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"Wie durch einen Spiegel"

2015
978-3-7720-5577-5
A. Francke Verlag 
Hans Vilmar Geppert

"Keiner aber fasset allein Gott." (Friedrich Hölderlin) Diese Predigten sind aus Hochschul- und Gemeindegottesdiensten in Augsburg und Tübingen hervorgegangen. Alle Texte stehen im Bayerischen und/oder Württembergischen Evangelischen Gesangbuch. Wie es sich für eine Predigt gehört, geht es um Glaubenswahrheiten. Aber diese erweisen sich hier als facettenreich und durchaus auch widersprüchlich. Nur "wie durch einen Spiegel in einem dunklen Wort" sind sie zugänglich. So zieht sich der Gedanke der Vielfalt der Wahrheiten wie ein roter Faden durch dieses Buch: von den vielfältigen Weltbildern in den Wörtern für "Anfang", über die mehrfachen Bild-Schichten bei Paul Gerhardt, oder etwa die "Weiblichkeit des Mondes" bei Matthias Claudius, bis zu den vieldeutigen Metaphern und Chiffren der Moderne.

Hans Vilmar Geppert „Wie durch einen Spiegel“ Literaturpredigten „Wie durch einen Spiegel“ Literaturpredigten HANS VILMAR GEPPERT „Wie durch einen Spiegel“ Literaturpredigten Umschlagabbildungen Hintergrund: Paul Gerhardt: Lobet den Herren. Aus: Praxis Pietatis Melica (1653/ 1660). Vordergrund: Auf Grundlage von Else Lasker-Schüler, o. T. [Ganzfigur im Linksprofil, auf dem Arm eine Stadtminiatur], ca. 1912. © Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbiliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Juliane Pasedag Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8577-2 INHALT Literaturpredigten - für Gläubige und Skeptiker . . . . . . . . . . . . . . 6 Evangelium des Johannes / Rose Ausländer „Am Anfang war das Wort“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Johannes Tauler / Daniel Sudermann Es kommt ein Schiff geladen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Andreas Gryphius Mein sind die Jahre nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Paul Gerhardt Ich steh an deiner Krippen hier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Paul Gerhardt Geh aus mein Herz und suche Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Christian Knorr von Rosenroth Morgenglanz der Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Matthias Claudius Der Mond ist aufgegangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Friedrich Hölderlin Nah ist und schwer zu fassen der Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Else Lasker-Schüler Ich suche allerlanden eine Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Bertolt Brecht Traue nicht deinen Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Ingeborg Bachmann Freies Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Paul Celan Einmal da hörte ich ihn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Text- und Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6 LITERATURPREDIGTEN - FÜR GLÄUBIGE UND SKEPTIKER Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. (Paulus an die Korinther, 1. Korinther 13, Vers 12) Ma raison n’est pas duite à se courber er fléchir, ce sont mes genoux. / Meine Vernunft muss sich nicht beugen und verdrehen, nur meine Knie. (Michel de Montaigne, De l’art de conférer / Über die Kunst des Gesprächs) W elches Buch würdest du mitnehmen auf eine einsame Insel? “ Ich gestehe, dass ich da manchmal geschwankt habe zwischen der Bibel - natürlich, was sonst? - und anderen Büchern, beispielsweise den Essays des weisen Herrn de Montaigne, nicht zuletzt, weil ich beide Bücher längst noch nicht gut genug kenne. Aber, und wenn wir mal unbefangen nachdenken, wäre das nur eine persönliche Vorliebe? Genauer: Sind das Gegensätze, die sich ausschließen? Ja, haben die beiden eingangs zitierten Aussagen nicht, bei aller sonstigen Distanz ihrer Bücher, viel gemeinsam? Auch der Apostel Paulus meldet hier ja skeptische und betont persönliche Vorbehalte an gegenüber jedem Anspruch auf absolute, unfehlbare Glaubenswahrheiten: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel, und sehen nur rätselhafte 7 Umrisse“, schreibt die Einheitsübersetzung. Ist da der Abstand unüberwindbar zur inzwischen berühmten Ablehnung Montaignes aller intellektuellen und religiösen Gängelung, Ketzerverfolgung, Glaubenskriege, überhaupt orthodoxer Behauptungen - „je ne trouve pas bon d’enfermer ainsi la puissance divine soubs les loix de nostre parolle / ich finde es nicht gut, die göttliche Macht derart in die Gesetze unseres Redens über sie einzusperren“ (Apologie de Raimond Sebond) - und so fort? Ist der Abstand so unüberwindbar zum Wert, den der Ahnherr der neuzeitlichen Skepsis auf eine „unbeugsame“ individuelle Vernunft legt, auf genaues „Hinsehen“, das heißt Skepsis wörtlich, und auf die stets vielfachen Aspekte und vor allem die Grenzen aller Erkenntnis: „Que sais’je / was weiß ich“ (ebd.)? Wie auch immer - vielleicht darf man ja zwei oder noch mehr Bücher mitnehmen auf die Insel -, das Bild vom stets fehlbaren „dunklen Spiegel“ - „now we see through a glass, darkly / Wir sehen jetzt durch ein Glas, auf dunkle Weise“, übersetzt die englische King-James-Bible -, dieses skeptische Bild stand am Anfang dieses meines literarisch-religiösen Projekts. Denn mit der Einladung zur Mitarbeit an einer Reihe von Hochschulgottesdiensten unter dem Thema Der Glaube im Spiegel der Dichtung, veranstaltet von der evangelischen Studentengemeinde Augsburg - ich war dort und davor in Tübingen fünfundzwanzig Jahre lang Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft -, begann die Serie meiner Literatur-Predigten, und ich wählte mit Paul Celans Gedichtzyklus Atemwende einen doch recht „dunklen Spiegel“. Später kamen weitere Einladungen derselben Art hinzu: etwa zum regelmäßig stattfindenden Augsburger Ökumenischen Hochschulgottesdienst, dann auch zu Gottesdiensten meiner Heimat-Gemeinde in Tübingen- Kilchberg, bis eben ein kleines Buch entstanden war. Und von Anfang an war der Aspekt der Weite und Vielfalt der Glaubenswahrheiten, war die Frage nach Wahrheiten für Gläubige 8 und für Skeptiker, das sind nicht einfach alle Zweifler, für meine Versuche bestimmend: von den vielfachen „Anfängen“, in denen nach Johannes „das Wort bei Gott war“, also „trennen“, „anfassen“, „sich auf den Weg machen“ und andere, über den „vierfachen Schriftsinn“ und dessen mystische Aufhebung bei Tauler, bis zu den Chiffren Else Lasker-Schülers („ich trage in der Stirne einen Stern als Siegel“) oder den Sprachspielen Paul Celans („ichten“), die gar nicht anders als „vielfach“ bedeutsam zugänglich sind. Doch Vielfalt heißt nicht Beliebigkeit. Es galt durchaus immer wieder die ganz eigene Hermeneutik der Predigt zu achten - „den Glauben mehr, hilf dem Verstand! “ -, also ganz wörtlich durch den „Spiegel“ der verschiedenen Texte hindurch eben die jeweilige „Glaubens-Wahrheit“ zu erkennen und zum Sprechen zu bringen. Darum habe ich mich mit den Methoden und dem Handwerkszeug des Literaturwissenschaftlers jedes Mal bemüht, so gut ich es konnte. Gleichwohl sind dies aus wissenschaftlicher Sicht eben Reden, bzw. Essays: „gelegentliche Versuche“. Es gibt keine Fußnoten und keine Bibliographie, obwohl ich natürlich Zitate und Übernahmen kenntlich gemacht habe. Genauso habe ich die mündliche Form des Vortrags auch für die jetzige Druckfassung weitestgehend beibehalten. Nur die Kürzungen, die im Rahmen der Gottesdienste unweigerlich nötig waren, habe ich wieder zurück genommen Und es galt auch, das war geradezu eine Voraussetzung für jedes einzelne Projekt, nicht nur räumlich, sondern auch geistig die jeweilige Gemeinde in ihrem jeweiligen Gottesdienst aufzusuchen. So sind alle Texte ganz bewusst einem Text-Korpus entnommen, der bereits gut eingeführt ist: dem Bayerischen und/ oder Württembergischen Evangelischen Gesangbuch. Das betrifft die Lieder sowieso. Aber auch alle dichterischen Zwischentexte sind nicht von mir für diesen Zweck irgendwie entdeckt worden, sondern immer schon im geistigen Raum der Kirche sozusagen „zu- . 9 hause“ gewesen. Man konnte sie bequem vorweg oder hernach selbst lesen. Daraus aber folgte nun durchaus, und auch für mich selbst immer wieder überraschend keineswegs, dass es dabei einfach schlicht und fromm zugehen konnte. Tauler galt lange als Ketzer, Knorr von Rosenroth stand verschiedenen Geheimlehren des 17. Jahrhunderts so nahe, dass sein Lied offensichtlich gezielt verkürzt und verändert ins Gesangbuch aufgenommen wurde. Gryphius, Hölderlin oder Celan sind nicht gerade einfach zu verstehende Dichter; Else Lasker-Schüler oder Rose Ausländer haben bewusst jüdisch gedacht und gedichtet; Brecht und Ingeborg Bachmann tragen, genau besehen, zum Evangelischen Gesangbuch „atheistische“ Texte bei. Und vielleicht entdeckt ja der eine oder andere Leser und Sänger in meinen Überlegungen zu lange bekannten Liedern wie beispielsweise Geh aus mein Herz und suche Freud oder Der Mond ist aufgegangen etwas, das für sie so neu und interessant ist, wie es das für mich war: etwa die mehreren Schichten von epochalen Denk- und Schreibweisen bei Gerhardt oder die „Weiblichkeit des Mondes“ bei Claudius. Allerdings, diese Grenze musste gewahrt werden, meine Literaturpredigten enden immer und ganz bewusst mit dem, was die Theologen die „Exegese“, also die jeweilige Textauslegung nennen würden. Es fehlt die so genannte „Homilie“: die geistliche und moralische Nutzanwendung, die ermahnende und erziehende Folgerung, wie immer man es nennen will. So etwas, jemanden zum richtigen oder besseren Leben zu führen oder gar den Leuten ins Gewissen zu reden, das will ich nicht, und ich weiß, das steht mir nicht zu. Nein, ich will kein theologischer „Homileon“ sein, lieber bleibe ich ein literarisch-theologischer „humilis“ und kehre „humile“, bescheiden und jetzt auch ganz und gar nicht originell zum Brief des Paulus an die Korinther zurück. Das heißt, ich schließe 10 das eingangs angefangene „skeptische“ Zitat - „all unser Wissen ist Stückwerk“, sagt Paulus kurz davor - mit dem ihm folgenden, viel zitierten Vers „gläubig“ ab: Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. (1. Korinther 13, Vers 13) Die Arbeit an diesen Predigten, die zwischen 1995 und 2014 entstanden sind, war von vielen dankbaren Erinnerungen begleitet: an einen von meiner Mutter gesungenen Choral, an eine wirre Deutschstunde(ElseLasker-SchülerMeinVolk),andas„Proseminar Gotisch“ in meinem ersten Semester („der Dämmrung Hülle“), an die Zeit als Philologie-Stipendiat im Tübinger Stift, an die Barock- Vorlesung und viele weitere Anregungen von Klaus Ziegler, an die Lyrik-Seminare mit Paul Hoffman, an viele Gespräche mit Freunden, Kollegen aus verschiedenen Fächern, nicht zuletzt mit Studierenden. Ihnen allen gilt mein Dank. Danken möchte ich auch wieder einmal Gunter Narr und den Damen und Herren des Francke-Verlags für ihre bereitwillige und verständnisvolle Zusammenarbeit. Tübingen im August 2015 Vilmar Geppert 11 DAS EVANGELIUM DES JOHANNES / ROSE AUSLÄNDER „AM ANFANG WAR DAS WORT“ Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen. (Das Evangelium nach Johannes 1, Vers 1-5) F ür einen Literaturwissenschaftler, einen Philologen, wörtlich: einen „Freund des Wortes“, ist derAnfang des Johannes- Evangeliums sicher eine besonders wichtige und gern gehörte Aussage der Bibel. Aber wir tun gut daran, immer auch die skeptische Anmerkung nicht zu vergessen, dass „die Finsternis das Licht nicht ergriffen“ hat. Im Sinne solcher Vorsicht spreche ich heute lediglich über ein „Bibelgedicht“, eine freie dichterische Auseinandersetzung mit Versen der Bibel. Das Gedicht stammt von Rose Ausländer. (Sie finden es auf Seite 1035 im Evangelischen Gesangbuch für Württemberg.) Und es lautet: 12 Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott Und Gott gab uns das Wort und wir wohnten im Wort Und das Wort ist unser Traum und der Traum ist unser Leben. ANFÄNGE „Im Anfang war das Wort“: Als der Evangelist Johannes Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus diesen Satz niederschrieb, da gebrauchte er ein Wort, αρχή („arché“), das im Griechischen die „alte Zeit“ bedeutet (so wie heute noch in „Archäologie“), aber auch „Herrschaft“ (so wie in „Monarchie“ oder in „Anarchie“); denn die „alte Zeit“, als Götter und Helden die Städte und Völker gründeten, begründete auch die Herrschaft der Königsgeschlechter und so fort. Der Evangelist sagte also: „In der alten, die Herrschaftsverhältnisse begründenden Zeit, beherrschte Gottes Wort die Welt“. Noch allgemeiner, und eben in zentrales christliches Denken und Vorstellen übertragen, könnte man lesen: „Die Wahrheit, die von der Ewigkeit Gottes in die Zeit der Menschen hinein reicht, die sich ununterbrochen und mächtig von der Ewigkeit in die Zeit fortsetzt, lebt in Gottes Wort“. Dreihundert Jahre später, von 382 an, erarbeitete der Bischof Hieronymus auf der Grundlage des griechischen Neuen Testaments, der so genannten Koine, wörtlich: des „gemeinsamen Buchs“, die entsprechenden Teile der seitdem gültigen lateinischen Bibel, der so genannten Vulgata, wörtlich: der „Bibel in der (damaligen) 13 Volkssprache“. Er schrieb: „In principio erat verbum“. Und das bedeutet etwas epochal anderes: Im Wort „principium“ steckt die Zahl „eins“ bzw. „zuerst“. Die Welt erscheint geordnet und abzählbar. Das Wort für „Anfang“ bekommt etwas „Wissenschaftliches“ oder auch etwas von der Sprache des „Rechts“; und der Anfang des Johannes-Evangeliums liest sich nun ganz neu: „Als erste Ursache, als ersten Grundsatz gab Gott uns sein Wort“. Fast gleichzeitig, ja vielleicht noch etwas früher, um 370, übersetzte der Gote Wulfila die griechische Bibel in die Sprache seines Volkes. Leider ist der Anfang des Johannesevangeliums auf gotisch nicht erhalten. Aber Philologen haben es noch immer fertig gebracht, über Texte zu reden, die sie gar nicht kennen. So hat man aus dem erhaltenen Rest der Gotenbibel erschlossen, dass Wulfila vielleicht geschrieben hat: „In frumistin“. Das verstehen wir noch heute beinahe: „Fru“ mit langem „u“ entspricht das deutsche „früh“; und „mistin“, mit langem „i“ in der Mitte, wäre im heutigen Neuhochdeutschen „(am) meisten“. Wulfilas Vorstellung von „Anfang“ hieße dann: in der „am meisten frühen“, bzw. in der „allerfrühesten Zeit“. Wir sehen, hier wird vom Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten, von der „Frühe“ am Morgen oder vom „Frühling“ ausgegangen. Und wir lesen jetzt als Johannes 1. Vers1: „In der frühesten Zeit, als die Welt aufwachte, als alles zu wachsen begann (so wie es immer wieder Frühling und immer wieder Tag wird), da war das Wort schon bei Gott, da war Gottes Wort die lebendige Kraft der Welt“. Etwa fünfhundert Jahre später, um 830, übersetzten gelehrte Mönche des Klosters Fulda den Anfang des Johannesevangeliums auch ins Althochdeutsche, eine direkte Vorstufe unserer eigenen Sprache. (Genauer gesagt, sie übersetzten eine „Evangelien- Harmonie“ aus dem 3. Jahrhundert, die nach ihrem Verfasser Tatian heißt). Und die älteste, bekannte deutsche Übersetzung lautet: „In anaginne was wort.“ Das verstehen wir bereits, denn das 14 Wort „anaginna“ ist unserem Wort „Beginn“, oder „Anbeginn“ nahezu gleich. Die Bibeln in den meisten germanischen Sprachen (niederländisch, schwedisch und so fort) beginnen mit einem solchen Wort. So auch die 1611 fertig gestellte englische Bibel, die nach ihrem Auftraggeber Jakob oder James I. seitdem King James Bible heißt, und die für das Weltchristentum eine außerordentlich große Bedeutung hat: „In the beginning was the word“. Neunzig Jahre früher, 1521, übersetzte Martin Luther das Neue Testament. Er hätte sehr wohl auch sagen können: „Im Anbeginn war das Wort“, warum nicht? Wir würden das problemlos verstehen. Aber er entschied sich gegen das Wort „Beginn“ und für das Wort „Anfang“. Denn der Unterschied zwischen beiden Wörtern ist erheblich. „Beginn“, abgeleitet vom althochdeutschen Verbum „ginnan“, heißt „schneiden“, „hinein schneiden“, so wie man etwa begann, Runen in einen Stab zu schneiden, oder wie man ein Brot „anschneidet“ oder ähnlich. „Anfang“ dagegen, von althochdeutsch „an-fahn“, heißt „anfassen“, „ergreifen“, „anpacken“, so wie man eben etwas anfängt, indem man zugreift, beispielsweise „seine Hand an den Pflug“ legt und so fort. Auch jetzt können wir in den beiden verschiedenen Wörtern allgemeinere und eben christliche Bedeutungen erkennen: „Als die Zeit sich von der Ewigkeit unterschied [„Beginn“ heißt „zeitlicher Einschnitt“], da war es das Wort, das alles aus der bloßen Möglichkeit herauslöste und seine jeweilige Gestalt annehmen ließ“, so die Mönche des neunten Jahrhunderts und die niederländische, schwedische und vor allem die englische Bibel. Dagegen nun: „Als Gott die Welt in die Hand nahm, als er sie zu formen und zu gestalten begann, da gab er ihr die schöpferische Kraft seines Wortes mit“, so Luther. Auf alle Fälle wird die Vorstellung des „Anfangs“ dynamischer, energischer, tätiger, je mehr wir uns der Neuzeit nähern. Ist das nur ein Verlust? Entfernen wir uns von einem „Original“, von einem „Urtext“, von irgendetwas, das „ewig“ und wörtlich gül- 15 tig wäre? Sind diese Neuerungen nicht vielmehr ein Gewinn? Auf alle Fälle scheinen sie unvermeidlich zu sein. So war auch für die nach und nach aus dem Lateinischen hervorgegangenen, heute gesprochenen romanischen Sprachen das Wort „principium“ offensichtlich nicht mehr angemessen. Die Version Synodale etwa, die Bibel der französischen Schweiz, sagt es so: „Au commencement était la parole“. Und das heißt nun wieder etwas völlig Neues. Hier, in „commencement“, und die italienischen oder spanischen Übersetzungen folgen derselben Herkunft, liegt nach dem ursprünglichen, der lateinischen Umgangssprache entstammenden Wort „cum-initiare“, „hineingehen“, das von lateinisch „iter“, „der Weg“, abgeleitet wurde, es liegt jetzt also im Weltbild dieser Sprachen die Vorstellung eines Weges und des Anfangs einer „Bewegung“ zugrunde: „Als die Weltgeschichte sich auf ihren Weg begab, da leitete sie Gottes Wort“. Welch ein Reichtum, welche Vielfalt des Denkens und Vorstellens bereits in unserer eigenen europäischen Tradition! Wie hat ihre Übersetzungsgeschichte, wie haben ihre „Verfremdungen“ die Bibel bereichert! Und vor allem: Wie viel schöpferische Sprach- Arbeit, wie viel Phantasie, ja, wie viel Dichtung ist bereits in die Sprache der Bibel hineingegangen! DAS WORT ALS DICHTUNG Ich habe diesen kleinen Ausflug in die Vielfalt der „Worte“ für „Anfang“ nun aber nicht nur gemacht um der Freude an der Vielfalt willen, und weil mich das berufsmäßig interessiert - ich habe einen Lehrstuhl für „Vergleichende Literaturwissenschaft“ inne -, das Rahmenthema dieser ersten Reihe der Augsburger Oekumenischen Hochschulgottesdienste (begonnen im Herbst 2000), das Thema „Anfänge“ regte sicher auch zu solchen Überle- 16 gungen an. Ich wollte aber auch auf den Schock vorbereiten, den meine erste Aussage zu Rose Ausländer für viele vielleicht bedeutet. Rose Ausländers Gedicht wirkt ja zunächst sehr einfach und scheint den Anfang des Johannesevangeliums genau zu übernehmen. Aber es ist, liest man im Werk dieser Dichterin weiter herum, durchaus kühn, ja vielleicht sogar zunächst provozierend zu verstehen. Wenn Rose Ausländer sagt: „Am Anfang war das Wort“, dann meint sie das „dichterische Wort“, das freie, schöpferische, menschliche Wort, in dem die göttliche Schöpferkraft lebt, das „Wunder der Worte, die Welten erschaffen“, wie es in einem anderen Gedicht heißt. So gibt es zu unserem Gedicht ein recht genaues Gegengedicht, einen Kontrapunkt sozusagen. Und dieses Gedicht hat nicht zuletzt auch gegenüber der jüdischen Tradition, wie sein Titel sagt, Keinen Respekt. Denn es geht um nichts Geringeres als um den Namen Gottes: Kein Respekt: Ich habe keinen Respekt vor dem Wort Gott. Habe großen Respekt vor dem Wort das mich erschuf damit ich Gott helfe die Welt zu erschaffen. Rose Ausländer sagt, letztlich einer ursprünglich griechischen, dann vor allem einer von der Romantik und von der Moderne vielfach wiederbelebten Tradition folgend: „Am Anfang war das Gedicht“. Und „Dichtung“ heißt Spracherneuerung, immer wie- 17 der die Erneuerung der abgenutzten, konventionell gewordenen Sprache. Insofern hängen „Wort“ und „Anfang“ hier ganz eng zusammen: „Das wahre Wort ist immer ein Anfang“. „Each venture is a new beginning, a raid on the inarticulate“ / „Jede dichterische Unternehmung, jedes Sprachabenteuer, ist ein neuer Anfang, ein Angriff auf das noch Ungesagte“. An diese Zeile von T.S. Eliot könnte Rose Ausländer gedacht haben, als sie dieses Gedicht schrieb. DAS FREMDE WORT Spracherneuerung heißt freilich auch Verfremdung des Herkömmlichen, Bekannten und Eigenen. Sprache, Worte beziehen sich nie nur auf sich selbst. Sprache heißt nicht Identität, sondern „Alterität“, „Bezug“, genauer, der Prozess des Herstellens von Bezügen, und damit: „Bezug auf ein Anderes und für Andere“. Und die Erneuerung, auch und gerade die dichterische Befreiung der Sprache, setzt solche „Alterität“, setzt also das eigentliche Funktionieren der Sprache frei. Wem das zu theoretisch klingt, der kann ganz einfach sagen: „Am Anfang war das Wort des Anderen“, oder: „Am Anfang war das fremde Wort“. Denn wie spricht „Gottes Wort“ anders zu uns als in immer neuen Um-Erzählungen, Neuformulierungen, in immer neuen Übersetzungen in immer wieder fremde Sprachen? Und verfremdend wirkt auf alle Fälle und ganz gezielt die zweite Strophe unseres Gedichts. Sie ist eine sehr jüdische - dazu, zu ihrem „Sandvolk“, ihrem „Grasvolk“, hat Rose Ausländer sich bei aller Freiheit und Selbständigkeit stets bekannt -, und sie ist eine sehr persönliche Strophe. Das Wort, „das Gott uns gab“ - davon, dass es „Fleisch wurde“ ist ja, zumindest direkt, nicht die Rede -, ist jetzt vor allem die „Thora“, das Buch, aus dem die Juden die 18 Weltgeschichte hindurch buchstäblich „gelebt“ haben. Und die „Wohnung“ im Wort meint die jüdische „Schechina“, die Gegenwart Gottes auch außerhalb des Tempels, zum Beispiel in der babylonischen Gefangenschaft oder in der weltweiten Zerstreuung. Aber für Rose Ausländer verbinden sich mit dem „Wohnen im Wort“ zugleich auch zwei sehr persönliche Bedeutungen. Die erste betrifft ihr Leben: Sie wurde 1901 in Czernowitz in der Bukowina, also in Rumänien, geboren und starb 1988 in Düsseldorf. Ihr Leben war zum einen geprägt von einem ruhelosen Hin und Her, von ständigen „Verfremdungen“, einem immer neuen Wegreisen: von Rumänien nach Amerika, in das sie achtzehnjährig aus wirtschaftlicher Not auswanderte, und dann wieder nach Europa, in das sie aus Heimweh zurückkehrte, das sie aus beruflichen Gründen zugunsten der USA dann wieder verließ, um später wegen der Krankheit ihrer Mutter wieder zurückzukehren, dann wieder wegen der Judenverfolgung buchstäblich nach Amerika zu fliehen, wieder zurückzukehren und so fort. In der Tat ein „verfremdetes“ Leben. Und die andere, noch härtere Seite dieses Lebens „in der Fremde“ bedeuteten die Phasen der Gefangenschaft: zum einen natürlich die Zeit von 1941 bis1945, als die Judenverfolgung auch Rumänien und die Bukowina erfasste, Rose Ausländer im Ghetto lebte, dann sich in wechselnden Wohnungen und zuletzt in Kellern verstecken musste, um der Vernichtung zu entgehen, einer Vernichtung, der ein Großteil ihrer Familie zum Opfer fiel. Wie fürchterlich und unfassbar „fremd“ muss ihr da die Welt geworden sein! Und dem folgte ein weiteres, ein „inneres Gefängnis“. Denn wie bei vielen Überlebenden der „Shoa“, der „Galgenzeit“ auf dem „gelben Stern“, in der „wir stündlich starben“, wie sie es selbst einmal nannte, führten diese Erfahrungen später zu einer so tiefen Depression, dass sie die letzten zehn Jahre ihres Lebens ohne sonstigen äußerlichen Grund, zumindest zunächst, sich in ein Krankenbett zurückzog, um sich so weit wie möglich vor der Welt 19 zu verschließen. Ein „Wohnen“ im üblichen Sinn kann man dieses Leben nicht nennen: „Ich wohne nicht, ich lebe“, heißt es in einem ihrer Gedichte - ich „überlebe“, muss man lesen. Umso intensiver gegenüber diesem bloßen „Überleben in der Fremde“ lebte Rose Ausländer und „wohnte in Worten“, in ihren Sprachräumen, in ihren Gedichten: Mein Vaterland ist tot sie haben es begraben im Feuer Ich lebe in meinem Mutterland Wort. Liest sich das nicht wie eine Fortsetzung oder ein Kommentar oder ein Querverweis auf unser Gedicht: „Am Anfang war das Wort“? Auf alle Fälle sieht man, wie persönlich Rose Ausländer, trotz der „Wir“-Form, dieses Gedicht verstanden haben muss. DAS DEUTSCHE WORT Sehr persönlich wird dieses Gedicht für Rose Ausländer auch dadurch, dass sie eben den Text der Lutherbibel zitiert. Das „Wort“, um das es für sie geht, ist in einem wesentlichen Sinne „deutsch“. Das hängt mit ihrem Leben zusammen und verbindet sie mit anderen deutsch-jüdischen Dichtern wie Yvan Goll und vor allem mit dem vielleicht bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Paul Celan. Alle diese Autoren hatten ein sehr inniges Verhältnis, sehr viel Liebe zur 20 deutschen Sprache. „Deutsch“ war für sie die Sprache der Bildung, der Literatur, der Kreativität, der Wahrheitssuche. Und genau diese Sprache, in der sie sich am besten auszudrücken verstanden, in der sie träumten und dichteten, wurde die Sprache ihrer Verfolger und Mörder: „Schwarze Milch“, Todesnahrung. Die berühmte und immer wieder erschütternde Metapher findet sich bezeichnenderweise, und wohl jeweils unabhängig voneinander entstanden, bei genau diesen drei Dichtern. Paul Celan spricht davon, dass „der Giftzahn die Worte durchstieß“, sagt aber auch: „Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem, sie musste hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede […] sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten“. Yvan Goll, der Elsässer, dessen Muttersprache französisch, seine bevorzugte Dichtungssprache aber deutsch war, der immer wieder fliehen musste, in die Schweiz, nach Frankreich, in die USA, jahrelang nicht deutsch geschrieben hatte, kehrte 1947 todkrank nach Paris zurück und schrieb dann noch einmal eine Sammlung erschütternder und zugleich bizarr schöner deutscher Gedichte: „Wir hatten kein Haus wie die anderen“, beginnt eines davon. Rose Ausländer, die von sich sagte, Dichten sei für sie so lebensnotwendig wie Atmen, schreibt von 1947 an, als ihr das ganze Ausmaß der „Shoa“, des „Holocaust“, der Judenvernichtung durch die Deutschen bewusst wurde, bis 1957 kein Wort deutsch. Erst als sie von der amerikanischen Dichterin Marianne Moore die moderne, verfremdende, vieldeutige, widersprüchliche und verkürzende Poetik lernte, wurde sie dieses Sprachtrauma los: „Mein aus der Verzweifl ung geborenes Wort“ hat sie später diesen Neuanfang genannt. Und so bitter, so dunkel - „Am Anfang war mein verzweifeltes Wort“ - kann man dieses Gedicht, kann man das „Wohnen im Wort“ nun durchaus auch verstehen. Damit spricht Rose Ausländer für viele deutsch-jüdische Dichter: Ihre 21 Liebe zur deutschen Sprache war eine tief verletzte, aber doch nur umso stärkere Liebe. Wenn man ihre Gedichte betrachtet, buchstäblich ein reiches Geschenk an unsere Literatur, dann ist selten so viel Böses mit so viel Gutem vergolten worden. DAS WORT VON DER HOFFNUNG Der letzte Vers des Gedichts kehrt nicht zum Text, wohl aber zum Sinn des Johannesevangeliums zurück. Nach der poetisch-modernen Verfremdung der ersten Strophe und der sehr persönlichen, jüdischen Gegenrede in der zweiten, lässt sich die dritte Strophe jüdisch, christlich, dichterisch oder eben human verstehen. Denn „Traum“ kann Illusion heißen. Dann ist, durchaus skeptisch, das volle Risiko gemeint, dem „das Wort“, die Wahrheit, die Kreativität in der Welt begegnen kann, es ist das Risiko gemeint, dem das „Licht in der Finsternis“ immer wieder ausgesetzt ist: „Und die Finsternis hat’s nicht ergriffen“. Aber „Traum“ heißt hier auch „Hoff nung“, so wie ja auch der Wechsel von „war“ zu „ist“ seine Fortsetzung „wird sein“ verlangt. „Hoffnung“ steht hier gegen alle persönliche leidvolle Erfahrung, sie gehört aber auch zu jedem dichterischen „Anfang“, und sie ist für Juden wie für Christen der Atem des Glaubens. Vor allem ist gerade das Johannesevangelium das Evangelium von der Hoffnung. Im „Anfang“ ist hier die „Vollendung“, in der „Schöpfung“ die „Erlösung“, in der „Vergangenheit“ die „Zukunft“ mit gemeint: „Das Wort von der Hoffnung war im Anfang bei Gott“. Für Jesus Christus, wenn das Wort Fleisch, Gott Mensch wird, dann ist ja auch die Vielfalt der sprachlichen Auffassungen von „Anfang“ kein Problem, sondern eine Bereicherung: das Hereinleuchten der Ewigkeit in die Zeit wie in „arché“, die Formulierbarkeit für uns Menschen wie in „principium“, die immer sich 22 erneuernde Kraft wie in „frumistin“, die einschneidende Veränderung wie in „anaginna“ oder „beginning“, die Tat Gottes als ein kreatives „Anfassen“ wie in „Anfang“, und der „Weg“ zu einem „Ziel“ wie in „commencement“. Aus theoretischer Sicht heißt Sprache, heißt „Wort“ so gesehen: Weite und Vielfalt, Vielfalt des jeweils Anderen, und so auch Vielfalt des Glaubens. „Am Anfang war die Vielfalt“? Das verträgt sich alles sehr gut mit der Lesart: „Am Anfang war die Dichtung“. Nach jüdischer Tradition ist das innerste Wesen der dichterischen Phantasie ein „Hören“, Dichten ist „Vernahme“, wie es der Philosoph Martin Heidegger nannte. „Zu Ende gedacht / den geborenen Menschen / tönt es zurück“, schreibt Ernst Meister. Dichtung ist zuerst und zuletzt „dialogisch“: „ich“ und „der andere“, der „ganz andere“, so Paul Celan. Dichtung führt zum „Hören“. Das „Wort von der Hoffnung ist ein Gedicht“, sagt Rose Ausländer, aber zuerst und zuletzt das Gedicht eines großen „Du“. So haben gerade die jüdisch-deutschen Dichter den Gedanken einer „dichtend hörenden Hoffnung“, einer oft rätselhaften, oft nur „geträumten“, visionären, aber in alledem nur umso dringenderen Hoffnung immer wieder intensiv zum Ausdruck gebracht: ELSE LASKER-SCHÜLER Ich bin der Hieroglyph, Der unter der Schöpfung steht Und mein Auge Ist der Gipfel der Zeit; Sein Leuchten küsst Gottes Saum. 23 ILSE AICHINGER Und hätt ich keine Träume so wär ich doch kein anderer, ich wär derselbe ohne Träume, wer rief mich heim? PAUL CELAN Einmal da hörte ich ihn, da wusch er die Welt […] Licht war. Rettung. 24 JOHANNES TAULER / DANIEL SUDERMANN ES KOMMT EIN SCHIFF GELADEN Es kommt ein Schiff geladen Bis an sein höchsten Bord, trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewig Wort. Das Schiff geht still im Triebe, es trägt ein teure Last; das Segel ist die Liebe, der Heilig Geist der Mast. Der Anker haft’ auf Erden, da ist das Schiff am Land. Das Wort will Fleisch uns werden, der Sohn ist uns gesandt. Zu Bethlehem geboren Im Stall ein Kindelein, gibt sich für uns verloren. Gelobet muß es sein. Und wer dies Kind mit Freuden Umfangen, küssen will, muß vorher mit ihm leiden Groß Pein und Marter viel, 25 Danach mit ihm auch sterben und geistlich auferstehn, das ewig Leben erben, wie an ihm ist geschehn. E s kommt ein Schiff “: Wenn wirdiesen Satz einenAugenblick lang für sich allein betrachten, dann füllt die Vorstellung dieses Schiffs, das da auf uns zu gefahren kommt, den ganzen Bildrahmen aus. Ganz groß bewegt sich und ruhig allein dieses Schiff. Das hat noch heute etwas Überwältigendes. MARIA UND DAS MEER Auf Menschen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts muss das noch viel mächtiger gewirkt haben. Viele, man kann sagen: die meisten, dachten sich ja damals die Erde nicht nur als Scheibe, sondern die bekannten Erdteile auf ihr geradezu als Insel, eine Insel, die von einem unermesslichen, von Stürmen aufgewühlten und von Ungeheuern bewohnten Ozean umgeben ist. Aus dieser unbekannten Welt musste dieses Schiff kommen. Es kündigt etwas ganz Neues an. Umso bedeutsamer, dass es so ruhig und so stetig seinen Kurs verfolgt. Denn es handelt sich, das lag für die damalige Zeit sehr nahe, um ein Marienlied. Weibliche Gottheiten gehörten seit Urzeiten zum Meer. Die „weiße Göttin“, so ihr wörtlicher, griechischer Name - das heißt vielleicht einfach und archaisch: „die Göttin“ schlechthin -, Leukothea rettete den Odysseus, den berühmtesten Seefahrer der alten Welt, als er hilflos im Sturm auf dem Meer trieb, vor dem Ertrinken. In der irischen Mythologie kommen die Götter auf Schiffen aus dem unbekannten Westen, darunter auch 26 eine „große Mutter“, die an Land den „Lichtgott“ zur Welt bringen wird. Vieles davon wurde auf Maria, die Mutter Jesu übertragen. Die Mondsichel, auf der sie oft steht, so auch hier in unserer Kilchberger Kirche, kann ja auch als ein Schiff gesehen werden, als eine „Himmels-Barke“. „Stella maris“, „Stern des Meeres“, ist traditionell einer der Namen für Maria. In Frankreich verehrt man die „Maries de la Mer“, „Marien des Meeres“, Statuen, von denen man sagt: Wenn ihre Füße das Wasser berühren, dann beruhigt sich auch der wildeste Seesturm. In Penzance, im englischen Cornwall, einer Hafenstadt, früher freilich auch berüchtigt für ihre Schmuggler und Piraten, kann man in der Kirche nah am Meer ein großes Glasfenster sehen mit Maria, die segnend und schützend ihre Arme breitet über Schiffe, die auf hohen Wellen auf und ab gleiten. So könnte man noch viel erzählen. Und wir verstehen vielleicht, wie dieses Bild: „Es kommt ein Schiff “, damals von einer geradezu mythischen Aura umgeben gewesen sein musste. In unserem Lied freilich ist von Anfang an alles Mythische und Legendenhafte zu einem bloßen Bild geworden, allerdings zu einem im mittelalterlichen Sinne vielschichtigen und auch widersprüchlichen. Und in der Fassung, die wir heute singen, ist jeder Hinweis auf Maria getilgt. Oder doch nicht ganz? In Strophe fünf kann man durchaus ein Bild der „Schmerzensmutter“, der „mater dolorosa“ erkennen, der Maria, die um ihren toten Sohn trauert. Vielleicht fühlen das gerade Frauen besonders stark, etwa wenn sie, wie meine eigene Mutter, um ein früh gestorbenes Kind trauern, lebenslang, und wenn sie glauben und wünschen, dieses geliebte Kind nach dem Tod wieder in die Arme nehmen zu können. Das wäre durchaus im Sinne mittelalterlicher Frömmigkeit empfunden. Wie auch immer, das Lied Es kommt ein Schiff geladen war ein Lieblingslied meiner Mutter. Ich höre es innerlich mit ihrer Stimme gesungen. Und eine Pfarrfrau, die noch dazu die Orgel spielt, kennt 27 ihre Choräle. So stand für mich von klein auf fest: Dies ist ein altes, schönes Lied. Später auf der Universität kam einmal in ganz anderem Zusammenhang die Frage auf die Symbolik des „Segels“. Ich meldete mich sofort: „‚Das Segel ist die Liebe‘, heißt es in einem alten Kirchenlied“. „Ja, sehr gut“, sagte der Professor, der in Tübingen unvergessene Paul Hoffmann, „Tauler, nicht wahr? “ Dass ich das damals nicht wusste, ließ ich mir nicht anmerken. Der Name stand und steht ja auch nicht im Gesangbuch. Warum eigentlich nicht? DAS LIED UND SEIN DICHTER Zunächst einmal fehlt die Angabe des Verfassers wohl, weil man nicht ganz sicher weiß, wann das Lied entstanden ist und von wem es ursprünglich stammt. Fest steht, dass im Jahr 1626 der Straßburger Pastor Daniel Sudermann dieses Lied veröffentlichte und dazu anmerkte: „Ein uraltes Gesang. So unter deß Herrn Tauleri Schrifften funden, etwas verständlicher gemacht“. Die Handschrift, die Sudermann im Kloster der Dominikanerinnen „Sankt Nicolaus“ in Straßburg gefunden hat, ist ihrerseits erhalten geblieben; sie wurde im 20. Jahrhundert wissenschaftlich untersucht und auf etwa 1450 datiert. Ich habe diese Fassung für Sie vervielfältigt, bzw. im Anhang zitiert. Es gibt allerdings noch weitere, teilweise erheblich abweichende Fassungen. So dürfte dann wohl der Hinweis: „Marienlied aus Straßburg 15. Jahrhundert“ in unser Gesangbuch gekommen sein. Aber zumindest der Anfang unseres Liedes ist sehr wahrscheinlich noch einmal hundert Jahre älter. Der Dominikaner-Pater Johannes Tauler, ein bedeutender Mystiker des Mittelalters, lebte von etwa 1300 bis 1361. Er war geistlicher Lehrer der Straßburger Dominikanerinnen, hat oft in ihrer Kirche gepredigt, ist dort auch gestorben und hat sei- 28 ne Schriften diesem Kloster vermacht. Es ist sehr nahe liegend, dass er ein deutsches Lied zu einer Andacht oder einer geistlichen Feier gedichtet hat; in der Messe sangen ja nur der Priester und der Chor, und sie sangen nur auf Lateinisch. Wie auch immer, schon Sudermann, ein Kenner und Herausgeber der Schriften Taulers, scheint die ersten Strophen für original, auf alle Fälle für so eindrucksvoll gehalten zu haben, dass er sie am wenigsten umgeändert hat. Man hat später das Lied mit den Predigten Taulers verglichen und zu diesen Teilen viel Übereinstimmung gefunden. Es spricht also eher mehr dafür als dagegen, ihn als Verfasser anzunehmen. Was den Rest der Fassung von 1450 betrifft, so braucht man nicht groß studiert zu haben, um die Qualitätsunterschiede zu sehen. Texte zu verändern, eigene Dichtungen hinzuzusetzen, anderes wegzulassen, war im Mittelalter nicht ungewöhnlich. Man hatte keinen Sinn für geistiges Eigentum oder Urheberrechte. Die erotische Bildlichkeit beispielsweise in der fünften Strophe, der „lustvolle Kuss“ auf den „roten Mund“, ist eher typisch für die Vorstellungswelt damaliger Dominikanerinnen. Der Marien- Refrain ist inhaltlich beliebig, er verlässt das Thema des Liedes und dessen Bildlichkeit und dürfte irgendwann später hinzugefügt worden sein. Kurz, aber das scheint mir doch recht wichtig, unter dem Lied sollte stehen: „Strophe 1-3 von Johannes Tauler um 1350, im 15. Jahrhundert als Marienlied in Straßburg, 1626 bearbeitet von Daniel Sudermann“. Und Es kommt ein Schiff geladen sollte im Gesangbuch mehr nach vorn rücken und gleich hinter dem „Klassiker“ der Adventslieder schlechthin Macht hoch die Tür stehen, denn es handelt sich um eines der ältesten, wenn nicht um das älteste ursprünglich deutschsprachige Lied, das hier steht. Die Lieder Gott, heilger Schöpfer aller Stern und Nun komm, der Heiden Heiland gehen zwar auf noch ältere lateinische Vorbilder zurück, aber ihre deutschen Übersetzungen stammen, mehr als 29 150 Jahre später entstanden als Es kommt ein Schiff geladen, erst aus der Reformationszeit. Hinzusetzen sollte ich vielleicht noch, denn es gehört zur Geschichte dieses Liedes, dass Johannes Tauler später von seiner Kirche offiziell zum Häretiker, also zum Ketzer erklärt wurde. Seine Schriften kamen 1559 auf den so genannten Index der verbotenen Schriften. So wurde paradoxerweise das Marienlied als solches unterdrückt. Und in katholischen Gesangbüchern steht heute die evangelische Fassung. „Ein uraltes Gesang“ also aus dem Mittelalter: Was können, ja müssen wir ergänzen, um das Lied heute angemessen zu verstehen? Was könnten mittelalterliche Voraussetzungen und Verständnishorizonte gewesen sein, die Tauler und dann Sudermann kreativ und teilweise kühn weiter gedichtet haben, die heute aber weitestgehend vergessen sind? DAS „VIERFACHE“ SCHIFF Zwei Kontexte bzw. Bedeutungstraditionen möchte ich vorstellen, von denen das Lied nicht direkt spricht, die es aber, und eben im mittelalterlichen Sinne, vorauszusetzen scheint: Die ersten drei Strophen sind streng zweiteilig aufgebaut. Wir haben da einerseits das Bild eines Schiffes mit Bord, Segel, Mast und Anker, andererseits im jeweils zweiten Teil der Strophe die übertragene Bedeutung dieses Bildes und seine geistige Auslegung: Das Schiff ist ein Bild für Maria, die eben als werdende Mutter Gottes Sohn in sich „trägt“; das Segel ist ein Bild für die „Liebe“ bzw. mittelhochdeutsch die „Minne“ und so fort. Diese Zweiteilung nimmt übrigens sehr einfühlsam die Melodie auf, eine ihrerseits sehr alte, vielleicht sogar genau für dieses Lied komponierte, freilich mit einer abweichenden achtstrophigen Fassung überlieferte Melodie, die 30 Sudermann selbst allerdings noch nicht kannte. Es ist eben immer alles ein bisschen kompliziert. Auf alle Fälle gestaltet die Melodie rhythmisch und harmonisch einen Stimmungsumschwung jeweils zwischen den beiden Strophenteilen. Es ist durchaus möglich, so habe ich gelesen, dass die Nonnen dazu eine Art Tanz geschritten sind. Die jeweils erste Strophenhälfte folgt einer alten, der „dorischen“ Kirchentonart und ist rhythmisch von einem verzögernden Dreiviertel-Takt geprägt - das wird noch deutlicher, wenn man ihn sich punktiert vorstellt -, als trüge eine Frau „eine schwere Last“ vor sich her. Doch dann folgt ein schnellerer Vierviertel-Takt in einem wie befreiten, fröhlichen F-Dur: menschliche Erdenschwere auf der einen, Heil und Erlösung auf der anderen Seite. Das unterstreicht sehr einfühlsam einen Bedeutungswechsel, wie er im Mittelalter jedem Klosterschüler, erst Recht jedem Kleriker geläufig war. Man unterschied zwischen anschaulichem, wörtlichem, irdischem Sinn, z.B. dem Bild eines Schiffes, seiner Fahrt und seiner Teile, und einem „anderen“, „allegorischen“, geistig übertragenen Sinn und verstand es, alles auf dieser Welt - „omnis mundi creatura“ beginnt ein Merkvers von Alanus ab Insulis -, auf diesen übergeordneten Sinn hin zu deuten. Das prägt dann jeweils den zweiten Teil der ersten Strophen unseres Liedes. Aber dessen Bedeutungsaufbau, sein „Code“ würde man heute sagen, kennt noch weitere Ebenen. Denn man teilte beide, wörtlichen und allegorischen Sinn noch weiter auf. Das war die mittelalterliche Lehre vom „vierfachen Schriftsinn“. So ergibt sich erstens natürlich weiterhin der „wörtliche Sinn“ („sensus litteralis“): eben ein Schiff und so weiter. Dann folgt zweitens der „historische Sinn“ („sensus historicus“): hier also die aus der Bibel und sonstiger Überlieferung