetzmäßigkeiten, zu schließen: Nach unserer Auffassung aber gibt es keine Induktion. Der Schluß von den durch ‚ Erfahrung ‘ [was immer wir auch mit diesem Worte meinen] verifizierten besonderen Aussagen auf die Theorie ist logisch unzulässig, Theorien sind somit niemals empirisch verifizierbar. 41 Für Popper ergeben sich daraus zwei wesentliche Schlussfolgerungen. Die erste besagt, dass Experimente jenseits ihrer Einzelergebnisse eine Theorie niemals beweisen, sondern allenfalls falsifizieren können; die zweite, dass es eine objektive Erkenntnis der Wirklichkeit aus logischen Gründen nicht geben kann. Alle darüber hinausgehenden Gedankengebäude, physikalische Weltbilder oder Theorien verortet Popper in Metaphysik und Psychologis- 40 Ebd., S. 182 f. 41 Karl R. Popper: Logik der Forschung. 8., weiter verb. u. vermehrte Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1984. S. 14. 44 mus und damit für seine Begriffe außerhalb einer der Objektivität und Logik verpflichteten Naturwissenschaft. Bei der Frage, wie diese dennoch entstehen können, schlägt er sich auf die Seite Einsteins, der in seiner „ Rede zum 60. Geburtstag von Max Planck “ einen schöpferischen Genius in seiner individuellen Kreativität als Urheber physikalisch umfassender Theorien setzt: Höchste Aufgabe der Physiker ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition. 42 Popper vertritt einen deduktivistischen Standpunkt, wonach Wissenschaftler willkürlich Hypothesen und Theorien aufstellen sollen und sich - in einer Art Ausschlussverfahren - durch deren Falsifikation einer Wahrheit annähern, ohne allerdings jemals vollständige Sicherheit zu erlangen. Das wissenschaftliche Experiment indes zeichnet sich nach Popper vor allem durch seine Reproduzierbarkeit aus: „ Der wissenschaftlich belangvolle physikalische Effekt kann ja geradezu dadurch definiert werden, daß er sich regelmäßig und von jedem reproduzieren läßt, der die Versuchsanordnung nach Vorschrift aufbaut. “ 43 Auch wenn sich aus ihm, der Induktionskritik gemäß, keine allgemeinen Sätzen ableiten lassen, so ist es dennoch imstande, sog. Basissätze, d. h. „ objektiv kritisierbare besondere Prüfsätze “ 44 zu prüfen, was Popper in seiner „ Theorie des Experiments “ darlegt: Der Experimentator wird durch den Theoretiker vor ganz bestimmte Fragen gestellt und sucht durch seine Experimente für diese Fragen und nur für sie eine Entscheidung zu erzwingen, alle anderen Fragen bemüht er sich dabei auszuschalten. (Hier spielt die relative Unabhängigkeit von Teilsystemen einer Theorie eine Rolle.) 45 Das Experiment stellt für Popper gleichsam das Mittel der Wahl dar, um von Vermutungen über Phänomene, dem sog. Alltagswissen oder Fürwahrhalten zu tatsächlichen Erkenntnissen über diese zu gelangen: Denn man könnte sagen, daß die wissenschaftliche Erkenntnis es uns ermöglicht, die Alltagserkenntnis gewissermaßen unter dem Vergrößerungsglas zu studieren, so daß, wenn wir die wissenschaftliche Erkenntnis betrachten, wir so etwas wie ein vergrößertes Bild der Alltagserkenntnis vor uns sehen. 46 42 Albert Einstein: Prinzipien der Forschung. Rede zum 60. Geburtstag von Max Planck. In: Ders.: Mein Weltbild. Hrsg. v. Carl Seelig. 31. Auflage. [o. O.]: Ullstein 2010. S. 119 - 122. Hier: S. 121. 43 Popper 1984: S. 19. 44 Ebd., S. 76. 45 Ebd., S. 72. 46 Ebd., S. XXII. 45 2.1.2.12 Arthur Eddington Der Astrophysiker Arthur Eddington setzt sich in seinem wissenschaftstheoretischen Werk „ Philosophie der Naturwissenschaft “ von 1939 ebenfalls sehr kritisch mit der Beweisfähigkeit von Experimenten auseinander. Ausgehend von den neuesten Entwicklungen in der Quantenphysik verweist er darauf, dass durch das gewaltsame Eindringen des Experimentators in die Natur im Moment der gezielten und provozierten Beobachtung den Ergebnissen von Experimenten ein erhebliches Maß an Interpretationsspielraum inhärent ist, um durch sie den Schritt zu einer allgemeinen Theorie zu vollziehen. Im Umkehrschluss können Experimente im Sinne eines bestimmten theoretischen Konzeptes gezielt zu dessen Bestätigung erdacht und durchgeführt werden: Mag die Einmischung des Beobachters physisch oder auswählend sein, sie ist gleichwohl in den sich ergebenden Schlußfolgerungen erkennbar. Die Art von Beobachtung, auf welcher die physikalische Theorie beruht, ist nicht ein gelegentliches Zur-Kenntnisnehmen der uns umgebenden Dinge, noch ein allgemeines Herumrennen mit dem Meßband. Unter der Decke des Ausdruckes „ gute “ Beobachtung ist das Prokrustesbett listigerweise versteckt. 47 Die kritische Haltung Eddingtons geht soweit, dass er den Physiker mit einem Bildhauer vergleicht, der aus einem Felsenblock eine Skulptur herausmeißelt, und die Frage anschließt: „ Wieviel entdecken wir und und wieviel erzeugen wir selbst durch unsere Experimente? “ 48 Eddingtons Schlussfolgerung ist, dass einer Erkenntnis immer der Glaube an ihre Richtigkeit, sie also der Wirklichkeit entspreche, beigemengt sein muss: Aber die Behauptung, daß die Methoden der Physik keine absolute (objektive) Wahrheit, ja nicht einmal Bruchstücke absoluter Wahrheit zutage fördern können, anerkennt meinen Hauptpunkt, daß das durch sie erlangte Wissen gänzlich subjektiv ist. 49 Eddington formuliert damit Gedanken, die von entscheidender Bedeutung für Dürrenmatts Denken sein werden: Einerseits tragen sie den naturwissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit Rechnung, auf der anderen Seite bereichern sie den erkenntnistheoretischen Diskurs um einen Standpunkt, der die subjektivistische Position des Experimentators mit Vehemenz in den Mittelpunkt des Denkprozesses rückt, den individuell erkennenden Physiker, der seine Welt im wahrsten Sinne des Wortes erschafft, indem er sich einer 47 Arthur Eddington: Philosophie der Naturwissenschaft. Aus d. Engl. übers. v. Karl Hauptvogel. Wien: Humboldt [o. J.] (= Sammlung Die Universität Bd. 6). S. 140 f. 48 Ebd., S. 139. 49 Ebd., S. 232. 46 dynamischen Wechselbeziehung von Theorieentwicklung und Experiment hingibt. Die erzielten Ergebnisse indes sind keine absoluten objektiven Wahrheiten mehr, es handelt sich eher um eine, wie Eddington sagt, „ Wechselbeziehung der Erfahrungen “ 50 , die sich zwischen dem Bewusstsein des Forschers und der zu beobachtenden Natur abspielt. 2.1.2.13 Kuhn, Feyerabend, Hacking, Rheinberger Der wissenschaftstheoretische Diskurs seit den 1960er Jahren spiegelt im Zuge der naturwissenschaftlichen Entwicklung samt ihren theoretischen Zersplitterungen, mannigfaltigen Weltentwürfen und individuellen Fiktionen 51 , die in einem unablässigen Wechselspiel von Beobachtung, Experiment, induktiven und deduktiven Verfahren entstehen, bestätigt, weiterentwickelt, verworfen werden, eine sukzessive Aufweichung starrer Konzepte und dogmatischer Theorien und bringt Standpunkte hervor, die das Experiment als Erkenntnisverfahren aus seiner (vermeintlichen) Theorienabhängigkeit vergangener Zeiten lösen. 52 Kuhn erkennt 1962 in der Wissenschaftsgeschichte eine Aneinanderreihung paradigmatischer Ären, die einander durch experimentelle Revolutionen ablösen und nicht selten die Inkommensurabilität von Erkenntnissen zur Folge haben. 53 Kuhns Ansicht ist, dass das Ergebnis eines Experimentes nur im Rahmen der Bindung an eine bestimmte Theorie Beweiskraft haben kann. 54 Feyerabend, der mit seinem Slogan ‚ Anything goes ‘ als Seismograph einer postmodernen Skepsis hinsichtlich des apodiktischen Anspruchs einer exklusiven herrschenden Meinung berühmt wird, plädiert für eine methodologische Vielfalt, die sich aus unterschiedlichsten Experimenten ergibt und zu nebeneinander stehenden Theorien führt. Der Wissenschaftler hat auch die Widersprüchlichkeit zu akzeptieren, die sich aus einem mutigen Vorangehen des eigenen individuellen Denkens und Forschens ergibt: Ich empfehle keine ‚ Methodologie ‘ , ganz im Gegenteil, ich betone, daß die Erfindung, Überprüfung, Anwendung methodologischer Regeln und Maßstäbe die Sache der konkreten wissenschaftlichen Forschung und nicht des philosophi- 50 Ebd., S. 235. 51 Vgl. hierzu: Johann Grolle: Die Gegenwelt. In: Der Spiegel. 28 (2012). S. 112 - 123. Hier: S. 123. 52 Vgl. hierzu: Hans-Jörg Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg/ Lahn: Basilisken-Presse 1992. S. 13 f. 53 Vgl. hierzu: Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2., revid. u. um d. Postskriptum von 1969 erg. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 25). S. 33, 218. 54 Ebd., S. 218. 47 schen Träumens ist. [. . .] Andrerseits kann der Forscher, der inmitten unerklärter Schwierigkeiten und unverstandener Meßresultate nach einer neuen Theorie oder einem neuen Weltbild sucht und entsprechende Vorschläge macht, sehr wohl gute Gründe für diese Vorschläge angeben. Die Gründe entsprechen nicht immer den Maßstäben der Rationalität, sie verletzen sie gelegentlich in höchst auffälliger Weise, aber sie sind sinnvoll im Rahmen neuer kosmologischer Ideen und sie helfen uns, das den Forscher umgebende Chaos als eine mehr oder weniger deutliche Manifestation dieses Rahmens zu sehen [. . .]. 55 Dafür, dem Experiment eine theorienunabhängige Bedeutung zuzumessen, tritt auch Ian Hacking in seinem wissenschaftstheoretischen Werk „ Representing and Intervening “ (dt.: „ Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften “ ) ein. Hacking sieht das Experiment im Zuge einer epistemologischen Historiographie als einen integrativen Prozess von Darstellung, Eingriff und Beobachtung, welchem als Erkenntniswerkzeug eine autonome Bedeutung zukommt und das nicht an eine bestimmte Methode gebunden ist: Warum soll es so etwas wie die Methode der Wissenschaft überhaupt geben? Es gibt nicht nur ein Verfahren, Häuser zu bauen, ja nicht einmal nur eine Methode, Tomaten zu pflanzen. Wir sollten eigentlich nicht damit rechnen, daß etwas so Buntscheckiges wie das Wachstum der Wissenschaft an eine einzige Methodologie gebunden ist. 56 Den Fortschritt in den Wissenschaften sieht Hacking dementsprechend auch in der Sensibilität des Forschers selbst begründet, der ein Gespür für die Anomalien, Widersprüche und Irrtümer hat: „ Mitunter ist es gerade die hartnäckige Beachtung einer seltsamen, von weniger begabten Experimentatoren leicht unberücksichtigt gelassenen Erscheinung, die zu neuen Erkenntnissen führt. “ 57 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erkennt Rheinberger in der jüngsten wissenschaftstheoretischen Diskussion eine Verschiebung des Experimentalbegriffs von seiner in früheren Zeiten unbestrittenen Rolle als „ Instanz der Verifikation, der Bewährung, der Verwerfung oder der Modifikation von Theorien, besser: der empirischen ‚ Richtigkeit theoretischer Sätze ‘“ 58 hin zu einer autonomen, den explorativ-innovativen Charakter favorisierenden Funktion. Diese Entwicklung führt nach Rheinberger zu einer Betrachtung, die dem Experiment eine stärkere Eigenständigkeit verleiht, aber auch Auswirkungen auf das Verhältnis von Experimentator und Gegenstand selbst zeitigt: Rheinberger diagnostiziert die „ Ausfransung des 55 Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. S. 83 f. 56 Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. A. d. Engl. übers. v. Joachim Schulte. Stuttgart: Reclam 1996. S. 254. 57 Ebd., S. 279. 58 Rheinberger 1992: S. 13. 48 Projekts der Moderne, die Einholung des Kantischen Satzes, daß man ‚ nur so viel [. . .] vollständig ein[sieht], als man nach Begriffen selbst machen und zu Stande bringen kann ‘“ 59 , und lokalisiert das Experiment in einem Raum, der es lediglich ermöglicht, „ daß man, was man machen kann, nur gerade so weiß, wie man es jeweils und lokal macht, und auch das nicht einmal ganz “ 60 . Dies führt zu einer signifikanten Vereinigung von Experimentator und Objekt 61 , was dem Experimentalsystem, der „ kleinste[n] funktionelle[n] Einhei[t] der Forschung “ 62 , eine konsequent subjektivistische Dimension verleiht und eingerichtet wird, „ um Antworten auf Fragen zu geben, die wir noch nicht klar zu stellen in der Lage sind “ , da „ man niemals genau weiß, wohin ein Experimentalsystem führen wird “ 63 . 2.1.2.14 Zusammenfassung Diese Übersicht wissenschaftstheoretischer Grundpositionen macht trotz ihrer Kürze und jenseits eines Anspruchs auf auch nur eine annähernde Vollständigkeit nichtsdestoweniger deutlich, welchen Wandlungen der Experimentalbegriff in der Wissenschaftsgeschichte unterworfen war und noch immer unterworfen ist und vor welchen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten selbst Naturwissenschaftler stehen, wenn es um die vorurteilsfreie Bestätigung von Hypothesen oder die exakte Interpretation und Einordnung von Einzelergebnissen innerhalb oder außerhalb einer umfassenden Theorie geht. Dennoch wird erst auf der Grundlage einer solchen Übersicht eine literaturwissenschaftliche Analyse des Dürrenmattschen Experimentbegriffs möglich, da - setzt man, wie Dürrenmatt es selbst getan hat, eine Äquivalenz von Wissenschaft und Kunst voraus - der Begriff des Experiments in der Kunst in Art und Bedingung eine strukturelle Analogie und/ oder eine konstitutionelle Verschiedenheit zum wissenschaftlichen Experimentalbegriff aufweisen muss. Gerade die immer stärker im Fokus befindliche subjektivistische Komponente innerhalb der wissenschaftlichen Forschung spielt hierbei eine entscheidende Rolle, da eine heuristisch orientierte Kunst zwangsläufig auf der Basis eines individuellen Standpunktes entstehen muss und Erkenntnisse generiert, die ihrerseits kaum allgemeiner, sondern viel eher privater, subjektiv-hypothetischer Natur sein müssen. 59 Ebd., S. 18. 60 Ebd. 61 Vgl.: Ebd., S. 21. 62 Ebd., S. 25. 63 Ebd., S. 27. 49 2.1.3 Zur Affinität von Experiment und Kunst 2.1.3.1 Literaturtheoretische Positionen zum Experiment in der Kunst Im Begriff des Experiments manifestiert sich die intellektuelle und praktische Affinität von Naturwissenschaft und Kunst - methodologische Analogien, erkenntnistheoretische Schnittmengen, Vergleiche der explorativen Energie, die in beiden Disziplinen zur Entfaltung kommen: Eine Nähe zwischen diesen Sphären wird nicht erst bei Dürrenmatt zu einer Bedingung der künstlerischen Repräsentation; er steht vielmehr in der Tradition einer kunst- und literaturgeschichtlichen Entwicklung, in der Künstler immer wieder - jeweils zu ihrer Zeit und vor dem Hintergrund ihres Denkens und ihrer poetologischen Konzeptionen - von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Erkenntniswegen affiziert waren, diese auf die Kunst zu übertragen trachteten oder - parallel zu diesen - einen eigenen künstlerischen Zugang zur Erkenntniserlangung durch explorative Narrativik, experimentelle Essayistik oder wissenschaftliche Dramatik entwickelt und damit eine Brücke zwischen den zwei Kulturen, diesen unvereinbar scheinenden Weisen der Welterkenntnis, geschlagen haben. 2.1.3.1.1 Novalis Novalis (1772 - 1801) gilt als Vorreiter einer Poetik, welche die Tätigkeit des Schriftstellers in einen expliziten Zusammenhang mit den Verfahrensweisen der Naturwissenschaften stellt 64 : „ Ein gutes physicalisches Experiment kann zum Muster eines innern Experiments dienen und ist selbst ein gutes innres subj[ectives] Experiment mit. “ 65 und „ Experimentiren mit Bildern und Begriffen im Vorstell[ungs] V[ermögen] ganz auf eine dem phys[ikalischen] Experim[entiren] analoge Weise. Zus[ammen] Setzen. Entstehn lassen - etc. “ 66 lauten zwei Zitate Friedrich von Hardenbergs, die anzeigen, dass der junge Dichter die Erkenntnisfähigkeit von Kunst in einer systematischen Entsprechung zu den Verfahrensweisen der Naturwissenschaften entwickelt. Jürgen Daiber weist in seiner Arbeit „ Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment “ nach, dass von Hardenberg bei der künstlerischen Umsetzung seines Ansinnens, „ das naturwissenschaftliche Experi- 64 Vgl. hierzu: Daiber 2001: S. 29. 65 Novalis: Das Allgemeine Brouillon 1798/ 99. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. v. Hans-Joachim Mähl. München, Wien: Carl Hanser 1978. S. 473 - 720. Hier: S. 625. 66 Ebd., S. 685. 50 ment zum Modell für geistige Operationen zu machen “ 67 über Kants „‚ Experiment der reinen Vernunft ‘“ aus der „ Kritik der reinen Vernunft “ , mit dem Kant die Grenzen der reinen Vernunft dort anzeigt, wo eine Entsprechung in der realen objektiven Welt fehlt, insofern hinausgeht, als er mit Hilfe seiner literarischen Experimente gerade dasjenige anzustreben versucht, was außerhalb dieser empirischen Realität und somit außerhalb des physikalisch Beweisbaren liegt, nämlich den Glauben, der „ bei Hardenberg auf seine Funktionen für den theoretischen Erkenntnisbereich hin geprüft [wird] “ 68 : Gemeint ist hier nicht jener Begriff des Glaubens im Sinne Kants, der außerhalb der Sphäre des theoretischen Wissens liegt und damit notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinausgeht. [. . .] Novalis läßt keinen Zweifel daran, daß es die Poesie ist, genauer: die produktive Einbildungskraft, die eine derartige Verbindung zwischen theoretischer Vernunft und der Sphäre des Unbedingten (bei Kant Gegenstand der praktischen Vernunft) zustande bringen soll. 69 Novalis sieht dort einen potenziellen Zuwachs an Wissen und Erkenntnis, wo Kant das Tor zum Glauben öffnet - und zwar mittels der Imagination und der geistigen Konstruktion, einer „‚ Construction durch Annahmen ‘ , die eine imaginäre Welt erzeugt und diese mit der Sphäre des Wissens verknüpft [. . .]. “ 70 Dass von Novalis hier Prinzipien einer gedankenexperimentellen Methode dargelegt werden, welche in der Generierung neuer Erkenntnisse aus einer innovativen Verknüpfung bestehender Erfahrung innerhalb eines imaginären Kontextes besteht, weist ihn als Denker aus, der erstens früh seine Poetik in Analogie zu den Verfahrensweisen der Naturwissenschaften entwickelt, und zweitens der Dichtkunst eine eigenständige explorative, auf das Neue hin gerichtete Kraft zuspricht. 2.1.3.1.2 Emile Zola Zola entwirft 1879 mit der naturalistischen Programmschrift „ Le roman experimental “ eine dem naturwissenschaftlichen Weltbild seiner Zeit entsprechende Poetik, die in Anlehnung an die medizinischen Theorien des Arztes Claude Bernard ( „ Introduction à l ’ étude de la médicine expérimentale “ ) 71 , die Darwinsche Vererbungslehre und zeitgenössische Milieutheorien einen strengen Determinismus auch für die Kunst fordert. 72 Sein formulierter Anspruch ist: „ Ich werde meinerseits zu beweisen suchen, dass die experi- 67 Daiber 2001: S. 65 f. 68 Ebd., S. 66. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Vgl.: Zola 1904: S. 7. 72 Vgl.: Ebd., S. 7 - 9. 51 mentelle Methode, wenn sie zur Erkenntnis des physischen Lebens führt, ebenso zur Erkenntnis des Gemüts- und Seelenlebens führen muss. “ 73 Zola sieht den Künstler einerseits als Beobachter der sozialen Bedingungen und Lebensumstände, andererseits als Experimentator, der die durch Beobachtung erhobenen empirischen Daten in seinen Kunstwerken in einer fiktiven Geschichte neu zusammensetzt und einer strengen milieugebundenen Kausalität unterwirft. 74 Zola: Kurz, das ganze Verfahren besteht darin, dass man die Tatsachen der Natur entnimmt, dann den Mechanismus der Tatsachen studiert, indem man durch die Modifikation der Umstände und Lebenskreise auf sie wirkt, ohne dass man sich je von den Naturgesetzen entfernt. Am Ende hat man die Erkenntnis, die wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen in seiner individuellen und sozialen Betätigung. 75 Allemann weist darauf hin, dass Zola dieses strenge deterministische Konzept nicht nur auf die Handlung bezieht, die unweigerlich, entsprechend ihren aufgestellten personenbezogenen und gesellschaftlichen Prämissen, zu einem bestimmten Ergebnis führen muss, sondern dass ebenso der Schriftsteller Teil dieses mechanistischen Ablaufs ist: Er fungiert als eine Art Katalysator, insofern in seinem Bewusstsein als einem Wissensmagazin die Handlung mit ebensolcher Notwendigkeit, also nach strengen wissenschaftlichen Gesetzen, vorgezeichnet und anschließend protokolliert wird. 76 Wenn sich gegen Zolas mechanistischen - seinerzeit bald schon obsoleten - Wissenschaftsbegriff und die Rigorosität, mit der er diesen auf die Kunst überträgt, berechtigterweise viele Einwände vorbringen lassen - so etwa die Kritik an einer recht naiven Übernahme eines in keiner Weise hinterfragten wissenschaftlichen Absolutheitsanspruches - , so stehen nichtsdestoweniger Zolas Bedeutung als wichtiger Vertreter einer wissenschaftsaffinen Literaturtheorie, der eine Forderung nach der Auseinandersetzung des Schriftstellers mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit inhärent ist, und sein starker Einfluss auf die Epoche eines sozialkritischen Naturalismus außer Frage. 77 Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass Zola neben der Dimension der epistemologischen Funktion des Experiments noch auf eine weitere - ebenfalls von Bernard übernommene - zu sprechen kommt, nämlich die des zwischenmenschlichen Handelns: „ Er [Bernard] sagt irgend- 73 Ebd., S. 8. 74 Vgl. hierzu: Frank Wanning: Französische Literatur des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen 2005. S. 88 f. 75 Zola 1904: S. 15. 76 Vgl.: Allemann 1963: S. 270 f. 77 Vgl. Ebd., S. 271. 52 wo: ‚ In der Praxis des Lebens findet man auch nur, dass die Menschen aneinander Experimente machen. ‘“ 78 2.1.3.1.3 Wilhelm Bölsche Als deutsche Entsprechung der Zolaschen Thesen kann Wilhelm Bölsches literaturtheoretische Schrift „ Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie “ von 1887 gelten. Der Schriftsteller Bölsche überträgt darin einen stark deterministisch geprägten Experimentalbegriff auf die Kunst: Er versteht das künstlerische Experiment vor dem Hintergrund der modernen Psychologie primär als rhetorisches Diagramm eines der strengen wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit unterworfenen Handlungsablaufs, welchen der Schriftsteller nach Maßgabe einer zuvor aufgestellten Hypothese logisch entwickelt: Jede poetische Schöpfung, die sich bemüht, die Linien des Natürlichen und Möglichen nicht zu überschreiten und die Dinge logisch sich entwickeln zu lassen, ist vom Standpuncte der Wissenschaft betrachtet nichts mehr und nichts minder als ein einfaches, in der Phantasie durchgeführtes Experiment, das Wort Experiment im buchstäblichen, wissenschaftlichen Sinne genommen. 79 Ähnlich wie Zola fordert Bölsche von der Kunst eine Anpassung an die Erkenntnisse der zu einer gewaltigen Machtstellung gelangten Naturwissenschaften. Dies hat für Bölsche vor allem eine strikte Abkehr von allem Metaphysischen und die Negierung der menschlichen Freiheit zur Folge. Der Mensch sei in seinen Handlungen und Affekten vielmehr strikt naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die es bei der Beschreibung des Menschen in der Kunst zu berücksichtigen gilt: Der Dichter, der Menschen, deren Eigenschaften er sich möglichst genau ausmalt, durch die Macht der Umstände in alle möglichen Conflicte gerathen und unter Bethätigung jener Eigenschaften als Sieger oder Besiegte, umwandelnd oder umgewandelt, daraus hervorgehen oder darin untergehen lässt, ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich: Der Dichter hat Menschen vor sich, keine Chemikalien. Aber, wie oben ausgesprochen ist, auch diese Menschen fallen in ’ s Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagieren gegen äussere Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beachten hat, wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges und keine werthlosen Mischmasch herstellen will, die Kräfte und Wirkungen vorher berechnen muß, ehe er an ’ s Werk geht und Stoffe combinirt. 80 78 Zola 1904: S. 15. 79 Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Tübingen: Max Niemeyer 1976. S. 7. 80 Ebd., S. 7 f. 53 Ebenso wie Zola kann Bölsche vor diesem Hintergrund als Verfechter eines Standpunktes gelten, demzufolge sich eine Verwissenschaftlichung der Kunst anhand einer direkten Übertragung eines streng deterministischen Wissenschaftsbegriffs vollzieht und der Künstler in den Dienst der poetischen Exemplifikation dieser Erkenntnisse sowie der Verfahren zu ihrer Gewinnung tritt. 2.1.3.1.4 Bertolt Brecht Einer solchen Poetik Zolas oder Bölsches kann Bertolt Brecht schon nicht mehr folgen. Mit der modernen Atomphysik Einsteins setzt eine Relativierung bestehender naturwissenschaftlicher Begriffe ein, die einen naturalistischen, streng deterministischen Standpunkt erschüttern und überholen. Parallel zu der physikalischen Revolution, vollzieht Brecht seinen dramaturgischen anti-aristotelischen Paradigmenwechsel. Mit der Konzeption des epischen Theaters, einer auf Verfremdung und Illusionsdurchbrechung angelegten Dramaturgie, entwickelt er seine Dramatik für das wissenschaftliche Zeitalter. Seine Berufung sieht er in der Belehrung des Publikums, der Sichtbarmachung der Wirklichkeit mit Hilfe des theatralischen Modells, das - nach Schwerte - „ auf Beweis und Veränderung aus ist. “ 81 Dieses Modell ist eines, dass dem Weltbild des Künstlers entspringt, der kraft seiner intellektuellen Fähigkeiten in der Lage ist, die Wirklichkeit, wie sie sich darstellt, zu durchschauen und modellhaft auf der Bühne zu erproben. Vor diesem Hintergrund sieht Brecht sich selbst in einer Reihe von Autoren, „ Ibsen, Tolstoi, Strindberg, Gorki, Tschechow, Hauptmann, Shaw, Kaiser und O ’ Neill “ 82 , die versuchen, „ theatralisch die Probleme der Zeit zu gestalten. “ 83 : Wenn die Bemühungen einen sozialen Sinn bekommen sollten, so mußten sie das Theater am Schluß instand setzen, mit künstlerischen Mitteln ein Weltbild zu entwerfen, Modelle des Zusammenlebens der Menschen, die es dem Zuschauer ermöglichen konnten, seine soziale Umwelt zu verstehen und sie verstandesmäßig und gefühlsmäßig zu beherrschen. Der heutige Mensch weiß wenig über die Gesetzlichkeiten, die sein Leben beherrschen. Er reagiert als gesellschaftliches Wesen meist gefühlsmäßig, aber diese gefühlsmäßige Reaktion ist verschwommen, unscharf, uneffektiv. [. . .] Er weiß nicht, wovon er abhängt, er kennt nicht den Griff in die soziale Maschinerie, der nötig ist, der den gewünschten Effekt hervorbringt. 84 81 Schwerte 1968: S. 391. 82 Brecht 2005: S. 406. 83 Ebd. 84 Ebd., S. 412. 54 Der dramatische Experimentbegriff Brechts besteht nicht wie im Naturalismus in der Übernahme einer deterministisch geprägten Wissenschaft auf Handlungsabläufe und Kunstproduktion, sondern in einer strukturellen Entsprechung, die sich analogisch vollzieht und vorsieht, im Drama auf ein gesellschaftliches Weltbild zu rekurrieren und dieses experimentell zu belegen, ähnlich wie Physiker, die einem theoretischen Weltbild entsprechend Hypothesen aufstellen, deren Richtigkeit sie sich in Experimentreihen bestätigen wollen. Brecht geht also deduktiv vor bzw. transferiert einen deduktiven Experimentalbegriff auf die Kunst, konkretisiert also im Einzelfall, dem auf der Bühne stattfindenden Geschehen, eine qualifizierte Hypothese, die aus einem allgemeinen Theoriengebäude oder Weltbild geschlussfolgert ist. Dass er mit diesem dramaturgischen Konzept eine Analogie zu Einsteins deduktivistischer Physik vollzieht, nach der sich jede Einzelerscheinung aus einem großen Ganzen einwandfrei herleiten und erklären lassen soll, ergibt sich nicht nur dadurch, dass Brecht den berühmten Physiker zur Unterstützung seiner Thesen heranzieht: Einstein begründet [. . .] das Faktum, daß die Beherrschung der Natur, in der wir es so weit gebracht haben, so wenig zu einem glücklichen Leben der Menschen beiträgt, damit, daß es den Menschen im allgemeinen an Belehrung mangelt, wie sie die Entdeckungen und Erfindungen nützlich verwenden können. 85 Einer solchen Belehrung, allerdings in gesellschaftlich-weltanschaulicher Hinsicht, fühlt sich Brecht verpflichtet. Dieser Bezug zu den Wissenschaften ist es auch, angesichts dessen Brecht das Theater für das wissenschaftliche Zeitalter als eines konzipiert, das die Wirklichkeit als Konsequenz ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen darzustellen trachtet - und im Gegenzug den Zuschauern zeigen soll, dass mit einer Veränderung eben dieser gesellschaftlichen Umstände auch eine Veränderung des individuellen Lebens einhergeht - Brechts dialektische Distanzierung vom naturalistischen Theater: Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unänderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind. [. . .] Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff. 86 Das experimentelle Theater Brechts stellt insofern eine Analogie zu den Wissenschaften her, als quasi modellhaft, in konzentrierter, fokussierter und 85 Ebd., S. 413 f. 86 Ebd., S. 418 f. 55 präzisierter Form die Wirklichkeit in ihren Gesetzmäßigkeiten parabolisch anschaulich gemacht werden soll. Hier von einer experimentellen Versuchsanordnung zu sprechen, ist aber nur sinnvoll, wenn das Drama als Quasi- Beleg für eine zuvor aufgestellte weltanschauliche Hypothese verstanden werden kann. Walter Benjamins Diagnose „ Das epische Theater gibt also nicht Zustände wieder, es entdeckt sie vielmehr “ 87 muss als dramatische Sichtbarmachung gesellschaftlicher Strukturen für das Publikum verstanden werden, das mit Hilfe retardierender Elemente sich vor die dramatische Handlung gestellt sieht und sich diese in ihren kausalen Bezüglichkeiten bewusst macht. Die Tatsache, dass Brecht die Gesellschaft als eine veränderbare darstellt, rückt ihn indes in die Nähe eines relativistischen Denkens Einsteinscher Prägung. Während Newton, Vertreter der klassischen Physik, noch glaubt, dass die Kategorien seiner mechanistischen Lehre, Raum und Zeit, streng aus der Erfahrung abzuleiten seien, konstatiert Einstein, dass es sich bei Theorien eigentlich um freie Erfindungen der Menschen handelt: Die Naturforscher jener Zeiten waren vielmehr zumeist vom Gedanken durchdrungen, daß die Grundbegriffe und Grundgesetze der Physik nicht im logischen Sinne freie Erfindungen des menschlichen Geistes seien, sondern daß dieselben aus den Experimenten durch ‚ Abstraktion ‘ - d. h. auf einem logischen Weg - abgeleitet werden können. Die klare Erkenntnis von der Unrichtigkeit dieser Auffassung brachte eigentlich erst die allgemeine Relativitätstheorie [. . .]. 88 Vor diesem Hintergrund ist Irmschers Diagnose, Brecht sei eher an der klassischen Physik orientiert 89 , nicht zu halten. Richtig ist wohl, zu sagen, Brecht, der im Geiste der Einsteinschen Lehre aufwächst, vertritt einen deduktivistischen Standpunkt, der den Entwurf eines umfassenden Weltbildes und dessen überzeugende experimentell-modellhafte Exemplifikation auf dem Theater mit einem Appellcharakter verknüpft. 90 2.1.3.2 Diskursive Forschungspositionen zu einem umstrittenen Begriff Der Begriff des Experiments in der Kunst hat innerhalb der Literaturgeschichte unzählige semantische Variationen erhalten, weshalb sich eine generelle eindeutige Bestimmung als unmöglich erweist. 91 Auch die For- 87 Walter Benjamin: Was ist episches Theater? Eine Studie zu Brecht. In: Ders.: Versuche über Brecht. Hrsg. u. mit einem Nachwort versehen v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966 (= edition suhrkamp 172). S. 7 - 21. Hier: S. 11. 88 Albert Einstein: Zur Methodik der theoretischen Physik. In: Ders.: Mein Weltbild. Hrsg. v. Carl Seelig. 31. Auflage. [o. O.]: Ullstein 2010. S. 126 - 132. Hier: S. 129. 89 Vgl.: Irmscher 1983: S. 346. 90 Vgl. hierzu: Emter 1995: S. 163. 91 Vgl. hierzu auch: Schmidt 1978: S. 9. 56 schung, die sich im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts des Phänomens angenommen hat, dokumentiert eine Vielfalt an Deutungen und Konnotationen, die es notwendig macht, den jeweiligen Einzelfall bzw. den jeweiligen Einzelautor und seine ganz individuelle Weise des Experimentierens zu analysieren. Auf der anderen Seite lassen sich Tendenzen in der Fokussierung des Begriffs innerhalb der Forschung erkennen, die sich - sehr verkürzt ausgedrückt - von der schwerpunktmäßigen Exquisition eines formal-stilistischen Experimentalismus innerhalb der modernen Literatur 92 hin zu der Geltendmachung einer eigenständigen erkenntnisgenerierenden Qualität künstlerischer Provenienz als Äquivalent zu einem wissenschaftlichen Experimentalismus gewandelt hat. 93 Im Zuge dieser Entwicklung lässt sich eine Erweiterung des Begriffs ausmachen, die sich nicht nur in der künstlerischen Transformation naturwissenschaftlicher Verfahrensweisen oder eines Aufbrechens traditioneller Poetiken oder Gattungen erschöpft, sondern das künstlerische Experimentieren auch in seiner epistemologischen Bedeutung als autarke alternative Art der Wissensgenerierung proklamiert. 94 Vor welche Schwierigkeiten indes sich eine Kunst gestellt sieht, die versucht, das Experiment als Erkenntnisverfahren auf die eigene Sphäre zu übertragen, ist, wie bereits angedeutet, unübersehbar: Der naturwissenschaftliche Fokus auf die regelgeleitete Gewinnung bzw. Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse materieller, außer-subjektiver, realer Phänomene mit Hilfe technischen Geräts stellt die erste offensichtliche Hürde dar, da es sich - sieht man etwa von der sog. Computerlyrik ab, deren Ergebnisse tatsächlich einem „ programmierten [. . .] kybernetischen Künstler “ 95 als Produkte des Zufalls entspringen - bei einem künstlerischen Experiment zwangsläufig um ein Experiment in Gedanken, um ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment handeln muss, das zwar durch die Arbeit am Gedanken, an Sprache und gedanklichen Bildern aufgrund deren semantischer Seite einen Bezug zur Außenwelt besitzt, aber durch die Abwesenheit einer realen objektiven Materialität, die im Akt eines standardisierten, institutionalisierten Verfahrens einer bestimmten Beobachtung unterzogen wird, kein im naturwissenschaftlichen Sinne tatsächlich durchgeführtes Experiment darstellt. Folglich können die wissenschaftlichen Experimentalkatego- 92 Vgl.: Ebd., S. 11 f. 93 Vgl.: Gamper [2010]: S. 10 - 14. 94 Vgl.: Ebd. 95 o. V.: Goethe gelocht. In: Der Spiegel 46 (1967). Online verfügbar unter: http: / / www. spiegel.de/ spiegel/ print/ d-46209407.html (Stand: 16. 03. 2012). Auch Enzensberger klammert in diesem Zusammenhang Experimente aus, die, etwa von Max Bense, „ mit Hilfe von elektronischen Rechenanlagen angestellt “ worden sind. (Enzensberger 2009: S. 167.) 57 rien der exakten Nachvollziehbarkeit und der Wiederholbarkeit unter gleichen Bedingungen und damit die Wissenschaftlichkeit selbst nicht nur in Frage gestellt, sondern als unmöglich zu gewährleisten betrachtet werden. 96 Diese Argumente sind es denn auch, welche diejenigen ins Feld führen, die einer potenziellen Übertragbarkeit der experimentellen Methode auf die Kunst skeptisch gegenüberstehen oder diese vollends ablehnen. Hier ist als erster Hans Magnus Enzensberger zu nennen, der aus den o. g. Gründen in der Übertragung eines wissenschaftlichen Experimentalbegriffs auf die Kunst eine Vortäuschung falscher Tatsachen - einen „ simplen Bluff “ und eine „ Tarnkappe “ sieht, wie er 1962 in seinem Aufsatz „ Die Aporien der Avantgarde “ ausführt: Experimentum bedeutet ‚ das Erfahrene ‘ . In den modernen Sprachen bezeichnet das lateinische Wort ein wissenschaftliches Verfahren zur Überprüfung von Theorien oder Hypothesen durch die methodische Beobachtung von Naturvorgängen. Der aufzuklärende Vorgang muß isolierbar sein. Sinnvoll ist ein Experiment nur, wenn die auftretenden Variabeln bekannt sind und begrenzt werden können. Als weitere Bedingung tritt hinzu: jedes Experiment muß nachprüfbar sein und bei seiner Wiederholung stets zu ein und demselben, eindeutigen Resultat führen. Das heißt: ein Experiment kann gelingen oder scheitern nur im Hinblick auf ein vorher genau definiertes Ziel. [. . .] Bilder, Gedichte, Aufführungen genügen diesen Bedingungen nicht. Das Experiment ist ein Verfahren zur Herstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse, nicht zur Herstellung von Kunst. [. . .] Das Experiment als Bluff kokettiert zwar mit der wissenschaftlichen Methode und ihren Ansprüchen, denkt aber nicht daran, sich ernstlich mit ihr einzulassen. [. . .] Methode, Nachprüfbarkeit und Stringenz spielen keine Rolle. Je weiter sie sich von jeder Erfahrung entfernen, desto ‚ experimenteller ‘ sind die Ergebnisse der Avantgarde. 97 Enzensberger propagiert hier die Unvereinbarkeit von wissenschaftlichem Experimentalismus und künstlerischer Freiheit - gerade die Nicht-Beachtung strenger wissenschaftlicher Kriterien in der künstlerischen Produktion führt seiner Ansicht nach zu dem, was als experimentelle Kunst gilt. Je stärker ein Künstler eine wissenschaftsanaloge Methodik ignoriert, desto kühner, unkonventioneller, mutiger und innovativer fallen seine Resultate aus. Enzensberger desavouiert anhand dieser gegenläufigen Proportionalität von methodischer Libertinage und wissenschaftlichem Anspruch den künstlerischen Experimentalbegriff der Avantgarde als geradezu anti-wissenschaftlich - und liefert damit die vornehmliche Begründung dafür, den 96 Vgl. hierzu auch den Diskussionsbeitrag von Peter Nitsche in: Experiment in Kunst und Wissenschaft: Ausschnitte aus der Diskussion. In: Das Experiment in Literatur und Kunst. Hrsg. v. Siegfried J. Schmidt. München: Wilhelm Fink 1978 (= Grundfragen der Literaturwissenschaft - Neue Folge Bd. 3). S. 13 - 21. Hier: S. 13. 97 Enzensberger 2009: S. 166 f. 58 Begriff des Experiments für sein Metier kategorisch abzulehnen. Damit lässt er allerdings auch eine potenzielle epistemologische Dimension künstlerischer Tätigkeit unberücksichtigt und rückt stilistisch-formalistische Bestrebungen in den Mittelpunkt, die - je weiter sie sich vom Anspruch einer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit, einer konkreten Beobachtung entfernen - ein um so größeres experimentelles Potenzial aufweisen. Zu den strikten Gegnern einer durch das Experiment verwissenschaftlichten Literatur zählt auch der Schriftsteller Alfred Andersch, der in einem Gespräch 1961 betont: Ich lehne den Begriff des Experiments im Bereich der Kunst rundweg ab. Der Begriff des Experiments stammt aus dem naturwissenschaftlichen Labor. Enzensberger hat auf diesen Tatbestand [. . .] meines Wissens zum erstenmal hingewiesen. Die Wissenschaft kann Versuchsreihen veröffentlichen, der Künstler niemals. Selbstverständlich wird er experimentieren. Aber was er vorzulegen hat, sind Ergebnisse, nicht Experimente. Joyces ‚ Ulysses ‘ ist kein Experiment, sondern ein Meisterwerk, ein Ergebnis, an dem nichts mehr verändert werden kann. 98 Auch Helmut Heißenbüttel steht dem Experiment skeptisch gegenüber. Er stellt zwar fest, dass der Schriftsteller probiert, möchte diese Tätigkeit aber nicht experimentieren nennen: Immer noch hat der Schriftsteller jede Möglichkeit zu probieren, was ihm angemessen scheint. [. . .] Das ist kein Experiment, denn ein Experiment belegt ja nur, was man schon weiß, das Experiment ist seit langem zum Test entartet. [. . .] Das Probieren des Schriftstellers, von dem Brecht an mehreren Stellen seiner Schriften zum Theater berichtet, bedeutet, daß der Schriftsteller noch nicht weiß, was er macht, wenn er es macht. Erst das Gemachte erweist, was es ist. 99 An anderer Stelle spezifiziert Heißenbüttel diese Art des Probierens noch, indem er sie als den Versuch ausweist, „ die Grenze zu dem, was noch nicht sagbar ist “ 100 zu überschreiten, „ Fuß zu fassen in einer Welt, die sich noch der Sprache zu entziehen scheint. “ 101 In seinen „ 13 Hypothesen über Literatur und Wissenschaft als vergleichbare Tätigkeiten “ entwickelt Heißenbüttel analogische Parameter beider Sphären, die sich etwa in ihrer teleologischen Funktion als „ Versuche, den Lebensraum und die Lebensbedingungen des Menschen sowie die Gesetze der Natur und Welt, in der er lebt, vorurteilsfrei 98 Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München: Carl Hanser 1962. S. 119. 99 Helmut Heißenbüttel: Frankfurter Vorlesungen über Poetik 1963. In: Ders.: Über Literatur. Olten u. Freiburg im Breisgau: Walter 1966. S. 123 - 205. Hier: S. 139. 100 Helmut Heißenbüttel: Voraussetzungen. In: Ders.: Über Literatur. Olten u. Freiburg im Breisgau: Walter 1966. S. 219 - 223. Hier: S. 223. 101 Ebd. 59 soweit wie möglich zu erhellen “ 102 oder als „ parallel verlaufend[e] Tätigkeiten der menschlichen Aufklärung “ 103 konkretisieren. Gleichzeitig grenzt er Literatur und Wissenschaft aber scharf voneinander ab: Während diese „ Zahl, Mathematik und Experiment “ 104 zu den Maßstäben ihrer Erkenntnisse macht, bedient jene „ sich einer imaginativ erfundenen und sprachlich beschriebenen Zwischenstation “ 105 . Dass Heißenbüttel hier ebenfalls von einem sehr eingeschränkten Experimentbegriff ausgeht, indem er ihn von der künstlerischen Erkundung des Ungewissen in Form der Möglichkeit des Probierens - worin andere gerade ein Kennzeichen experimenteller Literatur sehen 106 - abgrenzt, bemerkt auch Hans Schwerte, der aber trotzdem zu einer falschen Schlussfolgerung kommt, indem er den Heißenbüttelschen Experimentbegriff als einen deutet, der „ eher aus der sogenannten klassischen Physik bis Ende des 19. Jahrhunderts stammt “ 107 . Dass es sich hierbei um eine Fehleinschätzung handelt, die einer zu pauschalen Einteilung physikalischer Paradigmen geschuldet ist, lässt sich nicht nur logisch aus der eingehenden Auseinandersetzung Heißenbüttels mit den Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts, die aus seinen Schriften hervorgeht, ableiten: Wenn er das Experiment als „ zum Test entartet “ beschreibt, ist er wissenschaftstheoretisch vielmehr ganz auf der Höhe seiner Zeit - kommt hier doch in abgewandelter Form und mit pejorativem Beiklang, aber explizit zum Ausdruck, was Thomas S. Kuhn in seiner vier Jahre zuvor, 1962 erschienenen Schrift „ The Structure of Scientific Revolutions “ beschreibt, dass nämlich - und das hat Geltung natürlich auch im 20. Jahrhundert - Experimente innerhalb eines wissenschaftlichen Paradigmas zu dessen Bestätigung und Verfeinerung durchgeführt werden: Die normale Wissenschaft besteht in der Verwirklichung jener Verheißung, einer Verwirklichung, die durch Erweiterung der Kenntnis der vom Paradigma als besonders aufschlußreich dargestellten Fakten, durch Verbesserung des Zusammenspiels dieser Fakten mit den Voraussagen des Paradigmas sowie durch weitere Artikulierung des Paradigmas selbst herbeigeführt wird. [. . .] In keiner Weise ist es das Ziel der normalen Wissenschaft, neue Phänomene zu finden; und tatsächlich werden die nicht in die Schublade hineinpassenden oft überhaupt nicht gesehen. 102 Helmut Heißenbüttel: 13 Hypothesen über Literatur und Wissenschaft als vergleichbare Tätigkeiten. In: Ders.: Über Literatur. Olten u. Freiburg im Breisgau: Walter 1966. S. 206 - 215. Hier: S. 206. 103 Ebd., S. 207. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Vgl.: Schmidt 1978: S. 8 - 12. 107 Schwerte 1968: S. 388. 60 [. . .] Normalwissenschaftliche Forschung ist vielmehr auf die Verdeutlichung der vom Paradigma bereits vertretenen Phänomene und Theorien ausgerichtet. 108 Heißenbüttel steht dem Experiment also insofern skeptisch gegenüber, als er dessen explorative Funktion in den modernen Wissenschaften als erheblich eingeschränkt empfindet, und daher den Vorgang des künstlerischen Probierens, eines Suchens nach innovativen stilistischen Wegen, onomasiologisch nicht dem Begriff des Experiments an sich zuordnen möchte. Nichtsdestoweniger: Hans Schwerte sieht im Begriff des Experiments in der Kunst etwas, was jenseits eines „ schlecht gebildeten metaphorischen Ausdruck[es] “ 109 liegt. Er spannt einen diesbezüglichen literarhistorischen Bogen, geht auf die vielfältigen Anwendungen des Experimentellen bei Novalis, Zola, Hauptmann, Thomas Mann, Musil und vielen anderen Autoren ein, weist auf differenzierte Konnotationen und deren praktische Anwendung hin, schließt sich am Ende aber der skeptischen bzw. ablehnenden Haltung Enzensbergers, Anderschs und Heißenbüttels an. 110 Die Gründe dafür liegen u. a. darin, dass seine Analyse schwerpunktmäßig auf das Formal-Revolutionäre des Literarischen ausgerichtet ist, auf Bestrebungen der Dekonstruktion klassischer Gattungen, das Bemühen um neue Formen des Ausdrucks in einer Zeit, in der sich „ [d]as heroische Pathos - von Pindar bis Hölderlin - [. . .], nach Hitler, als unzumutbar für Schriftsteller [erweist] “ 111 und diese Entwicklung zu der „ Einsicht in die Irrelevanz und Inkongruenz bisheriger Literatur “ 112 , zu Sprachkrise und Subjektzerfall 113 , führt. Schwerte spricht dem Schriftsteller letztlich das Vermögen ab, mit der Inhaltsseite, dem semantischen Gehalt der Sprache im physikalischen Sinne experimentieren zu können, da die Sprache dies - er sieht hier eine Aporie, die im sprachlichen Zeichensystem selbst angelegt ist - schlicht nicht zulasse, so dass immer nur deren Lautseite überhaupt Gegenstand künstlerischen Probierens sein kann. 114 Er akzeptiert die konzeptionelle Parole „‚ Entwurf und Ausprobieren ‘“ 115 , um persönlichen Empfindungen und Erfahrungen künstlerisch-subjektiven Ausdruck zu verleihen, „ um, in veränderter Weltlage, bisher 108 Kuhn 1976: S. 39. 109 Schwerte 1968: S. 388. 110 Vgl.: Ebd., S. 401. 111 Hans Mayer: Zur aktuellen literarischen Situation. In: Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Hrsg. v. Manfred Durzak. Stuttgart: Philipp Reclam 1971. S. 63 - 75. Hier: S. 64. 112 Ebd., S. 65. 113 Vgl.: Heimann 1971: S. 232 f. 114 Vgl.: Schwerte 1968: S. 402. 115 Ebd., S. 403. 61 unerfahrene Mitteilung poetisch zu erfahren und sagbar zu machen “ 116 , verneint aber das erkenntnisgenerierende Moment, das im spielerisch-logischen Gedanken- und Sprachvollzug eines künstlerischen Experiments zu liegen vermag - wie es wohl im Gegensatz zu ihm Novalis schon verstanden hat: „ Die bloße Analyse - die bloße Experimentation und Beobachtung führt in unabsehliche Räume und schlechthin in die Unendlichkeit - Ist sie po[e]tischer Natur, so mags seyn [. . .]. “ 117 Auch Dürrenmatt ist hier anderer Ansicht als Schwerte. Für ihn besteht die künstlerische Tätigkeit und damit auch das experimentelle Moment der Kunst gerade in der Arbeit am Gedanken, der sich sprachlich niederschlägt. 1977 sagt er: Das Arbeiten an den Gedanken, das ist für mich Schreiben. Schreiben ist den kürzesten und genauesten Weg finden, einen Gedanken auszudrücken. [. . .] Und darum ist Schreiben für mich keine grammatikalische, stilistische, formalistische Sache. 118 In die Gruppe derer, die einer Übertragung des Experimentellen skeptisch gegenüberstehen, gehört auch Beda Allemann, der in seinem Aufsatz „ Experiment und Erfahrung in der Gegenwartsliteratur “ eine Trennlinie zwischen naturwissenschaftlichem Experiment und literarischem Erfahrungspotenzial zieht. Dieses definiert er folgendermaßen: „ Erfahrung ist hier nicht mehr etwas, das man zunächst einmal gemacht hat, um sie dann nachträglich noch schriftstellerisch zu fixieren, sondern im Vorgang der Niederschrift selbst entfaltet sich die wesentliche Erfahrung. “ 119 Dass Allemann den Begriff des Experiments dennoch ebenfalls ablehnt, ja dem Literaturwissenschaftler attestiert, „ im allgemeinen der Versuchung kaum ausgesetzt [zu sein], seinen Untersuchungsbereich als Experimentierfeld anzusehen “ 120 hat vor allem zwei Gründe: Erstens lässt sich seiner Meinung nach das wissenschaftliche Experiment nicht auf die Kunst - auch nicht in analogischer Weise - übertragen 121 : „ Jede Art von Experiment setzt ein Material voraus, an und mit dem experimentiert wird. Wo diese Voraussetzung fehlt, und das ist [. . .] beim Sprachmodell der Fall, besteht die Möglichkeit des Experiments gar nicht. “ 122 Zweitens erkennt er in der literarischen Modellierung der Wirklichkeit kein experimentelles Moment ( „ Mit bloßem Experimentieren im banalen Sinn 116 Ebd., S. 405. 117 Novalis 1978: S. 684. 118 G II 203 119 Allemann 1963: S. 276. 120 Ebd., S. 296. 121 Vgl.: Ebd. 122 Ebd., S. 293. 62 lässt sich gewiß keine Literatur machen [. . .]. “ 123 ); sein Erfahrungsbegriff konzentriert sich demnach auf die schriftstellerische Intention, eine Lage erkennbar zu machen, also darin, einer situativen Wirklichkeit künstlerischen Ausdruck zu verleihen. 124 Wenn diese Art des Verfahrens auch im Vollzug der Modellierung erst ihr individuelles Gepräge findet, so ist diesem Umstand doch nichtsdestoweniger immanent, dass der Künstler seine ganz persönliche Sicht auf ein bestimmtes Problem und damit auch seine subjektive Empfindung zu einer bestimmten, als problematisch empfundenen Wirklichkeit individuell versinnbildlicht. Dass es sich hierbei nicht um eine schlichte Abbildung gesellschaftlicher Zustände handelt, sondern von einer strukturellen, symbolhaften Modellentwicklung zu sprechen ist, wie Allemann anhand von Brechts „ Galilei “ und Frischs „ Andorra “ zeigt 125 , ändert jedoch nichts daran, dass der Künstler von seiner seinem persönlichen Weltbild entsprechenden Sicht der Dinge ausgeht und sie im Modell vollzieht. Auch Allemann erkennt den Gedanken selbst als Material künstlerischen Experimentierens nicht an; die Generierung künstlerischer Erfahrung besteht für ihn vornehmlich in der deduktiv gestalteten Entfaltung bestimmter genuiner Inhalte, nicht in der Exploration neuer Erkenntnisse. 126 Weitgehend am avantgardistischen Experimentalismus der 1960er und 70er Jahre orientiert ist Siegfried J. Schmidts Kolloquiumsbericht „ Das Experiment in Literatur und Kunst “ von 1978. Auch hier wird die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Kunst gestellt, was zu vielfältigen, der Komplexität des Begriffs entsprechenden Antworten führt. Der Begriff des Experiments wird für die Kunst nicht, wie bei Allemann und Schwerte, grundlegend abgelehnt, sondern als ein Sammelbegriff etabliert vor allem für künstlerische Versuche, mit Hilfe individueller formaler und stilistischer Mittel einer als pluralistisch empfundenen und metaphysischen Weltentwürfen entwichenen Wirklichkeit künstlerischen Ausdruck zu verleihen. In seinen Diskussionsthesen sieht Schmidt das Experimentelle vor allem in Begriffen wie „ neuartig/ innovativ, neue Dimensionen oder Einsichten eröffnend, mit ungewissem Ausgang arbeitend, mutig, nonkonformistisch, u. ä. m. “ 127 Eine Analogie von naturwissenschaftlichen Methoden und Kunst im Sinne einer Bestätigung von zuvor aufgestellten Hypothesen sieht Schmidt skeptisch. 128 Für ihn ist die Einstellung des Autors entscheidend, 123 Ebd., S. 283. 124 Vgl.: Ebd. 125 Vgl.: Ebd., S. 279 f. 126 Vgl.: Ebd., S. 293. 127 Schmidt 1978: S. 9. 128 Vgl.: Ebd., S. 10. 63 vor allem neue Wege zu beschreiten, nicht dem Mainstream zu folgen, sondern „ als Problemfinder und Entdecker “ 129 sich auf künstlerisch unerschlossenes Land zu begeben. Eine Betrachtung von Literatur in ihrer Funktion als originäres Verfahren zur Wissensgewinnung geht über wenig ergiebige Ansätze, wie etwa Gunter Gebauers Exkurs über „ Wissenschaftliche Experimente und experimentelle Kunst “ indes nicht hinaus. Ausgehend von Poppers Induktionskritik, die er stante pede als unhaltbar zurückweist, sieht Gebauer im wesentlichen drei analogische Tendenzen von wissenschaftlichem und künstlerischem Experiment: Erstens lässt sich die Theorienabhängigkeit wissenschaftlicher Experimente insofern auf die Kunst übertragen, als auch hier sich im Einzelwerk eine zuvor entwickelte Poetologie exemplifiziert 130 ; zweitens ist die künstlerische Darstellung wissenschaftlicher, extra-literarischer Annahmen über die Erfahrungswelt zu diagnostizieren, wie etwa Zola sie vollzogen hat 131 ; drittens beobachtet er ein formalistisches Überschreiten kanonischer Regularien, welches zu neuen Erfahrungen und einer Erweiterung künstlerischen Ausdrucks führen kann 132 . Dass der Gedanke, künstlerisch „ über die Einzelerfahrung eines bestimmten Typus allgemeine Gesetzmäßigkeiten sichtbar zu machen “ 133 , zwar erwähnt, aber unausgeführt und allein einem poetologisch deduktiven Vorgehen verhaftet bleibt, ohne weitere Schlussfolgerungen über das epistemologische Potenzial von Kunst nach sich zu ziehen, dokumentiert den Schwerpunkt des gesamten Werks: Das Experimentelle in Kunst und Literatur entfaltet sich in der künstlerischen Erfahrung vornehmlich vor dem Hintergrund des formal Revolutionären, der stilistischen Innovation, der Absicht einer demonstrativen Überwindung und Dekonstruktion traditioneller gattungsspezifischer Grenzen. Wenn man sich diese generell zu beobachtende zeitgeistliche Fokussierung des Experimentellen in der Kunst vor Augen führt, verwundert es kaum, dass auch von Wilpert in seinem „ Sachwörterbuch der Literatur “ eine Definition des Experiments vornimmt, die in erster Linie der formalen Innovation verpflichtet ist, einen erkenntnistheoretischen Aspekt aber unberücksichtigt lässt: 129 Ebd. 130 Gunter Gebauer: Wissenschaftliche Experimente und experimentelle Kunst. In: Das Experiment in Literatur und Kunst. Hrsg. v. Siegfried J. Schmidt. München: Wilhelm Fink 1978 (= Grundfragen der Literaturwissenschaft - Neue Folge Bd. 3). S. 22 - 26. Hier: S. 23. 131 Vgl.: Ebd., S. 24. 132 Vgl.: Ebd., S. 25. 133 Ebd., S. 24. 64 Experiment (lat. experimentum =) Versuch, Erprobung, in Lit. und Theater die praktische Erprobung neuer Ausdrucksformen, neuer Aussageweisen und neuer Inhalte auf ihre Wirksamkeit und ihre Möglichkeiten als Aussage neuen menschl. Selbstverständnisses. Ein wesentl. Teil aller lit. Neuerungen und insbes. der mod. Dichtung entstand aus dem E. als suchendem Bemühen nach neuen Mitteln und Wegen sprachl. Wirklichkeitsgestaltung, so daß das E., dem zugleich immer der Charakter des Provisorischen, nicht Endgültigen anhaftet, bis seine Ergebnisse sich als anerkannte Kunst legitimieren, als die Vorhut mod. Dichtung bezeichnet werden kann. 134 Dass eine Betrachtung des Experimentellen in der Kunst, wie sie diese Definition und generell die bisherige Analyse dokumentiert, nicht ausreichen kann, um Kunst in einer Analogie zu den Wissenschaften als eigenständige Weise nicht nur der bemühten Darstellung eines menschlichen Selbstverständnisses, also der innovativen Präsentation einer individuellen Empfindungstendenz, sondern auch der autonomen Generierung außerliterarischer Erkenntnis zu verstehen und sie damit zum wissenschaftsäquivalenten Mittel des Denkens zu erheben, wird hier überdeutlich. Um den Kern einer experimentellen Dichtung als zentralen Akt der Bedeutungsentwicklung zu begreifen, die primär auch in dem Versuch der inhaltlichen Ausgestaltung eines experimentell-künstlerischen Raums besteht, aus dem Produzent und Rezipient generell klüger hervorgehen, als sie hineingegangen sind, ist ein Experimentbegriff nötig, der die schwerpunktmäßige Betrachtung einer nonkonformistischen poetologischen Stillehre verlässt und Konzepte zulässt, die in erster Linie die epistemologischen Potenziale von Kunst in Augenschein nehmen. Vor diesem Hintergrund ist eine Erweiterung des Experimentbegriffs in der Kunst unabdingbar, der diese neben den Naturwissenschaften unter Zurückweisung eines festen, strikt einzuhaltenden wissenschaftlichen Methodenkodex als alternatives eigenständiges Verfahren zur Erkenntniserlangung anerkennt und auch den Gedanken selbst, die Sprache in ihrer Mehrdeutigkeit, als „ Material “ zur Durchführung künstlerischer Experimente akzeptiert. Diesen Schritt vollzieht in aller Konsequenz Michael Gamper in seinem 2010 erschienenen theoretischen Sammelband und in der literarhistorischen dreiteiligen Buchfolge, die das Phänomen „ Experiment und Literatur “ seit dem 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein beleuchten. Gamper dekonstruiert darin die strengen definitorischen Grenzen - die, wie gesehen, vielerorts zu einer Ablehnung des Experimentbegriffs in der Kunst oder zu einer schwerpunktmäßigen Betrachtung allein des Formalen geführt haben - 134 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 7., verb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Kröner 1989 (= Kröners Taschenausgabe Bd. 231). S. 278. 65 und zeigt sich den unterschiedlichsten Spielarten des Experimentellen in der Kunst zugewandt, eben auch und vor allem der Kunst als alternativem Wissenszugang. Gamper lehnt eine rein naturwissenschaftlich orientierte Definition des Experiments als Basis einer Übertragung auf die Kunst ab und plädiert dafür, das Experiment im Kontext des Künstlerischen generell als eine „ provozierte Erfahrung “ zu betrachten, als „ ein Zusammenspiel von definierten Voraussetzungen, künstlichem Eingriff und empirisch-performativem Ablauf, an das sich Verfahren der Aufzeichnung, der interpretativen Ausdeutung und der kommunikativen Distribution anschließen “ 135 . Dieser integrative Experimentbegriff, der eine Hervorbringung von Kenntnissen durch „ die Verschmelzung von performativen und repräsentativen Verfahren “ 136 postuliert, also im Akt des Schreibens auch die explorative Handlung sich vollziehen sieht, umgeht die Einwände gegen die Verwendung des Begriffs in der Kunst, indem durch ihn das Denken in Möglichkeiten approximativ dem Erkennen von Tatsächlichkeiten zur Seite gestellt und die fiktive Welt in Form der „ Darstellung des Möglichen und Wahrscheinlichen “ 137 als Gegenstand experimentellen Schreibens und künstlerischer Erkenntnis für tauglich erkannt wird. Dass dabei die Erkundung als solche, bei Gamper das Performative, mit dem Akt der Repräsentation, also dem Schreiben verschmilzt, korrespondiert mit der Gewähr, den experimentellen Vorgang neben der Suche nach tatsächlichen Phänomenen auch als die Erkundung möglichen Wissens zu akzeptieren: Da die ontologisch verbürgte Wahrheit und eine daraus hervorgehende gesicherte Wirklichkeit zunehmend an Relevanz einbüßten, konnte sich die epistemologische Bedeutung von Tatsächlichkeiten und Möglichkeiten angleichen, indem erstere nun auch als aktualisierte Möglichkeiten, letztere dagegen als potenzielle Tatsächlichkeiten verständlich wurden. Ästhetisch gestaltete Fiktion rückte als zeitlich und räumlich entfernte und deshalb im Hier und Jetzt (noch) nicht aktualisierte Realität zur relevanten Variante der sozialen und epistemologischen Einrichtung der jeweiligen Gegenwart auf. 138 Diese Position, die „ Vieldeutigkeit und semantische Offenheit [. . .] zu konstituierenden Faktoren einer literarischen Bedeutungsproduktion “ 139 erhebt, eröffnet die Betrachtung von Kunst als Experiment unter veränderten Gesichtspunkten und erlaubt eine literaturwissenschaftliche Neu-Orientierung, welche die jeweiligen Ausprägungen künstlerischen Experimentierens 135 Gamper [2010]: S. 11. 136 Ebd., S. 13. 137 Ebd. 138 Ebd., S. 12 f. 139 Ebd., S. 13. 66 reintegriert - stilistische Erkundungen und Experimentbeschreibungen ebenso unter diesem begrifflichen Konzept formiert wie deduktive Verfahren und induktive Prozesse - und die somit erst eine systematische diachrone und synchrone Beschreibung des Phänomens sowie die kategorielle Einordnung des Einzelfalls erlaubt. 140 Einen solchen Versuch der synchronen Kategorisierung, der auch vor dem Hintergrund der vorliegenden Arbeit, Dürrenmatts künstlerische Experimente adäquat kartieren zu können, von Bedeutung ist, unternimmt Berg. Sie differenziert wenigstens acht Varianten literarischen Experimentalcharakters: (1) Experimente des Autors, die literarische Formensprache, Stile wie neue Gattungen kreieren können; (2) Variationen auf Autorebene mit paratextuellen oder textsortenspezifischen Mitteln; (3) narratives Protokollieren eines quasinaturwissenschaftlichen Experiments (Gedankenexperiments), das auch außerliterarisch relevante neue Einsichten exploriert oder initiiert; (4) Verifikation oder Falsifikation einer außerliterarischen Theorie, Behauptung oder Forderung durch den Erzählverlauf; (5) Demonstration von alternativen Verläufen auf Erzählebene durch die Autorfigur, die verschieden mögliche (auch nicht realisierte) Erzählabläufe kommentiert (Wenn-dann-Optionen); (6) Experimente auf Figurenebene, die von ‚ zuschauenden ‘ Figuren beobachtet werden; (7) Experimente auf Figurenebene, die vom Leser rezipiert werden sollen; (8) Figuren als Experimentatoren (Motivebene). 141 Eine entsprechende Typologisierung stellen auch Bies und Gamper unter besonderer Berücksichtigung der Literatur des 20. Jahrhunderts auf. Diese - ebenso wie die Auflistung Bergs - negiert nicht den experimentellen Charakter des auf Innovation und Kanonerweiterung ausgelegten Kunstbegriffs einer stilistisch orientierten Avantgarde - sie integriert ihn vielmehr in eine Begriffskonzeption, in der ästhetische Kategorien ebenso als Gegenstände künstlerischen Experimentierens von Bedeutung sind wie das Denken in Möglichkeiten oder auch erkenntnistheoretische Aspekte selbst. Experimentalität bedeutet in diesem Kontext immer die Offenheit einer Konzeption, den Versuch, das Neue herauszufordern, das unerwartete Moment kategorisch zu antizipieren. Dass experimentelle Literatur sich dabei immer, so wie Calzoni es als erwiesen ansieht, sowohl durch den wissenschaftlichen Experiment- 140 Vgl. hierzu auch: Marcus Krause u. Nicolas Pethes: Zwischen Erfahrung und Möglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert. In: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. dens. Würzburg: Königshausen u. Neumann 2005 (= Studien zur Kulturpoetik Bd. 4). S. 7 - 18. 