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Große Werke der Literatur XIV

2017
978-3-7720-5584-3
A. Francke Verlag 
Günter Butzer
Hubert Zapf

Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, französischen, englischen, US-amerikanischen, kubanischen, hebräischen und japanisch-kanadischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 18., 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Der Band enthält Beiträge von Freimut Löser (Mechthild von Magdeburg, "Das Fließende Licht der Gottheit"), Gerhard Kurz (Friedrich Hölderlin, "Andenken"), Jürgen Hillesheim (Wilhelm Müller und Franz Schubert, "Winterreise"), Kaspar H. Spinner (Annette von Droste-Hülshoff, "Meersburger Gedichte"), Hubert Zapf (Walt Whitman, "Leaves of Grass"), Hans-Vilmar Geppert (Theodor Fontane, "Schach von Wuthenow"), Günter Butzer (Edouard Dujardin, "Les lauriers sont coupés"), Martin Middeke (Joseph Conrad, "Lord Jim"), Timo Müller (Ernest Hemingway, "The Snows of Kilimanjaro"), Christian Wehr (Alejo Carpentier, "El reino de este mundo"), Bettina Bannasch (S.Y. Agnon, "Schira") und Katja Sarkowsky (Joy Kogawa, "Obasan").

ISBN 978-3-7720-8584-0 Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, französischen, englischen, US-amerikanischen, kubanischen, hebräischen und japanischkanadischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 18., 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Der Band enthält Beiträge von Freimut Löser (Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit), Gerhard Kurz (Friedrich Hölderlin, Andenken), Jürgen Hillesheim (Wilhelm Müller und Franz Schubert, Winterreise), Kaspar H. Spinner (Annette von Droste-Hülshoff, Meersburger Gedichte), Hubert Zapf (Walt Whitman, Leaves of Grass), Hans-Vilmar Geppert (Theodor Fontane, Schach von Wuthenow), Günter Butzer (Edouard Dujardin, Les lauriers sont coupés), Martin Middeke (Joseph Conrad, Lord Jim), Timo Müller (Ernest Hemingway, The Snows of Kilimanjaro), Christian Wehr (Alejo Carpentier, El reino de este mundo), Bettina Bannasch (S.Y. Agnon, Schira) und Katja Sarkowsky (Joy Kogawa, Obasan). GROSSE WERKE DER LITERATUR B A N D X I V GROSSE WERKE DER LITERATUR B A N D X I V www.francke.de Große Werke der Literatur XIV Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Große Werke der Literatur Band XIV Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2014 / 2015 herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Titel: Schmuckbuchstabe aus Hans Sachs: (Das vierdt poetisch Buch) mancherley neue Stücke schöner gebundener Reimen. Nürnberg: Heußler, 1576; Oettingen-Wallersteinsche Sammlung der Universität Augsburg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-5584-3 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Freimut Löser Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Gerhard Kurz Friedrich Hölderlin, Andenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Jürgen Hillesheim Wilhelm Müller und Franz Schubert, Winterreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Kaspar H. Spinner Annette von Droste-Hülshoff, Meersburger Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Hubert Zapf Walt Whitman, Leaves of Grass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Hans Vilmar Geppert Theodor Fontane, Schach von Wuthenow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Günter Butzer Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Martin Middeke Joseph Conrad, Lord Jim (1900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Timo Müller Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro . . 157 Christian Wehr Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) . . . . . . . 173 Bettina Bannasch S. Y. Agnon, Schira . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Katja Sarkowsky Joy Kogawa, Obasan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Die Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 7 Vorwort Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, französischen, englischen, amerikanischen, kubanischen, hebräischen und japanisch-kanadischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 18., 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Diversität, man könnte auch sagen, die Heterogenität der Autoren und Werke ist durchaus gewollt, ermöglicht sie doch den Dialog und den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick der literarisch Interessierten über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg. Der Titel „Große Werke der Literatur“ mag in einer Zeit der Kanondebatten, der Ausweitung des Textbegriffs, der Einbeziehung anderer Medien, der Erweiterung der Literaturauf Kulturwissenschaften fragwürdig erscheinen. Dazu sei hier zweierlei gesagt. Zum einen werden sowohl der Begriff der Literatur wie auch der Begriff des Werks in dieser Publikationsreihe recht weit gefasst - so tauchten etwa Euklid, Kants Kritik der reinen Vernunft oder Heideggers Sein und Zeit, aber auch Texte der Populärliteratur in der bisherigen Reihe der „großen Werke“ auf. Ebenso wird auffallen, dass immer wieder auch neueste Texte vertreten sind, für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht. Zum andern führt auch in einer Zeit radikaler Kanonrevisionen kein Weg daran vorbei, dass an irgendeinem Punkt dann doch wieder eine Wertung ins Spiel kommt, die Frage nach der ästhetischen, historischen oder gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes, d. h. die Frage danach, inwiefern es das in Sprache und kultureller Textualität vorhandene Erkenntnis- und Kreativitätspotential überzeugend nutzt und in eine aussagekräftige, kulturell relevante, ästhetisch überzeugende und kompositorisch gelungene Form bringt. Es gibt eben Texte, die über lange Zeiträume hinweg gültig und wirksam bleiben, und auch wenn dies keinen ontologischen Eigenstatus großer Werke der Literatur begründet, so stellen sie doch ganz offensichtlich kulturprägende und kulturstiftende Instanzen dar, die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Literarische Texte sind stets erneuerbare Quellen der Kreativität, die in je neuen historischen Phasen und individuellen Akten der Rezeption in immer wieder neuer Weise aktivierbar sind. Sie stellen damit gewissermaßen eine Form nachhaltiger Textualität dar, die ihr Potential kultureller Repräsentation nicht allein aus den Bedingungen ihrer historischkulturellen Genese, sondern aus dem Umstand gewinnt, dass sie offenbar in besonderer Weise bestimmten Grunddispositionen und Funktionsweisen des menschlichen Geistes im Sinn einer ecology of mind, eines komplex vernetzten und vielfältig mit Lebensprozessen rückgekoppelten Denkens entspricht. Um sowohl dieses transhistorische Funktions- und Wirkungspotential wie auch die Vielfalt der möglichen Rezeptionsweisen literarischer Werke zur Geltung zu bringen, ist die Reihe der Großen Werke so konzipiert, dass die Texte allein aufgrund der subjektiven Präferenz der Beiträger ausgewählt werden, die diese 8 Vorwort Auswahl dann in ihrem Beitrag begründen. Damit wird einerseits die Notwendigkeit einer Verständigung über ästhetische Modelle, Wertungskriterien und Kanonisierungsprozesse vorausgesetzt, andererseits aber auch die Unmöglichkeit anerkannt, eine autoritative Letztinstanz für die Begründung dieser Auswahl zu finden. In allen im Buch besprochenen Werken wird die literarische Imagination in ganz unterschiedlicher Weise für die Erkundung kultureller Probleme, Konflikte und Grenzerfahrungen eingesetzt, die in der ästhetisch-symbolischen Transformation der Literatur in besonderer Eindringlichkeit dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich werden. Und gerade darin mag eine wesentliche Funktion literarischer Texte für die beständige kulturelle Selbstkritik, Selbstreflexion und Selbsterneuerung liegen, die für die Vitalität und langfristige Überlebensfähigkeit einer Kultur notwendig sind. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Herrn Bub vom Francke Verlag für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr besonderer Dank gilt Nina Blagojevic, Jessica Friedline, Laura Fritz, Beate Greisel, Theresa Schwaiger und Andreas Tschierse für die Einsatzbereitschaft und Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben. Augsburg, im Januar 2017 Günter Butzer und Hubert Zapf Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 9 Mechthild von Magdeburg Das Fließende Licht der Gottheit Freimut Löser Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg gilt als herausragendes Werk der ‚deutschen Mystik‘. Es werden also Antworten auf folgende Fragen zu suchen sein: 1. Was ist ‚Mystik‘? 2. Wer war Mechthild von Magdeburg? 3. Was ist das ‚Fließende Licht der Gottheit‘? 1. Mystik 1 Es kommt nicht von ungefähr, dass zurzeit - wenn man etwa an den Namen Kurt Flasch 2 denkt - eine heftige Debatte stattfindet, z. B. ob Meister Eckhart, der große deutsche Prediger, Philosoph und Sprachschöpfer des Mittelalters, der gemeinhin als Mystiker geführt wurde und wird, überhaupt als Mystiker zu bezeichnen ist. Dabei zeigt sich auch und vor allem: Der Begriff ‚Mystik‘ ist schwer zu definieren. Hier kann nur ein vorsichtiger Definitionsversuch unternommen werden. Sicher ist: Er ist abgeleitet vom griech. mystikós ‚ ‚geheimnisvoll, geheim‘, und dieser Begriff wiederum hat etwas mit der Vorstellung geschlossener Augen zu tun. Man kann dem zweierlei entnehmen: Mystische Lehren können - vor den Blicken verborgen - Geheimlehren sein, und es geht der Mystik um die Durchdringung des Geheimen, Geheimnisvollen und Verborgenen. Dies geschieht - bildlich gesprochen - mit geschlossenen Augen, also in höchster Konzentration auf das Innere. Mystik wird weiter gemeinhin als unmittelbare und erlebnishafte Erfahrung des Göttlichen oder Transzendenten definiert. Dabei werden in der Regel das gewöhnliche Bewusstsein und die verstandesmäßige Erkenntnis überstiegen. Ziel der Mystik ist die Vereinigung, christlich als unio mystica gefasst, mit dem absoluten Seinsgrund. Mittel sind häufig Askese, Meditation und Kontemplation. Für den christlichen Bereich des Mittelalters kann Mystik etwa mit Thomas von Aquin oder Bonaventura als cognitio dei experimentalis definiert werden, d. h. also als erfahrungshafte Gotteserkenntnis. Dabei ist jedoch zu differenzieren: Zu dem Phänomen, das man gemeinhin als mystisch zu fassen versucht, gehören einerseits unmittelbar erlebte oder von Gott gnadenhaft geschenkte Visionen, Auditionen, sensuelle Wahrnehmungen einerseits, auf der anderen Seite aber auch häufig die theoretisch-philosophische Reflexion entweder über Phänomene der Mystik oder über die Einung mit Gott. Man kann deshalb von verschiedenen Textsorten ausgehen, die sich in zwei Richtungen 1 Vgl. dazu Löser, Freimut. „Mystik“. Literaturwissenschaftliches Lexikon . Hgg. Horst Brunner und Rainer Moritz. Berlin 2006. S. 284-287, hier S. 284 f. 2 Vgl. u. a. Flasch, Kurt. Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie . Beck 2006; ---. Meister Eckhart. Philosoph des Christentums . Beck 2010; ---. „Meister Eckhart. Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten“. Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie . Hg. Peter Koslowski. Zürich 1988. S. 94-110. 10 Freimut Löser einteilen lassen, einmal in die praktische, sogenannte Erlebensmystik und andererseits in die spekulative, theoretisch-philosophisch-orientierte Mystik (so bei Eckhart). Als Literatur- und Textwissenschaftler haben wir es zudem immer mit Texten zu tun, d. h. mit inszenierter Wirklichkeit, die literaturimmanenten Gesetzen folgt. Wenn man von erfahrungshafter Gotteserkenntnis redet, werden in diesem Bereich autobiographische oder pseudo-autobiographische Erlebnisberichte dominieren, auf der anderen Seite theologisch-philosophische theoretische Reflexionen, die man als Mystologie bezeichnen kann, und Lehrschriften über den mystischen Weg (Mystagogie). Mechthilds Fließendes Licht der Gottheit wäre besonders dem Erlebnisbereich zuzuordnen, wobei auch Tendenzen zum Lehrhaften erkennbar und Literarisierungsstrategien unübersehbar sind. 2. Mechthild von Magdeburg 3 Es ist wie häufig im Mittelalter: Mechthild ist nur aus ihren Texten greifbar. Ihre Lebensumstände müssen aus den wenigen autobiographischen Hinweisen in ihrem Werk, das aus insgesamt sieben einzelnen Büchern mit unterschiedlich langen Kapiteln besteht, erschlossen werden. Weitere Informationen finden sich im kurzen lateinischen Vorwort (von einem anderen Autor), im längeren lateinischen Prolog vor der lateinischen Übersetzung der Bücher I-VI und in einigen weiteren Zusätzen zum Text dieser Übersetzung. Mechthild scheint um 1207 in eine ritterlichen Burgmannenfamilie der westlichen Mittelmark geboren worden und höfisch erzogen worden zu sein. Ihre Beschreibungen deuten darauf hin, dass sie im zwölften Lebensjahr, wie sie es ausdrückt, den „Gruß des Heiligen Geistes“ empfing und dass dieser ihr über Jahre zuteilwurde. Mechthild beschreibt dieses visionäre Erlebnis, das ihr in jungen Jahren geschah, sehr eindringlich: Alle mine lebtage e ich dis bůches began und eb sin von gotte ein einig wort in min sele kam, do was ich der einvaltigosten menschen eines, (53r) das ie in geistlichem lebende erschein. Von des túfels bosheit wiste ich nit, der welte krancheit kante ich nit, geistlicher lúte valscheit was mir oͮch unkúndig. Ich můs sprechen got ze eren und oͮch durch des bůches lere: Ich unwirdigú súnderin wart gegruͤsset von dem heligen geiste in minem zwoͤlften jare also vliessende sere, do ich was alleine […]. Do lies mich got niergen eine und brachte mich in so minnenkliche suͤssekeit, in so helige bekantheit und in so unbegriflich wunder, das ich irdenscher dingen wenig gebruchen konde. Do wart erst min geist us minem gebette bracht zwúschent den himmel und den lufte. Do sach ich mit miner selen oͮgen in himmelscher wunne die schoͤnen menscheit (53v) únsers herren Jhesu Christi, und ich bekante an sinem heren antlútte die heligen drivaltekeit, des vatter ewekeit, des sunes arbeit, des heligen geistes suͤssekeit. 4 3 Vgl. Neumann, Hans. „Mechthild von Magdeburg“. Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters . Band 6. Hgg. Kurt Ruh et. al. Berlin 1987. Sp. 260-270, hier Sp. 260 f.; vgl. Hasebrink, Burkhard. „‚Das fließende Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg. Eine Skizze“. Bete und arbeite! Zisterzienser in der Grafschaft Mansfeld. Begleitband zur Ausstellung im Sterbehaus Martin Luthers in Eisleben, 24 . 10 . 1998 - 24 . 6 . 1999 . Hgg. Esther Pia Wipfler. Halle a. d. Saale 1998. S. 149-159, hier S. 150 f.; vgl. Ruh, Kurt. Geschichte der abendländischen Mystik . Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit . München 1993, hier S. 248 f. 4 Mechthild von Magdeburg. Das fließende Licht der Gottheit . Hg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt / Main 2003 (Bibliothek Deutsche Klassiker 181), Buch IV, Kap. II, S. 228, 14-230, 18. Übersetzung Vollmann-Profe: „Während der ganzen Zeit, bevor ich dieses Buch begann und bevor ein einziges seiner Worte von Gott in meine Seele kam, hatte ich als einer der einfältigsten Menschen gelebt, die man jemals ein geistliches Leben führen sah. Von des Teufels Bosheit wußte ich nicht, die Schwäche der Welt kannte ich nicht, die Falschheit der Menschen im geistlichen Stand war mir auch unbekannt. Ich muss reden - um der Ehre Gottes willen und auch wegen der Lehre, die dies Buch enthält. Ich Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 11 Mechthilds Werk ist aber keine Autobiographie, schon gar nicht chronologisch geordnet. Es wirkt sprunghaft und verdankt seine Ordnung in Bücher und Kapitel - mindestens zum großen Teil - überhaupt erst einer späteren Redaktion. Einen Lebensweg zu beschreiben ist nie Ziel des Werkes gewesen und dementsprechend schwierig ist es, ihn zu rekonstruieren: Mechthild scheint um 1230 aus dem Elternhaus zunächst nach Magdeburg - oder, wie man heute auch wahrscheinlich zu machen sucht, nach Erfurt - in ein Beginenhaus geflohen zu sein, wo sie sich anderen Beginen anschloss, d. h. Frauen, die in gemeinsamen Häusern ein klosterähnliches Leben führten, ohne jedoch der Regel eines bestimmten geistlichen Ordens zu folgen. In diesem Beginenhaus lebte sie in Askese, in selbst gewählter Armut und vermutlich auch, wie es üblich war, unter körperlichen Kasteiungen, die sie sich selbst zufügte. Mechthild dürfte, wenn man ihren Aufzeichnungen glaubt - und es besteht kein Grund, daran zu zweifeln -, häufig krank gewesen sein. Die visionären Erlebnisse, die ihr erstmals in ihrem zwölften Lebensjahr begegnet waren, hörten nicht auf, und nach zeitweiliger Unterbrechung dieser Unio-Erfahrungen begann sie sie um 1250 aufzuzeichnen; dies tat sie auf Geheiß ihres dominikanischen Beichtvaters Heinrich von Halle, der sie aufforderte, das Buch Fließendes Licht der Gottheit als Offenbarungszeugnis eigenhändig zu schreiben. Wann genau Heinrich von Halle als Seelenführer ins Leben Mechthilds eintrat, lässt sich nicht bestimmen. Die Spiritualität der Beginen, der Mechthild in diesem Beginenhaus begegnete, war zuvor im brabantisch-lüttichen Raum und im Rheinland geprägt worden, wo in zahlreichen Städten Beginengemeinschaften entstanden waren. Die Spiritualität der Beginen war - soweit man das heute noch sagen kann, weil ihre Bibliotheken und ihre schriftlichen Aufzeichnungen kaum noch existieren - von einer intensiven, personalen Gottesliebe gekennzeichnet. Die großartigen mystischen Texte der niederländischen Begine Hadewijch im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts und der französischen Begine Margarete Porete, die 1310 als Ketzerin in Paris verbrannt wurde, sind aber ebenso wie Mechthilds Fließendes Licht der Gottheit herausragende Einzelzeugnisse, die nicht als repräsentativ für die gesamte Literatur- und Geistessowie Glaubenswelt der Beginen verstanden werden dürfen. 5 Sehr anschaulich beschreibt das Leben der Beginen im Erfurt der Jahre 1282-1284, also nur kurz nach der Zeit Mechthilds, der Erfurter Nicolaus von Bibra in seinem lateinischen Gedicht „Occultus Erfordensis“. Dabei kommen eingangs die Vorurteile der städtischen Bevölkerung ebenso zur Sprache wie die fromme und rechtschaffen-fleißige Lebensart der Beginen, dazu ihre emotional-gefühlsbetonte Frömmigkeit und die Entzückung im mystischen jubilus . Hier die deutsche Übersetzung: Beginen gibt es dort in unendlicher Zahl; einige leben schlecht, andere von sich aus gut. Von diesen interessieren sich einige überhaupt nicht für schändliche und schmutzige Dinge, sondern sie ziehen es vor, zur Kirche zu gehen, Messen zu hören und reinen Herzens nach dem Ende der Messe zurückzukehren. So leben sie mit ruhigem Sinn wie Klosterfrauen; allerdings sind sie - wie unwürdige Sünderin wurde in meinem zwölften Lebensjahr, als ich allein war, vom Gruß des Heiligen Geistes mit so überströmender Macht getroffen (…). Aber Gott ließ mich nirgends allein und führte mich in so beseligende Süßigkeit, in so heilige Erkenntnis und in so unfaßbare Wunder, daß mir die irdischen Dinge völlig fremd wurden. Zuerst wurde mein Geist aus dem Gebet gerissen und zwischen den Himmel und die Luft entrückt. Da sah ich mit den Augen meiner Seele in himmlischer Herrlichkeit die Menschennatur unseres Herrn Jesus Christus in ihrer Schönheit, und ich erkannte in seinem erhabenen Antlitz die Heilige Dreifaltigkeit, die Ewigkeit des Vaters, das Leiden des Sohnes, die Liebe des Heiligen Geistes.“ 5 Vgl. Hasebrink, „‚Das Fließende Licht der Gottheit‘“, S. 150. 12 Freimut Löser ich sie einschätze - noch mehr zu rühmen als diejenigen, die hinter einem Schloß eingeschlossen werden, obwohl sie ohne sichtbares Zeichen und ohne viel Aufhebens Christus ihre Gelübde ablegen; mit Glaube, Liebe und Hoffnung im Herzen machen sie größere geistliche Fortschritte, als wenn sie dauernd irgendwo herumständen, laut sängen und dabei nur wenig Gutes im Sinn hätten. Jeden Tag geben sie nämlich reinen Herzens und zur Ehre Marias den Armen ein willkommenes Almosen. Sie fasten, wachen, spinnen Wolle zu Fäden und beweinen ihre Sünden. So arbeiten sie bei Tag und Nacht, vermeiden den Müßiggang und wirken Gutes. Gestern, heute und morgen hören sie nicht auf, den Beichtbrüdern ihre Sünden zu bekennen, und mit schlichten Worten und einem reichen Tränenstrom erzählen sie die Träume der Nacht und die Taten des Tages. Zwar nur selten, aber dennoch kommt es vor, daß einige von ihnen außer sich geführt oder entrissen werden, so daß sie Christus sehen; das Volk nennt dies ‚Jubel‘. 6 Während ihrer Béguinage, die man sich etwa ähnlich vorzustellen hat, wie sie Nicolaus beschreibt, scheint Mechthild das Gesamtwerk, das eine lange Entstehungsgeschichte hat, in einer ersten Version bis zum Jahr 1260 bis zum Ende des Buches V geschrieben zu haben. Zwischen 1260 und 1270 / 71 dürfte dann das VI . Buch des Gesamtwerks entstanden sein, das wir nur in einer redigierten Form besitzen. Um 1270 wurde Mechthild dann als bereits alte, vermutlich auch (mindestens zum Teil) erblindete Frau in das Zisterzienserinnenkloster Helfta (Helpede) bei Eisleben aufgenommen, wo dann das VII. und letzte Buch ihres Werks entstand. Damit ist zugleich e i n Höhepunkt, oder vielleicht d e r Höhepunkt, der sogenannten deutschen Frauenmystik markiert, der ins späte 13. Jahrhundert zu datieren ist und auf einen Ort, eben Helfta, konzentriert ist. Denn im sächsischen Zisterzienserinnenkloster Helfta begegnete Mechthild von Magdeburg in der Zeit um 1270 bis zu ihrem Tod um 1282 den beiden Visionärinnen Gertrud von Helfta (1256-1301 / 02) und Mechthild von Hackeborn (1241-1298), der Äbtissin des Klosters. Ihr neues unmittelbares Umfeld war literarisch außergewöhnlich fruchtbar. Dabei besonders hervorzuheben ist der Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn und der Legatus divinae pietatis Gertruds, der als botte der götlichen miltekeit auch ins Deutsche übersetzt wurde. Getrud von Helfta, die seit 1674 bei den Benediktinern und seit 1738 allgemein in der katholischen Kirche den Status einer Heiligen erhielt, hat gar als eine der wenigen Frauen in der Geschichte den Beinamen ‚die Große‘ erhalten. Gertruds Erfahrungen sind intensiv brautmystischer Natur: Jesusminne und klösterliche Liturgie dominieren bei ihr ähnlich wie bei Mechthild von Hackeborn in deren Liber specialis gratiae . Bei den beiden zisterziensischen Mystikerinnen in Helfta kann man von einer starken Herz-Jesu-Verehrung sprechen. Als Sitz des Gefühls steht das Herz für die allumfassende Liebe und Gnade Gottes. Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg freilich ist - stärker als die Werke ihrer Mitschwestern - von hoher poetischer Kraft. Es wechselt zwischen Visionen, Meditationen, Gebeten, Allegorien und Lehrreden. Die bildhafte Sprache Mechthilds ist primär von Gefühlen und inneren Erlebnissen geprägt. Sie ist aber ohne Einbindung in die literarische Tradition nicht denkbar. 6 Mundhenk, Christine (Hg.). Der Occultus Erfordensis des Nicolaus von Bibra . Kritische Edition mit Einführung, Kommentar und deutscher Übersetzung. Weimar 1997. S. 242-245. Vgl. dazu: Löser, Freimut: „Meister Eckhart, die ‚Reden‘ und die Predigt in Erfurt. Neues zum sogenannten ‚Salzburger Armutstext‘“. Meister-Eckhart-Jahrbuch Bd. 6. Hgg. Dagmar Gottschall und Dietmar Mieth. Stuttgart 2013. 65-96, hier S. 70-77 und 95 f. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 13 Diese gemeinsame literarische Tradition wurde in Helfta gebildet durch die allgemeine monastische und biblische Tradition, etwa Bernhards von Clairvaux oder der Hochzeitsmetaphorik des Hohen Liedes und des Neuen Testaments, wobei speziell der Psalter eine große Ausstrahlungskraft besitzt. „Mechthilds von Magdeburg Werk ist“, wie Alois Haas dies beschrieben hat, um eine ganze Dimension reicher als die Werke ihrer Helftaer Mitschwestern. Diese betten nämlich ihre zahlreichen Visionen eigentlich erzählend in den klösterlichen Alltag, besonders in den liturgisch vorgegebenen Kontext ein, während bei Mechthild gerade das Episodenhafte in die direkte Konfrontation mit Gott übertritt. Das Moment der Erfahrung dominiert in jedem Fall über das erzählerischer Vergegenwärtigung und Relativität, so dass bei ihr die Kategorie des Lyrischen mit ihrer Faszination unmittelbarer Erfahrung die absolute Verbindlichkeit unreduzierbarer Sprache erhält. 7 Mechthild genießt in dieser Zeit, zwischen 1270 bis zu ihrem Tod, jedenfalls auch eine gewisse Schutzfunktion des Klosters. Dort ist sie äußeren Anfeindungen nicht mehr so ausgesetzt wie sie es als Begine war. Nach neuester Forschung 8 dürfte Mechthild von Magdeburg vermutlich um 1282, nach älterer Forschungsmeinung um 1294, in Helfta gestorben sein. Gertrud von Helfta hat im Legatus divinae pietatis das Sterben Mechthilds von Magdeburg in üblicher hagiographischer Überhöhung geschildert. In Gertruds Verbildlichung zeigt der Herr der sterbenden Mechthild das von ihr verfasste Buch als Trost. 3. Das Fließende Licht der Gottheit 3.1 Textgeschichte Wie schon gesagt, ist die Textgeschichte des aus einzelnen Büchern bestehenden Werkes einigermaßen komplex. Kurt Ruh geht von drei verschiedenen Arbeitsphasen aus: 9 1) Buch I-V: zwischen 1250 und 1259; 2) Buch VI : zwischen 1260 und 1270 / 71; 3) Buch VII : zwischen 1271 und 1282 in Helfta. Für Buch I-V nämlich gibt es eine eigene lateinische Vorrede, die stark auf den Anteil des Dominikanerordens an diesem Werk abhebt. Von Mechthild wird in dieser lateinischen Vorrede gesagt, sie sei in vollkommener Weise den Fußstapfen des Predigerordens gefolgt, und ein Bruder dieses Ordens der Dominikaner, Heinrich von Halle, habe dieses Buch geradezu mitgeschrieben. Nach Abschluss von Buch VI fand dann offensichtlich eine zweite, geradezu ,offizielle‘ Redaktion des Gesamtwerkes statt, für die dann wiederum der Betreuer Mechthilds, eben Heinrich von Halle, einen eigenen Schluss formulierte, der klar als solcher konzipiert ist und die Einheit der Bücher I-VI als neugefasste, sekundäre Redaktion deutlich macht. Die Aufzeichnungen der Nonne Mechthild von Magdeburg in Helfta (Buch VII ) heben sich von Inhalt und Diktion her gesehen markant von den Büchern I-V ab, weniger erheblich von Buch VI , das auf eine Übergangsphase hinzuweisen scheint. Von diesen Büchern I- VI wurde eine lateinische Übertragung, die sog. Revelationes , hergestellt, die textkritisch deshalb bedeutsam ist, weil sie auf einer früheren Textstufe beruht (der Textstufe, die nur aus sechs Büchern bestand). 7 Haas, Alois Maria. „Mechthild von Magdeburg“. Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik (Dokimion 4). Freiburg / Schweiz 1979. S. 67-135, hier: S. 75. 8 Vgl. Hasebrink, „‚Das Fließende Licht der Gottheit‘“, S. 151. 9 Vgl. Ruh, Geschichte , S. 250 f. 14 Freimut Löser Man sieht daran, dass man von der Seite des Ordens sehr um das Werk bemüht war; besonders darum, die volkssprachliche Offenbarung Mechthilds dem lateinischen Bereich zugänglich zu machen. Interessanterweise gibt es von diesen Revelationes wiederum eine eigenständige Rückübersetzung ins Deutsche. Was aber von diesem Werk überhaupt überliefert ist, ist die lateinische Übersetzung der Bücher I- VI , wohl im Dominikanerkloster Halle nicht lange nach Mechthilds Tod entstanden, und eine deutsche Fassung der Bücher I- VII . Diese ist erst etwa um 1343 / 45 (also mehr als 50 Jahre nach Mechthilds Tod) in Basel entstanden und ist schreibsprachgeographisch gesehen oberrheinisch. Mechthild aber schrieb, so war aus einzelnen Sprachspuren zu erschließen und so postulierten die Spezialisten, u. a. Kurt Ruh, „die Sprache ihrer Heimat, ein elbostfälisches Niederdeutsch mit mitteldeutschen Einschlägen. Von diesem niederdeutschen Original gibt es auch nicht den spärlichsten Textzeugen“. 10 Das war der Stand der Forschung und die Lage der Dinge, bis ein Handschriftenfund in geradezu sensationeller Weise Veränderung brachte. Denn die beiden russischen Forscherinnen Squires und Ganina haben ein Fragment eines Textes aus ursprünglich Halberstädter Beständen, das in den Kriegswirren nach Moskau kam, vorgestellt. 11 Dieses Fragment bietet jetzt nichts weniger, so zuletzt Nigel Palmer, 12 als eine Version des 13. Jahrhunderts, die mit ihrer niederdeutsch gefärbten, ostmitteldeutschen Schreibsprache zeitlich und räumlich der Originalversion des Werkes nahesteht. Es gibt also inzwischen einen Beweis für die frühere Vermutung von der ursprünglichen Fassung. Das Moskau / Halberstädter Fragment ist aber freilich eben nur ein Fragment, und um den ganzen Text lesen zu können, ist man nach wie vor auf die Ausgabe auf der Basis der oberrheinischen Umschrift angewiesen. „Diese alemannische Umschrift in die Basler Schreibsprache“, so Ruh, „verdankt ihre Existenz dem Kreis der Gottesfreunde um Heinrich von Nördlingen, dem auch der bekannte Mystiker Johannes Tauler während der Zeit des Interdikts angehörte.“ 13 Ruh zufolge ist die Mystik in dieser Zeit „gesellschaftsfähig“ geworden. Sie hat eine gesellschaftliche Komponente in der elitären Basler Gesellschaft gefunden und ist damit auch literarisch geworden. Man ließ mystische Texte abschreiben und verbreiten. Dies kann in zwei sehr sorgfältig geschriebenen Pergamenthandschriften gezeigt werden, die von einer „halbgeistlich“ lebenden aus einer vornehmen Basler Familie stammenden jungen Frau, Margarete vom Goldenen Ring, den Waldschwestern im Einsiedler Hochtal testamentarisch vermacht wurden: Das sind heute die Codices 277 und 278 der Einsiedler Stiftsbibliothek. Sie enthalten vor allem Predigten Meister Eckharts (278) und eben Mechthilds Fließendes Licht (277). Auf das Begleitschreiben, mit dem Heinrich von Nördlingen Mechthilds Fließendes Licht verschickt hat, wird noch genauer einzugehen sein. Soweit die, komplizierte, Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte. Was aber ist eigentlich das Fließende Licht der Gottheit ? 10 Ruh, Frauenmystik , S. 252. 11 Squires, Catherine und N. Ganina: „Ein Neufund des ‘Fließenden Lichts der Gottheit’ aus der Universitätsbibliothek Moskau und Probleme der Mechthild-Überlieferung“. ИНДОЕВРОПЕЙСКОЕ ЯЗЫКОЗНАНИЕ И КЛАССИЧЕСКАЯ ФИЛОЛОГИЯ - XIII. Материалы чтений, посвященных памяти профессора Иосифа Μоисеевича Тронского. 22 - 24 июня 2009 г. Sankt Petersburg 2009. 643-654. 12 Vgl. ebd. 13 Ruh, Frauenmystik , S. 252. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 15 3.2 Texttyp Den Typus des Werkes versucht Ruh mit dem Terminus ‚Bekenntnisbuch‘ zu fassen; er würde „am liebsten […] im Anschluß an Goethes Wilhelm Meister , sagen: Es sind ‚Bekenntnisse einer minnenden Seele‘.“ Auch Alois Haas denke in erster Linie an die Tradition der ‚Soliloquia‘ und ‚Confessiones‘, namentlich Augustins Gespräch mit dem göttlichen Partner, an Gotteslob und Gebet. Mit ‚Bekenntnissen‘ sei im Übrigen auch der Meditationscharakter von Mechthilds Buch mitbestimmt. „‚Meditationen‘, heute ein Universalbegriff mit einer schillernden Vielfalt von Bedeutungen“, bezeichne seit der Väterzeit die intensive Versenkung in die Schrift, im Mittelalter mit Anselm von Canterbury zusätzlich aber auch einen literarischen Typus, der „Reflexionen christlicher Wahrheiten und persönlicher Erfahrungen“ festhalte. Endlich umschließe die Bezeichnung ‚Bekenntnisse‘ auch den Tagebuch-Begriff. 14 Damit ließe sich der Typus des Werkes - weit gefasst und schillernd genug - in etwa bestimmen. Der Titel vom Fließenden Licht der Gottheit bleibt merkwürdig und erklärungsbedürftig. Hans Neumann, Herausgeber des Werks 15 und verantwortlich auch für den Artikel im Verfasserlexikon, fasst ihn so: Gewiß steht hinter der Metaphorik des Fließens, sich Ergießens, des Wassers, des Brunnens neben den biblischen ‚Vor-Bildern‘ auch der Emanatismus des Pseudo-Dionysius Areopagita sowie die neuplatonische Lichtmetaphysik neben den jüdisch-christlichen Vorstellungen vom göttlichen Brunnen, Licht und Feuer. 16 Alois Haas hat, wegweisend, Mechthilds Titel so interpretiert: Die Einsicht, daß Gott Licht ist, ist so traditionell neuplatonisch wie christlich. Für die mittelalterliche Ästhetik ist die Lichtmetaphysik schlechterdings grundlegend, […] Gott ist in einem unmetaphorischen Sinne Licht; er ist Licht, er erscheint nicht nur so. Theophanien ereignen sich daher stereotyp in Form von Lichtphänomenen. Auch bei Mechthild. Aber - und hierin wendet sie sich gegen die gesamte Tradition - sie setzt den Akzent nicht auf das zum Licht triebhaft emporhastende Geschöpf, sondern das Licht wird in seiner Qualität des Verströmens gefaßt; es ist ein vliessende lieht miner gotheit, in allú die herzen die da lebent ane valscheit (Einleitung). Die Figur des Aufstiegs wird in die des göttlichen Abstiegs verkehrt: […] die Selbstvernichtigung Gottes in der Menschwerdung wird zur Erscheinung herabfließenden Lichts. 17 Auf die Metapher des Fließens wird noch einzugehen sein. Hier stellt sich zunächst die Frage, woher Mechthild über diese Metaphorik - auch wenn sie nach Haas gar keine ist - verfügte. Für Neumann, Ruh und andere war klar, dass Mechthild aus verschiedenen Quellen, wahrscheinlich unterwiesen durch Ordenspriester wie ihren Beichtiger Heinrich von Halle, auf diese Terminologie und diese Topoi gestoßen war und dass sie auf diese Weise Dinge und Texte kennengelernt hatte, die sie in ihren Visionen und Betrachtungen, Dialogen und gedanklichen Erörterungen frei verwerten konnte. Anders als bei Hadewijch aber sei für Mechthild, so Neumann, wegen ihrer mangelnden Lateinkenntnisse und ihrer mangelnden theologischen Bildung eine Vermittlung durch Bücher in der lateinischen Kirchensprache 14 Ruh, Frauenmystik , S. 256. 15 Vgl. neben der Ausgabe Vollmann-Profes: Mechthild von Magdeburg: „Das fließende Licht der Gottheit“. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung . Hgg. Hans Neumann und Gisela Vollmann-Profe. 2 Bde. München / Zürich 1990 und 1993. 16 Neumann, „Mechthild“, Sp. 263 f. 17 Haas, „Mechthild“, S. 81 f. 16 Freimut Löser ausgeschlossen. Es sei dagegen nicht unwahrscheinlich, dass Mechthild Anregungen aus Schriften der älteren mittelniederländischen Frauenmystik erhalten habe. 18 So gesehen passt ihre Béguinage und ihre spätere Tätigkeit im Kloster Helfta in dieses Bild, denn schon im Beginenhaus kann sie mit Texten in Berührung gekommen sein, die diese mittelniederländische Frauenmystik rezipiert und vermittelt haben könnten. 3.3 Inhalt und Bedeutung Das Werk lässt sich mit Neumann grob so gliedern: 19 In den ersten beiden Büchern treten besonders die „Wechselgesänge zwischen der Seele und Gott“ und die „Dialoge über Wesen und Wirkung der Minne“ hervor. Dabei stehen „brautmystische Vorstellungen und Minneklagen im Vordergrund, oft im Anklang an das Hohelied, an den frühen Minnesang oder an volkstümliche Lieddichtung.“ Seit dem dritten Buch werden einfache Visionsberichte über Himmel, Fegefeuer und Hölle sowie verschiedene Lehrdialoge mit Gott und verschiedene Minnebetrachtungen häufiger. Im siebten Buch ist dann die wieder stärker hervortretende Brautmystik kein Ausdruck der Minneekstase mehr, sondern Zeugnis der Unioerwartung nach dem Tod. Alois Haas hat einen etwas anderen Gliederungsansatz versucht und dargestellt, wie sich die Mechthild’sche Mystik in insgesamt drei Aspekten gliedern lasse: Der erste Aspekt betreffe die Unmittelbarkeit der mystischen Vereinigung der Seele mit Gott; der zweite die Entfremdung der Seele zu Gott; der dritte die dialektische Versöhnung beider im Konzept der sinkenden Demut und Liebe. 20 Zum ersten dieser Aspekte (Vereinigung) hält Haas fest: „Mechthilds Mystik ist affektive Liebesmystik, in der die gnadenhafte Vereinigung von Gott und Seele durch das Personal von Bräutigam und Braut und entsprechende erotische Symbolik vergegenwärtigt wird.“ 21 Dafür gibt Haas ein anschauliches Beispiel aus Mechthilds Werk: 1 Herre, nu bin ich ein nakent sele, Und du in dir selben ein wolgezieret got. Únser zweiger gemeinschaft Ist der ewige lip ane tot. 5 So geschihet da ein selig stilli Nach ir beider willen. Er gibet sich ir und si git sich ime. Was ir nu geschehe, das weis si, Und des getroeste ich mich. 22 Auf den ersten Blick verwirrend ist der Gebrauch der Pronomina, wenn in den Zeilen 1-4 die Seele zu Gott spricht und in den Zeilen 5-9 ‚Mechthild‘ über ihre Seele und Gott. Auf 18 Neumann, „Mechthild“, Sp. 264. 19 Neumann, „Mechthild“, Sp. 263. 20 Haas, „Mechthild“, S. 108. 21 Haas, „Mechthild“, S. 108. 22 Zitiert nach: Haas, „Mechthild“, S. 109. Übersetzung Vollmann-Profe: „Herr, nun bin ich eine nackte Seele und du in dir selbst ein Gott in großer Herrlichkeit. Unser beider Gemeinschaft ist das ewige Leben ohne Tod. Darauf tritt da eine selige Stille ein, wie es beide wollen. Er schenkt sich ihr, und sie schenkt sich ihm. Was ihr jetzt geschieht, das weiß sie, und das ist mein Trost.“ Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 17 den zweiten Blick erkennt man, dass gerade so - im Sinn einer Einheitsmystik - Differenzen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Person, Seele und Gott verwischt werden. Der zweite von Haas benannte Aspekt besteht in einer Entfremdung oder in einer Gottesferne, die freilich bewusst angenommen wird; etwa wenn die Seele gerade die Leiderfahrung in der Gottesferne überschwänglich begrüßt: Siest willekomen, vil selig vroemedunge! Wol mir, das ich ie geboren wart, da du, vrouwe, nu min kamererin solt sin, wan du bringest mir ungewone vroede und unbegriffenlich wunder und darzuo untreglich suessekeit! Aber, herre, die suessekeit solt du von mir legen und la mich din vroemedunge han! 23 Eya, selige gotzvroemedunge, wie minnenklich bin ich mir dir gebunden? Du stetigest minen willen in der pine und liebest mir die sweren, langen beitunge in disem armen libe. Swa mitte ie ich mich zuo dir geselle, got ie grossor und wunderlichor uf mich vallet. O herre, ich kan in der tieffi der ungemischeten diemuetikeit nit entsinken. Ouwe, ich dir in dem homuote lihte entwenke. Mere: ie ich tieffer sinke, ie ich suessor trinke. 24 Die Bewegung der Einheit erfolgt dabei, wie Haas betont, weniger vom Individuum zu Gott als vielmehr von Gott zur menschlichen Seele hin. Notwendig dafür ist der dritte, von Haas benannte Aspekt, der Aspekt der sinkenden Liebe. Damit die Liebe Gottes in den Menschen sinken oder hinabfließen kann, bedarf es freilich sowohl der göttlichen als auch der menschlichen Demut. Mechthild bringt dies im Buch II ins Wort, wenn sie Gott so sprechen hört: Wa ich je sunderliche gnade gap, da sůchte ich je zů die nidersten, minsten, heimlichosten stat; die irdenschen hohsten berge moegent nit enpfan die offenbarunge miner gnaden, wan die vluot mines heligen geistes vlússet von nature ze tal. 25 Susanne Köbele hat für Mechthilds Kennzeichnung dieses Bild des Flusses gewählt, ist aber dessen Fließrichtung von oben nach unten gefolgt und hat damit auch die Bedeutung der Demut erfasst; 26 das wird besonders an dem von Köbele gewählten Textausschnitt evident, 23 Kurt Ruh, Altdeutsche Mystik , Bern 1950, S. 20, 13-18. Zitiert nach Haas, „Mechthild“, S. 114. Übersetzung Vollmann-Profe: „Sei willkommen, höchst beseligende Verlassenheit! Wohl mir, daß ich geboren wurde, da du, Herrin, nun meine Kammerfrau sein wirst! Denn du bringst mir ungewohnte Freude und unbegreifliche Wunder und dazu unerträgliche Süße. Aber, Herr, die Süße sollst du von mir nehmen und laß mir das Fernsein von dir! “. 24 Ruh, Altdeutsche Mystik , S. 21, 20-33, zitiert nach Haas, „Mechthild“, S. 115. Übersetzung Vollmann- Profe: „O selige Gottesferne, welch liebenswerte Fessel bist du mir! Du stärkest meinen Willen in der Pein und machst mir das beschwerliche, lange Ausharren in diesem elenden Leib lieb. Je mehr ich mich dir - auf welche Weise auch immer - verbinde, um so gewaltiger und wunderbarer senkt sich Gott auf mich herab. O Herr, ich kann dir in der Tiefe der reinen Demut nicht entgleiten; o weh, leicht (aber) entferne ich mich im Hochmut von dir. Aber je tiefer ich sinke, desto süßer trinke ich.“ 25 Haas, „Mechthild“, S. 118. Übersetzung Vollmann-Profe: „Wo immer ich besondere Gabe gewährte, da suchte ich stets die niedrige, geringste, verborgenste Stelle dafür; die irdischen höchsten Berge können die Offenbarung meiner Gnade nicht aufnehmen, denn die Flut meines Heiligen Geistes fließt von Natur aus talwärts.“ 26 Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache . Tübingen 1993. 18 Freimut Löser wo Gott Mechthild verkündet, er wähle sich für seine Offenbarung die niederste und geringste Stätte: […] wan die vlůt mines heligen geistes vlússet von nature ze tal. Man vindet manigen wisen meister an der schrift, der an im selber vor minen oͮgen ein tore ist. Und ich sage dir noch me: Das ist mir vor inen ein gros ere und sterket die heligen cristanheit an in vil sere, das der ungelerte munt die gelerte zungen von minem heligen geiste leret. Hier, so Köbele, werde ein „ungelehrtes Charisma“ beschworen, und damit liege hier eine „Schlüsselstelle für das Selbstverständnis der Autorin“ vor. Mechthild setze „ihr Nicht- Wissen […] der schulwissenschaftlichen Theologie selbstbewusst gegenüber“. Dem Meister der - lateinischen - Schrift trete mit Mechthild die ‚Laienautorin‘ gegenüber. „Die Niedrigkeit der Volkssprache qualifiziert diese […] in besonderer Weise für die mystische Offenbarung.“ 27 Halten wir also noch einmal die drei von Haas benannten Aspekte Mechthilds fest: Einerseits die Unmittelbarkeit der mystischen Vereinigung der Seele mit Gott, andererseits die Entfremdung der Seele zu Gott, und schließlich die dialektische Versöhnung beider im Konzept der sinkenden Demut und Liebe. Ruh hat diese drei Aspekte durch Umrisse einer theologischen Konzeption ergänzt, die sich weniger am mystischen Gehalt als vielmehr an der Theologie Mechthilds orientieren. Ruh geht davon aus, dass dabei erstens der trinitarische Gott und die Sicht darüber hinaus, zweitens die Heilsgeschichte und drittens die Betrachtung und Erwartung der Endzeit eine Rolle spielten. So lässt sich mit Ruh zeigen, wie Mechthilds Gedanken vielfach um den dreieinigen Gott kreisen und wie dies zumeist in der bei ihr relativ selten vorkommenden direkten Vision geschieht. 28 Entscheidend ist, dass Mechthild, wie etwas später dann auch Meister Eckhart, letztlich über die trinitarische Vorstellung hinausweist: „Dem Bild der Engel vom dreieinigen Gott vor der Menschwerdung Christi geht nach Mechthilds Vorstellung ein anderes voran: die Gottheit vor der Schöpfung ( VI 31, 26-31): ‚Wo war Gott, bevor er etwas geschaffen hat? Er war in sich selber, und ihm waren alle Dinge (im Geiste) gegenwärtig und offenkundig, so wie sie heute (geschaffen) sind. Welche Gestalt hatte damals unser Herrgott? Ganz so wie eine Kugel, und alle Dinge waren in Gott beschlossen ohne Schloß und ohne Tür. Der unterste Teil der Kugel ist die grundlose Festung über allen Abgründen, der oberste Teil ist eine Höhe, über die nichts hinausgeht, der Umfang der Kugel ist ein nicht zu umgreifender Kreis ( cirkel ).‘ Ruh deutet dies so: „Das Bild dieser intelligiblen Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist, das immer wieder in der platonisierenden Tradition auftaucht und bis auf Empedokles zurückgeführt wird, ist sicher ein theologischer Bildungssplitter. Das Erstaunliche ist, wie immer bei Mechthild, die Umformung ins Eigene. Die implizierte Offenheit der Kugel wird mit ‚ohne Schloß und Tür‘ konkretisiert, zum ‚nicht zu umgreifenden‘ Umfang tritt die Vorstellung eines ‚unten‘ und ‚oben‘: hier reicht sie ins Unendliche, dort ist sie Materie, organisierter Stoff der Welt.“ Dem besonders im dritten Buch geschilderten Ablauf der Heilsgeschichte mit ihrer extremen Vermenschlichung der göttlichen Personen folgt dann eine Konzentration auf die letzten Dinge, nämlich die Darstellung des Antichrist und der beiden Propheten Enoch und 27 Köbele, Unbegriffene Wahrheit, S. 35 f. Köbele zitiert Kap. II, 26. 28 Ruh, Geschichte , S. 276 f. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 19 Elias, wobei diese Partien sich besonders in den Büchern IV und VI finden. Ruh hat Recht, wenn er darstellt, wie wichtig solche Partien für Mechthilds kirchliche Sendung, wie unwichtig sie aber für ihre mystische Spiritualität sind. Freilich hat Neumann mit Recht das Auftauchen auch subtiler theologischer Probleme bei Mechthild benannt: 29 trinitarische Spekulationen in den Büchern II ,3, III ,9, und IV ,14; die Erschaffung der Seele (I,22, III ,9, VI ,31); das Verhältnis von Seele und Leib während der Ekstase ( VI ,13) und die Rückkehr des Geschöpfs in den Schöpfer ( VII ,25). Diese Aufstellung einzelner theologischer Themen, wie sie Neumann vorgenommen hat, lässt sich durch eine generelle Bemerkung ergänzen: Für Mechthild von Magdeburg steht es außer Frage, dass sie mit ihrem Buch eigenhändiges Zeugnis ihrer mystischen Offenbarungen ablegt und für sie steht es, und dies wird im Buch II ,26 besonders deutlich, stets außer jeder Frage, dass sie dabei im göttlichen Auftrag handelt. In diesem göttlichen Auftrag kann sie auch Prophezeiungen aussprechen, die eine scharfe Kritik der Kirche und kirchlicher Institutionen beinhalten. Buch VI ,21 beispielsweise ist stark geprägt von einer Sichtweise, wie sie etwa Joachim von Fiore in seinen Prophezeiungen formuliert hatte. Mechthild spricht hier joachitisch geprägt eigene Prophezeiungen aus, die den Niedergang der Kirche, das Kommen des Jüngsten Gerichts und das Heraufdämmern eines eigenen Ordens der Jüngsten Brüder beschreiben: XXI . Wie boͤsú pfafheit sol genidert werden, wie predier alleine predien soͤnt und beschoͤve sin und von den jungesten predieren Owe crone der heligen cristanheit, wie sere bistu geselwet! Din edelsteine sint dir entvallen, wan du krenkest und schendest den heligen cristanen geloͮben; din golt das ist verfúlet in dem pfůle der unkúscheit , wan du bist verarmet und hast der waren minne nit; din kúscheit ist verbrant in dem girigen fúre des frasses; din diemůt ist versunken in dem sumpfe dines vleisches; din warheit ist ze nihte worden in der lugine dirre welte; din blůmen aller tugenden sint dir abegevallen. Owe crone der heligen pfafheit, wie bistu verswunden! Joch hastu nicht mere denne das umbeval din selbes, das ist pfaͤffeliche gewalt, da mitte vihtestu uf got und sine userwelten vrúnde. Harumbe wil dich got nidern, e du icht wissest, wan únser herre sprichet alsus: »Ich wil dem babest von Rome sin herze ruͤren mit grossem jamere, und in dem jamere wil ich ime zůsprechen und klagen im, das minú schafhirten von Jerusalem mordere und wolve sint worden, wande si vor minen oͮgen die wissen lamber mordent, und die alten schaf dú sint allú hoͮbtsiech, wan sú (118v) moͤgent nit essen die gesunden weide, die da wahset an den hohen bergen, das ist goͤtlichú liebi und heligú lere. Swer den helleweg nit weis, der sehe an die verboͤsete pfafheit, wie rehte ir leben zů der helle gat mit wiben und mit kinden und mit andern offenbaren súnden. So ist des not, das die jungesten brůder kommen; wan swenne der mantel ist alt, so ist er oͮch kalt. So muͤs ich miner brut, der heligen cristanheit, einen núwen mantel geben.“ Das soͤllent die jungesten brůder wesen, als da vor ist geschriben. „Sun babest, dis soltu vollebringen, so mahtu din leben lengen; das nu din vorvaren also unlange lebeten, das kumt da von, das si mines heimlichen willen nit vollebrahten.« Alsus sach ich den babest an sinem gebette, und do horte ich, das im got kúndete dise rede. 30 29 Neumann, „Mechthild“, Sp. 264 f. 30 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , Buch VI, 21, S. 478, 1-35. Übersetzung: „XXI. Wie die verderbte Geistlichkeit gedemütigt werden wird; wie allein Prediger-Mönche predigen und Bischöfe sein sollen und von den Letzten Predigern. O weh, Krone der heiligen Kirche, wie sehr bist du beschmutzt! Deine Edelsteine sind dir ausgefallen, denn du schwächst und schändest den heiligen christlichen Glauben; dein Gold ist verrottet im Pfuhl der Unkeuschheit, denn du bist arm geworden und besitzt die wahre Liebe nicht; deine Mäßigkeit ist verbrannt im gierigen Feuer der Völlerei; deine Demut ist versunken im Sumpf deines Fleisches; deine Wahrheit ist zunichte geworden in der Verlogenheit dieser Welt; 20 Freimut Löser Auch vor Kritik am eigenen Stand der Beginen scheut Mechthild während ihrer Beginenzeit nicht zurück, so etwa wenn sie die Frage anspricht, mit welchen Tugenden man an der Eucharistie teilnehmen soll: Die vil torehtigen beginen, wie sint ir also vrevele, das ir vor únserm almehtigen rihter nit bibenent, wenne ir gotz lichamen so dikke mit einer blinden gewonheit nemment! Nu ich bin die minste under úch, ich můs mich schemmen, hitzen und biben. 31 Auch als Nonne in Helfta spart sie beispielsweise im Kapitel VII ,27 ( Wie der geistlich mensche sin herze sol keren von der welt ) nicht mit Kritik an den Klosterschwestern. Bei der Kritik spart sie sogar den Orden der Dominikaner, den sie sonst lobt, nicht aus: Sant Dominicus der merkte sine bruͤder mit getrúwer andaht, mit lieplicher angesiht, mit heliger wisheit, und nit mit vare, nit mit verkerten sinnen und nit mit grúwelicher gegenwúrtikeit. Den wisen leret er fúrbas me, das er mit gotlicher einvaltekeit solte temperen alle sin wisheit; den einvaltigen lerte er die waren wisheit; den bekorten half er tragen heimelich alles ir herzeleit; die jungen lerte er vil swigen, da von wurden si uswendig gezogen und inwendig wise; die kranken und siechen troste er vil minneklich, und er bedahte oͮch alle ir not mit getrúwem vlisse. Si vroͤweten sich alle gemeine siner langen gegenwúrtekeit, und sin suͤssú geselleschaft mahte inen senfte alle ir kumberliche erbeit. Dirre orden was in den ersten ziten reine, einvaltig und dar zů vol der brennenden gottes liebi. Die reine einvaltekeit, die got einigen menschen git, die wirt <underwilen also> gespottet von etlichen lúten, das er die gabe verlúret, da man die gotz wisheit inne vindet und kúset; das verloͤschet oͮch gotz brennende minne. […] Das man die brůdere ze sere tribet ane erbarmherzekeit und ane suͤsse lere, da von geschehent schedelichú ding, der ich nu muͤs swigen. 32 all deine Tugendblumen sind dir abgefallen. O weh, Krone der heiligen Geistlichkeit, wie bist du verlorengegangen! Fürwahr, du besitzt nur noch die Hülle deiner selbst, das ist die priesterliche Gewalt; damit kämpfst du gegen Gott und seine auserwählten Freunde. Darum wird dich Gott demütigen, ehe du dich versiehst, denn dazu sagt unser Herr: „Ich will das Herz des Papstes von Rom mit großem Jammer erfüllen, und in dem Jammer will ich ihn ansprechen und ihm klagen, daß meine Schafhirten von Jerusalem zu Mördern und Wölfen geworden sind, da sie vor meinen Augen die weißen Lämmer morden, und die alten Schafe sind alle verwirrten Geistes, denn sie mögen nicht von dem gesunden Weidefutter fressen, das da auf den hohen Bergen wächst, nämlich: göttliche Liebe und heilige Lehre. Wer den Weg zur Hölle nicht kennt, der braucht nur auf die verdorbene Geistlichkeit zu schauen, wie ihr Leben geradewegs zur Hölle führt mit Weibern und Kindern und mit anderen zutage liegenden Sünden. So ist es nötig, daß die Letzten Brüder kommen; denn wenn der Mantel alt ist, dann wärmt er auch nicht. Dann muss ich meiner Braut, der heiligen Christenheit, einen neuen Mantel geben.“ Das sollen, wie oben ausgeführt, die Letzten Brüder sein. ‚Sohn Papst, dies sollst du vollbringen! So kannst du dein Leben verlängern. Daß nun deine Vorgänger ein so kurzes Leben hatten, das kommt davon, daß sie meinen verborgenen Willen nicht vollbrachten.‘ So schaute ich den Papst bei seinem Gebet, und da hörte ich, daß ihm Gott dies verkündete.“ 31 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , III, 15, S. 192, 31-35. Übersetzung: „O ihr höchst törichten Beginen, wie seid ihr so vermessen, daß ihr vor unserem allmächtigen Richter nicht zittert, wenn ihr den Leib des Herrn so oft in gedankenloser Gewohnheit empfangt! Nun bin ich die Geringste unter euch - ich kann nicht anders, als von heißer Scham erfüllt zu sein und zu zittern.“ 32 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , V, 24, S. 380, 20-37, S. 382 21-23. Übersetzung: „Sankt Dominikus begegnete seinen Mitbrüdern mit wohlmeinender Aufmerksamkeit, mit freundlicher Miene, mit heiliger Weisheit und nicht mit Übelwollen, nicht mit Falschheit und nicht mit einschüchterndem Auftreten. Den Weisen förderte er durch die Belehrung, daß er alle seine Weisheit mit göttlicher Einfalt verbinden solle; die Einfältigen lehrte er die wahre Weisheit; den Angefochtenen half er im stillen, all ihre Herzensqual zu tragen. Die Jungen lehrte er langes Schweigen; dadurch lernten sie, nach außen gefaßt und im Innern weise zu sein. Die Schwachen und Kranken tröstete er sehr liebevoll, und er linderte auch mit treuem Eifer all ihre Not. Sie freuten sich alle zusammen über seine lange Anwesenheit, und seine wohltuende Gegenwart machte ihnen alle ihre schmerzliche Mühsal leicht. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 21 Noch schärfer freilich formuliert Mechthild ihre Kritik am Domkapitel: Das got die tůmeherren heisset boͤke, das tůt er darumbe, das ir vleisch stinket von der unkúscheit in der ewigen warheit vor siner heligen drivaltekeit. 33 Die allgemeine Kritik umgreift auch den Papst, was besonders deutlich wird, wenn man sich das eben zitierte Buch VI ,21 (vgl. oben Anm. 30) noch einmal näher ansieht, denn die Krone der hl. Christenheit, die dort im Verfall geschildert wird, ist niemand anders als der Papst, was gerade die direkte Anrede am Ende von Buch VI ,26 ( Sun babest, dis soltu vollebringen ) verdeutlicht. Mechthilds Kritik umgreift dann auch die Kirche als Ganzes (Buch V,34). Gleichzeitig scheut sie nicht davor zurück, ihren eigenen Herkunftsstand und den Adelsstand insgesamt zu kritisieren, etwa wenn sie sich gegen adelige Damen wendet. Die Kritik bleibt allerdings auch nicht einseitig. So ist festzustellen, dass Mechthild die Gefahren, die in den Augen der Kirche von einer kirchenfernen Mystik ausgehen, selbst erkennt und sich unmissverständlich gegen Strömungen ihrer Zeit ausspricht, die auch in ihren Augen häretisch sind: Das Buch VII mit dem Kapitel 47 ist ein sprechendes Beispiel dafür: XLVII . Von einer súnde dú boͤse ist úber alle súnde Ein súnde hab ich gehoͤret nemmen. Ich danken des gotte, das ich ir nit erkenne; si dunket mich und ist ob allen súnden boͤse, wan si ist der hohste ungeloͮbe. Ich bin ir von aller miner sele und von allem minem libe und von allen minen fúnf sinnen und von allem minem herzen gram. Ich danken des Jhesu Christo, dem lebendigen gotz sune, das si nie in min herze kam. Dise súnde ist nit von cristanen lúten ufkomen; der homuͤtige vient hat die einvaltigen lúte mit betrogen. Si wellent also helig sin, das si sich in die ewigen gotheit wellent ziehen und legen bi der ewigen heligen menscheit únsers herren Jhesu Christi. Wenne sich die vindent in bobenheit, so gebent si sich in den ewigen vlůch, si wellent doch die heiligosten sin; si habent iren spot uf gotz wort, die von der menscheit únsers herren sint gescriben. Du allerarmester mensche, bekantestu werlich die ewigen gotheit, so were das unmugelich, du bekantest oͮch die ewigen menscheit, die da swebet in der ewigen gotheit. Du muͤstest oͮch bekennen den heligen geist, der da erlúhtet des cristan menschen herze und smeket in siner sele úber alle suͤssekeit und leret des menschen sinne úber alle meisterschaft, (154v) das er diemuͤtekliche da sprichet, das er vor gotte vollekomen nit mag wesen. 34 Dieser Orden war zu Beginn rein, schlicht und zudem erfüllt von brennender Gottesliebe. Die reine Einfalt, die Gott einigen Menschen verleiht, wird bisweilen von dem einen oder andere so verlacht, daß er die Gabe verliert, mit deren Hilfe man Gottes Weisheit erkennt und erwählt; damit erlischt auch die brennende Gottesliebe. […] Dadurch, daß man den Brüdern Bürden auferlegt ohne Mitgefühl und ohne freundliche Erläuterung, entsteht mancher Schaden, über den ich jetzt schweigen muss.“ Vgl. das Kapitel VII, 13. 33 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , VI, 3, S. 436, 5-7. Übersetzung: „Dass Gott die Domherren Böcke nennt, das tut er deshalb, weil ihr Fleisch vor Unkeuschheit stinkt in (dem Raum) der ewigen Wahrheit vor seiner Heiligen Dreifaltigkeit.“ 34 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , VII, 47, S. 620, 1-24. „Übersetzung: Von einer Sünde, die schlimmer ist als alle (anderen) Sünden. Ich habe von einer bestimmten Sünde sprechen hören. Ich danke Gott dafür, daß sie mir fremd ist; sie ist, wie mir scheint, schlimmer als alle (anderen) Sünden, denn sie ist der tiefste Unglaube. Ich bin ihr mit meiner ganzen Seele und mit meinem ganzen Leib und mit allen meinen fünf Sinnen und aus meinem tiefsten Herzen gram. Ich danke Jesus Christus, dem lebendigen Sohn Gottes, dafür, daß sie nie in mein Herz kam. Diese Sünde ist nicht unter Christen entstanden; der hochmütige Feind hat die einfältigen Menschen damit in die Irre geführt. Sie wollen so heilig sein, daß sie an der heiligen Gottheit teilhaben wollen, und lügen bezüglich der heiligen Menschennatur unseres Herrn Jesus Christus. Und wenn sie sich am Ziel ihrer Wünsche glauben, so 22 Freimut Löser Dass Mechthild hier sehr konkrete ‚Ketzereien‘ im Auge hat, macht der letzte Satz ihrer Kritik deutlich: Er richtet sich „gegen die Vorstellung von homines perfecti , als welche sich die Mitglieder ketzerischer Sekten, etwa der im Nördlinger Ries, verstanden.“ 35 Mechthild kritisiert also „Ketzerei“ ebenso scharf wie den Papst, die Beginen wie die Mitschwestern, den Adelsstand und sogar den Orden ihres Beichtigers. Von der eigenen Wahrheit zutiefst durchdrungen, setzt sie sich, bildlich gesprochen, zwischen alle Stühle. Um als Nicht-Theologe, als Laiin und als Frau (! ) in dieser Zeit eine solch heftige Kritik in alle Richtungen wagen zu können, bedarf es einer ganz besonderen Legitimation. In der Tat hat sich Mechthild selbst verteidigt. Dies wird in Buch V,12 deutlich, wo sie zur ihrem Beichtvater spricht: Meister Heinrich, úch wundert sumenlicher worten, die in disem bůche gescriben sint. Mich wundert, wie úch des wundern mag. Mer mich jamert des von herzen sere sid dem male, das ich súndig wip schriben můs, das ich die ware bekantnisse und die heligen erlichen anschowunge nieman mag geschriben sunder disú wort alleine; si dunken mich gegen der ewigen warheit alze kleine. Ich vragete den ewigen meister, was er har zů spreche. Do antwúrt er alsus: »Vrage in, wie das geschach, das die aposteln kamen in also grosse kůnheit nach also grosser bloͤdekeit, do si enpfiengen den heligen geist. Vrage me, wa Moyses do was, do er niht wan got ansach. Vrage noch me, wa von das was, das Daniel in siner kintheit sprach.« 36 Mechthild beruft sich dabei nicht nur auf das Pfingstereignis der Apostel, auf die Begegnung Moses‘ mit Gott und die prophetische Gabe Daniels; sie nimmt diese Gabe für sich selbst in Anspruch und lässt Christus selbst sie ihr zusprechen. Ebenso deutlich wird diese Selbst- Legitimation im Prolog des Werkes, das die Autorschaft des Buches quasi für Gott selbst in Anspruch nimmt. Dabei handelt es sich um ein hochkomplexes Verfahren, das Burkhard Hasebrink, wenn er die Ungelehrte als Lehrerin der Gelehrten vorstellt, so erklärt: „Die Individualität der Gotteserfahrung verleiht dem ‚Fließenden Licht der Gottheit‘ eine außerordentliche Autorität. Die Provokation, die das Buch offensichtlich schon zu Lebzeiten Mechthilds darstellte, verlangte nach Absicherung und einer grundsätzlichen Legitimation ‚ungelehrter‘, laikal-volkssprachiger Literatur. Im Zentrum dieser Legitimation steht das Konzept der doppelten Autorschaft […], das eine zweifache Legitimation erlaubt: überantworten sie sich dem jeweiligen Fluch (und) wollen doch die Heiligsten sein. Sie treiben ihren Spott mit Gottes Worten, die über die Menschwerdung Jesu Christi überliefert sind. Du allerärmster Mensch, wenn du die ewige Gottheit wahrhaft erkennen würdest, dann wäre es unmöglich, daß du nicht auch die ewige Menschennatur erkennen würdest, die da in der ewigen Gottheit schwebt. Du müßtest auch den Heiligen Geist erkennen, der da des Christenmenschen Herz erleuchtet und in dessen Seele seinen Duft verströmt, alle Süßigkeit übertreffend, und des Menschen Verstand über alle Gelehrsamkeit hinaus belehrt, so daß er dann demütig spricht, daß er vor Gott nicht vollkommen sein kann.