bekannte historische Maria, die das Jesuskind „trägt“ und „an Land“, also zur Welt bringt. Darüber erhebt sich dann drittens der „moralische Sinn“ („sensus moralis“), wenn etwa „das Segel (…) die Liebe“, also eine Tugend, die höchs- 31 te Tugend ist; und denkt man das weiter, dann würde das Schiff ganz folgerichtig zum Bild der menschlichen Seele, die ganz wie ein Schiff den Gottessohn aufnehmen und in sich „tragen“ kann und soll. Das war für den Mystiker Tauler sehr nahe liegend und wichtig, und ich werde noch darauf zurückkommen. Und über alle diese drei Bedeutungsebenen erhebt sich schließlich viertens der heilsgeschichtliche, der zur Ewigkeit Gottes „hinauf führende“ Sinn („sensus anagogicus“), sehr klar erkennbar etwa, wenn beispielsweise der „Heilige Geist der Mast“ sein soll, oder das Schiff „Gottes Wort“ trägt. Ein bisschen kompliziert, aber so weit doch noch einigermaßen klar, nicht? Doch richtig interessant wird so ein „Code“ erst, wenn er „Leerstellen“ bzw. das im Text „Nicht-Gesagte“ ergänzen und Widersprüche bzw. „Überschreibungen“ entschlüsseln hilft. Und die gibt es, sieht man genauer hin, auch hier. Müsste nicht eigentlich „der Wind“ der „Heilige Geist“ sein? Und umfasst die Menschwerdung Gottes nicht den ganzen Vorgang, von dem hier erzählt wird? Aber wie wären dann „Mast“ und „Anker“ zu verstehen? Bevor ich darauf eingehe und vor allem zu zeigen versuche, wie Tauler dieses System des „vierfachen Schriftsinns“ zwar voraussetzt, aber es auch intensiv verdichtet, es auf einen wesentlichen, seelischen Vorgang sozusagen „einschmilzt“, erlauben Sie noch eine weitere Zwischenüberlegung zu einem Vorverständnis, das für das Mittelalter noch sehr nahe lag, für uns heute aber ganz und gar nicht. SÜNDE UND GNADE „AUF DEM MEER“ Schon in der Bibel, insbesondere im Alten Testament, war das Meer, so erklärt es etwa das Calwer Bibellexikon, „Inbegriff des Unheils“, z.B. oft in den Psalmen. Seefahrt für sich allein galt geradezu 32 als Sünde. Das Volk Israel war ja kein Volk von Seefahrern. Auf Schiffen und auf dem Meer zuhause dagegen war das Nachbarvolk, die Phönizier. Und für deren Sünden sahen die Propheten des Alten Testaments das schlimmste Unheil voraus: „Deine Ruderer haben dich auf große Wasser geführt“, aber du wirst „mitten auf dem Meer zerbrechen“, und „alles Volk in dir wird mitten auf dem Meer umkommen“, so der Prophet Hesekiel, um nur eine Stimme zu nennen. Umso bedeutsamer ist es dann später, dass Jesus den Sturm stillen und das Boot mit den Jüngern sicher ans Ufer bringen kann. So ließe sich noch viel sagen. Noch in der Offenbarung des Johannes heißt es vom „neuen Himmel und der neuen Erde“: „Und das Meer ist nicht mehr“. Wie lebendig diese Auffassung von der „Seefahrt als Sünde“ noch lange und immer wieder war, dafür gibt es bis in die Neuzeit hinein reichende Beispiele. Zwei will ich nennen: Das erste steht der Zeit Taulers sehr nahe, und es gehört der Weltliteratur an. Etwa um die Wende des 12. zum 13. Jahrhundert erzählte der Italiener Dante Alighieri in kunstvollen Versen und eindrucksvollen Bildern in seiner Divina Commedia eine Reise durch die Hölle und den „Läuterungsberg“ ins Paradies. In einem sehr tiefen Kreis der Hölle nun, buchstäblich von ewigem Feuer verzehrt, begegnet man, für uns heute ganz überraschend, auch dem Odysseus, dem berühmtesten Seefahrer der alten Welt. Der war schon bei Homer nicht gerade ein Heiliger gewesen. Was für einen Frevel, von dem er dann allerdings selbst erzählen darf, hat er bei Dante begangen? Er war aus Neugier und Abenteuerlust über „die Säulen des Herkules“, die Straße von Gibraltar, das Ende der alten Welt hinaus gefahren und dann immer weiter nach Süden in jenes offene unbekannte Meer hinein, von dem ich eingangs gesprochen habe. Nach weiterer langer Fahrt taucht vor den Seefahrern ein riesiges Gebirge auf; voll Begeisterung, die auch Dantes Sprache teilt, und immer schneller rudernd, fast „wie im Flug“, streben sie diesem 33 neuen, unbekannten Land zu. Da erfasst sie ein riesiger Wirbel, zieht das Schiff in einen Abgrund von Wasser, und Odysseus findet sich tief in der Hölle wieder. Seine Sünde war die Seefahrt um der Seefahrt willen gewesen, aus Neugier, auf der Suche nach dem Unbekannten. Im mittelalterlichen Sinn bedeutete das Hochmut („hybris“, „superbia“), eine, ja die größte „Todsünde“. Denn wer über die Grenzen der bekannten Welt hinaus wollte, der wollte aus eigener Kraft tun, was nur Gott vermag. Insofern ist es schon interessant, dass Dantes Odysseus genau die Gegenrichtung suchte zu dem Schiff, das in unserem Lied aus einer unbekannten Welt Gottes Offenbarung und Gnade, „das ewig wahre Wort“ in die Welt der Menschen, in ihre, so das Mittelalter, „Insel“ hinein trägt. Auch mein zweites Beispiel, dieses Mal aus der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts zeigt, wie lebendig die Vorstellung von der Seefahrt als Sünde noch lange war, auch wenn sie jetzt noch viel mehr zu einem bloßen Bild verblasst ist. In einem Gedicht von Andreas Gryphius An die Welt werden die Gefahren der Seefahrt als Allegorie, als systematisch fortgesetztes Bild für die Gefahren des menschlichen Lebens breit und barock ausgeführt. Die erste Strophe erzählt von „äußeren“ Gefahren: „Stürmen“, „Klippen“, „Sand“ und „Schaum“, also Täuschungen und so fort. Und die zweite Strophe wendet sich den erst recht tödlichen, den „inneren Gefahren“, also eben den Sünden zu: Oft wenn uns schwarze Nacht am Mittag überfiel, Hat der geschwinde Blitz die Segel schier verbrennet, Wie oft hab ich den Wind und Nord und Süd verkennet, Wie schadhaft ist der Mast, Steurruder, Schwert und Kiel. Was sagt der allegorische „Code“ zu dieser Strophe? Die „schwarze Nacht“ ist ganz klar jene „Sündennacht“, von der etwa auch Paul Gerhardt oft spricht, diese „Nacht“ ist der in der Sünde vorwegge- 34 nommene „ewige Tod“, der „mitten“ im Leben jederzeit lauert und so fort. Der „Blitz“ des Zorns, so kann man jetzt weiter entziffern, kann des „Segel“ der Liebe in einem Nu „verbrennen“, „Nord und Süd“, der Kompass, wären die christlichen „Wegweisungen“, Gebote und Lehren, die man nicht „verkennen“ darf; das „Steuerruder“ ist natürlich die Vernunft, deren Aussetzen Gryphius offensichtlich, und hier bereits durchaus ein Aufklärer, zu den Sünden zählt, der „Kiel“ ist zweifelsfrei die gerade von Gryphius so hoch geschätzte stoische Tugend der „constantia“, die Standhaftigkeit, die aufrecht hält, die „Festigkeit“, wie die des Kiels für das Schiff, so des im Glauben starken Charakters für die Seele. Und wenn der „Wind“ der Heilige Geist ist, was ist dann der „Mast“? Oft bedeutet er die „Weitsicht“. Aber hier wäre der hoch über alles andere aufragende Mast, der dem Lebensschiff Bewegung und Energie ermöglicht, doch wohl eher der „Mut“: Lebensmut, Mut auch in Angst, Not und Gefahr hinein, auch durch die seelische Depression der „schwarzen Nacht“ hindurch zu fahren. Der Heilige Geist als „Mut-Macher“: Das ist durchaus im Sinne des Pfingstwunders gedacht. Und auf alle Fälle können wir sehen, wie das System des vierfachen Schriftsinns hier immer noch funktioniert, und vor allem eben auch, wie dieser „Code“ in der Tat Leerstellen im Text entziffern hilft. Und so dürfen wir uns dann auch fragen: Können wir vielleicht auch Taulers Lied so lesen? MYSTIK UND GLAUBEN Wir können beim Lied Es kommt ein Schiff geladen davon ausgehen, dass sowohl der dritte Schriftsinn, der „moralische“, bzw. der „seelische“, und das wäre der eigentlich „mystische“, als auch, was vielleicht noch wichtiger ist, die alte und mittelalterliche Sünden- Bedeutung der Seefahrt als Voraussetzungen, allerdings gewis- 35 sermaßen, und das scheint mir das Neue in diesem Lied, nur noch sozusagen „schweigend“ lebendig sind. Man könnte einen Zwischentext in das Lied hinein schreiben, eine dunkle zweite Stimme, wenn ich so sagen darf, in der das Schiff die menschliche Seele ist. Wie hörte sich das an? „Es kommt ein Schiff geladen“: Die Seele das Menschen, wäre sie nur auf sich allein gestellt, würde untergehen im Meer des Unheils, aber Gottes Wort gibt ihr Auftrieb. „Das Schiff geht still im Triebe“: Die Seele würde richtungslos herumtreiben, aber Gottes Heilsplan weist ihr den Weg. Wäre ihr „Segel“ nur die menschliche „Liebe“, es würde leer herumflattern, erst Gottes Liebe macht es stark. Unser menschlicher Mut, der „Mast“, würde sich biegen oder gar zerbrechen, aber der „Heilige Geist“ richtet ihn auf. Wir sehen, wie das Bild: „Es kommt ein Schiff geladen“, mittelalterliche Tiefe und Relief erhält, wenn wir diesen, wie man heute sagen würde, „vertikalen Text“ hinzufügen. Und wir können auch sehen, wie genau Daniel Sudermann diesen „schweigenden“ Zwischen-Text verstanden haben muss, wenn er seine Vorlage fortsetzt oder verbessert: Das Kind von Bethlehem „gibt sich für uns“, für die Sünden der Menschen, gibt sich an unserer Statt „verloren“, nur so kann „Sterben“ zum „Auferstehn“ führen. Hier wird die „schweigende Stimme“ der ersten Strophen in der Tat hörbar. Und was ist dann, setzt man diese Gegenrede von menschlichmoralischer und göttlich-heilsgeschichtlicher Bedeutung fort, was wäre dann „der Anker“? Das ist ein sehr altes, weit verbreitetes christliches Zeichen. Was wäre seine Bedeutung hier? Wir haben gesehen, dass das System des vierfachen Schriftsinns durchaus so etwas wie einen „Code“ abgibt, nach dem wir diese Zeichen im Bild des fahrenden und landenden Schiffes lesen können. Segel, Mast und Anker übertragen Energie: Die Kraft göttlicher Heilsgeschichte setzt sich fort in Triebkräfte der menschlichen Seele. Dann ist das alte Bild Taulers: „Der Anker ist ausgewor- 36 fen“, fast noch sprechender als das neuere Sudermanns: „Der Anker haftet auf der Erde“. Genauer gesagt: Beides sind dann zwei Momentaufnahmen eines und desselben Vorgangs. Ist es dann nicht einerseits der „Anker“ göttlicher „Gnade“, der uns zu „geworfen“ wird, und ist es nicht andererseits eben unser „Glaube“, der diese Gnade und mit ihr die ganze Heilsgeschichte ganz anschaulich „fest halten“ muss, wie ein Anker ein Schiff, damit nun in der Tat und ganz genau die menschliche Seele sich ihrerseits an diesem „Glaubensanker“ festhalten kann. Dann ist es nur ein weiterer Schritt, dass diese Energie sich auch in menschliche „Hoffnung“ hinein fortsetzt. Und als Zeichen des Glaubens und der Hoffnung wird der Anker, wird insbesondere das Kreuz auf dem Anker seit langem verstanden. Interessant ist, das wäre mein Schlussgedanke, dass Tauler das System mehrfacher Bedeutungen so zusammenzieht, so „einschmilzt“, dass menschliche Tugenden völlig aus der heilsgeschichtlichen Tat Gottes, der Erlösung durch Christus abgeleitet werden. Dazu passt es, und ist genauso kühn, dass er die Sünden-Bedeutung der Seefahrt in Christus sozusagen „aufgehoben“ sieht. Sie ist wie ausgestrichen oder überschrieben von der Heilsgeschichte. Das „Segel“ ist in einem, als ein und dieselbe heilsgeschichtliche Energie, die göttliche und zugleich die menschliche „Liebe“, der „Mast“ ist bruchlos der „Heilige Geist“ und der menschliche Mut, der „Anker“ ist göttliche Gnade und menschlicher Glaube zugleich, und genau diese Verbindung macht Hoffnung. Gott kommt den Menschen ganz nah. Die menschliche Seele soll und kann von dieser Gegenwart Gottes erfüllt werden, in Gott aufgehen. Und aus dieser Gegenwart Gottes folgen die menschlichen Tugenden. Das gehörte zum Kern der mystischen Theologie Johannes Taulers. Und man versteht auch, warum Martin Luther ihn so besonders geschätzt hat. 37 Denn diese Ankunft des Heils in der menschlichen Seele wird ja nun nicht als eine Art „Stop“ gesehen, als ein einmaliges Ereignis und als ein Schluss, sondern ganz eindrucksvoll eben als eine „Energieübertragung“. Daniel Sudermann nimmt dieses vorantreibende, energische Moment auf seine Weise auf. Mit Christus leiden, sterben und auferstehen ist einerseits etwas Einmaliges, für Jesus wie für jeden von uns, und zugleich ist das immer wieder etwas ganz Neues, so wie diese Ankunft des Schiffs aus einer unbekannten Welt etwas ganz Neues ist, für das Mittelalter ganz gewiss, aber spüren wir das nicht auch heute noch? Darum spricht das Lied ja zuletzt davon, „geistlich auferstehen“ zu wollen. Die Seele erneuert sich, so Sudermann über Tauler, so Tauler durch Sudermann, indem sie der Leidensgeschichte Christi folgt, in der immer weiter übertragenen Energie von Liebe, Mut, Glauben und, so darf man hinzusetzen, Hoffnung: „Geistlich auferstehn“ heißt mit Christus leben. Das überwältigende Bild Taulers: „Es kommt ein Schiff “, wirkt also weiter, auch über das Ende des Lieds hinaus. Das Schiff des Heils, erfüllt von Gottes Liebe, Kraft und Gnade, es soll in unserem Geiste seine Fahrt fortsetzen. Aus dem Unbekannten kommend, ins Unbekannte hinein, nimmt es uns mit. ANHANG Johannes Tauler (etwa 1300 - 1361) und unbekannte Verfasser (um 1450): Es kumpt ein schiff geladen (1) Es kumpt ein schiff, geladen Bis an sin hoegste bort. 38 Es draget den soen des vaters, das eweliche wort. (R) Maria gades mutter gelobet mustu syn. Du edel kunyngynne der engel an schyn. (2) Das schiff das geit so stille, es traget so duren last: der segel ist die mynne; der heilg’ geist der mast. (R) Maria gades mutter… (3) Der ancker ist uß geworffen. Dz schiff dz geit an lant; Got ist mensche worden, der sun ist vns gesant. (R) Maria gades mutter… (4) Es liget in der kribben, das liebe hubsche kindelin. Es ist vnser broder worden, gelobet muß es sin. (R) Maria gades mutter… (4) So wer das kint wilt kussen Fur sinen roten munt, 39 der emphohet groessen glusten von im zu der selben stunt. (R) Maria gades mutter… (Straßburg um 1450) Dante Alighieri (1265-1321) Die Göttliche Komödie, Inferno 26. Gesang, Odysseus […] Ich fuhr hinaus ins offne hohe Meer Auf einem einzgen Schiff mit meiner kleinen Gesellenschar, die nimmer mich verließ. […] ‚Brüder’. Sprach ich, ‚die durch hunderttausend Gefahren nach dem Westen seid gelangt, entziehet nicht dem kurzen Lebensabend, der uns noch bleibt, die sinnliche Erfahrung der unbewohnten Welt dort nach der Sonne! […] Erkenntnis suchet auf und Tüchtigkeit’. Mit dieser kurzen Rede stachelt ich Meine Genossen auf und trieb sie vorwärts So scharf, dass niemand sie gezügelt hätte. Das Hinterschiff dem Morgen zugekehrt, mit tollen Ruderschlägen ging der Flug 40 hinaus und vorwärts, immer mehr nach Süden. Bald sah man nachts des andern Poles Sterne. […] Da tauchte dunkel in dem fernen Dunst Ein Berg herauf und schien mir riesenhoch, so hoch, wie ich noch nichts gesehen hatte. Wir jubelten. - Die Lust war bald zunichte, Denn von dem fernen Lande kam ein Wirbel, der fasste an der Spitze gleich das Schiff und dreht es dreimal um im Strudelkreise, beim vierten hob er’s hinten auf - und köpflings, wie fremde Macht es wollte, fuhr’s hinab. Dann schloß sich langsam über uns das Wasser. (Deutsch von Karl Vossler) Andreas Gryphius (1616-1664) An die Welt Mein oft bestürmtes Schiff der grimmen Winde-Spiel Der frechen Wellen Ball / das schier die Flut getrennet / Das über Klipp auf Klipp und Schaum und Sand gerennet / Kommt vor der Zeit an Port / den meine Seele will. Oft / wenn uns schwarze Nacht im Mittag überfiel Hat der geschwinde Blitz die Segel schier verbrennet! Wie oft hab ich den Wind / und Nord’ und Süd verkennet! Wie schadhaft ist der Mast / Steur-Ruder / Schwert und Kiel. 41 Steig aus du müder Geist / steig aus! Wir sind am Lande! Was graut dir für dem Port / itzt wirst du aller Bande Und Angst / und herber Pein / und schwerer Schmerzen los. Ade / verfluchte Welt: du See voll rauer Stürme! Glück zu mein Vaterland / das stete Ruh’ im Schirme Und Schutz und Frieden hält / du ewigliches Schloß! (1636) 42 ANDREAS GRYPHIUS BETRACHTUNG DER ZEIT LITERATURPREDIGT ZUM NEUJAHRSMORGEN Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen, mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen; Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht, So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht. D as Gedicht Betrachtung der Zeit von Andreas Gryphius passt sehr gut zum zeitlichen Einschnitt des Jahreswechsels. Heute ist ein guter Tag, um darüber nachzudenken und zu reden. Sie finden das Gedicht auf Seite 906 im Evangelischen Gesangbuch für Württemberg. Da es sich um ein sehr kurzes, freilich gehaltvolles Gedicht handelt, habe ich Ihnen noch das Morgensonett, eines der bekanntesten Sonette von Gryphius vervielfältigt, um etwas mehr Anschauungsmaterial zu haben. Auch das passt ja durchaus zum heutigen „Neujahrsmorgen“. 43 WIDERSPRÜCHE DER ZEIT Selten hat die Erfahrung der Zeit die Menschen so intensiv beschäftigt, so umgetrieben wie im 16. und 17. Jahrhundert. Man kann von einer „Verzeitlichung“ der Wirklichkeit seit dem Anbruch der Neuzeit reden. Denken Sie etwa daran, wie die großen Seereisen unvermeidlich ein „Zeitmaß“, Tage, Wochen, Monate, Jahre, an die Stelle räumlicher Entfernung setzen mussten. Der Raum war überhaupt nur noch zeitlich zu fassen. Um 1600 gab es noch einmal einen „Verzeitlichungs“-Schub; die Barockkultur war eine Kultur der Zeitlichkeit: Die Barockarchitektur suchte den sichtbaren Raum aufzulösen, bot gleitende, gebrochene Perspektiven, erweiterte und vertiefte in den ausgemalten Wänden und Decken den Raum zur Geschichte, zur Darstellung von Zeit. Die barocke mehrstufige Kulissenbühne erlaubte es, Vorhänge in die Tiefe der Bühne hinein aufzuziehen, also eine Hinterbühne zu öffnen, und so zum Beispiel verschiedene Zeiten übereinander zu blenden. Die Barockmusik betont die Linien, die Harmonie sich in ihrer Fortbewegung verflechtender Stimmen im Rhythmus der Zeit. Der Kalender wurde Ende des 16. Jahrhunderts reformiert: Die Weltzeit hatte die Korrektur erwarteter Zeitläufe erzwungen. Neue Uhren (die Pendeluhr, die Feder-Uhr) wurden im 17. Jahrhundert entwickelt, von da an begannen die Uhren zu ticken. Die Chemiker wiesen nach, dass Substanzen sich laufend verändern. Die Mathematiker entwickelten Verfahren, wachsende Geschwindigkeiten, also Beschleunigungen zu berechnen, und so weiter. Wie der weise Herr von Montaigne es schon Ende des 16. Jahrhunderts formulierte: „Je ne peints pas l’estre. Je peints le passage / Ich stelle nicht das dar, was ist, sondern das, was vorübergeht“ (Du repentir), ja, „das Sein selbst ist Bewegung und Aktion / estre consiste en mouvement et action“ (De l’affectation des pères 44 aux enfants), „notre vie n’est que mouvement / unser Leben ist nichts als Bewegung“ (De l’expérience), und so fort. Besonders nachdrücklich erfuhren die Leute im 17. Jahrhundert, vom mächtigen Kurfürsten, z.B. dem Pfälzer, bis zum kleinen Tagelöhner, die „reißende Zeit“, also die Plötzlichkeit von Veränderungen in dem das ganze Jahrhundert prägenden Dreißigjährigen Krieg. Schlesien, wo Andreas Gryphius 1616 geboren wurde, bekam als Teil des Königreichs Böhmen die Wirren und wechselnden Schicksale der Zeit besonders nachdrücklich zu spüren. Immer wieder kamen andere Besatzungen, Herrschaften, Verwaltungsformen, kam auch wechselnder und nicht geringer politisch-religiöser Druck. 1628 zum Beispiel musste der zwölfjährige Andreas erleben, wie sein Stiefvater, an dem und an dem älteren Stiefbruder Paul er sehr hing - die Mutter war vor kurzem, der Vater schon 1621 gestorben: „In meiner ersten Blüht / Im Frühling zarter Tage / Hat mich der grimme Tod verwaiset / und die Nacht der Traurigkeit umhüllt“, schreibt Gryphius über seine Kindheit -, er musste erleben, wie sein Stiefvater als evangelischer Pfarrer aus Glogau vertrieben und das Gymnasium geschlossen wurde. Als „rasende Gewalt, die alles überfällt“ und „starke Macht der Sünden“ hat Gryphius später diese von Jesuiten geprägte kaiserliche Politik bezeichnet. Er selbst konnte damals erst nach ein paar Jahren wieder zu Vater und Bruder ziehen, zog überhaupt viel um, bis nach Danzig hinauf, die Schulausbildung wurde mehrfach unterbrochen, er erlebte einen Stadtbrand und mehrere Pestepidemien, konnte zwar die Universität Leyden besuchen, eine der besten ihrer Zeit, machte als Dichter und Jurist Karriere, heiratete. Aber nicht nur die Welt um ihn war im Aufruhr, er wurde selbst mehrfach todkrank, von sieben Kindern starben vier im Kindesalter, eine Tochter war geistig behindert, nur ein Sohn wuchs heran. Auch als Gryphius 1664 hoch geehrt, aber gerade 45 einmal 48 Jahre alt starb, ereilte ihn der Tod, den er so oft erwartet hatte, wie er selbst schon früh vorhersah, „vor der Zeit“. Man versteht, wie er die Vergänglichkeit der Zeit, mit seinen eigenen Worten: „die Flucht der schnellen Zeit“, zu seinem immer neuen Thema machte, wie er zum Beispiel im berühmten Abend- Sonett (zu finden im Anhang zur Predigt über Der Mond ist aufgegangen) den Wechsel von Tag und Nacht dramatisch, wie einen Krieg darstellen kann: „Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn“, wie er sogleich in radikaler Verallgemeinerung die Zeit als sinnlos, als „vertan“ bezeichnet und das Leben überhaupt als Wettlauf mit der Zeit sieht: „Dies Leben kommt mir vor als eine Rennebahn“. Berühmt sind auch die Zeilen, in denen er von der „Eitelkeit“, also Vergänglichkeit und Vergeblichkeit menschlichen Lebens spricht: Du siehst, wohin du siehst nur Eitelkeit auf Erden Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein […] Der hohen Taten Ruhm muß wie ein Traum vergehn. Soll denn das Spiel der Zeit der leichte Mensch bestehn? […] Wir müssen es als eine für Gryphius existentielle Aussage lesen, wenn er dichtet: Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen. Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen. Der Augenblick ist mein / und nehm ich den in acht, So ist der mein / der Jahr und Ewigkeit gemacht. 46 ZEICHENDICHTE, ZEICHENTIEFE Wenn die jungen Leute in Schule oder Universität mit Barockliteratur bekannt werden, dann sind sie, wenn ihre Lehrer es richtig anfangen, oft sehr schnell eigentümlich direkt angesprochen und nachdrücklich interessiert: „Barock rockt“, hörte ich einmal. Einer der Gründe dafür ist wohl die thematische Nähe dieser Literatur zu unserer eigenen Gegenwart. In der Tat, berührt nicht gerade uns heute dieses Zeitbewusstsein des 17. Jahrhunderts auf neue und ähnlich intensive Weise? Statt der Seereisen haben wir Luftverkehr, Raumfahrt, das Internet, also eine immer noch radikalere „Verzeitlichung“ des Raumes; der Dreißigjährige Krieg wurde erst von den Kriegen des Zwanzigsten Jahrhunderts überboten; statt der Pest haben wir den Krebs oder die Umweltvergiftung; die mathematische und technische Verzeitlichung haben unsere Teleskope, Computer, Funk-Uhren, Teilchen-Beschleuniger nur noch einmal potenziert und so fort. Aber genauso faszinierend an der Barockkultur und -literatur ist heute ihre „Zeichendichte“, man kann auch sagen: „Zeichentiefe“. Was damit gemeint ist, werde ich gleich zeigen. Und sehr nahe steht uns wohl auch die Freude dieser Literatur an Widersprüchen, die bewusste Kunst, Widersprüche nicht zu glätten, sondern zu suchen, die Kunst, Widersprüche auszuspielen. Schon die im 17. Jahrhundert sehr beliebte Versform unseres Gedichts, der so genannte Alexandriner - wir müssen uns, was in unserem Gesangbuch jeweils als zwei Zeilen gedruckt ist, eigentlich als eine Zeile vorstellen; so entsteht ein Langvers in „jambischem“ Versmaß („da damm, da damm, da damm…“) mit sechs Betonungen und einer winzigen Pause, einer „Zäsur“ in der Mitte -, dieser Alexandriner-Vers also lädt dazu ein, Widersprüche zu formulieren: „Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn“, „Was dieser heute baut / reißt jener morgen ein […]“, so 47 könnte man viele, viele Beispiele zitieren. Und so ist auch unser Gedicht ganz aus Widersprüchen aufgebaut: Vergangenheit und Zukunft, Verneinung und Bejahung, Jahr und Augenblick, Zeit und Ewigkeit. Für die „Zeichentiefe“ dieser Literatur, als würde ein Bedeutungsvorhang nach dem anderen weggezogen, haben wir ein schönes Beispiel im Morgen-Sonett. Dort heißt es in der fünften Zeile: „Das Leben dieser Welt / eilt schon die Welt zu küssen“. Das Bild aus der Liebeslyrik verdeckt und ersetzt zunächst geradezu - man nannte das ein Concetto - das was direkt dargestellt wird, schiebt sich wie ein durchsichtiger Schleier oder wie ein Rätsel vor die eigentlich bezeichnete „Sache“: hier also die aufgehende Sonne. Aber auch diese wieder wird sogleich zum Bild - jetzt spricht man von einer Allegorie -, denn ins Bild kommt geradezu überwältigend nicht die irdisch sichtbare, sondern eine „geistige Sonne“, die Sonne göttlicher Wahrheit, die den Dichter „erleuchten“, die Sonne göttlicher Gnade, die die „Nacht“ der Sünde „vertreiben“, und die Sonne göttlicher Macht, die „erquicken“ und „stärken“ soll. Sie sehen: Bedeutung hinter Bedeutung hinter Bedeutung und so fort. Auch in unserem Gedicht ist es nur oberflächlich so, als könnten wir die „Jahre“, die vergangen sind, und die, die noch kommen „können“ - „möchten“ und „mögen“ hieß damals „vermögen“, also „können“ -, als könnten wir Vergangenheit und Zukunft einfach vergleichen und zusammen verneinen. Denn wenn wir für die Vergangenheit keinen Handlungsspielraum mehr haben, sie nicht mehr beeinflussen können, dann wäre, dächte man so an die Zukunft, diese ja eben gerade offen und gestaltbar. „Nicht haben“ der Zukunft dagegen bedeutet „nicht wissen“, „unbekannt sein“. Und dann wäre die Vergangenheit ja bekannt. Es ist wie bei einer gebrochenen Perspektive in der Barock-Architektur, an der der Blick entlang gleitet und auf etwas dahinter Liegendes verwiesen 48 wird, oder als müssten wir die beiden Zeilen wie einen Vorhang der barocken Bühne aufschieben, um hindurch zu blicken. Was wir dahinter erkennen können, ist etwas sehr Radikales und eigentlich auch wieder sehr Modernes. Wenn Gryphius sagt „mein sind die Jahre nicht“, meint er nicht nur die Vergänglichkeit der Zeit, die wir ja alle dauernd ganz direkt erfahren, sondern die Unfassbarkeit der Zeit, dass wir, was Zeit eigentlich ist, nie wirklich begreifen können. Ein Philosoph und Theologe unserer Tage, Paul Ricœur, hat das die fundamentale „Zeitaporie“ des Menschen genannt: die Notwendigkeit und Unmöglichkeit, „Zeit“ wirklich zu erfassen. Aber bereits ein Zeitgenosse von Gryphius, Paul Fleming, hat diesen Grundwiderspruch im Umgang mit der Zeit sehr eindrucksvoll und modern ausgesprochen: Ihr lebet in der Zeit, und kennt doch keine Zeit, So wisst ihr Menschen nicht von / und in was ihr seid […] Die Zeit ist was / und nichts. Der Mensch in gleichem Falle […] Die Zeit ist / was ihr seid / und ihr seid / was die Zeit / Nur daß ihr Wenger noch / als was die Zeit ist / seid. Was die Dichter des 17. Jahrhunderts beschäftigte und was heute erst recht aktuell ist, ist der Gedanke, dass wir der Zeit ausgeliefert sind, ohne letztlich begreifen zu können, was da mit uns geschieht, dass unsere „Lebenszeit“ immer in einem Missverhältnis zu der Zeit steht, die als „Weltzeit“ um uns her abläuft. Wir müssen die Zeit gestalten, messen, aufzeichnen, wir müssen uns Zeit erzählen und wissen zugleich immer, dass das alles Konstrukte sind, die bereits untereinander nicht zusammenhängen. Jede Wissenschaft 49 hat ihre Zeitvorstellungen: „Halbwertzeit“, „Inkubationszeit“, „Lichtjahre“ usw., solche Zeiten laufen völlig neben unseren Lebensrhythmen ab oder laufen ihnen zuwider oder werden von ihnen niemals erreicht. Auch die physikalische Zeit kann sich dehnen oder auf eine für uns unvorstellbar Weise verdichten. Und was hat unsere erlebte Zeit wirklich zu tun mit dem Kalender oder mit den Schwingungen eines Quarzkristalls? Diese radikalere „Zeitlichkeit“, unser Ausgeliefertsein an etwas Unfassbares, müssen wir bei Gryphius hinter dem Schein, dem Vorhang der bloßen Vergänglichkeit erkennen. Erst dann erhält der „Augenblick“ die Bedeutung, auf die es ankommt. „DER AUGENBLICK IST MEIN“ Zunächst scheint es so, aber das ist eben auch nur „Schein“, als stünde hier eine Gegenwart, ein Gegenwartspunkt, gegen die „Jahre“ der Vergangenheit und die der Zukunft. Aber ein solches bloßes „Jetzt“ würde sofort verschwinden vor dem Sog der Vergangenheit und dem Druck der Zukunft. Wenn Gryphius sagt: „Der Augenblick ist mein“, dann meint er eine eigentümliche Zeitqualität des Augenblicks, die ihn als den je eigenen, existentiellen, im Gegensatz und zugleich als Zuspitzung der Vergänglichkeit wirklich erfahrbar macht. Aber der Augenblick ist „mein“ nur in dem Sinne, dass er mir „gegeben“ wird; es ist nicht so, dass ich ihn einfach habe. Wir können ja nicht sagen: „Jetzt erfahre ich einen Augenblick“, „auf diesen Augenblick achte ich jetzt besonders“. Den Augenblick können wir immer nur reagierend „erfassen“: im Sport beispielsweise, wenn wir einen Ball genau im richtigen Augenblick treffen müssen, in vielen handwerklichen Tätigkeiten, aber auch in den allerwichtigsten Augenblicken unseres Lebens. Wenn wir einen großen Erfolg haben, einen Wettkampf gewonnen, 50 eine ehrgeizig gesuchte Stelle erhalten haben, aber auch, wenn uns ein großer Schmerz trifft, zum Beispiel der Tod eines Angehörigen, oder wenn wir uns verliebt haben: Wir erfahren diese einschneidende Veränderung nie genau dann, wenn sie eintritt, wenn uns zum Beispiel eine Nachricht erreicht. Der Augenblick, in dem wir die neue Situation erfassen, der Augenblick, in dem wir ihrer inne werden, der Augenblick, in dem das Neue uns plötzlich ganz erfüllt, ist irgendwann sonst. Die Philosophen sagen, dass in einem Augenblick Nichtsein und Sein, Sein und Nichtsein sich berühren, dass der Augenblick immer zugleich etwas von uns selbst und etwas von der Welt enthält, unser „Selbstsein“ und unser „In der Weltsein“ in einem erschließt, dass wir immer darin auch unseren Tod vorwegnehmen - in der Tat, das Bewusstsein: „Das war bisher nicht und wird nie mehr so sein“, schwingt hier immer mit -, dass wir aber auch in einem Augenblick das Netz von Bedingungen und Möglichkeiten erschließen können, in dessen Mittelpunkt wir in diesem Augenblick stehen. Kann also die Zeitqualität des Augenblicks die Flucht der Zeit und ihre Unfassbarkeit durchbrechen? Genau das sagt Gryphius. Aber auch kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe schließt sein Gedicht Vermächtnis in diesem Sinne mit dem Hinweis auf den Augenblick, für ihn allerdings den glücklichen Augenblick: Wenn Leben sich des Lebens freut Dann ist Vergangenheit beständig, Das Künftige voraus lebendig, Der Augenblick ist Ewigkeit. Es ist allerdings schon so, dass Goethe hier eben nur den „glücklichen Auganblick“ sehen will, ja, vielleicht sogar über das Abgründige der Zeiterfahrung, das er sehr wohl auch kannte, letztlich doch einen heiteren Schleier breitet, da, wo Gryphius den Vor- 51 hang des Scheins beiseite schieben will. Gryphius bleibt ganz konsequent dabei, dass der Augenblick nur dann „mein“ ist, wenn er mir „gegeben“ ist. Und er stellt sich ganz radikal die Frage, wer uns den fassbaren Augenblick gegeben hat und immer wieder gibt und wer damit auch die unfassbare, fliehende Zeit immer wieder durchbrechen kann. Eigentlich müsste man, was den Argumentationsgang betrifft, das Gedicht jetzt von seinem Ende her verstehen. Es hängt ja auch und erst recht nicht von mir ab, dass „der mein“ ist, „der Jahr und Ewigkeit gemacht“ hat. Der Wenn-Satz, der in der Aussage: „nehm ich den Augenblick in acht“, enthalten ist, formuliert nur, wie die Logiker sagen, eine „notwendige“, keine „hinreichende Bedingung“. (Die Voraussetzung kann erfüllt sein, kann aber die Folge nicht erzwingen.) Es ist Gottes freie Setzung, dass die Folge eintritt: „So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht“. Ist das nur eine Haarspalterei? Keineswegs. Wenn man genau hin hört, dann hört man geradezu, wie so genannte „schwebende Betonungen“ hier das Versmaß durchbrechen. „So íst dér méin“: Eigentlich müsste man drei Silben in Folge betonen, so dass sowohl das jambische Versmaß als auch die Form des Alexandriners (es gäbe jetzt ja sieben Betonungen) hörbar durchbrochen würden. Und wir hören es geradezu, dass diese rhythmischen Akzente dann diesem ersten Halbsatz der letzten Zeile besonderes Gewicht verleihen. Denn wenn es bis zur Mitte des Gedichts um allgemein philosophische Fragen von „Zeitlichkeit“ und existentiellem „Augenblick“ gegangen war, dann geht es jetzt um zentral christliche und, wenn ich so sagen darf, gut evangelische Wahrheiten. Wir können erneut diese Kunst der Zeichentiefe, das Hochziehen eines Bedeutungsvorhangs beobachten: Hinter dem Schöpfergott, der „Jahr und Ewigkeit gemacht“ hat, wird der gnädige Gott sichtbar, hinter dem Vater der Sohn, Jesus Christus, der in Freiheit und allein aus Gnade („sola gratia“, wie Luther lehrte) sich aus 52 der Ewigkeit in die Zeit begeben und den Menschen angenommen hat. „So ist er mein“: nicht nur der Schöpfer, sondern eben der gnädige Gott. Die zentrale Aussage wird sichtbar, wenn man die beiden Satzteile wie eine Kulissen-Wand wegschiebt oder wie Altarflügel aufklappt. Nicht nur der wird angesprochen, „der Jahr und Ewigkeit gemacht“ hat, sondern der erscheint hinter und über ihm in der „Zeichentiefe“, der den Menschen und seine Zeit „angenommen“ und erlöst hat. In diesem Sinne klingt zum Beispiel Gryphius’ Gedicht Über die Geburt Jesu fast wörtlich an den Schluss von Betrachtung der Zeit an: Der Zeit und Nächte schuf, ist diese Nacht ankommen! Und hat das Recht der Zeit und Fleisch an sich genommen! Und unser Fleisch und Zeit der Ewigkeit vermacht! Die Schöpfung von „Jahr und Ewigkeit“ und die Menschwerdung Christi zusammen, in einem „göttlichen Augenblick“, beide zusammen reichen durch die Zeit hindurch hinein in den existentiellen Augenblick, der mir und dir, der uns Menschen, gegeben ist. Ein solcher Augenblick ist für Gryphius wohl auch der eines gelungenen oder der eines voll verstandenen Gedichts. Wir können am Morgen- und Abend-Sonett das eben Gesagte in der Tat überprüfen. Gryphius bedenkt intensiv und dramatisch die menschliche Zeitlichkeit. Er sucht ihr nirgends zu entfliehen. Im Gegenteil, er vertieft den Augenblick des Gedichts, indem er in ihm eine menschliche Konsequenz dieser Zeitlichkeit, den Tod und das Wissen um ihn, direkt anspricht, indem er den Tod dichterisch vorwegnimmt. Wenn er sagt, dass dieser herein „bricht“, und dass Gott ihn aus der Welt des Todes heraus „reißen“ möge, dann ist eigentlich nicht von einem letzten Tag oder einer letzten Stunde, sondern von einem „letzten Augenblick“ die Rede. Den „einig Augenblick“ nennt ihn Gryphius einmal in seinem Gedicht 53 Der Tod. Und er vertieft diesen dann noch einmal, indem er den „göttlichen Augenblick“ vergegenwärtigt, in dem Schöpfung und Gnade, Ewigkeit und Erlösung, Gottvater und der Menschensohn ein und dasselbe sind: „So reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir“, beziehungsweise: „Gib […], daß ich dich meine Sonn, mein Licht mög ewig schauen“. Eigentlich sind die beiden Sonette in ihrem jeweils zweiten Teil schöne Morgen- und Abend-Gebete. Zwischen der Aufzeichnung zeitlicher Veränderungen im ersten Teil und dem Gebet im zweiten, im schweigenden Übergang, muss jener Augenblick zu finden sein, in dem die Gnade evident und Gott mein ist. Dann sind diese Gebete auch eine Rückkehr in die Zeit: in den Wettlauf des Lebens, die Tätigkeit des Tages, wo man stark und wach sein muss, nicht gleiten und sich nicht ablenken lassen darf, und so fort. Es geht also deutlich darum, die Zeit auszuhalten und zu gestalten, die Zeit, und sei sie noch so vergänglich und unfassbar, als von Gott gegeben und von seiner Gnade erfüllt auszuleben, auch dieses neue Jahr, das jetzt auf uns zukommt. So ist gerade auch das Morgen-Sonett ein Gebet zum Jahresmorgen und zum Neuen Jahr: Erquicke mein Gemüt / und stärke mein Vertrauen. Gib, daß ich diese[s Jahr]/ in deinem Dienst allein Zubring: und wenn mein End’ und jener [Augenblick] bricht ein Daß ich dich / meine Sonn’ / mein Licht mög ewig schauen. 54 ANHANG Paul Fleming (1609-1640) Gedanken über die Zeit Ihr lebet in der Zeit / und kennt doch keine Zeit / So wisst Ihr Menschen nicht von / und in was Ihr seid. Dies wisst Ihr / daß Ihr seid in einer Zeit geboren. Und daß Ihr werdet auch in einer Zeit verloren. Was aber war die Zeit / die euch in sich gebracht? Und was wird diese sein / die euch zu nichts mehr macht? Die Zeit ist was / und nichts. Der Mensch in gleichem Falle. Doch was dasselbe was / und nichts sei / zweifeln alle. Die Zeit die stirbt in sich / und zeucht sich auch aus sich. Dies kommt aus mir und dir / von dem du bist und ich. Der Mensch ist in der Zeit; sie ist in ihm ingleichen. Doch aber muß der Mensch / wenn sie noch bleibet / weichen. Die Zeit ist / was ihr seid / und ihr seid / was die Zeit / Nur daß ihr Wenger noch / als was die Zeit ist / seid. Ach daß doch jene Zeit / die ohne Zeit ist / käme / Und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme. Und aus uns selbsten uns / daß wir gleich könnten sein / Wie der itzt / jener Zeit / die keine Zeit geht ein! (1642) 55 Andreas Gryphius Morgen-Sonett Die ewig helle Schar will nun ihr Licht verschließen / Diane steht erblasst; die Morgenröte lacht Den grauen Himmel an / der sanfte Wind erwacht / Und reizt das Federvolk / den neuen Tag zu grüßen. Das Leben dieser Welt / eilt schon die Welt zu küssen / Und hebt das Haupt empor / man sieht der Strahlen Pracht Nun blinken auf der See: Oh dreimal höchste Macht Erleuchte den / der sich itzt beugt vor deinen Füßen! Vertreib die dicke Nacht / die meine Seel umgibt / Die Schmerzen Finsternis / die Herz und Geist betrübt / Erquicke mein Gemüt / und stärke mein Vertrauen. Gib / daß ich diesen Tag / in deinem Dienst allein Zubring: und wenn mein End’ und jener Tag bricht ein Daß ich dich / meine Sonn / mein Licht mög ewig schauen. (1637) 56 PAUL GERHARDT ICH STEH AN DEINER KRIPPEN HIER, O JESU, DU MEIN LEBEN 1. Ich steh an deiner Krippen hier, O Jesulein mein Leben; Ich komme, bring und schenke dir, Was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin Und laß dir’s wohlgefallen. [2. Du hast mit deiner Lieb erfüllt Mein Adern und Geblüte, Dein schöner Glanz, dein süßes Bild Liegt mir ganz im Gemüte. Und wie mag es auch anders sein: Wie könnt ich dich, mein Herzelein. Aus meinem Herzen lassen! ] 3. Da ich noch nicht geboren war, Da bist du mir geboren Und hast mich dir zu eigen gar, Eh ich dich kannt erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, Da hast du schon bei dir bedacht, Wie du mein wolltest werden. 57 4. Ich lag in tiefster Todesnacht, Du warest meine Sonne, Die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne. O Sonne, die das werte Licht Des Glaubens in mir zugericht’t, Wie schön sind deine Strahlen! 5. Ich sehe dich mit Freuden an Und kann mich nicht satt sehen Und weil ich nun nicht weiter kann, So tu ich, was geschehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär Und meine Seel ein weites Meer, Daß ich dich möchte fassen! [6. Vergönne mir, o Jesulein, Daß ich dein Mündlein küsse. Das Mündlein, das den süßen Wein, Auch Milch und Honigflüsse Weit übertrifft in seiner Kraft; Es ist voll Labsal, Stärk und Saft, Der Mark und Bein erquicket.] 7. Wenn oft mein Herz im Leibe weint Und keinen Trost kann finden, Da ruft mir’s zu: Ich bin dein Freund, Ein Tilger deiner Sünden! Was trauerst du mein Brüderlein? Du sollst ja guter Dinge sein, Ich zahle deine Schulden. 58 [8. Wer ist der Meister, der allhier Nach Würdigkeit ausstreichet Die Händlein, so dies Kindlein mir Anlachende zureichet? Der Schnee ist hell, die Milch ist weiß, Verlieren doch beid ihren Preis. Wenn diese Händlein blicken. 9. Wo nehm ich Weisheit und Verstand, Mit Lobe zu erhöhen Die Äuglein, die so unverwandt Nach mir gerichtet stehen? Der volle Mond ist schön und klar, Schön ist der güldnen Sterne Schar, Dies’ Äuglein sind viel schöner.] 10. O dass doch ein so lieber Stern Soll in der Krippen liegen! Für edle Kinder großer Herrn Gehören güldne Wiegen. Ach, Heu und Stroh ist viel zu schlecht, Samt, Seide, Purpur wären recht, Dies Kindlein drauf zu legen. 11.Nehmt weg das Stroh, nehmt weg das Heu Ich will mir Blumen holen, Daß meines Heilands Lager sei Auf lieblichen Violen Mit Rosen, Nelken, Rosmarin Aus schönen Gärten will ich ihn Von obenher bestreuen. 59 [12. Zur Seiten will ich hier und dar Viel weißer Lilien stecken, Die sollen seiner Äuglein Paar Im Schlafe sanft bedecken. Doch liebt viel mehr das dürre Gras Dies Kindelein, als alles das, Was ich hier nenn und denke.] 13. Du fragest nicht nach Lust der Welt Nicht nach des Leibes Freuden, Du hast dich bei uns eingestellt, An unsrer Statt zu leiden, Suchst meiner Seelen Herrlichkeit, Durch dein selbsteignes Herzeleid, Das will ich dir nicht wehren. 14. Eins aber, hoff ich, wirst du mir, Mein Heiland nicht versagen: Daß ich dich möge für und für In, bei und an mir tragen. So laß mich doch dein Kripplein sein; Komm, komm und lege bei mir ein Dich und all deine Freuden. [15. Zwar sollt ich denken, wie gering Ich dich bewirten werde, Du bist der Schöpfer aller Ding, Ich bin nur Staub und Erde. Doch bist du so ein frommer Gast Daß du noch nie verschmähet hast Den, der dich gerne siehet.] 