141 Gunhild Berg: Johann Gottlob Benjamin Pfeils ‚ Versuch in moralischen Erzählungen ‘ (1757). Ein Experiment der aufklärerischen Literatur. In: „ Es ist nun einmal zum Versuch gekommen “ . Experiment und Literatur I 1580 - 1790. Hrsg. v. Michael Gamper u. a. Göttingen: Wallstein 2009. S. 415 - 437. Hier: S. 436. 67 begriff, auf den sie sich bezieht, als auch dadurch definiert, sich von einem als klassisch oder traditionell bezeichneten Literaturverständnis abzusetzen 142 , darf indes als Setzung von Bedingungen gewertet werden, die zwar gegeben sein können, nicht aber zwangsläufig im Zusammenspiel gegeben sein müssen, um Literatur als experimentell bezeichnen zu können. Bies und Gamper schließen diese Faktoren nicht aus, setzen sie aber nicht als zusammengehörige axiomatische Konstituenten experimenteller Literatur. Ihre Typologie spiegelt eher einen künstlerischen Experimentbegriff, der in erster Linie durch das Ansinnen einer freien, autonomen Bedeutungsproduktion geprägt ist: Wenn Literatur also ‚ experimentell ‘ ist, dann kann das heißen: dass sie Szenarien entwickelt und ablaufen lässt, die aus definierten Bedingungen in kontrolliertem Vorgehen neues Wissen ästhetischer oder epistemologischer, formaler oder propositionaler Art entwickeln [. . .]; oder dass sie wirklich stattgefundene oder erfundene Versuche aufzeichnet, erzählt und reflektiert [. . .]; oder dass sie das Medium ist, in dem Selbstversuche protokolliert und ausgewertet werden [. . .]; oder dass sie methodisch ihr eigenes Material und ihre Verfahren variiert und so Erzählexperimente, Gattungsexperimente und lyrische Versuche anstellt [. . .]; oder dass sie sich mathematischer maschineller Techniken bedient [. . .]; oder dass sie sich Situationen schafft, in denen die Rezipienten gerichteten Veränderungsversuchen ausgesetzt sind (Bertolt Brechts ‚ experimentelles Theater ‘ ). 143 Dass diese Varianten des Experimentellen eine Inspiration durch die Naturwissenschaften eint 144 , liegt in der Natur des Experiments selbst begründet, das die Prüfung einer These oder die Erwartung eines Ergebnisses, in jedem Fall das Moment einer bis zu jenem Zeitpunkt unbesetzten Stelle grundlegend voraussetzt. Das Experiment ist vor diesem Hintergrund im Sinne von Rheinberger grundsätzlich als eine Probierbewegung zu verstehen, in der Differenzen des Wissens entstehen, der etwas Spielerisches anhaftet, das dadurch zum Tragen kommt, dass „ das Räsonnieren gewissermaßen ins Spiel der materiellen Entitäten gerissen wird “ , und das letztlich „ genügend offen sein [muß], um unvorhergesehene Signale zu erzeugen “ 145 . 142 Vgl.: Raul Calzoni: Das ‚ Experiment ‘ in der Literatur. Eine Einleitung. In: „ Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment “ . Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. Hrsg. v. Raul Calzoni u. Massimo Salgaro. Göttingen: V&R unipress 2010 (= Interfacing Science, Literature, and the Humanities/ Acume 2, Vol. 3). S. 11 - 28. Hier: S. 22. 143 Michael Bies u. Michael Gamper: Arbeit am Sprachmaterial - eine Einleitung. In: „ Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte “ . Experiment und Literatur III 1890 - 2010. Hrsg. v. Michael Bies u. Michael Gamper. Göttingen: Wallstein 2011. S. 9 - 28. Hier: S. 14 f. 144 Vgl.: Ebd., S. 16. 145 Rheinberger 1992: S. 26 - 28. 68 Auf der Basis der obigen Typologien lassen sich für die Dürrenmattsche Dramatik vor allem zwei Varianten experimenteller Literatur benennen, ohne dass dadurch etwa die bedeutungsvolle Relevanz auch weiterer Arten bezweifelt werden könnte. Diese entsprechen der dichotomen Bedeutungsstruktur des Begriffes, die Dürrenmatt schwerpunktmäßig verwendet. Zum einen handelt es sich um den von Bies und Gamper erstgenannten Punkt, demzufolge experimentelle Literatur „ Szenarien entwickelt und ablaufen lässt, die aus definierten Bedingungen in kontrolliertem Vorgehen neues Wissen ästhetischer oder epistemologischer, formaler oder propositionaler Art entwickeln “ . Hierbei spielt - Dürrenmatt vor Augen - vor allem das epistemologische Moment eine entscheidende Rolle. In der Auflistung Bergs entspricht diese poetologisch-epistemologische Komponente dem Punkt 3, dem „ narrative[n] Protokollieren eines quasi-naturwissenschaftlichen Experiments (Gedankenexperiments), das auch außerliterarisch relevante neue Einsichten exploriert oder initiiert “ . Zum anderen ist bei Dürrenmatt das Experimentieren der Figuren selbst augenscheinlich, weshalb hier eine weitere Bedingung experimenteller Literatur erfüllt ist. Bei Bies und Gamper entspricht dies der Feststellung, dass experimentelle Literatur „ wirklich stattgefundene oder erfundene Versuche aufzeichnet, erzählt und reflektiert “ , bei Berg dem Punkt 8, in dem sie das Experimentieren der Figuren als Handlungsinstanz deren Motivationen zurechnet. 2.2 Die menschlichen Grundstrukturen im künstlerischen Experiment erkennbar machen - Dürrenmatts Werke als epistemologische Verfahren 2.2.1 Zur Äquivalenz von Künstler und Naturwissenschaftler Bei Dürrenmatt ergibt sich die experimentelle Ausgangssituation eines Dramas, das ablaufende Szenario, das nach gewissen Regeln durchgespielt wird und mit dessen Hilfe in Prozess und Ergebnis die Modellierung der Wirklichkeit, die potenzielle Erkenntnis der menschlichen Natur angestrebt ist, aus einem erkenntnistheoretischen Impuls heraus. Die Arbeit des Künstlers sieht Dürrenmatt als eine der des Naturwissenschaftlers analoge an: Die Fiktionen des Schriftstellers zur Darstellung der Wirklichkeit stellen für ihn ein Äquivalent zu den Fiktionen, den Theorien und Modellen des Naturwissenschaftlers dar 146 - in ihnen liegt, wenn auch die Gegenstandsbereiche 146 Vgl. hierzu auch: Weber 2006: S. 110. 69 sich unterscheiden, eine Ähnlichkeit, da beide als gleichberechtigte Verfahren zur Ergründung der Wirklichkeit zu betrachten sind, wie er 1966 in einem Gespräch ausführt: Es kann nicht nur eine Methode geben. Das künstlerische, das dramaturgische Denken, in meinem Fall das dramatische Denken, ist eine Methode zur Sichtbarmachung der Welt. Das philosophische Denken ist eine ganz andere, das naturwissenschaftliche noch eine andere, das religiöse Denken eine dritte Art und Weise. 147 Der erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass der Künstler es am Schreibtisch nicht mit realen Tatsachen, die echten Experimenten unterzogen werden können, zu tun hat, ist sich Dürrenmatt bewusst; es führt ihn zu einem Verständnis künstlerischer Erkenntnis, die jenseits wissenschaftlicher Verfahren oder philosophischer Betrachtungen in einer eigenständigen Methode konstruktiver Bildgebung besteht, in der Aufstellung fiktionaler Eigenwelten, die zwar keinen Beweischarakter im klassischen Sinne eines naturwissenschaftlichen Experimentes haben, aber als Anschauungsmodelle konkretisierte Gleichnisse menschlicher Wirklichkeit darstellen: Dem Naturwissenschaftler geht es in seinen Experimenten um die Naturgesetze. Er stellt fest, was sich in einem bestimmten Augenblick unter bestimmten Bedingungen ereignen muß. Ein wissenschaftliches Experiment beweist etwas. Ein künstlerisches Experiment beweist nichts. Der Schriftsteller kann es sich leisten, nichts zu beweisen. Gerade seinen tollsten Hirngespinsten gibt der Lauf der Weltgeschichte oft genug recht. Mit einer gewissen Boshaftigkeit, möchte man fast behaupten, neigt doch die Wirklichkeit bisweilen dazu, den schlimmstmöglichen Weg einzuschlagen. Unbequemerweise. 148 Diese Worte aus dem 1968 erschienenen Artikel „ Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? “ lassen keinen Zweifel an Dürrenmatts Überzeugung, dass ein künstlerisches Experiment Erkenntnisse liefert, ja ein Denkakt ist, der mit Hilfe und anhand einer Fiktion eine strukturell-inhaltliche Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit herstellt. Als Künstler indes ist er nicht an eine strenge Methodik gebunden, er kann seine künstlerischen Experimente nach freien Stücken aufbauen und gestalten. Nichtsdestoweniger lassen sich gewisse poetologische Prinzipien feststellen, die seine Kunst in Analogie zu dem naturwissenschaftlichen Verfahren stellen und - über diese hinaus - zu einer eigenen künstlerisch-experimentellen Methode führen, wie er in seinem „ Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht “ (1969) ausführt: 147 G I 219 148 Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? , WA 32 132 f. 70 Meine Damen und Herren, ich denke dramaturgisch. Das heißt, meine Denktechnik als Dramatiker besteht darin, die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen in Theater zu verwandeln und mit dieser verwandelten Wirklichkeit weiterzudenken. Ich denke die Welt durch, indem ich sie durchspiele. Das Resultat dieses Denkprozesses ist nicht eine neue Wirklichkeit, sondern ein komödiantisches Gebilde, in dem sich die Wirklichkeit analysiert wiederfindet, genauer, in dem sich der Zuschauer analysiert wiederfindet. Diese Analyse ist von der Einbildungskraft bestimmt, vom Gedankenexperiment, von der Spielfreude, sie ist darum nicht streng wissenschaftlich, sie ist in vielem leichtfertig, doch gerade darum nützlich. 149 Dürrenmatts in hohem Maß erkenntnistheoretisch geprägtes Denken, aus dem sich die zentralen Koordinaten seiner Kunst ergeben, ist zeit seines schriftstellerischen Schaffens von einer intensiven Beschäftigung mit den Naturwissenschaften flankiert. 150 Er ist der festen Überzeugung, dass eine Kunst, deren Ziel in einer Erkenntnis der Wirklichkeit bestehe, jene Erkenntnisse vor allem der Physik keinesfalls ignorieren darf, sondern sie als das dominante Denken einer sich dem Paradigma der Quantifizierbarkeit unterworfenen Disziplin unbedingt wahrzunehmen und zu berücksichtigen hat - sowohl hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Implikationen als auch ihrer weltverändernden Dimension. In einem Gespräch von 1978 heißt es: Ich habe mich der Welt gegenüber wie ein Wissenschaftler zu verhalten. Als solcher muß ich ihren Zustand beschreiben und nicht ihr Ideal. Als Wissenschaftler habe ich ebenfalls Bilder zu geben. Ich meine: Auch der Künstler kann sich nicht um die Wissenschaft drücken, um unser Wissen und die Möglichkeit, die Realität darzustellen. 151 Das Problem der Darstellung erläutert Dürrenmatt anhand von Einsteins Relativitätstheorie als ein Beispiel äußerster Abstraktheit des Wissens, welches nur „ in sinnlichen Gleichnissen “ 152 überhaupt darstellbar ist. Hier besteht für ihn eine generelle Koinzidenz von Wissenschaft und Kunst: Bei beiden Disziplinen handelt es sich um Schöpfungen des Menschen, Versuche, die Wirklichkeit hinter der Oberfläche erkennbar zu machen, d. h. über das Modell oder die Formel als geistige Konstrukte einen konkreten Bezug zur Wirklichkeit herzustellen. Dürrenmatt wählt hier bewusst einen Vorgang der theoretischen Physik, um die Analogie von Naturwissenschaft- 149 Monstervortrag, WA 33 91 150 Den Beginn seiner intensiven Beschäftigung mit der Physik beschreibt Dürrenmatt 1988 folgendermaßen: „ Während meiner Schulzeit hat mich dieses Fach überhaupt nicht interessiert, aber an der Universität habe ich mich dann [. . .] intensiv mit der Physik befasst. Hinzu kam mein Studium der Philosophie, das mich sehr empfänglich gemacht hat für Fragen der Erkenntnistheorie. “ (G IV 9) 151 G II 251 152 G II 250 71 ler und Künstler zu präzisieren: Einstein hatte davon gesprochen, dass „ [d]er Forscher [. . .] vielmehr der Natur jene allgemeinen Principe gleichsam ablauschen [muß], indem er an größeren Komplexen von Erfahrungstatsachen gewisse allgemeine Ziele erschaut, die sich scharf formulieren lassen. “ 153 Auch Dürrenmatt gründet die Aufstellung seiner Fiktionen auf die Beobachtung der Menschen, auch bei ihm handelt es sich um einen Akt des umfassend-intensiven Lauschens, des komplexen, gleichwohl vor-wissenschaftlichen Welt-Erfahrens, aus dem heraus er zwar nicht - wie Einstein - zu einer allgemeinen Theorie kommt, aus dem heraus er aber dramatische archetypische Konfliktsituationen schöpft, die seiner Ansicht nach geeignet sind, die Basis eines hypothetischen Modells zu werden: Sie [die Welt] ist der Steinbruch, aus dem der Schriftsteller die Blöcke zu seinem Gebäude schneiden soll. Was der Schriftsteller treibt, ist nicht ein Abbilden der Welt, sondern ein Neuschöpfen, ein Aufstellen von Eigenwelten, die dadurch, daß die Materialien zu ihrem Bau in der Gegenwart liegen, ein Bild der Welt geben. 154 Um eine detaillierte Beantwortung der Frage zu ermöglichen, wie Dürrenmatt dieses Aufstellen von Eigenwelten bewerkstelligt, welches Verfahren er anwendet, um zu seinen Gleichnissen zu gelangen, ist die Betrachtung einer weiteren konstitutiven Parallele von Naturwissenschaft und Kunst vonnöten. Diese besteht im Prinzip des experimentellen Verfahrens, in der in ihren jeweiligen Ausprägungen zwar unterschiedlichen, aber durchaus miteinander vergleichbaren Form der Erkenntnisgewinnung. Dazu Dürrenmatt 1961: An der modernen Naturwissenschaft interessiert mich vor allem die Konsequenz der Erkenntnistheorie, die Frage nach der Methode unseres Denkens. An der Physik interessiert mich weniger, was sie aussagt, das Resultat, als die Art, wie sie die Natur befragt. [. . .] Wenn die Mathematiker und Physiker die Natur befragen, so tun sie es immer nur auf einem Teilgebiet. Sie stellen dazu heute immer öfter Arbeitshypothesen auf, die sich experimentell bejahen oder verneinen lassen. 155 Diese Äußerung eröffnet einen großen Interpretationsraum. Eine Analogie von Kunst und Naturwissenschaft lässt sich hier auf mindestens vier verschiedene Arten konstruieren. Erstens könnte die Arbeitshypothese eine poetologische Annahme sein, die im konkreten Kunstwerk experimentell bestätigt (oder widerlegt) wird. Zweitens könnte es sich um eine allgemeine, außerliterarische Theorie oder Hypothese handeln, die im dramatischen Einzelfall einer konkreten Prüfung unterzogen wird. Drittens könnte sich 153 Albert Einstein: Prinzipien der theoretischen Physik. Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften. In: Ders.: Mein Weltbild. Hrsg. v. Carl Seelig. 31. Auflage. [o. O.]: Ullstein 2010. S. 122 - 125. Hier: S. 123. 154 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 67 f. 155 G I 101 f. 72 die Analogie auf die generelle Eignung einer experimentellen Exposition beziehen, von der angenommen wird, dass sie das Potenzial hat, also ausreichend spezifisch und konkret ist, die menschliche Natur überhaupt anschaulich zu machen und Erkenntnisse zu liefern. Diese Deutung ist von entscheidender Relevanz für Dürrenmatts expositionale Einfälle, die als die eigentlichen Experimentalanordnungen betrachtet werden können. Setzt man diese gemeinsam mit der vierten Variante, die darin bestünde, das Experiment zur Überprüfung einer aus einer umfassenden Theorie deduzierten Arbeitshypothese heranzuziehen, so muss festgestellt werden, dass Dürrenmatt in der Tat den umgekehrten Weg geht, nämlich nicht über die Arbeitshypothese zum Experiment, sondern über das Experiment zu einer Hypothese gelangt, also nicht deduktiv vorgeht, sondern seine Kunst eher in Analogie zu einer induktiven naturwissenschaftlichen Vorgehensweise entwickelt. Die Möglichkeit des Zuschauers, seine Hypothesen anschließend experimentell zu bejahen oder zu verneinen, bleibt davon unberührt und ist sogar ausdrücklich intendiert, andernfalls bliebe ein Modell für den Rezipienten sinnlos, doch erkennt Dürrenmatt hierin als dessen Schöpfer nicht seine Aufgabe: Ich deute die Welt nicht. Als Bühnenschriftsteller ist dies nicht meine Aufgabe. Damit will ich nicht behaupten, daß mit Frank dem Fünften nicht bestimmte Strukturen menschlicher Beziehungen gedeutet werden können. Das ist logisch durchaus möglich. Doch ist die Untersuchung darüber, was mit meinen Werken gedeutet werden kann, nicht meine Aufgabe, ja, wahrscheinlich überhaupt nicht ehrlicherweise von mir zu leisten. Meine Vermutung, daß auch in meinen dramatischen Werken ein Werkzeug liege, die Welt zu deuten, stützt sich weniger auf eine logische Erkenntnis als auf den Glauben, daß es für das künstlerische Denken unmöglich sei, aus der Welt zu fallen. 156 Diese Analogie, die vornehmlich darin besteht, dass Dürrenmatt seine Stücke prinzipiell wie Mathematiker und Physiker als Versuchsanordnungen aufbaut, bringt der Autor auf die bündige Formel: „ Der Dramatiker ist bewegt von dramatischen Konstellationen, die er sich schafft. So wie der Physiker mit der Natur Physik treibt, treibt der Dramatiker mit der ‚ Natur des Menschen ‘ Dramatik. “ 157 Wenngleich an dieser Stelle eine Parallelität im Verfahren und eine Äquivalenz in der Erkenntnisgewinnung zum Ausdruck kommen, so ist dieser Äußerung Dürrenmatts ein weiterer wichtiger Gedanke immanent: Jenseits der herrschenden Analogie der beiden Sphären thematisiert sie nämlich auch deren Disparität, die in der Verschiedenheit ihrer Gegenstände 156 Standortbestimmung, WA 6157 157 G I 104 73 liegt - und dementsprechend auch in der Verschiedenartigkeit der jeweiligen Wege ihrer Erkenntnis: hier tatsächliche, dort gedankliche Experimente. Die Akzentuierung der Unterscheidung klingt immer mit, wenn Dürrenmatt sich - in Gesprächen, theoretischen Texten und dramaturgischen Stellungnahmen - zu dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft äußert: Auch ‚ die Natur ‘ , die auf dem Theater zur Anschauung gebracht werden will, die menschliche Natur, die von den Menschen gemachte Natur, ihre Beziehungen, ist ‚ total ‘ wie die Natur der Physiker und der Mathematiker. 158 Die Lebenswelt des Menschen in ihrer Gesamtheit, in der Fülle von Empfindungen und Erfahrungen stellt den gegenständlichen Kern seiner künstlerischen Arbeit dar. Sie ist das geeignete Mittel, sich der menschlichen Wirklichkeit analysierend anzunähern, die Existenz in ihrem konkreten Vollzug, in Paradoxie und labyrinthischer Struktur, zu ent-decken. In dieser Sphäre versagt ein technischer Zugang. Die abstrakte Naturwissenschaft mag in der Lage sein, die physikalische Wirklichkeit mit Hilfe mathematischer Formeln darzustellen, sie vermag sich darüber hinaus als Mittel und Voraussetzung zur immer besseren, effizienteren Nutzung der Natur und als Quelle unentwegten technischen Fortschritts zu eignen - sie muss aber kapitulieren, wenn es darum geht, den Menschen als Wesen im Konflikt zwischen Rationalität und Irrationalität, in seinen widersprüchlichen Motiven, in seinen ethischen Entscheidungen und Handlungen zu ergründen. Hier aber setzt für Dürrenmatt der Sinn der Kunst erst an: Es geht alles auf menschliche Grundstrukturen zurück. Ich glaube nicht, dass man mehr herausbringt über den Menschen. Und man ist immer mit einbezogen, man ist immer mit dabei. Könnte man in diesem Moment anders handeln? Würde man das in diesem Moment? Es ist sehr leicht in gewöhnlichen Situationen, in alltäglichen Situationen, zu sich zu stehen. Wie aber ist das in extremen Situationen? Dort wird der Mensch an seine Grenze geführt und an seine Entscheidung. Und mehr kann das Drama gar nicht leisten. 159 Diese menschlichen Grundstrukturen macht Dürrenmatt in immer neuen Varianten zum Gegenstand seiner Werke. Dass er sich dabei eines experimentellen Verfahrens bedient, ja das Experiment zu der produktionsästhetischen und epistemologischen Kategorie erhebt - der Frage nämlich folgt, wie Menschen sich in bestimmten Situationen verhalten würden - verdeutlicht, wie sehr ernst es ihm um seine Komödien als Mittel der Welterkenntnis ist. Auf die Frage, ob er „ eine der modernen Physik und Mathematik komplementäre Dramatik “ anstrebt, antwortet Dürrenmatt 158 G I 102 159 G II 141 74 1961, dass es sich um eine „ dialektische Entsprechung “ 160 handelt, die zwischen beiden Sphären vorhanden ist. Das Experiment wird für ihn als methodisierendes Paradigma der künstlerischen Produktion relevant: Das Komödiantische ist meine dramaturgische, ich möchte fast sagen, meine wissenschaftliche Methode, mit der ich mit dem Menschen experimentiere, um oft Resultate zu erhalten, die mich allerdings oft selber verblüffen. 161 Dürrenmatt erhebt für seine Kunst den Anspruch, mehr zu sein als der bloße Ausdruck einer persönlichen Meinung über die Welt; er spricht ihr einen erkenntnistheoretischen Wert zu, der aus einer gewissen Abstraktion vom Subjektiven herrührt: „ Der Dramatiker macht einen spielerischen Gebrauch von der Welt und versucht sie im Spiel zu objektivieren. “ 162 Dieser Vorgang der Objektivierung entspricht im Wesentlichen dem Abstand, den der Künstler zu seinem eigenen Gegenstand einnimmt, dem Ansinnen, sich möglichst vorurteilsfrei einem Stoff auszusetzen, den Verlauf der Geschichte nicht einer zweckgebundenen Intention zu unterwerfen, sondern größtmöglicher Objektivität und immanenter Logik folgen zu lassen. In „ Labyrinth “ , Titel der 1981 erschienenen „ Stoffe I-III “ , beschreibt Dürrenmatt diese poetologische Mechanik als eine subjektive Denkbewegung, die über das Sich-einem-Stoff-Ausliefern und das Generieren einer stofflichen Eigendynamik zu einem objektiven Gleichnis kommt: Ich glaube auch an Nuancen im Denken, an persönliche Denkstile, welche die Denkmethoden prägen. Meine sind die eines Schriftstellers, der glaubt, mit einer ganz bestimmten List seine Umwelt und sich selbst analysieren und damit ausdrücken und darstellen zu können - um freilich, indem ich diese List anwende, mich selbst zu überlisten. 163 Diese List kann für Dürrenmatt nur darin bestehen, die, wie Rüedi sagt, „ naive, unschuldige Erfahrung von Welt “ 164 in Einfälle, dramatische Situationen zu verwandeln und sie im Spiel zu entwickeln. Der Stoff wird dabei einem Denkprozess unterzogen, durch den er in einem quasi-wissenschaftlichen Akt zu einer Art gegenständlicher Natur selbst transformiert wird, einer gedanklich-eigendynamischen Natur, die, indem sie befragt wird, experimentell geschaffene Räume füllt, Antworten gibt, Möglichkeiten eröffnet, Entscheidungen herbeiführt. Auf diese Weise wird der Stoff als experimenteller Gegenstand objektiviert und gerinnt - variantenreich, in immer neuen Ansätzen, in immer neuen Möglichkeiten und Entwicklungen, auch in 160 G I 101 f. 161 G I 118 162 G I 103 163 Der Winterkrieg in Tibet, WA 28 84 164 Rüedi 2011: S. 104. 75 unablässiger Wiederaufnahme eigener und der Bearbeitung fremder Werke - zu mehrdeutigen gleichnishaften Modellen der Wirklichkeit. In diesem Zusammenhang - erkenntnistheoretisch bewegt sich Dürrenmatt hier, wie gesehen, auf dem Boden einer Analogie von Kunst und theoretischer Physik - spielt der Begriff der Wahrscheinlichkeit eine eminente Rolle, gelangt der Künstler doch über ihn zu einer größtmöglichen Loslösung vom Subjektiven, zu einer Nachvollziehbarkeit der inneren Logik einer Geschichte - und zu einem qualifizierten Bezug von Kunst und Wirklichkeit. In „ Sätze über das Theater “ (1970) setzt Dürrenmatt sich mit den Unterschieden zwischen den von Naturwissenschaft und Kunst repräsentierten Wirklichkeiten auseinander. Beide Disziplinen, so konstatiert er, arbeiten mit Hilfe der Fiktion, also „ eine[r] Annahme, deren Unwahrscheinlichkeit, ja Unmöglichkeit eingesehen ist, die aber doch als kommissarischer Hilfsbegriff, der später wieder aus dem betr. Gedankengang ausgeschieden wird, dem menschlichen Verstande große Dienste leisten kann “ 165 : Dramatik als Fiktion. Wenn sich der Geschichtsschreiber und der Dramatiker nach Aristoteles darin unterscheiden, daß der eine erzählt, was geschehen ist, und der andere, was geschehen könnte, so möchte ich die Aufgabe des Dramatikers dahin definieren, daß er beschreibt, was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich unwahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen würde. Das, was sich unwahrscheinlicherweise ereignet, ist der dramatische Vorfall, den sich der Dramatiker ausgesucht hat, das, was wahrscheinlicherweise geschieht, der dramatische Ablauf dieses gewählten Vorgangs. 166 Dürrenmatt grenzt in diesem Text deutlich die mathematische oder physikalische Fiktion von der künstlerischen Fiktion ab, indem er die physikalische Fiktion als eine „ bewußte Denktechnik “ 167 zur Befragung der Wirklichkeit versteht, mit deren Hilfe dieser eine Antwort zu entlocken ist. Künstlerische Fiktionen hingegen sind zwar auch Denktechniken, sie zielen aber darauf ab, „ scheinbare Wirklichkeiten zu errichten “ 168 . Mit Hilfe des Begriffs der Fiktion erläutert Dürrenmatt auch hier die Disparität von abstraktem physikalischem 165 Heinrich Schmidt: Fiktion. In: Philosophisches Wörterbuch. Neu bearb. u. hrsg. v. Georgi Schischkoff. 22. Aufl. Stuttgart: Kröner 1991 (= Kröners Taschenausgabe Bd. 13). S. 203. 166 Sätze über das Theater, WA 30 207 167 Sätze über das Theater, WA 30 210 168 Eine gewisse begriffliche Divergenz fällt hier auf. Während Dürrenmatt in dem „ Monstervortrag “ sagt: „ Das Resultat dieses Denkprozesses ist nicht eine neue Wirklichkeit [. . .] “ (Monstervortrag, WA 33 91), sagt er in „ Sätze über das Theater “ , dass „ die Wirklichkeit durch die künstlerische Fiktion künstlich hergestellt “ (Sätze über das Theater, WA 30 210) werde. Dürrenmatt hebt hier möglicherweise darauf ab, dass es sich bei der künstlich hergestellten Wirklichkeit um eine Metamorphose, ein Modell der tatsächlichen Wirklichkeit handelt. 76 Wissen und empirischer Realität: „ Wissen und Empirie ist nicht dasselbe “ 169 , lautet seine Schlussfolgerung. Während die physikalische Fiktion dazu dient, eine rein physikalische Antwort zu erhalten, die „ der bewußt genauen Fragestellung “ 170 entspricht, so besteht die künstlerische Fiktion darin, eine fiktive Gegenwirklichkeit zu schaffen, aus der sich Erkenntnisse ableiten lassen, „ die nicht nur künstlerischer Art sein müssen “ 171 . Der Unterschied besteht im Gegenstand: „ Beschäftigt jene [die physikalische Fiktion] unser physikalisches Wissen um die Welt, so diese [die künstlerische Fiktion] unsere allgemeinen Erfahrungen mit der Welt. “ 172 Dürrenmatt rekurriert hier erneut auf die allgemeine Lebenswelt - und postuliert, als Künstler in deren Dienst, nicht im Dienste der exakten Wissenschaften zu stehen, also Erkenntnisse mit Hilfe der künstlerischen Fiktion zu erzielen, die nicht Ergebnis streng wissenschaftlicher Herleitung, sondern Resultate künstlerischen Denkens sind. Die Sätze 15 und 16 der „ 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘“ (1962) verdeutlichen diesen Zusammenhang: „ Es [ein Drama] kann nicht den Inhalt der Physik zum Ziele haben, sondern nur ihre Auswirkung “ 173 und „ Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen “ 174 . Dramatische Relevanz gewinnt diese Form des experimentellen Agierens vor allem durch den ethischen Konflikt, d. h. den Widerstreit der Akteure, ihre gegeneinander gerichteten Handlungen und deren zugrunde liegende Motive. Dürrenmatt selbst spricht von der Geometrie einer Fiktion, von der „ Beziehung ihrer Gestalten zueinander “ 175 und den „ Schicksale[n], die sich auf dem abgesteckten Platz abspielen “ 176 . Das Forum dieses Konfliktes ist ein experimenteller Raum im Geiste. Der Konflikt nimmt Gestalt an, insofern er - abgelöst von einer tatsächlichen Realität und auch ohne den Anspruch, direkt einer bestimmten Realität zu entsprechen - zu einem konstruierten Denkinhalt wird, zu einem archetypischen Fall, der anhand eines konkreten Beispiels entsteht und doch überindividuelle Bedeutung trägt. Ein Konflikt bekommt Modellcharakter, er wird im Dürrenmattschen Sinne zur künstlerischen Hypothese über die Natur des Menschen. Experimentellen Charakter erhält diese Konfliktdarstellung dadurch, dass der Künstler sich - nach Dürrenmatts Worten - bei der Ausarbeitung nicht von der eigenen individuellen Meinung über die Welt leiten lässt, sondern von Logik, Konsequenz, 169 Sätze über das Theater, WA 30 211 170 Ebd. 171 Ebd. 172 Ebd. 173 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 92 174 Ebd. 175 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 136 176 Ebd. 77 Erfahrung und seiner Vorstellungskraft: „ [D]urch die innere, immanente Logik wird alles wieder zu einem Bild unserer Welt. “ 177 Dieses Verfahren bewirkt für Dürrenmatt „ die Übereinstimmung der Kunst mit der Welt “ 178 , unter Umgehung des Versuchs einer direkten, illusionsgeladenen Abbildung, sondern vielmehr durch einen bewussten Akt des Spiels: „ Ich denke die Welt durch, indem ich sie durchspiele. “ 179 Bei diesem Spiel handelt es sich um ein Ausprobieren von Möglichkeiten. 180 Es ist ein Gedankenspiel, in dem - ausgehend von der dramatischen Grundsituation, die den Experimentalaufbau bildet - Handlungen ausgedacht, Möglichkeiten erwogen, Reaktionen versucht, Gegenreaktionen kalkuliert werden und miteinander in ein in sich möglichst stimmiges, immanent logisches Gesamtkunstwerk gegossen werden. 181 In „ Querfahrt “ , in den 1970er und 80er Jahren geschrieben und als Teil von „ Turmbau. Stoffe IV-IX “ 1990 erschienen, heißt es: Daß ich mich im Schreiben immer wieder verrenne, erschwert die Arbeit. Doch geht die Phantasie nicht nur assoziativ ans Werk, sondern vor allem dialektisch, im Sinne Kants freilich, hielt er doch die Dialektik für ein Pseudophilosophieren, insofern sie allein durch die Vernunft, ohne die notwendige Stützung auf die Erfahrung, zu Erkenntnissen gelangen möchte. Dieses ‚ Schein-Denken ‘ ist der Phantasie eigentümlich: Sie baut ihre Reiche vor allem durch Logik auf, weshalb es ihr nicht möglich ist, die Welt darzustellen, sondern nur mögliche Welten: Die dialektische Phantasie ist unvorausberechenbar, sie kann von einer These eine Antithese und von dieser eine weitere Antithese bilden und so fort, oder von der gleichen Grundthese, gleichsam wie Stacheln eines Igels, immer neue Antithesen entwickeln. 182 Dürrenmatt thematisiert hier auch den Umstand, dass er als Schriftsteller „ ohne die notwendige Stützung auf die Erfahrung “ , also nicht wie der Naturwissenschaftler mit natürlichen Tatsächlichkeiten, sondern rein in Gedanken experimentiert. An die Stelle der Natur, die Antworten gibt, setzt 177 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 68 178 Ebd. 179 Monstervortrag, WA 33 91 180 Adorno bezeichnet das künstlerische Experiment explizit „ als Ausproben von Möglichkeiten “ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1707). S. 62.). 181 Düsing weist darauf hin, dass Dürrenmatts Spielbegriff, indem er dessen erkenntnistheoretische Dimension hervorhebt, in Abgrenzung zu dem von Schiller in „ Über die ästhetische Erziehung des Menschen “ entwickelten gesehen werden muss: „‚ Durchdenken ‘ bedeutet für Dürrenmatt als Künstler ‚ Durchspielen ‘ . “ (Wolfgang Düsing: Der Richter Wucht als ‚ Nachfahre ‘ des Dorfrichters Adam. Zur Kleist-Rezeption in Dürrenmatts Komödie Die Panne. In: Kleists Rezeption. Hrsg. v. Gunther Nickel. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2013 (= Heilbronner Kleist-Studien Bd. 10). S. 133 - 153. Hier: S. 135 f.) 182 Querfahrt, WA 29 48 f. 78 er Vorstellungskraft und Phantasie - und erkennt hierin einen Akt des assoziativ-dialektischen Denkens, das, was Kant als „ die Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft “ 183 bezeichnet hat: Das Experimentieren mit Ideen, für Kant „ ein Schema, [. . .] welches nur dazu dient, um andere Gegenstände vermittelst der Beziehung auf diese Idee nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirect uns vorzustellen “ 184 , für Dürrenmatt ein unvorausberechenbarer Raum, der Abenteuer und Überraschung bedeutet, in dem in gedanklicher Offenheit Differenzen des Wissens bewusst hergestellt werden, um sie mit unvorhergesehenen Signalen, Bedeutung und Erkenntnis zu füllen. In diesem Raum tritt Dürrenmatt sich gleichsam selbst gegenüber: Er ist Experimentator, also derjenige, der die Versuchsanordnung entwirft, und gleichzeitig Repräsentant der Natur, als der er seine Figuren handeln lässt und damit werkimmanent in gewisser Weise Antwort auf die von ihm selbst geschaffene experimentelle Disposition gibt. Dieses Vorgehen lässt sich im Sinne Gampers als provozierte Erfahrung bezeichnen: Der Künstler stürzt sich in ein Abenteuer mit ungewissem Verlauf - Versuchsgegenstände sind die Figuren, die innerhalb einer bestimmten Situation auf ihre Handlungsmöglichkeiten hin getestet werden. In diesem Vorgehen besteht eine strukturelle Parallele zum zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Forschen, welches sich für Rheinberger auch dadurch auszeichnet, „ daß man niemals genau weiß, wohin ein Experimentalsystem führen wird “ 185 . Dürrenmatts Ausführungen zum künstlerischen Prozess lesen sich ähnlich (1975): „ Das Schreiben ist eine ewige Überraschung [. . .]. Sie wissen vorher nie, was kommt. Das Abenteuer, das Sie erwartet, wenn Sie zu schreiben beginnen, das können Sie nie voraussehen. “ 186 Und 1990: Schreiben ist ein langer Prozess. Man weiß nie, worauf man sich einläßt, wenn man zu schreiben anfängt. Es verändert sich langsam, plötzlich kommt man zu Resultaten, von denen man anfangs gar nichts wußte. Die geben dem Stoff eine ganz andere Form und einen ganz anderen Inhalt. 187 Für Dürrenmatt liegt in diesem Ungewissen, in dem Moment des Noch-nicht- Wissens gerade der Reiz der künstlerischen Produktion selbst begründet. Fehlt es - , entbehrt die Disposition des Unbekannten, dann hat das Unternehmen in seinen Augen schon seinen Sinn verloren: So erging es vielen meiner Pläne. Sie niederzuschreiben wäre kein Abenteuer mehr gewesen sondern Routine. Die Vision eines Stücks oder einer Prosa verführt mich 183 Kant 1995: S. 556. 184 Ebd. 185 Rheinberger 1992: S. 27. 186 G II 139 187 G IV 136 f. 79 zum Schreiben, nicht der Plan. Ich muß das Ziel ahnen, beginne ich zu schreiben, und ich nähere mich ihm, während ich schreibe, oft auf Um- und Irrwegen, und oft geht es mir wie Kolumbus, der Indien ahnte und Amerika fand. Doch sehe ich das Ziel überdeutlich, bevor ich schreibe, lasse ich das Schreiben. Ich bin schon angekommen. 188 In einem solchen Kunstverständnis, welches den experimentellen Akt als Verfahren zur Herstellung neuer Bedeutung anwendet, welches also darin sich äußert, „ daß das künstlerische Subjekt Methoden praktiziert, deren sachliches Ergebnis es nicht absehen kann “ 189 , erkennt Adorno eine fundamentale Anlage der Moderne 190 : „ Konstruktion necessitiert Lösungen, die das vorstellende Ohr oder Auge nicht unmittelbar und nicht in aller Schärfe gegenwärtig hat. Das Unvorhergesehene ist nicht nur Effekt, sondern hat auch seine objektive Seite. “ 191 Hierin lässt sich Dürrenmatts Poetik des Experiments wiedererkennen: Die objektive Seite, von der Adorno spricht, liegt für Dürrenmatt im Stoff selbst, den er - und hierdurch kommt erst die objektive Dimension des Experiments zustande - in seiner Entwicklung dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit unterwirft. 2.2.2 Die Wahrscheinlichkeit als qualifizierte Möglichkeit Das Wahrscheinliche zielt vom Subjekt weg. Für Dürrenmatt und seine dramatischen Fälle indes muss das, was wahrscheinlicherweise geschieht, zur Legitimation der Erkenntnisfunktion eines Kunstwerks ausreichen, da es das Eindeutige und demzufolge eine konkrete Vorhersage der Wirklichkeit nicht geben kann: Im Empirischen gibt es das absolut Sichere allein in der absoluten Tatsache. [. . .] Die absolute Tatsache liegt in der Vergangenheit. [. . .] Alles Zukünftige dagegen ist bloß wahrscheinlich, wobei im Wahrscheinlichen auch das Unwahrscheinliche eingeschlossen ist. 192 Wenn Kunst als Verfahren der Darstellung des Wirklichen für Dürrenmatt nur auf einer Darstellung des Wahrscheinlichen beruhen kann, und der Einzelfall lediglich für sich steht - wodurch eine allgemeine Erkenntnis nur durch einen bewussten Gedankensprung induktiv möglich wird 193 - , stellt 188 Querfahrt, WA 29 63 189 Adorno 2003: S. 43. 190 Vgl.: Ebd., S. 42. 191 Ebd. 192 Die Brücke, WA 29 109 193 Farguell stellt eine Analogie zwischen Kierkegaards „ qualitative[m] Sprung “ innerhalb dessen „ theologische[m] ‚ Denkprojekt ‘ , das Undenkbare zu denken “ und Dürrenmatts „ translogische[m] Sprung in den Einfall “ her. Damit deutet er den Einfall als solchen bei 80 dann nicht eine simulierte künstlerische Wirklichkeit die einzige theorienunabhängige Möglichkeit einer „ Objektivierung “ der menschlichen Wirklichkeit überhaupt dar? Mit Hilfe der Kunst kann keine präzise Darstellung der Wirklichkeit erreicht werden, wie es etwa in den Naturwissenschaften mit Hilfe abstrakter Abbildsysteme geschieht. Wenn Dürrenmatt dennoch keinen Zweifel daran lässt, dass Kunst Erkenntnisse über die Wirklichkeit liefert, dann findet über den Begriff der Wahrscheinlichkeit zumindest eine erkenntnistheoretische Annäherung an die Wirklichkeit statt, durch welche die Kunst, die sich als eine solch geartete versteht, als ein Mittel etabliert wird, mit dessen Hilfe sich überhaupt ein systematischer Wirklichkeitsbezug herstellen lässt. Aus der Darstellung des Möglichen allein lässt sich für Dürrenmatt keine schlüssige Adaptation der Wirklichkeit erreichen; jede dramatische Entwicklung, auch die der menschlichen Natur am allerwenigsten entsprechende, hätte vor dem Hintergrund des Möglichen dieselbe erkenntnistheoretische Valenz, auch die, welche der Künstler vor-sieht. Dürrenmatt wählt die Kategorie des Wahrscheinlichen, weil er in ihr ein Instrument erblickt, mit dem der Anspruch, sich durch Kunst der Wirklichkeit tatsächlich zu nähern, nicht nur Schimäre ist, sondern - weil das Wahrscheinliche die Felder der persönlichen Ansichten entgrenzt - überhaupt erst eine existenzielle Berechtigung erfährt, Kunst der Beliebigkeit bloßer Möglichkeiten entwindet und einer gewissen objektiven Qualifizierung zuführt. Durch die Leitlinie des Wahrscheinlichen wird eine Beschreibungs- und Darstellungskultur erreicht, die dort am Platz ist, wo wissenschaftliche Exaktheit unmöglich ist: Die Dramatik als Bild der Möglichkeit gerät in einen Gegensatz zur Wirklichkeit; indem sie nur das Mögliche und nicht das Wirkliche darstellen will, wird sie nur scheinbar zwingend, denn es gibt nicht nur eine Möglichkeit, sondern viele, während es nur eine Wirklichkeit gibt - die Möglichkeit, die eben wirklich wird. 194 [. . .] Die Unmöglichkeit bleibt unmöglich, weil sie sich nicht verwirklichen läßt. Die Möglichkeit und die Unmöglichkeit schließen einander aus. [. . .] Sowohl das Unwahrscheinliche als auch das Wahrscheinliche können wirklich werden. Das Wahrscheinliche wird wahrscheinlicher wirklich als das Unwahrscheinliche, doch Dürrenmatt bereits als Ergebnis eines gedanklichen Prozesses, in dem die Erfahrungswelt in einen Einfall mündend kondensiert wird. (Roger W. Müller Farguell: Zur Dramaturgie aporetischen Denkens. Dürrenmatt und Kierkegaard. In: Neue Perspektiven zur deutschsprachigen Literatur der Schweiz. Hrsg. v. Romey Sabalius. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1997 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik Bd. 40). S. 153 - 165. Hier: S. 157.) Gleichwohl ist zu bedenken, dass Dürrenmatts Gedankensprung sich primär auf die allgemeinen Erkenntnisse bezieht, die sich induktiv aus einer Einzelfallbeobachtung, also einer künstlerischen Hypothese, ziehen lassen - ein Vorgang, dem er sehr kritisch gegenübersteht. 194 Sätze über das Theater, WA 30 200 f. 81 dialektisch schließen sich die beiden Begriffe nicht aus, wie es die Begriffe Möglichkeit und Unmöglichkeit tun. 195 [. . .] [D]ie Wirklichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit, die eingetreten ist. 196 In welchem Maße Dürrenmatt die künstlerische Tätigkeit hiermit auch als einen Denkprozess in Analogie zu den Wissenschaften versteht, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Terminologie wirft, deren Dürrenmatt sich zur Beschreibung seiner Tätigkeit bedient. Diese nämlich weist eine signifikante Ähnlichkeit zu den Begriffen auf, die Rheinberger zur Beschreibung der Verfahren in den modernen Wissenschaften nutzt. Den „ Konstruktionsprozess “ eines modernen Experimentalsystems nämlich sieht dieser generell von einer Art Probierbewegung beherrscht, die [. . .] als ‚ Spiel der Möglichkeiten ‘ [. . .] beschrieben werden kann. [. . .] Dieses Spiel produktiv zu spielen erfordert ‚ Erfahrenheit ‘ von seiten des Experimentators, etwas, das man vielleicht am besten mit dem paradoxen Ausdruck ‚ erworbene Intuition ‘ umschreiben kann. 197 Auch für Dürrenmatt ist die künstlerische Arbeit, sein Denken von Welten geprägt von einem Variantenspiel - „ Schreiben ist ein Sich-Klarwerden und ist ein Spielen mit Möglichkeiten “ 198 - d. h. die inhaltliche Gestaltung des Dramas an dem zu orientieren, was nach eigenem Ermessen und vor dem Hintergrund des persönlichen Erfahrungsschatzes das ist, was wohl geschehen würde, wenn das Szenario Realität wäre, das Handeln der Menschen also gedanklich in die Realität zu versetzen oder umgekehrt ihr Handeln im Stück dem anzunehmenden wahrscheinlichen menschlichen Handeln in der Realität entsprechend zu beschreiben. Dürrenmatt spielt ein Experiment, was es in der Realität nicht gibt und auch nicht geben kann, in Gedanken durch - angeleitet vom Grundsatz der Wahrscheinlichkeit menschlicher Verhaltensweisen, die auch das Unwahrscheinliche miteinschließt - und welches somit unterschiedliche Varianten ermöglicht, die im Zuge eines simulierten Kontextes, einer gedankenexperimentellen Situation denkbar werden. Er konkretisiert demnach seine individuellen Erfahrungen menschlicher Verhaltensweisen und Motivationen in einem neuen fingierten Kontext und entwickelt sie in seiner Vorstellung weiter, macht sie zu seinen Modellen hypothetischen Charakters. 195 Sätze über das Theater, WA 30 202 f. 196 Sätze über das Theater, WA 30 205 197 Rheinberger 1992: S. 26 f. 198 G IV 184 82 2.2.3 „ Hypotheses fingo “ 199 - Die Induktion als experimenteller Raum Obwohl die fundamentalen Anlagen dieses dramaturgischen und erkenntnistheoretischen Verständnisses bereits in der „ Anmerkung zur Komödie “ 200 (1952) und den „ Theaterproblemen “ (1954) anklingen, und die Dramaturgie des Experiments bereits in den frühen Stücken, in „ Romulus der Große “ (1948), „ Die Ehe des Herrn Mississippi “ (1950) und „ Der Besuch der alten Dame “ (1955) konkrete Anwendung erfährt, wird sie als Poetik auf theoretischer Basis erstmals explizit in der „ Standortbestimmung “ , einem dem Stück „ Frank der Fünfte “ 1960 nachgeschalteten dramentheoretischen Text, zum Ausdruck gebracht. Hier formuliert Dürrenmatt in stark komprimierter Form den Zusammenhang zwischen dem Vorsatz, die Welt nicht direkt darstellen zu wollen - sondern modellhafte Eigenwelten zu erschaffen - und einer Erkenntnisfunktion der Kunst, die mit den „‚ Eigenschaften komplizierter, unendlicher, lediglich begrifflich konzipierter und womöglich überhaupt nur hypothetisch in Betracht gezogener Strukturen ‘“ 201 gleichgesetzt werden kann. Auf das Theaterstück übertragen, heißt das, die Handlungen der Figuren nicht einem bestimmten Aussagezweck zu unterwerfen, sondern die Erfahrung der Welt als Maßstab zu setzen und den Figuren vor diesem Hintergrund eine eigene Persönlichkeit zu geben, also die motivationale Struktur ihres Handelns in ihnen selbst anzulegen und konsequent zu entwickeln. Wenn Dürrenmatt weiter sagt, seine Dramatik sei „ vom ‚ Denken über die Welt ‘ zum ‚ Denken von Welten ‘ übergegangen “ 202 , so ist dies vor dem Hintergrund der Genese dieses Textes eine konsequente Erläuterung seines experimentellen Kunstverständnisses, das gerade nicht darauf zielt, eine persönliche Meinung, eine These oder eine Einschätzung der Welt dramatisch umzusetzen, sondern fernab einer eigenen Deutung oder Interpretation der Welt Dramatik zu treiben: Der Autor ist weder Zyniker noch Moralist. Er stellt weder seine Person zur Diskussion noch seinen Glauben, weder seine Überzeugungen, noch seine Zweifel, 199 Standortbestimmung, WA 6 155 200 Hier schon entwickelt Dürrenmatt grundsätzlich seine Komödientheorie in Anlehnung an Aristophanes, spricht vom Einfall als der Ausgangsdisposition erfundener Handlungen, die in der Gegenwart spielen, und bringt das Experimentelle einer solchen Poetik zur Sprache: „ Diese Kunst will nicht mitleiden wie die Tragödie, sie will darstellen. So sind die grotesken Reisen des Gulliver gleich einer Retorte, in der durch vier verschiedene Experimente die Schwächen und die Grenzen des Menschen aufgezeigt werden. Das Groteske ist eine der großen Möglichkeiten, genau zu sein. Es kann nicht geleugnet werden, daß diese Kunst die Grausamkeit der Objektivität besitzt “ . (Anmerkung zur Komödie, WA 30 25) 201 Standortbestimmung, WA 6 156 202 Ebd. 83 obgleich er weiß, daß dies alles unbewusst mitspielt. Gerade deshalb. Allein seine Versuche und Experimente in einem schwierigen Metier zählen. 203 Dürrenmatt antwortet mit der „ Standortbestimmung “ auf Vorwürfe, seinem Stück mangele es an Realismus, was deutlich macht, welchen Missverständnissen über seine Intentionen und sein künstlerisches Vorgehen Kritik und Forschung in jenen Jahren (und auch später noch) unterlegen sind. 204 Er spricht sich gegen die bewusste mimetische Wiedergabe der Welt aus, die seiner Meinung nach zwangsläufig dem Newtonschen Grundsatz „ Hypotheses non fingo “ folgen und daher unbedingt ideologisch oder zumindest tendenziös sein muss: „ Sie [die Dramatik] wird ‚ naturwissenschaftlich abhängig von der Theorie über die Welt, auf die sie sich stützt, deren Sieg oder Niederlage dann ihren jeweiligen Wahrheitsgehalt bestimmt. “ 205 Dürrenmatt wendet sich hier deutlich von Brechts Theater, der künstlerischen Darstellung der Gesellschaft unter einem bestimmten zweckgebundenen subjektiven Blickwinkel oder vor dem Hintergrund eines definierten Weltbildes, ab. Was Brecht mit seinem Theater für das wissenschaftliche Zeitalter anstrebt, ist gerade das, worin Dürrenmatt sich von ihm diametral unterscheidet. Er behauptet für sich: „ Hypotheses fingo “ 206 . Brecht hält - und Dürrenmatt bezieht sich explizit auf ihn - die gesellschaftliche Wirklichkeit für veränderbar, seine Dramen intendieren, bestimmte gesellschaftliche 203 Standortbestimmung, WA 6 159 204 Das Vorgehen der Kritik, gegen die Dürrenmatt sich wehrt, verläuft meist nach einem bestimmten Schema: Das Agieren der Figuren wird mit dem eigenen Weltbild verglichen und bei Nicht-Übereinstimmung als unrealistisch abgelehnt. Dies führt zu einem negativen Urteil über Dürrenmatts Modell der Wirklichkeit an sich. Als Repräsentant dieser Prozedur sei hier Armin Arnold zitiert, der in seiner Kritik an „ Frank der Fünfte “ nicht nur seinen Glauben an sein eigenes Weltbild ins Feld führt, sondern diesen aus Gründen der Selbstbestätigung auch noch in den Pluralis majestatis setzt: „ Des Pudels Kern liegt im folgenden: wir glauben wohl wie Dürrenmatt, daß die Welt auf den Hund gekommen ist. Wir glauben an die entsetzliche Ärztin in den Physikern, [. . .] sogar an den Sündenfall der Bürger von Güllen. Aber an das Personal von Frank V. glauben wir nicht. Daß Herbert in Oxford ein Schuft und Franziska im Pensionat zu Montreux eine Hure wird, ist weder glaubhaft noch komisch. [. . .] Frank V. überzeugt weder als Modell einer neuen Welt noch als Gleichnis für die unsere. “ (Armin Arnold: Friedrich Dürrenmatt. 5., erg. Aufl. Berlin: Colloquium 1986 (= Köpfe des 20. Jahrhunderts Bd. 57). S. 75.) Solche Urteile dokumentieren einzig eine defizitäre Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Werk und der hinter ihm stehenden Poetik. Nicht erst über ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen hat die Wirklichkeit Dürrenmatts Modell einer von Korruption durchsetzten Bank eingeholt und überholt. Es konnte schon bei Erscheinen als groteskes Gleichnis eines Kollektivs nur aus deren Welt fallen, welche sich die Paradoxie der menschlichen Natur zu erkennen beharrlich weigerten. 205 Standortbestimmung, WA 6 156 206 Standortbestimmung, WA 6 155 84 Zustände kritisch zu überdenken und ein marxistisches Ideal zu propagieren; für Dürrenmatt hingegen ist eine solche unmittelbare Stellungnahme nicht mehr möglich; die Deutung der Welt durch den Schriftsteller eignet sich seiner Ansicht nach unter Umständen, um eine subjektive Meinung zu verallgemeinern, nicht jedoch um eine Welt widerzuspiegeln, die ihre Einheit verloren hat und sich - auch aufgrund ihrer komplexen Dynamik - der Analyse durch geschlossene Weltbilder entzieht. Er strebt einer möglichst vorurteilsfreien Erkenntnis der menschlichen Natur zu. Dieses ist für Dürrenmatt nicht über die dramatische Thematisierung eines Problems zu erreichen, sondern über die Ausarbeitung eines Stoffes: Nur begeht der Regisseur (oder der Kritiker) oft den Fehler, zu glauben, der Dramatiker müsse immer vom Problem ausgehen. Das ist ein ebenso wildes Vorurteil wie etwa jenes, in einem Theaterstück hätten sich die Personen zu ‚ entwickeln ‘ . Der Dramatiker kann von Stoffen ausgehen, die Probleme enthalten. Das ist ein Unterschied. Er braucht dann ruhig nur am Stoff zu arbeiten und nicht an den Problemen. 207 Was Dürrenmatt hier eigentlich vornimmt, indem er diese zwei Formen der Dramatik voneinander separiert, ist eine Unterscheidung von deduktivem und induktivem Verfahren, oder - auf die Wissenschaften übertragen: von einer theorieabhängigen und einer theorieunabhängigen Vorgehensweise, wobei er zweifelsfrei letztere für sich in Anspruch nimmt. Seine experimentelle Dramatik besteht eben nicht in einem Verfahren der Deduktion, in der dramatischen Konkretisierung etwa eines bestimmten Weltbildes oder einer eigenen Überzeugung zu einem bestimmten Problemkomplex, sie kommt also nicht von einer Theorie zum Modell, wie es etwa bei Brecht der Fall ist. Es handelt sich vielmehr um eine Erkenntnisarbeit, die umgekehrt, anhand der gedanklichen Ausarbeitung des Einzelfalls zu einer modellhaften Erkenntnis der Wirklichkeit gelangen will, also induktiv vorgeht. Der Unterschied dieser beiden Positionen liegt vor allem in den verschiedenen konzeptuellen künstlerischen Intentionen: dort ein Weltbild zu exemplifizieren, hier einen menschlichen Konflikt, einen Stoff auszuarbeiten; dort in dem Bemühen um die modellhafte Ausgestaltung einer Meinung oder Theorie, hier in der weitgehend vorurteilsfreien Erkundung der menschlichen Natur; dort in einem Bild, das eine subjektive Interpretation bereits voraussetzt, hier in einer Eigenwelt, die in sich logisch aufgebaut ist und erst durch spätere Interpretation einen Bezug zur individuellen Lebenswirklichkeit erhält: Mathematik als Beispiel: Wird nun das Ziel aufgegeben, ‚ die Welt wiederzugeben ‘ , muß daran gegangen werden, ‚ mögliche Welten ‘ darzustellen, ‚ mögliche mensch- 207 Standortbestimmung, WA 6 158 85 liche Beziehungen ‘ . Die Dramatik wird nicht mehr ‚ naturwissenschaftlich ‘ bestimmt, sondern ‚ mathematisch ‘ . Dies wird deutlich, wenn man sich erinnert, daß es mathematische Untersuchungen gibt über die ‚ Eigenschaften komplizierter, unendlicher, lediglich begrifflich konzipierter und womöglich überhaupt nur hypothetisch in Betracht gezogener Strukturen ‘ . 208 Auch wenn der Vergleich mit der Mathematik hinkt, da auch die Physik sich der Mathematik bedient und auch Dürrenmatts Dramatik anschaulich ist 209 - zielen diese Erwägungen in das Zentrum seiner experimenteller Poetik. Er grenzt hier zwei Poetiken voneinander ab, nämlich die, welche die Mimesis als „ kreative Nachschöpfung realer oder möglicher Vorgänge, Handlungen, Milieus, Gegenstände, Gespräche und Personen mit künstlerischen Mitteln nach den Gesetzen von Anschaulichkeit, Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftigkeit “ 210 anstrebt, und jene, die eine experimentelle Eigenwelt als hypothetisches Modell fokussiert, welche „ auch die ‚ wirkliche Welt ‘ in sich enthalten “ 211 muss. Aus Dürrenmatts Worten ergibt sich, warum eine nachahmende, abbildende Kunst seiner Meinung nach nicht in der Lage ist, die Realität erkennbar zu machen; ihr ist eine bestimmte Perspektive immanent, mit welcher der Blick auf die Realität gerichtet wird, ein bestimmter Zweck oder eine Intention, die auf einer Überzeugung, einem Glauben oder einer Ideologie beruht. Für Dürrenmatt gibt es eine solche Konstante nicht; in der Kunst verstellt sie den Blick auf das Wesentliche eher, als dass sie geeignet wäre, der menschlichen Wirklichkeit ein tatsächliches Bild zu geben. Die deduktive Methode - von einem festen Plan auszugehen und das Werk diesem Plan zu unterwerfen, widerspricht also Dürrenmatts dramaturgischen Vorstellungen per se: „ [W]ir können nicht mehr nachahmen. Unser Theater ist keine Nachahmung der Welt, das ist ganz unmöglich, die Welt ist zu kompliziert, viel zu verrückt. “ 212 Die induktive Methode hingegen, das Ausgehen von einem Einfall, einem Einzelfall, einer bestimmten dramatischen Konstellation, ist die dramaturgische - und experimentelle - Basis, die es Dürrenmatt erlaubt, jedes Kunstwerk als ein eigenes Denkmodell unter vollkommen neuen Voraussetzungen zu begreifen, da mit ihr auf ein immerwährend gültiges, feststehendes Allgemeines - sei es Gottesglaube, Vernunft, politische Ideologie, die Idee einer Ethik oder eines metaphysischen Systems oder auch eine Wissenschaft, welche die Wahrheit einer Theorie postuliert - 208 Standortbestimmung, WA 6 156 209 Dies erkennt Dürrenmatt auch selbst. In einem Gespräch von 1961 gibt er zu: „ In der Standortbestimmung habe ich in einer Art Übermut eine Synthese von theoretischer Naturwissenschaft und Dramaturgie versucht. “ (G I 101) 210 von Wilpert 1989: S. 574. 211 Standortbestimmung, WA 6 157 212 G III 189 86 verzichtet werden kann. Die Realität kann durch Konstanten nicht mehr repräsentiert werden, vielmehr entpuppt sich die Welt als ein Ort, der sich vor allem durch die Destabilität seiner Systeme auszeichnet. Rechtsbegriffe erweisen sich als variabel, schnell austauschbar. Machtkonstellationen wechseln sich unversehens ab. Dürrenmatts Anspruch ist es, Welttheater zu schaffen, seine Dramatik muss der Variabilität der Welt, „ diesem Durcheinander an Weltbildern “ 213 , gerecht werden - hier kommt nur das Verfahren der Induktion infrage, mit dem weitestgehend unvoreingenommen der Wirklichkeit in immer neuen Gleichnissen, in unabgeschlossenen Denkprozessen neue Gestalt gegeben werden kann - und welche es erlaubt, sich der menschlichen Natur in elementarer Weise zu nähern. In letzter Konsequenz bedeutet das, dass Dürrenmatts Experimente zu hypothetischen Modellen führen, die auf der Grundlage von Beobachtungen der Welt im konkreten, ausgesuchten, qualifizierten Einzelfall heraus entwickelt werden. Diese Modelle sind weit entfernt von einer allgemeinen Theorie, aus ihnen und ihrer poetologischen Theorie spricht letztlich der überzeugte Glaube Dürrenmatts, dass Erkenntnis immer unsicherer, bezweifelbarer und vor allem individueller Natur ist: Ich schaffe mir, ähnlich wie der Physiker, Modelle von möglichen menschlichen Beziehungen. So wie der Physiker zur Veranschaulichung dessen, was Licht ist, nämlich einmal Korpuskel, einmal Welle, verschiedene Formeln verwenden muß, so benötige ich verschiedene Modelle auf der Bühne. Diese Modelle sind gleichzeitig auch meine ‚ Hypothesen ‘ , meine Methode, im wissenschaftlichen Zeitalter, das Brecht immer erwähnt hat, bestimmte Phänomene der ‚ menschlichen Natur ‘ zu veranschaulichen. Sie dienen außerdem zur Selbstverständigung. Man schafft sich eine Welt auf der Bühne, um unbedingter denken zu können. 214 2.2.4 Der Einfall als experimentelle Ausgangssituation Ein zentraler Begriff für Dürrenmatts Komödientheorie ist der Begriff des Einfalls. In den „ Theaterproblemen “ führt er aus, inwieweit dieser das entscheidende Abgrenzungsmerkmal zwischen Tragödie und Komödie darstellt: „ Die Tragödie ist ohne Einfall. Darum gibt es auch wenige Tragödien, deren Stoff erfunden ist. “ 215 Die Komödie hingegen lebt vom Einfall. Einfälle definiert Dürrenmatt als „ erfundene Handlungen, die sich [. . .] in der Gegenwart abspielen “ 216 . Es geht ihm also um eine dramatische Konfliktsituation, 213 G IV 160 214 G I 102 f. 215 Theaterprobleme, WA 30 61 216 Ebd. 87 die geeignet ist, „ die Gegenwart [. . .] ins Sichtbare [zu] verwandeln. “ 217 Durzaks Analyse, nach der „ Einfall “ und „ Zufall “ z. B. in Traps ’ Autopanne am Anfang der „ Panne “ zusammenfallen 218 , scheint das Verhältnis nicht in der Weise zu berücksichtigen, in welches Dürrenmatt den „ Einfall “ zur „ Handlung “ rückt. Dass Traps eine Autopanne erleidet, mag ein Zufall sein, der zu gewissen weiteren Vorkommnissen führt - einen Einfall jedoch mit einer tatsächlichen zurechenbaren Relevanz für den weiteren Verlauf der Handlung stellt diese Panne keineswegs dar. Dürrenmatt geht es kaum darum, zu beschreiben, dass das Leben von dummen Zufällen abhängt. Die eigentliche Handlung des Stückes beginnt in dem Moment, in dem Traps an die Tür des Richters klopft. Der Einfall des Stückes ist das Gerichtsspiel. An ihm, in ihm lässt sich das Verhalten der beteiligten Personen anschaulich machen, nicht jedoch anhand der anfänglichen Autopanne - so genial und grotesk sie sich in ihrer abgründigen Metaphorik als Initialereignis auch ausnehmen mag. Letztlich dient sie in erster Linie dazu, Traps überhaupt in das Haus des Richters zu bringen. Daher ist hinsichtlich des Einfalls eher der Definition von Rüedi zu folgen: „ Der Einfall ist keine Kategorie des Stoffs, der Einfall schafft keinen Stoff, er setzt ihn um oder macht ihn möglich “ . 219 Für Rüedi verhält sich der Einfall also zum Stoff wie etwa die Erscheinung zur Idee im Platonschen Sinn. Er löst den Einfall vom Stoff ab, indem er jenen als die Initiative zu dessen möglicher dramatischer Realisierung versteht: Stoff ist Zusammenhang, für Dürrenmatt Zusammenhang zwischen Innen und Außen, Erleben und Denken, dem Besonderen und dem Allgemeinen, dem Einzelnen und der Welt, dem Gefundenen und dem Konstruierten, dem Objektiven und dem Verfügbaren. 220 „ Stoffe “ können als integrale Bewusstseinsgeflechte, Gewebe aus Erlebnis, Erinnerung, Empfundenem, Gefühltem, Gedachtem verstanden werden, für Dürrenmatt anzusiedeln „ im Vorsprachlichen, noch nicht genau Gedachten, im Bildhaften, Visionären “ 221 . Der Einfall erst macht den Stoff dramaturgisch möglich, er konkretisiert ihn. Er zwingt den Künstler dazu, sich dem Einzelfall auszusetzen, ihn auszuschmücken, ihn mit dramatischem Leben zu füllen. Dürrenmatt sagt nicht ohne Grund, dass „ im Einfall etwas Gewalttätiges “ 222 liegt. Diese Gewalt des Einfalls besteht in der ihm immanenten 217 Theaterprobleme, WA 30 62 218 Manfred Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Stuttgart: Reclam 1972. S. 45. 219 Rüedi 1994: S. 37. 220 Ebd., S. 28. 221 Der Winterkrieg in Tibet, WA 28 14 222 Kunst und Wissenschaft, WA 36 78 88 unerbittlichen Forderung nach Zucht und konsequenter inhaltlicher Disziplin. Der Einfall stellt in diesem Kontext das Element der Verwandlung eines Stoffes in Theater dar, er ist dasjenige, was geeignet ist, eine dramatische Handlung auszulösen, Konflikte zu initiieren, die den Menschen anschaulich machen, Spannung und Paradoxie enthalten: „ Das dramaturgische Denken untersucht die Wirklichkeit auf ihren inneren Spannungsgehalt hin. Je paradoxer sie dargestellt werden kann, desto besser eignet sich die Wirklichkeit als theatralischer Stoff. “ 223 Der Einfall muss sich also als stofflich instrumentalisiert und als dramaturgisch zureichend erweisen. In experimenteller Hinsicht ist der Einfall somit die Ausgangssituation des künstlerischen Experimentes - die Grundidee, die durchgespielt wird, die im induktiven künstlerischen Gedankengang konstruierte Ursache eines Konfliktes, in dem die Handlungen und Reaktionen der Menschen simuliert werden können - und zwar so, wie wenn es Wirklichkeit wäre. Wenn Dürrematt sagt, die Aufgabe des Dramatikers sei es, zu beschreiben, „ was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich unwahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen würde “ 224 , dann handelt es sich beim theatralischen Einfall um genau dieses Bestimmte, etwas, das eine Bestimmung hat, die Bestimmung und die Eignung nämlich, dadurch, dass es durchdacht und durchgespielt wird, Erkenntnisse über die Natur des Menschen hervorzubringen, indem dieser originären Situationen ausgesetzt wird, die seine Handlungen initiieren. 