“ 35 Neumann / Vollmann-Profe, „Das fließende Licht der Gottheit“ , Bd. 2, S. 160, zu VII, 47, 18. 36 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , V, 12, S. 346, 1-15. Übersetzung: „Meister Heinrich, Ihr wundert Euch über manche Worte, die in diesem Buch stehen. Mich wundert, wie Euch das wundern kann. Freilich bedaure ich, seit ich sündige Frau zu schreiben gezwungen bin, aus tiefstem Herzen, daß ich die wahre Erkenntnis und die heilige, erhabene Schau niemandem beschreiben kann, außer mit diesen armen Worten allein; sie erscheinen mir im Blick auf die ewige Wahrheit viel zu schwach. Ich fragte den ewigen Meister, was er dazu meine. Da antwortete er dies: ‚Frage ihn, wie das geschehen konnte, daß die Apostel nach so großer Zaghaftigkeit von so großer Kühnheit erfüllt wurden, nachdem sie den Heiligen Geist empfangen hatten! Frage weiter, wo Moses war, als er nichts als Gott sah! Frage schließlich, woher das kam, was Daniel als junger Mensch sprach! ‘“ Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 23 Das eine Begründungsverfahren zielt auf die religiöse Unterweisung der Magdeburger Begine durch die Dominikaner und ihren Anteil an der Entstehung des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘. Damit stehen die Aussagen des Buches unter der Autorität des gelehrten Diskurses, in dem, wie wir aus der monastischen Tradition wissen, auch das Konzept einer ‚heiligen Einfalt‘ des theologisch Ungelehrten seinen festen Platz hat. Die schlichte Opposition ‚gelehrt‘ versus ‚ungelehrt‘ greift daher zu kurz. Das zweite Begründungsverfahren zielt in der Tradition der Offenbarung auf die Inspiration der Sprecherin durch Gott selbst, so daß nach dieser Vorstellung das Gespräch der Seele mit dem geliebten Partner letzten Endes ein offenbares Selbstgespräch Gottes darstellt.“ 37 Schon Ruh hatte versucht, Mechthilds Legitimationsmuster durch das Modell der Inspiration zu erklären, indem er auf eine besonders klare Stelle aus Buch IV hinwies: Ich enkan noch mag nit schriben, ich sehe es mit den oͮgen miner sele und hoͤre es mit den oren mines ewigen geistes und bevinde in allen liden mines lichnamen die kraft des heiligen geistes 38 Mechthild macht dabei die Gefahr, die von diesem ihrem Buch für sie selbst ausgeht ebenso deutlich, wie sie sich selbst und ihre Leser(innen) gleichzeitig der göttlichen Autorschaft versichert: Ich wart vor disem buͦche gewarnet, und wart von menschen also gesaget: Woͤlte man es nit bewaren, da moͤhte ein brant úber varen. Do tet ich als von kinde han gepflegen; wenne ich betruͤbet ie wart, so muͦste ich ie betten. Do neigte ich mich zuͦ minem liebe und sprach: »Eya herre, nu bin ich betruͤbet dur din ere; sol ich nu ungetroͤstet von dir beliben, so hastu mich verleitet, wan du hies mich es selber schriben.« Do offenbarte sich got zehant miner trurigen sele und hielt dis buͦch in siner vordern hant und sprach: »Lieb minú, betruͤbe dich nicht ze verre, die warheit mag nieman verbrennen. Der es mir us miner hant sol nemen , der sol starker denne ich wesen. Das buͦch ist drivaltig und bezeichent alleine mich. Dis bermit, das hie umbe gat, bezeichent min reine, wisse, gerehte menschheit, die dur dich den tot leit. Dú wort bezeichent mine wunderliche gotheit; dú vliessent von stunde ze stunde in dine sele us von minem goͤtlichen munde […]« . 39 Damit erscheint Mechthilds Buch als Gottes Buch, ihre Worte erscheinen als seine Worte. Und das Buch hat an vielen Stellen eine sprachliche Struktur, die die sprechende Instanz (Gott, Seele, „Mechthild“? ) nicht klar erkennen lässt. So erscheint die Frage, wer in diesem Buch eigentlich spricht, als zentrale Frage des gesamten Werkes, in der Forschung heftig diskutiert. Diese Offenheit der Sprecherinstanz im Text findet in der mittelalterlichen Über- 37 Hasebrink, „‚Das Fließende Licht der Gottheit‘“, S. 156 f. 38 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , IV, 3, S. 266, 3-6. Übersetzung: „Ich weiß und vermag nichts zu schreiben, wenn ich es nicht mit den Augen meiner Seele sehe und es mit den Ohren meines ewigen Geistes höre und in allen Gliedern meines Leibes die Kraft des Heiligen Geistes wahrnehme.“ 39 Vollmann-Profe, Das Fließende Licht , II, 26, S. 136, 3-19. Übersetzung: „Ich wurde vor diesem Buch gewarnt, und man brachte folgendes vor: Wenn man es nicht zurückhielte, könnte es ein Feuer verzehren. Da handelte ich, wie ich es von Kindheit an gewohnt bin: Wann immer man mir Kummer bereitete, mußte ich stets beten. Ich neigte mich also zu meinen Lieben und sagte: „Ach, Herr, nun bin ich in Bedrängnis um deiner Ehre willen; soll ich nun ohne Trost von dir bleiben, so hast du mich auf Abwege geführt, denn du selbst hast mir geboten, es zu schreiben! “ Da offenbarte sich Gott sogleich meiner traurigen Seele und hielt dieses Buch in seiner rechten Hand und sagte: „Meine Liebe, betrübe dich nicht zu sehr, die Wahrheit kann niemand verbrennen! Wer es aus meiner Hand nehmen will, muß stärker sein als ich. Das Buch ist dreifaltig und verweist allein auf mich. Dieses Pergament, das es umschließt, bedeutet meine reine, klare, gerechte Menschennatur, die um deinetwillen den Tod erlitten hat. Die Worte bedeuten meine wunderbare Gottheit; sie fließen von Stunde aus meinem göttlichen Mund in deine Seele.“ 24 Freimut Löser lieferung des Textes eine Entsprechung. Dies zeigt sich, wenn man die Widmung betrachtet, mit der die Einsiedler Handschrift des Textes verschickt worden war: Den swesteren in der vorderen oͮwe / Ir soͤnt wissen / das das bůch / das úch wart / von der zem Guldin Ringe / das do heist / das liecht der Gotheit / des soͤnt ir wol war [übergeschrieben] nemen / also das es sol dienen in alle húser des waldes / und sol us dem walde niemer kommen / und sol ie ein monat in eim huse sin/ also [ wenne man gestrichen] das es umb sol gan / von eim in das ander / wenne man sin bedarf / und soͤnt ir sin sunderlich behůt sin / wand si sunderlich trúwe zů úch hatte / bittent oͮch fúr mich / der ir bichter was / leider unwirdig / Von mir Her Heinrich von Rumershein von Basel ze sant Peter. 40 Die Handschrift der alemannischen Umschrift ‚geht um‘, sie zirkuliert, sie ist zugleich Mittel der Kommunikation zwischen ihrem Absender, der sie seinerseits nur weiterreicht, und den Empfängerinnen; sie ist im Gebrauch einer bestimmten Gruppe, die sie damit geradezu konstituiert: Sie bildet deren Arkanum, sie oszilliert zwischen Veröffentlichung und Geheimhaltung, zwischen Offenbarung und Geheimnis; sie ist im Gebrauch, aber dieser Gebrauch ist zugleich Heil. Deutlich formuliert wird das im ‘Begleitschreiben’ Heinrichs von Nördlingen: Ich send euch ain buch das haisst Das liecht der gothait. dar zu zwinget mich das lebend liecht der hitzigen mine Christi, wan es mir das lustigistz tützsch ist und das innerlichst rürend minenschosz, das ich in tützscher sprach ie gelas. eia! ich man euch als des gutz, das got in im selber ist und in diszem buch bewiszt hat. lesent es begirlich mit ainem innern gemerck ewers hertzen und ee irs an vahint ze lesent, so beger ich und gebüit euch in dem heiligen geist, das ir im vii Veni sancte Spiritus mit vii venien vor dem altar sprechent und unserm heren und seiner megdlichen mutter Maria auch vii paternoster und Ave Maria sprechent auch mit vii venien, und der junckfroulicher himelscher orgelkunigin, durch die got ditz himelschs gesang hat usz gesprochen, und allen heiligen mit ir auch vii paternoster und Ave Maria mit vii venien sprechint. und ee brechent das versigelt buch nit uf, ee ir desse gebet tuwend und nemen dar zu alle, die gnad dar zu habint mit ernst, und dar nach vahent an ze lesend sitlichen und nit ze vil […]. uberlesent es dri stund, es stat dran ix. ich getrüwe, es sulle ewer sel gnaden vil mer ernst sein. 41 Mechthilds Mystik, ihr buch , ist Schrift-Mystik, 42 es wird von den Rezipienten gar teilweise an die Stelle der Heiligen Schrift gesetzt. Die weitergereichte Handschrift tritt an die Stelle des versiegelten Buches der Offenbarung des Johannes; und wenn das Siegel eröffnet ist, wird Mechthilds Licht im quasi-liturgischen Gebrauch zum Heilsboten, dessen Heilsbotschaft im Nachvollzug des Textes in der gemeinsamen mehrmaligen Lektüre nicht nur zu erlesen ist, sondern erfahrbar und erlebbar wird. Von den Reflexionen seiner Überlieferer her gesehen also ist Mechthilds Licht ein ausgesprochen lebendiges Wesen, das lebende Buch. Dass es dies auch von der Überlieferung selbst her ist, steht seit langem außer Zweifel: Die Textgeschichte führt von Mechthilds mehrjährigen Aufzeichnungen über einen (oder mehrere) Redaktor(en) zu einer alemannischen Bearbeitung, einer Übersetzung ins Lateinische, eine Rückübersetzung ins 40 Neumann / Vollmann-Profe, „Das Fließende Licht“ , Bd. 2, S. 176. 41 Strauch, Philipp, Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen: Ein Beitrag zu Geschichte der deutschen Mystik . Freiburg i. Br. 1882. Nr. XLIII, S. 246, 117-247, 140. 42 Dazu und zum Folgenden: Löser, Freimut: „‚Schriftmystik‘. Schreibprozesse in Texten der deutschen Mystik“. Wolfram-Studien 22 (2012): 155-204, hier S. 160-169. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 25 Deutsche und so fort. Wie lebendig diese Text- und Überlieferungsgeschichte ist, hat der erwähnte - sensationelle - Fund des Halberstädter Fragmentes in Moskau mit einer mitteldeutsch / niederdeutschen Fassung gezeigt. 43 Wer aber hat das bůch gemachet ? Nach Aussage des Prologs die gotheit . Beteiligt ist aber auch eine „Ich“ genannte Instanz, und beteiligt sind Schreiber, die nach Aussage dieses Ich das Buch na mir haben geschriben . 44 Balász Nemes hat in seiner großen Überlieferungsstudie die Ergebnisse auf den Punkt gebracht: Der Anteil der an der Buchgenese beteiligten Instanzen ist nicht zu bestimmen. […] Die hier besprochenen Stellen führen uns einen komplexen Schreibprozess vor Augen, der bis in Autornähe zurückreicht und auf eine „tradition vivante“ schließen lässt. Bemerkenswerterweise findet diese ihre Bestätigung in dem aufgezeigten textgeschichtlichen Befund. Demnach müssen wir sowohl auf auktorialer (gemeint ist die Situation Mechthilds als schreibende Frau) als auch auf semiauktorialer (gemeint ist der Fall des Diktats und des Abschreibens mit all ihren Implikationen für die Textgeschichte) sowie auf redaktioneller Ebene (Dominikaner, Helftaer Mitschwestern als Bearbeiter) mit einer kontinuierlichen „Arbeit am Text“ rechnen, einer Arbeit, die auch nach der Veröffentlichung einzelner Werkabschnitte, beispielsweise der Bücher I-VI, fortgesetzt wurde und zur Entstehung von Versionen beigetragen hat. Das immer wieder postulierte Original - Original meint hier nicht den Autortext, sondern den Ausgangspunkt der uns vorliegenden Überlieferung - scheint es offenbar nur im Plural gegeben zu haben. 45 Dies sind demnach nicht Ergebnisse, die sich erst aus der Überlieferungsgeschichte ableiten ließen, sondern sie sind dem Text selbst von allem Anfang an eingeschrieben: Das Buch selbst ist die entscheidende Größe; es kommt von Gott, fließt durch den ungelerten munt und wird vom schriber / von den schribern geschrieben. Das Buch selbst aber steht im Mittelpunkt, nicht als (ab)geschlossenes, sondern als werdendes. Der Text heißt - in den Augen der Instanzen, die ihn zu verantworten haben (bei der Autorin, wenn wir sie denn so nennen wollen, bei dem / den Redaktor(en), bei dem / den Schreiber(n) - ein fließendes Licht der Gottheit. Damit wird der prozessuale Charakter eben dieses Textes betont: Es handelt sich um einen Fluss, der von Gott, über die verschiedenen Instanzen des Textes, bis zu seinen Rezipienten fließt. Damit gewinnt das Buch eine Qualität, die in der Mystik gemeinhin der göttlichen Emanation zugeschrieben wird. Mechthilds Text beschreibt nicht den Fluss, er ist der Fluss, er (be)schreibt nicht mystisches Ereignis, er ist mystisches Ereignis. Der Text vereint so Gott und Sprecher und Schreiber und Hörer und Leser im unaufhörlichen Prozess seiner eigenen Buch-Werdung. Aus all dem ergibt sich auch ein eminent dialogischer (wenn nicht polylogischer) Charakter des Fließenden Licht der Gottheit , den schon Kurt Ruh hervorgehoben hat: Mechthild verfügt über die verschiedensten Arten des Dialogs und die ihm benachbarten Formen wie die Anrede, das Gebet, den Lobpreis, die ja alle den Partner voraussetzen. Wo Liebe das Thema der Gottesbeziehung ist, wird die Gesprächsform vielfach hymnisch oder 43 Squires / Ganina, „Neufund“, S. 643-654. 44 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , II, 26, S. 138, 8 f. Zum Schreiber-Problem: Löser, „Schriftmystik“, S. 167-169 und - wegweisend - Nemes, Balász J.: Von der Schrift zum Buch - vom Ich zum Autor. Zur Text- und Autorkonstruktion in Überlieferung und Rezeption des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg . Tübingen / Basel 2010. 45 Nemes, Schrift zum Buch , S. 287 und 302; unbedingt heranzuziehen sind die detaillierten Beobachtungen zur lateinischen Fassung ebd., S. 322. 26 Freimut Löser auf den Ton des Hoheliedes gestimmt. Die Partnerschaft des Ich bzw. der Seele mit Gott schafft einen personalen Gesprächstyp, der sich nirgends so unmittelbar geäußert hat wie im ‹Fließenden Licht›. Es ist nicht zuletzt dieser Gesprächscharakter der Liebesbeziehung zu Gott, der die Einzigartigkeit Mechthilds ausmacht. 46 Diese Einzigartigkeit Mechthilds hat Ruh mit dem dichterischen Charakter ihres Werkes in Verbindung gebracht. Ruh feiert Mechthild geradezu als Dichterin: Jede Lektüre bestätigt erneut den ungewöhnlichen Rang von Mechthilds ‹Fließendem Licht der Gottheit›, und er gilt weit über ihr Jahrhundert hinaus. An poetischer Kraft hat Mechthild nicht ihresgleichen. Sie ist eine Dichterin, freilich ohne höhere poetische Technik - das unterscheidet sie von Hadewijch -, aber dies ist auch nicht nur ihre Einzigartigkeit, sondern ihre eigentliche Qualifikation. Das Mittelalter hat eine hochentwickelte Kunstlyrik hervorgebracht, und wo uns schlichte Reimereien begegnen, da handelt es sich in der Regel um abgesunkene Kunstformen. Das ist bei Mechthild anders. Wo sie mit Rhythmen und Reimen spielt, wo sie «singt», treten uns Formen und Bilder entgegen, die ihre Welt- und Seelenerfahrung in einer für das Mittelalter sonst nicht bezeugten Unmittelbarkeit spiegeln. 47 Dass Mechthild sprachlich dabei von der höfischen Literatur geprägt ist, steht außer Zweifel. Das dürfte sie ihrer adligen Erziehung verdanken. So lässt sich zum Beispiel eine Nähe zur höfisch-ritterlichen Sprache konstatieren: XVIII . Von des ritters strite mit vollen waffenen wider die begerunge Ich bat fúr einen menschen, als ich was gebetten, das im got des lichamen beruͤrunge woͤlte benemen, das doch ane sûnde geschiht, des der boͤse wille da zuͦ nit bringet. Do sprach únser herre: »Swig! Behagete dir, das da ein ritter were mit vollen waffenen und von edeler kunst unde mit warer mankraft und mit geringen henden, das der lidig were und versumete sines herren ere und verlúre den richen solt und den edeln lobes schal, den beide, der herre und der ritter, in den landen behaben sol? Mere wa aber were ein ungetroierter man, der von ungerete nie ze strite kam - woͤlte der in fúrsten turneie komen, dem were schiere sin lip benomen. Darumbe muͦs ich der lúten schonen, die so lihte ze valle koment. Die lan ich striten mit den kinden, uf das si ein bluͦmenschappel ze lone gewinnin.« 48 Noch deutlicher ist die Nähe zum Bereich des Höfischen, wenn etwa der Hof selbst erwähnt wird oder im Bereich der höfischen Terminologie des Minnesangs. Dies zeigt sich etwa im Buch I,4: 46 Ruh, Geschichte , Bd. 2, S. 256 f. 47 Ruh, Geschichte , Bd. 2, S. 245. 48 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , III, 18, S. 202, 6-21. Übersetzung: „Einer Aufforderung nachkommend bat ich für einen Menschen, Gott möge ihn von jeder leiblichen Versuchung befreien, obschon eine solche ohne Sünde ist, wenn der böse Wille nicht hinzukommt. Da sagte unser Herr: ‚Schweig! Würde es dir gefallen, wenn es da einen Ritter gäbe, bestens gerüstet und hervorragend ausgebildet, voll männlicher Kraft und mit geübten Händen, und er wäre untätig und vermehrte nicht die Ehre seines Herrn und verlöre auch den reichen Sold und den sich ausbreitenden edlen Ruhm, den Herr wie Ritter in den Landen erwerben sollen? Gäbe es andererseits einen unbewaffneten Mann, der wegen mangelnder Ausrüstung keine Kampferfahrung hat, und würde der zu einem fürstlichen Termin kommen, dann würde ein solcher schnell sein Leben verlieren. Darum muß ich die Menschen schonend behandeln, die ganz leicht zu Fall kommen. Die lasse ich nach Kinderart kämpfen, auf daß sie einen Blumenkranz als Lohn erhalten.‘“ Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 27 IV . Von der hovereise der sele, an der sich got wiset Swenne die arme sele kumet ze hove, so ist si wise und wol gezogen. So siht si iren got vroͤlichen ane . Eya, wie lieplich wirt si da enpfangen! So swiget si und gert unmesseklich sines lobes. So wiset er ir mit grosser gerunge sin goͤtlich herze. Das ist gelich dem roten golde, das da brinnet in einem grossen kolefúre. So tuͦt er si in sin gluͤgendes herze. Alse sich der hohe fúrste und die kleine dirne alsust behalsent und vereinet sint als wasser und win, so wirt si ze nihte und kumet von ir selben. Alse si nút mere moͤgi, so ist er minnesiech nach ir, als er ie was, wan im gat zuͦ noch abe. So sprichet si: »Herre, du bist min trut, min gerunge, min vliessender brunne, min sunne und ich bin din spiegel.« Dis ist ein hovereise der minnenden selen , die ane got nút wesen mag. 49 Dass Mechthilds Sprache dabei auch durch Kolonreime geprägt ist, hat Hans Neumann in seiner Edition auch optisch deutlich gemacht. Man muss insgesamt von einer Mischform zwischen Prosa und Lyrik ausgehen. Eine einzige Stelle dürfte reichen, um dies zu zeigen: Do klagte si: »Owe herre, joch bist du mir alze lange vroͤmde; koͤnde ich dich, herre, mit zoͮfere gewinnen , das du nit moͤhtest geruͦwen denne an mir; eya, so gienge es an ein minnen ; so muͤstest du mich denne bitten, das ich fuͤre mit sinnen .« Do antwúrt er und sprach alsust: »O du unbewollen tube, nu goͤnne mir des, das ich dich muͤsse sparen ; dis ertich mag din noch nit enbern. « Do sprach si: »Eya herre, moͤhte mir das ze einer stunt geschehen , das ich dich nach mines herzen wúnsche moͤhte angesehen und mit armen umbevahen und din goͤtlichen minnelúste muͤsten dur mine sele gan, als es doch menschen in ertrich mag geschehen . Was ich da nach liden woͤlte, das wart nie von menschen oͮgen gesehen ; ja, tusent toͤde weren ze lihte. Mir ist, herre, nach dir also we! Nu wil ich in der trúwe stan; maht du es herre, erliden, so las mich lange jamerig nach dir gan. Ich weis das wol, dich muͦs doch, herre, der erste lust nach mir bestan .« 50 Die kurzen Beispiele der Kapitel XVII-XX aus Buch I können vielleicht zeigen, mit welcher Intensität Mechthild hier den Dialog zwischen der Seele und dem himmlischen Bräutigam gestaltet und welche sprachgewaltigen Sprachspiele sie dabei auch verwendet. 49 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , I, 4, S. 26, 23-28, 4. Übersetzung: „Von der Reise der Seele an den Hof, während der sich Gott offenbart. Wenn die arme Seele an den Hof kommt, dann ist sie weise und wohlerzogen. Dann blickt sie ihren Gott voller Freude an. O, wie herzlich wird sie da empfangen! Da schweigt sie und begehrt über alle Maßen sein Lob. Da zeigt er ihr mit großem Verlangen sein göttliches Herz. Das gleich rotem Gold, das in einem gewaltigen Kohlenfeuer glüht. Dann legt er sie in sein glühendes Herz. Wenn sich der erhabene Fürst und das arme Mädchen in dieser Weise umarmen und vereint sind wie Wasser und Wein, dann wird sie zunichte und weiß nichts mehr von sich. Wenn sie dann erschöpft ist, ist er liebeskrank nach ihr, wie er es immer war, denn ergewinnt nichts und verliert nichts. Da sagt sie: ‚Herr, du bist mein Geliebter, mein Begehren, mein fließender Brunnen, meine Sonne, und ich bin dein Spiegel.‘ So verläuft eine Hofreise der liebenden Seele, die ohne Gott nicht sein kann.“ 50 Neumann / Vollmann-Profe, „Das Fließende Licht“ , Bd. 1, S. 106, 10-22. Übersetzung: Vollmann-Profe, Das fließende Licht , III, 23, S. 219, 33-221, 16: „Da klagte sie: ‚O weh, Herr, du bist mir doch allzu lang fern! Könnte ich dich, Herr, doch durch einen Zauber gewinnen, so daß du nirgends ruhen könntest als bei mir! O, das gäbe ein Liebesspiel! Da müßtest du mich dann bitten, Maß zu halten! ‘ Da antwortete er und sprach: „O du unbefleckte Taube, nun erlaube mir, dich noch arten zu lassen; diese Welt braucht dich noch.“ Da sagte sie: ‚Ach, Herr, möchte mir das einmal zuteil werden, daß ich dich so, wie es mein Herz wünscht, ansehen und umarmen könnte und daß deine göttliche Liebeslust meine Seele durchdringen würde, soweit dies für Menschen auf Erden möglich ist! Was ich danach zu erdulden bereit wäre, das haben Menschenaugen nie gesehen - ja, tausend Tode wären zuwenig. Mir ist, Herr, nach dir so weh! Nun will ich in Treue ausharren; wenn du, Herr, es aushalten kannst, so laß mich lange in der Sehnsucht nach dir leben. Ich weiß es sehr wohl: Dich muss doch, Herr, zuerst die Lust nach mir überkommen! ‘“ 28 Freimut Löser XVII . Die sele lobet got an fúnf dingen O du giessender got an diner gabe, o du vliessender got an diner minne, o du brennender got an diner gerunge, o du smelzender got an der einunge mit dinem liebe, o du ruͦwender got an minen brústen, ane dich ich nút wesen mag! XVIII . Got gelichet die selen fúnf dingen O du schoͤne rose in dem dorne, o du vliegendes bini in dem honge, o du reinú tube an dinem wesende, o du schoͤnú sunne an dinem schine, o du voller mane an dinem stande, ich mag mich nit von dir gekeren. XIX . Got liebkoset mit der sele an sehs dingen Du bist min senftest legerkússin, min minneklichest bette, min heimlichestú ruͦwe, min tiefeste gerunge, min hoͤhste ere! Du bist ein lust miner gotheit, ein trost miner moͤnschheit, ein bach miner hitze! XX . Dú sele widerlobet got an sehs dingen Du bist min spiegelberg, min oͮgenweide, ein verlust min selbes, ein turm mines hertzen, ein val und ein verzihunge miner gewalt, min hoͤhste sicherheit! 51 Alois Haas hat anhand solcher und ähnlicher Wendungen des Textes deutlich gemacht, dass der mystische Diskurs, der hier literarische Autonomie und das Niveau der Poetizität gewinnt, paradoxerweise die Dimension der Alterität Gottes in poetische Formen gießt und die Grenze des Sagbaren gerade in der Poesie übersteigt, gleichzeitig auf die dichterische Sprache selbst und die Grenze des Sagbaren aufmerksam macht: 52 „Unbeschadet der poetischen Autonomie und gewissermaßen sie bestätigend und gleichzeitig aufhebend wirkt“, so Haas, das Moment der Transzendenz in der mystischen Aussage: Oft tritt es als Gebot des Schweigens auf, als mystische Sprachfeindlichkeit, die über dem Unsagbaren zu verstummen gebietet, oft aber auch als ein schwer zu bestimmender Mehrwert des Gesagten, als ‚Entrückung‘ des Sprechens selber, erkenntlich an ganz bestimmten Sprachformen wie Negation, Kontradiktion (Paradox), Superlation (‚über‘-Wendungen). 53 Ingrid Kasten hat mit Blick auf das mystische Schweigen auf folgende, von sexueller Metaphorik geprägte Stelle hingewiesen: So gat dú allerliebste zů dem allerschoͤnesten in die verholnen kammeren der unsúnlichen gotheit. Da vindet si der minne bette und minnen gelas, von gotte unmenschliche bereit. So sprichet únser herre: 51 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , I, 17, S. 36, 6 - I, 20, S. 38, 1-7. Übersetzung: „XVII. Die Seele preist Gott fünffach. ‚O du gießender Gott in deiner Gabe, o du fließender Gott in deiner Liebe, o du brennender Gott in deinem Begehren, o du schmelzender Gott in der Vereinigung mit deiner Liebsten, o du an meinen Brüsten ruhender Gott, ohne dich kann ich nicht sein! ‘ XVIII. Gott setzt die Seele fünf Dingen gleich ‚O du schöne Rose im Dorngebüsch, o du fliegende Biene im Honig, o du Taube, rein in deinem Wesen, o du Sonne, schön in deinen Strahlen, o du Mond, in deinem vollen Stand, ich kann mich nicht von dir wenden! ‘ XIX. Gott spricht zärtlich in sechs Bildern zu der Seele ‘Du bist mein Kopfkissen, mein lieblichstes Lager, meine verborgenste Ruhe, mein tiefstes Begehren, meine höchste Ehre! Du bist eine Lust für meine Gottheit, ein Trost für meine Menschennatur, ein Bach für meine Glut! ‘ XX. Antwortend preist die Seele Gott in sechs Bildern ‚Du bist mein Spiegelberg, meine Augenweide, der Verlust meiner selbst, der Sturm meines Herzens, das Zusammenbrechen und das Entschwinden meiner Kraft, meine höchste Sicherheit! ‘“ 52 Haas, „Mechthild“, S. 130. 53 Haas, „Mechthild“, S. 132 f. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit 29 »Stant, vroͮwe sele! « »Was gebútest du, herre? « »Ir soͤnt úch usziehen ! « »Herre, wie sol mir denne geschehen? « »Froͮw sele, ir sint so sere genatúrt in mich, das zwúschent úch und mir nihtes nit mag sin. […] Darumbe sont ir von úch legen beide vorhte und schame und alle uswendig tugent; mer alleine die ir binnen úch tragent von nature, (14v) der sont ir eweklich phlegen : Das ist úwer edele begerunge und úwer grundelose girheit; die wil ich eweklich erfúllen mit miner endelosen miltekeit.« »Herre, nu bin ich ein nakent sele und du in dir selben ein wolgezieret got. Únser zweiger gemeinschaft ist das ewige lip ane tot.« So geschihet da ein selig stilli nach ir beider willen. Er gibet sich ir und si git sich ime. 54 Ich zitiere Kasten: Diese Stelle vermittelt einen Eindruck davon, mit welchen Mitteln Mechthild die Intensität und Direktheit der mystischen Liebeserfahrung sprachlich zum Ausdruck bringt. Das Schweigen, die Stille, erscheint hier nicht, wie bei Augustin und später noch bei Eckhart, als Voraussetzung für die Entrückung, sondern als deren Höhepunkt. Es markiert das Intimum, das Unaussprechliche, der Gotteserfahrung. Gelegentlich markiert Mechthild diese Grenze ausdrücklich, indem sie erklärt, der Genuß in der unio sei unsagbar (S. 264) und das allerliebeste müsse sie verschweigen (S. 258), sie macht ferner für die Bräute Christi das Recht geltend, darüber zu schweigen, was sie erfahren (S. 50). Schließlich verweist sie auch auf die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache, die göttliche Wahrheit zu kommunizieren (S. 166): „mich jamert des von herzen sere sid dem male, das ich súndig wip schriben muos, das ich die ware bekantnisse und die heligen erlichen anschouwunge nieman mag geschriben sunder disú wort alleine; sie dunkent mich gegen der ewigen warheit alze kleine. 55 Das fließende Licht der Gottheit provoziert bei seiner Empfängerin also mindestens ebenso sehr wie die Sprache das Schweigen. Ohne in stetem Fluss je ein Verstummen zu erlauben. Literaturverzeichnis Primärliteratur Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit . Hg. Gisela Vollmann-Profe. Frankfurt a. M. 2003. -: „Das fließende Licht der Gottheit“. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung . Hgg. Hans Neumann und Gisela Vollmann-Profe. 2 Bde. München / Zürich 1990 und 1993. Forschungsliteratur Flasch, Kurt: Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie . Beck 2006. -: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums . Beck 2010. -: „Meister Eckhart. Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten“. Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie . Hg. Peter Koslowski. Zürich 1988. 94-110. Haas, Alois Maria: „Mechthild von Magdeburg“. Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik (Dokimion 4). Freiburg / Schweiz 1979. 67-135. 54 Vollmann-Profe, Das fließende Licht , I, 44, S. 31 f. 55 Kasten, Ingrid; „Die doppelte Autorschaft. Zum Verhältnis Sprache des Menschen und Sprache Gottes in mystischen Texten des Mittelalters“. „… wortlos der Sprache mächtig.“ Schweigen und Sprechen in der Literatur und sprachlicher Kommunikation . Hgg. Hartmut Eggert und Janusz Golec. Stuttgart / Weimar 1999. 9-30, hier 21 f. 30 Freimut Löser Hasebrink, Burkhard: „‚Das fließende Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg. Eine Skizze“. Bete und arbeite! Zisterzienser in der Grafschaft Mansfeld. Begleitband zur Ausstellung im Sterbehaus Martin Luthers in Eisleben, 24. 10. 1998-24. 6. 1999 . Hg. von Esther Pia Wipfler. Halle a. d. Saale 1998. 149-159. Kasten, Ingrid: „Die doppelte Autorschaft. Zum Verhältnis Sprache des Menschen und Sprache Gottes in mystischen Texten des Mittelalters“. „… wortlos der Sprache mächtig.“ Schweigen und Sprechen in der Literatur und sprachlicher Kommunikation . Hgg. Hartmut Eggert und Janusz Golec. Stuttgart / Weimar 1999. 9-30. Köbele, Susanne: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache . Tübingen 1993. Löser, Freimut: „Meister Eckhart, die ‚Reden‘ und die Predigt in Erfurt. Neues zum sogenannten ‚Salzburger Armutstext‘“. Meister-Eckhart-Jahrbuch Bd. 6. Hgg. Dagmar Gottschall und Dietmar Mieth. Stuttgart 2013. 65-96. -: „Mystik“. Literaturwissenschaftliches Lexikon . Hgg. Horst Brunner und Rainer Moritz. Berlin 2006. 284-287. -: „‚Schriftmystik‘. Schreibprozesse in Texten der deutschen Mystik“. Wolfram-Studien 22 (2012): 155-204. Mundhenk, Christine (Hg.): Der Occultus Erfordensis des Nicolaus von Bibra . Kritische Edition mit Einführung, Kommentar und deutscher Übersetzung. Weimar 1997. Nemes, Balász J.: Von der Schrift zum Buch - vom Ich zum Autor. Zur Text- und Autorkonstruktion in Überlieferung und Rezeption des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg . Tübingen / Basel 2010. Neumann, Hans: „Mechthild von Magdeburg“. Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters , Bd. 6. Hgg. Kurt Ruh et. al. Berlin 1987. Sp. 260-270. Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik . Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit . München 1993. Squires, Catherine und N. Ganina: „Ein Neufund des ‘Fließenden Lichts der Gottheit’ aus der Universitätsbibliothek Moskau und Probleme der Mechthild-Überlieferung“. ИНДОЕВРОПЕЙСКОЕ ЯЗЫКОЗНАНИЕ И КЛАССИЧЕСКАЯ ФИЛОЛОГИЯ - XIII . Материалы чтений, посвященных памяти профессора Иосифа Μоисеевича Тронского. 22 - 24 июня 2009 г. Sankt Petersburg 2009. 643-654. Strauch, Philipp, Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen: Ein Beitrag zu Geschichte der deutschen Mystik . Freiburg i. Br. 1882. Friedrich Hölderlin, Andenken 31 Friedrich Hölderlin Andenken Gerhard Kurz Für Jean-Pierre Lefebvre Andenken Der Nordost wehet, Der liebste unter den Winden Mir, weil er feurigen Geist Und gute Fahrt verheißet den Schiffern. Geh aber nun und grüße Die schöne Garonne, Und die Gärten von Bourdeaux Dort, wo am scharfen Ufer Hingehet der Steg und in den Strom Tief fällt der Bach, darüber aber Hinschauet ein edel Paar Von Eichen und Silberpappeln; Noch denket das mir wohl und wie Die breiten Gipfel neiget Der Ulmwald, über die Mühl’, Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum. An Feiertagen gehn Die braunen Frauen daselbst Auf seidnen Boden, Zur Märzenzeit, Wenn gleich ist Nacht und Tag, Und über langsamen Stegen, Von goldenen Träumen schwer, Einwiegende Lüfte ziehen. Es reiche aber, Des dunkeln Lichtes voll, Mir einer den duftenden Becher, Damit ich ruhen möge; denn süß Wär unter Schatten der Schlummer. Nicht ist es gut, 32 Gerhard Kurz Seellos von sterblichen Gedanken zu sein. Doch gut Ist ein Gespräch und zu sagen Des Herzens Meinung, zu hören viel Von Tagen der Lieb, Und Taten, welche geschehen. Wo aber sind die Freunde? Bellarmin Mit dem Gefährten? Mancher Trägt Scheue, an die Quelle zu gehn; Es beginnet nämlich der Reichtum Im Meere. Sie, Wie Maler, bringen zusammen Das Schöne der Erd und verschmähn Den geflügelten Krieg nicht, und Zu wohnen einsam, jahrlang, unter Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen Die Feiertage der Stadt, Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht. Nun aber sind zu Indiern Die Männer gegangen, Dort an der luftigen Spitz An Traubenbergen, wo herab Die Dordogne kommt, Und zusammen mit der prächt’gen Garonne meerbreit Ausgehet der Strom. Es nehmet aber Und gibt Gedächtnis die See, Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen, Was bleibet aber, stiften die Dichter. 1 I. In meinem Vortrag gehe ich von der elementaren hermeneutischen Maxime aus, dass ein Gedicht all das bedeutet, was es bedeuten kann. Sie wurde in Hölderlins Epoche entwickelt. Alles, was es bedeuten kann, heißt nicht alles Mögliche, sondern nur das in diesem Gedicht, bei diesem Autor und in seiner Zeit Mögliche. 2 1 Hölderlin, Friedrich. „Andenken“. Gedichte . Hg. Gerhard Kurz. Stuttgart 2015, S. 103 f. 2 Die Interpretationen, auf die ich mich stütze, von denen ich in einigen Punkten aber auch abweiche: Zuberbühler, Rolf. Hölderlins Erneuerung der Sprache aus ihren etymologischen Ursprüngen . Berlin 1969. 85-114; Schmidt, Jochen. Hölderlins letzte Hymnen . „Andenken“ und „Mnemosyne“. Tübingen 1970; Hamlin, Cyrus: „Die Poetik des Gedächtnisses. Aus einem Gespräch über Hölderlins ‚Andenken‘“. Hölderlin- Jahrbuch 24 (1984-1985): 119-138; Binder, Wolfgang. „Hölderlin: ‚Andenken‘“. Turm-Vorträge 1985 / 86 . Hg. Uvo Hölscher. Tübingen 1986. 5-30; Henrich, Dieter. Der Gang des Andenkens . Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht . Stuttgart 1986; Gaier, Ulrich. „Hölderlins vaterländischer Gesang Andenken “. Hölderlin- Jahrbuch 26 (1988-1989): 175-201; Lefebvre, Jean-Pierre. „Auch Friedrich Hölderlin, Andenken 33 Erschienen ist Andenken zuerst in Leo von Seckendorfs Musenalmanach für das Jahr 1808 . Handschriftlich ist nur die Schlussstrophe überliefert. Entstanden ist das Gedicht wohl Ende 1802 oder im Frühjahr 1803. Hölderlin war psychisch krank. Aber wenigstens für den Herbst 1802 bezeugt sein Freund Isaak von Sinclair, er habe bei ihm „nie größere Geistes - u. Seelenkraft als damals“ gesehen. 3 Im ersten Überblick werden wir schon gewahr, dass das Gedicht nicht gereimt ist und die Zeilenlängen unregelmäßig sind. Fünf Strophen à 12 Zeilen, die letzte Strophe hat 11 Zeilen. Ein Versehen, oder fand es Hölderlin damit gut? Den Eindruck eines Gedichts erzeugen zuerst die Druckanordnung und die strophische Gruppierung des Textes. Der Rhythmus ist unregelmäßig, es kommt aber immer wieder zu rhythmischen Wiederholungen wie „Hingehet der Steg […] / Tief fällt der Bach“ oder „“Auf seidnen Boden, / Zur Märzenzeit“. Das Gedicht wird rhythmisch beendet mit dem metrischen Muster des Adoneus: „stiften die Dichter“. Dieses rhythmische Muster findet sich auch sonst: „unter den Winden“ z. B., „Schatten der Schlummer“, „bringen zusammen“. Eine rhythmische Spannung wird auch hervorgebracht durch die vielen Enjambements, ein poetisches Mittel, das Zeilenende und Zeilenübergang verbindet. Der Rhythmus ist intensiv, aber bei aller Variabilität und Spannung doch auch verhalten, unangestrengt. Dies liegt auch an der Übersichtlichkeit der syntaktischen Strukturen. Wiederholungen auch in der lautlichen Struktur: Sie wird immer wieder verdichtet durch Assonanzen und Alliterationen, durch eine Art Binnenreime also: „Geh aber nun und grüße / Die schöne Garonne, / Und die Gärten von Bourdeaux“ oder „Hingehet der Steg“ oder „… wächset ein Feigenbaum. / An Feiertagen gehen / Die braunen Frauen daselbst“ oder „einsam, jahrlang“, „stiften die Dichter“. Wiederholung und Variation also, eine solche rhythmische und lautliche Struktur - ist sie von dynamischer Kraft - erfahren wir als ästhetisch gelungen. Das Gedicht trägt den lapidaren Titel „Andenken“. Andenken bedeutet ein ‚Denken an‘ Vergangenes, eine Erinnerung an, aber im Unterschied zu Erinnerung ein konzentriertes, gesammeltes ‚Denken an‘, eine bewusstere, ‚andächtige‘ Handlung. Nicht einfach ein ‚Nicht-vergessen-haben‘, ‚Sich-wieder-Erinnern‘. Das Andenken kommt dem Denken nahe, aber der Gegenstand dieses Denkens ist vorgegeben, es ist Vergangenes. Das Andenken ist ein Andenken aus einer zeitlichen Distanz. Es gilt meist Verstorbenen. Mit Anzeigen in Zeitungen soll das trauernde Andenken oder Gedenken an eine Person öffentlich bekundet werden. Semantisch nahe ist Andenken auch dem Gedächtnis. Dieser Ausdruck kommt später im Gedicht vor. Abgeleitet ist er vom Partizip ‚gedacht‘ des Verbums ‚gedenken‘. Die die Stege sind Holzwege“. Hölderlin-Jahrbuch 26 (1988-1989): 202-224; Reuß, Roland. „… / Die eigene Rede des andern“. Hölderlins „Andenken“ und „Mnemosyne“ . Frankfurt a. M. 1990; Franz, Michael. „Hölderlins Gedicht Andenken “. Friedrich Hölderlin . Text + Kritik . Sonderband VII (1996): 195-212; Bennholdt-Thomsen, Anke. „ Andenken. L’importance de la topographie pour la poétique et la philosophie de l’histoire dans l’oeuvre tardive de Hölderlin“. Bordeaux au temps de Hölderlin . Hgg. Gilbert Merlio und Nicole Pelletier. Bordeaux 1997. 265-286; Ross, Anja. „Sinnlichkeit und Gefährdung. ,Andenken‘ als tragischer Prozess“. Hölderlin: Lesarten seines Lebens . Hg. Uwe Beyer. Würzburg 1997. 75-100; Philipsen, Bart. „Gesänge (Stuttgart, Homburg)“. Hölderlin-Handbuch . Hg. Johann Kreuzer. Stuttgart / Weimar 2002. 347-378; die Erläuterungen in: Hölderlin, Friedrich. Sämtliche Werke und Briefe . Hg. Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1992-1994; Hölderlin, Friedrich: Tutte le liriche . Edizione tradotta e commentata e revisione del testo critico tedesco a cura di Luigi Reitani. Mailand 2001. 3 Hölderlin, Friedrich. Sämtliche Werke . Große Stuttgarter Ausgabe. Bd. 6. Hg. Friedrich Beissner. Stuttgart 1943-1985, S. 643 (Brief Isaak von Sinclairs an Hölderlins Mutter vom 17. 6. 1803). Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden in Klammern im Fließtext angegeben. 34 Gerhard Kurz Wörterbücher halten eine semantische Übereinstimmung von Andenken, Erinnern und Gedächtnis fest - wie z. B. in den Abendmahlsworten Lukas 22,19: „das tut zu meinem Gedächtnis“ - aber auch einen Unterschied: Gedächtnis kann auch das Erinnerungsvermögen bedeuten, ein ‚Gefäß‘ für das Erinnern, insofern auch für das Andenken. So nennen wir z. B. das Gedächtnis metaphorisch ein Sieb, reden wir von einem guten oder schlechten Gedächtnis. Der Ausdruck kann auch für eine lebhafte Vorstellung, eine Anschauung stehen. Ein Andenken kann auch ein Mittel des Andenkens bedeuten, dass man z. B. von einer Reise zurückbringt, ein Souvenir also. Der Titel heißt nicht ‚Ein Andenken‘ oder ‚Das Andenken‘, sondern nur lapidar „Andenken“. Als Leser erwarten wir daher, dass es über ein bestimmtes Andenken hinaus um das Andenken als solches, um die Handlung des Andenkens als solche geht. Der Nordost wehet, Der liebste unter den Winden Mir, weil er feurigen Geist Und gute Fahrt verheißet den Schiffern. Das Wehen des Nordostwindes wird festgestellt von einem lyrischen Subjekt, das sich in ein besonderes, emotionales, geradezu persönliches Verhältnis zu diesem Wind setzt. Er ist ihm der liebste. Dieses Subjekt artikuliert sich selbstsicher und gelassen. Wahrnehmbar wird die unmittelbare Instanz einer bestimmten Person. Sie nennt sich nicht mit Namen, sagt auch nicht ‚ich‘, wohl ‚mir‘, exponiert sich aber im ganzen Gedicht in ihrer Subjektivität. In dieser Artikulation folgen auf die Anrede an den Wind die Evokation von Erinnerungen an Bordeaux und die Landschaft um Bordeaux, der Ausdruck eigener Befindlichkeit und der eigenen Situation, Reflexionen, die ihren Ausgang von diesen Erinnerungen und der eigenen Situation nehmen, und am Ende eine selbstbewusste, sentenziöse Aussage. Warum ist der Nordost diesem Subjekt der liebste unter den Winden? Der Nordost weht nach Südwesten, also von der schwäbischen Heimat des Verfassers aus gesehen, wie man vorausgreifend folgern kann, in die Richtung, in der Bordeaux und das Meer liegen. Dieser Wind verheißt feurigen Geist, dies zuerst, und gute Fahrt den Schiffern. Feurigen Geist, das bedeutet metaphorisch Begeisterung, Wagemut, Leidenschaft. Die alte Metapher konnte übrigens um 1800 vor dem Hintergrund der Lehre vom sublimen, als Materie gedachten ‚Lebensgeist‘ auch noch wörtlich verstanden werden. Der feurige Geist oder das „Feuer vom Himmel“ ist das, was dem Brief an den Freund Böhlendorff vom 4. Dezember 1801 zufolge den abendländischen, nüchternen Deutschen mangelt. Im Rückblick auf seine Zeit in Bordeaux, auf die sich das Gedicht bezieht, schreibt Hölderlin in einem zweiten Brief an Böhlendorff, dass er in diesem südlichen Frankreich „das gewaltige Element, das Feuer des Himmels“ erfahren habe und die „Stille“ und das „Athletische“ der Menschen als Gegenreaktion auf dieses Feuer. 4 Daher ist es gerade der Nordostwind, der „feurigen Geist“ verheißt. Eröffnet wird mit diesen Zeilen eine Welt des Aufbruchs, der Ausfahrt und Fahrt wagemutiger Schiffer, eines Zusammenhangs von Natur, dem Wind, und dem Handeln der Menschen. Der Wind verheißt feurigen Geist, auf ihn sind die Schiffer angewiesen. Auf diese Natur, auf das von ihr angeregte und ermöglichte Handeln der Schiffer bezieht sich 4 Vgl. auch die geschichtsphilosophische Verwendung der Feuer-Metapher in Mnemosyne : „Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet / Die Frücht […]“ (V.1 f.), und Der Ister : „Jetzt komme, Feuer! “ (V.1) Friedrich Hölderlin, Andenken 35 das Subjekt, emotional, beobachtend, reflektiert und reflektierend zugleich. Diesen Wind fordert das Subjekt „nun“ auf, zu gehen und die Schiffer zu grüßen. Stilistisch fällt die Vokalfüllung in „wehet“ und „verheißet“ auf. Später dann: „hingehet“, „hinschauet“, „denket“, „ Hofe“, „wächset“, „beginnet“, „ausgehet“, „nehmet“, „bleibet“. Dies entspricht einem Gebrauch in der Literatursprache Ende des 18. Jahrhunderts, z. B. bei Klopstock oder in den Homer-Übersetzungen von Voß. 5 Darin kann man aber auch, wie der Augsburger Brecht am Beispiel von Hölderlins Übersetzung der Antigone , einen schwäbischen Tonfall erkennen. 6 Bei Klopstock finden sich auch Formen wie „ein edel Paar“ statt ‚ein edles Paar‘. Die apokopierten Ausdrücke „edel“, „Mühl“, „Erd“, „Spitz“, „Lieb“ sind Formen sowohl der dialektalen Umgangssprache wie der Literatursprache. Der umgangssprachlichen Syntax nähern sich auffällig die Verse „wo nicht die Nacht durchglänzen / Die Feiertage der Stadt, / Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.“ Eine antikische Aura umgibt in der vierten Strophe die Ausdrücke ‚der geflügelte Krieg‘, also, die Segel metaphorisch als Flügel verstanden, der Seekrieg mit Segelschiffen, und der ‚entlaubte Mast‘, ein Pleonasmus, der das Auf-sich-Bezogene, Asketische dieser Situation auf dem Meer herausstellt. Insofern blenden diese Stilmittel zwei sprachliche Register ineinander, ein ‚hohes‘ mit antiken Konnotationen und ein umgangssprachliches, ‚niedriges‘ Register. Der Nordost ist der Wind, der von Nordosten nach Südwesten weht. Dieser Südwesten wird nun in den folgenden Zeilen lokalisiert. Es ist Bordeaux und die Landschaft um Bordeaux. Es fällt auf, dass die Erinnerung sich nicht auf das Großstädtische oder den Hafen von Bordeaux richtet, sondern auf eine eher ländliche Szenerie: die Gärten, das scharfe, d. h. steil abfallende Ufer, der Bach, der Ulmwald, die Mühle, der Hof, der seidne Boden, die Stege, die Weinberge. Nach Jean-Pierre Lefebvre beziehen sich diese Angaben auf Lormont, damals ein Dorf am anderen, östlichen Ufer der Garonne. 7 Geh aber nun und grüße Die schöne Garonne Und die Gärten von Bourdeaux Dort, wo am scharfen Ufer Hingehet der Steg und in den Strom Tief fällt der Bach, darüber aber Hinschauet ein edel Paar Von Eichen und Silberpappeln. 5 Vgl. Polenz, Peter von: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart . Bd 2: 17 . und 18 . Jahrhundert. Berlin / New York 1994, S. 253: „In archaisierender, poetisierender oder rhythmisierender Stilisierung, in der Dichtung ebenso wie in Kirche und Festrede, ist bis ins späte 19. Jahrhundert ein bildungssprachlicher Kult mit vollen vokalischen Flexionssilben getrieben worden: gehet, nehmet, bauet, geführet, beim Könige, im Thale […].“ 6 Brecht inszenierte 1948 in Chur Sophokles’ Antigone nach der Übersetzung von Hölderlin. In sein Arbeitsjournal trägt er am 16. 12. 1947 ein: „auf rat von CAS [der Bühnenbildner Caspar Neher] nehme ich die HÖLDERLINISCHE übertragung, die wenig oder nicht gespielt wird, da sie für zu dunkel gilt. Ich finde schwäbische tonfälle und gymnasiale lateinkonstruktionen und fühle mich daheim.“ Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. 1942-1955 . Bd. 2. Hg. Werner Hecht. Frankfurt a. M., 1974, S. 497. Zum auch schwäbischen Tonfall in den vollen vokalischen Flexionssilben vgl. den Bericht Johann Georg Fischers über seinen Besuch Hölderlins im Januar 1843: Fischer spricht Hölderlin auf „Diotima“ an, den literarischen Namen für Susette Gontard. Hölderlin erregt sich: „Nun sprach er folgendes schwäbisch: ‚wisset se, wie d’Schwoba saget: Närret ist [er hat wohl ‚ischt‘ gesagt] se worda, närret, närret, närret.‘“. Hölderlin, Sämtliche Werke . Bd. 7,2, S. 294. 7 Lefebvre, „Stege“, S. 213 ff. 36 Gerhard Kurz Das lyrische Subjekt fordert den Nordost auf „nun“ zu gehen und die „schöne Garonne“ und die „Gärten von Bourdeaux“ zu grüßen. Mit den „Gärten“ sind die Parks, die jardins publiques , in Bordeaux und wohl auch die Weingärten um Bordeaux gemeint. Die Konjunktion „aber“ in „Geh aber nun“ hat keine oder nur eine schwache adversative Bedeutung, markiert vielmehr, wie häufig in der Umgangssprache und bei Hölderlin, den Beginn einer neuen Sprechsequenz. Ein besonderer Ort wird im Andenken evoziert, ein scharfes Ufer, an dem ein Steg hingeht, ein Bach, der tief in den Strom fällt, darüber ein Paar von Eichen und Silberpappeln. Eichen, Pappeln und Ulmen, sie werden in der nächsten Strophe genannt, werden auch in der Beschreibung einer Reise erwähnt, die der Bruder von Hölderlins Patron in Bordeaux, der hamburgische Domherr Friedrich Johann Lorenz Meyer, 1801 nach Bordeaux machte. 8 Das lyrische Subjekt verfügt über eine genaue Ortskenntnis, besagen diese Angaben, es kennt Bordeaux aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben. Es war einmal da. Auf diesen ‚autobiographischen‘ Effekt kommt es auch an. Hier, im Gedicht, wird die Stadt auch mit dem älteren Namen Bourdeaux genannt (abgeleitet von lat. Burdigala), der Ende des 18. Jahrhunderts auch sonst noch verwendet werden konnte. Durch diesen Namen erhält die Stadt eine Aura des Alten, zugleich deutet das Subjekt ein vertieftes Wissen an, eine besondere Kenntnis der Stadt (in den Briefen schreibt Hölderlin ‚Bordeaux‘). Als Leser schließt man, dass dieses Subjekt identisch ist mit dem Verfasser, dass dieser Verfasser Bordeaux aus eigenem Erleben kennt. Man muss zu seinem Verständnis nicht wissen, was sein Verfasser, Friedrich Hölderlin, in Bordeaux alles erlebt hat. Doch kann dieses Wissen natürlich heuristisch genutzt werden, um Bedeutungen im Gedicht zu finden, die man sonst vielleicht übersehen hätte. Also werde ich kurz den biographischen Hintergrund skizzieren. Er ist auch für sich interessant. 9 II. Bordeaux! Die Stadt liegt im Südwesten Frankreichs, an der Garonne, die sich wenige Kilometer flussabwärts mit der Dordogne zur Gironde vereinigt. Bordeaux, das ist die Stadt des Handels, die Stadt Montaignes und Montesquieus und, während der Revolution, die Stadt der Girondisten, so genannt nach der Gironde. Die Girondisten bildeten in der französischen Nationalversammlung eine gemäßigte demokratische Fraktion. Sie verfolgten liberale, föderale, reformistische und kosmopolitische Ziele und favorisierten eine repräsentative Demokratie. Sie setzten sich für die Gleichberechtigung der Frauen und die Aufhebung der Sklaverei ein. Die meisten deutschen Anhänger der französischen Revolution, auch Hölderlin, waren Sympathisanten der Gironde. Die Guillotinierung der Girondisten durch die Jakobiner in Paris war ein Schock für diese deutschen Revolutionssympathisanten. 10 In Bordeaux selbst wurden 1793-1794 fast 600 Anhänger der Gironde guillotiniert. 8 In: F. J. L. Mayer: Briefe aus der Hauptstadt und dem Innern Frankreichs . Bd. 2. Tübingen 1803, S. 32 berichtet er, Bordeaux sich nähernd, vom ‚wohltätigen‘ Anblick von Eichenwäldern, „durch die Ideenverbindung mit Deutschland“, später, S. 157, von den Weinbergen bei Bordeaux und ihren „mit Pappelgruppen und Ulmen bewachsenen Rücken“. 9 Zu Hölderlins Aufenthalt in Bordeaux vgl. die Dokumente in Hölderlin, Sämtliche Werke . Bd. 7, 2. 193-225. 10 Vgl. Kurz, Gerhard. „La Gironde et les intellectuels allemands“. Bordeaux au temps de Hölderlin . Hgg. Gilbert Merlio und Nicole Pelletier. Bordeaux 1997. 37-50. Friedrich Hölderlin, Andenken 37 Bordeaux war eine große, bedeutende und reiche Handelsstadt. 1801 wurden 91 000 Einwohner gezählt. Gehandelt wurde mit Wein - natürlich dem roten Bordeaux - und Kolonialprodukten aus den westindischen Inseln: mit Kaffee, Zucker, Indigo und nicht zu vergessen mit Sklaven. Ein Großteil des Handels ging in die Hansestädte und nach Preußen, getragen von einer colonie allemande protestantischer Kaufleute, unter ihnen Daniel Christoph Meyer, ein Kaufmann aus Hamburg. Er lebte seit 1770 in Bordeaux. Meyer war der offizielle Repräsentant der Hamburger Handelshäuser in Bordeaux. Mitte der 1790er Jahre hatte er sich an einer zentralen Allee ein prächtiges, klassizistisches, heute noch existierendes Palais errichten lassen. 11 Dieser Meyer hatte einen „Hauslehrer und Privatprediger“ (461) für seine Kinder und seine Familie gesucht. Zugesagt wurde für die Stelle ein stattliches Gehalt und Geld für die Reise. Die Stelle war im Herbst 1801 Hölderlin durch einen Bekannten und entfernt Verwandten, den Professor für klassische Sprachen am Gymnasium in Stuttgart, Friedrich Jakob Ströhlin (und wohl auch durch Hölderlins Freund Christian Landauer, einem Stuttgarter Kaufmann) vermittelt worden. Ströhlin war selbst längere Zeit Hofmeister bzw. protestantischer Prediger in Bordeaux gewesen. Hölderlin nahm das Angebot an. Vermutlich auf eigenen Wunsch sollte er vorläufig vom Predigen dispensiert sein. Die Stadt Bordeaux konnte Hölderlin gegenwärtig sein durch die Nachrichten über das Schicksal der Girondisten, aber auch durch Informationen, die er in Frankfurt, wo er als Hauslehrer im Hause des Bankiers Gontard lebte, gewinnen konnte. Die Ehefrau seines Arbeitgebers, Susette Gontard, die Frau, die er liebte und die er als Verkörperung antiker Schönheit verklärte, entstammte einer Hamburger hugenottischen Kaufmannsfamilie mit geschäftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen zu Bordeaux. Ihr Mann gehörte ebenfalls der französisch-reformierten Kirche an. Auch andere bedeutende Frankfurter Bankiersfamilien, wie die Familien Bethmann oder Metzler, hatten Beziehungen zu Bordeaux. Nicht zuletzt konnte ihm Bordeaux präsent sein durch Karl Friedrich Reinhard, einen Studenten des Tübinger Stifts wie wenige Jahre später er selbst. Befreundet war Reinhard mit Carl Philipp Conz und den Brüdern Gotthold Friedrich und Karl Friedrich Stäudlin, die später Lehrer und Förderer Hölderlins wurden. 1787 nahm Reinhard eine Hauslehrerstelle in Bordeaux an, wo er sich bald der girondistischen Société des Amis de la Constitution anschloss. Er ging dann nach Paris und engagierte sich publizistisch für die Girondisten. 1791 veröffentlichte er in Schillers Zeitschrift Thalia einen Artikel unter dem Titel Übersicht einiger vorbereitender Ursachen der französischen Staatsveränderung von einem in Bordeaux sich aufhaltenden Deutschen . Später machte er dann auf verschiedenen Stationen in ganz Europa diplomatische Karriere. 12 Für diesen Reinhard und seinen Weg in der Revolution hatte sich Hölderlin sicher interessiert. Das deutsche Publikum war über Bordeaux auch informiert durch Reisebeschreibungen, z. B. von Sophie von La Roches Journal einer Reise durch Frankreich (1787). Sie war die Verfasserin des von den zeitgenössischen Lesern gefeierten Romans Geschichte des Fräuleins von Sternheim und Großmutter von Clemens und Bettine Brentano. Sie schreibt auch ‚Bourdeaux‘. Während ihres Aufenthalts in Bordeaux fungierte Ströhlin als ihr Reiseführer. 11 Vgl. Espagne, Michel. Bordeaux - Baltique . La présence culturelle allemande à Bordeaux aux XVIIIe et XIXe siècle. Paris 1991. Ferner: Présence de l’Allemagne à Bordeaux . Hg. Alain Ruiz. Bordeaux 1997. 12 Vgl. Delinière, Jean. Karl Friedrich Reinhard ( 1761 - 1837 ). Ein deutscher Aufklärer im Dienste Frankreichs. Stuttgart 1989. 38 Gerhard Kurz Hölderlin hatte in dieser Zeit keine berufliche Perspektive. Im Frühjahr 1801 war seine Stelle als Hauslehrer bei einer Kaufmannsfamilie in Hauptwil in der Schweiz nach drei Monaten gekündigt worden, vermutlich wegen seiner psychischen Labilität. Als privatisierender Schriftsteller, das hatte er eingesehen, konnte er kein Auskommen finden. Wegen der schwierigen Beziehung zu seiner Mutter beanspruchte er auch sein väterliches Erbe nicht. In seine Heimatstadt Nürtingen zurückgekehrt, fasste er den Plan, an der Universität in Jena Vorlesungen über griechische Literatur zu halten. Er wandte sich an Schiller und Immanuel Niethammer, Landsleute und lange hilfreiche Gönner, beide Professoren in Jena - Schiller, der damals schon in Weimar lebte, nominell noch Professor für Geschichte, Niethammer für Theologie. Beide antworteten nicht mehr. Der Verleger Cotta war bereit, seine Gedichte zu Ostern 1802 herauszugeben, wozu es aber aus ungeklärten Gründen nicht kam. Nach den Annahme des Angebots schrieb Hölderlin am 4. Dezember 1801 an seinen Bruder Karl: „So viel darf ich gestehen, dass ich in meinem Leben nie so fest gewurzelt war ans Vaterland […] Aber ich fühl’ es, mir ists besser, draußen zu sein“ (424). Und an den Freund Böhlendorff: Ich bin jetzt voll Abschieds […] es hat mich bittre Tränen gekostet, da ich mich entschloss, mein Vaterland [wohl nicht Schwaben, sondern Deutschland gemeint] noch jetzt zu verlassen, vielleicht auf immer. Denn was hab ich Lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muss ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens-und die Nahrungsnot nach Otaheiti triebe. (427 f.) Um den 10. Dezember 1801 brach Hölderlin auf, am 15. kam er in Straßburg an, dann führte ihn die Reise nach Lyon. In Lyon gibt er sich im polizeilichen Passkontrollbuch als homme de lettres an. Dann ging die Reise weiter durch das verschneite Zentralmassiv, vermutlich über Périgueux und Libourne nach Bordeaux. Diese Reise, insgesamt mehr als 600 km, war mit der Postkutsche und zu Fuß zurückzulegen. In Bordeaux kam er am 28. Januar 1802 an. Der Mutter berichtet er von den Gefahren der Reise und schreibt: „Ich bin nun durch und durch gehärtet und geweiht, wie Ihr es wollt. Ich denke, ich will so bleiben in der Hauptsache. Nichts fürchten und sich viel gefallen lassen“ (430). Die Formulierung lässt daran zweifeln, ob diese Aussagen tatsächlich zutreffen. Über den Empfang im Hause Meyer schreibt er: „Der Anfang meiner Bekanntschaft, meiner Bestimmung ist gemacht. Er könnte nicht besser sein. ‚Sie werden glücklich sein‘, sagte beim Empfange mein Konsul. Ich glaube, er hat Recht.“ (430). Mehr erfahren wir über die Familie des Konsuls nicht. Hölderlin wohnte nicht im Hause des Konsuls, sondern in einer Straße in unmittelbarer Nähe der Hafenkais. 13 Kein weiterer Brief zwischen Ende Januar und Karfreitag, dem 16. April. An diesem Tag schreibt er an die Mutter und bezieht sich auf den Tod der Großmutter, die im Februar gestorben war. Er spricht darin von der Notwendigkeit, sich nicht zu sehr zu „bewegen“, und davon, sein „geprüftes Gemüt“ zu „bewahren“ und zu „halten“ und nennt die Familie Meyer „wahrhaft vortreffliche[n] Menschen“ (431). Aber auch hier keine genauere Information über die Familie und über seine Lage in Bordeaux. 14 13 Bertheau, Jochen . Hölderlins französische Bildung . Frankfurt a. M. / Berlin u. a. 2003, S. 113 f., hat diese Adresse herausgefunden. 14 Reiche Informationen zum Handel und gesellschaftlichen Leben in der Stadt während Hölderlins Aufenthalt findet man in der dokumentarischen Anthologie von Lefebvre, Jean-Pierre. Hölderlin, journal de Bordeaux . Bordeaux 1990. Friedrich Hölderlin, Andenken 39 Am 10. Mai wurde ihm ein laisser passer von Bordeaux nach Straßburg ausgestellt mit der Erlaubnis, sich frei zu bewegen. Mitte Mai reiste er von Bordeaux ab. Er nahm vermutlich die Poststraße über Angoulême und Tours nach Paris. Da man über Hölderlins Aufenthalt in Bordeaux so wenig wusste (und weiß), und die Figur des wahnsinnigen Dichters faszinierte, bildeten sich im 19. Jahrhundert schnell Legenden. So veröffentlichte der Dichter, Journalist, politische Emigrant und Hölderlin-Verehrer Moritz Hartmann 1861 unter dem Titel Eine Vermutung eine Art Bericht, wonach 1802 in einem Schloss bei Blois ein Fremder aufgetaucht sei - offensichtlich psychisch krank, mit heruntergekommener Kleidung, aber, wie die Schlossbewohner ihn wahrnehmen, edel und „von Natur aus groß und tief “. Zum Abendessen eingeladen steuert der Fremde sofort auf das Sofa zu, legt sich hin und schläft sogleich ein: „Wir standen da und sahen einander erstaunt an. ‚Er ist verrückt,‘ lispelte meine Tante, aber mein Vater schüttelte den Kopf und sagte: ‚Es ist ein Original; er gefällt mir; er ist ein Deutscher.‘“ In Paris besichtigte Hölderlin wohl das im November 1801 eröffnete Musée des Antiques im Louvre, gefüllt mit Statuen, die Napoleon überall, vor allem in Italien, hatte erbeuten lassen. Nach der Rückkehr schreibt er im Brief an Böhlendorff: der Anblick der Antiquen hat mir einen Eindruck gegeben, der mir nicht allein die Griechen verständlicher macht, sondern überhaupt das Höchste der Kunst, die auch in der höchsten Bewegung […] dennoch alles stehend und für sich selbst erhält, so dass die Sicherheit in diesem Sinne die höchste Art des Zeichens ist. (432 f.) Dann reiste er über Straßburg nach Stuttgart zu Freunden, wo er Mitte Juni, Anfang Juli 1802 ankam, „leichenbleich, abgemagert, von hohlem wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler“, wie später berichtet wird. 15 Der Ausreisevermerk in Straßburg trägt als Datum den 7. Juni 1802. Der Grund für die Abreise aus Bordeaux ist dunkel. Erwogen wird, dass er eine Nachricht erhalten hat, Susette sei todkrank, vielleicht sogar von Susette selbst. 16 Sie hatte sich, schon erkrankt, an den Röteln ihrer Kinder angesteckt und starb am 22. Juni. Danach wäre Hölderlin von Straßburg nach Frankfurt zur todkranken Susette gereist, von dort nach Stuttgart. Für eine solche Nachricht von Susette oder von anderen Personen aus ihrem Umkreis wären Übermittlungswege über die geschäftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen von Susettes Familie oder über die Frankfurter Handels- und Bankhäuser mit Geschäftsbeziehungen zu Bordeaux immerhin denkbar. 17 Doch überzeugen diese Vermutungen nicht. 18 Wenn er zur todkranken Susette gerufen wurde, warum dann der Aufenthalt in Paris? Warum hatte er nicht die schnellste Verbindung mit der Diligence gewählt? Er hatte genügend Reisegeld. Erwägen muss man 15 Hölderlin, Sämtliche Werke . Bd. 7,3. S. 60. 16 Vgl. z. B. Bertaux, Pierre. Friedrich Hölderlin . Frankfurt a. M. 1978, S. 537 ff. Bertaux redet von einer „Wahrscheinlichkeit“. Vorher: Ders. „Hölderlin in und nach Bordeaux. Eine biographische Untersuchung“. Hölderlin- Jahrbuch 19 / 20 (1975-1977): 94-111; Bertheau, Jochen. „Hölderlin in Bordeaux“. Frankreich Jahrbuch (2012): 183-194, hier S. 191. 17 Diese möglichen Übermittlungswege werden nachgewiesen von Bertheau, Hölderlin in Bordeaux . 18 Zur Kritik dieser Vermutungen: Beck, Adolf. „Hölderlin im Juni 1802 in Frankfurt? Zur Frage seiner Rückkehr von Bordeaux“. Hölderlin -Jahrbuch 19 / 20 (1975-1977): 458-475; Wallner, Georg Wolfgang: „‚Der junge Gontard war sehr freundlich mit mir.‘ Ein Treffen der Familien Gontard und Meyer Ende Mai 1802“. Hölderlin-Jahrbuch 36 (2008-2009): 261-264. Wallner weist nach, dass Susette Gontard Anfang Juni 1802 noch gesund war und um den 12. Juni an Röteln erkrankte. 