60 P aul Gerhardts Weihnachtslied Ich steh an deiner Krippen hier, erstmals 1653 erschienen, gehört sicher zu den Klassikern im Gottesdienst, nicht zuletzt dank der Melodie von Johann Sebastian Bach. Gleichwohl ist dieser Choral keineswegs irgendwie zu einem Volkslied geworden, etwa wie O du fröhliche oder Es ist ein Ros’ entsprungen, von Stille Nacht, heilige Nacht ganz zu schweigen. Dazu ist dies ein zu innerliches, ein im wahren Sinne zu andächtiges Lied. Oder könnten wir uns vorstellen, dass es auf dem Christkindl-Markt aus den Lautsprechern schallt, während wir uns gerade das fünfte Glas Glühwein genehmigen? Ein Andachtslied, das in seinem ersten Teil grundlegende christlich-lutherische Glaubenswahrheiten formuliert, zugleich ein Lied, das in anderen Teilen vielleicht von großer dichterischer Kühnheit ist, gewiss! Aber wenn man es als Ganzes in seiner ursprünglichen Gestalt betrachtet, dann reibt man sich manchmal doch die Augen. BAROCKE BILDER Vergönne mir, o Jesulein, Daß ich dein Mündlein küsse, Das Mündlein, das den süßen Wein Auch Milch und Honigflüsse Weit übertrifft […]. Ist das nicht eine Sprache, die schon das 18. Jahrhundert „barocken Schwulst“ nannte? Überschwänglich, fast schon formelhaft-mechanisch, letztlich - was für eine „Wein-Milch-Honigsüße“ wäre das denn? - auch gar nicht mehr anschaulich vorstellbar! Und so geht es ja noch lange weiter, etwa wenn es von den „Händlein“ des Jesus-Kindes heißt: 61 Der Schnee ist hell, die Milch ist weiß, Verlieren doch beid ihren Preis, Wenn diese Händlein blicken. Wenn man sich in irgendeiner Sammlung von Barocklyrik umsieht, dann merkt man schnell, woher diese Art Sprache stammt. Sie kommt aus der Liebeslyrik, ja, wenn man will, aus der erotischen Lyrik. „Der Schnee ist hell, die Milch ist weiß“: Viel schöner ist - das Schönheitsideal der Zeit kannte ja die Vorstellung „gesunder Bräune“ absolut nicht - immer wieder vor allem der Busen der Angebeteten. Vergleichbares gilt für den Kuss, insbesondere, so lange er nur ersehnt - „vergönne mir“ - und noch nicht gewährt wurde. Stets von neuem strahlten „die Augen schöner als Mond und Sterne“, und so fort. Das Motiv des „Mondes“ war in der Liebeslyrik populär, im „Geistlichen Lied“ aber nahezu tabu. Auch das Bild, dass das „Jesulein“ auf Blumen ruhen und von Blumen zugedeckt werden soll, gehört zum weit verbreiteten Preis des „Liebesnestes“ in der „schönen Natur“, wie man es beispielsweise in der damals sehr beliebten „Schäferdichtung“ finden kann. Man versteht, dass die Herausgeber unseres Gesangbuchs solche Teile des Liedes weggelassen haben. Sie haben ja auch gleich die erste Zeile und sonst Verschiedenes vom barocken „Schwulst“ befreit. Für das 17. Jahrhundert freilich bestand zwischen solcher, durchaus erotisch gefärbter „Jesus-Minne“ einerseits - das ist nun tatsächlich ein Begriff der Literaturgeschichte - und andererseits den tief ernsten Teilen des Liedes kein unüberbrückbarer Gegensatz. Die Barock-Kultur war zu wesentlichen Teilen eine Kultur der Bildlichkeit. Man braucht sich nur umzusehen in den Kirchen, Treppenhäusern oder Empfangsräumen, die gebaut worden sind, als Paul Gerhardt seine Lieder dichtete. Sind da nicht die Wände und Decken oft so ausgemalt, oft auch so formelhaft - wer „edel“ ist, ist „schön“ beispielsweise -, wie man- 62 che Strophen unseres Liedes? Und auch von so etwas wie einer Gesamtkomposition kann man hier vielleicht sprechen. So wie gegenüberliegende Wand-Gemälde einander kontrastieren können, so kann man genaue Gegensätze erkennen zwischen unserem Lied und etwa Paul Gerhardts berühmten Passions-Liedern, wie vor allem O Haupt voll Blut und Wunden, das ja nur des letzte Stück eines Zyklus von sieben Liedern ist mit dem barocken Namen: Passions-Salve [Passions-Gruß] an die leidenden Glieder Christi, ein langes Gedicht, in dem nach und nach die Füße, die Knie, die Hände, die vom Speer verwundete Seite, dann die Brust, das Herz und schließlich „das Angesicht“ des am Kreuz leidenden Jesus ausführlich angeschaut, mit dem Gefühl erfasst und überschwänglich angeredet werden. Und wenn man die 13. (im Gesangbuch die vorletzte) Strophe liest: Du fragest nicht nach Lust der Welt Noch nach des Leibes Freuden, Du hast dich bei uns eingestellt, An unsrer Statt zu leiden […], dann kann man sehen, wie diese heilsgeschichtliche Gesamt- Komposition auch hier schon vorgesehen ist, und wie die beliebige Bildlichkeit der vorhergehenden Strophen ganz wörtlich durchgestrichen wird. DEIN „ICH“, MEIN „DU“ Je aufrichtiger im Glauben das Thema ist, umso mehr lässt Paul Gerhardt den barocken „Schwulst“ hinter sich. Er hat, das muss klar gesagt werden, überhaupt entschieden zu dessen Überwindung beigetragen. So kann man dann ja auch in der eben 63 zitierten Strophe, oder wenn es heißt: „Wenn oft mein Herz im Leibe weint“, den sozusagen „echten Paul-Gerhardt-Ton“ hören, etwa wenn, wie in Wach auf mein Herz und singe oder in Geh aus mein Herz und suche Freud, das „Herz“ wie eine selbständig handelnde Person auftritt und so ganz persönliche Gefühle geradezu plastisch anschaulich werden. Allerdings, solche Strophen könnten dann auch wieder in anderen Liedern zu vielen Anlässen gesungen werden. Und das heißt dann, noch einmal anders gesagt: Den „Kern“, den wertvollsten Teil unseres Liedes bilden die ersten fünf, bzw. im Gesangbuch die ersten vier Strophen. Weit überwiegend dürften allein sie in den Gottesdiensten gesungen werden, schon aus Zeitgründen. Und mit ihnen will ich mich - wohlgemerkt vor allem aus literaturwissenschaftlicher Sicht - im Folgenden beschäftigen. Bei der Analyse von Literatur, ja von Kultur allgemein, unterscheidet man zwischen „Textur“ und „Struktur“, bzw. „Stil“ und „Diskurs“ und so fort. Zur Zeit Paul Gerhardts sagte man dazu, mit den Begriffen der antiken Rhetorik, elocutio und dispositio. Das eine ist die Ausführung eines Redeteils, das andere dessen Funktion im zweckmäßigen Gesamtzusammenhang. Und in diesem Sinne scheinen mir die im Gesangbuch weggelassene zweite und dann die ebenfalls jetzt fehlende letzte Strophe stilistisch vielleicht fragwürdig - etwa der Reim von „Geblüte“ auf „Gemüte“, die Anrede des Jesuskinds als „mein Herzelein“ und so fort -, aber strukturell ergeben sie viel Sinn. Die zweite Strophe führt aus, was es heißt: „Ich […] schenke dir, was du mir hast gegeben“, und betont die Subjektivität der folgenden Glaubensaussagen. Das mag manch frommen Eiferern zusätzlich missfallen haben. Und die letzte Strophe führt sehr deutlich, und dieser Zusammenhang scheint mir wichtig, auf die Demut des Anfangs zurück: „Du bist der Schöpfer aller Ding, / Ich bin nur Staub und Erde“, doch 64 „Ich“, so arm und klein ich bin, darf „vor deiner Krippen hier […] steh[en]“. Das Wort „Ich“ ist mit weitem Abstand das häufigste Anfangswort der Lieder Paul Gerhardts. Für diesen persönlichen Ton ist er berühmt. Aber sieht man genauer hin, dann wird hier auf vielfältige Weise „Ich“ gesagt: manchmal fröhlich und selbstbewusst, anderswo als ein armer kleiner Sünder, einmal für viele sprechend, dann wieder vertraulich, wie unter wenigen Freunden und so fort. Das Wort „Ich“ funktioniert ja überhaupt auf recht komplexe Weise. Für Kinder, die allmählich sprechen lernen, bedeutet es bekanntlich einen großen Schritt in ihrer Entwicklung, wenn sie zum ersten Mal „Ich“ sagen. Und noch allgemeiner gesehen: Das Wort „Ich“ ganz für sich allein wäre so gut wie bedeutungsleer. Man muss einen Kommunikationsraum, ein „deiktisches System“, bzw. einen „Konnex indexikalischer Zuordnungen“ aufbauen, zu Deutsch, man muss erkennen können, wer wo wann und wie „Ich“ sagt, um das Wort zu verstehen. Und da in der Dichtung alles zuerst einmal Fiktion ist und die Zuordnung einen weiteren, eigens zu entscheidenden Verständnis-Schritt bedeutet - das „Ich“ in einem Gedicht ist nicht automatisch der Dichter -, und da Dichtung zusätzlich noch meist indirekt, über Schrift oder Aufführungen kommuniziert, da das so ist, entwirft und begreift sich das „Ich“ der „lyrischen Stimme“, es versteht das „lyrische Ich“ sich von einer Instanz her, die es nicht selbst ist, und die erst das Gedicht aufbaut. Das „lyrische Ich“ ist immer das „Ich“ gegenüber einem „lyrischen Du“. Darüber sind viele kluge Bücher geschrieben worden. Wie auch immer, Paul Gerhardt spielt diese Situation radikal aus. Der Anfang unseres Liedes erhält genau dadurch seine Spannung. „Ich steh an deiner Krippen hier“: Das Lied beginnt mit einem ganz einzelnen, ganz ruhigen, „still […] steh[enden] Ich“. Eigentlich ist das ja gar kein echtes Gemeindelied, das im Chor gesungen wird, sondern, so höre ich es zumindest, ein Lied für 65 eine Solo-Stimme. Auch die Melodie, die in reinen Intervallen („do“-„fa“-„so“-„do“) aufsteigt, und der mehrstimmige Satz von Johann Sebastian Bach mit der verflochtenen Linearität der übrigen Harmonie, über die sich die Melodie frei erhebt, betonen diese ganz einzelne Stimme. Dieses „Ich“ hat alles andere hinter sich gelassen, wenn es anbetend in dieses Lied eintritt. Vergleichbares gilt für das erste Stichwort: Die „Krippe“ kann die aus der Weihnachtsgeschichte sein oder eine gerade jetzt festlich aufgebaute Krippe. Aber sie verschwindet sofort aus dem Blick gegenüber dem überwältigenden Innenraum, dem großen Seelenraum, der sich auftut: „O Jesu, Du mein Leben“. Das „Ich“ begreift sich radikal von diesem großen „Du“ her, in dem der „Schöpfer aller Ding“ und der Erlöser eins sind, so die letzte Strophe, und das es zugleich ganz innerlich, „ganz im Gemüte“, in sich trägt, so Strophe zwei. Man sieht, wie strukturell wichtig diese im Gesangbuch fehlenden Strophen sind: Ausbreitung und Vertiefung, „Verinnerung“ und „Entäußerung“ verstärken und intensivieren sich wechselseitig. Und dieser produktive Zirkel von „Ich“ und „Du“, Seele und Welt, Nehmen und Geben, Glaube und Heilsgeschichte prägt das ganze Lied. Man kann dieses Bemühen um wachsende Intensität bis in die Sprache hinein an der Folge der Verben erkennen in: „Ich komme, bring und schenke dir“. Die Linguistik bzw. die Sprachwissenschaft spricht hier von „ein-, zwei- und dreistelligen“ Verben. „Ich komme“ hat nur einen einzigen angesprochenen Bezug, eben „mich“; „ich bringe“ - ich bringe etwas -, bezieht zwei „Aktanten“ ein; und „dreistellig“ ist dann die Relation „ich schenke dir […] was“: Ich, ein Erstes, schenke etwas, ein Zweites, bezogen auf ein Drittes, nämlich „dir“. Kann man nicht, wenn man genau liest, verfolgen, wie hier Spannung aufgebaut wird? Denn jetzt muss erst recht der eben angesprochene Zirkel greifen. „Ich […] schenke dir, / Was du mir hast gegeben“: Das wäre eine recht leere Aussage, wenn da 66 nicht der vorhergehende Anfang: „du meine Leben“, und wenn da nicht eben und vor allem das ganze folgende Lied wäre. Die Begriffe: „Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut“ - „Mut“ bedeutete im 17. Jahrhundert noch „Gemüt“ - sind nahezu austauschbar, auf alle Fälle kaum voneinander abzugrenzen. Umschrieben wird hier genau der „Seelenraum“, den bereits die erste Zeile um des „Ich“ und das Du, „mein […] Jesus“, herum entworfen und aufgetan hat. Aber dann muss noch etwas dazu kommen, was da „geschenkt“ wird. Und deshalb wäre die im Gesangbuch gestrichene zweite Strophe strukturell so wichtig. Was hat es mit dem „Bild im Gemüte“ auf sich? Paul Gerhardt, wie jeder, der damals das Gymnasium oder die Universität absolviert hat - jeder, denn Mädchen waren diese Bildungseinrichtungen ja völlig verschlossen -, kannte wohl die Forderung des Horaz: „Ut pictura poesis / Wie ein Gemälde, wie ein Bild, soll die Dichtung sein“. „Bild“ und „Lied“ kommunizieren miteinander, ja sind theoretisch oft austauschbar: Auch der Dichter „malt“. Und dann lässt die Vorstellung: „Dein […] Bild / Liegt mir ganz im Gemüte“ in der Zirkelstruktur, die dieses Lied prägt, die Folgerung zu: Dieses „dichterische Bild“, das ist eben dieses mein Gedicht, in das „mein Geist und Sinn, / Herz, Seel und Mut“ ganz hinein geflossen sind. Es kommt aus meinem „Gemüt“ heraus zu dir, „mein Jesus“ zurück. „Ich komme, bring und schenke dir“: dieses mein Lied. Dann haben wir auch genau den Übergang zur dritten Strophe erfasst. Denn, so fährt der Dichter fort, alle Voraussetzungen dafür, alles, was ich bin und kann, auch dass ich dichten kann, das „hast du mir gegeben“, denn: Da ich noch nicht geboren war, Da bist du mir geboren Und hast mich dir zu eigen gar, 67 Eh ich dich kannt, erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, Da hast du schon bei dir bedacht, Wie du mein wolltest werden. Dieser Vers, einer der gelungensten deutscher geistlicher Dichtung, ist zunächst einmal theologisch sehr wichtig und klar, etwa im Sinne des Zweiten Briefs des Paulus an Thimoteus Die Gnade ist uns gegeben in Jesus Christus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart durch die Erscheinung unseres Heilands. (2. Thimoteus 1, Vers 9/ 10) „Vor der Zeit der Welt“ und „nach Gottes eigenem Vorsatz, nicht nach unseren Werken“, wie es direkt davor heißt. Paul Gerhardt hat eine fundamentale lutherisch-christliche Glaubenswahrheit dichterisch gefasst. Man erkennt, wie der mehrfach beobachtete Zirkel von „Verinnerung“ und „Entäußerung“ noch einmal erweitert und zugleich vertieft wird. Die ganze Heilsgeschichte gerät in den Blick: von der Ewigkeit, „vor der Zeit der Welt“, vor aller Schöpfung, bis zur Erlösung am Ende und nach aller Zeit. Das wird, wie in einem gewaltigen „Zoom“ der Zeit und der Vorstellung, verdichtet in dem schlichten „Du“ des angesprochenen Jesus. Und dieses umfassende Heilsgeschehen konzentriert sich zugleich, wenn es heißt: „Da bist du mir geboren“, und: „Wie du mein wollest werden“, in diesem einen, geradezu existentiell einzelnen, ganz individuell gemeinten „Ich“. 68 „VOR DER ZEIT DER WELT“ Paul Gerhardt tritt hier, so scheint mir, hinein in einen die Epochen übergreifenden Dialog mit ganz Großen der christlichen Dichtung. Zu den meistzitierten Versen der Weltliteratur gehören die folgenden aus Dante Allighieris großem, kunstvollem Gedicht La divina commedia / Die göttliche Komödie (Inferno, III.Gesang, ca. 1307), die Inschrift über dem Tor zur Hölle: Per me si va nella città dolente, per me si va nell’ eterno dolore, per me si va tra la perduta gente. Giustizia mosse il mio alto fattore: fecemi la divina potestate, la somma sapienza e il primo amore. Dinanzi a me non fur cose create Se non eterne, ed io eterno duro: Lasciate ogni speranza voi ch’entrate. Ich bin der Eingang in die Stadt der Schmerzen, Ich bin der Eingang in das ewige Leid, Ich bin der Eingang zum verlornen Volk. Gerechtigkeit bewegte meinen Bauherrn, die Allmacht Gottes richtete mich auf, die höchste Weisheit und die erste Liebe. Geschaffne Wesen gab es nicht vor mir, nur ewige, und ewig stehe ich. Tu, der du eintrittst, alle Hoffnung ab. (Deutsch von Karl Vossler, Hervorhebung von mir) 69 So lautet bei Dante die Inschrift über dem Tor zur Hölle: „Früher als mich gab es nichts Geschaffenes, es sei denn Ewiges. Und ich werde ewig dauern“. Was für ein ungeheurer epochaler Gegensatz tut sich da auf! „Vor der Zeit der Welt“ hat Gott in Christus die „Erlösung“ der Menschheit beschlossen, so steht es im Thimoteus- Brief. Darauf beruft sich Paul Gerhardt. Im Mittelalter dagegen war die Lehre weit verbreitet - sie soll auf Augustinus zurückgehen -, dass Gott noch vor Himmel und Erde und Menschen die Hölle erschaffen habe. „Vor der Zeit der Welt“: nicht die Erlösung, sondern die Hölle! Es schaudert einen immer wieder, wenn man das bei Dante liest. Und die hier ausführlich beschriebene Hölle, der Ort, der „alle Hoffnung aufgeben“ lässt, soll ausdrücklich auch „ewig“, also länger als Himmel und Erde „dauern“. Man sieht, welche Dramatik in dem Gedanken steckt: „Da ich noch nicht geboren war / Da bist du, [Jesus mein Erlöser] mir geboren“. Etwa 14 Jahre nach Paul Gerhardt hat der Engländer John Milton diese Dramatik neuzeitlich-protestantischer Theologie in seinem, Dante in manchem vergleichbaren, ebenfalls monumentalen Gedicht Paradise Lost / Das verlorene Paradies (1667/ 1674) gleich mehrfach erzählt. Noch vor der Erschaffung der Welt kommt es hier in einer Pause im Kampf zwischen Gott und seinen Engeln auf der einen Seite und auf der anderen den Heerscharen des Teufels, in diesem Kampf, der das Hauptinteresse von Miltons Epos bildet, kommt es zu einer Art „Strategie-Besprechung“ zwischen Gottvater und seinem Sohn. Gott sieht den immer neuen Sündenfall der Menschheit im Laufe der Geschichte vorher: „Man […] affecting Godhead, and so losing all / Der Mensch wird beanspruchen, Gott zu sein, und so alles verlieren“. Und Christus bietet in göttlicher Freiheit seine Menschwerdung, seinen Tod und seine Auferstehung an: „Behold me then, me for him, life für life / I offer / Erkenne mich, Ich für ihn, Leben für Leben, biete ich an“ (Buch III, Verse 206 und 236/ 237). Sehen wir nicht - dies 70 ist freilich nur ein winziger Ausschnitt aus diesem monumentalen Epos -, sehen wir nicht dieselbe Zirkelstruktur wie bei Paul Gerhardt: „Ich für ihn, Leben für Leben“, bzw. „Ich geboren […] du mir geboren“ und „Ich gemacht […] daß du mein wollest werden“? Und alles dies auch hier „vor der Zeit der Welt“. Aber damit ist für Milton noch nicht genug gesagt. Ganz am Ende des Epos, also nach der Erzählung von der Schöpfung und nach der kämpferischen Dramatik des ersten Sündenfalls, erscheint recht überraschend der Erzengel Michael und offenbart Adam die ganze zukünftige biblische Heilsgeschichte, und dabei nun insbesondere die „frohe Botschaft“ der Erlösung durch Christus: „Glad tidings“, „goodness infinite“, „utmost hope“ / „Glückliche Nachricht“, „unendliche Güte“, „höchste Hoffnung“, das sind letztlich alles Umschreibungen der wörtlichen Bedeutung von „Evangelium“. Und von diesem Wissen gestärkt können Adam und Eva in einem großen Schlussbild voll Zuversicht das Paradies verlassen: „Hand in hand […] The World was all before them / Hand in Hand gingen sie hinaus, und die ganze Welt lag vor ihnen“ (Buch XII, Verse 375/ 376 und 646). Adam und Eva stehen hier für die Menschheit allgemein. Auch Gott und Christus sprechen immer, wenn Christus sagt: „me for him / ich für ihn“, über „den“ Menschen allgemein. Dass schon Adam von der Erlösung weiß, betont seine Stärke und Freiheit: Gott vertraut dem Menschen. Für den Puritaner Milton hat der Mensch von Gott den Auftrag erhalten, die Welt in Gottes Sinne zu gestalten. „The World was all before them.“: Adam und Eva verlassen das Paradies als nur Gott und sich selbst verantwortlich. Es gibt vor allem keine direkt von Gott eingesetzte Macht über andere Menschen und so fort. Das bedeutete im Kampf gegen „das Böse“ später oft inhumane Strenge, war aber auch eine Quelle großer historischer Energie. Wir wissen, welche Bedeutung der Puritanismus für den Aufbau der Vereinigten Staaten von 71 Amerika hatte und noch hat. Und vergessen wir nicht, der Dichter John Milton hatte selbst zu den Parlamentariern gehört, die 1659 den englischen König Karl (Charles) den Ersten zum Tode verurteilten und hinrichten ließen. Die deutschen Lutheraner reagierten seinerzeit auf diese Tat mit Entsetzen. Andreas Gryphius vergleicht die Ermordete Majestät des Carolus Stuardus in seinem gleichnamigen Drama von 1655 geradezu mit der Verurteilung und Hinrichtung Jesu Christi. Paul Gerhardt hat sich zeitlebens allenfalls passiven Widerstand gegen seinen Fürsten erlaubt. Seine Lieder enthalten keine über die Ermahnung zu tätiger Nächstenliebe, Fleiß und Wohlverhalten und die Bitte um „gut christliches Regiment“ hinaus reichenden öffentlichen oder gar politischen Perspektiven. So betont er nicht, wie Milton, im Zirkel von „Christi Leben für das Leben des Menschen“ den Menschen allgemein, sondern verdichtet dieses „Geben und Nehmen“ ganz intensiv auf sein ganz eigenes, armes kleines „Ich“, die stets ganz individuelle, einzelne Existenz, das je persönliche Seelenheil. Und so sitzt das „Ich“, genauer, es erinnert sich: „Ich lag“, am Anfang der nächsten Strophe, in einer erneuten Spirale von „Verinnerung“ wie gefangen im eigenen, von Sünde erfüllten Seelenraum. VON DER GNADE ZUM GLAUBEN Die Barock-Architektur und ebenso die Barock-Musik folgen klaren Strukturen. Genauso sorgfältig wurde in der Barock-Literatur die dispositio, der gedankliche Aufbau genommen. Wenn in unserem Lied zwischen Strophe eins und zwei, die in unserem Gesangbuch freilich fehlt, der gedankliche Schritt ein „das ist“, bzw. „das bedeutet“ war: „Ich schenke dir […] was du mir hast gegeben“, nämlich „dein Bild“, das mein „ganzes Gemüt erfüllt“ 72 und nun in meinem Lied nach außen tritt. Und wenn zwischen Strophe zwei und drei ein „weil“ oder ein „denn“ steht: Ich darf so dichten, denn „da ich noch nicht geboren war“, ich, der durchaus selbstbewusste Dichter, „da bist du mir geboren“. Dann steht zwischen Strophe drei und vier ein „also“ oder ein „folglich“: „Du“ Christus „bist mir“ vor aller Zeit „geboren“ - folglich also hast du mich von der „Todesnacht“ der Sünde, von der Hölle in mir selbst befreit. Ich lag in tiefster Todesnacht, Du warest meine Sonne, Die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne. O Sonne, die das werte Licht Des Glaubens in mir zugericht’t, Wie schön sind deine Strahlen! Dies ist vielleicht die dichterisch gelungenste Stelle des ganzen Liedes, eine der berühmtesten Strophen Paul Gerhardts überhaupt. Die Sonne kommt etwa hundert Mal in seinen Liedern vor. Dazu passt es dann auch, dass hier der imaginäre Dialog mit christlichen Dichtern der Weltliteratur konsequent und selbstbewusst durchgehalten wird. In Dantes Hölle sitzen die größten Verbrecher unbeweglich im tiefsten Trichter des Abgrunds in ewiger Kälte und Nacht, z.B. festgefroren im „Eissee“, und unaufhörlich weiter gefrieren ihnen ihre herab rinnenden Tränen im Gesicht. Schon dieses von Mitleid erfüllte Bild der Sünder galt im Mittelalter als Frevel. Gibt uns Paul Gerhardt nun seinerseits nicht, wenn er sagt: „Ich lag in tiefster Todesnacht“, eine intensive Vorstellung von Gefangenschaft - „ich lag in schweren Banden“, heißt es anderswo -, eingesperrt in einem tiefen, dunklen Verlies, gibt er uns nicht eine kunstvoll genaue Miniatur dieser mittelalter- 73 lichen Hölle? Und wirkt es nicht ähnlich dramatisch wie der Sieg Christi über die Heerscharen des Teufels bei Milton, wenn hier diese innere Hölle, die „Nacht“ und Kälte der Sünde, aufgesprengt wird und ganz anschaulich das Licht der „Sonne“, die in Christus offenbarte Gnade Gottes, wärmend und belebend bis in die tiefste Tiefe das Seelenraumes hinein vordringt? Allerdings, wo Dante den langen Weg der „Läuterung“ vorsieht, und wo für Milton die Niederlage des Teufels und das angekündigte Opfer Christi die Freiheit des Menschen bedeuten, die Freiheit, Gottes Auftrag in der Welt zu erfüllen, da ist in Paul Gerhardts Lied an dieser Stelle die ganz einzelne Seele geradezu erleuchtet von einem neuerlichen Zirkel von „Entäußerung“ und „Verinnerung“: Dem Licht göttlicher Gnade, das dem „Ich“ geschenkt wird, das tief in seinen Seelenraum hinein vordringt, antwortet des Licht des „Glaubens“, das aus dem „Ich“ heraus strahlt, so dass beide in der Schlusszeile: „Wie schön sind deine Strahlen! “ nahezu verschmelzen. „ … UND MEINE SEEL EIN WEITES MEER … “ Lässt sich so ein Gedankengang fortsetzen? Wir haben gesehen, wie sorgfältig und klar die ersten vier Strophen argumentativ geordnet sind, und wie das zugleich mit großer Intensität des Gefühls zusammen geht. So verengt und erweitert sich zugleich auch fast unmerklich, doch sehr genau, die Bedeutung des „Ich“. Einmal mehr zeigt sich, wie vielfältig Paul Gerhardt „Ich“ sagen kann. In der zweiten, im Gesangbuch fehlenden Strophe sprach das individuelle „Ich“ des Dichters. Die dritte Strophe begründet dieses Selbstbewusstsein aus der paulinisch-lutherischen Gewissheit der Erlösung durch Christus: Dieses „Ich“ spricht für alle Menschen. Ganz anders die vierte Strophe: Ein sich ganz klein fühlendes, tief 74 in seinem sündigen Seelenraum, in seiner „inneren Hölle“ gefangenes „Ich“ - „Ich lag in tiefster Todesnacht“ - gewinnt aus der „Sonne“ Christi neue Größe. Denn nun geht es nicht mehr um Dichtung, es geht um Gnade, Erlösung und das Geschenk des Glaubens. Das kann nur jeder jeweils ganz Einzelne so erfahren. Dieses „glaubende Ich“ ist nicht einfach alle, sondern es steht für jede immer wieder einzelne, immer wieder neue Erfahrung göttlicher, in Christus offenbarter Gnade. Die folgende Strophe allerdings scheint wieder an den Anfang des Liedes zurück zu kehren, vielleicht auch zu der weiteren, uns heute doch recht fremden, barocken Bild-Poesie überzuleiten: Ich sehe dich mit Freuden an Und kann mich nicht satt sehen, Und weil ich nun nicht weiter kann, So tu ich, was geschehen. O daß mein Sinn ein Abgrund wär Und meine Seel ein weites Meer, Daß ich dich möchte fassen! (Hervorhebung von mir) Ist das nicht zuerst eine Wiederholung, dann ein Rätsel - was soll das heißen: „So tu ich was geschehen? “ -, und dann eine ungeahnt kühne Vision? Und wie hängt das alles zusammen? „O daß mein Sinn ein Abgrund wär / und meine Seel ein weites Meer […]! “ Da fallen mir gleich andere, viel spätere Verse ein, und das ist letztlich auch der Grund, warum ich mich heute mit diesem Lied beschäftige: „Mein Herz gleicht ganz dem Meere / Hat Sturm und Ebb und Flut“ dichtet mehr als eineinhalb Jahrhunderte später Heinrich Heine (Die Heimkehr, 1824). Joseph von Eichendorff spricht davon, dass in seinem „Herzensgrund“ ein „Meer“ seine „Wellen schlägt“ (Die Nachtblume, 1837). Schon viel früher hat- 75 te Johann Gottfried Herder, so oft ja ein Wegbereiter der europäischen Romantik, gedichtet: „[Es] liest der Geist in seines Meers / Zauberspiegel die Ewigkeit“ (Der Genius der Zukunft, 1769). Für George Gordon Lord Byron hat der „tiefe und dunkle blaue Ozean“, „fathomless / abgründig“, den „Morgen der Schöpfung / creations’s dawn“ in sich bewahrt, und dieser „Spiegel der Unendlichkeit Gottes / Thou glorious mirror, where the Almighty’s form / Glasses itself “, ist zugleich, das macht das ganze Gedicht (Childe Harold’s Pilgrimage, 1818) deutlich, ein Spiegel der Seele des Dichters selbst. So ließen sich noch viele Beispiele zusammen tragen. Ein letztes will ich nennen: Homme libre, toujours tu chériras la mer! La mer est ton miroir; tu contemples ton âme Dans le déroulement infini de sa lame, Et ton esprit n’est pas un gouffre moins amer. […] Vous êtes tous les deux ténébreux et discrets; Homme nul n’a sondé le fond de tes abîmes, Ô Mer, nul ne connaît tes richesses intimes, […]. Freier Mensch, du wirst immer das Meer lieben! Das Meer ist dein Spiegel; du betrachtest deine Seele im unendlichen Dahinrollen seiner Wellen, und dein Geist ist ein ebenso bitterer Schlund. Ihr seid beide dunkel und verschwiegen; Mensch, niemand hat die Tiefe deiner Abgründe ermessen, o Meer, niemand kennt deine inneren Reichtümer! Ist es nicht bemerkenswert, wie auch in diesem, von Byron, Heine und überhaupt der Romantik beeinflussten Gedicht des Sym- 76 bolisten Charles Baudelaire (L’homme et la mer / Der Mensch und das Meer, 1852) die Vorstellung der „Seele“ als ein „Abgrund“ und ein unendliches „weites Meer“ wiederkehren? Hat das noch mit Paul Gerhardt zu tun? Gewiss, aber …, und auf das „aber“ komme ich gleich zurück. Die Romantiker des 18 und 19. Jahrhunderts und der barocke Dichter stehen hier deutlich in einer gemeinsamen, noch viel älteren Bild-Tradition: der Tradition der Mystik. Für die Bibel, von der Geschichte der Schöpfung über die Psalmen bis hin zur Offenbarung - „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde […] und das Meer ist nicht mehr“ (Offenbarung 21, 1) - sind „Abgrund“ und „Meer“ Orte der Gottferne, verhängnisvolle Orte, die freilich Gottes Allmacht nicht entgehen können. Die Mystik seit der Antike hat, vereinfacht, aber nicht falsch gesagt, Negationen Gottes als Attribute Gottes verstanden. Die Seele sollte alle Einschränkungen, auch die „positiver“, fester Glaubensaussagen, hinter sich lassen, um in der „Unendlichkeit“ Gottes aufzugehen: ein „Meer“, das sich in ein „Meer“ ergießt und sich in ihm auflöst. Klar, dass die Kirchen solche Strömungen bekämpften. Aber im 17. Jahrhundert wurde die Mystik eine mächtige Bewegung, die auf vielerlei Weise fortlebte. Von Gott als einem „Ungrund“ (Un-, nicht Urgrund), einer nur negativ zu begreifenden Voraussetzung der endlichen Welt spricht beispielsweise Jakob Böhme. Die menschliche Seele sollte sich auch durch Negationen dessen, was ist, zum unendlichen, dynamischen Weltganzen öffnen, oder so ähnlich. Die Romantik knüpfte an solche Traditionen an, wobei nun freilich solche allumfassenden Forderungen und Visionen einerseits und andererseits Ironie und Verzweiflung - und das Spiel damit -, eng zusammen lagen. Da wäre noch viel mehr dazu zu sagen. Auf alle Fälle scheint Paul Gerhardt, um den es jetzt ja geht, solch radikale Konsequenzen zu ahnen, wenn er die mystischen Bilder nur im Irrealis, also in der Form der Unmöglichkeit, ausspricht: „Oh dass 77 mein Sinn ein Abgrund wär / und meine Seel ein weites Meer, / daß ich dich möchte fassen.“ „ … UND DA ICH NUN NICHT WEITER KANN … “ „Oh dass“ es so wäre, aber so ist es nicht, und das ist gut so. Versteht man die Strophe von hinten nach vorn, was bei Gedichten oft hilfreich ist, dann ergibt sich vielleicht ein möglicher Sinn für die rätselhaften Zeilen: Und da ich nun nicht weiter kann So tu ich, was geschehen. „So tu ich, was geschehen“? Das klingt eigentümlich leer, ungeschickt, irgendwie sinnlos, oder? Sollte Paul Gerhardts dichterisches Können einmal ausgesetzt haben? In unserem Gesangbuch wurde die Zeile einfach verbessert: „Und da ich nun nicht weiter kann / Bleib ich andächtig stehen“. Auch recht schön gesagt, gewiss, aber: Paul Gerhardt verbessern? Das würde sich kein noch so arroganter Professor der Germanistik erlauben. Sollte man nicht versuchen, diesen Text auch in seiner Fremdartigkeit zu verstehen? Könnte man hier vielleicht einen tieferen, ja vielleicht einen recht kühnen Sinn finden? Das soll dann heute die letzte Frage sein, die ich an dieses Lied stelle. Wer in der frühen Neuzeit Philosophie und Rhetorik studiert hatte, und das gilt ja nun unbedingt auch für Paul Gerhardt, konnte für Denk- und Rede-Situationen, in denen man „nun nicht weiter kann“, den Begriff Aporie, wörtlich „Weglosigkeit“ kennen. Sokrates galt und gilt als der Meister darin, Behauptungen seiner Gesprächspartner in argumentativ notwendigen und zugleich sachlich unhaltbaren Folgerungen enden zu lassen, so dass sie in 78 der Tat „nun nicht weiter konnten.“ Sollte Paul Gerhardt hier diese Figur auf seinen eigenen Diskurs angewendet haben? In meiner Paul-Gerhardt-Ausgabe sahen sich die Herausgeber veranlasst, die Zeile zu kommentieren: „So wiederhole ich das Getane.“ Das ist entweder eine ganz lahme Entschuldigung, oder es ist genau gesehen unmöglich. Das hat das ganze bisherige Lied gezeigt. Was Jesus, das große „Du“ getan hat, was in der Heilsgeschichte, seit der Schöpfung, „da ich noch nicht geboren war“, was durch Gott in Jesus „geschehen“ ist, das kann das kleine „Ich“ in diesem Lied selbst eben gerade nicht „tun“. Der Zirkel von Ich und Du, von Seelenraum und Heilsgeschichte lässt sich nicht unendlich fortsetzen. Paul Gerhardt vollzieht die Aporie seines Diskurses. Er verstummt, um sich ganz der göttlichen Gnade zu öffnen. Nur der unmöglich zu erfüllende Wunsch könnte weiter führen: „Oh dass mein Sinn ein Abgrund wär, und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen.“ 79 PAUL GERHARDT GEH AUS MEIN HERZ UND SUCHE FREUD (1) Geh aus, mein Herz und suche Freud In dieser lieben Sommerzeit An deines Gottes Gaben; Schau an der schönen Gärten Zier Und siehe, wie sie mir und dir Sich ausgeschmücket haben. (2) Die Bäume stehen voller Laub, Das Erdreich decket seinen Staub Mit einem grünen Kleide; Narzissen und die Tulipan, Die ziehen sich viel schöner an Als Salomonis Seide. (3) Die Lerche schwingt sich in die Luft Das Täublein fliegt aus seiner Kluft Und macht sich in die Wälder; Die hochbegabte Nachtigall Ergötzt und füllt mit ihrem Schall Berg, Hügel, Tal und Felder. (4) Die Glucke führt ihr Völklein aus, Der Storch baut und bewohnt sein Haus, Das Schwälblein speist die Jungen, 80 Der schnelle Hirsch, das leichte Reh Ist froh und kommt aus seiner Höh Ins tiefe Gras gesprungen. (5) Die Bächlein rauschen in dem Sand Und malen sich in ihrem Rand Mit schattenreichen Myrten; Die Wiesen liegen hart dabei Und klingen ganz von Lustgeschrei Der Schaf und ihrer Hirten. (6) Die unverdroßne Bienenschar Fleucht hin und her, sucht hie und dar Ihr edle Honigspeise. Des süßen Weinstocks starker Saft Bringt täglich neue Stärk und Kraft In seinem schwachen Reise. (7) Der Weizen wächset mit Gewalt. Darüber jauchzet Jung und Alt Und rühmt die große Güte Des, der so überflüssig labt Und mit so manchem Gut begabt Das menschliche Gemüte. (8) Ich selbsten kann und mag nicht ruhn; Des großen Gottes großes Tun Erweckt mir alle Sinnen; Ich singe mit, wenn alles singt, Und lasse, was dem Höchsten klingt, Aus meinem Herzen rinnen. 81 (9) Ach, denk ich, bist du hier so schön Und lässt du uns so lieblich gehn Auf dieser armen Erden, Was will doch wohl nach dieser Welt Dort in dem festen Himmelszelt Und güldnen Schlosse werden! (10) Welch hohe Lust, welch heller Schein Wird wohl in Christi Garten sein! Wie muß es da wohl klingen, Da so viel tausend Seraphim Mit eingestimmtern Mund und Stimm Ihr Hallelulja singen! (11) O wär ich da, o stünd ich schon, Ach, süßer Gott, vor deinem Thron Und trüge meine Palmen, So wollt ich nach der Engel Weis Erhöhen deines Namens Preis Mit tausend schönen Psalmen! (12) Doch gleichwohl will ich, weil ich noch Hier trage dieses Leibes Joch, Auch nicht gar stille schweigen; Mein Herze soll sich fort und fort An diesem und an allem Ort Zu deinem Lobe neigen. (13) Hilf mir und segne meinen Geist Mit Segen, der vom Himmel fleußt, Daß ich dir stetig blühe! 82 Gib daß der Sommer deiner Gnad In meiner Seelen früh und spat Viel Glaubensfrücht erziehe! (14) Mach in mir deinem Geiste Raum, Daß ich dir werd ein guter Baum, Und laß mich Wurzeln treiben; Verleihe daß zu deinem Ruhm Ich deines Gartens schöne Blum Und Pflanze möge bleiben! (15) Erwähle mich zum Paradeis Und laß mich bis zur letzten Reis An Leib und Seele grünen; So will ich dir und deiner Ehr Allein und sonsten keinem mehr Hier und dort ewig dienen. I ch selber kann und mag nicht ruhn […] Ich singe mit, wenn alles singt“: So beliebt Paul Gerhardts Sommergesang ist - so der ursprüngliche Titel des 1653 erschienenen Lieds -, selten wohl werden alle fünfzehn Strophen davon hintereinander gesungen. Aber diese achte Strophe ist sicher immer dabei. Man singt unwillkürlich gerade sie mit frischer Kraft. SOMMERGESANG , DER „AUS DEM HERZEN RINNT“? Denn hier, mit dieser achten Strophe, ändert sich, wie die Sprachwissenschaft sagt, der Sprechakt und damit auch der sprachliche Wirklichkeitsbezug. Bei den ersten sieben Strophen können wir 83 uns das Gesagte bestenfalls vorstellen. Wir hätten etwa beträchtliche Schwierigkeiten, während wir singen zugleich und wirklich draußen in der Natur herauszufinden, ob im Verlauf einer Liedstrophe Lerche und Nachtigall gleich hintereinander zu hören sind. Aber wenn es heißt: „Ich singe mit, wenn alles singt“, dann sind Sprechakt und Wirklichkeitsbezug dasselbe. Wir tun tatsächlich gerade das, was wir sagen. Indem wir singen, ist das, was wir aussagen, also dieser unser Gesang auch sogleich wahr. Und wenn wir die nächsten sieben Strophen („Ach, denk ich …“ usw.) so überprüfen wollten und fragen: Denkst Du wirklich, dass es im Himmel noch viel schöner als auf der Erde ist, und ist das, was du denkst, auch wirklich wahr? Wenn wir so fragen, dann sehen wir: Der Sprechakt ist wieder ein anderer. Wir können nur noch auf die Aufrichtigkeit des Sprechers vertrauen und sagen: Wir glauben Dir, und wir glauben mit Dir. Das ist keine Haarspalterei. Schon gar nicht geht es um irgendwie kunstlosen „Gesang des Herzens“. Paul Gerhardt hat, so nimmt man an, bei einem der angesehendsten Professoren seiner Zeit, Andreas Buchner, Rhetorik und Poetik studiert. Er beherrscht deren Mittel perfekt. All das, Sprachpflege und Sprachbewusstsein, was man heute Sprachwissenschaft und Linguistik nennt, waren bereits zentrale Forderungen des Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert. Luther und erst recht Melanchthon legten auf Grammatik und Rhetorik großen Wert. Im 17. Jahrhundert, zur Zeit Paul Gerhardts, waren „Sprachgesellschaften“, die sich um die Pflege der Sprachkultur kümmerten, hoch angesehen; da können wir uns heute ruhig eine gehörige Scheibe von abschneiden. Und dass die Barockliteratur wesentlich protestantisch geprägt ist, vor allem eben auch die Blüte des evangelischen Kirchenlieds im 17. Jahrhundert, hängt eng mit diesem traditionell evangelischen Bewusstsein für Sprachkultur zusammen. Geh aus mein Herz ist ein genau kalkuliertes sprachliches Kunstwerk. 84 Beispielsweise hat diese achte Strophe ja auch sowohl für den vorhergehenden wie für den nachfolgenden Teil, wie man heute sagt, „metasprachliche“ (über Sprache redende) Funktion. „Ich singe“ heißt hier auch: „Ich dichte“, oder etwa „ich habe dieses Lied gedichtet.“ Das ist durchaus selbstbewusst gesagt. Diese direkten, persönlichen Strophen sind ja überhaupt bezeichnend für Paul Gerhardt. Man denke nur an: „Ich singe Dir mit Herz und Mund“, „Du meine Seele singe“, „Wach auf mein Herz und singe“ usw. Aber dieses dichterische Selbstbewusstsein wird bei ihm immer nur, so wie hier, im Übergang und vor allem funktional, also auf etwas anderes bezogen hörbar: „Ich singe […] was dem Höchsten klingt“, nicht für mich, nicht zu meinem eigenen Ruhm. Gleichwohl, diese Strophe steht nicht nur genau in der Mitte des Liedes, sieben Strophen gehen voraus, sieben folgen nach. Einen Augenblick lang erinnert diese Mitte des Gedichts meiner Meinung nach auch an das Selbstbewusstsein der Renaissance, den Gedanken etwa, der Mensch sei die „copula mundi“, die Klammer, die geistige und natürliche Welt zusammenhält; Gott sei ein Künstler, der die Natur „intrinsecus“, von innen heraus als ein Kunstwerk ständig weiter erschafft; und der Mensch, insbesondere der Künstler und Dichter, könne und solle Gott nachschaffen. Aber, und das ist der tief lutherische Zusammenhang von Renaissance und Reformation: Dieses Selbstbewusstsein - wir erinnern uns: „Hier stehe ich“: Luthers berühmter Satz gegen Kaiser und Papst - dieses sichere Selbstbewusstsein hat der Mensch der Reformation nicht aus sich, sondern aus Gott und Christus. „Hier stehe ich […] Gott helfe mir“, wie Luther sagte. Der etwas ältere Zeitgenosse Paul Gerhardts, Andreas Gryphius, hat es in seinem Einsamkeit-Sonett auf eine Formel gebracht, die auch für Geh aus mein Herz und suche Freud gilt: „Dies […] Land ist schön und fruchtbar“ nur dem, der „innerlich erkannt, dass alles ohn ein Geist, den Gott nicht hält, muß wanken“. Hier erkennt man 85 mit der Gryphius eigenen Klarheit, ja Härte, den Renaissance- Gedanken der „copula mundi“, dass der Mensch die Welt zusammenhält; aber dieser Gedanke wird reformatorisch-christlich gewendet und neu begriffen: Nur der Mensch, den der Geist Gottes hält, kann die Welt bewältigen. Nicht so hart, aber doch vergleichbar klingt christliches Selbstbewusstsein bei Paul Gerhardt: „Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren / Und hast mich dir zu eigen gar, / Eh ich dich kannt erkoren.“ Das ist eine Strophe, die eigentlich immer dann mit zu hören ist, wenn Paul Gerhardt in seinen Liedern durchaus selbstbewusst „ich singe“ sagt. BAROCKE BILDLICHKEIT Insofern ist dieser Sommergesang ja auch viel stärker als vom Selbstbewusstsein des Dichters - das bedeutet wie gesagt hier nur einen Übergang - von der barocken Antithetik, dem Gegensatz von „Natur“ und „Erlösung“ und „Diesseits“ und „Jenseits“ geprägt: Ach, denk ich, bist du hier so schön Und läßt du uns so lieblich gehn Auf dieser armen Erden, Was will doch wohl nach dieser Welt Dort in dem festen Himmelszelt Und güldnen Schlosse werden! Zwischen Strophe 8 und 9 verläuft ein Riss, ein feiner aber scharfer Riss durch die ganze Vorstellungswelt, ein Riss, den Paul Gerhardt unbedingt bejaht. Aber er überbrückt ihn genauso bewusst und unbedingt in seinem Glauben. Auch jetzt formuliert Andreas Gry- 86 phius in seinem Sonett Einsamkeit diesen Riss und diese Umkehr schärfer und härter, denn es ist ja gerade eine „Wüste“, ein locus terribilis, ein schrecklicher Ort, der sich ihm in schönes und fruchtbares Land verwandelt, wenn sich sein „Geist“ von Gott gehalten weiß. Bei Paul Gerhardt ist nur ganz kurz davon die Rede, dass dies alles nur ein „armes Leben“ und schweres „Joch“ sei. Aber bezeichnend ist auch das. Hier überlagern sich, wenn wir es historisch betrachten, nicht nur Renaissance, Reformation und Barock - davon gleich mehr -, es stoßen gewissermaßen auch Traditionen des Mittelalters auf Vorboten der Aufklärung. Auch in diesem Sinn bedeutet die Mitte des Liedes einen Riss, über den eine Brücke führt, eine Brücke, die nur dann trägt, wenn der Mensch sich radikal umgekehrt und von Gott her neu orientiert hat. Der erste Teil des Liedes ist alles in allem anschaulich und gegenständlich verfasst, „empirisch“, wie man dann vor allem im 18. Jahrhundert sagte, der Erfahrung folgend, so wie man eben durch Gärten und Fluren spazieren geht. Aber im zweiten Teil wendet Paul Gerhardt eine rhetorische Figur der Bedeutungsumkehr an, die schon die Antike kannte, die aber wesentlich das Mittelalter christlich gewendet hatte - vor der übrigens Luther warnte -, und die sich gleichwohl im „barocken“ 17. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute: die Allegorie (wörtlich: eine „andere Aussage“) und ihr so genannter „vierfacher Schriftsinn“. Was heißt das? Die Allegorie lehrt, etwas „anders“, also gegen den Augenschein („contra speciem“) und ebenso gegen den Wortlaut zu verstehen und zu deuten. Alles auf der Welt und in der Natur, „omnis mundi creatura“, spricht zu uns „quasi liber“, als oder wie ein Buch; es spricht von unserem Leben und von unserem Tod, davon wie wir uns moralisch verhalten sollen und von unserem ewigen Schicksal („sensus moralis“ und „sensus anagogicus“). Genau in diesem Sinn - auf ein „aber“ komme ich gleich - transformiert Paul Gerhardt die Naturerscheinungen im zweiten Teil seines Liedes um in ihre 87 Gegensätze: in Zeichen, Signaturen und Bilder des Glaubens und der Erlösung. „Mach in mir deinem Geiste Raum“: Das steht als genauer Gegensatz spiegelbildlich gegen „Geh aus mein Herz“ in die Natur. „Ich“ empfangend steht gegen „Ich“ tätig, und folgerichtig wird dann „Du“ Gott als aktiv und gebend angesprochen; geh „hinaus“ steht gegen komm „in mich“ hinein, äußere Landschaft steht gegen inneren, seelischen „Raum“, Natur steht gegen „Geist“, Zeit des „Sommers“ gegen die Ewigkeit, aus der Gottes Botschaften und Taten kommen. Entsprechend deutet der zweite Teil des Liedes alles um: Nicht die Blumen, der „Geist“ soll „blühen“, nicht auf die Jahreszeit, sondern auf den „Sommer deiner Gnade“ kommt es an, ganz anders als nur äußerlich Weizen oder Wein sollen innerlich „Glaubensfrüchte“ wachsen. Nicht der Spaziergang jetzt, sondern die „letzte Reise“ zählt. Und grundsätzlich spiegelt sich die Aufforderung: „suche Freude“ in der „Zeit“, in einem Bild ewiger Erlösung. Gerade der „sensus anagogicus“, der Sinn, der „hinauf führt“, ist allegorisch klar herausgearbeitet: Erwähle mich zum Paradeis Und laß mich bis zur letzten Reis An Leib und Seele grünen! So will ich dir und deiner Ehr Allein und sonsten keinem mehr Hier und dort ewig dienen. Der Literaturtheoretiker Walter Benjamin sagte, die barocke Allegorie zeige immer die „facies hippocratica“, das „Todesgesicht“ der Natur. Dass der allegorische Sinn der Welt im Zeichen des Todes steht („nostrae mortis signaculum“) wird bei Paul Gerhardt in Strophe 9 und 10 zweifellos sichtbar: „Ach denk ich, bist du hier so schön“, und: „stünd ich schon vor deinem Tron“, dieses Denken und Wünschen ist zweifellos ein Denken an den Tod. Aber der 88 Tod ist hier kein Ende, ja er führt nicht nur in die Ewigkeit, sondern das Denken an ihn führt auch zurück ins Leben. Denn mit der Figur der Allegorie allein wird man dem Sommerlied Paul Gerhardts nicht gerecht. Es ist wie bei einem mehrfarbigen Druck, bei dem mehrere Muster einander überlagern. Noch deutlicher als der antithetische Aufbau der Allegorie prägt das Lied eine dreigliedrige „emblematische“ Struktur, die in großen Teilen der Literatur des 17. Jahrhunderts, der so genannten „Barockliteratur“, mindestens ebenso beliebt war. Man könnte leicht alles das, was von der Mitte der ersten Strophe an, also ab der Aufforderung: „Schau an der schönen Gärten Zier“, bis zur siebten Strophe gesagt und vorgestellt wird, man könnte das alles in ein Bild, z. B. einen Holzschnitt oder einen Kupferstich übersetzen. Und das wäre dann, nein, das ist nun in der Tat der „Bild-Teil“, die pictura eines barocken Emblems. Die Überschrift Sommergesang und die ersten drei Zeilen bilden dann ebenso klar ein Motto, ein Programm, eine Inschrift bzw. inscriptio: „Freude des Herzens an Gottes Schöpfung im Sommer.“ Und der dritte Teil des Liedes, ab „Ach denk ich…“, ergänzt Überschrift und Bild durch eine subscriptio, eine intellektuelle, hier eine geistlichmoralische Nutzanwendung, etwas zum Nachdenken und zum Beherzigen und zum Lernen: „So schön die Natur ist, Gottes ewiger Garten ist noch viel schöner, dorthin soll der gläubige Mensch immer streben.“ Aber - jetzt muss ich, so ist das mit dieser Literatur, gleich wieder „aber“ sagen -, aber verstehen wir so das Emblem und auch dieses Lied hinreichend richtig? Erlauben Sie einen kurzen Vergleich mit einem vier Jahre früher 1649 gedruckten, in Teilen sehr ähnlichen und auch ähnlich betitelten Gedicht: Gesang […] im Anfang der Sommerzeit von Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635). Spee war nicht nur ein bedeutender Dichter, auch in unserem Gesangbuch finden sich Lieder von ihm, sondern auch 89 ein mutiger Vertreter seiner Überzeugungen. Berühmt ist er noch heute wegen seiner Schrift gegen den Hexenwahn der Zeit, durch die er sich selbst in akute Lebensgefahr brachte. Sein Liebgesang der Gesponß Jesu [das ist die Seele] am Anfang der Sommerzeit beginnt recht ähnlich wie das Sommerlied von Paul Gerhardt: Der trübe winter ist fürbey Die kranich widerkehren; Nun reget sich der vögel schrey Die nester sich vermehren Laub mit gemach Nun schleichtt an tag; Die blümlein sich nun melden Wie schlänglein krumb Gehn lächelnd umb Die bächlein kühl in wälden. Sechs Strophen lang Freude an der Natur. Und wie bei Paul Gerhardt geht das so weiter genau bis zur Mitte des zweigeteilten, im Ganzen 12 Strophen langen Liedes. Aber sobald die Seele an Jesus denkt, heißt es: Nichts schmäcket mir auff gantzer welt Als Jesu lieb alleine: Noch spiel / noch schertz mir je gefehlt Biss lang nur Er erscheine […] Und dann heißt es ganz hart und ausdrücklich: Was nutzet mir dan schöne zeit? Was glantz und schein der sonnen? 90 Was bäum gar lieblich ausgebreit? Was klang der klaren bronnen? Und noch deutlicher geht es wenig später weiter: Ade du schöne frühlingszeit Ihr felder wäld und wisen Laub graß und blümlein neu gekleid Mit süßem tau berisen […]. Ohne Jesus ist das alles nichts, ja es ist überhaupt nur „Schmertz [und] Leid [und] Beschwerden“ - man denkt an das „arme Leben“ Paul Gerhardts -, und für die Seele gibt es nur einen Wunsch: Oh Jesus, führe mich zu Dir! Man merkt die Gemeinsamkeit im barocken Denken in Gegensätzen. Man merkt aber auch die Unterschiede, theologische und dichterische. Der Jesuit Friedrich von Spee betreibt rhetorische amplificatio: Vertiefung und Erweiterung des Gegensatzes von Natur und Erlösung. Er „reibt“ es einem deutlich und mit allem Nachdruck „rein“, dass ohne die Erlösung durch Jesus die Welt völlig verderbt und die Freude an der Natur ganz und gar wertlos ist. Der Mensch muss sich zur Nachfolge entschließen, die „Seele“ soll Jesus suchen. Der Lutheraner Paul Gerhardt ist sich der in Jesus offenbaren Gnade im Glauben völlig sicher: Die „Sonne der Gnade hat das Licht des Glaubens angezündet“, wie es an anderer Stelle heißt. Und der Gedanke an den Tod und die Ewigkeit lässt ihn erst recht und immer neu sich auch an der Natur freuen. Jetzt erkennen wir auch, was der dreistellige „emblematische“ Aufbau bei Paul Gerhardt leistet. Die drei Teile: inscriptio/ Motto („Freude an der Schöpfung“), pictura/ Bild („Vieles ist schön und gut an der sommerlichen Natur“) und subscriptio/ geistliche Anwendung („Gottes ewiger Himmel ist noch viel schö- 91 ner“) interpretieren sich wechselseitig; es entsteht ein produktiver, ein fruchtbarer Zirkel des immer tieferen Verstehens. In diesem Sinn ist das Lied ja eben auch durchaus nicht für den einmaligen Gebrauch bestimmt, sondern will immer wieder neu gesungen werden. Noch deutlicher: Der Anfang des „moralischen“ Teils ist mit dem Vorsatz: „ich will […] nicht […] stille schweigen“ selbstbewusst auf das Diesseits bezogen, und der Schluss des Ausblicks auf das „Paradeis“ nach dem Tod führt klar ganz zuletzt auch auf das „Diesseits“ zurück: Ich will dir „hier und dort“, „dort ewig“ und „hier [zeitlich]“ dienen - mitten in der Welt, mitten in der Wirklichkeit. DIE STIMME DER AUFKLÄRUNG Oft sind Embleme und emblematisch strukturierte literarische Werke so konstruiert, dass es nach dem Lesen der Nutzanwendung, wenn man zurückblickt auf das Bild, auf die pictura, dass es dann dort zusätzlich etwas zu entdecken gibt. Das Bild hat manchmal etwas von einem Rätsel, oder auch von einem Suchbild, das erst der Hinweis im letzten Teil des Emblems ganz verstehen lässt. Gibt es so etwas auch hier bei Paul Gerhardt? Damit gehe ich in meiner Lesart allerdings über die Bücher und Aufsätze hinaus, die ich zur Vorbereitung eingesehen habe. Was hat Paul Gerhardt (vielleicht) in Strophe zwei bis sieben versteckt, genauer, was hat er leer und ungesagt gelassen, aber impliziert, also als stille Folgerung mit gemeint? Zum Garten gehört ein Haus - in dem der Herr Pastor sein Arbeitszimmer hat, von dem aus er in den Garten schaut, „schau an der schönen Gärten Zier“, von wo er zum Spaziergang aufbricht, den schwarzen Hut auf dem Kopf, den Stock mit dem Silberknauf in der Hand, und wo er an der Haustür zuerst nach oben in das Wetter blickt: „Die Bäume stehen voller Laub“ usw. Genauso ge- 92 hört zum Weizen eine Scheune, die Schafe brauchen irgendwann einen Stall, der Wein eine Kelter und so fort. Im Suchbild versteckt ist menschliche Arbeit. Der Mensch soll konstruktiv und ökonomisch tätig sein, soll bauen, pflanzen, pflegen und ernten. Das geht über die konventionelle Rhetorik hinaus, die es in diesem Gedicht unbestritten auch gibt. Natürlich kann man Lerche und Nachtigall kaum gleichzeitig wahrnehmen; wenn der Bauer weiß, die Weizenernte wird gut, dann sind Tulpen und Narzissen längst verblüht, und so fort. All das gehört, wie die Rhetorik lehrte, zur Topik, zum festen Repertoire von Bildern und Gedanken, die etwa einen locus amoenus, eine schöne Naturszenerie ausmachen. Zum rhetorischen concessum, zum Zugeständnis an die Vorlieben des Publikums, gehört es z.B., wenn Paul Gerhardt „die Tulipan“, also Tulpen anführt, ausgesprochene Modeblumen des 17. Jahrhunderts, wo der Herr Jesus in der Bibel noch einfache „Blumen auf dem Felde“ gewählt hatte. Und dasselbe könnte man über die recht manirierte fünfte Strophe sagen, in der von „Bächlein“, „Myrten“ und dem „Lustgeschrei“ der Schäfer die Rede ist. Schäferdichtung und -kostümierung war auch so eine Mode des 17. Jahrhunderts. „Die Pegnitzschäfer“ etwa nannte sich ein Verein ehrbarer und gebildeter Nürnberger Bürger, die auch Dichter waren. Paul Gerhardt war hier, in den rhetorischen Konventionen, so sehr Kind seiner Zeit wie in dem Grundgedanken, der schon auf das 18. Jahrhundert und die Aufklärung vorausdeutet, dass diese Natur so aufgeräumt wirkt, so zweckmäßig und nutzbringend geordnet ist. Auf Blumen, Bäume und Vögel folgt das jagdbare (und durchaus essbare) Wild, dann das Nutztier Schaf, und mit Bienenhaltung, Weinbau und Getreide schließt sich ein perfekter ökonomischer Zusammenhang. Der Fuchs, der trägt das Hühnchen fort, Die Ratte hat sich durchgebohrt 93 In unsre Vorratskammer. Die Raupen fressen den Salat, Die Wespe sticht uns früh und spat, Oh welch ein großer Jammer! Diese Strophe stammt natürlich nicht von Paul Gerhardt. Aber „Parodieren geht über Studieren“, das war tatsächlich einmal der Titel eines Lehrbuchs für Germanisten, nicht zuletzt für angehende Deutschlehrer. (Als ich noch zur Schule ging und auch Parodien auf Choräle dichtete, wurde ich allerdings dafür nicht gerade gelobt). Auf alle Fälle sehen wir: Es gibt keine Disteln oder Quecken oder anderes Unkraut, keine schädlichen Insekten, keine Füchse oder andere Raubtiere und so fort. Das ist eine Natur, die sich der Mensch völlig zu seinen Zwecken konstruiert hat, deutlich den Geist der Aufklärung vorweg nehmend. In der Tat: Renaissance, Reformation und Barock haben an diesem Lied geformt, Mittelalter (in der Figur der Allegorie) und Aufklärung (die ökonomische Zweckmäßigkeit der Natur) stoßen aneinander und werden freudig und lebendig verbunden. Prägend bleibt gleichwohl, machen wir uns da nichts vor, der Riss, der durch das Lied geht, und den Paul Gerhardt im Glauben überbrückt. Mach in mir deinem Geiste Raum Dass ich dir werd ein guter Baum Und lass mich wohl bekleiben - so steht es in der Originalfassung; das heißt: „haften“ („be-kleben“), „wurzeln“, was wichtig ist: Der Glaube „haftet“, „klebt“ an der Gnade - 94 Verleihe dass zu deinem Ruhm Ich deines Gartens schöne Blum Und Pflanze möge bleiben. Man sieht: Genannt wird eine Pflanze, gemeint ist etwas völlig anderes, die Seele ist eine Blume, aber auch nicht, ein Baum der im Himmelsgarten wurzelt, stünde vielleicht auf dem Kopf usw. Die Allegorie sagt mit den Worten etwas anderes und mit dem Sinn etwas anderes, „aliud verbis aliud sensu ostendit“, lehrte der antike Rhetorik-Meister Quintilian: Das hat Paul Gerhardt noch viel besser gewusst als wir heute. Der Riss zwischen Erfahrung und Bedeutung geht mitten durch das Lied hindurch. „DEN LIEBEN GOTT LASS’ ICH NUR WALTEN“? In der Geschichte der Naturlyrik kehrt dieser Riss immer wieder, und er wird auch immer wieder, wenn auch oft mittelbar oder nur als Frage, religiös überwölbt. Dazu abschließend drei, freilich sehr punktuelle und assoziative Beispiele, drei Beispiele, die mir eben eingefallen sind, als ich mich mit diesem Sommergesang, den ich so gut zu kennen glaubte, neu und genauer beschäftigte: Eine Unterart der „Narzissen“, die in der zweiten Strophe von Geh aus mein Herz und suche Freud angesprochen werden, die „Osterglocke“, trägt im Englischen den schönen Namen „daffodil“. Und das Gedicht Daffodils von William Wordsworth (1770- 1850), entstanden 1802, ist in England vielleicht noch bekannter als Geh aus mein Herz und suche Freud bei uns, das ja nur in evangelischen Gesangbüchern steht. Denn buchstäblich jedes Kind in England kennt das Gedicht Daffodils. Die Sitte, kleinere, öffentliche Grasflächen, oder Straßen- und Waldränder mit leuchtend gelben Osterglocken zu bepflanzen, soll auf die Wirkung die- 95 ses Gedichts zurückgehen. Am 15. April 2002, zweihundert Jahre nach dem Spaziergang, um den dieses Gedicht kreist, traten zu einer bestimmten Zeit in ganz England Schulkinder auf den Hof und sagten im Chor (und auswendig! ) dieses Gedicht auf. Ich habe es selbst miterlebt, allerdings nur am Fernseher. So klassischvolkstümlich ist das Gedicht Daffodils in den zweihundert Jahren seit seiner Entstehung geworden. Es beginnt: I wandered lonely as a cloud That floats on high o’er vales and hills When all at once I saw a crowd A host of golden daffodils; Beside the lake, beneath the trees, Fluttering and dancing in the breeze. „Ich wanderte einsam wie eine Wolke“ - das „einsam“ stimmt übrigens nicht; Dorothey Wordsworth hat in ihrem Tagebuch angemerkt, dass sie zusammen diese Blumen gesehen haben. Aber „einsam zu sein“, gehört eben zum Habitus, man kann auch sagen, zur Rhetorik eines Romantikers -, „ich wanderte einsam wie eine Wolke, die hoch über Täler und Hügel hinschwebt, als ich ganz plötzlich eine Schar, ein Heer von goldenen Osterglocken sah. Neben dem See, unter den Bäumen regten sie sich und tanzten im sanften Wind.“ So geht es weiter: Ihre Menge, ihre Schönheit, die das Herz erfreut, wie sie sich im Wasser spiegeln und mit den Wellen um die Wette tanzen, alles wird sprachlich wach gerufen. Doch dann merkt der Dichter an, dass er die Blumen zwar angestarrt hat, aber nicht sogleich würdigen konnte. Da ist grundsätzlich der Riss wieder, von dem ich sprach. Erst wenn der Dichter, wie er sagt, von äußerer Erfahrung „leer“ ist („in vacant or in pensive mood“), „gedankenverloren und vor meinem inneren Auge“, leuchtet das Bild der goldgelben Blume auf: „They flash upon the 96 inward eye […] And then my heart with pleasure fills, / And dances with the daffodils“ („erst dann füllt sich mein Herz mit Freude und tanzt mit den Blumen mit“). Wordsworth sah ebenfalls das Geheimnis der Natur und die Fragwürdigkeit des Menschen; auch er spürte das Bedürfnis nach einer dritten Stimme über alledem: „God […] be my help and stay secure“ / „Gott, sei du mein Helfer und mein sicherer Halt“, so endet beispielsweise und fast lutherisch das berühmte Gedicht Resolution and Independance / Entschlossenheit und Unabhängigkeit. Mein zweites Beispiel ist so bekannt und volkstümlich wie Geh aus mein Herz und suche Freud. Und wie dieses wird es meist nicht vollständig begriffen. Es stammt von Joseph von Eichendorff (1788-1857), und wir kennen es alle: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt; Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld. […] Die Bächlein von den Bergen springen, Die Lerchen schwirren hoch vor Lust; Was sollt’ ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl’ und frischer Brust? Den lieben Gott lass’ ich nur walten; Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd’ und Himmel will erhalten, Hat auch mein’ Sach’ aufs best’ bestellt. Hier gehen Mensch, Natur und „lieber Gott“ unbekümmert, fröhlich und bruchlos zusammen, nicht wahr? Man könnte fast eine 97 Collage mit dem Anfang von Geh aus mein Herz versuchen: „Geh aus mein Herz […] in die weite Welt“, „ich singe mit, wenn alles singt […] aus voller Kehl’ und frischer Brust“, und so fort. Aber das Lied steht auf den ersten Seiten von Joseph von Eichendorffs Erzählung Aus dem Leben eines Taugenichts (entstanden ab1823); und es ist eben dieser „Taugenichts“, der hier zu uns spricht: ein sympathischer Herumtreiber, der alles Gutbürgerliche verachtet und lieber faulenzt, singt und seine Geige spielt - heute würde man ihn einen „Aussteiger“ nennen, vielleicht sogar einen „Punk“ -, aber er ist eben auch einer, der sich aus eigener Kraft oder gar Verantwortung nicht über Wasser halten könnte. Anders gesagt, dieser fröhliche „Taugenichts“ ist eine literarische Spielfigur, die nicht wirklich in der Welt zu Hause ist. Auch die Natur, so wie er sie sieht, „Bächlein, Lerchen, Wald und Feld“ durcheinander, hat etwas fröhlich Chaotisches. Und der „liebe Gott“, der diese Natur „erhalten will“ und dem „Taugenichts“ seine Existenz als „Hans im Glück“ beschert, ist ebenso nicht so ganz ernst zu nehmen. All das ist eher spielerische Wunsch-Projektion, Phantasie um der Phantasie willen - und warum nicht? - als Glaubenswahrheit. Die Herumtreiber bei Eichendorff, die natürlich Spielfiguren der Dichter- und Künstlerexistenz sind, können auch ganz anders enden: „müde und alt“, einsam, in einer „kalten“ Welt. „Und seh’ ich so kecke Gesellen, / die Tränen im Auge mir schwellen -/ Ach Gott führ uns liebreich zu dir! “: Der Schluss von Die zwei Gesellen (1818) klingt ganz anders als das Lied des Taugenichts. Auch dessen Welt ist ja von vielen Brüchen und Rissen durchzogen, nur dass er sie nicht wahrnehmen will: zwischen bürgerlicher Gesellschaft und (künstlerischem) Außenseiter, zwischen Zivilisation und Natur, zwischen dem Lauf der Welt und Gottes Wegen, zwischen Zeit und Ewigkeit. Und letztlich wie bei Paul Gerhardt oder Friedrich von Spee lassen sich diese Risse nur im Glauben überbrücken, das 98 ist bei Eichendorff kein beherrschendes, aber doch ein wichtiges Thema, so etwa in seinem Morgengebet: […] Die Welt mit ihrem Gram und Glücke Will ich, ein Pilger frohbereit, Betreten nur wie eine Brücke Zu dir, Herr, übern Strom der Zeit. Und buhlt mein Lied, auf Weltgunst lauernd, Um schnöden Sold der Eitelkeit: Zerschlag mein Saitenspiel, und schauernd Schweig’ ich vor dir in Ewigkeit. Mein letztes Beispiel ist vielleicht ein noch assoziativeres: 1955 erschien eine kleine Sammlung von Naturgedichten von Günter Eich (1907-1972), die heute für die deutsche Literatur auch bereits klassische Bedeutung hat: Botschaften des Regens. Das erste Gedicht darin beginnt mit dem Satz: „Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume! “, der inzwischen zum geflügelten Wort geworden ist. In diesen Gedichten steht der „Riss“ zwischen dem letztlich Unbekannten der Natur und der Hinfälligkeit des Menschen - „what man has done to man“ hatte es auch bei Wordsworth geheißen; und Paul Gerhardt im blutigen 17. Jahrhundert wusste es ohnehin, „was der Mensch dem Menschen angetan hat“ - dieser zweifache Widerspruch steht bei Eich im Mittelpunkt seiner Dichtung. Die Zeichen der Natur sind sinnlich nah und schön, wie die Himbeeren in den Himbeerranken, so das letzte Gedicht der Sammlung, aber: „Dein Ohr versteht sie nicht, / mein Mund spricht sie nicht aus, / Worte halten ihren Verfall nicht auf “. An- 99 dererseits und gleichwohl doch sind diese Botschaften des Regens „Nachrichten, die für mich bestimmt sind […] Botschaften der Verzweiflung […] Botschaften der Armut […] Botschaften des Vorwurfs“. Und es ist dann für uns vielleicht nicht überraschend, dass der Dichter hier eine dritte Stimme hört in diesen „Botschaften des Regens“, nämlich ganz wörtlich „den […] der sie mir zuschickte“. Ist das 300 Jahre später so grundsätzlich verschiedenen von Paul Gerhardt? Wenn man den Band Botschaften des Regens liest, stößt man immer wieder auf Anspielungen auf die Bibel, zu oft, als dass dies beliebig sein kann: „Mein Auge horcht den bestürzenden Worten“, den Worten der Natur, die weder Auge noch Ohr wahrhaft entziffern können, „o lautloser Spruch aus dem feurigen Strauch“ heißt es einmal, eine Anspielung auf die Berufung Moses (2. Mose 3). Auch an anderer Stelle meldet sich in und gegenüber der Natur die Stimme einer, wenn auch verborgenen und geheimnisvollen, so doch hörbaren höheren Macht. Eigentümlich genau da, wo die Brüchigkeit der menschlichen Konstruktionen sichtbar wird, aus dem Kulturschutt heraus, aus Scherben auf der Schuttablage, so heißt eines der Gedichte, da, so der Dichter, „wird mir lesbar, - o wie es mich trifft: Liebe Hoffnung und Glauben“. Und das Gedicht endet mit dem Satz: „Seele […] wer fügt dich zusammen in Gnade? “ Das ist immerhin bemerkenswert. Überhaupt interessant ist hier die Anspielung auf den 1. Korintherbrief, Kap. 13. Dort steht geradezu ein Schlüssel unter dem man Naturdichtung als Spiegel des Glaubens verstehen könnte: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin. 100 Bei aller Freude an der Natur, bei aller Sicherheit des Glaubens, bei allem Selbstbewusstsein als Dichter, und bei aller Aufrichtigkeit seiner Gefühle, auch für Paul Gerhardt hat der Gesamtzusammenhang von Natur, Mensch und dem Erlöser-Gott etwas produktiv Rätselhaftes: „Oh dass mein Sinn ein Abgrund wär […] daß ich Dich möchte fassen.“ Und die in sich widersprüchlichen Formen der Allegorie und des Emblems sind Weisen, fröhlich, zuversichtlich, aber eben widersprüchlich, mit diesem Rätsel ins Reine zu kommen: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Schwingt da nicht auch immer eine Frage mit, wenn Paul Gerhardt singt: Ach, denk ich, bist du hier so schön Und läßt du uns so lieblich gehn Auf dieser armen Erden, Was will doch wohl nach dieser Welt Dort in dem festen Himmelszelt Und güldnen Schlosse werden [? ]. ANHANG Andreas Gryphius Einsamkeit In dieser Einsamkeit / der mehr denn öden Wüsten / Gestreckt auf wildes Kraut / an die bemooste See: Beschau ich jenes Tal und dieser Felsen Höh’ Auf welchen Eulen nur und stille Vögel nisten. 101 Hier / fern von dem Palast; weit von des Pöbels Lüsten / Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh’ Wie auf nicht festem Grund’ all unser Hoffen steh’ Wie die vor Abend schmähn / die vor dem Tag uns grüßten. Die Höhl’ / der raue Wald / der Totenkopf / der Stein / Den auch die Zeit auffrisst / die abgezehrten Bein / Entwerfen in dem Mut unzählige Gedanken. Der Mauern alter Graus / dies ungebaute Land Ist schön und fruchtbar mir / der eigentlich erkannt / Daß alles / ohn ein Geist / den Gott selbst hält / muß wanken. (1636, Hervorhebung von mir) William Wordsworth Daffodils I wandered lonely as a cloud That floats on high o’er vales and hills, When all at once I saw a crowd, A host, of golden daffodils; Beside the lake, beneath the trees, Fluttering and dancing in the breeze. Continuous as the stars that shine And twinkle on the milky way, They stretched in never-ending line Along the margin of a bay: Ten thousand saw I at a glance, Tossing their heads in sprightly dance. 102 The waves beside them danced; but they Out-did the sparkling waves in glee: A poet could not be but gay, In such a jocund company: I gazed - and gazed but little thought What wealth the show to me had brought: For oft, when on my couch I lie In vacant or in pensive mood, They flash upon that inward eye Which is the bliss of solitude; And then my heart with pleasure fills, And dances with the daffodils. Ich wanderte, einsam wie eine Wolke, die hoch über Täler und Hügel dahin schwebt, als ich plötzlich eine Menge, ein Heer von Osterglocken sah. Neben dem See, unter den Bäumen, wogten sie und tanzten im Wind. Endlos und immer weiter fort, so wie die Sterne in der Milchstraße aufleuchten, zogen sich ihre Reihen am Ufer der Bucht hin. Zehntausend sah ich mit einem Blick, wie sie ihre Köpfe im fröhlichen Tanz hoben. Die Wellen tanzten neben ihnen, aber sie übertrafen noch die glitzernden Wellen mit ihrer Freude. Ein Dichter konnte nicht anders, als fröhlich sein in so heiterer Gesellschaft. Ich schaute und schaute, aber ich merkte zu wenig, welchen Reichtum mir dieser Anblick gebracht hatte. Denn oft, wenn ich geistlos oder nachdenklich auf meiner Couch liege, dann blitzen sie auf vor meinem inneren Auge. Und das ist dann die Seligkeit des Einsamen. Dann erfüllt Vergnügen mein Herz, und es tanzt mit den Blumen am See. 103 Günter Eich Botschaften des Regens Nachrichten, die für mich bestimmt sind, weitergetrommelt von Regen zu Regen, von Schieferzu Ziegeldach, eingeschleppt wie eine Krankheit, Schmuggelgut, dem überbracht, der es nicht haben will - Jenseits der Wand schallt das Fensterblech, rasselnde Buchstaben, die sich zusammenfügen, und der Regen redet in der Sprache, von welcher ich glaubte, niemand kenne sie außer mir - Bestürzt vernehme ich Die Botschaften der Verzweiflung, die Botschaften der Armut und die Botschaften des Vorwurfs. Es kränkt mich, daß sie an mich gerichtet sind, denn ich fühle mich ohne Schuld. Ich spreche es laut aus, daß ich den Regen nicht fürchte und seine Anklagen und den nicht, der sie mir zuschickte, daß ich zu guter Stunde hinausgehen und ihm antworten will. (1955) 104 CHRISTIAN KNORR VON ROSENROTH MORGENGLANZ DER EWIGKEIT Morgen-Andacht Morgen-Glantz der Ewigkeit Licht vom unerschöpften Lichte / Schick uns diese Morgen-Zeit Deine Strahlen zu Gesichte: Und vertreib durch deine Macht Unsre Nacht. Die bewölkte Finsternis / Müsse deinem Glantz entfliegen / Die durch Adams Apfel-Biß Uns die kleine Welt bestiegen: Daß wir / Herr / durch deinen Schein Selig seyn. Deiner Güte Morgen-Tau Fall’ auf unser matt Gewissen; Laß die dürre Lebens-Aw / Lauter süssen Trost geniessen; Und erquick uns deine Schaar Immerdar. Morgenglanz der Ewigkeit Licht vom unerschaffnen Lichte schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen zu Gesichte und vertreib durch deine Macht unsre Nacht. Deiner Güte Morgentau fall auf unser matt Gewissen; laß die dürre Lebens-Au lauter süßen Trost genießen und erquick uns deine Schar immerdar. 105 Gib dass deiner Liebe Glut / Unsre kalten Wercke tödte / Und erweck’ uns Hertz und Muth Bey entstandner Morgen-Röthe Daß wir eh wir gar vergehn / Recht aufstehn. Laß uns ja deß Sünden-Kleid Durch deß Bundes Blut vermeiden / Daß uns die Gerechtigkeit Mög als wie ein Rock bekleiden: Und wir so vor aller Pein Sicher seyn. Ach! Du Aufgang aus der Höh / Gib / dass auch am Jüngsten Tage Unser Leichnam aufersteh’ Und entfernt von aller Plage Sich auf jener Freuden-Bahn Freuen kann. Leucht uns selbst in jener Welt Du verklärte Gnaden-Sonne / Führ uns durch das Thränen-Feld In das Land der süssen Wonne / Da die Lust die uns erhöhnt / Nie vergeht. (1684) Gib, dass deiner Liebe Glut unsre kalten Werke töte. und erweck uns Herz und Mut bei entstandner Morgenröte Daß wir, eh wir gar vergehn, recht aufstehn. Ach du Aufgang aus der Höh, gib, dass auch am Jüngsten Tage unser Leib verklärt ersteh und, entfernt von aller Plage, sich auf jener Freudenbahn freuen kann. Leucht uns selbst in jener Welt, du verklärte Gnadensonne; führ uns durch das Tränenfeld in des Land der süßen Wonne, da die Lust, die uns erhöht, nie vergeht. (Fassung im Gesangbuch) 106 M órgenglanz der Ewigkeit / Lícht vom unerschaffnen Lichte […] Ách du Aufgang aus der Höh, / Gíb, dass auch am Jüngsten Tage […]“: Es ist bezeichnend, dass dieses Lied mit jeweils kräftigen Betonungen auf den ersten Silben der Verse einsetzt (beschwerte Trochäen, sagen die Germanisten), geht es doch durchgängig in ihm um Gott als eine lebendige Kraft, die wir sofort und ganz direkt fühlen und empfinden sollen; wir sollen Gott in seinem Licht seelisch wie körperlich erleben; die Kraft Gottes sollen wir ganz direkt ein- und ausatmen; und das Licht Gottes - zwischen dem „unerschöpften“ und dem „erschaffenen“ Licht gab es im Original keine Grenze - soll sozusagen hinein strahlen in unsere Herzen, wenn wir von ihm singen. Der Dichter unseres Liedes, Christian Knorr von Rosenroth, er lebte von 1636-1689, ein sehr gebildeter und vielseitig tätiger Mann, er soll unter anderem zwölf Sprachen beherrscht haben, gilt eher als ein Dichter der „zweiten Reihe“, ein poeta minor. Aber hier ist ihm dann doch etwas Bleibendes gelungen, etwas Klassisches. Was macht dieses fast 340 Jahre alte Lied bis heute immer noch so frisch, lebendig und eindrucksvoll? Ich möchte im Folgenden von fünf Stichworten ausgehen, die wie eine Art „Geheimcode“ in dem Lied enthalten sind - wir werden noch sehen, dass „Geheimlehren“ diesen Dichter in der Tat interessierten -, Stichworte, die auf für dieses Lied erhellende Zusammenhänge verweisen. Mein erstes „Code“-Wort lautet: „DEINE SCHAR“ Das Wort „Schar“ hatte im 17. Jahrhundert noch mehr als heute einen kämpferischen Unterton. Es ist, so das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm, ein „altes Heerwort“: eine „Schar Reiter“, „Scharen von Landsknechten“ und so fort. „Deine“, also Gottes 107 „Schar“ in unserem Lied wäre also eine Gemeinde, die angegriffen wird und sich wehren muss. In Martin Opitz Morgenlied, veröffentlicht 1638, das in der Tat, wie im Gesangbuch angemerkt, unser Lied beeinflusst hat - um so wichtiger sind allerdings jeweils die Unterschiede -, hatte die vierte Strophe so begonnen: Verknüpfe mit des Friedens Bande Der armen Kirchen schwache Schar Nimm weg von unserm Vaterlande Verfolgung, Trübsal und Gefahr […]. Anfeindungen gab es damals für „Gottes Schar“ wahrhaftig viele. Aber dass Opitz hier ausdrücklich von der Mehrzahl „der amen Kirchen“ redet, ist vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges, des letzten und furchtbarsten Religionskrieges auf deutschem Boden, doch bemerkenswert. Opitz sieht ausdrücklich alle drei damals untereinander verfeindeten Bekenntnisse: Katholiken, Lutheraner und Reformierte, als „deine“, also Gottes „Kirchen“. Das ist schon an sich nicht selbstverständlich. Opitz selbst allerdings lag solche Toleranz wohl besonders nahe. Er hatte, von Haus aus ein schlesischer Lutheraner, lange als Sekretär für den Grafen Dohna gearbeitet, der mit der durchaus auch gewaltsamen ‚Rekatholisierung‘ Schlesiens beauftragt war. Das hat man Opitz bei all seinen großen Verdiensten für die Deutsche Dichtung immer wieder vorgeworfen. Später war er sowohl für polnische Fürsten als auch für die Schweden tätig. Vor seinem Tode ließ er seine diplomatische Korrespondenz verbrennen. Wie sehr er also selbst auf Toleranz angewiesen war, so sehr wusste er zugleich, dass es im Dreißigjährigen Krieg in allererster Linie um Macht ging, erst in zweiter Linie um Konfession. Die frommen lutherischen Schweden etwa waren durchaus in der Lage, sich mit den noch frömmeren katholischen Bayern zu verbünden, und dies 108 auch noch gegen den allerfrömmsten „heiligen römischen Kaiser“, und so fort. Es ist durchaus aufrichtig gemeint, wenn Opitz für die verfeindeten, aber darin eben „armen Kirchen […] Frieden“ erbittet, der sie „verknüpfen“ soll. Ja, das ist mehr, als nur Toleranz: Es geht ausdrücklich um Verständigung zwischen den Konfessionen. Fünfzig Jahre später, 1684, als unser Lied unter der Überschrift Morgen-Andacht in einer Gedichtsammlung mit dem Titel Neuer Helikon […] Das ist: Geistliche Sittenlieder / Von Erkenntnis der wahren Glückseligkeit […, der barocke Titel ist noch viel länger] offiziell veröffentlicht wurde - Knorr von Rosenroth war als persönlich bescheidener, auf seinen eigenen Ruhm wenig erpichter Mann bekannt, der viel anonym, also ohne seinen eigenen Namen zu drucken erlaubte; es kann also auch das frühere Datum im Gesangbuch richtig sein -, 1684 also gab es keine Religionskriege mehr, aber es gab weiterhin Kriege: im Westen etwa immer wieder mit Frankreich. Und 1683 hatte die Belagerung Wiens durch die Türken ganz Europa erschüttert. Von dort wäre es auch nach Schlesien, der Heimat unseres Dichters, nicht weit gewesen. Es war immer noch eine kriegerische Zeit. Und die konfessionellen Auseinandersetzungen waren auch nicht vorbei. Sie verliefen in Deutschland nicht mehr so dramatisch wie um diese Zeit etwa in Frankreich oder England. In Frankreich wurde gerade das Toleranzedikt von Nantes (1593), das den Protestanten fast ein Jahrhundert lang freie Religionsausübung erlaubte, vom König erst immer wieder gebrochen, später dann 1685 ganz aufgehoben. Viele reformierte Hugenotten, gebildete und tüchtige Leute, gingen nach Holland oder nach England oder ins Kurfürstentum Brandenburg, wo sie später wesentlich zum Aufstieg Preußens zu einer europäischen Großmacht beitrugen. In England wurden um diese Zeit Katholiken und Angehörige von Freikirchen, immerhin etwa ein Drittel der Bevölkerung, von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Viele glaubens- und sittenstrenge „Puritaner“ 109 wanderten aus nach Nordamerika, und ihr Einfluss wirkt dort bis heute nach. So dramatisch und welthistorisch bedeutsam ging es in Deutschland nicht mehr zu. Aber in Brandenburg etwa stritten sich Lutheraner und Reformierte und beschimpften sich wechselseitig als Ketzer in einem Maße - „wer nicht lutherisch ist, der ist verflucht“, soll ein prominenter Berliner Pastor von der Kanzel herab gerufen haben -, dass der Kurfürst die geistlichen Amtsträger per Unterschrift zur Toleranz glaubte zwingen zu müssen. Der an sich völlig friedfertige, berühmte Liederdichter Paul Gerhardt verzichtete angesichts dieser Forderungen 1668 auf sein Amt, ging ins Exil nach Sachsen, lebte dort eher kümmerlich und, was wohl am traurigsten war, er verstummte fortan als Dichter. Und wenn es in Brandenburg und Sachsen so zuging, dann dürfte man in Württemberg, dem „lutherischen Spanien“, kaum wesentlich friedfertiger gewesen sein. Wer ist hier „Gottes Schar“? Der Dichter unseres Liedes, Christian Knorr von Rosenroth, ein schlesischer Pfarrerssohn, war nicht nur seit 1668 Staatsrat und Kanzler, also eine Art Finanzminister, beim katholischen Landgrafen von Sulzbach, ein wenig der Situation von Opitz vergleichbar; er und sein Landesfürst hatten nachweislich auch Kontakte zu freireligiös-philosophischen Bewegungen, z.B. zur Geheimgesellschaft der Rosenkreutzer. Knorr beschäftigte sich weiterhin intensiv mit mystischen Traditionen - ich komme noch darauf zurück -, die die Amtskirchen meist nicht gern sahen. Im Zeichen der Aufklärung stehende, überkonfessionelle Forderungen wurden damals laut: am berühmtesten die des Philosophen Leibnitz, der Knorr von Rosenroth gekannt und geschätzt haben soll. Die Gemeinschaften der Pietisten, die eine Erneuerung und Fortsetzung der Reformation und neue, direkte, von „unten“, von den Brüdern und Schwestern ausgehende Wege der Frömmigkeit forderten, bildeten sich um diese Zeit an vielen Orten, teils von den Kirchen als religiöse Subkultur integriert, teils 110 aber auch ausgegrenzt. Unser Lied hat zumindest die Tendenz der Erneuerung und des Aufbruchs und der direkten Suche nach Gott von der einzelnen Seele aus mit ihnen gemeinsam. Wir dürfen uns also durchaus fragen: Wo und wer ist in dieser Gemengelage „Gottes Schar“? So, wie das ganze Lied angelegt ist, dürfen wir uns die Gemeinde, die hier gemeint ist, entschieden offen, also wahrhaft oekumenisch und progressiv vorstellen. Der Gegner, gegen den sich diese „Schar“ behaupten muss, ist die Orthodoxie, die vermeintliche und womöglich ausschließliche „Rechtgläubigkeit“, gleich welcher Konfession. Für diese „Gottes Schar“ hat kein Papst, kein Bischof und kein Konsistorium das Recht, irgendjemanden auszuschließen. Denn so wie Gottes Licht für alle leuchtet, so gehören zu „Gottes Schar“ alle, die sich in aufrichtigem Glauben zusammenfinden - dazu zählen für diesen Dichter, wie wir noch sehen werden, auch Nichtchristen: Alle, die das Verlangen nach dem Göttlichen Lichte - so der Titel eines anderen seiner Gedichte (1684) - vereint, alle, die Gottes Liebe in sich erwecken wollen, egal, welches Gesangbuch oder welches „heilige Buch“ sie sonst haben, sie alle möge Gott „immerdar […] erquicken“, immer wieder neu beleben und stärken. Mein nächstes Stichwort hat vielleicht auch mit der Orthodoxie zu tun. Denn es steht in der ursprünglich zweiten Strophe des Gedichts, die die Herausgeber unseres Gesangbuchs gestrichen haben: Unsere schwarze Finsternis Müsse deinem Glanz entfliegen Die durch Adams Apfelbiß Uns, die kleine Welt bestiegen! Daß wir Herr durch deinen Schein Selig sein! 111 Vielleicht war ja auch ganz einfach ihre deutlich schwächere dichterische Qualität der Grund dafür, dass diese Strophe gestrichen wurde. Sie wirkt, wie auch die ehemals fünfte Strophe, zu barock in ihrer mechanischen Bildhäufung, zu überanstrengt. Der Reim „Finsternis“ auf „Apfelbiss“ hat etwas unfreiwillig Komisches. Der Dichter scheint die Geschichte vom „Sündenfall“ nicht so richtig ernst zu nehmen. Dass die „Finsternis“, die „Nacht der Sünde“ - das war im Barock ein gängiges Bild und findet sich ja auch oft in anderen Liedern aus dieser Zeit -, dass diese „schwarze Finsternis“ der Sünde wie eine Wolke sei, die wegfliegen kann, oder dass in einer späteren Strophe von der „Sünden Kleid“ die Rede ist, als sei die Sünde wie ein dreckiger Kittel, den man mit einem sauberen vertauschen kann, all das brachte vielleicht für die Herausgeber des Württembergischen Gesangbuchs die lutherische Sünden- und Rechtfertigungslehre nicht scharf genug zum Ausdruck. Und dann noch die Formulierung, mit der ich zu meinem nächsten Stichwort komme, „wir“, die Menschen, seien EINE „KLEINE WELT“? Man versteht, was gemeint ist - mich selbst brachte allerdings erst ein Kommentar darauf -, wenn man den Ausdruck „kleine Welt“ ins Griechische übersetzt. Die Lehre vom Menschen als „Mikrokosmos“(wörtlich: „kleineWelt“),derdem„Makrokosmos“, der „großen Welt“, dem „ganzen Kosmos“, Himmel und Erde eingeschlossen, vollständig entspricht, die Auffassung, alles was in der Welt ist und in Gott, ist auch im Menschen und umgekehrt, diese Lehre hat antike Wurzeln, zieht sich durch das Mittelalter, wurde in der Renaissance entschieden aufgegriffen und ausgearbeitet - der berühmte „Vitruvische Mensch“ des Leonardo da Vinci z.B. scheint mit seinem Körper den Kosmos zu vermessen und um- 112 greifen zu wollen -, und in Deutschland wurde diese Lehre insbesondere von Paracelsus, dem Wissenschaftler, Philosophen und Arzt und dessen Schülern verbreitet. Paracelsus sah Krankheiten als komplexe chemische Prozesse im Körper und lehrte die Einheit von seelischer, geistiger und körperlicher Gesundheit, um nur zwei Stichworte zu nennen. Unser Dichter war damit nicht nur theoretisch vertraut, er stand gewissermaßen auch praktisch in der Nachfolge des Paracelsus: Er war neben seinen vielen anderen Aktivitäten auch ein „Alchemist“, betrieb also chemische Experimente, und nahm bezeichnenderweise auch eine ärztliche Praxis wahr. Wenn für unseren Dichter Gott der Schöpfer und seine Schöpfung, wie es in einem anderen seiner Lieder heißt, „in beständigschöner Ordnung hochvernünftig“ zusammen hängen und einander entsprechen, so dass Gott „nach dem Muster, das sich in [ihm] selbst befind’t, alle Sachen ausgewirket, wie sie nun erschaffen sind“, und „des Bildes Ähnlichkeit“ sowohl „das ganze Rund“ des Kosmos, die „wunderschöne Welt“, als „auch die Stücke ganz bekommen“ haben, die einzelnen Teile des Ganzen, insbesondere eben die „kleine Welt“, der Mensch, dann kündigt sich hier auch bereits schon die Naturauffassung der Aufklärung an, die „beste aller möglichen Welten“, die auch jede „Monade“, den einzelnen Menschen, „vollständig definiert“ nach Leibnitz, wenn auch noch nicht die „Gott-Natur“ Spinozas, Goethes oder der europäischen Romantik. Wie auch immer - wir haben es ja nicht mit einer theologischen oder philosophischen Abhandlung zu tun -, dichterisch spricht diese „makro-mikro-kosmische“ Weltsicht aus der Intensität, aus der lebendigen Dichte, mit der hier Körper und Seele, Natur und Mensch, Innenwelt und Außenwelt als ein großer Zusammenhang, als ein einziger großer und kleiner Strom von Licht dargestellt werden. Spürt man nicht etwa auch in der (jetzigen) zweiten Strophe geradezu körperlich den „Durst“ einer „mat- 113 ten“, vertrockneten Wiese, und wie dies nicht nur ein Bild ist für das „Gewissen“ und für „Herz und Mut“, die kraftlos geworden sind und aus Gott neue Kraft gewinnen sollen, sondern - und jetzt liest man das, glaube ich, richtig - dass Natur und menschliche Seele einander entsprechen, weil sie beide Teile eines harmonischen umfassenden Ganzen sind, das Gott nicht nur nach seinem Bilde sondern aus sich heraus so gestaltet hat. Natur und Mensch sind Bild für einander und sind beide Teile der selbst mit Gott verbundenen Schöpfung, Teil des „Kosmos“: Bild und Teil Gottes Noch näher rückten Gott, Seele und Natur zusammen in der Tradition der Mystik, die im 17. Jahrhundert in vielen Formen große Bedeutung hatte und die eben auch in der großen Licht- Dynamik und dem Strom von Licht zu uns sprechen, die unser Lied beherrschen. Das Licht ist ja schon in der Bibel ein mystisches, direkt mit Gott verbindendes Element. Vielleicht erhält