2.2.5 Der Mythos als Modell der Wirklichkeit Dürrenmatt strebt dem Elementaren zu. Er entwickelt, indem er seine Kunstwerke in dialektischer Entsprechung zu den Verfahren der Naturwissenschaften aufbaut - was weniger einer Übertragung als mehr einer autarken Konstruktion entspricht - , seine Hypothesen. Diese haben Modellcharakter, zielen demnach generell auf eine auf „ Abstraktion und Idealisierung beruhende (formale) Abbildung wichtiger struktureller und funktioneller Eigenschaften der realen Welt im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen “ 225 . Eine solche Kunst intendiert nicht eine unmittelbare Darstellung von Realität, sondern produziert eine Matrix, in der prinzipielle Phänomene menschlichen Handelns verdichtet, punktuell unter definierten Bedingungen - präziser 223 Monstervortrag, WA 33 91 224 Sätze über das Theater, WA 30 207 225 Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Alfred Kröner 1990 (= Kröners Taschenausgabe Bd. 452). S. 493. 89 Konflikt, festgestellter Ort, bestimmte beteiligte Personen - herauspräpariert werden. Dass es Dürrenmatt in seinen Fiktionen nicht um eine tatsächliche Abbildung realer Zustände geht, sondern um eine Laborsituation, eine Gedankenkonstellation, die das Wesen der menschlichen Natur in seinen definitiven Ausprägungen zur Anschauung bringen soll, legt auch das Selbstgespräch „ Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D. “ nahe, worin der Autor über sich selbst feststellt: „ Er [Dürrenmatt] arbeite an einem Motiv, wie die Physiker etwa am ‚ Atommodell ‘ immer wieder gearbeitet hätten, [. . .] wenn auch der Vergleich hinke “ 226 . Dürrenmatt sieht sich als Schriftsteller, der Modelle a-tomarer, un-teilbarer menschlicher Phänomene entwirft, in Analogie zu einem Naturwissenschaftler, der ein Modell zur Veranschaulichung eines physikalischen Vorgangs oder Zustands schafft. Zur Verdeutlichung dessen, was er mit der Modellhaftigkeit seiner Dramatik meint, sei ein Blick auf das semantische Feld geworfen, welches sich durch die von ihm in diesem Kontext benutzten Begriffe „ Mythos “ , das „ Elementare “ , „ Natur des Menschen “ und „ Experiment “ konstituiert. Dürrenmatt fordert: „ Aus den Fiktionen müssen Mythen hervorgehen, sonst sind sie sinnlos. “ 227 Mythos bedeutet ursprünglich „ Wort, Erzählung “ 228 ; von Wilpert definiert ihn als „ Erzählung von Göttern, Dämonen und Helden, Ereignissen der Ur- und Vorzeit als ganzheitl. Weltaneignung und symbol. Verdichtung der allgemeinen Urerlebnisse “ 229 , erkennt darin „ ein unerschöpfliches Stoffreservoir für die Lesbarkeit der Welt “ 230 und ein Mittel der Erkenntnis von Bilder[n] und Vorstellungen, die nach Durchgang durch das rationale Denken und die wissenschaftliche Erkenntnis dennoch als rational unfaßbare, ehrfürchtig hinzunehmende Symbole erkannt werden, den gefühlsmäßigen Untergrund ins Überwirkliche steigern und im erlebbaren Bild den [. . .] Gehalt verlebendigen. 231 Hier wird deutlich, was Dürrenmatt meint, wenn er sagt: „ Der Realität muß im Theater eine Überrealität gegenüberstehen. “ 232 Die Überrealität ist symbolischen Charakters, der Mythos, durch den das Elementare, das Un-Teilbare der menschlichen Natur anschaulich, erlebbar wird. Heidegger definiert den Mythos als das sagende Wort. Sagen ist für die Griechen: offenbar machen, erscheinen lassen, nämlich das Scheinen und das im Scheinen, in seiner Epiphanie, Wesende. Mythos 226 Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D., WA 31 153 227 Standortbestimmung, WA 6 157 228 von Wilpert 1989: S. 600. 229 Ebd. 230 Ebd., S. 601. 231 Ebd. 232 Standortbestimmung, WA 6 157 90 [im Original altgriechisch] ist das Wesende in seiner Sage: das Scheinende in der Unverborgenheit seines Anspruchs. Der Mythos [im Original altgriechisch] ist der alles Menschenwesen zuvor und von Grund aus angehende Anspruch, der an das Seiende, an das Wesende denken läßt. 233 Das Wesende im Heideggerschen Sinne lässt sich verstehen als das Wesen der Natur, das sich in der Sage, dem Mythos, dem Kunstwerk, das sich im Denken enthüllt. Wesen ist „ die ‚ Natur ‘ , das eigentümliche Sein, Sosein, [. . .] das Wirkliche, ‚ Wesenhafte ‘ , das ‚ eigentliche ‘ Sein [. . .]; [d]as Allgemeine, ‚ Wesentliche ‘ , einer ganzen Art oder Gattung, seine Bedeutung, seine Idee, sein Sinngehalt “ 234 . Dürrenmatt selbst spricht ebenfalls von der Natur des Menschen, mit der er Dramatik treibt; außerdem behauptet er: „ Dramatik ist letztlich und vor allem ein Erzielen des Elementaren. “ 235 - Natur „ ist das, was jedem Seienden von seinem Entstehen her wesentlich ist [. . .], das ursprüngliche Wesen, der Kern einer Sache “ 236 . Der Begriff des Elementaren verbindet die Sphären des Wortes, der Sage, der Kunst mit der Natur des Menschen - das „ Element “ ist der „ Grundstoff; Urstoff [. . .] Buchstaben als Grundbestandteil des Wortes [. . .] ‚ elementar ‘ grundlegend; urwüchsig; naturbedingt “ 237 . Dürrenmatt will die Grundstrukturen des menschlichen Verhaltens, der menschlichen Motivation offenbar machen. Wie verhalten sich Menschen in bestimmten Situationen, und was sind die Gründe dafür? Das ist die experimentelle Ausgangssituation seiner archetypischen Konstruktionen; im Kunstwerk er-denkt bzw. ent-deckt sich die Natur des Menschen, das Elementare, das Nicht-weiter-Zurückführbare; das Wesentliche der menschlichen Natur tritt aus dem Verborgenen ins Unverborgene, das ist der Zauber des Mythos; die Wahrheit erscheint darin, wird illuminiert. Dürrenmatt formuliert diesen Gedanken folgendermaßen: „ Kümmert man sich jedoch beim Schreiben nicht um die Wahrheit, wird es auf einmal unmöglich, sie nicht zu schreiben. Im Unabsichtlichen bricht sie durch. “ 238 Das Modell, im experimentellen Prozess einer provozierten Erfahrung entstehend, aus dem Einfall geboren, der Wahrscheinlichkeit unterworfen, lädt sich mit überindividueller Bedeutung, wird zum Symbolträger, zum flexiblen, mehrdeutigen Denkgerüst, das genutzt werden kann, um das eigene Sein daran und 233 Martin Heidegger: Was heißt Denken? Vorlesung Wintersemester 1951/ 52. Stuttgart: Reclam 2010 (= Reclams Universalbibliothek Nr. 8805). S. 11. 234 Schmidt 1991: S. 778 f. 235 Standortbestimmung, WA 6 159 236 Schmidt 1991: S. 501 f. 237 Duden. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Günther Drosdowski u. a. Mannheim u. a.: Dudenverlag 1963. S. 133 f. 238 Standortbestimmung, WA 6 159 91 darin zu erkennen. Hierin liegt für Dürrenmatt das erkenntnistheoretische Prinzip seiner experimentellen Kunst, der mythologische Sinn seiner Fiktionen: „ Die Fiktion muß auch die Realität in sich schließen, die ‚ mögliche Welt ‘ muß auch die ‚ wirkliche Welt ‘ in sich enthalten. “ 239 In diesem Sinn lässt es sich verstehen, wenn Dürrenmatt in der ersten Szene von „ Frank der Fünfte “ den Personalchef der Bank, Egli, das Publikum mit der Aufforderung begrüßt: „ Wag dich selbst zu sehn in unserem Handeln/ Die wir wie du hienieden wandeln “ . 240 Heidegger erkennt in genau diesem Vorgang das Wesen der Dichtung: „ [D]as Andenken an das zu-Denkende ist der Quellgrund des Dichtens. “ 241 : Die Schönheit ist ein Geschick des Wesens der Wahrheit, wobei Wahrheit besagt: die Entbergung des Sichverbergenden. Schön ist nicht das, was gefällt, sondern was unter jenes Geschick der Wahrheit fällt, das sich ereignet, wenn das ewig Unscheinbare und darum Unsichtbare in das erscheinendste Scheinen gelangt. 242 Auch wenn Dürrenmatt in den „ Theaterproblemen “ behauptet, nur zu jenen sprechen zu können, „ die bei Heidegger einschlafen “ 243 , so bleibt hiervon zweifellos unberührt, dass beider Verständnis des Zusammenspiels von Mythos und Wahrheit, wie gesehen, strukturelle Ähnlichkeiten aufweist - die sich letztlich auch in Dürrenmatts Ansinnen manifestieren, das sich in der Wirklichkeit Verbergende in der Kunst zum konkreten Aufscheinen zu bringen. 2.2.6 „ Ich warf die Leiter weg. “ 244 - Im Spannungsfeld von physikalischer Erkenntnistheorie und experimenteller Kunst Wenn nun vor dem Hintergrund der zahlreichen Bezüge, die Dürrenmatt zwischen seiner Kunst und den Verfahrens- und Erscheinungsweisen der modernen Naturwissenschaften aufstellt, die Frage sich erhebt (wie Gamper und Calzoni sie für die experimentelle Literatur fordern), auf welchen naturwissenschaftlichen Experimentbegriff Dürrenmatt sich genau bezieht, um eben diesen Akt der Sichtbarmachung der menschlichen Natur zu vollziehen, dann konkretisiert sich die Parallele zwischen zwei Sphären, die oft genug als unvereinbar gelten, deren Repräsentanten sich unterschiedlichen Welten zugehörig fühlen, zwischen denen Dürrenmatt für sich und 239 Standortbestimmung, WA 6 157 240 Frank der Fünfte, WA 6 13 241 Heidegger 2010: S. 12. 242 Ebd., S. 14. 243 Theaterprobleme, WA 30 32 244 Vinter, WA 29 193 92 seine Kunst aber eine enge Verknüpfung herstellt. Sein oft zitierter Satz aus dem Jahr 1982 „ Die Welt dramaturgisch in den Griff zu bekommen, das geht heute ohne Beschäftigung mit der Wissenschaft überhaupt nicht “ 245 ist vieldeutig, signalisiert er doch zum einen, dass ein Künstler sowohl die Methoden als auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und ihre Auswirkungen nicht ignorieren darf, sondern vielmehr in seine Arbeit einbeziehen muss 246 , zum anderen, dass Dürrenmatt im Bewusstsein einer Erkenntniskritik arbeitet, nach der zwar die Physik des 20. Jahrhunderts zu einer Aufsplitterung geschlossener Weltbilder geführt hat, die aber im Umkehrschluss ebenso die Infragestellung der Wissenschaft selbst, ihrer Objektivität und ihrer Legitimierung, indiziert. Dürrenmatt 1980: Die Zeit der geschlossenen Weltbilder ist vorbei. Ich wäre in dieser Beziehung vielleicht am besten Lessing vergleichbar, der nicht Wahrheiten darstellt, sondern die Suche nach Wahrheit. Im Grunde stellen wir heute - auch in den Naturwissenschaften - nur noch Scheinbilder dar, wie der große Physiker Hertz feststellt. 247 Hier wird ein Skeptizismus deutlich, dem nicht nur die generelle Ablehnung umfassender philosophischer Welterklärungsversuche immanent ist, sondern auch die Scheu, die Wissenschaft selbst als einen solchen anzuerkennen. 1985 sagt Dürrenmatt: „ Was mich von Brecht trennt: Er glaubt an eine Welt, die veränderbar ist, nach dem Motto: richtige Wissenschaft - richtige Politik - richtige Menschen. Nun ist weder der Mensch ‚ richtig ‘ noch die Wissenschaft, noch die Politik. “ 248 Drei Jahre zuvor, 1982, erscheint Jean-Francois Lyotards Bericht „ Das postmoderne Wissen “ , in dem der Autor diese Kritik des Wissens als epochales Phänomen beschreibt, die fundamentale Abkehr von Metaerzählungen und geschlossenen Weltbildern als Resultat der wissenschaftlichen Entwicklung diagnostiziert, diese ihrerseits aber ebenso einer skeptischen Prüfung hinsichtlich ihrer Legitimierung zu unterwerfen ist: Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen für ‚ postmodern ‘ . Dies ist ohne Zweifel ein Resultat des Fortschritts der Wissenschaften; aber dieser Fortschritt setzt seinerseits diese Skepsis voraus. 249 245 G III 143 246 In „ Rollenspiele “ führt Dürrenmatt diesen Gedanken aus: „ Ich glaube, der große Fehler der heutigen Philosophie ist, daß sie die Naturwissenschaft ausklammert, und was ist deren Basis: das Experiment. Ich muß auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaft und ihre apriorischen und empirischen Methoden in meine dramatischen und Prosa- Experimente einbeziehen “ (Rollenspiele, WA 18 161). 247 G II 308 248 G III 215 f. 249 Jean-Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hrsg. v. Peter Engelmann. Aus d. Franz. v. Otto Pfersmann. Vollst. überarb. Fassung. Graz, Wien: Böhlau 1986 (= Edition Passagen 7). S. 14. 93 Auch Dürrenmatt ist - trotz aller Faszination - von dieser Skepsis an den Wissenschaften beseelt - wissenschaftliche Theorien sind für ihn keineswegs als unverrückbare Wahrheiten anzusehen, sondern stellen vielmehr interpretatorische Modelle für die Wirklichkeit dar: „ Die Wissenschaft kann nur interpretieren. Sie interpretiert - das ist ein großer Unterschied zur Erkenntnis. Es gibt ja auch immer andere, neue Interpretationen. Eine Interpretation ist nicht gleich der Wahrheit “ 250 , konstatiert er 1983. Die Basis dieser Einschätzung bildet die Einsicht, dass eine wissenschaftliche Theorie solange gilt und „ zu gewissen Phänomenen paßt, solange sie nicht widerlegt wird und man eine andere finden muß. Das ist eine Interpretation, und jede Interpretation ist heute eben so oder so. “ 251 Eine Theorie über die Wirklichkeit mag demzufolge konsensual für einen gewissen Zeitraum zur Gültigkeit erhoben sein, ihrer subjektivistischen 252 Qualität kann sie für Dürrenmatt aber dennoch nicht entledigt werden: Es ist auch die Frage: Was wird erlebt? Sie können an einem Vorfall, der Ihnen begegnet, etwas erleben, was ein anderer nicht erlebt. Sie haben ganz andere Erlebnisse, die nun plötzlich an etwas anklingen, da es ja Ihr eigenes Erleben ist. Im Grunde muß die Wissenschaft heute wieder einen ungeheuren Mut zur Subjektivität bekommen, den wir verloren haben. Wir suchen immer das Objektive, was es aber nicht gibt. 253 Thomas Wünsche weist in seiner Arbeit „ Dürrenmatts stereoskopisches Denken “ (1996) darauf hin, dass eine kritische Einstellung des Autors zum erkenntnistheoretischen Positivismus der Naturwissenschaften vor allem in den späten Schriften der „ Gedankenfuge “ , in „ Der Versuch “ und „ Kabbala der Physik “ zum Ausdruck kommt. 254 In der Tat finden sich verstärkt in den Quellen der 80er Jahre deutliche Hinweise, die dies belegen. In einem Gespräch von 1990 etwa spitzt Dürrenmatt diese Skepsis zu: Natürlich waren ursprünglich die Religionen dazu da, den Menschen einen Sinn zu geben. Aber die Wissenschaftler sagten, es brauche diesen höheren Sinn nicht mehr. Und heute sieht man, daß auch die Wissenschaften nicht viel anders funktionieren als früher die Religionen. 255 250 G III 191 251 G III 192 252 Hier zu verstehen als die „ Lehre von der durchgängigen Subjektivität der intellektuellen Wahrheit [. . .], die Leugnung absoluter Geltungen “ (Schmidt 1991: S. 704.). 253 G III 192 254 Vgl.: Thomas Wünsche: Dürrenmatts stereoskopisches Denken. Die Erkenntniskritik oder Der ‚ Versuch zu einem Grundriß ‘ . Hannoversche Diss. Hannover: [o. V.] 1996. S. 168, 199. 255 G IV 163 f. 94 Und an anderer Stelle: Mir geht es immer um die Frage: Was kann ich wissen, was glauben? Ich kann an die Wissenschaft glauben, aber eben nur glauben. Denn ich weiß, daß dieses vermeintliche Wissen der Wissenschaft von Fakten abhängt, die sich wieder ändern können. 256 Obgleich diese kritischen Beurteilungen vor allem in das letzte Lebensjahrzehnt ihres Verfassers fallen, darf im Vorfeld einer Erörterung der Frage, auf welchen wissenschaftlichen Experimentbegriff Dürrenmatt sich genau bezieht, und damit auch seines Verhältnisses zur Quantentheorie als der maßgeblichen Ausprägung der Physik des 20. Jahrhunderts, zweierlei nicht ignoriert werden: Zum einen, dass Skepsis und Zweifel zu jeder Zeit als fundamentale Kategorien in Dürrenmatts Denken gelten dürfen; und zum zweiten, dass Dürrenmatt in allen detaillierten Ausführungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst zwar stets auf deren Äquivalenz, immer aber auch auf deren Unterschiede aufmerksam macht. Eine grundsätzliche Überzeugung Dürrenmatts besteht in diesem Zusammenhang darin, dass sich die Natur des Menschen dem Zugriff durch die Naturwissenschaften kategorisch entzieht, wie er in „ Die Brücke “ zum Ausdruck bringt, wenn er über seinen Untersuchungsgegenstand, die Figur F. D., sagt: [A]ls irrationales Wesen, als das Individuum F. D. also, wäre er nachträglich sogar psychoanalytisch deutbar gewesen, warum nicht. Doch wären nur ungefähre Interpretationen zustande gekommen, Spekulationen, die auch nicht die behutsamste Andeutung eines Gesetzes erlaubt hätten, das F. D. zwangsläufig unter den Meteor gebracht hatte. Die Wahrheit versagt sich uns im Falle F. D.s kategorisch. 257 Bereits 1961 hat Dürrenmatt den Einfluss von philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorie auf seine Poetik folgendermaßen umschrieben: „ Aber dieses naturwissenschaftlich-philosophische Denken und seine Erkenntnisse bilden nur den Untergrund für das ‚ dramatische Denken ‘ , das ich betreibe, es spielt nur mit, es ist nicht ‚ das Spiel ‘ . “ 258 Inwieweit hat also die Quantentheorie Einfluss auf Dürrenmatts künstlerische Experimente? - eine Frage, zu der es in der Forschung unterschiedliche Ansichten gibt. Zwei Arbeiten, die im selben Jahr, 1995, erscheinen, dokumentieren erstmals ausführlich und umfassend den enormen Einfluss, welchen die modernen Naturwissenschaften auf das Denken und Schreiben Dürrenmatts haben: Hans Wolfgang Bellwinkels Aufsatz „ Dürrenmatt und die Naturwis- 256 G IV 165 257 Die Brücke, WA 29 94 258 G I 102 95 senschaften “ 259 und das Kapitel „ Friedrich Dürrenmatt: Dramaturgie des Unwahrscheinlichen “ in Elisabeth Emters Arbeit „ Literatur und Quantentheorie “ . Bellwinkel, selbst kein Literaturwissenschaftler, sondern Facharzt für Innere Medizin und Allgemeinmedizin, trägt die wesentlichen, vielfältigen naturwissenschaftlichen Bezüge in Dürrenmatts Werk zusammen, beleuchtet vor dem Hintergrund von Dürrenmatts jahrzehntelanger Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Inhalten unterschiedlichster Art schlaglichtartig die wichtigsten Explikationen physikalischer, kosmologischer, mathematischer und biologischer Provenienz im Werk des Autors, flankiert von Zitaten aus theoretischen Schriften und Gesprächen. In der Weise, in der Bellwinkel dies bewerkstelligt, sachlich, emsig, gewissenhaft, liegt der Wert seines Aufsatzes - und gleichzeitig seine Grenze. Denn so umfassend und detailliert Dürrenmatts Beschäftigung mit den entsprechenden Themen von ihm auch nachgezeichnet wird, so sehr enthält sich Bellwinkel einer literaturwissenschaftlich relevanten Bewertung des Vorgefundenen, die über eine rein positivistisch anmutende Vagheit hinausgeht. Sein Ziel, so formuliert er, ist, „ zu zeigen, dass das naturwissenschaftliche Denken in Dürrenmatts Werk nicht marginal ist, sondern sein ganzes Oeuvre durchtränkt, eine für ihn spezifische Denkweise darstellt. “ 260 Dieser Satz Bellwinkels deutet an, dass seiner Meinung nach die Forschung bis dahin die naturwissenschaftlichen Referenzen in Dürrenmatts Werk nicht nur nicht adäquat beachtete, sondern vielmehr ignorierte. Doch geht Bellwinkel über die deskriptive Belegung eines engagierten Interesses Dürrenmatts an den dargestellten Sachverhalten auch nicht hinaus: Die strukturelle Affinität von physikalischen und künstlerischen Erkenntnisverfahren im Denken Dürrenmatts erfährt keine substantielle Analyse. Anders bei Emter: Sie beschreibt detailliert, in welchem Maße grundlegende Aspekte der Physik des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Quantentheorie und der durch sie für die Physik entdeckte Begriff der Wahrscheinlichkeit, Eingang in Dürrenmatts dramaturgisches Denken gefunden haben. Ebenso wie Bellwinkel erkennt sie eine bis dato nur periphere Registrierung der Dürrenmattschen Beschäftigung mit physikalischen Inhalten seitens der literaturwissenschaftlichen Forschung. Selbstaussagen und theoretische Prosa Dürrenmatts bilden Emters Meinung nach allerdings Anlass genug zu der Diagnose, eine intensive, dem Gegenstand gerecht werdende Auseinandersetzung dürfe sich nicht mit dem Verweis auf lockere Analogien zwischen 259 Hans Wolfgang Bellwinkel: Dürrenmatt und die Naturwissenschaften. In: Gesnerus 52 (1995). H. 3/ 4. S. 209 - 246. 260 Ebd., S. 210. 96 Physik und Kunst begnügen. 261 Ferner sei die Einschätzung einer kritischen Prüfung zu unterziehen, lediglich die technischen Auswirkungen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seien die Projektionsfläche für den Künstler des 20. Jahrhunderts und daher als Gegenstand der Berücksichtigung physikalischer Sachverhalte für die Kunst relevant. Emters Ziel ist es, „ eine direkte [Hervorhebung im Original] Einwirkung der modernen Physik auf das Denken der Schriftsteller “ 262 , d. h. auch eine Übertragung physikalischer Erkenntnisse auf das dramaturgische Denken und die Kunst, nachzuweisen, wodurch „ von einem expliziten Zusammenhang zwischen modernem physikalischen Weltbild und Literatur zu sprechen “ 263 sei. Um dies zu bewerkstelligen, leitet sie die zentralen dramaturgischen und erkenntnistheoretischen Erwägungen Dürrenmatts unbeirrt naturwissenschaftlich her und erklärt Dürrenmatts Dramaturgie des Unwahrscheinlichen ausschließlich vor dem Hintergrund der Quantenphysik; u. a. unter Zugrundelegung der Hinweise, beide Disziplinen bedienten sich der Fiktion als Zugang zur Wirklichkeit und „ die Quantenmechanik [offenbart] die grundlegende Rolle, die dem Wahrscheinlichkeitsbegriff in allen Wirklichkeitsaussagen zukommt “ 264 . Emters Fazit lautet: „ Dürrenmatt überträgt die Erkenntnisse der Mikrophysik auf den Menschen [. . .]. “ 265 Analog zum undeterminierten Verhalten eines Teilchens seien „ auch das Verhalten und der Lebensweg eines einzelnen Menschen nicht exakt vorhersehbar “ 266 . Eine Translation beider Sphären, die zu derartigen Korrelationen führt, scheint bei aller Berechtigung zur Konstatierung eines großen Einflusses naturwissenschaftlicher Erkenntnisse oder auch Erkenntnisgrenzen auf Dürrenmatts Denken jedoch prekär zu sein. 267 Es 261 Emter 1995: S. 219. 262 Ebd., S. 19. 263 Ebd. 264 Ebd., S. 266. 265 Ebd., S. 264. 266 Ebd. 267 Die Möglichkeit einer direkten Einwirkung von physikalischen Erkenntnissen auf die Kunst kann darüber hinaus schon in Zweifel gezogen werden, da durch die Übertragung abstrakter, nur mit Hilfe der Mathematik beschreibbarer Zustände in die Alltagssprache eine Interpretation nötig ist, durch die unweigerlich eine verfälschende Bezüglichkeit zur Lebenswelt hergestellt würde. Auch der Physiker Arne Schirrmacher weist auf diesen Umstand hin, wenn er Emter attestiert, dass ihre Argumentation sich auf die Rezeption „ populärer Schriften “ und „ halbphilosophische[r] Erbauungsschriften über Naturwissenschaften “ durch interessierte Literaten stütze. Schirrmacher sieht aus verschiedenen Gründen Probleme bei der Umsetzung von Emters Zielen, „ eine unmittelbare Einwirkung nachzuweisen “ . Er kommt zu dem Ergebnis, dass „ eine direkte Rezeption durch die Literaten nur noch bedingt erkennbar “ sei. Zwar sei bei diesen „ meist eine Abkehr vom kausal-mechanischen Weltbild “ auszumachen, „ die allerdings nicht einseitig als Resultat der Quantentheorie gesehen werden darf, sondern 97 wird hier nicht in Frage gestellt, dass Dürrenmatt die Entwicklungen der Physik engagiert verfolgt, Parallelen zu eigenen Überlegungen sieht, sie einbindet und sich in seiner Erkenntnis der labyrinthischen Lebenswirklichkeit und der Paradoxie der menschlichen Natur durch die in der Physik entdeckte Unbestimmtheit kleinster „ Teilchen “ entsprechend bestätigt findet. 268 Doch Emters apodiktische Behauptung „ Dürrenmatts Begriff der Unwahrscheinlichkeit muß im Kontext der modernen Physik betrachtet werden “ 269 ist schon deshalb kritisch zu sehen, weil ihr immanent ist, Dürrenmatt übertrage ein als absolut gesetztes Denken der Physik auf Kunst und Mensch. Unterschwellig unterstellt sie damit eine Form der deduktiven Translation, insofern Dürrenmatt, ebenso wie Zola zu seiner Zeit, Erkenntnisse der Naturwissenschaften in einer Art der künstlerischen Exekutive auf den Menschen transferiere. Emters Argumentation bezieht sich u. a. auf einen Abschnitt in Dürrenmatts Vortrag „ Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit “ (1956), in dem der Autor konstatiert: Die Menschheit ist, um einen Ausdruck der Physik anzuwenden, aus dem Bereich der kleinen Zahlen in jenen der großen Zahlen getreten. So wie in den Strukturen, die unermeßlich viele Atome umschließen, andere Naturgesetze herrschen, als im Innern eines Atoms, so ändert sich die Verhaltensweise der Menschen, wenn sie aus den relativ übersichtlichen und, was die Zahl ihrer Bevölkerung betrifft, kleineren Verbänden der alten Welt in die immensen Großreiche unserer Epoche geraten. 270 Dürrenmatt stellt diese Aussage, die er in dem Fragment „ Überlegungen zum Gesetz der großen Zahl “ (1976/ 77) fortführt, ausdrücklich in den Kontext eines Diskurses über das Verhältnis von Mensch und Staat, Freiheit und einem Zusammenspiel verschiedener kultureller Entwicklungen entspringt. “ Auch diagnostiziert er eher eine gegenseitige interdisziplinäre Beeinflussung anstelle einer einbahnigen, die von der Physik in die Kunst führt. Im Falle Dürrenmatts und seiner Dramaturgie des Unwahrscheinlichen stellt Schirrmacher fest, dass „ statt der Quantenphysik die Wahrscheinlichkeitstheorie einfliesst “ , was Emters These, Dürrenmatt rezipiere uneingeschränkt die Quantentheorie, zumindest fraglich erscheinen lässt. (Arne Schirrmacher: Rezensionen. Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925 - 1970). - Berlin, New York: de Gruyter 1995 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Bd. 2). (Im Internet: http: / / hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/ rezensio/ buecher/ scar0897.htm (23. 09. 2012).) 268 So sieht es auch Rüedi, wenn er sagt: „ Dürrenmatt konnte jedenfalls im Umgang mit den Naturwissenschaften seine Auseinandersetzung mit den Spannungsfeldern zwischen Determination und Aleatorik, Kausalität und Zufall auf einem anderen Feld fortführen. “ (Rüedi 2011: S. 634.) 269 Emter 1995: S. 269. 270 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 63 98 Gerechtigkeit. 271 Emter entnimmt dieser Aussage, dass Dürrenmatt ebenso wie die Quantenphysik statistische Werte zugrunde lege, aus denen sich der konkrete Einzelfall zwar nicht ableiten lasse, die aber die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Entwicklung begründen. Sie sieht hierin eine Bestätigung ihrer These, dass statistische Vorhersagen in der Mikrophysik und entsprechende Prognosen über das Verhalten der Menschen vergleichbar seien, wenngleich sie auch nicht „ Auskunft über den einzelnen “ enthielten: „ Dennoch sind statistische Voraussagen auf das Verhalten größerer Gruppen oder auf den Lebensweg eines Durchschnittsmenschen möglich. Mit ‚ der großen Zahl ‘ kann gerechnet werden. “ 272 Sie stellt Dürrenmatt damit im Grunde in den Kontext eines deduktiven Verfahrens, wonach der Einzelfall zwar generell unbestimmt ist, sich aber im Endeffekt einer übergeordneten Wahrscheinlichkeitsfunktion unterwerfe. Eine Problematik in dieser Argumentation liegt in der strukturellen Unterscheidung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs, wie er in der Physik und wie er von Dürrenmatt verwandt wird. In der Quantentheorie geht das einzelne, undeterminierte Teilchen in der festen Größe der physikalischen Wahrscheinlichkeitsfunktion auf. Dazu Arthur Koestler (auf den Dürrenmatt sich in „ Nachgedanken “ (1980) explizit bezieht 273 ): In der Elementarteilchen-Physik haben Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip und die Gesetze der Quantenmechanik die Kausalität durch die Wahrscheinlichkeit ersetzt. [. . .] Kein Unternehmen dieser Art könnte sich am Leben erhalten, wenn die Gesetze des Zufalls nicht derart paradox zuverlässig wären. 274 Bei den Teilchen, um die es hier geht, die besser als „ Nicht-Ding[e] “ 275 bezeichnet werden, handelt es sich um etwas, das faktisch mit Hilfe einer mathematischen Funktion in seiner Unbestimmtheit zu bestimmen ist, es gliedert sich in das Paradigma einer wissenschaftlich anerkannten Theorie ein. Der Mensch bei Dürrenmatt tut das jedoch nicht! Er sieht ihn letztlich als frei und damit auch außerhalb einer jedweden Konzeption an. 1966 sagt er: Der Mensch [. . .] nimmt gegenüber der Gemeinschaft seine Freiheit wahr, vollzieht seine Wahl, trifft seine Entscheidung. [. . .] Ich glaube im letzten, daß der Mensch frei konzipiert ist, auch wenn ich nicht übersehe, wieviel Determiniertes bei ihm vorkommt. 276 271 Vgl. hierzu auch: Rüedi 2011: S. 621. 272 Emter 1995: S. 264. 273 Vgl.: Nachgedanken, WA 35 169 274 Arthur Koestler: Die Wurzeln des Zufalls. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995 (= suhrkamp taschenbuch 181). S. 23. 275 Ebd., S. 58. 276 G I 247 f. 99 Die Übertragung der Mikrophysik auf die Lebenswelt stößt spätestens hier an ihre offensichtlichen Grenzen. Wenn Dürrenmatt den Begriff der Wahrscheinlichkeit ins Spiel bringt, mit dem übrigens auch Aristoteles in seiner „ Poetik “ schon operiert 277 , dann auch aus der Erkenntnis heraus, dass der Mensch sich auch mit Hilfe einer Wahrscheinlichkeitsfunktion nicht festlegen lässt, der Zufall also nicht etwas ist, mit dem systematisch zu rechnen ist, sondern der sich existenziell eben dadurch auszeichnet, dass er auch - und gerade dann - unvermutet eintritt, wenn der Mensch besonders akribisch plant. 278 Diesen Gedankengang baut Dürrenmatt bereits 1957 in seinen Roman „ Das Versprechen “ ein, wenn er Dr. H. die Unmöglichkeit des Menschen formulieren lässt, den Zufall in seiner existenziellen Präsenz einkalkulieren zu können, bestenfalls sei es möglich, dieses Unvermögen demütig zu akzeptieren: „ Unser Verstand erhellt die Welt nur notdürftig. In der Zwielichtzone seiner Grenze siedelt sich alles Paradoxe an. “ 279 Das Wahrscheinliche ist bei Dürrenmatt hinsichtlich der menschlichen Wirklichkeit keine feste Größe, auf die, wie in der Physik, auch nur ein irgendwie gearteter Verlass sein könnte. Im Gegenteil: „ Sowohl das Unwahrscheinliche als auch das Wahrscheinliche können wirklich werden. “ 280 Die Wirklichkeit nach Dürrenmatt ist die Möglichkeit, die unwahrscheinlicherweise wirklich geworden ist. Sie lässt sich nicht vorausberechnen. Doch ist dadurch für Dürrenmatt in der menschlichen Wirklichkeit nicht etwa, wie es in der Physik der Fall ist (s. o.), die Kausalität aufgehoben - und zwar „ weil ein Faktum ins andere greift. “ 281 Der unwahrscheinlicherweise wirklich gewordenen Wirklichkeit, in Dürrenmatts Werken der dramatische Einfall, wird das, was wahrscheinlicherweise geschieht, hinzugefügt: Damit erhält die Handlung eines Stückes eine subjektive Qualifizierung, aus der die Scheu spricht, eine Möglichkeit künstlerisch als festgelegte Wirklichkeit auszugeben. Er setzt die Wahrscheinlichkeit als erkenntnistheoretisches Hilfsmittel dort an, wo ihm (und den Wissenschaften) kategorisch Grenzen in der Erkenntnis des Menschen gesetzt sind, weil die Möglichkeit zur tatsächlichen, systematischen Beobachtung fehlt. In ihm liegt für Dürrenmatt eben auch die Möglichkeit, den Menschen nicht einem bestimmten Weltbild zu unterwer- 277 Dort heißt es: „ Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. “ (Aristoteles: Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Bibliogr. erg. Aufl. Stuttgart: Reclam 1994. S. 29.) 278 Vgl.: 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 91 279 Das Versprechen, WA 23 145 280 Sätze über das Theater, WA 30 203 281 Sätze über das Theater, WA 30 205 100 fen, sondern ihn diesbezüglich in seiner Freiheit und jenseits einer weltanschaulichen Prognose darzustellen: „ [D]as menschliche Drama besteht darin, daß der Mensch im Unberechenbaren lebt. Die Unberechenbarkeit gibt ihm die Freiheit. “ 282 An dieser generellen Unberechenbarkeit ist nicht zu rütteln, hierin liegt vor dem Hintergrund der von Emter aufgestellten dialektischen Entsprechung auch der elementare Unterschied von Mensch und Quantum: Dieses lässt sich in seiner Unbestimmtheit wissenschaftlich bestimmen, der Mensch entzieht sich nicht nur als Einzelner, sondern auch im großen Maßstab immer wieder Prognosen, die auf statistischer Wahrscheinlichkeit beruhen - worüber die Realität unentwegt anschauliche Belege liefert. Der Mensch ist für Dürrenmatt „ ein sehr irrationales Wesen, der sich nicht einem rationalen Plan unterziehen kann “ 283 , dessen Lebenswirklichkeit also keinen naturwissenschaftlichen Raum darstellt und sich nicht quantenmechanisch ausloten lässt. Aus diesen Grund leitet Dürrenmatt selbst seine Dramaturgie in den „ Sätzen über das Theater “ - im Gegensatz zu Emter - auch nicht physikalisch her. Seine Ausführungen zur Aufgabe des zeitgenössischen Dramatikers werden in erster Linie vor dem Hintergrund dramaturgiegeschichtlicher, philosophischer und lebensweltlicher Erwägungen und in der Auseinandersetzung mit Aristoteles entwickelt. 284 Emters Ansicht „ Dürrenmatt definiert die Wirklichkeit nicht um der Wirklichkeit willen, sondern im Hinblick auf die Dramatik “ 285 kann daher hier auch nicht gefolgt werden. Dürrenmatts Definition der Wirklichkeit - [j]e näher der Zeitpunkt am Unfall liegt, desto wahrscheinlicher, je weiter der Zeitpunkt zurückliegt, desto unwahrscheinlicher kommt es zum Unfall, so daß wir die Defintion wagen dürfen, die Wirklichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit, die eingetreten ist 286 - ist keine, die den Anschein erweckt, nur für die Dramatik zu gelten, sondern ist Dürrenmatts Hypothese über die Erkenntnis jedes einzelnen wirklich gewordenen Ereignisses. Als Beispiel wählt er einen Autounfall, es wäre aber auch ebenso gut jedes andere Ereignis denkbar, etwa, dass jemand zufällig einem Bekannten auf der Straße begegnet. Emter meint nun: Nicht der Regelfall, sondern der Un-Fall im übertragenen Sinne, der Fall, der nicht die Regel ist, wird Gegenstand der Dramatik. Statt eines wahrscheinlichen Vorfalls, der aufgrund des Durchschnitts aller Lebensläufe und aller Erfahrungen zu 282 G III 161 283 G IV 128 284 Vgl.: Sätze über das Theater, WA 30 202 - 205 285 Emter 1995: S. 264. 286 Sätze über das Theater, WA 30 205 101 erwarten wäre, ist es der Einzelfall, das Individuelle, was zur Darstellung gebracht werden soll. 287 Hiergegen muss eingewendet werden, dass es das Allgemeine, einen Durchschnitt aller Lebensläufe, für Dürrenmatt definitiv nicht gibt. Für ihn ist jeder Mensch ein einzelner und jede Lebenssituation eine einzelne, die Wirklichkeit stets ein unwahrscheinlicher Un-Fall - und der Mensch unentwegt mit Situationen konfrontiert, die ihm Entscheidungen abverlangen. Dabei verhält es sich nicht so, dass der Einfall, von dem der Schriftsteller ausgeht, sich in besonderer Weise dadurch auszeichnet, besonders unwahrscheinlich oder unwahrscheinlicher als andere Ereignisse zu sein. Emters Ansicht, der Dramatiker - mit Betonung auf: das Unwahrscheinliche - tue so, „ als wäre das Unwahrscheinliche Wirklichkeit geworden “ 288 oder beschreibe, „ welche Konsequenzen es nach sich ziehen könnte, wenn das Unwahrscheinliche sich ereignet hätte “ 289 , ist die Unterstellung immanent, Dürrenmatt meine, es sei untypisch, dass das Unwahrscheinliche wirklich würde. Dürrenmatt ist jedoch anderer Ansicht: „ Das Verfluchte an der Wirklichkeit liegt darin, daß sie eintrifft, daß sie sich so abspielt, wie sie sich abspielt, daß sie, obwohl sie unwahrscheinlich ist, kausal ist. “ 290 Insofern verhält es sich eher so, dass Dürrenmatt seine Figuren vor allem bestimmten Situationen aussetzt, „ Zwangslagen, die es in Wirklichkeit selten in dieser Kraßheit gibt “ 291 , aber nicht um zu zeigen, dass diese Situationen besonders unwahrscheinlich sind, sondern weil sie sich dramatisch eignen, um „ unbedingter denken zu können “ 292 , „ den Menschen darzustellen “ 293 und „ auf dem Theater Dinge zu tun, die im Leben nicht möglich sind “ 294 . Wenn diese Situationen in ebensolcher Krassheit auch selten vorkommen mögen, bedeutet das nicht, dass sie sich in ihrer Unwahrscheinlichkeit strukturell von anderen Situationen, möglicherweise häufiger vorkommenden, unterscheiden. Diese Ansicht konkretisiert Dürrenmatt auch am Ende der „ Brücke “ , wenn er ausführt, daß die Wirklichkeit eine Unwahrscheinlichkeit darstellt, die eingetreten ist. Dieser Satz jedoch umfängt die ganze Wirklichkeit, wie sie auch sei, gleichgültig, ob ich gegen einen Baum gerast bin oder nicht [. . .]: Der Satz ist kosmologisch und 287 Emter 1995: S. 264 f. 288 Ebd., S. 265. 289 Ebd. 290 Sätze über das Theater, WA 30 206 291 G II 97 292 G I 102 f. 293 G I 117 294 G I 228 102 behauptet, daß die Wirklichkeit unwahrscheinlicherweise so ist, wie sie ist, was nicht dagegen spricht, daß sie so ist, wie sie ist. 295 Emters Ansicht „ Wie aus Dürrenmatts Definition hervorgeht, behandelt der Dramatiker weder ein vergangenes noch ein mögliches Ereignis, sondern einen Vorfall, der so unwahrscheinlich ist, daß niemand mit seinem Eintreten rechnet “ 296 , verkennt zweierlei: Zum einen schließt Dürrenmatts Satz, der Schriftsteller beschreibt, „ was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich unwahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen würde “ 297 die prinzipielle Möglichkeit von dramatischen Vorfällen keineswegs aus. 298 Dürrenmatt wendet sich zwar gegen Kunst, welche die dargestellte Möglichkeit als Wirklichkeit ausgibt, da einer derartigen künstlerischen Darstellung eine Interpretation der Welt vorausgehe 299 : „ Die Dramatik der Möglichkeit, ob sie will oder nicht, tut so, als wäre sie wirklich. “ 300 Um sich der Wirklichkeit annähern zu können, bevorzugt Dürrenmatt die Dialektik von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit; er entgeht damit dem Problem, die von ihm gewählte Situation und deren Verlauf zwingend als die Wirklichkeit ausgeben zu müssen, und kann eine Eigenwelt konstruieren, die sich eben nicht als subjektives Abbild der Wirklichkeit versteht, sondern mit dieser über den Begriff ihrer Unwahrscheinlichkeit korrespondiert. Den dramatischen Vorfall als unwahrscheinliches Ereignis darzustellen, bedeutet aber im Gegenzug nicht, dass dieser nicht auch ein mögliches Ereignis ist. Dass darüber hinaus niemand mit dem Ereignis rechnet, mag für den „ Meteor “ gelten, erweist sich bei der Betrachtung anderer Stücke aber als zumindest diskutabel. Dürrenmatts Einfälle ergeben sich allzu oft auch aus ganz bewussten Handlungen einzelner Menschen, wie etwa bei Möbius in „ Die Physiker “ , der sich für einen Anstaltsaufenthalt entscheidet, oder bei Doc in „ Der Mitmacher “ , der sich auf ein Geschäft mit Boss einlässt, oder der „ Alten Dame “ , die den Güllenern ihr Angebot unterbreitet. Ob jemand damit rechnet oder nicht, ist 295 Die Brücke, WA 29 110 296 Emter 1995: S. 263. Rüedi übernimmt diesen Satz Emters, ohne ihn als indirekte Wiedergabe ihrer Interpretation kenntlich zu machen: „ Der Dramatiker behandle weder ein vergangenes noch ein mögliches Ereignis, sondern einen Vorfall, der so unwahrscheinlich ist, dass niemand mit seinem Eintreten rechnet. “ (Rüedi 2011: S. 635.) Indem er diesen Satz in den Konjunktiv setzt und ihn einem tatsächlichen Dürrenmatt-Zitat von 1982 folgen lässt, erweckt er damit unweigerlich und fälschlicherweise den Anschein, eine indirekte Wiedergabe einer Äußerung Dürrenmatts selbst zu sein. 297 Sätze über das Theater, WA 30 207 298 Vgl.: Vinter, WA 29 206 299 „ Der Mensch hält nur das für möglich, von dem er glaubt, daß es geschehen könnte; die Möglichkeit, an die der Mensch glaubt, hängt mit seiner Interpretation der Wirklichkeit zusammen. “ (Sätze über das Theater, WA 30 184) 300 Sätze über das Theater, WA 30 200 f. 103 erstens kaum auszumachen und zweitens auch unerheblich, denn das Leben passiert bei Dürrenmatt einfach, die Wirklichkeit ist eine von den Menschen gemachte, und selbst eine gute Vorbereitung schützt den Menschen nicht vor seiner eigenen paradoxen Natur. Darin, dass Dürrenmatt den Verlauf der Handlung der Wahrscheinlichkeit unterwirft, liegt für Emter eine weitere zentrale Analogie zur Quantentheorie. Sie interpretiert, dass die Entwicklung der jeweiligen Geschichte sich an einer durchschnittlichen Erfahrung, quasi einer festen Wahrscheinlichkeitsfunktion orientiere: Indem jedoch, wie er [Dürrenmatt] fordert, erzählt werden soll, was wahrscheinlicherweise und nicht was unwahrscheinlicherweise geschieht, wenn sich etwas Unwahrscheinliches ereignet, wird das Besondere, der Einzelfall mit der allgemeinen Erfahrung konfrontiert. Es wird erzählt, was das Unerwartete aller Erfahrung nach erwarten läßt. 301 Hierin liegt der elementare Irrtum in Emters Theorie: Der Einzelfall wird bei Dürrenmatt nicht einer allgemeinen Erfahrung unterworfen, im Gegenteil: er wird zum Objekt eines rein subjektiven Denkens, er wird in einem subjektiven Spiel der Möglichkeiten entwickelt. Wenn Dürrenmatt den Ablauf dieses Experiments dem Begriff der Wahrscheinlichkeit unterwirft, dann vor allem, weil er seine subjektiven losen Erfahrungen in einem bestimmten Fall konkretisiert, sie also mit Hilfe einer Distanzierung subjektiv objektivieren möchte. Bei der Wahl des Ablaufs orientiert er sich eben gerade nicht daran, was sich „ aller Erfahrung nach erwarten läßt “ , sondern an dem, was er für wahrscheinlich hält, an seinem subjektiven Denken; d. h. auch, wie er einem Gespräch von 1976 mit Bezug auf Kierkegaard ausführt, „ den Versuch zu wagen, wirklich subjektiv, von seinen Fähigkeiten aus wieder denken zu wollen [. . .], die Welt [. . .] vom Subjektiven her, sie in der Dramaturgie und im schriftstellerischen Vorgehen des Dialogisierens [. . .] zu konstruieren. “ 302 Die Handlung wird eben nicht deduktiv entwickelt und einer allgemeinen Lebensstatistik angepasst. 303 Dürrenmatts Wahrscheinlichkeitsbegriff ist ein anderer als der der Quantentheorie: „ Die komische Handlung ist die paradoxe Handlung, eine Handlung wird dann paradox, ‚ wenn sie zu Ende gedacht wird ‘“ 304 , sagt er in den „ Dramaturgischen Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘“ (1967). Für ihn 301 Emter 1995: S. 265. 302 G II 190 303 In dem Aufsatz „ Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? “ (1968) bestätigt Dürrenmatt dies, indem er ausführt: „ [U]nsere Lebenserwartung ist statistisch berechenbar, nicht unser Leben. “ (Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? , WA 32 126) 304 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 133 104 sind Wahrscheinlichkeit und Paradoxie insofern verknüpft, als jene durch diese gerade ihrer Berechenbarkeit beraubt wird. Auch hier beruft sich Dürrenmatt wörtlich auf Aristoteles, der in seiner „ Poetik “ schreibt: „ [D]enn es ist wahrscheinlich, daß sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt. “ 305 Deshalb macht es strukturell auch keinen Unterschied, ob Traps in „ Die Panne “ etwa sich erhängt oder am nächsten Tag gleichmütig weiter seinem Geschäft nachgeht, in beiden Fällen ist die schlimmstmögliche Wendung erreicht, sie tritt durch Zufall ein, der auch einfach im Unbewussten, in der Disposition einer Figur selbst zum Tragen kommen kann. Beide Varianten liegen im Bereich des Wahrscheinlichen und auch des Möglichen, obwohl in ihnen der fulminante Unterschied zwischen Leben und Tod liegt. In dem Begriff der Wahrscheinlichkeit liegt die Distanz, die Dürrenmatt zu dem, was er geschehen lässt, einnimmt. Gleichzeitig kommt in ihm ein Akt der Vermutung zum Tragen, eine Ahnung, eine persönliche Hypothese, die sich aus dem Durchspielen des Stoffes entwickelt, grundiert vom subjektiven Empfinden einer paradoxen, labyrinthischen Lebenswelt, fernab einer - wenn es die überhaupt geben sollte - allgemeinen Erfahrung. Die Paradoxie des Menschen liegt für Dürrenmatt gerade darin, dass dieser sich einer äußeren Systematik entzieht, eingesponnen in ein Labyrinth widerstreitender Gefühle, Rationalität und Irrationalität, Freiheit und Trieb, Glauben und Wissen. Sich selbst sieht Dürrenmatt in „ Vinter “ daher als einen, dem nichts anderes übrig bleibt, als mein eigenes Floß zu besteigen, um so mehr, als ich mit ihm schon längst in diesem Ozean dahintreibe, ohne Ruder und Segel, jenseits jeder Sichtweite eines Hafens, ja einer Küste; allein von der Vorstellungskraft in die Bereiche des rein Vorstellbaren, des Möglichen, des Wahrscheinlichen, des Unvorstellbaren, des nur noch Ahnbaren getrieben, hinein in die Welt des Grotesken und des Paradoxen. 306 Hierin liegt auch der Grund, warum Dürrenmatt sich ausdrücklich dagegen wehrt, die Handlung eines Stückes einer äußeren Logik folgen zu lassen: „ Die immanente Logik eines Stückes hat zu stimmen, nicht die äußerliche. “ 307 Die Handlung einer äußeren Logik anzupassen, bedeutete nichts anderes, als sie eben einem fremden, systematischen Denken oder eben auch einer allgemeinen Erfahrung und damit einem kollektiven Dogma zu unterziehen - sie erhielte somit eine zweckgebundene, weltanschauliche Tendenz und liefe Paradoxie und menschlicher Freiheit zuwider: „ Claire Zachanassian stand 305 Aristoteles 1994: S. 59. 306 Vinter, WA 29 206 307 Sätze über das Theater, WA 30 199 105 vor einer Wahl, und sie wählte. Auch hier noch determinieren zu wollen, heißt, die Freiheit eliminieren. “ 308 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht nachvollziehbar, Dürrenmatts Dramaturgie konsequent quantentheoretisch zu deuten, da damit versucht wird, eine äußere Logik auf die Stücke zu übertragen, die in der unberechtigten Anwendung einer gesetzmäßigen Wahrscheinlichkeitsfunktion ihren Ausdruck findet. Mit dem Satz „ Sowohl das Unwahrscheinliche als auch das Wahrscheinliche können wirklich werden “ 309 entwindet Dürrenmatt den Menschen einer quantentheoretischen Systematik. Er zeigt vielmehr - und seine Dramatik bestätigt dies - , dass auch das Unwahrscheinliche als wahrscheinlich berücksichtigt werden muss. Dürrenmatts Kunst ist keiner wissenschaftlichen Theorie subaltern, auch nicht der der Quanten. Sie weist vielmehr über diese hinaus. Seine Experimente können als Versuche gelten, die zeigen, dass der Mensch unter keinem weltanschaulichen oder wissenschaftlichen Konzept subsumiert werden kann. Sein Denken sprengt solche Theorien. Seinen Experimenten ist somit vielmehr eine Kritik an der Quantenphysik immanent, die nicht nur durch Dürrenmatts Negierung der Möglichkeit, „ je vom Allgemeinen her das Besondere zu erreichen “ 310 , geprägt ist, sondern ebensosehr seine Skepsis offenbart, vom Einzelfall her ohne Weiteres auf Grundsätzliches schließen zu können: Das Besondere (das Beobachtete) erreicht das Allgemeine nie vollkommen, man muß ‚ springen ‘ , um es zu erreichen. Dieser Sprung verlangt Phantasie, Intuition, aber auch Kühnheit, die Pedanterie des Logischen zu verlassen. 311 Erkenntnistheoretisch ist diesen Gedanken ein tiefer Zweifel an jedem Postulat immanent, das den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt. Dürrenmatt dazu in den „ Nachgedanken “ (1980): Was nun die Beziehung der Physik zur Mathematik betrifft, so sei an den berühmten Ausspruch Einsteins erinnert, insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit bezögen, seien sie nicht sicher, und insofern sie sicher seien, bezögen sie sich nicht auf die Wirklichkeit. Einstein meinte damit wohl, daß die Physik ihre Theorien zwar in mathematischen Modellen (Formeln) wiedergeben müsse, daß aber diese Modelle nur ‚ sicher ‘ seien, solange sie von keiner Beobachtung widerlegt würden, während die mathematischen Modelle an sich nicht der Korrektur der Wirklichkeit unterworfen seien. 312 308 Ebd. 309 Sätze über das Theater, WA 30 203 310 Theaterprobleme, WA 30 65 311 Nachgedanken, WA 35 168 312 Nachgedanken, WA 35 171 106 Wenn Dürrenmatt also konsequent dem konstruierten Einzelfall verhaftet bleibt, dann auch aus einer Kritik an den Naturwissenschaften heraus, die das Objektive anstreben, „ was es aber nicht gibt “ 313 . Dürrenmatt nimmt auch zur Quantentheorie eine kritische Metaposition ein, indem er durch seine Stücke auch ihr Gegenbilder entgegenstellt, sagt und zeigt, dass weder das Wahrscheinliche sicher ist, noch das Unwahrscheinliche außerhalb des Denkbaren, des Möglichen und des Realistischen liegt. Die Wahrscheinlichkeit des Ablaufs einer Geschichte wird der Unwahrscheinlichkeit der Ausgangssituation angeschlossen - sie spielt sich dadurch ebenfalls im Raum der Unwahrscheinlichkeit ab, im nur Ahnbaren, im Unsicheren und Imponderablen, einer von Zufällen gespickten Lebenswirklichkeit entsprechend, in welcher der Mensch seine gefühls- und stimmungsabhängigen, manchmal allerdings auch vernunftgesteuerten Entscheidungen trifft. Ulrich Weber ist unbedingt beizupflichten, wenn er bemerkt, dass Dürrenmatt „ die Charakteristika seiner Poetik in impliziter oder expliziter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften - insbesondere der Physik - im 20. Jahrhundert [entwickelt]. “ 314 Diese Auseinandersetzung bedeutet bei Dürrenmatt immer aber auch eine Kritik, die sich im Fall der Quantentheorie unzweifelhaft darin äußert, dass er sie als wissenschaftliche Fiktion setzt, als gedankliches Hilfskonstrukt instrumentalisiert, um auf ihr über sie hinauszusteigen - ganz im Sinne des von ihm in „ Vinter “ zitierten Satzes Wittgensteins: [D]och sind Fiktionen nach Vaihinger dazu da, der Wahrheit näher zu kommen, aber dann muß die Fiktion fallen gelassen werden oder mit Wittgenstein: ‚ Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig versteht, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. ‘ Ich warf die Leiter weg. 315 Die Welt stellt für Dürrenmatt nicht einen Gegenstand von wissenschaftlicher Einheit, der klaren Strukturen und des streng Analysierbaren dar, sondern einen Ort der Vielheit und des Paradoxen - seine Sicht auf die Welt ist schon deshalb nicht rein wissenschaftlich in einem Sinne, der es erlaubt hätte, den Menschen zum Gegenstand einer physikalischen Betrachtung überhaupt zu machen, ihn Statistiken zu unterwerfen oder Erkenntnisse der Physik direkt auf den Menschen zu übertragen. Dies bestätigt auch der Physiker und Dürrenmatt-Vertraute Marc Eichelberg, wenn er den Schriftsteller als einen beschreibt, der 313 G III 192 314 Weber 2006: S. 111. 315 Vinter, WA 29 193 107 sich sein eigenes Weltbild zusammenzimmerte. Und dieses war - um Mißverständnissen vorzubeugen - ein lebensweltliches und kein wissenschaftliches. [. . .] Dürrenmatts Weltbild enthält zwar stark vereinfachte Profilskizzen der Naturwissenschaften [. . .]. Seine eigene Position lag jedoch außerhalb der Wissenschaft. 316 Emter missachtet, wenn sie sagt „ Dürrenmatt [versucht] das Allgemeine über das Besondere zu erreichen “ 317 , dass Dürrenmatts Experimente sich auf einer vor-wissenschaftlichen Ebene abspielen. Sie erheben nicht den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, sie sind subjektive Einzelfall-Hypothesen, changierend im Kontinuum von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit, dem Vagen und dem Wagen. Dürrenmatts Experimente sind Versuche, die eine erste Hypothese darstellen, eine Prognose des Unprognostizierbaren, sie dokumentieren ein Zurückschrecken vor Wissen, das Anspruch auf Generalität erhebt. 318 Es sind Experimente, die das Absolute eines Paradigmas sprengen können, weil sie dessen Schwächen aufdecken. Diese Kritik besteht vornehmlich in dem generellen Zweifel an einer wissenschaftlichen Systematik, die aufgrund von Versuchsreihen induktiv Gesetzmäßigkeiten aufstellt, denen Einzelphänomene sich in der Folge deduktiv unterzuordnen haben. Für die Quantenphysik mag dieses Vorgehen zu akzeptablen Ergebnissen führen, man kann mit der Wahrscheinlichkeitsfunktion rechnen. Für Dürrenmatt und seine Kunst muss ein solches Vorgehen als nicht ausreichend betrachtet werden, da der Mensch sich nicht gesetzeskonform, also nicht berechenbzw. vorhersehbar verhält: „ Der Mensch ist für mich ein Wesen, das nur durch paradoxe, komödiantische Mittel, Formen, dargestellt werden kann, denn der Mensch geht nicht auf wie eine Rechnung, und wo der Mensch so aufgeht, ist die Rechnung sicher gefälscht. “ 319 Dürrenmatts Erkennen ist ein konsequent subjektives, er versucht, in vollständiger Eigenregie zu Erkenntnissen zu gelangen; der Einzelfall ist für ihn deshalb relevant, weil er beweist, dass weder eine Erkenntnis über ihn 316 Marc Eichelberg: F. D. und die Naturwissenschaften. In: Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. Hrsg. v. Schweizerischen Literaturarchiv, Bern, u. Kunsthaus Zürich. Zürich: Diogenes 1994. S. 225 - 227. Hier: S. 226. Weber weist in Bezug auf Dürrenmatts Beschäftigung mit den Naturwissenschaften darüber hinaus dezidiert und mit leicht pejorativem Beiklang auf dessen „ unwissenschaftliche Schlampigkeit und Inkonsequenz im Umgang mit den Begriffen, die Kategoriensprünge und metaphorischen Missverständnisse sowie die mangelhafte und trügerische Syllogistik seiner Argumentationen “ hin. (Weber 2006: S. 114.) 317 Emter 1995: S. 265. 318 Daher ist auch eine Interpretation abzulehnen, die Dürrenmatt unterstellt, er wolle „ die grundsätzliche [Hervorhebung des Autors] Zufälligkeit der Welt, ihre letztliche Irrationalität rational [absichern] “ (Knopf 1988: S. 59.). 319 G I 117 f. 108 noch ein über ihn hinausgehendes Wissen zu beweisen ist. In dem Vortrag „ Über Hochschulen “ (1977) führt Dürrenmatt diesen Gedanken aus: Jedes Wissen aber, das begriffen wird, stellt eine Schöpfung dar dessen, der da begreift [. . .], nicht ein Besitz, vielmehr ein Besitzergreifen, nicht ein Wissen, aber ein Wagen, nicht ein Nachträgliches, hingegen ein Vorangehendes, ein Begreifen durch das Machen eines Gedichts, einer Sonate, eines Bildes, einer philosophischen Überlegung usw., ohne die Sicherheit des Gelingens, ja ohne vorheriges Wissen des Resultats; ist es so, dann wäre nicht im Wissen, sondern in der Methode des Begreifens eine Universität, die Begreifen lehrt, in die Kultur integriert, wie ich sie begreife, sei sie nun künstlerisch oder wissenschaftlich irgendwelcher Art, ja sogar geisteswissenschaftlich, in eine Kultur des Experiments, der Überprüfung des Wissens, der Kritik, der Denkmodelle, der Antiideologien, der fiktiven Netze, ausgeworfen, Vermutetes und Unvermutetes zu fangen, verbunden mit dem Instinkt freilich für die ganze Fragwürdigkeit einer auch so begriffenen Kultur, denn was immer für den Menschen eine Chance ist, vermag sein Unglück zu werden, nichts sichert die Menschheit ab. 320 Dürrenmatts Kultur des Experiments besteht im fundamentalen Zweifel, in der Skepsis am Wissen an sich, das sich zirkulär immer wieder selbst in Frage stellen muss und das somit nicht nur eine deduktive Systematik vollkommen verneint, sondern auch eine Induktion zumindest in Zweifel zieht, insofern es logisch und existenziell schwierig - d. h. nur durch einen Sprung möglich ist, vom Einzelfall auf ein allgemeines Gesetz zu schließen. In den „ Nachgedanken “ (1980) heißt es: Der Determinismus leitet das Besondere vom Allgemeinen ab, er geht von einer Idee aus, er stellt die Ableitung von einer Idee dar. Die Kausalität geht zwar induktiv von einer Beobachtung aus, doch gibt es logisch keinen Schluß vom Besonderen auf das Allgemeine, von der Beobachtung auf die Idee. Das Induktionsproblem ist somit ungleich komplizierter als jenes der Deduktion. 321 Dürrenmatt thematisiert hier Poppers Induktionsproblematik 322 , die er zweifellos anerkennt, indem er für das induktive Schließen einen Gedankensprung für nötig befindet 323 , kann aber Poppers Schlussfolgerung aus der Induktionsproblematik nicht folgen. Hierzu 1983: Auch Popper ist da sehr verhängnisvoll, indem er glaubt, der Wissenschaftler entwerfe seine Theorien, damit sie falsifiziert werden können. Ist ja Quatsch! Jeder Wissenschaftler will natürlich etwas herausbringen. Er ist Detektiv und will 320 Über Hochschulen, WA 34 157 f. 321 Nachgedanken, WA 35 167 322 Vgl.: Popper 1984: S. 14. 323 1981 stellt Dürrenmatt hierzu fest: „ Die Logik ist ein Teil der Phantasie; ich behaupte sogar, daß Phantasie und Mathematik eng zusammengehören - ohne Phantasie sind auch Hypothesen nicht möglich, von jeder Induktion muß durch die Phantasie ein Sprung auf einen Schluß gewagt werden. “ (G III 51) 109 Schlüsse ziehen. Das Lustige ist nur, dass diese Schlüsse von anderen falsifiziert werden können. Aber man kann nicht eine Methode daraufhin entwickeln, daß sie widerlegt werde. Mir muß es egal sein, wenn ich widerlegt werde. Ich entwickle etwas, um etwas zu behaupten. 324 Diese Verteidigung des Subjektiven stellt Dürrenmatt in den gedanklichen Kontext Eddingtons und dessen Konstatierung, „ daß die Methoden der Physik keine absolute (objektive) Wahrheit, ja nicht einmal Bruchstücke absoluter Wahrheit zutage fördern können, [. . .] daß das durch sie erlangte Wissen gänzlich subjektiv ist. “ 325 Diesem Gedanken, wenn man vor dem Hintergrund von Dürrenmatts Eigenaussage, derzufolge „ Eddingtons genialische ‚ Philosophie der Naturwissenschaft ‘“ 326 für ihn eminent wichtig ist, konstatieren darf, dass er ihm vor allem auch in diesem Punkt zustimmt, ist zweierlei immanent: Es ist nicht nur die Subjektivität des Wissens, welche hier formuliert wird, sondern auch die Bedeutung des experimentellen Einzelfalls, der zwar als subjektive Beobachtung angreifbar ist, dem aber die Bedeutung zuerkannt werden muss, seinerseits Theoriengebäude ins Wanken bringen zu können. Hier wird deutlich, wie fortschrittlich und gleichzeitig autonom Dürrenmatts Denken ist. Es verwundert daher kaum, dass seine Dramaturgie des Experiments mit der modernsten wissenschaftstheoretischen Forschung korrespondiert, etwa mit Ian Hackings Forderung nach einer theorienunabhängigen Autonomie des Einzelexperiments 327 , oder mit Rheinberger, der postuliert, „ daß man, was man machen kann, nur gerade so weiß, wie man es jeweils und lokal macht, und auch das nicht einmal ganz “ 328 . Rheinberger spricht in Anlehnung an den Genbiologen Francois Jacob, der in seiner Autobiographie „ Die innere Statue “ (1987) das Experiment als eine „ Maschinerie zur Herstellung von Zukunft “ 329 bezeichnet, vom Experiment als einem Vorgang, der vollzogen wird, „ um Antworten auf Fragen zu geben, die wir noch nicht klar zu stellen in der Lage sind “ 330 und das „ überhaupt erst [erlaubt], die Fragen zu formulieren, die man beantworten kann. “ 331 Die physikalische Wissenschaftstheorie dokumentiert damit eine Entwicklung, die sich in der Entsprechung in Dürrenmatts Experimentalpoetik ebenfalls 324 G III 193 325 Eddington [o. J.]: S. 232. 326 Über Toleranz, WA 33 127 327 Vgl.: Hacking 1996: S. 279. 328 Rheinberger 1992: S. 18. 329 Francois Jacob: Die innere Statue. Autobiographie des Genbiologen und Nobelpreisträgers. Aus d. Franz. übers. v. Markus Jacob. Zürich: Ammann 1988. S. 12. 330 Rheinberger 1992: S. 25. 331 Ebd. 110 findet. In den „ Dramaturgischen Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘“ (1967) heißt es: Die Aussagen des Dramatikers sind nicht Sätze, nicht Moralien oder Tiefsinn, der Dramatiker sagt Stücke aus, sagt etwas aus, was nicht anders gesagt werden kann als durch ein Stück. Die Sätze, welche die Personen des Stückes aussprechen, sind verständlich allein durch das Stück, verständlich nur durch die Situation, in der sie sich befinden. Sie sind weder Wahrheiten an sich noch Provokationen, sondern der Ausdruck der dramaturgischen Ironie, die das Stück fingiert und lenkt. Das Theater als Fiktion kann nichts anderes sein als Theater, ein Gleichnis, immer wieder neu zu erdenken, für die Tendenzen der Wirklichkeit. 332 Hier offenbart sich, wie behutsam Dürrenmatt mit dem Begriff der Erkenntnis umgeht. Die Sätze dokumentieren - ähnlich wie Rheinbergers Experimentaldefinition vom lokalen, jeweiligen Wissen ( „ und auch das nicht einmal ganz “ 333 ), vom Einzelfall, der subjektiv entwickelt und beobachtet wird und daher auch nur für sich allein steht - , dass Dürrenmatt sich weigert, seinem Einzelfallmodell - als experimentell entwickelte Hypothese - den Status des Allgemeinen zuzusprechen. Er lokalisiert seine Kunst analogisch in der Frühphase einer Wissenschaft, in der aufgrund subjektiver Einzelerfahrungen erste Hypothesen aufgestellt, Annäherungen und Ahnungen jenseits umfassender, erdrückender Theoriengebäude entwickelt werden: Hierzu 1982: Die Frage ist einfach: Ist die Wissenschaft das einzig denkbare Paradigma? Ich glaube es nicht. Ich meine, es gibt auch unwissenschaftliche Weltbilder von Bedeutung, zum Beispiel Mythen. Mythen sind nicht wissenschaftliche Weltbilder, sondern vorwissenschaftliche Weltbilder. 334 Den Schritt hin zum Mythos vollzieht Dürrenmatt mit Hilfe einer experimentellen Anordnung, deren poetologische Intention darin besteht, mit Hilfe eines aus dem Einzelfall konstruierten Bildes einen Spiegel der Wirklichkeit zu schaffen. Er bewegt sich dabei im Vor-Wissenschaftlichen, erkennt dem Einzelexperiment eine eigene autonome Bedeutung zu. Dies hat erhebliche erkenntnistheoretische Auswirkungen, impliziert es doch den Zweifel an der Hegemonie des Allgemeinen, einer jeden herrschenden Meinung, und propagiert die individuelle Behauptung außerhalb eines gültigen Paradigmas, ja ist ein deutliches Plädoyer für einen methodologischen Subjektivismus in einer aufgesplitterten Welt, in der Erkenntnis eine Frage des Einzelnen ist und in der nur noch viele mehrdeutige Modelle Annäherungen an die Wirklichkeit zu bewirken vermögen - im Endeffekt eine neue Aufklärung und eine 332 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 135 f. 333 Rheinberger 1992: S. 18. 334 G III 158 111 Rückwendung zu Kants altem Imperativ: „ Sapere aude. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! “ Dass sich Dürrenmatt also in dialektischer Entsprechung im Paradigma der Quantentheorie bewegt, darf vor diesem Hintergrund ausdrücklich in Zweifel gezogen werden. Seine fundamentale Kritik an jeder Form theoretischer Deduktion im Zusammenklang mit seiner Scheu, Anspruch auf ein Allgemeines zu erheben, den Schritt von der Beobachtung hin zur Theorie zu vollziehen, lässt eher zu, ihn als einen Furchtlosen zu sehen, der es wagt, ein jedes (wissenschaftliches) Gedankengebäude als Fiktion und Interpretation zu erkennen, dem vermeintlichen Wissen stets den erkenntniskritischen Glauben an die Seite zu stellen ( „ Nur der Denkende weiß, daß er glaubt. “ 335 ) - und einen ganz eigenen, subjektiven Weg der Erkenntnisgewinnung zu gehen. Allein dass seine Kunst im Verhältnis zur Physik steht, bleibt davon unberührt, doch geben bereits die „ 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘“ (1962) Aufschluss über die Position, die Dürrenmatt ihr gegenüber einnimmt - es ist auch hier die übergeordnete Perspektive des Beobachters: „ Ein Drama über die Physiker muß paradox sein. “ Und: „ Es kann nicht den Inhalt der Physik zum Ziele haben, sondern nur ihre Auswirkung. “ 336 Überdies hält Dürrenmatt diese Art des künstlerischen Verfahrens, das als eines der defizitären Induktion bezeichnet werden kann, da es das Dargestellte provoziert, entdeckt, aber letzthin ungedeutet lässt, auch für einen gangbaren Weg der Wissenschaften, da angesichts der Aussichtslosigkeit eines Strebens nach „ unverrückbare[n] Wahrheiten “ 337 sich vielfältige neue Dimensionen der Erkenntnis gerade in der subjektiven Vorgehensweise und der rigorosen Beachtung des Einzelfalls eröffnen: Das subjektive Denken meine ich wissenschaftlich. Subjektives Denken heißt ja nicht subjektives Empfinden. Die heutige Wissenschaft hat Angst, eigene Mythen zu schaffen, aber im Grunde ist sie ein ungeheurer Anreger der Phantasie. Es sind wieder Mythen möglich, weil ja alles Mythen sind, was wir erzählen. 338 Im „ Mitmacher-Komplex “ (1973 - 1976) geht Dürrenmatt näher auf die Art und Weise der künstlerischen Erkenntnisgewinnung ein, indem er ausführt: „ Das Individuelle kann sich nur im Individuellen dokumentieren; es vermag nicht mehr als ein Hinweis darauf zu sein, daß es hinter dem Dokumentieren noch einen Sinn gibt. Das Allgemeine ist nur zu ahnen. “ 339 Hinzu kommt, dass Dürrenmatt den Erkenntnisprozess unter die Kategorie des Glaubens stellt: 335 G IV 170 336 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 92 337 G III 193 338 Ebd. 339 Nachwort, WA 14 100 f. 112 Nein, es gibt kein Denken ohne einen gewissen Glauben. Ich muß auch im Denken glauben. Wenn ich eine wissenschaftliche Hypothese aufstelle, muß ich glauben, daß sie möglich sein kann. Diesen Glauben muß ich aber immer wieder prüfen und fragen: Hält er dem Denken stand? Und ich muß wiederrufen können, was ich glaube. 340 Vor diesem Hintergrund erweisen sich Werkdeutungen per se als zweifelhaft, die Dürrenmatt unterstellen, er verabsolutiere den Einzelfall, wie dies etwa Jan Knopf bei der Besprechung des Kriminalromans „ Das Versprechen “ tut. Knopfs Kritik (wie die vieler anderer auch, womit Dürrenmatt immer wieder zu kämpfen hatte) 341 entzündet sich an seiner Unterstellung, der Autor wolle generell aussagen, dass „ [m]enschliches Planen und Entwerfen sinnlos [sind], weil die Welt unberechenbar ist “ 342 , um diese angebliche Aussage anschließend als falsch zu diagnostizieren und Dürrenmatt „ eine unlautere Konsequenz “ vorzuwerfen. Diese unlautere Konsequenz aber zieht nicht Dürrenmatt, sondern Knopf selbst. Wenn man jedoch Dürrenmatts Grundsatz „ Ich deute die Welt nicht “ 343 ernst nimmt und im Sinne seiner Poetik des Experiments den Einzelfall tatsächlich als Einzelfall betrachtet, dann erweist sich eine solche Vorgehensweise, die eigene Interpretation dem Autor als generelle Aussage zu unterstellen, als rücksichtslos und falsch. Dürrenmatt rät Kritikern, die eben dies tun, „ [aufzuhören], mitzudichten “ 344 . Dem „ Versprechen “ ist insofern berechtigterweise nur zu entnehmen, was das Stück selbst darstellt, dass nämlich der Zufall, das Unvorhersehbare oder Unvorhergesehene, in der Lage ist, die menschliche Überzeugung, durch die Vernunft die Welt beherrschen zu können, in diesem Fall die Überzeugung des Herrn Matthäi, den Mörder durch Logik bestimmt zu überführen, zu desavouieren. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn Rüedi im „ Versprechen “ zu Recht „ eine virtuose Parabel [. . .] [ü]ber das Scheitern eines Aufklärers als Gleichnis für das Scheitern der Aufklärung “ 345 erkennt, dann ist dies deswegen eine berechtigte Interpretation, nicht weil Dürrenmatt, um auf Knopf zurückzukommen, den Zufall zum Paradigma erhebt, sondern weil er anhand des Einzelfalls zeigt, wie verheerend absolutistisches Denken sein kann. Dürrenmatts Stücke stellen insofern keine Paradigmen auf, sondern sie zeigen die Schwächen paradigmatischen Denkens, die Brüchigkeit einer menschlichen Überzeugung, die vielmehr naiver, selbstherrlicher Glaube ist. Wenn Dürrenmatt also dem Elementaren zustrebt, dann eben liegt das 340 G III 237 f. 341 Vgl.: Die Frist, WA 15 12 f. 342 Knopf 1988: S. 59. 343 Standortbestimmung, WA 6 157 344 Standortbestimmung, WA 6 157 345 Rüedi 2011: S. 608 f. 113 Elementare darin, den menschlichen Glauben, die Wirklichkeit in allen Bestimmungsstücken erkennen und beherrschen zu können, eben als Glauben - und als gefährlich zu entlarven. Eine solche Erkenntnis, die Wahrheit, die aufscheint, soll sicher nicht zu dem Ansinnen führen, durch eine noch akribischere Planung jede Eventualität berücksichtigen und damit den Zufall umgehen zu wollen - es sei an Dürrenmatts Satz erinnert „ Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen “ 346 - , sondern vielmehr dazu, in Ansehung dieser Einzelerfahrung, ein Versprechen, wie das des Herrn Matthäi, besser nicht abzugeben. Es ist das absolute Denken, das zu verheerenden Auswirkungen führen kann. 2.2.7 Das Experiment als spielerische Interaktion zwischen Künstler und Figuren Aus dem Erörterten erschließt sich die epistemolgische Dimension von Dürrenmatts Satz „ Aus den Fiktionen müssen Mythen hervorgehen, sonst sind sie sinnlos “ 347 aus der „ Standortbestimmung “ (1960). Aus ihm spricht die Absicht, Sinnbilder zu geben, deren Erkenntnispotenzial sich einem subjektiven künstlerischen Entdeckungsprozess verdankt, einem Akt der subjektiven Objektivierung, der dialektischen Beziehung zum Stoff - sich ihm zu unterwerfen und ihn gleichzeitig zu beherrschen. Rüedi sieht hierin einen Widerspruch 348 , doch für Dürrenmatt liegt die Möglichkeit zur Objektivierung in der Komödie selbst, die deshalb eine Distanz zum Gegenstand einnimmt, weil sie sich dem Einfall ausliefert und den Stoff zum Gegenstand des Denkens macht: Das Komische tritt nur ein, wo wir objektivieren, das heißt, wo wir eine Gestalt oder eine Handlung als Ganzes überblicken, was nur möglich ist, wo wir Distanz bewahren: Darum ist es gleichgültig, ob das als komisch Erkannte wirklich ist oder fingiert. 349 Insofern stellt der Stoff, dem er sich ausliefert, das Experimentalobjekt dar, in dem durch den aufgeworfenen Konflikt eine Erfahrung provoziert wird, die den Autor in ihrem Verlauf unentwegt - mindestens bis zu ihrem Ende, bei Dürrenmatt oft darüber hinaus - mit der Frage nach dem nächsten Schritt, der nächsten Wendung, dem nächsten Satz und dem nächsten Wort konfrontiert: „ Der Gedanke geht immer durch die Sprache; daher schreibe ich so oft um, es 346 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 91 347 Standortbestimmung, WA 6 157 348 Vgl.: Rüedi 2011: S. 522. 349 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 132 114 gibt bei mir viele Variationen. “ 350 Diese Situationen, die sich als eine Aneinanderreihung von - um einen Begriff von Rheinberger aufzugreifen - destabilisierten Momenten verstehen lassen, die sich als Differenzen des Wissens präsentieren, werden im subjektiven Spiel der Möglichkeiten durch die Logik der Vorstellungskraft und an der immanenten Logik orientiert gefüllt: „ Schreiben [. . .] ist auch ein Akt der großen Unsicherheit, des Zögerns, des Sich-Entscheiden-Müssens [. . .]. “ 351 Rüedis Ansicht „ Figuren sind dem Zufall ausgeliefert, aber wer diesen Zufall lenkt und denkt, ist der Autor. Er würfelt so wenig wie Einsteins Gott “ 352 ist nur bedingt zuzustimmen. Sicher wirft Dürrenmatt den Zufall aus auktorialer Perspektive gezielt ein (wobei keineswegs alle zentralen Figuren Dürrenmatts Opfer des Zufalls werden). Doch steht der Zufall natürlich auch im Kontext der Handlung und der Figuren, er ergibt sich für Dürrenmatt aus der immanenten Logik eines Stückes, aus dem Verhalten der Figuren, nicht zwangsläufig, aber als eine wahrscheinliche Möglichkeit. In Bezug auf „ Die Physiker “ stellt sich nicht so sehr die Frage, warum Möbius ’ Plan, durch die Flucht in die Irrenanstalt die Menschheit vor seinen Erkenntnissen zu schützen, nicht aufgeht, sondern viel eher, warum er aufgehen sollte. Die Entwicklung der einzelnen Personen und der Fortgang der Handlung sind dabei sicher nicht nur demiurgischer, dezidierter und letztlich zweckgebundener unumschränkter Entscheidungsgewalt unterlegen - ist doch Dürrenmatts Denken und Lenken unzweifelhaft eine starke spielerische Komponente beigeordnet, ein „ Spielen mit Möglichkeiten “ 353 - und getragen von einer Offenheit zur Differenz, die durch das Eigenleben der Figuren selbst entsteht, was zu einem Nicht-genau-Wissen, zum Vagen, zu Unvorgesehenem führt. 1966 erklärt Dürrenmatt hierzu: „ Man hat plötzlich verschiedene Punkte, man kommt zu ganz merkwürdigen Resultaten und überlegt erst nachträglich, was man jetzt eigentlich geschrieben hat. “ 354 1985: FD [. . .] Während ich schreibe, wird mir immer klarer, wie es werden wird. Das heißt, merkwürdigerweise habe ich vorerst eine Art Vision vom Ganzen, ich wittere das Werk, ich ahne es. Dennoch bin ich doch überrascht, daß schließlich das herauskommt, was ich machen wollte. Die Vision ist wie ein Leitmotiv. RADDATZ Aber die Drehung wissen Sie nicht. FD Nein. Das weiß ich vorher nicht. Viele Momente weiß ich, viele nicht. Ich weiß auch vorher viele Figuren nicht. Sie entwickeln sich beim Schreiben aus der Geschichte. Manchmal bin ich selber baff. 350 G II 55 351 G II 63 352 Rüedi 2011: S. 522. 353 G IV 184 354 G I 241 115 RADDATZ Daß die Irrenärztin in ‚ Die Physiker ‘ selber irre ist. FD Zum Beispiel. 355 Oder 1990: Man weiß nie, auf was man sich einläßt, wenn man zu schreiben anfängt. Es verändert sich langsam, plötzlich kommt man zu Resultaten, von denen man anfangs gar nichts wußte. Die geben dem Stoff eine ganz andere Form und einen ganz anderen Inhalt. 356 Aus solchen Äußerungen spricht, dass die Rolle des Großen Alten die einer nur bedingten, fragilen Allmacht ist, die Entscheidung für diesen Satz oder jenes Wort auch ein Wagnis darstellt, welches das Spiel der Möglichkeiten Dürrenmatt beim jeweils nächsten Zug abverlangt: Anschauliche Belege für die Unsicherheit, von der der Autor spricht, der Unsicherheit, die diesem lebendigen Gedankenspiel, einer Verbindung von Callois ‘ „ Agon “ und „ Alea “ 357 , innewohnt, sind nicht nur die vielen Fassungen zahlreicher Stücke, das Wieder-und-wieder-Umschreiben, die Re-generation und das Weiterdenken eines Stoffes. Der Spielcharakter seiner Arbeit liegt auch im Wesen der Sprache selbst, in ihrer Mehrdeutigkeit 358 , in der „ Unmöglichkeit der eindeutigen Darstellbarkeit “ 359 - die Figuren selbst werden zur beobachteten Natur - sie werden gleichsam materialisiert, zu eigenständigen Subjekten, die als Gegenüber Antwort geben; indem der Autor mit ihnen im Dialog ist, ist er gleichzeitig mit sich selbst im Dialog. 1980: Ich hatte oft Figuren, die lange nicht sprachen, nicht sprechen wollten. Dann wird das Weiterschreiben fast unmöglich. Man hat eine Figur, die will nicht sprechen. Und plötzlich, wenn man sie ganz in sich integriert, dann beginnt sie auch zu sprechen. 360 Dieses reflexive Verhältnis zwischen sich und seinen Figuren, was im Grunde einer interventiven Depotenzierung des auktorialen Subjekts gleichkommt, skizziert Dürrenmatt am Ende des Romans „ Justiz “ (1985), wobei interessant 355 G III 212 356 G IV 136 f. 357 Callois klassifiziert das Spiel in vier Hauptrubriken: „ Agon, Alea, Mimicry und Ilinx “ . (Roger Callois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Ins Dt. übertr. v. Sigrid v. Massenbach. Stuttgart: Schwab 1960. S. 19.) Die ersten zwei Kategorien scheinen in Bezug auf Dürrenmatts schriftstellerische Tätigkeit deren spielerischen Charakter am ehesten zu beschreiben - als Kampf mit dem Stoff und den Möglichkeiten, die sich aus dem Dialog mit den Figuren im Stück ergeben ( „ Mich interessieren Möglichkeiten. “ (G II 88)). 358 „ Ich glaube nicht, daß sich ein Wort durch Definitionen bestimmen läßt. Worte sind immer sehr schillernd und sehr mehrdeutig. “ (G II 202) 359 G II 308 360 G II 351 116 ist, dass er darin seinen Schreibtisch als Schlachtfeld bezeichnet, also einen Ort des Kampfes, des agon, und damit wiederum einen Bezug zum Spiel herstellt: Müde kehre ich zu meinem Schreibtisch zurück. Zu meinem Schlachtfeld, in den Bannkreis meiner Geschöpfe [. . .]. Von mir erfunden, vermochte ich sie nicht zu enträtseln. Meine Geschöpfe schufen sich ihre Wirklichkeit, die sie meiner Einbildungskraft entrissen und damit meiner Wirklichkeit, der Zeit, die ich hergab, sie zu schaffen. 361 Der Akt des Entreißens versinnbildlicht die spielerische und kämpferische Komponente, die für Dürrenmatt im dramatischen Handwerk liegt. Für Callois besteht das Spiel - ebenso wie für Dürrenmatt - auch darin, dass „ bis zum Ende ein Zweifel über den Ausgang bestehen [muß] “ : Ein im voraus bekannter Ablauf ohne Möglichkeit des Irrtums oder der Überraschung, der eindeutig zu einem unvermeidlichen Resultat führt, wäre mit dem Wesen des Spiels unvereinbar. Es bedarf einer beständigen, nicht voraussehbaren Erneuerung der Situation, wie sie sich bei jedem Angriff oder Ausfall beim Florettfechten oder auch beim Fußballspiel ergibt, aber auch bei jedem Ballwechsel beim Tennis oder jedesmal beim Schachspiel, wenn einer der Gegner eine Figur verschiebt. Das Spiel besteht in der Notwendigkeit, unmittelbar innerhalb der Grenzen und Regeln eine freie Antwort zu finden und zu erfinden. Diese dem Spieler gegebene Möglichkeit, die seinem Handeln zugebilligte Bewegungsfreiheit gehört mit zum Spiel und erklärt zum Teil das Vergnügen, das es erzeugt. 362 Vor diesem Hintergrund wird deutlich - Callois nennt in diesem Zuammenhang auch das „ Spiel eines Künstlers “ 363 , was Dürrenmatt meint, wenn er durch die Jahrzehnte hindurch unverändert den spielerischen Charakter seiner Kunst hervorhebt. 1961: „ Der Dramatiker ist nicht der Typ des ‚ Täters ‘ , sondern des ‚ Spielers ‘“ 364 , „ Die große Kunst bleibt für mich das Spiel [. . .] “ , „ Das Ziel jedes Theaterstücks ist es, mit der Welt zu spielen [. . .] Theater ist also ein Spiel mit der Wirklichkeit [. . .] “ 365 , 1984: „ Meine Stücke sind ja viel mehr Denkspiele, als man glaubt “ 366 oder 1990: „ Ich lasse also meine Figuren auf einer realistischen Ebene spielen “ 367 . Dürrenmatt co-generiert die künstlerische Wirklichkeit, die sich in einem Akt des Hineintauchens in den objektivierten Stoff in einem spielerischen Selbstdialog, in einem direkten Austausch zwischen Schöpfer und Schöpfung in den Gedanken des Künstler selbst konstruiert. Dieser Akt des Schreibens 361 Justiz, WA 25 230 362 Callois 1960: S. 14. 363 Ebd. 364 G I 103 365 G I 115 f. 366 G III 208 367 G IV 158 117 ist für Dürrenmatt immer auch ein Akt der Distanzierung 368 , der in experimenteller Hinsicht der Schaffung eines integrativen Abstandes zwischen sich und seinen Figuren gleichkommt. Dürrenmatt erfindet ein Szenario und lässt es sich unter definierten Bedingungen, der beständigen Erneuerung von Situationen, entwickeln. Das Sprechen der Figuren als Ausdruck ihrer Reaktionen auf die geschaffene Situation stellt das epistemologische Moment einer solchen Anordnung dar, konstituiert die Aussage des Stückes, die immer nur das Stück selbst ist - und nicht ihre Interpretation. In der „ Standortbestimmung “ vergleicht sich Dürrenmatt wiederum mit einem Naturwissenschaftler: Sie [die Natur] enthält nur insofern Probleme, als wir sie in ihr suchen. Sie sagt nur insofern aus, als sie vom Physiker dazu gebracht wird, gewisse Reaktionen zu begehen, die er dann in Form einer physikalischen Aussage wiedergibt, formuliert. 369 Hier wird abermals deutlich, dass Dürrenmatt den vor-wissenschaftlichen Raum als sein Spielfeld betrachtet: Im Gegensatz zum Physiker, der das Betrachtete in Form einer physikalischen Aussage abstrahiert, also schon eine Interpretation vornimmt, geht Dürrenmatt im übertragenen Sinn über die reine Beobachtung der Natur, die sich in der schriftlichen Fixierung vollzieht, nicht hinaus. Mit Hilfe der provozierten Erfahrung entlockt er der Natur des Menschen - durch sich selbst hindurch - Reaktionen, er deutet und abstrahiert sie aber nicht: „ Nur so wird sie [die Bühne] dem Elementaren verhaftet bleiben. “ 370 Und nur so wird letztlich das Schreiben der Wahrheit möglich, nur in der Anschauung, nicht in der Bewertung des Vorgefundenen, nur im Vor-Finden selbst, denn: „ Im Unabsichtlichen bricht sie durch. “ 371 2.2.8 Das Theater als „ eine der Chancen, die Welt zu erkennen “ - Zur gegenständlichen und heuristischen Abgrenzung von Kunst und Wissenschaft Wenn Dürrenmatt in dem Gespräch mit Franz Kreuzer 1982 den Mythos als einen von den Naturwissenschaften losgelösten, eigenständigen Weg der Welterkenntnis beschreibt 372 , dann ist damit auch das strukturelle Verhältnis 368 1977 sagt Dürrenmatt: „ Schreiben heißt an und für sich Distanz nehmen [. . .] Ich kann ja nur mich schreiben, ich kann ja nur versuchen, zu mir selbst Distanz zu haben. “ (G II 223) 369 Standortbestimmung, WA 6 158 370 Ebd. 371 Standortbestimmung, WA 6 159 372 Vgl.: G III 158 118 von Naturwissenschaft und einer Art von Kunst angesprochen, die den Anspruch hat, Mythen als vorwissenschaftliche Erkenntnisdinge zu generieren, das Theater, wie Dürrenmatt in „ Dramaturgie des Publikums “ (1970) sagt, als „ eine der Chancen “ zu sehen, „ die Welt zu erkennen “ 373 . In der Tat hat sich Dürrenmatt immer wieder mit der Äquivalenz beider Kulturen auseinandergesetzt. Spätestens mit Beginn der 1950er Jahre und der Hinwendung zu einer an Aristophanes orientierten induktiv-experimentellen Dramatik 374 , die durch den Übergang vom „ Denken über die Welt “ zum „ Denken von Welten “ 375 markiert ist, dessen Ausgangspunkt der jeweilige Einfall darstellt, setzt auch die zunehmende Auseinandersetzung mit strukturellen Ähnlichkeiten und Unterschieden von Kunst und Wissenschaft ein, die bis zum Ende seines Lebens anhält. Innerhalb punktueller Erörterungen kommt es dabei stets auch zur dezidierten Formulierung der unterschiedlichen Gegenstandsbereiche - die Dürrenmatt im 46. Satz der „ Sätze über das Theater “ (1970) pointiert zur Sprache bringt: „ Liefert die physikalische Fiktion eine Möglichkeit der physikalischen Welterkenntnis, so die künstlerische Fiktion viele Erkenntnisse, die durchaus nicht nur künstlerischer Art sein müssen. “ 376 Dass die Lebenswelt der Menschen, „ in der sich die Ein- 373 Dramaturgie des Publikums, WA 30 175 374 Diese Entwicklung kündigt sich bereits 1947 an. In „ Hingeschriebenes “ heißt es: „ Durch die Arbeit entsteht durch einen Einfall eine Welt. “ (Hingeschriebenes, WA 33 11). In „ Anmerkung zur Komödie “ (1952) nimmt Dürrenmatt diesen Gedanken auf und skizziert das erste Fundament seiner Komödientheorie: „ Aristophanes [. . .] lebt vom Einfall [. . .] Es sind Einfälle, die in die Welt wie Geschosse einfallen [. . .]. “ (Anmerkung zur Komödie, WA 30 23 f.) In „ Bekenntnisse eines Plagiators “ (1952) wird der Zusammenhang von Einfall und Experiment ausdrücklich hervorgehoben: „ Ich wagte es, mich meinen Einfällen hinzugeben, denn es ist eine meiner künstlerischen Überzeugungen, daß sich ein Schriftsteller vor allem dann der Welt aussetzt, wenn er es wagt, sich seinen Einfällen auszusetzen: So möchte ich die Art meines Experimentierens im ‚ Mississippi ‘ verstanden haben. “ (Bekenntnisse eines Plagiators, WA 3 212). In den „ Theaterproblemen “ (1954) klingt in der weiteren Ausarbeitung dieser Theorie die epistemologische Dimension des Theaters als Möglichkeit für den Künstler an, „ die Welt und sich selber dar[zustellen] “ (Theaterprobleme, WA 30 65). Die „ Möglichkeiten [. . .] der Bühne “ (Theaterprobleme, WA 30 42) münden für Dürrenmatt in eine „ Dramaturgie des Experiments “ (Theaterprobleme, WA 30 42) - Versuche, die Welt „ ins Sichtbare [zu] verwandeln “ (Theaterprobleme, WA 30 61 f.), für ihn vor allem auch durch den Mut gekennzeichnet, „ sich ihnen [den Einfällen] auszusetzen “ (Theaterprobleme, WA 30 54). Diese Entwicklung ist auch in „ Der Besuch der alten Dame “ (1955) nachzuvollziehen: In den „ Randnotizen “ (1955) heißt es: „ Meine Kunst [. . .] entsteht [. . .] aus der Welt, aus dem Erlebnis, aus der Auseinandersetzung mit der Welt, und genau dort, wo die Welt in Kunst gleichsam überspringt, steht der Einfall [. . .] “ (Randnotizen, WA 5138). 375 Standortbestimmung, WA 6 155 376 Sätze über das Theater, WA 30 211 119 sichten, Motive und Leidenschaften widerstreiten “ 377 , wie Dürrenmatt in „ Zum Tode Ernst Ginsbergs “ (1965) sagt, und „ jede Zuckung ihrer unermeßlichen Vitalität “ 378 , wie es in „ Literatur nicht aus Literatur “ (1962) heißt, dezidiert vornehmlich die Domäne der Kunst und nicht jene der Wissenschaften sein können, liegt für Dürrenmatt in der unscharfen Totalität des Lebens selbst und in der fundamentalen Undeutbarkeit des Menschen an sich begründet, wie er in „ Der Winterkrieg in Tibet “ (1978) ausführt: Als Organisation von Materie betrachtet, ist weder eine Milchstraße noch ein Quasar, weder der Rote Überriese Aldebaran noch der Gelbe Zwerg, den wir unsere Sonne nennen, sondern der Mensch das komplizierteste Wesen der uns bekannten Welt [. . .], gesteuert von der überaus vertrackten materiellen Struktur seines Gehirns, das sein Bewusstsein, sein Denken, sein logisches Schließen hervorbringt, aber auch sein Unbewußtes, seine Instinkte bestimmt, seine unberechenbaren Emotionen und Aggressionen, ja, seine ungeheuerliche Irrationalität, der gegenüber das Tier gleichsam als rationales Wesen erscheint. Und wenn wir erst die Vielschichtigkeit der Menschheit als Ganzes in Betracht ziehen, diesen Überorganismus eines Überorganismus, der sich immer wieder mörderisch und sinnlos gegen sich selbst wendet, so sind, was wir als geschichtliche Gesetzmäßigkeiten ausgeben, seien sie nun sozial, ökonomisch, psychologisch oder gar irrational, im besten Fall Erklärungsversuche unvollkommener Statistiken und Vermutungen, die nur vage Voraussagen zulassen [. . .]: nicht weil der Mensch und die Menschheit ‚ an sich ‘ irrational wären, sondern weil sie ‚ an sich ‘ nicht deutbar sind. 379 Diese Überzeugung bildet für Dürrenmatt die Grundlage des Anspruchs, sich dem Menschen in seiner Widersprüchlichkeit, seiner paradoxen Abgründigkeit, im unermesslichen Fluss des Lebens mit Hilfe der Kunst zu nähern, aber nicht deutend, sondern konstruktiv, nicht analytisch, sondern synthetisch vorgehend. 380 Hierbei handelt es sich um eine poetologische Auffassung, die den Unterschied zwischen Demonstrations- und Erkundungsmodellen deutlich macht, jene Unterscheidung, die Buddecke zu Recht als die wesentliche Verschiedenheit von Brechts experimenteller Dramatik und Dürrenmatts Bühnenexperimenten beschreibt. 381 „ Die moderne Welt “ muss sich darüber hinaus nicht zuletzt aufgrund ihrer Monstrosität einer ganzheitlichen Erkenntnis entziehen, „ [sie] ist ein Ungeheuer [. . .] ein[e] Welt der verlorenen 377 Zum Tode Ernst Ginsbergs, WA 30 136 378 Literatur nicht aus Literatur, WA 30 85 379 Der Winterkrieg in Tibet, WA 28 58 f. 380 Im ersten Teil der „ Frist “ (1977) beschreibt Dürrenmatt seine Arbeitsweise als synthetisch, als „ aus Eindrücken zusammengeträumt, die mir die Gegenwart aufdrängte [. . .] Aus solchen Bezügen und aus noch anderen baut sich meine Komödie und bauten sich meine Komödien auf, denn ich ging im Grunde nie anders vor, auch wo ich von Geschichten ausging. Auch sie waren synthetisch. “ (Die Frist, WA 15 12) 381 Vgl.: Buddecke 1973: S. 642. 120 Einheit, die nur immer teilweise zu begreifen und nur immer teilweise darstellbar ist. “ 382 Auch deshalb sind es für Dürrenmatt gerade nicht die aufs Abstrakte gerichteten exakten Wissenschaften, denen die Aufgabe zukommen kann bzw. die fähig wären, die Lebenswelt der Menschen erkennbar zu machen. Auch jede Form der Kunst, welche eine vorsätzliche Interpretation der Wirklichkeit in sich birgt, verschleiert die Erkenntnisfunktion eines Wirklichkeitsmodells eher, als dass sie deren uneingeschränkter Eignung zuträglich ist. Allein die autonome Komposition eines eigens generierten künstlerischen Experiments kann für Dürrenmatt die Quadratur des Kreises bewerkstelligen, auf subjektivem Wege eine objektive, weitestgehend unvoreingenommene Anschauung zu ermöglichen und sich selbst als Künstler und dem Rezipienten eine Gegenwelt als Denkvehikel, als Muster zur Erkenntnis der tatsächlichen Welt zur Verfügung zu stellen: „ Es gilt, die eleganteste und wirkungsvollste Form für die notwendige Verknappung und Vereinfachung der Wirklichkeit zu finden. “ 383 Dürrenmatt ist bestrebt, die Notwendigkeit bzw. die Möglichkeit einer künstlerischen Erkenntnis gegen eine naturwissenschaftliche klar abzugrenzen und damit auch zwei Erkenntnisarten thematisch voneinander zu trennen. Dies klingt bereits in den „ Theaterproblemen “ (1954) an, wenn Dürrenmatt sagt, dass „ die Physik die Welt nur noch in mathematischen Formeln wiederzugeben vermag “ 384 . Auch hier wird deutlich, dass die Welt der Konflikte einer wissenschaftlichen Annäherung verschlossen bleiben muss. 385 Der Mensch - an sich undeutbar 386 - lässt sich nicht in Formeln beschreiben. Dies erörtert auch Erich Fromm in „ Haben und Sein “ (Dt.: 1979), wenn er konstatiert: 382 Dramaturgie des Publikums, WA 30 174 383 G I 108 384 Theaterprobleme, WA 30 60 385 Diesen Gedanken führt Dürrenmatt in „ Dramaturgie der Vorstellungskraft “ (1978/ 1984 - 90) aus: „ Die Mathematik als Möglichkeit der Darstellung empirischer Erfahrung ist ein erkenntnistheoretisches Problem, ebenso die Untersuchung darüber, ob sich in ihr, begreift man sie als Experiment, als den einzig möglichen Versuch, in reinen Begriffen zu denken, die keinen Inhalt, sondern nur noch Funktionen besitzen, widerspruchsfreie Systeme aufstellen lassen. Mit all diesen philosophischen Problemen nicht der, sondern über die Mathematik hat die Kunst nichts zu tun [. . .]. “ (Dramaturgie der Vorstellungskraft, WA 37 106) 386 In einem Gespräch von 1980 beschreibt Dürrenmatt gerade dieses letztendliche Geheimnis des Menschen als den Reiz und die Herausforderung des Schreibens: „ Jedes Bild, jedes Werk steht schon von seiner Entstehung an grundsätzlich im Spiegel seiner Mehrdeutigkeit, ist also von vornherein nicht mehr eindeutig festlegbar. Vielleicht sind es gerade diese Schwierigkeiten, die Unmöglichkeit der eindeutigen Darstellbarkeit, was mich beim Arbeiten am meisten fasziniert, der Wettlauf mit dem Scheitern, Versagen. “ (G II 308) 121 Haben bezieht sich auf Dinge, und Dinge sind konkret und beschreibbar. Sein bezieht sich auf Erlebnisse, und diese sind im Prinzip nicht beschreibbar [. . .] mein gesamtes Ich, meine Individualität in allen ihren Ausformungen, mein So-sein, das so einmalig ist wie meine Fingerabdrücke, ist niemals vollkommen erfaßbar, nicht einmal auf dem Wege der Einfühlung, denn es gibt keine zwei Menschen, die vollkommen identisch sind. 387 Dürrenmatt thematisiert den Gedanken der Verdoppelung als paradoxe Grundlage der Möglichkeit, den Menschen von außen beschreiben und deuten zu können, ebenfalls. In „ Die Brücke “ (1. Fassung: 1982) stellt er als Bedingung für eine „ [. . .] vom Menschen gelöst[e] [Wahrheit] “ 388 ebenso wie Fromm die Fiktion eines zweiten Ichs als einzig vorstellbares, aber unmöglich zu realisierendes Verfahren zur eindeutigen Erkenntnis des Menschen auf: Der Mensch müßte, um die Wahrheit über sich zu erfahren, sich verdoppeln können [. . .], er müßte sich nicht nur selber entgegentreten, nicht nur als Doppelgänger, sondern auch als gleichsam umgestülpter Er-selber, als die Wahrheit außerhalb seiner selbst. 389 Hierin liegt der Hauptgrund, warum auch die Naturwissenschaften hinsichtlich der Erkundung des Menschen als Einzelnem vor einer unlösbaren Aufgabe stehen, und ein naturwissenschaftlicher Omnipotenzanspruch abzulehnen ist. Einer derer, die sich in den 1970er Jahren ebenfalls gegen einen solchen Anspruch wenden, ist Max Thürkauf, damals Professor für physikalische Chemie an der Universität Basel, indem er zwischen wissenschaftlicher Welt und menschlicher Lebenswirklichkeit differenziert: Die wirkliche Welt ist eine andere als die ‚ Welt ‘ des Laboratoriums. Wer dies weiß, kann in Bescheidenheit sehen, daß nur ein kleiner Teil der wirklichen Welt - eben der Welt, in der wir leben - mit den Mitteln der exakten Naturwissenschaften erfaßt oder gar verstanden werden kann. Er wird sehen, daß die ‚ Welt ‘ der Chemie und Physik eine ‚ Welt ‘ der Maschinen und Apparate ist und die Welt, in der wir leben, eine Welt des Lebens: die Schöpfung. Maschinen und Apparate sind machbar, Leben nicht. Eine dereinstige Machbarkeit des Lebens zu behaupten, ist unwissenschaftlich, denn Leben ist Voraussetzung allen Tuns. 390 Dürrenmatt drückt diese Gedanken mit anderen Worten aus, wenn er sich dagegen wehrt, in der Kunst „ eine Tautologie, eine Wiederholung mit 387 Erich Fromm: Haben und Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Dt. v. Brigitte Stein. Überarb. v. Rainer Funk. Stuttgart: Deutscher Taschenbuch Verlag 1979. S. 88. 388 Die Brücke, WA 29 94 389 Die Brücke, WA 29 94 f. 390 Max Thürkauf: Wissenschaft und moralische Verantwortung. Vom Bildungswert des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Schaffhausen: Novalis 1977. S. 19. 122 untauglichen Mitteln, eine Illustration zu wissenschaftlichen Erkenntnissen: gerade das, was die Wissenschaft in ihr sieht “ 391 zu erkennen. In der Abgrenzung zu den Naturwissenschaften erblickt Dürrenmatt den Raum, der ihm als Schriftsteller noch bleibt, dort, wo sein Gegenstand den exakten Naturwissenschaften entfleucht - es ist der Mensch, der sich klar definierten und bewiesenen Begriffen entzieht, der Mensch als groteskes Wesen in einer grotesken Welt: „ Unsere ungeformte, ungestaltete Gegenwart ist dadurch gekennzeichnet, daß sie von Gestalten, von Geformtem umstellt ist. “ 392 Diese Auffassung kommt auch in Dürrenmatts Urteil über unser Zeitalter als eines der Bilder, das in Wahrheit jedoch eines der Abstraktion, der Bildlosigkeit geworden ist, zum Tragen. 393 In der Gedenkrede „ Zum Tode Ernst Ginsbergs “ (1965) konkretisiert er den Hoheitsanspruch der Gegenstände von Kunst und Wissenschaft, indem er die Frage „ nach dem Wesen des Theaters im wissenschaftlichen Zeitalter “ 394 stellt - und das rein wissenschaftliche Denken, das „ ein Denken in begrifflich scharf gestellten Fragen, ein Denken in Problemen “ 395 ist, von der Aufgabe der Kunst, den Menschen in seiner „ Welt der Konflikte “ 396 darzustellen, dezidiert separiert. 1961 sagt er: Der Dramatiker braucht ein Gefälle, einen Gegensatz, eine Möglichkeit, aus einem Konflikt ein Spiel zu entwickeln. Ich stehe dramaturgisch vor dem Problem, daß ich, unabhängig davon, was ich weltanschaulich denke, einen Konflikt ‚ an sich ‘ brauche. 397 Dürrenmatt weist den zwei Bereichen der exakten Naturwissenschaften und der Kunst in Kongruenz die kategoriellen Begriffe „ Problem “ und „ Konflikt “ zu: Der Begriff des Problems bezeichnet „ eine ungelöste, zwecks ihrer Lösung bearbeitete Aufgabe oder Frage “ 398 . Er ist für Dürrenmatt der Kern einer wissenschaftlichen Betrachtung: „ Das wissenschaftliche Denken ist ein Denken in Problemen, denn Wissenschaft ist nur möglich, wenn das Objekt der Wissenschaft begrifflich dargestellt werden kann [. . .]. “ 399 Der Begriff des Konfliktes steht im Gegensatz dazu für den Bereich der Lebenswirklichkeit, wie folgende Definition des Wortes belegt: Zusammenstoß, Widerstreit, bes. im Seelischen und Sittlichen; Konflikte in sozialen Bereichen führen oft zum offenen Kampf, insbesondere wenn es sich dabei um 391 Theaterprobleme, WA 30 67 392 Theaterprobleme, WA 30 66 393 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 64 f. 394 Zum Tode Ernst Ginsbergs, WA 30 136 395 Ebd. 396 Ebd. 397 G I 103 398 Schmidt 1991: S. 584. 399 Zum Tode Ernst Ginsbergs, WA 30 136 123 zugespitzte Forderungen verschiedener Interessengruppen und Klassen handelt, die in Machtkämpfe ausarten. 400 Den Begriffen ‚ Problem ‘ und ‚ Konflikt ‘ stellt Dürrenmatt - den zitierten Definitionen entsprechend - ihre erkenntnistheoretischen Komplementärbegriffe zur Seite, wobei der Konflikt das Konkrete, das Problem das Abstrakte repräsentiert. 401 ‚ Abstrakt ‘ heißt nach allgemeinem Sprachgebrauch alles rein Gedachte bzw. Gedankliche, insofern es gegenüber dem unmittelbar Erlebten, Angeschauten, Wahrgenommenen, Gefühlten, d. h. dem Konkreten, abgeblaßt, unanschaulich, vermittelt, begrifflich geartet ist; im tadelnden Sinne auch svw. lebensfern, wirklichkeitsentfremdet [. . .]. 402 In Entsprechung hierzu bedeutet ‚ konkret ‘ „ das natürlich, sichtbar und greifbar Wirkliche, das sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort befindet. “ 403 Dürrenmatt demarkiert die wissenschaftliche Tätigkeit als „ die Lösung eines Problems, [. . .] die Beantwortung einer Fragestellung “ 404 von der Aufgabe des Schriftstellers, nämlich „ den Menschen in seinen Konflikten sichtbar zu machen “ 405 - und geht noch weiter: Die wissenschaftliche Welt der Begriffe und die empirische Lebenswirklichkeit stehen einander sogar unvereinbar gegenüber - nur so kann es verstanden werden, wenn der Autor konstatiert: Die Lösung eines Problems ist etwas Positives, sie ist die Beantwortung einer Fragestellung, sei sie nun in Form einer Moral oder einer Doktrin, sie befriedigt den Intellekt, doch stellt sich ihr die Wirklichkeit entgegen, denn die Lösung eines Problems ist nicht auch schon die Lösung des Konflikts, der dem Problem zugrunde liegt. Der Konflikt als das Konkrete ist vielschichtiger als das Problem, als das Abstrakte. 406 Unübersehbar tritt hier Dürrenmatts Skepsis zutage, die Wissenschaften könnten je in der Lage sein, der Komplexität der menschlichen Lebenswelt zu begegnen, d. h. etwas über die Situation und die Natur des Menschen auszusagen. Dieser sieht sich Dürrenmatts Ansicht nach immer stärker in eine Welt hineingeworfen, die ihm keine Heimat, sondern nur ein Ort der Entfremdung sein kann, wie es 1956 in „ Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit “ heißt: 400 Schmidt 1991: S. 390. 401 Vgl.: Zum Tode Ernst Ginsbergs, WA 30 137 402 Schmidt 1991: S. 4. 403 Ebd., S. 391. 404 Zum Tode Ernst Ginsbergs, WA 30 137 405 Zum Tode Ernst Ginsbergs, WA 30 138 406 Zum Tode Ernst Ginsbergs, WA 30 137 124 Der Mensch versteht nicht, was gespielt wird, er kommt sich als ein Spielball der Mächte vor, das Weltgeschehen erscheint ihm zu gewaltig, als daß er noch mitbestimmen könnte; was gesagt wird, ist ihm fremd, die Welt ist ihm fremd. Er spürt, daß ein Weltbild errichtet wurde, das nur noch dem Wissenschaftler verständlich ist, und er fällt den Massenartikeln von gängigen Weltanschauungen und Weltbildern zum Opfer, die auf den Markt geworfen werden und an jeder Straßenecke zu haben sind. 407 Auch der Künstler muss sich in dieser bildlosen Welt zurechtfinden, während die Wissenschaften immer mehr Deutungshoheit für sich in Anspruch nehmen, Stoffe okkupieren und somit signifikant „ den Raum der Kunst eineng[en] “ 408 . Doch signalisiert Dürrenmatts Forderung, „ [e]r [der Schriftsteller] wage es wieder, die Welt zu formen, aus ihrer Bildlosigkeit ein Bild zu machen “ 409 , vor allem eine aufklärerische Intention, die in dem Versuch mündet, das Labyrinth, in dem sich der Mensch befindet, zumindest als ein solches zu erkennen und dem Chaos ein Denken entgegenzustellen, welches das Handeln der Menschen zu seinem Gegenstand und anschaulich macht. Es geht Dürrenmatt um das Wie des menschlichen Verhaltens - aus ihm lassen sich Grundmuster ableiten, die letztlich die Gleichnishaftigkeit seiner Werke konstituieren - das Warum ist in den Figuren selbst angelegt, vermag als verborgener Urgrund aufzuscheinen, bleibt aber oft widersprüchlich, selbst labyrinthisch und letztlich Interpretation. Dürrenmatt weist der Kunst den ihr gebührenden Raum zu, indem er all das als ihre Gegenstände betrachtet, was nicht von der Wissenschaft eingenommen ist bzw. eingenommen werden kann. Seine kritische Positionierung, die einerseits die Äquivalenz beider Kulturen, andererseits deren thematische Unterschiede hervorhebt und die sich klar gegen eine Verwissenschaftlichung der Kunst bzw. die direkte Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Kunst ausspricht, findet sich auch bei Adorno, der seine Ablehnung einer Translation der Wissenschaft auf die Kunst ähnlich wie Dürrenmatt anhand der Feststellung unterschiedlicher Wirkungsfelder und einer Abgrenzung von Wissenschaftskosmos und empirischer Lebenswelt, begründet, ebenso aber die Äquivalenz beider Sphären nicht in Frage stellt: So tief - und weithin noch dunkel - der Anteil der Wissenschaft an der Entfaltung der künstlerischen Produktivkräfte ist; so sehr gerade durch der Wissenschaft abgelernte Methoden Gesellschaft in die Kunst hineinreicht, so wenig wird darum doch die künstlerische Produktion [. . .] wissenschaftlich. [. . .] Wenn die von der Technik verängstigte Kunst sich ihr Plätzchen zu konservieren trachtet, indem sie ihren eigenen Übergang in Wissenschaft verkündet, so verkennt sie den Stellen- 407 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 64 f. 408 Theaterprobleme, WA 30 67 409 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 67 125 wert der Wissenschaften in der empirischen Realität. Andererseits ist auch nicht, wie es dem Irrationalismus beliebte, das ästhetische Prinzip als sakrosankt wider Wissenschaften auszuspielen. Kunst ist kein unverbindliches kulturelles Komplement der Wissenschaft sondern zu ihr kritisch gespannt. [. . .] Wissenschaft und Kunst sind nicht zu verschmelzen, aber die in beiden geltenden Kategorien sind nicht absolut verschieden. Das konformierende Bewußtsein will es umgekehrt, einerseits unkräftig zur Unterscheidung von beidem, andererseits nicht willens zur Einsicht, daß in den nichtidentischen Sphären identische Kräfte wirken. 410 Der Begriff der kritischen Spannung als prädikatisiertes Merkmal für das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft steht in Parallelität zu Dürrenmatts Argumentation in den „ Theaterproblemen “ , wonach das von den Wissenschaften mit Beschlag Belegte kaum mehr das Thema des Künstlers sein kann, wohl aber die groteske Wirklichkeit selbst, deren Gepräge maßgeblich durch die Wissenschaften bestimmt ist: „ Was nämlich die Welt verändert hat “ , heißt es in einem Gespräch von 1982, „ ist nicht irgendeine Ideologie, sondern eben die Wissenschaft [. . .], aus der dann die Technik hervorgeht. “ 411 Es ist deshalb plausibel, die gigantische technokratische Machtentfaltung der Naturwissenschaften als eine wesentliche Facette von Dürrenmatts Weltempfinden zu deuten, die ein Szenario der Bedrohung und des Schreckens initiiert: Die Physik, die Naturwissenschaft, ist durch ihre notwendige Verbindung mit der Mathematik weitgehend dem Verständnis des Nichtphysikers entrückt, d. h. dem Verständnis der überwiegenden Anzahl der Menschen. Das wäre nicht schwerwiegend, wenn die Naturwissenschaften in sich abgeschlossen, ohne Wirkung nach außen blieben. Das aber ist nun keineswegs der Fall. Im Gegenteil, sie schleudern immer neue Möglichkeiten in die Welt, Radar, Fernsehen, Heilmittel, Transportmittel, elektronische Gehirne usw. Der Mensch sieht sich immer gewaltiger von Dingen umstellt, die er zwar handhabt, aber nicht mehr begreift. Dazu kommt, dass der Friede vorläufig nur deshalb besteht, weil es Wasserstoff- und Atombomben gibt, die für den unermeßlich größten Teil der durch sie bedrohten wie auch bewahrten Menschheit vollends unverständlich sind. Die Technik, können wir mit einer gewissen Vorsicht sagen, ist das sichtbar, bildhaft gewordene Denken unserer Zeit. 412 Solche Sätze lassen eine vermeintliche Nähe etwa zu der Ansicht Jürgen Habermas ’ aufkommen, der die zugespitzte These aufstellt, physikalische Erkenntnisse gelangen erst und ausschließlich durch ihre praktischen Auswirkungen - etwa in Gestalt des massiven Einbruchs einer explodierenden Atombombe in die Lebenswelt - auch in das literarische Bewusstsein: „ Gedichte entstehen im Anblick von Hiroshima und nicht durch die Verarbeitung 410 Adorno 2003: S. 343 f. 411 G III 143 412 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 63 126 von Hypothesen über die Umwandlung von Masse in Energie. “ 413 Eine solche Einschätzung mag für viele Künstler gelten, auf Dürrenmatt trifft sie nur partiell zu. Denn es sind mitnichten nur die realen Auswirkungen, sondern vor allem die erkenntnistheoretischen Implikationen der Wissenschaften, die ihn bewegen und seine Art der künstlerischen Bewältigung der Wirklichkeit beeinflussen. Diese - und hierin vor allem das Experiment - bilden zum einen den Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung mit der Frage nach oder der Behauptung von Erkenntnis, zum anderen den Anstoß zu einer Poetik, die im künstlerischen Experiment eine äquivalente eigenständige Methode zur Erforschung einer den Wissenschaften entfleuchenden und diese weit überschreitenden Wirklichkeit darstellt. Die Wirklichkeit, auf die Dürrenmatt sich hier bezieht, schließt die Naturwissenschaften selbst als einen bestimmenden Faktor mit ein - deshalb nimmt er auch zu ihnen durch die eigene erkenntnistheoretische Poetik eine kritische Position ein: Ich glaube, das liegt überhaupt im Wesen des Menschen, daß er sämtliche Fähigkeiten hat. Die Wissenschaft ist ja nur eine seiner Fähigkeiten, er kann sich auch über die Wissenschaft hinwegsetzen, indem er sich klar wird, was die Wissenschaft ist. 414 Den erkenntnistheoretischen Implikationen seiner Poetik ist eine Kritik der Naturwissenschaften immanent. Er bezieht zu ihnen durch die eigene Weise der Welterkenntnis Stellung, insofern die grundsätzlichen Fragen nach den Bedingungen von Erkenntnis und die Antworten, die Dürrenmatt darauf gibt, auch als Kommentar zu den Verfahren einer naturwissenschaftlichen Epistemologie zu verstehen sind. Dürrenmatt steht demnach Adornos Sätzen näher als denen Habermas ’ - seine Aussage von 1961 „ An der Physik interessiert mich [. . .] die Art, wie sie die Natur befragt “ 415 entspricht Adornos Postulat von den „ der Wissenschaft abgelernte[n] Methoden “ ; Dürrenmatts Überzeugung vom Fehlen eines Beweischarakters des künstlerischen Experiments 416 korrespondiert mit Adornos Auffassung, „ so wenig wird darum doch die künstlerische Produktion [. . .] wissenschaftlich “ ; Dürrenmatts Bestimmung der Lebenswelt als Domäne der Kunst spiegelt sich in Adornos Ansicht, die Kunst „ verkennt [. . .] den Stellenwert der Wissenschaften in der empirischen Realität “ ; und schließlich besteht eine resümierte Einigkeit beider darin, dass beide Sphären sich unterscheiden, aber „ in den nichtidentischen Sphären identische Kräfte wirken “ . 413 Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968. S. 107. 414 G III 164 415 G I 101 f. 416 Vgl.: Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? , WA 32 132 f. 127 Für Dürrenmatt ergeben sich daraus zentrale heuristische Abgrenzungskriterien von „ Kunst und Wissenschaft “ , die er in der gleichnamigen Rede von 1984 erläutert: Die Wissenschaft interpretiert, die Kunst stellt dar, die Wissenschaft zielt auf das Eindeutige, die Kunst auf das Mehrdeutige, die erstere auf den Begriff, die letztere auf das Bild, die eine auf die Idee, die andere auf die Vision. Wissenschaft und Kunst sind nicht gleiche, aber gleichberechtigte Schöpfungen des Menschen. 417 Hier wird deutlich, worin sich für Dürrenmatt die Generierung von Erkenntnis in beiden Kulturen unterscheidet: Die Wissenschaft kommt auf dem Weg der Induktion zu allgemeinen Sätzen, indem unter definierten Bedingungen erzielte Einzelergebnisse interpretiert und zu Theorien ausgebaut werden. Die angestrebte Präzision ist hierbei Voraussetzung und Folge definierter Begriffe, mathematischer Zeichen, die bestimmte Größen repräsentieren. Wissenschaftliche Experimente dienen als Bestätigung oder Falsifizierung zuvor aufgestellter Hypothesen oder - auf dem Weg der Deduktion - der systematischen Ausfütterung und Verstärkung gedanklich konzipierter Weltbilder. Die ‚ verbale ‘ Kunst hingegen, die sich nur der von Vieldeutigkeit durchprägten Sprache als Instrument bedient, kann per definitionem dem Spektrum der Mehrdeutigkeit nicht entrinnen. Begriffsbestimmungen können als feste Größen in den künstlerischen Akt nicht integriert werden, die Sprache verlöre ihre ureigenste Bestimmung, die ihr wesentliche Vielfalt des verbalen Inhalts - die Mehrdeutigkeit des Denkens in Sprache kann von dieser nicht abstrahiert werden, ohne das Denken des Menschen selbst seiner Natur zu berauben. Deshalb kann nach Dürrenmatt die Kunst nur darstellen, erkunden - versuchen, sich sprachlich einer Vision zu nähern, das Gefundene aber nicht interpretieren oder in eine konkrete Theorie einbetten. Das Werk selbst stellt das hypothetische Ergebnis eines künstlerischen Experimentes dar - es generiert die Hypothese. Hierin unterscheiden sich Dürrenmatts künstlerische Experimente qualitativ von wissenschaftlichen Experimenten, die deduktiv zur Überprüfung einer zuvor aufgestellten Hypothese oder induktiv zur Erlangung einer Theorie durchgeführt werden. 418 417 Kunst und Wissenschaft, WA 36 94 418 Eben diesen kategorischen Unterschied im Verhältnis zu den Wissenschaften als wesentliches Abgrenzungsmerkmal der Dürrenmattschen und der Brechtschen Dramatik verkennt Knopf, wenn er urteilt, Dürrenmatt trenne strikt zwischen Kunst und Wissenschaft und lasse hierin den größten Abstand zu der Dramatik Brechts erkennen, „ der Wissenschaft und Kunst gerade miteinander verbunden hat. “ (Vgl.: Knopf 1988: S. 89.) Tatsächlich ist Dürrenmatts dramaturgischer Bezug zu den Wissenschaften ein anderer als der Brechts, indem Dürrenmatt allein im induktiven Vorgehen die Möglichkeit zur Erkenntnis überhaupt sieht. In ihm drückt sich eine fundamentale Kritik an einer deduktiven Kunst aus. Ihm deshalb, wie Knopf es tut, zu unterstellen, mit seinen 128 Wie zentral für Dürrenmatt diese in zahlreichen theoretischen Texten diversifizierte Unterscheidung von Kunst und Physik ist, kommt sehr pointiert in „ Gedankenfuge “ (1986/ 1988 - 90) zum Ausdruck: Erfaßte er [der Mensch] mit seinem [naturwissenschaftlichem] Instrumentarium die quantitative reale objektive vermutbare Seite seiner Wirklichkeit, stellt die Kunst ein Instrumentarium dar, die qualitative, irreale, subjektive, nur glaubbare Seite seiner Wirklichkeit darzustellen. Die metaphysische Methode, die noch möglich ist. Die irrationale Welt der Gefühle ist mächtiger als die rationale Welt des Verstandes, im Kampf gegen die Irratio ist die Ratio noch stets unterlegen, in jener, nicht in dieser liegen die Triebfedern des Menschen. 419 Um diese „ Triebfedern des Menschen “ spielerisch zu ergründen, schafft Dürrenmatt immer neue gleichnishafte Eigenwelten, deren Kommensurabilität mit den Naturwissenschaften primär im gedanklichen Verfahren selbst angesiedelt werden muss - im Experiment nämlich. Das Kunstwerk wie Dürrenmatt es versteht, hat die Funktion einer subjektiven wissenschaftsanalogen Erkenntnisweise der Lebenswelt inne; wodurch es implizit Dürrenmatts Blick auf das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit definiert: „ Meine Geschichten sind alle Gleichnisse oder literarische Experimente. “ 420 Das Experiment ist für Dürrenmatt Produktionsverfahren und Ergebnis von Kunst in einem. Es ist das Gebilde, anhand dessen eine modellhafte Eigenwelt entsteht, die der Schriftsteller als Anschauungsobjekt hypothetisch zwischen sich, seinen Rezipienten und die Wirklichkeit spannt - und die deshalb geeignet ist, auch die Wirklichkeit in sich zu enthalten, weil ihre Konstituenten die Geschehnisse, Erlebnisse und Empfindungen sind, welche die tatsächliche Welt hervorbringt: Stücken nicht auf die Wirklichkeit zeigen zu wollen (vgl.: Knopf 1988: S. 88.), missachtet Dürrenmatts Überzeugung, dass die Abwesenheit einer spezifischen Perspektive gerade die Voraussetzung für den Modellcharakter seiner Stücke und damit der generellen Möglichkeit darstellt, in ihnen die Wirklichkeit erkennen zu können. Knopf erkennt die „ Wissenschaftlichkeit “ der Kunst ausschließlich im deduktiven Vorgehen des Künstlers, eine als wahr erkannte Wirklichkeit im Kunstwerk zu exemplifizieren, verkennt damit aber den subjektiven Gehalt der Wissenschaften im 20. Jahrhundert (auf den u. a. Eddington hingewiesen hat). Seinem Verdikt, Dürrenmatts Experimente seien deshalb nicht „ wissenschaftlich “ , weil sie sich dagegen wehrten, „ objektiv zu sein “ (vgl.: Knopf 1988: S. 89.), muss daher widersprochen werden: Abgesehen davon, dass es überhaupt treffender wäre, nicht von einer „ wissenschaftlichen “ Kunst zu sprechen, sondern im Begriff der experimentellen Kunst deren Verhältnis zu den Wissenschaften kritisch zu analysieren, kann kaum behauptet werden, Dürrenmatts Kunst stünde in einem weniger komplexen oder ausgeprägten Verhältnis zu den Wissenschaften als die Kunst Brechts; allein es handelt sich um ein erkenntnistheoretisch fundamental anderes Verhältnis. 419 Gedankenfuge, WA 37 88 420 G IV 83 129 In dieser Welt der Konflikte steht aber auch das Theater, das ist seine gleichbleibende Position, die Frage nach seiner Funktion lautet, ob sich das Theater als Mittel eigne, die Welt der Konflikte vom Problem her zu ändern, eine Frage, die sich für den Dramatiker in der Form stellt, ob er vom Problem oder vom Konflikt auszugehen habe. 421 Dürrenmatt etabliert damit ein zu den Wissenschaften alternatives Denkverfahren, das nicht wissenschaftliche Exaktheit intendiert, keine Größen hervorbringt, die im strengen Sinne verifizierbar oder falsifizierbar wären, und das damit keineswegs einem Positivismus verpflichtet ist, der einen absoluten Anspruch auf die Deutbarkeit des Gegenstandes selbst erhebt. Sein künstlerisches Experimentieren ist chronologisch im dramaturgischen Ablauf dort anzusiedeln, wo sich aus einem Stoff ein dramatischer Konflikt entwickelt. Es betrifft den Stoff nur mittelbar, d. h. nur insofern, als es imstande sein muss, den Stoff adäquat zu repräsentieren, in erster Linie setzt es aber - jenseits der Planung - dort ein, wo das Schreiben und damit der dramatische Konflikt seines figürlichen Personals beginnt - mit der Ausgangssituation, dem Einfall, der die Handlung des Stückes initiiert. Mit Hilfe dieses Verfahrens verwandelt Dürrenmatt die Wirklichkeit künstlerisch „ in einen Gegenstand unseres Nachdenkens “ 422 , es stellt eine subjektivistische Epistemologie dar. Wenn für ihn, und so kann die betreffende Textstelle in „ Vom Sinn der Dichtung in seiner Zeit “ verstanden werden, das „ [I]m Bilde “ - Sein über die Welt ein Erkennen, ein Durchschauen voraussetzt, und die Kunst mit Hilfe unterschiedlicher Weltmodelle ein Durchdenken der Wirklichkeit ermöglicht, dann ist damit eine Ebenbürtigkeit von Wissenschaft und Kunst konstatiert: „ Die Literatur verhaftet den Menschen, sie macht ihn zu ihrer Sache, wie die Physik die Natur zu ihrer Sache macht. “ 423 Die strukturelle Konkordanz des Verfahrens ist für Dürrenmatt die zentrifugale Kraft in der Äquivalenz von Wissenschaft und Kunst; ihre Separation liegt in der Verschiedenheit der Gegenstände - und in dem ureigenen Anspruch der Kunst an Deutung und Ergebnis. In „ Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit “ (1956) heißt es dazu: Im Denken manifestiert sich die Kausalität hinter allen Dingen, im Sehen die Freiheit hinter allen Dingen. In der Wissenschaft zeigt sich die Einheit, in der Kunst die Mannigfaltigkeit des Rätsels, das wir Welt nennen. Sehen und Denken erscheinen heute auf eine eigenartige Weise getrennt. Eine Überwindung dieses Konflikts liegt darin, daß man ihn aushält. 424 421 Zum Tode Ernst Ginsbergs, WA 30 137 422 Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? , WA 32 136 423 Rede von einem Bett auf der Bühne aus, WA 32 140 424 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 68 f. 130 Die semantische Streuung und interpretatorische Diversifikation eines künstlerischen Experiments ergibt sich für Dürrenmatt zum einen - im Gegensatz zur Mathematik - aus der Vieldeutigkeit und defizitären Exaktheit der Sprache selbst und zum anderen aus der Totalität des Gesamtbildes, welches die Fiktion darstellt. Die Fragestellung, wie Menschen in komplexen Situationen agieren und reagieren, kann gerade vor dem Hintergrund der reinen subjektiven Annahme kaum wissenschaftlichen Zwecken genügen. Doch erkennt Dürrenmatt ähnlich gesteuerte Kräfte, die in den Fiktionen seiner Kunst und den Fiktionen der Wissenschaften wirksam sind. 1970 führt er diesen Gedanken aus: „ Theater ist nichts anderes als Fiktion. Theater ist immer Erfindung. Der Mensch gibt sich nur mit Erfindungen ab. Die Wirklichkeit kann nur mit Erfindungen beschrieben werden. “ 425 2.2.9 Dürrenmatts fiktive Gegenwelten 2.2.9.1 Das Als-Ob als bewusster Status des Experimentellen In Anlehnung an Hans Vaihinger und dessen „ Philosophie des Als Ob “ (1911) stellt Dürrenmatt in den „ Sätzen über das Theater “ (1970) die Frage, „ wie es komme, daß wir mit bewußt erfundenen Vorstellungen die Wirklichkeit zu beschreiben vermögen. “ 426 Dürrenmatt bedient sich zur Erklärung, obgleich er eine zureichende Antwort eher als Herausforderung für die Philosophie begreift denn für sich selbst 427 , des Begriffs der Fiktion, um auf diese Frage eine Antwort zu geben: Eine mathematische oder physikalische Fiktion ist etwas anderes als eine künstlerische. Eine physikalische Fiktion scheint mir eine bewußte Denktechnik zu sein, mit der ich der Wirklichkeit gleichsam eine Falle stelle und ihr so eine Antwort entlocke, die ich jedoch nur physikalisch zu deuten vermag; künstlerische Fiktionen scheinen mir Denktechniken zu sein, die darauf ausgehen, scheinbare Wirklichkeiten zu errichten. Wird durch eine physikalische Fiktion die Wirklichkeit befragt, wird die Wirklichkeit durch die künstlerische Fiktion künstlich hergestellt. Zur Wirklichkeit, wie sie ist, wird eine künstliche Gegenwirklichkeit geschaffen, in der sich die Wirklichkeit, wie sie ist, widerspiegelt. 428 In diesen fiktiven Gegenwelten zur Realität, als die Dürrenmatt seine Kunstwerke versteht, öffnet sich ein experimenteller Raum, in dem Dinge beobachtet werden können, die in keiner wissenschaftlichen Versuchsanordnung möglich sind. Da der Mensch in seinem konkreten Existenzvollzug sich einer 425 G I 350 426 Sätze über das Theater, WA 30 210 427 Vgl.: Ebd. 428 Ebd. 131 gezielten Beobachtung bzw. einer systematischen geplanten Analyse konsequent entzieht 429 , wird, wenn ein Modell der menschlichen Natur angestrebt wird, der künstlerische Akt zum ultimativen Weg der Erkenntnis: „ Auf der Bühne können wir durchspielen, was wir in der Realität nicht durchspielen können. Ich kann das mit einer Retorte vergleichen “ 430 , sagt Dürrenmatt 1982 und bezieht sich damit zum einen auf ethische Grenzen der Wissenschaft, die aus Medizin und Psychologie bekannt sind 431 , für das künstlerische Experiment aber nicht gelten; zum anderen auf erkenntnistheoretische Schwierigkeiten, die dort anzutreffen sind, wo die Privatheit des 429 Dürrenmatt ist sich im Klaren darüber, dass eine reale experimentelle Anordnung keine erschöpfenden Erkenntnisse über die Natur des Menschen hervorbringen kann, da der Mensch, der sich der wissenschaftlichen Beobachtung bewusst ist, sich anders verhält als im realen Leben oder in einer vergleichbaren Situation, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Das Szenario, das er in seiner späten Novelle „ Der Versuch “ durchspielt, ist das künstlerische Experiment über das gescheiterte soziale Experiment, das Leben in einer Stadt zu einem bestimmten Zeitpunkt objektiv zu dokumentieren. Prinzipiell funktioniert „ Der Versuch “ nach dem gleichen dramaturgischen Verfahren wie Dürrenmatts andere Stücke auch - ein Einfall wird durchgespielt. Dessen Besonderheit liegt allerdings darin, dass das wissenschaftliche Experiment selbst zum Gegenstand von Dürrenmatts künstlerischem Experiment wird und er damit seine Erkenntniskritik an einer fiktiven wissenschaftlichen Erkundung des Menschen erprobt, indem er deren Grenzen aufzeigt: „ Das zu Beobachtende läuft Gefahr, nicht nur durch den Beobachter, sondern auch durch den Beobachter des Beobachters beeinflußt und verändert zu werden [. . .] Das Wissen, beobachtet zu werden, ist deshalb das eigentliche Problem. Es scheint unlösbar. [. . .] Die unmittelbare Wirklichkeit ist nicht dokumentierbar. “ (Der Versuch, WA 37 119) 430 G III 165 431 Lersch führt aus, dass sich viele Erlebnisse des Menschen - Liebe, Leidenschaft oder Todesangst - nicht willkürlich herstellen lassen und somit - jenseits der Gelegenheitsbeobachtung - einer systematischen Untersuchung nicht zuführbar sind: „ Daß also das Experiment in der Psychologie zu wertvollen Ergebnissen geführt hat und auch in Zukunft noch führen wird, ist unbestreitbar. Andererseits aber weiß jeder, der tiefere Kenntnis von der menschlichen Natur und der Eigenart des Seelischen besitzt, daß es immer nur ein beschränkter Umkreis seelischer Vorgänge ist, die sich durch experimentelle Anordnung im Laboratorium hervorrufen lassen [. . .]. Es ist nicht die experimentelle Situation des Laboratoriums, sondern die existentielle Situation des Lebens, durch die ein Gefühl des Hasses oder der Liebe, ein Akt unwiderruflicher Entscheidung, eine Haltung des Mutes oder der Tapferkeit, eine Manifestation echter, der seelischen Tiefe eingewurzelter Gesinnungen zum Vollzuge gebracht und damit der Beobachtung zugänglich gemacht werden. Die Methode des Experiments lässt uns gerade da im Stich, wo wir uns den tieferen Schichten des seelischen Lebens zu nähern suchen. “ Dies ist ein wichtiger Grund, konstatiert Lersch, „ das seelenkundliche Wissen, das der Dichter als Beobachter des Lebens und als Deuter der menschlichen Natur vermittelt, für die wissenschaftliche Psychologie fruchtbar zu machen [. . .]. Grenzsituationen des Lebens, Krisen und Schicksalsschläge sind es, die oft erst den eigentlichen Kern in der Seele eines Menschen aufbrechen lassen. “ (Philipp Lersch: Aufbau der Person. 11. Aufl. München: Johann Ambrosius Barth 1970. S. 87 - 89.) 132 Menschen, sein Bewusstsein und die tieferen Ursachen seines Handelns beginnen: „ Auf der Bühne habe ich die Gegenwelt, in der ich das durchspielen kann, was uns droht. In der existentiellen Welt spielt immer die persönliche Entscheidung mit. “ 432 Der Mensch entzieht sich zwar einer wissenschaftlichen Untersuchung, doch es ist möglich, ihn mit seinen persönlichen Entscheidungen auf die Bühne zu bringen und ihm im Rahmen einer erfundenen Handlung, eines fingierten Szenarios einer künstlerischen Analyse zuzuführen; zu durchdenken, wie er wohl reagieren möge in der Situation, in die ihn sein Schöpfer schickt. In den „ Dramaturgischen Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘“ (1967) heißt es dazu: Die Dramatik - wie die übrige Kunst - hat einen bestimmten Weg eingeschlagen: Den Weg in die Fiktion. Ein Theaterstück stellt eine Eigenwelt dar, eine in sich geschlossene Fiktion, deren Sinn nur im Ganzen liegt. 433 Der Begriff der „ Fiktion “ hat für Dürrenmatt eine besondere Spezifik; in ihm enthalten ist nicht nur der konstruktivistische Charakter einer erdichteten Eigenwelt - hierin unterschieden sich Dürrenmatts Stücke prinzipiell kaum von anderen Fiktionen - , sondern auch eine bewusste Absage an eine mimetische Funktionalität von Kunst. Dürrenmatt lehnt für sich die Abbildung der Welt durch Kunst ab 434 ; er hält die in einer Kunst mimetischer Prägung mitschwingende Apodiktik eines ‚ So ist die Welt ‘ oder ‚ So sollte die Welt sein ‘ , die vermeintliche Hoheit der dargestellten Möglichkeit als Wirklichkeit, für prekär 435 , da sie eine perspektivisch präsupponierte Einheit transportiert, die einer von Zersplitterung und komplexer Pluralität geprägten Wirklichkeit generell nicht mehr entsprechen kann und daher dem Anspruch im Wege steht, Welttheater zu schaffen, also Konstrukte zu entwerfen, die nicht milieu- oder zeitgebunden sind, sondern als Modelle umfassender, genereller Anschauung dienen können. 