40 Gerhard Kurz auch seine psychische Labilität als mögliche Ursache seiner Abreise. Man muss davon ausgehen, dass Hölderlin erst Anfang Juli 1802 vom Tod der Geliebten durch einen Brief seines Freundes Isaak von Sinclair erfahren hatte. Was hatte Hölderlin von dieser Reise nach Frankreich mitgebracht? Es gibt nicht sehr viele Zeugnisse von ihm darüber, aber eine Antwort kann man doch geben. Frankreich war ihm vorher das Land Rousseaus, der Revolution und der Menschenrechte gewesen, jetzt war es ihm auch das Land der Sinnenlust und der Nähe zu den Griechen. Zusammen mit dem antiken Griechenland und Deutschland bildet Frankreich für Hölderlin die entscheidende politische und kulturelle Konstellation. Eine „liebenswürdige Fremde“ nennt er das Land im Gedicht Das Nächste Beste , das ebenfalls den Aufenthalt in Bordeaux evoziert 19 . Er erinnert sich an den intensiven Geruch der Zitronen und des Öls, „wo Dankbarkeit und Natürlichkeit mir die Gascognischen Lande“ gegeben haben. 20 In Das nächste Beste steht auch eine Zeile, aus der man das Bewusstsein herauslesen kann, dass er diesem Aufenthalt eine neue poetische Sprache verdankt: „Ursprünglich aus Korn, nun aber zu gestehen, befestigter Gesang von Blumen als / Neue Bildung aus der Stadt.“ Der „Gesang von Blumen“ kann sich metaphorisch auf Blumengestecke, aber auch auf den sublimierenden „Gesang“ der Dichtung beziehen. Zu dieser neuen poetischen Sprache gehört auch die Integration vulgärfranzösischer Wendungen, so wie er sie von den Matrosen in Bordeaux gehört haben konnte, in anderen Gedichten, wie z. B. in Kolomb . Und dieses Südwestfrankreich hatte ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass die Formklarheit und Formfestigkeit der antiken, griechischen Kunstwerke eine Gegenreaktion auf die angeborene, orientalische Wildheit, ja Todeslust der Griechen war. Er war ja, wie die anderen deutschen Griechenlandverehrer auch, nie in Griechenland gewesen. Hier fühlte er sich Griechenland geographisch, klimatisch und kulturell nahe. An Böhlendorff schreibt er: „Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, dass mich Apollo geschlagen.“ Und: „Das Athletische der südlichen Menschen, in den Ruinen des antiquen Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter; ich lernte ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten“ (432). 21 Diese Briefstelle und die vorher schon zitierte von den antiken Statuen in Paris legen die Frage nahe, ob das antike Griechenland, das Verhältnis von Antike und Moderne, auch für Andenken von Bedeutung ist. Die Reise nach Bordeaux und zurück war strapaziös und, wegen der vagabundierenden Räuberbanden, auch lebensgefährlich. Was immer der Grund für die Abreise aus Bordeaux war, sie widersprach den Hoffnungen und Erwartungen, mit denen Hölderlin nach Bordeaux aufgebrochen war. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ist es erstaunlich, in welcher Souveränität und Gelöstheit Andenken verfasst ist. 19 Hölderlin, Gedichte . S. 107. 20 Hölderlin, Gedichte , S. 110. Die Gascogne ist die historische Provinz südlich und südöstlich von Bordeaux. 21 Mit den „Ruinen des antiquen Geistes“ sind wohl nicht nur antike Ruinen gemeint - an die römischen Ruinen in Saintes könnte man denken -, sondern vor allem das, was allgemein vom antiken Geist übrig geblieben ist. Friedrich Hölderlin, Andenken 41 III. Die am Ende der ersten Strophe durch das Andenken evozierte Szenerie ist offenbar mit dem scharfen Ufer und dem tief herabfallenden Bach unwegsam und nicht ungefährlich, deswegen der menschengemachte Steg. Er gibt Sicherheit und schafft eine Verbindung. Das Baumpaar schaut darüber hin, als würde es darüber wachen. Die Eiche, die Silberpappel und, in der folgenden Strophe, der Ulmwald werden wohl nicht nur aus geographischen Gründen erwähnt. Hölderlin kannte natürlich die Freiheitssymbolik der Eiche, wie ihre Verwendung im Gedicht Die Eichbäume belegt. Wie der knorrige Wuchs der Eiche Unbeugsamkeit, Widerstandsfähigkeit und Freiheit symbolisiert, so konnte auch der aufrechte Wuchs der Silberpappel und der Ulme Freiheit symbolisieren. Daher wurden während der Revolutionszeit in Frankreich überall Eichen, Pappeln oder Ulmen als Freiheitsbäume gepflanzt. Auch ‚republikanische‘ Haine, Wälder und öffentliche Gärten wurden angelegt. 22 Diese politische Bedeutung von Pappeln, Ulmen, Wäldern und Gärten kannte Hölderlin gewiss. Insofern soll wohl mit der Erwähnung der Gärten, des Paars aus einer Eiche und einer Silberpappel und des Ulmwaldes eine politische Bedeutung assoziiert werden. Da die Eiche traditionell eher mit Deutschland verbunden wird, die Silberpappel eher mit Frankreich, vereinigt dieses Baumpaar synekdochisch Deutsches und Französisches. 23 Überblickt man das ganze Gedicht, fällt auf, dass es neben dem Baumpaar zu weiteren Paarbildungen kommt: Strom und Bach, Ulmwald und Mühle, Hof und Feigenbaum, Nacht und Tag, Bellarmin und der Gefährte, implizit die Dordogne und Garonne, die sich zur Gironde vereinigen. Ganz sacht wird in dieser Szenerie das Natürliche und das Menschengemachte personifiziert und einander angenähert: Der Steg geht hin, das Baumpaar schaut darüber hin, in der Folge ist von ‚langsamen‘ Stegen, eine metonymische Bildung, die Rede, dann von einwiegenden Lüften. Noch denket das mir wohl und wie Die breiten Gipfel neiget Der Ulmwald, über der Mühl, Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum. Die zweite Strophe beginnt mit einem Innehalten: „Noch denket das mir wohl“. Eine Formulierung, die in Mundarten, auch in der schwäbischen, verbreitet ist. Sie bedeutet soviel wie ‚Noch erinnere ich mich wohl / gut daran‘. Aber so heißt es nicht, vielmehr: „Noch denket das mir wohl“. Ausgedrückt wird das Geschehen eines Andenkens, das nicht vom Subjekt, sondern von diesen erinnerten Orten seinen Ursprung nimmt, ausgedrückt wird ein An-das-Subjekt-heran-Denken. Eine Alltagswendung wird hier wegen ihrer immanenten Einsicht verwendet. Wir reden ja auch davon, dass eine Erinnerung kommt oder nicht kommt. So erhält Andenken im Gedicht eine doppelte Bedeutung, etwas, was das Subjekt tut, und etwas, was ihm ‚noch‘, wie es heißt, geschieht. In der ersten Strophe geht es um eine Bewegung vom Subjekt weg und hinaus in einen Aufbruch, hier nun umgekehrt um eine Bewegung auf das Subjekt zu. Diese beiden Bewegungen werden aufgenommen im ‚Sagen‘ und ‚Hören‘ in der dritten Strophe und im ‚Nehmen‘ und ‚Geben‘ des Gedächtnisses 22 Vgl. Harten, Hans-Christian und Elke. Die Versöhnung mit der Natur . Gärten, Freiheitsbäume, republikanische Wälder, heilige Berge und Tugendparks in der Französischen Revolution. Reinbek bei Hamburg 1989. 23 Vgl. auch Anm. 8. 42 Gerhard Kurz in der letzten Strophe. Das „Noch“ impliziert das Wissen, dass Erinnern, dass Andenken vergehen kann. Dem Subjekt „denket“ nun eine weitere Szene, in ihr eine fast zärtliche Verbindung von Natur, Kultur und Arbeit. Der Ulmwald neigt sich über die Mühle. Wie beiläufig kommt es dabei zu einer Verbindung von Abendländischem und Morgenländischem. Die Ulme ist ein abendländischer Baum, der Feigenbaum, der im Hof „aber“ - jetzt wohl mehr adversativ zu verstehen - wächst, ein morgenländischer. Er kam aus Indien nach Europa und wurde in der Antike seiner Fruchtbarkeit wegen den Göttern Ceres und Dionysos zugeordnet. 24 Er ist in den Hof integriert. Seine Frucht, die Feige, hat schon in der Antike eine erotische Bedeutung. Dieser Feigenbaum leitet, auch lautlich alliterativ, zu den Feiertagen über, an denen die braunen Frauen auf einen Tanzboden gehen, der wie aus Seide glänzt. Von Feiertagen und Tanz ist auch in der übernächsten Strophe die Rede. An Feiertagen gehen Die braunen Frauen daselbst Auf seidnen Boden, Zur Märzenzeit, Wenn gleich ist Nacht und Tag, Und über langsamen Stegen, Von goldenen Träumen schwer, Einwiegende Lüfte ziehen. Der Ausdruck „braune Frauen“ konnotiert etwas Südliches, Vitales, Erotisches, Faszinierendes, das ‚Braune‘ auch Arbeit, ein Leben in der Sonne, nicht ‚unter Schatten‘, eine Selbstbehauptung also. Daselbst, wie es zur Bekräftigung der Ortsangabe heißt, ist der seidne Boden; ‚daselbst‘ kann sich aber auch auf die erinnerte Bordelaiser Örtlichkeit insgesamt beziehen. 25 Diese Feiertage finden zur „Märzenzeit“ statt, zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche, also am 20. bzw. 21. März, dem Frühlingsanfang. Hölderlin stellt um und schreibt „Nacht und Tag“. Die Nacht und die Erinnerung an die „langsamen Stege“, über die, schwer von „goldenen Träumen“, einwiegende Lüfte ziehen, bereiten das Verlangen zu ruhen vor, von dem in der folgenden Strophe die Rede ist. Einwiegende Lüfte: ‚eingewiegt‘ wird in den Schlaf, ‚eingewiegt‘ wird ein Kind. Das Subjekt überlässt sich seinen Erinnerungen bis zum Schwinden der Distanz zum Erinnerten, bis zum Versinken in einer ‚goldenen‘ kindlichen Traumwelt. Diese Passage hat eine Parallele in der Hymne Mnemosyne . Auch dort findet sich, formuliert in einer sermocinatio , 26 das regressive Verlangen in einen kindlichen, ge- 24 Vgl. Artikel: „Feige“. Der Kleine Pauly . Lexikon der Antike in fünf Bänden . Bd. 2. Hgg. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. München 1979. S. 528; Artikel: „Feige“. Metzler Lexikon der literarischen Symbole . Hgg. Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2012. S. 116 f. 25 In seiner Vorlesung über Andenken , gehalten im Wintersemester 1941 / 42, schreibt Heidegger über dieses Ortsadverb: „[…] welcher ‚schwungvolle‘ ‚Dichter‘ möchte es wagen, ein so undichterisches Wort wie dieses ‚prosaische‘ „daselbst“ zu gebrauchen, das für uns heute hart an die Kanzlei- und Geschäftssprache grenzt? “ Heidegger, Martin. „Hölderlins Hymne ‚Andenken‘. Gesamtausgabe . Bd. 52. Frankfurt a. M. 1992. S. 81. Zu Heideggers gewalttätiger, die emphatische Subjektivität von Hölderlins Gedichten verdrängender Uminterpretation vgl. Kurz, Gerhard: „Heideggers Hölderlin“. Hölderlin in der Moderne . Hg. Friedrich Vollhardt. Berlin 2014. 93-113. 26 Eine sermocinatio ist eine rhetorische Figur, mit der zur stilistischen Verlebendigung eine Sprech- oder Denkweise fingiert oder imitiert wird. Hier fingiert das Subjekt eine Sprech- oder Denkweise, die nicht die seine ist. Friedrich Hölderlin, Andenken 43 schichtslosen Zustand. Der Vergleich mit dem ‚schwanken Kahne‘ offenbart aber schon das Illusorische dieses Verlangens: Vorwärts aber und rückwärts wollen wir Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie Auf schwankem Kahne der See (V. 15 - 17). Von was träumt das Subjekt in „Andenken“, wenn es sich solchen „goldenen Träumen“ überlässt? Es reiche aber, Des dunkeln Lichtes voll, Mir einer den duftenden Becher, damit ich ruhen möge; denn süß wär’ unter Schatten der Schlummer. Mit großer Gebärde 27 verlangt das lyrische Subjekt, das sich hier in eine Trinkgesellschaft imaginiert, einen „duftenden Becher“, voll „dunkeln Lichtes“, damit es ruhen möge. Natürlich liegt es nahe, beim wunderbaren Oxymoron ‚dunkles Licht‘ an den Rotwein zu denken, für den die Gegend von Bordeaux berühmt ist. Von „Traubenbergen“ ist ja auch die Rede. Hält man ein Glas Rotwein ins Licht, ist er dunkeln Lichtes voll. Die große Gebärde ist schon eine wie in der Trunkenheit. Nun sind der Wein, der Rausch, wie der Feigenbaum, die Nacht, das Feiern und der Tanz mit dem Gott Dionysos verbunden 28 Diesem Gott kommt in Hölderlins geschichtspoetischer Welt eine zentrale Bedeutung zu. 29 In diesem Kontext des Dionysischen wird das Oxymoron ,dunkles Licht‘ auch als ein Bild verständlich, mit dem die Erfahrung einer göttlichen Macht zu fassen versucht wird. In mittelalterlicher und neuzeitlicher Theologie, von Dionysos Areopagita über Nikolaus von Kues, Giordano Bruno bis zu Grimmelshausen wird das Oxymoron ,dunkles Licht‘ oder ,lichte Finsternis‘ gewählt, um die übermächtige Wirkung Gottes zu treffen. 30 Die Überfülle des göttlichen Lichts blendet den Menschen, so dass er sie als Dunkelheit wahrnimmt. Das Oxymoron geht wohl zurück auf die biblische Apostelgeschichte, auf die Erzählung von der Bekehrung des Paulus. Paulus wird von einem großen Licht umleuchtet und hört die Aufforderung von Jesus, nach Damaskus zu gehen. Dann heißt es: „Als ich aber vor Klarheit dieses Lichtes nicht sehen konnte, ward ich an der Hand geleitet von denen, die mit mir waren, und kam nach Damaskus.“ (Apg. 22, 11) Hier, in Hölderlins Gedicht, im Kontext des Dionysischen, geht es um die Erfahrung einer Macht, in der „Nacht und Tag“, Schwinden des Bewusstseins und Bewahren des Bewusstseins auf dem Spiele stehen. Der Genuss des Weines, der Rausch, soll in die Ruhe, in den Schlummer unter Schatten - Schatten von Bäumen, wie man hinzudenken kann - übergehen. Das wäre „süß“ - ein Ad- 27 Diese Geste auch in der Elegie Der Wanderer : „Darum reiche mir nun, bis oben an von des Rheines / Warmen Bergen mit Wein reiche den Becher gefüllt! / Dass ich den Göttern zuerst und das Angedenken der Helden / trinke, der Schiffer […]“. (V. 103-106) 28 Vgl. Artikel: „Dionysos“. Der kleine Pauly , Bd. 2, S. 77-85. 29 Vgl. z. B. Behre, Maria. „Des dunkeln Lichtes voll“. Hölderlins Mythokonzept Dionysos . München 1987; Böschenstein, Bernhard. „Frucht des Gewitters“. Zu Hölderlins Dionysos als Gott der Revolution . Frankfurt a. M. 1989. 30 Vgl. Haug, Walter. „Das dunkle Licht. Positivierung von Negativität“ . Letzte kleine Schriften . Hg. Ulrich Barton. Tübingen 2008. 271-285. 44 Gerhard Kurz jektiv aus der Welt der Idylle, 31 aber auch aus der Welt des Kindlichen. Der süße Schlummer unter Schatten: Ein harmloses, weinseliges, idyllisches Bild, würde die Formulierung „unter Schatten“ für die Zeitgenossen nicht auch die Vorstellung aus der antiken Mythologie und Literatur aufrufen, wonach die Verstorbenen als umbrae oder simulacra , als „Schatten“ 32 in der Unterwelt leben. Es heißt auch „unter Schatten“, nicht ‚im Schatten‘ oder ‚unter dem Schatten‘. Das „Reich der Schatten“ war im 18. Jahrhundert ein gängiger Ausdruck für die antike Unterwelt. In Hölderlins Gedicht An die Parzen wird die Unterwelt, der „Orkus“, als „Schattenwelt“ (V. 9) imaginiert. 33 Daher verbirgt sich im Wunsch, unter Schatten zu schlummern, ein Todeswunsch. Dafür spricht auch die Wendung vom „duftenden Becher“, die auf den Becher des Sokrates anspielt, aus dem er das tödliche Gift zu trinken hatte. 34 Schließlich ist Dionysos als Vegetationsgott nicht nur der Gott des Weines, der Feier, des Rausches, der Befreiung, der Wanderung über Kontinente hin, sondern auch der Gott des Todes. So geht aus der dionysischen Landschaft von Bordeaux, den goldenen Träumen, den einwiegenden Lüften, dem duftenden Becher, den Schatten die Welt der Griechen hervor, die Welt des dionysisch dunklen Lichts. Es ist eine Welt des Todes, in die sich das Subjekt zu verlieren droht. Der „Wunderwelt“ 35 der Griechen galt die lebenslange Liebe Hölderlins. Griechenland war ihm das Land der Demokratie, der Menschlichkeit und der Kunst. Wie wohl keiner sonst der europäischen Griechenlandverehrer hat er das solcherart verklärte antike Griechenland geliebt. Gleichzeitig hat Hölderlin in dieser Liebe zum antiken Griechenland etwas Pathologisches wahrgenommen, eine Liebe zu Toten. Eine „Todeslust“ hat er auch den Griechen selbst zugeschrieben. 36 Die frühe Hymne Griechenland endet mit der Strophe Mich verlangt ins ferne Land hinüber Nach Alcäus und Anakreon, Und ich schlief ’ im engen Hause lieber, Bei den Heiligen in Marathon; Ach! Es sei die letzte meiner Tränen, Die dem lieben Griechenlande rann, Lasst, o Parzen, lasst die Schere tönen, Denn mein Herz gehört den Toten an. 37 31 Der süße Schlummer unter Schatten ist ein Topos der Idyllendichtung, vgl. Schmidt, Hölderlins letzte Hymnen, S. 20 f. 32 Vgl. z. B. Vergil: Aeneis VI, 390: „umbrarum hic locus est, Somni noctisque soporae“ (Hier ist der Ort der Schatten, des Schlafs und der schlummerbringenden Nacht), auch VI, 268 ff; XI, 831; XII, 952; Ovid: Metamorphosen , X, 11 ff.; XIV, 117. Vom „Schatten des Todes“ redet auch die Bibel, z. B. Lukas 1, 79; Matthäus 4, 16. 33 Auch sonst verwendet Hölderlin ‚Schatten‘ in dieser Bedeutung, z. B. in: An die Hoffnung , V. 6; Der Archipelagus , V. 207, 219; Germanien , V. 28; Patmos , V. 99. 34 Platon: Phaidon , 117a ff. 116d steht der Satz: „Aber wohlan denn, o Kriton […] und bringe einer den Trank […].“ (Übersetzung von Friedrich Schleiermacher) Damit lässt Sokrates den Schierlingsbecher bringen. 35 Vgl. Hölderlins Gedicht Tränen , V. 5. 36 Im Gedicht Stimme des Volks , 2. Fassung, V. 19 37 Hölderlin, Gedichte , S. 13 f. V. 49-56 Friedrich Hölderlin, Andenken 45 In ihrer Tiefenanalyse eine, soweit ich sehe, im europäischen Klassizismus singuläre Position! 38 Der Konjunktiv II von „süß / Wär‘ unter Schatten der Schlummer“ drückt eine Sehnsucht, eine Versuchung, sich aufzugeben, aus, aber auch schon eine Distanzierung. Von dieser Versuchung löst sich das lyrische Subjekt dann abrupt: Nicht ist es gut Seellos von sterblichen Gedanken zu sein. Doch gut Ist ein Gespräch und zu sagen Des Herzens Meinung, zu hören viel Von Tagen der Lieb, Und Taten, welche geschehen. Die Negationspartikel steht, wie abwehrend, in der syntaktischen Spitzenstellung: Nicht! Dieser Vers steht in der Mitte des Gedichts. „Sterbliche Gedanken“ sind Gedanken an Sterbliches, Gedanken an den Tod und an Tote. Das Attribut in Linksstellung hat die Funktion eines präpositionalen Attributs in Rechtsstellung. 39 In rhetorischer Terminologie liegt wieder eine Metonymie vor, analog zu „langsamen Stegen“. Diese „sterblichen Gedanken“ bewirken eine ,Seellosigkeit‘. Was könnte „seellos“ bedeuten? Implizit geht diese Bedeutung aus dem Kontext hervor. Gut wird der Austausch im Gespräch genannt, das Sagen des „Herzens Meinung“, das Hören von „Tagen der Lieb‘“ und „Taten, welche geschehen“. „Meinung“ bedeutet auch noch ‚Glaube‘ und ‚Liebe‘. „Freiheit, die ich meine, / Die mein Herz erfüllt“, dichtete 1812 Max von Schenkendorf. Sacht werden die Liebe und die Taten auch als Vorgänge der Natur und der Geschichte vorgestellt, „Tage“ der Liebe, Taten, „welche geschehen“. 40 „Seellos“ bedeutet dann die Verlorenheit in den Gedanken an den Tod, das Nur-auf-sich-Bezogene, das Sich-Abschließen vom Gespräch, vom Austausch mit anderen und von den Geschehnissen der Gegenwart - Eine Art lebendiger Tod. In der Ode Ermunterung verwendet Hölderlin den Ausdruck „seelenvolle“, einen Gegenausdruck zu „seellos“. Der „Otem“ der Natur wird der „Alleserheiternde, seelenvolle“ genannt (V. 11-12). Er ist seelenvoll, da er empathisch alles ‚erheitert‘, d. h. klärt und freudig stimmt, auch das „du“, das zuvor mit einem „kahl Gefild“ (V. 10) verglichen wird. Nun hat man schon länger darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausdruck „sterblichen Gedanken“ dieselben Anfangsbuchstaben enthält wie ‚Susette Gontard‘. 41 Ist diese Übereinstimmung intendiert, dann läge hier der geheime Impuls für die auffallenden Paarbildungen im Gedicht, dann läge darin auch eine Mahnung Hölderlins an sich selbst, sich nicht in den Gedanken an den Tod Susettes zu verlieren. Die Reflexion des lyrischen Subjekts darüber, was nicht gut ist und was gut ist, führt zur Wendung auf die eigene Situation: Wo aber sind die Freunde? Bellarmin Mit dem Gefährten? Mancher 38 Vgl. dazu ausführlicher: Kurz, Gerhard. „,Am Feigenbaum ist mein / Achilles mir gestorben‘. Lebenswelt und Klassizismus bei Hölderlin“. Literatur & Lebenswelt . Hgg. Alexander Löck und Dirk Oschmann. Köln / Weimar 2012. 125-144. 39 Vgl. z. B. auch den Ausdruck ‚Seminar für deutsche Philologie‘. 40 Die „Tage“ und „Taten“ erinnern an den Titel von Hesiods Werke und Tage ( Erga kai hemerai ). 41 Vgl. Franz, Michael. „Annäherung an Hölderlins Verrücktheit.“ Hölderlin- Jahrbuch 22 (1980-1981), S. 293 f., Anm. 22. 46 Gerhard Kurz Trägt Scheue, an die Quelle zu gehen; Es beginnet nämlich der Reichtum Im Meere. Sie, Wie Maler, bringen zusammen Das Schöne der Erd’ und verschmähn Den geflügelten Krieg nicht, und Zu wohnen einsam, jahrlang, unter Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen Die Feiertage der Stadt, Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht. Gefragt wird nach einem besonderen Paar von Freunden: Bellarmin und sein Gefährte. Hölderlin hat seinen Freund Isaak von Sinclair als Bellarmin angedichtet, wie aus den Entwürfen zum Gedicht An Eduard hervorgeht. 42 Dann wäre der Gefährte, da wir einen anderen Freund Sinclairs nicht kennen, Hölderlin selbst. Dies ergibt keinen Sinn. Der Leser von Hölderlins Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland wird an das Paar Hyperion und Bellarmin denken. Der Roman besteht hauptsächlich aus Briefen dieses Hyperion, dessen Name Griechisches konnotiert, an Bellarmin, dessen Name Französisches (bel, von beau: schön), Kriegerisches (lat. bellum: Krieg) und Germanisches (Arminius / Hermann der Cherusker) konnotiert. Was bedeutete es aber, wenn literarische Figuren als Freunde apostrophiert werden? Das lyrische Subjekt wäre dann ein einsames Subjekt, ohne reale Freunde. Aber vielleicht kommt es nicht auf diese Verbindung zum Roman an, sondern einfach darauf, dass das lyrische Subjekt von Freunden redet, und den durch die erläuterungslose Einführung von „Bellarmin / mit dem Gefährten“ 43 erzeugten Effekt einer authentischen, unmittelbaren Redesituation. Die Freunde und, unbestimmt, „mancher“ sind offenbar aufgebrochen zu einer Meerfahrt. Es sind Schiffer, die mit ihren Waren, vergleichbar den Ausstellungen von Malern, das „Schöne der Erd“ zusammenbringen. - eine Handlung wie das Gespräch, das ja auch zusammenbringt. Im 18. Jahrhundert wurde nicht nur die ökonomische, sondern auch die kulturelle Leistung des Handels hervorgehoben. In Hölderlins Elegie Der Archipelagus (V. 72-75) wird der Kaufmann sogar mit dem Dichter verglichen: Siehe! Da löste sein Schiff der fernhinsinnende Kaufmann, Froh, denn es wehet’ auch ihm die beflügelnde Luft und die Götter Liebten so, wie den Dichter, auch ihn, dieweil er die guten Gaben der Erd ausglich und Nahes und Fernes vereinte. Diese Freunde „verschmähn“ auch den Seekrieg nicht. Zu dieser Zeile konnte angemerkt werden: „Die emphatische Auszeichnung der Händler als Welt-Künstler genügt offenbar nicht. Handelgeist ohne Heroismus käme in den Verdacht der schlauen Geschäftstüchtigkeit.“ 44 Immerhin, das Leben dieser Kaufleute war nicht ungefährlich. Ihre Lebensform, „zu 42 Der erste Entwurf war überschrieben mit Bundestreue. An Sinclair . Für einen zweiten Entwurf wurden als Überschriften erwogen : An Bellarmin, An Arminius, An Philokles . 43 Möglicherweise handelt es sich hier, im Blick auf die folgenden Zeilen, um einen Druckfehler für ,Bellarmin mit den Gefährten‘, vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke , Bd. 2,2, S. 804 zur Stelle. Handschriftlich sind nur die Zeilen 49-59 überliefert. 44 Koch, Manfred. Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff der „Weltliteratur“ . Tübingen 2002, S. 70. Auf S. 43-81 findet sich eine Darstellung der kulturellen Funktion des Handels. Friedrich Hölderlin, Andenken 47 wohnen einsam, jahrlang, unter dem entlaubten Mast“ ist in ihrer Einsamkeit, Kahlheit und Askese die Gegenform zu der dionysischen Lebensform der Feiertage, die die Nacht durchglänzen, des Saitenspiels und des Tanzes. Das Laub, dessen Fehlen pleonastisch genannt wird, ist eines der Attribute des Dionysos. An diesen Schiffern und Kaufleuten vergewissert sich das lyrische Subjekt, dass auch die antidionysische Einsamkeit eine Lebensform ist, die produktiv gelebt werden kann. Der theologisch versierte Hölderlin mag auch das Bild des entlaubten Mastes gewählt haben, da der Mast zusammen mit der Rahe in christlicher Tradition das Kreuz bedeuten kann. 45 Die asketische, einsame Situation auf dem Schiff könnte daher als ein zartes Symbol für die nachantike, christliche Welt verstanden werden. Erläuterungsbedürftig sind noch die Zeilen […] Mancher Trägt Scheue, an die Quelle zu gehen; Es beginnet nämlich der Reichtum Im Meere. […] Die Bedeutung der Passage ist vertrackt, da das „Beginnen“ nicht auf die Quelle, sondern auf das Meer bezogen wird. Wir könnten uns, vom ‚beginnen‘ ausgehend, das Meer, in dem der Reichtum beginnt, als die Quelle dieses Reichtums denken. Hölderlin konnte in Bordeaux erleben, wie der Handel über das Meer Reichtum hervorbringt. Die Konjunktion „nämlich“ hätte dann eine erläuternde Funktion. Warum „trägt“ mancher „Scheue“, an die Quelle zu gehen, wie es geradezu gravitätisch heißt? Scheue kann Angst, Furcht, Schüchternheit, Befangenheit, Unwillen, auch Ehrfurcht bedeuten. Ist die Zeile, das Meer mit der Quelle identifizierend, so zu verstehen, dass mancher schüchtern ist gegenüber dem Reichtum des Meeres oder sich vor den Gefahren des Meeres fürchtet? Eine ziemlich bemühte Interpretation. Andererseits drängt sich ein Verständnis auf, wonach die - noch ‚arme‘ - Quelle dem Reichtum, der im Meer beginnt, entgegengesetzt ist. Danach wäre „nämlich“ der Reichtum, der im Meer beginnt, der Grund dafür, den Gang zur Quelle zu scheuen. Die Konjunktion hätte dann eine begründende Funktion. Zu simpel wäre allerdings die Interpretation, dass materielle Gier die Scheu verursacht. Sie entspräche nicht der Bedeutung von „Scheue tragen“, ebensowenig dem Singular „die Quelle“ und der Gegenüberstellung von Quelle und Reichtum des Meeres. Was wäre diese Quelle? Sie könnte auch selbst der Grund dafür sein, dass mancher „Scheue“ trägt, zu ihr zu gehen. Geben die folgenden Zeilen einen Aufschluss? Nun aber sind zu Indiern Die Männer gegangen, Mit dem Adverb „nun“ und dem Verbum ‚gehen‘ nehmen diese Zeilen die Aufforderung an den Wind zu Anfang auf, wie überhaupt dieses Verbum im Gedicht auffallend häufig gebraucht wird. Im Unterschied zur möglichen Alternative ‚gefahren‘, ‚gesegelt‘ oder ‚aufgebrochen‘ enthält ‚gegangen‘ ein Moment des Endgültigen. 46 Das „Geh aber nun“ zu Anfang markiert den ersten Aufbruch, das entschiedene „Nun aber“ einen zweiten. Die Männer, das sind die Schiffer, die Kaufleute. Der Ausdruck „Männer“ stattet sie mit Heroismus aus. Mit „Indiern“ wird das Ziel dieses Aufbruchs angegeben. 45 Vgl. Rahner, Hugo. Symbole der Kirche . Salzburg 1964, S. 374 f. 46 Wie z. B. im Satz: ,Er ist nach Amerika gegangen‘. 48 Gerhard Kurz Es ist fast unmöglich, bei diesen Zeilen nicht auch an Kolumbus zu denken, der den Seeweg nach Indien entdecken wollte, Amerika entdeckte und glaubte, er habe Indien entdeckt. Daher der Name ‚Westindische Inseln‘ für die Inselgruppe vor Mittelamerika, die Ausdrücke ‚Indios‘ und ‚Indianer‘. Könnte dann der Satz „Mancher / Trägt Scheue an die Quelle zu gehen“ etwa ironisch gemeint sein? Wie schon erwähnt unterhielt Bordeaux mit diesen Westindischen Inseln intensive Handelsbeziehungen. Mit den „Indiern“ wären dann die Bewohner der Neuen Welt gemeint, die ‚Indier‘ genannt wurden, weil Kolumbus sie für ‚Indier‘ hielt. 47 In Indien, in Asien, also im Osten, sah nun Hölderlin, wie z. B. auch Herder und Hegel, den Ursprung der Weltgeschichte. Ihr Gang führt über Griechenland in das Abendland nach Deutschland, wie aus den Gedichten Germanien , Am Quell der Donau , Der Ister und Der Adler hervorgeht. Den Gang weiter in den Westen, in die Neue Welt, bedenkt das Hymnenfragment Kolomb. Nahe liegt daher die erwägende Frage - die Quelle dem im Meer beginnenden Reichtum entgegensetzend -, ob mit der Quelle metaphorisch dieser Ursprung der Geschichte im Osten gemeint ist, zu dem zu gehen „mancher Scheue trägt“. Denkt man bei den „Männern“ an Kolumbus und seine Männer, dann hatten diese Männer offenbar - „nun aber“ - keine Scheu zu „Indiern“ zu gehen. Ihr Weg führte aber nicht in den Osten, sondern in den Westen, in die ‚Neue Welt‘. Der artikellose und nicht weiter spezifizierte Ausdruck ‚Indier‘ bedeutet wohl die westlichen Indier, schließt aber die östlichen nicht aus. Ein leichter Verweis auf Indien, auf den Osten liegt wohl auch in den „Traubenbergen“, zusammen mit der „luftigen Spitz’“ der Ort, wo die Männer aufgebrochen sind. Von Dionysos, dem Gott des Weins, werden Fahrten bis zum Indus berichtet. So verstanden führte der Ausdruck ‚Indier‘ das Ende des Geschichtsgangs mit seinem Ursprung zusammen. 48 Und so verstanden gehörte zum „Reichtum“, der im Meer „beginnet“, zum „Schönen der Erd’“, das zusammengebracht wird, auch der Gang und der Zusammenhang der Geschichte der Welt. Der Ausdruck „die Männer“ kann zusätzlich von den Männern des Generals de Lafayette inspiriert sein, der 1777 von Bordeaux aus aufgebrochen war, den amerikanischen Unabhängigkeitskampf zu unterstützen. Um 1800 konnte man bei einem Aufbruch der „Männer“ zu „Indiern“ auch an Napoleon und seinen Feldzug nach Ägypten (1798 / 1799) denken. In den europäischen Zeitungen wurde anfänglich gemutmaßt, das Ziel der Flotte Napoleons sei Indien. Napoleon selbst wurde als Gott Dionysos, dessen Fahrten nach Westen und nach Indien führten, und als ein größerer Alexander mythisiert. 49 Dort an der luftigen Spitz An Traubenbergen, wo herab Die Dordogne kommt, Und zusammen mit der prächt’gen Garonnee meerbreit Ausgehet der Strom.[…] Die luftige Spitze, von wo aus die Männer gegangen sind, bezieht sich auf den Bec d’Ambès am Zusammenfluss von Garonne und Dordogne zur „meerbreit“ ausgehenden Gironde. Das 47 Der Ausdruck ‚Indier‘ ist um 1800 verbreitet. 48 Böchenstein, „ Frucht des Gewitters “, S. 149, redet von einer „Umbiegung“ der Geschichte von ihrem Anfang zu ihrem Ende. 49 Vgl. Graevenitz, Gerhart von. Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit . Stuttgart 1987, S. 76. Friedrich Hölderlin, Andenken 49 Luftige dieser Spitze konnotiert Freiheit und Verwegenheit. Dort befinden sich am östlichen Ufer auch heute Traubenberge. Der Ausdruck „Traubenberge“ kann zugleich Berge voll Trauben und Berge aus Trauben bedeuten. Eine dreifache Bedeutung erhält im Kontext der Ausdruck „ausgehet“: der Strom geht hinaus, die beiden Flüsse gehen zusammen aus wie ein Liebespaar und schließlich wird der Strom im Meer enden. […] es nehmet aber Und gibt Gedächtnis die See, Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen, Was bleibet aber, stiften die Dichter. Die letzten vier Zeilen mit dem berühmten Schluss, oft parodiert wegen seines Anspruchs, bedenken Formen des Vergehens und Dauerns und die Dimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Dass Erinnerung vergehen kann, besagt vorher schon das „Noch denket das mir wohl“. Die See, metonymisch die Sphäre des heroischen Handelns, nimmt und gibt Gedächtnis. In ihrer jahrelangen Abwesenheit verliert sich das Gedächtnis der Seefahrer und ihrer Taten. In ihren Erzählungen und Berichten können jedoch wieder Taten und Personen erinnert, ‚gegeben‘ werden. So oder so ähnlich kann man sich die metonymische Wendung erklären. Was in der Sphäre der See dauert, ist der Wechsel, aber auch ein Ausgleich im Nehmen und Geben. Dieses Nehmen und Geben evoziert unwillkürlich die Bewegung der Gezeiten und Wellen. Dauer, Beständigkeit will auch die Liebe. Der liebende Blick will heften, er will ein Verbinden und Befestigen der Liebe. Doch bedeutet „fleißig“ auch, dass die Liebe sich um diese Dauer bemühen muss, dass sie sich ihrer Dauer nicht sicher sein kann. In der Dauer übertroffen werden „aber“, adversativ, die Sphären der Taten und der Liebe von dem, was die Dichter stiften. Waren vorher die See und die Liebe die Subjekte des Handelns, also ‚überpersönliche‘ Mächte, so sind es nun Personen, die Dichter, welche handeln. Nach den Sphären der Taten und der Liebe ist mit ihnen die Sphäre des Andenkens, des Geistes verbunden. Hölderlin variiert hier den alten, schon antiken Topos, wonach erst die Dichter mit ihrem Werk den Taten der Menschen Dauer verleihen. Nahe liegt der Verweis auf Ovids Verse in seiner Klage über den Tod des Tibull, 50 wonach das Werk der Dichter dauert und noch heute vom Ringen um Troja kündet: „Durat opus vatum Troiani fama laboris.“ Es gibt freilich in der Neuzeit von Petrarca ( Africa ) über Schiller ( Nänie ) bis zu Daniel Kehlmann ( Ich und Kaminski ) auch das Bewusstsein einer Vergänglichkeit der Künste und des Schönen. Diese Überzeugung von der Dauer der Dichtung wird in Hölderlins Epoche weithin geteilt. Schiller redet in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen von den „unsterblichen Mustern“ der schönen Kunst (9. Brief) und Goethe lässt in Wilhelm Meisters Lehrjahre Wilhelm das ganze Arsenal der Dichterverherrlichung überschwänglich vorführen, einschließlich des Satzes, dass der „Überwinder der Welt“ (gemeint ist Augustus) dem Dichter (gemeint ist Vergil) huldigt, da ohne diesen „sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde“. 51 50 Ovid: Amores , 3, 9, 29 f. Vgl. auch Horaz : Oden , 3, 30. 51 Goethe, Johann Wolfgang von. Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. Erich Trunz. München 1981.Bd. 7, S. 84. 50 Gerhard Kurz In Hölderlins Gedicht heißt es „die Dichter“, nicht die Künstler. Wie auch Kant, Hegel, Schelling oder August Wilhelm Schlegel war Hölderlin davon überzeugt, dass Dichtung als sprachliche Kunst auch die geistigste und geistvollste Kunst unter den Künsten ist. 52 Natürlich ist nicht jeder Dichter gemeint; Hölderlin denkt an die Großen: Pindar, Homer, Sophokles, Shakespeare, Klopstock, Schiller, Goethe, auch an sich selbst. Dass Dichtung Bleibendes, Unvergängliches hervorbringen kann, dafür stand für Hölderlin und seine Zeitgenossen die - durchaus nicht selbstverständliche - Geltung der antiken Dichtung ein. Wir mögen heute solche Ansprüche nicht mehr teilen und sie vermessen finden, aber immerhin, die Dramen des Sophokles faszinieren über Jahrtausende hinweg noch immer. Nun variiert Hölderlin diesen Topos von der Dauer der Dichtung in „was bleibt“. In der Handschrift stand zuerst „Ein Bleibendes aber“. Im Unterschied zum Dauern akzentuiert das Bleiben stärker ein Überdauern, ein Bestehen und Sich-Behaupten gegenüber dem Unbeständigen. 53 Dieser semantische Akzent findet sich auch sonst bei Hölderlin in der Verwendung von ‚bleiben‘. Im Gedicht Mein Eigentum wünscht sich das lyrische Subjekt z. B. „eine bleibende Stätte“ (V. 38), in Der Frieden wird der Frieden aufgefordert: „komm und gib ein / Bleiben im Leben, ein Herz uns wieder.“ (V. 43 f.) Beklagt wird in der dritten Strophe von Rückkehr in die Heimat, dass „Kindes Ruh“, „Jugend und Lieb und Lust“ vergangen sind. „Doch du, mein Vaterland! du heilig - / Duldendes! Siehe, du bist geblieben.“ Das, was „aber“ bleibt, ist Ergebnis eines Stiftens. Stiften, d. h.: hervorbringen, ins Werk setzen, errichten, gründen, ursprünglich eine kirchliche Institution, z. B. eine dann so genannte Stiftskirche. Man kann Frieden, Ordnung, aber auch Unheil stiften. Religionen werden gestiftet. 54 Im Hymnenfragment Luther („meinest du / Es solle gehen[…]“) wird der Untergang der griechischen Kultur dadurch erklärt, dass die Griechen ein Reich der Kunst „stiften“ (V. 3) wollten und darüber das „Vaterländische“ (V. 5) versäumten. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wird im Lemma Gedächtnis sowohl die Wendung ‚ein Gedächtnis geben‘ als auch ‚das Gedächtnis stiften‘ vermerkt, ebenso ‚ein Gedächtnis stiften‘ durch eine Stiftung. Eine Institution wie das Tübinger Stift oder die Fugger-Stiftung in Augsburg wird auch gestiftet zum Andenken oder Gedächtnis des Stifters. Mit diesem Gedicht, heißt das auch, hat Hölderlin auch ein Andenken an sich selbst gestiftet. Im Kontext des Gedichts evoziert, vorbereitet durch den „entlaubten Mast“, der Ausdruck ‚stiften‘ auch den Stift zum Schreiben und Zeichnen. Was macht das dichterische Werk aus, wenn von ihm gesagt werden kann, dass es bleibt? Wenn es, entnehmen wir die Antwort diesem Gedicht, individuelle Erinnerungen in ein Andenken überführt, wenn dieses Andenken das, worauf es gerichtet ist, auf menschliche Grundsituationen wie Liebe, heroische Taten, Aufbruch, wie die Vermittlung des subjektiven Handelns mit der Natur und der Geschichte, die Vermittlung von Fernem und Nahem, Einsamkeit und Gespräch, wie die Feier, wie die Gefahr des Selbstverlusts und die Selbstbehauptung hin öffnet. Wenn das Gedicht das Andenken selbst als die Kraft des Bewahrens und geistigen Durchdringens vorführt, wenn es eine künstlerische Form findet, die dem Gang des Andenkens eine ästhetische Evidenz verleiht. In einem Brief spricht Hölderlin 52 Vgl. Jacob, Joachim: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense . Tübingen 2007, S. 312 ff. 53 Auch der biblische Sprachgebrauch enthält diesen semantischen Akzent, vgl. z. B. Hiob 14,2: der Mensch „flieht wie ein Schatten und bleibt nicht“; Psalm 9,8: „Der Herr aber bleibt ewiglich“. 54 Vgl. Hölderlins Fragment Über Religion , für dessen Fortsetzung Ausführungen zu „Religionsstiftern“ vorgesehen waren. Friedrich Hölderlin, Andenken 51 vom „Kunstverstand“, der den „Genius vor der Vergänglichkeit bewahrt“ (389). Als solches, mit Kunstverstand formuliertes Andenken kommt Dichtung immer nach den Taten und Tagen, welche geschehen. Dichtung ist für Hölderlin wesentlich in solches Andenken überführte Erinnerung. Damit das dichterische Werk bleiben kann, ist noch die Erfüllung einer weiteren Bedingung nötig. Gestiftet wird einem Adressaten für einen bestimmten Zweck. Die Fuggerstiftung soll z. B. Kranke und Bedürftige unter den Katholiken Augsburgs unterstützen. Auf das Gedicht bezogen heißt dies, gestiftet wird das Gedicht dem Leser oder Hörer zu seinem Nachdenken und zu seiner Freude. Mit der Stiftung soll etwas ins Werk gesetzt werden, sollen die Leser und Hörer angestiftet werden, im Sinne des Stifters etwas zu tun. Dies ist dann die Sache von uns Lesern und Hörern. Wir tragen dazu bei, ob das, was Dichter stiften, bleibt. Literaturverzeichnis Primärliteratur Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. 1942-1955 . Bd. 2. Hg. Werner Hecht. Frankfurt a. M. 1974. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. Erich Trunz. München 1981. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke . Große Stuttgarter Ausgabe. Hg. Friedrich Beissner. Stuttgart 1943-1985. -: Sämtliche Werke und Briefe . Hg. Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1992-1994. -: Tutte le lirice . Edizione tradotta e commentata e revisione del testo critico tedesco a cura di Luigi Reitani. Milano 2001. -: Gedichte . Hg. Gerhard Kurz. Stuttgart 2015. Meyer, Friedrich Johann Lorenz: Briefe aus der Hauptstadt und dem Innern Frankreichs . Tübingen 1803. Forschungsliteratur Beck, Adolf: „Hölderlin im Juni 1802 in Frankfurt? 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Schubert hatte die ersten zwölf Gedichte aus dem Almanach Urania - Taschenbuch auf das Jahr 1823 , wo sie unter dem Titel „Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise. In 12 Liedern“ erschienen waren. Schubert behielt die Reihenfolge bei, vertonte die Gedichte - sein Autograph hat das Datum „Februar 1827“ - und hielt damit den Zyklus für vollendet. Müller allerdings hatte zwischenzeitlich weitere Gedichte geschrieben und die Anlage des Zyklus erweitert. „Die Wanderer-Lieder werden nun zu einer imaginären Wanderung durch eine Winternacht […]. Um dieses Konzept zu verwirklichen, mußte Wilhelm Müller die bereits veröffentlichten Gedichte teilweise umstellen“. 1 Die Liedfolge in Schuberts „Erster Abtheilung“ ist also identisch mit der in der Urania-Fassung von 1823. Die weiteren zwölf Gedichte der „Zweiten Abtheilung“ vertonte er dann nach der Reihenfolge der Ausgabe von 1824 unter Auslassung der bereits von ihm komponierten Lieder, wobei er einige Umstellungen vornahm. Wohl im Spätsommer 1827 stieß Schubert auf die ihm bis dahin unbekannten Gedichte und schrieb im Oktober seine Musik dazu. Die Winterreise wurde dann in Wien in zwei getrennten Heften publiziert. Das erste erschien am 24. Januar 1828, das zweite sechs Wochen nach Schuberts Tod, am 31. Dezember 1828. Der Titel lautete: Die Winterreise. Von Wilhelm Müller. In Musik gesetzt für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte von Franz Schubert . 2 Der Inhalt der Winterreise scheint rasch erzählt: Das lyrische Ich, das wir im Folgenden auch „der Wanderer“ nennen wollen, verlässt im ersten Lied das Haus seiner ehemaligen Braut, um ohne Ziel in der Winternacht umherzuirren. Immer wieder von Retrospektiven unterbrochen, gelangt er zu verschiedenen Stationen, aber auch Reflexionsstufen. Am Ende, im letzten Lied, begegnet er einem Leiermann, der die Option eröffnet, den Wanderer zu begleiten, ihn mitzunehmen auf seinem Weg. Bis heute beeindruckt das von Pein getriebene lyrische Ich der Winterreise , das auf der Ebene der Realität Liebe und sozialen Status verlor und doch eigentlich Metapher ist für die Entfremdung des Menschen von seinem Ich und der Welt. Es scheint als verdichteten 1 Budde, Elmar. Schuberts Liederzyklen. Ein musikalischer Werkführer . München 2003, S. 69. 2 Vgl. hierzu ebd., S. 70 f. 54 Jürgen Hillesheim sich im Protagonisten der Winterreise , im Topos des Wanderers, alle Gefühlszustände seiner literarischen Zeit. Bereits in der Frühromantik wurde es zum Ziel, das universale Verhältnis zwischen Subjekt und Welt darzustellen, den Menschen in seinen Beziehungen zu dieser Welt zu erfassen. „Progressive Universalpoesie“ nennt Schlegel dies in seinem 116. Athenäums-Fragment ; nicht nur der Einzelne solle in seiner Individualität dargestellt werden, sondern Dichtung „Spiegelbild“ der gesamten Welt, die ihn umgebe, sein. Eine metaphysische Ordnung und ein göttliches Maß sollten sich im Kunstwerk spiegeln. Dieses habe, über seine ästhetische Dimension hinaus, in umgekehrter Richtung auf die Vollkommenheit und Harmonie des Weltengesetzes zu verweisen; das literarische Werk wurde so zu einem Medium der Theodizee. Denn Schlegels „Progressive Universalpoesie“ akzentuiert das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Welt und dessen Abbildung im transzendent ausgerichteten Kunstwerk. Vor dem Hintergrund dieser durchaus idealistischen Utopie 3 bedient die Winterreise gewiss auch Identifikationsphantasien des Lesers oder Hörers, von der inneren Zerrissenheit der romantischen „gequälten Seele“ bis zu - retrospektiv gespiegelten - Momenten von Zufriedenheit und des Nahekommens der Natur, Gottes und der Welt wie beispielsweise der „unter dem Lindenbaum“. 4 Eine weitere beliebte Leseart der Winterreise ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine politische: Das lyrische Ich wird vor den Hintergrund der gesellschaftlichen Situation des frühen 19. Jahrhunderts verortet. In Identifikation des lyrischen Ichs mit Schubert verweist Harry Goldschmidt auf das Schicksal als ausgebeutetes Genie, das im Wanderer der Winterreise sein grausamrealistisches Spiegelbild fände. 5 In dieser Tradition steht auch Wolfgang Hufschmidts Interpretation der Winterreise , der diese in gewisser Weise vor den Horizont einer Dialektik der Aufklärung stellt: Der Winter sei, wie in Heines Wintermärchen , Metapher für die Restauration, in der die Keime einer fortschrittlichen Gesellschaft buchstäblich „erfroren“ seien. So könne die Winterreise aus dem Jahr 1827 und das lyrische Ich durchaus Auskunft geben über die aktuellen politischen Verhältnisse Deutschlands. 6 Die Winterreise wird so in marxistischer Tradition unter Hanns Eislers Prämisse, dass Musik „angewandt“ 7 zu haben sei, gestellt. Müllers und Schuberts Wanderer also, so scheint es, befindet sich inmitten romantischer Befindlichkeit, er ist Leitfigur einer literarischen Epoche oder aber Frontmann und Opfer gesellschaftlicher Strukturen, die sich - zunächst einmal - als immun gegenüber aufklärerischer bzw. revolutionärer Ideale erwiesen. Auf jeden Fall aber ist er im Zentrum des Geschehens. Er gilt als Auge des Zyklus, um das sich das Gesamtgebilde dreht, gleich, ob man ihn literarhistorisch oder politisch konnotiert. Dies scheint auch das Werk Schuberts darüber hinaus noch zu akzentuieren, denn der Wanderer ist nicht nur eines der exponier- 3 Vgl. hierzu ausführlich: Müller, Ingo. „,Eins in Allem und Alles in einem‘. Zur Ästhetik von Gedicht- und Liederzyklus im Lichte romantischer Universalpoesie“. Wort und Ton . Hgg. Günter Schnitzler und Achim Aurnhammer. Freiburg 2011. 243-274, hier S. 243 f. 4 Vgl. Schubert, Franz. Neue Ausgabe sämtlicher Werke . Hg. Internationale Schubert-Gesellschaft. Band IV,4,a. Kassel, Basel, Tours, Bern 1979. 128-133. Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden in Klammern mit der Sigle SW im Text angegeben. 5 Vgl. Goldschmidt, Harry. „Schuberts Winterreise“ . Um die Sache der Musik. Reden und Aufsätze . Leipzig 1976. 116-140, hier S. 139 f. 6 Vgl. Hufschmidt, Wolfgang. Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn? Zur Semantik der musikalischen Sprache in Schuberts Winterreise und Eislers Hollywood-Liederbuch . Saarbrücken 1997, S. 58. 7 Vgl. hierzu: Bucek, Tina. Frei aber bedeutungslos? Das Dilemma der Kunst im 21 . Jahrhundert. Eine ästhetische Spurensuche mit Hanns Eisler . Essen 2012, S. 37. Wilhelm Müller und Franz Schubert, Winterreise 55 ten Motive der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts, sondern bei Schubert bereits vor dem Zyklus derart präsent, dass dies nicht ausschließlich mit dem Hinweis auf die Epoche hinreichend erklärbar ist. 8 Nennen wir, um dies zu verdeutlichen, nur einige Beispiele: die Lieder Der Wanderer (D 493, D 649), Der Wanderer an den Mond (D 870), Wanderers Nachtlied (D 224, D 768). Nicht zuletzt sei auf die berühmte Wanderer-Fantasie in C-Dur für Pianoforte hingewiesen (D 760). Zweifellos also handelt es sich um ein Motiv, das dem Schaffen Schuberts zutiefst eingeschrieben ist. Auf den ersten Blick poetisch wie musikalisch wesentlich unspektakulärer als das durch die Welt und deren politischen Verhältnisse getriebene lyrische Ich kommt da jener „Leiermann“ daher, obwohl der Liederzyklus auf ihn hinausläuft. Dies sei vorweg genommen: Das Werk gipfelt in ihm, und sei es auch nur, um von ihm in den Mechanismus einer, wenn man so will, frühen, pessimistischen Entwicklungsstufe der Lehre der „ewigen Wiederkunft“ Nietzsches gewiesen zu werden. Nach der Vorgabe seiner Leier vollzieht sich, wie der Hörer am Schluss erkennen sollte, der Zyklus, aber auch das Menschsein. Zwar gebührte dem Leiermann in der Forschung seit jeher eine gewisse Aufmerksamkeit, seine genauere geistige Verortung im frühen 19. Jahrhundert, die seine Bedeutung außer Zweifel stellt, steht jedoch noch aus. Es soll hier gerade nicht um seine Positionierung innerhalb der romantischen Tradition gehen. Betrachtet man nämlich das letzte Lied der Winterreise für sich, ergeben sich erstaunliche Entsprechungen zu prononciert pessimistisch bzw. fatalistisch orientierten Weltsichten und literarischen Werken, die ihren anti-aufklärerischen Impetus mit der Romantik gemeinsam haben, offensichtlich unabhängig voneinander, in großer, geradezu erstaunlicher zeitlicher Nähe zum Liederzyklus entstanden bzw. erstmals veröffentlicht wurden und als Interpretationsgrundlage oder auch nur -hilfe des gesamten Zyklus dienen können: Arthur Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung , erschienen 1819, und, wenige Jahre nach der Winterreise , das Werk Georg Büchners, fokussiert im Drama Dantons Tod (1834 / 35). Betrachtet man die Winterreise vom Blickwinkel ihres letzten Liedes, lässt sie sich schlüssig vor dem Horizont dieses Pessimismus deuten, in den sie im Folgenden eingebettet werden soll. Dass dieser poetisch durch höchst romantische Bilder realisiert wird, ist eine der großen Besonderheiten der Winterreise . Nach Schopenhauer ist der von ihm so genannte „Wille“ das „Ding an sich“, die Antriebskraft, die das Weltprinzip bestimmt. In polemischer Abgrenzung zur Aufklärung und der Philosophie Hegels versteht er jenen „Willen“ als blinde, irrationale Kraft, die Planbarkeit des menschlichen Lebens und der Geschichte, sowie Ideale wie Mündigkeit und intellektuelle Selbstbestimmung als Illusionen - in seiner Diktion als „Vorstellung“ - erscheinen lässt. Den Menschen versteht Schopenhauer als Objektivation des Willens in der Kausalität, im principium individuationis . Lediglich den Kategorien von Zeit und Raum verdankt der Einzelne seinen singulären Charakter. 9 Er ist determiniert und hat nur die „Vorstellung“, moralisch, altruistisch handeln zu können und zu wollen, tatsächlich jedoch bringt er in seiner Existenz nichts anderes zur Geltung als den in ihm objektivierten Willen als blinden Lebenstrieb. Dies erscheint als ontologische Gesetzmäßigkeit, der nicht zu entrinnen ist. Bestenfalls bestehe die Möglichkeit, dieses Prinzip zu durchschauen und sich dem „Leben“ 8 Vgl. Budde, Schuberts Liederzyklus , S. 66 f. 9 Vgl. Most, Otto. Zeitliches und Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers . Frankfurt / Main 1977, S. 11. 56 Jürgen Hillesheim als nicht steuerbare Dynamik zu enthalten, um so, asketisch, ein „Quietiv des Willens“ 10 zu erreichen. Nur so wäre die „Welt als Wille und Vorstellung“ für den Menschen mit dessen Tod, mit der Auflösung der Kategorien von Zeit und Raum, zu Ende; nur so könnte die Hoffnung bestehen, im Nichts zu verharren - Nietzsche nennt Schopenhauer den „Philosophen des Nihilismus“ - und ähnlich der einer aus dem Buddhismus bekannten Wiedergeburt, einer neuerlichen Objektivation des Willens im principium individuationis , zu entgehen und im nunc stans zu verbleiben. 11 Machen wir nun von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung einen nur kleinen zeitlichen Sprung von ca. fünfzehn Jahren, um einen Blick auf das Werk Büchners zu werfen. Zwar erscheint im wohl in der zweiten Märzhälfte 1834 entstandenen Hessischen Landboten Gewalt in konkreter Situation offensichtlich als legitimes Instrument politischer Auseinandersetzung; doch kommt Büchner bereits zuvor, Ende Januar 1834, in seinem bekanntesten Brief zu der Erkenntnis, dass die Französische Revolution geprägt von einem „grässlichen Fatalismus“ und die Geschichte ein „ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich“ 12 sei. Dies ist nichts anderes als eine wohl unwissentliche, dafür aber ausgesprochen präzise Komprimierung der Philosophie Schopenhauers und ein vom Autor vorgegebener Deutungshorizont seines Werkes; obwohl die politisch eher links orientierte Büchner-Forschung niemals müde wurde zu betonen, dass man diese Aussage nicht wörtlich nehmen dürfe und „dieses Schreiben keinesfalls als resignative Absage an revolutionäre Tätigkeiten zu verstehen“ 13 sei. Doch dagegen wehrte sich der Autor selbst, gewissermaßen antizipierend. Denn Büchner setzte seine Erkenntnis in Szene, vor allem mit Dantons Tod . Der Protagonist, eine der Leitfiguren der Französischen Revolution, der „Geschichte gemacht“ hat, muss erkennen, dass er sich dies nur einbildete, er Opfer von Eitelkeit und Trugschlüssen - um mit Schopenhauer zu sprechen: der „Vorstellung“ - geworden war. Danton bestimmte nicht den Verlauf der Geschichte, sondern sie rollte über ihn hinweg. Dies wird ihm in einem Traum bewusst, in einem Zustand, der die Kausalität aufhebt, in dem die Kategorien von Zeit und Raum ineinanderfließen: Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung, ich hatte sie wie ein wildes Roß gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt’ ich in ihrer Mähne und preßt’ ich ihre Rippen […] So ward ich geschleift. ( WB 36 f.) Leitmotivartig, in verschiedenen Variationen, macht Danton dann deutlich, dass er die „Welt als Wille und Vorstellung“, das „eherne Gesetz“, nach der sie sich vollzieht, wie es im Fatalismus-Brief heißt, „erkennt“: „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen“ ( WB 37). „Aber wir sind die armen Musikanten und unsere Körper die Instrumente“ ( WB 64). Dies sind Bilder, die nicht neu sind, durchaus auch in der Romantik Verwendung finden; deutlich erinnern sie an die Nachtwachen des Bonaventura . Dass dies nicht nur die Befindlichkeit eines gescheiterten Revolutionärs, sondern Einsichten in allgemeine Gesetzmäßigkeiten widerspiegelt, zeigt die Komödie Leonce und Lena , 10 Vgl. Schopenhauer, Arthur . Sämtliche Werke . Hg. Wolfgang Freiherrn von Löhneysen. Bd. 1. Darmstadt 1982, S. 457-460. 11 Vgl. ebd., S. 554-570. 12 Büchner, Georg. Werke und Briefe . Hg. Werner R. Lehmann. München 1980, S. 256. Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden in Klammern mit der Sigle WB im Text angegeben. 13 Neuhuber, Christian. Georg Büchner. Das literarische Werk . Berlin 2009, S. 18. Wilhelm Müller und Franz Schubert, Winterreise 57 nach Wolfgang Martens ein „Reflex auf die Sinnlosigkeit der Existenz“: 14 Hier heißt es, in wieder einem anderen Bild, aber genau entsprechend: „Bin ich denn wie die arme, hülflose Quelle, die jedes Bild, das sich über sie bückt, in ihrem stillen Grund abspiegeln muß? “ (WB 103). Der Mensch reagiert auf Kräfte, die er nicht beeinflussen kann; Selbstbestimmung ist eine Chimäre. Was heißt es anderes, wenn Müllers und Schuberts Wanderer sich fragt: „Mein Herz, in diesem Bache erkennst du nun dein Bild“ ( SW 138)? Übrigens ist auch Leonce und Lena die Vorstellung des Wanderns durch eine absurde wie ausweglose Welt eingeschrieben: Soll denn dieser Pack mein Grabstein sein? […] Ich schleppe diesen Pack mit wunden Füßen durch Frost und Sonnenbrand, weil ich abends ein reines Hemd anziehen will und wenn endlich der Abend kommt, so ist meine Stirn gefurcht, meine Wange hohl, mein Auge dunkel und ich habe gerade noch Zeit, mein Hemd anzuziehen, als Totenhemd. ( WB 105) Und weiter: Für „müde Füße“, so resignierend Leonce, sei „jeder Weg zu lang“. Valerio hält dem entgegen, dass er doch den heraus aus der Welt - allerdings gänzlich unromantisch - den ins Irrenhaus nehmen möge. Dieser sei „nicht so lang, er ist leicht zu finden“ ( WB 108). Betrachten wir kurz die „Gegenseite“ in Dantons Tod , die Revolutionäre, konkretisiert in Robespierre: Auch er ist, mit Schopenhauer, Objektivation des Willens im principium individuationis . Als Verkörperung der Moral schlechthin dient sein Tugendrigorismus nichts anderem als der rücksichtslosen Behauptung der eigenen Existenzform, was seinen Höhepunkt in der Beseitigung Dantons findet. Auch Robespierre wird von der Erdkugel geschleift, im Gegensatz zu Danton weiß er es aber nicht. So skizziert Büchner ein Bild von der Revolution als einer Misere: Sie widerlegt ihr Programm, die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, indem sie das Leid der Menschen nicht mindert, sondern potenziert. Bleibt nur die Flucht ins Nichts, in das „Quietiv des Willens“, mit dem sich der melancholische Hedonist Danton in seinem Leben allerdings ein wenig schwer tat. Dennoch sehnt er sich nach Ruhe, nach einem Ende, und er fürchtet, dass der Schnitt der Guillotine dieses nicht bringen wird. Denn alles ist „Wille“, alles „ elan vital “: „Alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich ermordet […] Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere organisierte Fäulnis“ ( WB 55). Möglicherweise geht also weder Dantons noch Lenas Wunsch in Erfüllung: „Auf dem Kirchhof will ich liegen / Wie ein Kindlein in der Wiegen“ (WB 103), 15 geborgen im nunc stans , befreit von allen Leiden des principium individuationis , sondern abermals als Willen objektiviert. Dies sind Analogien, die die Forschung immer wieder bewogen, Büchners Werk pauschal mit Schopenhauers Pessimismus in Verbindung zu bringen, vor allem nach dem Naturalismus 16 und in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. 17 Exemplarisch sei hingewiesen 14 Vgl. Martens, Wolfgang. „Leonce und Lena“. Die deutsche Komödie . Hg. Walter Hink. Düsseldorf 1977. 145-159, hier S. 148. 15 Vgl. hierzu auch ebd., S. 97. 16 Vgl. Hofmann, Michael. „Rezeption und Wirkung. Naturalismus bis Weimarer Republik“. Büchner- Handbuch. Leben - Werk - Wirkung . Hgg. Roland Borgands und Harald Neumeyer. Stuttgart / Weimar 2009. 327-332, hier S. 328. 17 Vgl. Goltschnigg, Dietmar. „Büchner nach 1945“. Büchner-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung . Hgg. Roland Borgands und Harald Neumayer. Stuttgart / Weimar 2009. 335-344, hier S. 337. 58 Jürgen Hillesheim auf Maurice Benn, der Leonce und Lena als „abgrundtief pessimistisches“ Werk betrachtet, das an Schopenhauer erinnere. 18 Begleiten wir also vor diesem Hintergrund Wilhelm Müllers und Franz Schuberts Wanderer. Die Winterreise wird nicht selten und sehr mit Recht als Fortsetzung der Schönen Müllerin betrachtet, gleichfalls ein ca. vier Jahre zuvor entstandener Liederzyklus Schuberts auf der Basis von Gedichten Müllers. Dessen lyrisches Ich, das Gülke in seiner poetischromantischen Stimmung explizit von der Knappheit und Nüchternheit des Wanderers abhebt, 19 erobert frohgemut die Welt, und auch die „geliebte Müllerin“ scheint ihm zunächst gewogen. Dann allerdings folgt die Ernüchterung, Abweisung, Konkurrenz durch den Jäger, schließlich der Selbstmord im Bach; doch nach wie vor ist der junge Müller aufgehoben in der Natur: der Bach, sein bester Freund, behütet den nun ewig Schlafenden. Der Wanderer der Winterreise nun sieht sich einer gänzlich neuen Realität gegenüber. Aus Frühling und Sommer mit seinen strotzenden, überbordenden Lebenskräften, der Sphäre der Schönen Müllerin , ist bitterkalter und -ernster Winter geworden. Warum vertonte Schubert gerade diese Texte Wilhelm Müllers? Diese Frage wird sich, wenn überhaupt, nicht mit wenigen Zeilen beantworten lassen, gewiss jedoch spielte dabei die Ironie des Autors, die in Trostlosigkeit münde, eine wesentliche Rolle. 20 Diese Ironie zeigt sich bereits vor dem Anfang des Zyklus, nämlich schon im Titel seines ersten Liedes: „Gute Nacht“ heißt es. Gewiss, dieser Gruß, den der scheidende Wanderer an die ehemalige Braut richtet, ist Bestandteil des Liedtextes und insofern formal geeignet, titelgebend zu werden; aber inhaltlich geht es darum nicht, sondern um das Vertriebenwerden eines Menschen aus seinem vermeintlichen emotionalen und sozialen Gefüge. Schließlich spielte nicht nur Liebe eine Rolle, sondern die potenzielle Schwiegermutter sprach „gar von Eh’“ ( SW 110). Nun wird das lyrische Ich, eher ein Habenichts als wohl situiert, aus, wie es im zweiten Lied heißt, seines „Liebchens Haus“ ( SW 115) getrieben; explizit handelt es sich um eine „reiche Braut“.( SW 116). „Gute Nacht“ also ist, vom Aspekt des lyrischen Ichs betrachtet, selbstreferenziell gemeint; es ist das ironische valet , das es sich selbst gibt, in Einsamkeit, Kälte und wirtschaftliche Bedürftigkeit, die unmittelbar bevorstehen. Des Wanderers Nacht, „seine“ Nacht, in die er hinaus muss, ist nicht die romantische: Er wird nicht entlassen in Wogendes, Schwebendes, in nebelumhüllte Landschaften, die an Caspar David Friedrich erinnern, auch nicht in geheimnisvolle Schlossruinen, sondern, sehr gegenständlich, in karge und öde Winterlandschaft, deren Abschreiten ihm Wunden zufügt, und bestenfalls in die Ärmlichkeit von „eines Köhlers engem Haus“ führt ( SW 148 f.). Diese Nacht hat auch wenig mit der Ernst August Friedrich Klingemanns zu tun, obwohl der Nihilismus seiner 1804 erschienenen Nachtwachen in mancherlei Hinsicht Aspekte der Philosophie Schopenhauers antizipieren und der Befindlichkeit des Wanderers und der „Lehre“, die der Leiermann am Schluss erteilen wird, recht nahe kommen mag. Doch nicht einmal der Friedhof hat in der Winterreise etwas Schauerliches, er atmet keine „schwarz-romantische Atmosphäre“, sondern wird wieder verlassen, weil er schlicht „besetzt“ ( SW 183) ist. Es ist nicht die Nacht Novalis’ oder Eichendorffs „Mondnacht“, nicht zuletzt konnotiert als überhöhter Topos der Liebe, der später, im zweiten Akt von Wagners (übrigens gleichfalls von Schopenhauer genährter) Oper Tristan und Isolde einen seiner großen Triumphe 18 Vgl. Benn, Maurice B. „Büchner und Heine“. Seminar 13 (1977): 215-226, hier S. 216-218. 19 Vgl. Gülke, Peter. Franz Schubert und seine Zeit . Laaber 1991, S. 241. 