so mein nächstes Stichwort noch genauere Bedeutung: „GIB, DASS DEINER LIEBE GLUT UNSRE KALTEN WERKE TÖTE! “ Wo „Glut“ ist, da muss „Feuer“ gewesen sein. Dass die Prinzipien „Feuer“ und „Licht“, aber auch „Finsternis“ und „Licht“, also die Prinzipien des Bösen und des Guten, der Zerstörung und der Liebe untrennbar zusammenhängen, war eines der zentralen Bilder, die Jakob Böhme, der ganz ungelehrte Schuhmacher und zugleich kühne ganzheitliche Denker immer wieder gebraucht. Er versuchte direkte innerliche Gottesschau, das ist Mystik, scharfsinniges philosophisches Nachdenken und ganzheitliche Naturauffassung zusammen zu bringen. Für das 17. Jahrhundert heißt das „Pansophie“, „Lehre“ oder „Weisheit des Ganzen“. Unser Dichter war mit Sicherheit mit solchen Gedanken vertraut. Ein 114 Schlüsselwerk Jakob Böhmes, ab etwa 1613 konzipiert, lange verboten, aber und oft auch mündlich weit verbreitet, hieß Morgenröte im Aufgang. Wir erinnern uns: „[…] bei entstandner Morgenröte“, „Oh du Aufgang aus der Höh […]! “ - ist das nur so beliebig hingesagt? Jakob Böhmes Denken kreiste um die Produktivität der Widersprüche, der „Widerwärtigkeiten“, wie er sie selbst nennt: Widersprüche in der Natur, Zerstörung und neues Leben etwa in „Feuer“ und „Licht“, Widersprüche im Menschen, der nur durch Negationen zu Neuem fähig ist - „in diesem Streite steht alles Leben und Wachsen“, sagte er -, und Böhme suchte solche Widersprüche bereits in Gott zu verstehen, der die bloße, aber leere Fülle seiner Möglichkeiten, seinen „Ungrund“, wie Böhme sagte, negieren musste, um sich als Schöpfer zu verwirklichen, der sich im Tod seines Sohnes noch einmal aus Liebe selbst widersprach, selbst „tötete“, und der dann schließlich allein alle diese Widersprüche aufheben und in Harmonie vereinen kann. Das ist jetzt natürlich alles sehr verkürzt wiedergegeben, es ist schon lange her, dass ich das gelesen habe, und es ist ja auch nicht gerade leicht verständlich. Aber es hatte große, lang anhaltende Wirkung, bis hin zur Philosophie des Deutschen Idealismus und generell zum Einfluss auf „dialektisches“ Denken. Auf alle Fälle verstehen wir jetzt vielleicht, warum in unserem Lied Gottes „Liebe […] töten“ soll. Es geht um die Negation einer Negation, um die Negation jener selbst bereits „toten“, eben „kalten Werke“, die Natur und Mensch, Körper und Seele in sich tragen. Mit „Werk“ bezeichneten die Alchemisten, zu denen sich ja auch unser Dichter zählte, einen bestimmten chemischen Prozess. (Das „große Werk“ wäre es gewesen, Gold herstellen zu können.) Dann wäre das „kalte Werk“ eine erstarrte, also in der Tat „erkaltete“ feste Substanz, die ursprünglich flüssig war; Gott hat in der Schöpfung „zerfließend-dünnes Zeug bildend in ein Werk zu bringen“ vermocht, heißt es in einem anderen Lied Knorr von 115 Rosenroths; und nur in neuerlicher Negation, aus dem „Tod“ des „kalten Werks“, der festen Substanz, indem diese z.B. zerrieben oder verbrannt oder geschmolzen wird - diesen „Tod“ nannten die Alchemisten das „schwarze Werk“ -, kann dann etwas Neues entstehen, etwa wenn ein edleres Metall aus bloßen Felsbrocken befreit wird. Und wie in der Natur, in der „großen Welt“, so in der „kleinen Welt“, im Menschen: Man kann annehmen, dass unser Dichter sich Körper und Seele als ein fortgesetztes dynamisches Geschehen dachte, als einen Fluss von Energie, ein Bündel von Energie-Strömen, von Energien des Lebens und der Liebe. Für alles das steht hier das „Licht“. So wie der Arzt das, was kalt und lebensfeindlich starr geworden ist im Körper aufzulösen oder zu entfernen sucht, so soll Gott - vom „transzendentalen Arzt“ sprich später der Dichter Novalis, auch ein Bewunderer Jakob Böhmes -, so soll Gottes „Liebe“ alles, was in der Seele des Menschen, in der Energie von „Herz und Mut“, starr und kalt und lieblos geworden ist, etwa Verschlossenheit, Hass, Aggression, Verzweiflung, dieser innere „Tod“ soll seinerseits „getötet“, „geschmolzen“, ja „weggebrannt“ werden, um den ursprünglichen, innersten Strom der Liebe in uns Menschen wieder frei zu setzen. Gottes Liebe soll die Verschlossenheit der menschlichen Seele „aufschmelzen“, um die menschliche Liebe für andere und für die Zukunft lebendig zu machen. Dass der Mensch seiner ursprünglichen Natur nach ein guter, liebender Mensch ist, das weist ebenfalls wieder auf die Aufklärung voraus, etwa, um nur ein Stichwort zu nennen, auf die später sehr folgenreiche Pädagogik Jean Jacques Rousseaus - „alles kommt rein aus den Händen der Natur“, so eben vor allem die Kinder - und den Gegensatz dieser Auffassung zur Lehre von der „vollkommenen Sündhaftigkeit“ des „natürlichen“ Menschen, wie sie für die lutherische Orthodoxie vor allem gegenüber Kindern (und Frauen und den so genannten „wilden“ Naturvölkern) zur 116 Anwendung zu kommen hatte. Sie sehen, das ist ein äußerst konfliktfähiger und folgenreicher Zusammenhang, der sich hier eröffnet. Ich kann ihn nur so kurz aufzeigen. Denn für unseren Dichter tut sich hier noch eine weitere, für ihn eigentümliche Quelle auf, die ich mit meinem nächsten und vorletzten Stichwort ansprechen möchte: „LICHT VOM UNERSCHÖPFTEN LICHTE“ Das Morgen Lied des Martin Opitz, das auch hier als Vorbild gedient hat - und auch hier gibt es wichtige Abweichungen -, hatte mit den Versen begonnen: „O Licht geboren aus dem Lichte / O Sonne der Gerechtigkeit“. Sonne und Licht sind wie so oft in dieser Zeit Bilder für Christus, die „andere Sonne“, die „Freudensonne“, wie etwa Paul Gerhardt gedichtet hatte. Wenn Knorr von Rosenroth sagt: „Licht vom unerschöpften Lichte“, und wenn er das „Licht“ am „Morgen“ und das der „Ewigkeit“ direkt verbindet, dann scheint er dies nicht unbedingt als Sinnbild für Christus zu sehen. Das Licht als solches ist bereits göttlich. Die Herausgeber unseres Gesangbuchs allerdings haben „unerschöpftes Licht“ durch „unerschaffenes Licht“ ersetzt. Sie wollten Schöpfer und Schöpfung ganz klar voneinander unterschieden sehen. Aber Knorr von Rosenroth folgt hier Traditionen, die nicht christlich sind, holt sie gewissermaßen herein in seine Vorstellungen von Gott und Welt, so wie es viele andere seit langem auch getan haben. Als ich in der englischen Internet-Enzyklopädie Wikipedia nach „Knorr von Rosenroth“ suchte, wurde ich sofort fündig. Er ist also auch international berühmt. Aber dort wird er nur in einem Nebensatz als Dichter erwähnt. Seine größte Leistung war es dort, dass er zwischen 1677 und 1684 ein Buch mit dem Titel Kabbala Denudata (Enthüllte Kabbala) erarbeitet hat, eine latei- 117 nische Übersetzung der jüdischen, so genannten „Kabbala“, die in dieser lateinischen Fassung dann jedem Gebildeten zugänglich wurde. Und das war in der Tat eine international bemerkenswerte Leistung. Die „Kabbala“, das Buch Sohar, so der eigentliche Name, enthält Spekulationen über den Gottesnamen, über Zahlen usw. - dergleichen findet man auch in anderen Gedichten Knorr von Rosenroths -, sie enthält aber vor allem auch eine intensive „Licht-Mystik“. Im Mittelpunkt, so habe ich nachgeschlagen, steht hier das „En Sof “, das unendliche und verborgene göttliche Licht, das sich im Licht, das wir wahrnehmen, materialisiert, also sinnliche Gestalt annimmt, ein unendliches, in der Tat „unerschöpftes“ Licht, das jenes Licht, das wir sehen, aus sich frei setzt, mit ihm die Vielfalt der Kreaturen, in denen die „Sefirot“, die Urpotenzen Gottes wirksam bleiben. Hier haben wir wieder jenen Strom von Licht-Energie, den unser Lied besingt: Gott ist lückenlos mit der Schöpfung verbunden, denn er ist selbst die ganz physikalische Quelle, aus der alles Licht fließt. Und Gottes Licht ist so auch lebendig im Menschen: im „Adam Kadmon“, wie ihn die Kabbala nennt, einer ursprünglichen materielosen Lichtgestalt, die unter der Hülle der Materie und der Sünde verborgen ist, bis sie diese Hülle nach dem Tode wieder ablegt, bis sie „verklärt ersteht“, um in das göttliche Licht zurück zu kehren, das „in jener Welt leuchtet“. Das ist, wie wir sehen können, nahezu wörtlich in unser Lied hinein gearbeitet und mit der christlichen Lehre von Sündenfall, Gnade, Tod und Auferstehung verschmolzen. Das Lied Morgenglanz der Ewigkeit bezieht nicht zuletzt daraus einen wesentlichen Teil seiner Dichte und Energie. Auch in der Dichtung bringt eben die „reine Lehre“ meist nicht viel, und die Hybriden sind oft die vitalsten Geschöpfe. Damit komme ich auf mein letztes Stichwort: 118 „UNSRE NACHT“ Denn es geht hier ja nicht, ich sage es noch einmal, um eine philosophische oder theologische Abhandlung. Dies ist Dichtung. Und Dichtung darf, ja Dichtung muss mehrdeutig sein: offen für immer neues und anderes Verständnis. Meist achtet man ja gerade auch bei Kirchenliedern, die man lange und oft gesungen hat und wo man eher damit beschäftigt ist, den Ton zu treffen und genügend Luft zum Singen zu haben, man achtet nicht so sehr auf die dichterische Qualität. Mir geht es auch so. Es war bei einer Beerdigung, dass mir dieses Lied nachdrücklich auffiel. Seitdem geht es mir immer wieder durch den Kopf. Mein wichtigster akademischer Lehrer und Doktorvater, Klaus Ziegler - es sind jetzt ziemlich genau 40 Jahre, seit ich mein Rigorosum, meine Doktorprüfung abgelegt habe, so darf ich vielleicht auch an ihn erinnern -, hatte für seine Beerdigung die Choräle und Lesungen - aus der Lutherbibel im ursprünglichen Wortlaut! - selbst ausgewählt, sonstige Ansprachen wollte er nicht. Und das Lied, das den Trauergottesdienst eröffnete, war Morgenglanz der Ewigkeit. Ich dachte sofort: Ja, das muss ihn interessiert, das dürfte ihm gefallen haben. Er war ein Kenner der Barock-Literatur. Vieles von dem, was ich heute hier erzählt habe, wurde mir erstmals von ihm vermittelt. Er war sehr kritisch im Hinblick auf dichterische Qualität. Eines seiner Lieblings-Themen war „die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“, also, wie in einer Dichtung frühere Epochen weiter wirken und zukünftige sich ankündigen, wie oft viel Späteres vorweggenommen wird. Und genau das dürfte ihn an diesem Lied interessiert haben. Damit wäre ich bei meinem letzten Stichwort: „unsre Nacht“. Es ist klar, dass unser Lied hier und auch sonst an einer Epochenschwelle steht. Hier geht es nicht mehr um die „tiefste Todesnacht“ der Sünde, um die Nacht, in der „Satan mein begehret“, ja sogar 119 „Satan mich verschlingen“ will, wie Paul Gerhardt dichtete. Dies ist zwar sicher noch die „Nacht der Sünde“, aber es ist genauso klar auch bereits eine Nacht der Unwissenheit, der Täuschung und fehlenden Orientierung im Sinne der Aufklärung. Es wird sicher auch eine sozusagen psycho-somatische, seelisch-körperliche „Nacht“ angesprochen, etwa eine Nacht der Verzweiflung oder Depression, die „aufgehellt“ werden soll und der gegenüber „Herz und Mut“ neue Kraft gewinnen sollen. Und in alledem steht zugleich auch eine „Nacht“ der Zeit vor uns, die Nacht einer dunklen und unheilvollen Zeit in der Geschichte, wie sie der Dichter erfahren haben muss. Umso eindrucksvoller steht dagegen der „Morgenglanz der Ewigkeit“, in dem sich die Ewigkeit, die der Zeit vorherging, und die Ewigkeit, die ihr folgen wird, in einem Punkt, in dem ersten Morgenstrahl am Horizont zusammenziehen. Die „Nacht“ und die „Morgenröte“, die „dürre“ Wiese und der „erquickende Tau“ am Morgen, „Kälte“ und „Glut“ und natürlich vor allem das immer neu strömende und geradezu rhythmisch hörbar pulsierende „Licht“ in unserem Lied, das sind alles sinnlich anschauliche Naturereignisse, zugleich aber sind dies Dinge, die in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine gewisse Totalität in sich einschließen, eine gewisse Reihe fordern, Ähnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen. So schrieb am 16. August 1797 Johann Wolfgang von Goethe an seinen Freund Friedrich Schiller über jene „Gegenstände […] die eigentlich symbolisch sind“. Jeder Germanist muss Goethes Auffassung vom Symbol, in dem „eigentlich die Natur der Poesie“ sei, kennen. Vielleicht hat mein alter Professor Klaus Ziegler der- 120 lei in diesem mehr als 100 Jahre früher erschienenen Lied bereits vorweggenommen gesehen. Denn „Nacht“ und „Licht“ sind hier nicht mehr nur im Sinne der barocken Allegorie Bilder für Sünde und Gnade, sie sind Teile des Kosmos und des Menschen und haben direkt an Gott Teil. Das Nahe ist Bild des Fernen, weil beide Teil des Ganzen sind. Und so kann hier in der Tat bereits Inneres und Äußeres, Natur und Geist, Gottes Kraft und das Leben der menschlichen Seele zusammen gesehen, bzw. mit Goethes Worten, „lebendig gefaßt“ werden. Das konnte jetzt freilich nur ein Ausblick sein, der auf die dichterische Qualität unseres Liedes hinweisen sollte. Denn natürlich ist das „Licht“ hier mehr als nur ein Symbol. Es steht für, nein, mehr, es bezeugt und erfüllt die Lebendigkeit der Hoffnung und Zuversicht, in die Morgenglanz der Ewigkeit schließlich mündet und die sich in seinen ersten Worten bereits ausspricht. Gerade der Tod, darin läuft hier alles zusammen, darin kommt alles hier überein: die Lehre von „Makro-“ und „Mikrokosmos“, Mystik und Pansophie, Kabbala und christlicher Glaube, Barock, Aufklärung und vielleicht sogar Symbolik im Sinne Goethes, der Tod, von dem auf vielerlei Weise immer schon die Rede war, der Tod ist hier kein Ende. Die ganze Energie des Lichtes spricht hier von der Zuversicht auf ein den Tod überwindendes neues Leben. So ist dieses Lied zuerst und zuletzt ein starkes Glaubenszeugnis, das in der Tat ebenso sehr bei einer Beerdigung als auch an jedem Morgen „Herz und Mut“ zu erwecken und zu trösten vermag: Leucht uns selbst in jener Welt Du verklärte Gnadensonne Führ uns durch das Tränenfeld In das Land der süßen Wonne Da die Lust, die uns erhöht, nie vergeht. 121 MATTHIAS CLAUDIUS DER MOND IST AUFGEGANGEN Der Mond ist aufgegangen Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. Wie ist die Welt so stille Und in der Dämmrung Hülle So traulich und so hold Als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt. Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen Und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn. Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. 122 wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel. Gott laß Dein Heil uns schauen, auf nichts Vergänglichs trauen, nicht Eitelkeit uns freun; laß uns einfältig werden und vor dir hier auf Erden wie Kinder fromm und fröhlich sein. Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod; und wenn du uns genommen, laß uns in’ Himmel kommen, du unser Herr und unser Gott. So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder; kalt ist der Abendhauch. Verschon uns, Gott, mit Strafen Und laß uns ruhig schlafen. Und unsern kranken Nachbarn auch! M atthias Claudius’ Der Mond ist aufgegangen ist heute genauso fraglos ein Gesangbuchlied wie es ein Volkslied geworden ist. Aber das „Volkstümliche“ daran gilt vor allem für die ersten Strophen. Der Schluss und der Gedanke an den Tod scheinen, ganz ähnlich wie im Fall von Paul Gerhardts Geh aus mein Herz und suche Freud, gern verdrängt zu werden. 123 ENTSTEHUNG UND ERSTE AUFNAHME Denn schon bald nachdem unser Lied 1779 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, hat man einen Absatz, eine „Zäsur“ zwischen Strophe vier und fünf eingefügt, so dass das „Volkslied“ vom „Geistlichen Lied“ getrennt wurde. Johann Gottfried Herder nahm Claudius’ Abendlied, so sein ursprünglicher Titel, bereits 1780, ein Jahr nach seinem Erscheinen, in seine Volksliedersammlung Stimmen der Völker auf. Er sah mit bemerkenswerter Sicherheit den künftigen Erfolg voraus; aber er ließ die letzten drei Strophen weg. Matthias Claudius selbst fügte sein Gedicht 1782, drei Jahre nach dem Erstdruck, in seine eigene Werkausgabe ein, aber er setzte zwischen Strophe fünf und sechs eine Trennlinie von drei Sternchen. Die Verbindung von „Abend“ und „Tod“ erschien nicht mehr zeitgemäß. Wir werden gleich darauf zurückkommen. Noch etwas früher freilich war 1782 in Halle ein von Claudius nicht autorisierter Druck erschienen - heute würde man sagen, ein Raubdruck -, und damit, mit diesem „frommen Diebstahl“, begann dann die geistliche Karriere unseres Liedes. Denn derselbe Herausgeber, August Herrmann Niemeyer, nahm es 1785 auch in sein Gesangbuch für Schulen und Erziehungsanstalten auf. Er hatte noch die Melodie von Paul Gerhardts Nun ruhen alle Wälder vorgeschlagen; 1790 komponierte Johann Abraham Peter Schulz die heute noch gängige Melodie, und ein seitdem klassisches christliches Gesangbuchlied war geboren, das auch Volkslied geworden ist. Matthias Claudius (1740-1815) muss von Anfang an eben genau dies beides, ein volkstümliches Andachtslied, im Auge gehabt haben; im 18. Jahrhundert hieß das: ein Abendlied für das „ganze Haus“ und dessen „Hausvater“. Wie können wir uns das vorstellen? Die Familie - Claudius selbst hatte zehn Kinder -, dazu oft auch die Großeltern, sonstige zusammen wohnende Verwandte, dann auch Knechte und Mägde, auch sie gehörten zum „gan- 124 zen Haus“, sie alle versammelten sich zu einer Abendandacht, zu Bibel-Lesung, Gesang und Gebet, etwa auf dem Hof eines größeren Bauern oder in einem gediegenen bürgerlichen Haus, irgendwo, wo man „auch […] den kranken Nachbarn“ nicht vergisst. Warum aber dann dieses Zögern mit Strophe fünf und sechs? Für Claudius gab es keine Widersprüche in seinem Lied. Aber jemand wie Herder muss sie empfunden haben. Es ist wohl nicht die Wendung zum Glauben als solche, es ist das Ineinander von Altem und Neuem, Tradition und Originalität, das die Zeitgenossen und dann auch Claudius selbst wahrnahmen und auf das sie, erst recht die nächste Generation, Goethe oder die Romantiker, verschieden reagierten. Etwas davon spüren wir vielleicht heute noch. ALTES UND NEUES Matthias Claudius’ Abendlied wirkt heute, so scheint mir, wie ein altvertrauter Teil unseres Hauses, eine alte, schön bemalte Tasse, ein gusseiserner Ofen oder ein geschnitztes Treppengeländer, mit dem wir täglich umgehen. Erst wenn wir es einmal genauer betrachten, eine Abbildung zum Beispiel in einem Katalog sehen, oder wenn wir seinesgleichen in einer Ausstellung begegnen, merken wir, wie schön und eigenartig es ist. Es verkörpert und integriert Veränderungen. Vielleicht ist es gerade darum so zeitlos. Zunächst einmal bleibt Claudius in der Tradition geistlicher Dichtung bzw. des „geistlichen Liedes“. Am Abend des Tages dachten die christlichen Dichter an den Abend des Lebens; die hereinbrechende Nacht war Sinnbild für die Gefahren der „Finsternis“, der Verlorenheit und Gottferne; das schwindende äußere Vermögen zu sehen in der immer dichteren Dunkelheit weckte die inneren Sinne, weckte das Nachdenken über die Zeit, sich selbst und die Welt; wenn das Licht des Tages dahinschwand, wurde umso in- 125 tensiver des ewigen Lichts gedacht; und wo der äußere Lärm verebbte, suchte man die „Stille“ und das Gebet. Mit einem Gebet schließt beispielsweise Andreas Gryphius sein Abendsonett (1636), im 18. Jahrhundert hoch berühmt, nachdem schon vorher sein Gedicht von der Betrachtung der Welt zum Nachdenken über die eigenen Existenz und genauso von außen nach innen vorangeschritten war, so auch von der äußeren, zeitlichen „Nacht“ zum innerlich geglaubten, ewigen Licht, bzw. dem „ewig hellen Glanz“, der in der „Finsternis“ scheint: Dein ewig heller Glanz sei vor und neben mir Laß wenn der müde Leib entschläft die Seele wachen Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen So reiß mich aus dem Thal der Finsterniß zu dir. Auch Paul Gerhardt hatte 1648 in dem noch berühmteren Nun ruhen alle Wälder gedichtet: Wo bist du, Sonne, blieben? Die Nacht hat dich vertrieben, die Nacht des Tages Feind. Fahr hin, ein andre Sonne, mein Jesus, meine Wonne, gar hell in meinem Herzen scheint. Und so wie jetzt die Sterne am Himmel stehen, fährt er fort: […] also werd ich auch stehen, wenn mich wird heißen gehen mein Gott aus diesem Jammertal. 126 Aber für Matthias Claudius führen Tag und Nacht nicht, wie bei Gryphius, einen Kampf auf, in dem einer den anderen „vertreibt“ und siegreich „die Fahne schwingt“: Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn / Und führt die Sternen auff. […]. Das von der „Nacht“ anbzw. „aufgeführte“ Heer der „Sterne“ besetzt bei Gryphius am Abend siegreich den Himmel. Ganz anders bei Claudius. So wie bei ihm sich Tag und Nacht nicht scharf trennen, so ist auch das Leben nicht durch einen harten „Riss“ von der Ewigkeit getrennt. Vor allem dann die „Angst“ - ein Schlüsselwort bei Gryphius -, die Angst in der Nacht der Welt, im „Jammerthal“ so Paul Gerhardt, im „Thal der Finsternis“, so Gryphius, steigert sich nicht für den Augenblick des Todes, den die Nacht ankündigt - „will Satan mich verschlingen“ heißt es auch bei Paul Gerhardt -, so dass Gott dann kraftvoll, kämpferisch, mit „güldnen Waffen“, eingreifen und die Seele „[heraus] reißen“, „zu [sich] reißen“ muss. Und diesen Gegensatz, diesen Kampf von Nacht und Tag, Finsternis und Licht, Verdammnis und Erlösung, sollen wir uns, dazu mahnten diese Gedichte und Lieder, jeden Abend bewusst machen. Wenn wir einfach „zu Bett“ gehen, sollen wir immer auch an das schlussendliche „Bettlein in der Erde“ denken und so fort. Der Ton des 17. Jahrhunderts, das barocke Denken in Antithesen, ich will es nicht abwerten, hatte ja seine Wahrheit und kann uns gerade heute vielleicht wieder besonders ansprechen. Ganz anders jedoch, mehr als hundert Jahre später, Matthias Claudius: Für ihn geht der Tag so harmonisch in die Nacht über, wie ein „sanfter Tod“ den Menschen im Himmel erwachen lässt. Nur einen Augenblick lang wird der „strafende Gott“ angesprochen und wird der „kalte Hauch“ einer möglichen „ewigen Finsternis“ gespürt. Viel stärker und beherrschender ist der durch und durch 127 gnädige, gütige Gott, der nicht „reißt“ und trennt, sondern verbindet und vereint. Auch wenn Gott straft, hält er, belebt er und führt er für Claudius die Welt. Wir begegnen ihm nicht durch existentielle, letztlich einsame Konzentration, wie bei Gryphius, sondern im „Wir“ und in der Zuwendung zum „Nachbarn“. Wir sollen auch nicht unsere Erfahrung und den Sinn der Welt umkehren, wie im Kern es durchaus noch Paul Gerhardt will, etwa wenn er die Sonne des Tages gegen die „andere Sonne“, das ist Christus, und wenn er genauso die „geschlossenen Augen“ des Menschen gegen das niemals schlafende „Aug“ des „Wächters Israel“ stellt. Für Claudius ist Gott das alle Gegensätze überbrückende Ganze. „Jammer“, Gefahren der Nacht, „Strafen“, also Leiden und Unglück, „Kälte“ und „Krankheit“, all das ist nicht einfach weggelassen. Aber es ist umschlossen und aufgehoben von einer umfassenden Güte, die wir schon „hier auf Erden“ in kindlichem Vertrauen erfahren können. In durchaus verwandtem Geist kann dann später Goethe in der irdischen Ruhe auch die ewige vorweg ahnen. Und Joseph von Eichendorff muss sogar, wenn er sagt: Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus, er muss durch das „als ob“ deutlich machen, dass irdische Harmonie auf die ewige „Heimat“ nur verweist, sie noch nicht, Gott und Welt verbindend, wie andere Romantiker gemeint hatten, bereits vorwegnimmt. 128 AUFKLÄRUNG UND PIETISMUS Altes und Neues verbindet Claudius auch im Verhältnis zur wichtigsten philosophischen und dichterischen Bewegung des 18. Jahrhunderts, der Aufklärung. Sehr kritisch warnt er vor jeder Überheblichkeit des Verstandes, erst recht vor allen Versuchen, Gott zu negieren. So weist er in der vierten Strophe alle menschliche Erkenntnis auf ihre Grenzen hin: Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel. Was hier „Künste“ heißt, bedeutete zu Claudius’ Zeit noch Wissenschaften (so wie heute noch etwa im akademischen Titel Magister Artium, wörtlich: „Lehrer der Künste“). Gegen die Überschätzung dieser „Künste“, ihren „stolzen“ Hochmut, die Welt vollkommen durchsichtig machen zu können und perfekt funktionieren zu lassen, betont Claudius gut lutherisch („eitel“ heißt „allgemein“, „durchgehend“, so wie heute noch etwa in der alten Wendung „eitel Sonnenschein“) - Claudius betont die vollendete Sündhaftigkeit des Menschen. Dieser kann sich nicht selbst erlösen. Aber das schließt andererseits grundlegende Gemeinsamkeiten mit aufklärerischen Gedanken nicht aus. Etwas pauschal zu verwerfen, war ohnehin Claudius’ Sache nicht. Aufk lärerische Erkenntniskritik beispielsweise findet sich auch bei ihm. Die kritische Unterscheidung von Wahrnehmung und Vorstellung etwa, ihr Zusammenhang mit dem Gedächtnis und so weiter, solche Grenzen der Erkenntnis zu ziehen, Erkenntnis in diesen Grenzen 129 aber auch zu sichern, war eine zentrale Tendenz der Aufklärung selbst gewesen. Man fragte sich: Wie führen Erfahrungen zu verlässlichem und klarem Wissen? Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen weil unsre Augen sie nicht sehn. Wir sehen manchmal nur den halben Mond. Aber wir haben ihn früher schon rund und voll gesehen. Wenn wir unsere Fernrohre auf ihn richten und wenn wir die Umlaufbahn bzw. -zeit des Mondes und die Drehung der Erde berücksichtigen, dann können wir erklären, wie es zu dieser Sinnestäuschung kommt. Begründete Erfahrung und durchdachte Theorie bestätigen sich wechselseitig. So lernen und wissen wir, wie begrenzt immer, mehr als wir jeweils sehen können, noch dazu lediglich mit bloßem Auge. Die dritte Strophe argumentiert also durchaus im Vertrauen auf wachsende und fortlaufend bessere Erkenntnis der Welt, also gut „empiristisch“ (auf Erfahrungen aufbauend) oder eben im Sinne der Aufklärung. Auch wenn all dies bei Claudius nun allerdings, wie der weitere Verlauf des Liedes zeigt, auf religiöse Wahrheiten zielt, „transzendente“, die Erfahrung „überschreitende“, wie die Philosophen damals sagten, dann doch unzweifelhaft mit einem Bild und in den Denkbahnen der Aufklärung. Erst recht gilt diese Bedeutung der Erfahrung für die erste Strophe. Vergleichen wir sie mit dem Anfang von Paul Gerhardt: „Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Städt und Felder“! Können wir uns da ein klares Bild machen? Paul Gerhardt kommt es auf solche erfahrbare Anschaulichkeit nicht an. Er greift im Sinne der 130 rhetorisch geprägten Poetik seiner Zeit in die copia rerum et verborum, das Repertoire an Sachen und Wörtern, um den Oberbegriff bzw. die allgemeine approbatio, die verstärkte Aussage: „Es schläft die ganze Welt“, vorzubereiten und zu füllen, die den argumentativen Ausgangspunkt (die suppositio) des Gedichts völlig klar impliziert, also mit formuliert: „Auch ich werde bald schlafen“. Dem schlösse sich im Sinne der Rhetorik die propositio an, die übergeordnete „Regel“: „Gott aber schläft nicht“. Denn - das nannte man die ratio propositionis, die Stütze dieser zentralen Aussage, bzw. noch allgemeiner, den topos, die allgemeine Wahrheit -, denn: „Gott hat in Jesus die Welt überwunden“. Und daraus folgert dann Paul Gerhardt ganz schulmäßig: „Ich halte mich an Gott“, bzw. als weitere Folgerung: „Ihr aber, meine Sinnen [mein Geist, im Gegensatz zum „Leib“], sollt beginnen, was Eurem Schöpfer wohlgefällt“. Im Sinne der Barockpoetik überblickt Paul Gerhardt auch von einem höheren Standpunkt, dem sensus allegoricus aus die Realität. Sie sagt ihm immer schon etwas „anderes“ als die bloße Erfahrung, nämlich die geglaubte und rhetorisch gewusste heilsgeschichtliche Wahrheit: Er sieht bereits statt der irdischen eine „andere Sonne“, dies mit anderen „Augen“ und so fort. Wenn er nahezu dieselbe Zeile dichtet wie Claudius: „Die güldnen Sternlein prangen am blauen Himmelssaal“, so sind sie ihm zuerst und zuletzt Sinnbild eines anderen, ewigen Lichtraumes, in den Gott ihn einst führen wird. Also werd ich auch stehen, Wenn mich wird heißen gehen Mein Gott aus diesem Jammertal. Matthias Claudius dagegen, 130 Jahre später, hält sich genau an die Erfahrung. „Ut pictura poesis“, so der von den Lehrmeistern der 131 Dichtung im 18. Jahrhundert besonders geschätzte Horaz, „wie ein Bild“ in seiner natürlichen Wahrheit, „soll die Dichtung sein“: Der Mond ist aufgegangen die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. Sieht man das nicht geradezu und ganz klar und trennscharf vor sich? Das dichterische Bild hat eine zentrale Perspektive, der Blick wird kontinuierlich geführt: von oben nach unten, von der Ferne in die Nähe und dann mit dem Nebel wieder nach oben. Die Kontraste von hell und dunkel, schwarz und weiß, sind so sauber eingezeichnet wie die Linie des Horizonts zwischen Wald und Himmel. Genauso meint man die Stille geradezu zu hören: „Der Wald schweigt“, das bleibt viel genauer an der Erfahrung als: „Nun ruhen alle Wälder“. Das Wunderbare mit der Erfahrung zu verbinden, hatten die damals noch einflussreichen Dichtungslehrer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger gefordert. Genauso, als etwas „Wunderbares“, das aus der Erfahrung der Natur aufsteigt, sieht Claudius nicht nur „den Nebel“, sondern das ganze schöne Gesamtbild der abendlichen Natur. Die Pietisten, deren Gemeinschaften gerade im 18. Jahrhundert sich festigten und ausbreiteten, waren auf ihre Art auch Aufklärer. Sie wollten Gott erleben und erfahren, nicht nur von ihm lesen und gepredigt bekommen; jeder Einzelne sollte mit seinem Verstand, seinem Gefühl, mit seinen eigenen Worten seinen Glauben begreifen. Das wurde so sorgfältig aufgezeichnet und hartnäckig diskutiert wie ein Forschungsprojekt. Und so wie die Wissenschaftler und Philosophen ihr Handeln nach Verstand und Wissen ausrich- 132 teten, so wollten die Pietisten ihren Alltag praktisch und ganz konkret an den Wahrheiten des Glaubens orientieren. Das Stichwort „stille“, das in der zweiten Strophe zweimal genannt wird, auch der Wert der „stillen Kammer“, oder etwa die Anrede „ihr Brüder“, all das soll, so habe ich gelesen, den pietistischen Einfluss auf Claudius belegen. Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold als eine stille Kammer wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt. Es sind die ersten beiden Strophen in ihrer Welthaltigkeit, Weltgeborgenheit, in ihrem vom christlichen Glauben durchstrahlten Weltglauben, die den neuen Ton in die Tradition des geistlichen Liedes bringen. DER MOND? Wenn Sie in Ihrem Gesangbuch blättern, dann taucht in den Abendliedern aus der Zeit vor Matthias Claudius der Mond nirgends auf. In 16 Liedern ist von der untergegangenen Sonne, der „finsteren Nacht“, auch von den Sternen immer wieder die Rede. Der Mond scheint wie ausgeblendet. In der weltlichen Liebeslyrik dagegen hatte er seinen festen Platz: “Die Quelle rauscht, der Wind säuselt in den Büschen, der Mond wirft sein silbernes Licht, die Liebenden schleichen zum Stelldichein …“ usw., so wurde Jahrhunderte lang immer wieder gedichtet. Geradezu mit einer Anrufung des Mondes beginnt Kaspar Stieler, ein sehr erfolgrei- 133 cher Dichter der Barock-Zeit, sein 1660 erschienenes Madrigal mit dem Titel Nacht-Glück: […] Willkommen Mond aus düstrer Bahn Vom Ozean! Dies ist die Nacht, die tausend Tagen Trotz kann sagen: […] Wer wird wie ich wohl so beglücket sein? Während dieses Gedicht in fröhlicher Gegenwart endet: „Still Lautenklang! Mein Liebchen ist schon da“, oder noch 72 Jahre später Albrecht von Haller dichtet: „Der Mond zeigt seine Silber- Hörner […] Komm Doris komm“ usw., wird noch öfter der Mond zum Zeugen angerufen, wenn die Dichter an abwesende Geliebte denken: „Schön glänzt der Mondenschein […] ich nur bin in Traurigkeit“ (Martin Opitz), „Diana [der Mond] führt die Sternen“ immer höher, „neun Stunden hab ich nun an [die Geliebte] gedacht […], von der ich bin so weit“ (Paul Fleming), „Mein Liebstes auf der Welt ist weg […], fort, fort ihr Tage fort, komm bald du Monden-Licht“ (Sibylla Schwarz, eine der wenigen Dichterinnen der Barockzeit), so ließe sich noch weiter zitieren. Hat nicht Matthias Claudius gerade diese liebend-melancholische Aura des Mond-Motivs in sein geistliches Lied hinein übertragen? Die Abwesenheit des Mondes in der geistlichen, seine Anwesenheit in der Liebes-Lyrik, diese auffällige und strikte Trennung der Motive hat sehr alte Wurzeln. Schon in der Bibel ist vom Mond nicht oft die Rede. Er wird in der Schöpfungsgeschichte und später immer auf die Funktion einer nächtlichen Lichtquelle und des freilich wichtigen Zeitmaßes reduziert, so dass er dann auch meist 134 nur mit der Sonne zusammen genannt wird. In Psalm 121, wenn es heißt: „Der Herr behüte dich vor allem Übel“, dann kann man den Wunsch, „daß dich des Tages die Sonne nicht steche“, in der Umwelt eines Wüstenvolkes gut nachvollziehen. Aber dass „der Mond des Nachts“ uns „stechen“ kann? Was ist dieses rätselhaft Böse, das sich in der jüdisch-christlichen Tradition so lange mit dem Mond verbunden zu haben scheint? Eine mögliche Erklärung ist vielleicht die, dass der Mond in den orientalischen Mythen und Kulturen um Israel herum intensiv und anschaulich mit magischen Bedeutungen - in der Sprache der Bibel: „Aberglauben“ und „Abgötterei“ - belegt war. Weithin ist er es ja noch heute. In der Weise, wie er seine Gestalt wechselt - „ein Narr ist wandelbar wie der Mond“, nimmt der Weisheitslehrer Sirach (27.12) den Tenor der Bibel auf -, so wie eben der Mond immer wieder verschieden aussieht, konnte man viele Symbole in ihm erkennen: In der „Mond-Sichel“ beispielsweise - selbst bereits ja ein Bild - konnte man die Form eines Schiffes bzw. einer „Barke“ sehen, oder auch zwei „Stierhörner“, oder anderes. Nach den Mondrhythmen bestimmten die Bauern die Zeiten für Saat, Ernte und so fort. Und unübersehbar bedeutsam war der Zusammenhang zwischen dem Mondzyklus und der Regel der Frauen, zwischen den Zeiten des Mondes und denen des weiblichen Körpers. So spielte der Mond gerade in den Fruchtbarkeitsmythen der alten Welt eine wichtige Rolle. Der Mond, so können wir vereinfacht aber nicht falsch annehmen, war entweder selbst weiblich oder doch sehr genau auf die weiblichen Aspekte der Wirklichkeit bezogen. So ist er bzw. sie, wenn auch verdrängt, dann vielleicht doch in der Bibel und auf alle Fälle in der christlichen Bild-Tradition zu finden. Es gibt zumindest eine Deutung, eine von vielen, dass in der Geschichte von der Erschaffung Evas aus „Adams Rippe“ ein älteres Symbol, nämlich die in ihrer Form einer Rippe tatsächlich ähnliche Mondsichel umgedeutet wurde. Eva und der Mond, der 135 Mond und die Frauen, verdeckt könnte auch eine ältere Vorlage der Bibel davon gewusst haben. Und in der Bildtradition unserer katholischen Schwesterkirche wird ja immer wieder Maria bzw., wie sie dort genannt wird, die „Gottesmutter“ - eine „große Göttin“ wie die kleinasiatische Artemis, von der auch das Motiv übernommen wurde -, auf der Mondsichel stehend abgebildet. Und auch der „Halbmond“ des Islam ist von seinem Ursprung her ein weiblicher Mond. Diese „Weiblichkeit des Mondes“: Konnte Matthias Claudius davon etwas wissen? Im Gymnasium, der Lateinunterricht spielte damals eine überragende Rolle, oder später könnte er sehr wahrscheinlich zum Beispiel das Carmen saeculare des Horaz kennen gelernt haben, in dem eben diese Mondgöttin Artemis bzw. Phoebe angerufen wird: „Schirme die Mütter, Göttin, laß uns Kinder erblühn! “ Und auf alle Fälle ist im Griechischen und im Lateinischen und dann in den vom Lateinischen her stammenden romanischen Sprachen der Mond weiblich, und so weiblich sind auch die Vorstellungen, die sich mit ihm bzw. „ihr“ verbinden. In Teilen von Frankreich sagt man für den Mond, wie für Maria, „notre dame“. Auch im Englischen, was viele nicht wissen, ist der Mond weiblich. Wenn der Neumond zum ersten Mal gesehen wird, verbeugt man sich in England sieben Mal vor ihm bzw. ihr und sagt: „Welcome Madam / Willkommen gnädige Frau! “ Übrigens ist in den romanischen Sprachen auch der Tod weiblich. Das macht hellhörig. Trägt nicht der „sanfte Tod“, den Claudius sich wünscht, solche weiblich-mütterlichen Züge? Und hat nicht, wenn wir aufmerksam lesen und hinhören, auch die „Welt“, die in der „Dämmrung Hülle so traulich und so hold“ ist - „hold“ heißt: „wohlgesonnen“, „gnädig“, „treu“, aber auch „lieblich“ und „schön“ -, hat nicht diese vom Mond durchstrahlte Abend- und Nebelwelt etwas warm Einhüllendes, Tröstendes, Heilendes, unübersehbar etwas Weibliches und Mütterliches? 136 „DER DÄMMERUNG HÜLLE“ Claudius hatte ganz offensichtlich ein sehr feines Sprachgefühl. So dichtet er ja etwa die Bedeutung von „hold“ sensibel aus. Aber er scheint auch das „Einhüllende“ herauszuhören, das im Wort „Himmel“ steckt und ebenso in „Kammer“: Sprachgeschichtlich gelesen „hüllt“ der „Himmel“ die Erde in der Tat ein wie eine „Kammer“. Die Wörter „Himmel“ und (das ursprünglich lateinische) „Kammer“ und dann auch das Wort „Hemd“ (italienisch zum Beispiel „camera“ und „camicia“), das ja auch etwas Einhüllendes bezeichnet, haben dieselbe Wurzel: die indogermanische Silbe „kam“, später im Deutschen „hem“. Die Schwaben sagen ja auch „Hemmed“ („Hemd“) und „Hemmel“ („Himmel“), ändern also lediglich die Endsilben. Und diese indogermanische Stamm-Silbe „kam“ hatte eben die Bedeutung von „Decke“ und „Hülle“. Ist das nicht sehr interessant? Wenn wir beten: „Unser Vater im Himmel“, dann sagen wir im Deutschen nicht: „Unser Gott, weit entfernt, irgendwo in den Sphären“, sondern: „Unser Vater, und unsere Mutter zugleich, die uns umgeben, uns einhüllen, wie eine Decke“. Wird nicht Matthias Claudius Abendlied von solchen Vorstellungen und Gefühlen geprägt? Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt. Matthias Claudius hat hier etwas getroffen, was die Menschen seitdem so sehr anspricht, weil sie es so sehr brauchen. Auch wenn sie lediglich das Volkslied singen, bestätigen sie immer wieder 137 dessen religiösen Kern. Es spricht aus ihm das Bedürfnis nach einem Zusammenhang der Dinge, nach der Überwindung von Gegensätzen, der Geborgenheit in Gott und zugleich ebenso „hier auf Erden“, hier in der Welt. Es geht um beides: den Wert des Tages und den der Nacht, Verstand und Gefühl, Geist und Körper, Erfahrung und Glauben, eine „männliche“ und eine „weibliche“ Sicht der Schöpfung, mit einem Wort, es geht um einen „huldvollen“ Gott. ANHANG: Andreas Gryphius Abend-Sonett Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn / Und führt die Sternen auff, Der Menschen müde Scharen Verlassen Feld und Werck / wo Tier und Vögel waren Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan! Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn. Gleich wie dies Licht verfiel / so wird in wenig Jahren Ich / du / und was man hat / und was man sieht / hinfahren. Dies Leben kömmt mir vor als eine Renne-Bahn. Laß höchster Gott / mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten / Laß mich nicht Ach / nicht Pracht / nicht Lust nicht Angst verleiten! Dein ewig-heller Glanz sei vor und neben mir / 138 Laß / wenn der müde Leib entschläft / die Seele wachen Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen / So reiß mich aus dem Tal der Finsterniß zu dir (1637) Paul Gerhardt Abend-Lied Nun ruhen alle Wälder / Vieh / Menschen / Städt und Felder / Es schläft die gantze Welt: Ihr aber meine Sinnen / Auf / auf / ihr sollt beginnen Was eurem Schöpfer wohl gefällt. Wo bist du / Sonne blieben? Die Nacht hat dich vertrieben / Die Nacht des Tages Feind: Fahr hin / ein andre Sonne Mein Jesus / meine Wonne / Gar hell in meinem Hertzen scheint. Der Tag ist nun vergangen: Die güldnen Sternlein prangen Am blauen Himmels-Saal: Also werd ich auch stehen / Wann mich wird heissen gehen Mein Gott aus diesem Jammerthal. Der Leib eilt nun zur Ruhe Legt ab das Kleid und Schuhe Das Bild der Sterblichkeit: 139 Die zieh ich aus / dagegen Wird Christus mir an legen Den Rock der Ehr und Herrlichkeit. Das Haupt die Füß und Hände / Sind froh dass nun zum Ende Die Arbeit kommen sey: Hertz freu dich: du solst werden Vom Elend dieser Erden Und von der Sünden Arbeit frey. Nun geht ihr matten Glieder / Geht hin und legt euch nieder / Der Betten ihr begehrt: Es kommen Stund und Zeiten / Da man euch wird bereiten Zur Ruh ein Bettlein in der Erd. Mein Augen stehn verdrossen Im huy sind sie verschlossen / Wo bleibt dann Leib und Seel? Nim sie zu deinen Gnaden / Sey gut vor allen Schaden / Du Aug und Wächter Israel. Breit aus die Flügel beyde O Jesu meine Freude / Und nim dein Küchlein ein / Will Satan mich verschlingen / So laß die Englein singen: Diß Kind sol unverletzet seyn. 140 Auch euch ihr meine Lieben Sol heute nicht betrüben Kein Unfall noch Gefahr: Gott laß euch ruhig schlafen Stell euch die güldnen Waffen Umbs Bett / und seiner Engel Schaar. (1648) Johann Wolfgang von Goethe Wanderers Nachtlied - Ein Gleiches Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vöglein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. (1780) Joseph von Eichendorff Mondnacht Es war, als hätt der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt. 141 Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus. (ca. 1832) 142 FRIEDRICH HÖLDERLIN NAH IST UND SCHWER ZU FASSEN DER GOTT Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. D as sind gewichtige, bedeutungsschwere Sätze. Sie sind ganz aus Widersprüchen aufgebaut. Aber sie wollen auch Mut machen, Mut, in den Widersprüchen unserer Existenz - Hölderlin muss sie, als er das schrieb, geradezu als Zerrissenheit empfunden haben - uns doch an den rätselhaft en Gott zu halten, und zugleich Mut zur diesseitigen, zeitlichen und damit wahrhaft menschlichen Zukunft. Wo stehen diese Sätze (Abgesehen davon, dass sie im Württembergischen Gesangbuch auf Seite 633 stehen)? Mit ihnen beginnt die Erste Fassung - es gibt noch Entwürfe und Fragmente zu drei weiteren Fassungen - der 1802 fertig gestellten Hymne Patmos. Sie ist „dem Landgrafen von Homburg“ gewidmet und wurde diesem am 6. Februar 1803 überreicht. So ist sie sehr genau datierbar. „Hymne“, der Titel „Patmos“, diese Widmung: Was heißt das, wie hängt das zusammen? Friedrich Hölderlin (1770-1843) war im Herbst 1802 zweiunddreißig Jahre alt und befand sich in sehr gedrückter Lage. Sein Leben war sehr unstet geworden. Mehrere Hauslehrerstellen hatte er kurz hintereinander aufgegeben, seine 143 Geliebte war gestorben, seine Geisteskrankheit war zum ersten Mal ausgebrochen, aber wieder vorübergegangen. Da vermittelte ihm sein Freund Isaak Sinclair, Jurist im Dienste des Landgrafen von Homburg, eines sehr religiösen Mannes, dessen Auftrag für eine Dichtung gegen die Theologie der Aufklärung, also, so kann man grob, aber nicht falsch sagen, gegen Lehren, die Gott zum Bauplan einer sich selbst regelnden Welt-Maschine verflüchtigten oder die Gott zum Postulat, zur Forderung reduzierten, zur Idee einer sich selbst begründenden Vernunft. Und der Anfang der Hymne trägt nun diesem Auftrag genau Rechnung. Der bestimmte Artikel „der Gott“ weist hin auf den lebendigen Gott, den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“, den Gott der Propheten und vor allem den des Neuen Testaments, der mehr ist als „der Gott der Philosophen“, so im siebzehnten Jahrhundert und seitdem viel zitiert der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal. An eine Philosophie des Weltganzen, des Weltsinnes, denkt Hölderlin freilich immer auch und er hält sie hoch. Aber er betont zugleich, dass auch als Idee des wahren Ganzen Gott nicht völlig rational zu begreifen ist. Der lebendige Gott ist ganz ursprünglich der „schwer zu fassende Gott“. Hölderlin orientiert sich hier auch bewusst eng an der Bibel. Die ganze Hymne ist in wichtigen Teilen überhaupt ein „Bibelgedicht“, eine freie dichterische Auseinandersetzung mit ausgewählten Texten der Bibel. Jemand wie Hölderlin las das Neue Testament auf Griechisch, das Griechische muss so etwas wie eine zweite Muttersprache für ihn gewesen sein. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt steht am Anfang des Johannes-Evangeliums: „Das Wort war bei dem Gott, und der Gott war das Wort“. Es geht nicht um irgendeinen, sondern um den einen und einzigen Gott, den lebendigen „Gott Abrahams, Isaacs und Jacobs“. Auch im zweiten Teil des ersten Satzes, wenn vom rätselhaften, rational, also nur mit der menschlichen Vernunft nicht aufzulösenden, nur „schwer zu fas- 144 senden“ Gott die Rede ist, versucht Hölderlin der Bibel möglichst nahe zu kommen. Denn wenn, ebenfalls am Anfang des Johannes- Evangeliums, der Evangelist vom „Licht“ und der „Finsternis“ spricht - mit dem Stichwort „Finsternis“ beginnt bei Hölderlin der dem Vorspruch folgende fünfte Vers -, dann ist das Wort, das dem folgt κατέλαβεν („katélaben“), kräftiger als das vor allem verstandesmäßige „Begreifen“, das die lateinische Bibel („comprehenderunt“) und dann Luther gewählt haben. Es kann in anderem Zusammenhang auch „erobern“ oder auch „rauben“ oder sehr anschaulich „sich anklammern“ heißen. „Nah ist der Gott“, so wie das Licht in der Finsternis scheint, und von uns doch „schwer zu fassen“, so wie bei Johannes die „Finsternis“ das Licht „nicht erfasst“, nicht „ergriffen hat“, so zum Beispiel die neuere so genannte Einheitsübersetzung. Hölderlin geht es offensichtlich, so wie schon dem Evangelisten Johannes, um ein „Fassen“, „Erfassen“ Gottes: nicht nur mit dem Verstand, sondern mit dem ganzen Gemüt, nicht zuletzt auch mit der ganzen Phantasie, mit dem ganzen Leben, zu dem auch der ganze Mut gehört. Auch die Form des Gedichts, eine „Hymne“ in so genannten „freien Rhythmen“ hat viel mit Hölderlins Vorhaben im Ganzen zu tun, den „schwer zu fassenden Gott“ mit allem Verstand und aller Phantasie ins Leben, ins ganze menschliche Leben zu holen, so dass wir daraus Mut fassen können. Was sind „freie Rhythmen“? Man hatte um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entdeckt, wie gut sich die Versformen der Antike im Deutschen neu verwirklichen ließen. Die starken Wortbetonungen und die relativ freie Wortstellung im Satz, wie sie unserer Sprache eigen sind, legten es nahe, auf neue Weise diese rhythmisch komplizierten, aber nicht gereimten Verse ins Deutsche zu übertragen. Hölderlin wurde ein, wenn nicht schlechthin der Meister dieser Art von Dichtung. Und man ging noch weiter. Man fügte diese rhythmischen Bausteine „frei“ zusammen. So entstanden Gedichte in 145 „freien Rhythmen“. Der Anfang der Hymne Patmos beispielsweise: „Nah ist und schwer zu fassen der Gott“, ist recht deutlich dem griechischen „Chorjambus“ nachgebildet, also der sehr markanten rhythmischen Figur, mit der in der griechischen Tragödie der Chor auftritt und oft gedankenschwere, sentenzartige Wahrheiten in den Raum stellt. Vergleichen Sie etwa im Hinblick auf den Sprechrhythmus den Anfang von Hölderlins Hymne: Náh ist und schwér zu fássen der Gótt, und den berühmten Choreinsatz: Pólla ta déina k‘úden anthrópou deinóteron Schrécklich ist víeles, Níchts aber Schrécklicher als der Mensch, aus der Antigone des Sophokles! Oder achten Sie zum Beispiel darauf, wie Hölderlin den Satz gegen den normalen Sprechfluss in den Vers bringt: „Wó aber Gefáhr ist, wáechst / das Réttende áuch.“ Die Rettung soll ganz wörtlich, ganz rhythmisch, ganz nah aus der Wahrnehmung einer Gefahr „heraus-wachsen“. Die wichtigste Form dieser frei-rhythmischen Gedichte war eben die „Hymne“: eine persönlich gesprochene, in der Ich-Form gehaltene Verbindung von Erzählung, Erlebnis und Reflexion, und vor allem eine Anrede an eine höhere Macht. Die Hymne war so auch eine Form, um dichterisch mit Gott und von Gott zu reden, auf intensive, gedanklich gegliederte und zugleich sehr lebendige, dem freien Fluss der Gedanken und dem Flug der Vorstellungen gemäße Weise. Und dieses fließende, frei immer neu rhythmisierte Sprechen ist dann die Form, um dem programmatischen Titel Patmos gerecht zu werden. Patmos ist die griechische Insel, auf der der Seher Johannes, der Verfasser der Offenbarung 146 des Johannes, gelebt hat. Für Hölderlin ist dieser Seher, dieser Prophet, der Gottes Stimme gehört, der mit Gott geredet hat, ein Vorbild, ein unerreichbares Vorbild gerade für den Dichter; und nur in Annäherungen, mit Rückschlägen, nur bildhaft, oft nur in Andeutungen kann er diesem Vorbild nachdichten. Auch wenn der spätere Dichter an seiner Aufgabe scheitert, ein - wie immer fernes - großes, geradezu zwingendes Vorbild bleibt dieser „Seher“ Johannes für ihn. „Das Heilige sei mein Wort“: Das war eines der Ziele, wenn nicht das Ziel überhaupt, das Hölderlin sich für seine Dichtung gesetzt hatte. Eine Annäherung, eine Reise, eine Reise der Gedanken und Vorstellungen, eine Reise der Phantasie nach Patmos, um dem Seher nahe zu kommen und durch ihn Christus - „Johannes. Christus. Diesen möcht ich singen“ heißt es in einer späteren Fassung -, das ist der inhaltliche Zusammenhang der Hymne. „Als ich ihn von Patmos [her] hörte“, sagt der Dichter im Gedicht, „verlangte mich sehr, dort einzukehren“. So beginnt der Hauptteil der Hymne. Freilich, dieses „Verlangen“ enthält in der Sehnsucht auch sogleich Schmerz. Denn die Ankunft auf der Insel vergleicht der Dichter mit der eines „Fremden“, oder wie „wenn vom Schiffbruch“ man sich rettet, oder dass man „klagend um die Heimat“ irgendwo ankommt, wie jemand, der vertrieben wurde, oder auch, dass man sich fühlt, wie jemand, der trauernd um einen „abgeschiedenen Freund“ Trost sucht. Wir hören bei aller Freude der Ankunft heraus, dass diese Reise der Sehnsucht auch etwas von einer Flucht hat oder etwas von Exil. Ist hier nicht doch recht deutlich, wenn auch nur mittelbar, bereits auch wieder von einer „Gefahr“ die Rede, gegen die der Dichter in Patmos wie ein Schiffbrüchiger „Rettung“ sucht und neuen Mut fassen will? Es ist auf alle Fälle eine suchende Reise, von der dieses Gedicht handelt. Und das, was gefunden wird, hat für uns heute etwas Überraschendes, entsprach aber zu Hölderlins Zeit noch einer weit ver- 147 breiteten Meinung. Denn von den Inhalten der biblischen, auf der Insel Patmos geschriebenen, Offenbarung des Johannes ist in der Hymne Patmos überraschend wenig die Rede. Für Hölderlin sind eben noch der „Seher Johannes“, der Verfasser der Offenbarung, sowie der „Jünger Johannes“, der „Lieblingsjünger“ Jesu, und schließlich auch der „Evangelist Johannes“ - historisch sind das drei durch Jahrhunderte getrennte, ganz verschiedene Personen-, für Hölderlin sind sie, bzw. ist „er“ ein und derselbe Gesprächs- Partner. Die Insel Patmos, so Hölderlin, „tönt“, als der Dichter auf seiner Zeit- und Gedankenreise dort ankommt, noch immer „liebend […] von den Klagen des Mannes“, der dort einst im Exil lebte. In der Erinnerung wird Johannes dann gegenwärtig, De(r) Seher […], der in seliger Jugend war Gegangen mit Dem Sohne des Höchsten unzertrennlich [und er sah] Das Angesicht des Gottes genau, Da, beim Geheimnisse des Weinstocks, sie Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmahls. Und in der großen Seele, ruhigahnend, den Tod Aussprach der Herr und die letzte Liebe, denn nie genug Hatt er von Güte zu sagen Der Worte, damals, und zu erheitern, da Er sahe, das Zürnen der Welt. Denn alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon. Und es sahn ihn, wie er siegend blickte, Den Freudigsten die Freunde noch zuletzt. Ich habe etwas länger zitiert, um einen Eindruck davon zu geben, wie diese Hymne klingt. Was der Dichter auf Patmos findet, vermittelt durch die zum Vermittler schlechthin gesteigerte Figur 148 des Jüngers, Erzählers und Sehers, sind Stationen aus dem Leben Jesu. Und es sind die Stationen, die ihrerseits etwas Vermittelndes, Verbindendes, etwas von „communio“, von Gemeinschaft, Gespräch, geistiger und seelischer Kommunikation haben. So sieht Hölderlin das letzte Abendmahl und so sieht er vor allem dann noch einmal das Pfingstwunder: Die Jünger trauerten und wollten von Jesus nicht lassen. Drum sandte er ihnen Den Geist, und freilich bebte Das Haus und die Wetter Gottes rollten Ferndonnernd über Die ahnenden Häupter, da, schwersinnend Versammelt waren die Todeshelden. „Todeshelden“? Hölderlin sieht in den Aposteln vor allem Märtyrer: Man hört bereits die neuerliche Wendung in dieser Gedankenreise heraus. Geradezu hart hatte die Zeile geklungen: „Denn alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre zu sagen davon.“ Hölderlin springt, wenn er durchaus innig und bewegt über das Leben Jesu Christi spricht, er springt geradezu vom Abendmahl über den nur kurz genannten Tod Jesu sogleich an den Schluss des Johannesevangeliums: „Es sind auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat“, wollte man sie erzählen, „die Welt würde die Bücher nicht fassen“. Und von da geht Hölderlin gleich in die Apostelgeschichte mit dem Mittelpunkt des Pfingstereignisses. Ostern wird ganz übersprungen, als wollte Hölderlin sagen: Alles war gut, so lange Jesus lebte und lehrte und mit seinen Jüngern sprach, „denn nie genug hatt er von Güte zu sagen“, aber jetzt ist Jesus tot, als sei er nicht, genauer: noch nicht, auferstanden. Denn auch die Passion wird ganz verklärt und als 149 ein freies Abschiednehmen Jesu gesehen, verschmolzen mit der Himmelfahrt: Jetzt, da er scheidend Noch einmal ihnen erschien Denn jetzt erlosch der Sonne Tag, Der Königliche, und zerbrach Den geradestrahlenden, Den Zepter, göttlichleidend, von selbst. Da Hölderlin die Bibel ja nicht irgendwie ersetzen, sondern mit ihr reden und sie auf seine Weise, seine besondere Weise, dichterisch lebendig machen will, wäre es ziemlicher Unsinn, jetzt mit einer bibeltreuen Kritik daher zu kommen. Es geht um die Frage, was diese bewussten Verkürzungen und Betonungen hier sagen und bedeuten sollen. Die Antwort gibt die nächste Zeile: Jesus „zerbrach“ Den Zepter, göttlichleidend, von selbst Denn wiederkommen sollt er, Zu rechter Zeit. Dies, der Blick in die Zukunft, markiert den entscheidenden Wendepunkt in dem Gedicht. Die Zeitreise kehrt sich um. Sie hatte in die Vergangenheit geführt, um Jesus möglichst nah zu kommen, und sie führt dann zurück in die Zeit seitdem, in die eigene geistige Gegenwart. Und darüber hinaus ist der Blick des Dichters, der sich da herumbewegt in der Geschichte, vor allem auf die Zukunft gerichtet. Es ist nur eine kurze Notiz: „Wiederkommen sollt er / Zu rechter Zeit“, aber hinter allem, was jetzt kommt, steht die Frage, wie diese Welt der „Güte“, der „Freude“, der „Liebe“, von der Jesus, so Hölderlin, „nie genug […] zu sagen“ hatte, auch die „Abgründe 150 an Weisheit“, die er hinterließ, wie das zukünftig wiederkehren, ja, wie es eigentlich erst verwirklicht werden soll. Diese Erwartung, die suchende Reise in die Zukunft, macht aber zunächst die wieder gefundene Gegenwart noch fremder und kälter. Zwar heißt es einerseits: „Noch lebt Christus“; aber das ist, hört man genau hin, bereits ein schneidend zwiespältiger Satz, als könnte auch die Kunde von Christus, das Evangelium, endgültig sterben. Vergleichbar heißt es ja auch: „Aus heiliger Schrift“ fällt „stilleuchtende Kraft“, aber die scheint nur in heimeligen, jedoch begrenzten kleinen Gemeinschaften und in der „Stille“ zu wirken. Hölderlin kann sich auch Zeiten vorstellen, in denen „sein Angesicht der Höchste wendet“, in denen Gott die Welt nicht mehr ansieht. Und dann können auch die Menschen „nicht fassen […] einander, die zusammenleben“, so dass auch „Menschliches unter Menschen nicht mehr gilt“. „Zu lang schon ist / Die Ehre [des] Himmlischen unsichtbar.“ „Furchtbar ist wie […] / Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott“; furchtbar ist, wie Geschichte und Gegenwart, das wäre „das Lebende“, wie das, was die Menschheit erschaffen hat, wie die historischen und gegenwärtigen Ereignisse und Institutionen jede „göttliche“, sinnerfüllte Welt-Ganzheit „zerstreut“ und zerrissen haben. Von der Gedankenreise nach Patmos in die Gegenwart zurückgekehrt findet der Dichter erst recht eine Welt voll „Gefahr“. Klingt dann nicht auch der immer noch festgehaltene Vorsatz des Dichters, dem Vorbild des Sehers Johannes nachzueifern - „das Heilige sei mein Wort“ - eher wie ein Irrealis und eine Frage? So hätt ich Reichtum. Ein Bild zu bilden, und ähnlich Zu schaun, wie er gewesen, den Christ [? ] Auf alle Fälle führt die Hymne, die Reise in die Vergangenheit und nach Patmos, an ihren Anfang zurück: die Gegenwart, und zurück 151 zur eigentlichen Aufgabe des Dichters, seinen „Deutschen Gesang“, wie er zum Schluss genannt wird, gewissermaßen wach zu rufen. All dem, was bis jetzt in der Hymne Patmos gesagt, bedacht und gefordert wurde: „Dem folgt Deutscher Gesang“. Das mag selbstbewusst klingen, aber lässt die Hymne solches Selbstvertrauen zu? Und vor allem: Wenn wir auf den Anfang zurück blicken, klingt es jetzt nicht eher wie ein Wunsch, fast wie ein Gebet, als wie eine Gewissheit, wenn Hölderlin sagt: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“? Müsste man nach aufmerksamer Lektüre der Hymne nicht eher den Anfang neu verstehen: „Wo aber Gefahr ist“, gib Herr, dass auch „das Rettende“ in uns stark werde, in uns „wachsen“ möge? Ich habe bis jetzt allerdings nur einen einzigen gedanklichen Weg, nur einen Bedeutungsstrang, einen Diskurs, wie man heute sagt, dieser dichterischen Reise nachgezeichnet. Das Gedicht hat 226 Zeilen, enthält also noch vieles, was ich nicht ansprechen konnte. Aber wir können jetzt trotzdem fragen: Was heißt hier „Gefahr“, was wäre „das Rettende“? Wie hängt beides zusammen? Es scheint tatsächlich so, als hätte Hölderlin vorhergesehen, dass sein Wort von Gefahr und Rettung, und natürlich ohne Hinweis auf den „schwer zu fassenden Gott“, heute sehr oft, fast, nein sicher, zu viel und viel zu beliebig zitiert wird, etwa wenn eine Bank in die Krise oder wenn ein Fußballverein in die Abstiegszone gerät. Und dabei wird dann eben immer erst nach dem „aber“ mit dem Zitat begonnen: „Rettung“ soll es ohne den Gottesbezug geben, also ganz wörtlich auf „gottlose“ Weise, irgendwie automatisch, in allen beliebigen Situationen und zu individuell egoistischen Zwecken. Doch genau das, diese Gottvergessenheit, oder, wie Philosophen manchmal sagen, die „Seinsvergessenheit“ ist nach Hölderlin die „Gefahr“: Zu lang schon ist „Die Ehre [des] Himmlischen unsichtbar“, „Furchtbar ist wie […] Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott“. Und dann können auch die „Menschen […] nicht fassen ei- 152 nander“, so dass dann auch „Menschliches unter Menschen nicht mehr gilt“. Die Gottferne und die Zerrissenheit der Welt ist hier ein und dieselbe Gefahr. Wie aber soll darin „das Rettende wachsen“? Es gilt einen wichtigen Zwischengedanken zu begreifen. Hölderlin drückt diese Zerrissenheit der Welt gleich zu Beginn seiner Hymne als „Wohnen auf getrenntesten Bergen“ aus. Auf den Bergen meint man Gott nahe zu sein, aber, so Hölderlin, man hat ihn auch für sich vereinnahmt. Gott aber „hasst allwissende Stimmen“, drückt es der Dichter einmal ganz alttestamentarisch-drastisch aus. Man kann Gott auch „hinwegschwätzen in sich“, sagt er nicht weniger drastisch, schwäbisch-drastisch, an anderer Stelle. Und dabei kann man Gott durch vieles verdrängen, ersetzen und unter dem Namen von irgendetwas Absolutem zu „fassen“ meinen: Macht, Geld, auch Gelehrsamkeit, das Selbstvertrauen der Aufklärung oder auch religiöse Intoleranz. Mit der isolierten, vermeintlichen Gottnähe wächst die Zerrissenheit der Welt und sie ist zugleich die „furchtbare, unendliche Zerstreuung Gottes“ von der Hölderlin spricht. In diesem Sinne beginnen die drei Neufassungen der Hymne Patmos ganz anders und doch zugleich in genauer Entsprechung zur ersten, und seitdem gültigen Fassung, also zum „schwer zu fassenden Gott“. Dreimal nämlich noch beginnt Hölderlin so: Voll Güt ist [ist Er, ist Gott, können wir ergänzen] [Voll Güt ist]. Keiner aber fasset Allein Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. „Keiner aber fasset allein Gott“: Hätte ich jetzt nur diese Variante zum Anfang der Hymne Patmos vorgestellt, mir scheint, diese „Literaturpredigt“ wäre bereits gerechtfertigt. Denn dieser isolier- 153 te, von Einzelnen zu ihren Zwecken „allein gefasste“ Pseudo-Gott kann vieles sein, und so sind auch die Gefahren der Zerrissenheit vielfältig. Hölderlin hatte erlebt, wie die ganzheitlichen Ideen der französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, an denen er zeitlebens festhielt, in isolierten Machtkämpfen buchstäblich zerrissen wurden, bis die Napoleonischen Kriege Europa geradezu umpflügten. Wir wissen, wie die industriellen Revolutionen, die Ende des achtzehnten Jahrhunderts begonnen haben, inzwischen immer neue Unterdrückungen und Ausbeutungen ermöglichen. Das kann auch bis in die individuelle Psyche reichen. Auch die Übermacht einer Idee kann die Gedanken zerreißen. Es ist erschütternd zu lesen, wie allmählich Hölderlins eigene Texte, zum Beispiel eben die späteren Fassungen der Hymne Patmos buchstäblich in Teile zerfallen, die nicht mehr zusammenfinden. Auf „getrenntesten Bergen“ wohnen die Menschen, die Politiker, die Philosophen, aber zum Beispiel auch „die Liebenden“, wohnen die Gedanken und Ideen, jeder vermeintlich seinem Gott am nächsten. Wir verstehen jetzt vielleicht besser: Der schwer zu fassende Gott ist der rettende Gott. Aber auch in uns Menschen soll in der Gefahr „das Rettende wachsen“. Wie können wir - und Hölderlin bleibt genau im Bild von den „getrenntesten Bergen“ - wie sollen wir „Brücken über den Abgrund weg“ finden? Hölderlin sagt ja wohlgemerkt nicht, dass wir in allen Gefahren bereits gerettet seien. Das Rettende „wächst“ nur. Es gilt, die „Gefahr“ als Chance zu begreifen. Eine Gefahr ist ja nicht eine dumpfe und vage Bedrohung, auch nicht ein Gegenstand lähmender Angst. Eine Gefahr ist etwas, was wir erkennen und begreifen können, und nur so „ist“ sie für uns. „Wo aber [eine] Gefahr [erkannt und begriffen] ist, wächst das Rettende auch“: Diese noch sehr allgemeine Bedeutung wird vom weiter und tiefer führenden Sinn des Hymnen-Anfangs ja nicht durchgestrichen. Wie viel größer die Chance, wenn wir die Gefahr aller Gefahren, „Gott allein fassen“ 154 zu wollen, überhaupt erst begreifen. Genau dazu will Hölderlin mit seinem Gedicht helfen. Erst wenn wir die Gefahr der Gottferne bei vermeintlicher Gottnähe und ihre Entsprechung, die Zerrissenheit der Welt, überhaupt begreifen, kann das Rettende wachsen. Denn erst dann bekommt das, was Hölderlin ganz bescheiden und fast wie ein Gebet anfügt: „So gib uns“ Gott, „treuesten Sinns / Hinüberzugehn und wiederzukehren“, eine doch wohl sehr weit reichende Bedeutung. „Hinüberzugehn und wiederzukehren“: Das scheint wenig, aber wenn es, wie mehrfach gesagt, um „getrennteste Berge“ geht, dann ist es fast verzweifelt viel. Doch dazu gibt es, so Hölderlin, keine Alternative, und genau das ist die Chance. In der Gefahr der Trennungen und Zerrissenheiten zwischen Gott und Mensch und Mensch und Mensch wächst die rettende Energie nur, wenn wir den je eigenen Berg-Gipfel, auf dem wir die Wahrheit bereits zu „fassen“ meinen, verlassen, um Schritt für Schritt, sei es noch so mühsam, „hinüberzugehn“ um „wiederzukehren“, immer wieder, immer tiefer hinab, immer höher hinauf. Wir verstehen jetzt auch, warum die Hymne Patmos im Ganzen die Form einer Reise hat: eine Reise in Gedanken, eine Reise in der Zeit, eine Reise in die Überlieferung und dann zurück in die Gegenwart, und in Gedanken und im Glauben auch eine Reise in die Zukunft hinein, aber auch eine Reise zu anderen, und immer eine Reise in die Fremde, kein einfacher Spaziergang, sondern durchaus mühsam, mit Hölderlins Worten, auch hinauf auf die „Gipfel der Zeit“ und hinunter in die „Abgründe der Weisheit“ - groß und gefährlich zugleich -, die die Geschichte eröffnet. Vor allem anderen aber soll diese Reise hinführen, gerade das sagt ja die Hymne Patmos, in die „Abgründe der Weisheit“, die Jesus Christus hinterlassen hat. Hat nicht Gott in Christus gegenüber uns Menschen genau dies getan, „hinüberzugehn“ in die völlige Fremde, um „wiederzukehren“? 155 „Nah ist“, „voll Güte ist […] der Gott“, aber auch, und auch darin zeigt sich seine „Güte“, „schwer zu fassen“. Der „schwer zu fassende“ ist der „gütige“, der gnädige „Gott“. Denn so erst braucht es alle menschliche Kraft, immer wieder „hinüberzugehn und wiederzukehren“. „Hinüberzugehn und wiederzukehren“ zwischen allen Widersprüchen unserer Existenz, die so gesehen als Chance begriffen, als Möglichkeit der Rettung „erfasst“ werden können. Wir sollen ihnen nicht ausweichen, sondern in ihnen Mut fassen, nicht zuletzt Mut zur Zukunft. Denn, so sagt Hölderlin sehr anschaulich, gerade nicht dem, der auf seinem „Gipfel […] wohnen“ bleibt, sondern dem, der sich geistig auf Reisen begibt, ist Gott nah: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. 156 ELSE LASKER-SCHÜLER ICH SUCHE ALLERLANDEN EINE STADT Gelobt seist Du Ewiger, unser Gott! […] Du begnadest den Menschen mit Erkenntnis und lehrst den Menschen Einsicht, begnade uns von Dir mit Erkenntnis, Einsicht und Verstand! Gelobt seist Du Ewiger, der Du mit Erkenntnis begnadest! M ein heutiger „Kanzelgruß“ ist der vierte Absatz der so genannten Amida, eines wichtigen jüdischen Gebets, einer Art jüdisches Vaterunser, das ein frommer Jude täglich „stehend“ - Amida heißt: „Gebet im Stehen“ - sprechen soll. Diese Bitte um Erkenntnis steht also an der Stelle, an der Christen um das „tägliche Brot“ bitten. Bemerkenswert, nicht? Und für eine „Literatur-Predigt“, in der es um ein ausgesprochen jüdisches Gedicht in einem evangelischen Gottesdienst geht, was könnten wir uns da Besseres wünschen, als die „Gnade der Erkenntnis, der Einsicht und des Verstands“? Denn Else Lasker-Schülers Gedicht Gebet - Sie finden es auf Seite 327 im Evangelischen Gesangbuch für Württemberg, allerdings nur in einer gekürzten Fassung - ist ein tief religiöser, aber auch ein recht bizarrer Text, verfasst von einer sehr exzentrischen Dichterin. Sie wurde 1869 in Wuppertal geboren und starb 1945 in Jerusalem. Säße sie, so wie sie sich kleidete und zurechtmachte, heute hier unter uns in der Kirche, viele würden sie wohl verwundert anstarren. Mancher bzw. manche würden vielleicht sa- 157 gen: „Ha no! “ Und genauso exzentrisch wirkt vielleicht zunächst dieses Gedicht. So stelle ich meiner heutigen Literaturpredigt zuerst einmal zwei Bibelstellen aus dem Neuen Testament voran, die uns vielleicht auf diesen eigenwilligen Text zu führen. Zunächst eine Stelle aus dem Brief des Paulus an die Epheser, deren erster Teil seit langem als ganz zentrale Anweisung zum rechten lutherischen Glauben gilt. Mir kommt es heute allerdings auf den zweiten Satz an: Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch den Glauben - und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es - nicht aus den Werken, auf daß sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken. Epheser 2, Vers 8-10. „Wir sind sein [also Gottes] Werk“. In der englischen King James- Bibel steht hier: „We are his workmanship“ / „wir sind Gottes vollendetes Werk“, oder auch: „An uns beweist Gott seine Handwerkskunst“. Und ich habe einmal einen Pfarrer (Keith Owen) in Cornwall darüber predigen gehört, der geradezu die Lesart vertrat: „Wir sind Gottes Kunstwerk“. Ein interessanter, sympathischer Gedanke, dachte ich, aber doch ein wenig ausgefallen, geradezu exzentrisch, oder? Also habe ich nachgeschlagen. Und im griechischen Original steht nun tatsächlich ein noch viel interessanteres Wort, bei dem ein Philologe, ein „Freund der Rede“, erst recht aufhorcht: „Wir sind sein ποίημα (poiema).“ Das heißt sicher zuerst: „Wir sind von Gott gemacht“. „Factura“ / „Gemachtes“, übersetzt die lateinische Vulgata-Bibel, „ouvrage“ / „Arbeitsergebnis“, „Werkstück“, steht in der Version synodale, der Bibel der französischen Schweiz, „wir sind seine Kreatur“, sagt die vor allem bei den Katholiken benutzte deutsche Einheitsübersetzung. In der alten Welt nämlich gab es keine Trennung von Handwerk einerseits 158 und „Kunst“ andererseits. Und die griechischen Worte wie „poiema“ oder „poietike“ bedeuteten damals zwar in der Tat „gemacht“ und „Lehre vom Machen“, aber schon früh bedeuteten sie vor allem eben „Gedicht“ und „Dichtung“. Und so leben sie bis heute als die Fremdworte „Poetik“ und „Poem“ fort. Wenn also die Bedeutung zumindest mitschwingt: „Wir sind Gottes Gedicht“, „wir sind Gottes Kunstwerk“, sollte Gott da nicht gerade auch die Künstler und Dichter und ihre „guten Werke“ besonders lieben und ermuntern, auch wenn sie für ihre Mitbürger exzentrisch, ja manchmal auch - „Ha no! “ - ein bisschen verrückt wirken? Dass sie, gerade als Dichterin, „Gottes Kunstwerk“, „Gottes Gedicht“ ist, davon war jemand wie Else Lasker-Schüler tief überzeugt: „Zebaoth […] Du Dichter“ sagt sie geradezu. So hat sie nicht nur ihre „Gotteslieder“ gesungen, das hat sie ganz wörtlich und total zu leben versucht: „Gottes Gedicht“ zu sein. Und noch mehr lässt eine zweite Stelle aus dem Neuen Testament sogleich an Else Lasker-Schüler und eben ihr Gebet: „Ich suche allerlanden eine Stadt […]“ denken. Wahrscheinlich haben auch die Herausgeber unseres Gesangbuches diesen Zusammenhang gesehen, als sie dieses Gedicht aufgenommen haben. Es ist die nahezu gleich klingende Jahreslosung für 2013 aus dem Hebräerbrief: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Und es lohnt sich erst recht, deren direkten Kontext kurz zu betrachten: Wir haben einen Altar, davon nicht Macht haben zu essen, die der Hütte pflegen. Denn welcher Tiere Blut getragen wird durch den Hohepriester in das Heilige für die Sünde, deren Leichname werden verbrannt außerhalb des Lagers. Darum hat auch Jesus, auf daß er heiligte das Volk durch seine eigen Blut, gelitten draußen vor dem Tor. 159 So lasset uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Hebräer 13, 10-14 Der Hebräerbrief, entstanden etwa 70 Jahre nach Christi Geburt, will die damals schon weit verstreut in der „Diaspora“ lebenden „hebräischen“, also jüdischen Christen dazu ermahnen, nicht wieder zu ihren alten gewohnten Überzeugungen und Gebräuchen zurück zu kehren. So soll nicht nur der „Hohepriester“ kein Privileg mehr haben im Zugang zu „heiligen“ Dingen: Gott hört auf alle Menschen und wendet sich jedem zu. Noch viel kühner und radikaler liest sich die Verbindung zwischen Jesus und den „außerhalb des Lagers verbrannten Leichnamen“ der Opfertiere. Jesu „Opfertod“ nimmt eine jüdische Tradition auf, die des „Opferlamms“ am Vorabend des Pessach-Festes. Aber Jesu Tod gleicht nun geradezu provozierend nicht mehr dem Opfer, das im Allerheiligsten im Inneren des Tempels vollzogen wird, sondern dem Teil des Opfers, der traditionell als unbrauchbar, als Abfall, ja geradezu als „schmachvoll“, also verachtenswert galt. Das bedeutet nicht nur eine kühne Umkehr aller gesellschaftlichen Rangordnungen - „lasset uns Jesu Schmach teilen“ -, Jesus hat auch ein neues Verständnis für Zeit und Geschichte und Veränderung gebracht. Wir sollen uns nicht festsetzen, nicht einmauern, in Traditionen und Lehren: „Lasset uns hinausgehen aus dem Lager“, aus dem befestigten Lager unserer Überzeugungen und Gewohnheiten, „hinausgehen zu Jesus“. Jesus nachfolgen heißt ruhelos leben und immer wieder und ganz radikal zu Neuem aufbrechen. Und dann spricht der Folgesatz: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, nicht von einer Strafe, einem Verhängnis oder gar einem Fluch. Was für die Adressaten des Hebräerbriefs nach der Zerstörung Jerusalems 160 und nach ihrer eigenen Vertreibung in alle Welt wie eine Strafe erschienen sein mag, „hier keine bleibende Stadt“ zu haben, das, so sagt der Verfasser des Briefs, ist auch eine Chance, die Chance, unser Heil, unsere Heimat nicht in der Vergangenheit zu betrauern und in der Gegenwart zu vermissen, sondern in der Zukunft zu suchen. Dass die Vertreibung aus der heiligen „Stadt“, die Ruhelosigkeit des „Suchens“, der Schmerz des „gebrochenen Flügels“, das „Wandeln in der Nacht“, dass all dies nicht nur eine Strafe ist, sondern eben auch ein Chance, das prägt, so scheint mir, Else Lasker-Schülers Gedicht mit dem bezeichnenden Titel: Gebet Ich suche allerlanden eine Stadt, Die einen Engel vor der Pforte hat. Ich trage seinen großen Flügel Gebrochen schwer am Schulterblatt Und in der Stirne seinen Stern als Siegel. Und wandle immer in der Nacht… Ich habe Liebe in die Welt gebracht - Daß blau zu blühen jedes Herz vermag, Und hab ein Leben müde mich gewacht, In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag. O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest; Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest, Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt, Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt, Und sich ein neuer Erdball um mich schließt. 161 Es ist bezeichnend, dass der Verfasser des Hebräerbriefs den Satz: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, mit einem „denn“ beginnt. Er begründet so die Aufforderung, „hinaus zu gehen zu Jesus“ und setzt voraus, dass seine Leser diese Erfahrung der Ruhelosigkeit teilen. Oft argumentiert der Verfasser dieses Briefs ja fast wie ein Jurist, wenn er die Botschaft von Jesus geradezu aus dem Alten, besser, aus dem Ersten Testament und überhaupt aus jüdischen Traditionen zu begründen versucht. Und die Wahrheit, „hier keine bleibende Stadt zu haben“, kann in einem alten Nomaden-Volk, das z.B. noch heute Steine auf die Gräber legt, weil vor langer Zeit so die Toten beim Weiterziehen vor Tieren geschützt wurden, diese mit „denn“ eingeleitete Wahrheit kann als Grundlage weiterer Argumentation vorausgesetzt werden. Das Exil damals und die jüdische Geschichte seitdem haben solche Erfahrungen freilich wesentlich tiefer und schwerer eingeprägt. „STADT“, „ENGEL“, „STERN“ Diese „Stadt, in der wir nicht bleiben können und die wir zukünftig suchen“ - „allerlanden“, in allen Ländern durch die wir gewandert sind, so Else Lasker-Schüler -, das konnte im ersten wie im 20. Jahrhundert für jeden Juden zunächst einmal nur die Stadt Jerusalem sein. In der bereits genannten Amida, einer Art von jüdischem Vaterunser, wird Jerusalem noch zwei Mal erwähnt. Der feierliche „Seder“, ein Festmahl am Vorabend des „Pessach“- Festes, endet rituell mit dem Abschiedsgruß: „Nächstes Jahr in Jerusalem! “ So könnte man noch viel anführen. Die gesuchte Stadt ist die verlorene Stadt. Der Hebräerbrief ist wenige Jahre nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer unter dem späteren Kaiser Vespasian geschrieben worden. Es war auf 162 leidvolle Weise klar, dass „wir keine bleibende Stadt“ haben. Wenn Else Lasker-Schüler von dem „Engel vor der Pforte“ spricht, dann verbindet sie den Gedanken an die Vertreibung aus Jerusalem sogar mit dem an die Vertreibung aus dem Paradies - „und Gott stellte den Cherub vor den Garten Eden“ (1. Mose 3, Vers 24) -, eine sehr aufschlussreiche Erinnerungs-Klammer. Die jüdische Religion und die jüdische Kultur sind ganz wesentlich Kulturen der Erinnerung. So passen zwischen die Erinnerung an die Vertreibung aus dem Paradies und die bis heute lebendige Erinnerung an die Vertreibung aus Jerusalem noch viele weitere Erinnerungen: der Auszug aus Ägypten, den viele ja wie eine Vertreibung empfanden, der jahrelange Zug durch die Wüste, dann insbesondere die erste Zerstörung und Vertreibung durch die Babylonier 587 vor Christus, dann die durch die Römer im Jahr 70 und erneut 135, man kann auch an die Eroberung Jerusalems durch so genannte „christliche“ Kreuzfahrer am Ende des 11. Jahrhunderts erinnern, als am 15. Juli 1099 mehrere tausend Juden zusammen mit den Moslems der Stadt ermordet wurden. Auf alle Fälle gehört in diese Kette von Erinnerungen auch die an die Vertreibung der Juden 1492 aus Spanien, nach der so genannten christlichen „Zurück-Eroberung“ von den Mauren (an der auch unser hier beerdigter Georg von Ehingen mit gewirkt hat); auf spanische Juden führt Else Lasker-Schüler die Geschichte ihrer eigenen Familie zurück. Es folgen seit dem Mittelalter die Vertreibungen aus deutschen und europäischen Territorien bis zu den Pogromen des 19. Jahrhunderts in Russland. Und damit ist die Erinnerungs-Klammer noch immer nicht geschlossen. Unser Gedicht wurde 1916 erstmals veröffentlicht, da lag vieles noch in der Zukunft; an Jerusalem als Teil eines Staates Israel war kaum zu denken. Aber spätestens für uns heute gehört zu dieser „Kette von Erinnerungen“ auch die Erinnerung an die massenhafte Flucht von Juden vor den Nazis aus Deutschland und Europa. 163 Else Laker-Schüler wird 1933 selbst davon betroffen sein. Sie war zeitlebens ein völlig unpolitischer Mensch; die Nazis waren für sie einfach Teil einer „verrohten Welt“. Dass sie dann aber auf offener Straße von der SA mit einem Knüppel geschlagen werden konnte, eine kleine, absolut friedliche 64-jährige Frau, war für sie so ein Schock, dass sie sofort und so gut wie mittellos nach Zürich floh, wo sie zunächst buchstäblich auf Parkbänken schlief, die Polizei sie aufgriff, erst dann Freunde und überhaupt die literarische Welt sich um sie kümmern konnten, freilich auch neuer Antisemitismus sich ihr in den Weg stellte - ein „Bleiberecht“ in der Schweiz hat sie nie erhalten - und so fort. Gehört diese Art von „Suche“ nach ihrer eigenen „Stadt“ heute nicht auch untrennbar zu unserem Gedicht? Wir werden immer wieder sehen, wie die für uns seitdem vergangene Zukunft unseres Gedichts diesem weitere und inzwischen nicht mehr zu übersehende Bedeutungsdimensionen hinzufügt. Und der Schmerz, den solche Erinnerung schon für Else Lasker-Schüler bedeutete - die schwere Last des „gebrochenen Flügels“ am „Schulterblatt“, also nahe am Herzen -, wird für spätere Leser nur noch größer. Doch wenn man sich nur ein wenig in ihren Gedichten umschaut, dann ist nicht zu übersehen, dass Else Lasker-Schüler mit diesen Motiven auch spielt, auch mit den jüdischen Erinnerungen, selbst mit den Schmerzen. „Ich bin eine Hebräerin“, sagt sie selbst, aber das ist sie auf eigenwillige, durchaus rebellische Art. So identifiziert sie sich etwa recht provozierend, in bewusster „tausendstämmiger Erinnerung“, wie sie sagt, mit der biblischen Eva und feiert deren so genannten „Sündenfall“ - der ja zur Vertreibung aus dem Paradies führte, vor dessen „Pforte“ fortan eine „Engel“ Wache hält -, Evas „Essen vom Baum der Erkenntnis“ wird für die Dichterin ein befreiender Aufbruch zu etwas Neuem: „Wilder Eva, bekenne schweifender, / Deine Sehnsucht war die Schlange […] Wilder Eva, bekenne reißender, / Den Tag, den du Gott abrangst, 164 / Da du zu früh das Licht sahst. […] Du bist vertreiben wie ich / […] Als das Glück des Erkenntnistags aus mir schrie / Und seines Genießens Todesangst“. Oder sehen wir uns weiter um: „Engel“ gibt es viele in Else Lasker-Schülers Gedichten. Eines ihrer vielen Liebesgedichte endet mit dem Satz: „Ich glaube wir sind Engel“. In einem anderen sieht sie am Ende ihren Geliebten auffällig gleich zur zweiten Zeile unseres Gedichts wartend an der „Pforte“ eines verlorenen und wieder gesuchten Liebes-Paradieses: „Aber du stehst am Tor der [verheißenen] Stadt / und wartest auf mich, du Großengel.“ Insbesondere ihre Mutter - Erinnerungen an eine sehr glückliche, wenn auch weitgehend häuslich isolierte Kindheit voller phantasievoller Erzählungen und Spiele ziehen sich durch ihre Dichtungen und Briefe -, gerade ihre Mutter wird mehrfach in Else Lasker-Schülers Gedichten bezeichnet als „der große Engel, / Der neben mit ging“, „Meine Mutter hatte goldene Flügel, / Die keine Welt fanden“, „Mein Herz brennt unter dem Schulterblatt […] für meine Mutter“. Aber etwa auch, um ein letztes Beispiel zu nennen, „Rebekkas Magd“, eine in Legenden überlieferte Geliebte der biblischen Brüder Esau und Jakob, scheint an anderer Stelle nach dem Bild der eigenen Mutter und der Dichterin selbst entworfen; wie bezeichnend diese Identifikation mit einer Außenseiterin der Heilsgeschichte! Und das geschieht mit deutlichen Anklängen an unser Gedicht: „Aus Rosenblättern trägt die Engelin ein Hemde / Und einen Stern im Angesicht.“ Was ist dann eigentlich diese „allerlanden gesuchte Stadt“? Jerusalem, biblisches Paradies, Liebes-Paradies, Sehnsucht-Land der Kindheitserinnerung oder irgendein anderer „Fetzen Paradies“, von dem die Dichterin einmal spricht? Nicht nur verwandelt sich all dies am Ende der dritten Strophe in einen von Gott erbetenen „neuen Erdball“. In der von ihr selbst gezeichneten Illustration zu unserem Gedicht - Else Lasker-Schüler war eine dichterisch-bildnerische Doppelbegabung; dass sie dieses Gebet an den Anfang ei- 165 ner 1923 erschienenen, limitiert gedruckten „Prachtausgabe“ ihrer Gedichte und Lithographien stellte, zeigt, für wie wichtig sie es hielt -, hier steht unter der gezeichneten Vision einer orientalischen Stadt nicht der Name „Jerusalem“, sondern „Theben mit Jussuf “. 166 t Else Lasker-Schüler: Theben mit Jussuf 167 „Theben mit Jussuf “? Mit Theben ist das ägyptische Theben der Antike gemeint, das so genannte „hundert-torige“ Theben; der Name „Jussuf “ spielt auf den biblischen Josef an, den Träumer und Wahrsager, der nach Ägypten verkauft wurde, aber dort zu Macht und Ansehen kam und auch im Exil seinem Volk treu blieb. Und das ist der Schlüssel: Als „Jussuf, Prinz von Theben“ bezeichnete Else Lasker-Schüler sich selbst. Denn sie sieht sich zuhause, ja als die Herrscherin in einem Reich der Träume, der Phantasie, einem Reich der Dichtung und Liebe, einem ihr eigenen Reich, das freilich nicht von dieser Welt ist. So hat sie sich in ihrem gezeichneten Theben - interessanterweise als das einzige menschliche Wesen dort - auch selbst dargestellt: beheimatet in dieser „gesuchten Stadt“, aber auch fern von der bekannten Welt und zugleich wie eingeschlossen, ja gefangen in diesem wirren Haufen von leeren Häusern, gefangen in ihrem eigenen phantastischen Reich. Wie hängt das alles zusammen? Dies ist ein „pluraler Text“, mit vielen Bedeutungen, aber dabei geht es keinesfalls beliebig zu. Else Lasker-Schüler will in ihrem Lebensweg als Dichterin auf ihre Weise den Weg ihres Volkes durch die Geschichte fortsetzen. So knüpft sie ihre eigene Kette von Erinnerungen hinein in die ihres Volkes: ihr „Kindheits-Paradies“ etwa verbindet sie mit der verlorenen Heimat ihrer Vorfahren in Spanien, ihr Liebes- Paradies mit dem des zu suchenden „Neuen Jerusalem“ und dieses wieder mit ihrem Phantasie-Reich „Theben“, die biblischen Engel als Boten und lebendige Taten Gottes verbinden sich für sie mit der Erinnerung an ihre Mutter und an die Gedanken an ihre Geliebten. Keine dieser verknüpften Bedeutungen verdeckt die anderen. Wer eine Art „Klartext“ sucht, eine „eigentliche“ Bedeutung, will eigentlich nicht solche Gedichte lesen. Aber alle Glieder der Erinnerungs-Kette und des Text-Gewebes kommentieren einander und machen einander immer neu lebendig. 168 Das gilt auch für die letzte Zeile der ersten Strophe: „Und [ich trage] in der Stirne seinen Stern als Siegel“. Der „Stern“ Davids ist ein jahrtausende altes „Siegel“ des Judentums. Ein „Siegel“ ist ein direktes Zeugnis, oft bezeugt es einen Vertrag. Fromme Juden binden sich zum Gebet mit dem „Gebetsriemen“ das „Schama Israel“ (5. Mose 6, Vers 4: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott“) und andere Bibelstellen mitten auf die Stirn: ein Zeugnis ihrer Verbundenheit mit Gott. Else Lasker-Schüler zieht beides, den „Stern“ und das „Zeugnis auf der Stirn“, zu einer einzigen Vorstellung zusammen. (Der rhetorische Begriff dafür heißt Metonymie): „[Ich trage] in der Stirne [s]einen Stern als Siegel.