436 Außerdem widerstrebt eine solche Wirklichkeitsabbildung - aufgrund der ihr immanenten Absage an Neutralität - der Subjektivität einer individuellen rezeptionellen 432 G III 166 433 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 135 f. 434 1983 sagt Dürrenmatt: Aber wir können nicht mehr nachahmen. Unser Theater ist keine Nachahmung der Welt, das ist ganz unmöglich, die Welt ist viel zu kompliziert, viel zu verrückt. “ (G III 189) 435 In dem 35. Satz der „ Sätze über das Theater “ (1970) heißt es: „ Die Dramatik als Bild der Möglichkeit gerät in einen Gegensatz zur Wirklichkeit; indem sie nur das Mögliche und nicht das Wirkliche darstellen will, wird sie nur scheinbar zwingend, denn es gibt nicht nur eine Möglichkeit, sondern viele, während es nur eine Wirklichkeit gibt - die Möglichkeit, die eben wirklich wird. Die Dramatik der Möglichkeit, ob sie will oder nicht, tut so, als wäre sie wirklich. “ (Sätze über das Theater, WA 30 200 f.) 436 Vgl.: Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 134 133 Erkenntnis, da dem Leser oder Zuschauer eine bestimmte Perspektive auf das Dargestellte oktroyiert wird. Mit dieser Negierung der Abbildfunktion ist für Dürrenmatt - und diese ist ein zentrales Distinktionsmerkmal seines Fiktionsbegriffs - der Wegfall einer weltanschaulichen Axiomatik verbunden: Der Künstler ist originär nicht Produzent bestimmter Aussagen über die Welt, mit deren Hilfe er deduktiv einem dezidierten Weltbild oder Weltempfinden folgt und die das Werk als experimentelle Einzelbewährung dieses Allgemeinen erscheinen lassen. Seiner Poetik wesentlich ist, eben keinem spezifisch ausgerichtetem Fokus zu folgen, wie er sich etwa durch die Darstellung bestimmter sozialer Missstände, die Projektion idealer Zustände, subjektiver Empfindungen oder moralischer Imperative, die es anzustreben gilt, zeigt. Dürrenmatts Fiktionen funktionieren im Grunde genau umgekehrt: Der Weg in die Fiktion bedeutet bei Dürrenmatt den Weg in den Einzelfall, der anstelle des Abbildcharakters das Modellhafte nicht auf deduktivem, sondern auf induktivem Wege anstrebt. Hierüber kommt es zu einer stillschweigenden Verständigung zwischen Künstler und Rezipient, bei der es nicht darum geht, die Fiktion als den Beleg für eine bestimmte Hypothese zu etablieren - das wäre das Abbild einer vermeintlich als wahr erkannten Wirklichkeit - , sondern den fiktiven Einzelfall als Modell anzuerkennen, das auf der Basis eines offenen Experiments als Gegenstand weiterer Überlegungen dienen kann. Der Begriff der „ dramaturgischen Ironie “ , den Dürrenmatt im obigen Zitat verwendet, ist als fiktionales Prinzip in diesem Zusammenhang nicht im landläufigen Sinne zu verstehen. 437 Ursprünglich kommt das Wort „ Ironie “ von gr. „ eironeia “ und bedeutet „ Verstellung “ , „ Vortäuschung “ . Dürrenmatt decouvriert mit dem Begriff der Ironie den fiktionalen - und damit speziell den experimentellen Charakter des Kunstwerks als eine bewusste Erfindung: Produzent und idealerweise auch der Rezipient sind sich im Klaren darüber, dass die Fiktion eine Vortäuschung ist, die keine unmittelbare Entsprechung in der Wirklichkeit aufweist, nicht deren Abbildung sein soll, die aber nichtsdestoweniger als Erdichtung einen Anspruch auf eine reale Gültigkeit erhebt, sich durch das „ Als-Ob “ als eine stillschweigende Übereinkunft auszeichnet, des Dargestellten in seiner Funktion als fingiertes Experiment gewahr zu werden. Es handelt sich also nicht um eine Vortäuschung des Indikativischen, sondern um eine Vortäuschung des Konjunktivischen. Es wird nicht so getan, als ob das Dargestellte die Wirklichkeit ist, sondern als ob das Dargestellte die Wirklichkeit wäre. Es wird untersucht, was sich ereignen könnte, wenn die Bühnenwirklichkeit wirklich wäre. Der Verlauf dieses 437 Vgl.: von Wilpert 1989: S. 419 f. 134 konjunktivistischen Konstruktes ist zwar eine persönliche Hypothese 438 , als diese weist Dürrenmatt sie mit Hilfe diverser Verfremdungs- und Selbstintegrationseffekte durchgehend aus, und doch soll diese Verlaufs- und Ergebnishypothese als etwas Objektives, als eine künstlich erzeugte, in sich logische Gegenwirklichkeit wahrgenommen werden: „ Der Sinn der paradoxen Handlung [. . .] liegt nicht darin, Schrecken auf Schrecken zu häufen, sondern darin, dem Zuschauer das Geschehen bewußt zu machen, ihn vor das Geschehen zu stellen. “ 439 Es handelt sich somit um eine Art Abmachung, die das fiktionale Konstrukt in den Stand eines für diesen Augenblick Angenommenen und Gültigen erhebt. Es geht Dürrenmatt nachgerade nicht darum, wie Brecht, eine Desillusion zu erreichen, die beim Zuschauer das Bewusstsein begründen soll, einem Theaterstück beizuwohnen, sondern darum, dem Zuschauer das Theater als das bewusst zu machen, was es in seinem Falle ist - eine gespielte Wirklichkeit, die experimentell, als eine provozierte Erfahrung, angelegt ist. Dürrenmatt thematisiert diesen Gedanken in „ Rollenspiele “ (1983 - 1986): D: Da bist du bei Brecht. Der will das Theater als Theater, nicht als vorgetäuschte Wirklichkeit installieren. Er hat ja immer gesagt, der Schauspieler müsse verfremden, demonstrieren, daß er Theater spiele, sich nicht mit der Rolle identifizieren, neben der Rolle stehen. Ich verstehe Brechts Einwand im Grunde nicht. Theater ist Theater. So tun, als glaube der Zuschauer, das Theater sei die Wirklichkeit und man müsse ihm diesen Glauben nehmen, verstehe ich nicht. Ich nehme doch nie an, Theater sei Realität, auch die gespielte Realität ist Theater. 440 Indem Dürrenmatt den bewussten Zuschauer voraussetzt, macht er ihn gleichzeitig zum Reflektor seines künstlerischen Experiments, zum Partner seiner vorsätzlichen Vortäuschung einer dramatischen Realität, die im Kern eine Erfindung, als Gedankenexperiment aber den Gegenstand eines realen Erkenntnisprozesses darstellt, welches auf der Bühne anzuschauen ist: „ Der Zuschauer kann sich die Frage stellen, inwiefern der Fall auf der Bühne auch sein Fall sei, und sich so die Gestalten auf der Bühne wieder aneignen. Die Möglichkeit zu diesem Wagnis ist vorhanden [. . .]. “ 441 Die Verfremdung funktioniert bei Dürrenmatt demnach anders als bei Brecht. Während dieser bezweckt, dem Zuschauer die Wirklichkeitsillusion zu nehmen, verfremdet Dürrenmatt, um dem bereits desillusionierten Zuschauer bewusst zu 438 1980 sagt Dürrenmatt: „ Ich weiß, daß wir in einer Welt der Hypothesen leben. Und dieses Bewußtsein ist für mich entscheidend. Ich bin eine Art Naiver, ich mache Hypothesen ins Leere hinaus. “ (G II 326) 439 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 133 440 Rollenspiele, WA 18 131 441 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 134 135 machen, dass es sich um ein konstruiertes Experiment handelt, dem er beiwohnt und auf das er sich einlassen kann, um ihn also in ein bewusstes Spiel hineinzulocken. Dieses Spiel besteht nicht darin, dem Zuschauer zu suggerieren, dass mit dem Geschehen auf der Bühne etwas Bestimmtes ausgesagt werden soll, für dessen Rezeption Distanz nötig ist, sondern darin, das Konstrukt als eine vorgetäuschte Versuchsanordnung zu begreifen, in der die Figuren die Versuchsobjekte darstellen, die auf die dargestellte Art und Weise handeln und sich benehmen. Es handelt sich um den Akt einer Offerte, den Dürrenmatt hier vollzieht, eines Angebotes, zuzuschauen und teilzuhaben an einem Experiment, das sich entfaltet; der Zuschauer avanciert zum Beobachter, dem es freisteht, das Angeschaute zu reflektieren und Erkenntnisse und Wahrheiten daraus zu extrahieren. Indem Kunst sich als Konstruktion erweist, die als Grundlage eines Weiterdenkens dienen möge, als Gegenstand der gedanklichen Auseinandersetzung, als prämittiertes Vorstellungsgebilde, um über sie zu weiterreichenden Erkenntnissen, Überzeugungen und Handlungen zu gelangen (oder zumindest die Möglichkeit zu all diesem zu bieten), verleiht Dürrenmatt dem Akt der künstlerischen Vortäuschung den Status einer wissenschaftlichen Fiktion im Sinne Hans Vaihingers und postuliert damit ihre Zweckgebundenheit, insofern sie als „ Hilfsmittel des diskursiven Denkens “ behilflich sein kann „ zur Ergreifung der Wirklichkeit, zur Ermöglichung, in ihr zu handeln und zu wirken “ 442 : Sinn der Dramatik als Fiktion. Vaihinger stellte in seiner Philosophie des Als Ob die Frage, wie es komme, daß wir mit bewußt falschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen; diese Frage möchte ich in der Dramaturgie dahin umwandeln, wie es komme, daß wir mit bewußt erfundenen Vorstellungen die Wirklichkeit zu beschreiben vermögen. 443 Bemerkenswert ist hierbei, dass Dürrenmatt nicht etwa die ästhetische Konzeption Vaihingers übernimmt, der selbst den eigentlich künstlerischen Fiktionen den Namen „ Figmente “ 444 verleiht: Die ästhetische Fiktion begreift nicht bloss alle Gleichnisse, Bilder, Vergleichungen in sich, sondern auch diejenigen Vorstellungsformationen, welche noch viel freier schalten mit der Wirklichkeit. Hierzu sind nicht bloss alle Personifikationen zu rechnen, sondern auch Allegorien und kurz alle idealisierenden Vorstellungsformen. 445 442 Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit. 7. u. 8. Aufl. Leipzig: Felix Meiner 1922. S. 136. 443 Sätze über das Theater, WA 30 210 444 Vaihinger 1922: S. 129. 445 Ebd., S. 131. 136 Dürrenmatt setzt seine Werke mit dem in Analogie, was Vaihinger unter dem Begriff der wissenschaftlichen Fiktion subsumiert. Das liegt zum einen daran, dass Vaihingers Kunstbegriff - er sieht die Aufgabe des Künstlers vor allem in der „ Hervorrufung ästhetischer Gefühle, schöner Empfindungen “ 446 - kaum mit Dürrenmatts Poetik einer bewussten Kunst in Einklang zu bringen ist, zum anderen daran, dass Dürrenmatt die Aufgabe seiner Kunst vor allem in der Erkenntnisfunktion ansiedelt. Und hier bietet Vaihingers wissenschaftlicher Fiktionalismus die ideale Folie. Vaihinger sieht zwar auch eine Verwandtschaft von wissenschaftlicher und künstlerischer Fiktion, indem er beiden eine Vermittlerfunktion zuschreibt: „ Auch ist die ästhetische Fiktion wie die wissenschaftliche nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung höherer Zwecke. “ 447 Diese höheren Zwecke einer künstlerischen Fiktion liegen für Dürrenmatt allerdings nicht wie für Vaihinger darin, „ ästhetische Empfindungen zu erwecken “ 448 , sondern - soweit dies möglich ist - darin, Erkenntnisse über den Menschen und die Wirklichkeit zu generieren, sie also so zu verstehen, wie Vaihinger die wissenschaftlichen Fiktionen begreift - als „ Durchgangspunkte des Denkens “ 449 . 2.2.9.2 Vaihingers Fiktionen als zweckgebundene Setzungen Die poetologische Kraft der Fiktion spielt in Dürrenmatts Denken insofern eine zentrale Rolle, als sich in ihr Weltenschöpfung und Welterkenntnis vereinen. Dürrenmatt ist fasziniert von Vaihingers Ansatz, in der Phänomenologie kontrafaktischer Annahmen eine teleologische Bestimmung zu sehen, die, vereinfacht gesagt, darin besteht, einen Tatbestand, von dem man weiß, dass er falsch ist, bewusst zu setzen, um auf seiner Basis in Wissenschaft und Lebenswelt ein zweckmäßiges Ergebnis zu erreichen oder ein Erkennen bzw. eine weitere Forschung zu begründen. Es ist so zu tun, „ als ob “ etwas so wäre, obwohl man weiß, dass sich die Wirklichkeit anders darstellt - und denkt auf dieser Grundlage weiter. Vaihinger geht der Frage nach, wie es kommt, „ dass wir mit bewusstfalschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen “ 450 . Die Antwort, die er auf diese Frage gibt, lautet, dass der menschliche Geist sich, wenn es nötig ist, gedanklicher Kunstgriffe bedient - eine von ihnen die Fiktion 451 - , da das menschliche Denken im Kampf ums Dasein vor allem zweckorientiert ausgerichtet ist, also praktische 446 Ebd., S. 134. 447 Ebd., S. 131. 448 Ebd., S. 136. 449 Ebd., S. 175. 450 Ebd., S. XII. 451 Vgl.: Ebd., S. 17. 137 Lösungen anvisiert. Fiktionen - für Vaihinger „ logisch unhaltbare, [. . .] falsche Vorstellungsweisen “ 452 - übernehmen also eine nützliche Stellvertreterfunktion, um zu praktikablen Lösungen zu kommen: „ Wahrheit “ , schreibt Störig, an Vaihinger angelehnt, „ ist nichts anderes als Nützlichkeit für das Leben. Einen anderen, ‚ objektiven ‘ Maßstab gibt es gar nicht. “ 453 Daher kommen Fiktionen in etlichen Wissenschaften immer dann zum Einsatz, wenn es unmöglich ist, einem Gedankengang ein der Wirklichkeit tatsächlich entsprechendes Vorstellungsgebilde, sollte es dieses geben, als Prämisse oder gedankliches Verbindungsglied zugrunde zu legen 454 : [D]enn dies ist ja der Sinn der wissenschaftlichen Fiktion, dass in ihr eine Annahme gemacht ist, deren vollständige Unwahrheit oder Unmöglichkeit eingesehen wird, die aber nichtsdestoweniger um gewisser praktischer Interessen oder theoretischer Zwecke willen gemacht wird. 455 Vaihinger verleiht dem Begriff der Fiktion eine vehement teleologische Dimension. Er stellt dar, dass die Fiktion als fiktive Gewissheit zu setzen ist, um Denkprozesse nicht aufzuhalten bzw. durch vorgelagerte Aporien unmöglich zu machen, sondern sie durch fiktive, aber gleichwohl zweckmäßige Voraussetzungen zu stützen. 456 Denken und ein aus gedanklichen Prozessen abgeleitetes Handeln werden mit Hilfe der Fiktion nicht durch ein ungelöstes Problem behindert; Lücken in der Gedankenführung werden durch Hilfskonstruktionen geschlossen. Fiktionen erhalten damit eine erkenntnistheoretische und lebensweltliche Dimension, die allgegenwärtig ist. Setzte man sie nicht als Gewissheit, sondern behielte eine Aporie als Grundlage bei, würden die Schlussfolgerungen, welche einer bestimmten (fiktiven) Grundannahme bedürfen, kaum als mit der Wirklichkeit übereinstimmende Urteile oder Empfindungen gewertet werden können 457 : Die eigentlich letzte logische Erkenntnis in Bezug auf die Fiktionen ist und bleibt die Betrachtung derselben als Durchgangspunkte des Denkens. Wir haben aber auch das ganze Denken selbst mit all seinen Hilfsapparaten, Instrumenten und Denkmitteln, also das ganze theoretische Tun des Menschen für einen blossen Durchgangspunkt erklärt, dessen endliches Ziel die Praxis ist, sei es nun das ordinäre Handeln oder ideal gefasst die ethische Handlungsweise. 458 452 Ebd., S. XII. 453 Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Erw. Neuausg. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1992. S. 555. 454 Vgl.: Vaihinger 1922: S. 27. 455 Ebd., S. 255. 456 Vgl.: Ebd., S. 175 f. 457 Störig deutet Fiktionen als „ irreguläre Methoden des Denkens, sozusagen Kniffe, die sich im Kampf ums Dasein als zweckmäßig erweisen “ (Störig 1992: S. 555.). 458 Vaihinger 1922: S. 176. 138 Eine Bedingung für die realistische Zweckgebundenheit der künstlerischen Fiktion, d. h. eine Voraussetzung ihrer Eignung als imaginäres Konstrukt der Anschauung zum Vergleich mit der Wirklichkeit, ist für Vaihinger, dass es „ nicht bloss ein leeres Spiel der Vorstellungen ist “ 459 , welches hier vonstatten geht, sondern aus der Fiktion „ notwendige Folgen “ 460 geschlossen werden können, aus denen sich Erkenntnisse oder Handlungsrichtlinien ableiten lassen. Vaihinger sieht die Bedingung der Möglichkeit hierzu, indem sich die Fiktion als „ selbständige Kombination der Elemente “ 461 erweist, ihr also eine nachvollziehbare Bezüglichkeit zur Wirklichkeit immanent ist, insofern ihre Ingredienzien dieser analogisch entstammen. 462 Für Vaihinger gewährleistet dieses Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion deren teleologische Ausrichtung; ihr Sinn liegt darin, „ ein vorliegendes Etwas mit den notwendigen Folgen eines imaginären Falles vergleich[en] “ 463 zu können. Für Dürrenmatt stellt gerade diese Funktionalität den eigentlichen Zweck seiner experimentellen Dramatik dar. Auch ihm kommt es bei der dramaturgischen Erörterung seiner künstlerischen Eigenwelten in „ Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit “ (1956) darauf an, „ die Welt als Materie “ , also als Material zu verwenden, „ [s]ie ist der Steinbruch, aus dem der Schriftsteller die Blöcke zu seinem Gebäude schneiden soll “ 464 . Als Modell bietet das Kunstwerk eine fiktive Wirklichkeit, die beobachtet und mit der eigenen Welt, den eigenen Ansichten verglichen werden kann. Diesen Gedanken formuliert der Autor schon 1952 in „ Fingerübungen zur Gegenwart “ , wenn er von sich sagt: „ [I]ch schreibe nicht, damit Sie auf mich schließen, sondern damit Sie auf die Welt schließen. “ 465 Der Akt des Schließens obliegt dem Zuschauer, es ist der Erkenntnisakt, der die Fiktion - und somit die kontrafaktische Annahme einer fingierten Wirklichkeit - mit der Situation eines jeden einzelnen Rezipienten verknüpft. Die Einzelfälle des individuellen Lebens können mit dem fiktiven Einzelfallmodell analogisiert und komplex gedeutet werden. Die Rezeption des Kunstwerks als Fiktion ist somit auch dessen Bewährung - die Annahme oder Ablehnung der in ihr aufgestellten Hypothesen über das menschliche Verhalten. 466 In einem wissenschaftstheoreti- 459 Ebd., S. 589. 460 Ebd. 461 Ebd. 462 Vgl.: Ebd. 463 Ebd. 464 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 67 f. 465 Fingerübungen zur Gegenwart, WA 32 32 466 Der Begriff der Fiktion wird hier auf das Gesamtkunstwerk bezogen und daher in Abgrenzung zur Hypothese verstanden. Vaihinger selbst unterscheidet die beiden Begriffe, insofern für ihn die Irrealität der Fiktion feststeht, eine Hypothese aber nicht 139 schen Gefüge stellt Dürrenmatts Kunstwerk demnach ein fiktives Konglomerat aus realen Hypothesen dar, die der Rezipient anhand eigener Erfahrungen überprüfen kann. Auf diese Weise ist ein Prozess organisiert, der mit der Erfahrung der Welt durch den Künstler beginnt, über den Stoff in ein künstlerisches Experiment überführt wird, dessen Resultat als Einzelfallmodell über die Aufnahme des Zuschauers oder Lesers wiederum in dessen Wirklichkeit mündet. Durch Anschauung und Begreifen, einem Akt des Durchdenkens, der Vermutung von Kausalitäten, der Erkundung von Gründen und Motivationen, der Konkretisierung eines fiktiven menschlichen Verhaltens, lassen sich so Rückschlüsse auf das eigene Leben, kleine Erlebnisse und große Zusammenhänge ziehen. Dürrenmatt beendet seinen Vortrag „ Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit “ (1956) mit einer Zusammenfassung dieses Vorgangs: „ In der Wissenschaft zeigt sich die Einheit, in der Kunst die Mannigfaltigkeit des Rätsels, das wir Welt nennen. “ 467 Der Begriff der Fiktion spielt in diesem Prozess, das Gezeigte auch zu sehen, das Modell also zu nutzen, eine Schlüsselrolle: In ihm liegt der Kern der Frage, wie es möglich sein kann, mit Hilfe einer Erdichtung zu Erkenntnissen über die Wirklichkeit zu kommen. Mit der Erörterung dieser Frage hat sich auch der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser auseinandergesetzt - in Anlehnung an Vaihinger. 2.2.9.3 Zur Beschreibung der Wirklichkeit mit Hilfe der Fiktion Iser gibt in seiner Studie „ Das Fiktive und das Imaginäre “ , in der er sich u. a. unter Zugrundelegung von Vaihingers Fiktionsbegriff mit dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit auseinandersetzt 468 , eine Antwort auf die Frage, die auch Dürrenmatt stellt, nämlich „ wie es komme, daß wir mit bewußt erfundenen Vorstellungen die Wirklichkeit zu beschreiben vermögen “ 469 . Iser dekonstruiert die traditionelle „ Opposition von Wirklichkeit und Fiktion “ 470 , die als „ stummes Wissen “ 471 der Menschen die vermeintlich konkrete Gegenper se als falsch angenommen wird, sondern auf ihre Richtigkeit oder Falschheit hin erst noch zu prüfen ist. Wenn man dies auch bei Dürrenmatt zugrunde legt, dann wäre die Fiktion das als erfunden zu klassifizierende Gesamtkunstwerk, das Verhalten der Figuren innerhalb der Fiktion hätte aber hypothetischen Charakter, insofern es als in sich logisch und wahrscheinlich betrachtet wird. 467 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 69 468 Vgl.: Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 1101). S. 18 - 23. 469 Sätze über das Theater, WA 30 210 470 Iser 1993: S. 18. 471 Ebd. 140 sätzlichkeit beider Sphären transportiert, tatsächlich aber einer Entgrenzung bedarf, da Fiktion und Wirklichkeit stets in synkritischer Beziehung zueinanderstehen, ineinandergreifen, jeweils Bestandteile auch der anderen Sphäre enthalten: „ Sind fiktionale Texte wirklich so fiktiv, und sind jene, die man nicht so bezeichnen kann, wirklich ohne Fiktionen? “ 472 Iser diagnostiziert, es sei durchaus „ sehr viel Realität “ 473 im fiktionalen Text enthalten - und plädiert daher anstelle der binären Opposition für eine triadische Struktur, die neben dem Realen und dem Fiktiven noch die Komponente des Imaginären enthält. 474 Iser negiert die landläufige Vorstellung, Realität und Fiktion seien konträre Phänomene, deren strukturelle Korrelation gattungsspezifisch geregelt sei. Durch die hinzukommende dritte Komponente rückt Iser den menschlichen Geist als Kreateur der Fiktion ins Zentrum seiner Betrachtung, durch den die künstlerische Integration von Realität - „ die nicht nur eine solche identifizierbarer sozialer Wirklichkeit sein muß, sondern ebenso eine solche der Gefühle und Empfindungen sein kann “ 475 - und Fiktion vonstatten geht. Das Imaginäre ist für Iser „ eher [. . .] Programm und weniger [. . .] Bestimmung “ 476 , d. h. es entzieht sich der Intention, die der Fiktion zukommt, und ist eher eine produktionsästhetische, schöpferische Instanz, die „ das Anderswerden von Gegebenem “ 477 bewirkt, lebensweltliche Erfahrungen innerhalb der Fiktion destilliert und zu künstlerischer Anschauung bringt. Diese verleiht wiederum dem Imaginären als Weise der Bildschöpfung im Sinne der Vaihingerschen intentionalen Zweckgebundenheit Kontur. Die Fiktion zähmt das Imaginäre, wodurch verhindert wird, dass, wie Vaihinger sagt, die Fiktion zum „ leere[n] Spiel der Vorstellungen “ 478 wird oder nach Iser „ von dessen ‚ Entfesselung ‘ überschwemmt [wird], wie etwa im Traum oder in Halluzinationen “ 479 . Dürrenmatt beschreibt dieses Imaginäre selbst in den „ Nachgedanken “ (1980) - wobei er hierfür den Begriff des rationalen Phantasierens wählt, damit aber genau den Vorgang einer durch die logische Fiktion geleiteten Ausströmung der Phantasie, das Verfahren einer sich kraftvoll gestaltenden Bildgebung innerhalb eines fiktional-inhaltlichen Rahmens meint: Der Mensch denkt nicht nur ‚ rational ‘ , er assoziiert auch, bildet Analogien und erinnert sich. Stellt das rationale Denken das Objektive dar, so sind die Assozia- 472 Ebd. 473 Ebd., S. 19. 474 Vgl.: Ebd., S. 18 f. 475 Ebd., S. 19. 476 Ebd., S. 20 f. 477 Ebd., S. 396. 478 Vaihinger 1922: S. 589. 479 Iser 1993: S. 381. 141 tionen, Analogien und die Erinnerung das Subjektive: sie sind auch die Grundelemente der Phantasie. Nicht daß diese ohne die Ratio auskäme: Im rationalen Phantasieren, beim Schreiben eines Dramas etwa, komponiert die Logik gleichsam die Handlung, formt den Stoff, den die Phantasie liefert, die ihn wiederum aus der Erinnerung schöpft oder aus der Überlieferung, gleichwie, die Phantasie formt den Urstoff, ihr Material, um, die Ratio formt weiter; Ratio, Assoziation, Analogie, Erinnerung arbeiten zusammen. Die Frage ist nur, ob die Ratio ohne Phantasie auskommt: Was sie Intuition nennt, ist Phantasie, ist das Irrationale: ohne diesen Nährboden kommt die Ratio auch nicht weiter. 480 Der Akt des Fingierens strukturiert das Imaginäre als ein Phänomen, das sich nach Iser in der Nähe von „ Einbildungskraft, Imagination und Phantasie “ 481 ansiedeln lässt, leitet es in die Fiktion und organisiert auf diese Weise deren Verhältnis zur Realität, indem die existentiellen Erfahrungen des Autors als diffuse Realitätsfragmente sich in der Fiktion strukturell entfalten: So gewinnt der Akt des Fingierens seine Eigentümlichkeit dadurch, daß er die Wiederkehr lebensweltlicher Realität im Text bewirkt und gerade in solcher Wiederholung das Imaginäre in eine Gestalt zieht, wodurch sich die wiederkehrende Realität zum Zeichen und das Imaginäre zur Vorstellbarkeit des dadurch Bezeichneten aufheben. 482 Diese Gedanken - es findet in der Fiktion eine Metamorphose der eigenen lebensweltlichen Erfahrung innerhalb eines fiktiven Kontextes statt - lassen sich exakt wiedererkennen, wenn Dürrenmatt konstatiert, seine Stücke seien von Spielfreude und Einbildungskraft bestimmt. 483 Außerdem erkennt Dürrenmatt in der Fiktion ebenfalls jene Verschränkung von fiktionalen und realen Elementen, die im Simulacrum der künstlerischen Wirklichkeit durch den Akt des Fingierens zusammenfließen: Sie [die Welt] ist der Steinbruch, aus dem der Schriftsteller die Blöcke zu seinem Gebäude schneiden soll. Was der Schriftsteller treibt, ist nicht ein Abbilden der Welt, sondern ein Neuschöpfen, ein Aufstellen von Eigenwelten, die dadurch, daß die Materialien zu ihrem Bau in der Gegenwart liegen, ein Bild der Welt geben. 484 Das Produkt dieses Fingierens ist bei Dürrenmatt indes nicht ein möglichst exaktes Abbild der Wirklichkeit, sondern, wie er in seinem „ Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht “ (1969) ausführt, ein Denkprozess, ein Akt der 480 Nachgedanken, WA 35 176 f. 481 Iser 1993: S. 20. 482 Ebd. 483 Vgl.: Monstervortrag, WA 33 91 484 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 67 f. Adäquate Gedanken lassen sich bei Adorno finden: „ Das [Objekt] der Kunst ist das von ihr hervorgebrachte Gebilde, das die Elemente der empirischen Realität ebenso in sich enthält wie versetzt, auflöst, nach seinem eigenen Gesetz rekonstruiert. “ (Adorno 2003: S. 384.) 142 Verwandlung von Wirklichkeit in Kunst, „ ein komödiantisches Gebilde, in dem sich die Wirklichkeit analysiert wiederfindet, genauer, in dem sich der Zuschauer analysiert wiederfindet “ 485 . Für Iser finden im Akt des Fingierens zwei Weisen der Entgrenzung statt, die dem Imaginären eine Schlüsselposition im Übergang von Wirklichkeit und Fiktion einräumen und deren Trennung aufheben. Zum einen findet in der konkreten erfundenen inhaltlichen Ausgestaltung eine Fiktionalisierung der Wirklichkeit statt, zum anderen erhält die Fiktion durch die einfließenden existenziellen Erfahrungen erst durch das fiktive Gerüst der Geschichte eine fassbare, rezipierbare Form, einen festen Rahmen und inhaltlichen Anschauungskontext: In der Überführung wiederholter lebensweltlicher Realität zum Zeichen für anderes manifestiert sich die Grenzüberschreitung als eine Form der Irrealisierung; in der Überführung des Imaginären als eines Diffusen in bestimmte Vorstellungen geschieht ein Realwerden des Imaginären. 486 Erst auf diesem Weg gewinnt das fiktive Stück seinen Modellcharakter. Es verleiht losen Erfahrungen Plastizität und wird zu einem Reservoir übergeordneter Zeichen, die deshalb wiederum in Bezug zu anderen Kontexten, eigenen Erfahrungen gesetzt werden können, weil die Bausteine für das Kunstwerk eine Realität enthalten, sich darin also als autonomer Subtext wiederfinden. Für Iser ist dieser gesamte Komplex im Imaginären enthalten, das der Kunst ihre Vermittlerfunktion zwischen Realität und Fiktion und letztlich „ die Erfahrbarkeit eines solchen Ereignisses eröffne[t] “ 487 . Nun kann kaum bedingungslos davon ausgegangen werden, dass jeder Zuschauer oder Leser sich dieser besonderen Qualität der Kunst bewusst ist. Die Möglichkeit der Erfahrbarkeit eines solchen Ereignisses setzt jedoch auf Seiten des Rezipienten zwangsläufig das Wissen um die stillschweigende Übereinkunft von Künstler und Zuschauer über das „ Als-Ob “ des Kunstwerkes voraus. Will dieser jenen richtig verstehen, muss jenseits der narrativen Oberfläche der Konstruktions- und Simulationscharakter der Fiktion erkennbar werden, der diese als eben jenen Denkprozess und als Substrat einer sinnvollen, bewussten Erfahrung ausweist. Damit dies möglich wird, müssen die Fiktion als eben fiktional und der Autor als deren Schöpfer werkimmanent gekennzeichnet werden. Iser nennt dieses Phänomen „ Entblößung [der] Fiktionalität “ 488 - deren Aufgabe darin besteht, „ den ‚ Kontrakt ‘ 485 Monstervortrag, WA 33 91 486 Iser 1993: S. 22. 487 Ebd., S. 23. 488 Ebd., S. 35. 143 zwischen Autor und Leser “ 489 herzustellen und „ den Text [. . .] als ‚ inszenierten Diskurs ‘ aus[zu]weisen “ 490 . 2.2.9.4 Die Entblößung der Fiktion als Akt der Selbstsetzung Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts wählt Iser eine Anekdote, die von Dürrenmatts Verärgerung über eine Inszenierung des Stückes „ Der Besuch der alten Dame “ durch Giorgio Strehler erzählt 491 : Dürrematt meint, Strehler habe eine eklatante Fehlinszenierung dadurch bewirkt, daß er die Szene am Bahnhof - wie auch alle anderen - in möglichst realistischer Detailtreue auf die Bühne zu bringen bestrebt war. Folglich, so meint Dürrematt, sei ein Realismus in das Stück gekommen, das es vernichten mußte. Denn er habe in sein Drama eine Reihe von Andeutungen eingebaut, die es dem Publikum immer als ein Theaterstück zu erkennen geben. Mit anderen Worten: das Stück selbst war mit Fiktionssignalen durchsetzt, um die dargestellte Welt gleichzeitig im Modus des Als-Ob zu präsentieren. 492 Für Iser deuten die Fiktionssignale auf zweierlei hin: Zum einen, dass der Zuschauer die Geschichte als Fiktion wahrnimmt, also als eine konstruierte, fiktionale Realität erkennt; zum anderen, dass der Fiktion ein Signalcharakter immanent ist, also als Modell in seiner anzeigenden Funktion auf eine außerliterarische Realität gedeutet werden kann. Die Fiktionssignale, die demnach einen signifikant anderen Zweck haben als Brechts Verfremdungs- 489 Ebd. 490 Ebd. 491 Diese Anekdote ist Teil des Textes „ Rekonstruktionen “ , den Dürrenmatt 1978 als einen Abschnitt der „ Stoffe “ konzipiert, der aber tatsächlich nur in Teilen und unter Auslassung der Schilderung seiner Erlebnisse von Strehlers Inszenierung der „ Alten Dame “ in die „ Stoffe IV-IX “ einfließt. Dürrenmatt selbst schildert die Inszenierung und sein Unbehagen darüber im Urtext wie folgt: „ Strehlers Inszenierung war grotesk verfehlt, er wollte nichts als Gesellschaftskritik in marxistischer Richtung, während mir das Gesellschaftskritische ein zwar selbstverständlich Vorhandenes, aber je nach Gesellschaft Variables darstellt [. . .]. Doch nicht so sehr dadurch, daß er die doppelte Dialektik übersah, war Strehlers Regie falsch, der große Regisseur machte einen Fehler, den ich gerade bei ihm nicht erwartet hätte: Er ließ vor der Bühne, zwischen ihr und dem Zuschauerraum ein Eisenbahngeleise legen mit einer Starkstromleitung in der Höhe und dahinter eine realistische Stadt bauen, mit dem Resultat, daß nie ein Zug ankommen konnte [. . .] der Realismus des Bühnenbilds ließ keine Improvisation zu [. . .]. “ (Friedrich Dürrenmatt: Rekonstruktionen. Mit einem Kommentar von Ulrich Weber. In: Text und Kritik (2003). H. 50/ 51. 3. Aufl.: Neufassung. S. 19 - 35. Hier: S. 23 f.) Die durch die realistische Inszenierung in das Stück hineingelegte einseitige Deutung zerstört dessen Modellcharakter in Dürrenmatts Sinne; sie überschattet genau das, was Dürrenmatts experimentelle Poetik vorsieht, nämlich das Stück als einen Versuch über menschliches Verhalten zu verstehen, das eben keine einseitige Interpretation antizipiert transportieren soll. 492 Iser 1993: S. 41. 144 effekte, dienen Dürrenmatt nicht primär dazu, die Wirklichkeitsillusion des Rezipienten zu stören, um zweckgerichtet auf deren Veränderbarkeit hinzuweisen, sondern das Stück als ein Experiment wahrzunehmen, das darin besteht, durch die Entwicklung des Stoffes innerhalb der Fiktion zu einer Darstellung der Wirklichkeit zu gelangen. Diese binär-strukturelle Intention erreicht Dürrenmatt vor allem durch die unterschiedlichsten Varianten der Autofiktionalisierung. Diese besteht darin, den Konstruktionscharakter des Werke mit Hilfe verschiedenartiger Effekte anzuzeigen 493 , die letztlich aufgrund ihres offenkundig absichtlichen Einsatzes allesamt Signale der Selbstsetzung sind, d. h. auf Dürrenmatt selbst in seiner Funktion als Schöpfer der Fiktion hinweisen. Indem er dem Rezipienten die Fiktionalität des Dargestellten bewusst macht, zeigt er auf sich selbst, da er derjenige ist, der zeigt, da er das subjektive experimentelle Medium darstellt. 494 493 Adorno beschreibt den Fiktionscharakter von Kunst, der sich selbst entblößt, indem „ sie die eigene Scheinhaftigkeit, ihren inwändigen Hohlraum nach außen kehrt “ (Adorno 2003: S. 371.). 494 Hierin lässt sich eine Äquivalenz zum modernen Physiker erkennen, der im Einzelexperiment nur Einzelbilder, d. h. einen exakt so nicht wieder zu beobachtenden Zustand herauspräpariert und beobachtet. Hierzu Fritjof Capra: „ Der menschliche Beobachter bildet immer das Schlußglied in der Kette von Beobachtungsvorgängen, und die Eigenschaften eines atomaren Objektes können nur in Begriffen der Wechselwirkung zwischen Objekt und Beobachter verstanden werden. Dies heißt, daß die klassische Vorstellung einer objektiven Beschreibung der Natur nicht mehr gilt. “ (Fritjof Capra: Das Tao der Physik. Die Konvergenz von westlicher Wissenschaft und östlicher Philosophie. 11., v. Autor rev. u. erw. Aufl. Bern u. a.: Scherz 1989. S. 68.) Rudolf Käser arbeitet in seinem Aufsatz in Anlehnung an Elisabeth Emter die quantentheoretischen Implikationen in Dürrenmatts Spätwerk heraus, wobei er u. a. eine Translation des quantentheoretischen Beobachtungsproblems in „ Der Auftrag “ erkennt. Auf der Figurenebene rezipiert Käser Eddingtons selektiven Subjektivismus, demzufolge die materielle Welt „ subjektiv “ ist (Eddington [o. J.]: S. 91.), da eine experimentelle Beobachtungssituation in der Quantenphysik stets einen beobachtungsbedingten verändernden Effekt auf das Beobachtete selbst zeitigt: „ Wie transformiert nun Dürrenmatt diese Problemstellung literarisch? Er erfindet verschiedene Situationen, in denen Menschen einander beobachten, und er läßt verschiedene Menschen darüber nachdenken, wie Menschen darauf reagieren, dass sie beobachtet werden. “ (Rudolf Käser: ‚ Fernsehkameras ersetzen das menschliche Auge ‘ . Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungsfeld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In: Text und Kritik (2003). H. 50/ 51. 3. Aufl.: Neufassung. S. 167 - 182. Hier: S. 174.) Was Käser für die Inhaltsebene entwickelt, indem er Eddingtons selektiven Subjektivismus seiner Interpretation zugrunde legt, unterlässt er allerdings bei dem Vergleich der epistemolgischen Dimensionen von Kunst und Wissenschaft. Wenn er sagt „ Das nur physikalisch relevante Wissen der Physik ist standpunktfrei, während die Wirklichkeitssimulation der Kunst sich ausdrücklich auf den Standpunkt des Betrachters bezieht “ (Käser 2003: S. 170.), dann werden hier weder Dürrenmatts erkenntnistheoretische Kritik an einer deduk- 145 Dürrenmatt ist es ernst mit der Komödie, sie darf nicht ordnungswidrig inszeniert werden. Dies indes kann auf zweierlei Weise geschehen: Die Außerachtlassung der Fiktionssignale hat die Destruktion des „ Als-Ob “ zur Folge - die Handlung erscheint wie ein intendiertes Wirklichkeitsabbild, als mehr oder weniger gelungene Exemplifizierung einer subjektiv empfundenen Wirklichkeit, als Weltbilddarstellung oder als absurde Realitätsverzerrung. Genau das will Dürrenmatt aber verhindern: Als Schriftsteller nehme ich die Welt als Fall, ich denke sie in Stoffe um, sie regt mich zum Schreiben an. Sie gibt Bilder, Eindrücke her, die ich auf eine andere Ebene transponiere, die ich umwandle, bühnenfähig mache. Ich versuche, die Welt in immer neuen Aspekten sichtbar zu machen, aufleuchten zu lassen. [. . .] Ich schreibe nicht, um die Welt zu verändern [. . .]. Wenn ich am Schreibtisch sitze, denke ich an die Geschichte, die ich zu schreiben versuche, und nur an sie, nicht einmal an ihre Bedeutung denke ich [. . .]. Doch hat jedes Schreiben, jedes Sich- Äußern auch seine Wirkung, Resultate, die oft unerwünscht und unvermutet sind. Jedes richtige Schreiben ist ein Anteil am Durchdenken und Durchspielen der menschlichen Möglichkeit. 495 Auf der anderen Seite wendet sich Dürrenmatt aber auch gegen ein verfremdendes Spielen, da durch eine kritische Distanz des Schauspielers zu seiner Figur die fiktive Wirklichkeit auf der Bühne verlorengeht. Die Fiktionssignale indes liegen im Stück selbst, sie deuten die Zeigefunktion dessen an, was innerhalb der Fiktion auf Figuren- und Handlungsebene als wirklich und ernsthaft zu erscheinen hat. Dies macht Dürrenmatt sowohl in „ Anmerkung I “ (1956) zum „ Besuch der alten Dame “ als auch in den „ Dramaturgischen Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘“ (1967) deutlich: Dort heißt es: Die Aufgabe des Schauspielers besteht darin, glaube ich, dieses Resultat [das Stück als Resultat der Arbeit des Schriftstellers, Anm. d. Verf.] aufs neue zu erzielen; was Kunst ist, muß nun als Natur erscheinen. Man spiele den Vordergrund richtig, den ich gebe, der Hintergrund wird sich von selber einstellen. [. . .] Man bleibe bei meinen Einfällen und lasse den Tiefsinn fahren, achte auf eine pausenlose Verwandlung ohne Vorhang, spiele auch die Autoszene einfach, am besten mit vier Stühlen. 496 tiven Physik noch die Induktionsproblematik, auf die Dürrenmatt mehrfach hinweist, angemessen beachtet. Die von Dürrenmatt behauptete strukturelle Äquivalenz von Physik und Kunst gründet sich vielmehr eben darauf, dass im Rahmen experimenteller Anordnungen gerade dem Experimentator selbst eine entscheidende erkenntnistheoretische Rolle zukommt, sowohl in der Physik als auch in der Kunst. (Vgl. hierzu auch: Wolfgang Düsing: Wann ist die Wirklichkeit ‚ wirklich ‘ ? Medienkritik in Prosatexten von H. Böll bis F. Dürrenmatt. In: Literatur & Lebenswelt. Hrsg. v. Alexander Löck und Dirk Oschmann. Wien u. a.: Böhlau 2012 (= Literatur und Leben Bd. 82). S. 181 - 198. Hier: S. 191 - 197.) 495 G I 275 496 Anmerkung I, WA 5 142 146 Hier führt Dürrenmatt aus, inwiefern - in Abgrenzung zu Brechts Verfremdungseffekten - die Paradoxie der Handlung selbst und, in ihr angelegt, auch die Fiktionssignale ausreichen, um auf den experimentellen Charakter eines Stückes hinzuweisen. Eine nochmalige Verfremdung seitens der Darsteller höbe demnach den Verfremdungscharakter des Stückes und den ihm immanenten Status des Objektiven sogar auf, wäre also in höchstem Maße kontraproduktiv, da durch ein verfremdendes Spielen die realistische Komponente des Inhalts zerstört würde bzw. als subjektive Aussage des Autors interpretiert werden könnte. Dürrenmatt will anders als Brecht, den Zuschauer nicht aus der Geschichte reißen, damit dieser sich über deren Inhalt Gedanken machen und über Alternativen nachdenken kann, sondern er will dem Zuschauer während des Stückes bewusst machen, dass er an einer Fiktion teilnimmt, die sich deuten lässt. Das Experiment selbst darf hinsichtlich seines thematischen Inhalts daher durch die Schauspieler nicht in Zweifel gezogen werden. Verfremdung bei Dürrenmatt zielt daher immer auf den fiktionalen Status der Fiktion, nie auf die Fiktion selbst: Der Verfremdungseffekt liegt nicht in der Regie, sondern im Stoff selbst. Die Komödie der Handlung ist das verfremdete Theater an sich (und braucht gerade deshalb nicht verfremdet gespielt zu werden, es kann es sich leisten, darauf zu verzichten). 497 Fiktionssignale - Dürrenmatts experimentelle Effekte - lassen sich in jedem seiner Werke finden. Besonders deutlich treten diese hervor, wenn Dürrenmatt sich oder ein Alter ego in das Werk integriert, etwa in der Figur des Schriftstellers in „ Der Richter und sein Henker “ , in der Figur des D. in „ Der Auftrag “ , als Büchner, der in „ Achterloo “ seinen Figuren hinterherschreibt oder als Schriftsteller „ Friedrich Dürrenmatt “ in „ Justiz “ , in deren Prolog er in ironischer Weise darauf hinweist, dass „ [i]rgendwelche Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, Orten oder Personen, seien sie lebend oder tot, [. . .] rein zufällig [sind] “ 498 , im dritten Teil des Romans aber selbst in den Besitz der Aufzeichnungen Späts gerät und Hélène und den Kantonsrat ‚ tatsächlich ‘ trifft. Ein ähnliches Merkmal, welches das Spiel mit verschiedenen Realitäten als experimentanzeigenden Effekt ausweist, erkennt Kastura zu Recht im Roman „ Das Versprechen “ : Auch hier werden verschiedene Fiktionsebenen miteinander verschachtelt, wodurch Dürrenmatt - als Autor selbst in der Fiktion erscheinend - ein Spiel um die Authentizität des Geschehens beginnt, 497 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 132 498 Justiz, WA 25 10 147 indem er einerseits die Zweifel daran schürt, andererseits sie zu zerstreuen sucht. 499 Ebenso handelt es sich um Fiktionssignale, wenn Schauspieler aus ihrer Rolle heraustreten, wie Egli in „ Frank der Fünfte “ , Richter Wucht in der dramatischen Version der „ Panne “ , die sich vorstellenden Figuren in „ Der Mitmacher “ 500 , das Personal in „ Midas “ , das sich diskursiv über den Autor Dürrenmatt und dessen Schreibgewohnheiten austauscht, oder die Figurendiskussion über Bühnenbild und dramaturgische Anleitungen in „ Dichterdämmerung “ . Abgemilderte, aber nichtsdestoweniger deutliche experimentanzeigende Effekte finden sich überall dort, wo auf den Konstruktionscharakter des Stückes hingewiesen wird, etwa in „ Der Besuch der alten Dame “ , wenn Schauspieler Bäume darstellen, oder in der „ Panne “ , wenn die Figuren so tun, als ob sie etwas täten, wenn sie ihre Jacken bspw. Bühnenarbeitern geben, oder auch in „ Grieche sucht Griechin “ , wenn Dürrenmatt ein alternatives „ Ende für Leihbibliotheken “ anhängt. Hinter all diesen Effekten verbirgt sich die Technik des Als-Ob und damit der „ Vertrag [des Betrachters] mit dem Kunstwerk [. . .], damit es spreche “ 501 . Für Iser liegt in der bewussten Akzeptanz der Irrealität der Fiktion - dem bewussten Mitspielen des Rezipienten also - der Schlüssel zur Erkenntnis dessen, worauf die Fiktion verweist: Die Vorstellbarkeit dessen, was durch das Als-Ob ausgelöst wird, bedeutet also, daß unsere Vermögen in den Dienst dieser Irrealität treten, um im Vorgang einer wie immer ablaufenden Irrealisierung diese zur Wirklichkeit zu machen. Wenn wir uns durch das Fiktive selbst zu irrealisieren vermögen, um der Irrealität der Textwelt die Möglichkeit ihres Erscheinens zu sichern, dann wird - zumindest strukturell - unsere Reaktion auf die Textwelt den Charakter des Ereignisses besitzen. 502 499 Thomas Kastura: Subversives Spiel mit der Wirklichkeit. Die alternativen Ordnungen des Fiktionalen bei Friedrich Dürrenmatt und Wolfgang Hildesheimer. In: Das Subversive in der Literatur, die Literatur als das Subversive. Hrsg. v. Karol Sauerland. Toru ń : Wydawnictwo Uniwersytetu Miko ł aja Kopernika 1998. S. 163 - 184. Hier: S. 164 f. Einen ähnlichen Trick wendet Dürrenmatt auch in „ Abendstunde im Spätherbst “ an, indem er Korbes darauf hinweisen lässt, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, die sich - Anfang und Ende sind in einer Art Mise en abyme vollkommen identisch - in einer unendlichen Zirkelbewegung aufhebt. 500 Diese Monologe rechtfertigt Dürrenmatt im „ Mitmacher-Komplex “ ausdrücklich als Fiktionssignale: „ [. . .] womit wir auf den innersten Sinn der Monologe stoßen, den nämlich, das Theater als Theater und die Fabel als Fiktion aufrechtzuerhalten “ (Nachwort zum Nachwort, WA 14 315). 501 Adorno 2003: S. 396. 502 Iser 1993: S. 44 f. 148 Während im Produzenten durch den Akt des Fingierens ein Transformationsprozess stattfindet, der bewirkt, dass das eigene Imaginäre mit einer Bestimmung versehen wird, Teile der eigenen Erfahrungswelt also geleitet in eine Fiktion einfließen, bedient sich der Rezipient eines komplementären Verfahrens der Dekodierung. Mit Hilfe der Semantisierung kann er die Fiktion auf ihm Bekanntes zurückführen und dadurch sein Verstehen gewährleisten. Wenn Iser vom „ Überschreiten von Bezugssystemen “ spricht, dann wird damit der Mechanismus beschrieben, in dessen Zentrum die Fiktion als Medium eines Kommunikationsprozesses steht: Der Sender überschreitet durch den Akt des Fingierens, also die bewusste Aufstellung einer Fiktion, das Bezugssystem seines Imaginären - und der Empfänger, auch er im Bewusstsein des fiktionalen Charakters des Gegenstandes, geht in der operativen Auseinandersetzung mit dem Text - einem Abgleich, welche Inhalte sich wiedererkennen lassen und welche in einem noch unbekannten Sinnzusammenhang erscheinen - über die Grenzen seines eigenen Bezugssystems hinaus. Iser sieht hierin einen elementaren „ Übersetzungsvorgang “ : In dieser Hinsicht leistet die Semantisierung den gleichen Übersetzungsvorgang auf der Rezipientenseite, den das Fiktive im fiktionalen Text auf der Produzentenseite bewerkstelligt. Ist das Fiktive die Übersetzung des Imaginären in die konkrete Gestalt zum Zweck des Gebrauchs, so ist die Semantisierung die Übersetzung eines erfahrenen Ereignisses in die Verstehbarkeit des Bewirkten. Es sind diese komplementären Übersetzungsvorgänge des Imaginären, die das Imaginäre als die konstitutive Energie des fiktionalen Textes ausweisen. 503 Auch Zimmermann erkennt in der Neu-Konstituierung des eigenen Bezugsfeldes durch den Abgleich mit dem Bezugsfeld des Textes die „ Chance des Lernens “ . Als Voraussetzung dafür hält er ein zweifaches „ Als-Ob “ vonnöten; ein erstes, durch das der Leser sein eigenes Bezugsfeld temporär deaktiviert, ein zweites, durch welches das Bezugsfeld des Textes primäre Relevanz erhält: „ Hinter diesen ‚ Als ob ‘ steht natürlich die eigentliche Situation, aus der das Verständnis des Textes kommt und in die es wieder zurückführt: Die Bezugsfelder von Leser und Text müssen in eine Beziehung miteinander treten. “ 504 Dürrenmatt selbst beschreibt diese Interaktion als eine perspektivische und verleiht ihr damit gleichzeitig eine besondere hermeneutische Dimension, die den Rezipienten in seiner Vereinzelung ebenfalls in die Rolle eines Experimentators rückt, der die eigene Erfahrungswelt mit dem Bezugssystem 503 Ebd., S. 47. 504 Hans Dieter Zimmermann: Vom Nutzen der Literatur. Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der literarischen Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 (= edition suhrkamp Bd. 885). S. 131. 149 des Textes, Dürrenmatts Modell, abgleicht. Die Antworten, die der fiktionale Text zu geben vermag, entspringen den Fragen, die der Leser an ihn stellt, und interdependieren mit dessen individueller Position, „ da die Antwort, die die künstlerische Fiktion gibt, durchaus vom Standpunkt ab[hängt], von dem aus ich den Spiegel betrachte. Je nach Standort sehe ich in einem Spiegel diesen oder jenen Teil der Wirklichkeit, die sich im Spiegel widerspiegelt. “ 505 2.2.9.5 Wesen und Struktur als experimentelle Erkenntniskategorien Obgleich konstatiert werden kann, dass Dürrenmatts Poetik die Wissbarkeit der Fiktion mit einschließt, d. h. die Möglichkeit, mit Hilfe der Kunst die Wirklichkeit zu beschreiben - und darin erkennen zu können - präsupponiert, bedürfen deren Bedingungen einer näheren Beschreibung, zielt diese Erwägung doch in das Zentrum der Fragen, wie Wissenschaft und Kunst sich für Dürrenmatt zueinander verhalten und in welchem Verhältnis die Wirklichkeit an sich zu ihrem Erkennen steht. 506 Zur Verdeutlichung seines Erkenntnisbegriffs, der grundsätzlich zwischen naturwissenschaftlicher und künstlerischer Erkenntnisweise unterscheidet, bedient sich Dürrenmatt in dem Text „ Vinter “ (entworfen 1970, ausgearbeitet 1989) aus den „ Stoffen IV-IX “ der Antinomie von Wesen und 505 Sätze über das Theater, WA 30 210 f. 506 Diese Frage beschäftigt u. a. Jan Knopf, der Dürrenmatts Fiktionen als „ Spielwelten “ bezeichnet, die „ sich den Realitäten verweigern, letztlich unverbindlich, nicht zum Existenziellen vorstoßend “ (Knopf 1988: S. 193.). Wenn Knopf Dürrenmatt vorwirft, beim „‚ Einzelnen ‘ , ‚ Individuellen ‘“ (Knopf 1988: S. 194.) stehenzubleiben, und darin keine Weiterentwicklung des Brechtschen Theaters, sondern einen widersprüchlichen Rückschritt erblickt, dann ignoriert er, dass Dürrenmatt das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit gerade in der Fiktion vermittelt sieht, für ihn also die Wirklichkeit nicht anders darstellbar ist als mit Hilfe der Fiktion - und das sowohl in wissenschaftlicher Hinsicht als auch in künstlerischer: „ Theater ist nichts anderes als Fiktion. Theater ist immer Erfindung. Der Mensch gibt sich nur mit Erfindungen ab. Die Wirklichkeit kann nur mit Erfindungen beschrieben werden. “ (G I 350) Dürrenmatt sieht seine Opposition zu Brecht gerade darin, nicht wie dieser von einer bestimmten Theorie auszugehen, sondern die Erkenntnis der Wirklichkeit generell als eine individuelle vorauszusetzen, ein Denken in konsentierten Weltbildern aufzugeben und zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Erwägungen - Eddington, Popper - insofern Rechnung zu tragen, als die Wirklichkeit eben nicht mehr als Einheit darstellbar ist, sondern die offen und in höchstem Maße pluralistisch ist - und damit auch subjektiv. Dürrenmatt verweigert sich also der Realität keineswegs, im Gegenteil: Allein durch die Ablehnung, eine bestimmte Interpretation vorzugeben, eine künstlerische Welt als Abbild der Wirklichkeit zu postulieren und damit einer Ideologisierung anheim zu fallen, sondern etwas vorzuführen, ohne es mit einer eigenen Wertung zu stigmatisieren, schafft die Voraussetzung dafür, als Rezipient im Kunstwerk die Wirklichkeit als das zu erkennen, was sie ist, nämlich eine der individuellen Interpretation. 150 Struktur, wobei er nach Eddington, dessen „ Philosophie der Naturwissenschaften “ er diese Begriffe entlehnt, die immer weiter fortschreitende Entschlüsselung der Struktur zum Ziel der Wissenschaften erklärt. 507 Für Eddington besteht die Struktur eines Objektes in dessen Aufschlüsselung und den mathematisch beschriebenen Interdependenzen der Teile eines Ganzen. 508 Das führt für ihn zu der Überzeugung, dass die Erkenntnis der physikalischen Natur in Form abstrakter mathematischer Zeichen, das „ strukturelle Wissen “ , abgesondert von dem „ Gegenstand “ betrachtet werden muss, der durch die mathematische Formel beschrieben wird: „ Daher ist unser Wissen von der Struktur mitteilbar [. . .]. Jeder Pfad zum Wissen von dem, was unter der Struktur liegt, ist [. . .] durch ein undurchdringliches mathematisches Symbol versperrt. “ 509 Ein wissenschaftlicher Erkenntniskanon kann für Eddington insofern nur in einer Übereinstimmung struktureller Abstraktion subjektiver Forschungsvorgänge bestehen. Der Physiker muss darauf vertrauen, dass seine Sinneswahrnehmungen in schlichter Naturbeobachtung oder Experiment und deren Übersetzung in mathematische Zeichen sich strukturell mit den Ergebnissen anderer Experimentatoren decken. 510 Ist dies der Fall, entstehen Erkenntnisübereinkünfte, die jenseits einer individuellen Beobachtung zu Korrespondenzen strukturellen Wissens werden. Die Sprache der Mathematik ermöglicht es erst, einzelne Sinneswahrnehmungen systematisch zu kommunizieren und gezielt zu analysieren. Im Grunde beschreibt dieser Vorgang aber schon eine Interpretation und eine Fiktionalisierung des Empirischen. Das im Wege der Induktion Erkannte, das an einen Erkennenden gebunden ist, wird erst durch die Abstraktion vom Beobachter gelöst und dadurch objektiv kommunizierbar, rezipierbar und vergleichbar. Bei einer anderen Art des Wissens ist diese Form der abstrakten Kommunikation und damit eine systematische Vergleichbarkeit dezidierter Beobachtungen für Eddington nicht möglich: Dem strukturellen Wissen stellt er das sympathetische Verstehen gegenüber. Beide Arten entsprechen erkenntnistheoretisch den zwei unterschiedlichen Seiten der zu erkennenden Welt: jener, die einer naturwissenschaftlichen Analyse zugeführt, aufgegliedert und abstrakt beschrieben werden kann, und dieser, die sich einer solchen entzieht, weil sie in ihrem Wesen nur subjektiv empfunden oder assoziierend nach-empfunden, nicht aber strukturell analysiert und mathematisch dar- 507 Vgl.: Vinter, WA 29 201 508 Vgl.: Eddington [o. J.]: S. 151, 174. 509 Ebd., S. 180 f. 510 Ebd., S. 187 f. 151 gestellt werden kann. Diese zweite Form des Erkennens exemplifiziert Eddington an einer in höchstem Grade privaten, kulinarischen Empfindung: Ich kann anderen das lebhafte Wissen, das ich von meinen eigenen Sinneseindrücken und Gefühlen habe, nicht übermitteln. Es gibt keinen Weg, um meinen Sinneseindruck davon, wie Hammelfleisch schmeckt, mit dem Sinneseindruck, den ein anderer vom Geschmack des Hammelfleisches hat, zu vergleichen. 511 Das sympathetische Verstehen setzt für Eddington dort an, wo auf das Bewusstsein unmittelbarer oder erinnerter Erfahrungen, Sinneseindrücke oder Gefühle rekurriert wird. Es umschließt den Glauben, das Empfinden der Welt in ihrer Totalität, komplexe Lebenserfahrungen und persönliche Seinswahrnehmung. Die zentrale Bedingung dafür, diese Empfindungen als subjektives Wissen, also als ein Wissen zu respektieren, das keiner wissenschaftlichen oder anderen allgemein anerkannten Konvention unterzuordnen ist, da es privat ist, liegt für Eddington in der Anerkenntnis anderer außer-individueller Ichs oder Bewusstseine, die ihrerseits Träger sympathetischen Wissens, Subjekte mit Gefühlen, Überzeugungen, Meinungen und Empfindungen sind. 512 Dürrenmatt übernimmt diese Dichotomie des Wissens. Auch er trennt das strukturelle Wissen vom sympathetischen Verstehen ab, versucht aber auch, deren funktional-konstitutive Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Ein wesentlicher Grund indes, der dagegen spricht, dass Kunst strukturelles Wissen im Sinne der Wissenschaften vermitteln könnte, liegt für ihn darin, dass sie sich nicht der Mathematik bedient, um ihre Ergebnisse exakt auszudrücken und damit nachvollziehbar, wiederholbar und „ objektiv “ im wissenschaftlichen Sinne zu machen: Kunst nutzt die Sprache, „ in der [. . .] das Wort eine fließende Bedeutung hat “ 513 . Ferner hat der Schriftsteller, wie Dürrenmatt in „ Zum Tode Ernst Ginsbergs “ (1965) darlegt, „ den Menschen in seinen Konflikten sichtbar zu machen “ 514 . Gefühle, Glauben, das Erleben der Welt sind rein subjektive Kategorien, die nicht entzweibar sind. Deshalb verortet Dürrenmatt die Kunst als epistemologisches Verfahren zur Sichtbarmachung der Wirklichkeit - ebenso wie Eddington - in der Sphäre lebensweltlicher Erfahrung und letzthin eines sympathetisch geprägten, individuellen Verstehens: [I]ch verstehe, was einer meint, wenn er sagt, es sei ihm kalt, ohne daß ich weiß, wie er dieses ‚ ihm kalt sein ‘ spürt. Das gleiche gilt für alle Gefühle. Das sympathetische Verstehen ist für das Zusammenleben der Menschen ungleich wichtiger als das 511 Ebd., S. 180. 512 Vgl.: Ebd., S. 240. 513 Vinter, WA 29 201 514 Zum Tode Ernst Ginsbergs, WA 30 138 152 strukturelle Wissen, insofern ist die Sprache wichtiger als das Wort, weil in der Sprache das Wort eine fließende Bedeutung hat, während das Wort allein zum Begriff wird und sich nur im rein apriorischen Denken in der Mathematik und in den ‚ objektiven Erkenntnissen ‘ bewährt, die wir mit apriorischen selektiven Hypothesen aus der Welt der Objekte herausleuchten. 515 Es ist die Unterscheidung zwischen der Untersuchung einer äußerlichen, materiellen Komposition, welcher sich der Wissenschaftler mit Hilfe einer Theorie oder eines strukturellen Modells nähert, und der Frage nach dem, was sich - womöglich als ursächliches Moment - hinter den Erscheinungen menschlichen Verhaltens verbirgt. Es ist der künstlerische Versuch, den Menschen in seinen Konflikten und damit in seiner Natur erkennbar zu machen, ein Unterfangen, welches für Dürrenmatt nur im sprachlichen Bild zu realisieren ist, nicht abstrakt. Die Inhalte der Kunst sind die stets wiederkehrenden Muster menschlichen Verhaltens, das sich strukturell nicht begreiflich machen und ebenso wenig fortschreitend immer weiter teilen und dadurch wissenschaftlich analysieren lässt: Demgegenüber verhält sich die sympathetische Welt der Gefühle gleichsam statisch, es ist noch immer die gleiche Sehnsucht nach Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit, aber auch der gleiche Neid und der gleiche Haß, der die Menschheit bewegt, und der gleiche Hunger nach Glauben. 516 Ein sympathetisches Wort wie Gott lässt sich für Dürrenmatt nie „ in eine objektive Erkenntnis [. . .] verwandeln “ 517 . Wie sollte dies bei menschlichem Verhalten gelingen, welches auf Gefühlen, persönlichen Überzeugungen, Irrationalität, Neurosen gründet! ? Trotz der Anerkennung der kategoriellen, objektbezogenen und methodologischen Verschiedenartigkeit beider Erkenntnisweisen ist es Dürrenmatts Bestreben, deren prinzipielle Äquivalenz zu legitimieren und damit erneut Wissenschaft und Kunst als gleichrangige epistemologische Verfahren zu postulieren. Eine objektive strukturelle Wahrheit als Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit kann für Dürrenmatt nur durch zweierlei erreicht werden: erstens durch die Exaktheit des arbiträren Zeichens, die durch die Mathematik gegeben ist, und zweitens durch das allgemeine methodische Vertrauen darauf, dass „‚ Denken ‘ und ‚ So-Sein ‘“ 518 adäquat seien. Im rein subjektiven sympathetischen Verstehen gibt es weder die Exaktheit des konventionalisierten Zeichens noch eine Distanz zur Erkenntnis selbst, Denken und So-Sein fallen im Subjekt zusammen. Die Natur des Menschen, 515 Vinter, WA 29 201. 516 Vinter, WA 29 202 517 Vinter, WA 29 202 f. 518 Vinter, WA 29 203 153 das „ Weltall nach innen “ 519 ist höchstens nachempfindbar, Erklärungsversuche etwa psychologischer Art sind kaum erhellend, laufen schnell ins Leere, verlieren sich unversehens im nur noch Vermutbaren, hochgradig Spekulativen. Eine auf geheimnisvolle Weise der Phantasie, dem Bewusstsein und dem Denken des Künstlers entspringende Kunst, deren Gegenstand die Konflikte der Menschen sind, die wiederum aus den unergründlichen Tiefen der menschlichen Natur, den Weiten des inneren Universums heraus entstehen, ist per se außerstande, strukturelles Wissen zu liefern oder eine These zu beweisen. Auf der anderen Seite konstatiert Dürrenmatt: „ Die [wissenschaftliche] Analyse ist nicht die einzige Möglichkeit, hinter die Wirklichkeit zu kommen. “ 520 Dürrenmatts Weg der künstlerischen Erkenntnis ist ein Denken in Bildern, ein Denken in Gleichnissen, die zwar nichts beweisen, aber nichtsdestoweniger eine der wenigen korrektiven Gegenkräfte zu den Naturwissenschaften in der Erkenntnis der Welt darstellen. Struktur und Wesen, wissenschaftliches und sympathetisches Denken - Dürrenmatt folgt Eddingtons Ansicht, dass beide Arten sich ähneln, dass auch die wissenschaftliche Erkenntnis im Grunde eine in höchstem Maße an das erkennende Subjekt gebundene Erfahrung ist, deren sinnliche Unmittelbarkeit mit Hilfe eines rationalen Apparats in eine objektive Erkenntnis verwandelt wird. Auch der Wissenschaftler - und hierin unterscheidet sich die Anwendung eines abstrakten Zeichensystems strukturell nicht von der vieldeutigen Alltagssprache - bedarf des Symbols zur Darstellung des Erfahrenen und damit der subjektiven Fiktion, die sich aus der Unterscheidung zwischen objektiver Wirklichkeit und den Begriffen ergibt, derer der Mensch bedarf, um diese zu beschreiben: [U]nd dennoch ist diese Welt, die er [der Wissenschaftler] erkennt, nicht die Wirklichkeit, nicht die Wahrheit, sondern die Wirklichkeit und die Wahrheit, insofern er sie durch seine Wahrheit zu erkennen vermag, durch seine Konstruktionen eben [. . .]. 