20 Vgl. ebd., S. 236. Wilhelm Müller und Franz Schubert, Winterreise 59 feiern wird, sondern des Wanderers Nacht ist geradezu von ihr befreit: Liebe existiert nur noch in der Erinnerung, in der wehmütigen Reminiszenz, nicht einmal mehr als Sehnsucht. Zwar fragt sich das „lyrische Ich“ im Lied Die Post , wie es wohl der ehemals Geliebten gehen werde, doch die Wanderschaft ist nicht darauf ausgerichtet, sie zurück zu gewinnen - „vergebens“ sucht er nicht sie, sondern lediglich „ihrer Tritte Spur“ ( SW 120). Er möchte nicht rückwärts gehn, sondern lediglich „noch einmal rückwärts sehn“, „vor ihrem Hause stille stehn“ ( SW 144), trotz gelegentlicher emotionaler Rückfälle nichts weiter also als in der Erinnerung an seine Vergangenheit verharren. Nur nach einem Traum, noch schlaftrunken, in entrücktem, realitätsfernen Zustand stellt er sich noch einmal die Frage: „Wann halt ich mein Liebchen im Arm? “ (SW 154). Auch ist er weit davon entfernt, eine neue Braut erobern zu wollen. Der Wanderer weiß es wohl nicht; aber damit befindet er sich in erstaunlicher Nähe zu Schopenhauers Willens-Quietiv, der Einsicht, dass es nicht das oberste Ziel des Menschen sei, Glück zu erstreben, sondern Leid zu vermeiden. Dies führt zwangsläufig zu der Frage: Verlor das lyrische Ich überhaupt seine Heimat? „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ ( SW 110) eröffnet das erste Lied und damit der Zyklus. Das sagt niemand, der überraschend von seiner Braut und deren Mutter vor die Tür gesetzt wird. Und dies passiert ja auch nicht, die Tragik entsteht sukzessiv; es muss nichts Aufsehenerregendes geschehen sein. Der Aufbruch des lyrischen Ichs ist das Ergebnis einer allmählich gewonnenen Erkenntnis oder auch nur Wahrnehmung, die nun dazu führt, dass es sich heimlich des Nachts wegschleicht, bevor ihm tatsächlich die Türe gewiesen wird. Nochmals kurz zur Schönen Müllerin : Inmitten deren frühlingshaften Idylls hat sich allmählich buchstäblich ein Entfremdungsprozess vollzogen, diesen setzt das erste Lied der Winterreise voraus: Fremd, als Unbekannter zog der Wanderer ein, und ein solcher blieb er bis jetzt. Das ist ihm klar geworden. Wir erfahren nicht, ob überhaupt etwas konkret vorgefallen ist; fest steht, dass sich nichts geändert hat, alles Himmelhochjauchzende, zwischenzeitliche Glücks- und Geborgenheitsgefühle oder gar der Habitus des Hausherrn, der ihm zuzukommen schien, Illusion waren. Der Wanderer erkennt, dass er niemals eine Heimat hatte, daraus zieht er nun die Konsequenz. Dies ist der Punkt, an dem deutlich wird, dass abstrahiert wird, dass es nicht um die lyrische Aufarbeitung einer eigentlich doch banalen Liebschaft, sondern tatsächlich um die Fokussierung des Menschen in der Welt geht, die nun als eine kalte erscheint, in die er ausgesetzt ist. Gunzelin Schmid Noerr betont, dass der Verlust der Geliebten zu Beginn nur ein angedeuteter Grund für die Wanderschaft sei; dieser trete immer mehr in den Hintergrund, zugunsten eines „eigendynamisch wirkenden Getriebenseins“. 21 Dieses nimmt das lyrische Ich zwar wahr, es kann es sich aber vorerst nicht erklären. Von Beginn an erscheint die Wanderschaft, die nun begonnen wird, als eine solche ohne Ziel. Damit korrespondiert, dass die Musik bereits in den ersten Takten den Charakter des Abschließenden, in sich Kreisenden habe. 22 Sie kommentiert, dass Fremdheit das Alpha und das Omega, des Müllerburschen anfänglicher Zukunftsoptimismus und seine Unmittelbarkeit und Welthingewandtheit, der Mut, die Sicherheit, seine Angelegenheiten so zu regeln, dass sie ein glückliches Ende haben könnten Resultat 21 Noerr, Gunzelin Schmid. „Der Wanderer über dem Abgrund. Eine Interpretation des Liedes Gute Nacht aus dem Zyklus Winterreise von Franz Schubert und Wilhelm Müller. Zum Verstehen von Musik und Sprache“. Franz Schubert. Todesmusik. Musik-Konzepte 97 / 98 . Hgg. Klaus-Heinz Metzger und Rainer Riehn. München 1997. 88-111, hier S. 89. 22 Vgl. ebd., S. 98. 60 Jürgen Hillesheim eines, wie es später in der Winterreise heißen wird, „lockenden Irrlichtes“ ( SW 145) sind. Noerr resummiert: Die Möglichkeit subjektiver Verfügung scheint suspendiert zugunsten eines unabänderlichen objektiven Ablaufs. Das subjektive Erleben wird gleichsam eingefroren angesichts des objektiven Lebens, dessen Ziel der Tod ist und als dessen Teil es sich erkennt. 23 So bereitet „Gute Nacht“ dem „Leiermann“ den Boden. Nach diesem ersten Lied der Winterreise folgen bis zu ihm zweiundzwanzig weitere, die die Gattungskonstituenten eines Zyklus sprengen, wendet man formal Strenge an. Trotz des fast permanenten stringenten Rekurrierens auf den Anfang hat keineswegs jedes Gedicht im Gesamtgefüge seinen festen Platz, wie man es beispielsweise bei den lyrischen Zyklen Stefan Georges erwartet. Im Gegenteil: Zwar wird im Groben eine Linie eingehalten und beschrieben, die des Wanderers weg aus dem Hause der Geliebten bis „hinterm Dorfe“ ( SW 189), zum Leiermann. Doch die Stationen, die der Wanderer bis dahin abzugehen hat, erscheinen gelegentlich durchaus austauschbar, was dem Gesamtgebilde den Charakter des Unruhigen, Unsteten verleiht, der sich wiederum harmonisch in das Ganze fügt, indem er es kommentiert. Geradezu sprunghaft, für den Leser oder Hörer völlig überraschend, wechselt der Wanderer vielfach von einem Lied zum anderen seine Stimmung, oft ist es so, dass ein Lied dem vorausgehenden, von deprimierter Stimmung geprägten widerspricht, um dann im darauf folgenden, wieder in die Lethargie und Despression von einst zurückzufallen. Gelegentlich erscheint die Winterreise eher als ein Thema mit Variationen als ein Zyklus: Das mag man mit dem romantischen Bestreben nach Überwindung strenger, klassischer Formen in Einklang bringen können; in dieser Hinsicht sei abermals an Klingemanns Nachtwachen und deren Fragmentarisches, so der erste Leseeindruck, erinnert. Die Erfahrung der Verlorenheit, die der Wanderer zu Beginn machte, wird nun, schlaglichtartig, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, seine Psyche wird ausgeleuchtet, auf seinem Weg erscheinen retardierende Momente, solche der Hoffnung und der Zuversicht, die dann, wie die folgenden Lieder in Regelmäßigkeit zeigen, wieder vergehen: so, wie in „Täuschung“, das „Haus und eine liebe Seele drin“ von „Irrlichtern“ gezeitigt war ( SW 177). Doch handelt es sich wirklich lediglich um eine „gequälte Seele“, um auf jenen urromantischen Topos zurückzukommen? Bleiben wir bei diesem, bzw. bei einem ihm engstens verwandten, dem Herzen. Es gilt seit dem Altertum als Vergegenständlichung von Verstand, Gefühl, aber auch Mut und Willen, erlebte in der Romantik jedoch eine Blütezeit. Auch hier ist nochmals ein kleiner Rekurs auf den Zyklus von ehedem, die Schöne Müllerin , nötig. Ist hier das Herz des Burschen zunächst eindeutig in seiner Diktion, gleich, ob es um Begeisterung für Braut und Natur oder um Groll dem Nebenbuhler gegenüber geht, so zeigt die Winterreise ein völlig verändertes Bild, korrespondierend mit dem gerade konstatierten Charakter des Unsteten. Das Herz ist aus dem Tritt, es ist heraus aus seiner Selbstverständlichkeit geraten. Ist der Müllerbursche verhaftet in der Irrationalität als, um mit Schopenhauer zu sprechen, „objektivierter Wille“ mit seinem Drang in die Welt und der „Vorstellung“ der Entscheidungsfreiheit des Individuums, so gibt es dessen regelmäßigen Pulsschlag in der Winterreise nicht mehr. Das Herz macht alles Mögliche und Kontrastierende, das es, im Einzelnen, in der Epoche der Romantik auch machen kann; nur ist dies hier in einem einzigen, nicht allzu umfangreichen Zyklus komprimiert. Gelegentlich 23 Noerr, „Der Wanderer“, S. 99. Wilhelm Müller und Franz Schubert, Winterreise 61 scheint es sich sogar um zwei verschiedene Herzen zu handeln. Es wird mit einer Vielzahl von Funktionen in Verbindung gebracht, mit unterschiedlichsten Gefühlszuständen konnotiert, was den Eindruck des raschen, unvermittelten Szenenwechsels verstärkt, obwohl die motivischen Kohärenzebenen der Winterreise , trotz ihres vermeintlich Sprunghaften, so dicht wie kaum in einem anderen Zyklus sind. Christiane Wittkop fasst dies in wenigen Sätzen zusammen: Das Herz ist anfangs passiv, ihm wird übel mitgespielt ( Die Wetterfahne ). Es ist die Quelle der heißen Tränen („Quelle / Der Brust“: Gefrorne Tränen ). Es ist „wie erfroren“ ( Erstarrung ), es springt hoch auf, drängt wunderlich ( Die Post ), sieht „sein eignes Bild“ ( Der stürmische Morgen ), fühlt seinen „Wurm / Mit heißem Stich sich regen“ ( Rast ), ist wach, schlägt warm ( Frühlingstraum ), spricht, sagt und klagt ( Muth ! ). Außerdem werden ihm die geistigen Fähigkeiten, fragen ( Die Post ) und erkennen ( Auf dem Flusse ) zu können, zugeschreiben“. 24 Der Schluss jedoch, dass diese Sprunghaftigkeit der „Natur des Motivs“ 25 entspreche, führt in die Irre. Es ist nicht das Herz einer „gequälten Seele“, sondern ein solches, das seine Orientierung vollständig verloren hat, sich den Tod herbeisehnt, aber letztlich nicht - noch nicht, doch stetig mehr - weiß, wohin seine Wanderschaft führt. Das hat nichts mehr mit der „Progression hin zum Ideal einer vollkommenen Ganzheit“ 26 zu tun, und Müllers und Schuberts Wanderer ist damit auch geradezu ein Kontrapunkt zu Klingemanns Kreuzgang, der, bleibt man innerhalb dieser Bildlichkeit, gar kein Herz mehr zu haben scheint, sondern äußerst nüchtern seine nihilistisch-obskuren Lehren erteilt. Er ist abgeklärt, denn Kreuzgang hat schon eine Deutung des Zustands, der den Wanderer noch umhertreibt. Über all dem jedoch steht die Todessehnsucht des Wanderers, die ihn letztlich zum Leiermann führt; sie sei am Beispiel zweier weiterer Lieder der Winterreise , des „Greisen Kopfes“ und des „Wirtshauses“, näher ins Auge gefasst. Der Wanderer obliegt nicht nur der Täuschung von Irrlichtern, die im Übrigen alles andere als naturmagischen Charakters sind, sondern auch Träume gaukeln ihm Illusionen vor. So bringt ihm, wie gezeigt, der „Frühlingstraum“ noch einmal näher an die Geliebte. Eine ähnliche Funktion wie Irrlichter und Träume haben zwar absonderliche, allerdings leicht erklärbare Sinnestäuschungen wie im Lied „Der greise Kopf “: Der Reif hatt’ einen weißen Schein mir übers Haar gestreuet. Da glaubt’ ich schon ein Greis zu sein, und hab mich sehr gefreuet. Doch bald ist er hinweggetaut, hab wieder schwarze Haare, daß mir’s vor meiner Jugend graut - wie weit noch bis zur Bahre! Vom Abendrot zum Morgenlicht ward mancher Kopf zum Greise. Wer glaubt’s? und meiner wart es nicht auf dieser ganzen Reise! ( SW 162 f.) Eine simple Dreiteilung liegt dem Lied zugrunde; es spannt, mit jeweils einer Strophe, einen Bogen von jener Sinnestäuschung, die ein Blick in den Spiegel oder, wie in Büchners Leonce und Lena , einer in eine „hülflose Quelle“, verursachte, über die Erkenntnis der Realität bis hin zur Klage über das eigene Schicksal, seinem eigenen Leiden am Leben und an der Welt. Susan Youens hebt hervor, dass im ganzen Zyklus nur in diesem Lied das Verb „sich freuen“ 24 Wittkop, Christiane. Polyphonie und Kohärenz. Zu Wilhelm Müllers Gedichtzyklus ‚Die Winterreise‘. Stuttgart 1994, S. 97. 25 Ebd. 26 Müller, „Eins in Allem und Alles in einem“, S. 244. 62 Jürgen Hillesheim vorkommt. 27 Nicht die Erinnerung an die Geliebte also bereitet dem Wanderer die einzige Freude, sondern der Tod, der im Trugbild überraschend nahe erscheint und mit Freude begrüßt wird. Es ist die Musik Schuberts, die, in der zweiten Strophe des Dacapo-Liedes, mit einer jähen harmonischen Konstruktion die schockartige Enttäuschung des Wanderers, die aus seiner Einsicht resultiert, darstellt. 28 Das Schmerz-Motiv ist ihm tief eingegraben […] In keinem zweiten Lied gewinnt die hohe Männerstimme (Tenorbariton), die Schubert für seine Winterreise vorschwebte, derart schauerliche Bedeutung. 29 Woran liegt dies? Daran, dass sich in diesem kurzen Lied die Quintessenz des gesamten Zyklus verdichtet. Wenn bis hierhin noch Zweifel möglich gewesen wären, wohin die Reise geht bzw. welches Ziel dem Reisenden vorschwebt, dann herrscht nun, nach diesem vierzehnten Lied, trotz noch ausstehender alternierender Gefühlszustände, Eindeutigkeit. Trotz der vermeintlich „letzten Hoffnung“, so titelt das bald darauf folgende Lied: Der Wanderer will das Ende, das seines Leidens, das nicht eine Änderung seiner Lebenslage, nicht etwa eine neue betuchte Frau und mit Gewissheit nicht eine Revolutionierung der politischen Verhältnisse, sondern nur der Tod, verwirklichen kann. Kein anderes Ende der Winterreise ist nun überhaupt noch denkbar, würde sie nicht der Banalität verfallen wollen. Diesem fiebert das lyrische Ich nun entgegen, schon wähnt es sich, unverhofft, nahe dem Ziel, der Erlösung von Zeit und Raum, sein Leben, seine Existenz in dieser kalten Welt, endlich lassen zu können; deshalb ist sein Entsetzen angesichts der Desillusion so maßlos. Doch noch geht es nicht ans Sterben, und wieder bricht sich jene Müllersche Ironie der Trostlosigkeit Bahn: Die dritte Strophe spielt mit den Motiven der Zeit und des Glücks, sie ist ein bitter-sarkastischer Kommentar 30 zum Leben, das nicht planbar ist, dem einen das gewährt, was sich der andere sehnlichst wünscht, aber ihm vorbehalten bleibt. Dabei stellt Müller das Fortuna-Motiv auf den Kopf: Als Glück erscheint der Schrecken des Todes, das was jeder wie nichts anderes mehr, aber unzählige unfreiwillig erleiden, „vom Abendrot zum Morgenlicht“, Krankheit und Verderben. Nur dem lyrischen Ich, das sich dies wünscht, dem, im Gegensatz zum „Gesell“ aus der Schönen Müllerin , Selbstmord allerdings genauso wie in der Philosophie Schopenhauers keine Möglichkeit zeigt, die Welt zu verlassen, bleibt dies verwehrt: also geht es weiter „auf dieser ganzen Reise“. Sie führt den Wanderer alsbald in ein „Wirtshaus“: Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht, allhier will ich einkehren, hab ich bei mir gedacht. Ihr grünen Totenkränze könnt wohl die Zeichen sein, die müde Wandrer laden ins kühle Wirtshaus ein. Sind denn in diesem Hause Die Kammern all besetzt? Bin matt zum Niedersinken, Bin tödlich schwer verletzt. O unbarmherz’ge Schenke, Doch weisest du mich ab? Nun weiter denn, nur weiter, Mein treuer Wanderstab! ( SW 182 f.) 27 Youens, Susan. Retracing a Winter’s Journey. Schubert’s ,Winterreise’ . London 1991, S. 235. 28 Vgl. ebd., S. 238. 29 Goldschmidt, Schuberts Winterreise, S. 132. 30 Vgl. Youens, Retracing a Winter’s Journey , S. 236. Wilhelm Müller und Franz Schubert, Winterreise 63 Abermals erweist sich, dass in der Winterreise die Ironie der Trostlosigkeit ein zykluskonstituierendes Element ist, eine der markantesten Isotopieebenen bildet. Im Lied „Das Wirtshaus“ verhält es sich wie mit dem einführenden „Gute Nacht“: Schon der Titel birgt die Ironie: Weder steht dem Wanderer für sich eine „gute Nacht“ in Aussicht, noch gelangt er zu einem wirklichen Wirtshaus oder Gasthof. Das Wirtshaus, das er nun erreicht, ist ein Friedhof, und hier obliegt, wie sonst so oft, der Wanderer keinem Irrlicht; er wird nicht getäuscht, sondern er erkennt den „Totenacker“, nähert sich ihm und will ihn erst dann metaphorisch als Wirtshaus deuten. Allerdings „wirbt“ dieses in hintersinniger Ironie für sich, denn mit den „grünen Kränzen“ macht sich das Gedicht die doppelte Bedeutung eines Symbols zunutze. Zum einen sind jene Kränze Zeichen der Trauer und der Ehrerbietung einem Toten gegenüber und verbleiben als Zeichen des Respekts nach der Beisetzung auf dem Grab. Auf der anderen waren sie in der Zeit Müllers und Schuberts Lockmittel, ein Instrument der Werbung, weithin sichtbares Zeichen dafür, dass in einem Gasthof neuer Wein, „Heuriger“ eingetroffen ist, der zum Verweilen einlädt. 31 Tatsächlich handelt es sich aber eigentlich eher um einen Gasthof als um ein Wirtshaus, denn jene „besetzten Kammern“ weisen darauf hin, dass es nicht nur um Speiß’ und Trank geht, sondern auch um Rast; Reisende wie der Wanderer können ein Zimmer haben, über Nacht bleiben, um auszuruhen, Kräfte für den weiteren Weg zu sammeln. Daher will er „einkehren“ (SW 182), eine spezifische Formulierung für den Besuch eines Wirtshauses oder Gasthofs. So wird ein Zustand von Aufgehobensein, Geborgenheit suggeriert, der dem Wanderer in Aussicht gestellt wird; sogar, dass seine Reise hier, in diesem sehr eigenen „Wirtshaus“, beendet sein könnte. Doch wieder hat der Wanderer kein Glück, wieder sind ihm andere zuvor gekommen. Jene, die schon im Lied „Der greise Kopf “ seine Kontrahenten sind, die, die Leid und Tod fürchten und alle unfreiwillig dieses „Wirtshaus“ aufsuchten, es aber dennoch nun belegen: Es handelt sich um die bürgerliche „Gegenseite“, um Menschen, zu denen auch Braut und Mutter aus „Gute Nacht“ zu zählen sind; um jene, die normalerweise des Nachts satt „in ihren Betten“ ( SW 170) liegen und sich ihren Träumen und Illusionen hingeben. Solche, denen es in ihrer Lebensunmittelbarkeit gut geht, selbst wenn des Tags ihre Träume zu Schall und Rauch werden ( SW 170). Oder drücken wir es politisch unverfänglicher, textnäher, nämlich in den Worten des Wanderers, aus: Es sind die „Anderen“, deren „Wege“ er aus seiner Fremdheit heraus „vermeidet“ ( SW 178), ohne dass er dafür einen Grund zu nennen wüsste. Wieder erlangen diese, was das lyrische Ich erstrebt, so als wollten sie es verdrängen, fernhalten von dieser Ruhestatt. Diese macht nicht, entgegen traditionellem Verständnis, alle gleich, sondern unfreiwillig wahren jene „anderen“ ihren Besitzstand; dergleichen gesellschaftliche Mechanismen dauern an, über den Tod hinweg. Dies legt in diesem Zusammenhang die Verwendung des Verbs „besetzen“, das eine Aktivität, eine bewusst ergriffene Maßnahme bezeichnet, nahe. Für den Wanderer ist weder unter den Lebenden noch bei den Toten Platz. Die Folge, die Hufschmidt vor dem Hintergrund seiner Politisierung der Winterreise aus dieser Situation des Wanderers zieht, ist allerdings falsch: Im Imperativ „Nur weiter denn, nur weiter, mein treuer Wanderstab“ (SW 183) will er einen „lebensrettenden Impuls“, eine „Portion Lebenswillen, die manch einen in Stadien großer Schwäche davon abhält, sich selbst aufzugeben“, 32 erkennen. Tatsächlich aber will doch der Wanderer gerade sein Selbst aufgeben: Er ist wie Ahasver, der „ewige Jude“ oder später 31 Vgl. hierzu: Youens, Retracing a Winter’s Journey , S. 279 f. 32 Hufschmidt, Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn? , S. 140. 64 Jürgen Hillesheim Wagners „fliegender Holländer“: Wieder einmal ist ihm Rast und Ende verwehrt, also muss er sich abermals aufmachen und sich seinem Wanderstabe anvertrauen; weil ihm, so kurz vor Ende des Zyklus, nichts anderes übrig bleibt. Der Imperativ, in der Regel an Menschen gerichtet, erklärt den Wanderstab als deren Surrogat: Das lyrische Ich spricht mit einem Stock, weil es niemanden hat, mit dem es kommunizieren könnte und auch niemanden will. Dass der Stab als „treu“ bezeichnet wird - eine Eigenschaft, die sich der Wanderer zuvor bezeichnenderweise nur von der Krähe, dem Todesboten, erhofft (vgl. SW 166) - ist der Schluss- und Höhepunkt jener resignierenden Ironie, die das Gedicht durchzieht, von seinem Titel über die „grünen Totenkränze“ und den „besetzten Kammern“ bis hin zu diesem Ende: Wieder stellt Müller das Bezugssystem seiner Zeit auf den Kopf: Treue und Verlässlichkeit, gemeinhin höchste Tugenden, erscheinen als Synonyme für eine schicksalhafte Verdammnis zu andauerndem, offensichtlich ausweglosem Getriebensein. Diese Art Treue des anthropomorphisierten Wanderstabs wird zur folternden Permanenz; es ist eine solche, auf die das lyrische Ich gerne verzichten würde. Büchners Danton fürchtet gar, sie nicht einmal mit seinem Tod los zu werden. „Lustig in die Welt hinein“ (SW 186) geht in Selbstironie die Reise weiter, bis das vorletzte und, so die Forschung, „geheimnisvollste Lied des ganzen Zyklus“, 33 „Die Nebensonnen“, auf den „Leiermann“ vorbereitet. Was bedeuten jene beiden „Nebensonnen“, bzw. die „drei Sonnen“, um die es am Beginn des Liedes geht und von denen nur noch eine bleibt, weil die Haloerscheinungen, die „Nebensonnen“ verschwinden? Es ist immer wieder vom paulinischen moralischen Dreigestirn in abgewandelter Reihenfolge „Glaube, Hoffnung, Liebe“ die Rede. 34 Auch werden als Deutung die Augen der ehemaligen Geliebten angeboten, die die Tränen des lyrischen Ichs zunächst als Sinnestäuschungen am Himmel erscheinen lassen und die dann vergehen. 35 Das ist nicht abwegig, schließlich sah das lyrische Ich am Himmel bereits zuvor auch „sein eig’nes Bild“ gemalt ( SW 175), warum also nicht das der Augen seines Liebchens von ehedem? Man muss sich für keine dieser Deutungen entscheiden, auch schließen sie einander nicht unbedingt aus; sicher scheint, dass es im Lied um eine endgültige wie allumfassende Desillusionierung geht, die nun geradezu kosmisches Ausmaß angenommen hat. Wurde das lyrische Ich bis dahin immer wieder von natürlich erklärbaren Täuschungen und Irrlichtern getrieben und gepeinigt, so wird nun im Großen das Fazit gezogen: Alle Werte und Ideale des Lebens sind Trug und Schein, „Vorstellung“. Hinter diesen „Schleier der Maja“ zu blicken, führt zur Konsequenz, sich abermals allumfassende Ruhe im Tod herbeizusehnen. „Nur Täuschung ist für mich Gewinn“ ( SW 177) hat nun vollends seine Gültigkeit verloren. Nach dem Verschwinden der Lichterscheinung am Himmel wünscht sich der Wanderer den endgültigen Untergang der wirklichen Sonne, damit der Himmel vollends dunkel und leer ist; dies ist die Stimmung, in der er auf den Leiermann trifft. Drüben hinter’m Dorfe steht ein Leiermann, und mit starren Fingern 33 Goldschmidt, Schuberts ,Winterreise‘ , S. 138. 34 Vgl. Capell, Richard. Schubert’s Songs . New York 1957, S. 239; Goldschmidt , Schuberts ‚Winterreise‘, S. 138 f. 35 Vgl. Youens, Retracing a Winter’s Journey , S. 291 f. Wilhelm Müller und Franz Schubert, Winterreise 65 dreht er was er kann, barfuß auf dem Eise wankt er hin und her, und sein kleiner Teller bleibt ihm immer leer. Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an, und die Hunde knurren um den alten Mann. und er läßt es gehen alles; wie es will, dreht, und seine Leier steht ihm nimmer still. Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn - ? ( SW 189-191) In diesem Lied vollzieht sich ein Prozess stetiger Annäherung. Der Wanderer erblickt den Leiermann zunächst aus der Ferne; fast scheint es so als seien, wie auf einer Theaterbühne, zwei Figuren zunächst absichtlich weit voneinander entfernt platziert. Das Ich des Wanderers und das Er des Bettlers werden in den ersten beiden Strophen streng auseinandergehalten; Schuberts Musik akzentuiert dies durch einen Wechsel der Satzstruktur. 36 Erst in der letzten Strophe entsteht in der Form zweier Fragen eine zaghafte Symbiose aus „ich“ und „dir“ und „meinen“ und „deine“ ( SW 191). Die Zusammengehörigkeit beider wird allerdings bereits zuvor, in der Tiersymbolik, antizipiert. Waren die Krähen dem Wanderer gegenüber zunächst feindlich gesinnt ( SW 141), so vollzieht sich alsbald eine Wandlung, denn eine löst sich aus ihrem Verband, um ihn aus der Stadt hinaus zu begleiten, ihm ein Weggefährte bis in den Tod zu werden ( SW 164-166), ein Versprechen allerdings, das sie nicht hält. Ganz anders ist es mit den Hunden, sie gehören konsequent zu jenen „anderen“, sie sind sogar deren Bild. In „Gute Nacht“ kommentiert das Heulen der Hunde den Abschied des Wanderers ( SW 112), und „Im Dorfe“ wird er von Hunden „fortgebellt“; sie würden sich sogar auf ihn stürzen, wären sie nicht an „rasselnde Ketten“ gelegt ( SW 169-173). In eben dieser Gefahr befindet sich nun auch der Leiermann, der dies aber stoisch erträgt wie das Eis, auf dem er unsicher steht und das droht, unter ihm einzubrechen, oder ihn zumindest hinstürzen zu lassen. So kommt den Hunden eine verbindende Funktion zu, sie drängen Wanderer und Leiermann in eine Gemeinschaft und bereiten so ihren Zusammenschluss in der letzten Strophe vor. Ihr Anschlagen, ihre Aggressivität machen deutlich, dass beide nicht zur Gesellschaft gehören, zu jenen, die den Teller leer lassen und den alten Mann nicht einmal ansehen; weil sie ihn, im Gegensatz zum Wanderer, nicht erkennen wollen. Deshalb wird er auch nur außerhalb, „hinterm Dorfe“, geduldet. Möglicherweise wurde auch er „im Dorfe“ hinweggebellt; so wie der Wanderer. 36 Hufschmidt spricht gar von einer Art stetig wechselnden „Kameraschwenks“, den die Musik vollziehe; vgl. Hufschmidt, Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn? , S. 152. 66 Jürgen Hillesheim Diese Konstellation provoziert zu politischer Deutung: In Zeiten kapitalistischer Bereicherung, so liest man in der DDR -Forschung, bleibe die Armut als einziger Weggefährte; der Wanderstab werde zum Bettelstab; 37 sein Besitzer gehe in die „innere Emigration“. 38 Tatsächlich jedoch bietet der Leiermann dem Wanderer in der vorletzten Strophe des Gedichts eine Deutungsfolie der eigenen Existenz. Er spendet Trost, der erst zur Vereinigung in der letzten Strophe führt. Peter Gülke betont, dass die Winterreise keine Frage nach dem wohin habe und dass der einzige Fortschritt, den man konstatieren könne, eine wachsende Erkenntnis des Wanderers sei. 39 Rekapitulieren wir vor diesem Hintergrund kurz: Der Wanderer verlässt, entfremdet vom Leben und der Welt, das Haus der Geliebten, in umfassende Orientierungslosigkeit, in geradezu sein Ich zerreißende Episoden, die ihm die Sinnlosigkeit der Existenz in wachsendem Leid vor Augen führen und seine Todessehnsucht immer manifester werden lassen. Nun lernt er, nun wird ihm von einem, der im Leben bereits weiter ist als er selbst, anschaulich vorgeführt, wie diesem Leben zu begegnen ist: mit Gelassenheit, angesichts der Einsicht, dass sich, verdeutlicht durch die sich permanent drehende Leier, der Prozess von Werden und Vergehen ein ewiger ist, der Tod möglicherweise Erlösung, das Wissen um dieses „eherne Gesetz“ jedoch Palliativ sein kann. Schuberts Musik realisiert dies durch ostinate, „unaufhörlich leere“ 40 Quinten, die Teilnahmslosigkeit gegenüber der Welt, ein sich Drehen im Kreise, 41 signalisieren. Der alte Leiermann, der Asket schlechthin, hat sich von den Täuschungen und Illusionen Schopenhauerscher Vorstellung weitgehend befreit. Nach wie vor ist er im principium individuationis objektiver Wille, aber nur noch bedingt dessen Spielball, dank seiner Lebenserfahrung, die zu Lebensweisheit geworden ist. Das macht den Leiermann, obwohl nur in wenigen Versen präsent, zur Hauptfigur des Zyklus. Ein Getriebener findet zu ihm, da sich in ihm Erkenntnis und Weisheit verdichten. So verleiht er der Reise des Wanderers nicht Sinn, doch Deutung; insofern hat sein „irre Gehen“, das er „gewohnt“ war ( SW 145), ein Ende. Noerr konkretisiert dies in erstaunlicher Nähe zu Kategorien Schopenhauerscher Philosophie: Das vollkommene Vergessen des Leides ist der Tod und zu ihm führt unweigerlich die nächtliche Flucht des Wanderers. Aber in diesem Tod wird die notwendig mit Leiden verbundene Individuation in eine überindividuelle, harmonisch-gewaltlose Totalität übergeführt. 42 Ist der Leiermann nun Todesbote, 43 der den Wanderer mit nimmt in die Verheißung des Nichts, oder nur Imagination, Projektion des lyrischen Ichs, 44 das am Ende seiner Reise aus sich heraus zu solchen Schlüssen gelangt und diese nun metaphorisiert, in eine Allegorie kleidet? Schon Schuberts Vertonung des Gedichts Todesmusik von 1822 deutet mit seinen letzten drei Tönen auf den Anfang. 45 Viel mehr noch ist es ein Merkmal eines ganzen lyrischen Zyklus, dass er, der Vorstellung einer „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ analog, am Schluss auf seinen Anfang weist, jedoch nicht wie ein Rundgedicht oder -lied einfach 37 Vgl. Goldschmidt, Schuberts ,Winterreise‘ , S. 139 f. 38 Hufschmidt, Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn? , S. 151. 39 Vgl. Gülke, Franz Schubert und seine Zeit , S. 236 f. 40 Vgl. Goldschmidt, Schuberts ‚Winterreise‘ , S. 140. 41 Vgl. Gülke, Franz Schubert und seine Zeit , S. 260. 42 Noerr, „Der Wanderer über dem Abgrund“, S. 111. 43 Vgl. Gülke, Franz Schubert und seine Zeit , S. 259. 44 Vgl. Youens, Retracing a Winter’s Journey , S. 291. 45 Vgl. hierzu: Poos, Heinrich. „Todesmusik. Perspektiven eines Schubert-Lieds“. Franz Schubert. Todesmusik . Hg. Heinrich Poos. München 1997. 11-18, hier S. 17. Wilhelm Müller und Franz Schubert, Winterreise 67 wieder mechanisch von vorn beginnt, sondern sich durch das Abschreiten der einzelnen Gedichte ein „Mehrwert“, ein Erkenntnisgewinn eingestellt hat. So wäre eine neuerliche Reise, sollte es sie in abermaliger Objektivation des Willens in den Kategorien von Zeit und Raum geben, für den Rezipienten erklärbarer, für den Wanderer, der nicht mehr über seine Fremdheit in der Welt staunen müsste, sondern „es gehen“ lassen könnte „wie es will“, erträglicher. Was bedeutet dies für die Kunst? Dass sich auch diese Frage zwangsläufig stellt, wird im poetologischen letzten Vers des „Leiermanns“ deutlich; und zwar in spektakulärer, die in sich vollkommene Abgeschlossenheit des klassischen Zyklus durchbrechender Weise. Mit seinen letzten Worten tritt das lyrische Ich nämlich aus dem Gesamtgebilde heraus und bezieht ihm gegenüber Stellung. Es wird vom Wanderer zum Dichter, der, angesichts des allumfassenden Pessimismus, den er sich zu eigen gemacht hat, über die eigene Ästhetik reflektiert. Dabei ist es gleichgültig, ob sich der Wanderer nun am Ende in seiner Profession als Dichter zu erkennen gibt, oder ob sich der Autor, Wilhelm Müller, nun zum Wanderer stilisiert. Wie dem auch sein möge: Soll er, nun wider besseres Wissen, Werke verfassen, die sich den Illusionen des Tages, der „Vorstellung“ hingeben, wieder lebensfrohe Gedichte schreiben, wie die ersten der Schönen Müllerin ? Soll er sich etwa in die Tradition der Aufklärung oder gar Politisierung von Dichtung stellen, möglicherweise zum Tendenzdichter werden, oder in seinen Werken nicht eher dem Rhythmus des Weltengesetzes entsprechen, wie ihn dieses letzte Gedicht vorgibt? So, wie er es eigentlich mit der Winterreise bereits tat? Vieles spricht dafür, dass diese abschließende Frage nicht rein rhetorischer Natur ist. So mögen die politischen Verhältnisse des frühen 19. Jahrhunderts eine Deutungsfolie der Winterreise präsentieren, und vielleicht hat Schubert auch in seinem eigenen Leben so viele Entsprechungen zu Wilhelm Müllers lyrischem Ich gesehen, sich möglicherweise in ihm und dessen Winter 46 wiedergefunden, dass sie weiterer Ansporn zur Vertonung gewesen sein mögen. Doch dies greift zu kurz, denn hier bildet sich lediglich Exemplarisches ab, der Zyklus ist damit nicht erschöpfend interpretiert. Die gesellschaftliche Lage, wie auch der Lebensweg einer gedichteten Figur, deuten über sich hinaus. Sie sind Fallbeispiele für Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich das menschliche Leben und gesellschaftliche Mechanismen vollziehen, Konkretisierungen einer pessimistischen, von Gott befreiten philosophischen, aber auch künstlerischen Strömung, die als Gegenbewegung zur Aufklärung das frühe 19. Jahrhundert nicht minder stark als die Romantik prägten. Literaturverzeichnis Primärliteratur Büchner, Georg: Werke und Briefe . Hg. Werner R. Lehmann. München 1980. Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke . Hg. Wolfgang Freiherrn von Löhneysen. Darmstadt 1982. Schubert, Franz: Neue Ausgabe sämtlicher Werke . Hg. Internationale Schubert-Gesellschaft. Band IV ,4,a. Kassel, Basel, Tours, Bern 1979. Forschungsliteratur Benn, Maurice B.: „Büchner und Heine“. Seminar 13 (1977): 215-226. 46 So Gülke, Franz Schubert und seine Zeit , S. 236. 68 Jürgen Hillesheim Bucek, Tina: Frei aber bedeutungslos? Das Dilemma der Kunst im 21. Jahrhundert. Eine ästhetische Spurensuche mit Hanns Eisler . Essen 2012. Budde, Elmar: Schuberts Liederzyklen. Ein musikalischer Werkführer . München 2003. Capell, Richard: Schubert’s Songs . New York 1957. Goldschmidt, Harry: „Schuberts Winterreise “. Um die Sache der Musik. Reden und Aufsätze . Leipzig 1976. 116-140. Goltschnigg, Dietmar: „Büchner nach 1945“. Büchner-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung . Hgg. Roland Borgands und Harald Neumayer. Stuttgart / Weimar 2009. 335-344. Gülke, Peter: Franz Schubert und seine Zeit . Laaber 1991. Hofmann, Michael: „Rezeption und Wirkung. Naturalismus bis Weimarer Republik“. Büchner- Handbuch. Leben - Werk - Wirkung . Hgg. Roland Borgands und Harald Neumeyer. Stuttgart / Weimar 2009. 327-332. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn? Zur Semantik der musikalischen Sprache in Schuberts Winterreise und Eislers Hollywood-Liederbuch . Saarbrücken 1997. Martens, Wolfgang: „Leonce und Lena“. Die deutsche Komödie . Hg. Walter Hink. Düsseldorf 1977. 145-159. Most, Otto: Zeitliches und Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers . Frankfurt / Main 1977. Müller, Ingo: „,Eins in Allem und Alles in einem‘. Zur Ästhetik von Gedicht- und Liederzyklus im Lichte romantischer Universalpoesie“. Wort und Ton . Hgg. Günter Schnitzler und Achim Aurnhammer. Freiburg 2011. 243-274. Neuhuber, Christian: Georg Büchner. Das literarische Werk . Berlin 2009. Noerr, Gunzelin Schmid: „Der Wanderer über dem Abgrund. Eine Interpretation des Liedes Gute Nacht aus dem Zyklus Winterreise von Franz Schubert und Wilhelm Müller. Zum Verstehen von Musik und Sprache“. Franz Schubert. Todesmusik. Musik-Konzepte 97 / 98 . Hgg. Klaus-Heinz Metzger und Rainer Riehn. München 1997. Poos, Heinrich: „Todesmusik. Perspektiven eines Schubert-Lieds“. Franz Schubert. Todesmusik . Hg. Heinrich Poos. München 1997. 11-18. Wittkop, Christiane: Polyphonie und Kohärenz. Zu Wilhelm Müllers Gedichtzyklus ‚Die Winterreise‘. Stuttgart 1994. Youens, Susan: Retracing a Winter’s Journey. Schubert’s ,Winterreise’ . London 1991. Annette von Droste-Hülshoff, Meersburger Gedichte 69 Annette von Droste-Hülshoff Meersburger Gedichte Kaspar H. Spinner Meersburg I (1841-1842) Im Herbst 1841 fuhr Annette von Droste-Hülshoff, 44 Jahre alt, von Münster nach Meersburg am Bodensee, wo ihr Schwager das alte Schloss gekauft hatte. In einem der Türme bezog sie ein Zimmer. Sie war eine bisher erfolglose Schriftstellerin; eine erste Publikation mit Gedichten und Verserzählungen, 1838 erschienen, blieb ein Ladenhüter. Im Gepäck auf der Reise nach Meersburg hatte sie allerdings das kurz vorher abgeschlossene Manuskript zur Novelle Die Judenbuche , die nach Erscheinen ihren Ruhm begründete. Bald nach ihrer Ankunft in Meersburg traf auch Levin Schücking, Schriftsteller und Redakteur, 17 Jahre jünger, ein, von Drostes Schwager als Bibliothekar für seine reichen Bücherbestände angestellt. Hinter der Einladung von Schücking steckte Droste, die in Absprache mit ihrer Schwester und deren Mann das Kommen von Schücking arrangiert hatte. Zwischen Droste und Schücking hatte sich schon in Münster durch eine Zusammenarbeit eine enge Freundschaft angebahnt, was Drostes Mutter, die davon Wind bekommen hatte, ungehörig fand. Die Wintermonate auf der Meersburg, die der Droste und Schücking nun ein ungestörtes Zusammensein erlaubten, waren geprägt von einem lebhaften geistigen Austausch zwischen beiden; es war eine Seelenfreundschaft und, jedenfalls von Seiten Drostes, eine intensive Liebe. Für Droste war es eine Zeit der Befreiung. Schücking machte ihr Mut, sich verstärkt der Lyrik zu widmen. Dazu schrieb er später in seinen Lebenserinnerungen: Sie meinte deshalb mit großer Zuversicht, einen reputierlichen Band lyrischer Gedichte werde sie mit Gottes Hilfe, wenn sie gesund bleibe, in den nächsten Wochen leicht schreiben können. Als ich widersprach, bot sie mir eine Wette an und stieg dann gleich in ihren Turm hinauf, um sofort ans Werk zu gehen. Triumphierend las sie am Nachmittag bereits das erste Gedicht ihrer Schwester und mir vor. […] So entstand in weniger Monate Verlauf, in jenem Winter von 1841 bis 1842, die weitaus größte Zahl der lyrischen Poesien, welche den Band ihrer „Gedichte“ füllen. 1 Und tatsächlich: Der Meersburger Winter 1841 / 42 führte zu einer wahrhaften Explosion von Lyrik. Über sechzig Gedichte schrieb Droste; darunter sind die bekanntesten ihrer Gedichte, z. B. die Heidebilder (dazu gehört das als Ballade bekannte Gedicht Der Knabe im Moor ). Diese Gedichte, die motivisch auf die westfälische Heimat Drostes bezogen sind, lasse ich im Folgenden allerdings unberücksichtigt; unter „Meersburger Gedichten“ seien hier diejenigen Gedichte verstanden, die den Meersburger Erfahrungen entsprungen sind; 1 Schücking, Levin. Annette von Droste. Ein Lebensbild . Stuttgart 1942, S. 92 f. 70 Kaspar H. Spinner das ist deutlich der Fall im berühmten Gedicht Am Thurme , dessen vier Strophen nacheinander kurz kommentiert seien: Am Thurme Ich steh’ auf hohem Balkone am Thurm, Umstrichen vom schreienden Staare, Und laß’ gleich einer Mänade den Sturm Mir wühlen im flatternden Haare; O wilder Geselle, o toller Fant, Ich möchte dich kräftig umschlingen, Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand Auf Tod und Leben dann ringen! (78) 2 Das Gedicht ist unverkennbar biographisch geprägt und stellt, wenn man sich den sozialhistorischen Kontext vergegenwärtigt, eine Provokation dar. Eine adlige Frau - von einem Fräulein sprach man damals noch - aus streng katholischer, konservativer Adelsfamilie, imaginiert ein lyrisches Ich, das wie eine Mänade, also wie eine der rasenden Anhängerinnen des Dionysos, den Sturm die offenen Haare aufwühlen lässt und das den Wind, den es als wild und als Fant, also als Bengel oder Bursch bezeichnet, umschlingen und mit ihm ringen möchte. Eine solche erotisch geprägte Imagination eines Kampfes, in dem es um Leben und Tod geht, ist an Heftigkeit kaum zu überbieten. Dies hatte in der Rezeptionsgeschichte des Gedichtes durchaus zu Irritationen geführt. So sprach Emil Staiger in seiner frühen Publikation zu Droste bezogen auf das Gedicht von „Wildheit […], verfälscht in ein mädchenhaftes Verlangen, sich auszutoben“. 3 Heutige Interpretinnen sprechen dagegen von der „Vision einer ekstatischen Grenzüberschreitung“, 4 in der die „Freiheit der grenzenlosen Phantasie […] erreicht“ 5 sei. Besonders hingewiesen sei auf die räumliche Struktur der imaginierten Situation, auf die ich auch bei weiteren Gedichten ein besonderes Augenmerk richten werde. Das lyrische Ich befindet sich auf einem Balkon; das ist ein Übergangsraum, zwischen dem Zimmer im Turm und dem offenen, unbegrenzten Raum. Topographisch lässt sich ein Bezug zur Burg in Meersburg herstellen, topologisch, also bezogen auf den Strukturzusammenhang im Gedicht, ergibt sich eine Gegenüberstellung mit symbolisch erweiterter Bedeutung: gemauert unbegrenzt sicher Gefahr eingesperrt Freiheit 2 Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf folgende Ausgabe: Droste-Hülshoff, Annette von. Werke, Briefwechsel . Historisch-kritische Ausgabe. Band 1. Hg. Winfried Woesler. Tübingen 1985. 3 Staiger, Emil. Annette von Droste-Hülshoff . Frauenfeld 1962, S. 91. 4 Blasberg, Cornelia. „Am Thurme. Überkreuzstellung. Zur Dialektik von Erlebnis- und Schreibfiktion.“ Gedichte von A. von Droste-Hülshoff. Interpretationen. Hgg. Claudia Liebrand, Irmtraud Hnilica und Thomas Wortmann. Stuttgart 2014, S. 54. 5 Bauer Pickat, Gertrud. „‚Läßt walten die verborg’ne Kraft! ‘ Drostes Lyrik aus heutiger amerikanischer Sicht.“ Droste-Jahrbuch 4 (2000): 103-126, hier S. 125. Annette von Droste-Hülshoff, Meersburger Gedichte 71 Der Wind und die Stare können sich frei im unbegrenzten Raum bewegen, dem lyrischen Ich droht der Tod, wenn es den Rand des Balkons überschreitet. 6 Einmal sensibilisiert für die räumliche Konfiguration des Gedichtes erkennt man bei der zweiten Strophe sofort, dass sie eine weitere räumliche Perspektive eröffnet: Und drunten seh’ ich am Strand, so frisch Wie spielende Doggen, die Wellen Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch, Und glänzende Flocken schnellen. O, springen möcht’ ich hinein alsbald, Recht in die tobende Meute, Und jagen durch den korallenen Wald Das Walroß, die lustige Beute! (78) Hier richtet sich der Blick nach unten auf einen Strand und auf die Wellen. Man mag topographisch, wenn man von der Meersburg als Standort des lyrischen Ich ausgeht, an den Bodensee denken. In der zweiten Hälfte der Strophe weitet sich allerdings der Raum. Korallen und Walross gibt es in einem See nicht. Südsee und nördliches Meer werden assoziiert, die realistische Beschreibung, mit der die Strophe beginnt, weicht einer visionären Imagination. Man mag das als forcierte Bildlichkeit empfinden und in der „lustige[n] Beute“ als Apposition zum Walross eine unglückliche Bezeichnung sehen. Hier zeigt sich - wie im Grunde schon bei Staigers Bemerkung zur ersten Strophe - eine Ambivalenz, der man sich beim Lesen von Drostes Gedichten immer wieder ausgesetzt sieht: Werden bei solchen Stellen die Grenzen der literarischen Fähigkeiten der Autorin sichtbar oder sind sie in ihrer Kühnheit als ästhetisch besonders innovativ einzuschätzen? Jedenfalls ist auch diese Strophe von einer ungewöhnlichen Dynamik geprägt, die auch formal, z. B. durch die Enjambements am Ende des ersten und des zweiten Verses und im zweitletzten Vers, unterstützt wird. Die dritte Strophe beginnt wieder mit einer Raumangabe; der Blick richtet sich nun in die Ferne: Und drüben seh ich ein Wimpel wehn So keck wie eine Standarte, Seh auf und nieder den Kiel sich drehn Von meiner luftigen Warte; O, sitzen möcht’ ich im kämpfenden Schiff, Das Steuerruder ergreifen, Und zischend über das brandende Riff Wie eine Seemöve streifen. (78) Wiederum erweitert sich hier eine in der ersten Strophenhälfte entworfene Szenerie, die topographisch an den Bodensee erinnert, in der zweiten Hälfte mit dem „Riff“ zur Meeresvision. In der letzten Strophe ändert sich der Ton. Das lyrische Ich wünscht sich, ein Mann zu sein, und reflektiert die eingeschränkte eigene Situation als Frau. Die beiden letzten Verse 6 Vgl. die Analyse der „Grenze“ in Drostes Gedichten bei Bianchi, Bruna. „Verhinderte Überschreitung. Phänomenologie der ‚Grenze‘ in der Lyrik der Annette von Droste-Hülshoff“. Ein Gitter aus Musik und Sprache. Feministische Analysen zu Annette von Droste-Hülshoff. Hgg. Ortrun Niethammer und Claudia Belemann. Paderborn 1993, S. 17-34. 72 Kaspar H. Spinner greifen das Motiv vom Wind und den flatternden Haaren, das die erste Strophe bestimmt, auf, nun mit dem Hinweis, dass dem lyrischen Ich dies nur „heimlich“ erlaubt ist: Wär ich ein Jäger auf freier Flur, Ein Stück nur von einem Soldaten, Wär ich ein Mann doch mindestens nur, So würde der Himmel mir rathen; Nun muß ich sitzen so fein und klar, Gleich einem artigen Kinde, Und darf nur heimlich lösen mein Haar, Und lassen es flattern im Winde! (78) Die erste Hälfte der Strophe mag sprachlich etwas irritierend wirken. Sind „Ein Stück nur von einem Soldaten“ und „doch mindestens nur“ unbeholfene, umständliche Formulierungen? Oder kann man das interpretieren als sprachlichen Ausdruck der gebrochenen Identität, der eine gefällige Sprache nicht angemessen wäre? Man erfährt hier als Leser die oben schon angesprochene Ambivalenz. Den Lebenszwiespalt, der in diesem Gedicht zum Ausdruck kommt, hat Droste in Meersburg durch ihre Beziehung zu Schücking, die die beiden möglichst geheim hielten, besonders intensiv erlebt. Dass die in Meersburg erfahrene Freiheit von Zwängen und ein Leben mit Schücking keine dauerhafte Lebensperspektive darstellen, war Droste bewusst. Unvergessen und in Meersburg Hintergrund für Gedichte ist für Droste auch eine frühere Liebes-Erfahrung, die man als die Liebeskatastrophe in ihrem Leben bezeichnet hat. Das in Meersburg entstandene Gedicht Die Taxuswand bezieht sich darauf. Im Alter von 23 Jahren hatte sich eine Liebesbeziehung zwischen dem bürgerlichen und protestantischen Heinrich Straube und Droste entwickelt, sehr zum Verdruss der adligen katholischen Familie. Ein Freund Straubes, Arnswaldt, prüfte in Absprache mit Familienmitgliedern Drostes Liebe zu Straube. Droste fühlte sich vom attraktiven Arnswaldt angezogen, geriet in eine Gefühlsverwirrung, wollte aber zu Straube halten. Die Liebesprüfung hatte sie aber nach Ansicht von Arnswaldt und Straube nicht bestanden und die beiden schrieben ihr einen Abschiedsbrief. Die Familie hielt die ganze Angelegenheit für eine Schmach. Droste fühlte sich der Intrige hilflos ausgesetzt, eine Aussprache mit Straube war für sie nicht möglich; ein Brief an ihre Freundin Anna von Haxthausen zeigt, wie sehr sie unter dem Verlust ihrer Beziehung zu Straube litt: […] ich denke Tag und Nacht an Str. ich habe ihn so lieb, daß ich keinen Namen dafür habe, er steht mir so mild und traurig vor Augen, daß ich oft die ganze Nacht weine und ihm immer in Gedanken vielerley erkläre, was ihm jetzt fürchterlich dunkel sein muß, ach Gott, wenn ich ihm nur schreiben dürfte, dann wüßte ich noch wohl allerhand, was ich ihm allein sagen kann. 7 Das Meersburger Gedicht Die Taxuswand , das sich auf diese Liebeserfahrung bezieht, ist in doppelter Weise ein Erinnerungsgedicht. Entstanden 1841 / 42 bezieht es sich auf einen Besuch in Bökendorf 1837, dem Ort ihrer Liebe zu Heinrich Straube im Jahr 1820; die Verse 13-20 beschwören diese Erinnerung: […] Vorhang am Heiligthume, 7 Droste-Hülshoff, Werke, Briefwechsel Band VIII, 1, S, S. 51. Annette von Droste-Hülshoff, Meersburger Gedichte 73 Mein Paradiesesthor, Dahinter Alles Blume, Und Alles Dorn davor. Denn jenseits weiß ich sie, Die grüne Gartenbank, Wo ich das Leben früh Mit glühen Lippen trank, […] (160) Das lyrische Ich ist durch die Taxuswand (Eibenhecke) vom Ort des glücklichen Lebens getrennt; es ist, wie Adam und Eva, aus dem Paradies vertrieben. Auch bei diesem Gedicht erkennt man, wie sehr Droste die räumliche Konstellation einsetzt und zur symbolischen Bedeutungserweiterung verwendet. Mehrere Gedichte Drostes sind an Schücking gerichtet. Dazu gehört Schenke am See ; der Titel bezieht sich auf die Schenke, in der Schücking und Droste des Öfteren einkehrten. Zitiert sei die 6. Strophe, die in einem Bild das Lebensgefühl der Autorin wiedergibt: Sieh’ drunten auf dem See im Abendroth Die Taucherente hin und wieder schlüpfend; Nun sinkt sie nieder wie des Netzes Loth, Nun wieder aufwärts mit den Wellen hüpfend; Seltsames Spiel, recht wie ein Lebenslauf! Wir beide schaun gespannten Blickes nieder; Du flüsterst lächelnd: immer kömmt sie auf - Und ich, ich denke, immer sinkt sie wieder! (77) Das angesprochene Du, d. h. Schücking, wenn man biographisch deutet, sieht, dass die Ente immer wieder hochkommt, das lyrische Ich bzw. Droste denkt dagegen, dass die Ente immer wieder sinkt. Auch hier ist es wieder ein räumliches Bild und seine Deutung, mit der Droste eine Lebenserfahrung wiedergibt. Der Gegensatz „Du flüsterst lächelnd“ und „ich denke“ verdeutlicht zusätzlich die unterschiedliche Lebenseinstellung. In einem weiteren Gedicht, das an Schücking, hier allerdings ohne Nennung seines Namens, gerichtet ist ( An *** , beginnend mit „Kein Wort“), taucht ein Motiv auf, das im Werk Drostes mehrfach eine Rolle spielt: das Spiegelmotiv. Die 3. Strophe von An *** lautet: Blick’ in mein Auge - ist es nicht das deine, Ist nicht mein Zürnen selber deinem gleich? Du lächelst - und dein Lächeln ist das meine, An gleicher Lust und gleichem Sinnen reich; Worüber alle Lippen freundlich scherzen, Wir fühlen heilger es im eignen Herzen. (140) Die beiden liebenden Menschen sehen sich selbst im anderen, sogar dann, wenn sie sich streiten. Das Gedicht entstand nach einem heftigen Streit zwischen Schücking und Droste. Es waren die politischen Ansichten, die immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden führten. Im gleichen Gedicht, am Ende der 1. Strophe, findet sich eine Formulierung, die besonders eindrücklich Drostes Meersburger Erfahrung benennt: Das Leben ist so kurz, das Glück so selten, o großes Kleinod, einmal sein statt gelten! (140) 74 Kaspar H. Spinner Einmal nur sein, das hat Droste in Meersburg erfahren. In einem ebenfalls mit An *** betitelten Gedicht (beginnend mit „O frage nicht“) erscheint das Spiegelbild nun ausdrücklich; die beiden letzten Strophen lauten: So, wenn ich schaue in dein Antlitz mild, Wie tausend frische Lebenskeime walten, Da ist es mir, als ob Natur mein Bild Mir aus dem Zauberspiegel vorgehalten; Und all mein Hoffen, meiner Seele Brand, Und meiner Liebessonne dämmernd Scheinen, Was noch entschwinden wird und was entschwand, Das muß ich Alles dann in dir beweinen. (143) Wie in einem Zauberspiegel sieht das lyrische Ich im geliebten anderen Menschen sein eigenes Bild; es ist ein Bild der Hoffnungen, des ersehnten lebendigen Lebens, aber der Spiegel ist ein „Zauberspiegel“, er zeigt nicht die Wirklichkeit. Die beiden Strophen sind getragen von einer Bewegung, die sich steigert bis zu „meiner Seele Brand“ und „Liebessonne“; gleich nach diesem Wort aber kommt mit dem einschränkenden „dämmernd“ die Wende, die im darauf folgenden Vers mit dem zweimal gesetzten Verb „entschwinden“ (bzw. „entschwand“) fortgeführt wird und im abschließenden Wort „beweinen“ mündet. Das Wissen darum, dass das Zusammensein mit dem geliebten Freund ein Ende haben wird, ist darin ebenso ausgedrückt wie die Trauer darüber, dass das Leben so wenig „sein statt gelten“ erlaubt. Im Mittelpunkt steht das Spiegelmotiv in einem der großartigsten Gedichte Drostes, dem Gedicht Das Spiegelbild ; in der Handschrift lautet der Titel Mein Spiegelbild , womit der autobiographische Bezug unverhüllter zum Ausdruck kommt. Das Spiegelbildmotiv hat eine lange Tradition in bildender Kunst und Literatur. Dabei gibt es zwei hauptsächliche motivische Stränge, nämlich den Spiegel der Venus, auf den z. B. das Spiegelmotiv im Schneewittchen-Märchen zurückgeht, und die Selbstbespiegelung des Narziss. Vor allem in der Romantik kommt das Doppelgängermotiv dazu, das im Droste-Gedicht erkennbar ist, allerdings in einer ganz eigenständigen Verarbeitung. Ich kommentiere die einzelnen Strophen wieder nacheinander. Schaust du mich an aus dem Kristall, Mit deiner Augen Nebelball Kometen gleich, die im Verbleichen; Mit Zügen, worin wunderlich Zwei Seelen wie Spione sich Umschleichen, ja, dann flüstre ich: Phantom, du bist nicht meines Gleichen! (168) Schon der erste Vers überrascht mit einer ungewöhnlichen Vorstellung: Nicht das Ich schaut sich im Spiegel an, sondern das Spiegelbild schaut das lyrische Ich an (mit „Kristall“ ist das Glas des Spiegels gemeint). Es ist anzunehmen, dass die Vorstellung des Spiegelbildes, das den Betrachter anblickt, beeinflusst ist von einem Gedicht Freiligraths, das Schücking im Jahr 1840 Droste vorgelesen hatte und das sie besonders schön fand. 8 In diesem Gedicht stehen die folgenden Verse (10-16): 8 Vgl. Borchmeyer, Dieter. Des Grauens Süße. Annette von Droste Hülshoff. München 1997, S. 165. Annette von Droste-Hülshoff, Meersburger Gedichte 75 […] Ich wagt’ es oft in mitternächt’gen Stunden, Mir vor dem Spiegel selbst ins Aug’ zu schaun - […] Daß ich ein Leib noch, ich vergaß es dann! Aus ihren Höhlen wüsten Finsternissen Sah mich die Sphinx, die eigne Seele, an, Und sprach ihr Rätsel, höhnisch und verbissen. 9 Droste gestaltet die Spiegelsituation in ihrem Gedicht in einer gesteigerten Unmittelbarkeit, so als sei der Text aus der Situation heraus gesprochen; grammatisch wird dies unterstützt durch die Verwendung des Präsens im Unterschied zum Präteritum bei Freiligrath. Ungewöhnlich ist die Metaphorik, die Droste verwendet. Der „Nebelball“, der der Erscheinung der Sonne, wenn sie durch Nebel sichtbar ist, entspricht, ist eine der kühnen, fast forciert wirkenden Metaphern, die sich bei Droste immer wieder finden. Interessant ist das Bild der „zwei Seelen“, das von Goethes Faust I bekannt ist. In der Szene „Vor dem Tor“ stehen die bekannten Verse: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen. 10 Bei Droste sind die „zwei Seelen“, die sich wie Spione umschleichen, rätselhafter; das Spiegelbild erscheint als ein „Phantom“. Faust kennt seine beiden Seelen, er durchschaut seine gespaltene Identität. Bei Droste kommt eine doppelte Selbstentfremdung zum Ausdruck: Das eigene Spiegelbild ist dem lyrischen Ich fremd, und das Spiegelbild selbst ist in sich gespalten mit seinen Gesichtszügen, die sich wie Spione umschleichen. Für Drostes Gedicht, aber noch nicht für Faust, gilt der Satz, der auf Arthur Rimbaud und damit auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeht und der die Identitätsdiskussion der vergangenen 50 Jahre wesentlich geprägt hat: „Je est un autre“ („Ich ist ein Anderer“), von Jacques Lacan, der sich auf Rimbaud bezieht, formuliert als „Le je n’est pas le moi“, eine Formulierung, die kaum ins Deutsche übersetzt werden kann, weil wir nicht zwei Wörter für „ich“ haben. Die Gegenüberstellung der Textstellen von Droste und von Goethe sei noch für einen weiteren Hinweis genutzt. In der Droste-Forschung liest man zuweilen, dass das Musikalische Drostes Lyrik fremd sei, so bei Bianchi, die von „mangelnde[r] Musikalität“ 11 spricht. Wenn man die hier zitierten Textstellen von Droste und von Goethe miteinander vergleicht, wirken Goethes Verse klar komponiert und von einem fließenden Rhythmus geprägt. Drostes Verse sind dagegen weniger eingängig. Aber sie entfalten mit dem einen Satz, der sich über die ersten sechs Verse hinzieht, eine ungewöhnliche Dynamik, wobei die auffälligen Enjambements das „Umschleichen“ hörbar machen: Der Satz umschleicht die Versstruktur, wie sich die beiden Seelen bzw. Spione umschleichen. In Verbindung mit dem Binnenreim 9 Freiligrath, Ferdinand von. Werke I. Hildesheim 1974, S. 182. 10 Goethe, Johann Wolfgang von. Faust. Erster Teil. Frankfurt a. M. 1974, Vers 1112-1117. 11 Bianchi, „Verhinderte Überschreitung“, S. 26. Das Gedicht „Im Grase“ nimmt Bianchi allerdings von ihrem Urteil der mangelnden Musikalität aus, vgl. ebd., S. 31. 76 Kaspar H. Spinner „umschleichen“ zu „Verbleichen“ und „Gleichen“ und dem im Wortstamm sich reimenden „gleich“ entsteht eine durchaus eigene Melodik, die auch durch eine ungewöhnliche Reimabfolge unterstützt wird (aabcccb). In den beiden folgenden Strophen verstärkt sich das Doppelgängermotiv. Das Spiegelbild blickt nicht nur das lyrische Ich an; vielmehr stellt sich dieses vor, dass das Spiegelbild aus dem Spiegel herausträte und so zum körperlichen Gegenüber würde: Bist nur entschlüpft der Träume Hut, Zu eisen mir das warme Blut, Die dunkle Locke mir zu blassen; Und dennoch, dämmerndes Gesicht, Drin seltsam spielt ein Doppellicht, Trätest du vor, ich weiß es nicht, Würd’ ich dich lieben oder hassen? Zu deiner Stirne Herrscherthron, Wo die Gedanken leisten Frohn Wie Knechte, würd ich schüchtern blicken; Doch von des Auges kaltem Glast, Voll todten Lichts, gebrochen fast, Gespenstig, würd, ein scheuer Gast, Weit, weit ich meinen Schemel rücken. (168) Mit dem Vorstellungsbild von „Herrscherthron“ und „Schemel“ schafft die dritte Strophe einen anschaulichen Gegensatz, der zugleich Irritation auslöst. Welchen Frondienst leisten die Gedanken? Wer ist der Herrscher? Tiefenpsychologisch kann man in ihm das Über-Ich sehen, dem die Ich-Instanz mit ihren Gedanken unterworfen ist. Im Bild des Auges, das „voll todten Lichts“ ist, steigert sich das Unheimliche der Erscheinung. Von „gespenstig“ ist nun die Rede, eine Steigerung zum „dämmernde[n] Gesicht“ der zweiten Strophe. Wie die zweite und die dritte Strophe ist auch die vierte antithetisch aufgebaut bezogen auf Zuwendung und Abwehr: Und was den Mund umspielt so lind, So weich und hülflos wie ein Kind, Das möcht in treue Hut ich bergen; Und wieder, wenn er höhnend spielt, Wie von gespanntem Bogen zielt, Wenn leis’ es durch die Züge wühlt, Dann möchte ich fliehen wie vor Schergen. (168) In der fünften Strophe wird Moses Begegnung mit Gott im brennenden Dornbusch (Ex. 3,5) als Vergleich verwendet. Dreimal kommt das Adjektiv „fremd“ in der Strophe vor und führt so die Alteritätserfahrung des lyrischen Ich auf einen Höhepunkt: Es ist gewiß, du bist nicht Ich, Ein fremdes Daseyn, dem ich mich Wie Moses nahe, unbeschuhet, Voll Kräfte die mir nicht bewust, Voll fremden Leides, fremder Lust; Gnade mir Gott, wenn in der Brust Mir schlummernd deine Seele ruhet! (168 f.) Annette von Droste-Hülshoff, Meersburger Gedichte 77 Das lyrische Ich stellt hier die Identität von Ich und Spiegelbild dezidiert in Abrede, um am Ende der Strophe doch die Möglichkeit einer Identität anzudeuten. Was es sieht, bleibt ja sein Spiegelbild; dem Ich begegnen Dimensionen der eigenen Identität, die ihm unbekannt sind. Das weist auf die Tiefenpsychologie von Sigmund Freud voraus, der den Blick auf das Unbekannte und Verdrängte im menschlichen Bewusstsein gerichtet hat. Aber man kann auch einen früheren, zeitgenössischen Bezug herstellen. Zur Lebenszeit Drostes arbeitete der Maler und Mediziner Carl Gustav Carus seine Theorie des Unbewussten aus, die er in seinem monumentalen, 1846 erschienenen Werk Psyche darlegte. Er ging der romantischen Vorstellung, dass das Unbewusste rätselhaft und in ihm das Göttliche anwesend sei, mit wissenschaftlichem Anspruch nach. Im Kontext solcher zeitgenössischer Vorstellungen wird Drostes Vergleich mit Gott im Dornbusch, der zunächst befremdlich wirken mag, verständlich. Die letzte Strophe nimmt die Fremdheitserfahrung, die im Verlauf des Gedichtes eine Steigerung erfahren hat, wieder etwas zurück: Und dennoch fühl ich, wie verwandt, Zu deinen Schauern mich gebannt, Und Liebe muß der Furcht sich einen. Ja, trätest aus Kristalles Rund, Phantom, du lebend auf den Grund, Nur leise zittern würd ich, und Mich dünkt - ich würde um dich weinen! (169) Der Schluss „ich würde um dich weinen“ erinnert an den letzten Vers des Gedichts An *** („O frage nicht …“): „Das muß ich alles dann in dir beweinen.“ Warum das lyrische Ich über das Spiegelbild, wenn es ihm lebend gegenüberträte, weinen würde, bleibt unausgesprochen. Die Zeit mit Schücking hat im April 1842 ein Ende. Schücking verlässt Meersburg, Drostes lyrische Produktion verebbt. Im Spätsommer geht sie zurück nach Westfalen. Meersburg II: 1843-1844 Anfang Oktober 1843 reist Droste wieder nach Meersburg, vor allem aus gesundheitlichen Gründen. In Meersburg wird ihr auch die eben erschienene neue Ausgabe ihrer Gedichte zugestellt, die ihr erstmals breite Anerkennung als Lyrikerin verschafft. 