“ In ihren Gedichten kommen „Sterne“ so oft vor wie „Engel“, manchmal scheinen beide Bezeichnungen geradezu austauschbar. Als Kind in Wuppertal soll sie oft vor dem Bild ihres Ur-Ur-Großvaters gestanden haben, der Ober-Rabbiner von Westfalen war und in der Familie wie ein Heiliger verehrt wurde. So wie katholische Kinder sich bekreuzigten - die evangelischen riefen ihr Spott und Bosheiten hinterher -, so hat sie sich „besternt“; und diese Geste hat sie auch später beibehalten. Der „Stern“ ist das „Siegel“ ihrer jüdischen und ihrer persönlichen Identität. Sie hat ihn, wenn sie ihn „in der Stirne“ trägt, ganz wörtlich verinnerlicht. So leuchtet der „Stern“ in einem anderen Text auch aus ihrem „Auge“. Anderswo allerdings kann der „Stern“ auch ganz einfach Mit- Juden bezeichnen („Früher […] gaben sich die Sterne die Bibel zu lesen“), oder kann überhaupt verehrte oder geliebte oder ihr nahe stehende Menschen nennen, so wie etwa in ihrem vielleicht berühmtesten Gedicht Mein blaues Klavier - das stand einst in ihrer Puppen-Stube -, auf dem „spielten Sternenhände vier“, und so fort. Und natürlich bleibt die direkte Bedeutung der Sterne immer bestehen, die einfach schön sind und über den Himmel verstreut an Gottes wunderbare Schöpfung erinnern. Alles ist ganz spielerisch gesagt, und zugleich spürt man den existentiellen Ernst dar- 169 in. Wenn der „Stern“ oder der „Engel“ in dieser Lyrik zur „Chiffre“ werden, dann sind alle diese „Chiffren“ im Grunde immer nur Verkürzungen von Erinnerungen, von Ketten von Erinnerungen, letztlich Verkürzungen von Geschichten: einfach in ihrer bildlichen Kraft und zugleich auf phantastische Weise rätselhaft; sie werden vertraut, weil sie immer wieder vorkommen, und bleiben zugleich faszinierend fremd, so dass sie immer neue und vor allem eben viele Deutungen verlangen. EXPRESSIONISMUS Das hat freilich nicht nur etwas Rätselhaftes - „ich bin [ein] Hieroglyph“, sagt die Dichterin -, es hat auch etwas in sich Kreisendes und Weltfremdes, was zu dem Ruhelosen passt. Wer „allerlanden“ herumsucht, ist nirgends zu Hause. Seit Else Lasker-Schüler sich etwa dreißig Jahre alt von ihrem Mann Berthold Lasker trennte und überhaupt aus allen bürgerlichen Ordnungen so gut wie ausbrach, hat sie kaum einmal einen festen Wohnsitz gehabt, ihre zweite Ehe hielt nicht lange, sie wohnte in Hotels oder Pensionen, war viel auf Vortragsreisen, lebte bei Freunden - sie hatte viele Freunde - oder bei Leuten, die ihre Dichtung fördern wollten. Und ihr Exil hat das noch einmal intensiviert. Und wer so in Gedanken und in der Sprache herum wandert, entlang wandert an Ketten und Kreisen von Erinnerungen und Orientierungen, der bewegt sich wie in einem Labyrinth, oder, wie die zweite Strophe beginnt, er bzw. sie „wandelt immer in die Nacht“. Dieses „Wandern durch die Nacht“ (so in einer variierten Fassung unseres Gedichts), „Ringen mit der Nacht“, das „nächtliche Wachen“ und so fort, das ist freilich auch ein oft verwendetes Motiv, fast ein Klischee der künstlerischen Bewegung, der Else Lasker-Schüler von Anfang an angehört hat, des so genannten „Expressionismus“. 170 Die zweite Strophe unseres Gedichts ist die am deutlichsten expressionistische. Darauf weist der typische Zeilen-Stil hin, der ja auch etwas von einer suchenden Wanderung hat: Jede Zeile bringt etwas Neues, oft eine Überraschung oder einen Widerspruch. Darauf weist etwa auch die kühne Farb-Metapher hin, dass „blau zu blühen jedes Herz vermag“. Unser Gedicht ist der Erinnerung an den Maler Franz Marc gewidmet, mit dem Else Lasker-Schüler befreundet war, und der auch Illustrationen zu ihren Gedichten beigetragen hat; und so wie dieser etwa „blaue Pferde“ oder „rote Wiesen“ malte, so gehen auch viele expressionistische Dichter mit den Farben um. Da geht es nicht in erster Linie um „Expression“. Das wäre nicht spezifisch genug: Alle Kunst ist „Ausdruckskunst“. Der Name für diese Bewegung entstand als Gegenentwurf zum „Impressionismus“. Statt der dort charakteristischen Farbübergänge setzte man jetzt Farb-Flächen gegeneinander und betonte die Konturen. Maler wie Dichter suchten Kontraste, Verfremdungen und spannungsreiche Wechselwirkungen. Im Satz etwa: „Daß blau zu blühen jedes Herz vermag“, lädt das „Blühen“ die an sich kühle Farbe auf mit vitaler Energie, und das „Blau“ gibt der so „erblühenden“ Liebe etwas Befreites und Unendliches. Und auf den Expressionismus weist auch die Vorstellung einer „Welt“ hin, die wie ein Glas Wein „vergossen“ werden kann: „Wenn der letzte Mensch die Welt vergießt“. „Expressionismus“ bedeutete oft Protest, Aufstand gegen überholte, beengende Konventionen im Leben wie in der Kunst: Da war Else Lasker-Schüler von Anfang an entschieden dabei. Das Beschwören von Bildern eines „Weltendes“, auch das Spiel mit solchen Bildern, war lange charakteristisch für diese Bewegung. Provokation verband sich - Widersprüche gehören ja zum Prinzip - durchaus auch mit Angst, besser, einem Gemisch aus Faszination und Angst vor den zivilisatorischen und technischen Entwicklungen und deren vielleicht bedrohlichen Folgen, die das 20. Jahrhundert ja vielfach und oft 171 schlimmer bewahrheitet hat, als diese Dichter es sich phantastisch ausmalen konnten. Uns heute ist leider der Gedanke geläufig, dass durch ein technisches Versehen, so wie man ein Glas umwirft, eine „Welt“ zerstört werden kann. Auch jetzt also gibt seine vergangene Zukunft dem Gedicht neue Bedeutungen. Solche Zerstörungsvisionen waren damals weit verbreitet. Die immer noch repräsentative Sammlung expressionistischer Gedichte, erstmals 1920 erschienen, in der auch unser Gedicht enthalten ist, trägt den Titel Menschheitsdämmerung, das war durchaus ein Programm. Und zeittypisch ist auch die Rede vom „poète maudit“: dem Dichter, der Dichterin, als verachtete Außenseiter, die die bürgerliche Gesellschaft wie den „Rest“ in einem „kugelförmigen“ Wein-„Glas“ wegschüttet; für Else Lasker-Schüler war diese Situation ja durchaus von bitterer Wahrheit erfüllt. Umso dringender sucht sie ihre Phantasie-Heimat „Theben“, deren „Prinz“ sie ist. Und umso wichtiger wird, in ihrer eigenen, bizarren Bildlichkeit, das Programm: „Jussuf geht zu Gott“. GEBET Vom „Weltende“ und dem Dichter als Außenseiter haben viele damals gedichtet, und viele konnten das vielleicht besser. Authentisch dagegen und als Dichterin bis heute unvergessen, viel gelesen und zitiert, ist Else Lasker Schüler wegen ihrer Liebeslyrik. Ihr Weltende überschriebenes Gedicht, um nur zwei Beispiele zu nennen, mündet in die Zeile: „Du! Wir wollen uns tief küssen“; ihr berühmtes Gedicht Versöhnung spielt auf den „Versöhnungstag“ Jom Kippur an, den höchsten jüdischen Feiertag, und ist zugleich ein intimes, privates Liebesgedicht: „Und unsere Lippen wollen sich küssen […] Wir wollen uns versöhnen die Nacht.“ Der weitaus größte Teil ihres Werks sind Liebesgedichte, sie verliebte sich 172 überhaupt oft, so dass die Zeile: „Ich habe Liebe in die Welt gebracht“, durchaus gerechtfertigt ist. Und authentisch ist Else Lasker-Schüler in ihrer religiösen Lyrik, ihren „Gottesliedern“, wie sie sie selbst nennt. So ist die dritte Strophe das eigentliche Gebet in unserem Gedicht, und man merkt beim Lesen sofort, dass hier die Sprache ganz neue und tiefe Kraft gewinnt. Else Lasker-Schüler stammt aus dem „Reform- Judentum“, das in Deutschland im 19. Jahrhundert entstanden ist. Die in den Medien so präsenten „orthodoxen“ sind ja nicht die Juden schlechthin. Die erste weibliche Rabbinerin wurde 1934 in Berlin in ihr Amt eingeführt. Wann gab es die erste evangelische Pfarrerin, wann wird es die erste römisch-katholische Priesterin geben? Ich selbst - da ich mir jetzt, zum Thema jüdische Theologie, noch weniger als zur Theologie überhaupt, ein fundiertes Urteil zutraue, gehe ich von meinen begrenzten persönlichen Begegnungen aus -, bin dieser entschieden modernen Ausprägung des Judentums in den USA begegnet, genauer an der jüdisch geprägten, sehr angesehenen Brandeis-Universität, mit der wir von Augsburg aus einen ständigen Austausch pflegen. Und die aufgeklärte Frömmigkeit, Toleranz, Liberalität und wahrhaft oekumenische Gesinnung dieser jüdischen Gemeinde haben mich tief beeindruckt. “Élu v’ Élu Divré Elohim Chayyim“ (Diese und diese auch [also mehrere Aussagen] sind die Worte des lebendigen Gottes). Reflexions On Religio-Spiritual Pluralism (Überlegungen zum religiös-spirituellen Pluralismus), so lautet die Überschrift eines Aufsatzes, den Rabbi Albert S. Axelradt mir geschenkt hat. Ich habe mit ihm auch über meine „Literaturpredigten“ gesprochen, und er hat mich in diesem Projekt bestärkt. Auf alle Fälle hatte ich dieses Motto vor Augen, als ich mich entschied, mich mit diesem ausgesprochen jüdischen Gebet Else Lasker-Schülers zu beschäftigen. 173 „Diese und diese sind die Worte des lebendigen Gottes“: Das ließe sich gerade auch zu den „Gottesliedern“ anmerken, die Else Lasker-Schüler in ihren Gedichten „singt“. Gott ist der eine und einzige, aber er spricht zu uns auf vielerlei Weise, und wir dürfen ihn auf vielerlei Weise anrufen. So ist Gott hier oft auch der, von dem man fern sein kann - „O Gott, o Gott, wie weit bin ich von dir! “ -, den man anruft - „Gott hör! “ heißt es immer wieder -, aber der manchmal nicht antwortet. Freilich, Gerschom Scholem schreibt über diesen berühmten „verborgenen Gott“ des Ersten Testaments und des Judentums: Wenn er sich verbirgt, so ist es nicht, weil er seiner Natur nach verborgen wäre, sondern weil wir seiner Offenbarung nicht würdig sind, weil wir einen Schleier um ihn gelegt haben, den wir selber hervorgebracht haben. Das gäbe sicher noch viel zu denken. Eine der berühmtesten Stellen aus Else Lasker-Schülers Lyrik, aus dem Gedicht Mein Volk lautet: […] Und immer, immer noch der Widerhall In mir, Wenn schauerlich gen Ost Das morsche Felsgebein, Mein Volk, Zu Gott schreit. Der so angesprochene, „schreiend“ angerufene Gott ist wohl auch gemeint, wenn es für Gott immer möglich bleibt, dass er uns, bzw. „mich wieder aus der Allmacht [fallen] läßt“. Dass Gott uns aus seiner „Allmacht läßt“, das war schon 1916 eine leidvolle und von 174 Verzweiflung erfüllte Vorstellung. Und sie kündigt gewissermaßen noch mehr Leid und Verzweiflung an. Auch jetzt hat eine Zeit, die damals noch Zukunft war, heute aber vergangen ist, dem Gedicht neue und seitdem unabweisbare Bedeutungen hinzugefügt. Dass Gott Menschen, die sich zu ihm bekennen, dass er große Teile seines erwählten Volkes aus seiner „Allmacht“ heraus fallen „läßt“, das war ein Gedanke, den die „Schoah“, die Verfolgung und industriell organisierte Ermordung von Millionen Juden durch die Nazis, unabweisbar machte. In Auschwitz, wo war da der gerechte, wo war da der „allmächtige“ Gott? Die Frage treibt einen, treibt nicht nur Juden noch heute um. Eine einzige, tief jüdische Antwort nur will ich anführen: Wir können hier, im Angesicht von Auschwitz, von Gottes Gerechtigkeit nicht reden, ja, Gott ist schuldig geworden, schreibt sinngemäß Elie Wiesel, aber wir wollen, wir müssen weiter zu ihm beten. Gegenüber Gott, der uns auch aus seiner „Allmacht fallen lassen“ kann, wird bereits in unserem Gedicht das Gebet umso dringender. Und auch die gegensätzlichen Vorstellungen von Gott - das Dichten und Malen in Kontrasten ist ein Kennzeichen des Expressionismus - gewinnen an Relief. Es überrascht wohl niemanden mehr, dass Else Lasker-Schüler von Gott auf vielerlei Weise spricht: „So komme doch, / Du süßer Gott, Du Gespiele Gott“, oder „So viel Gott strömt über“, oder „Es ist ein Weinen in der Welt, / Als ob der liebe Gott gestorben wär“, oder wiederum „Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen, / Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen“ in einem Gedicht, das ganz einfach heißt An Gott. Dieser so vielfältig angerufene, ganz „ferne“ und ganz „nahe“ Gott hat dann auch Verständnis für sein ihn so exzentrisch suchendes und auf so bizarre Weise frommes Dichter-Kind: „Du wehrtest meiner Laune nicht / Gott, wo bist du? “ Bei aller Vielfalt der „Gotteslieder“, nein, gerade in dieser Vielfalt wirkt das Gebet: „O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest“, 175 ganz und gar nicht wie eine „Laune“. Es wirkt ehrlich und authentisch. Wie so oft kann man authentische Aussagen daran erkennen, dass sie zur Antwort, zum Gespräch und zur Teilnahme einladen. Das wahrhaft „Besondere“ ist wahr für viele, ja für „Millionen“, lautet sinngemäß eine der weisesten Maximen und Reflexionen des alten Goethe. In diese Gebete Else Lasker-Schülers können viele, können auch wir einstimmen. Worum soll man beim Gebet um Gottes Güte, Schutz und Fürsorge - „schließ um mich deinen Mantel fest“ - nicht auch an den „guten Hirten“ denken, also an die in Christus offenbarte Liebe Gottes? Liest man eben diese Zeile - dies ist ein pluraler Text - im Sinne des 104. Psalms („Licht ist dein Kleid das du anhast“), wer wollte nicht mit beten: „Gott nimm mich auf in den ewiges Licht“? Und ist die Bitte, dass „ein neuer Erdball mich umschließt“ nicht eine Bitte, die nun in der Tat Juden und Christen gemeinsam beten: „Dein Reich komme“? Erlauben Sie, ich bin ja nun kein Theologe, zum Schluss noch eine philologische, ja, eine germanistische Anmerkung! Eine „germanistische“ Anmerkung? Wie grässlich! Ich habe bisher immer so getan, als ob in dem „Ich“ des Gedichts einfach die Dichterin selbst spräche. Aber die „Ich-Dissoziation“, wie es im Germanisten- Jargon heißt, das Verlorene Ich der expressionistischen Lyrik, so Gottfried Benn, gilt auch hier. „IchundIch“, das sind verschiedene Personen, „mein Herz ist eine Bühne“ und so fort, sagt gerade auch Else Lasker-Schüler. Wie könnte sie auch anders von sich selbst reden? Eine Methode, dieses sich oft verkleidende, widersprüchlichen Ich zu verstehen, ist es, dass man versucht, das „ich“ in andere Personalpronomina, andere Fürwörter, zu übersetzten. Das „Ich“ der ersten Strophe zeigt sich körperlich und in seiner geprägten Identität. Man könnte auch „Wir“ sagen, aber das wäre ein sich abgrenzendes „Wir“: „Wir und nicht Ihr“. Die zweite Strophe ließe sich auch viel distanzierter in die dritte Person übersetzten: „Sie“, von der ich hier erzähle. Die dritte Strophe aber er- 176 laubt das „Du“, nicht einfach irgendwie alle, sondern jeder und jede Einzelne, „Du“ und „Du“ und „Du“ kannst hier mit beten. Und aus dem Gebet wird in der Form des „Du“ ein Segen: Der Herr hülle Dich ein in den Mantel seiner Liebe! Auch wenn Du denkst, Du bist ganz allein und verachtet, Auch wenn Du an der Welt verzweifelst, Der Herr erhalte Dich in seiner Allmacht Und schenke Dir neues Leben! ANHANG: ELSE LASKER-SCHÜLER Mein Volk Der Fels wird morsch, Dem ich entspringe Und meine Gotteslieder singe …. Jäh stürz ich vom Weg Und riesele ganz in mir Fernab, allein über Klagegestein Dem Meere zu. Hab mich so abgeströmt Von meines Blutes Mostvergorenheit. Und immer, immer noch der Widerhall In mir, 177 Wenn schauerlich gen Ost Das morsche Felsgebein. Mein Volk, Zu Gott schreit. (1905) Versöhnung Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen … Wir wollen wachen die Nacht, In den Sprachen beten Die wie Harfen eingeschnitten sind. Wir wollen uns versöhnen die Nacht - So viel Gott strömt über. Kinder sind unsere Herzen, Die möchten ruhen müdesüß. Und unsere Lippen wollen sich küssen, Was zagst du? Grenzt nicht mein Herz an deins - Immer färbt dein Blut meine Wangen rot. Wir wollen uns versöhnen die Nacht, Wenn wir uns herzen, sterben wir nicht. Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen. (1910) 178 Mein blaues Klavier Ich habe zu Hause ein blaues Klavier Und kenne doch keine Note. Es steht im Dunkel der Kellertür Seitdem die Welt verrohte. Es spielten Sternenhände vier - Die Mondfrau sang im Boote. - Nun tanzen Ratten im Geklirr. Zerbrochen ist die Klaviatür. Ich beweine die blaue Tote. Ach liebe Engel öffnet mir - Ich aß vom bitteren Brote - Mir lebend schon die Himmelstür, Auch wider dem Verbote. (1937) 179 BERTOLT BRECHT TRAUE NICHT DEINEN AUGEN Traue nicht deinen Augen Traue deinen Ohren nicht Du siehst Dunkel Vielleicht ist es Licht. D as Gedicht aus Bert Brechts Nachlass wurde erstmals 1967 veröffentlicht: im Band 10 der Gesammelten Werke (so genannte Kleine Werkausgabe). Von da wohl ist es in das Evangelische Gesangbuch für Württemberg gelangt, wo Sie es auf der Seite 180 finden können. Diese kleine Überlieferungsgeschichte ist insofern nicht unwichtig, als Elisabeth Hauptmann, die Herausgeberin der Kleinen Werkausgabe, eine langjährige Mitarbeiterin Brechts, dieses Gedicht noch auf die erste Nachkriegszeit datiert hatte: „um 1949“, also bald nach Brechts Rückkehr aus dem Exil. Dann hätte sich das „Dunkel“ auf die Schwierigkeiten des Neuanfangs, die deutsche Teilung, den beginnenden Kalten Krieg und so fort beziehen lassen, aber das „Licht“ wäre - mit Verlaub - doch wohl etwas beliebig zu deuten gewesen, als irgendwie irgendetwas Positives, nicht? Und das Gedicht, das damals unter der gemeinsamen Überschrift Sprüche unserem Text direkt vorher ging: 180 Als ich mich herumgetrieben Habe ich nichts aufgeschrieben Weiß nicht, wo mein Hut geblieben Weiß nicht, wo die vorigen sieben, ganz klar ein Gedicht über die Befindlichkeit Brechts nach dem Exil, würde dieses Moment des Beliebigen nur noch betonen. Denn müsste man in dieser Folge der zwei Gedichte nicht lesen: „Es ist mir so viel Verschiedenes begegnet, mein Ansehen in der Welt (mein Hut) ist so gut wie verloren, viel habe ich sogar vergessen, auch was ich jetzt sehen oder hören muss, gefällt mir nicht, manches kann ich wohl gar nicht recht erkennen, nun ja, vielleicht kommt jetzt auch einmal etwas Erfreuliches daher? “ Aber die Herausgeber unseres Gesangbuchs haben natürlich diesen damals durchaus klar behaupteten engen Kontext (Sprüche I und II) unterschlagen. Er hätte kaum zum Thema Epiphanias und zu J.G. Herders Lied O Morgenstern, du Licht vom Licht - irdisches Licht als Abglanz des ewigen Lichts - gepasst. Oder würde ihnen der Gedanke gefallen: „Wenn ‚Licht‘ hier irgendetwas Erfreuliches ist, dann kann man ein Gedicht darüber ja wohl auch für das ‚ewige Licht‘ der Erlösung durch Christus vereinnahmen, denn ‚Epiphanias’, das hat doch irgendwie etwas mit irgend so einem ‚Licht‘ in der Welt zu tun, oder? “ Diese Lesart liegt nun allerdings nicht mehr auch nur irgendwie nahe. Denn inzwischen gibt es die so genannte Große kommentierte Werkausgabe, und hier wurde nicht nur die damalige Verbindung zweier ganz unterschiedlicher Gedichte unter der Überschrift Sprüche aufgelöst, unser Gedicht wurde auch auf eine ganz andere Zeit datiert, nämlich 17 Jahre früher auf das Jahr 1932. Damit erhält es einen ganz anderen Deutungsrahmen. Wie können, ja müssen wir es dann also jetzt verstehen? 181 Das „Licht“, von dem jetzt die Rede ist, muss im Kontext des Jahres 1932 wesentlich ernster, engagierter, auch politischer verstanden werden. Und genau damit nimmt es recht genau auch die religiöse Herkunft dieses Symbols auf. Das „Licht“ ist durchgehend in der Bibel ein, wenn nicht überhaupt das wichtigste Zeichen der Macht und Güte Gottes: vom „Es werde Licht! “ der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1, 4) bis zur Bezeichnung Jesu als das „Leben und […] das Licht der Menschen“ (Johannes 1, 4). Das „Licht“ steht in der Bibel für das Heil der Welt. Diese biblische Bedeutung hat Bert Brecht übernommen. Sie wird keineswegs durch die sozial-politisch engagierte Lesart im Kontext der Lehrstücke - wir kommen noch darauf zurück - negiert. Die christliche, auf alle Fälle religiöse Bedeutung von „Licht“ wird nicht „durchgestrichen“, auch wenn sie von Brecht „überschrieben“ wird, sie bleibt prägend und lesbar. Insofern ist es völlig in Ordnung, dass dieses Gedicht im Gesangbuch steht, auch wenn dies sicher nicht in Brechts Sinne wäre. Er kannte die Bibel sehr gut und benutzt sie ständig. Das Deutsch der Übersetzung Martin Luthers gehört zu seinen wichtigsten sprachlichen Vorbildern. Auf eine Umfrage der Berliner Zeitung Die Dame, welches Buch auf ihn „den stärksten Eindruck“ gemacht habe, antwortete er am 1. 10. 1928: „Sie werden lachen: die Bibel“. Wenn es also völlig klar ist, dass Brecht hier mit dem „Licht“ das Heil der Welt meint, so klar muss es auch sein, es hat keinen Sinn, sich da etwas vorzumachen, dass dieses „Licht“ hier für Brecht nur eine ganz atheistische Bedeutung haben kann. Eine heile, eine bessere Welt folgt weder aus der Güte Gottes, noch kann man auf sie im Glauben an die Erlösung durch Christus hoffen. Das „Licht“ bei Brecht ist keinesfalls, wie bei Herder, irdisches „Licht“, das „vom Licht“ Gottes kommt. Für die Verwendung seines Gedichts an dieser Stelle in unserem Gesangbuch hätte Brecht bestenfalls Spott übrig gehabt. Berühmt ist etwa seine Parodie des Chorals 182 Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren aus seiner frühen Gedichtsammlung Hauspostille. Brechts Großer Dankchoral schließt mit den Versen: Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels! Und daß er nicht Weiß euren Nam und Gesicht Niemand weiß, daß ihr noch da seid. […] Schauet hinan: Es kommet nicht auf euch an Und ihr könnt unbesorgt sterben. Wir sollen, so Brecht, dankbar dafür sein, dass es keinen Gott über uns gibt, der uns kennt und angeblich behütet, der uns aber auch überwacht. Wer an keine ewige Strafe glaubt, braucht auch keine Gnade und kann „beruhigt sterben“. Aus dem Jahr 1931, also etwa aus der Zeit unseres Gedichts, stammt ganz in diesem Sinne der folgende provozierende Text: Das Proletarierunser Proletarierunser, der du bist im Bergwerk, geheiligt werde deine Namenlosigkeit, dein Reich komme, dein Wille geschehe in Rußland, also auch in Deutschland! Deinen täglichen Mitgliedsbeitrag gib uns heute und vergib unsere Bildung, wie auch wir vergeben, wo gebildet ist. Man kann sehen, wie konsequent Brechts Atheismus durchdacht ist. Er sagt nicht: „Ich weiß nicht, was ich glauben soll“, auch nicht: „Das interessiert mich nicht“; er sagt: „Es ist falsch und schädlich, 183 an eine göttliche Erlösung für uns Menschen zu glauben“. Aber, und das ist ebenfalls sehr klar zu erkennen, hier wird nicht nur über das christliche Vaterunser gespottet. Der Spott richtet sich genauso, ja noch mehr, gegen jede Auffassung des Kommunismus als eine Ersatzreligion, die jetzt also vom „Proletariat“ - was immer das sein soll - die Erlösung der Menschheit einfordern will. Das sah Brecht schon damals angesichts der Zerstrittenheit der verschiedenen „linken“, also sozialistischen Parteien in Deutschland, angesichts der großen Erfolge der Nationalsozialisten, angesichts des beginnenden Stalinismus in Russland - von den linientreuen Kunst- und Literatur-Ideologen der Moskauer Emigranten- Zeitschrift Das Wort wurde Brecht vehement angegriffen und so fort -, Brecht sah diese quasi-religiöse Überhöhung einer sozialistischen Doktrin als eine gefährliche Illusion, mindestens genauso gefährlich wie „die Religionen“, die er zeitlebens „bekämpfte“. Auch für den so genannten „Prolet-Kult“ - „und vergib uns unsere Bildung“ - hatte Brecht schon damals bestenfalls Spott übrig. Auf alle Fälle ist das „Licht“, auf das in unserem Gedicht gehofft wird, kein irgendwie göttliches Licht. Das Licht einer besseren Zeit, einer freieren und gerechteren Welt, „das Werk der Verbesserung / Dieses Planeten für die gesamte lebende Menschheit“, so Brecht im selben Jahr, muss der Mensch selbst herbeiführen. Nur der Mensch selbst kann den Menschen erlösen: Daran hat Brecht zeitlebens festgehalten. Was also sagt unser Gedicht dann? Traue nicht deinen Augen Traue deinen Ohren nicht Du siehst Dunkel Vielleicht ist es Licht. Wie sollen wir uns den Übergang vom „Dunkel“ zum „Licht“ denken? Erlauben Sie ein paar Stichworte zum engeren, dichterischen 184 Kontext! Die Zeit um 1932 war für Brecht eine Zeit ausgesprochen kämpferischer, politisch-sozialistisch engagierter Dichtung, zum Beispiel im Kampf gegen die immer stärker werdende Nazi-Partei: Sie kamen mit blutroten Flaggen Und einem Kreuz daran Das hat einen großen Haken Für den armen Mann. […] Hitler verrecke Rassereines Vieh Sag zu welchem Zwecke Zahlt dich die Industrie? - um nur zwei seiner aggressivsten Verse zu zitieren. Und es war vor allem die Zeit seiner Lehrstücke wie Der Jasager und Der Neinsager oder Die Maßnahme. Sagt das etwas zu unserem Gedicht? Was die Lehrstücke offensichtlich mit unserem Text verbindet, was ihr Hintergrund zu dessen Verständnis beiträgt, ist zum einen, dass man sich nicht auf „objektive“ historische Gesetzmäßigkeiten verlassen kann. Die Weltrevolution und eine klassenlose Gesellschaft, allgemein gesprochen, das „Licht“ einer besseren Zeit, werden nicht aus dem „Dunkel“ gegenwärtiger Unterdrückung und Gewalt hervorgehen wie der Morgen und der Tag aus der Nacht. Wir müssen sie aktiv betreiben und tätig herbeiführen. Nur revolutionäre Arbeit kann die Welt wirklich verbessern, davon war Brecht tief überzeugt. Dieses historisch notwendige Verhalten muss man begreifen, muss man bewusst bejahen - ich erinnere an den Titel Der Jasager -, und man muss es eben ganz direkt „lernen“. Und eine Weise dieses Lernens ist es dann beispielsweise, dass man eben 185 im bewusst so genannten Lehrstück Formen revolutionärer Arbeit aktiv im Theater durchspielt und diskutiert. Dazu gehört, und das ist der zweite wichtige Zusammenhang, dass man lernt, genau „zu sehen“. „Glotzt nicht so romantisch! “, sagte Brecht zu seinem Publikum: Ein inzwischen berühmter Ausspruch. Das „Sehen“ hat bei Brecht einen hohen Stellenwert. Gerade in seinen nachdenklichen Gedichten, die oft erst aus dem Nachlass bekannt wurden, geht es immer wieder um das richtige Sehen. Mir fällt da etwa das Gedicht aus dem Jahr 1941 ein: Der Balken Sieh den Balken dort am Hang Aus dem Boden ragend, krumm und, ach Zu dick, zu dünn, zu kurz, zu lang. Einstmals freilich war er dick genug Dünn genug, lang genug, kurz genug Und trug mit drei anderen ein Dach. Brecht schlägt vor, dass wir in den Dingen des Alltags, und genauso auch, ja erst recht in gesellschaftlichen und historischen Situationen ihre Veränderbarkeit „sehen“: die Geschichte, die sie enthalten, aber auch ihr Potential an Zukunft, die in ihnen erkennbare Gefahr und ebenso auch ihren Horizont von Hoffnung. Anders gesagt: Immer wenn in Brechts Dichtungen vom „Sehen“ die Rede ist, dann ist auch das Denken mit gemeint, zum Beispiel, wenn wir uns ein Stück auf dem Theater „ansehen“. Was bedeutet das für den Kontext der Lehrstücke, was bedeutet das für unser Gedicht? Es kommt darauf an, so lässt sich ein Tenor der Lehrstücke zusammenfassen, wenn man für eine bessere Welt arbeiten, wenn man aus dem „Dunkel“ der Zeit ins „Licht“ treten will, nicht an vorgegebenen Denkmustern zu kleben. Es kann, wie 186 Die Maßnahme lehrt, besser sein, ein Elend nicht zu lindern, damit die Betroffenen anfangen, sich selbst zu helfen. Und genauso kommt es darauf an, nicht dem ersten Eindruck, dem ersten Gefühl oder dem ersten Gedanken zu „trauen“, sondern genau hin zu „sehen“. Müssen wir also im Kontext der Lehrstücke das Gedicht vielleicht so verstehen? [Wenn du engagiert das „Licht“ in der Welt suchst, denn anders nach „Dunkel“ und „Licht“ zu fragen, hat keinen Sinn. Und] du siehst [nur] Dunkel, [dann] traue nicht [gleich] deinen Augen, traue deinen Ohren nicht. Du siehst Dunkel [achte darauf, wie das Dunkel sich verändert und wie du es verändern kannst] Vielleicht ist es Licht. Denn das richtige „Sehen“, Denken und Handeln erst kann das erschließen, was Brecht damals sehr schön die „Verführung des Möglichen“ nannte: die schiere Möglichkeit einer Verbesserung der Welt, dass ein Weg gefunden wird, der endlich aus dem „Dunkel“ ins „Licht“ führen wird. So ist dann auch das „Vielleicht“ in der letzten Zeile unseres Gedichts genau platziert und sehr wichtig. Auch jetzt geben die Lehrstücke einen Hinweis. Es ist bezeichnend, dass Brecht nach dem Stück Der Jasager noch ein weiteres Stück mit dem Titel Der Neinsager geschrieben hat, in dem der Held sein früheres „Ja“ wiederruft: Die Antwort, die ich gegeben habe, war falsch, aber eure Frage war falscher. Wer a sagt, der muß nicht b sagen. Er 187 kann auch erkennen, daß a falsch war. [Es kommt darauf an], in jeder neuen Lage neu nachzudenken. Das ist Brechts (und anderer nicht-orthodoxer Marxisten) berühmte „offene Dialektik“, in der alle Voraussetzungen und vor allem alle Folgerungen immer korrigierbar sein müssen, und die Brecht selbst allerdings immer konsequenter dann vor allem später, also in der Zeit des Exils und danach ausgearbeitet hat. Damit geriet er auch in einen immer konsequenteren Gegensatz zur offiziellen Doktrin des „Marxismus-Leninismus“, oder, und erst recht dann zum Prinzip: „Die Partei hat immer recht“, in der DDR. Nach dem 17. Juni 1953 beispielsweise, als die SED unbeirrt auf ihrem Führungsanspruch beharrte, merkte Brecht sarkastisch an: […] Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes? Es galt jetzt erst recht, „in jeder neuen Lage neu nachzudenken“. In diesem Sinne schickte Brecht an den Vorsitzenden des Staatsrats der DDR ein Gedicht mit dem Die Wahrheit einigt, und verband dies mit der Bitte, dieses Gedicht öffentlich vorzulesen. Es endet mit den Zeilen: Freunde, ein kräftiges Eingeständnis [das Eingeständnis, Fehler gemacht zu haben] Und ein kräftiges WENN NICHT! Auf die Formel „Wenn nicht“, bzw. was dieser logisch entspricht, die Formel „nur wenn“, bzw. noch einmal umformuliert, „wenn, dann vielleicht“ - die Logiker nennen das eine „replikative“ Aus- Titel 188 sage: Die Voraussetzung ist gegeben, die Folge kann oder kann nicht eintreten (ex vero sequitur quidvis) - auf diese Formel hat Brecht seine „offenen Dialektik“ immer wieder gebracht. Und sie habe ich bereits als Erklärung zu unserem Gedicht Traue nicht deinen Augen hinzu gezogen: „Nur wenn“ du dich für das „Licht“ in der Welt einsetzt, und wenn du richtig „siehst“, wirst du „vielleicht“ den Weg vom „Dunkel“ ins „Licht“ finden. Es gibt, und bezeichnender Weise aus der Zeit des Exils, ein Gedicht, das diese Art zu denken konsequent auf des gesamte eigene, dichterische und politische Werk Brechts bezieht: Ich benötige keinen Grabstein, wenn Ihr keinen benötigt. Sonst wünschte ich, es stehe darauf: Ich habe Recht gehabt. Dennoch Habe ich gesiegt. Zwei Unzertrennliche Sätze. Hier spielt Brecht, der solche logischen Spiele liebte, mit der - entschuldigen Sie den Ausdruck - „kontrafaktischen Absurdität der Replikation“: Aus der wahren Voraussetzung folgt noch nicht das Eintreten der Folgerung. Aus deren Eintreten allerdings kann man auf die gegebene Voraussetzung zurück schließen: Aus dem „Rechthaben“ allein folgt nicht der „Sieg“ in der Geschichte. Haben wir den erreicht , wissen wir, dass „ich […] Recht gehabt“ habe. An dieses „dennoch“, so dass es immer „zwei […] Sätze“ braucht, soll „unzertrennlich“ erinnert werden. Anders gesagt: Erst das „Wenn“ des politisch-revolutionären Engagements und das „Vielleicht“ des Erfolgs zusammen gesehen ergeben den angemessenen Rahmen, um über „Dunkel“ und „Licht“ in der Geschichte nachzudenken und darüber zu reden. 189 Wie auch immer, die „Wenn“-Sätze in Brechts Lyrik sind sehr interessant und wichtig, Ich habe dies jetzt natürlich nur stark verkürzt darstellen können. Hier und jetzt darauf eingegangen bin ich, weil ich, als ich mich vor Jahren ausführlicher mit den Konditional-, bzw. den Wenn-Sätzen in Brechts Lyrik beschäftigte, weil ich da auf eine interessante theologische Parallele gestoßen bin, besser, gestoßen wurde: In dem Buch Einführung in die Logik von Fritz Menne wird im Kapitel über „Implikation“ („immer wenn“) und „Replikation“ („nur wenn“, bzw. „wenn nicht“) ein Satz aus dem Markus-Evangelium als Beispiel zitiert: „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden“ (Markus 16, Vers 16). Logisch gesehen muss man hier von einer „nur wenn“bzw. „wenn nicht“-Lesart ausgehen, kann sie zumindest nicht ausschließen. Der allein wäre noch keine „hinreichende Bedingung“ für die Seligkeit. Man könnte auch glauben und nicht selig werden („ex vero sequitur quodlibet“). Jesus hätte da, so wie später Brecht, „ein kräftiges Wenn Nicht“ ausgesprochen. Die Zusage der Seligkeit wäre so ungewiss, wie später die Sicherheit der „klassenlosen Gesellschaft“. Zwischen Glaube und Erlösung bestünde ein „ironisches“ Verhältnis. Gehörte diese Ironie zur Tradition römisch-katholischer Theologie, so dass dann nur die Kirche die fehlende Sicherheit garantieren könnte: durch Definition des Glaubens, Fürsprache der „Heiligen“, priesterliche Vergebung („Absolution“) der Sünden, ja durch einen „Ablass“, und so fort? Auf alle Fälle ging die katholische Lesart, so immer noch der Logiker Menne, von einem „replikativen ‚Nur Wenn‘ bzw. ‚Wenn Nicht‘ aus“ und stützt sich etwa zusätzlich auf Jakobus 2, 16: „Also auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist er tot an ihm selber“, vor allem aber auf ebenda Vers 24: „So sehet ihr nun, dass der Mensch durch die Werke gerecht wird, nicht durch den Glauben allein“. Glaube 190 Luther dagegen, der den Jakobus-Brief ohnehin für eine „stroherne Epistel“ hielt, so immer noch der Logiker Albert Menne, habe sich auf den Brief des Paulus an die Römer 3, 28 berufen: „Dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetze Werke, durch den Glauben“. Und bekanntlich hat Luther in seiner Übersetzung noch hinzugefügt: „allein durch den Glauben“. Luther, so vorerst zum letzten Mal mein Logik-Lehrer, sehe hier eine „wechselseitige Bedingung“, ein „Bikonditional“ bzw. eine „Aequivalenz“ zwischen „Glauben“ und „Seligkeit“: „Genau der, der glaubt, wird auch selig werden“. Dann wäre das also eine Art Vertrag: „Glaube für Seligkeit, Seligkeit für Glauben“, den Paulus da den Lutheranern angeboten hätte? Man kann sich denken, wie verführerisch es war, diesen „Vertrag“ genau zu definieren, ihn durch „Kirchenzucht“ durchzusetzen, sich allen anderen Konfessionen gegenüber für überlegen zu halten, und so fort. Sagen Sie also nicht, das seien Spitzfindigkeiten! Fragen der Logik sind „feine seismographische Aufzeichnungen der Unruhe“ in der Geschichte, sagt Ernst Bloch. Wegen solcher Differenzen wurden früher Leute verbrannt, oder sie haben sich wechselseitig die Köpfe eingeschlagen, oder es sind nach derselben Logik Zweifler am „Vertrag“ zwischen Weltgeschichte und Kommunistischer Partei ins Gefängnis gekommen und Schlimmeres. Auf alle Fälle: Weil Brecht so sehr das „Wenn Nicht“ betonte, wurde mir ein angebliches „Genau Dann Wenn“ der Lutheraner fragwürdig. Und da musste ich bei gelehrten Leuten nachfragen. Zwei Augsburger und ein Tübinger Kollege, drei Ordinarien der Theologie, sagten sofort übereinstimmend: Nein, so ist es nicht, schon Luther selbst habe diese Logik der Rechtfertigung diskutiert, entscheidend sei eine weitere Stelle bei Paulus, Epheser 2, Vers 9: „Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch den Glauben - und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es“. Und die „Gabe“ ist die Erlösung durch Christus. Gott „schenkt“ uns in Christus die Seligkeit. Dann bliebe, 191 wenn ich noch ein wenig länger „haarspalten“ darf, die „notwendige (aber nicht hinreichende)“ Bedingung bestehen: „Nur wo der Glaube gegeben ist, ist Seligkeit möglich“. Der Glaube begründet aber weder einen Anspruch, noch gibt es da so etwas wie einen Vertrag. Aber zusätzlich gilt (logisch eine Figur ponendo ponens: erst eine Bedingung, dann eine „Setzung“): Die Seligkeit ist als freie Setzung Gottes „Gabe“, Gottes Geschenk. Wenn das alles so richtig ist, erinnert es nicht an die „zwei unzertrennlichen Sätze“ Brechts: erstens die allgemeine Bedingung „richtig“ zu denken und zu handeln, und zweitens den nie einfach zu folgernden, ja nur „vielleicht […] dennoch“ eintretenden Erfolg? Können wir also sagen, dass Brecht in gewisser Weise, und nur strukturell gesehen - daher die ganze logische Abstraktion -, dass Brecht also mit ganz anderen Inhalten und Gewichtungen „lutherisch“ denkt? Ich kenne mehrere lutherische Theologen, die Brecht-Kenner, ja Brecht-Enthusiasten sind. Das „kräftige Wenn Nicht“ seines politischen Engagements entspricht strukturell dem „harten Kern“ des „nur wenn du glaubst“ der lutherischen Rechtfertigungslehre. Und immer wieder kann man hier auch bei Brecht eine innere Sicherheit und Unbedingtheit vernehmen, die durchaus an so etwas wie „Glauben“ erinnert, z.B. in dem berühmten späten Gedicht: Der Radwechsel Ich sitze am Straßenhang. Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld? 192 Kommt es nicht auch hier, wie in unserem Themen-Gedicht - „Du siehst Dunkel“ - auf ein genaues „Sehen“ an? Die „revolutionäre Ungeduld“, wie Brecht an anderer Stelle sagt, das unbedingte Engagement, die Welt zum Besseren zu verändern, sie bleibt, wie immer Erfahrung („wo ich herkomme“) oder Erwartung („wo ich hinfahre“) aussehen, diese innere Unruhe bleibt so sehr eine „Nur-Voraussetzung“ meines Denkens und Handelns, wie es für Lutheraner der Glaube ist. Diese innere Konditionierung wird jeden „Wechsel“ genau prüfen, ob er nicht „vielleicht“ mehr Vernunft, mehr „Licht“ in die Welt bringt. Und gilt nicht genauso für Christen aller Konfession, dass der Glaube, erst recht verstärkt durch die „Gabe“ der Gnade, zur Veränderung der Welt zum Besseren, wenn es sein muss auch zur Revolution unbedingt auffordert. Machen wir uns nichts vor, Brecht hält ganz und gar nichts vom Glauben an göttliche Gnade und Erlösung. Der Mensch, besser: die Menschheit, ist auf sich allein gestellt. Aber kann umgekehrt der frömmste Lutheraner seinen Glauben bewahren, wenn er die Gnade nicht immer wieder ganz konkret, und sei es nur für Augenblicke, als erfüllte Hoffnung - als „erhörtes Gebet“, hätte mein Vater gesagt - in der Welt erfährt? Strukturell gesehen, und wirklich genau nur so und mit ganz anderer Gewichtung, kommen für Brecht auch die für ihn so wertvollen, und sei es nur momentan erfahrenen, erfüllten Erwartungen, kommen die „Augenblicke utopischer Funktion“, ganz wie ein „Geschenk“ und ganz von außen auf ihn zu. Sie sind Vorwegnahmen des „unzertrennlichen zweiten Satzes“, des „Erfolgs“ seiner Arbeit für und, ja, seines Glaubens an eine bessere Welt, an ein „Licht“ nach dem „Dunkel“. So sagt es etwa ein weiteres, berühmtes spätes Gedicht, mit dem ich, obwohl es da noch viel zu sagen gäbe, nun doch schließen will. Auch jetzt kommt es ja wieder einmal auf genaues „Sehen“ an: 193 Der Rauch Das kleine Haus unter Bäumen am See Vom Dach steigt Rauch Fehlte er Wie trostlos dann wären Haus, Bäume und See. Das genaue, das „richtige“ Sehen ist notwendig, aber zu „trauen“ ist ihm nur, wenn sein Resultat eben auch nicht eintreten könnte. Der „Rauch“ ist Zeichen des Lebens erst dadurch, dass er auch fehlen könnte. Doch wer an eine bessere Welt glaubt, und sei es nur an ihre Möglichkeit, und dafür arbeitet, braucht solche Zeichen. Anders gesagt: Wie „trostlos“ wäre diese Welt ohne Zeichen des Lebens, wie trostlos wäre diese Welt ohne Zeichen des „Lichts“? Warum also soll eine evangelische Gemeinde Brechts Gedichte nicht so in ihrem Sinne verstehen, wie Brecht selbst sich immer wieder auf die Bibel berufen hat? Traue nicht deinen Augen Traue deinen Ohren nicht Du siehst Dunkel Vielleicht ist es Licht. 194 INGEBORG BACHMANN FREIES GELEIT D er 104. Psalm, den wir vorhin gesprochen haben („Lobe den Herrn, meine Seele! Herr, mein Gott, du bist sehr herrlich […], der du das Erdreich gegründet hast auf seinem Boden, dass es bleibt immer und ewiglich“), Teile der heutigen Schriftlesung (Matthäus 6, Vers 25 ff.: „Sehet die Vögel unter dem Himmel an, sie sähen nicht, sie ernten nicht […] und euer himmlischer Vater nährt sie doch“), das eben gesungene Lied von Paul Gerhardt (Geh aus mein Herz und suche Freud), und nun also das Gedicht Zum Thema auf Seite 579 im Evangelischen Gesangbuch für Württemberg, eines der letzten Gedichte von Ingeborg Bachmann, sie alle handeln von Gott, der Natur, der schönen Natur und von Freude und Verantwortung des Menschen. Bei allen Unterschieden, diese gemeinsame Frage soll uns bewusst bleiben. Sie führt ja auch schon auf das Erntedankfest hin, das wir am kommenden Sonntag feiern wollen. Freies Geleit Mit schlaftrunkenen Vögeln Und winddurchschossenen Bäumen Steht der Tag auf, und das Meer Leert einen schäumenden Becher auf ihn 195 Die Flüsse wallen ans große Wasser, und das Land legt Liebesversprechen der reinen Luft in den Mund mit frischen Blumen. Die Erde will keinen Rauchpilz tragen, kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel, mit Regen und Zornesblitzen abschaffen die unerhörten Stimmen des Verderbens. Mit uns will sie die bunten Brüder Und grauen Schwestern erwachen sehn, den König Fisch, die Hoheit Nachtigall und den Feuerfürsten Salamander. Für uns pflanzt sie Korallen ins Meer Wäldern befiehlt sie, Ruhe zu halten, dem Marmor, die schöne Ader zu schwellen, noch einmal dem Tau, über die Asche zu gehn. Die Erde will ein freies Geleit ins All Jeden Tag aus der Nacht haben, dass noch tausend und ein Morgen wird von der alten Schönheit jungen Gnaden. Das Gedicht Freies Geleit von Ingeborg Bachmann wurde am 19. Juni 1957 im Süddeutschen Rundfunk erstmals öffentlich vorgetragen. Es war damals nicht mehr sehr modern, nicht Avantgarde. Aber ähnlich wie Günther Eichs fast zeitgleich 1955 erschienenes Gedicht Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume spricht es uns heute besonders an: Ozonloch, Umweltvergiftung, Treibhauseffekt, 196 Gentechnologie, das sind Gefahren, und es gibt ja noch viel mehr, die heute Natur und Menschen bedrohen, und die sich zu denen der „Rauchpilze“, der Atombomben und Nukleartechnologie hinzugesellt haben. Das „freie Geleit für die Erde“ ist heute vielleicht noch mehr bedroht als damals. Kam das Gedicht aus diesem Grund ins Gesangbuch? Aber geht es hier, weiter gefragt, eigentlich um eine spezifisch christliche Verantwortung für die Schöpfung? Wird der biblische Gott, der „Herr“ im Sinne des 104. Psalms „gelobt“? Das Gedicht verändert sich fortlaufend in seinen sprachlichen Formen. Jede Strophe ist in einem anderen Stil verfasst. Wenn man es aufmerksam liest, dann verändert sich auch, so scheint mir, die Bedeutung des Gedichts. Darum möchte ich es zunächst einmal Strophe für Strophe betrachten: Mit schlaftrunkenen Vögeln und winddurchschossenen Bäumen steht der Tag auf, und das Meer leert einen schäumenden Becher auf ihn. Wer weiß, „wie Vögel über Nacht auf den Zweigen und Ästen festgeklammert sitzen und morgens ‚schlaftrunken‘ erwachen […], der erlebt mit ihnen, wie der Tag aufsteht“ - (von wem diese Anmerkung stammt, sage ich gleich). „Winddurchschossen“ heißt zunächst „windbewegt“, hat aber auch bereits jenen Unterton von Gewalt, der die dritte Strophe prägen wird. Die Suggestivkraft der Sprache wird stärker. „Der Tag steht auf “ ist bereits eine leichte Verfremdung von „die Sonne geht auf “ oder „ich stehe auf “ oder „der Tag beginnt“: eine Verfremdung, die sprachliche Frische erzeugt. „Wie wunderbar und ganz neu kann jeder Morgen sein! “, schreibt derselbe Kommentator. 