521 Eine Konsequenz, die sich hieraus für Dürrenmatt ergibt: Der Wissenschaftler benötigt ein „ methodisches Vertrauen “ , also den festen Glauben daran, dass seine Interpretationen, seine Fiktionen eine tatsächliche Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Durch dieses erkenntnistheoretische Axiom, welches unabhängig vom jeweiligen Fortschritt einer Wissenschaft Geltung hat, wird letztlich erst wissenschaftlicher Konsens möglich: Die subjektive Erfahrung wird erst mit Hilfe der zugrunde gelegten Methode - und der Abstrahierung 519 Ebd. 520 G I 351 521 Vinter, WA 29 201 f. 154 der Ergebnisse zu einem „ objektiven “ Wissen. Im Gegensatz dazu ist das sympathetische Verstehen der Welt für Dürrenmatt in seiner Unmittelbarkeit beständig und daher für das verstehende Subjekt per se absolut objektiv, was beim Vergleich beider Erkenntnisweisen zu einem antonymen Verhältnis von Wissen und Glauben führt: Weil jedoch ohne Vorstellungskraft und damit ohne Glauben [. . .] kein strukturelles Wissen möglich wäre, so ist zu fragen, worin denn der Unterschied zwischen dem strukturellen Wissen und dem sympathetischen Verstehen besteht: Wer weiß, weiß, daß er glaubt, und wer versteht, glaubt, daß er weiß, der Wissende weiß, daß sein Wissen eine Hypothese ist, und der Verstehende hält sein Verstehen für wahr. 522 Dürrenmatt markiert den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Erfahrung und sympathetischem Verstehen nicht in der Andersartigkeit der jeweiligen Beobachtungen oder provozierten Erfahrungen, sondern erst im zweiten Schritt, nämlich durch den nachgeschalteten Vorgang der Abstraktion. Vom Prinzip her sind für ihn die Erfahrungen der Menschen ähnlich - sie sind subjektiv. Den Unterschied sieht er darin, dass das jeweilige Bewusstsein vom eigenen „ Wissen “ ein anderes ist. Der Wissenschaftler ist vom Glauben an sein Wissen überzeugt, der Nicht-Wissenschaftler davon, dass seine Empfindungen wahr sind, dass er das Wesen von etwas unmittelbar wahr-nimmt. Wenn Dürrenmatt nun mit seiner Kunst gerade die Lebenswelt des Menschen einer konkreten Anschauung zuführen möchte, so tut er dies, indem er einen sympathetischen Erfahrungskomplex fingiert. Die Figuren müssen vom Rezipienten sympathetisch nachvollzogen werden, sie können als Träger der Fiktion kein strukturelles Wissen über die Wirklichkeit transportieren. Indem er das Kunstwerk in der Anschauung objektiviert, entgrenzt Dürrenmatt allerdings gleichzeitig den Begriff des rein Sympathetischen. Es soll nicht nur nachempfunden, sondern auch nach-gedacht werden. Die konstruierte Gegenwelt bietet als das spielerisch Mehrdeutige eine konkrete Erfahrung an und mit ihr die Möglichkeit, Wissen in ihr und durch sie zu entdecken. Auch durch die Kunst wird Distanz hergestellt, eine Distanz zum sympathetischen Verstehen der Inhalte, Assoziationen, Gefühle, letztlich zum Bewusstsein des Menschen. Das Wesen von etwas - das, was etwas für jemanden bedeutet - steht zwar im Gegensatz zu einer mathematisch dargestellten Struktur eines Dinges immer in unteilbarer Beziehung zur Bezugsperson, ihren Gefühlen, ihrem individuellen Denken und Empfinden. Nichtsdestoweniger kann auch die Kunst mit Hilfe des Experiments vorgehen, eine 522 Vinter, WA 29 205 f. 155 Labor-Situation schaffen, den Menschen einer provozierten Erfahrung unterziehen, in Analogie zum Naturwissenschaftler, der die Natur einer gezielten Befragung aussetzt und die Ergebnisse aufzeichnet und interpretiert, indem er sie in einen konkreten Sinnzusammenhang setzt. Dürrenmatt rekonstruiert diese Methode in der Kunst. Er fingiert eine lebensweltliche Situation in vitro, komprimiert und entschleunigt einen Konflikt, der wie unter einem Vergrößerungsglas betrachtet, entwickelt wird und nachvollziehend analysiert werden kann. Die Natur des Menschen wird von Dürrenmatt en passent im Bild konstruiert, wobei aber die Benennung des Angeschauten dem Zuschauer überlassen wird. Deshalb, so führt Dürrenmatt in „ Literatur nicht aus Literatur “ (1962) aus, darf der Schriftsteller, der vom Stoff, nicht von der Aussage ausgehe, behaupten, daß ihn der Sinn, die Aussage dessen, was er da geschrieben habe, nicht interessiere, mit dem Recht des Schöpfers nämlich, dessen Aufgabe es ist, zu erschaffen, nicht zu interpretieren. Er stellt den Stoff zur Interpretation, nicht die Interpretation selbst. 523 Indem er selbst das Angeschaute nicht deutet, eröffnet Dürrenmatt es einer beliebigen Zahl von Interpretationen; dieser Umstand erst macht es zum Welttheater, insofern alle Welt, d. h. jeder einzelne Rezipient seine Wirklichkeit darin erkennen kann: „ Dem Publikum wohnt eine hartnäckige Kraft inne, zu hören, was es will und wie es will. “ 524 In einem Gespräch von 1966 präzisiert Dürrenmatt diesen Gedanken: Ich glaube, daß man immer Geschichten schreibt, in die man verhängt ist. Es ist ein objektiver, aber gleichzeitig auch mein Fall. Man ist eben beteiligt. Auch die objektivste Geschichte schreibt man nie objektiv. Weil ich sie schreibe, ist sie auch subjektiv. Sobald es geschrieben ist, ist es ein Werk, etwas Objektives, das Sie den Zuschauern vorführen. Der Zuschauer konfrontiert sich damit, spielt mit oder sagt, das geht mich nichts an. Weil er als Zuschauer auch ein Subjekt ist, wird er mehr oder weniger auch seinen Fall hineinmischen. 525 Bemerkenswert ist, dass Dürrenmatt ein Jahr vor dem ersten „ Vinter “ - Entwurf in seinem „ Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht “ (1969) den Begriff der „ Analyse “ , der für Eddington einen Schlüsselbegriff wissenschaftlichen Denkens darstellt, auf seine Art des dramaturgischen Denkens und die künstlerischen Ergebnisse bezieht, indem er sagt, seine Stücke seien „ komödiantisch[e] Gebilde, in de[nen] sich die Wirklichkeit analysiert wiederfindet, genauer, in de[nen] sich der Zuschauer analysiert wiederfindet. “ 526 523 Literatur nicht aus Literatur, WA 30 89 524 Literatur nicht aus Literatur, WA 30 91 525 G I 221 526 Monstervortrag, WA 33 91 156 Auch der Begriff der Analyse steht bei Dürrenmatt in einem analogischen Verhältnis zur naturwissenschaftlichen Verwendung, hat bei ihm aber einen anderen Akzent: Die wissenschaftliche Analyse meint die systematische Untersuchung eines Objektes, die Zergliederung seiner Bestandteile sowie die Untersuchung der Zusammenhänge der einzelnen Teile. Wie verträgt sich diese Behauptung mit der Aussage Dürrenmatts, dass seine Kunst synthetisch aufgebaut sei 527 ? Eine Erklärung dieses vermeintlich paradoxen Verhältnisses ergibt sich aus Dürrenmatts experimenteller Dramaturgie: eine Personenkonstellation zu entwerfen, also synthetisch vorzugehen, und den entstehenden Konflikt zu beobachten, schließt automatisch auch die Analyse der dargestellten Phänomene mit ein, soweit die Figuren die Motivationen ihres Handelns, das den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit folgt, selbst in sich tragen. 528 Die Analyse ist also dem synthetischen Aufbau immanent und somit gleichzeitig Gegenstand der Interpretation: Person A tritt in ein Verhältnis zu Person B oder zu einer Personengruppe. Die Handlungen und Sprechakte der Personen beschreiben die Beziehungen, in denen sie zueinander stehen, und lassen in Interpretationsklüften die Ursachen ihres Handelns erahnen: Interdependenzen zwischen den Figuren, kausal bedingte Handlungsstränge, begründen die immanente Logik des Stückes. Dürrenmatt selbst spricht in den „ Dramaturgischen Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘“ (1967) deshalb auch von der „ Geometrie “ einer Fiktion: Das Theater als Eigenwelt enthält als seine Themen erdichtete Menschen, es entwickelt sich kontrapunktisch. Zu einem Thema tritt ein Gegenthema usw. [. . .] Die Welt der Fiktion ist eine in sich geschlossene Welt. Ihre Geometrie: Die Beziehungen ihrer Gestalten zueinander. Ihre Dramatik: Die Schicksale, die sich auf dem abgesteckten Platz abspielen. 529 Da Kunst - und das wird hier deutlich - als Trägerin mehrdeutiger Zeichenkomplexe die menschliche Natur in einem fingierten Kontext systematisch konstruiert, empfindet Dürrenmatt sie expressis verbis als Äquivalent zum wissenschaftlichen Experiment. Zwar handelt es sich bei Figuren nicht um mathematische, eindeutige Symbole, sondern um Medien komplexer Personifikation und lebensweltlicher Entsprechung; ihre Handlungen markieren aber Motivationen und Abhängigkeiten zu den anderen Zeichenträgern innerhalb der Fiktion, die eine Form der Bedeutung, eine Art des Wissens organisieren. Der sympathetische Erfahrungsschatz korrespondiert dabei mit den ästhetischen Bedingungen des Theaters, insofern er als die Antwort der 527 Vgl.: Die Frist, WA 15 12 528 Auch Düsing ist dieser Auffassung: „ Das Resultat der gespielten Gedankenprozesse ist eine umfassende Analyse. “ (Düsing 2013: S. 136.) 529 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 136 157 Natur auf den Experimentalaufbau, als das Ergebnis einer provozierten Erfahrung im künstlerischen Akt gedeutet werden kann, wie Dürrenmatt in „ Aspekte des dramaturgischen Denkens “ (1964/ 65) darlegt: Die Bühne kennt kein Ich. [. . .] Die Dramatik objektiviert den Stoff, stößt ihn auf die Bühne. Der Dramatiker herrscht über den Stoff nicht mehr absolut. Er ist durch die Bühne begrenzt. Auf der Bühne ist nicht alles darstellbar. [. . .] Er ist gezwungen, seine Geschöpfe von außen her durch ihr Reden, Handeln und Erleiden zu beschreiben und durch Schauspieler darstellen zu lassen. 530 Ein weiterer Grund, Wirklichkeit dadurch zu erkennen, indem sie konstruiert und beobachtet wird, liegt für Dürrenmatt, wie Burkard ausführt, ferner in der generellen Hinterfragbarkeit der Wirklichkeit selbst - dies bezieht Burkard sowohl auf die Physik des 20. Jahrhunderts als auch auf die lebensweltliche Wirklichkeit 531 , insofern der Mensch zwar anhand seiner Taten und Worte darstellbar ist, sich jedoch in seinen Motiven kaum ergründen lässt. Dies hat als erkenntnistheoretisches Prinzip Auswirkungen auf die Kunst, die eben dies zu berücksichtigen hat, indem sie das Dargestellte nicht als die Wirklichkeit selbst oder als Wirklichkeitsabbild anlegt. Was dem Schriftsteller bleibt, ist, eine Wirklichkeit zu erschaffen, sich der alltäglich gesprochenen Sprache zu bedienen, die fließend ist und mehrdeutig, wie in der Realität auch. 532 In der Anmerkung 1 der „ Aspekte des dramaturgischen Denkens “ setzt Dürrenmatt sich mit dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit auseinander und kommt zu dem Schluss, dass es vor allem die Mehrdeutigkeit der Sprache ist, die ihren sympathetischen Signalcharakter bestimmt. Prinzipiell ist die Distanz zwischen der lebensweltlichen Sprache des Menschen zu dem durch sie Bezeichneten und die Distanz, die zwischen einer abs- 530 Aspekte des dramaturgischen Denkens, WA 30 105 531 Vgl.: Philipp Burkard: Dürrenmatts ‚ Stoffe ‘ . Zur literarischen Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vaihingers im Spätwerk. Frankfurt a. M.: A. Francke 2004. S. 188. 532 Dürrenmatt sagt 1977: „ Worte sind Signale. Ich glaube nicht, daß sich ein Wort durch Definitionen bestimmen läßt. Worte sind immer sehr schillernd und sehr mehrdeutig. Es gibt eine Bemerkung von Popper, die sehr scharfsinnig ist; er sagte, der Fortschritt in der Wissenschaft komme daher, weil sie die Definitionen ganz vage halte. Alle Definitionen in der Physik zum Beispiel sind tatsächlich ganz vage. Was Masse ist, ist doch ganz vage; was Energie ist, ist ganz vage. Die Wissenschaft will niemals das Wesen einer Sache erklären, sie will eigentlich nur Beziehungen setzen. In diesem Sinne ungefähr brauche ich die Worte auch. Es gibt keine festen Begriffe, es gibt Signale, Zeichen, die manchmal so und manchmal so zu verstehen sind - je nach der syntaktischen oder grammatikalischen oder innersprachlogischen Beziehung, in der sie stehen. Dialektisch gesehen kann man überhaupt kein Wort verhaften. “ (G II 202) 158 trakten, mathematischen Beschreibung und der durch sie beschriebenen Wirklichkeit besteht, vergleichbar: Was für das Theater gilt, gilt auch in einem gewissen Sinne für die Sprache, sie ist nicht die Wirklichkeit, sondern stellt sie dar, charakterisiert sie, weist auf sie hin, drückt sie aus; das Verhältnis der Sprache zur Wirklichkeit ist durchaus nicht eindeutig, mit Recht stellt das Verhältnis Begriff - Wirklichkeit eines der philosophischen und physikalischen Hauptprobleme dar. Sprache an sich wäre inhaltsleer, allein die Spannung zwischen der Sprache und dem von der Sprache Gemeinten macht ihr Abenteuer aus. 533 Hiermit korreliert Dürrenmatts Ansicht, die künstlerische Wirklichkeitsanalyse „ ist darum nicht streng wissenschaftlich, sie ist in vielem leichtfertig, doch gerade darum nützlich. “ 534 Der Mensch selbst bildet den Gegenstand seiner Untersuchung; indem er synthetisch vorgeht, also menschliches Verhalten in einer neuen Situation rekonstruiert, ist die Analyse der Wirklichkeit und des Menschen selbst diesem Konstrukt automatisch immanent. Da der Mensch unteilbar und „ unberechenbar “ 535 ist, jeder für sich in einem einzigartigen Urdrama befindlich, „ jenes der Auseinandersetzung eines Ichs mit seiner Umwelt “ 536 , muss Kunst für Dürrenmatt auf der Basis einer schmalen subjektiven, geglaubten, geahnten Axiomatik entstehen: Ein Wissen über das Wesen des Menschen und die Wirklichkeit wird für ihn nur dadurch möglich, das sympathetische Verstehen als eine individuelle Leistung anzuerkennen, die durch die erkenntnisspezifisch unauflösliche Verschmelzung von Subjekt und Objekt entsteht. Für einen Künstler verbietet es sich vor diesem Hintergrund, einen bestimmten Sinn oder auch eine Sinnlosigkeit in das hineinzulegen, was er konstruiert. Es wird immer nur dargestellt, nicht gewertet. „ Der Mensch ist von einer Kompliziertheit, die nur Individualitäten zulässt [. . .]. “ 537 Das bedeutet für Dürrenmatt aber auch, dass kein tatsächliches einheitliches Wissen möglich ist, dass vielmehr Wissen über die Natur des Menschen aufgrund von Beobachtung und Performanz nur durch die Anerkenntnis genau dieser Umstände erlangt werden kann, dass erstens jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit hat; zweitens die außersubjektive Wirklichkeit zwar aus den Handlungen der Menschen besteht, auch dass eine Kausalität vorhanden ist, die im Nachhinein oberflächlich nachgezeichnet werden kann, die Motivationen zum menschlichen Handeln aber im unteilbar Sympatheti- 533 Aspekte des dramaturgischen Denkens, WA 30 117 f. 534 Monstervortrag, WA 33 91 535 Der Winterkrieg in Tibet, WA 28 58 536 Der Winterkrieg in Tibet, WA 28 83 537 Ebd. 159 schen, in dem Universum des subjektiven Glaubens, der Irrationalität, in der individuellen Empfindung liegen; und drittens die Handlungen eines Menschen, die einen bestimmten Zweck verfolgen, also auf etwas Zukünftiges gerichtet sind, immer auch experimentelle Akte darstellen, insofern eine Prognose in höchstem Maße unsicher ist. Will die Wirklichkeit also künstlerisch beschrieben werden, bleibt dem Künstler nichts anderes übrig, als menschliches Handeln darzustellen, Konflikte, das Unteilbare zum Objekt der Erkenntnis zu machen, Menschen, angetrieben von ihren individuellen Empfindungen, zu zeigen, ohne aber letztlich das „ Ei der Erklärung “ 538 dafür zu legen. Dieses Zeigen als solches ist für Dürremmatt schon eine Form des Denkens, eine synthetische Konstruktion, die gleichzeitig eine Einzelfall-Analyse darstellt. Diese Aufsplitterung der Wirklichkeit als multiperspektivische und multiindividuelle Betrachtung eines Geschehnisses lässt sich in zahlreichen Stücken Dürrenmatts finden, unabhängig von deren jeweiliger Thematik. Der Einfall, die Initialzündung zu seinem mehrdeutigen Gleichnis, konfrontiert die Figuren mit einem bestimmten Geschehnis; ihre Reaktionen, ihr Handeln, ihre Worte bilden Projektionsflächen für die Interpretation, was an Motivationen sich dahinter, darunter verberge. Die Figuren, die sich geometrisch zueinander verhalten, befinden sich in einem Konflikt miteinander und mit sich selbst. Die Stücke als solche bilden diese unterschiedlichen Perspektiven und Empfindungen der Personen ab und werden gerade dadurch zum Modell der Wirklichkeit, weil sie das sympathetische Verstehen der Welt unkommentiert nebeneinander stehen lassen und nicht tendenziös verklären. Als Paradebeispiele können hierfür „ Der Besuch der alten Dame “ , „ Romulus der Große “ und „ Der Meteor “ genannt werden, ebenso aber auch „ Frank der Fünfte “ , „ Mississippi “ , „ Der Mitmacher “ , „ Die Frist “ , bis hin zu „ Justiz “ und „ Der Auftrag “ . Die Darstellung unterschiedlicher figurenimmanenter Wirklichkeitsrezeptionen transportiert die Analyse der außer-künstlerischen Lebenswelt als subjektive Fiktionen, die zwar für den einzelnen als wahr im Sinne eines absoluten Wissens empfunden werden, aus der Distanz aber in dieser Absolutheit als Glaube zu entlarven sind, da das vermeintliche Wissen des einen keineswegs auch die Überzeugung des anderen sein muss. Um die menschliche Wirklichkeit darstellen und ergründen zu können, leuchtet Dürrenmatt bestimmte menschliche Konflikte aus, erdenkt die Resultate, interpretiert sie aber nicht. Die Nicht-Deutung von Seiten des Autors korrespondiert mit der Überzeugung, dass die menschliche Wirklichkeit an sich undeutbar ist und das Kunstwerk nur dann zu einem Modell 538 Theaterprobleme, WA 30 48 160 der Wirklichkeit werden kann, wenn es selbst zu etwas objektiv Gegebenem wird, das ebenso vieldeutig wie die Wirklichkeit und der Mensch selbst ist. Da es angeschaut und immer wieder rezipiert werden kann, ist es zur Erkenntnis der Realität vermutlich sogar besser geeignet als die Realität selbst, die flüchtig und diffus ist, eine Flut von Bildern, Erklärungen, Ideologien darstellt. Die künstlerische Fiktion schärft den Blick für die Wirklichkeit, macht die Unmittelbarkeit des sympathetischen Verstehens bewusst und weckt Zweifel an jeder Art vermeintlich als wahr erkannten Wissens. Dies schließt für Dürrenmatt sowohl das wissenschaftliche Wissen, als auch das sympathetische Verstehen mit ein. Eine Deutung der experimentellen Kunst Dürrenmatts, welche sich aus seiner dramaturgischen Technik ergibt, menschliches Verhalten zu präparieren und seine Folgen zu beschreiben, ist, dass es sich beim Wissen immer nur um Interpretationen handeln kann, an die geglaubt wird, die sich aber niemals beweisen lassen. 539 Im Gegenteil: Je mehr eine Wissenschaft in die Materie vordringt, um so undurchdringlicher wird das Labyrinth, in dem sie sich befindet, um so tiefer wird der Graben, der sich zwischen Theorie und Wirklichkeit auftut. Und: Je stärker in der sympathetischen Lebenswirklichkeit des Menschen die eigene Wahrheit absolut gesetzt und ideologisch wird und daraus fragwürdige Handlungslegitimationen abgeleitet werden 540 , desto unentwirrbarer gerät der Mensch nach Dürrenmatt in ein Labyrinth verhängnisvoller ethischer Prägung: Menschliches Denken und Handeln münden in die schlimmstmögliche Wendung, Dürrenmatts Bezug zum Existenziellen scheint hier auf, zur lebensweltlichen Katastrophe, die sich in ihren unbeschreiblichen Ausprägungen immer wieder als faktische Folge menschlichen Handelns ergibt. 2.2.9.6 Die Unwirklichkeit der Wirklichkeit Das literarische Gleichnis stellt für Dürrenmatt eine Form des Denkens dar, die anhand einer Modellentwicklung in anschaulicher Weise als Komplement zur abstrakten wissenschaftlichen Epistemologie Erkenntnisse über die 539 In einem Gespräch von 1971 macht Dürrenmatt diesen Zusammenhang als das Verhältnis von Welt und Weltbild deutlich: „ Die Widersprüchlichkeit der Frage liegt darin, daß die Welt, wie sie ist, und die Welt, wie sie sich für den Einzelnen darstellt, zwei verschiedene Begriffe sind. Die Welt, wie sie ist, definieren wir als ‚ Wirklichkeit ‘ , die Welt, wie sie dem Einzelnen erscheint, als dessen Weltbild. Es gibt so viele Weltbilder, wie es Einzelne gibt, aber es gibt nur eine Wirklichkeit. “ (G II 32 f.) 540 Nach Dürrenmatts Auffassung ist die Legitimation von Macht ein zentrales Motiv des Menschen. In einem Gespräch von 1989 sagt er: „ Der größte Drang des Menschen ist, sich zu rechtfertigen. Das ist ein Urdrang, ein Urtrieb, würde ich sogar sagen, so elementar wie der Geschlechtstrieb. “ (G IV 61) 161 lebensweltliche Wirklichkeit liefert. Die erkenntnistheoretische Voraussetzung hierfür liegt für Dürrenmatt in der Überzeugung, dass die Fiktion, die als künstlerisches Experiment angelegt ist, die Wirklichkeit als Erkenntnisding inauguriert, insofern sie eine subjektive Perspektive mit einem objektiven Anspruch vermengt, der eigene Deutungen außen vor lässt. Dass dieses fiktive Gebilde, eine erfundene Konstruktion, überhaupt in der Lage sein kann, als Denkmodell der Wirklichkeit zu fungieren, liegt für Dürrenmatt in der erkenntnistheoretischen Übereinstimmung von Fiktion und Wirklichkeit. Erkenntnis kommt für ihn überhaupt erst durch die Modellierung der Wirklichkeit zustande - dies verbindet Kunst und Wissenschaft. Dürrenmatt konstatiert, dass sowohl Wissenschaft als auch Kunst sich der Fiktion bedienen, um die Wirklichkeit erkennbar zu machen, sie zu begreifen, hinter ihre sinnlich wahrnehmbare Oberfläche zu gelangen, ihre Erscheinungen durchleuchten und erklären zu können - und sich auf diesem Wege der Wahrheit anzunähern. Im „ Monstervortrag “ (1969) führt er dazu aus: [W]ir sollten uns eigentlich fragen, ob denn ein dichterisches Gleichnis etwas beweise, oder ob es bloß demonstriere, was nur mit logischen Mitteln zu beweisen ist; oder endlich, ob das dichterische Gleichnis nicht gar etwas demonstriere, was an sich nicht bewiesen, sondern nur vermutet werden könne. Durch dichterische Leichtfertigkeit. 541 Dass der Autor zu der dritten Variante neigt, steht außer Frage. Die Aussage korrespondiert mit Dürrenmatts kurze Zeit zuvor formulierter Überzeugung, dass ein künstlerisches Experiment nichts beweist. 542 In der nicht-wissenschaftlichen Form des Erkennens definiert sich der bewusste Graben zwischen „‚ Denken ‘ und ‚ So-Sein “ 543 noch entschieden deutlicher als in den Wissenschaften. Beschreibt Dürrenmatt den Wissenschaftler mit den Worten „ [D]ennoch ist diese Welt, die er [der Wissenschaftler] erkennt, nicht die Wirklichkeit, nicht die Wahrheit, sondern die Wirklichkeit und die Wahrheit, insofern er sie durch seine Wahrheit zu erkennen vermag, durch seine Konstruktionen eben “ 544 , so gilt dies in exponierter Weise für die Kunst. Beweise werden nicht geliefert, es sind allenfalls Ahnungen, Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten, die sich innerhalb einer Fiktion entfalten. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch Dürrenmatts Neigung zu Variantenvielfalt und Möglichkeitsspiel erklären: Diese Form des dramaturgischen Denkens erlaubt zahlreiche Verläufe, unterschiedliche Fassungen, fiktionale Modifi- 541 Monstervortrag, WA 33 42 542 Vgl.: Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? , WA 32 133 543 Vinter, WA 29 203 544 Vinter, WA 29 201 f. 162 kationen, die das Spektrum des Möglichen repräsentieren, innerhalb dessen das menschliche Denken angelegt ist. Wenn die Wirklichkeit viele Interpretationen zulässt, ja evoziert, dann kann die Kunst als fingierte Wirklichkeit im Umkehrschluss auch unterschiedliche Gestalt annehmen. Das Phänomen der Fiktionalisierung der Wirklichkeit ist für Dürrenmatt eine Grundvoraussetzung für das menschliche Denken überhaupt und ein wichtiges Prinzip seines poetologischen Konzepts, welches im Theater ebenso sehr ein gedankliches, verdichtetes Konstrukt erblickt, wie die Rezeption der realen Wirklichkeit durch den Menschen stets ein gedankliches Konstrukt darstellt: „ Was die Bühne und die Wirklichkeit wirklich gemeinsam haben, und weshalb jene diese immer wieder auf ihre Bretter zu bringen sucht, liegt in der Unwirklichkeit beider “ 545 , sagt Dürrenmatt im ersten Teil der „ Frist “ (1975/ 76). Ähnliche Gedanken lassen sich an anderen Stellen finden 546 ; stets geht es Dürrenmatt darum, die Kunst als Erkenntnisprozess zu legitimieren, um Kausalitäten menschlichen Handelns und menschlicher Erkenntnis aufzudecken. Im „ Monstervortrag “ (1969) heißt es dazu: „ [D] as dramaturgische Denken sucht nach den tatsächlichen Gründen, die nicht nur im Ökonomischen und Machtpolitischen, sondern auch im Emotionalen liegen. “ 547 Die Wirklichkeit als lebensweltliche Realität ist für Dürrenmatt ein dialektischer Begriff: Einerseits stellt sich die Wirklichkeit in ihrer Totalität als die Summe allen menschlichen Handelns dar, andererseits hat jeder einzelne Mensch seine individuelle Realität, die mit Hilfe des eigenen sinnlichen Apparates und der eigenen Gedankentätigkeit rezipiert wird: „ Nicht der Einzelne verändert die Wirklichkeit, die Wirklichkeit wird von allen verändert. Die Wirklichkeit sind wir alle, und wir sind immer nur Einzelne. “ 548 Angesichts dieses paradoxen Axioms, welches diesseits der Idee einer Wirklichkeit an sich deren individuelle Interpretation und damit verbunden deren Fiktionalisierung als Ergebnis der gedanklichen Verarbeitung setzt, wird Kunst als Darstellung einer Fiktion, die dem Einfall und dem Gebot der Wahrscheinlichkeit folgt, als epistemologisches Mittel erst möglich. Die fingierte Realität erlangt erkenntnistheoretisch denselben Status wie die „ nicht-fingierte “ , „ tatsächliche “ Realität; beide sind für Dürrenmatt gleich- 545 Die Frist, WA 15 11 f. 546 In dem Aufsatz „ Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? “ (1968) etwa heißt es: „ Der Mensch vermag die Wirklichkeit nur zu durchdenken, indem er sie in etwas ‚ Unwirkliches ‘ verwandelt, in Begriffe. Der Mensch vermag nur mit ‚ Gedachtem ‘ zu denken. “ (Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? , WA 32 134) 547 Monstervortrag, WA 33 94 548 Monstervortrag, WA 33 96 163 sam irreal. Es ist erkenntnistheoretisch nicht von Bedeutung, ob das, was sich abspielt, tatsächlich geschieht oder ob es sich um eine künstlerische Fiktion handelt; es ist ausreichend, dass das, was gezeigt wird, sich auch so abspielen könnte, wäre es Realität. Die Ursache für die Unwirklichkeit der Wirklichkeit liegt für Dürrenmatt darin, dass es der Sprache bedarf, um diese zu begreifen - und die Wirklichkeit durch die Sprache, in die sie gehüllt wird, zwangsläufig zur Fiktion wird. Um die Wirklichkeit zu erkennen, ist somit die dargestellte Fiktion mindestens ebenso geeignet, wie die tatsächliche Welt dies ist 549 , hat dieses Prinzip für Dürrenmatt doch im alltäglichen Leben ebenso Gültigkeit wie in der Kunst; es ist dem menschlichen Denken eigentümlich und begründet den Zauber der Kunst, die konkret und dennoch unergründlich ist, wie er in „ Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? “ (1968) ausführt: Doch zwischen den Worten und dem Beschriebenen liegt ein Spielraum, den die Phantasie des Lesers ausfüllt. Dieser Spielraum ist eines der wichtigsten Reservate des Menschlichen. Ihm zuliebe möchte ich die reine Wortkunst als die menschlichste der Künste bezeichnen. 550 Im „ Mitmacher-Komplex “ (1973 - 76) thematisiert Dürrenmatt genau diese künstlerische Ausrichtung, wonach die zentrale Bedingung dafür, dass ein dramatischer Einfall Ausgangspunkt eines künstlerischen Experiments sein kann, im Bewusstsein einer Angleichung der Materialität von Gedanken und der Erfahrung außersubjektiver Wirklichkeit besteht - diese deutet Dürrenmatt in Bezug auf den Ödipus-Mythos, recht eigentlich aber auch auf seinen „ Mitmacher “ (1971) und generell auf seine Art der Kunst an: „ Da beide, die Literatur und die Wirklichkeit hypothetisch sind, ist auch das Experiment möglich, als Experiment in vitro, im Glase gleichsam (nicht in vivo, im Leben, wie es in der Biologie schon möglich ist). “ 551 Diesen Gedanken führt Dürremmatt in einem Gespräch von 1971 anhand der Figuren Wallenstein und Hamlet näher aus: Nur die Vergangenheit wird zum Bilde. Darum ist Wallenstein ein Bild geworden - um beim Dreißigjährigen Krieg zu bleiben. Ein Bild kann interpretiert werden, und so wird es denn immer wieder interpretiert, es ist im Grunde gleichgültig, ob Wallenstein gelebt hat oder ob er erfunden worden ist, denn es ist auch gleich- 549 In „ Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? “ beschreibt Dürrenmatt dies folgendermaßen: „ Aber diese zusammengeflunkerten Geschichten, so erstunken und erlogen sie sind, wirken oft mächtiger als manche Wirklichkeit. Sie machen die Wirklichkeit durchschaubar. “ (Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? , WA 32 131) 550 Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? , WA 32 133 f. 551 Nachwort zum Nachwort, WA 14 314 164 gültig, ob ich eine Figur, die lebte, oder ob ich eine erfundene Figur interpretiere: Hamlet ist genauso wesentlich wie Wallenstein, auch Hamlet ist ein Bild, ein wesentliches Bild. 552 Im Rückschluss auf die Konstruktion eines künstlerischen Bildes als Reaktion auf gewonnene Erfahrungen bedeutet dies für Dürrenmatt zweierlei: Erstens ist die konkrete Ausführung eines Denkaktes - auch die künstlerische Bildgebung - nur als eine Konstruktion des Möglichen zu bewerkstelligen. Zweitens ist die künstlerische Fiktion, vor allem im Theater, wo nach Dürrenmatt die „ lebendige Gegenwart sei “ 553 , wie es in dem Vortrag „ Das Theater als moralische Anstalt heute “ (1986) heißt, in ähnlicher Weise objektiv gegeben wie die tatsächliche Welt, die für Dürrenmatt im Grunde nur als Idee besteht, da sie, sobald sie geschieht, im Menschen unwillkürlich Phasen der Fiktionalisierung durchläuft. In dem Essay „ Gibt es die Süddeutsche Zeitung oder gibt es sie nicht? “ (1985) sagt Dürrenmatt, dass es die Gegenwart „ streng genommen nicht gibt, weil sie schon Vergangenheit ist, wenn sie registriert wird “ 554 . Bereits dieser Vorgang der Registrierung kann Irrtümern und Täuschungen unterliegen, da unmittelbar die Erinnerung einsetzt, unter deren Einfluss die klaren Konturen diffundieren. Die zweite Phase ist die der Literarisierung eines Erlebnisses, wie Dürrenmatt im „ Mitmacher-Komplex “ ausführt. In ihr findet eine Verfälschung und damit die vollkommene Fiktionalisierung statt. Das Erlebte wird zu Sprache und damit zu etwas Abstraktem. 555 Vor diesem Hintergrund löst sich der Unterschied etwa zwischen einer tatsächlichen und einer erfundenen Geschichte gleichsam auf. Die Wirklichkeit, die unmittelbar erlebt wird, ist Fiktion, ebenso wie die künstlich konstruierte. Ein Gedanke, der diesen Themenkomplex verdeutlicht, taucht am Ende des Vortrags „ Albert Einstein “ auf, in dem Dürrenmatt in Anlehnung an Hermann Weyl die „ Doppelnatur des Wirklichen “ anspricht, der zufolge „ wir ein theoretisches Bild des Seienden nur entwerfen können auf dem Hintergrund des Möglichen “ 556 . Wenn die Fiktion die unbedingte Voraussetzung für das menschliche Denken ist, dann kann auch die bewusste Fiktion als Kunst dessen Gegenstand sein und Erkenntnisse liefern. Eine solche Deutung liegt nahe, wenn Dürrenmatt am Ende des Romans „ Justiz “ (1985) die fiktionale Wirklichkeit des Romans erkenntnistheoretisch mit der tatsächlichen Wirk- 552 G II 35 553 Das Theater als moralische Anstalt heute, WA 36 101 554 Gibt es die ‚ Süddeutsche Zeitung ‘ oder gibt es sie nicht? , WA 36 112 555 Vgl.: Nachwort zum Nachwort, WA 14 314 556 Albert Einstein, WA 33 172 165 lichkeit gleichsetzt, insofern der Mensch die Kunst als etwas Gegebenes ebenso anzusehen vermag wie die Realität selbst: So sind auch sie [die Figuren des Romans] ein Teil unser aller Wirklichkeit geworden und damit einer der Möglichkeiten, deren eine wir die Weltgeschichte nennen, auch sie eingepuppt vom Kokon unserer Fiktionen. Doch ist die Geschichte, die nur in meiner Phantasie wirklich wurde und die nun, geschrieben, von mir weicht, sinnloser als die Weltgeschichte, weniger erdbebensicher als der Boden, auf dem wir unsere Städte bauen? 557 Als epistemologisches Medium erhält das Kunstwerk Modellcharakter, indem es sich als unflüchtig erweist und dennoch die Magie des Ätherischen besitzt. Ohne die Fiktionalisierung kommt die Erkenntnis nicht aus. Der Anspruch, die Wirklichkeit mit etwas Künstlichem darzustellen, kann nur erfüllt werden, wenn ein Experiment gewagt wird: die erlebte Wirklichkeit in eine künstlerische zu verwandeln und diese dem Rezipienten vorzustellen, der sie wiederum auf seine eigene erlebte und fiktionalisierte Wirklichkeit beziehen, aus ihr lernen und durch sie womöglich zur bewussten Veränderung seiner Handlungen kommen kann. Die künstlerische Wirklichkeit wird als Wahr-Scheinlichkeit dem vermeintlich wahren Schein bzw. dem scheinbar Wahren der Realität entgegengestellt. Das, „ was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich unwahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen würde “ 558 , ist das Kredo dieser experimentellen Dramaturgie, die nicht darstellt, was ist, sondern nur was sein könnte, nicht was geschieht, sondern was geschehen könnte, wenn etwas Bestimmtes eintritt. Die Wirklichkeit stellt sich für den Menschen ähnlich dar: Ist er doch unablässig damit beschäftigt, die Welt zu registrieren, zu durchdenken, zu begreifen und für sich Kausalitäten zu erahnen. Objektive Erkenntnisse lassen sich hier, abseits einer streng systematischen Wissenschaft, nicht ermitteln, wohl aber Vermutungen darüber, was sich hinter der einen oder anderen Erscheinung des Menschlichen verbergen könnte: Der Sinn meines Satzes [. . .] ist wohl der, daß ich mir nicht zutraue, mit einem Theaterstück die Wirklichkeit wiedergeben zu können; dazu halte ich die Wirklichkeit für zu gewaltig, für zu anstößig, für zu grausam und zu dubios und vor allem für viel zu undurchsichtig. Ich stelle mit einem Theaterstück nicht die Wirklichkeit dar, sondern für den Zuschauer eine Wirklichkeit auf. [. . .] Das Ziel jedes Theaterstücks ist es, mit der Welt zu spielen. Theater ist also, für meine Überzeugung, nicht Wirklichkeit, sondern ein Spiel mit der Wirklichkeit, deren Verwandlung in Theater. Ich glaube, daß Wirklichkeit an sich nie erkennbar ist, sondern nur ihre Metamorphosen. 559 557 Justiz, WA 25 230 558 Sätze über das Theater, WA 30 207 559 G I 115 f. 166 Die Wirklichkeit indes metamorphosiert, sobald sie aufgenommen wird, gerinnt zur Fiktion, sobald sie rezipiert wird. Insofern hat die künstlerische Fiktion als etwas aus dem Welt-Empfinden Hervorgegangenes und in ein Gegenbild Hineinversetztes denselben erkenntnistheoretischen Wert wie etwas, was sich tatsächlich abspielt, insofern es deutbar wird. Die Wirklichkeit ist für Dürrenmatt demnach stets vage, wenn es um ihre Erkenntnis geht. Die Behauptung, eine Darstellung entspreche der Wirklichkeit, sei also wahr, ist ihm grundsätzlich suspekt. Nur das Modell kann sich der Wirklichkeit annähern, da ihm keine eigene Deutung immanent sein muss. Insofern funktioniert Kunst wie die Wirklichkeit selbst. Wirklichkeit und Möglichkeit gehen in der Wahrscheinlichkeit ineinander über. In Ansehung letzterer als erkenntnistheoretischer Größe erhält der Begriff des Nachdenkens über die möglichen Ursachen eines menschlichen Verhaltens in der Realität oder als hypothetische und rezipierbare Annahme in der Kunst eine ebenbürtige Bedeutung. Wenn Dürrenmatt im „ Monstervortrag “ den Begriff des Gedankenexperiments ins Spiel bringt 560 , von dem seine Kunst bestimmt ist, und in den Zusammenhang mit dem nur Ahn- oder Vermutbaren setzt, dann geschieht das auch vor dem Hintergrund der Rolle, die das Gedankenexperiment in Naturwissenschaft und Kulturgeschichte innehat: Dürrenmatt nutzt den Begriff zur Beschreibung seiner Kunst - und unterstreicht mit ihm ein weiteres Mal deren heuristischen Charakter. 2.2.9.7 Von Vaihingers „ Als-Ob “ zu Wittgensteins „ Wie . . .wenn “ - Die künstlerische Fiktion als Gedankenexperiment Die eigene Kunst anhand von Vaihingers „ Philosophie des Als-Ob “ zu erklären, sie erkenntnistheoretisch neben die wissenschaftlichen Fiktion zu stellen und ihr somit den Status einer Leiter zu verleihen, metaphorisch also mit ihrer Hilfe über sie selbst hinauszusteigen, wie Dürrenmatt in Anlehnung an Wittgenstein erkärt 561 , verdeutlicht das Maß, in dem der Autor sein schriftstellerisches Schaffen als ein den Wissenschaften ebenbürtiges gestaltetes induktives Verfahren zur Erkenntnisgewinnung versteht. Nichtsdestoweniger: Vaihingers Fiktionsbegriff allein - so will es scheinen - reicht nicht aus, um Dürrenmatts Poetik des Experiments erschöpfend herzuleiten: Jedwede künstlerische Phantasiewelt könnte in diesem Sinne als fiktional deklariert und vom Rezipienten adäquat in Bezug zur eigenen Realität 560 Vgl.: Monstervortrag, WA 33 91 561 Vgl.: Vinter, WA 29 193 167 gesetzt, also erkenntnistheoretisch gedeutet und zur Einsicht 562 genutzt werden. 563 Was also ist das Besondere an Dürrenmatts Dramaturgie? Dem „ Als-Ob “ Vaihingers, dessen Relevanz primär sich im Kunstwerk als fertig aufgestellter Fiktion und deren rezeptionsästhetischer Dimension entfaltet, muss ein Blick auf die Eigentümlichkeit des dramaturgischen Denkens Dürrenmatts auch hinsichtlich der inneren Anlage der Werke, des künstlerischen Vorgehens, zur Seite gestellt werden. Es stellt sich die Frage, wie sich die Stücke inhaltlich konstituieren, wie Dürrenmatt zu seinen Hypothesen über die menschliche Verhaltensweisen kommt. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff des Gedankenexperiments eine entscheidende Rolle - erstens in allgemeiner Hinsicht, Kunst als Versuch anzusehen, die Wirklichkeit in immer neuen mehrdeutigen Gleichnissen erkennbar zu machen, zweitens die Werke als Versuchsanordnungen aufzubauen, Situationen zu konstruieren und deren wahrscheinliche Auswirkungen zu antizipieren. Dieses Prinzip beherrscht die Dürrenmattsche Kunst. Der Autor geht schriftstellerisch ebenso vor wie die Figur des Kohler in seinem Roman „ Justiz “ , der dem Rechtsanwalt Spät folgenden Auftrag gibt: „‚ Sie sollen meinen Fall unter der Annahme neu untersuchen, ich sei nicht der Mörder gewesen. ‘ [. . .] ‚ Sie haben eine Fiktion aufzustellen, nichts weiter. ‘“ 564 Kohlers Intention ist, „ das Wirkliche umzudenken [. . .], um ins Mögliche vorzustoßen. “ 565 Er gibt vor, „ Material “ 566 zu benötigen, „ sonst bewegt sich mein Denken im Leeren. “ 567 Die Analogien zu Dürrenmatts künstlerischer Arbeit sind augenscheinlich: Auch Dürrenmatt experimentiert, nur mit dem Unterschied zu Kohler, tatsächlich hinter die Wirklichkeit blicken zu wollen und diese Intention nicht nur vorzutäuschen. Dafür stellt auch er Annahmen auf, um die Möglichkeiten, die sich hinter dem menschlichen Tun, ihrer sinnlich 562 In der für die Werkausgabe 1980 geschriebenen Notiz „ Über ‚ Unverbindlichkeit ‘“ verweist Dürrenmatt ausdrücklich auf die Möglichkeit zur Einsicht, die durch Kunst auf Seiten des Rezipienten möglich wird und auf die zu hoffen ist. (Vgl.: Über ‚ Unverbindlichkeit ‘ , WA 9 167) 563 Burkard weist in einem kurzen Absatz auf den „ versuchsartigen, transitorischen Charakter “ der Dürrenmattschen Fiktionen hin, unterscheidet wie Buddecke zwischen „ Resultate[n] abgeschlossener Erkenntnisprozesse “ und „ Mittel[n] der Erkenntnissuche selbst “ , wobei er ebenfalls die zweite Variante als die zur Kunst Dürrenmatts passende identifiziert. Burkard stellt darüber hinaus eine Korrelation her zwischen den Begriffen des Experiments und des Gedankenexperiments sowie einer „ induktive[n] Form des Schreibens “ , ohne diese allerdings näher zu erläutern. (Burkard 2004: S. 256.) 564 Justiz, WA 25 59 565 Ebd. 566 Justiz, WA 25 58 567 Ebd. 168 wahrnehmbaren Oberfläche verbergen könnten, im Modell zu ergründen. ‚ Was wäre, wenn? ‘ wird zur zentralen Frage dieses dramaturgischen Vorgehens. Dem Anspruch seiner Kunst, Modell für die Wirklichkeit zu sein, könnte demzufolge nicht entsprochen werden, wenn etwas bereits vermeintlich als wahr Erkanntes lediglich dargestellt, exemplifiziert oder beschrieben würde. 568 Die Spielhandlung bekäme eine weltanschauliche, dogmatische Tendenz; jede Form der immanenten Deutung wäre wieder nur eigene Interpretation. Die vom Autor weitgehend abstrahierte und doch von ihm geschaffene und daher untrennbar mit ihm verbundene Eigenwelt ist nötig, um das Modell der Wirklichkeit zu konstruieren, „ eine ihrer möglichen Vereinfachungen “ 569 , wie es in „ Justiz “ heißt. Nur durch eine experimentelle Konstruktion können die Möglichkeiten, die sich hinter der Wirklichkeit verbergen, dargestellt werden, durch ein konzis entworfenes Ganzes, welches die Ursachen, die Aktualität und die Folgen eines Konfliktes zusammenführt und auf diese Weise Kausalitäten anschaulich macht. Das Modell gewährleistet für alle Rezipienten eine unmittelbare Objektivität, einen repräsentativen Textkorpus, der Bestand hat, eine konstruierte Realität, die, von allen überflüssigen Attributen befreit, vorgeführt und damit anschaulich wird. 570 568 Dürrenmatt attestiert der „ Dramaturgie von der Aussage her “ (Literatur nicht aus Literatur, WA 30 90) 1962 „ nur eine Demonstrationsfähigkeit. Sie kann propagieren, das ist alles, was sie ihrer Methode verdankt. [. . .] Natürlich vermag die ‚ Dramaturgie von der Aussage her ‘ auch wissenschaftliche Erkenntnisse zu propagieren, das heißt in den Dienst der Wissenschaft zu treten (oder in den Dienst einer anderen Sache), aber ihrer inneren Struktur nach gehört sie mehr dem dogmatischen Zeitalter an, falls wir ein solches postulieren wollen. “ (Literatur nicht aus Literatur, WA 30 92) Auch Buddecke sieht in diesen Formen der Kunst, die ein Weltbild, eine bereits durchgeführte Weltinterpretation exemplarisch vollziehen, Demonstrationsmodelle. (Vgl.: Buddecke 1973: S. 642.) Für Dürrenmatt ist diese Form des Theaters, in dem letztlich weiterhin die dargestellte Möglichkeit als Wirklichkeit oder Abbild der Wirklichkeit gesehen werden soll, aber nicht das Theater für das wissenschaftliche Zeitalter, wie er es im Gegensatz zu Brecht versteht. Er weist den Anspruch dieser deduktiven Kunst, die Dramaturgie des wissenschaftlichen Zeitalters zu sein, vehement zurück. Diese gründet sich für ihn vielmehr wesentlich auf die Induktion, auf die Offenheit des Forschers, mit Hilfe des Experiments, welches bewusst errichtet und durchgeführt wird, zu neuen Erkenntnissen zu kommen. (Vgl.: G I 103) 569 Justiz, WA 25 82 570 Wenn Burkard behauptet, die „ bewusst in ihnen [Dürrenmatts Gleichnissen] angelegte Mehrdeutigkeit “ (Burkard 2004: S. 256.) verweise auf die Komplexität der Wirklichkeit, kann dem zugestimmt werden, insofern Burkard mit dem Begriff der Komplexität der Wirklichkeit auf Dürrenmatts erkenntnisskeptische Überzeugung anspielt, derzufolge die Wirklichkeit sich generell als undurchschaubar darstellt, und der konstatierte Bezug als Interpretation verstanden wird. Es stellt sich lediglich die Frage, ob die Mehrdeutigkeit von Dürrenmatt bewusst in die Gleichnisse hineingelegt wird oder nicht vielmehr 169 Der Begriff des „ Einfalls “ , des „ Einzel “ -Falls, und im Zuge dieser Begrifflichkeit das poetologische Verfahren der Induktion spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Dürrenmatt selbst bringt - im Gegensatz zum „ Kunstwerk als Ganzes “ 571 , welches vom Kritiker zu betrachten ist - die produktionsästhetische Perspektive zur Sprache, wenn er in den „ Bekenntnissen eines Plagiators “ (1952) neben der Unterscheidung von deduktiver und induktiver Konzeption ausführt, welchen explorativen Reiz eine Dramatik hat, die ins Ungewisse vordringt: Nun gibt es zwei Arten des künstlerischen Arbeitens [. . .], die deduktive und die induktive Möglichkeit des Schreibens. Es ist ein Unterschied, ob einer die Arbeit, die er ausführt, schon der Hauptsache nach im Kopf trägt, oder ob er nun ins Blaue hinein schreibt, ein Unterschied, ob der Stoff der Grund oder ob er das Resultat des Schreibens ist. Ich will gleich gestehen, daß ich nicht wußte, wohin ich zielte, als ich den Mississippi zu schreiben unternahm. 572 Auch wenn Dürrenmatt diese Einschätzung bereits 1952 verfasst und ausdrücklich auf „ Die Ehe des Herrn Mississippi “ bezieht, kommt in ihr doch eine Lust am gedanklichen Abenteuer zum Vorschein, die ein fester Urgrund seiner Dramatik bleibt: Ich wagte es, mich meinen Einfällen hinzugeben, denn es ist eine meiner künstlerischen Überzeugungen, daß sich ein Schriftsteller vor allem dann der Welt aussetzt, wenn er es wagt, sich seinen Einfällen auszusetzen: So möchte ich die Art meines Experimentierens im Mississippi verstanden haben. 573 Dürrenmatt setzt sich seinen Einfällen aus; er wählt für seine Kunst die Methode der Induktion - in diesem Verfahren liegt Dürrenmatts Poetik des eine unumgehbare Konsequenz darstellt, die sich aus dem dramaturgischen Vorgehen ergibt, sich ganz einem Stoff hinzugeben, indem ein Konflikt konsequent zu Ende erzählt wird. Da Dürrenmatt immer wieder darauf hinweist, dass er die Welt in seinen Kunstwerken nicht deutet, scheint die zweite Möglichkeit die plausiblere zu sein. Mag das menschliche Verhalten in Dürrenmatts Stücken auch paradox gezeichnet sein, mögen viele Fragen aufgeworfen und keineswegs beantwortet werden, so ist die Mehrdeutigkeit des Gleichnisses primär der Überzeugung geschuldet, dass die Realität, wie sie ist, in einem Kunstwerk schlechterdings nicht dargestellt werden kann; dass ferner der dargestellte Verlauf in seiner Äußerlichkeit nicht als Abbildung der Wirklichkeit zu begreifen ist, und letztlich dort auf die Postulierung eindeutiger Kausalitäten verzichtet werden muss, wo diese höchstens erahnbar sind. Dürrenmatt geht in einem Gespräch von 1981 darauf ein, wobei er die Unmöglichkeit beschreibt, die Welt nicht als mehrdeutig darzustellen: „ Ich glaube, man kann etwas, was man als Geheimnis an sich empfindet, nämlich die Welt und unser Sein in dieser Welt, nicht geheimnislos darstellen. [. . .] Der Versuch, das Geheimnisvolle dogmatisch oder, was für mich das gleiche ist, ideologisch darzustellen, empört mich. “ (G III 18 f.) 571 Bekenntnisse eines Plagiators, WA 3 212 572 Ebd. 573 Ebd. 170 Experiments methodisch begründet. Sie ist der Kern einer künstlerischen Produktion, die nach Dürrenmatt die Eignung aufweist, eine wissenschaftsanaloge Methode „ im wissenschaftlichen Zeitalter “ 574 zu sein. Er geht vom Einzelfall aus und etabliert ihn als hypothetisches Gedankenmodell. Er entscheidet sich damit bewusst gegen das Verfahren der Deduktion, welches im Experiment die Einzelbestätigung für ein Allgemeines erfahren möchte. Hierin spiegelt sich die Überzeugung, dass eine Kunst, will sie Erkenntnisse erst hervorbringen, induktiv vorgehen muss. Dürrenmatt entscheidet sich damit ausdrücklich für eine konzeptuelle gedankliche Offenheit 575 , für die Freiheit von einer bestehenden Theorie und damit für eine Freiheit zu Abenteuer und Überraschung 576 : „ Meine Freiheit als Künstler besteht darin, dass ich mit dieser Welt spielen kann. “ 577 Dürrenmatt denkt in Möglichkeiten. Ihm geht es nicht um die Aufstellung eines vorher durch viele lose Einzelbeobachtungen oder sich aus Einzelexperimenten vermeintlich konstituierenden Naturgesetzes, einer allgemeinen Theorie oder eines Ideologems. Der Weltbilder, „ die an jeder Straßenecke zu haben sind “ 578 , gibt es genügend, ihnen anzuhängen, verschränkt den Blick auf das Wesentliche, das Denken, das Erkennen, das ein subjektives ist, welches aber doch anschaulich gemacht werden kann: [D]as Theater hat immer den Wirklichkeitsbezug im Kern. Das Wichtige liegt nicht in äußeren Dingen, in Spielmöglichkeiten, die das Theater hat, sondern eben im Kern, und da brauchen Sie die Fiktion. Theater hat mit Fiktion sehr viel zu tun. Auf dem Theater entsteht Fingiertes. Sie können Dinge auf dem Theater tun [. . .], die die Wirklichkeit nicht hat. Sie können die Wirklichkeit am Unwirklichen sichtbar machen: Das ist Theater. 579 Dürrenmatt will über das Konkrete zum Erkennen kommen, ihn fesselt das Existenzielle, der zwischenmenschliche Konflikt, der ethische Einzelfall, er ist 574 G I 103 575 Auch Adorno sieht darin, dass künstlerische „ Gebilde Züge enthalten sollen, die im Produktionsprozeß nicht absehbar sind, daß, subjektiv, der Künstler von seinen Gebilden überrascht werde “ (Adorno 2003: S. 63.), eine zentrale Konstituente experimenteller Kunst. 576 Griesecke und Kogge erkennen gerade in dieser gedanklichen Offenheit eine Hauptbedingung des Gedankenexperiments. (Vgl.: Birgit Griesecke und Werner Kogge: Was ist eigentlich ein Gedankenexperiment? Mach, Wittgenstein und der neue Experimentalismus. In: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Marcus Krause u. Nicolas Pethes. Würzburg: Königshausen u. Neumann 2005 (= Studien zur Kulturpoetik Bd. 4). S. 41 - 72. Hier: S. 43.) 577 Zit. nach: Internetseite des Centre Dürrenmatt Neuchâtel: http: / / www.bundesmuseen. ch/ cdn/ 00120/ 00133/ 00489/ index.html? lang=de (18. 07. 2013) 578 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 64 f. 579 G I 228 f. 171 auf das tatsächliche Verhalten der Menschen aus, will eine Ahnung der Strukturen erhalten, die diesem Verhalten zugrunde liegen - und verficht damit ein Erkenntniskonzept, das einer objektiven Erkenntnis generell skeptisch begegnet. Wenn das Subjekt Träger von Wissen ist, dann stellt sich die Postulierung objektiver Erkenntnis generell als problematisch dar. Unter dem Stichwort „ Induktionsproblem “ vertritt Karl Popper die Ansicht, dass aus empirischen Einzelfällen kein allgemeines Gesetz abgeleitet werden könne, sondern wissenschaftliche Erkenntnis immer nur ein Sich-Annähern sei 580 . Vor diesem Hintergrund erscheint für Dürrenmatt jede Auffassung, die Anspruch auf Wahrheit erhebt, als suspekt: „ [J]edes Weltbild, das die Wirklichkeit für erklärt oder doch zumindest für erklärbar und verstehbar hält, jedes Weltbild, [. . .] das für sich mehr als nur hypothetische Gültigkeit beansprucht, gerät für ihn [Dürrenmatt] in Ideologieverdacht “ 581 , konstatiert Kost. Da der Hort der Erkenntnis der Mensch ist, ist das Postulat der Objektivität tatsächlich undenkbar, wenn darunter eine unbedingt gültige Erkenntnis zu verstehen ist. Diese kann es nicht geben, weder in den Wissenschaften - die meisten naturwissenschaftlichen Konzeptionen, etwa die Relativitätstheorie oder die verschiedenen Atommodelle oder die Modelle von komplizierten Riesenmolekülen, sind schöpferische Einfälle, Neuinterpretationen von Beobachtungen, die vorher anders gedeutet worden waren oder nicht erklärt werden konnten 582 , wie Dürrenmatt sagt - noch vor allem in der Kunst, der ja - wenn sie Erkenntnis generieren soll - nicht das tatsächlich durchgeführte Experiment, sondern nur das Experiment in Gedanken zur Verfügung steht. Eine Befragung der Natur ist zur eindeutigen Bestätigung einer These in der Kunst nicht möglich: Erkenntnisse, die durch Kunst „ entstehen “ , können keinen Beweischarakter im naturwissenschaftlichen Sinne haben; sie müssen im Vagen bleiben, im Mehrdeutigen. Doch bilden diese Gedanken für Dürrenmatt 580 Hierzu Dürrenmatt in „ Über Toleranz “ (1977): „ Wenn aber die Wissenschaft ein grandioses Abenteuer des Geistes ist, das nicht auf die Entdeckung absolut sicherer Theorien ausgeht, sondern auf die Erfindung immer besserer Theorien, die immer strengeren Prüfungen unterworfen werden können, wie Karl Popper meint, so sollten wir dieses Abenteuer auch für unsere Institutionen entdecken und es auf sie anwenden, indem wir sie immer gerechter und vernünftiger machen, indem wir in ihnen nicht Zwangssysteme sehen, sondern Kunstwerke, die für den Menschen da sind, nicht der Mensch für sie. “ (Über Toleranz, WA 33 147) 581 Jürgen Kost: Geschichte als Komödie. Zum Zusammenhang von Geschichtsbild und Komödienkonzeption bei Horváth, Frisch, Dürrenmatt, Brecht und Hacks. Würzburg: Königshausen und Neumann 1996 (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft Bd. 182). S. 141. 582 Nachwort, WA 14 158 f. 172 keinen stichhaltigen Grund, der gegen das gedankliche Vordringen eines Künstlers in unbekannte Wissenssphären spräche. Im Gegenteil: In der Rede „ Über Jef Verheyen “ (1982) setzt sich Dürrenmatt in dialektisch-humoristischer Weise mit dem Schlusssatz aus Wittgensteins „ Tractatus “ auseinander und deutet ihn experimentell um: Kehren wir zu Wittgenstein zurück. Seinen berühmten Schlußsatz kann ich auch paradox wiedergeben: ‚ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen ‘ heißt dann: ‚ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man sprechen. ‘ Diese paradoxe Fassung ist mir lieber, zeigt sie doch das Donquijotehafte jeder denkerischen Bemühung auf, deren Kühnheit und deren Grenze. ‚ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen ‘ , ist ein meditativer, ‚ wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man sprechen ‘ ein erkenntniskritischer Satz, der zugleich die Forderung enthält, die Sprache gleichwohl zu wagen. Er ist eine Devise für Schriftsteller: Dem Scheitern der Sprache steht ihre Notwendigkeit gegenüber. 583 Wittgenstein bezweckt mit seinem berühmten Satz wohl auszudrücken, dass die Grenzen der Sprache auch die Grenzen der Welt und ihrer Erkenntnis bedeuten, dass Sprache, will sie sinnvoll sein, sich auf Tatsachen der Welt beziehen müsse und gleichsam Unsinn sei, täte sie dies nicht. Für Dürrenmatt ist die Überschreitung genau dieser Grenze die künstlerische Herausforderung: Er erklärt nicht die Darstellung von bestehendem Wissen zum Ziel der Kunst, sondern das gedankliche Neuland, das Wissen, welches es erst noch zu erobern gilt. Dürrenmatt wird als Künstler zum Pionier, der auf künstlerischem Wege „ Dinge “ ergründet, die sich einer wissenschaftlichen Untersuchung entziehen. Der erste Teil des Satzes 6.52 des „ Tractatus “ lautet: „ Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. “ 584 Dürrenmatt betrachtet, indem er in dialektischer Anlehnung an Wittgensteins „ Tractatus “ die Sprache als Wagnis bezeichnet, die Kunst als Weg, in der Erkenntnis voranzugehen und gerade nicht die Darstellung dessen, wovon man sprechen kann, zu ihrem Zweck zu erklären, sondern etwas anzustreben, was lediglich zu erahnen ist. Er setzt damit eine gedankliche Bewegung in Kraft, die der naturwissenschaftlichen Forschungsmethodik prinzipiell nicht unähnlich ist - nämlich einen Weg zu beschreiten, wissend, wie Rheinberger sagt, „ daß man niemals genau weiß, wohin ein Experimentalsystem führen wird. “ 585 Dieses Wissen, welches mit Hilfe der Kunst generiert wird, liegt abseits der wissenschaftlichen Erkenntnis, es mangelt nicht nur an einem 583 Über Jef Verheyen, WA 36 136 f. 584 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963 (= edition suhrkamp Bd. 12). S. 114. 585 Rheinberger 1992: S. 27. 173 begrifflich klar umrissenen Versuchsaufbau und definierten Variablen, sondern generell an einer wie auch immer gearteten empirischen Anschauung, die etwa im Sinne des Kantschen Experimentalbegriffs eine wissenschaftlich fundierte Befragung der Natur überhaupt zuließe. Wenn die psychologische Forschung zwischen der „ Sammlung von Tatsachenwissen “ und der „ Erforschung von Gesetzmäßigkeiten “ unterscheidet, dann ist es möglich, eine Einschätzung vorzunehmen, welchen dieser Forschungswege Dürrenmatt künstlerisch adaptiert: Das Ziel der Sammlung von Tatsachenwissen ist die reine Beschreibung dessen, was (zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitraum) bei einer bestimmten Person, einer bestimmten Gruppe, etc., der Fall ist. Sie sucht eine Antwort auf Fragen der Art: Was ereignet sich? , Was ist der Fall? , Welche Eigenschaften hat X. Y.? , Haben alle Individuen der Gruppe K die Eigenschaft A? , etc. 586 Dürrenmatts Kunst geht analog über diese Einzelfallbeschreibung kaum, und wenn dann nur als vage Interpretation hinaus. Er hat den Anspruch, eine Hypothese über das menschliche Verhalten in einer bestimmten Situation aufzustellen. Seine Stücke können als Vorhersagen verstanden werden, deren Gesetzmäßigkeit darin besteht, dass es beim Untersuchungsgegenstand „ Mensch “ keine Verhaltensgesetzmäßigkeiten gibt, auf die Verlass wäre - und demzufolge auch keine sicheren Vorhersagen. Dürrenmatts „ Hypotheses fingo “ ist eine begründete Vermutung immanent, ein, wie es in „ Die Brücke “ heißt, „ vernünftiger “ , d. h. begründeter „ Glaube “ 587 , der seine Entscheidungen für eine und gegen andere Möglichkeiten des Geschehnisablaufs lenkt, der aber keinen Ausschließlichkeitscharakter besitzt, sondern sich durch Vagheit auszeichnet - es könnte und kann sich alles auch anders entwickeln. Dürrenmatts Hypothesen haben weder Beweiskraft - noch können sie bewiesen oder falsifiziert werden - alles ist schließlich nur simuliert, in Gedanken entstanden - dennoch wird eine Nähe zum psychologischen Experiment in seiner hier zitierten ersten Form ebenso deutlich wie die dezidierte Abgrenzung zur zweiten Form psychologischen Forschens: Die Erforschung von Gesetzmäßigkeiten hat als Ziel, ein Phänomen in ein (mehr oder weniger komplexes) System von psychologischen Gesetzmäßigkeiten einzubetten. Damit wird es auch möglich, vorherzusagen, was (unter bestimmten Voraussetzungen) geschehen wird. 588 586 Oswald Huber: Das psychologische Experiment: Eine Einführung. Mit achtundvierzig Cartoons aus der Feder des Autors. Bern u. a.: Hans Huber 1987 (= Huber-Psychologie- Forschung). S. 18. 587 Die Brücke, WA 29 107 - 109 588 Huber 1987: S. 18. 174 Es ist gerade die Akzentuierung einer gesetzmäßigen Einbettung psychologischer oder menschlicher Phänomene, gegen die Dürrenmatt sich wehrt. Eine Hypothese kann gewagt werden, eine allgemeine Gesetzgebung lässt sich induktiv nicht ermitteln: Seine Kunstwerke sind hypothetische Modelle, deren jeweiliger Repräsentationscharakter jeweils nur für den vorgeführten Fall Geltung besitzt - es sind Gebilde, die Dürrenmatts Phantasie, seinem Erfahrungsschatz und seinem Denken entspringen - und die genau jene „ Objekte “ und „ Prozesse “ ins Visier nehmen, über die sich nach Wittgensteins Ansicht keine sinnvollen Sätze aussagen lassen und die für Dürrenmatt - wie er im „ Winterkrieg im Tibet “ über den Menschen und die Menschheit ausführt - „‚ an sich ‘ nicht deutbar sind. “ 589 An dieser Grenze, wo das Hoheitsgebiet der Wissenschaften endet, beginnt das Feld der Kunst, auf dem sich für Dürrenmatt ein Weg durch das Gestrüpp an unzähligen Weltbildern hindurch zu einem klaren Denken ebnet. 1981 führt er hierzu aus: Ich glaube, der einzige Weg, wieder an den Ursprung des Denkens zu gelangen, ist [. . .] dieser Dilettantismus. In dieser Zeit, in der alles schon längst einmal gedacht ist, kann ich ja nur einsetzen, wenn ich all das nicht mehr zur Kenntnis nehme. Man ist sonst zerschlagen. Ich muß Platz machen für neue Konzeptionen, für neue Ahnungen. Der Mensch kommt nicht allein dadurch weiter, daß er etwas weiß, sondern auch dadurch, daß er etwas ahnt [. . .], daß er die Phantasie hat zu ahnen, was geschehen könnte. 590 Dürrenmatt tut nach eigener Aussage - „ Ich warf die Leiter weg. “ 591 - genau das, was Wittgenstein von seinem ihn verstehenden Leser am Ende des „ Tractatus “ erwartet: Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. 592 Dürrenmatt interpretiert Wittgensteins Abhandlung damit als eine Fiktion im Vaihingerschen Sinn 593 , als einen „ Durchgangspunkt “ 594 im Denken, als kontrafaktische Annahme, deren Zweck darin besteht, Basis eines Weiterdenkens zu sein. Er stimmt zwar darin überein, dass sich über die menschliche Natur oder ethische Fragen keine Erkenntnisse mit Beweiskraft aussagen lassen - doch statt Wittgensteins Schlussfolgerung zu folgen - nämlich 589 Der Winterkrieg in Tibet, WA 28 59 590 G III 66 591 Vinter, WA 29 193 592 Wittgenstein 1963: S. 115. 593 Vgl.: Vinter, WA 29 193 594 Vaihinger 1922: S. 176. 175 zu schweigen - wählt er den Weg der Kunst, mit der sich für ihn imaginäre Felder der Erkenntnis öffnen. Die Frage, die sich Dürrenmatt immer wieder stellt, ist, „ was geschehen könnte “ 595 ; die Antworten darauf, die Ergebnisse dieser Experimente sind seine Stücke selbst, die - und dann haben sie wohl ihre epistemologische Bestimmung im Dürrenmattschen Sinne erreicht - im besten Fall ihren Status als Urbilder menschlichen Seins begründen. Um ein Verständnis der Analogie zu erlangen, die Dürrenmatt zwischen der Methode des Gedankenexperiments und seiner Kunst herstellt, soll ein kurzer Blick auf die Beiträge zweier Denker gelenkt werden, welche - neben dem dänischen Physiker und Chemiker Hans Christian Orsted (1777 - 1851), in dessen Schriften der Begriff des Gedankenexperiments zum ersten Mal auftaucht, wobei er sich vor allem mit Kants Begriff des „ Experiments der reinen Vernunft “ auseinandersetzt 596 - den weitläufigen interdisziplinären Diskurs zum Thema begründet haben: Ernst Mach und Ludwig Wittgenstein. Mach sieht in dem Aufsatz „ Über Gedankenexperimente “ von 1897, den er in sein Werk „ Erkenntnis und Irrtum “ (1905) aufnimmt, und worin er das Gedankenexperiment dem herkömmlichen „ physischen Experiment “ als eine „ kostengünstigere “ Methode zur Seite stellt, dieses zwar nicht als Ersatz, aber als einen Zusatz im wissenschaftlichen Verfahrenskatalog: Außer dem physischen Experiment gibt es noch ein anderes, welches auf höherer intellektueller Stufe in ausgedehntem Maße geübt wird - das Gedankenexperiment. Der Projektenmacher, der Erbauer von Luftschlössern, der Romanschreiber, der Dichter sozialer und technischer Utopien experimentiert in Gedanken. Aber auch der solide Kaufmann, der ernste Erfinder oder Forscher tut dasselbe. Alle stellen sich Umstände vor, und knüpfen an diese Vorstellung die Erwartung, Vermutung gewisser Folgen; sie machen eine Gedankenerfahrung. 597 Wittgenstein definiert das Gedankenexperiment in ähnlicher Weise. Bezugnehmend auf Mach, stellt er die Vorstellungskraft ins Zentrum dieses Versuchs in Gedanken: Aber wie ist es: haben wir nun hier ein ‚ Gedankenexperiment ‘ gemacht? - Wie wissen wir denn, daß es sich so verhält, bloß dadurch, daß wir es uns vorstellen? Was ist das für eine seltsame Weise, festzustellen, wie sich eine Sache verhält? - Oder ist es so, geht es, weil diese Vorgänge in mir stattfinden & ich also nur in mich hineinzusehen habe? - Von ‚ innen ‘ & ‚ außen ‘ wollen wir später reden, - aber jedenfalls, sollte man meinen, die Sache müßte eben jetzt in mir vorgehen, wenn ich 595 G III 66 596 Vgl. hierzu: Kühne 2005: S. 105 - 130. 597 Ernst Mach: Über Gedankenexperimente. In: Ders.: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Unveränd. reprograf. Nachdruck d. 5., mit der 4. übereinstimmenden Aufl. Leipzig 1926. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980. S. 183 - 200. Hier: S. 186. 176 sie jetzt in mir sehen soll. Auch habe ich mich nicht an den Fall erinnert, denn er ist mir nie geschehen. 