1844 kommt Schücking, inzwischen verheiratet, mit seiner Frau für vier Wochen nach Meersburg. Die Begegnung führt zu einer zunehmenden Entfremdung. Als Schücking und seine Frau wieder abreisen, gibt Droste ihnen ein Gedicht, in dem sie den Abschied zum Thema macht. Zitiert sei hier die erste Strophe, die anklingt an die Abschiedsworte Iphigenies in Goethes Drama („Leb’ wohl! […] Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an, […]“): Lebt wohl Lebt wohl, es kann nicht anders seyn! Spannt flatternd eure Segel aus, Laßt mich in meinem Schloß allein, Im öden geisterhaften Haus. (325) Schücking und seine Frau fuhren mit dem Schiff von Meersburg in die Schweiz; dieser topographische Hintergrund erfährt in der Strophe eine symbolische Bedeutungserweite- 78 Kaspar H. Spinner rung, die an das tradierte Motiv der Seefahrt anknüpft. Schücking und seine Frau haben wohl kaum ein Segelschiff benutzt und selbst die Segel gehisst. „Spannt flatternd eure Segel aus“ ist eine imaginierte Vorstellung, die metaphorisch über die wörtliche Bedeutung hinausweist. Die Fahrt über den See ist der räumlichen Situation des lyrischen Ich gegenübergestellt, das im Schloss, einge-schloss-en, bleiben muss. Die Konstellation erinnert an das Gedicht Am Thurme , wo das lyrische Ich für sich selbst eine Befreiung als Fahrt auf einem Schiff imaginiert und zugleich darum weiß, dass dies ein utopischer Wunsch ist.Während des zweiten Meersburger Aufenthaltes sind auch einige weitere Gedichte entstanden, unter denen Mondesaufgang und Im Grase zu den erstaunlichsten Schöpfungen Drostes gehören. Mondesaufgang ist in Meersburg oder kurz danach entstanden; im „See“, der in der dritten Strophe erwähnt wird, kann man den Bodensee sehen. Hier gebe ich die erste und die letzte Strophe wieder: Mondesaufgang An des Balkones Gitter lehnte ich Und wartete, du mildes Licht, auf dich; Hoch über mir, gleich trübem Eiskrystalle, Zerschmolzen, schwamm des Firmamentes Halle, Der See verschimmerte mit leisem Dehnen, - Zerflossne Perlen oder Wolkenthränen? - Es rieselte, es dämmerte um mich, Ich wartete, du mildes Licht, auf dich. […] O, Mond, du bist mir wie ein später Freund, Der seine Jugend dem Verarmten eint, Um seine sterbenden Erinnerungen Des Lebens zarten Widerschein geschlungen, Bist keine Sonne, die entzückt und blendet In Feuerströmen lebt, in Blute endet - Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht, Ein fremdes, aber o ein mildes Licht! Auch dieses Gedicht erinnert an Am Thurme , aber das zum Ausdruck kommende Lebensgefühl ist ein ganz anderes, was sich in vielen Einzelheiten zeigt, besonders deutlich schon im ersten Vers: Es heißt nicht mehr „Ich steh’“, sondern „lehnte ich“; die Körperhaltung ist eine andere geworden und das Wort „ich“ steht nicht mehr an erster Stelle. Ein „Gitter“ markiert deutlich die Grenze zum offenen Raum. Es ist nicht mehr Tag, sondern Nacht, in der der Mond sein mildes Licht verbreitet. Alles Heftige ist in diesem Gedicht verschwunden - nur als Gegensatz wird noch die Sonne in Verbindung mit „Feuerströmen“ und „Blute“ genannt. Das Verschwimmende, Dämmernde, das für Droste besonders typisch ist, wirkt nicht mehr dämonisch und beängstigend wie in vielen ihrer Texte. Der Mond verbreitet ein „fremdes“ Licht, aber das lyrische Ich empfindet es als mild, nicht als bedrohlich wie die Fremdheit in der zweitletzten Strophe von Das Spiegelbild . Etwas schwer verständlich mögen die ersten Verse der letzten Strophe erscheinen; der „Verarmte“ bezieht sich auf die Situation des lyrischen Ich. Man kann folgendermaßen paraphrasieren: Um die sterbenden Erinnerungen des Verarmten hat der Mond den zarten Widerschein des Lebens Annette von Droste-Hülshoff, Meersburger Gedichte 79 geschlungen. Die Formulierung „seine Jugend“ mag an Levin Schücking, den jugendlichen Freund, erinnern; die poetologische Aussage über den Sänger am Schluss verdeutlicht, welche Bedeutung die Poesie für Droste hat. Dem Gedicht Mondesaufgang ist in seiner Stimmung das Gedicht Im Grase verwandt; allerdings entfaltet dieses viel gerühmte Gedicht in einer gesteigerten, zum Teil kaum ganz zu entschlüsselnden Bildlichkeit ein Lebensgefühl, das man als eine Überwindung des Gegensatzes von Angebundensein und Freiheit sehen kann. Die erste Strophe entwirft eine entsprechende Raumsituation: Süße Ruh’, süßer Taumel im Gras, Von des Krautes Arom umhaucht, Tiefe Flut, tief, tief trunkne Flut, Wenn die Wolk’ am Azure verraucht, Wenn aufs müde schwimmende Haupt Süßes Lachen gaukelt herab, Liebe Stimme säuselt und träuft Wie die Lindenblüth’ auf ein Grab. (328) Das lyrische Ich liegt in einer Wiese und erfährt sich umfangen von der Natur. Im „süße[n] Taumel“ verschwimmen die Grenzen zwischen Ich und Umwelt. Der Vers „Tiefe Flut, tief, tief trunkne Flut“ erinnert den modernen Leser an das Gedicht Trunkene Flut von Gottfried Benn. Die Wiederholung von Wörtern (süß, tief), die Häufung des Diphthongs au („Taumel“. „Krautes“, „umhaucht“, „verraucht“, „Haupt“, „gaukelt“ und die Umlautung „säuselt“ und „träuft“) unterstützt eine für den Leser betörende Wirkung durch den Sprachklang. Die geradezu rauschhafte Erfahrung des lyrischen Ich erhält durch das Wort „Grab“ am Ende der Strophe auch eine dunklere Note; damit wird endgültig deutlich, dass es hier nicht nur um die Erfahrung idyllischer Natur geht. Die ungewöhnlichen Formulierungen „Arom“, „Azure“ und „schwimmende Haupt“ können hier, wie so oft bei Drostes Gedichten, die Frage aufwerfen, ob sich hier eine gewisse Ungeschicklichkeit oder eine besondere ästhetische Originalität zeigt. In grammatischer Hinsicht ist auffällig, dass es kein Hauptsatzprädikat gibt - in den folgenden Strophen findet sich ebenfalls kein Hauptsatz mit Prädikat. Man könnte sagen, dass diese Auflösung der grammatischen Norm der ausgedrückten Erfahrung des lyrischen Ich entspricht. Dazu wäre dann auch die offenere Reimstruktur zu zählen: Von den acht Versen pro Strophe reimen sich vier nicht. Die zweite Strophe besteht nur aus einem Wenn-Satz; sie entfaltet das halluzinatorische Bild einer Auferstehung des Vergangenen, der Gestorbenen. Die Anschaulichkeit, mit der von den sich streckenden und regenden Leichen, von den im Schutt verwühlten Schätzen der Vergangenheit und vom schüchternen Klang, wenn sich die Schätze berühren, gesprochen wird, ist von irritierender Intensität: Wenn im Busen die Todten dann, Jede Leiche sich streckt und regt, Leise, leise den Odem zieht, Die geschloss’ne Wimper bewegt, Todte Lieb’, todte Lust, todte Zeit, All die Schätze, im Schutt verwühlt, Sich berühren mit schüchternem Klang Gleich den Glöckchen, vom Winde umspielt. (328) 80 Kaspar H. Spinner Die dritte Strophe enthält mehrere Vergleiche, die die Flüchtigkeit der Stunden im Gras verdeutlichen. Aufgegriffen werden ungewöhnliche Naturbeobachtungen, beim letzten Vergleich eine Abschiedssituation, in der man den Abschied von Schücking sehen könnte: Stunden, flücht’ger ihr als der Kuß Eines Strahls auf den trauernden See, Als des zieh’nden Vogels Lied, Das mir niederperlt aus der Höh’, Als des schillernden Käfers Blitz Wenn den Sonnenpfad er durcheilt, Als der flücht’ge Druck einer Hand, Die zum letzten Male verweilt. (328) Die letzte Strophe, die die Bilder der zweitletzten aufgreift, ist inhaltlich kaum genau zu deuten, was ihrer suggestiven Wirkung keinen Abbruch tut: Dennoch, Himmel, immer mir nur Dieses Eine nur: für das Lied Jedes freien Vogels im Blau Eine Seele, die mit ihm zieht, Nur für jeden kärglichen Strahl Meinen farbig schillernden Saum, Jeder warmen Hand meinen Druck Und für jedes Glück meinen Traum. (328) Für das Verstehen dieser Strophe mag der Hinweis hilfreich sein, dass im handschriftlichen Entwurf für den ersten Vers der Strophe die Variante „Dennoch Himmel, laß es mir nur“ zu finden ist. 12 Glücksmomente sind flüchtig; das lyrische Ich, so endet das Gedicht, wünscht sich, dass sie in seinem Traum aufgehoben seien. Im Herbst 1844 reist Droste zurück nach Münster. Meersburg III: 1846-1848 Vom 1. Oktober 1846 bis zu ihrem Tod weilt Droste wieder in Meersburg, gezeichnet von ihrer Krankheit. Die literarische Produktivität ist versiegt. Allerdings ist das Konzept eines Widmungsgedichts erhalten, das Droste während ihres letzten Meersburger Aufenthaltes für eine Freundin geschrieben hat. Die erste Strophe reiht sich ein in die Gedichte, die topographisch auf die Burg bezogen sind: Auf hohem Felsen lieg’ ich hier Der Krankheit Nebel über mir Und unter mir der tiefe See Mit seiner nächt’gen Klage Weh Mit seinem Jubel seiner Lust Wenn buntgeschmückte Wimpel fliegen Mit seinem Dräu’n aus hohler Brust Wenn Sturm und Welle sich bekriegen 13 12 Droste-Hülshoff, Werke, Briefwechsel , Band I, 3, S. 1851. 13 Droste-Hülshoff, Werke, Briefwechsel , Band II, 1, S. 218. Annette von Droste-Hülshoff, Meersburger Gedichte 81 Man darf die Formulierung „Auf hohem Felsen“ metonymisch verstehen im Hinblick darauf, dass die Meersburg auf einen Felsen gebaut ist. Der See erscheint durch die ihm zugeordneten Wörter „Klage“, „Jubel“ „Lust“ und „Dräu’n“ personifiziert. Auch die Krankheit ist mit einer Metapher verbunden und topologisch eingeordnet: Als Nebel ist sie über dem lyrischen Ich situiert. Bei der Schilderung des Sees finden sich Motive wieder, die schon im Gedicht Am Thurme vorgekommen sind, so „Wimpel“ und „Welle“. Wenn man die Anfangsverse der hier zitierten Gedichte vergleicht, die topographisch als Turmgedichte bezeichnet werden können, wird - vor allem durch das jeweils verwendete Verb - eine Abfolge deutlich, die für die drei Meersburger Aufenthalte charakteristisch ist: „Ich steh’ auf hohem Balkone am Thurm“, „An des Balkones Gitter lehnte ich“ und „Auf hohem Felsen lieg ich hier“. In Mai 1848 starb Droste auf der Meersburg. Schluss Zum Schluss sei auf einen Aspekt hinwiesen, den ich bislang nur angedeutet habe, der aber zur Einschätzung der künstlerischen Leistung von Droste nicht übersehen werden soll. Droste hat mit größter Sorgfalt an der formalen Struktur ihrer Gedichte gearbeitet und eine erstaunliche Vielfalt von Formen realisiert. Keines der zehn hier ganz oder in Ausschnitten zitierten Gedichte ist, was die Kombination von Versmaß, Strophenform und Reimfolge betrifft, identisch mit einem anderen! Literaturverzeichnis Primärliteratur Freiligrath, Ferdinand von: Werke I. Hildesheim 1974. Droste-Hülshoff, Annette von: Werke, Briefwechsel . Historisch-kritische Ausgabe. Hg. Winfried Woesler. 13 Bde. Tübingen 1985. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Erster Teil. Frankfurt a. M. 1974. Sekundärliteratur Bauer Pickar, Gertrud: „‚Läßt walten die verborg’ne Kraft! ‘ Drostes Lyrik aus heutiger amerikanischer Sicht.“ Droste-Jahrbuch 4. 1997-1998 (2000): 103-126. Beuys, Barbara: „ Blamieren mag ich mich nicht.“ Das Leben der Annette von Droste-Hülshoff . München 1999. Bianchi, Bruna: „Verhinderte Überschreitung. Phänomenologie der ‚Grenze‘ in der Lyrik der Annette von Droste-Hülshoff“. Ein Gitter aus Musik und Sprache. Feministische Analysen zu Annette von Droste-Hülshoff . Hgg. Ortrun Niethammer und Claudia Belemann. Paderborn 1993. 17-34. Blasberg, Cornelia: „Am Thurme. Überkreuzstellung. Zur Dialektik von Erlebnis- und Schreibfiktion.“ Gedichte von A. von Droste-Hülshoff. Interpretationen. Hgg. Claudia Liebrand, Irmtraud Hnilica und Thomas Wortmann. Stuttgart 2014. Borchmeyer, Dieter: Des Grauens Süße. Annette von Droste Hülshoff . München 1997. Gössmann, Wilhelm: Annette von Droste-Hülshoff. Ich und Spiegelbild . Düsseldorf 1985. Heselhaus, Clemens: „Eine Drostesche Metapher für die Dichterexistenz.“ Jahrbuch der Droste- Gesellschaft 4 (1962): 11-17. Liebrand, Claudia, Irmtraud Hnilica und Thomas Wortmann (Hgg.): Redigierte Tradition. Literaturhistorische Positionierungen Annette von Droste-Hülshoffs . Paderborn 2010. 82 Kaspar H. Spinner Liebrand, Claudia und Thomas Wortmann (Hgg.): Gedichte von A. von Droste-Hülshoff. Interpretationen . Stuttgart 2014. Rölleke, Heinz: „und Bestehendes gut gedeutet“. Deutsche Gedichte vom 12. bis zum 20. Jahrhundert . Trier 2011. Schücking, Levin: Annette von Droste. Ein Lebensbild . Stuttgart 1942. Staiger, Emil: Annette von Droste-Hülshoff . Frauenfeld 1962. Suttner, Christa: „A Note of the Droste-Image and ‚Das Spiegelbild’.“ The German Quarterly 40 (1967): 623-629. von Matt, Peter: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur . München 1997. Woesler, Winfried: „Und schier zerflossen Raum und Zeit . Verortung und Entortung in der Lyrik der Droste.“ Droste-Jahrbuch 7. 2007 / 2008 (2009): 129-143. Walt Whitman, Leaves of Grass 83 Walt Whitman Leaves of Grass Hubert Zapf Walt Whitmans Leaves of Grass , das literaturgeschichtlich von nicht zu überschätzender Bedeutung ist, hat hierzulande eher weniger Beachtung gefunden und dürfte einem breiteren Publikum weniger bekannt sein als Vertreter der Erzählliteratur der Zeit wie etwa Edgar Allen Poe oder Herman Melville. Whitman ist aber nicht nur für die amerikanische Literatur, sondern weit darüber hinaus eine prägende Figur und deshalb ist es an der Zeit, dass er auch in dieser Vorlesungsreihe, die großen Werken der Literatur gewidmet ist, zu Wort kommt - und dies durchaus auch „wörtlich“ genommen, denn ich werde in meinem Beitrag immer wieder ausführlich aus seinen Texten zitieren, um den unverwechselbaren persönlichen Klang und Rhythmus, den speziellen sound und polyphonen, teilweise fast jazzigen oder rap-artigen, dann aber auch wieder prophetisch-hymnischen oder melancholisch-elegischen Ton von Whitmans Lyrik zumindest anzudeuten. Ich kann und werde in meinem Beitrag nicht auf Leaves of Grass als Ganzes eingehen, sondern mich auf sein erstes größeres Gedicht, „Song of Myself “ beziehen, an dem bereits grundsätzliche Merkmale seiner Poetik sehr deutlich ausgeprägt sind, und werde dabei in folgenden Schritten vorgehen: 1. Einige kurze Bemerkungen zu maßgeblichen Einflüssen und zur Biographie des Autors geben. 2. Den amerikanischen Transzendentalismus als zentralen Einfluss herausgreifen, von dem Whitman maßgeblich geprägt war. 3. Die Poetik Whitmans als kreative Rezeption und radikale Erweiterung des transzendentalistischen Denkens und Schreibens interpretieren, und 4. Einige Deutungsansätze erwähnen und in aller Kürze eine kulturökologische Perspektive auf sein Werk skizzieren. 1. Einflüsse und Biographie Ein wichtiger Einfluss, der bei allen Autoren in je unterschiedlicher Weise eine Rolle spielt, aber bei Whitman besonders stark und bewusst in die Konzeption der Literatur einfließt, ist die konkrete eigene Lebenserfahrung als in Long Island geborener und in Brooklyn aufgewachsener Sohn New Yorks, der seine poetische Identität explizit aus dieser Herkunft herleitet: „Walt Whitman, a kosmos, of Manhattan the son,“ sagt er von sich als Sprecher seines ersten erfolgreichen Langgedichts „Song of Myself,“ in dem das persönliche Ich unmittelbar zum Sprachrohr des poetischen Ichs wird, und fährt an der genannten Stelle fort: „turbulent, fleshy, sensual, eating, drinking and breeding,“ (SoM 24) , „I, now thirty-seven years old in perfect health begin“ (SoM 1) womit er sein reales Selbst in seiner unverwechselbaren körperlich-geistigen Individualität zum Ausgangspunkt seiner Dichtung macht. Das Leben selbst wird zum Thema, Medium und kreativen Energiepotential der Literatur. Walt Whitman, geb. 1819 und gest. 1892, war zunächst als Druckergehilfe, Zeitungsreporter, Zimmermann, Lehrer und Immobilienhändler tätig und politisch in der Freesoiler 84 Hubert Zapf Bewegung engagiert, die die Ausbreitung der Sklaverei in die neuen Gebiete im Westen bekämpfte. Er sammelte also Erfahrungen aus den verschiedensten Bereichen der amerikanischen Gesellschaft und insbesondere der Gesellschaft von New York, in der er die ersten prägenden Jahrzehnte seines Lebens verbrachte, unterbrochen zunächst nur von einem kurzen Aufenthalt als Journalist in New Orleans, wohin er 1848 mit seinem Bruder für einige Monate gereist war. Erst als gut Vierzigjähriger, nach dem Beginn des Bürgerkriegs, reiste er von New York zuerst nach Virginia, danach nach Washington, wurde in Lazaretten unmittelbar mit dem durch Krieg verursachten Leiden konfrontiert und führte nach dem Ende des Bürgerkriegs in Washington seine journalistische Tätigkeit fort. Nach einem Schlaganfall zog er sich nach Camden, New Jersey zurück, umgeben von einer Gruppe von Freunden, schrieb dort weiterhin Gedichte, aber auch politische Traktate, und bereitete, nunmehr weitaus stärker anerkannt als je zuvor, sein Gesamtwerk für die autoritative Ausgabe letzter Hand vor. All diese Erfahrungen persönlichen Schicksals und nationaler Umbrüche bezog er in ihrer Vielfalt, Konkretheit und Detailgenauigkeit in seine Texte ein, woraus sich nicht zuletzt deren Merkmale der extremen Vielgestaltigkeit, Materialfülle und unbegrenzten Realitätsoffenheit ergeben, die zugleich eine demokratische Poetik der Inklusion des gesellschaftlich Marginalisierten und Ausgegrenzten bedingen und ein übergreifendes Engagement für die Ideen von radikaler Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie in die Texte einschreiben. Unter dem Einfluss der amerikanischen Populärkultur waren schon Whitmans erste literarische Versuche gestanden, die aus eher konventioneller Dichtung bestanden sowie u. a. aus einem didaktisch-melodramatischen Traktat im Stil der zeitgenössischen Temperenzbewegung, d. h. der Kampagne gegen den Alkoholmissbrauch, die sich in Populärromanen nach dem Muster der „first glass to grave“-Struktur manifestierte, d. h. einer Struktur, die schon den Genuss eines Glases Alkohol als erste Stufe zur moralischen Verkommenheit und zum frühen Tod darstellte. Neben der Populärliteratur speiste sich Whitmans Entwicklung zum Autor aber auch aus anderen Quellen, etwa seiner journalistischen Tätigkeit, die ihn wie im Reporterstil die heterogene Vielfalt der amerikanischen Realität gleich einer unversiegbaren, stets brandaktuellen Nachrichtenflut in die Texte einbringen ließ, in denen in endlosen, teilweise katalogartig verdichteten Variationen das Alltagsleben des Durchschnittsmenschen beschworen wird, das gleichberechtigt neben die Geschäfte der Mächtigen tritt; beeinflusst ist er aber auch von der Naturwissenschaft der Zeit, deren neueste Erkenntnisse er bruchlos seinen poetischen Erkundungen der Gegenwart einverleibt, andererseits aber auch von der Literatur und Kultur der Native Americans, deren Ortsnamen er teilweise in seine Texte übernimmt wie am Beispiel von Long Island, das er Paumanok nennt; ebenso auch von asiatischer Mystik, aber auch von der literarischen Tradition Europas seit der Antike, insbesondere von Homer, der Bibel, Dante, Shakespeare und den englischen Romantikern, allen voran John Keats, sowie nicht zuletzt von der deutschen Klassik und idealistischen Philosophie, vor allem Goethe, Hegel und Schelling, und schließlich auch - ein oft vernachlässigter, aber nicht zu unterschätzender Einfluss - von Musik und italienischer Oper. Gilt also Walt Whitman gemeinhin als erster ‚amerikanischer‘ Dichter par excellence , der mit seinem bisherige Dichtungskonventionen sprengenden free verse das Freiheits- und Unabhängigkeitsstreben der amerikanischen Kultur gegenüber der europäischen Tradition poetisch inkarnierte, so bleibt er doch bei aller Rhetorik der Innovation zugleich in vielerlei Hinsicht jener Tradition bewusst. Er ist eben nicht nur, wie es lange Zeit propagiert wurde, Walt Whitman, Leaves of Grass 85 exklusiv als Repräsentant der amerikanischen Nationalliteratur zu sehen, sondern als ein von Anfang an auch transnational und transkulturell aufgestellter Autor, der seine Inspiration sowohl vom neuen amerikanischen Kontinent und seiner Bevölkerung gewann, als auch vom kreativen Potential einer transatlantischen Literatur- und Kulturgeschichte, die er seiner letztlich an ein globales Publikum gerichteten neuen Form der Dichtung anverwandelte. These are really the thoughts of all men in all ages and lands, they are not original with me, If they are not yours as much as mine they are nothing, or next to nothing, […] This is the grass that grows wherever the land and the water is, This is the common air that bathes the globe. (17) 1 Auch am Beispiel Whitmans, dieses scheinbar so ur-amerikanischen Autors, zeigt sich wieder ein Phänomen, das im Rahmen dieser Ringvorlesung immer wieder deutlich wurde, nämlich dass die Signatur ‚großer Werke‘ der Literatur ihre nicht allein nationale, sondern transnationale und transkulturelle Kodierung ist. Dies wird nicht zuletzt auch an der enormen Nachwirkung Whitmans deutlich, der einerseits eine eigenständige amerikanische Tradition begründete, die über Modernisten wie William Carlos Williams oder Wallace Stevens hin zur Postmoderne und die Beat Poets um Allan Ginsberg ungebrochen bis in die Gegenwart reicht, andererseits aber auch die europäische und lateinamerikanische Literatur der Moderne stark mitprägte. Das heißt nicht, dass die lokale und nationale literarische und kulturelle Prägung seiner Dichtung, gerade auch in der besonderen Art und Weise, wie transnationale Einflüsse aufgenommen und transformiert werden, nicht auch charakteristische und distinktive Züge gewinnt. Dies lässt sich besonders deutlich an der Bedeutung des amerikanischen Transzendentalismus für Whitman erkennen, einer literarisch-intellektuellen Strömung, die sich zwischen den späten 30er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Zeit der so genannten American Renaissance herausbildete und die sich, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der politischen Unabhängigkeit, nunmehr auch die kulturelle Unabhängigkeit der USA gegenüber der Alten Welt auf die Fahnen schrieb. Und es war vor allem der Einfluss des Transzendentalismus und seines Hauptvertreters Ralph Waldo Emerson, der den Schritt von der sozialen und literarischen Inkubationsphase des frühen Whitman hin zur Produktion ‚großer Literatur‘ bewirkte, den der Autor im Jahr 1855 mit der Publikation der ersten Gedichtsammlung Leaves of Grass tat, aus der dann im Lauf der Zeit das Gesamtwerk erwuchs. Es ist daher hilfreich, ja unverzichtbar für das Verständnis dieses Schritts von konventioneller Literaturproduktion zur kreativen literarischen Selbstfindung Walt Whitmans, diesen Einfluss und seine Auswirkungen auf Whitmans dichterische Praxis näher zu beleuchten, was ich im Folgenden tun möchte. 2. Der amerikanische Transzendentalismus und Walt Whitman Der amerikanische Transzendentalismus war eine hierzulande eher weniger bekannte, für die Literatur- und Kulturgeschichte der USA jedoch ganz zentrale intellektuelle und literarische Bewegung zwischen den späten 30er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, die 1 Vgl. Whitman, Walt: „Song of Myself “. Leaves of Grass . The 1892 Edition . Introduction by Justin Kaplan. New York: 1983. Teil 17. Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden in Klammern im Text angegeben. 86 Hubert Zapf dem typischen Reformgeist der Zeit vor dem Bürgerkrieg, der so genannten antebellum period , in verschiedensten Richtungen kulturellen Ausdruck gab - etwa im Bereich der Frauenrechtsbewegung durch Margaret Fuller, die ein wegweisendes Manifest über die neue, gleichberechtigte Frau mit dem Titel Woman in the 19 th Century schrieb; im Bereich der Pädagogik durch Bronson Alcott, der dem vorherrschenden autoritären Erziehungsstil die Idee des inneren, organischen Wachstums des Kindes gegenüberstellte; im Bereich des Abolitionismus durch Theodore Parker, der aktiv zum Boykott des Fugitive Slave Law beitrug, d. h. des Gesetzes, das auch in den Nordstaaten alle Bürger dazu verpflichtete, entlaufene Sklaven aus den Südstaaten wieder deren ‚rechtmäßigen‘ Besitzern zuzuführen; im Bereich der Sozialkritik und des Entwurfs alternativer Gesellschaftsmodelle durch sozialistische Ideen bei Orestes Brownson oder die Gründung der Brook Farm Community durch George Ripley, einem sozialutopischen Experiment, bei dem eine ideale Balance zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität angestrebt wurde; sowie nicht zuletzt im Bereich der Ökologie durch Henry David Thoreau, der in seinem Essay-Roman Walden, or, Life in the Woods mit der Darstellung seines Aufenthalts in einer selbstgebauten Hütte am Walden Pond zum Pionier des amerikanischen nature writing und einer gerade in letzter Zeit im Ecocriticism in den Fokus rückenden ökologischen Traditionslinie der amerikanischen Literatur wurde. All diese Ideen und thematischen Schwerpunkte wurden in den Texten der Transzendentalisten zugleich zur Grundlage einer neuen Literatur gemacht, die sich bei Whitman in poetischer Form äußerte und in der sich denn auch die Spuren dieser verschiedenen Reformbewegungen und -ideen unverkennbar wiederfinden. Der Transzendentalismus war allerdings weniger eine politisch-soziale als eine literarisch-intellektuelle Bewegung, die sich einerseits von Europa, andererseits von der amerikanischen Geistesgeschichte absetzte, namentlich von Puritanismus und Unitarismus, die sich im Verbund mit dem Lockeschen Empirismus und Rationalismus im Lauf des 18. bis zum frühen 19. Jahrhundert zur prägenden Epistemologie und intellektuellen Weltanschauung in Neuengland entwickelt hatten. Der Dialog mit der deutschen Philosophie sowie der Literatur von Goethe zu den Romantikern, war für den Transzendentalismus in vielerlei Hinsicht prägend, sowohl was Kontinuitäten als auch was neue Entwicklungen anbelangt. Der Name der eher lockeren Gruppe von Intellektuellen war von der deutschen Transzendentalphilosophie abgeleitet, wobei der Begriff ‚transzendental‘ allerdings seine ursprüngliche Bedeutung bei Kant als einer der Erfahrung gerade entzogenen Kategorie verlor und, in einer charakteristisch pragmatischen Wendung, zu einer Kategorie der erlebbaren Realität selbst erklärt wurde. Wichtig wurde hierbei vor allem die Kantsche Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft, zwischen understanding und reason. Sie nämlich lieferte die Möglichkeit, dem als uninspiriert, mechanisch und instrumentell geltenden Wirklichkeitszugang des Lockeschen Empirismus und unitarischen Rationalismus - des „corpsecold Unitarianism,“ wie Emerson ihn bezeichnete, einen gehaltvolleren, lebendigeren und kreativeren Wissensbegriff entgegenzustellen, der sich nicht nur auf die messbare und beobachtbare Welt des Verstandes, understanding , sondern auf eine vital mit dem Subjekt, aber auch mit dem Projekt der amerikanischen Demokratie verknüpften höheren Bereich der Vernunft, reason, bezog. Zugleich boten Ansätze der deutschen Romantik zur Verbindung naturwissenschaftlichen und poetischen Wissens wie in Schlegels progressiver Universalpoesie, Novalis‘ Konzept des ‚Übergangs‘ oder Schellings gegen die spaltend-atomisierende Haltung der positivistischen Wissenschaften gerichtete organisch-dynamische Walt Whitman, Leaves of Grass 87 Epistemologie der ‚Wechselwirkung‘ Modelle für eine Integration philosophischer, naturwissenschaftlicher, religiöser und poetischer Diskurse, wie sie für die Texte der Transzendentalisten charakteristisch ist. Dabei ging es nicht zuletzt auch darum, gegen einen instrumentellen, objektivierenden Begriff der Natur als bloß passiver Materie im Sinn einer natura naturata die Auffassung einer lebendigen, generativen Natur im Sinn einer natura naturans zur Geltung zu bringen und neu zu aktualisieren. Will man eine charakteristische Denkfigur der Transzendentalisten identifizieren, wie sie bei Emerson grundgelegt ist, so könnte man sie als eine triadische Relation von self, nature , und oversoul beschreiben, von Selbst, Natur und Überseele. Eine Quelle dafür mögen Kants regulative Prinzipen der Vernunft gewesen sein, Seele, Welt und Gott. Allerdings gewinnen diese Abstrakta im Transzendentalismus eine personale, konkret-naturhafte und pantheistisch-immanente Bedeutung und fließen zu einer das Subjekt wie die Natur durchwaltenden kosmologischen Kraft und produktiven Energie zusammen. Emerson beschwor in seinen Essays das Zusammenwirken dieser Kräfte als die Grundlage sowohl des Denkens und der Wissenschaft als auch der Gesellschaft und Kultur und schließlich eben auch der Literatur, die auf dieser Grundlage eine neue Form der Textualität und Ästhetik schuf. In Essays wie „Nature,“ „The American Scholar,“ „Self-Reliance“ oder „The Poet“ legte Emerson diesen Gedanken einer bis dahin ungekannten, durch die Verbindung von Selbsterkenntnis und Naturerfahrung ermöglichten Selbstermächtigung des Individuums nicht nur inhaltlich dar, sondern setzte sie auch in eine appellkräftige Form des philosophisch-rhetorischen Diskurses und der öffentlichen Rede um, in der die Kraft der Sprache und der Bilder selbst ein Teil der welt- und selbstverändernden Energie wurde, die die Texte im Sinn der kulturellen Selbstfindung des Individuums und der neuen Nation freizusetzen beabsichtigten. Es war gerade dieses radikal offene Schreiben und Denken, diese Idee einer produktiven Kraft und einer am ständigen Werden statt am scheinbar feststehenden Sein orientierten lebendigen Kultur, einer Kraft des Wandels und der fortwährenden Hervorbringung, die Whitman so stark an Emerson faszinierte - wie später übrigens auch, als Geistesverwandten jenseits des Atlantiks, Friedrich Nietzsche. Emerson war es denn auch, dem gegenüber Whitman sich als neue Stimme der amerikanischen Literatur präsentierte. Er sah sich als denjenigen, der die Ideen über den neuen Typus des amerikanischen Dichters, die Emerson in seinem Essay „The American Poet“ entwickelt hatte, in seinen Texten erstmals in gültiger Weise einlöste. Whitman hatte ihm die Gedichtsammlung Leaves of Grass geschickt, und in einem Brief an Whitman vom 21. 7. 1855 hatte sich Emerson sehr anerkennend ausgesprochen: I am not blind to the worth of the wonderful gift of "Leaves of Grass." I find it the most extraordinary piece of wit and wisdom that America has yet contributed. I am very happy in reading it, as great power makes us happy. It meets the demand I am always making of what seemed the sterile and stingy nature, as if too much handiwork or too much lymph in the temperament were making our Western wits fat and mean. I give you joy of your free and brave thought. I have great joy in it. I find incomparable things said incomparably well, as they must be. I find the courage of treatment, which so delights us, and which large perception only can inspire. I greet you at the beginning of a great career, which yet must have had a long foreground somewhere for such a start. I rubbed my eyes a little to see if this sunbeam were no illusion; but the solid sense of the book is a sober certainty. It has the best merits, namely of fortifying and encouraging. 2 2 http: / / www.whitmanarchive.org/ published/ LG/ 1856/ poems/ 33 88 Hubert Zapf Nicht autorisiert von Emerson, verbreitete Whitman diesen Brief in der literarischen Szene, woraufhin sich Emerson deutlich wieder von seinem anfänglichen Enthusiasmus distanzierte, nicht zuletzt wohl weil Whitmans Gedichte in der Öffentlichkeit z. T. heftige Kritik wegen ihrer ungewohnten, scheinbar strukturlosen Form und ihrer ebenso ungewohnten Offenheit der Darstellung, insbesondere im Bereich der Sexualität, auslösten. Dennoch ist klar, dass Emersons Einfluss wesentlich für die Poetik Whitmans ist. Leaves of Grass ist, wie die Notebooks , aus denen Emerson seine Essays verfasste, ein eng mit dem eigenen Leben verwobener, dem spontanen Erlebnis- und Reflexionsprozess des souveränen Selbst entspringender Text. Das Korpus der Gedichte wächst als Lebenstext mit den Gedanken und Erfahrungen des Autors und spiegelt sowohl biographische Entwicklungen und Brüche wie politisch-soziale Verwerfungen, Krisen und Konflikte wider wie etwa Arbeitsverhältnisse und Urbanisierung, Einwanderung und Multikulturalität, Demokratiebewegung und Bürgerkriegstrauma, Gesundheit und Krankheit, Erfolg und Scheitern. In den nachfolgend diskutierten Merkmalen von Whitmans Werk versuche ich nicht nur die gedankliche Struktur, sondern den Prozess des „Song of Myself “ mitzuvollziehen, der auf einer zentralen Ebene seiner semantischen Tiefenstruktur als kreative Auslegung und Anverwandlung transzendentalistischer Ideen lesbar ist. Gleich zu Beginn des Textes, mit dem Whitman erstmals mit seiner neuen Stimme als authentisch-amerikanischer Dichter an die Öffentlichkeit tritt, wird dies deutlich: I celebrate myself, and sing myself, And what I assume you shall assume, For every atom belonging to me as good belongs to you. I loafe and invite my soul, I lean and loaf at my ease observing a spear of summer grass. My tongue, every atom of my blood, form’d from this soil, this air, Born here of parents born here from parents the same, and their parents the same, I now thirty-seven years old, in perfect health begin, Hoping to cease not till death. Creeds and schools in abeyance, Retiring back awhile sufficed at what they are, but never forgotten, I harbor for good or bad, I permit to speak at every hazard, Nature without check with original energy. (SoM 1) Das Gedicht beginnt mit einer Feier des Ichs, einem Fest der Sprache und des Gesangs, das das individuelle Selbst wie nie zuvor ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, und das doch schon in der zweiten Zeile den Leser mit in diese dionysische Selbstaffirmation einbezieht. Der „song of myself “ ist gleichzeitig ein „song of yourself,“ also dialogisch angelegt, und die Basis dieser Dialogizität ist nicht nur eine geistige Gemeinsamkeit, sondern die geteilte physisch-materielle Wirklichkeit, die der menschlichen wie der nichtmenschlichen Natur zugrunde liegt („every atom belonging to me as good belongs to you“). Geradezu provokativ und der vorherrschenden amerikanischen Arbeitsethik entgegengesetzt ist die Haltung des Müßiggangs und der meditativen Selbstversenkung in die Beobachtung eines Grashalms, zu der in der zweiten Strophe das leibliche Ich die Seele einlädt aus einem „Sinnbewusstsein des Leibes“ heraus, wie Gernot Böhme sagen würde, in dem Erfahrung und Erkenntnis eben gerade nicht allein aus einer intellektuellen, sondern ganzheitlich-sinnlichen Walt Whitman, Leaves of Grass 89 Austauschbeziehung des Subjekts mit der Welt erwachsen. 3 Dies ist synekdochisch an der Zunge als Organ der sprachlichen Artikulation und des Bluts als lebenserhaltender Körperflüssigkeit ausgedrückt, die sich aus konkreten Umweltbedingungen - Boden, Luft - sowie biologischen Herkunftsbedingungen ausprägen und in ihrem Zusammenwirken zur unverwechselbaren Individualität des Sprechers führen, der wiederum eben diese Bedingungen seiner kontinuierlichen Selbstwerdung zu seinem Hauptthema macht. Die in der vierten Strophe erwähnten Einflüsse von Schule und Glaube, d. h. von zivilisatorischen Institutionen der Sozialisation, des Wissens und der Religion, sind Stationen dieser Selbstwerdung, die im doppelten Sinn aufzuheben, d. h. zu überwinden und gleichzeitig zu bewahren sind auf dem Weg zu einer radikal offenen, unzensierten und riskanten Form des Lebens und der Dichtung, die sich unmittelbar aus den Energien der vorzivilisatorischen Natur selbst speist. Betrachtet man diese Stelle und das Gedicht als Ganzes unter dem Aspekt der zuvor genannten triadischen Denkfigur des Transzendentalismus, self, nature und oversoul , so ist diese hier und durchgängig als generative Signatur im Text präsent. Zugleich treten aber auch die Unterschiede deutlich hervor, die erst das distinktive Profil von Whitmans Poetik ausmachen. Gehen wir die drei Aspekte in diesem Sinn genauer durch. 3. Die Triade von Self, Nature und Oversoul 3.1. Self Expansiver Individualismus Wie schon gesehen, gewinnt das Selbst bei Whitman eine bis dahin nicht gekannte Statur. Es wird zum schöpferischen Mittelpunkt der Welt und der Dichtung, in der sich geradezu triumphal Emersons Idee der self-reliance als Prinzip literarischer Produktivität manifestiert. Emerson hatte diese Idee u. a. von Johann Gottlieb Fichte und dessen subjektivem Idealismus übernommen, nach dem das Ich der Wirklichkeit nicht als einem äußeren Nicht- Ich gegenübersteht, sondern dieses in einer souveränen Tathandlung des Ichs aus sich selbst erzeugt, und hatte sie zu einem Zentralkonzept in seiner ‚intellektuellen Unabhängigkeitserklärung‘ Amerikas gemacht, wie sein Essay „The American Scholar,“ „Der amerikanische Gelehrte,“ bezeichnet worden ist. Zur selben Zeit, als im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft der self-made man als Ideologem des amerikanischen Individualismus erstmals massiv propagiert wurde, wurde auch im intellektuellen Bereich nicht länger das abstrakte erkenntnistheoretische oder ethische Subjekt der europäischen Tradition, sondern die konkrete selbstbegründete Individualität zum Kernpunkt einer konstruktivistischpragmatischen amerikanischen Literatur und Philosophie. Der Bezug zur Transzendenz verlagert sich von den Institutionen in die Nation, die Natur und ins einzelne Individuum. Bei Whitman ist diese neue Mittelpunktstellung des individuellen Ichs, wie gesagt, sehr offenkundig, ja teilweise überdimensional ausgeprägt. Da das Ich im Austausch mit der Natur unmittelbar an der Oversoul , d. h. am Göttlichen Anteil hat, trägt folglich auch das Ich selbst einen göttlichen Funken in sich, ja ist seinem innersten Wesen und Potential nach göttlich. „Divine am I inside and out,“ (24) „taking myself the exact dimensions of Jehovah“ (41). 3 Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik . Frankfurt: Suhrkamp, 1998. 90 Hubert Zapf Selbst und Anderes: Dialogizität und Vielstimmigkeit des Selbst Wie aber eben schon gesehen, verbindet sich dieser expansive, mitunter gigantomanisch ausufernde Individualismus von Anfang an mit einer konstitutiven Beziehung zum Du, die jeder festen Abgrenzung des individuellen Selbst vom Anderen zuwiderläuft und vielmehr gerade die interpersonale Relation als notwendiges Element und Medium personaler Identität etabliert. Und hierin liegt ein erster wichtiger Unterschied zu Emerson und anderen Transzendentalisten wie etwa Thoreau, nämlich dass deren starke Betonung individualistischer self-reliance bei Whitman dialogisch und intersubjektiv ausgeweitet wird auf die explizit mitgedachte Ko-Präsenz des Anderen im Text, zum einen des Lesers als eines immer wieder direkt angesprochenen und einbezogenen Adressaten, zum andern der im Text imaginierten Bezüge des poetischen Ichs zu anderen Figuren, die in ihrer je unverwechselbaren Individualität zugleich Teil eines unauflöslichen kommunikativen Beziehungsnetzwerks sind, das den poetischen Prozess ebenso sehr mitbestimmt wie die Stimme des Sprechers. Tatsächlich nimmt dieser im Verlauf immer neue Rollen und Identitäten an, in die er sich hineinversetzt und durch die er ein breites Spektrum der amerikanischen Gesellschaft in das ‚Lied seiner selbst‘ hineinbringt, das damit zum vielstimmigen Gesang seiner Zeit und Kultur wird. I am of old and young, of the foolish as much as the wise, Regardless of others, ever regardful of others, Maternal as well as paternal, a child as well as a man, Stuff’d with the stuff that is coarse and stuff’d with the stuff that is fine. One of the Nation of many nations, the smallest the same and the largest the same […]. (SoM 16) And these tend inward to me, and I tend outward to them And such as it is to be of these more or less I am, And of these one and all I weave the song of myself. (37) Diese Struktur fortlaufender Identifikationen schreibt die Haltung einer empathetischen Imagination als ein Hauptmerkmal in Whitmans Gedichte ein, die sich prinzipiell auf alle Mitglieder, insbesondere aber auch auf die Außenseiter der Gesellschaft, die Unterdrückten und die Verlierer des amerikanischen Traums bezieht. Solidarisches Selbst Dem Erfolgs- und Konkurrenzdruck der amerikanischen Gesellschaft, der Menschen nach ihrer sozialdarwinistischen Durchsetzungsfähigkeit und ihren materiellen Lebensverhältnissen bewertet, aber jenseits glitzernder Fassaden zahllose gescheiterte Existenzen produziert, wird bei Whitman eine Poetik der Solidarität gegenübergestellt. Der Exklusivität sozialer Strukturen wirkt eine unbedingte Inklusivität entgegen, die die Idee der Demokratie in die Ästhetik des Textes hineinnimmt. Whitman ist nicht so explizit sozialkritisch wie etwa Thoreau, der Kapitalismus, Selbstentfremdung des Menschen, Sklaverei und Naturausbeutung in scharfer, oft satirischer Form anprangert. Aber gerade in seiner Haltung der Inklusivität und bedingungslosen Affirmation liegt eine grundsätzliche Herausforderung des Erfolgsdenkens und der amerikanischen work ethic , aber auch des Geltungsanspruchs viktorianischer Macht- und Moralstrukturen. Gerade die sozial Ausgegrenzten, Erniedrigten und im Leben Gestrandeten werden in diesen appellkräftigen Imperativ universaler Anerkennung einbezogen. Walt Whitman, Leaves of Grass 91 Der Sprecher versetzt sich hinein in entlaufene Sklaven, die vor den Hunden der Sklavenjäger flüchten, in Kranke und Selbstmörder, in Opfer von Krieg und Gewalt. Die Toten werden ins Leben zurückholt, die Opfer werden in den Gesang dieses vielstimmigen Selbst einbezogen: I am the mash’d fireman with breast-bone broken, Tumbling walls buried me in their debris […]. (SoM 33) Der amerikanische Erfolgsmythos wird umgekehrt zum Hymnus auf die Gescheiterten: Vivas to those who have fail‘d! (18) Das soziale Prekariat wird einbezogen: This is the meal equally set, this the meat for natural hunger, It is for the wicked just the same as the righteous, I make appointments with all. I will not have a single person slighted or left away, The kept-woman, sponger, thief, are hereby invited […]. (19) In all people I see myself, none more and not one a barley-corn less, And the good or bad I say of myself I say of them. (20) Grenzen und Trennlinien werden niedergerissen wie in der folgenden, von Freiheitspathos überschießenden Stelle: Unscrew the locks from the doors! Unscrew the doors themselves from their jambs! Whoever degrades another degrades me, And whatever is done or said returns at last to me. […] I speak the pass-word primeval, I give the sign of democracy, By God! I will accept nothing which all cannot have their counterpart of on the same terms. (24) Das bisher nicht Sprach- oder Gesellschaftsfähige wird poetisch nobilitiert: Through me many long dumb voices, Voices of the interminable generations of prisoners and slaves, Voices of the diseas’d and despairing and of thieves and dwarfs, Voices of cycles of preparation and accretion, And of the threads that connect the stars, and of wombs and of the father-stuff, And of the rights of them the others are down upon, Of the deform’d, trivial, flat, foolish, despised, Fog in the air, beetles rolling balls of dung. Through me forbidden voices, Voices of sexes and lusts, voices veil’d and I remove the veil, Voices indecent by me clarified and transfigur’d. (24) Selbst und (Gender-)Diversität Das individuelle Selbst weitet sich also zur Gesellschaft, ja zur Menschheit als ganzer aus, deren unzensiertes Sprachrohr der Dichter wird. Das Ich wird pluralisiert und zum Ort einer potentiell unbegrenzten inneren Diversität, die der äußeren Diversität der sozialen und natürlichen Welt korrespondiert. „I resist any thing better than my own diversity“(37). 92 Hubert Zapf In diesen Zusammenhang gehört auch Whitmans höchst bemerkenswerte und für die Zeit ebenfalls ungewöhnliche Haltung gegenüber Geschlechterrollen. Trotz der maskulin konnotierten Rolle seines poetischen Ichs bezieht Whitman immer wieder explizit die Frauen in seine verallgemeinernden Aussagen über die Menschen ein und weist ihnen einen gleichberechtigten Platz in Gesellschaft, aber auch im Hinblick auf die geistig-körperliche Potentialität zu, die er in jedem Menschen angelegt sieht. I am the poet of the woman the same as the man. And I say it is as great to be a woman as to be a man And I say there is nothing greater than the mother of men. (SoM 21) Oder: And I say to any man or woman, Let your soul stand cool and composed before a million of universes. (48) Oder: In the faces of men and women I see God, and in my own face in the glass. (48) Gerade in der viktorianischen Epoche waren die Geschlechterrollen klar definiert und hierarchisch festgeschrieben, und die Frau wurde nicht nur auf eine häusliche, sondern auf eine spirituell-emotionale Rolle festgelegt, während Whitman ihr eine ebenso freie und selbstbestimmte Sexualität zugesteht wie dem Mann. Without shame the man I like knows and avows the deliciousness of his sex, Without shame the woman I like knows and avows hers. 4 Die Differenz der Geschlechter wird aus einer binären Hierarchiebeziehung zu einer Beziehung wechselseitiger Anerkennung gemacht, und Frauen sind selbstverständlicher Teil des Projekts menschlicher Selbsterweiterung und Selbststeigerung, das Leaves of Grass auf geistiger, aber auch auf sinnlich-körperlicher Ebene anstrebt. Auch wenn Whitmans Frauenbild in manchem zweifellos unvermeidlich vom Geschlechterdiskurs seiner Epoche beeinflusst war, ging er doch in erstaunlichem Maß darüber hinaus. Whitman, der seine Homosexualität für die Verhältnisse der Zeit nur wenig verbarg, schrieb diese sehr offen in seine Texte ein und wurde dadurch zu einem der Kronzeugen von Gay and Queer Studies seit den 1970er Jahren. Soziale und biologische Aspekte mischen sich in wiederkehrenden Variationen zu einer fluiden, binäre Grenzen überschreitenden polymorphen Sexualität, in der autoerotische, hetero- und homoerotische Motive ineinander fließen. Das transzendentale Selbst, das bei Emerson eine rein geistige und auch bei Thoreau eher eine meditativ-spirituelle Statur hatte, gewinnt bei Whitman ganz konkrete körperliche Präsenz. Der Körper, der zuvor im Transzendentalismus und im größeren Diskurszusammenhang der viktorianischen Kultur eher abwesend war, wird bei Whitman in aller Konsequenz in den poetischen Sinnstiftungsprozess einbezogen. 4 Vgl. Whitman, Walt. „A Woman Waits for Me“. Leaves of Grass . The 1892 Edition . Mit einer Einleitung von Justin Kaplan. New York 1983. 87 Walt Whitman, Leaves of Grass 93 3.2. Nature Aufwertung des Leibes Die literarische Entdeckung und Aufwertung des Leibes ist mithin ein weiterer Punkt, in dem Whitman sich von den Transzendentalisten absetzt, von denen er so wesentlich beeinflusst war. Dies wird in seiner berühmten Selbstbeschreibung zum Programm: I am the poet of the Body and I am the poet of the Soul, The pleasures of Heaven are with me and the pains of hell are with me, The first I graft and increase upon myself, the latter I translate into a new tongue. (SoM 21) Die Auffassung der Natur bei Emerson und auch bei Thoreau war eher die einer äußeren Natur, mit der der Mensch zwar in geistiger, moralischer, emotionaler und ästhetischer Wechselwirkung stand, die aber nicht als Teil des Menschen selbst als leiblich-kreatürliches Wesen in den Blick rückte. Bei Whitman hingegen wird dies in aller Konsequenz vollzogen im Sinn von Leiblichkeit als „die Natur, die wir selbst sind,“ wie Gernot Böhme dies nennt, im Unterschied zur „Natur, die wir nicht selbst sind.“ 5 Bei Whitman werden alle physiologischen Merkmale und Funktionen des Körpers, auch in ihren vermeintlich niedrigen oder anstößigen Aspekten, in den poetischen Prozess und in die Sakralisierung des Natürlichen einbezogen: The scent of these arm-pits aroma finer than prayer Whatever goes to the filth of me it shall be you. (24) Oder am Ende von „Song of Myself“: I bequeath myself to the dirt to grow from the grass I love, If you want me again look for me under your bootsoles. (52) Wird also der Körper oder der Leib als Teil der menschlichen Natur in den Dichtungsbegriff Whitmans einbezogen, so spielt die Natur in einem umfassenderen Sinn in seinem Werk eine zentrale Rolle als Quelle der sich ständig erneuernden und auch geistig-kulturelle Prozesse erst ermöglichenden Lebensenergie, wie sie in der triadischen Denkfigur der Transzendentalisten das Wechselspiel zwischen Selbst, Natur und Geist bestimmt. „Nature without check with original energy,“ die wie in einem modernen Musenanruf am Beginn des “Song of Myself ” beschworene Schaffens- und Inspirationskraft des Dichters, wird bei Whitman ganz radikal als diese alles bewegende, hervorbringende und transformierende Kraft gesehen, wie sie Emerson eher begrifflich-konzeptuell formuliert und Thoreau als ökologisches Prinzip seiner Mensch-Natur-Erkundungen umgesetzt hatte. Zentralsymbol des Grases Wenn in Thoreaus Walden der See das Zentralsymbol dieser Naturbeziehung ist, so ist es bei Whitman zweifellos das Gras, von dem seine Gedichtsammlung ihren Titel bezieht. Die Blätter sind dabei semantisch doppelt konnotiert, einmal als reale Blätter und Grashalme, zum anderen als die Blätter des Buchs, in dessen sprachliche Form sich die Energien der Natur im Dichtungsprozess verwandeln, stets mit der Implikation, dass sich Sprache und Leben, Kultur und Natur in diesem Prozess der Transformation immer wieder aufeinander 5 Böhme, Gernot. Für eine ökologische Naturästhetik . Frankfurt 1989. 94 Hubert Zapf zurückbeziehen. Diese doppelte Bedeutung, die eine reflexive Austauschbeziehung zwischen Text und Leben beinhaltet, kommt in den beiden Varianten der deutschen Übersetzung zum Ausdruck, die einmal als Grashalme (1904) und in der neuen Übersetzung beim Hanser Verlag 2003 als Grasblätter betitelt wurde. Semantische Vieldeutigkeit und poetologisches Symbol Das Blatt als Symbol poetischer Produktivität, die sich in Analogie zu naturhaften Prozessen der Kreativität entfaltet, kommt schon etwa in Goethes „Novelle“ als Urbild solcher Produktivität vor, wo es als Teil einer dynamisch-organischen Ganzheit synekdochische Bedeutung gewinnt und wo ihre Merkmale der Entwicklung aus dem Samen über den Stengel und das Blatt bis zur Blume die Form der Novelle selbst modelliert: Goethe vergleicht im Gespräch mit Eckermann die Novelle mit einem „Gewächs, das eine Weile aus einem starken Stengel kräftige grüne Blätter nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume endet. Die Blume war unerwartet, überraschend, aber sie mußte kommen; ja das grüne Blätterwerk war nur für sie da und wäre ohne sie nicht der Mühe gewesen.“ 6 Auch bei John Keats fungiert das Blatt als Metapher poetischer Emergenz - „if poetry comes not as naturally as the Leaves to a tree, it had better not come at all“. 7 Aber erst bei Whitman wird das Gras zu einem durchgängigen Metaphernfeld, das die Texte durch die verschiedenen organischen Stufen der Entstehung, Ausprägung und Dekomposition durchzieht und in ihren Analogien zum Menschen, der Gesellschaft und eben der poetischen Kreativität konsequent in den Mittelpunkt gestellt wird. Im Unterschied zu Goethe oder den Romantikern ist nicht die Blume das Endziel dieser Entelechie, sondern das einfache Gras selbst wird zum Ausgangspunkt und Hauptträger der poetischen Bedeutung und der neuen amerikanischen Dichtung, die Whitman der Welt präsentiert. „I believe a leaf of grass is no less than the journey-work of the stars,” (SoM 31) so schreibt Whitman diesem kleinen Phänomen der Alltagsnatur denselben Stellenwert zu wie der Erhabenheit des Kosmos. Schon am Anfang befindet er sich, wie gesehen, in der Natur in kontemplativer Haltung und betrachtet einen Grashalm, „observing a spear of summer grass,“ und in gewisser Weise kann der ganze „Song of Myself “ auch als Meditation in einer Serie von Bildern, Gedanken, Szenen und Visionen über dieses scheinbar selbstverständliche, unspektakuläre, alltägliche und doch rätselhaft bleibende Phänomen der lebendigen Natur in seinen vielfältigen Bezügen und Bedeutungen für den Menschen gesehen werden. Das Gras wird naturhaftes Gegenüber und zugleich Spiegel des Selbst, Zeichen einer Individualität, die in ihrer Unscheinbarkeit doch einzigartig ist, die anders als die Rose, Lilie, oder blaue Blume keinem höheren ästhetischen Symbolrepertoire entstammt und doch gerade dadurch eine unverbrauchte Symbolkraft gewinnt. Als Zeichen des Einfachen und Massenhaften wird es zum Signum des demokratischen Geistes, der durch den Dichter besungen und heraufbeschworen werden soll. In Sektion 6 werden die verschiedensten Bedeutungen des Grases durchgespielt und in ihrer semantischen Vieldeutigkeit herausgestellt: I child said What is the grass? fetching it to me with full hands; How could I answer the child? I do not know what it is any more than he. (SoM 6) 6 Eckermann, Johann Peter. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens . Hg. Christoph Michel. Frankfurt a. M. 1999, S. 209. 7 On Axioms and the Surprise of Poetry: Letter to John Taylor , 27 February 1818. Hampstead 27 Febuary http: / / www.poetryfoundation.org/ resources/ learning/ essays/ detail/ 69384 Walt Whitman, Leaves of Grass 95 Als versuchsweise Antworten verweist er auf verschiedene mögliche Bedeutungen: Das Gras als Zeichen der Hoffnung: I guess it must be the flag of my disposition, out of hopeful green stuff woven. (6) als Kryptographie einer höheren geistigen Botschaft: Or I guess it is the handkerchief of the Lord, A scented gift and remembrance designedly dropt, Bearing the owner’s name someway in the corners, that we may See and remark, and say Whose ? (6) als Signum von Demokratie und politischer Gleichheit: Or I guess it is a uniform hieroglyphic, And it means, Sprouting alike in broad zones and narrow zones, Growing among black folks as among white […]. (6) als Zeichen eines Mensch und Natur umfassenden Zyklus von Tod und Wiedergeburt And now it seems to me the beautiful uncut hair of graves. […] This grass is very dark to be from the white heads of old mothers, Darker than the colorless beards of old men, Dark to come from under the faint red roofs of mouths. (6) Oder das Gras als Ausdruck poetischer Polyphonie: O I perceive after all so many uttering tongues (6) In der syntaktisch fließenden Anordnung und Aneinanderreihung dieser psychologischen, spirituellen, politischen und poetologischen Bedeutungen wird zugleich deutlich, dass sie nicht getrennt, sondern erst in ihrem lebendigen Zusammenwirken die Thematik und Textur von Leaves of Grass ergeben. Dieses Sich-Aussetzen gegenüber allen, auch den negativsten Erfahrungen, birgt allerdings stets auch ein Risiko. Nach dem aufbruchshaften Anfang und der affirmativen Feier des Selbst und der amerikanischen Demokratie verliert sich der Sprecher im Lauf des Gedichts immer mehr in die extreme Heterogenität der Dinge und der tragischen Schicksale, die er in seine Poetisierung der Welt einbezieht, bis er in eine existentielle Krise gerät und sich zur Ordnung rufen muss: Enough ! enough ! enough ! Somehow I have been stunn’d. Stand back! Give me a little time beyond my cuff’d head, slumbers, dreams, gaping, I discover myself on the verge of a usual mistake. (38) Die Empathie des Sprechers mit allem und jedem hat ihn so weit von ihm selbst weggeführt, oder anders gesagt sie hat seine Innenwelt so sehr mit Leid und traumatischen Erfahrungen besetzt, dass er seine innere Mitte und seine seelische Gesundheit unter dem Druck der Alpträume zu verlieren droht, die die bedingungslose Verinnerlichung des Leids der Anderen, des „pain of others,“ wie Susan Sontag sagen würde, in einer radikal empathetischen Imagination hervorruft. 96 Hubert Zapf Der Wendepunkt, der hiermit markiert ist, führt den Sprecher im weiteren Verlauf des Textes zu grundsätzlichen Reflexionen über Zeit, Raum und Unendlichkeit, und schließlich zum Tod nicht nur als Thema, sondern zum Tod des poetischen Sprechers selbst. 3.3. Oversoul Die besondere Haltung zum Tod ist ein weiteres charakteristisches Merkmal von Whitmans Dichtung, und sie soll hier zum dritten Aspekt der genannten triadischen Relation überleiten, der Oversoul . Auch hier knüpft Whitman an die Transzendentalisten an, unterscheidet sich aber signifikant von ihnen. Zum einen ist Whitman wie Emerson von der Hegelschen Idee des Weltgeistes oder der Schellingschen Idee der Weltseele geprägt, und die Vorstellung eines von einer solchen oversoul durchwalteten Kosmos, die Selbst und Natur in sinnstiftender, aktiv-dynamischer Korrespondenzbeziehung verbindet, wird immer wieder bei ihm artikuliert. Tod und Wiedergeburt Das Universum erscheint als unendliches Feld der progressiven Selbstverwirklichung einer der Materie innewohnenden geistig-seelischen Potentialität, an der der Mensch zuinnerst Anteil hat und aus dem sich unbegrenzte Möglichkeiten einer ständigen Höherentwicklung ergeben, die sich der Dichter zu eigen macht: What is known I strip away, I launch all men and women forward with me into the Unknown. (SoM 44) Space and Time! Now I see it is true what I guessed at, What I guess’d when I loafed on the grass […] My ties and ballasts leave me, my elbows rest in sea-gaps, I skirt sierras, my palms cover continents, I am afoot with my vision. (33) Die kontemplative Betrachtung des Grashalms am Anfang führt hier zu einer visionären, fast psychedelischen Erweiterung des Bewusstseins und der Wahrnehmung, die allerdings in der Folge immer wieder vom Makrozum Mikrokosmos, von der spekulativen Selbstübersteigung zur konkreten existentiellen Realität des Hier und Jetzt zurückführen. Dies betrifft, wie gesagt, insbesondere das Verhältnis zum Tod als das Ende der individuellen Existenz, das konsequenter Weise auch gegen Ende des Gedichts in den Mittelpunkt rückt, allerdings in einer ganz eigenständigen Form gedeutet wird, und zwar zunächst auf einer allgemeinen, dann einer persönlichen Ebene: All goes onward and outward, nothing collapses, And to die is different from what any one supposed, and luckier. (6) Der Tod ist kein Gegensatz, sondern Teil des Lebens, ja man kann sagen, dass Whitmans Dichtung einerseits den Tod voll einbezieht und konfrontiert, der in den Texten der anderen Transzendentalisten kaum vorkommt, und dass sie andererseits zugleich die Angst vor dem Tod im Bewusstsein eines übergreifenden Sinnzusammenhangs alles Bestehenden aufhebt. Has anyone supposed it lucky to be born? I hasten to inform him or her it is just as lucky to die, and I know it. Walt Whitman, Leaves of Grass 97 I pass death with the dying and birth with the new-wash’d babe and am not contain’d between my hat and boots. (7) Metapher und Metamorphose Diese verallgemeinernden Reflexionen konkretisieren sich im letzten Teil des Gedichts, der Sektion 52, an der Person des Sprechers selbst, der hier sein Abtreten aus der Welt und sein Aufgehen in der ungeteilten Ganzheit eines zugleich spirituellen und materiellen Lebenszusammenhangs imaginiert. In Kaskaden von Bildern des Übergangs und der Interaktion zwischen Geist und Leib, Mensch und Materie inszeniert das poetische Ich seinen Tod als Metamorphose in die Vielgestaltigkeit der Natur, in der Tod und Wiedergeburt, Verschwinden und Weiterleben des Individuums auf paradoxe Weise eins werden. Ich lese Ihnen diesen Teil 52 zur Gänze vor, weil er viele der gesagten Punkte noch einmal in verdichteter Weise zusammenbringt und darin zugleich einen Höhepunkt von Whitmans poetischer Ausdruckskraft darstellt. The spotted hawk swoops by and accuses me, he complains of my gab and my loitering. I too am not a bit tamed, I too am untranslatable, I sound my barbaric yaws over the roofs of the world. The last scud of day holds back for me, It flings my likeness after the rest and true as any on the shadow’d wilds, It coaxes me to the vapor and the dusk. I depart as air, I shake my white locks at the runaway sun, I effuse my flesh in eddies, and drift it in lacy jags. I bequeath myself to the dirt to grow from the grass I love, If you want me again look for me under your boot-soles. You will hardly know who I am or what I mean, But I shall be good health to you nevertheless, And filter and fibre your blood. Failing to fetch me at first keep encouraged, Missing me one place search another, I stop somewhere waiting for you. (52) Der Sprecher wird abgerufen aus dem bisherigen Leben in eine neue Phase, zu der ihn der „spotted hawk“, der gefleckte Falke als Stimme der ursprünglichen amerikanischen Wildnis, der zugleich an die Mythologie indigenen Story-Tellings erinnert, geleitet. Er erkennt in dem Tier der Wildnis das Prinzip seines eigenen, tieferen Selbst, seiner eigenen Wildheit und Singularität, die nicht in eine allgemeine Sprache übersetzt werden kann. Sein „Song of Myself “ wird zum „barbaric yawp,“ zur semantisch offenen Stimme der vorzivilisatorischen Natur, aus der er gleichwohl die poetische Energie zu seiner innovativen modernen Dichtung bezieht. 98 Hubert Zapf Transzendenz und Immanenz In der anschließend entworfenen Abendszenerie wird das poetische Ich zum Teil der Schattenwelt, die sich über die Wildnis ausbreitet. Es verwandelt sich in Dunst, Atmosphäre, Luft und Wolken, deren gebirgige Formen zu Rekonfigurationen seines im Lauf des Gesangs rapide gealterten Körpers und seiner weiß gewordenen Haare werden „I shake my white locks at the runaway sun.“ Schließlich erklärt er das Gras zu seinem persönlichen Vermächtnis, das aus der Erde sprießt und das Wachstum und Blut neuer Generationen vorwegnimmt und in dem sich autopoetisch der Dichter seinen künftigen Lesern mitteilt. Whitman ist gleichsam überall, außerhalb und innerhalb der Grenzen seines Textes, und kommuniziert auf diese Weise mit der Vergangenheit wie mit der Zukunft. Das individuelle Selbst verwandelt sich in die oversoul , die sich in der Vielgestaltigkeit der materiellen Natur ausdrückt. Der Sprecher transzendiert sich selbst, aber er transzendiert sich in eine Immanenz hinein, die Immanenz eines überindividuell geteilten Lebenszusammenhangs, den der Text vermittelt und an dem die Leser der Zukunft - also wir selbst - in je eigener Weise Anteil haben können. 4. Deutungsansätze Damit bin ich also nun in der Gegenwart angelangt, und zum einen ist die Rezeption von Whitmans Dichtung, ebenso wie die jeder Literatur, zweifellos bei verschiedenen Lesern je verschieden und höchst individuell. Gerade bei Whitman ist dies wichtig, der auf dem selbstgewählten Weg durchs eigene Leben insistiert - was ebenso auch für die Lektüre von Texten gilt: „Not I, nor anyone else, can travel that road for you. You must travel it by yourself.