197 Das Schlussbild hat etwas gedämpft Surrealistisches: Fernliegendes wird zusammen gesehen. So wie etwa surrealistische Maler einen Hut mitten in einen Wolkenhimmel gemalt haben, so überlagert sich hier die Vorstellung eines schäumenden Glases und der sich am Strand brechenden Meereswellen. Der Widerspruch zwischen beiden wirkt anregend auf unsere Phantasie: Man glaubt das Meer wie ein Getränk zu riechen und zu schmecken und an seiner überschäumenden Kraft teilhaben zu können. Die zweite Strophe ist dagegen nun ganzheitlicher gefasst. Der große Überblick bedeutet freilich auch mehr Distanz, im räumlichen wie im zeitlichen Sinn. Man sieht „das Land“ und „die Flüsse“ wie von einem Aussichtsturm oder wie ein Bild aus der Vergangenheit: Die Flüsse wallen ans große Wasser und das Land legt Liebesversprechen der reinen Luft in den Mund mit frischen Blumen. Hier wird jene all-lebendige, all-liebende Natur angesprochen, wie sie vor allem die Romantik gesucht hat. Schon damals war diese Einheit von Natur und Seele mehr poetische Beschwörung, Sehnsucht und Traum als Realität. In dem Gedicht von 1957 spürt man das erst recht. Und für die dritte Strophe gibt es dann auch keine poetische Verkleidung und Verzauberung mehr: Die Erde will keinen Rauchpilz tragen, kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel, mit Regen und Zornesblitzen abschaffen die unerhörten Stimmen des Verderbens. 198 Die späten fünfziger Jahre waren die Zeit der Atombomben-Tests, der Diskussion um eine Atombewaffnung der Bundeswehr unter dem damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und so fort. Ingeborg Bachmann bezieht eindeutig Stellung: Nicht nur das Austreiben des Bösen mit noch Böserem ist unerträglich. „Regen“ (Sintflut? ) und „Zornesblitze“ spielen durchaus auf den alttestamentarischen Gott oder den olympischen Zeus an. Auch die Wendung „ein Geschöpf ausspeien vorm Himmel“ redet von göttlichem Zorn und religiös motiviertem Recht auf Gewalt. „Ich glaube, aus dem Gedicht Freies Geleit keinen Gedanken an einen Gott im Hintergrund herauslesen zu können.“ Im Gegenteil: Es scheint gefährlich zu sein, eine über der „Erde“ stehende Kraft anzunehmen, eine Macht, die etwa entscheiden will, was „Verderben“ sei und die dies mit Zorn und Gewalt bekämpft. Dagegen „wird die Erde hier selbst“ zu so etwas „wie einer mythischen Person“. Der das schrieb, war mein Schul- und Studienfreund Bruno Schrade, Pfarrer im Ruhestand in Rosenfeld. Er hat mir in einem langen Brief seine „Gedanken“ zu diesem Gedicht, seine „Resonanz“, wie er es nannte, mitgeteilt und mir, trotz aller Vorbehalte, geraten, darüber, über dieses „wunderbar schöne“ Gedicht, zu predigen. Das war vielleicht eine seiner letzten, längeren schriftlichen Aufzeichnungen. Er war schwer krank und ist fünf Wochen danach gestorben. Ich erfülle hier also auch so etwas wie ein Vermächtnis und habe seine Formulierungen immer wieder hier aufgenommen. Der Gegensatz zur biblischen Gottesauffassung stimmt schon, mein Freund Bruno hat genauer gelesen, als die Herausgeber unseres Gesangbuchs: Es bedeutet in diesem Gedicht Unheil, sich ein „Göttliches“ über der Natur vorzustellen, denn es kann Menschen dazu verführen, sich selbst zu viel „Macht“ zuzutrauen. Aber der 199 Gedanke, hier werde die Erde selbst „mythisiert“, trifft nur bedingt zu. Zunächst sieht es so aus; aber das Gedicht verändert sich ja fortlaufend. Der Märchen-Ton der vierten Strophe etwa hat gegenüber dem prophetisch warnenden der dritten etwas bewusst Kunstvolles, Spielerisches und Anspielungsreiches, aber so auch bereits wieder etwas ein wenig Hilfloses: Mit uns will sie die bunten Brüder und grauen Schwestern erwachen sehen, den König Fisch, die Hoheit Nachtigall und den Feuerfürsten Salamander Das „Erwachen“ ist nichts Selbstverständliches mehr, wie in der ersten Strophe. Lässt der „König Fisch“ vielleicht an das Märchen vom Fischer und seiner Frau denken, die „Hoheit Nachtigall“ an das vom Kaiser und der Nachtigall? „Bunte Brüder“ wurden die Spielleute, fahrenden Sänger und eben auch Dichter immer wieder genannt. Arno Schmidt sprach von den Dichterinnen Emily, Charlotte und Anne Brontë als den „grauen Schwestern“. Sie lebten, als Kinder mit einer überreichen Phantasie begabt in ihrem Traumland, so wie der Archivar Lindhorst, der zugleich der „Fürst Salamander“ ist, in seinem Märchenreich „Atlantis“ in E. T. A. Hoffmanns Märchen Der goldene Topf. Wie immer sich das im Einzelnen verhält, und das sind nur meine eigenen Lese-Einfälle - nachher wird ja auch noch auf Tausend und eine Nacht angespielt -, das Schöne, Neue kommt als Märchen daher, und das Reden in literarischen Anspielungen hat auch schon etwas leise Hilfloses, einen Unterton von Verzweiflung, der immer deutlicher wird. „Mit uns“, „Für uns“: hier meldet sich ein Ich zu Wort. Die Stimme des Gedichts fühlt sich dieser betont literarischen Tradition der Sänger und Märchenerzähler zugehörig: 200 Für uns pflanzt sie Korallen ins Meer. Wäldern befiehlt sie, Ruhe zu halten, dem Marmor, die schöne Ader zu schwellen, noch einmal dem Tau, über die Asche zu gehen. Die Erde will ein freies Geleit ins All jeden Tag aus der Nacht haben daß noch tausend und ein Morgen wird von der alten Schönheit jungen Gnaden. Wer ist diese „Sie“ in Strophe vier und fünf ? Grammatisch ist sie immer noch die „Erde“ aus Strophe drei. Aber literarisch, beim Lesen und Hören - das Gedicht wurde für den Rundfunk geschrieben und von Hans Werner Hentze vertont - hat sich die Bedeutung dieses mächtigen, weiblichen, mütterlich liebenden Wesens ausgeweitet. In der nächsten Strophe wird ja auch ein Subjekt angerufen, das noch über dieser „Erde“ steht, das „All“ beherrscht und der Erde dieses „freie Geleit“ garantieren kann, genauer: könnte. Und woher kommt die zuletzt genannte „Gnade aus Schönheit“, alt und jung zugleich, aus der alles lebt, und die nicht nur schön, gnädig, lebendig, sondern - davon spricht das ganze Gedicht - auch voll Liebe ist? In der vorletzten Strophe wird alles einerseits sehr konkret und anschaulich gesehen, andererseits ist die Strophe geprägt von dichterisch kühner, farbiger Bildlichkeit; und vor allem geht es um die anschauliche Umsetzung von Gewusstem, Erinnertem, Erahntem, Gewolltem und Ersehntem in diese dichterischen Natur-Bilder: Dies ist eine Seelenlandschaft. Die Farben der Korallen sieht man nur mit viel technischem Aufwand, oder eben als inneres Bild. Dass der Marmor lebt und sich verändert, wird aus dem Wissen in die Anschauung projiziert; und beides geht in die vorgreifende Erwartung der „schönen“ Statuen über, die aus dem Marmor erst noch entstehen müssen. Die „Ruhe der Wälder“ wird erst ge- 201 gen den Lärm der „geschäftigen Welt“ draußen hörbar: ein ganz innerlicher, vorgestellter Kontrast. Der „Tau über der Asche“ lässt die Erinnerung, die Spuren der Zerstörung - in den fünfziger Jahren war überall noch viel Schutt und Asche des Weltkriegs zu sehen, und man fürchtete von Jahr zu Jahr einen neuen Krieg -, das Bild lässt Erinnerung und Furcht in Hoffnung auf neues Leben übergehen, und sei es auch nur in die Möglichkeit, in den Anfang, ja in die Voraussetzung neuen Lebens. Wie gewollt und projiziert ist diese lebendige Schönheit! Wie fragil ist diese Hoffnung! Wenn man auf das dichterische Werk von Ingeborg Bachmann blickt, dann spürt man unweigerlich den Schatten von Verzweiflung, der über dieser Seelenlandschaft gewollter, dichterisch beschworener Schönheit liegt. Denn Freies Geleit ist eines der letzten Gedichte von Ingeborg Bachmann. Zwischen 1953 und 1957 erschienen etwa 80 Gedichte, 1957 bis 1967 schrieb sie noch etwa sechs, dann bis zu ihrem Tod 1973 keines mehr, nur noch Prosa. Es dauerte nach Freies Geleit vier Jahre, bis sie wieder ein Gedicht schrieb, und das endet mit der trotzig verneinenden Zeile: „Kein Sterbenswort, Ihr Worte.“ Ihr letztes Gedicht mit dem Titel Enigma, „Rätsel“, 1967 entstanden, also 10 Jahre später als Freies Geleit, klingt wie dessen bittere Fortsetzung: Nichts mehr wird kommen. Frühling wird nicht mehr werden. Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus. Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen wie „sommerlich“ hat - es wird nichts mehr kommen. Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Musik. Sonst 202 sagt niemand etwas. Etwas von diesem bewussten Verstummen ist schon hier in Freies Geleit zu hören. Die letzte Strophe unseres Gedichts ist bereits reine Rhetorik. Und die Forderungen sind in sich zwiespältig: „Freies Geleit“ ist ja so etwas wie „Waffenstillstand“, ein räumlich und zeitlich begrenzter, kein allgemeiner und dauernder Frieden. „Tausend und eine Nacht“ dauerten die berühmten Märchen, weil die Erzählerin am Morgen hingerichtet werden sollte. Sie „dichtete“ sozusagen „an“ gegen ihren eigenen Tod. Hier kommt ein Urthema von Ingeborg Bachmann zur Sprache: die nur vorübergehend geliehene Lebens-Zeit, Die gestundete Zeit (das war der Titel ihres ersten Bandes Gedichte von 1953), die immer nur zeitlich begrenzt uns eröffnete Chance des Lebens und vor allem der Liebe. Und die „alte Schönheit“? Was für eine „Gnade“ kann sie verleihen? Ingeborg Bachmann beruft sich hier auf eine Denktradition, die uralt ist, aber um 1957 nicht mehr viel sagt. Aber sie verstummte dann lieber, als diesen Gedanken einer Schönheit der Welt, ja eines über die Welt hinaus reichenden „Lieds“ aufzugeben. Ihre letzte Gedichtsammlung (Anrufung des Großen Bären von 1956) - also noch vor Freies Geleit entstanden - hatte mit dem Gedicht Das Spiel ist aus begonnen und endet mit den Versen: Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen, die Zeit und die Zeit danach. Wir haben keinen. Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. 203 Doch das Lied überm Staub danach wird uns übersteigen. Das Lied überm Staub, Staub des Menschen aber auch allen Lebens, wird weiterdauern? So wie diese Verse sehr deutlich an Petrarca anspielen, so ist der Gedanke im Schlussvers von Freies Geleit ein Renaissance-Gedanke. Wenn Ingeborg Bachmann gerade solche Gedanken und Formulierungen wählt für ihr Sehnsuchtsbild, dann zeigt auch dieses Zurückblicken, dass sie nicht recht mehr daran glaubt. Wer könnte im 20. Jahrhundert ernsthaft behaupten, er wisse, was Natur eigentlich sei, dass ihr Wesen Harmonie und Schönheit sei, dass Schönheit noch ein Wert sei? Die Künste und Dichtungen wollen seit langem nicht mehr einfach „schön“ sein; und was ein Naturganzes ist, können wir schlechthin nicht mehr wissen. Aber der ursprünglich wohl griechische Gedanke, dass die Natur als göttlich verstanden wurde und dass die Schönheit etwas Göttliches, Gott ein Künstler sei, hat in der europäischen Renaissance mächtig gezündet: „anima mundi […] ars intrinsicus creans / die Weltseele ist eine die Natur von Innen heraus bearbeitende Kunst“ (Marsilio Ficino), der Mensch, vor allem der Künstler in seiner freien nur ihm selbst verantwortlichen Kreativität sei ein Vermittler zwischen Gott und Natur, insofern die „copula mundi“, die „Klammer der Welt“ (Pico della Mirandola), das All sei eine unendliche schöpferische Potenz, „natura est Deus in rebus / die Natur, das ist Gott in den Dingen“ (Giordano Bruno) - man merkt die Ähnlichkeit, und wie Ingeborg Bachmann von der Hoffnung ganz bewusst in lange vergangenen Bildern und Gedanken spricht. Das Judentum und danach die Christenheit hatten gegen solche Gedanken grundsätzliche Vorbehalte. Der 104. Psalm preist die Schönheit der Schöpfung, aber weiß auch, wie sie vollständig vom Willen Gottes abhängig ist. Ohne sein tätiges Eingreifen ist die 204 Natur, ist der Mensch verloren. Der Abstand zwischen Schöpfer und Schöpfung ist zu groß, der Mensch zu klein, zu schwach, als dass Natur und Mensch in ihrer Schönheit Teil des „Göttlichen“ sein könnten. Der griechische Gedanke der „Methexis“, der „Teilhabe“ des Menschen am Göttlichen, oder dass der Mensch „sein eigener freier Schöpfer“ (Pico della Mirandola) sein könnte, wurde und wird von den christlichen Kirchen abgelehnt, wenn nicht verfolgt. Für das Neue Testament heilt erst Jesus Christus den Bruch in der Welt, versöhnt wieder Gott, Mensch und Natur. „Es gibt in der Bibel kein All“, so noch einmal mein Theologen-Freund Bruno Schrade. Die Natur ist in ihrer Schönheit nicht ewig. Es wird vielmehr eine „neue Erde“ erwartet. Und schon gar nicht gibt es die „Gnade“ einer noch so schönen Natur. Die Kirche des 15. und 16. Jahrhunderts ließ sich die Naturphilosophie der Renaissance nicht gefallen, auf die Ingeborg Bachmann sich beruft, und suchte sie durch die Inquisition zu unterdrücken. Auch Paul Gerhardt macht es völlig klar, dass die irdische Schönheit „arm“ ist gegenüber der der ewigen Seligkeit. Der „Sommer der Gnade“ kommt nicht aus der Natur und ist allein durch Jesus Christus manifest geworden. Und heute? Machen wir uns nichts vor: Ingeborg Bachmann spricht zwar von „Schöpfung“, aber lobt nicht den biblischen Gott, die Natur selbst ist die schöpferische Kraft; es geht ihr um einen sich aus sich selbst heraus erneuernden Prozess von Schöpfung, nicht um das Ergebnis einer göttlichen Tat. Noch weniger spricht Ingeborg Bachmann von christlich verstandener „Gnade“. Auch wenn wir alle „alten“ Bilder weglassen: Es bleibt die Vorstellung einer eigengesetzlichen kreativen Weltganzheit, selbst wenn diese ihrem Wesen nach unbekannt wäre, es bleibt der Gedanke eines frei und selbstverantwortlich sich verwirklichenden Menschen, und es bleibt ein Sehnsuchtsbild, eine Sehnsucht, die gerade auch 205 im Verstummen festgehalten wird, die Hoffnung auf eine ganz diesseitige, kosmische und humane Schönheit. Christen mögen anders denken. Zwar verleiht christlich verstandene Gnade auch Kraft, Leben, Sinn für das Schöne in der Welt, ihr Wesen ist ganz wesentlich „Freude“ (auf griechisch χαρις, „Charis“), aber sie kommt nicht aus der Natur. Der Mensch kann sich und die Natur nicht nur nicht erlösen, er braucht das auch gar nicht: Gott hat das immer schon in Jesus Christus für ihn getan. Und aus dieser Gnade begründet sich dann auch die Verantwortung für die Natur: „Mitgeschöpflichkeit“, nicht nur „Mitmenschlichkeit“. So ist Ingeborg Bachmanns Freies Geleit ein schönes, auf seine Weise bewusst „altes“, ein immer noch anregendes, im Kontext des Gesamtwerkes ein aufwühlendes und erschütterndes Gedicht. Es kann ruhig im Gesangbuch stehen bleiben. Denn wehe uns, wenn wir diese Hoffnung auf eine schöne, ganzheitliche, lebendige Natur aufgäben! Wehe uns, wenn wir nicht die Verantwortung für unsere Erde wahrnehmen! Wehe uns, wenn wir nicht ein Gedicht wie Freies Geleit verstehen und ernst nehmen! Der Herrgott möge uns dazu helfen, daß noch tausend und ein Morgen wird von der alten Schönheit jungen Gnaden. 206 PAUL CELAN EINMAL, DA HÖRTE ICH IHN - ATEMWENDE I ch begrüße Sie mit einem Wort aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth. Es könnte sein, dass diese Verse der ganzen Predigtreihe der Evangelischen Studentengemeine Augsburg Der Glaube im Spiegel der Dichtung als Leitgedanke gedient haben: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich‘s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. (1. Korinther 13, Vers 12) Das „dunkle Wort“, von dem hier die Rede ist, ist das nur die Sprache der Welt und des Alltags, und nicht auch die Sprache der Wissenschaften, der Philosophie, ja der Theologie? Alles menschliche Erkennen und Sprechen bleibt dunkel vor der göttlichen Wahrheit, „von Angesicht zu Angesicht“. Eine vergleichbare, durchaus „spiegelbildlich“ vergleichbare Umkehrung der Sprachnorm und des Wahrheitsverständnisses nun bildet die Grundlage jener Dichtungstradition, die sich „hermetisch“, verschlossen gibt, aber die viel mehr, vom griechischen Gott Hermes hergeleitet, eine Sprache „höherer“, verdichteter Bedeutungen sein will, also eine Dichtung, der es ganz einfach um lebensnotwendige und damit eben nicht sogleich offensichtliche und so auch oft schwieri- 207 ge Wahrheiten geht. In Paul Celans Gedicht Weggebeizt (aus dem Zyklus Atemwende von 1967) wird dieses Bemühen um eine „stärkere“, „wahrere“ Sprache, die wie ein „Strahlenwind“ ist, sichtbar bzw. hörbar: WEGGEBEIZT vom Strahlenwind deiner Sprache das bunte Gerede des Anerlebten − das hundertzüngige Meingedicht, das Genicht. Die scheinbare Sicherheit und Verlässlichkeit des Bunten, alltäglich für wirklich Gehaltenen, auch die Sprache des scheinbar unvermittelt echten Gefühlsausdrucks („mein Gedicht“ als „Lügen“- Gedicht, ein Gedicht wie ein „Meineid“), all das muss zerstört werden, „weggebeizt“, um des neuen Wortes, der neuen Wahrheit willen. Diese Lyrik will nicht verrätseln, was man auch einfach sagen könnte, sondern sie will einerseits radikal in Frage stellen, was einfach so zu gelten scheint, und andererseits in ein sprachlich Unbekannte, Neues hinein gelangen. Und dies radikale Durchbrechen der Sprach- und Denknormen wird im Falle Paul Celans, des Juden Paul Ancel aus Cernowitz, etwas geradezu Lebensnotwendiges. Denn seine „alte“ und seine „neue“ Sprache ist das Deutsche. Seine Familie war von den Deutschen vernichtet worden, ihm selbst gelang gerade noch die Flucht, aber das Trauma - „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ - hat ihn bis zu seinem Freitod nicht verlassen: Die Sprache, deren Norm sich als die unendlichen Verbrechens, und deren glattes Funktionieren sich als Mord erwiesen hatten, „als der Giftzahn die Worte durchstieß“, ist zugleich für Paul Celan die, in der er sich am besten ausdrücken kann, in der er denkt, träumt und dichtet. „Einer, der mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und 208 wirklichkeitsuchend“, so hat sich Celan als Dichter charakterisiert. So wird andererseits die radikale Suche nach einer neuen Sprache, nach einem neuen, lebensnotwendigen Sinn, so lebensnotwendig wie der „Atem“, für diese Dichtung das weitergehende, eigentliche Ziel dieser „Zerstörung“ scheinbar gültiger sprachlicher Normen: des „Wegbeizens“ geläufiger Sinnbehauptungen. Solche Dichtung muss mit Fremdem, Widerständigem arbeiten, sie ist, so Celan, ihrem „Wesen nach dialogisch“; denn „mein Gedicht“, bloße subjektive Behauptungen und Gefühlsaussagen, wären ein „Mein-Gedicht“ (wie ein „Meineid“, ein Lügen-Gedicht). Nur die Sprache, die in ihren Bedeutungen und Gegenständen sich immer wieder um das Fremde, „das Andere“, „den anderen Sinn“ bemüht - und dazu gehört, wie gesagt, dass man bereit ist, die vertrauten eigenen Bedeutungen aufzugeben -, nur diese Gedichtsprache vermag es vielleicht, so Paul Celan, „auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen - wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache“ - in der Sache Gottes als des Deus Absconditus, des „schwer zu fassenden Gottes“ (Hölderlin), Gottes als des „ganz Anderen“. Mir scheint, dass dies in der Tat, wenn nicht die einzige - wer könnte das sagen? -, so doch eine überzeugende Weise ist, wie Dichtung vom „ganz Anderen“, vom Welt-Sinn, von Gott und dem Glauben an ihn reden kann. Für Celan, wie gerade für die anderen großen jüdischen Lyriker seiner Generation: Rose Ausländer, Ilse Aichinger, Yvan Goll, etwas älter Else Lasker-Schüler, deren leiderfüllte Gedichte erschütternde Glaubenszeugnisse sind, war dies Bemühen, „in eines ganz Anderen Sache“ zu sprechen, offenkundig von größter Wichtigkeit. So hat Celan dem Gedicht Einmal, das jetzt auch im Neuen Evangelisch-Lutherischen Gesangbuch für Bayern (S. 192) steht - allerdings unter dem Thema Passion, was vielleicht eine doch zu glatte Vereinnahmung ist, immerhin nennt Celan den „Durchbohrten“ einmal einen „Wahn“ -, diesem kleinen Gedicht hat Celan in der Sammlung Atemwende von 1967 ein 209 ganzes eigenes Kapitel und die herausgehobene Stellung am Ende eingeräumt. EINMAL, da hörte ich ihn, da wusch er die Welt, ungesehn, nachtlang, wirklich. Eins und Unendlich, vernichtet, ichten. Licht war Rettung. Wohlgemerkt, Gott wird hier nicht geschaut, bleibt „unsichtbar“, er ist nur ein Geräusch, ganz wie die „Wahrheit“ in dem Gedicht: EIN DRÖHNEN, es ist die Wahrheit selbst unter die Menschen getreten, mitten ins Metapherngestöber. Aber das Gedicht spricht zweifellos von einem gnädigen Gott, von Erlösung und „Rettung“. Es spricht davon im traditionellen und immer wieder neuen „Licht“-Symbol, im uralten Bild der Reinigung, vielleicht auch im romantischen Hoffnungsgedanken, dass die Zahlen von „eins“ bis „unendlich“ aufgehoben und „vernichtet“ sind, der menschliche Verstand, der nur in ihnen rechnen kann, überwunden ist, und Phantasie und Liebe stattdessen mit der All-Vernunft und All-Liebe verschmelzen: 210 Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die so singen, oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freie Leben Und in die Welt wird zurückbegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten In echter Klarheit wieder gatten, Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. So heißt es in einem Gedicht von Novalis. Ein solches „geheimes“, auf alle Fälle ein rätselhaftes „Wort“ findet sich auch bei Celan. Aber es ist weit entfernt von der inneren Selbstevidenz des Sinnes, von dem die Romantik glaubte ausgehen zu können. Das durchaus rätselhafte Wort „ichten“ wirkt wie ein Kalauer, eine Spielerei, auf alle Fälle ist es auf gezielte Weise und mit voller Absicht als Fragment, also unvollständig hingeschrieben. Es weist, wie man heute sagt, eine, ja mehrere bedeutsame „Leerstellen“ auf, so wie ja auch das ganze Gedicht lediglich von einer „einmaligen“ vergangenen Erfahrung berichtet, von einer kleinen, momentanen Antwort auf lebenslanges Suchen und Fragen und lebenslanges Leid. Denn das dürfen wir hier nicht übersehen bzw. überlesen: Die „Welt“, die hier „gewaschen“ wird, ist eine beschmutzte und verwundete Welt. So gibt es in der Sammlung Atemwende zu diesem Gedicht Einmal da hörte ich ihn auch in der Komposition kontrapunktische Gedichte: In Fadensonnen beispielsweise ist die Welt eine „grauschwarze Ödnis“ geworden : 211 FADENSONNEN über der grauschwarzen Ödnis. Ein baumhoher Gedanke greift sich den Lichtton: es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen. Hat die Menschheit es hier geschafft, sich und ihre Umwelt zu vernichten? Gerade den jüdischen Dichtern, die die „Schoa“ überlebt hatten, sie war ja bereits durchaus selbst schon ein Triumph von „Technik“ und „Logistik“, machte die sich ankündigende, auf alle Fälle immer mögliche atomare oder biologische oder chemische Massenvernichtung Angst, auch die Umweltvergiftung sahen in den 60er Jahren viele Leute schon am Horizont. Diese globale „Endlösung“ hatte etwas beängstigend Folgerichtiges: „Wir münden ins Staubmeer“, sagt Rose Ausländer, und - unter dem Eindruck der ersten Bilder von Atombomben und ihren gewaltigen Staubaufwirbelungen -: „Ein Staubbaum wächst, ein Staubwald überall, wo wir gegangen“, schreibt schon 1949 Yvan Goll. Der Bund zwischen Gott und Noah („Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“, 1. Mose 8, 22) scheint nicht mehr zu gelten. Ein jäher spekulativer Einfall („ein baumhoher Gedanke“) entwirft so vielleicht im Gedicht Fadensonnen („greift sich“, wie die Titanen der alten Mythen) einen Sinn des Ganzen, der noch jenseits von Sprache ist, fast auch nur ein Geräusch wie das „Döhnen“, der aber auch schon einer transzendenten, menschliche Erfahrung übersteigenden Schönheit anzugehören scheint: „den Lichtton“. Die „Lieder jenseits der Menschen“ - die ganze Vorstellung ist ja von einer harten, traurigen Schönheit wie in dem teilweise ähnlichen Gedicht von Ingeborg Bachmann: 212 Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen die Zeit und die Zeit danach. Wir haben keinen. Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. Doch das Lied überm Staub danach wird uns übersteigen. - diese „Lieder jenseits der Menschen“ könnten über jede menschliche Vorstellung, über alles bisher Gehörte hinaus gehen; es könnten aber auch Lieder sein, die den Menschen nicht mehr brauchen, Preis einer Schöpfung, in der der Mensch keinen Platz mehr hätte. Auch das „Waschen“ der „Welt“ im Gedicht Einmal könnte ja am Menschen vorbei und über ihn hinweggehen. Es gäbe „Licht“ und „Rettung“, aber nicht für ihn, nicht für uns. Sie sehen, wie radikal Paul Celan, wie er sagt, „Wirklichkeit zu entwerfen“ sucht. „Licht“ und „Rettung“, von denen das Gedicht Einmal, da hörte ich ihn spricht, sind auf alle Fälle nichts einfach Gegebenes. Es ist Anstrengung und Kreativität des Suchens nötig, eines Suchens, das mit Verneinungen beginnt, wenn eine Antwort vernommen, „gehört“, werden soll. In den Gedichten Wortaufschüttung und Weggebeizt ist davon die Rede. Es sind zunächst, wie man sagt, „poetologische“ oder „metapoetische“ Gedichte: Dichtung wird sich selbst zum Thema, und das Thema wird sprachliches Ereignis. In Wortaufschüttung geschieht dies im alten, revolutionären und ganz wörtlich „expressionistischen“ Symbol des Vulkanausbruchs, der eine Konsum- und Nachahmungsästhetik hinwegfegt und geradezu erd- und heilsgeschichtliche Bedeutung beansprucht: WORTAUFSCHÜTTUNG, vulkanisch, meerüberrauscht. 213 Oben der flutende Mob der Gegengeschöpfe: er flaggte − Abbild und Nachbild kreuzen eitel zeithin. Bis du den Wortmond hinausschleuderst, von dem her das Wunder Ebbe geschieht und der herzförmige Krater nackt für die Anfänge zeugt, die Königsgeburten. Das „neue Wort“ kommt hier jener Revolution der Zeit gleich, dass ein Mond aus einer gewaltigen Vulkantätigkeit herausgeschleudert wird - diese Vorstellung gab es einmal - und dass ein „neuer König“, vielleicht gar ein Gottes-Sohn, geboren wird und „das Wort“ in „die Welt“ kommt. Das Gedicht Wortaufschüttung wird in der Tat auf den Weihnachtsabend, den 24.12.1963, datiert. Der maximalen Zeitenwende entspricht in Weggebeizt die minimale, das einfache Geschenk des Atemholens: WEGGEBEIZT vom Strahlenwind deiner Sprache das bunte Gerede des Anerlebten - das hundertzüngige Meingedicht, das Genicht. Ausgewirbelt, 214 frei der Weg durch den menschengestaltigen Schnee, den Büßerschnee, zu den gastlichen Gletscherstuben und -tischen. Tief in der Zeitenschrunde, beim Wabeneis wartet, ein Atemkristall, dein unumstößliches Zeugnis. Der Realismus eines Weges ins äußerste Hochgebirge - „Büßerschnee“, „Gletscherstuben“ usw. sind geographische Fachwörter -, diese Reise in einen äußerst fremden Raum, in fremde, kalte Mitmenschlichkeit, „menschengestaltigen Schnee“ hinein, und genauso ausgesetzt der Aporie einer Zeiterfahrung, dass wir der Zeit ausgeliefert sind, dass die Vergänglichkeit uns intensiv, schmerzlich („schrundig“) und zugleich abgründig wie eine Gletscherspalte, also letztlich unfassbar begegnet: All das wird zur Signatur dichterischer Arbeit. Aber - und das scheint mir das Wichtigste daran - der in der Dichtung zu schaffende (‚eruptiv‘ wie in Wortaufschüttung) oder zu findende (die alte inventio, ein „Auffinden“, wie in Weggebeizt), dieser auf alle Fälle ganz neue Sinn scheint nur möglich, wenn das „Du“, das hier spricht, nicht nur das Ich des mit sich selbst redenden Dichters ist, sondern immer auch das dialogische Du anderer Menschen und in beidem, das ist unüberhörbar - „hörst du mich, du hörst mich, ich bins, ich, ich und der, den du hörst, zu hören vermeinst, ich und der andre“ heißt es in Celans programmatisch- 215 em Prosa-Text Gespräch im Gebirg - das wesentliche Du, das hier erwartet wird, als „Königsgeburt“ wie als „Atemkristall“, ist zuletzt immer auch ein „ganz anderes“, ein übermächtiges, göttliches Du. Allerdings, diese beiden sehr hoffnungsvollen und selbstbewussten Gedichte Wortaufschüttung und Weggebeizt sind um eine nahezu „leere“ Mitte herum angeordnet. Sie bilden mit Ich kenne dich zusammen eine Art Triptychon, ein Altarbild mit zwei Flügeln, dessen Mitte aber eingeklammert ist, eine Parenthese. Dazu passt die konventionelle Reimform und auch der Typ des Bildgedichts, dessen Gegenstand ebenfalls ganz konventionell ist. Denn offenkundig handelt es sich um eine „Pietà“, die Mutter mit ihrem Sohn, der noch die Spuren der Kreuzigung trägt: (ICH KENNE DICH, du bist die tief Gebeugte, ich, der Durchbohrte, bin dir untertan. Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte? Du - ganz, ganz wirklich. Ich - ganz Wahn.) Celan setzt sich oft mit christlichen Gedanken, Vorstellungen und Bildern auseinander: „Osterqualm, flutend, mit der buchstabenähnlichen Kielspur“ beginnt, sehr kritisch, ein Gedicht in Atemwende, das aber in der Schlusszeile den Vers enthält: „Das Gastvolk“ (die Christen, die bei dem viel älteren „Gottesvolk“ der Juden zu Gast sind? ) „mit uns“. Wahrhaft ökumenisch heißt es an anderer Stelle: „Wenn das Denken die Pfingstschneise herabkommt, endlich fällt ihm das Reich zu“. Dies hier aber ist eine jüdische Gegenrede gegen christliche Erlösungsgewissheit, erst recht gegen jedes christliche Erlösungsprivileg. Nähe und Widerspruch sind sehr genau erfasst. Das „Du […] die tief Gebeugte“ ist vielleicht Rahel und Maria zugleich, die leidende Menschheit, mit der sich Gott in seiner weiblichen Form („du, droben, in Frauengestalt“, 216 heißt es ein paar Seiten später) identifiziert? Erst recht kann sich ein Jude, „ich, der Durchbohrte“, im leidenden Jesus wieder finden: Man schlägt mich ans Kreuz jetzt bin ich ganz Jude. Aber auf sehr leise, vorsichtige Weise, noch dazu ganz persönlich, existenziell, im Namen eines einzelnen „Ich“, gleichwohl bestimmt, werden die Folgen der Passion nicht als ein „Neuer Bund“, ein neues „Wort des Anfangs“, das als Licht in der Finsternis „flammt“ und „Zeugnis“ ablegt, interpretiert, nicht als historische Erlösungs-Tat, die sich in der Nachfolge Christi erneuert, sondern als einseitige Abhängigkeit („untertan“): Keine Passion lässt heilsgeschichtliche Rückschlüsse zu, jedes „Zeugnis“, das formulieren gerade und sehr deutlich die umrahmenden Gedichte Wortaufschüttung und Weggebeizt, muss immer neu in Frage und „gehörter“ Antwort, muss in menschlicher Anstrengung, wie abhängig von göttlicher Heilstat immer, neu erarbeitet werden. Damit ist natürlich noch nicht alles gesagt, bei weitem nicht. Ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich umkehren möchte, zurück zu dem Gedicht Paul Celans Einmal, da hörte ich ihn, das ja ganz für sich - und so nicht gerade leicht verständlich - in unseren Gesangbüchern steht. Wir haben gesehen, wie es seine Kontrapunkte und seine notwendigen Ergänzungen hat: dass das Hören-Können die radikale Arbeit des Fragens und Suchens voraussetzt, einen Dialog mit sich und den anderen und dem „ganz Anderen“, der, so Celan, oft „ein verzweifelter Dialog“ ist. Vor allem muss gesagt sein, dass wir solche Dichtung nicht einfach vereinnahmen können. Die Zuordnung dieses Gedichts zum Themenkreis der Passion ist einerseits natürlich in ihrer Berechtigung nicht ausgeschlossen, aber vom Dichter recht klar nicht gewollt. 217 Vielleicht wird jetzt auch das so sehr verfremdete Wort „ichten“ etwas weniger beliebig. Es verweist zunächst einmal auf ein fundamentales semiotisches (zeichentheoretisches) Prinzip: Die Dialektik von Sprache und Rede, dass die Bedeutung eines Zeichens immer nur ein anderes Zeichen, ein Prozess von Zeichen sein kann, dass jeder Text von einer „abwesenden“ Struktur spricht und so weiter. Das Wort „ichten“ verweist so auf viele mögliche andere Wörter. Das ist das Neue, bisher Unerhörte an ihm. Neue Wörter wie „Wortmond“ oder „Atemkristall“ waren „kühne Metaphern“ gewesen, entstanden aus der Verbindung je zweier entfernter Worte, so dass diese zusammen etwas Drittes bedeuten. „Ichten“ wäre, im Prozess der Zeichen aus Zeichen aus Zeichen gesehen und als dieser Prozess verstanden, ein „polysemer Metaplasmus“ (ich weiß, ich erkläre Unverständliches durch noch Unverständlicheres; aber ich bin nun einmal Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft, zu der wesentlich die Literaturtheorie gehört), es geht um eine Veränderung der Lautgestalt eines Wortes, so dass dieses gezielt vieldeutig wird. „Ichten“ spielt offensichtlich mit den Gegensätzen von möglichen ergänzbaren Wortteilen und verbindet sie so zugleich. Und viele davon haben wir schon als bedeutsam für Celans Dichtungsverständnis kennen gelernt: „Ich“, das nicht allein stehen soll, ein „[…]ich“ sozusagen, dann „dichten“ und „nicht“, die zusammen gehören (das „Meingedicht“ als „Genicht“), es spielt sicher auch auf „Licht“ an, das es im Gedicht sozusagen ankündigt, hörbar wird vielleicht ein „sichtbar / unsichtbar“, um das es vorher im Gedicht gegangen war („ungesehn, nachtlang“), um „Gericht“ bzw. „richten“, als Gegensatz zu „Rettung“, kreist das ganze Gedicht, und so fort. Und sicher ist hier auch das grammatische und kommunikative, also dialogische System von „ich“, „du“, auch „er“ (hörte ich „ihn“) und - nehmen wir das Gedicht Ich kenne dich hinzu - auch „sie“ („die tief Gebeugte“) angesprochen. Wir sehen vielleicht, wie genau Celan die Grenzen des 218 Sagbaren zu erweitern versucht: fast zu einer Zusammenfassung des ganzen Zyklus Atemwende. Festzuhalten ist hier nun auf alle Fälle dies: „Dichten“ ist immer nur als Rede von „Einzelnen für Einzelne“ möglich. Es ist „immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht“ (so mein Lehrer Paul Hoffmann, ein feiner Kenner Celans und überhaupt der modernen europäischen Lyrik). Das gilt für den Dichter wie für seine Interpreten. Genauso klar aber ist hier gesagt, dass ein solches Dichten für sich tief unvollständig ist. Es bedarf des immer neuen, immer umfassenderen „Du“, „ich und der andere“, „der ganz Andere“, von dem allein her „Licht“ und „Rettung“ kommen können. Der Glaube im Spiegel der Dichtung haben Sie diese Predigtreihe genannt: Da darf man keine einfache „Widerspiegelung“ erwarten. Der Glaube muss sich hier auch verfremden, in Frage stellen und widersprechen lassen, um Antwort und neue Kraft zu finden. Was Paulus an die Korinther schreibt, gilt ja gerade auch für Glaubenswahrheiten selbst: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich‘s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. [Aber nun fährt der Apostel fort: ] Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Von „Glaube und Hoffnung“ war viel die Rede. Wäre dann aber nicht „Liebe“ vielleicht genau das Wort, das das Dilemma von „Passion“ und „Rettung“ überbrücken könnte und, um noch einmal auf Celan zu hören, „das Wort, das für uns beide zeugte / Du - ganz, ganz wirklich. Ich - ganz Wahn“? 219 Evangelisches Gesangbuch . Ausgabe für die Evangelische Landeskirche Württemberg. Stuttgart: Gesangbuchverlag 1996. S. 12: Rose Ausländer, Am Anfang war das Wort. Aus: dies., Hinter allen Worten. Gedichte. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1984. S. 16: Rose Ausländer, Kein Respekt. Aus: dies., Sanduhrschritt. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1984. S. 19: Rose Ausländer, Mutterland. Aus: dies., Sanduhrschritt. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1984. S. 22: „Mein stilles Lied“ (Auszug), aus: Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Band 1: Gedichte. © Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 23: Ilse Aichinger, In einem. Aus: dies., Verschenkter Rat. Gedichte. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1978. S. 23/ 209: „Einmal“, aus: Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 103: „Botschaften des Regens“, aus: Günter Eich, Botschaften des Regens. Gedichte. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1955. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 160: „Gebet“, aus: Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Band 1: Gedichte. © Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 173, 176/ 77: „Mein Volk“, (Auszug) aus: Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Band 1: Gedichte. © Jüdischer Verlag im TEXTNACHWEISE 220 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 177: „Versöhnung“, aus: Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Band 1: Gedichte. © Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 178: „Mein blaues Klavier“, aus: Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Band 1: Gedichte. © Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 179/ 183/ 193: „Traue nicht deinen Augen“, aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 180: „Als ich mich herumgetrieben“, aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 182: „Großer Dankchoral“ (Auszug), aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 182: „Das Proletarierunser“, aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 184: „Lied vom Schuh“ (Auszug), aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 184: „Der Führer hat gesagt“ (Auszug), aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 185: „Der Balken“, aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt- Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 186: „Die Antwort, die ich gegeben habe“, aus: Bertolt Brecht, Der Neinsager, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 3: Stücke 3, S. 71. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 1988. S. 187: „Die Lösung“ (Auszug), aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. 221 S. 187: „Die Wahrheit einigt“ (Auszug), aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 188: „Ich benötige keinen Grabstein“, aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 191: „Der Radwechsel“, aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt- Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 193: „Der Rauch“, aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt- Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000. S. 194/ 95: „Freies Geleit“, aus: Ingeborg Bachmann, Werke, Band 1, Gedichte. © 1978 Piper Verlag GmbH, München. S. 201: „Enigma, Rätsel“, aus: Ingeborg Bachmann, Werke, Band 1, Gedichte. © 1978 Piper Verlag GmbH, München. S. 202: „Die Zeit“, aus: Ingeborg Bachmann, Werke, Band 1, Gedichte. © 1978 Piper Verlag GmbH, München. S. 207/ 213-14: „Weggebeizt“, aus: Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 209: „Ein Dröhnen“, aus: Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 211: „Fadensonnen“, aus: Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 212: „Die Liebe hat einen Triumph“, aus: Ingeborg Bachmann, Werke, Band 1, Gedichte. © 1978 Piper Verlag GmbH, München. 222 S. 212-13: „Wortaufschüttung“, aus: Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. S. 215: „Ich kenne dich“, aus: Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Umschlagabbildungen: Hintergrund: Paul Gerhardt: Lobet den Herren. Aus: Praxis Pietatis Melica (1653/ 1660). Vordergrund: Auf Grundlage von Else Lasker-Schüler, o. T. [Ganzfigur im Linksprofil, auf dem Arm eine Stadtminiatur], ca. 1912. © Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin. S. 166: Else Lasker-Schüler, Theben mit Jussuf, um 1920. © Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin. BILDNACHWEISE „Keiner aber fasset allein Gott.“ Friedrich Hölderlin Diese Predigten sind aus Hochschul- und Gemeindegottesdiensten in Augsburg und Tübingen hervorgegangen. Alle Texte stehen im Bayerischen und/ oder Württembergischen Evangelischen Gesangbuch. Wie es sich für eine Predigt gehört, geht es um Glaubenswahrheiten. Aber diese erweisen sich hier als facettenreich und durchaus auch widersprüchlich. Nur „wie durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“ sind sie zugänglich. So zieht sich der Gedanke der Vielfalt der Wahrheiten wie ein roter Faden durch dieses Buch: von den vielfältigen Weltbildern in den Wörtern für „Anfang“, über die mehrfachen Bild-Schichten bei Paul Gerhardt, oder etwa die „Weiblichkeit des Mondes“ bei Matthias Claudius, bis zu den vieldeutigen Metaphern und Chiffren der Moderne. Hans Vilmar Geppert lehrte von 1982 bis 2007 Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an den Universitäten Tübingen und Augsburg. ISBN 978-3-7720-8577-2