598 Nun kann man ja wirklich ein Experiment machen, dadurch, daß man sich etwas vorstellt. Nicht ein Experiment in der Vorstellung, d. i., das bloße Vorstellungsbild eines Experiments. (Ein Laboratorium kann man nicht dadurch überflüssig machen, daß man sich Apparate & Versuche einfach vorstellt.) Wenn mich z. B. jemand fragt, ‚ Wie begrüßt Du den N., wie gehst Du auf ihn zu? ‘ , so kann ich, um antworten zu können, mir vorstellen N trete herein & ich mache etwa dabei die Bewegung des Begrüßens. Und dies ist ein Versuch. Er mag mich täuschen, & was wirklich in so einem Fall geschieht mag etwas anderes sein; aber die Erfahrung lehrt vielleicht daß wirklich meist das geschieht, was so ein Versuch zeigt. Hätte also die Frage gelautet, ‚ Lächelt ein Mensch in so einem Fall? ‘ , so hätte ich allerdings den Versuch mit der Vorstellung durch Vorstellen/ / durch ein Vorstellen/ / machen können. - Weiß ich aber nun, daß man lächelt, oder nur, daß ich lächle? Und wenn das erstere, ist dann das Vorstellen nicht ein Erinnern? Jedenfalls nicht notwendigerweise ‚ das Erinnern an bestimmte Fälle ‘ . 599 Dürrenmatt lässt Leser und Zuschauer an den Kunst gewordenen Protokollen seiner Gedankenexperimente teilhaben. Dass der Autor seine Geschichten, wie er selbst sagt, als „ Gleichnisse oder literarische Experimente “ 600 versteht, deutet daraufhin, dass er in ihnen auch das Produkt einer bestimmten experimentellen Entstehungsmethodik sieht. Mit Hilfe der Vorstellungskraft versetzt er sich in die Lage, situative Versuchskonstellationen als kontrafaktische Annahmen zu simulieren, sie „ durchzuspielen “ 601 und dem Kunstwerk somit den Nimbus eines Gedankenexperimentes im Sinne Machs und Wittgensteins zu geben. Der Schöpfer dieses Prozesses gleicht einem Zeremonienmeister, der mit seinen Figuren seine Spielchen treibt und sie „ handeln lässt “ : Er ist Initiator, Gestalter, Beweger und Beobachter in einer Person - für Dürrenmatt Anlass zu der Erkenntnis: „ Wenn man schreibt, ist man immer der große Alte. “ 602 Peter Rusterholz bewegt dieses Zitat Dürren- 598 Ludwig Wittgenstein: Nachlass des Wittgenstein Archivs. Universität Bergen. Ms-115, 226 [3] Normalized transcription (zu den Philosophischen Untersuchungen). Im Internet zu finden unter: http: / / www.wittgensteinsource.org/ (18. 02. 2013). 599 Ebd., Ms-115, 226 [4] et 227 [1]. 600 G IV 83. Dürrenmatt weist häufiger auf die Gleichnishaftigkeit seiner Werke hin. In einem Gespräch von 1990 setzt er das Gleichnis explizit mit dem literarischen Experiment gleich: „ Meine Geschichten sind alle Gleichnisse oder literarische Experimente. “ (G IV 83) Die Konjunktion „ oder “ wird hier so verstanden, dass Dürrenmatt auf eine definitorische Identität der beiden Prädikatsnominative hinauswill, und sie nicht im Sinne eines „ entweder. . . oder “ oder eines „ und “ miteinander verbindet. 601 „ Ich denke die Welt durch, indem ich sie durchspiele. “ (Monstervortrag, WA 33 91) Dürrenmatt macht hier deutlich, dass das „ Spiel “ als Erkenntnismethode auch in dem Aufstellen fiktiver Wirklichkeiten liegt. „ Das Ziel jedes Theaterstückes ist es, mit der Welt zu spielen. “ (G I 115) „ Die große Kunst bleibt für mich das Spiel, die Herstellung einer Realität “ . (G I 112) 602 G IV 171 177 matts in Verbindung mit der Tatsache, dass dieser seine Stücke immer wieder neu durchdacht, korrigiert und umgeschrieben habe, zu der Schlussfolgerung, Dürrenmatt schwanke [. . .] zwischen dem auktorialen Selbstbewusstsein, Herr und Schöpfer der Texte, der große Alte zu sein und zu einem endgültigen Text zu kommen, und der Obsession [. . .], die ihn zum Turmbau, zum Bedürfnis, die Texte in nicht abschließbarer Weise zu vervollkommnen, trieb 603 . Angesichts der Arbeitsweise Dürrenmatts, der sich zu den „ Gedankenschlossern und -konstrukteuren [zählte], die Mühe haben, mit ihren Einfällen fertig zu werden “ 604 , erscheinen beide Positionen allerdings nur bedingt disparat. Die Rolle des großen Alten ist in Dürrenmatts Augen nicht primär mit dem Wunsch verbunden, ein Werk druckreif zu vollenden 605 , sondern ergibt sich eher aus seinem Selbstverständnis als künstlerischer Experimentator, der als Weltenschöpfer 606 Versuchsanordnungen entwirft, Charaktere schafft und Konflikte durchspielt. 607 Charlotte Kerr beschreibt in ihrem Buch „ Die Frau mit dem roten Mantel “ , welche Auswirkungen bei Dürrenmatt die Änderung einer einzigen Szene, also z. B. die Modifikation des Verhaltens einer Figur, auf das gesamte Stück haben konnte: 603 Peter Rusterholz: Werkgenese - Auflösung oder Illumination der Texte? In: Die Verwandlung der ‚ Stoffe ‘ als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Hrsg. v. Peter Rusterholz u. Irmgard Wirtz. Berlin: Erich Schmidt 2000. S. 13 - 22. Hier S. 14. 604 Der Winterkrieg in Tibet, WA 28 14 605 Bei diesem Wunsch handelt es sich wohl eher um eine Notwendigkeit, die erfüllt sein sollte, bevor ein Werk veröffentlicht oder aufgeführt wird. So jedenfalls lassen sich die Äußerungen Dürrenmatts in „ Labyrinth. Stoffe I-III “ deuten: „ Und so beginne ich immer wieder von vorne, korrigiere das schon Geschriebene durch, schreibe es um. [. . .] Was ich ändere, entspricht einer neuen Zeitwelle, lese ich das zur Schrift Erstarrte wieder, möchte ich es auch schon geändert haben, nichts Schwierigeres, als Geschriebenes zu akzeptieren, darum der Widerwille gegen das Korrigieren, das mich zwingt, immer wieder zu korrigieren, immer noch einmal, immer wieder das letzte Mal. “ (Der Winterkrieg in Tibet, WA 28 36 f.) 606 „ Es geht um den Versuch, die Welt in den Griff zu bekommen. Das ist ein schöpferischer Akt “ . (G III 144) 607 Dass es Dürrenmatt bei dem Begriff des „ großen Alten “ vor allem um einen Schöpfer geht, der mit Menschen experimentiert (und nicht primär darum, ein Werk druckreif abzuschließen), illustriert er in einem Gespräch von 1987 symbolisch anhand einer kleinen Anekdote: „ [I]ch habe einmal ein Stück entworfen. Da kommt der Teufel zu Gott. Mit einer Aktentasche. Und Gott fragt ihn: Wo kommst du denn her? Von der Erde, sagt der Teufel. Wo ist denn das, fragt Gott. Na, wo die Menschen leben, antwortet der Teufel. Was sollen das sein, Menschen? fragt Gott. Der Teufel zieht aus der Aktentasche eine Frau und einen Mann. Ach ja, sagt Gott, ich erinnere mich: Da war doch mal so ein Versuch . . . “ (G III 263) 178 FD und Maximilian [Schell] arbeiten an der neunten Drehbuchfassung von MIDAS [. . .] Dürrenmatt hat einen souveränen, intellektuellen Großindustriellen aus Midas gemacht, Maximilian will etwas Herz [. . .]: ‚ Weißt du, die Liebesszene stell ich mir anders vor, einmal muss der Green [. . .] wirklich Gefühle zeigen, er liebt dieses Mädchen [. . .]. ‘ Maximilian spielt Dürrenmatt die Szene vor. [. . .] Dürrenmatt schaut ihm aufmerksam zu, zieht sich knurrend zurück. Schreibt ein neues Drehbuch, Nummer zehn. ‚ Aber ich wollte kein neues Drehbuch, ich wollte nur, daß du diese Szene änderst. ‘ Maximilian ist verzweifelt. ‚ Das kann ich nicht. ‘ 608 Die hier skizzierte besondere Dürrenmattsche Arbeitsweise macht zweierlei deutlich: Zum einen liefert sie eine schlüssige Erklärung dafür, dass die Bearbeitung einer Variablen innerhalb einer fiktiven Anordnung zu einem veränderten Gesamtergebnis führen kann, zum anderen hebt sie den Grad an Experimentalität hervor: Die Eigenart, ein Stück wieder und wieder zu durchdenken, und die daraus resultierende große Anzahl unterschiedlicher (zum Teil intermedialer) Fassungen 609 seiner Werke enthüllen das Verhältnis des Künstlers zu seinen Stücken. Von seinen Werken trennt ihn die Distanz, die auch zwischen einem Wissenschaftler und seinen Gegenständen liegt. Es ist eine Denktechnik, die Dürrenmatt mit Hilfe seiner künstlerischen Versuchsanordnungen vollzieht. Dabei wird er als Künstler zum Katalysator seiner Figuren, durch ihn werden sie sichtbar, er ist ihr Schöpfer, gleichzeitig ist er ihnen aber auch verpflichtet: „ Wenn ich ein Stück schreibe, identifiziere ich mich mit den verschiedensten Rollen “ 610 , sagt er 1985 und signalisiert damit eben das Verhältnis der Distanz, welches er zu seinen Figuren hat: Sie sind nicht als Nachahmungen menschlicher Wesen realistischen Zuschnitts angelegt, sondern Prototypen, Träger bestimmter Rollen, Personifikationen von Weltbildern, Repräsentanten unterschiedlicher Diskursparteien, figurative Erscheinungen bestimmter phänomenologischer Ausstattungen, Endtypen. Diese lässt Dürrenmatt exemplarisch in systemischen Anordnungen agieren; die Ausprägung bestimmter Eigenschaften, für die eine Figur steht, dient dazu, ihre Funktion innerhalb der Versuchsanordnung zu konkretisieren und dem Konflikt, der mit Hilfe der Figuren dargestellt wird, Kontur zu verleihen. 608 Charlotte Kerr: Die Frau im roten Mantel. München, Zürich: Pieper 1992. S. 10 f. 609 In dem autobiographischen Text „ Vom Anfang her “ (1957) setzt Dürrenmatt den Begriff des Experiments mit der künstlerischen Arbeit in unterschiedlichen Medien in Zusammenhang: „ [S]o ist mir heute die Schriftstellerei ein Beschäftigen und Experimentieren mit verschiedenen Materien geworden. Ich schlage mich mit Theater, Rundfunk, Romanen und Fernsehen herum “ (Vom Anfang her, WA 32 12). 610 G III 211 179 Dass sein Verhältnis zu seinen Geschöpfen eher ein funktionell-kühles denn ein empathisches ist, macht Dürrenmatt mit einem Vergleich zwischen sich und Heinrich von Kleist deutlich 611 : Dabei identifiziere ich mich nicht so wie zum Beispiel Kleist, der von seiner Penthesilea sagt, daß er sogar geweint habe über sie. Ich bin ja der Schöpfer der Dinge, Gestalten, Schicksale. Warum soll ich noch darüber schluchzen? Schluchzt Gott? 612 Doch Dürrenmatt sieht in seinen Werken nicht die klare Umsetzung eines vorgefertigten dramaturgischen Konzepts oder eines bestimmten Stils. 613 Zur künstlerischen Methodologie des Experiments zählt auch, sich ganz dem Stoff anheimzugeben und sich von dem Verlauf des Experiments, also der Entwicklung der Geschichte überraschen zu lassen. 614 Dass diese Herangehensweise als produktionsästhetische Kategorie beim Schöpfer selbst mitunter Erstaunen über die erzielten sowohl inhaltlichen als auch formalen Resultate hervorruft, deutet den Anspruch an, den er an sich als Experimentator und an seine Kunst als durchgeführte künstlerische Experimente stellt, sie nämlich als fiktionale Gegenwelten und mehrdeutige Gleichnisse zu verstehen, in denen das Handeln der Personen nicht von Tendenzen subjektiver Überzeugungen des Autors motiviert ist, sondern deren Verlauf das Ergebnis eines Denkprozesses ist, in dem eine vorausgesetzte Multi-Optionalität als Konsequenz logischer und erkenntnistheoretischer Erwägungen die Maßgabe für das Verhalten der Figuren darstellt: Sie [die Dramaturgie vom Stoffe her] ist auch die Dramaturgie jener Dramatiker, die im Stoff selbst den objektiven Gegenstand der Dramatik erblicken, den sie in ein Symbol der Wirklichkeit verwandeln [. . .], in ein Gleichnis, das seinem Wesen nach nicht eindeutig, sondern mehrdeutig ist [. . .]. 615 611 Scheinbar abweichend davon sagt Dürrenmatt 1971 in einem Gespräch: „ Ich kann weder einen guten noch einen schlechten Menschen ‚ darstellen ‘ , wenn ich ihn nicht liebe. “ (G II 40) Diese Liebe assoziiert er aber vor allem mit der Lust am Komödiantischen, die für ihn auch im Galgenhumor besteht, „ ein freiwilliger Verzicht auf eine endgültige Weltkonzeption, ein geistiger Abwehrreflex gegen absolute Thesen, eine lebensnotwendige Dialektik “ (G II 39). Die Figuren stellen demzufolge eher in funktionaler Hinsicht Objekte der Liebe dar. 612 G III 212 f. 613 Vgl.: Aspekte des dramaturgischen Denkens, WA 30 117 f. Dürrenmatt erläutert hier verschiedene dramaturgische Konzepte und grenzt seine dem Stoff verpflichtete Dramaturgie gegen die „ Dramaturgie vom Zwecke her “ und gegen die „ Dramaturgie vom Einzelnen her “ ab (Aspekte des dramaturgischen Denkens, WA 30 104 - 120). 614 „ Ich weiß auch vorher viele Figuren nicht. Sie entwickeln sich beim Schreiben aus der Geschichte. Manchmal bin ich selber baff. “ (G III 212) 615 Aspekte des dramaturgischen Denkens, WA 30 119 180 Der Stoff wird in ein Gleichnis verwandelt - und zwar mit Hilfe der experimentellen Methode, dem Durchspielen eines Konfliktes. Die Schilderung dessen, „ was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich unwahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen würde “ 616 , entspringt zwar dem Geist des Autors, erhält aber eine besondere Aura der Objektivität, die seiner Perspektive und seiner Funktion innerhalb des künstlerischen Vorgangs verpflichtet ist und das Verhältnis zu seinen Figuren bestimmt, eines der intellektuellen Identifikation. Seinen „ Mississippi “ (1949/ 50) bezeichnet Dürrenmatt ausdrücklich als ein „ künstlerisches Experiment “ 617 , aus dem drei fanatische Ideologen, indem sie an sich selbst und der Welt scheitern, als Verlierer hervorgehen; einzig der Opportunist Diego weiß den politischen Wandel für sich und seine Karriere zu nutzen. Anhand dieses Stücks lässt sich exemplarisch der experimentelle Gehalt der Dürrenmattschen Kunst und das funktionale Verhältnis zwischen Autor und Personal erkennen. Nicht allein, dass das gesamte Stück durch die vor die non-lineare Handlung tretenden und diese erläuternden Figuren wie eine Art moderner Dokufiction erscheint, auch lässt Dürrenmatt seinen Grafen Übelohe-Zabernsee über die poetologischen Ideen seines Autors räsonieren und das Experiment erklären: Doch ist hier, an diesem so kritischen Punkt der Handlung, in die Sie, meine Damen und Herren, als Zuschauer und wir auf der Bühne durch einen heimtückischen Autor hineingelistet worden sind - die Frage aufzuwerfen, wie der Verfasser denn an diesem allem teilnahm, ob er sich planlos von Einfall zu Einfall treiben ließ, oder ob ein geheimer Plan ihn leitete. Oh, ich will es ihm glauben, daß er mich nicht leichtfertig schuf, irgendeiner zufälligen Liebesstunde verfallen, sondern daß es ihm darum ging, zu untersuchen, was sich beim Zusammenprall bestimmter Ideen mit Menschen ereignet, die diese Ideen wirklich ernst nehmen und mit kühner Energie, mit rasender Tollheit und mit einer unerschöpflichen Gier nach Vollkommenheit zu verwirklichen trachten, ich will ihm das glauben. Und auch dies, daß es dem neugierigen Autor auf die Frage ankam, ob der Geist - in irgendeiner Form - imstande sei, eine Welt zu ändern, die nur existiert, die keine Idee besitzt, ob die Welt als Stoff unverbesserlich sei; einem Verdacht nachzuspüren, der ihm in einer verlorenen Nacht vielleicht einmal aufstieg: Auch dies will ich ihm glauben; doch daß er dann, wie er uns geschaffen hatte, nicht mehr in unser Schicksal eingriff, das, meine Damen und Herren, bleibt bitter zu beklagen. 618 Der zentrale Begriff dieses Monologs, mit dem Dürrenmatt selbstintegrierend Aufschluss über seine künstlerischen Motive gibt und en passent seine Methode des induktiven Schreibens offenlegt, ist der des Untersuchens. Er 616 Sätze über das Theater, WA 30 207 617 Bekenntnisse eines Plagiators, WA 3 211 618 Die Ehe des Herrn Mississippi, WA 3 57 f. 181 transportiert die explorative Intention des Stücks, in ihm offenbart sich auch das funktionale Verhältnis des Autors zu seinen Figuren: Sie sind nicht geschaffen, „ um unser Mitgefühl zu erwecken “ 619 , sondern dienen dem Zweck, Versuchsobjekte zu sein, die einer bestimmten Situation ausgesetzt werden. Dass Dürrenmatt dann, wie Übelohe beklagt, die Figuren ihrem Schicksal überlässt und nicht mehr eingreift, verdeutlicht wiederum, das Münden in die Katastrophe ist nicht Ergebnis willkürlicher auktorialer Meinung oder persönlicher Gesinnung, sondern liegt als wahrscheinliche Möglichkeit in der Konstellation der Figuren selbst begründet, es ergibt sich logisch, ist als Groteske das objektive Resultat eines subjektiven Denkprozesses. Der Akt der Identifikation des Autors mit seinen Handlungsträgern spielt in diesem Prozedere eine entscheidende Rolle, gelingt es doch nur durch sie, deren Autonomie herzustellen, sie und ihre Geschicke also vom Verfasser selbst abzulösen und aus sich selbst heraus weiterzuentwickeln. Albrecht Behmel sieht das Wesen der Objektivität innerhalb eines Gedankenexperiments gerade darin, sie sich „ als eine Richtung vorzustellen, in der sich das Denken bewegen kann. “ 620 Dies bedeute nicht, vom eigenen Standpunkt komplett abzusehen, sondern sich als Subjekt dem Standpunkt eines anderen Menschen möglichst weit anzunähern 621 , d. h. zu überlegen, was eine Figur in einer bestimmten Situation tun könnte, welches Verhalten schlüssig wäre und welche Reaktionen es hervorruft. Wenn Dürrenmatt behauptet: „ Ich lasse also meine Figuren auf einer realistischen Ebene spielen “ 622 , so beschreibt er genau die Ambivalenz seiner Funktion als Allwissender und der Distanz zu den von ihm geschaffenen künstlerischen Welten - zum einen die auktoriale Allmacht des Schöpfers von Figuren und Verlauf, zum anderen die strategische Objektivität seiner distanzierten Rolle als Beobachter, der die Spiele seines dramatischen Personals dokumentiert. Diese strategische paradoxe Objektivität entsteht aus der figuren- und fiktionsimmanenten Logik, der „ realistischen Ebene “ 623 , der Dürrenmatt sich verschreibt: In dem Maße, in dem er das Geschehen den Gesetzen der figurenimmanenten Logik folgen lässt, konstituiert sich proportional die beobachtbare Gegenständlichkeit seiner Werke: Dürrenmatt präsentiert ein im übertragenen Sinn von der eigenen Subjektivität abstrahiertes Spektakel, das in seiner mehrdeutigen 619 Etwas über ‚ Die Ehe des Herrn Mississippi ‘ und etwas über mich, WA 3 218 620 Albrecht Behmel: Was sind Gedankenexperimente? . Kontrafaktische Annahmen in der Philosophie des Geistes - der Turingtest und das Chinesische Zimmer. Stuttgart: Ibidem 2001. S. 93. 621 Vgl.: Ebd. 622 G IV 158 623 Ebd. 182 Gleichnishaftigkeit den Anspruch erhebt, etwas Objektives - und damit Gegenstand und Ergebnis einer provozierten Erfahrung zu sein. 624 Diese Vorgehensweise entspricht exakt der Wittgensteinschen Definition des Gedankenexperiments. Dürrenmatt fragt sich, wie Menschen wohl (wahrscheinlicherweise) reagieren, wenn ihnen etwas Bestimmtes widerfährt. Dass er sich bei der Beantwortung dieser Frage von seiner eigenen Erfahrung leiten lässt, ja, wie er selbst sagt, die Welt „ der Steinbruch [ist], aus dem der Schriftsteller die Blöcke zu seinem Gebäude schneiden soll “ 625 , macht erneut deutlich, was Dürrenmatt meint, wenn er seine Kunst als „ vom Gedankenexperiment “ 626 bestimmt beschreibt: Es geht um die hypothetische Übertragung eigener Erfahrungen menschlichen Verhaltens in neue Konstellationen. Diesen Vorgang thematisiert Dürrenmatt auch in dem Essay „ Gedankenfuge “ (1986/ 1988 - 90), insofern Kunst mit Hilfe eines spielerischen Vermutens eine bedeutende Antwort auf die Frage nach der Darstellung des Menschen liefert: „ Der Mensch kann seine Vorstellungskraft mit seinem Verstand und seiner Beobachtungsgabe verbinden, dann nähern sich seine Fiktionen der Wirklichkeit [. . .]. “ 627 Vor diesem Hintergrund „ stellt die Kunst ein Instrumentarium dar, die qualitative, irreale, subjektive, nur glaubbare Seite seiner [des Menschen] Wirklichkeit darzustellen “ 628 . Wenn Wittgenstein also fragt, ob die Vorstellung eines bestimmten vorausgesagten Verhaltens „ nicht ein Erinnern “ sei und antwortet: „ Jedenfalls nicht notwendigerweise ‚ das Erinnern an bestimmte Fälle ‘“ 629 , dann ist hiermit eben diese Art der Erfahrungstransformation beschrieben, durch die auch die Figuren Dürrenmatts zum Leben erweckt werden. Wenn er also in seinen Werken Menschen menschlich agieren lässt, dann sind deren Verhaltensweisen, so grotesk sie manchmal auch anmuten oder so sehr sie auch überzeichnet sein mögen, der eigenen Erfahrung entlehnte, in die fiktive Eigenwelt übertragene repräsentative Handlungselemente, die im Kunstwerk in einen neuen inhaltlichen Zusammenhang gebracht und damit kohärent erfahrbar werden. Auch wenn der Begriff des Gedankenexperiments vor allem geprägt ist durch Hans Christian Ørsted, Ernst Mach und Ludwig Wittgenstein, so hat 624 Diese Vorgehensweise korrespondiert mit Adornos Auffassung vom künstlerischen Experiment: „ Beim Experiment ist das Moment des Ichfremden ebenso zu achten wie subjektiv zu beherrschen: erst als Beherrschtes zeugt es fürs Befreite. Der wahre Grund des Risikos aller Kunstwerke aber ist nicht deren kontingente Schicht, sondern daß ein jedes dem Irrlicht der ihm immanenten Objektivität folgen muß “ . (Adorno 2003: S. 64.) 625 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, WA 32 67 f. 626 Monstervortrag, WA 33 91 627 Gedankenfuge, WA 37 85 f. 628 Gedankenfuge, WA 37 88 629 Wittgenstein: Ms-115, 226 [4] et 227 [1]. 183 bereits Kant 1781 - ohne den Begriff zu nennen - in dem Kapitel „ Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen “ der „ Kritik der reinen Vernunft “ ein Verfahren der Erkenntnis beschrieben, welches die Züge des Gedankenexperiments trägt, da in ihm mit Hilfe der Einbildungskraft und ohne konkrete empirische Anschauung Hypothesen über Gegenstände generiert werden können. Auch Kant trennt hierbei die reine intuitive Einschätzung eines Sachverhalts - das Schwärmen - von einer vernunftgeleiteten experimentell begründeten Methode des Dichtens; er unterscheidet die bloße Imaginierung unmöglicher Dinge von einer Form der kontrafaktischen Annahme, d. h. einer Ansehung in Gedanken, in der sich Vorstellungskraft und Vernunft zu einer begründeten Hypothese verdichten: Wo nicht etwa Einbildungskraft ‚ schwärmen ‘ , sondern unter der strengen Aufsicht der Vernunft ‚ dichten ‘ soll, so muß immer vorher etwas völlig gewiß und nicht erdichtet oder bloße Meinung sein, und das ist die ‚ Möglichkeit ‘ des Gegenstandes selbst. Alsdann ist es wohl erlaubt, wegen der Wirklichkeit desselben zur Meinung seine Zuflucht zu nehmen, die aber, um nicht grundlos zu sein, mit dem, was wirklich gegeben und folglich gewiß ist, als Erklärungsgrund in Verknüpfung gebracht werden muss und alsdann Hypothese heißt. 630 Die Möglichkeit des Gegenstandes muss als Bedingung gewiss sein, dann kann als begründete Hypothese etwas ausgesagt werden, das nicht im luftleeren Raum schwebt, sondern sich auf dem Felde der Erfahrung befindet. Kant bezeichnet diese Gedankenspiele als „ heuristische Fictionen “ , mit deren Hilfe „ Erklärungen wirklicher Erscheinungen “ generiert werden können. 631 Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass Dürrenmatt sich zur Beschreibung seiner Poetik desselben Vokabulars bedient und signifikante Korrelationen zwischen Kants heuristischen Fictionen und seiner eigenen Technik der gedankenexperimentellen Kunst bestehen: Denn erstens ist Dürrenmatt in der Tat bestrebt, in seiner Kunst die Einbildungskraft mit der Logik zu verknüpfen, zweitens die Bausteine seiner Fiktionen auf tatsächlichen Erfahrungen zu gründen, also Menschen in konkreten Situationen zu zeigen, und drittens seine Stücke als seine „ Hypothesen “ auf der Grundlage einer auf Logik und Verstand beruhenden Auslotung des Möglichen auszuweisen. Kant spricht von Hypothesen als begründeten Meinungen, die als „ wahrscheinliche Urtheile “ zwar keinen Beweischarakter haben, aber eine These stützen oder eine Theorie widerlegen können: Meinungen und wahrscheinliche Urtheile von dem, was Dingen zukommt, können nur als Erklärungsgründe dessen, was wirklich gegeben ist, oder Folgen nach empirischen Gesetzen von dem, was als wirklich zum Grunde liegt, mithin 630 Kant 1995: S. 627. 631 Ebd., S. 628. 184 nur in der Reihe der Gegenstände der Erfahrung vorkommen. [. . .] Ob aber gleich bei bloß speculativen Fragen der reinen Vernunft keine Hypothesen stattfinden, um Sätze darauf zu gründen, so sind sie dennoch ganz zulässig, um sie allenfalls nur zu vertheidigen, d. i. zwar nicht im dogmatischen, aber doch im polemischen Gebrauche. Ich verstehe aber unter Vertheidigung nicht die Vermehrung der Beweisgründe seiner Behauptung, sondern die bloße Vereitelung der Scheineinsichten des Gegners, welche unserem behaupteten Satz Abbruch thun sollen. 632 In der wissenschaftstheoretischen Forschung herrscht mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass ein Gedankenexperiment nicht mehr, aber eben auch nicht weniger leisten kann, als eine Orientierung in einem bestimmten Problemfeld zu bieten. 633 Ebenso wie Kant differenziert auch Roy A. Sorensen in seiner grundlegenden, 1992 erschienenen Studie zum Thema zwischen Tagträumen und Phantasien auf der einen und dem Gedankenexperiment als einer Form des Experiments auf der anderen Seite 634 , „ that purports to achieve its aim without the benefit of execution “ 635 . Als „ expeditions to possible worlds “ 636 erreichen Gedankenexperimente Sorensen zufolge ihr Ziel durch eine Analyse der Reaktionen verschiedener Variablen auf die Modifikation einer bestimmten oder mehrerer einzelner Größen. 637 Eine Theorie beweisen könne ein Gedankenexperiment hingegen nicht, sein Sinn liege darin, Widersprüche aufzudecken und somit womöglich eine Theorie ins Wanken zu bringen oder zu widerlegen, nicht jedoch eine neue zu begründen. 638 Gleichwohl ist bei Sorensen hinsichtlich der Informativität von Gedankenexperimenten eine Komponente konstitutiv: die Vorhersage von Verlauf und Ergebnis des Experiments. Sie muss als ersichtlich gerechtfertigte These erscheinen, verlangt also Logik und eine überzeugende 632 Ebd., S. 631. 633 Einen Abriss über die wichtigsten divergierende Standpunkte, die bei der definitorischen Bestimmung, der Informativität und der Legitimität von Gedankenexperimenten den wissenschaftlichen Diskurs im 20. Jahrhundert dominieren, liefert Elke Brendel. Doch trotz der vereinzelt auftauchenden These von der Beweiskraft von Gedankenexperimenten ist auch ihr Schluss, dass die Verifizierung einer Theorie durch ein Gedankenexperiment nicht zu bewerkstelligen ist. (Vgl.: Elke Brendel: Gedankenexperimente als Motor der Wissenschaftsdynamik. In: Die Zukunft des Wissens. XVII. Deutscher Kongreß für Philosophie. Konstanz 1999. Workshop-Beiträge. Hrsg. v. Jürgen Mittelstraß. Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz 1999. S. 785 - 792.) 634 Vgl.: Roy A. Sorensen: Thought Experiments. Oxford u. a.: Oxford University Press 1992. S. 207. 635 Ebd.: S. 205. 636 Ebd.: S. 135. 637 Vgl.: Ebd.: S. 186. 638 Vgl.: Ebd.: S. 135 - 152. 185 Darstellung, welche die Bedingungen der Nachvollziehbarkeit und somit der Überzeugung des Rezipienten darstellen: When I say that an experiment “ purports “ to achieve its aim without execution, I mean that the experimental design is presented in a certain way to the audience. The audience is being invited to believe that contemplation of the design justifies an answer to the question or (more rarely) justifiably raises its question. 639 Dass Sorensen von einer, nicht von der Antwort spricht, deutet an, dass letzte Gewissheit im Gedankenexperiment, eines Experimentes ohne reale Ausführung, nicht gegeben sein kann, sondern nur die Glaubwürdigkeit eines Verlaufs, der sich damit immer nur als möglich, als wahrscheinlich empfiehlt, sich prinzipiell aber auch anders gestalten könnte. Entscheidend ist, dass der Experimentator tatsächlich etwas herausfinden möchte und die epistemologische Dimension im Experimentaldesign zu erkennen ist. Im Gegensatz zu Vermutungen und Schwärmereien erklärt Sorensen, „ that the aim of a thought experiment is enlightment, rather than fun “ 640 . Für Kühne, der sich mit der Geschichte und den unterschiedlichen Erscheinungsformen des naturwissenschaftlichen Gedankenexperiments beschäftigt, steht ebenso wie für Sorensen fest, dass ein Gedankenexperiment nicht beweiskräftig sein kann. Es ermögliche aber, auf der Grundlage von bekannten Variablen, die in einem induktiven Prozess einer neuen, gedanklichen provozierten Erfahrung ausgesetzt und auf ihre spezifischen Auswirkungen hin durchdacht werden, zu Ergebnissen zu kommen, die sich durch eine „ relative Glaubwürdigkeit “ , da sie in sich begründet seien, auszeichnen und „ nicht bloß Ausdruck einer intuitiven Meinung “ sind. Das Gedankenexperiment ist demnach „ so gut und so irrtumsanfällig wie jeder Induktionsschluß “ , da die Variablen auf Erfahrungen beruhen und nur durch einen Gegenbeweis falsifiziert werden können. 641 Einen spezifisch naturwissenschaftlichen Begriff des Gedankenexperiments zugrunde zu legen, ginge jedoch an Dürrenmatts Anspruch einer Verquickung von Experiment und Kunst vorbei. Auch wenn sich konkrete Fragestellungen bestimmen lassen, die darauf abzielen, die Auswirkungen eines bestimmten Vorkommnisses auf verschiedene Menschen zu ermitteln, so ist es eben nicht nur die separierte Veränderung einer Variablen in einem ansonsten bekannten Experimentaldesign, die auf ihre Auswirkungen auf die anderen Variablen hin untersucht wird. Dürrenmatt schöpft Eigenwelten, die 639 Ebd.: S. 205 f. 640 Ebd.: S. 208. 641 Kühne 2005: S. 390. 186 aus vielen Unbekannten bestehen, er entreißt seine komplexen Visionen der eigenen Erfahrung, um mit ihnen, durch sie über sie hinauszusteigen, Denkgebilde zu schaffen, um das Unerklärliche zu illustrieren, eine potenzielle Entwicklung der Katastrophe zu konstruieren. Dass sich dabei zahlreiche Menschen ineinander verstricken und verschiedenartige komplexe Handlungsstränge ineinandergreifen, verdeutlicht, wie weit der Begriff des Gedankenexperiments gefasst werden muss, um hier in wissenschaftsanaloger Hinsicht Anwendung finden zu können. Es handelt sich bei Dürrenmatts Werken um groß angelegte Gedankenexperimente, die fiktive komplizierte, zum Teil kaum nachvollziehbare personale Systeme zum Gegenstand der Untersuchung haben. Dabei lassen sich jedoch stets konzise Kernkonflikte identifizieren, die der Auflösung bedürfen, die auf ein Ergebnis hin angelegt sind, bestimmte Vorkommnisse, von Figuren initiert, deren Auswirkungen gezeigt werden - riskante Unternehmungen, wie etwa Docs Kooperation mit Boss im „ Mitmacher “ , leichtfertige Überheblichkeiten, wie Traps Zusage in der „ Panne “ , am Gerichtsspiel teilzunehmen, groteske Pläne, wie Möbius ’ Ansinnen in den „ Physikern “ , die eigenen Erkenntnisse geheim halten zu wollen, Claires Rachefeldzug im „ Besuch “ , Bärlachs Himmelfahrtskommando im „ Verdacht “ , sich in die Klinik Emmenbergers zu begeben, Mätthäis „ Versprechen “ . Dürrenmatts Gedankenexperimente sind um diese Ausgangssituationen herum aufgebaut; sie sind der strategische, experimentelle Kern, der die Handlung in Gang setzt, die sich entwickelt bis zur schlimmstmöglichen Wendung. Wenn Dürrenmatt sagt, er lasse sich von Einfall zu Einfall treiben, so spricht hieraus auch, dass er tatsächlich die Resultate der dramatischen Begegnungen nicht im Voraus plant, ihr nicht vorsätzlich eine bestimmte Wirkung gibt oder mit ihrer Hilfe eine Botschaft zu transportieren trachtet, sondern deren Entwicklung in der Geschichte selbst liegt. Dürrenmatt ist derjenige, der sie zum Vorschein bringt. Exkurs a: „ Der Besuch der alten Dame “ (1957) Eines der zahlreichen sehr anschaulichen Beispiele hierfür ist die erste Szene des dritten Aktes in „ Der Besuchs der alten Dame “ , in welcher der Lehrer und der Arzt Claire Zachanassian darum bitten, von der gestellten Bedingung für die finanzielle Unterstützung der Stadt Güllen - Ills Ermordung - abzusehen. Ihre Intention ist dabei kaum altruistischer Natur - es geht ihnen nicht darum, das Leben ihres Mitbürgers zu retten - , als vielmehr selbstbezogen motiviert, insofern sie der Gefahr zu entrinnen bestrebt sind, zu dessen Mördern zu werden. Lehrer und Arzt sind sich bewusst, einzig ein Einlenken Claires schüfe die Voraussetzung, dieses Ziel zu erreichen: 187 Lassen Sie den unheilvollen Gedanken der Rache fallen, treiben Sie uns nicht zum Äußersten, helfen Sie armen, schwachen, aber rechtschaffenen Leuten, ein etwas würdigeres Leben zu führen, ringen Sie sich zur reinen Menschlichkeit durch! 642 Allein Claire ist nicht gewillt, sich durchzuringen; sie hält unnachgiebig an ihrem Plan fest, ein Verhalten, welches die zentrale Voraussetzung für die schlimmstmögliche Wendung der Geschichte darstellt, das Äußerste, zu dem die Güllener sich nun tatsächlich getrieben fühlen: „ Mein Gott, was sollen wir tun? “ 643 , ist ein Ausruf der Verzweiflung, aber auch ein Bekenntnis der Gewissheit, den Verlockungen des Geldes nicht nur nicht widerstehen zu können, sondern dafür wiederum schuldig zu werden. Gleichzeitig hat diese Frage eine experimentanzeigende Valenz: Sie signalisiert die poetologische Anlage der Szene - und pars pro toto des ganzen Stücks - in zweierlei Hinsicht: Erstens markiert sie die Schwelle zwischen einer eingetretenen bestimmten Situation und dem, was anschließend wahrscheinlicherweise geschehen wird; zweitens exemplifiziert sie wörtlich den Dialog zwischen Dürrenmatt - dem großen Alten - und seinen Figuren, das Ins-Blaue-Hineinschreiben, das ihm innerhalb des Stückes immer wieder Entscheidungen abverlangt, wie Figuren auf bestimmte Wendungen reagieren werden und warum. Insofern amalgamiert sie Vergangenheit und Zukunft: Sie antizipiert die Tat der Güllener und bildet gleichzeitig deren vermeintliche Rechtfertigung als zwingenden äußeren Impuls ab, dem aus eigener Kraft nichts entgegenzusetzen ist. Einen dezidiert ethischen Bezug transportiert diese Zeile darüber hinaus, da Dürrenmatt in ihr die zweite der vier zentralen philosophischen Fragen Kants „ Was soll ich tun? “ aufnimmt und insofern erkenntnistheoretische und ethische Dimension miteinander verschränkt und als Subtext inauguriert. Es handelt sich um eine Schlüsselszene nicht nur des Stückes, sondern auch um ein Leitmotiv der experimentellen Dramatik Dürrenmatts an sich, da Untersuchungsgegenstand und Methode hier eine konzise repräsentative Verbindung eingehen. Exkurs b: „ Abendstunde im Spätherbst “ (1956), „ Dichterdämmerung “ (1980) Um ein Experiment der besonderen Art handelt es sich auch bei dem Unternehmen Fürchtegott Hofers in dem Hörspiel „ Abendstunde im Spätherbst “ von 1956, das Dürrenmatt 1980 zur dramatischen Variante „ Dichterdämmerung “ umarbeitet. Hofer, pensionierter Buchhalter und von peni- 642 Der Besuch der alten Dame, WA 5 90 f. 643 Der Besuch der alten Dame, WA 5 91 188 blem kleinbürgerlich-beamtenmäßigem Zuschnitt, konfrontiert darin den Literaturnobelpreisträger Korbes mit dem Ergebnis seiner jahrelangen literarhistorischen Recherchen, denen zufolge Korbes die Morde, die er in seinen Romanen beschreibt, vorher selbst tatsächlich begangen hat. Dass dieser Besuch im Luxushotel für Hofer selbst mit der schlimmstmöglichen Wendung enden wird, ahnt dieser zu Beginn freilich nicht. Die Motive seines Handelns gründen auf einer charakterlichen Kombination von Naivität und Eitelkeit, wenn er auch unterwürfig auftritt: „ Es gelang mir nur mit unendlicher Geduld, ihn [Korbes ’ Sekretär] zu überzeugen, daß diese Zusammenkunft für uns ‚ beide ‘ von größter Tragweite sein werde, verehrter Meister. “ 644 Der Höhepunkt des Treffens, Korbes Geständnis, wird für Hofer zur „ feierlichste[n] Stunde meines Lebens “ 645 . Ähnlich wie Kommissär Matthäi in „ Das Versprechen “ beruft sich Hofer immer wieder auf die Logik seines investigativen Vorgehens, ja plant die Entwicklung des Zwiegesprächs, trifft Vorsichtsmaßnahmen für den Fall, dass Korbes ihm nach dem Leben trachten könnte. Mit einem rechnet Hofer - wie Matthäi - allerdings nicht: mit dem Zufall, der sich der menschlichen Logik entzieht und der in diesem Fall als übermächtige Ausprägung menschlicher Irrationalität erscheint: Die Menschen haben kein Interesse daran, Ausnahmepersönlichkeiten einer kleinbürgerlichen Moral zu unterwerfen: „ Sie haben nur bewiesen, was keines Beweises bedarf “ 646 , desavouiert der „ Literaturmoloch “ 647 den Provokateur. „ Glauben Sie, daß die Menschen meine Werke verschlingen würden, wenn sie nicht ‚ wüßten ‘ , daß ich nur Morde beschreibe, die ich begehe? “ 648 Entsprechend entsetzt reagiert Fürchtegott Hofer: Seinem Ansinnen, den Respekt des verehrten Meisters zu erringen, die eigene detektivische Brillanz dessen literarischer als ebenbürtig anerkannt zu wissen, schlägt mit voller Wucht die Erkenntnis entgegen, „ hinter dem Mond “ 649 zu sein, etwas Wichtiges außer Acht gelassen, die wahre Natur des Menschen falsch eingeschätzt zu haben, „ sonst hätten Sie von der Sinnlosigkeit Ihrer Nachforschungen wissen müssen “ 650 . Der Buchhalter, eben noch berauscht von den eigenen Theorien, wird nun vom prallen Leben überrollt: 644 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 174 645 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 188 646 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 190 647 Elisabeth Brock-Sulzer: Friedrich Dürrenmatt. Stationen seines Werkes. Mit Fotos, Zeichnungen, Faksimiles. Zürich: Diogenes 1986. S. 247. 648 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 190 649 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 189 650 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 189 f. 189 Durch mich werden Sie in die Weltliteratur eingehen, Fürchtegott Hofer. Millionen werden Sie sehen, angstgeschüttelt, die Augen, den Mund weit aufgerissen, Abgründe, in die Katarakte des Entsetzens stürzen, eine Buchhalterfratze der unendlichen Ahnungslosigkeit, die erlebt, wie sich die Wahrheit ihr Korsett vom Leibe reißt. 651 Hofer wird Korbes ’ dreibzw. zweiundzwanzigstes Opfer werden, sein Experiment scheitert - schlagartig - eine Erkenntnis, die keine Reflexion mehr zulässt, nur noch den Kurzschluss „ Sie - Sie sind der Satan “ 652 und das glücklose Flehen um das eigene Leben. Jenseits der Gerechtigkeitsthematik dieses den klassischen Aufbau des Kriminalromans parodierenden Hörspiels 653 ist es mit Anspielungen auf das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit und dadurch mit dem zentralen Dürrenmattschen Theorem, der Frage nach Erkenntnis, durchzogen. Fürchtegott Hofer repräsentiert darin einen Wissenschaftler, der auf der Grundlage jahrelanger Beobachtungen und logischer Schlussfolgerungen induktiv eine Theorie aufgestellt hat, die er jetzt - verknüpft mit einem konkreten monetären Ziel - in einem experimentum crucis beweisen möchte. Indem er an Korbes in erniedrigender Weise zerschellt, wird deutlich, dass eine noch so ausgeklügelte Theorie der Wirklichkeit nicht standhalten muss. Ähnlich wie „ Das Versprechen “ thematisiert auch „ Abendstunde im Spätherbst “ , ein Jahr zuvor geschrieben, das Scheitern eines Plans auf der Grundlage der Selbstüberschätzung. Dass die Experimente der Menschen auch „ glücken “ können, zeigen „ Der Besuch der alten Dame “ oder „ Justiz “ . Dürrenmatt legt sich nicht fest. Der achte der „ 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘“ lautet: „ Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen. “ 654 Fürchtegott Hofer ist dafür das beste Beispiel. Weber interpretiert die literaturtheoretischen Ansichten Korbes ’ zu Recht als parodistischen Kontrapunkt zu Dürrenmatts eigener Poetik, welche der mimetischen Funktion der Kunst die Konstruktion eigener fiktiver Gegenwelten entgegensetzt. 655 Während Korbes diagnostiziert: „ Die wahre Literatur beschäftigt sich nicht mit Literatur, sie hat die Menschheit zu befriedigen. Die dürstet nicht nach einer neuen Form, oder nach sprachlichen Experimenten, und am wenigsten nach Erkenntnissen [. . .] “ 656 und dies zum Anlass nimmt, das Leben, sein Leben zu beschreiben und damit eine „ wahre Geschichte “ 657 651 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 193 652 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 194 653 Vgl.: Brock-Sulzer 1986: S. 246. 654 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 91 655 Vgl.: Weber 2006: S. 62. 656 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 191 657 Abendstunde im Spätherbst, WA 9 171 190 zu erzählen, wie er in seiner Vorrede ausführt, kommt es Dürrenmatt gerade auf die Erkenntnisse an, die durch die künstlerische Fiktion generiert werden. Im Gegensatz zu Hofer geht er selbst dabei allerdings induktiv vor, ohne eine konkrete Selbstüberzeugung darüber, wie die Welt zu funktionieren hat, eher mit der Ahnung ausgestattet, dass das Leben unberechenbar ist und ein Modell immer nur eine Annäherung an die Wirklichkeit erreichen, aber auch schnell widerlegt werden kann: „ Wir wissen von der Welt nicht die Wahrheit, sondern nur Annäherungen an die Wahrheit. “ 658 Hier wird der Sinn der schlimmstmöglichen Wendung als Dürrenmatts Bezug zum Existenziellen deutlich: Die menschliche Eigenart, mit den eigenen auf unsicheren Hypothesen errichteten Vorhersagen Handlungen zu initiieren, mündet allzu oft in ein Vabanquespiel, das riskiert wird - und in der Katastrophe endet: „ Wir alle flüchten vor dem Schrecklichen und führen es damit herbei “ 659 , diagnostiziert Dürrenmatt - ein paradoxer Satz, der sich auch durch Fürchtegott Hofer bewahrheitet. Indem dieser der schrecklichen Ödnis seiner kleinbürgerlichen Existenz zu entfliehen trachtet, beschwört er seinen eigenen Untergang herauf. Exkurs c: „ Die Panne “ (Hörspiel 1955, Erzählung 1955/ 56, Komödie 1979) Ein komplexes Spiel um Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Sühne, Selbsterkenntnis und menschliche Vermessenheit entfesselt Dürrenmatt auch in der „ Panne “ . Sein Opfer ist der Textilreisende Alfredo Traps, der seinem Namen entsprechend in die Falle geht - und das in drei verschiedenen literarischen Varianten 660 : Zeitlich ineinander verschränkt entstehen Mitte der 50er Jahre Erzählung und Hörspiel, Ende der 70er Jahre folgt die Bearbeitung für die Bühne. Das imposante Besäufnis in der Villa des alten Richters (in der Erzählung trägt dieser keinen Namen, im Hörspiel nennt Dürrenmatt ihn Werge, im Drama Wucht), ein grotesker Abgesang auf das antike Symposion, welches den Rahmen für einen ebenso grotesken Gerichtsprozess bildet, in dessen Verlauf der Textilvertreter des Mordes an seinem ehemaligen Chef Gygax schuldig gesprochen wird, ist abermals ein Paradebeispiel der experimentellen Kunst Dürrenmatts, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens poetologisch - die Prinzipien der Aufgabe eines Schriftstellers, die Dürrenmatt formuliert, das zu beschreiben, „ was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich unwahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen 658 G III 227 659 G III 226 660 Die Fernsehbearbeitung von 1957, die inhaltlich dem Hörspiel folgt, wird hier außer Acht gelassen. 191 würde “ 661 , sich ganz einem Stoff hinzugeben, einen Einfall zu Ende zu denken, die Erfahrung menschlichen Verhaltens anhand eines systemischen Versuchsaufbaus zu provozieren, lassen sich exakt in der Geschichte um Alfredo Traps wiedererkennen. Es geht Dürrenmatt auch hier, wie er im ersten Teil der Erzählung in einem kurzen Essay skizziert, um die Frage nach den „ noch mögliche[n] Geschichten “ 662 , darum, welche Möglichkeit einem Schriftsteller noch bleibt, um zu Erkenntnissen über die Wirklichkeit zu gelangen, die im Akt der Universalisierung subjektiver Empfindungen oder des Postulierens ideologischer Weltbilder kaum begreiflich wird. 663 „ Das Schicksal hat die Bühne verlassen “ 664 : Dieser Satz ist eine konzis-distanzierte Diagnose über eine Welt, die ein moralisches Inferno heraufbeschworen hat und nun im Taumel von Verdrängung und Glauben an Wohlstand und technischen Fortschritt ihren Alltag bestreitet, „ doch ohne Zusammenhang mit dem Weltganzen, mit dem Ablauf der Dinge und Undinge, mit dem Abspulen der Notwendigkeiten “ 665 . Für Dürrenmatt lauert das Schicksal „ hinter den Kulissen “ 666 , alles gerät zur Panne, ein Begriff, dem ein Vonsich-Weisen von Verantwortung immanent ist, die antizipierte Entschuldigung im Falle der Katastrophe. Sein Richter Wucht bringt es auf den Punkt: In einer Welt, in der niemand mehr schuldig sein will, in der die schändlichsten Verbrechen begangen werden, weil sie angeblich entweder unvermeidbar sind, um das Weltgetriebe in Gang zu halten, oder notwendig, um die Veränderung dieses Weltgetriebes herbeizuführen, in dieser ungeheuren Verfilzung aller menschlichen Bestrebungen, in der sich ein jeder mit der allgemeinen Ungerechtigkeit freispricht, verdient einer, der sich schuldig spricht, belohnt und gefeiert zu werden. 667 Die Worte entbehren - führt man sich vor Augen, wer sie spricht: ein korrupter, selbst verbrecherischer Richter, der sich Urteilen zwar anmaßt, kaum aber selbst den eigenen propagierten Erkenntnissen folgt, der seine Gäste missbraucht, um der Selbstherrlichkeit und Völlerei zu frönen - nicht einer gewissen grotesken Anmutung, haben aber natürlich einen wahren Kern, insofern sie Dürrenmatts Wirklichkeitsanalyse ironisch untermalen. 668 661 Sätze über das Theater, WA 30 207 662 Die Panne, WA 21 37 663 Vgl.: Die Panne, WA 21 37 f. 664 Die Panne, WA 21 39 665 Die Panne, WA 21 38 f. 666 Die Panne, WA 21 39 667 Die Panne (Komödie), WA 16 160 f. 668 Ähnliche Gedanken, wonach die heutige Welt nicht mehr mit den Mitteln der klassischen Tragödie beschrieben werden kann, tauchen auch in Dürrenmatts Aufsatz „ Theaterprobleme “ (1954) auf: „ Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle 192 Wenn dieser der Welt attestiert, der Unfall habe das Fatum abgelöst, so steckt hierin die Überzeugung, in der heutigen Welt sind tragische Schuld und Notwendigkeit, Eigenverantwortlichkeit, Selbsterkenntnis und aus unverrückbaren Prinzipien entstehende Taten rigorosem Egoismus, Macht- und Habgier, Rücksichtslosigkeit und Opportunismus gewichen. Die charakteristischen Mittel und Merkmale der klassischen Tragödie haben ausgedient. 669 Keine weltanschauliche Idee als allgemeine Kategorie kann mehr den Menschen und die Wirklichkeit umschließen. Gleichzeitig verbirgt das Zitat Dürrenmatts eine Kritik der menschlichen Selbsterkenntnis, die Forderung, die Frage nach Ursache und Wirkung dennoch zu stellen, menschliche Handlungen zu analysieren, beim Einzelnen anzusetzen. Diese Gedanken bilden die Folie, auf der das vorliegende literarische Experiment durchgeführt wird: Wie reagiert ein Mensch wie Traps, Repräsentant seiner Zeit, mehr zu emotionaler Rohheit, denn zu Selbstreflexion und Gedankenschärfe neigend, wenn er mit sich selbst konfrontiert, wenn er verführt wird, das eigene Handeln moralisch zu bewerten? Ist er dazu überhaupt in der Lage? Dieser Punkt ist wesentlich bei Dürrenmatts Antwort auf die Frage nach den noch möglichen Geschichten; so kurz und vieldeutig sie sein mag, sie begründet Dürrenmatts Dramaturgie der defizitären Induktion, vom Einzelnen ohne Absicht und zufällig zu einer allgemeinen Erkenntnis zu gelangen: In diese Welt der Pannen führt unser Weg, an dessen staubigem Rande [. . .] sich noch einige mögliche Geschichten ergeben, indem aus einem Dutzendgesicht die Menschheit blickt, Pech sich ohne Absicht ins Allgemeine weitet, Gericht und Gerechtigkeit sichtbar werden, vielleicht auch Gnade, zufällig aufgefangen, widergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen. 670 Die Möglichkeit, die ein Schriftsteller - will er „ diskret zurücktreten, das Private höflich wahren, den Stoff vor sich wie Bildhauer sein Material, an ihm arbeitend und an ihm sich entwickelnd “ 671 - noch hat, ist, den Einzelnen in einen ethischen Konflikt zu schicken, eine Reaktion zu provozieren, sein Verhalten zu beobachten, der Versuch, Erkenntnis zu erlangen mit Hilfe des Experiments, nach den Ursachen zu forschen, die jenseits der Schuldlosigkeit aller dennoch zur Katastrophe führen. 672 können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. “ (Theaterprobleme, WA 30 62) 669 Vgl. hierzu: Düsing 2013: S. 134 u.144 f. 670 Die Panne, WA 21 39 671 Die Panne, WA 21 37 672 Vgl.: Die Panne, WA 21 39 193 Zweitens inhaltlich: Dass es sich bei dem „ etwas sonderbare[n] Spiel “ 673 , welches die Greise vorgeblich spielen wollen, um den Rahmen eines Feldes handelt, auf dem sowohl von Seiten des Gerichts als auch von Seiten Traps ’ Handlungen ineinandergreifen, welche die Züge provozierter Erfahrungen, also experimentelles Potenzial tragen, letztlich ein So-tun-als-ob und ein Tatsächlich-sein, Spiel und Wirklichkeit diffundieren, wird deutlich, wenn man die Motivationen der handelnden Personen genauer beleuchtet. Oberflächlich betrachtet, versprechen sich die vier Greise von dem Abend einen harmlosen, wenn auch handfesten Spaß, der ihnen die Möglichkeit zur selbstverliebt-exzessiven Darstellung ihrer juristischen Brillanz, zum geselligen Besäufnis und zur Anregung ihrer Lebensgeister bietet. Allerdings bezieht sich der aktive Part als spielerisches Element ausschließlich auf sie selbst; Traps, der von Beginn an psychologisch feinsinnig manipuliert wird, kommt kaum der Status eines gleichberechtigten Mitspielers zu. Er ist die Maus, mit der die Katze spielt, hieran lässt der Richter keinen Zweifel: „ Am schönsten sei es natürlich, erklärte er [. . .], wenn am lebenden Material gespielt werde. “ 674 Auch wenn Traps mehrfach großzügig versichert wird, selbstverständlich nicht mitspielen zu müssen, kommt hier ein sadistischer Zug zum Vorschein, insofern die Arglosigkeit des Textilreisenden und seine Unsicherheit auf juristischem Gebiet gezielt ausgenutzt werden, um ihn zu einem willfährigen Opfer zu machen, dessen Zweckmäßigkeit einzig darin besteht, den naiven Angeklagten abzugeben: „ Was nun Ihre Rolle betrifft [. . .], jeder Stümper ist dazu fähig “ 675 - die Worte des Staatsanwaltes sind deutlich: Das experimentelle Moment in der Gerichtsinszenierung besteht nicht darin, die tatsächliche Schuld eines Angeklagten festzustellen ( „ Ein unwichtiger Punkt, mein Freund. Ein Verbrechen läßt sich immer finden. “ 676 ), sondern ihn sich zur grotesken Lustentfaltung gleichsam auszuliefern, sich an seinen Reaktionen, seiner Naivität und Begriffsstutzigkeit zu ergötzen. Es handelt sich um einen Menschenversuch. Die Erfahrung, welche die Vier provozieren, 673 Die Panne (Hörspiel), WA 16 15 674 Die Panne, WA 21 46. In der Erzählung heißt es: „ Aber am schönsten sei es natürlich, erklärte er [der Richter] weiter, wenn am lebenden Material gespielt werde “ (Die Panne, WA 21 46); im Hörspiel übernimmt der Staatsanwalt diesen Satz: „ Am schönsten ist es natürlich, wenn wir am lebenden Material spielen “ (Die Panne (Hörspiel), WA 16 16); im Drama ist es wieder Richter Wucht, der diesen Satz übernimmt, Dürrenmatt ersetzt hier allerdings die Präposition „ am “ durch „ mit “ ( „ Am schönsten ist es natürlich, wenn wir mit lebendem Material spielen. “ (Die Panne (Komödie), WA 16 91)), wodurch einerseits die bewusste Gewissenlosigkeit dessen, der mit jemandem spielt, stärker expliziert und andererseits der Grad des Ausgeliefertseins des Opfers erhöht wird. 675 Die Panne (Hörspiel), WA 16 16 676 Die Panne (Hörspiel), WA 16 17 194 liegt jenseits der Aufgabe eines ordentlichen Gerichts, dem es um Erkenntnis, um die Benennung eines Geschehens als Wahrheit oder Unwahrheit, um die Investigation von Hintergründen, das Finden von Kausalitäten und deren anschließende Bewertung gehen sollte - dieses Privatgericht beschäftigt allein die Frage, ob der Angeklagte sich als geeignet erweist, ihm die angestrebten Freuden zu bereiten. Kein Gedanke wird daran vertan, ob das Spiel womöglich reale Auswirkungen haben, ethisch zweifelhaft oder rechtswidrig sein könnte. Die fremden Gäste des Richters sind lediglich Mittel zum Zweck. Insofern - denn dafür allein schwingen sich die drei Juristen in rhetorischer Meisterschaft zu einer fulminanten Rechtsbeugung auf - kulminiert dieses Experiment nachgerade in Traps ’ Schuldeingeständnis, der wahnhaften Vorstellung, ein genialer Mörder zu sein und ein Verbrechen begangen zu haben, „ das Bewunderung, Staunen, Respekt verdiene und ein Anrecht darauf habe, als eines der außerordentlichsten des Jahrhunderts zu gelten “ 677 . Ihr Experiment hat in dem Moment sein höchstmögliches Ziel erreicht, als der „ rein[e] Strahl der Gerechtigkeit “ , mit dem das Gericht in das Leben des Angeklagten hineingeleuchtet zu haben behauptet, bewirkt, dass Traps, nicht etwa im tatsächlichen Bewusstsein eigenen moralischen Fehlverhaltens, sondern als groteske Krönung seiner kleinbürgerlichen Existenz durch seine Verurteilung als Mörder vermeintlich höchste Weihen erhält - bevor er (in der Prosavariante) seinerseits reale Konsequenzen aus dem Spiel zieht und sich in seinem Zimmer erhängt. Doch auch Traps selbst experimentiert. Er ist nicht nur Opfer, sondern trägt auch die Merkmale des Spielers in sich, ist Abenteuern, Herausforderungen und Risiken nicht abgeneigt. Tricks und unbarmherzige Finten, deren er sich bedient, gehören für ihn beruflich und privat dazu; der Erfolg gibt ihm recht. Zwar lässt ihm die Gastfreundschaft des Richters inklusive der kostenlosen Übernachtung quasi keine andere Wahl, doch führen zu seiner Entscheidung, am Gerichtsspiel teilzunehmen, auch persönliche Motive. Es ist eine Art Selbstversuch, dem er sich unterzieht in dem Moment, da er zusagt. Zuerst zögerlich und ängstlich, in eine Sphäre geraten, die ihm fremd ist, lässt er sich aus zweierlei Gründen auf das Spiel ein. Zum einen weichen seine Befürchtung, einen recht zähen Abend verbringen zu müssen, und die Angst, eventuell im Gespräch mit den Juristen nicht bestehen zu können, schnell spielerischer Neugier und selbstsicherer Aufgeschlossenheit ( „ Der Abend war gerettet. Es würde nicht gelehrt zugehen und langweilig, es versprach lustig zu werden. “ 678 ); zum anderen kommt die Aufmerksamkeit, 677 Die Panne (Komödie), WA 21 84 678 Die Panne, WA 21 46 f. 195 welche die vier Senioren Traps zuteil werden lassen, seiner charakterlichen Disposition entgegen, die stark vom Drang nach großtuerischer Selbstdarstellung ( „ Habe selber. Dunhill. Geschenk von meiner Frau. “ 679 , „ doch jetzt besitze ich einen Studebaker, rotlackiertes Extramodell. “ 680 ) geprägt ist und die er jetzt, als vermeintlicher Delinquent im Fokus geistig gehobener Beachtung und unter allgemeiner Anfeuerung, in extenso ausleben kann. „ Da bin ich aber neugierig “ 681 , „ Da bin ich aber gespannt “ 682 - Traps spricht aus, was auch der Leser empfindet: Spannung und Neugierde sind subjektive Merkmale eines Experimentators und weisen somit verschlüsselt auch auf den Experimentator Dürrenmatt hin, der ebenfalls gespannt und neugierig ist, wie sich der durch seinen Einfall initiierte Prozess entwickeln wird. Traps lässt sich, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, die reine Ästhetik dieses Gerichtsspiels könne in die Wirklichkeit ausschlagen, auf ein ungewisses Abenteuer ein. Er versucht sich selbst - gespannt, was passieren, was herausgefunden wird und wie er selbst sich im Kreise „ von gelehrten, studierten Männern “ 683 schlagen werde. Allein er ahnt kaum, welch abwegige Rechtstheorien, rhetorische Allgewalt und vollendete Verhörkunst der selbstverliebte Staatsanwalt aufbieten wird, um ein derart exzeptionelles Verbrechen hinter der Fassade dieses zwar rücksichtslosen, doch recht eigentlich durchschnittlichen Spießbürgers überhaupt aufdecken, ja erfinden zu können, Traps dadurch zu der Überzeugung zu bringen, ein genialer Mörder und damit an Würde seinen Mitspielern ebenbürtig zu sein, und schließlich das Gericht in den Stand zu setzen, an Traps den „ Ritterschlag der Gerechtigkeit “ 684 zu vollziehen, der schließlich ohne ein vorheriges Verbrechen kaum möglich sei, wie der Staatsanwalt überschwänglich ausführt. 685 Um dies bewerkstelligen, Traps also ein kapitales Verbrechen nachweisen zu können, wendet der Staatsanwalt als Vertreter dieses privaten Gerichtshofs, welcher „ ohne Rücksicht auf die lumpigen Gesetzbücher und Paragraphen “ 686 Recht spricht, zwei entscheidende zweifelhafte, ja unerlaubte Kunstgriffe an: Zum einen stellt er den keineswegs bewiesenen Zusammenhang zwischen der Kenntnisnahme des Ehebruchs durch Gygax und dessen Herzinfarkt als Faktum auf, zum anderen bedient er sich einer uneinge- 679 Die Panne (Hörspiel), WA 16 16 680 Die Panne (Hörspiel), WA 16 20 681 Die Panne (Hörspiel), WA 16 17 682 Ebd. 683 Die Panne, WA 21 85 684 Die Panne, WA 21 92 685 Vgl.: Die Panne, WA 21 84 686 Die Panne (Hörspiel), WA 16 25 196 schränkten und damit unzulässigen Form der im Strafrecht vorherrschenden Bedingungs- oder auch Äquivalenztheorie 687 , die der „ Conditio-sine-quanon-Formel “ folgt, wonach jede Bedingung die Ursache eines Taterfolges darstellt, „ die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele “ 688 . Dass diese Theorie, die - ausschließlich angewandt - tatsächlich dazu führen würde, dass auch Traps ’ Mutter schuld am Tode Gygax ’ wäre, da sie mit der Geburt ihres Sohnes eine Bedingung gesetzt hat, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der konkrete Taterfolg entfiele, macht deutlich, inwiefern sie jenseits ihres grundsätzlichen Wertes im Strafrecht einer einschränkenden Ergänzung bedarf, die es ermöglicht, eine realistische Einschätzung der Verantwortung eines Menschen für einen bestimmten Taterfolg feststellen zu können. Das Strafrecht hat deshalb die sog. Theorie der „ objektiven Zurechnung des Handlungserfolges “ eingeführt, die besagt: „ Objektiv zurechenbar ist ein Erfolg dann, wenn der Täter eine rechtlich relevante Gefahr geschaffen hat, die sich im tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert. “ 689 Als rechtlich relevant indes gilt eine Gefahr, wenn sie „ rechtlich mißbilligt wird “ 690 . 687 Hans Mayer stellt dies ganz richtig fest. Zwar ist seiner Ansicht zuzustimmen, dass es vor einem Gericht, „ das sich mehr mit adäquaten Kausalzusammenhängen zu beschäftigen pflegt “ , nicht zu einer Anklage gegen Traps gekommen wäre, seine juristischen Ausführungen weisen jedoch zwei Fehleinschätzungen auf: Erstens bezeichnet er die Bedingungstheorie als „ in der Strafrechtslehre längst abgeschafft “ (Hans Mayer: Die Panne. In: Über Friedrich Dürrenmatt. Hrsg. v. Daniel Keel. 6., verb. u. erw. Aufl. Zürich: Diogenes 1998. S. 292 - 308. Hier: S. 294.) Dazu ist anzumerken: Die Bedingungs- oder Äquivalenztheorie ist in Strafrechtslehre und Rechtsprechung keineswegs abgeschafft, sondern auch heute noch die vorherrschende Theorie zur Feststellung des Kausalzusammenhangs von Tathandlung und Taterfolg (Vgl.: Johannes Wessels u. Werner Beulke: Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Straftat und ihr Aufbau. 29., neubearb. Aufl. Heidelberg: Müller 1999 (= Schwerpunkte Bd. 7). S. 50.), wenngleich sie dann Probleme bereitet, wenn entschieden werden muss, „‚ ob ‘ ein bestimmter Faktor den Eintritt des Erfolges beeinflußt hat “ (Wessels 1999: S. 51.), ob die Kausalität von Bedingung und Taterfolg also etwa gegen die allgemeine Lebenserfahrung oder gegen die objektive Zurechnung spricht - eine Frage, die in Traps ’ Fall natürlich bejaht werden müsste. Zweitens ist es falsch, wie Mayer es tut, die subjektiven Tatbestandsmerkmale ‚ Überlegung ‘ und ‚ Vorsatz ‘ als Indizien für den Tatbestand des Mordes heranzuziehen (Vgl.: Mayer 1998: S. 295.), da es sich hierbei um subjektive Tatbestandsmerkmale handelt, die zwar ein dolo malo begründen können, wie ihn Wucht und Konsorten erfreut konstatieren, bei denen es sich aber nicht um die Tatbestandsmerkmale eines Mordes handelt. Hier käme bei Traps eher ein „ niedriger Beweggrund “ infrage. Auch Knopf weist, offenbar in Anlehnung an Mayer, unkritisch darauf hin, dass das Gericht die Bedingungstheorie anwende, „ nach der die Auslösung einer Straftat als Straftat selbst gewertet werden müsse “ (Knopf 1988: S. 61.). 688 Wessels 1999: S. 50 f. 689 Ebd., S. 57. 690 Ebd., S. 58. 197 Nun ließe sich kaum, ginge es juristisch ordentlich in des Richters Villa zu, behaupten, Traps ’ Intrige gegen seinen Chef sei eine rechtlich missbilligte Gefahr, die es erlaube, ihm dessen Tod tatsächlich objektiv zuzurechnen. 691 Doch dieses Gericht, das sich anmaßt, gleichsam „‚ die ‘ Gerechtigkeit “ 692 zu verkörpern, hat sich „ vom unnötigen Wust der Formeln, Protokolle, Schreibereien, Gesetze befreit “ 693 und diese durch Willkür, Rabulistik, Manipulation und wilde Phantasterei ersetzt. 