“ Zum anderen gibt es aber auch, was die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Whitman anbelangt, eine Vielzahl von Zugängen und Deutungsansätzen, von denen ich hier nur einige ausgewählte nenne: - einen biographischen Ansatz, der die vielen engen Parallelen zwischen Leben und Werk untersucht; - einen politisch-sozialen Ansatz, der die Positionierung des Autors in den Konflikten und Umbrüchen der Vor-Bürgerkriegs-Ära analysiert; - einen nationalliterarischen Ansatz, der die Gründungsfunktion Whitmans für die amerikanische Dichtung heraushebt; - einen gattungstheoretischen Ansatz, der die multigenerische Zwischenstellung zwischen Prosa und Poesie, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Lyrik und Epik betont und etwa den „Song of Myself“ als amerikanisches Epos bezeichnet; - einen intertextuellen Ansatz, der die vielfältigen Einflüsse und Texte, die Whitman verarbeitet, herausstellt, aber auch seine immense Nachwirkung in den USA selbst wie in Europa und Lateinamerika; - den Ansatz der Queer Studies, der Whitmans avantgardistische Poetik von Gender und Sexualität beleuchtet; - den Ansatz des so genannten New Materialism, der sich seit einigen Jahren in den amerikanischen Kultur- und Literaturwissenschaften ausbreitet und für den Whitman ein Beispiel der poetischen Einbeziehung der materiellen Wirklichkeit sowohl der Dinge und Objekte der äußeren Welt als auch des menschlichen Körpers als materieller Manifestation des Geistes ist 8 (Bennet 2014). 8 Bennet, Jane. „Of Material Sympathies, Paracelsus, and Whitman“. Material Ecocriticism . Hgg. Serenella Iovino und Serpil Oppermann. Bloomington 2014. 239-252. Walt Whitman, Leaves of Grass 99 Kulturökologische Deutung Ich möchte zum Schluss ganz kurz noch etwas expliziter eine kulturökologische Lesart des Textes vorschlagen, die implizit bereits in meinem Durchgang durch Whitmans Texte angelegt war. In diesem Licht ist Whitmans Dichtung ein geradezu paradigmatisches Beispiel für die Bedeutung jener „patterns which connect,“ die Gregory Bateson als einer der Vordenker der Kulturökologie als deren charakteristisches Erkenntnisinteresse bezeichnet hat, die Erkundung also von ‚verbindenden Mustern‘ zwischen anderweitig getrennten Bereichen wie eben zwischen Natur und Kultur, Körper und Geist, Außen- und Innenwelt, Mikro- und Makrokosmos, wie sie in Whitmans Dichtung permanent stattfindet und zur Grundlage seiner poetischen Produktivität werden. Interessanter Weise postuliert Bateson eine Affinität zwischen dem ökologischen Denken und der grundlegenden Form poetischen Sprechens, der Metapher. Sein eigenes ökologisches Denken, so behauptet er, folge eher einem metaphorischen als einem klassisch-logischen Prinzip, insofern jenes sich nicht auf die verallgemeinernde Logik des Subjekts bezieht, sondern auf die Analogien, die zwischen unterschiedlichen Bereichen und Phänomenen des Lebens aufgrund geteilter Prädikate gezogen werden können. Solches relationales, metaphorisches Denken, so Bateson, korrespondiert stark mit den Prozessen, auf denen die lebendige Welt aufbaut und an welchen sich eine Ökologie des Geistes, wie Bateson sie entwirft, orientieren kann. Als Beispiel eines traditionellen, subjekt-zentrierten Syllogismus nennt Bateson den folgenden: All men die Socrates is a man Socrates dies Bateson ersetzt nun diesen klassischen Syllogismus mit einem anderen, den er “[a]ffirming the consequent”, or “syllogism in grass” nennt: Grass dies Men die Men are grass Nach Bateson kommt dieses meta-phorische Verfahren, das üblicher Weise voneinander getrennte Domänen auf der Basis geteilter Prädikate aufeinander bezieht, den Prozessen des Lebens selbst näher, die durch Ähnlichkeiten und Differenzen im Sinn jener “patterns which connect” charakterisiert und aufeinander bezogen sind (Bateson 2002, 7 ff.). In diesem Licht erscheint Whitmans Dichtung, in der die vielfältigen Wechselwirkungen und Analogien zwischen Mensch und Natur insbesondere am Symbol des Grases erkundet werden, als geradezu exemplarische Realisierung einer kulturökologischen Poetik. Das Gras ist die Grundlage immer neuer Metamorphosen des Selbst und der Welt, in die, wie gesehen, der Dichter sich selbst einbezieht und die er als Vermächtnis seinen Lesern hinterlässt: “I bequeath myself to the dirt to grow from the grass I love / If you want me again look for me under your bootsoles” (Whitman). “Men are Grass” - Batesons ökologischer Syllogismus wird von Whitman in einen poetischen Prozess transformiert, der zugleich die Metapher zur Quelle einer ständigen Metamorphose macht. Auf die komplexe kulturökologische Dynamik, die sich daraus entfaltet, kann ich hier nicht mehr adäquat eingehen. Verallgemeinernd gesagt, wird sie in drei verschiedenen Hinsichten wirksam. Sie hat eine kulturkritische Seite , indem sie Erstarrungen, Einseitigkeiten, Hierarchien, und asymmetrische Machtstrukturen dekonstruiert; eine gegendiskursive 100 Hubert Zapf Seite , indem sie die emphatische Aufwertung des gesellschaftlich Marginalisierten und Ausgegrenzten betreibt; und eine regenerative Seite , indem sie Traumatisierungen, Paralysen, Ängste und death-in-life -Zustände aufbricht und neue Quellen der Vitalität und Kreativität freisetzt, die auch und gerade in der Kommunikation mit dem Leser aktiviert werden. Literaturverzeichnis Primärliteratur Whitman, Walt: Leaves of Grass. The 1892 Edition . Introduction by Justin Kaplan. New York: 1983. -: The Walt Whitman Archive: Eds. Ed Folsom and Kenneth M. Price. http: / / www.whitmanarchive. org/ Deutsche Übersetzungen Whitman, Walt: Grashalme . In Auswahl übertragen von Johannes Schlaf. Nachw. von Johannes Urzidil. Stuttgart 2013. -: Grasblätter . Übersetzt von Jürgen Brocan. München 2009. Sekundärliteratur Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens . Hg. Christoph Michel. Frankfurt a. M. 1999. Emerson, Ralph Waldo: Self-Reliance and Other Essays . New York 1993. Gerhard, Christine: A Place for Humility. Whitman, Dickinson, and the Natural World. Iowa City 2014. Ginsberg, Allen: “Taking a Walk through Leaves of Grass ”. The Teachers and Writers Guide to Walt Whitman. Hg. Ron Padgett. New York 1991: 1-35. Grünzweig, Walter: Walt Whitman. Die deutschsprachige Rezeption als interkulturelles Phänomen . München 1991. Zapf, Hubert (Hg.): Amerikanische Literaturgeschichte . Stuttgart 2010. Theodor Fontane, Schach von Wuthenow 101 Theodor Fontane Schach von Wuthenow „Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen …“ Hans Vilmar Geppert 1882 ist Theodor Fontanes Roman erschienen. 101 Jahre später im Jahr 1983 wurde er in einem wichtigen, vielleicht dem wichtigsten Roman des späten zwanzigsten Jahrhunderts noch einmal überraschend prominent: Die Jahreszeiten gingen ihren Gang; immer noch lasen wir „Schach“. Schach! 1 Wo steht dieser Satz? Und vor allem: Was bedeutet die Wiederholung - erst mit Anführungszeichen „,Schach‘“, dann ohne, noch mal „Schach“? Der Satz steht im vierten Band von Uwe Johnsons Roman Jahrestage (1983). Die Erzählerin und Heldin erinnert sich an einen für sie sehr wichtigen Deutschunterricht - „wir hatten […] das Deutsche [also die deutsche Literatur] lesen gelernt“ -, als ausführlich und aus immer anderer Perspektive dieser Roman Theodor Fontanes behandelt wurde. Offensichtlich halten nicht nur sie sondern auch ihr „Genosse Autor“, Uwe Johnson selbst (er starb ein Jahr später mit 49 Jahren), diesen Roman für sehr lesenswert und anregend. 2 Wir werden noch darauf zurückkommen. Auf den Romantitel also bezieht sich das erste „Schach“. Das zweite aber bezeichnet in einem ganz eigenen elliptischen, also in einem auf ein Wort verkürzten Satz nicht mehr die Namen des Romanhelden und des Romans, sondern es funktioniert die sprachliche Denotation des Wortes selbst, also ganz einfach seine nächstliegende Bedeutung. Gemeint ist jetzt das Spiel „Schach“ als solches, bzw. genauer: ein bestimmter entscheidender Spielzug. Aber wer spricht denn dann jetzt: die Romanperson oder der Autor? Und wer sagt hier zu wem „Schach“? So wie die Wendung „die Jahreszeiten“ an den Romantitel Jahrestage anzuspielen scheint, so scheint der Autor Johnson hier zu signalisieren, dass er selbst, und offensichtlich eben angeregt durch Fontanes Roman, eine Art „Erzähl-Schach“ spielt. Er spielt ein literarisches Strategie-Spiel mit vorgegebenen Figuren, bzw. um es in der Sprache der Erzähltheorie zu formulieren, mit literarischen „Aktanten“, 3 und das müssen nicht nur Personen sein. Johnson „spielt-erzählt“ mit seiner deutlich als „Spielfigur“ konstruierten Romanheldin 4 an gegen die damals aktuelle gesellschaftlich-politische Situation: In den USA mit ihren Rassenunruhen und dem Vietnam-Krieg, vor allem aber erzählt er 1 Johnson, Uwe. Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Bd. 4, Frankfurt a. M. 1983, S. 1694. 2 Auf Fragen, wer ihn am meisten „beeinflusst“ habe und wer zu seinen „Lieblingsschriftstellern“ gehöre, antwortete Johnson immer wieder: „Fontane“. Vgl. Fahlke, Eberhard (Hg.). „Ich überlege mir die Geschichte.“ Uwe Johnson im Gespräch . Frankfurt a. M. 1988, S. 208, 211, 218. 3 Solche Begriffe erklärt jede Einführung in die Erzähltheorie oder -analyse, z. B. Bauer, Matthias. Romantheorie . Stuttgart und Weimar 1997. 4 Sie war bereits die Romanheldin in Uwe Johnsons früherem Roman: Mutmaßungen über Jakob (1959). 102 Hans Vilmar Geppert an, führt er ein literarisches Strategie-Spiel gegen die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. 5 Ein komplexes Spiel, das überraschende Bezüge und Sprünge erlaubt, aber doch sehr klar angelegt ist in seiner Grund-Konzeption. Und das wäre dann die Frage, die ich mir und Ihnen heute stellen möchte: Lässt sich dieses Modell eines literarischen Strategie-Spiels auch auf Fontanes Schach von Wuthenow selbst anwenden? Uwe Johnson scheint das so gesehen zu haben. Fontanes Roman-Titel - das historische Vorbild hieß ja „von Schack“, 6 nicht „von Schach“: Wieviel ein einziger Buchstabe verändern kann! - und viele weitere Hinweise im Text eröffnen zumindest die Möglichkeit, so zu lesen. Wer also spielt hier wie und womit und gegen wen „Schach“? Die Frage nach dem „womit“, also nach den „Aktanten“, zumindest nach den wichtigsten, ist leicht zu beantworten. Fontane versammelt sie und ordnet sie einander zu, in der Tat wie Figuren auf einem Schachbrett: eine Skandalgeschichte aus Preußen einerseits, die sich in Wahrheit 1815 ereignet hat, und in deren Mittelpunkt ein Major des seinerzeit berühmten und berüchtigten „Regiments Gensdarmes“ stand, das ist sozusagen ein „Aktant“. Andererseits steht dem gegenüber der preußisch-französische Krieg von 1806, der mit der vernichtenden Niederlage bei Jena und Auerstädt am 14. Oktober endete, und der 1882 sicher noch lebendiger im allgemeinen Gedächtnis war als heute. Und dann erfasst dieses Spiel der Zuordnungen und Konfrontationen auch die Personen und Personen-Gruppen des Romans, bis hin zur liebenswürdig verschrobenen Tante Marguerite, die sogleich eine Liebesgeschichte zwischen Schach und Victoire errät, oder bis hin zum modisch kleinen englischen „groom“, der als erster - „Heavens, he is dead“ 7 - von Schachs Selbstmord erfährt: Das wären dann alles „Aktanten“ auf dem Schachbrett des Erzählens. Dass es hier um „Schachfigur[en] im Untergangsspiel“ geht, 8 wurde immer wieder beobachtet. Aber das Modell reicht viel weiter, ja es reicht letztlich über Fontanes eigene Zeit hinaus. Wie können wir diese Erzählstrategie genauer analysieren? Eine klassische Erzählstrategie Zur Einführung ein Rückblick auf drei klassische Romane des 19. Jahrhunderts, die Fontanes „Spielzüge“, Zug um Zug ein Spiel von Setzung, Verneinung und dann Verallgemeinerung, vielleicht plastischer sichtbar machen, drei „Partien Erzähl-Schach“ sozusagen, einmal die eines unbestreitbaren Vorbilds für Fontane, dann die zweier „Großmeister“ des europäischen Romans. Edward Waverley geht Hirsche jagen im Schottischen Hochland. So beginnt ein auf den ersten Blick kurioses, im Ganzen aber entscheidendes Kapitel in Walter Scotts gleichnamigem Roman von 1814. Plötzlich wendet sich das Rudel Hirsche und jagt genau auf die Jäger zu. „Werft euch auf den Boden! “, ruft man von allen Seiten. Aber Edward versteht kein Gälisch. Seine Genesung dauert ein paar Wochen, aber verläuft recht glücklich. Jetzt freilich 5 Vgl. z. B. Geppert, Hans Vilmar. „Uwe Johnson‚ Jahrestage‘.“ Große Werke der Literatur VIII . Hg. Hans Vilmar Geppert. Tübingen und Basel 2003. 133-251. 6 Zu Fontanes Vorlagen und Anregungen und zur Entstehung des Romans vgl. etwa Fontane, Theodor. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 1. Hgg. Walter Keitel und Helmut Nürnberger. Darmstadt 1970, S. 952-958. 7 Fontane, Theodor. Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. Stuttgart 1961, S. 146. Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden in Klammern im Text angegeben. 8 Aust, Hugo. Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen und Basel 1998, S. 91. Theodor Fontane, Schach von Wuthenow 103 versteht sein geschickter Wundarzt kein Wort Englisch. Und genau zu dieser Zeit geht im Westen Schottlands der Stuart-Prinz Charles-Edward, der legendäre „Bonny Prince Charly“ an Land, es versammeln sich die Clans, die weiße Kokarde der Jakobiter wird getragen, die historischen Ereignisse der Rebellion von 1745 beginnen. Edward wird des Verrats verdächtigt. Beim Versuch, zu seinem Regiment zurückzukehren, wird er festgenommen, dann von den Rebellen befreit, dann wird er erneut krank, tagelang liegt er im Fieber. Inzwischen hat „Bonny Prince Charly“ Edinburgh eingenommen, und Edward hat so gut wie keine andere Wahl, als sich der Rebellion anzuschließen. Wie ein Schlafwandler ist er hinein geraten, der Bürgerkrieg erscheint ihm bald als Alptraum: „a dream, strange, horrible and unnatural“, und erst nach Wochen wird er in die „real history of his life“ zurückkehren. 9 Inhaltlich ganz anders, strukturell aber vergleichbar verläuft die Geschichte eines anderen „Schlafwandlers“ in historisch bewegter Zeit. Von den etwa drei Monaten des Jahres 1815, in denen der Romanheld Fabrice in Stendhals (Marie-Henri Beyle) Roman La chartreuse de Parme / Die Kartause von Parma (1839) in die Geschichte hinein reist, um sich der Armee Napoleons anzuschließen, und dann wieder zurück nach Savoyen, 10 davon verbringt er genau 33 Tage im Gefängnis, etwa vier Wochen ist er krank, verletzt durch einen fliehenden französischen Soldaten. Zwischen diesen Phasen völliger Lähmung nimmt er irgendwie, ja fast unwirklich, als Husar verkleidet, teil an der zweitägigen Schlacht von Waterloo. Aber auch während dieser 43 Stunden treibt er so gut wie passiv mit den Truppen mit und versteht überhaupt nicht, was um ihn vorgeht („il ne comprenait rien à rien“): Er versteht nicht, warum die Erde sich neben ihm so „eigenartig bewegt“, also dass da Kanonenkugeln einschlagen, er erkennt nicht den berühmten Marschall Ney, und wenn sein Idol selbst, der leibhaftige Napoleon, vorbei reitet und alles schreit: „Vive l’empereur“ („Es lebe der Kaiser! “), ist er gerade, denn er hat statt etwas zu essen nur ein paar Schluck Schnaps bekommen, leicht betrunken eingeschlafen. Bewegt nicht auch er sich wie ein Schlafwandler durch die Geschichte? Noch nach Wochen, auf der Heimreise, muss er sich ernsthaft fragen, ob das, „was er gesehen hatte, eine Schlacht gewesen war, und wenn eine Schlacht, war das die von Waterloo? “ 11 „Le repas fut long, délicat.“ („Die Mahlzeit zog sich lange hin und war delikat“). 12 Die Erzählstrategie, dass der Romanheld von Geschichte umgeben ist, aber wie im Schlaf das kaum merkt, und dass genau dies rückblickend bedeutsam wird, eine Figur, die bei Scott und Stendhal und dann auch bei Fontane ganze Kapitel füllt, zieht sich bei Flaubert auf einen Satz zusammen. Man schreibt den 23. Februar 1848. Auf den Straßen von Paris züngeln die Flammen der Revolution. Die jungen Leute fiebern ihr entgegen. Am Tag darauf wird sie losbrechen. Aber Frédéric Moreau, der Held von Gustave Flauberts Roman L’Éducation sentimentale (1869), führt die leichtlebige Rosanette zum Diner und dann in die kleine Wohnung, die er liebevoll für eine „andere“ („l’autre“) eingerichtet hatte; doch die war nicht gekommen. Nachts wacht er auf, er hört das leichte Dröhnen der heranströmenden Massen. Unter Tränen, die freilich Tränen wegen „der anderen“ sind, gesteht er Rosanette seine Liebe. Das ist eine Lüge: eine Lüge, die an die Stelle einer Illusion getreten ist. Ein solcher Selbstbetrug und Betrug anderer, eine Illusion und dann eine Lüge, war nach Flau- 9 Scott, Walter. Waverley. Hg. Andreas Hook. London 1972, S. 333, 415. 10 Stendhal. La chartreuse de Parme. Hg. Michel Crouzet. Paris 1964, S. 37-107. 11 „Ce qu’il avait vu, était-ce une bataille, et en second lieu, cette bataille était-elle Waterloo? “, Stendhal, La chartreuse de Parme , S. 105. Alle Übersetzungen stammen von mir. 12 Flaubert, Gustave. L’Éducation sentimentale. Hg. Éduard Maynal. Paris 1964, S. 284. 104 Hans Vilmar Geppert bert diese Revolution. In diesem Kontext bedeutet die feine Stilistik des Satzes: „Le repas fut long, délicat“, die mit „die Mahlzeit dauerte lang und war delikat“ nur höchst unvollkommen zu übersetzen ist, nicht nur eine Ohrfeige für die revolutionäre Begeisterung um Frédéric herum. Das französische passé simple spricht zum Leser von sofortiger Desillusion. Es bezeichnet eine abgeschlossene, vergangene Handlung: Die „lange“ Zeit des Dinierens zieht sich jäh zusammen; das nachgetragene „delikat“ wird sofort so gut wie belanglos; und rückwirkend macht dieses Fade in „delikat“ auch die „Länge“ der Zeit leer. Das Vakuum in der Lebenszeit des Romanhelden und die Zeit der Geschichte sind gegeneinander aus den Fugen geraten: nur einen Augenblick lang, aber noch intensiver, als im gelebten „Alptraum“ von Walter Scotts Waverley oder als im Nicht-Verstehen der Ereignisse bei Standhals Fabrice. Leben nicht alle drei, wie später Fontanes Schach, in einer „Welt des Scheins“? Und werden nicht gerade so ihre Erlebnisse bedeutsam für die Sicht von Geschichte in diesen Romanen? Dass auch die wichtigen Personen in Fontanes Schach von Wuthenow sich immer mehr wie Schlafwandler bewegen, gibt erst der Roman als ganzer zu erkennen. Sein Beginn ist genau historisch datiert. Man schreibt den 1. Mai 1806. Die genaue Datierbarkeit der Handlung hat Fontane mit Stendhal und Flaubert gemeinsam, 13 so wie später etwa mit Faulkner und natürlich mit Uwe Johnson. Im Salon der Frau von Carayon, in dem vor allem mehrere Offiziere des Regiments Gendarmes fast zu Hause sind, kreist das Gespräch um die, wie es heißt, „kurz vorher beendete Haugwitzsche Mission“ (4). Graf Haugwitz war damals Preußischer Außenminister. Aber das entscheidende Ereignis seiner „Mission“, der Vertrag von Schönbrunn zwischen Preußen und Frankreich, war schon dreieinhalb Monate früher, am 15. Dezember 1805 geschlossen worden, 14 Fontane jedoch lässt ihn wie ein Tagesereignis diskutieren. Genauso gezielt anachronistisch verfährt er am Ende des Romans, wenn es in einem Brief vom „14. Sept. 1806“ heißt: „Der Krieg ist erklärt“ (149). Das preußische Ultimatum an Frankreich erfolgte erst am 26. September, die Kriegserklärung noch später am 9. Oktober. Auch jetzt verengt Fontane den historischen Hintergrund des Romans. Denn so rückt ja auch die vernichtende Niederlage bei Jena am 14. Oktober, also nur fünf Tage nachdem „der Krieg […] erklärt“ wurde, noch näher an das Romanende heran. Ganz kalkuliert und durchaus strategisch verschiebt Fontane seine „Aktanten“ auf dem „Schachbrett“ seines Erzählens. Doch so klar, ja eng und beklemmend dieser historische Rahmen eingezeichnet ist - auch der Untertitel Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes weist von Anfang an darauf hin 15 -, die fiktive Haupthandlung des Romans, die „Skandalgeschichte“, selbst ja erzählstrategisch von 1815 auf 1806 vorverlegt, blendet diesen drohenden Hintergrund immer konsequenter aus. Die Personen scheinen zu vergessen oder sie verdrängen geradezu, was da in der preußischen Geschichte vorgeht: „Schlafwandler“, die sich in ihrer „Welt des 13 Der Brief in Kap. 5 beispielsweise ist auf den „3. Mai“ datiert (43); da dort der Ausflug nach Tempelhof als „erst gestern“ (45) bezeichnet wird und das entsprechende Kapitel am „nächsten Morgen“ (25) der Eröffnungsszene beginnt, ergibt sich für diese der 1. Mai. Auf die gleiche Weise kann man recht genau den zeitlichen Verlauf des ganzen Romans erschließen. 14 Zum historischen Hintergrund des Romans vgl. etwa die Kommentare in: Fontane, Sämtliche Romane , S. 969 ff.; oder Wagner, Walter und Harald Tanzer (Hg.). Schach von Wuthenow. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2004, S. 6-7. 15 Das feudale Kürassier-Regiment hatte aufgrund unklarer Befehle in die Schlacht von Jena nicht eingegriffen, wurde kampflos gefangen genommen, musste später demütigend durch Berlin paradieren und wurde danach aufgelöst. Theodor Fontane, Schach von Wuthenow 105 Scheins“ (149) immer mehr verfangen. Und genau so erhält ihre „Skandalgeschichte“ ihre besondere Bedeutung: Der außerordentlich schöne, formvollendet auftretende, aber als Persönlichkeit hohle und sehr eitle Rittmeister von Schach gibt vor, die schöne Frau von Carayon, eine reiche Witwe, zu verehren. 16 Aber es ist deren Tochter Victoire, die wirklich in ihn verliebt ist. Doch sie gilt wegen ihrer Blattern-Narben in der Gesellschaft als hässlich, bzw. „unrepräsentabel“ (22), und sie sieht sich auch selbst so. Schach vermied es sogar einmal ostentativ, mit ihr in der Öffentlichkeit auch nur gesehen zu werden (vgl. 42-43), was Victoire, wie sie in einem Brief anvertraut, „einen Stich durchs Herz“ (46) gegeben hatte. Gleichwohl, insbesondere nachdem bei einer Soirée „der Prinz“ (Louis Ferdinand von Preußen) über den „Vorzug“ einer „beauté du diable“, einer „teuflischen Schönheit“, die Schönheit der Hässlichen, schwadroniert hatte (63 ff.), kommt es zu einer äußerst diskret erzählten intimen Begegnung zwischen Schach und Victoire, der sich Victoire „in einer süßen Betäubung“ hingibt, während Schach sich sogleich innere Vorwürfe macht: „Erst die Schuld und dann die Lüge“, klang es in ihm. […] Aber die Spitze seiner Worte richtete sich gegen ihn und nicht gegen Victoire. (75-76) Man weiß freilich nicht, sieht er seine „Schuld“ in mangelnder Moral oder fehlender Vorsicht. „Schach zieht sich zurück“, beginnt das nächste Kapitel (76). Aber Victoire erwartet ein Kind; jetzt erst wird klar, wie nahe sie und Schach sich gekommen sind. Sie vertraut sich ihrer Mutter an, die stellt Schach zur Rede: „So muß ich denn auf Legitimisierung des Geschehenen dringen“ (93). Schach willigt in eine Ehe ein, zunächst eher „artig“ und „kühl“, „andern Tags“ aber in einem Brief in „wärmerem Ton“ und „herzlicherer Sprache“ (93-94). „Schach legte sich’s zurecht“, heißt es wenig später; das „Lächerliche“ seiner Situation, so hofft er, würde bald „tot und vergessen“ sein (97-98). Aber: „Armer Schach! Es war anders in den Sternen geschrieben“ (98), geht es gleich darauf weiter. Dass der Erzähler hier einmal seine „neutrale Allwissenheit“ 17 aufgibt und sich direkt einmischt, zeigt an: Sein „Erzähl-Schach“ hat eine neue entscheidende Phase erreicht, und die eigentliche Krise dieser „Welt des Scheins“ beginnt. Die „Verlobungsanzeige“ ist noch nicht heraus, da werden drei „boshafte“, „verletzende“ Karikaturen veröffentlicht, wahrscheinlich im Auftrag von Regimentskameraden, die Schachs Entscheidung für die „unschöne Tochter“ einer „schönen Mutter“ verspotten, ja sogar andeuten, dass er da hinein manövriert wurde: „Schach-matt“ steht unter der zuletzt erschienenen spöttischen Zeichnung (98-101). Schach erträgt es nicht, so verlacht zu werden, er „ließ sich krank melden, sah niemand“ (101) und flieht auf sein Gut, wo er wie gelähmt etwa eine Woche verbringt. Frau von Carayon, empört über Schachs „Flucht“ (118), erhält, denn „die Carayons [sind] eine alte Familie“ (132), eine Audienz beim König (Friedrich Wilhelm III ), der Schach, es sei denn, dieser würde, was „das Schmerzlichste“ wäre, seinen „Abschied nehmen und den Dienst quittieren“ (132), die Ehe befiehlt. Die Trauung findet in kleinem aber angemessenem Kreise statt, nach dem Empfang fährt Schach, denn die Hochzeitsreise 16 Ihren verdeckten Antrag: „Sie werden mich eifersüchtig machen“ (34) - derselbe Satz begründet in Der Stechlin (1897, Kap. 25) eine Verlobung - bemerkt Schach gar nicht. 17 Der Erzähler beobachtet das Geschehen, kennt aber auch die Innenperspektiven der wichtigen Personen. Ganz selten nur gibt er eigene Wertungen oder Kommentare. 106 Hans Vilmar Geppert soll gleich beginnen, noch einmal in seine Wohnung. In seiner Kutsche erschießt er sich und ist sofort tot. 18 Man kann sehen, wie die Zeit dieser „Skandalgeschichte“ sich immer mehr dramatisch zuspitzt, und der Handlungsraum, in dem die Personen sich bewegen, wie ein „shrinking room“ sich immer enger zusammen zieht. Zuletzt bleibt Schach nur der Innenraum seines dahinrollenden Wagens. Doch im selben Erzählzug wird auch der auf seine Weise ebenfalls dramatische, ja fatale historische Kontext wie eine barocke Hinterbühne völlig verschlossen, bis mit dem Satz: „Der Krieg ist erklärt“, der Vorhang wieder spektakulär aufgezogen wird. Und da zeigt sich im Zusammenspiel der genauen Datierungen sehr klar ein erzählstrategisches Kalkül Fontanes, das auf ganz neue Weise durchaus dem von Scott, Stendhal und Flaubert, und später dann dem von Faulkner oder Johnson vergleichbar ist: Der Tag etwa, an dem Frau von Carayon von Schach „die Legitimisierung des Geschehenen“ verlangt, 19 der 24. Juli, ist nach dieser Zeitregie beispielsweise auch der Tag, an dem Preußen und Russland einen wechselseitigen Beistandspakt beschließen. So wird oft ja ein Krieg vorbereitet. Die Personen, aber auch der Erzähler, bemerken das jedoch mit keinem Wort. Nicht erwähnt wird etwa auch die Gründung des von Frankreich geführten Rheinbundes im Sommer 1806, was ja für die preußische Außen- und Militärpolitik eine gewisse, gefährliche Isolierung bedeutete. Noch beredter verschwiegen wird dann das Ende des „Heiligen Römischen Reiches“ am 8. August. Und noch krasser wirkt das Folgende: Wenn Schach von seiner „Flucht“ auf sein Gut zurückkehrt, wo er sich etwa vom 6. bis zum 12. August aufgehalten haben muss, 20 wird überhaupt nicht erwähnt, niemand also im Roman scheint zu bemerken, dass die preußische Armee inzwischen mobilisiert worden war. Wie turbulent es da in Berlin zuging, hatte nicht zuletzt Willibald Alexis in seinem Roman Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (1852) anschaulich beschrieben. Schach dagegen bewegt sich, als sei er nicht von dieser Welt. Und wenn er ein paar Tage vor der Hochzeit „allen erdenklichen Reiseplänen“ nachhängt (139), dann hat das bereits etwas Surreales: Reisepläne eines ehrgeizigen Berufsoffiziers in einem Elite-Regiment am Vorabend eines Krieges? Schach und die Carayons sind bei Fontane noch viel schlimmere „Schlafwandler“ als die Romanhelden Scotts, Stendhals und Flauberts. Diese klassische Erzählstrategie einer vorübergehend negierten Teilhabe der Romanhandlung am dokumentierten Verlauf der Geschichte, in der sich Fontane als Autor auf europäischem, ja Welt-Niveau erweist - ich bin versucht von einer „Para-Metonymie“ zu sprechen, dazu gleich -, worauf zielt sie? Könnte es um eine „multiple hypothetische Verallgemeinerung“ gehen? 18 „Eitlen, auf die Ehre dieser Welt gestellten Naturen ist der Spott und das Lachen der Gesellschaft derart unerträglich, daß sie lieber den Tod wählen als eine Pflicht erfüllen, die sie selber gut und klug genug sind, als Pflicht zu erkennen, aber auch schwach genug sind, aus Furcht vor Verspottung nicht erfüllen zu wollen“: Fontane hatte den Kern des Konflikts schon sehr früh, in einem Brief an Gustav Kerpeles vom 14. März 1880 genau benannt (Fontane, Sämtliche Romane , S. 961). Auch daran zeigt sich, wie strategisch kalkuliert er sein „Erzähl-Schach“ führt. 19 Es ist der „andere Vormittag“ nach Victoires „Beichte“, die am Abend der historisch belegten „Schlittenfahrt“ (auf Salz) am 23. Juli stattgefunden hatte. 20 Die Verlobung wird „andern Tags“ nach dem „Legitimisierungs“-Gespräch vom 24. Juli vereinbart (94-96), keine ganze „Woche“ später (98) erscheint die erste Karikatur, danach „in zweitägigen Pausen“ (101) folgen die beiden anderen. Schachs „Flucht“ kann so auf die zweite August-Woche datiert werden. Theodor Fontane, Schach von Wuthenow 107 „Dame“ schlägt „Ritt[meist]er“ Das mag Ihnen jetzt zu spielerisch, ja preziös vorkommen, ein wenig ist es das ja auch, aber diese Abstraktion 21 ist hilfreich um die Schach-Metapher als Modell für Fontanes Erzählen weiter zu verfolgen, sein Strategie-Spiel gegen die preußische Geschichte. Fontane hatte lange in England gelebt, sich lange beruflich mit der englischen Presse beschäftigt, sprach und las fließend englisch, war vertraut mit Scott, Thackeray und so fort. Könnte er nicht durchaus daran gedacht haben, dass das englische Wort für die Schachfigur des „Springers“ oder „Pferdchens“ eben „Knight“ ist, übersetzt also: „Ritter“? Steckt dieses Wort nicht im Titel „Rittmeister“? Anspruchsvoll modellierte Schach-Figuren stellen manchmal ja in der Tat schwarze und weiße Ritter zu Pferde dar. Wie auch immer: Der Rittmeister von Schach hat bei Fontane nicht nur keinen Vornamen, er ist erzählerisch gesehen überhaupt ein „flacher Charakter“, eben eine „Schachfigur“. Und hat nicht die entscheidende Konstellation von „Dame“ (Madame de Carayon), „Ritt[meist]er“ - das historische Vorbild war wohlgemerkt Major - und „König“, wobei dann einerseits gegnerische „Ritter“ (Regimentskameraden), andererseits die „Dame“ im Zusammenspiel mit dem „König“ den „Ritter“ erst einkreisen, dann „schlagen“, und dann auch noch ein „Bauer“ (146) am Ende des Kapitels sich als überlegen erweist, suggeriert das nicht eine Situation, die in der Tat an ein Schach-Spiel erinnert? Der „Ritt[…]er“ von Schach wird von seinem Erzähler ja auch geradezu „vorgeführt“. Immer wieder läuft er in ironisch inszenierte, kritische, ja fatale Konstellationen hinein. Bei seinem ersten Auftreten erhält er sogleich Gelegenheit, zu zeigen, wie oberflächlich er urteilt: Denn er kann offensichtlich zwischen dem „Schein“, zwischen der Selbstdarstellung eines „starken und selbständigen Preußen“ (9) im Vertrag von Schönbrunn, und der Realität nicht unterscheiden, genauer, er schließt vom Schein auf die Wirklichkeit. „Stärke“ ist für ihn irgendwie gleichbedeutend mit einer gelungenen Parade. Immer wieder sagt er das, was andere ihm vorher in den Mund gelegt haben („die Welt ruht nicht sicherer auf den Schultern des Atlas, als der preußische Staat auf den Schultern der preußischen Armee“, 36 und 23). Wenn er Victoire einmal begehrenswert findet, dann weil der Prinz ihm vorher das Stichwort gegeben hatte (63 und 73), und er gesteht ihr seine Bewunderung in geläufigen Formeln (74-75). Die Gründe für seine letztendliche Entscheidung: Lieber alles, bis hin zum Selbstmord, als „das Ridikül“ (96) einer als hässlich geltenden Frau, haben andere bereits im zweiten Kapitel als Teil seines Charakters bzw. ‚Nicht-Charakters’ für ihn genannt (22). Wenn ihm „nachgesagt“ wird, dass er „der garstigsten princesse vor der schönsten bourgeoise den Vorzug geben würde“ (43), dass er also völlig berechenbar systemhörig ist, widerspricht er nicht. Selbst seine inneren Monologe, etwa im Kapitel In Wuthenow am See (102 ff.), kreisen um die Bilder und Urteile, die andere sich von ihm machen würden. Schach ist in der Tat, allerdings mit der wichtigen Ausnahme einer einzigen Szene, ja eines 21 Eine Metonymie ist eine Figur pars pro parte : Ein „Teil“ der preußischen Geschichte, der „Skandal“, steht für einen anderen Teil, den „Krieg“. Die „Para-Metonymie“ entsteht, indem genau kalkuliert die Skandalgeschichte „para“, also gegenüber dieser ausgegrenzt „neben“ die allgemeine Geschichte der Vorbereitung des Krieges gestellt wird. Ihre Inhalte werden so „allgemeiner“ bedeutsam ( amplificatio ), über den engeren Kontext hinaus: Sie generieren Deutungsvorschläge („hypothetisch“) für viele („multipel“) historische Situationen. Die Begriffe erklärt jedes Handbuch der Rhetorik. Vgl. z. B. Ueding, Gert und Bernd Steinbrink. Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1986. Als knappe Einführung vgl. Geppert, Hans Vilmar. „Rhetorik und Literaturtheorie“. Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven . Bd. 2. Hgg. Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2005. 49-83. 108 Hans Vilmar Geppert Augenblicks, den nur Victoire im Nachhinein versteht, 22 eine „Schachfigur“ im Strategie- Spiel seines Autors gegen das Preußen seiner Zeit. Wer ist eigentlich Schachs Gegenspielerin? In der Handlung des Romans führt sicher Frau von Carayon, eine wirkliche und allgemein anerkannte „Dame“, diesen Part aus. Der König „schlägt“ Schach im Zusammenspiel mit ihr. Aber im „Werte-Diskurs“ des Romans, dem Spiel der Argumente, Urteile und Bewertungen, 23 ist es Victoire, die ihren Namen „Sieg“ einlöst, die schon früh geistvoll den falschen „Tempelritter“ Schach entlarvt (40 f.), die überhaupt immer wieder dessen „Ritterlichkeit“ diskutiert - gerade indem sie ihn verteidigt, stellt sie ihn in Frage -, und die bei den Lesern schließlich gegen Schach gewinnt, so wie sie ja überhaupt im Roman das letzte Wort erhalten hat. Victoire steht am Ende noch aufrecht da. Ist es nicht bemerkenswert, dass Victoire erzähltechnisch gesehen lange genau analog behandelt wird wie Schach? „Man“, also die Leute, die viel über Schach sprechen, sprechen auch über sie. Indem Schach den Worten des Prinzen über die „beauté du diable“, die „teuflische Schönheit“ folgt und Victoire sozusagen ‚vom Blatt‘ weg verführerisch findet, versucht er gewissermaßen, auch sie ‚vorzuführen‘. Er sieht sie als das, was andere von ihr gesagt haben. Aber natürlich beweist er in dieser Szene nur, wie menschlich flach, ja ‚hohl‘ er ist, während Victoire sich genau jetzt von allen Vorurteilen und Außenperspektiven befreit: Ich … bin ich […] und freue mich meiner Freiheit. Wovor andre meines Alters und Geschlechts erschrecken, das darf ich. [Früher] war ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, eine Sklavin. Oder doch abhängig von hundert Dingen. Jetzt bin ich frei. (73) Während Victoire ihr Selbstbewusstsein formuliert in Sätzen, die auch Charlotte Brontës Jane oder George Eliots Dorothea oder Henry James’ Isabel oder Ibsens Nora oder Chechovs Nina oder Fontanes Melusine oder Mathilde Möhring hätten sagen können, 24 da fährt der Erzähler fort: Schach sah verwundert auf die Sprecherin. Manches was der Prinz über sie gesagt hatte, ging ihm durch den Kopf. (73) Er hört gar nicht auf das, was sie sagt, sondern achtet nur auf das „Feuer in ihren Augen“ (73), worin er die „Leidenschaft“ wieder erkennt (64), die der Prinz gerühmt hatte. Und gibt nicht umgekehrt spiegelbildlich Victoire, indem sie „die Kraft [ihrer] Liebe“ (65) auslebt, der hohen Meinung des Prinzen von der „beauté de diable“ letztlich doch recht, während Schach erst konventionelle „Schuld“ (76), und dann lediglich „die Peinlichkeit“ (77) seiner Situation empfindet? Endgültig über den ihr spiegelbildlich entgegengesetzten „Ritter“ hinaus wächst die „Dame“ Victoire dann in den beiden einander kontrastierenden Briefen am Ende des Ro- 22 Schach läuft am fatalen Hochzeitstag beim „süßen Klang ihrer Stimme“ noch einmal zurück, „umarmte sie“ und „küßte sie“ (145). In diesem Augenblick, das weiß Victoire später, hat sie seine „Liebe […] gehabt“ (152). 23 Vgl. Geppert, Hans-Vilmar. „Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung“. Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. IV. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2009. 305-337. 24 Vgl. Brontë, Charlotte. Jane Eyre (1847); Eliot, George. (Mary Ann Evans): Middlemarch (1871-1872); James, Henry. The Portrait of a Lady (1881); Ibsen, Hendrik. Ein Puppenheim (1879); Chechov, Anton. Die Möve (1896); Fontane, Theodor. Der Stechlin (1998); Mathilde Möhring (aus dem Nachlass 1907). Theodor Fontane, Schach von Wuthenow 109 mans. Schach lebte in einer „Welt des Scheins“, ja er identifizierte sich mit ihr. Victoire war immer auf Erkenntnis der Wahrheit in allem gerichtet gewesen, was ja nach Fontane durchaus das Ideal eines realistischen Erzählers sein soll. So kann sie jetzt Schachs Schwächen zugeben und sich zugleich zur „Liebe“ bekennen, die sie „gehabt“ hat (152). Wie Lene, Stine, Corinna in Frau Jenny Treibel , Effi Briest, 25 die Gräfin Melusine in Der Stechlin oder die Romanheldin von Mathilde Möhring ist Victoire, auch wenn sie wie diese ihre „Schwestern“ sich gesellschaftlich nicht durchsetzen kann, doch aufrichtig gegen sich selbst. Auch dass sie so ausführlich zu Wort kommt, hat etwas Emanzipatorisches. Zuletzt bricht sie aus den preußischen Traditionen aus, etwa wenn sie in Italien zur „Mutter Gottes“ betet. Und ihr Kind ist ganz grundsätzlich ein Hoffnungssymbol. Die Gestalt der Victoire - besser, und das scheint mir sehr wichtig, und man muss genau lesen, ihre Rolle im Erzähl-Spiel, denn es geht ja nicht irgendwie um ein Vorbild (auch was sie am Ende tut, hat nichts Exemplarisches), ihre strukturelle Größe, der „Sieg“ (Victoire) der Werte, die sie verkörpert - schafft eine deutliche Verbindung zwischen der Zeit des Romans und dem, was Fontane seiner eigenen Zeit sagen will. Gilt das schließlich auch für den „Fall Schach“ und wenn ja, wie? 1806 - 1882 - 1914 - und dann? „Mirabeau hatte recht, den gepriesenen Staat Friedrichs des Großen mit einer Frucht zu vergleichen, die schon faul sei, bevor sie noch reif geworden. […] Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen, an der Schach zugrunde gegangen ist.“ (5, 149) Es ist nicht der Erzähler, der das sagt, sondern der verbitterte von Bülow, einer der immer Recht behält, aber nie etwas erreicht, eine in ihrer Kritik an Preußen durchaus unzuverlässige Stimme. Aber ist durch die Person hindurch nicht doch auch die Stimme des Autors zu hören? Und bekommen nicht solche Sätze in einem 1882 erschienen Roman, als Preußen und das deutsche Reich sich für absolut glor- und siegreich hielten, etwas Provozierendes? Haben sie nicht, wie verdeckt immer, doch auch die eigene Gegenwart mit im Blick? Immerhin geht es ja doch um eine vernichtende Niederlage, ein fortwirkendes nationales Trauma, wobei Fontane zeitweilig erwogene alternative Titel wie Vor Jena , Vor dem Niedergang , Vor dem Sturz oder Vor dem Fall ebenso vermeidet, und damit den relativierenden Kontrast zum glorreichen Ausblick seines früheren vaterländischen Romans Vor dem Sturm (1878), 26 wie er eben gerade nicht am Ende auf „Katzbach“ und „Leipzig“ vorausblickt, wie es Willibald Alexis in seinen Romanen über dieselbe historische Zeit getan hatte. Fontane hält die Provokation offen. Allerdings geht es weniger um eine direkte Provokation, sondern um einen Zweifel, einen Verdacht, oder um Sorge. Jeder Autor spricht durch seine Personen. Aber dabei ändern sich, wie v. a. der Literatur-Theoretiker Michail Bachtin gezeigt hat, 27 die Vorzeichen. Die Aussage wird problematisch und „hypothetisch“ und verwandelt sich letztlich 25 Vgl. Fontane, Theodor. Irrungen, Wirrungen (1888); Stine (1890); Frau Jenny Treibel oder Wo sich Herz zum Herzen find’t (1892); Effi Briest (1895). 26 Vgl. Fontane, Sämtliche Romane , S. 966. 27 Vgl. Geppert, Hans Vilmar. „Vom Erzählen, vom Lachen und von der Zeit. Eine Einführung in Michail Bachtins Erzähltheorie“. Theorien der Literatur. Bd. 3 Hgg. Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2007. 61-79. 110 Hans Vilmar Geppert in eine Frage. 28 Der (implizierte) Autor sagt: Wenn wir diese Aussagen auf unsere eigene Gegenwart beziehen, denken wir zumindest einmal darüber nach: Könnten auch wir einer „faulen Frucht“ gleichen, könnten auch wir einmal an einer „Welt des Scheins zugrunde“ gehen? Bezeichnenderweise fällt das Stichwort von der „Welt des Scheins“ vor der zeitlichen Leerstelle in der Handlung zwischen den beiden Briefen, einer Leerstelle, die die Niederlage Preußens von 1806 zugleich bezeichnet und ausgrenzt. Das zeigt erneut, wie bewusst Fontane jene klassische, oben an Scott, Stendhal und Flaubert gezeigte, „para-metonymische“ Erzählstrategie einsetzt ( pars pro parte ), dass ein „Teil“, also hier der „Skandal“, einen anderen „Teil“ der preußischen Geschichte bezeichnet, also die Niederlage. Dann aber, und das scheint mir der klassische Trick dieses „Erzähl-Schach-Spiels“ zu sein, wird die eigentliche Krise der Verwicklungen von Liebe, Eitelkeit und scheinbarer Ehre betont, ja überbetont eingegrenzt; sie verdeckt den historischen Kontext und steht wie neben ihm (daher „para-“, griechisch „neben“). Sie zieht alle Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf sich, kommt ihnen nahe wie ein Film oder eine Theateraufführung. So wird sie dann ganz gegenwärtig. Und mit dieser Zeitdynamik wird dann auch die verdeckt miterzählte Historie aufgeladen. Wer den historischen Hintergrund im Auge behält, für den wächst das Drama, wer ihn nicht kennt oder mit den Personen vorübergehend vergisst, für den wächst, wenn es heißt: „Der Krieg ist erklärt“, der Schock. Gerade der vorübergehend eingegrenzte „Skandal“ bezeichnet die „Niederlage“ zuletzt geradezu implosionsartig erst recht, so wie gerade die Leerstelle in der Handlung und der Zeitsprung erst recht das Datum und das Ereignis: „14. Oktober, Schlacht bei Jena“, bezeichnen. Man sieht erneut, wie kalkuliert Fontane seine „Aktanten“ auf dem „Schachbrett“ seines Erzählens bewegt. Denn jetzt gilt sein „Erzähl-Schach“ tatsächlich und zuletzt dem „König“; nur dann gälte es ja überhaupt; es gilt Preußen allgemein. Auch bei den Vorbildern und „Großmeistern“ des „Erzähl-Schach“, die eingangs vorgestellt wurden, hatte diese strategische Figur immer eine Verallgemeinerung, eine „hypothetische amplificatio “ eingeleitet. Für Stendhal und Flaubert beginnt eine Geschichte tiefer Desillusion und allgemeiner Geschichts-Skepsis. Zuletzt wird Stendhals Romanheld ja ein Einsiedler, ein säkularer „Karthäuser“ werden. Und die oben analysierte kurze, aber unendlich leere Zeit bei Flaubert wird am Ende des Romans die ganze Wirklichkeit des Romanhelden prägen. Dieser „träg-stetige Ablauf […] der Zeit als Dauer“ wird für ihn die „tiefste und erniedrigendste“ 29 Desillusion seiner Geschichtserfahrung bedeuten. Und sehr interessant ist die wesentlich begrenztere amplificatio dieser Erzählfigur bei Walter Scott. Es ist inzwischen allgemein anerkannt, Scotts Roman Redgauntlet (1824) verstärkt ja gerade diesen Aspekt, dass er mit dem „Schlafwandler“ Waverley auch spätere Bestrebungen für eine Unabhängigkeit Schottlands im Blick hatte. „Wir könnten an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen, an der Hugh Redgauntlet zugrunde gegangen ist“: Das könnte durchaus am Ende dieses Romans von Walter Scott stehen. Scott begrüßte die Union. Derlei wird noch heute diskutiert. Noch im Streit vor dem Referendum im letzten Jahr wurde Scott von den Anti-Separatisten der „Better-Together“-Partei tatsächlich als einer ihrer Kronzeugen angeführt. 28 Bachtin, Michail. Die Ästhetik des Wortes. Dt. von Rainer Grübel und Sabine Reese. Hg. Rainer Grübel. Frankfurt 1979, S. 255. 29 Lukács, Georg. Die Theorie des Romans . Frankfurt a. M. 1965, S. 123. Theodor Fontane, Schach von Wuthenow 111 Wenn also Fontane zu seinen Lesern von 1882 und danach zu sagen scheint: „Schau hin, überlege einmal, ob nicht vieles in diesem Roman auch für unsere Gegenwart gültig ist? “, dann gibt es in der Tat, das ist inzwischen wohl allgemeine Forschungs-Meinung, 30 viel anzuführen: die Arroganz in Teilen des Adels („et pour la canaille“, 86), dessen Privilegien in der Armee, überhaupt der Militarismus, dann natürlich der Ruhm-, Ehr- und Größenwahn, der 1882 womöglich noch ausgeprägter war als 76 Jahre früher. Wie sehr der Konflikt lähmender gesellschaftlicher Vorurteile und dem gegenüber das Paradigma der für sich selbst fühlenden, denkenden und redenden Frau auf Fontanes Berliner Romane verweisen, wurde bereits erwähnt. Dass die hier vielfach zu findenden Motive des Ästhetizismus, eine Haltung, „alles so ganz und gar auf das Ästhetische zurückzuführen“ (22), oder der Symbolismus des Todes, etwa die „Flottille“ der Schwäne vor den „schwarz und schweigend“ stehenden „hohen Pappeln“ (66), oder wenn Schach auf einem „toten Arm des Sees“ treibend in „tiefer Stille“ einschläft (108-109), oder das den ganzen Roman durchziehende Thema der „Decadence“ (13), dass all dies eine Verbindung zur Kultur des fin du siècle herstellt, scheint evident. 31 Der Typus des „dekadenten Offiziers“, der eigentlich nichts zu tun hat, so wie Schach sein Gut verpachtet und überhaupt „Dienstliches“ allenfalls „vorschützt“ (17), und der zwischen Amouren, Glücksspiel und Duellen hin und her pendelt, auch den Suizid eher achselzuckend versteht, wird am ehesten mit der österreichischen Literatur und Kultur der Jahrhundertwende in Zusammenhang gebracht. Der Hinweis auf ein „Champagnerleben als ein Ideal“, auf „Triumphe“ bei den Damen der „Garnisons“-Stadt und auf den „Respekt vor [s]einen Pistolen“ 32 in Fontanes Roman über den ungarisch-österreichischen Graf Petöfy (1884) zeigt, dass er selbst diesen Zusammenhang durchaus kannte. Schach jedenfalls, noch mehr als die Serge, Pitt oder St. Arnaud aus anderen Erzählungen Fontanes, 33 steht seinen K.u.K.-Kameraden in vielem auffallend nahe. Dass die „garstigste princesse“ immer noch schöner sei, als die „schönste bourgeoise“ (34), hätte auch Ferdinand von Saars Leutnant Burda (1887) sagen können: Denn „für Burda begann das weibliche Geschlecht erst bei der Baronesse; […] auf gewöhnliche Hofratstöchter pflegte er mit einer Art von Mitleid herabzusehen; Damen der Plutokratie verachtete er gründlich“. 34 Oder wenn Schach sich sagt: „Was ist leben? Eine Frage von Minuten, eine Differenz von heut auf morgen“ (135), dann scheint Artur Schnitzlers Leutnant Gustl (1901) diesen inneren Monolog geradezu fortzusetzen: „Aus, aus, abgeschlossen mit dem Leben! Punktum und Streusand drauf! “ 35 Schach bewundert, wie russische „neue Regimenter […] klingenden Spiels“ in die bereits so gut wie „verlorene“ Schlacht von Austerlitz gegangen sind (54); klingt das nicht schon ein wenig 30 Vgl. z. B. die Forschungsstimmen in Wagner und Tanzer, Theodor Fontane , S. 87 ff. 31 Vgl. etwa Spiers, Ronald. „Fontane und die Dekadenz“. Fontane im literarischen Umfeld seiner Zeit. Beiträge zur Fontane-Konferenz vom 17 . bis 20 . Juni 1986 in Potsdam . Hg. Friedhilde Krause. Berlin 1987. 134-149; Geppert, Hans Vilmar. „Prussian Decadence: ‚Schach von Wuthenow‘ in an International Context“ . Theodor Fontane and the European Context. Literature, Culture and Society in Prussia and Europe. Hgg. Patricia Howe und Helen Chambers. Amsterdam / Atlanta 2001. 105-117. 32 Fontane, Sämtliche Romane , S. 756, 762, 766. 33 Cécile (1887); Irrungen, Wirrungen (1888). 34 Saar, Ferdinand von. Leutnant Burda . Hg. Veronika Kribs. Tübingen 1996, S. 6; vgl. Bachleitner, Norbert. „Of Grieving Girls and Suicidal Soldiers: Theodor Fontane and Ferdinand von Saar”. Theodor Fontane and the European Context. Literature, Culture and Society in Prussia and Europe . Hgg. Patricia Howe und Helen Chambers. Amsterdam / Atlanta 2001. 34-41. 35 Schnitzler, Arthur. Leutnant Gustl und andere Erzählungen. Das erzählerische Werk. Bd. 2. Frankfurt 1981, S. 218. 112 Hans Vilmar Geppert so, wie der berühmte Satz: „ Am besten starb man für [seinen Kaiser] bei Militärmusik, am leichtesten beim Radetzkymarsch“, aus Joseph Roths Roman Radetzkymarsch (1932)? 36 Und ist nicht Schach mit seiner krankhaften Eitelkeit und zuletzt tödlichen Obsession für „das Ästhetische“ (22), dessen eigentliche „Liebhabereien […] Kupferstiche und Rennpferde“ sind (47), der sich einen betont englischen und ganz modischen „kleinen Groom“ hält (26), und der sogar „safranfarbene Nachthandschuhe“ (24) tragen soll, ist er nicht überhaupt so etwas wie der preußische Vetter der dekadenten Dandys in London, Paris oder Wien? „Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen“: Sollte dieser Satz also, wie hypothetisch und problematisch und letztlich fragend immer, an Fontanes eigene Zeit gerichtet sein? Wir werden die Antwort weder bei Fontane selbst, noch bei seinen Zeitgenossen finden. Fontane kritisiert und provoziert, in seinem Erzählen pointierter als in seinen Briefen oder Kommentaren, aber er war kein Prophet. Es sind die Kriege des Zwanzigsten Jahrhunderts, die Preußen „zugrunde gehen“ ließen. Und es sind bezeichnenderweise Autoren des 20. Jahrhunderts, die diese Figur des „dekadenten Offiziers“ kontinuierlich in den Ersten Weltkrieg hinein geführt haben. Immer wieder werden dabei auch markante Züge der Schach-Figur variiert und weiter erzählt. Es ist ja völlig klar, dass Schach in seiner Laufbahn einer Familientradition folgt; die Betrachtung der Bilder seiner Ahnen etwa, „alle waren in hohen Stellungen in der Armee gewesen“, macht ihm seine eigene Situation schlechthin unerträglich: „Nein, nein! “ (214-215). Für die Romanhelden bei Josef Roth und Hermann Broch ( Die Schlafwandler , Bd. 1, 1931) ist solche Familien-Tradition auf viel härtere Weise zum Zwang geworden, beide Male verkörpert in ihren Vätern. Der eine entgeht diesem Zwang eher passiv, er kann sich mit dieser Welt nicht identifizieren; die eigentlich „dekadenten Offiziere“ sind seine Regimentskameraden; doch gerade wenn er aus diesem Milieu herausgekommen ist, wird er mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurückkehren müssen, um sogleich zu fallen, letztlich dann doch im Sinne der Familien-Tradition: „Er hörte schon die Schüsse […] und gleichzeitig die ersten […] Takte des Radetzkymarsches“. 37 Der zweite unterwirft sich, und dieser Ausdruck ist hier wirklich angebracht. Und nachdem sein Sohn, mit dessen Geburt der erste Band der Schlafwandler- Trilogie endet, im dritten Band, sozusagen stellvertretend für ihn selbst, als gefallen erwähnt wird, gerät er, inzwischen völlig farblos, ja willenlos geworden, als irgend „ein Major“, wie ein Stück Treibgut des Kriegsgeschehens aus dem Blick. Aber müssten wir nicht auch die Zukunft der jungen Offiziere in Fontanes Romanen, etwa die des „Taschen-Moltke“ Woldemar von Stechlin, 38 sofern sie Söhne haben, so oder ähnlich weiter erzählen? „Ah ba! […] Schach ist ein blauer Rock mit einem roten Kragen“, und es soll Offiziere geben, die der Taille wegen „ihren Uniformrock direkt auf dem Leibe tragen“ (120, 52): Was zwei Romanpersonen in Schach von Wuthenow ironisch über den Romanhelden und seine Welt sagen, hat Herrmann Broch 53 Jahre nach Fontane kontinuierlich geradezu forterzählt und, wenn ich so sagen darf, zur Kenntlichkeit verzerrt. Nicht nur klingt der Name „von Pasenow“ deutlich an die Figur Fontanes an, die Uniform, „des Königs Rock“, wird in Pasenow oder die Romantik , dem ersten Band der Schlafwandler -Trilogie, zu einem 36 Roth, Joseph. Radetzkymarsch . München 2015, S. 32. 37 Roth, Radetzkymarsch, S. 390. 38 Fontane, Sämtliche Romane , Bd. 5, S. 338. Theodor Fontane, Schach von Wuthenow 113 mythischen Ding überhöht bzw. dämonisiert. Noch deutlicher als seinerzeit Schach hat sie hier dem Romanhelden geradezu seine Identität genommen: Wenn einer seit seinem zehnten Lebensjahr daran gewöhnt ist, eine Uniform zu tragen, dem ist das Kleid schon wie ein Nessushemd eingewachsen, und keiner, am allerwenigsten Joachim von Pasenow, vermag dann noch anzugeben, wo die Grenze zwischen seinem Ich und der Uniform liegt. „Wo die Grenze zwischen seinem Ich und der Uniform liegt“: Natürlich erzählt Herrmann Broch eine ganz andere Geschichte, aber so wie Brochs Pasenow es als gut empfindet, dass das „Symbol“ der „Uniform“ ihm seine „persönliche und menschliche Freiheit“ so gut wie genommen hat, das Symbol einer „auf Unduldsamkeit und Unverständnis gegründeten […] eigentlichen Romantik dieses Zeitalters“, 39 hat nicht so auch Fontanes Schach sein Ich so total mit seiner uniformierten gesellschaftlichen Geltung identifiziert, dass er es nur noch mit „un peu de poudre“ auslöschen kann (148)? Auf alle Fälle schließt das, was Broch „Romantik“ nennt, wenn auch viel härter formuliert, an das an, was Fontane eine „Welt des Scheins“ genannt hatte. Und dass „Schlafwandler“ in „Alpträume“ der Geschichte hinein geraten, so wie die Figuren Herrmann Brochs in den Krieg, hat die europäische Literatur seit langem immer wieder erzählt, intensiv und dramatisch kalkuliert eben Fontane. Heinrich Manns Roman Eugénie oder Die Bürgerzeit (1928), ich halte ihn für ein kleines Meisterwerk, beginnt mit den Worten: „1873 eines Nachmittags“, 40 spielt also kurz nach der Reichsgründung und in der Zeit Fontanes. Zwar steht die Figur des dekadenten Offiziers hier eher an der Peripherie, ist aber zu deutlich erkennbar und zu präsent, um unwichtig zu sein. Die beiden adeligen Leutnants, wieder einmal eingebildete Nichtstuer, ungeschickte Courmacher, noch ungeschicktere zeremonielle Duellanten und so fort, werden hier ganz direkt und einfach ironisch dargestellt. Schon dass sie immer zu zweit auftreten, wie zwei Clowns, setzt sie ungünstig in Szene. So sind gerade auch sie Teile einer „Welt des Scheins“, um deren „Untergang“ es bei Heinrich Mann in mehrfachem Sinne geht. Der eine Offizier spielt den tollkühnen Eroberer, allerdings mit dem Vorbehalt, „dienstliche Unannehmlichkeiten“ vermeiden zu wollen: „Meine Karriere ist mir die Sache denn doch nicht wert“. So hatte letztlich auch Schach gedacht. Der andere muss sich von der angebeteten Dame sagen lassen: „Ihre Maske ist übertrieben […]. Sie möchten beständig mehr aus sich machen, als Sie verantworten können; wird es aber ernst, sind Sie mit Ihrer ganzen Romantik nicht mehr da“, was durchaus an Frau von Carayons Urteil über Schach erinnert. So wie hier die „Dame“ leichthin den „Ritter“ vom Brett fegt, ist so nicht überhaupt inzwischen Schachs Tragik zur Farce geraten? Im Mittelpunkt der Handlung bei Heinrich Mann steht eine Theateraufführung, die Produktion einer „Scheinwelt“. Gespielt wird ein vaterländisches Stück, das das letzte Zusammentreffen des vor kurzem geschlagenen französischen Kaisers Napoleon III mit seiner Frau Eugénie zum Gegenstand hat. Aber die Theater-Metapher reicht weit darüber hinaus: Die Personen hier sind alle „Schauspieler“ dessen, was sie für ihre „Persönlichkeit“ oder für ihre Rolle in der Gesellschaft halten, immer „stellen“ sie etwas „vor“, sind mit „wechselnden Masken“ und im „Kostüm“ zugange, „seinesgleichen will eine Rolle spielen“, „das 39 Broch, Hermann. Pasenow oder die Romantik. Frankfurt 1969, in der Reihenfolge der Zitate S. 13, 26-27 und 22-23. 40 Mann, Heinrich. Eugénie oder Die Bürgerzeit, Ein ernstes Leben. Zwei Romane . Hamburg 1961, S. 7. 114 Hans Vilmar Geppert ist […] meine ganze Rolle hierselbst“, und so fort. Sie identifizieren sich und einander bei den Theater-Proben immer wieder mit den Gestalten, die sie darstellen; auch bei der Aufführung kann und will das Publikum in patriotischer Ergriffenheit zwischen Theater und Historie kaum noch unterscheiden: in der Tat eine „Welt des Scheins“. Und gleichzeitig, das ist die Pointe des Romans, geht eine riskante Börsen-Spekulation, ein anderes „Spiel“ hinter dem Spiel des Theaters und hinter dem Rollenspiel der Gesellschaft, ihrem Krach entgegen: Genau dann, wenn Schauspieler und Publikum „den Sieg und die Niederlage“ auf der Bühne mitfühlen, als geschehe dies gerade jetzt, erfahren sie, dass viele von ihnen genau ab jetzt selbst finanziell ruiniert sind. Dann freilich „gilt kein Spiel mehr, die unverhüllteste Wirklichkeit hat eingegriffen“. 41 So wie Fontane das Jahr 1806 mit dem Jahr 1882 verbunden hatte, so verbindet Heinrich Mann die Jahre 1873 und 1928. Und stellt er, und gerade in seiner ihrerseits bewusst theatralischen Inszenierung, nicht erst recht eine „Welt des Scheins“ dar, der ein mehrfach gebrochener Spiegel zeigt, wie sie selbst einmal „zugrunde gehen“ wird? William Faulkner kannte Fontane mit einiger Sicherheit nicht. 42 Aber der Deutschlehrer in Uwe Johnsons Jahrestage scheint Faulkner gelesen zu haben: „Wer ist der Erzähler? “, „Was beginnen wir, nachdem wir Tante Marguerite in den Mittelpunkt gesetzt haben? “, 43 solche Fragen scheinen, Fontanes Narrativik ins ganz Widersprüchliche und Offene hinein radikalisierend, bereits eher auf Faulkner zu zielen. Anders gesagt: Der von Faulkner begeisterte Uwe Johnson schaut dem Deutschlehrer über die Schulter. Johnson las Fontane mit an Faulkner geschulten Augen. 44 Folgt man diesen Hinweisen, dann ergeben sich in der Tat verblüffende Gemeinsamkeiten. Faulkner steht wie Fontane in der entschiedenen Nachfolge Walter Scotts, und er hat Fontanes „Finessen“ leidenschaftlich, radikal und als unversöhnliche Gegensätze, aber doch strukturell tief vergleichbar forterzählt. So findet man etwa in seinem historischen Roman Absalom, Absalom! (1936), der eine verletzende familiäre „Skandalgeschichte“ vor das „Untergangs“-Szenario des amerikanischen Südens, „the deep South, dead since 1865“, 45 stellt, die vielleicht drastischsten „Schlafwandler“-Vergleiche dieser langen Tradition: Die Geschichtserfahrung kann hier die „logicand reasonflouting quality of a dream“ haben, oder der Krieg erscheint wie ein Fieber, das eine lange Krankheit des Südens beendet, aber die Leute blicken „with stubborn recalcitrance backward beyond the fever and into the disease with actual regret“, oder - und das erinnert am meisten an Schach von Wuthenow - die Historie gleicht einem See, dessen Dämme jeden Augenblick bersten können, „which would be the land‘s catastophe […]“, „rising almost imperceptibly and in which the four members [der konfliktträchtigen Familie] floated in sunny indifference“. 41 Mann, Eugénie , in der Reihenfolge der Zitate, S. 133, 187, 105, 14, 49, 153, 93, 200, 206. 42 In seiner Bibliothek fand sich zwischen Goethe und Thomas Mann keine deutsche Literatur; vgl. Blotner, Joseph. William Faulkner’s Library. Charlottesville 1964, S. 4. 43 Johnson, Jahrestage , S. 1702-1703. Faulkner ist berühmt dafür, verschiedene Personen dieselbe Geschichte ganz verschieden erzählen zu lassen. 44 Dies wird ausführlich diskutiert und begründet in Geppert, Hans Vilmar. „‚Vergangene Vergangenheit? ‘ Realismus und Moderne bei Fontane, Faulkner und Johnson“. Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65 . Geburtstag. Hgg. Werner Frick, Susanne Komfort-Hein, Marion Schmaus und Michael Voges. Tübingen 2003, S. 231-245; vgl. dazu auch Geppert, Hans Vilmar. Der historische Roman. Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen 2009, S. 94-101, 226-236, 290-298. 45 Faulkner, William. Absalom, Absalom! London 1971, S. 6. Theodor Fontane, Schach von Wuthenow 115 Wie bei Fontane, nur viel tiefer verletzend, gipfelt die Familiengeschichte in Faulkners Absalom, Absalom! in einem Konflikt falscher „Ehre“. Es ist ja nicht der Inzest-Vorwurf (nach Samuel 2, 13-18), der den einen Halbbruder den anderen töten lässt, weil dieser seine Schwester liebt, sondern die Rassen-Ehre des amerikanischen Südens: „His mother was part negro“, „I’m the nigger that’s going to sleep with your sister“. Diese „Reinheits“- Obsession ist noch tödlicher als die Schönheits-Obsession Schachs. Und stellen diese unüberwindbaren „iron old traditions“ 46 nicht erst recht eine „Welt des Scheins“ dar, die zum „Untergang“ bestimmt ist? Warum ist dann in Uwe Johnsons Jahrestage - damit komme ich zum Ende meines Vortrags und kehre zugleich an den Anfang zurück -, warum ist hier von einer „Welt des Scheins“, die zum „Untergang“ bestimmt ist, nie die Rede? In dem ausführlich dargestellten Deutschunterricht („wir lesen ‚Schach von Wuthenow’“) 47 an einer Schule der DDR im Jahr 1950 / 1951 achtet der Lehrer pingelig auf alle historischen und topographischen Details. Aber auf Themen wie „Verhaftung wegen Schriftstellerei“ (der historische von Bülow starb im Gefängnis), oder dass in bestimmten Lokalen einem die „Aufpasser […] die Kehle zuschnürten“, und so fort, geht er, wie die Erzählerin anmerkt, gezielt nicht ein: „Glatteis vermied er“, sagt sie, „ein ideologischer Revisor auf Durchreise hätte gut und gern bei uns hospitieren dürfen oder uns vernehmen in Weserichs [so hieß der Lehrer] Abwesenheit“. 48 Ein „ideologischer Revisor“? Sieht man dieses Stichwort zusammen mit den Unterrichtsbeispielen darum herum, wenn die Schüler fast ersticken an den politisch korrekten Lügen, die sie lernen und aufsagen müssen, und liest man aufmerksam den einzigen Hinweis, den der Deutschlehrer gibt: „Spricht jener von Bülow am Ende das Urteil des Autors? “, und dann die Antwort: „Fontane wünschte seine Leser unabhängig“ - ein Hinweis, mit der die Unterrichts-Einheit abbricht, denn es war eine korrekte, eben publizierte „sozialistische“ Verurteilung Fontanes im Sinne der „ostdeutschen Staatskultur“ von einem Schüler verlesen worden, der das sofort bereut, und von da an war diese Klasse dem Lehrer „widerlich“, 49 - sieht man all das zusammen, ist dann nicht von einer „Welt des Scheins“ indirekt, aber nur umso deutlicher die Rede? Sie ist dort und dann überall um einen herum. Was Fontane „Schein“ nannte, herrscht bei Johnson als „Staatskultur“ und als Ideologie. Und so wendet Johnson dann auch einen geradezu klassischen Spielzug des „Erzähl- Schach“ aus Fontanes Roman an: Die Kunst der Leerstelle, die das erst recht bezeichnet, was sie ausgrenzt. Denn es gibt ja keine inhaltlichen Parallelen zwischen Schach von Wuthenow und Jahrestage - bis auf eine wichtige Ausnahme, dazu gleich. Umso klarer, ja prägend, sind die strukturellen Gemeinsamkeiten. Was Fontane indirekt, aber doch recht deutlich andeutet, das Erzählen auf zwei Zeitebenen, das hat Johnson ganz einfach zum Prinzip erhoben: einerseits die Geschichte der Stadt Klütz in Mecklenburg, andererseits Tag für Tag ein Jahr 1967 / 1968. Und was schließlich die Erzählstrategie der „Para-Metonymie“ betrifft - ich verspreche, diesen Begriff von jetzt an nicht mehr zu verwenden -, könnte Johnson prominent in die Galerie jener eingangs vorgestellten „Großmeister“ des „Erzähl- Schach“ aufgenommen werden, zu der auch Fontane gehört: Man schreibt „den dritten März 1933“, an diesem Tag erblickt die Romanheldin Gesine Cresspahl das Licht der Welt. Ihretwegen ist ihr Vater aus einer Art Exil nach Deutschland 46 Ebd., in der Reihenfolge der Zitate, S. 6, 9, 60, 292, 295, 171. 47 Johnson, Jahrestage , S. 1694. 48 Johnson, Jahrestage , S. 1697 und 1702-1703. 49 Ebd., S. 1705-1706. 116 Hans Vilmar Geppert zurückgekehrt, ihretwegen wird er bleiben. Zwei Tage später, am 5. März erreichen die NSDAP und die Nationalen bei der Reichstagswahl 52 %, und Heinrich Cresspahl hat, ausgegrenzt und gefangen zugleich wie Waverley oder Fabrice oder Faulkners Sutpen-Familie oder eben Schach, „die Empfindung von zwei verschiedenen Wirklichkeiten und wäre lieber nur in einer gewesen“: eine „Para“, also „Neben-Welt“ in der Tat. Noch lange behält er „eine taube und zugleich horchende Miene, wie ein Hase, der ertappt ist und auf den Schlag wartet“, 50 ganz wie jemand, der betäubt ist oder im Stehen schläft. Zu einem noch drastischeren „Schlafwandler“ macht die Geschichte später Gesines Geliebten Jakob, der als Eisenbahner „immer quer über die Gleise gegangen“ war. 51 Aber die Sonderzüge, die im Sommer 1956 russische Truppen zur Niederschlagung des Ungarnaufstandes durch die DDR transportieren, kann er nicht auf seinem inneren Fahrplan gehabt haben. Schließlich enden ja die Jahrestage , und das muss von Anfang an so geplant gewesen sein, überhaupt mit Leerstellen, die an Fontane erinnern. Gesine muss so auf ihren Geliebten „D. E“ gewartet haben, bekanntlich eine Projektion von Johnson selbst, wie Faulkners Judith auf ihren Charles und wie Fontanes Victoire auf ihren Schach. Am 20. August 1968 ist sie unterwegs in die Tschechoslowakei, um sich für den „Prager Frühling“ einzusetzen. Johnson erzählt ebenso ausdrücklich nicht , genauso wie Fontane die Niederlage von Jena als eine Leerstelle belassen hat, dass an diesem Tag der Warschauer Pakt dort einmarschieren wird. Und wie Victoire, allein im Exil mit ihrem Kind, bei Fontane das letzte Wort behält, so werden für Gesine das Exil und ihr Kind zu Hoffnungssymbolen. Und sie identifiziert sich noch auf eine weitere sprechende Weise mit Fontanes Welt. Bekanntlich fühlt sie sich im Wasser besonders wohl. Bei ihrer Obsession für das Schwimmen, wo immer es geht, ist es kaum vorstellbar, dass sie bei ihrem Ausflug an die Ostsee, und der 20. August 1968 war ein schöner Tag, dass sie da nicht auch noch ins Wasser gehen wird. Von Victoire wird einmal erwähnt, dass sie mit den Grafen von Lusignan verwandt ist, „aus deren großem Haus die schöne Melusine kam“ (120). Das geschieht ganz beiläufig, aber für Fontane ist dies ein wichtiger Name. Er verbindet Victoire mit jenen „Wasser-Wesen“ wie Oceanie von Parceval , Betty von Ottersund (ein sehr früher Name für Effi Briest) 52 und anderen, vor allem eben auch mit der Melusine, die in Der Stechlin (1889), und dort ebenfalls mit einem Brief, das letzte Wort haben wird. In deren Tradition, und damit auch in die Victoires, stellt auch Johnson seine Romanheldin. Das Wasser ist für ihn wie für Fontane ein elementares Todes- und Lebenssymbol, es symbolisiert die dahin fließende Zeit, die vergehende und die kommende Geschichte, nicht zuletzt das Unbekannte der Zukunft und damit auch, darum die gezielten Leerstellen, noch unerfüllte Hoffnungen. Die Gräfin Melusine in ihrem „revolutionären Diskurs“ ganz am Ende von Fontanes Werk sagt es so: „Für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.“ 53 50 Johnson, Jahrestage , in der Reihenfolge der Zitate S. 201, 199 und 226. 51 Johnson, Uwe. Mutmassungen über Jakob . Frankfurt 1974, S. 7. 52 Fontane, Sämtliche Romane , Bd. 4, S. 713. 53 Fontane, Sämtliche Romane , Bd. 5, S. 270. Theodor Fontane, Schach von Wuthenow 117 Literaturverzeichnis Primärliteratur Broch, Hermann: Pasenow oder die Romantik . Frankfurt a. M. 1969. Faulkner, William: Absalom, Absalom! London 1971. Flaubert, Gustave: L’Éducation sentimentale . Hg. Éduard Maynal. Paris 1964. Fontane, Theodor: Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gendarmes . Stuttgart 1961. -: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes . Hgg. Walter Keitel und Helmut Nürnberger. Darmstadt 1970-1984. Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl . Frankfurt a. M. 1983. -: Mutmassungen über Jakob. Frankfurt a. M. 1974. Mann, Heinrich: Eugénie oder die Bürgerzeit. Ein ernstes Leben. Zwei Romane . Hamburg 1961. Roth, Josef: Radetzkymarsch . München 2015. Saar, Ferdinand von: Leutnant Burda . Hg. Veronika Kribs. Tübingen 1996. Schnitzler, Arthur: Leutnant Gustl und andere Erzählungen. Das erzählerische Werk . Frankfurt a. M. 1981. Scott, Walter: Waverley. Hg. Thomas Hook. London 1974. Stendhal (Marie-Henri Beyle): La chartreuse de Parme . Hg. Michel Crouzet. Paris 1964. Forschungsliteratur Aust, Hugo: Theodor Fontane. Ein Studienbuch . Tübingen und Basel 1998. Bachleitner, Norbert: „Of Grieving Girls and Suicidal Soldiers. Theodor Fontane and Ferdinand von Saar“. 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Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne . Festschrift für Klaus-Detlef Müller . Hg. Werner Frick. Tübingen 2003. 231-245. -: „Rhetorik und Literaturtheorie“. Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven . Bd. 2. Hgg. Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2005. 49-83. -: „Vom Erzählen, vom Lachen und von der Zeit. Eine Einführung in Michail Bachtins Erzähltheorie“. Theorien der Literatur . Bd. 3. Hgg. Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2007. 61-79. -: Der historische Roman - Geschichte umerzählt von Walter Scott bis zur Gegenwart . Tübingen 2009. -: „Dreistellig-semiotische Erzähltheorie“. Theorien der Literatur . Bd. 4. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2009. 305-337. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans . Frankfurt a. M. 1965. 118 Hans Vilmar Geppert Spiers, Ronald: „Fontane und die Dekadenz“. Fontane im literarischen Umfeld seiner Zeit. Beiträge zur Fontane-Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam. Hg. Friedhilde Krause. Berlin 1987. 134-149. Ueding, Gert und Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode . Stuttgart 1986. Wagner, Walter und Harald Tanzer (Hgg.): Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2004. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 119 Édouard Dujardin Les lauriers sont coupés Günter Butzer … die Macht ist an, sonst die Macht ist ab. Betriebsanleitung eines Radiogeräts I. Am 10. November 1917 schreibt der irische Schriftsteller James Joyce einen Brief an seinen französischen Kollegen Édouard Dujardin, 1 in dem er ihn von Locarno aus darum bittet, ihm zu sagen, wo er ein Exemplar seines Romans Les lauriers sont coupés erstehen könne. Er besitze zwar die Erstausgabe, diese befinde sich jedoch zur Zeit in Österreich, von wo aus er als britischer Untertan wegen des Krieges Schwierigkeiten habe, sie zu erlangen. Die Buchhandlungen in Zürich und Locarno habe er bereits erfolglos abgegrast. Als Entschuldigung für seinen ungewöhnlichen Schritt nennt Joyce zwei Gründe: zum einen sei er ein aufrichtiger Bewunderer dieses ebenso persönlichen wie unabhängigen Werks, 2 zum andern sei er ein demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn - eine offenbar kollegial gemeinte religiöse Anspielung, die ihre Fortsetzung finden wird. Joyce‘ Brief kann man entnehmen, dass es 30 Jahre nach dem Erscheinen der Erstausgabe von Dujardins kleinem Roman äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen ist, diesen noch über den Buchhandel zu erwerben. Doch nicht nur das: auch in René Lalous Histoire de la littérature contemporaine aus dem Jahr 1922 wird das Werk, das Lalou bezeugtermaßen kannte, mit keinem Wort erwähnt. 3 Dujardins Roman war also, so kann man daraus schließen, zu dieser Zeit gründlich vergessen. 4 Sein Autor, einst ein symbolistischer Schriftsteller aus dem Kreis um Mallarmé und Herausgeber mehrerer einflussreicher Zeitschriften (darunter die Revue wagnérienne ), hatte sich längst anderen Aufgaben zugewandt und war vor allem als Dramatiker und Verfasser religionsgeschichtlicher Studien bekannt. 1 Hier das Original, das ich im Folgenden paraphrasiere: „Monsieur. Votre fils au consulat français de Zurich m‘a donné votre adresse. J‘écris pour vous prier de vouloir bien me dire où je pourrais obtenir un exemplaire de votre roman Les lauriers sont coupés . J‘avais l‘édition originale mais elle se trouve maintenant en Autriche d‘òu, étant sujet britannique, il ne m‘est pas très facile de la ravoir. J‘ai demandé chez les libraires de Zurich et d‘ici mais inutilement. J‘espère que vous me pardonnerez la liberté que je prends mais j‘ai, je crois, deux excuses valides étant un sincère admirateur de votre œuvre si personnelle et si indépendante et étant en même temps un humble vigneron dans la vigne du seigneur“ ( Joyce, James. Œuvres . Hgg. Jacques Aubert, Michel Cusin, Daniel Ferrer, Jean-Michel Rabaté, André Topia und Marie-Danièle Vors. Bd. 2. Paris 1995, S. 870). 2 Vielleicht eine Anspielung auf den Ort der Erstpublikation des Romans in der Revue indépendante . 3 Vgl. Dujardin, Édouard. Le monologue intérieur. Son apparition, ses origines, sa place dans l’œuvre de James Joyce . Paris 1931, S. 22 und 80. 4 Dujardin selbst berichtet, dass einer seiner Biografen 1923 die Lauriers nicht einmal mehr in seinem Werkverzeichnis aufführte. Vgl. Dujardin, Le monologue intérieur , S. 18. 120 Günter Butzer Nach seinem Erscheinen - zunächst 1887 in vier Folgen in der Revue indépendante , im Jahr darauf als Buchausgabe - wurde Les lauriers sont coupés indes durchaus positiv aufgenommen - allen voran von Stéphane Mallarmé. 1897 veröffentlichte Dujardin eine überarbeitete Auflage, die allen neueren Ausgaben - wie auch den folgenden Ausführungen - zu Grunde liegt. Der junge Joyce konnte während seines Parisaufenthalts von Dezember 1902 bis April 1903 die Erstausgabe an einem Bahnhofskiosk erwerben. Spätestens zu dieser Zeit war es ein Buch, für das sich kaum noch jemand interessierte. Um so mehr Aufsehen erregte es, als eben jener Joyce nach dem Erscheinen seines Skandalromans Ulysses im Jahr 1922 erklärte, er verdanke die spezielle Erzähltechnik von dessen letztem, berühmtestem Kapitel, der sog. Penelope-Episode, die später als ‚innerer Monolog‘ bezeichnet wird, dem kleinen Roman von Dujardin, auf dessen Suche er sich 1917, also mitten in der Arbeit am Ulysses , begeben hatte. Der literarischen Öffentlichkeit wurde Joyce‘ Erklärung übermittelt durch das Vorwort Valery Larbauds (eines der Propagandisten des Ulysses in Paris) zu seiner 1925 erschienenen Neuausgabe der Lauriers (der sog. édition definitive ), die den Text wieder greifbar gemacht hat. 5 Für Dujardin kam diese Reverenz völlig überraschend. Plötzlich findet sich der einstige Symbolist im Zentrum des Interesses der literarischen Avantgarde wieder, wird zu Lesungen in die berühmten Buchhandlungen von Adrienne Monnier und Sylvia Beach an der rue de l’Odéon eingeladen, und in den 1930er Jahren fertigt Joyce‘ Freund Stuart Gilbert eine Übersetzung der Lauriers ins Englische an (erschienen 1938 unter dem Titel We’ll To The Woods No More ). 6 Dujardin hat dies im Nachhinein, nicht unironisch, als Erweckungserlebnis beschrieben: Joyce habe ihm - wie Jesus im Johannesevangelium ( Joh 11,43) - ein Lazare veni foras zugerufen, und dadurch sei sein Roman aus dem Grabe der Literaturgeschichte zu neuem Leben auferstanden. 7 Joyce wiederum schrieb Dujardin in seiner Widmung des Ulysses die Rolle des „annonciateur de la parole intérieure“ zu - womit unter der Hand aus dem bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn, als den sich Joyce in seinem Brief an Dujardin 1917 bezeichnet hatte, der Messias einer neuen Literatur wurde, mit Dujardin als seinem Johannes dem Täufer. 8 5 Vgl. Larbaud, Valery. „Préface“. Les lauriers sont coupés . Édouard Dujardin. Paris 1925. 5-16, hier S. 6 f.: „En 1920 je lus ce qui avait paru de Ulysses dans The Little Review , et peu de temps après j’eu le privilège de causer longuement, et à plusieurs reprises, de cet ouvrage avec James Joyce lui-même, qui en achevait alors les derniers épisodes. Et c’est ainsi qu’un jour il me dit que cette forme avait déjà été employée, et d’une manière continue, dans un livre d’Edouard Dujardin, publié en pleine époque symboliste et antérieur de près de trente ans à la composition de Ulysses : Les lauriers sont coupés , livre dont le titre seul m’était connu, livre négligé de la plupart des lettrés de ma génération […].“ 6 Gilbert nimmt mit seinem Titel die intertextuelle Anspielung des Titels Dujardins auf ein Lied Théodore de Banvilles aus dem Jahr 1845 auf, das mit dem Vers beginnt: „Nous n’irons plus au bois, les lauriers sont coupés“ (Banville, Théodore de. Œuvres poétiques complètes . Hg. Peter J. Edwards. Bd. 2. Paris 1996, S. 10). 7 Vgl. Dujardin, Le monologue intérieur , S. 19. An derselben Stelle ist von einer „résurrection“ die Rede und auf S. 28 heißt es: „James Joyce avait tiré du tombeau les Lauriers sont coupés “. Das biblische Zitat Dujardins entstammt einer persönlichen Widmung der Lauriers an Joyce. Vgl. Senn, Fritz. „Die immergrünen Lorbeerbäume“. Die Lorbeerbäume sind geschnitten . Édouard Dujardin. Dt. von Irene Riesen. Zürich 1984. 147-164, hier S. 153. Die vollständige Widmung lautet: „A James Joyce, maître illustre, mais surtout à celui qui a dit à l’homme mort et enseveli: Lazare lève-toi“ (zit. nach Budgen, Frank. James Joyce and the Making of Ulysses. London 1972, S. 94). 8 Allerdings unterzeichnet Joyce die Widmung mit den Worten: „Le larron impénitent“ - womit er sich wiederum mit dem unbußfertigen Übeltäter identifiziert, der mit Jesus gekreuzigt wurde. Vgl. Rabaté, Jean-Michel. James Joyce and the Politics of Egoism . Cambridge, New York 2001, S. 115. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 121 Das religiöse Narrativ weist darauf hin, dass hier ein Prozess der Kanonisierung in Gang gebracht wird, der, wie jede Kanonisierung, als quasi-sakrale Konsekration vonstatten geht. So wie im ursprünglichen Vorgang der Kanonbildung religiöse Texte in die Bibel aufgenommen und damit deren menschliche Autorschaft zugunsten der Autorschaft Gottes gelöscht wurde, so wird das tote, weil ungelesene, in der Schrift begrabene Werk Dujardins durch den Kultautor Joyce zum ewigen Leben im Kanon der modernen Literatur erweckt. Dujardin versucht in der Folge, das Seinige zu tun, indem er nunmehr in die Rolle des Evangelisten schlüpft und 1931 bei Albert Messein in Paris ein Buch mit dem Titel Le monologue intérieur. Son apparition, ses origines, sa place dans l’œuvre de James Joyce veröffentlicht, womit er einerseits sich und sein Werk ganz in den Dienst des namentlich genannten Messias stellt, andererseits aber seinen gebührenden Platz in der (von ihm selbst inaugurierten) literarischen Hagiografie beansprucht. 9 Dieser Platz als Verkünder der inneren Rede ist Dujardin bis heute geblieben. 10 Die Filiation des inneren Monologs, die er in dem genannten Buch entwirft, wird von der Literaturgeschichtsschreibung übernommen, so dass Dujardin am Beginn einer illustren Reihe steht, die über Schnitzler und Joyce weiter reicht bis zu Faulkner ( The Sound and the Fury ), Beckett ( L’Innommable ), Nathalie Sarraute ( Martereau ) und Carlos Fuentes ( La morte di Artemio Cruz ), um nur einige der bekanntesten Vertreter zu nennen. Es handelt sich mithin bei Les lauriers sont coupés um einen Fall von relationaler Kanonisierung, wie sie in der Literaturgeschichte gar nicht so selten vorkommt. Ein Autor bzw. Werk wird hier nicht über seine rein ästhetischen Qualitäten, sondern in Beziehung auf ein Genre oder eine Künstlergruppe kanonisiert. 11 Bei Dujardin ist dies ganz offensichtlich die Bedeutung seines Romans für das Genre des inneren Monologs. Diese Form der Kanonisierung impliziert eine eher instabile Kanonposition, da der Autor und sein Werk lediglich für genealogische Fragestellungen bedeutsam sind. So verwundert es nicht, dass Dujardin, dessen sonstige Werke nicht einmal annähernd als kanonrelevant betrachtet werden, bis heute mit den Lauriers weder in gängigen französischen Literaturgeschichten wie derjenigen Jürgen Grimms erwähnt 12 noch der Roman in Monografien zum inneren Monolog einer ausführlicheren Analyse unterzogen wird. 13 Die folgende Analyse von Du- 9 Die beständig wiederholte Formel, die Dujardin für diese Kanonisierung zu etablieren sucht, lautet: „Une chose, en effet, ne peut être contestée, c’est que le premier emploi voulu, systématique et continu du monologue intérieur date des Lauriers sont coupés , 1887, et que son instauration glorieuse date d’ Ulysse , premiers fragments parus 1919“ (Dujardin, Le monologue intérieur , S. 31). Damit gelingt es Dujardin, seinen Namen unlösbar mit demjenigen Joyce‘ zu verknüpfen. 10 Auch wenn Vladimir Tumanov diese Position lieber Vsevolod Garšin und dessen zehn Jahre vor den Lauriers erschienener Erzählung Četyre dnja ( Vier Tage , 1877) zusprechen möchte. Vgl. Tumanov, Vladimir. Mind Reading. Unframed Direct Interior Monologue in European Fiction. Amsterdam, Atlanta 1997. 31-54. 11 Vgl. Butzer, Günter. „Mit Kanones auf Raabe schießen. Zur Vorgeschichte der Kanonisierung Wilhelm Raabes“. Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2007: 23-47, hier S. 34 f. und 38 f. 12 Vgl. Grimm, Jürgen. Französische Literaturgeschichte . Stuttgart, Weimar 2006. 13 Nach dem Versuch der Selbstkanonisierung, den Dujardin mit seiner Abhandlung über den Monologue intérieur unternommen hat, bleibt sein Text in den Studien zum stream of consciousness vornehmlich der 1950er und 1960er Jahre noch präsent. Vgl. Bowling, Lawrence Edward. „What is the Stream of Consciousness Technique“. PMLA 65 (1950): 333-345; King, C. D. „Édouard Dujardin, Inner Monologue and the Stream of Consciousness“. French Studies 7 (1953): 116-128; ders. „Édouard Dujardin and the Genesis of the Inner Monologue“. French Studies 9 (1955): 101-115; Friedman, Melvin. Stream of Consciousness: A Study in Literary Method . New Haven 1955. 139-159; Edel, Leon. The Modern Psychological Novel . Gloucester, Mass. 1972. 59-64; Höhnisch, Erika. Das gefangene Ich. Studien zum inneren 122 Günter Butzer jardins Roman dient demnach zwei Zielen: zum einen der unvermeidlichen Positionierung des Werks im Kontext des inneren Monologs, wobei die rein literarhistorische Behandlung von einer durch die neuere Forschung in Gang gebrachten diskursgeschichtlichen Untersuchung abgelöst werden soll; zum andern der eingehenden Analyse des Texts selbst, dessen Faktur sich von derjenigen anderer innerer Monologe durchaus unterscheidet und nicht zuletzt im Zusammenhang einer Diskursgeschichte des inneren Monologs interessante Einsichten erlaubt. II. Was ist nun das Besondere, Neuartige an Dujardins Werk, das ihm den unangefochtenen Platz am Beginn der Genealogie des inneren Monologs sichert? Diese Frage lässt sich nicht mit Bezug auf den dargestellten Objektbereich beantworten. Die literarische Präsentation von Gedanken, wie sie die Lauriers unternehmen, war bereits vor Dujardin möglich und gebräuchlich: einerseits durch die von Dorrit Cohn so genannte „Psycho-Narration“, in der ein (zumeist auktorialer) Erzähler Gedanken und Empfindungen seiner Figuren wiedergibt; 14 andererseits durch den von Flauberts Romanen etablierten style indirect libre bzw. der sog. erlebten Rede, bei der ein personaler Erzähler in interner Fokalisierung aus der Perspektive einer oder mehrerer Figuren erzählt, wodurch sich Erzähler- und Figurenstimme mischen. 15 Insbesondere das letztgenannte Verfahren wurde von der Literaturwissenschaft immer wieder mit dem inneren Monolog gleichgesetzt, weil es beide Male um die Wiedergabe des ‚Bewusstseinsstroms‘ literarischer Figuren zu tun sei. 16 Mit der aus William James‘ Monolog in modernen französischen Romanen . Heidelberg 1967. 99-133. In der Folgezeit löst sich die Forschung allerdings von Dujardins Theorie-Entwurf und damit geraten auch die Lauriers aus dem Fokus des Interesses und werden nurmehr in den wenigen umfangreicheren Arbeiten berücksichtigt, die sich speziell dem Autor Dujardin widmen. Vgl. McKilligan, Kathleen M. Édouard Dujardin: Les Lauriers sont coupés and the interior monologue . Hull 1977. 52-85; Buck, Stefan. Edouard Dujardin als Repräsentant des Fin de siècle . Würzburg 1987. 38-112. Seit den 1990er Jahren werden die Lauriers wieder häufiger als zentrales Erzählwerk des Symbolismus behandelt. Vgl. neben einigen im Folgenden aufgeführten Aufsätzen v. a. Bertrand, Jean-Pierre, Michel Biron, Jacques Dubois, Jeannine Paque. Le roman célibataire. D’ À rebours à Paludes. Paris 1996. 130-136, sowie Michelet Jacquod, Valérie. Le roman symboliste. Un art de l‘„extrême conscience“. Edouard Dujardin, André Gide, Remy de Gourmont, Marcel Schwob . Genf 2008. 237-298. Wichtige neuere Arbeiten zum inneren Monolog gewähren den Lauriers kein eigenes Kapitel. Vgl. Santone, Laura. Voci dall’abisso. Nuovi elementi sulla genesi del monologo interiore . Bari 1999, die der Revue wagnérienne mehrere Abschnitte widmet, Les lauriers sont coupés aber keiner näheren Betrachtung unterzieht. Vgl. auch Gomes, Mario. Gedankenlesemaschinen. Modelle für eine Poetologie des Inneren Monologs . Berlin, Freiburg i. Br., Wien 2008, der sich trotz seines innovativen Theorieansatzes in den Werkanalysen auf die etablierten inneren Monologe Schnitzlers und Joyce‘ konzentriert. Eine Ausnahme bildet die Studie von Tumanov, der den Lauriers ein ausführliches Kapitel einräumt (vgl. Tumanov, Mind Reading, S. 55-79). 14 Vgl. Cohn, Dorrit. Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction . Princeton, NJ 1978. 21-57. 15 Von den neueren Arbeiten zur erlebten Rede sind zu nennen: Martin, Jean-Maurice. Untersuchungen zum Problem der Erlebten Rede . Bern, Frankfurt a. M. 1987; Neuse, Werner. Geschichte der erlebten Rede und des inneren Monologs in der deutschen Prosa . Bern, Frankfurt a. M., New York 1990; Hodel, Robert. Erlebte Rede in der Russischen Literatur. Vom Sentimentalismus zum Sozialistischen Realismus . Bern, Brüssel, Frankfurt a. M. 2001. Vgl. auch den Forschungsbericht von Stanzel, Franz Karl. „Erlebte Rede. Prolegomena zu einer Wirkungsgeschichte des Begriffs“. Erzählen und Erzähltheorie im 20 . Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger . Hg. Jörg Helbig. Heidelberg 2001. 153-167. 16 Vgl. etwa Bowling, „What is the Stream of Consciousness Technique“; Storz, Gerhard. „Über den ‚Monologue intérieur’ oder die ‚erlebte Rede’“. Der Deutschunterricht 7 / 1 (1955): 41-53; Stephan, Doris. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 123 Principles of Psychology entlehnten Bezeichnung stream of consciousness wird jedoch die literaturwissenschaftliche Problematik mehr verunklart als erhellt. Denn das Besondere am inneren Monolog, den man vorläufig als unmittelbare Darstellung der Figurenrede ohne Erzählereingriff bestimmen könnte, liegt nicht in seinem Gegenstand - der Darstellung von Bewusstseinsprozessen -, sondern in seinem discours . Geht man von Émile Benvenistes textlinguistischer Bestimmung des discours aus - der in der Gegenüberstellung zum récit bzw. zur histoire die Grundlage für alle modernen Erzähltheorien seit den 1960er Jahren abgegeben hat -, so ist dieser durch drei Merkmale charakterisiert: 17 (1.) die Verwendung der Pronomina der ersten und zweiten Person, (2.) das Präsens-Tempussystem (Präsens / Perfekt / Futur) und (3.) den Gebrauch von deiktischen Raum- und Zeitbestimmungen ( hier , da , jetzt , heute etc.). Im discours wird demnach eine gegenwärtige Sprechsituation entworfen, die auf einen präsenten Kontext referiert (im Gegensatz zum récit , der in der dritten Person und den Vergangenheitstempora auf einen vergangenen Kontext verweist). Aus dieser Perspektive betrachtet, dient der Beginn von Dujardins Roman der allmählichen performativen Erzeugung eines discours (und nicht einer Erzählung im Sinne Benvenistes): Un soir de soleil couchant, d’air lointain, de cieux profonds ; et des foules confuses ; des bruits, des ombres, des multitudes ; des espaces infiniment étendus ; un vague soir […] 18 (Ein Abend untergehender Sonne, ferner Luft, tiefer Himmel; und des wirren Gedränges; der Geräusche, der Schatten, der Massen; der unendlich ausgedehnten Räume; ein verschwommener Abend […]) Die elliptischen Impressionen des ersten Absatzes bleiben in ihrem Status noch unbestimmt. Mit solchen Substantiv-Adjektiv-Kombinationen könnte jeder Großstadtroman beginnen. Auf Grund der Eliminierung von Pronomina, Tempora und Deiktika ist nicht zu entscheiden, ob es sich um einen discours oder einen récit im Sinne Benvenistes handelt. Das ändert sich indessen mit den folgenden Sätzen des zweiten Absatzes (die nun auch tatsächlich vollständige Sätze sind): Car sous le chaos des apparences, parmi les durées et les sites, dans l’illusion des choses qui s’engendrent et qui s’enfantent, un parmi les autres, un comme les autres, distinct des autres, semblable aux autres, un le même et un de plus, de l’infini des possibles existences, je surgis ; et voici que le temps et le lieu se précisent ; c’est l’aujourd’hui ; c’est l’ici ; l’heure qui sonne ; et, autour de moi, la vie ; l’heure, le lieu, un soir d’avril, Paris, un soir clair de soleil couchant […]. (ebd.) (Denn unter dem Chaos der Erscheinungen, zwischen dem Dauern und den Stätten, in der Illusion der Dinge, die sich zeugen und gebären, einer unter den anderen, einer wie die anderen, verschieden von den anderen, ähnlich wie die anderen, ein nämlicher und einer mehr, aus der Unendlichkeit der möglichen Existenzen tauche ich auf; und nun präzisieren sich die Zeit und der Ort; es ist das „Der Roman des Bewußtseinsstroms und seine Spielarten“. Der Deutschunterricht 14 / 1 (1962): 25-38. Differenzierter argumentiert bereits Humphrey, Robert. Stream of Consciousness in the Modern Novel . Berkeley, Los Angeles 1954. 23-41. Zum gegenwärtigen Forschungsstand vgl. die umsichtige Darstellung von Pottbeckers, Jörg. Stumme Sprache. Innerer Monolog und erzählerischer Diskurs in Knut Hamsuns frühen Romanen im Kontext von Dostojewski, Schnitzler und Joyce . Bern, Brüssel, Frankfurt a. M. 2008. 59-84. 17 Vgl. Benveniste, Émile. Problèmes de linguistique générale . Paris 1966. 237-250. 18 Dujardin, Édouard. Les lauriers sont coupés . Présentation, notes, dossier documentaire, chronologie et bibiliographie par Jean-Pierre Bertrand. Paris 2001, S. 39. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden mit Seitenangaben in Klammern im Text zitiert. Die deutsche Übersetzung folgt derjenigen von Irene Riesen: Dujardin, Édouard. Die Lorbeerbäume sind geschnitten . Dt. von Irene Riesen. Zürich 1984. 124 Günter Butzer Heute; es ist das Hier; die Uhr, die schlägt; und, um mich herum, das Leben; die Stunde, der Ort, ein Aprilabend, Paris, ein Abend hell von untergehender Sonne […].) Auf den ersten Blick könnte man hier von einer Autogenese des Ich sprechen, wie wir sie aus der idealistischen Tradition und deren romantischer Parodie, etwa bei Jean Paul, kennen. 19 In Wirklichkeit unterscheidet sich Dujardins Text jedoch von jeder Genese des Selbstbewusstseins dadurch, dass er diese nicht erzählt ; vielmehr führt er die sprachliche Konstituierung eines discours vor Augen, die sukzessive alle dafür notwendigen Elemente etabliert: vom Pronomen der ersten Person und dessen Kombination mit einem präsentischen Verb („je surgis“) bis zur Ausbildung eines deiktischen Zeigefeldes ( „aujourd’hui“, „ici“, „autour de moi“ etc.), das dann weiter konkretisiert wird („un soir d‘avril“, „Paris“). Damit werden die Impressionen des ersten Absatzes (Abend, untergehende Sonne, tiefer Himmel) in die Situativität eines gegenwärtigen discours integriert und mithin in einem Ich-Hier-Jetzt-Feld kontextualisiert. Mit dem Begriff Karl Bühlers werden wir Zeugen der Geburt einer Ich-Origo, eines pragmatischen, in Raum und Zeit veränderbaren Rede- und Zeigefeldes, auf das hin die Eindrücke geordnet werden. 20 Es bleibt allerdings eine wesentliche Differenz, die mit dem dritten Absatz der Lauriers deutlich wird: […] L’heure a sonné ; six heures, l’heure attendue. Voici la maison où je dois entrer, où je trouverai quelqu’un ; la maison ; le vestibul ; entrons. Le soir tombe ; l’air est bon ; il y a une gaieté dans l’air. L’escalier; les premières marches. Si, par hasard, il était sorti avant l’heure ? cela lui arrive quelquefois ; je veux pourtant lui conter ma journée d’aujourd’hui. (39 f.) ([…] Die Uhr hat geschlagen; sechs Uhr, die erwartete Stunde. Hier ist das Haus, wo ich hineingehen muß, wo ich jemanden treffen werde; das Haus; der Flur; gehen wir hinein. Der Abend bricht an; die Luft ist gut; eine Heiterkeit liegt in der Luft. Die Treppe; die ersten Stufen. Wenn er zufällig früher weggegangen wäre? Manchmal tut er das; ich möchte ihm doch meinen heutigen Tag schildern.) Was mit diesem Absatz einsetzt und für den Rest des Texts fortgeführt wird, ist ein discours , der aus dem steten Wechsel von sprachlich festgehaltenen Impressionen (d. h. Sinneswahrnehmungen, zu denen auch die gesprochene Rede von Dialogen gehört) einerseits und sprachlich formulierten Gedanken andererseits besteht. Zusammengehalten werden sie von jener Referenzinstanz des Ich, in deren Bewusstsein sich Wahrnehmungen und Re- 19 Jean Paul erzählt in seiner Selberlebensbeschreibung von „der Geburt meines Selbbewußtseins […], von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ‚ich bin ein Ich‘ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich gedenkbar“ - offenbar handelt es sich um eine Parodie von Fichtes ursprünglicher Einsicht der Selbstidentität im ‚Ich=Ich‘. Vgl. Jean Paul. „Selberlebensbeschreibung“. Sämtliche Werke . Bd. 6. Hg. Norbert Miller. München 1963. 1037-1103, hier S. 1061. - Melvin Friedman bezeichnet die Eingangspassage der Lauriers als ein „ritual of self-identification“ (Friedman, Stream of Consciousness , S. 147). 20 Vgl. Bühler, Karl. Sprachtheorie . Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart, New York 1982. 102-120. - Nicht von ungefähr gemahnen die beiden ersten Absätze an den establishing shot und den darauf folgenden Zoom von der Totale auf einen Mann aus der Menge - einem man of the crowd im Sinne Poes - zu Beginn eines Films, der sodann an der Position des Ich das subjektive Kamera-Auge als beweglichen Referenzpunkt aller Wahrnehmungen installiert. - Zum deiktischen Feld in den Lauriers , das im Bewusstsein des Protagonisten von analeptischen und proleptischen Räumen überlagert wird, vgl. Rabatel, Alain. „L’espace, la fiction narrative. Les Lauriers sont coupés d’Édouard Dujardin“. Énonciation et spatialité. Le récit de fiction (XIX e -XXI e siècles) . Hg. Florence de Chalonge. Lille 2013. 71-86. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 125 flexionen vereinen. Dadurch wird noch einmal a fortiori deutlich, dass im von Dujardin initiierten discours des inneren Monologs in der Tat niemand erzählt. Zugleich haben wir aber auch kein seiner selbst gewisses Bewusstsein vor uns, das im Sinne von Kants transzendentaler Apperzeption ‚denkt, dass es denkt‘. Vielmehr handelt es sich um ein sprachliches Protokoll mentaler Zustände, das nicht vom wahrnehmenden und reflektierenden Ich angefertigt wird. 21 So erklärt sich auch, dass der Text Dujardins Informationen enthält, die als bewusste innere Rede des Ich höchst unwahrscheinlich sind und den Text unter psychologischen Aspekten unglaubwürdig erscheinen lassen. Dazu gehören Wahrnehmungen der Außenwelt, deren Bewusstheit für das Ich nur über ein hohes Maß an Zwanghaftigkeit zu motivieren wäre. 22 Das betrifft insbesondere Passagen wie die folgende, in der sich das Ich im äußeren Raum - hier im Gang durch die Straßen von Paris - bewegt: La rue, noire, et la double ligne montante, décroissante, du gaz ; la rue sans passants ; le pavé sonore, blanc sous la blancheur du ciel clair et de la lune ; […] muettes, grandes, en hautes fenêtres noircies, en portes fermées de fer, les maisons ; dans ces maisons, des gens ? non, le silence ; je vais seul, le long des maisons, silencieusement ; […] là-bas, tout au là-bas, une plus grande clarté, le boulevard Malesherbes, des feux rouges et jaunes, des voitures, des voitures et des fiers chevaux […]. (82) (Die Straße, schwarz, und die ansteigende, abnehmende Doppellinie der Gaslaternen; die Straße ohne Passanten; das Pflaster sonor, weiß unter der Weiße des klaren Himmels und des Mondes […]; stumm, groß, in hohen geschwärzten Fenstern, in eisenverschlossenen Türen, die Häuser; in diesen Häusern Leute? nein, die Stille; ich gehe allein, entlang den Häusern, still; […] dort unten, ganz im Dort-unten, eine größere Helligkeit, der Boulevard Malesherbes, rote und gelbe Feuer, Wagen, Wagen und stolze Pferde […].) 23 Erscheint dieser Abschnitt zunächst, wie der oben behandelte erste Absatz des Texts, als reine Folge von Impressionen ohne Fokalisierung, wird in seinem Verlauf - zunächst mit der Frage „dans ces maisons, des gens? “ und der Antwort „non, le silence“, dann durch die explizite Setzung der Ich-Origo „je vais seul“ - deutlich, dass die Beobachtungen eben diesem Ich zugeschrieben werden müssen. Warum es sich diese Wahrnehmungen bewusst machen sollte, bleibt jedoch unklar; es kennt seinen Weg genau und orientiert sich unbewusst im Raum - warum also die Fixierung all dieser Sinnesdaten? 24 Plausibel wird dies nur, wenn man davon ausgeht, dass wir es bei diesem inneren Monolog nicht mit der 21 Jean-Pierre Betrand spricht demgemäß vom inneren Monolog als „un discours idéalement débarrassé de ses propres règles de formation“ (Bertrand, Jean-Pierre. „Réminiscence et monologue intérieur dans Les lauriers sont coupés d’Édouard Dujardin“. L’Ombre du souvenir. Littérature et réminiscence (du Moyen Âge au XXI e siècle) . Hg. Jean-Yves Laurichesse. Paris 2012. 157-166, hier S. 158). 22 Dazu Tumanov, Mind Reading , S. 57: „Sensorimotor discourse is very difficult to motivate […]. Especially difficult to achieve is the believable verbalization of the thinker’s own movements“. Vgl. auch Cohn, Transparent Minds , S. 222: „[…] forced to describe the actions they perform while they perform them, they tend to sound like gymnastics teachers vocally demonstrating an exercise.“ 23 George Moore schreibt in einem Brief an Dujardin von den Lauriers als einer „musique étonnante de points-et-virgules“ (zit. nach Dujardin, Le monologue intérieur , S. 17). Vgl. dazu Bertrand, „Réminiscence et monologue intérieur“, S. 158. 24 Kathleen McKilligan hält dafür, diese „allusions to time and place […] are usually slipped casually into Prince’s thoughts in a fairly natural manner“, referiert aber auch die Einwände, die dieses Verfahren als „highly artificial and contrived“ in der Forschung provoziert hat. Vgl. McKilligan, Édouard Dujardin , S. 78-80. Noch Jörg Pottbeckers ( Stumme Sprache , S. 96 f.) nimmt diese Elemente als Anzeichen dafür, dass die Technik des inneren Monologs bei Dujardin noch nicht ausgereift sei, und folgt damit Dujardins eigener Argumentation, wie sie in Fußnote 9 zitiert wurde. 126 Günter Butzer kohärenten Rede einer Figur zu tun haben (wie der Terminus ‚Monolog‘ nahelegt), sondern mit der Registratur von mentalen Zuständen, die nicht nur das Bewusstsein, sondern auch das Nicht-Bewusste erfasst. 25 Das bedeutet aber, dass der Begriff ‚innerer Monolog‘ in zweierlei Hinsicht missverständlich ist: der Text, den wir zu lesen bekommen, ist weder die bewusste Rede einer Figur noch entstammt er deren Innerem. 26 Das wird in Dujardins Roman viel deutlicher als in Joyce‘ Molly-Bloom-Monolog, der um der Wahrscheinlichkeit willen auf eine äußere Handlung nahezu völlig verzichtet und die wenigen Außenreize so geschickt in die Rede der Figur integriert, dass deren psychologische Kohärenz gewahrt bleibt. Joyce verdeckt dadurch eben jene äußere Beobachtungs- und Registraturinstanz, auf die Dujardins Text mehr als deutlich hinweist. Das gilt auch für scheinbar ungeschickte, auf den ersten Blick auktoriale Einsprengsel wie die in die Dialoge regelmäßig eingefügten Inquit-Formeln, die aus der Sicht eines kohärenten Bewusstseins ebenso unwahrscheinlich sind - warum sollte sich der Protagonist selbst sagen, dass nun sein Gegenüber spricht? - wie die bewusste Benennung der eigenen Gefühle. Formulierungen wie „J’ai un frisson“ (66) („Ein Schauder erfasst mich“) oder „quelle émotion cette idée me donne ! “ (108) („in was für eine Erregung versetzt mich dieser Gedanke! “) wären bei Joyce undenkbar, weil sie auf einer Reflexion der Gefühle basieren, die in der Regel nicht erfolgt, und wenn doch, die Unmittelbarkeit der Emotion zerstört. Bei Dujardin sind sie häufig vertreten, wie insbesondere die Szene am Fenster im 4. Kapitel zeigt, die mit dem Satz beginnt: „vaguement je regarde le beau dehors“ (64) („unbestimmt betrachte ich das schöne Draußen“), einem Satz, der semantisch nahezu unmöglich ist, der aber genau dann Sinn macht, wenn er einem externen Beobachter zugeschrieben wird. Konsequent müsste es dann heißen: ‚vaguement le je regarde le beau dehors‘ (‚unbestimmt betrachtet das Ich das schöne Draußen‘). Die Alternative lautet mithin: entweder wir haben es mit einem Ich zu tun, das einem Zwang zu totaler Selbst- und Fremdbeobachtung unterliegt - wie es Kafka immer wieder konzipiert 27 -, oder - und dies ist die hier verfochtene These - dieses Ich ist zwar die Origo des äußeren und inneren Wahrnehmungssystems, aber nicht die Instanz von deren Versprachlichung - was bedeutet, dass das Ich der Lauriers weder erzählt noch spricht. 28 25 Schnitzler hat in Bezug auf diese Zustände vom ‚Mittelbewussten‘ gesprochen, was zumindest deutlich macht, dass hier keine intentionale Rede vorliegt. Vgl. Perlmann, Michaela L. Arthur Schnitzler . Stuttgart 1987, S. 144, sowie Aurnhammer, Achim. Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen . Berlin, Boston 2013, S. 87-90, der Schnitzlers ‚Mittelbewusstsein‘ mit Freuds ‚Vorbewusstem‘ identifiziert. 26 Jens Nöllers Konzeption der inneren Rede ist insofern ein Gegenentwurf zum hier vorgetragenen, als für ihn alles auf die Entwicklung der Romanfigur „zur körperlosen imaginierten Stimme“ (Nöller, Jens. The Hero as Voice. Die halluzinierte Stimme im Umbruch der Gattungen in der europäischen Literatur der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart . Würzburg 1998, S. 55) ankommt - ein Programm, dem Dujardins Text, wie Nöller selbst feststellt, nur unzureichend genügt. 27 Vgl. Hattori, Seji. „Der Blick und das Rauschen. Phänomenologie und Physiologie der Selbstbeobachtung in Der Bau von Kafka“. Studien zur deutschen Literatur und Sprache (Tokai) 29 (1997): 153-167 und 31 (1999): 149-163. - Kathleen McKilligan schreibt über Dujardins Protagonisten: „He lacks confidence and worries incessantly about the impression he makes on other people“ (McKilligan, Édouard Dujardin , S. 54). 28 Das übersieht Gerda Zeltner, wenn sie sich wundert, dass „das ‚Ich‘ hier vorgibt, es könnte einer zum Beispiel in einer Kutsche fahren, sein Mädchen im Arm halten und im selben Augenblick eine Schreibfeder halten und dies aufzeichnen“ (Zeltner, Gerda. Ästhetik der Abweichung. Aufsätze zum alternativen Erzählen in Frankreich. Mainz 1995, S. 18). - Unter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit setzt sich Dujardins innerer Monolog denselben Einwänden aus, die bereits in der doctrine classique - namentlich von d‘Aubignac - gegen den Dramenmonolog vorgebracht worden sind. Vgl. Aubignac, François Hédelin Abbé d‘. La pratique du théâtre und andere Schriften zur Doctrine classique . Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 127 III. Der innere Monolog Dujardins ist damit, trotz der offensichlichen Filiation, kein stummes Selbstgespräch im Inneren des Ich, das auf dessen Selbstpräsenz ausgerichtet wäre. 29 Weder handelt es sich um eine selbstadressierte Rede, die irgendwelche Effekte der Selbstüberredung bezwecken würde, noch um eine stumme Selbstanalyse. Überhaupt kann von einer Selbstthematisierung des Ich nur bedingt gesprochen werden. 30 Psychologisch betrachtet, befinden sich die inneren Monologisten im Zustand der Zerstreuung, der als Gegenmodus zur Aufmerksamkeit, der zentralen Haltung des traditionellen Selbstgesprächs, anzusehen ist. Doch trotz dieser deutlichen, sowohl kommunikativen als auch funktionalen Abgrenzung des inneren Monologs vom Soliloquium lässt sich dessen Struktur gleichwohl aus diesem ableiten. Das traditionelle Selbstgespräch, wie es von der Antike bis weit in die frühe Neuzeit hinein auftritt, ist keineswegs, wie der Name nahelegt, eine dyadische Relation eines Ich, das abwechselnd die Rollen des Sprechers und des Adressaten einnimmt; vielmehr eignet ihm eine triadische Struktur, bei der sich ein Sprecher über die Einnahme der autoritativen Position eines Dritten derart selbst bespricht, dass er ethopoietische Effekte erzielt. 31 Ohne diese Position des Dritten, die die (in der Regel in kanonischen Texten fixierten) Normen und Maximen verkörpert und die im Laufe der Kulturgeschichte wahlweise durch die Vernunft, Gott, das Gesetz, das Gewissen oder Ähnliches belegt worden ist, kann das Selbstgespräch seine Aufgabe der Selbstformung nicht erfüllen. Im modernen Selbstgespräch, wie wir es seit Rousseau und insbesondere seit der Romantik vorfinden, verschwindet die dritte Instanz zusehends von der textuellen Oberfläche, so dass das Ich im Dialog mit sich selbst bzw. mit anderen psychischen Instanzen übrig bleibt. Das bedeutet aber keineswegs, dass das - stets normativ gedachte - Dritte nicht mehr vorhanden wäre, ganz im Gegenteil: es zieht sich vielmehr zurück auf die Position eines Beobachters, der nicht mehr kommunikativ in den Gesprächsprozess involviert ist, sondern Nachdruck der dreibändigen Ausgabe Amsterdam 1715 mit einer einleitenden Abhandlung von Hans- Jörg Neuschäfer. München 1971. 229-233. 29 Wie es von Husserl in den Logischen Untersuchungen konzipiert und von Derrida in La voix et le phénomène dekonstruiert wird. Vgl. Derrida, Jacques. La voix et le phénomène . Paris 1967. 34-52, mit der interessanten Feststellung: „Dans le monologue intérieur, le mot serait donc seulement représenté. Son lieu peut être l’imaginaire ( Phantasie ). Nous nous contentons d’imaginer le mot dont l’existence est ainsi neutralisée. Dans cette imagination du mot, dans cette représentation imaginaire du mot ( Phantasievorstellung ), nous n’avons plus besoin de l’événement empirique du mot. Son existence ou sa non-existence nous sont indifférentes“ (S. 48). Derridas Überlegungen könnten einer Diskursgeschichte des inneren Monologs wesentliche Impulse geben - was bislang noch kaum geschehen ist. 30 Daher ist der innere Monolog auch keine écriture (bzw. parole ) de soi im Sinne Foucaults, die eine wie auch immer geartete ethopoietische Wirkung beabsichtigen würde (vgl. Foucault, Michel. „L’écriture de soi“. Dits et écrits 1954 - 1988 . Bd. 4. Hgg. Daniel Defert und François Ewald. Paris 1994. 415-430). Zwar gibt es Residuen einer Selbstformung durch Rede, etwa, wenn Daniel sich im Restaurant mit den Worten „je ne vais pas, en le prenant, me rendre ridicule“ (49) („ich werde mich nicht lächerlich machen, indem ich es nehme“) das letzte Stück seines Fischgerichts versagt - und damit ein hohes Maß an internalisierter Sozialkontrolle offenbart -, oder wenn er auf dem Heimweg versucht, beim Gehen seine Gedanken zu ordnen (vgl. 55). Auch finden sich, ähnlich wie in Schnitzlers Lieutenant Gustl , gelegentliche Selbstanreden - so am Ende des 4. Kapitels, wo sich Daniel mit „mon cher garçon“ (68) anspricht. Die Funktion der Ethopoiesis vermögen sie jedoch nicht mehr zu übernehmen; bezeichnenderweise scheitert denn auch Daniels Versuch der Gedankenordnung bereits im Ansatz. 31 Vgl. zum Folgenden Butzer, Günter. Soliloquium . Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur . München, Paderborn 2008, S. 16-22 und 447-467. 128 Günter Butzer stattdessen die Funktion einer Kontrollinstanz ausübt. Weil dieser Beobachter sprachlich nicht präsent ist, wird zumeist übersehen, dass er strukturell sehr wohl anwesend ist und, wie noch zu zeigen sein wird, eine erhebliche Wirkung entfaltet. Doch der innere Monolog ist auch kein modernes Selbstgespräch wie andere; vielmehr handelt es sich um eine sehr spezielle Ausprägung, deren Besonderheit im Vergleich etwa mit den Prosamonologen Becketts oder Hildesheimers deutlich wird. 32 Diesen Monologen, denen man noch, ähnlich wie manchen Texten Kafkas, 33 die rudimentäre ethopoietische Funktion der Selbstvergewisserung zusprechen kann, weisen einen zumindest impliziten Adressaten auf und sind damit als intentionale Rede bestimmbar. Bei Dujardin ist dies nicht der Fall. Auf paradoxe Weise fällt hier nämlich die für den sprachlichen discours fundamentale Korrelation von Ich und Du, von Sprecher und Adressat weg. Die beiden für die linguistische Pragmatik essentiellen Regeln: Keine Rede ohne Sprecher und kein Sprecher ohne Adressat, 34 werden in Becketts und Hildesheimers Monologen durchaus eingehalten, bei Dujardin hingegen haben wir eine vermeintliche Rede eines vermeintlichen Sprechers vor uns, die sich auf Grund ihrer Unadressiertheit jedoch als Nichtdiscours erweist. Damit ist der Text des inneren Monologs, trotz der Verwendung der ersten Person, auf der rein sprachlichen Ebene kein kommunikativer Text mehr. Die Kommunikation findet stattdessen, wie noch deutlich werden wird, auf einer anderen Ebene statt. Die Installation nicht-sprachlicher Beobachter in die Struktur des Selbstgesprächs schreibt sich her von visuellen Modellen der Selbstanalyse und -kontrolle, die schon seit der Antike als Alternativen zur Selbstformung durch Rede existiert und in der Neuzeit zunehmend an Dominanz gewonnen haben, weil sie eine Permanenz der Selbst- und Fremdbeobachtung gewährleisten, die mit sprachlichen Mitteln nicht zu bewerkstelligen ist. Beobachtung ist ein Modus der Aufmerksamkeit, der, ähnlich wie Kants transzendentale Apperzeption oder Fichtes inneres Auge des Selbstbewusstseins, die kognitiven Aktivitäten des Subjekts jederzeit begleiten kann und deshalb seit der Aufklärung als wirksameres Mittel der Selbst- und Fremdbearbeitung erachtet wird als die einsame Selbstanrede, die zunehmend als pathologisch erscheint. 35 Zugleich wird die Institutionalisierung der die Selbst- und Fremdbeobachtung letztlich motivierenden Sozialkontrolle seit dem 18. Jahrhundert ausgebaut und mündet in Kontrollfantasien wie Benthams Panoptikon, das die - zumindest potenzielle - permanente Sichtbarkeit des zu Überwachenden gewährleisten soll. Damit verbunden ist die weitgehende Objektivierung des Probanden, die diesen vom Kommunikationspartner zum Gegenstand der Analyse mit dem Ziel der Manipulation und Überwachung - kurz: der Disziplinierung - degradiert. 36 Genau dieser Prozess wird in der Struktur des inneren Monologs abgebildet, sofern hier die textuelle Kommunikation des Ich vollständig sistiert erscheint und damit das Ich zum Objekt der Beobachtung zweier im Text nurmehr virtuell anwesender Instanzen gerät: zum 32 Ich denke vor allem an Becketts sog. Trilogie der 1950er Jahre ( Molloy , Malone meurt und L’Innommable ) sowie an Hildesheimers Prosamonologe Tynset (1965) und Masante (1973). 33 Etwa dem von Max Brod mit Der Bau betitelten späten Prosa-Fragment. 34 Vgl. Benveniste, Problèmes , S. 258-266. - In speziellen Fällen übernimmt der Sprecher abwechselnd beide Rollen von Sprecher und Adressat, wie in der Autokommunikation. Vgl. Schorno, Christian. Autokommunikation . Selbstanrede als Abweichungsbzw. Parallelphänomen der Kommunikation . Tübingen 2004. 35 Vgl. Butzer, Soliloquium , S. 380-388. 36 Vgl. Foucault, Michel. Surveiller et punir. Naissance de la prison . Paris 1975, S. 135-229; Bröckling, Ulrich. Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion . München 1997, S. 31-55. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 129 einen des abstrakten Autors, der letzten Endes den Text verantwortet, der vom Ich ja, wie ausgeführt, weder produziert noch fixiert wird. Der abstrakte Autor stellt demnach jene ‚Gedankenlesemaschine‘ und jenes ‚Aufschreibesystem‘ dar, 37 das den inneren Monolog hervorbringt und lesbar macht. Produziert wird er - und das ist die zweite virtuelle Instanz - für einen impliziten, im Text selbst ebenfalls als Figur abwesenden Leser, der dadurch in die Rolle des externen Beobachters eines fremden Geistes schlüpft. 38 Mallarmé hat dies gleich nach dem Erscheinen der Lauriers erkannt, wenn er in einem Brief an Dujardin vom 8. April 1888 als Novum des Werks die Erfindung eines Aufzeichnungsmodus („mode de notation“) hervorhebt; es gehe hier, so Mallarmé, nicht um die Gestaltung großer literarischer Architekturen („des grandes architectures littéraires“), sondern um den Ausdruck des Alltäglichen („pour exprimer […] le quotidien“). 39 Dieser Fixierung einer alltäglichen Gedankenwelt widmet sich im 19. Jahrhundert eine Reihe von Techniken, die nicht erst die neuere Forschung, sondern bereits Dujardin selbst wie auch seine Zeitgenossen mit dem inneren Monolog in Verbindung gebracht haben. 40 Zu nennen ist hier die Erfindung der Röntgenstrahlen, die nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen erhebliches Aufsehen erregt und die Vorstellung genährt hat, man könne mit Hilfe fotografischer Mittel die menschliche Gehirntätigkeit beobachten und fixieren (die modernen bildgebenden Verfahren der Kognitionswissenchaftler sind, ebenso wie das Elektroenzephalogramm, Nachfahren dieses - bei den Röntgenstrahlen bekanntlich erfolglosen - Projekts). Aus dem Röntgenapparat soll ein „Gedankenphotoapparat“ entwickelt werden, der - und hier überschneiden sich, wie so oft um 1900, Wissenschaft und Okkultismus - „unsichtbare Gedanken, Geister oder ätherische Emanationen […] als sichtbare materielle Spuren auf der Photoplatte einprägen“ 41 kann. Die Grundlage für dieses Projekt ist die Annahme, dass Gedanken auf ähnliche Weise emaniert werden wie Licht- oder Röntgenstrahlen und dass mit den geeigneten Sensoren deren direkter Empfang möglich ist. Damit unterhält die Vorstellung der Gedankenaufzeichnung Beziehungen zur Telepathie; 42 diese meint ja nichts anderes als den unmittelbaren, nicht zeichenvermittelten Gedankenkontakt, der - etwa von William Crooke, dessen nach ihm benannte Röhren im Röntgenapparat Verwendung fanden - im Anschluss an die Entdeckung der Röntgenstrahlen als Phänomen 37 Vgl. Gomes, Gedankenlesemaschinen ; Kittler, Friedrich A. Aufschreibesysteme 1800 / 1900 . München 1987. 38 Vgl. Bertrand, „Réminiscence et monologue intérieur“, S. 162: „Prince est donc soumis à ‚l’intellection‘ du lecteur (comme dit Dujardin) dans l’immédiateté de sa conscience en mouvement […].“ 39 Der Brief Mallarmés wird zitiert in Dujardin, Le monologue intérieur , S. 15. 40 Dujardin nennt „film, T. S. F. [télégraphie sans fil / drahtlose Telegrafie, G. B.], radiographie, cloche à plongeur“ (Dujardin, Le monologue intérieur , S. 54) als moderne Techniken, die von der Literaturkritik mit dem inneren Monolog in Zusammenhang gebracht worden seien. Remy de Gourmont hat schon 1897 die Erzählweise der Lauriers als „la transposition anticipée du cinématographe“ bezeichnet (vgl. McKilligan, Édouard Dujardin , S. 70), und Louis Gillet spricht 1925 von einer „radiographie profonde de la vie en fuite“ (zit. nach Dujardin, Le monologue intérieur , S. 46). Gabriel Marcel prägt in einer Rezension von 1925 den Begriff der „cinématographie verbale“ (zit. nach Rabatel, „L’espace, la fiction narrative“, S. 78). 41 Gomes, Gedankenlesemaschinen , S. 32. 42 Der Begriff der Telepathie wurde in Analogie zur Telegrafie gebildet, dem externalisierten neuronalen Netz des 19. Jahrhunderts und Vorläufer des WorldWideWeb. Vgl. Standage, Tom. The Victorian Internet. The Remarkable Story of the Telegraph and the Nineteenth Century’s Online Pioneers . London 1998. - Zur eminenten Bedeutung der Telepathie für den wissenschaftlichen und literarischen Diskurs um 1900 vgl. Thurschwell, Pamela: Literature, Technology and Magical Thinking, 1880 - 1920 . Cambridge 2001 (zur Parallele von Telegrafie und Telepathie bes. S. 29-31 zu Kiplings Erzählung Wireless ). 130 Günter Butzer extrem kurzwelliger Strahlen verstanden wird, die ohne technisches Medium von einem Gehirn zum anderen gesendet werden. Noch Freuds Konzept der psychischen Übertragung, das die Basis seiner Therapeutik abgibt, zehrt eingestandenermaßen vom zeitgenössischen, wissenschaftlich-okkulten Konzept der Telepathie. 43 Das Empfangsorgan bildet hier das Unbewusste, das die latenten Gedanken des Anderen „[w]ie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung“ 44 zu erfassen vermag. Verwirklicht wird die physikalische Erfassung von Gedanken nicht von den Röntgenapparaten, sondern bezeichnenderweise von einem kriminologischen Gerät: dem Lügendetektor. Dieser kann die Gedanken zwar nicht in Sprache übertragen, aber immerhin den Wahrheitswert sprachlicher Aussagen bestimmen 45 und erlaubt damit Rückschlüsse auf die nicht artikulierten latenten Gedanken des Sprechers. Ziel ist die Quantifizierung und damit die Messbarkeit des psychischen Materials, das vom elektrischen Apparat ohne Vermittlung von interpretativen Prozessen aufgezeichnet werden kann. Damit unterscheiden sich die technischen Geräte wie Röntgenapparat und Lügendetektor in einem wesentlichen Punkt von der Telepathie: Sie zielen nicht wie diese auf ein letztlich romantisches Ideal unmittelbarer Kommunikation ab, welche nicht durch das Dazwischentreten von Semiosen entstellt wird; stattdessen dienen die technischen Gerätschaften der Erfassung und Kontrolle durch möglichst objektive Aufzeichnung - oder der Manipulation, wie sie die Hypnose als asymmetrisches Komplement der Telepathie intendiert. 46 Die Psyche ist damit „keine hermetisch verschlossene Privatsphäre mehr, sondern eine, die von externen Übergriffen durchlöchert wird“. 47 IV. Als ein solches Programm zur unmittelbaren Aufzeichnung der menschlichen Hirntätigkeit ist auch der innere Monolog anzusehen. Auch er ist ein technischer Apparat zur Erfassung menschlicher Gedanken - selbst wenn diese einstweilen noch fiktiv sein mögen. Das Aufzeichnungsgerät des inneren Monologs aber - und das übergehen alle rein literaturwissenschaftlichen Theorien - ist die Schrift - eine Schrift, die dem sub-jectum der Aufzeichnung bekanntlich nicht bewusst ist, ebenso wenig wie die sich daraus ergebende Divergenz von Selbst- und Fremdwahrnehmung: Dujardins Protagonist Daniel glaubt sich in seinem Denken völlig unbeobachtet - was den besonderen, voyeuristischen Reiz der Lektüre des 43 Vgl. Freud, Sigmund. „Traum und Telepathie“. Gesammelte Werke . Bd. 13. Hgg. Anna Freud, Marie Bonaparte, Edward Bibring, Wilhelm Hoffer, Ernst Kris und Otto Isakower. Frankfurt a. M. 1969, 165-191; ders. „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“. Studienausgabe . Bd. 1. Hgg. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt a. M. 1989. 447-608, hier S. 472-495 („Traum und Okkultismus“). - Zur Verbindung von Psychoanalyse und Telepathie vgl. Thurschwell, Literature , S. 119-135. 44 Freud, Sigmund. „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“. Gesammelte Werke . Bd. 8. Hgg. Anna Freud, Marie Bonaparte, Edward Bibring, Wilhelm Hoffer, Ernst Kris und Otto Isakower. Frankfurt a. M. 1969. 376-387, hier S. 381. 45 In der zeitgleich entstehenden, für die analytische Philosophie äußerst folgenreichen Theorie Gottlob Freges erfasst der Lügendetektor also nicht den Sinn, sondern die Bedeutung einer Aussage. Vgl. Frege, Gottlob. „Über Sinn und Bedeutung“. Funktion, Begriff, Bedeutung . Fünf logische Studien . Hg. Günther Patzig. Göttingen 1986. 40-65. 46 Vgl. zur Hypnose Thurschwell, Literature , S. 37-64; Andriopoulos, Stefan. Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos . München 2000; Mayer, Andreas. Mikroskopie der Psyche. Die Anfänge der Psychoanalyse im Hypnose-Labor . Göttingen 2002. 47 Gomes, Gedankenlesemaschinen , S. 52. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 131 Texts begründet, bei der der Leser, als Beobachter zweiter Ordnung, etwas anderes wahrnimmt als der Proband. 48 Den Gegenstand des lesenden Interesses bildet zweifellos die inhaltliche Ebene des Texts, die aber mangels Erzählinstanz vom Rezipienten erst konstruiert werden muss. Sie ist denkbar einfach und gewiss keine Fabel im klassischen Sinn: Daniel Prince, ein Student der Jurisprudenz, hat eine unerfüllte Liebesbeziehung mit der jungen, untalentierten Schauspielerin Léa, die sich von ihm auf geschickte Weise aushalten lässt. Die Handlung vollzieht sich in neun Kapiteln und beschränkt sich auf das Geschehen des Nachmittags und Abends eines Tages im April im Paris der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts (also der Entstehungs- und Erscheinungszeit des Romans): Daniel sucht zunächst einen Freund auf, um ihm von seiner Liebe zu berichten (Kap. 1), geht dann allein in einem Restaurant essen (Kap. 2), auf dem Heimweg trifft er einen Bekannten, der kurz vor seiner Heirat steht (Kap. 3), zu Hause macht er Toilette (Kap. 4) und vertieft sich in seine Tagebuch-Aufzeichnungen über seine Liaison und die Korrespondenz mit Léa (Kap. 5), er geht dann zu Fuß durch die Pariser Straßen zu ihr (Kap. 6), sie führen eine belanglose Unterhaltung, während der Daniel Léa in seine Arme nimmt und dabei einschläft (Kap. 7), im Anschluss daran fahren sie mit dem Wagen im nächtlichen Paris spazieren (Kap. 8), und schließlich bringt Daniel Léa zurück in ihre Wohnung, wo sie ihn auch diesmal nicht erhört und wegschickt (Kap. 9). 