694 Es wird eben nur gespielt. Und so konstruiert der Staatsanwalt nicht nur die Fiktion eines Mordes, sondern vor allem auch im Angeklagten den unerschütterlichen Glauben daran, diesen tatsächlich begangen zu haben. Traps verfällt im Zuge einer grotesken Würdigung seines Verbrechens und unter dem Einfluss Unmengen Alkohols in einen rauschhaften Wahn ( „ und der Gedanke, einen Mord begangen zu haben, überzeugte ihn immer mehr, rührte ihn, verwandelte sein Leben, machte es schwieriger, heldischer, kostbarer. Er begeisterte ihn geradezu. “ 695 ), wehrt sich energisch gegen das wohlgemeinte Ansinnen seines Verteidigers, seine Tat zu relativieren, ja zu entkriminalisieren, sie „ in etwas Gewöhnliches, Bürgerliches, Alltägliches zurückzuverwandeln “ 696 , und nimmt das Todesurteil des Gerichts, das sich in erster Linie auf das Schuldeingeständnis denn auf Beweise stützt 697 , dankend an. Der Gedanke an eine seinem Leben angemessene Form der Selbstreflexion indes kommt ihm zu keinem Zeitpunkt. Vor diesem Hintergrund entartet aber nicht nur Traps ’ Selbstmord zur Panne, wie Mayer annimmt 698 , im Grunde fällt schon die tiefe Überzeugung seiner eigenen Schuld als Bedingung für die schlimmstmögliche Wendung aus dem grotesken Spiel heraus. Es ist hier wohl eher die Ansicht des 691 Vor diesem Hintergrund ist Bauers Ansicht „ Wenn überhaupt, dann kann Traps seinen unsympathischen Chef Gygax nur durch seine Rücksichtslosigkeit und seelische Grausamkeit dem Herzinfarkt zugeführt haben und nicht durch eine strafrechtliche relevante Gesetzesübertretung “ (Elisabeth Bauer: Die Gerichtsthematik im Werk von Friedrich Dürrenmatt. (München Univ. Diss. 1989) München: Tuduv 1990 (= Reihe Sprach- und Literaturwissenschaften Bd. 28). S. 98 f.) zuzustimmen, wobei in der Tat, wie Traps ’ Verteidiger ermittelt, an dem besagten Tag Föhnsturm herrschte, so dass letztlich ein definitiver Zusammenhang zwischen Traps ’ Handlungen und dem Tod seines Chef kaum auszumachen ist. 692 Die Panne (Hörspiel), WA 16 51 693 Die Panne (Hörspiel), WA 16 25 694 Auch Bauer ist der Ansicht, „ der Staatsanwalt [verletzt] die geltenden positiven Rechtsnormen, er argumentiert mit Gefühlen, Verdächtigungen, Mutmaßungen, unbeweisbaren Schlußfolgerungen, statt sich an Tatsachen zu halten “ (Bauer 1990: S. 100.). 695 Die Panne, WA 21 85 696 Die Panne, WA 21 86 697 Vgl.: Die Panne, WA 21 91 698 Vgl.: Mayer 1998: S. 303. 198 Verteidigers aufzunehmen, Traps habe eine zweite - „ geistige “ 699 - Panne erlitten, indem er sich „ nun selber einbilde, einen Mord begangen zu haben “ 700 . Der Angeklagte nimmt Staatsanwalt und Richter ernst, verkennt im Ganzen die Ironie des Abends - und erliegt schließlich seinem Bedeutungsdrang und seiner Eitelkeit, indem er verblendet, ja zufällig, die ihm gebotene vermeintliche Chance ergreift, seinem Dasein den Glanz des Besonderen zu verleihen. 701 Er wird vorgeführt, reagiert instinktiv irrational und hat dem Staatsanwalt nichts mehr entgegenzusetzen. Die unterschiedlichen Auflösungen 702 von Erzählung und Hörspiel entsprechen Dürrenmatts Denken in Möglichkeiten, haben aber keine wesentlichen Konsequenzen für die Erkenntnisse, die sich aus diesem Stück ziehen lassen. Traps hat nichts gelernt. Dürrenmatt selbst sagt in der „ Ansprache anläßlich der Verleihung des Kriegsblindenpreises “ 1957: „ Wie der Einzelne die Welt besteht oder wie er untergeht, ist das Thema auch meines Hörspiels [. . .], auch wenn der Hauptheld, der Textilreisende Alfredo Traps, nicht sehr viel von dem, was vorfiel, kapierte. “ 703 Es ist vielleicht nur ein marginaler äußerer Umstand, der hier zwischen Leben und Tod entscheidet: dass Pilet nämlich in dem einen Fall den Gast des Hauses, der ernsthaft die Vollstreckung des Urteils erwartet, sicher auf sein Zimmer und zu Bett bringt 704 und in dem anderen Fall auf der Treppe hinauf einschläft und den schuld-hypnotisierten Traps so sich selbst überlässt. 705 Die schlimmstmögliche Wendung ist in beiden Varianten vollzogen: In dem einen Fall endet das Leben, in dem anderen übersteht Traps den Rausch, ohne dass Spuren bleiben: Einen kurzweiligen Abend hat er in jedem Fall gehabt. 706 699 Die Panne, WA 21 88 700 Ebd. 701 Vgl.: Ingrid Schuster: Dreimal ‚ Die Panne ‘ : Zufall, Schicksal oder „ moralisches Resultat “ ? . In: Zu Friedrich Dürrenmatt. Hrsg. v. Armin Arnold. Stuttgart: Klett 1982 (= LGW- Interpretationen Bd. 60). S. 160 - 172. Hier: S. 166. 702 In der Forschung gibt es zu der Frage nach der Qualität der zwei Varianten unterschiedliche Auffassungen. Während Mayer Traps ’ Selbstmord für die „ bedeutendere und folgerichtigere Form “ (Mayer 1998: S. 303.) hält, zieht Bänziger das Hörspiel der Prosafassung vor, da Traps dort „ für den Zuhörer wirklich gerichtet “ sei, während der Leser den Tod des erhängten Lederjans als Farce empfindet “ (Hans Bänziger: Frisch und Dürrenmatt. 7., neu bearb. Aufl. Bern: Francke 1976. S. 176.). Knapp wiederum folgt Mayer: Er hält den Erzähltext für „ überzeugender “ . (Vgl.: Knapp 1993: S. 80.) 703 Ansprache anläßlich der Verleihung des Kriegsblindenpreises, WA 16 179 704 Vgl.: Die Panne (Hörspiel), WA 16 53 f. 705 Vgl.: Die Panne, WA 21 93 706 Obwohl Mayer bereits 1963 unmissverständlich und vollkommen zu Recht darauf hingewiesen hat, dass man „ Dürrenmatt nicht unsinniger mißverstehen [könnte] als durch die Annahme, er habe als Moralist am Fall des Generalvertreters der Hephaiston demonstrieren wollen, ein Mensch begehe in seinem Leben oft wirkliche Verbrechen, 199 Die Frage indes, ob das Experiment der vier Pensionäre als geglückt oder gescheitert gelten darf, lässt sich im Falle des Hörspiels leicht entscheiden. Traps fährt seiner Wege und reiht sich in die Gruppe der Gäste ein, die unbehelligt und ohne Schaden zu nehmen ihr Gastspiel in der Villa überleben. In der Erzählung verhält es sich anders. Zwar erweist sich Traps auch hier als vortrefflicher Mit-spieler, sein Tod aber zerstört die als vollkommenes Spiel angelegte Gerichtsverhandlung 707 , was der Staatsanwalt mit einer Mischung aus Betroffenheit und Empörung quittiert, wenn er „ recht schmerzlich “ ausruft: „ Alfredo, mein guter Alfredo! Was hast Du Dir denn um Gotteswillen gedacht? “ 708 Offensichtlich bemerkt der Staatsanwalt erst in diesem Moment, dass Traps irrtümlich davon ausgegangen sein muss, sein Plädoyer sei tatsächlich ernst gemeint gewesen, dieses Gericht, zusammengesetzt aus vier eitlen, zynischen, korrupten alten Männern, habe wirklich das Recht, ja die Gerechtigkeit repräsentiert. Das Bewusstsein einer moralischen oder auch streng nach der von ihm selbst bevorzugten Bedingungstheorie juristischen Mitschuld keimt in ihm jedoch nicht auf; schließlich stand doch nie in Frage, dass alles nur ein Spiel, Ironie, ein So-Tun-als-ob war. Sein letzter Satz ist denn auch ausschließlich beißender Vorwurf und endgültiges Urteil über Traps ’ Spielerqualitäten und kaum Ausdruck echten Mitgefühls oder gar von Trauer: „ Du verteufelst uns ja den schönsten Herrenabend! “ 709 Ihr Experiment erhält hier zumindest eine kaum vorhergesehene unappetitliche Wendung. In der dramatischen Variante erhält dieses Motiv, wie viele andere Motive der Urfassungen auch, allerdings eine verschärfende Akzentuierung - denn durch das eingeschobene „ beinahe “ wird die Aussage des Staatsanwaltes (hier vom Richter) in ihr Gegenteil verkehrt: Nicht einmal für einen Augenblick vermag Traps ’ Tod noch die vier Greise aus ihrer lebensweltfernen selbst wenn diese nach den Buchstaben des Gesetzes nicht geahndet würden “ (Mayer 1998: S. 295.), so ist dies auch danach immer wieder geschehen: Arnold etwa meint: „ Das groteske Gericht in der Panne bringt Traps seine Schuld zum Bewußtsein. “ (Arnold 1986: S. 59.); Spycher ist der Ansicht, die Gerechtigkeit weihe in der „ Panne “ einen Mann, „ der gedankenlos eine schlimme Tat begangen hat, spielerisch, verständnisvoll, ja fast gnadenhaft in ihr hehres Geheimnis ein und hebt den einsichtig Gewordenen zu sich empor “ und Traps gleiche demzufolge Ill (Peter Spycher: Friedrich Dürrenmatt. Das erzählerische Werk. Frauenfeld u. Stuttgart: Huber 1972. S. 235.); Paganini stellt fest, Traps werde „ von der Idee der Gerechtigkeit kurz aus seinem Alltag herausgerissen und dazu verführt einer - vielleicht menschlichen - Bestimmung zu denken “ (Claudia Paganini: Das Scheitern im Werk von Friedrich Dürrenmatt. „ Ich bin verschont geblieben, aber ich beschreibe den Untergang “ . Diss. Univ. Innsbruck 2004. Hamburg: Dr. Kovac 2004. S. 122.). 707 Vgl.: Mayer 1998: S. 303. 708 Die Panne, WA 21 94 709 Die Panne (Komödie), WA 16 94 200 Egozentrizität zu reißen, den gelungenen Abend gar zu verderben, handelt es für sie bei dieser unästhetischen Begebenheit bestenfalls doch um einen nebensächlichen Fauxpas, der einem ihrer Gäste peinlicherweise unterlaufen ist. Von ihrem Hobby werden sie vermutlich auch zukünftig nicht lassen. Dürrenmatt ist sich bewusst, dass der menschliche Vollzug einer vermeintlichen Gerechtigkeit nur Hybris sein kann, Ausdruck einer Macht, deren konkrete Ausübung sich durch eine abstrakte Idee vermeintlich legitimiert. In einem Gespräch von 1979, dem Jahr, in dem er die Prosafassung der „ Panne “ zum Drama „ weiterdachte “ , führt er diesen Gedanken aus: „ Die Idee der Gerechtigkeit ist die entsetzliche Idee, die eigentlich nur Gott haben kann. Der Mensch kann nicht richten. “ 710 Dieses Motiv, welches in Ansätzen auch schon in der Erzählung enthalten ist 711 - Dürrenmatt selbst spricht 1983 von einem „ Scheingericht [. . .], das sich Pensionäre erlauben “ 712 - formuliert Richter Wucht in der Bühnenbearbeitung der „ Panne “ explizit: Was war die heutige Nacht? Ein übermütiger Herrenabend, nichts weiter, eine Parodie auf etwas, was es nicht gibt und worauf die Welt immer wieder hereinfällt, eine Parodie auf die Gerechtigkeit, auf die grausamste der fixen Ideen, in deren Namen der Mensch Menschen schlachtet. 713 Die Grenze zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Recht und Unrecht erscheint in der „ Panne “ als schmaler Grat, ihre Bestimmung als willkürliches, fließendes Phänomen, als Ausdruck einer Sicherstellung menschlicher Deutungshoheit und Machtausübung, als Mittel der Legitimation von Gewalt über andere. Dürrenmatts Experiment macht eines deutlich: Die Einschätzung des Geltenden folgt individuellen Anschauungen, Gefühlen, Launen, Affekten: Die eigene Schuld hat für Traps den Status einer Wahrheit ( „ Ich sehe es ein “ 714 , „ nun weiß ich es “ , „ Ich erkenne es “ 715 ), ohne dass er reflektiert, seine Erkenntnis könnte lediglich der womöglich falsche oder unvernünftige Glaube an ein Wissen sein, dessen erwiesenes Fundament unsicher, lückenhaft, ja 710 G II 299 711 Hier ist Bloch zu widersprechen, der ausführt, im Drama vollziehe sich „ die Zurücknahme der Grundidee ‚ Gerechtigkeit ‘ aufgrund logischer Einsicht “ (Peter André Bloch: Die Panne. Das Zuendedenken einer Idee. In: Über Friedrich Dürrenmatt. Hrsg. v. Daniel Keel. 6., verb. u. erw. Aufl. Zürich: Diogenes 1998. S. 226 - 240. Hier: S. 240.). Tatsächlich ist nicht davon auszugehen, dass Dürrenmatt in den Urfassungen der „ Panne “ die Gerechtigkeit, die von den vier Greisen repräsentiert wird, in einer Weise konzipiert hat, die einer Zurücknahme bedürfte. Vielmehr ist sie auch hier schon als ein zutiefst groteskes ideologisches Motiv angelegt, welches im Drama eine zusätzliche Konkretisierung erfährt. 712 G III 174 713 Die Panne (Komödie), WA 16 164 f. 714 Die Panne (Hörspiel), WA 16 46 715 Die Panne (Hörspiel), WA 16 50 201 erlogen ist. Dürrenmatt desavouiert die Wahrheit als Glaube und den Menschen, der vermeintliche Wahrheiten unkritisch für wahr nimmt, als naiv und leidenschaftlich. „ Das Schicksal “ , welches „ hinter den Kulissen “ 716 lauert, liegt auch darin, Dogmen unhinterfragt zu lassen. Das Zeitalter der Katastrophen, welches Dürrematt konstatiert, zieht seine unbändige Energie auch aus der menschlichen Eigenart, Prognosen auf Glaubenssätzen aufzubauen, Handlungen aus Annahmen abzuleiten, die auf der Basis individueller Erfahrungen als natürliche Gesetzmäßigkeiten gesehen werden. Die „ Panne “ ist ein Experiment über Erkenntnis, das zeigt, welche epistemologischen Schwierigkeiten ein deduktives Verfahren - und diesem folgt das Gericht, wenn es vom Prinzip ausgeht, ein Verbrechen lasse sich immer finden - mit sich bringt. Zum einen zeigt sich die erkenntnistheoretische Anfälligkeit dieses induktiven Sprunges, der nötig ist, um durch empirische Daten - hier etwa die berufliche Erfahrung der Juristen - überhaupt zu einer allgemeinen Erkenntnis kommen zu können, zum anderen, welcher Manipulation es bedarf, um diese dann im Einzelfall zu bestätigen. Die Gerechtigkeit, die keiner Instanz unterworfen ist außer der eigenen Anmaßung, wird zur Ideologie. Das macht Dürrenmatt deutlich, wenn er von der „ Gerechtigkeit im luftleeren Raum “ 717 spricht und das Scheingericht der „ Panne “ mit den Gerichten faschistischer und kommunistischer Terrorherrschaften - namentlich mit den Stalinistischen Schauprozessen - vergleicht. 718 Auch die Assoziation der nationalsozialistischen Gerichtsbarkeit liegt hier nahe, die im Namen des geltenden Rechts den Staatsterror ausübte. So richtig es ist, in Traps den Repräsentanten seiner Zeit zu sehen - Dürrenmatt selbst tut dies ja 719 - so unzureichend ist es, in diesem Gericht nur das Synonym einer anachronistischen Gerechtigkeit zu erblicken, um anhand dieses Spannungsverhältnisses die Unvereinbarkeit klassischer Ideale mit der modernen Katastrophenwelt anschaulich zu machen. 720 Das gleiche gilt für die einseitige Ansicht, Dürrenmatt illustriere anhand seines Protagonisten einen „ aktuellen Gesellschaftszustand “ 721 und „ eine Welt der Verantwortungslosigkeiten und Pannen “ 722 , welche mit den Mitteln der Tragödie nicht mehr dargestellt werden könne. Es darf hier nicht der Umstand vernachlässigt werden, dass Dürrenmatt auch in der „ Panne “ induktiv vorgeht, d. h. 716 Die Panne, WA 21 39 717 G III 174 718 Vgl.: Ebd. 719 Vgl.: Die Panne, WA 21 39 720 Vgl.: Mayer 1998: S. 297. 721 Ebd., S. 305. 722 Ebd., S. 305 f. 202 das Bild, das er entwirft, aus dem Einfall heraus konstruiert. Die Rolle der vier Greise ist hierbei von ebensolcher Relevanz wie die ihres Mitspielers: Sie sind ebenso Teil dieser „ Welt der Pannen “ , in die „ unser Weg “ - Dürrenmatts und der des Lesers - „ [führt] “ 723 . Sie sind zwar alt, aber nicht älter als das immerwährende Streben des Menschen nach der Herrschaft über andere, nicht älter als die Gier nach Macht und deren Legitimation, ganz gleich, wie sie sich durchsetzt, ob mit physischer Repression oder verführerisch-schmeichelnd: Diese vier Greise sind von erschreckender Agilität, von unverschämter Vitalität, von erstaunlicher Aktualität. Die Phänomenologie der Katastrophe erweist sich keineswegs nur als eine Aneinanderreihung von Zufällen, unmotivierten oder indeterminierten Geschehnissen, unbedachten, an sich harmlosen Handlungen, sondern als ein Spiel, in dem der Mächtige seine Intentionen mit metaphysischen Ideen tarnt, um den Ohnmächtigen unter geschickter Verschleierung möglicher Gefahren für seine Zwecke zu missbrauchen. „ Die Ideologien sind die Kosmetika der Macht “ 724 , konstatiert Dürrenmatt in seinem „ Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht “ (1969). Düsing erkennt Dürrenmatts visionäre Kraft, wenn er in Traps jenen antizipierten Repräsentanten der modernen Spaßgesellschaft erblickt, „ der alles auf sich nimmt, um sich [. . .] auszuzeichnen, der sogar sein Leben opfert, um einmal im Mittelpunkt zu stehen “ 725 . Das menschliche Grundbedürfnis nach Beachtung und Anerkennung, und sei der Preis für dessen Befriedigung auch noch so hoch, wird hier im wahrsten Sinne des Wortes „ zufällig aufgefangen, widergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen “ 726 : Dürrenmatt nimmt Warhols berühmte „ 15 minutes of fame “ vorweg - hinter den Kulissen aber lauert die menschliche Verführbarkeit, die Korrumpierung der Autorität - und die Beeinflussung des Menschen, der jedem Reiz, wenn er ihm denn schmeichelt, verfallen kann. 2.3 Das Experiment als Parameter menschlichen Handelns 2.3.1 Die schlimmstmögliche Wendung in einer Katastrophenwelt Der Mensch hat sich, und das wird nicht nur in der „ Panne “ deutlich, sondern zieht sich leitmotivisch in unterschiedlichen Ausprägungen durch Dürrenmatts gesamtes Werk, eine Welt geschaffen, die sich mehr und mehr seiner 723 Die Panne, WA 21 39 724 Monstervortrag, WA 33 63 725 Düsing 2013: S. 146 f. 726 Die Panne, WA 21 39 203 Kontrolle entzieht. Er befindet sich Dürrenmatts Ansicht nach in einem dialektischen Zwiespalt, in einer Grauzone von Rationalität und Irrationalität, die ihn und seine Lebenswirklichkeit, die ihre Einheit und damit ihre Übersichtlichkeit verloren hat, einer streng wissenschaftlichen Logik entwindet und die - im Hinblick auf eine Erkenntnis der menschlichen Natur - eines Analyseverfahrens bedarf, das abseits des naturwissenschaftlichen liegt: „ Das dramaturgische Denken weist auf den Widerspruch zwischen dem Denken und dem Handeln des Menschen hin. Es ist eine Anleitung, spielerisch über die Wirklichkeit kritisch nachzudenken. “ 727 Dürrenmatt sieht in dieser Aporie, der Unauflösbarkeit jener Divergenz von Denken und Handeln, das Paradoxe des Menschen schlechthin ( „ Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit. “ 728 , heißt der 19. der „ 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘“ ), dessen Zentrum eine ethische Komponente bildet: „ Unser Problem ist die Nichtanwendung der Vernunft: Warum ist der Mensch gescheiter, als er handelt? “ 729 Dieses Phänomen ist für Dürrenmatt kennzeichnend für die Welt unserer Zeit; es manifestiert sich in einem Verhalten, das Erkenntnisse als vernünftige Voraussetzungen des Handelns zugunsten anderer Impulse zurückdrängt. Menschliche Handlungen lassen Rücksicht auf Mitmenschen, vernünftige, ethische Erwägungen allgegenwärtig vermissen; statt ihrer brechen sich Motive Bahn, die auf den kurzfristigen, vermeintlichen Erfolg ausgerichtet sind und den Zielen der Macht folgen. Diese Kategorie des Experimentellen, das Versuchen an sich, ist für Dürrenmatt zum einen ein wesentliches Merkmal der menschlichen Natur, zum anderen ein zentrales konstitutionelles Element der Katastrophen-Welt, oder in seinen Worten, der „ Welt der Pannen “ 730 , die längst zur Lebensrealität des Menschen geworden ist: Das Schicksal hat die Bühne verlassen, auf der gespielt wird, um hinter den Kulissen zu lauern, außerhalb der gültigen Dramaturgie, im Vordergrund wird alles zum Unfall, die Krankheiten, die Krisen. Selbst der Krieg wird abhängig davon, ob die Elektronen-Hirne sein Rentieren voraussagen [. . .] So droht kein Gott mehr, keine Gerechtigkeit, kein Fatum wie in der fünften Symphonie, sondern Verkehrsunfälle, Deichbrüche infolge Fehlkonstruktion, Explosion einer Atombombenfabrik, hervorgerufen durch einen zerstreuten Laboranten, falsch eingestellte Brutmaschinen. 731 Was Dürrenmatt hier, im ersten Teil der Erzählung „ Die Panne “ von 1955 skizziert, eine Ära der Unkontrollierbarkeit, nimmt er 35 Jahre später, in 727 Monstervortrag, WA 33 93 728 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 93 729 G II 255 730 Die Panne, WA 21 39 731 Ebd. 204 seinem letzten, zu Lebzeiten gehaltenen Vortrag „ Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen “ , einer Laudatio auf Michail Gorbatschow, wieder auf: „ Wir bauen uns eine technische und ökologische Katastrophenwelt auf. “ 732 Loetscher sieht darin, dass Dürrenmatt das Katastrophen-Szenario, den „ worst case “ - in Dürrenmatts Worten „ die schlimmstmögliche Wendung “ - immer wieder in seine Werke integriert, die Modernität und Postmodernität des Autors: „ Er war postmodern, bevor es ein Wort dafür gab. “ 733 Postmoderne Anklänge liegen sowohl in der Hartnäckigkeit, mit der Dürrenmatt wieder und wieder die Katastrophe beschreibt - er ist überzeugt, nur in ihr den Menschen wirklich darstellen zu können, die Katastrophe stellt für ihn ein Faktum von axiomatischer Präsenz dar - , als auch in dem Bestreben, diese Katastrophe unvoreingenommen zu analysieren, sie nicht als etwas hinzunehmen, das einfach passiert, sondern ihre Ursachen zu finden, den Einzelfall zu beleuchten, herzuleiten und nachzuvollziehen, was die Katastrophe verursacht. Den einzelnen Menschen, das individuelle Subjekt als das Apriori des künstlerischen Denkens zu setzen, korrespondiert mit seiner Weigerung, ein doktrinäres System anzuerkennen ( „ Die moderne Welt ist ein Ungeheuer, das mit ideologischen Formeln nicht mehr zu bewältigen ist “ 734 ), dem sich der Einzelne zuordnen oder aus dem er sich herleiten ließe und das nur allzu oft herangezogen wird, um hinter den Katastrophen die Verantwortung zu verschleiern. Dürrenmatt ist überzeugt: „ Die Welt ist so, wie der Mensch sie macht. “ 735 Und es ist - seinem existenziellen Begriff vom Menschen als Einzelwesen 736 im „ Monstervortrag “ folgend - der einzelne Mensch, der handelt und die Welt zu dem macht, was sie ist. Dies bewirkt, wie er in „ Varlin schweigt “ (1967) ausführt, seine Entscheidung, ein Stück induktiv, vom Einzelkonflikt her, anzugehen: Schreiben ist ein Entdecken des Menschlichen in jeder Gestalt. Wie Sokrates in einem Verbrecher sich selber in seiner Möglichkeit sah, so spürt der Schriftsteller in jedem Menschen den Menschen auf, das Besondere, das Einmalige, er liebt, indem er schreibt, seine Gestalten gleichsam kreatürlich, seien sie nun gut oder böse, er liebt sie als seine Geschöpfe, nicht als ein Allgemeines, das den Menschen nicht zum Menschen macht, sondern zu einem zoologischen Begriff, zu einem Primaten. 737 732 ‚ Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen ‘ , WA 36 208 733 Hugo Loetscher: Labyrinth mit Zusammenhang. In: Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. Hrsg. v. Schweizerischen Literaturarchiv, Bern, u. Kunsthaus Zürich. Zürich: Diogenes 1994. S. 8 - 12. Hier: S. 11. 734 Dramaturgie des Publikums, WA 30 174 735 Monstervortrag, WA 33 90 736 Vgl.: Monstervortrag, WA 33 56 f. 737 Varlin schweigt, WA 32 168 205 In jedem Menschen den Menschen aufzuspüren, d. h. in jeder Gestalt auch die Natur des Menschlichen zu vermuten, bedeutet vor diesem Hintergrund auch, ihn als Handelnden darzustellen, dessen Tun ein in die Zukunft gerichtetes planvolles und deshalb auch ungewisses Unterfangen darstellt. Damit ist die zweite wesentliche Dimension des Experimentellen bei Dürrenmatt angesprochen, die des Handelns. Eine Betrachtung der lexikalischen Bedeutung des zugrundeliegenden Verbs „ experiri “ , welches mit „ einen Versuch machen “ , „ versuchen “ , „ erproben “ , „ prüfen “ , „ sich im Kampf mit jemandem messen “ , „ mit jemandem gerichtlich streiten “ , „ etwas riskieren “ , „ es auf etwas ankommen lassen “ , „ durch eigene Erfahrung kennenlernen “ , „ an sich erfahren “ , „ erleben “ , „ Unangenehmes erleiden “ , „ durchmachen “ , „ bestehen “ übersetzt werden kann, fokussiert jenseits der epistemologischen Dimension des Experimentellen eine zweite Bedeutungsebene, die als fundamentale Kategorie des menschlichen Daseins Eingang in Dürrenmatts Kunst findet: als der mit sich selbst und der Welt experimentierende Mensch. Das Experiment erscheint darin als ein Prinzip der menschlichen Natur, ein Grundmuster menschlichen Handelns - es ist damit auch als Konstituente des dramatischen Konfliktes von allergrößter Bedeutung. Wenn die Handlungsträger in Dürrenmatts Stücken sich in Experimenten begegnen, dann konstituieren sie vor allem mit diesen deren agonale Spannung. Ein Grundverständnis dieser Art des handelnden Experimentierens vermitteln die zwei Definitionen von Nietzsche und Popper. 2.3.2 Nietzsches voluntaristische Experimentaldefinition Eine ganz allgemeine Definition, die das Experiment als eine Grundkategorie des menschlichen Handelns darstellt und dabei den voluntaristischen Bezug in den Mittelpunkt rückt, kommt von Friedrich Nietzsche: „ In Wahrheit heißt etwas wollen, ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir ‚ können ‘ ; darüber kann uns allein der Erfolg oder Mißerfolg belehren. “ 738 Nach dieser Definition handelt es sich bei einem Experiment um eine bewusste Tat, die 738 Nietzsche 1999: S. 86. Es ist nicht sicher, ob Dürrenmatt dieses Zitat Nietzsches aus dem Nachlass bekannt war. Gassner datiert Dürrenmatts intensive Beschäftigung mit der Philosophie Nietzsches schon in die Mitte der 1930er Jahre und zwischen November 1977 und September 1978 und weist Nietzsches Einfluss auf Dürrenmatts Frühwerk sowie umfangreiche Textübernahmen aus Nietzsches „ Genealogie der Moral “ in „ Der Winterkrieg in Tibet “ nach. (Vgl. hierzu: Peter Gassner: „ Und vielleicht treffe ich mich . . . mit Herrn Nietzsche “ - Dürrenmatt und Friedrich Nietzsche. In: Dürrenmatt und die Weltliteratur. Hrsg. v. Véronique Liard u. Marion George. München: Martin Meidenbauer 2011. S. 31 - 47.) 206 einem zielgerichteten Willen folgt, und um die Erkenntnis, ob die auf dem Willen aufbauenden eingeleiteten Handlungen, die eine Einwirkung auf die Wirklichkeit bedeuten, tatsächlich zu dem angestrebten Ziel führen. Nietzsche definiert das Experiment somit als eine Art von Versuch, der Auskunft über die Kausalität von eingeleiteten Maßnahmen und angestrebtem Ziel gibt, und über das Vermögen des Handelnden, alle Einflussfaktoren auf das Ergebnis im Vorfeld korrekt eingeschätzt zu haben. Es fällt hier eine inhaltliche Nähe zu den juristischen Begriffen „ Vorsatz “ und „ Versuch “ auf. Vorsatz, der als „ das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung bei Begehung der Tat “ 739 definiert wird, stellt eine wesentliche subjektive Tatbestandsvoraussetzung zur Erreichung eines Taterfolges dar. Nach Nietzsches Definition wäre das „ etwas “ der Taterfolg, der gewollt und durch eine Einwirkung auf die Wirklichkeit bewusst angestrebt wird. Diese Einwirkung auf die Wirklichkeit ist eine bestimmte Handlung, die auf Basis einer Hypothese gewählt und dann entsprechend ausgeführt wird. Die Hypothese bezieht sich auf die Kausalität, die zwischen der ausgeführten Handlung und dem Taterfolg besteht. Ob die eingeleitete Maßnahme hinlänglich qualifiziert war, das Ziel zu erreichen, darüber belehrt den Experimentierenden - folgt man Nietzsche - nach der Tat die Reaktion der Wirklichkeit. Auch hier ist, unter Außerachtlassung der strafrechtlichen Relevanz, eine Parallele zu der juristischen Definition erkennbar, nach der man als Versuch „ die Betätigung des Entschlusses zur Begehung einer Straftat durch eine Handlung, die zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes zwar unmittelbar angesetzt, aber noch nicht zur Vollendung geführt hat (vgl. § 22 StGB) “ 740 bezeichnet. Das Entscheidende für den Experimentator - Nietzsche zufolge die Generierung einer Erfahrung 741 - liegt in der existenziellen Lücke des „ um zu “ , die ein Moment der Ungewissheit darstellt und die Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg des Experiments bringt. Diese Lücke kann schmal sein - in diesem Fall besteht eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, durch die Handlung das Ziel zu erreichen - oder sie kann groß sein, dann liegt der Taterfolg zwar im Rahmen des Möglichen, wird aber in zunehmendem Maße von imponderablen äußeren Faktoren abhängig. Die Größe der existenziellen Lücke 739 http: / / www.rechtswoerterbuch.de/ recht/ v/ vorsatz/ (Stand 9. Mai 2012) 740 http: / / www.rechtswoerterbuch.de/ recht/ v/ versuch/ (Stand: 9. Mai 2012) 741 Das Wort „ empirisch “ kommt von „ gr. empeirikós zu empeirós ‚ erfahren, kundig ‘ , eigtl. ‚ im Versuch, im Wagnis stehend ‘ , dies zu gr. peira ‚ Versuch, Wagnis ‘ : erfahrungsgemäß, aus der Erfahrung, Beobachtung [erwachsen]; dem Experiment entnommen. “ (Duden. Das Große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Hrsg. u. bearb. v. Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim u. a.: Dudenverlag 1994. S. 398.) 207 bestimmt das Maß an Risiko, welches das Experiment auszeichnet. Eine absolute Sicherheit gibt es nicht, weil ein Mensch nie alle Umstände vorauszuberechnen vermag. Stellvertretend für die zahlreichen Figuren Dürrenmatts, die in diesem Sinne experimentieren, sei hier Kommissär Bärlach in „ Der Verdacht “ erwähnt, dessen Vorgehen in der Klinik Emmenbergers von Dürrenmatt als ein entsprechendes Experiment, welches eines von großem Risiko darstellt, beschrieben wird: „ Er legte sich ins Kissen zurück und überdachte das nun Erreichte. Es war wenig genug. Er hatte seinen Plan durchgeführt. Nun hieß es, das Begonnene weiter zu verfolgen. “ 742 2.3.3 Poppers soziale Experimente kleinen Maßstabs Eine wichtige Erweiterung dieses Experimentbegriffs vollzieht Karl Popper in „ Die offene Gesellschaft und ihre Feinde “ , einer Schrift, die Dürrenmatt vertraut war 743 . Popper räumt darin mit dem Vorurteil auf, „ daß realistische soziale Experimente “ lediglich „ im ‚ großen Maßstab ‘ durchgeführt werden und daß sie die gesamte Gesellschaft einbeziehen müssen “ 744 . Er ist der Ansicht, dass soziale Experimente auch „ oft in sehr ‚ kleinem Maßstab ‘ angestellt werden “ 745 . Als Beispiele nennt er die Eröffnung eines neuen Ladens oder die Reservierung einer Theaterkarte, Handlungen, durch die ebenso, nur in kleinerem Ausmaß, eine Wirkung auf die Gesellschaft ausgeübt wird. Auch im Rahmen von Poppers Definition spielt die Einwirkung auf die Wirklichkeit, die einer bestimmten Absicht folgt, die entscheidende Rolle. Ob die Theaterkarte tatsächlich vorbehalten oder etwa aus Versehen einem anderen Besucher ausgehändigt wird, ob nach der Ladeneröffnung Kunden tatsächlich dort einkaufen, sind Entwicklungen, die in der Zukunft liegen, die zwar angestrebt werden können, deren tatsächliches Zustandekommen zum Zeitpunkt der Handlung aber noch ungewiss sind. Popper führt „ unser ganzes Wissen von sozialen Bedingungen “ auf Erfahrungen zurück, „ die wir beim Aufstellen derartiger Experimente gewonnen haben. “ 746 742 Der Verdacht, WA 20 208 743 Vgl.: Über Toleranz, WA 33 127 744 Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. I: Der Zauber Platons. 8. Aufl. Hrsg. v. Hubert Kiesewetter. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2003. S. 193. 745 Ebd. 746 Ebd., S. 193 f. 208 2.3.4 Dürrenmatts planender Mensch Nun ist die Eröffnung eines Ladens nicht originär ein Experiment, das Dürrenmatt fasziniert - es sei denn, es handelt sich um ein Geschäft, dessen Portfolio die Vernichtung von Leichen ( „ Der Mitmacher “ ) oder zwielichtige Geldanlagen, Erpressung und Mord ( „ Frank der Fünfte “ ) aufführt. Das Experimentieren der Menschen prädestiniert sich für Dürrenmatt als Gegenstand der Kunst anhand zweier wichtiger Implikationen: Zum einen als ein Verhaltensmuster, das in die Zukunft gerichtet ist, also aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive heraus immer einen Unsicherheitsfaktor in sich birgt; zum anderen als Indikator der ethischen Natur des Menschen. Im Akt des bewussten, willentlichen Handelns, im zielgerichteten Einwirken auf die Wirklichkeit liegt die Freiheit des Menschen begründet; der Entscheidung zur Handlung ist die Abwägung der als relevant erkannten Einflussfaktoren immanent. Das Experiment weist also auf die motivationale Struktur des Experimentierenden zurück, indem es die sichtbare Objektivation eines Wollens darstellt. Dementsprechend geben beide Definitionen, sowohl die von Nietzsche als auch die von Popper, Aufschluss über das praktische Handeln des Dürrenmattschen Personals in experimenteller Hinsicht, sie definieren, was unter einem Experiment, welches auf die Erreichung konkreter Ziele ausgerichtet ist, zu verstehen ist. Es ist der - wie Dürrenmatt selbst formuliert - „ [p]lanmäßig vorgehende Mensch “ , der „ ein bestimmtes Ziel erreichen “ 747 will, anhand dessen er exemplarisch die Natur des Menschen darstellt. Der Mensch konkretisiert sich anhand seiner Experimente; in ihnen wird er darstellbar. Das Experiment wird zum Paradigma des menschlichen Handelns. Für Dürrenmatt ist eine solche Definition mit der vorsätzlichen, also der wissentlichen und willentlichen Ausübung von Macht gleichzusetzen, denn: „ Wer Macht ausübt, wirkt auf die Wirklichkeit ein [. . .]. “ 748 Vor diesem Hintergrund - der Einordnung des Experiments als Maxime des Agens, als Mittel des menschlichen Kampfes überhaupt - lassen sich nicht nur - wie Auge dies tut 749 - die Taten der „ großen Experimentatoren “ bei Dürrenmatt interpretieren, sondern auch die anderer Figuren; sie alle wollen etwas und versuchen, es durchzusetzen. Dürrenmatt sieht im Experiment des Einzelnen, welches in einer Art Fiktion im Vorfeld antizipiert wird, die bewusste Durchführung eines Planes, der individuellen, ja zum Teil hochgradig paradoxen Motivationen entspringt. In der Summe der Handlungen aller 747 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 92 748 G II 33 749 Vgl.: Auge 2004: S. 298. 209 Beteiligten eines Stückes lässt sich ein experimentelles System erkennen, in dem sich Interdependenzen, Kausalitäten, Reziprozitäten feststellen lassen, in dem es keine abstrakten, von jedwedem Kontext unabhängigen menschlichen Entscheidungen gibt, sondern Handlungen, die zum einen situativ bedingt sind - also als Reaktionen auf bestimmte Bedingungen durchgeführt bzw. versucht werden - und zum anderen auf der Folie charakterlicher, persönlichkeitsspezifischer Prägungen stattfinden, d. h. in ihrer Art und Intensität auf die emotionale Struktur ihres Trägers zurückweisen. Schön zu sehen sind diese Formen systemischer Bezüglichkeit in diversen personellen Konstellationen - etwa „ Claire Zachanassian - die Güllener - Ill “ , „ Bärlach - Gastmann - Tschanz “ , „ Doc - Boss - Ann - Cop “ oder auch „ Kohler - Winter - Helene - Spät “ . Dürrenmatt zeigt den Menschen stets als einen experimentierenden. In vielen Fällen erschaffen sich seine Figuren auch - und hierin liegt der Bezug zur diagnostizierten Katastrophenwelt, aus eigenem Antrieb eine Wirklichkeit, an der sie leiden und zugrunde gehen. Das ist ihr unauflöslicher Konflikt, an ihm entzündet sich die moralische Frage, die in jedem menschlichen Konflikt enthalten ist. Dürrenmatt stellt diesen Konflikt in immer neuen Modellfällen dar, führt ihn wieder und wieder vor. Indes sind Konflikte, in denen ethische Prinzipien aufeinandertreffen, unschuldig gelitten und durch den Tod die Unversehrtheit eines Allgemeinen wiederhergestellt wird, wie Dürrenmatt in „ Turmbau “ in Anlehnung an die Kierkegaardsche Theorie des Tragischen beschreibt 750 , in dieser Welt unmöglich geworden; ein derartiges als allgemein anzuerkennendes Regularium, eine ethische Autorität, zu der sich eine Position dialektisch aufbauen ließe, ist als ein Intaktes in „ einer gesichtslosen Welt “ 751 praktisch nicht mehr vorhanden: [D]as Allgemeine entgeht meinem Zugriff. Ich lehne es ab, das Allgemeine als eine Doktrin zu finden, ich nehme es als Chaos hin. Die Welt [. . .] steht für mich als ein Ungeheures da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muß, vor dem es allerdings kein Kapitulieren geben darf. 752 Zwar mag eine „ verlorene Weltordnung “ in einzelnen Rollen früher Stücke aufscheinen, als Ahnung eines Ethischen - Dürrenmatt nennt als Beispiele seines mutigen Menschen den Blinden, Romulus, Übelohe und Akki - doch machen diese Figuren in ihrer träumerisch enthobenen Opposition tatsächlich um so mehr deutlich, dass das Allgemeine keine reelle Substanz mehr hat, sondern in Trümmern liegt. An die Stelle seiner einstmals hehren Position tritt 750 Vgl.: Das Haus, WA 29 125 751 Theaterprobleme, WA 30 62 752 Theaterprobleme, WA 30 63 210 die Dekonstruktion, die willkürliche Ausübung von Macht, die durch individuelle Anmaßung fragwürdigen, grotesken Ausdruck erlangt. Am deutlichsten tritt dies in Dürrenmatts „ Der Mitmacher “ zutage, worin die Gewaltherrschaft über das Syndikat nacheinander von verschiedenen Individuen an sich gerissen wird, aber natürlich auch in Claire Zachanassian, die durch ihr Angebot an die Güllener den ethischen Referenzrahmen des gesamten Stückes dekonstruiert, und bei Kommissär Bärlach, der durch die Wette mit Gastmann erst eine Situation mit heraufbeschwört, die zum Ausgangspunkt zahlreicher Verbrechen wird. Eine ethische Position kann sich bei Dürrenmatt nur noch ex negativo, im Umkehrschluss gleichsam, durch Interpretation, ergeben, längst nicht mehr durch eine positive Darstellung. In diesem Kontext, in dieser Sphäre der Unsicherheit, der verlorenen Einheit - des verformten Rechts - bewegen sich Dürrenmatts Figuren, dieser Kontext ist die Welt, die der Einzelne zu bestehen hat, die er bewältigt oder in der er scheitert. Bei Dürrenmatt ist das Allgemeine nur noch als Groteske, als Chaos oder Labyrinth darstellbar; es ist die dialektische Position des Einzelnen, die er erkenntnistheoretisch und damit auch ethisch einnimmt, und durch die er eine solche paradoxe Welt projiziert; seine Dialektik besteht darin, dass er als Individuum in den Sog eines dekonstruierten Allgemeinen gerät, gleichzeitig aber konstituierender Teil dieses Allgemeinen ist. Somit verfängt er sich in einem paradoxen Konflikt mit sich selbst. Vor diesem Hintergrund - der Konstituierung eines Gesamtbildes durch die Summe paradoxer Individuen - ist es nur konsequent, dass Dürrenmatt die Divergenz von Täter und Opfer auflöst und seine Figuren als komplexe, gebrochene, niemals eindeutige Persönlichkeiten zeichnet. In ihren Beziehungen wird die Wirklichkeit als ein systemisches Geflecht von unterschiedlichen einzelnen Menschen deutlich, die in ihren jeweiligen Bezügen zu sich selbst und zu den anderen stehen. 2.3.5 Der Zufall als paradoxe Faktizität - das Experiment, das aus dem Ruder läuft „ Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen. “ 753 Eine Handlung, das zeigen Dürrenmatts Geschichten immer wieder, kann ebenso gut auch einen anderen als den von den Figuren angestrebten Verlauf nehmen. Ungeplantes vermag einen vorausberechneten Ablauf zu erschüttern und über das Schicksal der han- 753 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 91 211 delnden Personen zu entscheiden. Trotzdem muss Reich-Ranickis pauschalem Urteil widersprochen werden, bei Dürrenmatt sei das Leben lediglich vom Zufall abhängig. 754 Präziser wäre, zu sagen, im Zufall offenbare sich bei Dürrenmatt die Begrenztheit der menschlichen Fähigkeit zur Wirklichkeitsbewältigung: „ Ein Zufall ist ein Ereignis, dessen Gründe wir nicht übersehen können. “ 755 Als das Nicht-Geplante, das einen unverhofft Überfallende, das Zusammenstoßen von Ereignissen, deren Zustandekommen nicht im Rahmen des Erwogenen liegt, hat der Zufall einen ungeheuren Einfluss auf das menschliche Leben, das hat Dürrenmatt uns immer wieder gelehrt. Profitlich sieht, in Anlehnung an Dürrenmatts Punkte 9 und 11 der „ 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘“ die Paradoxie der Handlung vor allem darin, dass die handelnden Personen am Ende der Stücke das Gegenteil dessen erreichen, was sie tatsächlich angestrebt hatten: „ Die Physiker, Egli, der Bastard und König Johann - jene Dürrenmatt-Figuren, die hier am ehesten vergleichbar sind, weil auch sie sich gerade durch die Veranstaltung um den Erfolg bringen, mit der sie ihn zu erreichen meinten, scheitern [. . .] an ‚ Störfaktoren ‘ , die weder vorauszusehen noch zu verhindern sind. “ 756 Und doch scheint es Dürrenmatt beim gezielten Einsatz des Zufalls um mehr zu gehen, als in ihm lediglich einen unvorausberechneten oder unvorausberechenbaren Störfaktor zu sehen. Im Wesentlichen handelt es sich beim Zufall um eine Möglichkeit des Ereignisses, welche sich aus den als experimentell gekennzeichneten Handlungen der Menschen selbst ergibt. Es geht nicht nur um das menschliche Unvermögen, die Zukunft in allen Details vorausberechnen zu können, sondern auch um das Scheitern einer Figur an sich selbst und den eigenen Ansprüchen. Was dem Zufall - wenn Dürrenmatt ihn wüten lässt - stets vorausgeht, ist ein herbeigeführtes Ereignis, ein durch Handlung konstituierter Zustand, in dem die betreffende Person für den entscheidenden Zufall anfällig wird, ja dessen planzerstörendes Potenzial erst heraufbeschwört. Das Unvorhergesehene verhält sich somit immer in einer gewissen dialektischen Beziehung zu einem bestimmten Wollen; es ist das gerade Nicht-Gewollte, das Ungeplant-Wilde, die faktische Opposition: „ Der Zufall trifft sie [planmäßig vorgehende Menschen] dann am schlimms- 754 Vgl.: Marcel Reich-Ranicki: Unbarmherziger Moralist. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. (14. 06. 2006). Online Verfügbar unter: http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ fragen-sie-reich-ranicki/ fragen-sie-reich-ranicki-unbarmherzigermoralist-1385809.html. (19. 07. 2013) 755 G IV 139 756 Ulrich Profitlich: Friedrich Dürrenmatt. Komödienbegriff und Komödienstruktur. Eine Einführung. Stuttgart u. a.: W. Kohlhammer 1973 (= Sprache und Literatur Bd. 86). S. 21. 212 ten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchteten, was sie zu vermeiden suchten (z. B. Ödipus). “ 757 In experimenteller Hinsicht ist der Zufall also das Ereignis, welches das Experiment aus dem Ruder laufen lässt; er affiziert gerade deshalb so stark, weil er der Intention des Menschen auf eine fast schon frivole Art zuwiderläuft - und damit so etwas wie die - dramaturgisch sanktionierte - chaotische Antwort des Lebens auf die menschliche Hybris darstellt. Der Mensch fordert die Wirklichkeit heraus - und Dürrenmatt schlüpft in die Rolle des zürnenden Gottes und bestraft seine übermütigen Geschöpfe: mit der Macht des Unberechenbaren - oder eben auch nicht. Der Zufall tritt eben zufällig ein - auch bei Dürrenmatt - und ganz und gar nicht mit berechenbarer Regelmäßigkeit: Eine Beantwortung der Frage, ob die künstlerische Entscheidung, das Experiment einer Figur glücken oder scheitern zu lassen, willkürlich sei, ist in der Praxis, d. h. innerhalb der einzelnen Stücke, schwierig: Warum geht Bärlachs Plan auf, der Plan Matthäis jedoch nicht? Warum kommt Claire Zachanassian ans Ziel, während Möbius scheitert? Dürrenmatt sieht eine korrelative Spannung zwischen dem Grad der Verbissenheit, mit dem ein Projekt angegangen wird, und der Zufallsanfälligkeit. Punkt 8 der „ 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘“ : „ Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen. “ 758 Das wichtigste Wort in diesem Satz ist vermag - er muss nicht. Ein Paradebeispiel für diese Verhältnismäßigkeit von Planungsakkuratesse und Störanfälligkeit ist der Protagonist in Dürrenmatts Kriminalnovelle „ Das Versprechen “ . Kommissar Matthäis ’ Überheblichkeit findet in dem alles beherrschenden titelgebenden Akt, dem Versprechen selbst, ihren Ausdruck. Dieses ist, wenn auch in einer emotionalen Ausnahmesituation gegeben, Ausdruck einer Selbstsicherheit, die sich über die Grenzen der eigenen Fähigkeit zur Erkenntnis und zur Beherrschung der Wirklichkeit hinauswagt. Die Beharrlichkeit, mit der er vorgeht, die feste, keinen Zweifel zulassende Überzeugung - ja der unbedingte Wunsch, alles werde so eintreten, wie er es vorausberechnet hat, bereiten den Boden, auf dem der Zufall mit voller Wucht einschlagen kann. Eine Garantie freilich für die Zwangsläufigkeit dieses Verhältnisses stellt Dürrenmatt nicht aus. Vielmehr muss die Willkür, mit welcher der Künstler über die Art der schlimmstmöglichen Wendung entscheidet, diesem als Freiheit seines Genies uneingeschränkt zugestanden und darüber hinaus wohl als Analogie einer existenziellen Willkür verstanden werden - ein Experiment kann glücken oder scheitern, doch wenn es scheitert, dann verweist der Zufall sowohl auf 757 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 92 758 21 Punkte zu den ‚ Physikern ‘ , WA 7 91 213 die Paradoxie der Wirklichkeit als auch auf die Paradoxie des Experimentators selbst. Er muss nicht nur erkennen, dass seine Vorausberechnungen nicht gestimmt haben, sondern auch, dass er durch sein Verhalten das Gegenteil dessen erreicht hat, was er angestrebt hatte. Profitlichs Schlussfolgerung, „ der paradoxe Sachverhalt bildet also einen hoch stilisierten Ausnahmefall in einer Umgebung, in der die Geltung der Rationalität unbestritten ist und durch erfolgreiche Anwendung strikt rationalen Verhaltens fortwährend neue Bestätigung erhält “ 759 kann vor diesem Hintergrund kaum zugestimmt werden. Dürrenmatt schildert mit der Darstellung des Paradoxen nicht die Ausnahme, sondern konstruiert Einzelfälle, die hypothetischen Modellcharakter besitzen, also wenn man so will, über sich hinausweisen, hinausscheinen. Die unergründbare Paradoxie des Menschen darf anhand seiner Fälle als allgemeines Phänomen der menschlichen Natur interpretiert werden. 2.4 Zusammenfassung: Kierkegaards experimentierender Einzelner In der Philosophie Kierkegaards, ohne den nach eigener Aussage Dürrenmatt als Schriftsteller nicht zu verstehen ist 760 , lässt sich die dichotome Bedeutungsstruktur, die der Begriff des Experiments für Dürrenmatt hat, wiedererkennen, insofern in diesem Erkenntnis und Handeln zu einer übergeordneten Einheit verschmelzen. Der experimentierende Einzelne tritt durch seine Experimente gleichsam in ein Verhältnis zu sich selbst und der Welt. Für Kierkegaard stellt das Allgemeine, wie Annette Mingels betont, ein „ ideellbegriffliche[s] Konstrukt [. . .], dem der Einzelne als stete - begrifflich wie denkerisch nicht zu fassende - Abweichung gegenübersteht “ 761 , ein abstrakt Geltendes, die imaginäre Summe aller einzelnen Seins- und Denkakte dar - eine dem Allgemeinwohl verpflichtete Idee, die Abstraktion einer herrschenden Meinung, die sich als Meinungshoheit formuliert. Der Einzelne steht in dem Spannungsfeld, einerseits Individuum, andererseits Teil dieser Allgemeinheit zu sein. 762 Dürrenmatt sieht in Anlehnung an Kierkegaard diese Position als ein wesentliches Merkmal des Menschen in seiner Beziehung zu sich selbst und gleichzeitig als das paradoxe Fundament zwischenmenschlicher Beziehungen: 759 Profitlich 1973: S. 15. 760 Vgl.: Das Haus, WA 29 125 761 Annette Mingels: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln u. a.: Böhlau 2003 (= Literatur und Leben Bd. 62). S. 18. 762 Vgl.: Monstervortrag, WA 33 56 f. 214 Der Einzelne nimmt gleichsam eine Position zu sich selbst ein. Er tritt in ein Verhältnis, das nur im Paradox gründen kann, um überhaupt ein Verhältnis zu werden. Nur durch das Paradox wird bei Kierkegaard der religiöse Mensch als ein dialektisches Wesen und damit ‚ dramaturgisch ‘ faßbar, weil Gott sich nur im Glauben offenbart. Daß diese Erkenntnis unabhängig von einem Glauben an Gott gilt, daß auch vom Wissen her, da der Einzelne dem erkenntnistheoretischen Problem untersteht, dieser Einzelne nicht aus dem Allgemeinen gefolgert werden kann, diese jenseits des Glaubens und des Wissens angesiedelte individuelle Position des Einzelnen, die auch die Domäne seiner Freiheit ist, wurde für mein Weiterdenken entscheidend. 763 Dürrenmatt begründet den Status des Menschen als eines Einzelnen ausdrücklich mit der Privatheit der menschlichen Erkenntnis, wonach das eigene Sein als das einzig unmittelbar als Wahrheit Anzuerkennende empfunden, das außerhalb des Subjekts Angesiedelte jedoch nur nachvollzogen, lediglich mit Hilfe des eigenen Denkapparates abstrakt gedacht werden kann. Hinsichtlich dieser Dialektik des menschlichen Seins, das sich in der Reziprozität des individuellen Seins einerseits, in der Allgemeinheit und dem allgemeinen Denken andererseits manifestiert, folgt Dürrenmatt ausdrücklich den Ansichten Kierkegaards, der darin das Hauptmerkmal des Menschen und dessen Position in der Welt sieht. Indem er die konkrete Existenz des Menschen in seiner Einzigartigkeit und erkenntnistheoretischen Einsamkeit zum fundamentalen Ausgangspunkt seines Denkens und seiner Schriftstellerei macht, wendet er sich gegen Kant und Hegel und ihre Systemphilosophien, die den Einzelnen aus dem Allgemeinen gefolgert hatten, und richtet seine Aufmerksamkeit vor allem der Situation des Individuums zu und der Frage, wie der Mensch als Subjekt in bestimmten Lebenssituationen handeln könne. Kierkegaards Sicht ist subjektivistisch und existenziell geprägt - seine Philosophie, die auf der Einsicht gründet, dass es sich beim Leben um den konkreten Existenzvollzug 764 handelt und das Subjekt nur unter der uneingeschränkt gegebenen Voraussetzung der eigenen Existenz überhaupt zur Erkenntnis in der Lage ist, jede Erkenntnis zwangsläufig ein subjektives, von dem eigenen Sein, der eigenen Erfahrung und der individuellen Persönlichkeit geprägtes Profil hat, wird für Dürrenmatt wegweisend. Mingels weist deshalb zu Recht darauf hin, dass diese Voraussetzungen die Frage nach einer Objektivität im Denken stark beeinflussen „ und jedes denkerische Modell nur Wiedergabe möglicher, nicht aber obligatorischer Wirklichkeiten “ 765 sein könne: „ Anstelle einer objektiven, für die Allgemeinheit gültigen 763 Das Haus, WA 29 125 f. 764 Vgl.: Mingels 2003: S. 15. 765 Ebd., S. 20. 215 Wirklichkeit stehen dergestalt einzig subjektiv valide Wirklichkeiten “ 766 . Für Kierkegaard ergibt sich aus der Annahme, dass im Individuum das rationale Denken, die Phantasie und das Gefühl als gleichgestellte Perzeptionsformen vorhanden sind, der Versuch einer Versöhnung von Wissenschaft und Kunst als Koexistenz nebeneinander bestehenden Sphären: Die Wissenschaft ordnet die Momente der Subjektivität ein in ein Wissen um sie, und dieses Wissen ist das Höchste, und alles Wissen ist eine Aufhebung, ein Herausnehmen aus der Existenz. In der Existenz gilt dies nicht. Verachtet das Denken die Phantasie, so verachtet die Phantasie dann ihrerseits das Denken, und ebenso ist ’ s mit dem Gefühl. Die Aufgabe besteht nicht darin, das eine auf Kosten des anderen aufzuheben, sondern die Aufgabe ist die Gleichgestelltheit, die Gleichzeitigkeit, und das Medium, worin sie geeint werden, ist das Existieren. 767 Die inhaltliche Parallelität von künstlerischem Experiment und dem experimentellen Handeln der Menschen liegt in der dem Akt des Versuchs vorausgehenden Projektion und ihrer Überprüfung im Experiment, also dem Hinausverlegen des eigenen Denkens in die Außenwelt sowie der, wie Kierkegaard sagt, „ Probe auf die Richtigkeit der Hypothese “ 768 . Der experimentellen Handlung geht somit eine (begründete) Annahme voraus, die durch eben den Akt des Experiments bestätigt (oder falsifiziert) wird. Kierkegaard sieht den Denkakt - in Anlehnung an Sokrates ’ Kunst der Maieutik - als einen Prozess der Wiedergeburt, einen Übergang „ vom nicht da Sein zum da Sein “ 769 und vereiht ihm damit eine existenzielle Dimension, die durch das Verhältnis von Denken und Denkendem entsteht: Siehe dies ist mein Projekt! Aber vielleicht wird da einer sagen: ‚ Das ist das lächerlichste von allen Projekten, oder richtiger, du bist der lächerlichste von allen Projektmachern; denn wenn einer auch etwas Törichtes projektiert, so kann gleichwohl immer das Wahre übrig bleiben, daß er es ist, welcher das Projekt gemacht hat [. . .]. 770 Auf einer Metaebene handelt es sich also - jenseits einer wie auch immer gearteten (wissenschaftlichen) Richtigkeit einer Hypothese - beim Denkakt, der aus Annahme und Überprüfung der Annahme besteht, um einen Prozess, 766 Ebd. 767 Sören Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. Zweiter Teil. Übers. v. Hans Martin Junghans. Düsseldorf u. Köln: Eugen Diederichs 1958 (= Ders.: Gesammelte Werke 16. Abt.). S. 52. 768 Sören Kierkegaard: Der Unterschied des sokratischen und des christlichen Verhältnisses zur Wahrheit. (Denkprojekt). In: Ders.: Auswahl aus dem Gesamtwerk des Dichters, Denkers und religiösen Redners. München u. Hamburg: Siebenstern 1969. S. 90 - 103. Hier: S. 102 f. 769 Ebd., S. 103. 770 Ebd., S. 102. 216 der den Experimentator seiner selbst sich versichern lässt: In der Handlung vollzieht sich eine Lebens- und Seinsäußerung, die ihm Macht zubilligt, die ihn erkennen lässt und die ihn u. U. etwas schaffen lässt, das über ihn selbst hinausweist, eine Eigenexistenz erhält und somit losgelöst von ihrem Urheber auf diesen referiert, er also in seiner Erkenntnis oder deren sichtbaren Auswirkungen weiterexistiert. 771 771 Vgl.: Ebd., S. 102 f. 217 3. Resümee und Ausblick „ Es gibt keinen Stil mehr, sondern nur noch Stile, ein Satz, der die Situation der heutigen Kunst überhaupt kennzeichnet, denn sie besteht aus Experimenten und nichts anderem, wie die heutige Welt selbst. “ 1 Die vorliegende Arbeit hat - auch dies ein Experiment mit, als es begonnen wurde, ungewissem Ausgang, in gedanklicher Offenheit konzipiert, ausgehend von der Erwartung, Antworten auf die Fragen zu erlangen, derentwegen es durchgeführt wurde - die zwei wesentlichen semantischen Bezüge des Experimentellen in der Poetik Friedrich Dürrenmatts analysiert: die epistemologische Dimension, in welcher Dürrenmatt die künstlerische Methode des Experiments als eine der naturwissenschaftlichen adäquate zur Erkundung des Neuen, zur Generierung des bisher Ungewussten ansieht; und die ethische, die sich in der menschlichen Paradoxie manifestiert, die einzige Spezies auf der Welt zu sein, die ihren eigenen Lebensraum bewusst zerstört. Die labyrinthische Katastrophenwelt, die der Mensch sich geschaffen hat, wird für Dürrenmatt, gleichsam als Urbild empfunden, in immer neuen Modellfällen anschaulich gemacht, experimentell konstruiert: „ Sind wir überhaupt fähig, der Zeit der Katastrophen zu begegnen, die wir heraufbeschworen haben? “ 2 Das Jahrhundert der Experimente stellt für Dürrenmatt gleichzeitig das Jahrhundert revolutionärer politischer Verbrechen dar: Ich [. . .] glaube [. . .], keiner Berufsdeformation zu unterliegen, wenn ich unser Zeitalter als das der politischen Verbrechen bezeichne. Der Erste und der Zweite Weltkrieg, der Faschismus und Neofaschismus, der Stalinismus, Ungarn, Tibet, der Klan um Tschiang Kai-schek, der Krieg der USA in Vietnam, die politischen Morde in den USA und anderswo, die Genozide, Israel, Biafra und jetzt die Okkupation der Tschechoslowakei; die Liste der politischen Verbrechen, durch Politiker verübt, ist damit nicht abgeschlossen, nur angedeutet. 3 Das poetologische Ansinnen, diese Welt künstlerisch zu fassen, funktioniert für Dürrenmatt mit Hilfe des Experiments, in seinem Fall der induktiven Methode, die darin besteht, anhand eines Einzelfalls, der in Gedanken entwickelt wird, menschliches Verhalten zu prognostizieren. Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit entwirft sich dabei durch die Fiktion, die sich als 1 Theaterprobleme, WA 30 41 f. 2 G II 34 3 Tschechoslowakei 1968, WA 34 36 218 Erkenntnisgegenstand versteht, entwickelt sich in der künstlerischen Auslieferung an den Stoff, durch das Durchspielen von Möglichkeiten, anhand der inneren Logik. Mit einer solchen Dramatik, die das Experiment als spielerisches, leichtfertiges und damit in höchster Weise individuelles Moment und in dieser Funktion als wissenschaftsanaloge Methode zur Erkundung der empirischen Lebenswelt versteht, verwischt Dürrenmatt die Grenzen von Subjektivität und Objektivität und rückt den Begriff der Erkenntnis in eine Sphäre, in der Beweise kaum zu erbringen sind und Vermutung, Wahrscheinlichkeit und vernünftiger Glaube als heuristische Kategorien die Vorherrschaft über die vermeintlich sichere Wahrheit gewonnen haben. Damit nähert Dürrenmatt seinen Kunstbegriff der Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaften an. Sein Urteil „ Ein physikalisches Experiment beweist etwas, ein künstlerisches Experiment beweist nichts “ 4 besagt auch, dass Wissen eben auch jenseits systematisch ermittelter Validität gewonnen werden kann, durch begründeten Verdacht und das Antizipieren von Zukünftigem. „ Der Künstler kann es sich leisten, nichts zu beweisen. “ 5 Mit Hilfe seiner experimentellen Kunst schafft Dürrenmatt paradoxe Räume der Erkenntnis, die - der Vorstellungskraft des Künstlers entsprungen - Objektivität beanspruchen und doch unsicher bleiben. Doch gerade in diesem Widerspruch liegt für ihn die Eignung der Kunst, eine Ahnung über die Natur des Menschen zu gewinnen. „ Ich gehe vom Komödiantischen aus, vom Einfall, um etwas ganz Unkomödiantisches zu tun: den Menschen darzustellen - so könnte ich vielleicht meine Kunst definieren. “ 6 Bies ’ und Gampers Ansicht, dass Kunst im Zuge einer Untersuchung ihres Verhältnisses zum Experimentellen „ nicht mehr die gleiche ist wie vorher “ 7 , muss nach der dargelegten Untersuchung zugestimmt werden. Die Ent- 4 Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? , WA 32 133 5 Ebd. 6 G I 117. Goertz ’ These „ Bei Dürrenmatt steht nichts fest. Auch die Wirklichkeit nicht. Sie ist fragwürdig, in all ihren Teilen. Gibt es sie überhaupt? Der Radikale Dürrenmatt hebt alles auf, auch unsere schönsten Begriffe “ (Heinrich Goertz: Friedrich Dürrenmatt. 7. Aufl. Hamburg: Rowohlt 1997 (= Rowohlt Monographien Bd. 1290). S. 9.) kann zugestimmt werden, seiner Schlussfolgerung allerdings, dass die Welt bei Dürrenmatt als durch den Menschen nicht veränderbar dargestellt wird (Vgl. Goertz 1997: S. 9.), hingegen nicht, da Dürrenmatt durchaus der Ansicht ist, dass der Mensch auf der Grundlage von Einsicht seine Handlungen gezielt steuern, verändern und damit auch verändernd auf die Welt einwirken kann. In einem Gespräch antwortet er 1970 auf die Frage, was der Mensch noch tun könne: „ Versuchen, möglichst anständig zu leben. Das heißt so zu leben, daß er möglichst wenig andere Menschen ruiniert. [. . .] Eine Ethik vom Persönlichen her, die gibt es. “ (G I 353) 7 Bies 2011: S. 13. 219 stehung der Werke Dürrenmatts erscheint ebenso in einem neuen Licht wie die Möglichkeit zu ihrer Deutung. Diese ist zwar gegeben, ihre Inhalte werden aber vor dem Hintergrund der besonderen experimentellen Methode ihrer Konstruktion dezidiert in den Stand der subjektiven Interpretation des Rezipienten versetzt und dürfen nicht länger als vermeintliche in das Stück hineingelegte Aussagen des Künstlers betrachtet werden. Dürrenmatts Satz „ [D]er Dramatiker sagt Stücke aus “ 8 verdeutlicht diesen Umstand unzweideutig. Vor diesem Hintergrund eröffnen sich weitere vielfältige Möglichkeiten zur intensiven Beschäftigung mit der Literatur des Schweizer Autors, an deren definitiver Unergründlichkeit die Forschung sich auch unter den hier ermittelten Erkenntnissen wird versuchen können. Die Dimension des Experimentellen in der Literatur Dürrenmatts bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte - von der schwerpunktmäßigen Analyse seiner gedanklichen Beziehungen zu bestimmten Wissenschaftlern über die Translation des Experimentbegriffs auf gattungsspezifische Besonderheiten 9 bis hin zur neuen Interpretation seiner Werke, deren Figuren in ihren Experimenten wahrscheinlich stets ebenso geheimnisvoll bleiben werden wie der Mensch selbst, der Homo sapiens. 8 Dramaturgische Überlegungen zu den ‚ Wiedertäufern ‘ , WA 10 135 9 Vgl. hierzu auch Heimböckel, der von der „ Selbstauflösung der Gattung “ spricht, die bei Dürrenmatt vonstatten geht. (Dieter Heimböckel: Kein neues Theater mit alter Theorie. Stationen der Dramentheorie von Aristoteles bis Heiner Müller. Bielefeld: Aisthesis 2010 (= Aisthesis Studienbuch Bd. 7). S. 57. 220 4. Literaturverzeichnis 1. 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Mit einem Kommentar von Ulrich Weber. In: Text und Kritik (2003). H. 50/ 51. 3. Aufl.: Neufassung. S. 19 - 35. 1.2 Gespräche mit Friedrich Dürrenmatt: Bienek, Horst: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München: Carl Hanser 1962. Dürrenmatt, Friedrich: Gespräche 1961 - 1990 in vier Bänden. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Zürich: Diogenes 1996. Bandnummern und Buchtitel korrespondieren wie folgt: G I: Der Klassiker auf der Bühne. Gespräche 1961 - 1970 G II: Die Entdeckung des Erzählens. Gespräche 1971 - 1980 G III: Im Bann der ‚ Stoffe ‘ . Gespräche 1981 - 1987 G IV: Dramaturgie des Denkens. Gespräche 1988 - 1990 1.3 Sekundärliteratur zu Friedrich Dürrenmatt Alami, Marita: Die Bildlichkeit bei Friedrich Dürrenmatt. Computergestützte Analyse und Interpretation mythologischer und psychologischer Bezüge. Köln u. a.: Böhlau 1994 (= Kölner germanistische Studien Bd. 35). S. 41. Arnold, Armin: Friedrich Dürrenmatt. 5., erg. Aufl. Berlin: Colloquium 1986 (= Köpfe des 20. 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Theaterlandschaften der Gegenwart Rahmenbedingungen und Zeitbezüge im zeitgenössischen Drama Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 46 2013, 272 Seiten, €[D] 58,00 / SFr 74,70 ISBN 978-3-7720-8494-2 Der vorliegende Band behandelt zwei zentrale Aspekte des zeitgenössischen Theaters: Zum einen wird am Beispiel konkreter Dramen aus acht Ländern in einer komparatistischen Perspektive in den Blickpunkt gerückt, wie im zeitgenössischen Drama Zeitbezüge hergestellt, also Referenzen auf die Gegenwart organisiert werden. Zum anderen wird die konkrete Situation des Gegenwartstheaters in neun Ländern knapp umrissen. Der Band ist aus einem Symposion hervorgegangen, das der Interdisziplinäre Arbeitskreis für Drama und Theater an der Universität Mainz im Juni 2012 in Kooperation mit der Theaterbiennale in Wiesbaden veranstaltete. Die Studie untersucht die dichotome Bedeutungsstruktur des Experimentbegriffs in der Literatur Friedrich Dürrenmatts, die sich dramentheoretisch in einer epistemologischen Dimension und als ethische Kategorie menschlichen Handelns in den Stücken realisiert. Ausgehend von dramentheoretischen Äußerungen Dürrenmatts und einem Abriss über die erkenntnistheoretische Entwicklung des Experiments in den Naturwissenschaften wird nachgewiesen, dass sich für Dürrenmatt im künstlerischen Experiment eine wissenschaftsäquivalente Dimension des Heuristischen verbirgt, die sich im Akt einer autonomen dramaturgischen Methode organisiert.