49 Zwar beschließt Daniel, die Beziehung abzubrechen - „je ne la reverrai plus“, heißt es am Ende des letzten Kapitels -, zum Abschied sagen sich beide aber „Au revoir“ (115). Eine Handlung im narratologischen Sinn 50 ist das nicht: weder gibt es äußere Vorgänge, die irgendeine Art von Überschreitung semantischer Raumgrenzen darstellen würden, noch sind innere Veränderungen im Bewusstsein des Protagonisten feststellbar, die einen ereignishaften Charakter besäßen. Das unterscheidet Dujardins Text von anderen inneren Monologen, die deutlich auf Ereignisse hin konstruiert sind: entweder auf äußere wie in Schnitzlers Lieutenant Gustl , wo Beleidigung und Tod des Antagonisten den Rahmen des Monologs abgeben, oder auf innere wie in Joyces Penelope-Episode, die nach vielfältigen gedanklichen Wegen und Abwegen mit den Worten Mollys „yes I will Yes“ 51 endet und damit eine innere Wandlung ausdrückt. Bei Dujardin hingegen haben wir keine derartigen Ereignisse zu registrieren, weshalb der Text keine Geschichte impliziert, sondern allenfalls - in der Terminologie Wolf Schmids - ein Geschehen. 52 Es passiert etwas, es sind Aktivitäten beobachtbar, aber keinerlei Veränderungen. Daniel bemüht sich vergeblich um die Erfüllung seiner Liebe, er nimmt sie stellenweise in Gedanken vorweg, sie ereignet sich aber nicht. 48 Zum Voyeurismus in der Literatur um 1900 vgl. Öhlschläger, Claudia. Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg i. Br. 1996, S. 114-135. 49 Mit Dujardins eigenen Worten aus einem Brief an seine Eltern vom 13. Juni 1886: „[…] c’est, tout simplement, le récit de six heures de la vie d’un jeune homme qui est amoureux d’une demoiselle, - six heures, pendant lesquelles rien , aucune aventure n’arrive ; et dont les ¾ se passent le personnage étant seul : il voit un ami (1 er chapitre), il dîne au restaurant (2 e ), il rentre chez lui (3 e ), il fait sa toilette (4 e ), il relit ses lettres (5 e ), il va chez sa maîtresse (6 e ), il est chez elle ½ heure (7 e ), il fait avec elle une promenade en voiture (c’est la nuit) [8 e ], il rentre chez elle avec elle (9 e , dernier). - Tout cela est dans l’analyse des idées ; - la vie la plus banale possible analysée le plus complètement et le plus originalement possible“ (zit. nach Dujardin, Les lauriers sont coupés , S. 125). 50 Ich beziehe mich auf die narratologische Handlungstheorie Jurij Lotmans: Lotman, Jurij M. Die Struktur literarischer Texte . Dt. von Rolf-Dietrich Keil. München 1993, S. 329-333. 51 Joyce, James. Ulysses . A Critical and Synoptic Edition . 3 Bde. Hgg. Hans Walter Gabler, Wolfhard Steppe und Claus Melchior. New York, London 1984, S. 1727. 52 Vgl. Schmid, Wolf. Elemente der Narratologie . Berlin, New York 2008, S. 251 f. 132 Günter Butzer Was der Leser präsentiert bekommt, ist ein Stück Realität - eine tranche de vie im Sinne Zolas, 53 die aber, ganz wie das statische Drama des konsequenten Naturalismus, keine Handlung beinhaltet. Dem entsprechend ist der Leser nicht dazu aufgerufen, eine Geschichte nachzuvollziehen oder sich gar in deren Illusion zu vertiefen; er soll vielmehr eine distanzierte, analytische Haltung einnehmen - ähnlich der Haltung, die Freud einige Zeit später dem Psychoanalytiker gegenüber dem frei assoziierenden Patienten empfiehlt. 54 Und eben jene Divergenz zwischen dem Selbstbewusstsein des Monologisten und dem analytischen Blick des Rezipienten bildet den eigentlichen Gegenstand des inneren Monologs. In den Lauriers zeigt sich diese Divergenz in den unterschiedlichen Liebesauffassungen, von denen nur eine die Gedanken des Protagonisten dominiert: als spannungsvolle Beziehung zwischen sexuellem Begehren und romantischer Sublimierung. Daniel, der seine Liebe gerne in Analogie zu Théophile Gautiers 1837 erschienenem Roman Fortunio imaginiert, bleibt beständig hinter den eigenen Erwartungen an sich selbst zurück: Er wäre gerne der romantische Held, der wie Fortunio die nackte Geliebte in seinen Armen aus ihrer brennenden Wohnung entführt. Doch gerade die in Gautiers Roman angelegte Einheit von Liebe und Begehren gelingt es Daniel nicht zu realisieren. Er ist, wie er selbst in lichten Momenten bemerkt, zu charakterschwach, um Léa völlig für sich gewinnen zu können. Deshalb verharrt er nicht nur während des geschilderten Tages, sondern, wie wir aus seinen Aufzeichnungen erfahren, bereits seit Monaten im Zustand der Erwartung, dessen Ende er weder in Richtung Erfüllung noch in Richtung Trennung herbeizuführen vermag. Und so beschließt Daniel wiederholt, sein Begehren zu sublimieren und sich mit einer platonischen Beziehung zufrieden zu geben. Dass ihm dies nicht gelingt, wird an den zahlreichen Stellen deutlich, an denen er entweder den intimen Verkehr mit Léa fantasiert oder seine Aufmerksamkeit auf andere Frauen richtet und dadurch die Ersetzbarkeit Léas bekundet - was seiner romantischen Liebesimagination offensichtlich widerspricht. Zugleich schreckt Daniel aber vor dem eigenen Begehren zurück, wie insbesondere die Szene am Fenster seiner Wohnung im vierten Kapitel beweist, in der er in den Nachhimmel wie ins eigene Unbewusste hineinblickt und davor erschaudert. Glaubt er zunächst, die „beauté de la nuit“ (64) und seine Liebe wie in einem romantischen Spiegel reflektiert zu sehen, so kippt die Situation mit der unvermittelt auftauchenden Erkenntnis, dass Léa seine vermeintlich reine Liebe nicht erwidert, und er nimmt plötzlich die Kälte, Schwärze und Traurigkeit der Nacht wahr; auf einmal hat er Angst: „j’ai peur de cette grande nuit muette“ (66) („ich habe Angst vor dieser großen stummen Nacht“), es stellt sich ein Gefühl des Unheimlichen und Fremden ein, das in ein Erschaudern vor dem Unbekannten mündet und 53 Dujardin zitiert einen Artikel Auguste Baillys aus dem Jahr 1929, der - im Anschluss an und in Abgrenzung zu Zola - vom inneren Monolog als „tranche de vie intérieure“ (Dujardin, Le monologue intérieur , S. 61) spricht. 54 Überhaupt hat die Kommunikationsstruktur des inneren Monologs, wie häufig konstatiert wurde, auffällige Ähnlichkeiten mit derjenigen der psychoanalytischen Situation, in der der Patient möglichst unbeeinflusst von äußeren und inneren Zensurinstanzen frei assoziierend seine Gedanken artikuliert - mit dem Ziel, gerade dadurch besonders gut und authentisch vom Beobachter erfasst und schriftlich fixiert werden zu können (vgl. Freud, „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, S. 454-460). Insofern ist der Leser des inneren Monologs in der Position des Analytikers, der die latenten Gedanken hinter den manifesten Äußerungen des Probanden herauszupräparieren hat, mit dem unschätzbaren Vorteil, dass der innere Monologist per definitionem nichts verbirgt oder vortäuscht, weil er ja keinen Adressaten hat bzw. erkennen kann - mit einer Ausnahme: sich selbst. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 133 dazu führt, dass Daniel das Fenster schließt, sich vom Draußen abwendet und erleichtert seufzt: „La nuit est supprimée“ (ebd.) („Die Nacht ist unterdrückt“ oder eben „verdrängt“! ). 55 In dieser Szene kann auf paradigmatische Weise das filigran gestaltete Spiel zwischen der imaginären Selbstbespiegelung des Protagonisten und deren symbolischer Destruktion verfolgt werden, das den gesamten Text charakterisiert. Der überzeugten Imagination großer Liebe setzt das Unbewusste sein beständig iteriertes ‚Sie liebt mich, sie liebt mich nicht‘ entgegen - mit den Worten Daniels: „[…] mais pourquoi ce soir-ci plutôt qu’un autre ? et pourquoi pas ce soir-ci ? “ (108) („aber warum an diesem Abend eher als an einem anderen? und warum nicht an diesem Abend? “) -, das statt der finalen Erfüllung den ständigen Aufschub und die permanente Wiederholung verspricht (vgl. das schon erwähnte, den Text abschließende „Au revoir ! “). Damit bewegen wir uns indessen noch durchaus im Feld dessen, was dem Bewusstsein des Protagonisten prinzipiell zugänglich und demnach auch Teil des expliziten Textes ist. Wir bewegen uns mithin im Bereich einer Beobachtung erster Ordnung, die am Gesichtsfeld des Ich ausgerichtet ist. Dieses umfasst die gesamte interne Dialektik von Liebe und Begehren und verbleibt damit im Horizont der potenziellen Wahrnehmung des Protagonisten. Dass Daniel Léa nicht nur platonisch liebt und dass er neben ihr auch andere Frauen begehrt, gehört zum Wissen des Helden ebenso wie die gelegentlich aufblitzende Einsicht, dass Léa ihn nicht liebt. Das bedeutet indessen nicht, dass der Leser darüber hinaus nicht noch anderes beobachten könnte, das sich dem Bewusstsein des Protagonisten entzieht. Dieses Andere - gewissermaßen das Reale - ist bezeichnenderweise an das Medium der Schrift gebunden (während der innere Monolog bekanntlich an der mündlichen Rede orientiert ist - eine stilistische Entscheidung, die m. E. als viel zu selbstverständlich genommen wird). Kann die bislang beobachtete interne Dialogizität des Ich noch problemlos mit modernen Monologtheorien verrechnet werden, die von der Polyphonie der inneren Stimmen des Subjekts ausgehen, 56 dringt mit der Thematisierung der Schrift die profane Wirklichkeit der Ökonomie in den Text ein und wird als solche lesbar - allerdings nur für den Beobachter zweiter Ordnung. Mit der Relektüre der eigenen Aufzeichnungen Daniels über seine Liebesbeziehung zu Léa und beider Korrespondenz im 5. Kapitel wird ein klassisches Modell der écriture de soi aufgerufen, 57 das jedoch bei Daniel keine Erkenntniseffekte zeitigt. Zwar spiegelt sich die Schrift in den Gedanken seines inneren Monologs, die vermeintliche Selbstpräsenz erweist sich aber nicht als Ort der Wahrheit. Vielmehr ist es die Schrift jenseits des Bewusstseins des Subjekts, mithin die vom Leser rezipierte Schrift, die die Wahrheit der Beziehung Daniels zu Léa enthält und enthüllt. Dokumentieren die Aufzeichnungen noch die Ambivalenz des narzisstischen Imaginären Daniels, sprechen 55 Vgl. Zeltner, Ästhetik der Abweichung , S. 21, die zu dieser Passage etwas nebulös schreibt: „Ins Dunkle, in die unberechenbaren Untergründe, wo gefährliche Regungen durchziehen, will er [Daniel, G. B.] nicht eintauchen; er will so weit als möglich ein seiner selbst mächtiges Subjekt bleiben“ - das er diskursiv längst nicht mehr ist! 56 Vgl. Baumann, Gerhard. „Selbstgespräch - Selbstbewußtsein - Selbsterkenntnis“. Entwürfe zur Poetik und Poesie . München 1976. 7-16; Bayerdörfer, Hans-Peter. „‚Le partenaire’. Form- und problemgeschichtliche Beobachtungen zu Monolog und Monodrama im 20. Jahrhundert“. Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann . Tübingen 1981. 529-563; Müller, Wolfgang G. „Das Ich im Dialog mit sich selbst: Bemerkungen zur Struktur des dramatischen Monologs von Shakespeare bis zu Samuel Beckett“. DVjs 56 (1982): 314-333. 57 Vgl. Butzer, Günter. „Scribe, ut dum scribis legas - Schreiben als Selbsttechnik“. Sprache und Literatur 106 (2010), S. 2-18. 134 Günter Butzer Léas Briefe eine klare Sprache: Es ist die Sprache der Ökonomie, und Daniel versteht sie bezeichnenderweise nicht. Wenn Léa in ihrem ersten Brief zu erkunden sucht, welche pekuniären Opfer er bringen könnte, um sie aus ihrer bedrückenden Notlage zu befreien („quels seraient les sacrifices que vous pourriez faire de suite pour me tirer de l’impasse si écrasante dans laquelle je me trouve“ [72]), registriert Daniel „ces embarras énormes“ (73) („diese enormen Verbindlichkeiten“) und erschrickt davor; er erkennt aber keineswegs, dass Léa die Beziehung zu ihm ausschließlich des Geldes wegen eingeht. Zwar verhält sich Daniel - wie der Leser der Aufzeichnungen unschwer bemerkt - wie ein Freier, indem er immer wieder die Forderung ‚Geld gegen Liebe‘ ins Spiel bringt; seine Selbstwahrnehmung entspricht dem aber mitnichten. Stattdessen bricht er beim ersten Dämmern der Einsicht, dass es sich um eine rein ökonomische Beziehung handeln könnte, 58 seine Aufzeichnungen („procès-verbaux“ [74]) unvermittelt ab. Léa - das sieht der Leser des Monologs, nicht aber dessen sub-jectum - kämpft ums materielle Überleben, Daniel hingegen projiziert seine romaninduzierten Fantasien auf sie. Tatsächlich ist Léa, wie es während der Kutschfahrt heißt, „indifférente, quelconque, immobile […] et sans amour“ (103) („gleichgültig, beliebig, reglos […] und ohne Liebe“). Sie erscheint als absolute Antipodin des Monologisten, weil sie (zumindest aus der Perspektive Daniels! ) keinerlei innere Rede verkörpert: „[…] elle ne rêve pas, elle ne songe pas“ (ebd.) („sie denkt nicht, sie überlegt nicht“). 59 Léa ist der un-bedeutende Leib, auf den, ähnlich wie in der berühmten Szene der „Albertine endormie“ in Prousts Recherche , 60 der Liebende eine Folge von Bedeutungen projiziert, die mit diesem Leib nichts zu tun haben. Ihre Semiotik ist jenseits von Liebe und Begehren situiert - oder genauer: sie rechnet (in der doppelten Bedeutung des Worts) mit dem Begehren des Anderen, um zu überleben. Auf komische Weise wird dies am Ende der Kutschfahrt vor Léas Wohnung deutlich, wenn Daniel fantasiert, was er jetzt gleich mit Léa tun wird - und sie ihn daran erinnert, den Kutscher zu bezahlen (vgl. 105). Als sie anschließend die Treppe zu Léas Wohnung hinaufsteigen, überprüft Daniel unwillkürlich seine Barschaft und macht damit für den Leser deutlich, worum es in dieser Beziehung realiter geht: nämlich ums Geld. Dass Daniel dies verkennt bzw. verleugnet, dass er zwar sehr wohl die pekuniäre Dimension ihrer Beziehung wahrnimmt, aber deren existenzielle Bedeutung für Léa ignoriert, lässt ihn für den Leser - nicht in seiner Selbstwahrnehmung - zum Objekt und nicht zum Agenten des Geschehens werden. 61 Die schriftliche Aufzeichnung dokumentiert also auf der Geschehensebene von Dujardins Roman für denjenigen, der lesen kann, die Wahrheit und impliziert damit ein autoreflexives Moment in Bezug auf den inneren Monolog. 62 Denn auch dessen schriftliche Verfasstheit ist die Garantie für seine Objektivität und Aussagekraft, jenseits des Selbstverständnisses des 58 Vgl. S. 74: „Je déclare […] que je ne donnerai plus un sou avant qu’elle n’ait tenu sa parole. Je pars en laissant vingt francs à Louise.“ 59 Die Fortsetzung der Passage lautet: „[…] je ne puis, je ne sais, je ne rêve et je ne pense; hélas! hélas! je ne te donnerai pas le rêve, et éternellement tu seras l’immobile et sans amour“ (S. 104). 60 Vgl. Warning, Rainer. „Supplementäre Individualität: Prousts Albertine endormie “. Individualität . Hgg. Manfred Frank und Anselm Haverkamp. München 1988. 440-468. 61 Nebenbei sei festgehalten, dass die Geliebte von Daniels Vorbild Fortunio aus Gautiers Roman eine Kurtisane gewesen ist - was Daniel geflissentlich verschweigt bzw. verleugnet! 62 Das übersieht Tumanov, wenn er behauptet: „Dujardin’s UDIM [Unframed Direct Interior Monologue, G. B.] form does nothing but promote itself because the events of the novel appear merely as a pretext for using interior monologue“ (Tumanov, Mind Reading , S. 56). Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 135 Probanden. Und so reflektiert das Ineinander von pekuniärem und erotischem Diskurs - für Daniel in der semantischen Dichotomie ‚Geld oder Liebe‘, für Léa in der Tauschbeziehung ‚Geld gegen (aufgeschobene) Liebe‘ - letztlich die Struktur des inneren Monologs, in dem der Leser einen Einblick in die Intimsphäre eines Anderen kauft. 63 In beiden Fällen ist es am Ende nicht das Modell der Prostitution, das realisiert wird, sondern schon eher das der Peep show: 64 der Leser bezahlt wie Daniel für intime Einblicke, die etwas ankündigen, was nie erfüllt werden wird. Insofern folgt die externe Kommunikationsstruktur von Dujardins Roman derselben Ökonomie der Verführung und des Aufschubs, die auch dessen Protagonisten gefangen hält. Verführt wird der Leser aber - um dies noch einmal deutlich zu sagen - nicht vom Ich des Texts, sondern vom (abstrakten) Autor, denn: Ein Ich, das sich seines Diskurses nicht bewusst ist, kann auch niemand verführen. Das ist zugleich, wie ich abschließend in der gebotenen Kürze skizzieren möchte, die wesentliche Differenz zwischen dem ‚klassischen‘ inneren Monolog und dem Prosamonolog des späteren 20. Jahrhunderts. V. Neben der genealogischen Beziehung von Aufzeichnungstechniken des Inneren gibt es eine zweite Filiation des inneren Monologs: diejenige aus den sprachlichen Entäußerungspraktiken des Bekenntnisses und des Geständnisses. Diese bilden die religiösen und juristischen Verfahren einer Produktion des Inneren, die dessen Erkennbarkeit allererst hervorbringt, denn: erst in der Thematisierung des Inneren durch die Beichtmanuale und Strategeme der peinlichen Befragung gewinnt dieses eine artikulierbare Struktur, als Resultat einer Topik, die die Orte der Bedeutung zugleich konstituiert und zum Sprechen bringt. 65 Innerhalb dieser Genealogie stellt der innere Monolog einen deutlichen Einschnitt dar, weil er auf Grund seiner fehlenden Entäußerung durch das Subjekt - genau genommen: durch seine fehlende Versprachlichung durch dieses - weder Verstellung ( simulatio ) noch Verbergung ( dissimulatio ) noch Verführung ( inductio ) erlaubt und somit absolut authentisch ist. Das einzige Manko dieses ansonsten perfekten Dispositivs liegt in einem Moment, das in den bisherigen Ausführungen noch nicht thematisiert wurde: der Fiktivität seines Gegenstands und damit der Fiktionalität seiner Konstruktion. Denn nicht nur weiß der Monologist nicht, dass sein Denken aufgezeichnet wird, auch das Zustandekommen der Aufzeichnung unterliegt einer konstitutiven Leerstelle. Diese wird erst gefüllt durch eine fast zeitgleich in der Psychologie wie in der Parapsychologie eingeführte Technik: das automatische Schreiben. 66 63 Die Ausrichtung des inneren Monologs auf das Intime betont bereits Dujardin selbst. Vgl. Dujardin, Le monologue intérieur , S. 50 und 59. 64 Vgl. die parallelen Dispositive von innerem Monolog, Peep show und Edisons Kinetoskop, wo man jeweils einen Groschen einwirft, um einen intimen Einblick zu erhalten, der auf der phonologischsemantischen Reihe slot / slit / slut beruht. Zu Edison vgl. Elsaesser, Thomas. Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels . München 2002, S. 47-68. 65 Vgl. Hahn, Alois. „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse. Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß“. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982): 407-434; Dülmen, Richard van. Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit . München 1985. 66 Vgl. Solomons, Leon M. und Gertrude Stein. „Studies from the Psychological Laboratory of Harvard University: II. Normal motor automatisms”. Psychological Review 1896 / 3: 492-512, sowie Mühl, Anita M. Automatic Writing . Dresden, Leipzig 1930. - Vgl. dazu im vorliegenden Argumentationskontext Kittler, Aufschreibesysteme , S. 231-234. 136 Günter Butzer Das automatische Schreiben, das eine durch möglichst hohe Schreibgeschwindigkeit induzierte unwillkürliche Aufzeichnungspraktik benennt, 67 löst gleich mehrere der mit dem inneren Monolog und den anderen Erfassungstechniken des Denkens aufgeworfenen Probleme. Vor allem macht es den Hiatus zwischen Proband und Protokollant hinfällig, da beide grundsätzlich zusammenfallen; der Schreiber der écriture automatique schreibt sich gewissermaßen selbst, ohne sich dabei zu beobachten (die Beobachtung erfolgt erst post festum und kann sowohl durch den Schreiber als auch durch andere Instanzen vollzogen werden). Damit löst das automatische Schreiben auch die mediale Problematik des inneren Monologs, indem es zum einen den einzig möglichen Aufzeichnungsagenten (nämlich den Denkenden selbst) verwendet, zum andern mit der Schrift ein Medium wählt, das die Gedanken nicht nur zu artikulieren, sondern auch zu bewahren vermag. 68 Schließlich löst das automatische Schreiben auch das Fiktionsproblem des inneren Monologs, sofern wir es zwar mit einem ob seiner Unbewusstheit fremden, aber dessen ungeachtet - oder besser: gerade deswegen - authentischen Text zu tun haben. Andererseits handelt es sich bei den Texten des automatischen Schreibens - ebenso wie bei denjenigen des inneren Monologs - um eine dem denkenden Subjekt entzogene Rede, die aus unterschiedlichen Gründen - in jedem Fall aber auf Grund der Unbewusstheit des Aufzeichnungsvorgangs - objektiviert und damit dem Denkenden unverfügbar ist. Sie ist - das zu zeigen war ein wesentliches Ziel dieser Ausführungen - Gegenstand der erkennungsdienstlichen Behandlung (ob nun kriminologischer, psychologischer oder literaturwissenschaftlicher Art), wodurch sich die écriture automatique ebenso wie der innere Monolog als Teil des humanwissenschaftlichen Dispositivs der Moderne im Sinne Foucaults erweist. 69 Deshalb nimmt es auch nicht wunder, dass spätere Autoren diese Art der totalen Objektivierung der Gedanken nicht fortgeführt haben (fortgeführt haben sie die kognitionswissenschaftlichen Disziplinen, bekanntlich bis heute); vielmehr haben sie Gegenstrategien zur totalen Bemächtigung des Denkens entwickelt. 70 Als eine solche Gegenstrategie kann die Monologprosa seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet werden, die keine oder nur scheinbar eine Fortsetzung des inneren Monologs darstellt, sondern mit Verfahren der Maskierung, der Verbergung und Verführung - also mit all den Verfahren, die die Authentizität und Aufrichtigkeit des Bekenntnisses seit jeher problematisch erscheinen ließen - dem Subjekt seine Stimme und damit die Macht der Rede zurück- 67 Vgl. Breton, André. Manifestes du Surréalisme . Montreuil 1962, S. 36-38. Breton identifiziert bis zum ersten Manifest (1924) den Surrealismus noch weitgehend mit dem automatischen Schreiben (vgl. Breton, Manifestes , S. 40). Erstmals im surrealistischen Kontext realisiert wurde die écriture automatique in Bretons und Philippe Soupaults Textsammlung Les champs magnétiques aus dem Jahr 1919. Zum zeitgenössischen Einsatz des Verfahrens in der experimentellen Psychologie und in der Psychoanalyse vgl. die vorherige Anmerkung. 68 Als Kontrast vgl. man den Bericht André Bretons im ersten Manifeste du surréalisme (Breton, Manifestes , S. 43 f.) von seinem Freund Robert Desnos, der willkürlich automatisch sprechen konnte, dessen Texte aber - im Unterschied zu denjenigen Bretons, Soupaults, Éluards und anderer - nicht überliefert sind, weil sie nicht aufgezeichnet wurden; nicht protokollierte mündliche Rede ist eben kein Beweismittel! 69 Vgl. Foucault, Michel. Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines . Paris 1966. - Breton spricht in diesem Zusammenhang im ersten surrealistischen Manifest von sich und seinen Freunden als „ appareils enregistreurs “ (Breton, Manifestes , S. 42). 70 Das ist vergleichbar mit den Transformationen in anderen Bereichen des humanwissenschaftlichen Dispositivs, etwa der Konfession oder der Autobiografie. Vgl. Schneider, Manfred. Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20 . Jahrhundert . München, Wien 1986. Édouard Dujardin, Les lauriers sont coupés 137 erobern. Die neueren Monologe - eines Wolfgang Hildesheimer (s. o.), aber auch eines Bret Easton Ellis ( American Psycho ), Nick Hornby ( High Fidelity ) oder einer Alexa Hennig von Lange ( Relax ) - rücken dadurch in die Nähe unzuverlässigen Erzählens, weil die Rede der Monologisten - egal, ob sie nun sprechen oder schreiben oder vor der Kamera posieren 71 - nicht per se glaubwürdig ist, ganz im Gegenteil: Sie ist Teil einer Strategie der Simulation und Dissimulation - sprich: der sprachlichen Selbstinszenierung -, die das wahre Ich, in diametralem Gegensatz zum inneren Monolog, nicht offenbart, sondern in einer permanenten reservatio mentalis zurückhält. Das (und nicht die unmögliche Perfektion der Durchführung) scheint mir der wahre Grund, warum der von Dujardin inaugurierte autonome innere Monolog bereits wenige Jahrzehnte nach seinem Erscheinen wieder verschwunden ist und anderen Formen Platz gemacht hat. Wie so oft in der modernen Literatur, liegt auch hier die Grenze irgendwo zwischen Joyce und Beckett. Literaturverzeichnis Primärliteratur Banville, Théodore de: „Nous n’irons plus au bois“. Œuvres poétiques complètes . Bd. 2. Hg. Peter J. Edwards. Paris 1996. 10. Breton, André: Manifestes du Surréalisme . Montreuil 1962. Dujardin, Édouard: Les lauriers sont coupés . Présentation, notes, dossier documentaire, chronologie et bibiliographie par Jean-Pierre Bertrand. Paris 2001. -: Die Lorbeerbäume sind geschnitten . Dt. von Irene Riesen. Zürich 1984. -: Le monologue intérieur. Son apparition, ses origines, sa place dans l’œuvre de James Joyce . Paris 1931. Jean Paul: Selberlebensbeschreibung . Sämtliche Werke . Bd. 6. Hg. 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Das Werk von Joseph Conrad verkörpert paradigmatisch die liminale Poetik des Übergangs vom Viktorianismus zur literarischen Moderne, jenes zurückschauende Festhalten am Glauben an moralisch-ethische, religiöse und gesellschaftlich-politische Werte auf der einen sowie die neo-romantische Diagnose der Brüchigkeit dieser Werte in Anbetracht der Geltungsansprüche menschlicher Subjektivität auf der anderen Seite. Diese Subjektivität und damit auch individuell psychische Disposition seiner Charaktere stehen für Conrad neben der Notwendigkeit der intersubjektiven Verpflichtung ihrer Handlungen, beide Seiten - Subjektivität und intersubjektiver Rahmen - scheinen für ihn zumindest als idealtypisches Desiderat unhintergehbare Bestandteile sinnvoller menschlicher Existenz und Identität zu sein, beide bleiben jedoch für immer disparat und unvereinbar. Tatsächlich erscheint Conrad selbst als ein durch und durch in sich gespaltener Mensch zwischen Idealismus und der Überzeugung, dass jeder Idealismus zugleich auch zweifelhaft ist. Paul Goetsch beschreibt ihn als Romancier, der „sittliche Entscheidungen als einfach bezeichnet, jedoch ihre Komplexität aufzeigt; der die zerstörerische Wirkung des Verstandes betont und dennoch selbst seine tiefgehende Skepsis bekundet.“ 1 Joseph Conrad wurde am 3. Dezember 1857 als Józef Teodor Konrad Korzeniowski als Sohn polnischer Eltern in Berdyczów geboren. Conrads Vater, Apollo Korzeniowski, war Schriftsteller und polnischer Patriot, der Shakespeare und Victor Hugo übersetzte. Conrad war neun bzw. elf Jahre alt, als Mutter und Vater starben und sein Onkel Tadeusz Bobrowski das Sorgerecht für ihn erhielt. Er erlaubte dem sechzehnjährigen Jugendlichen, 1874 nach Marseille zu gehen, um Seemann zu werden, und beglich seine Schulden, nach einem - wie Indizien zeigen, offenbar ebenso fingierten wie kalkulierten Selbstmordversuch. Dieser sollte jedoch nicht ohne Einfluss auf Conrads Werk bleiben, in der Tat finden sich bei Conrad mehr Suizide und Suizidversuche als bei irgendeinem anderen Romanschriftsteller. Als Kind die Eltern siechen und sterben zu sehen, so meinen Biographen, erkläre vielleicht die Konflikte und Charaktereigenschaften, die den Figuren in Conrads Werk zu eigen sind: ihre Empathie- und Resonanzlosigkeit; das Zurückschrecken vor physischer Berührung; die mangelnde Sexualität; die Unfähigkeit, Kinder zu schreiben oder die große Zahl an psychisch gestörten Menschen und die detaillierte Darstellung von Einsamkeit und Isolation sowie die Zerstörung von Illusionen, die an der Wirklichkeit zerschellen. 1 Goetsch, Paul. Die Romankonzeption in England 1880 - 1910 . Heidelberg1967, S. 316. 142 Martin Middeke 1886 erhielt Conrad die britische Staatsbürgerschaft. 1888 bekam er das Kommando über die Otago (Abb. 1), 2 seine einzige, nur vierzehn Monate andauernde Position als Kapitän. Abbildung 1: Otago Seine Erlebnisse auf See bilden den biographisch-historischen Hintergrund von Conrads Werk. Conrad selbst beklagte seine Entscheidung für die Seemannslaufbahn und ein lebenslanges Wanderleben zuweilen eher bitter, da er sich selbst, wie ihm schien, damit für viele Jahre zu einem Leben als Fremder in fremden Ländern unter fremden Menschen machte. Kein Wunder also, dass in Conrads Werk Spannungen, Widersprüche und Differenzen überwiegen: Glaube und Skepsis, Illusion und Wirklichkeit, Schein und Sein, Unbewusstes und Bewusstes, Phantasie und Intellekt, Nähe und Distanz, unmittelbares Erleben und Empfinden sowie retrospektive, kritische Reflexion beschreiben inkommensurable Gegensätze in Conrads Romanen und Erzählungen, die die Kontingenz von Geschehnissen und menschlichem Handeln sowie die Einsicht in die undurchschaubare, irrationale Wesenheit eines Seins hervorheben, in dem Leben und Natur dem Einzelschicksal gleichgültig und rätselhaft gegenüberstehen. Zurückgeworfen auf sich selbst begegnet der Einzelne seinem Leben und dessen ihm amorph anmutendem kausalem Zusammenhang nicht selten verwirrt, verstört oder bestürzt, um dennoch weiter nach einer Kausalstruktur zu suchen oder um an existentiellen Rettungsankern festzuhalten, von denen er paradoxerweise weiß, dass sie nur die punktuelle Lösung von Fiktionen darstellen. 2 Siehe https: / / pl.wikipedia.org/ wiki/ Otago_(bark). 25. 07. 2016. Joseph Conrad, Lord Jim (1900) 143 II. Lord Jim ist ohne Zweifel eines der großen Meisterwerke der frühen Moderne, erschienen in dreizehn Monaten in Blackwoods Magazine von Oktober 1899 bis November 1900. Schon nur den Inhalt des Romans zusammenzufassen, ist nicht ganz leicht, ich möchte zum besseren Verständnis zunächst bei der Erzählstruktur beginnen: Was der Leser vor sich hat, ist die komplexe Schachtelstruktur verschiedener Zeit- und Erzähl(er)ebenen, die das Geschehen und den Charakter Jims aus unterschiedlichsten Perspektiven aus teils zeitlicher Nähe, teils aber auch aus großer zeitlicher Distanz erinnern. Es ergibt sich etwa folgendes Strukturmuster: N 1 → [N 2 ‚Marlow‘ → (N 3 ‚n Sub-erzähler‘) → N 1 → [N 2a ‚Marlows Brief ‘ → (N 3a ‚privileged man‘) Ein namenloser, auktorialer Rahmenerzähler (N 1 ) erinnert sich, dass sich Marlow (N 2 ) gegenüber einer Zuhörerschaft an Jim und viele andere Personen erinnert (N 3 ), die sich wiederum an Jim oder an für Jims Schicksal relevante Vorgänge erinnern. Nach dem Ende von Marlows Erzählung erinnert sich der auktoriale Rahmenerzähler (N 1 ), dass Marlow (N 2a ) einen Brief an einen ‚privileged man‘ seiner vormaligen Zuhörerschaft schickt, indem sich Marlow wiederum an das Schicksal Jims und an die Reaktion dieses ‚privileged man‘ (N 3a ) auf Jim erinnert. Aus all diesen gänzlich achronologisch angeordneten Erinnerungsfragmenten lässt sich folgendes - vereinfachtes - Handlungsgeschehen rekonstruieren: Jim läuft als Junge aus dem Pfarrhaus des Vaters davon. Er will seinen aus der Lektüre von Abenteuerromanen gewonnenen Traum verwirklichen und zur See fahren. Für das Offiziersamt auf See fehlt es ihm aber offensichtlich sowohl an Entschlusskraft als auch an Mut und Härte (zu sich selbst). Immer wieder träumt er im Moment einer Bewährung. Die Katastrophe tritt ein, als er bei ruhiger See auf der Brücke davon überrascht wird, dass das Schiff, auf dem er 1. Offizier ist - die ‚Patna‘ - über ein unsichtbares Hindernis im Meer fährt, leck schlägt und zu sinken droht. Da nicht genügend Boote für die 800 muslimischen Pilger auf der Reise nach Mekka vorhanden sind, lässt er sich von Angst und Feigheit des Kapitäns und der anderen Offiziere anstecken und springt von Bord in ein Rettungsboot. Doch, wie sich später ironischerweise herausstellt, ist die Patna nicht gesunken. Statt dem Prozess zu entgehen, lässt sich Jim daraufhin (als einziger der Besatzung) vor einem Seegericht zur Rechenschaft ziehen, wird schuldig gesprochen und verliert sein Seemannspatent. Der alte Kapitän Marlow nimmt sich des gebrochenen jungen Mannes an. Jim wechselt mehrere Arbeitsstellen, weil er immer wieder von seinem Versagen eingeholt wird. Schließlich wird er von dem deutschen Kaufmann Stein auf die Handelsstation Patusan in den Urwald geschickt, die so entlegen ist, dass ihn seine Vergangenheit dort nicht so leicht einzuholen verspricht. Tatsächlich gelingt Jim ein - freilich trügerischer - Neuanfang: Er baut ein primitives kleines Staatswesen in der Wildnis auf, wo Friede und Gerechtigkeit herrschen. Die Eingeborenen lieben und verehren ihn als ‚Lord Jim‘, bis eines Tages ein Desperado namens ‚Gentleman Brown‘ und dessen ruchlose Bande in Jims friedliche Welt einbrechen und sie vollends zerstören. Nachdem sein eingeborener Freund Dain Waris im Kampf mit Gentleman Brown ermordet wird, übernimmt Jim dafür die Verantwortung und stellt sich daraufhin dem Vater des Freundes, welcher ihm postwendend mit dem Gewehr in den Kopf schießt. Die Conrad-Forschung hat mehrfach darauf verwiesen, dass es Conrad in Lord Jim unmöglich geworden ist, im Sinne einer kausalen Erzählstruktur die Einheit eines Individuums oder einer Geschichte hervorzubringen, geschweige denn zu begründen. Das Gegenteil ist der Fall, Lord Jim legt die temporale Differenz alles Erlebens und Erinnerns offen, die Erfahrung von Anders-sein und Anders-Geworden-Sein im eigenen wie im fremden Ich. 144 Martin Middeke Die Kernproblematik dieses Anders-Seins lässt sich im Lord Jim als hermeneutisches Erfahrungsproblem beschreiben. Alles, was wir über Jim wissen, wissen wir entweder aus den ersten vier Kapiteln des Romans, in denen jener extradiegetische Erzähler aus der Erinnerung an Marlows Erzählung Jims Schicksal Revue passieren lässt, und eben von Marlow selbst, der den mangelnden objektiven Geltungsanspruch seiner Darstellung Jims mit bemerkenswert metafiktionalem Selbstbewusstsein offen legt: I am telling you so much about my own instinctive feelings and bemused reflections because there remains so little to be told of him. He existed for me, and after all it is only through me that he exists for you. 3 Marlow benennt hier die hermeneutische Ausgangsposition jeder Interpretation, die Differenz zwischen Interpret und Gegenstand. Die Einschätzung des Lesers von Jim und seiner Geschichte ist zur Ganze abhängig von der Zuverlässigkeit von Marlows Erinnerung und Imagination, mit deren Hilfe er die eigenen Erinnerungslücken füllt. Jeder Interpretationsvorgang wird geleitet von einer Sinnerwartung, die aus dem Zusammenhang des Vorangegangenen stammt. In diesem Spannungsfeld liegt, wie Hans-Georg Gadamer gezeigt hat, das Wesen und die (Un-)Möglichkeit des Verstehens: Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit [der Vergangenheit - M. M.], die die Überlieferung für uns hat, ist das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik. 4 Dieses ,Dazwischen‘ ist bereits in Jims Tagträumen sichtbar. Diese brechen sich entschieden an Pflichtbewusstsein und Ehre, was wiederum Angst, Schuld, Scham und eine unmöglich gewordene Selbstartikulation und Selbsterkenntnis in einem melancholischen Bewusstsein freisetzt, das kein Vergessen, sondern nur das Erinnern kennt. Inhaltlich wie formal zeigt sich das illusionäre Wesen der Welt und des Seins, wie Conrad selbst in einem Brief an Edward Garnett darlegt: All is illusion - the words written, the mind at which they are aimed, the truth they are intended to express, the hands that will hold the paper, the eyes that will glance at the lines. Every image floats vaguely in a sea of doubt - and the doubt itself is lost in an unexplored universe of incertitudes. 5 Diese lebendige Vorstellungswelt wird vom extradiegetischen, auktorialen Erzähler als der Charakterzug Jims beschrieben. Jim lebt in einer idealisierten Welt der Imagination, des Abenteuers, der narzisstischen Selbststilisierung und des Sich-Vergessens, wie zum ersten Mal in der ‚Training-Ship‘-Episode deutlich wird: On the lower deck in the babel of two hundred voices he would forget himself, and beforehand live in his mind the sea-life of light literature. He saw himself saving people from sinking ships, cutting away masts in a hurricane, swimming through a surf with a line; or as a lonely castaway, barefooted and half naked, walking on uncovered reefs in search of shellfish to stave off starvation. 3 Conrad, Joseph. Lord Jim . Hg. Thomas C. Moser. New York, London 1996, S. 136. Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden in Klammern im Text angegeben. 4 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen: J. C. B. Mohr, 1975), S. 279. 5 Conrad, Joseph. „Brief an Edward Garnett.“ Letters from Conrad: 1895 - 1924 . Hg. Edward Garnett. London 1928, S. 153. Joseph Conrad, Lord Jim (1900) 145 He confronted savages on tropical shores, quelled mutinies on the high seas, and in a small boat upon the ocean kept up the hearts of despairing men - always an example of devotion to duty, and as unflinching as a hero in a book. (8-9) Marlow nimmt diese idealistische Selbststilisierung Jims zum Möchtegern-Romanhelden ‚leichter‘ Literatur auf, wenn er ihn als „imaginative beggar“ voller „recklessly heroic aspirations“ (53) und zugleich ebenso als vollendeten Künstler beschreibt. Für Marlow ist er vor allem Repräsentant einer verselbständigten, freischwebenden, (selbst-)destruktiven Welt der Ideen, der Vorstellung, die - auf Jims Weise verabsolutiert - keine Berechtigung hat. Jims Selbstvergessenheit in seinen Träumen und seine Neigung, die Wirklichkeit zu imaginieren, bevor sie Realität wird, setzen im Moment der Bewährung den Zustand umfassender Paralyse an die Stelle konkreten Handelns. Jim sieht einen grausamen Zweck in dem Sturm, der das ‚Training Ship‘ erfasst, er nimmt nur den „brutal tumult of earth and sky“ wahr, der ihn seinen Atem anhalten lasst und ihn völlig regungslos macht: „He stood still. It seemed to him he was whirled around“ (9). Die psychologischen Konsequenzen dieses Versagens sind realistischerweise fatal, denn Jims Glaube an eine neue Chance, an eine noch wichtigere, noch elementarere Bewährungsprobe, für die er sich Kraft sparen müsse, bedeuten eine Steigerung, eine Akkumulation seiner eigenen, zu hohen Erwartungen an sich selbst. Jims übermächtige Imagination impliziert die Projektion seines Handelns auf eine unbestimmte Zukunft hin, denn jede Erwartung meint die bewusste oder unbewusste Vorwegnahme dessen, was in der Zukunft möglicherweise stattfindet. Seine Imagination perpetuiert damit aber auch die Angst vor Versagen, und das Nichtsein seines imaginierten Heldentums impliziert für Jim eine quälende Leere, in der die schmerzvolle Erinnerung an das Scheitern in der Vergangenheit mit der Hoffnung auf den hypostasierten Erfolg in der Zukunft ko-existiert. Diese für den Handlungsverlauf von Lord Jim klar proleptische Episode kündigt Jims Versagen auf der Patna spätestens beim zweiten Lesen des Romans nicht nur an, sondern plausibilisiert Jims Lähmung und seinen Sprung von Bord der Patna geradezu. Statt sich um die notwendigen Routinen und um seine Pflicht gegenüber den Pilgern auf der Patna zu kümmern, verliert sich Jim auch dort in seinen Tagträumen, die der extradiegetische auktoriale Erzähler wiederum in zeitdehnender interner Fokalisierung verdeutlicht: ‘How steady she goes,’ thought Jim with wonder, with something like gratitude for this high peace of sea and sky. At such times his thoughts would be full of valorous deeds: he loved these dreams and the success of his imaginary achievements. They were the best parts of life, its secret truth, its hidden reality. They had a gorgeous virility, the charm of vagueness, they passed before him with an heroic tread; they carried his soul away with them and made it drunk with the divine philtre of an unbounded confidence in itself. There was nothing he could not face. (17) Bevor jener für Jim fatale Sprung analysiert wird, muss in aller Kürze auf die verborgene Kausalität, mit der die Kollision der Patna behandelt wird, verwiesen werden, die unaufgelöst bleibt. Marlow spricht von einer irrationalen, indifferenten „malevolent providence“, von Schiffswracks, von wandernden Leichen der See, „a kind of maritime ghoul on the prowl to kill ships in the dark“ (97). Wie Vampire, so Marlow, saugten diese in ihrem Sinnzusammenhang undurchsichtig bleibenden „terrors of the sea“ die Kraft aus dem nach eben solchem Sinn suchenden Menschen, der sich ihnen gegenübersieht. In ihrer Kontingenz, ihrer absurden Zufälligkeit, in ihrer Sinn- und Ziellosigkeit wird die Kollision der Patna 146 Martin Middeke selbst zum Symbol des indifferenten Willens der Natur, von dem etwa Darwin und auch Schopenhauer 6 sprechen. Als Jim schließlich wie in Trance von der Patna springt, ist er sich schon in dem Moment des Sprunges der Irreversibilität seiner Handlung und daraus folgernd seines eigenen Verloren-Seins bewusst: „I knew nothing about it till I looked up, […] I wished I could die, […] There was no going back. It was as if I had jumped into a well - into an everlasting deep hole“ (71). Jim wird von diesem Moment an, wie Marlow als erzählendes Ich aus zeitlicher Distanz kommentiert, zum Mitglied jener „great army of waifs and strays“, jener Armee, die hinunter in die „gutters of the earth“, hinunter zum „bottomless pit“ (109) marschiert. Jim erinnert in diesem Moment des allein auf sich Zurückgeworfenseins an romantische Helden wie Coleridges Ancient Mariner, Shelleys Alastor oder auch Byrons Manfred, die alle auf der Suche nach ihrer Vision sind, die aber wissen, dass diese Vision so wie ihre Selbsterkenntnis außerhalb ihrer Reichweite liegen. Die Tatsache, dass der gegenwärtige Moment im nächsten bereits unumkehrbar Vergangenheit geworden ist, wirkt zerstörerisch für Jim. Jims Schicksal kann an dieser Stelle daher als ein paradigmatisch modernes angesehen werden, denn der moderne Mensch, wie die moderne Welt, sind Geisel einer Vergangenheit, zu der sie weder zurückkehren noch sich ihr entziehen können. Dieser Abgrund wird für Jim deshalb so folgenschwer, weil Jim sein Ideal der Ehre, der Verpflichtung gegenüber dem Moralkodex seines Standes für immer verliert. Man kann nur betonen, dass Jims Sprung von der Patna keine Befreiung aus den Fesseln einer Moral oder viktorianischen Pflichterfüllungsmoral ist: Jims Sprung ist Produkt der Angst, Produkt seiner übermächtigen Imagination, die ihn auf der einen Seite von genau dem ethischen Bereich der intersubjektiven Verpflichtung abtrennt, auf den er sich auf der anderen Seite so sehr bezieht. Der Abgrund, der sich für Jim nach dem Sprung vom Schiff auftut, ist deshalb ein zweifacher: Es ist der Sprung des Individuums vom (viktorianischen) Schiff der Verpflichtungen, es ist aber auch der unbewusste Sprung des Einzelindividuums vom Schiff seiner eigenen zu hohen Erwartungen, Reflex des Unbewussten der Angst, die Jim zeigt, dass er nicht Herr in seinem Haus ist. So begeht Jim mit dem Sprung von der Patna Verrat an der Gesellschaft, Verrat am Ehrenkodex des Seefahrers und Verrat an sich selbst, er verletzt die Ehre, und er verletzt seinen Traum. „When your ship fails you“, fasst Marlow zusammen, „your whole world seems to fail you; the world that made you, restrained you, took care of you. It is as if the souls of men floating on an abyss and in touch with immensity had been set free for any excess of heroism, absurdity, or abomination“ (75). Die Gesellschaft reagiert auf Jims Pflicht- und Normenverletzung so, wie man es von ihr erwarten kann: mit Gesetzen und mit einer Gerichtsverhandlung, einer „official Inquiry“, (21) die utilitaristisch nach Objektivität, nach Chronologie, nach Kausalität, nach Wahrheit forscht. „They wanted facts. Facts! They demanded facts from him, as if the facts could explain anything“ (22). Tatsächlich ist die Faktenlage, die Jims Sprung begleitet, unstrittig, doch zeigt sich in jenen siebenundzwanzig Minuten, die faktisch an Bord der Patna bis zum Sprung vergangen sind, aus Jims Sicht nur ein Bruchteil der Wahrheit, weil jenes faktische ,Ganze‘ der Ewigkeit des Bewusstseins von vergangener subjektiver Zeit niemals gerecht werden kann. 6 Vgl. etwa Schopenhauer, Arthur. Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke . Frankfurt a. M. 1986. Joseph Conrad, Lord Jim (1900) 147 Dass nun die Vergangenheit so destruktiv wirken kann, liegt nicht zuletzt an der melancholischen Grundbefindlichkeit Jims, eine psychische Disposition, die zur Erinnerung neigt, die sich Dinge zu Herzen nimmt und die kein Vergessen kennt. Marlow sagt von Jim „he had the gift of finding a special meaning in everything that happened to him“ (181). Ob dies in der Tat eine ,Gabe‘ oder einen Fluch bedeutet, mag jeder Leser des Romans für sich entscheiden. „He was the sort“, so Marlow an einer anderen Stelle, „that would drink deep […]“ (106). Zu erwähnen wäre hier die viel kommentierte ‚wretched-cur‘-Episode (vgl. 46), in der Jim glaubt, eine auf einen Hund gemünzte Äußerung eines Besuchers im Verhandlungsgebäude gelte ihm. Hier lohnt es sich, der melancholisch-erinnernden Position Jims die philosophische Position Nietzsches für einen Moment gegenüberzustellen. Nietzsche schreibt in der zweiten Abhandlung Zur Genealogie der Moral , die sich um „,Schuld‘, ,Schlechtes Gewissen‘, und Verwandtes“ zentriert, folgende einleitenden Sätze: Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf - ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? Ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen? … Dass dies Problem bis zu einem hohen Grad gelöst ist, muß dem um so erstaunlicher erscheinen, der die entgegenwirkende Kraft, die der Vergeßlichkeit, vollauf zu würdigen weiß. Vergeßlichkeit ist keine bloße vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben uns im Zustande der Verdauung (man durfte ihn ,Einverseelung‘ nennen) ebensowenig ins Bewußtsein tritt, als der ganze tausendfaltige Prozeß, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte ,Einverleibung‘ abspielt. Die Türen und Fenster des Bewußtseins zeitweise schließen; von dem Lärm und Kampf, mit dem unsre Unterwelt von dienstbaren Organen für- und gegeneinander arbeitet, unbehelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewußtseins, damit wieder Platz wird für Neues […] das ist der Nutzen der, wie gesagt, aktiven Vergeßlichkeit, einer Türwärterin gleichsam, einer Aufrechthalterin der seelischen Ordnung der Ruhe, der Etikette: womit sofort abzusehn ist, inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergeßlichkeit. 7 Vergessen ist für Nietzsche eine Kraft, eine „Form der starken Gesundheit“, der gegenüber das Erinnern steht, das wiederum ein Versprechen (wie dasjenige Jims an den Ehrenkodex und an sich selbst) erst möglich macht. Dieses Versprechen kann die Vergangenheit nicht nur, so Nietzsche, passiv nicht mehr loswerden, sondern will die Vergangenheit aktiv nicht hinter sich lassen und fasst vielmehr ein „Fort-und-Fort-wollen des einmal Gewollten“ 8 ins Auge. Zu vergessen setzt ein Differenzbewusstsein voraus, ein Bewusstsein, das Jim - weil er an der Absolutheit des Traumes, an der Absolutheit seines Versprechens festhält - nicht haben kann. Jeder Ehrenkodex und jedes Pflichtbewusstsein gedeihen auf der Basis eines Versprechens, auf der Basis folglich der Erinnerung - absolut und uneingeschränkt. Jims Erinnerungszwang im Angesicht seiner Schuld, seine Unfähigkeit, aus der temporalen Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit Vergessen abzuleiten, das die Vergangenheit akzeptiert und aus ihr Freiheit für die Gegenwart schöpfen lässt, erklärt überhaupt erst Jims Präsenz vor Gericht, „I may have jumped, but I don’t run away“ (94). Diese Unfähigkeit zeigt sich im ersten Impuls nach dem Sprung von der Patna, als Jim meint, 7 Nietzsche, Friedrich. Zur Genealogie der Moral: Eine Streitschrift . , Bd. 2. Hg. Karl Schlechta. Darmstadt 1994, S. 800. 8 Ebd. 148 Martin Middeke Tag für Tag die Schreie der von ihm Verlassenen zu hören; sie zeigt sich an der Spirale von Flucht vor der Vergangenheit und dem Eindruck des Erkannt-Werdens, in Jims rastlosem Umherziehen in der Zeit nach dem Prozess, dessen Ziel Jim grundsätzlich klar vor Augen ist: Vergessen. „This thing must be buried“, (115) weiß er; aber Jim weiß auch, dass dies für ihn unmöglich ist: „‘The damned thing won’t make me invisible,’ he said with intense bitterness, - ‘no such luck’“ (95). Jim weiß vielmehr, dass er mit dem Sprung von der Patna sein Leben bereits verloren hat, was wiederum die sich durch den gesamten Roman ziehende Resonanzlosigkeit Jims erklärt, welche in der Feststellung gipfelt, dass ihn nichts berühren könne: „Jove! I feel as if nothing could ever touch me“ (109). III. Das Ineinandergreifen von Erinnerung und Vergessen bildet die psychologische und motivische Klammer, die den ersten Teil des Romans mit dem zweiten - den Abenteuerepisoden in Patusan - nahezu ungebrochen verbindet. Patusan stellt die Frage nach der Möglichkeit von Vergessen und der Rehabilitierung Jims, Patusan ist die Probe aufs Exempel, ob sich das Einzelschicksal der Erinnerung entziehen kann. Auf den ersten Blick scheint es so, als ob es sich mit der mythischen Gesellschaft Patusans anders verhielte als mit den vorausgegangenen Fluchtorten, an denen Jim von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Und so willigt Marlow in den Plan Steins ein, Jim nach Patusan zu schicken. Überwältigt greift Jim sofort nach dem Strohhalm der Hoffnung auf eine zweite Chance: „I always thought that if a fellow could begin with a clean slate … and now you … in a measure … yes … clean slate …“ (112). Marlow ist berechtigterweise skeptisch: Jeder Mensch hat seine Vergangenheit, seine Geschichte: I smiled to think that, after all, it was yet he, of us two, who had the light. And I felt sad. A clean slate, did he say? As if the initial word of each our destiny were not graven in imperishable characters upon the face of a rock. (112) In der mythischen Clan-Gesellschaft Patusans wird Jim nun selbst zum Mythos - ‚Tuan / Lord Jim‘. Mythen sind in naturvölkischen Kontexten gebunden an eine von der Gemeinschaft geglaubte übernatürliche Wahrheit identischer Wiederholungen, an eine mythische Präzedenz sozusagen, die dieser Wahrheit vorausgeht. Hierzu bedarf es eines „einmaligen, den Beginn der Dinge oder der Götter demonstrierenden Ereignisses“, das eine „unbezweifelbare Wahrsage“, eine „gültige, bleibende Antwort auf eine aufgeworfene Seinsfrage“ 9 gibt. Diesen Präzedenzfall stellt die von Jim geleitete Vertreibung des Banditen Sherif Alis aus Patusan sowie die Befreiung der Bugis von dem korrupten Malaien-Häuptling Rajah Tunku Allang dar, die Jim - weil sie von den Bugis für unmöglich gehalten wird - den mythischen Ruhm von Unbesiegbarkeit, den uneingeschränkten Respekt, das uneingeschränkte Vertrauen selbst von Doramin, dem Herrscher der Bugis, und die brüderhafte Freundschaft von Doramins Sohn Dain Waris einträgt. Jim wird zur lebenden Legende, zum numinosen Mythos in mythischer Zeitlosigkeit. 9 Wolpers, Theodor. „Formen mythisierenden Erzählens in der modernen Prosa: Joseph Conrad im Vergleich mit Joyce, Lawrence und Faulkner“. Lebende Antike: Symposion für Rudolf Sühnel . Hgg. Horst Meiler und Hans Joachim Zimmermann. Berlin 1967, S. 398-399. Joseph Conrad, Lord Jim (1900) 149 Freilich ist dies nicht mehr als eine weitere Illusion: Gerade Jims Sehnsucht nach einem ‚clean slate‘ demonstriert sein letztlich historisches Bewusstsein. Jims Idee des Neuanfangs weist - bei aller romantischen Imagination - einen entscheidenden Anteil bürgerlich-aufklärerischer Rationalität auf. Jim kann sich auch dort nicht vor der Vergangenheit verstecken. Allein der ästhetisierte Name des Ortes, Patusan, wiederholt die Patna nicht mythisch identisch, sondern mit einer Differenz: Patna weist entweder proleptisch auf Patusan voraus, bzw. Patusan analeptisch auf Patna zurück. Patna / Patusan ist ein ästhetisches Wortspiel, das das psychologische Problem Jims, dass die Vergangenheit immer in der Gegenwart präsent ist, fiktional und selbstbewusst aufgreift und das dekonstruktivistisch die (temporale) Differenz beider Sachverhalte in sich trägt. IV. Das Ziel der Romankunst, so Conrad in seinem Vorwort zu The Nigger of the ‚Narcissus ‘, sei „like life itself […] inspiring, difficult - obscured by mists. It is not in the clear logic of a triumphant conclusion“. Wahrheit soll sich ergeben aus der phänomenologischen Gegenwart des Was, nicht aus der retrospektiv strukturierten Verfahrensweise einer sich linear entwickelnden, kausalen Ontologie. Conrad hat diese Absicht in der berühmten und viel zitierten Stelle aus demselben Vorwort expliziert: „My task which I am trying to achieve is by the power of the written word, to make you hear, to make you feel - it is before all to make you see“. 10 Conrad geht in Lord Jim wie impressionistische Maler vor (s. Abb. 2 und 3) jede erzählte Erscheinung gleicht einer flüchtigen und einmaligen Konstellation, die das Werden, das Geschehen, die Singularität einer Prozesshaftigkeit offenlegt und die der Wirklichkeit damit den Eindruck des Vorläufigen, Unfertigen und Unvollständigen aufprägt. 10 Joseph Conrad, Joseph. „Preface“. The Nigger of the ‚Narcissus ‘. Hg. Cedric Watts. Harmondsworth 1989, S. l und xlix. Siehe auch Armstrong, Paul B. „The Hermeneutics of Literary Impressionism: Interpretation and Reality in James, Conrad, and Ford,“ Poetics of the Elements in the Human Condition: The Sea - From Elemental Stirrings to Symbolic Inspiration, Language, and Life-Significance in Literary Interpretation and Theory . Hg. Anna-Teresa Tymieniecka. Dordrecht, Boston, Lancaster 1985. 477-499, hier S. 484-485. 150 Martin Middeke Abbildung 2: Claude Monet, „Die japanische Brücke“, 1899 11 Abbildung 3: Vincent van Gogh, „Sternennacht“, 1889 12 11 Vgl. https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Category: Japanese_footbridge_by_Claude_Monet#/ media/ File: Claude_Monet,_The_Water-Liliy_Pond_(National_Gallery,_London).JPG (04. 10. 2016) 12 Vgl. https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Vincent_van_Gogh#/ media/ File: VanGogh-starry_night.jpg (04. 10. 2016) Joseph Conrad, Lord Jim (1900) 151 Marlows zentrales Erkenntnisinteresse gilt der Beantwortung der Frage nach dem Vorhandensein eines festen, stabilen Sinnzusammenhangs. Why I longed to go grubbing into the deplorable details of an occurrence which, after all, concerned me no more than as a member of an obscure body of men held together by a community of inglorious toil and by fidelity to a certain standard of conduct, I can’t explain. You may call it an unhealthy curiosity if you like; but I have a distinct notion I wished to find something. Perhaps, unconsciously, I hoped I would find that something, some profound and redeeming cause, some merciful explanation, some convincing shadow of an excuse. I see well enough now that I hoped for the impossible - for the laying of what is the most obstinate ghost of man’s creation, of the uneasy doubt uprising like a mist, secret and gnawing like a worm, and more chilling than the certitude of death - the doubt of the sovereign power enthroned in a fixed standard of conduct. It is the hardest thing to stumble against […]. (34-5) Marlows Versuch der Interpretation Jims und seine existentiell notwendige, rekonstruktive Suche in der Gegenwart nach jenem ‚fixed standard of conduct‘ wird begleitet vom Zweifel an der Existenz einer solchen allgemein gültigen ,Ordnung der Dinge‘. Zum einen ist das Sinnverstehen Marlows damit kein lediglich reproduzierendes, sondern ein aktiv produzierendes Verhalten. Differenz heißt für Marlow nichts anderes als das, was Gadamer als „die eigentümliche Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten sichere Maßstäbe anvertraut hat“, 13 bezeichnet. Marlow sieht (wie Gadamer), dass es genügt zu sagen, dass man anders versteht, wenn man überhaupt versteht. Marlow kennzeichnet damit die zugleich rewie dekonstruktive Bewegung der Differenz zwischen Interpret und Interpretationsgegenstand, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Erinnerung (‚fixed standard‘) und Vergessen (‚the uneasy doubt uprising like a mist‘); Marlow weiß, dass diese Differenz, diese présence / absence , jedem Erkenntnisakt zugrunde liegt. Die multiperspektivische Anlage des Romans ist ein ästhetischer Reflex dieser hermeneutischen Grundproblematik - verschiedene Perspektiven re- und dekonstruieren die Idee der objektiven Wahrheitsfindung, und dies im Hinblick auf einen ästhetisch wie moralisch ,festen‘, autorisierten Standpunkt. Auf beiden Ebenen dominiert die epistemologische Skepsis, denn der Charakter Jims erfährt zum einen keine wesentliche Veränderung und wird zudem impressionistisch aus Marlows und verschiedenen anderen Perspektiven interpretiert. Die Multiperspektivität Lord Jims ist deshalb als phänomenologisch-hermeneutische Verfahrensweise aufzufassen, die sich vom Teil hin zum Ganzen und wieder zurück zum Teil in konzentrischen Kreisen fortlaufend bewegt und die auf diesem Wege den den Einzelaspekten zugrundeliegenden gemeinsamen Sinn aufzuspüren intendiert. Die im Sinne dieses zu findenden gemeinsamen Sinns, der Universalität und der Allgemeingültigkeit von Jims Schicksal fulminanteste These Marlows ist das den Roman durchziehende Motiv des „He was of the right sort; he was one of us“ (50). Die Universalität dieser These wird selbst nochmals in dem bereits erwähnten Patna / Pat-(us)-an-Wortspiel angedeutet. Einzelne Versatzstücke des Motivs rekurrieren nun sicher auf Jims und Marlows Identität als Seeleute. Die dominierende Sehweise des ‚one of us‘ ist jedoch eine umfassende Sympathieerklärung Marlows für Jims Schwäche und Versagen: Which of us here has not observed this, or maybe experiences something of that feeling in his own person - this extreme weariness of emotions, the vanity of effort, the yearning for rest? Those 13 Gadamer, Wahrheit und Methode , S. 283. 152 Martin Middeke striving with unreasonable forces know it well - the shipwrecked castaways in boats, wanderers lost in a desert, men battling against the unthinking might of nature, or the stupid brutality of crowds. (56) Tatsächlich wird sich wohl fast jeder Mensch an einen für ihn bedeutsamen ,Patna-Zwischenfall‘ von Versagen erinnern können und dass, wie Guerard schon prominent feststellte, „most of us have been compelled to live on, desperately or quietly engaged in reconciling what we are with what we would like to be“. 14 Marlow meint mit dem ‚one of us‘ dezidiert sensible, imaginierende Menschen, die der melancholischen Haltung Jims und seiner selbst zumindest nicht ablehnend oder verständnislos gegenüberstehen und für die das Leben folglich keiner „after-dinner hour with a cigar; easy pleasant, empty“ (25) gleicht, sondern die mitleidend nachfühlen können: „few of us understand, but we all feel it though, and I say all without exception, because those who do not feel do not count“ (134-5). Vor diesem Hintergrund sind dann auch die vielen Perspektiven zu deuten, die erinnernd auf Jim zurück blicken. Dies betrifft einerseits die auf den ersten Blick integren Charaktere wie Captain Brierly, der der Gerichtsverhandlung über Jim vorsitzt und Jim verurteilt hat, sich aber selbst darauf das Leben nimmt, oder den französischen Leutnant, der die Patna zwar heile in den Hafen bringt, aber Fragen nach seinen Erfahrungen mit der Angst bezeichnend ausweicht. Zum anderen äußern sich moralisch abjekte Charaktere wie Cornelius, der von Marlow zurecht abqualifiziert wird. Cornelius‘ Einschätzung jedoch, Jim sei kaum reifer als ein Kind - „No more than a little child - a little child“ (195) - trifft freilich ironischerweise genau den Kern von Jims narzisstisch-träumerischer Selbstbezogenheit. Am fatalerweise korrektesten ist die Einschätzung Jims durch Gentleman Brown, jenes „blind accomplice of Dark Powers“, jenes furchtbaren Echos aus Jims Vergangenheit, das in die Welt Patusans einbricht. Auf Jims Frage, warum er nach Patusan gekommen sei, antwortet er treffsicher: „It’s easy to tell. Hunger. And what made you? “ (210). Er beobachtet, dass Jim zusammenzuckt, und schlägt ihm ein Abkommen vor, das auf ihrer ‚gemeinsamen Natur‘ beruhe, auf ihrer gemeinsamen Angst, auf ihrer gemeinsamen Wunde der Vergangenheit, auf ihrer Gleichheit vor der Zeit: „Let us agree […] that we’re both dead men, and let us talk on that basis, as equals. We are all equal before death“ (226). Die auf den ersten Blick größte Autorität scheint der Perspektive Steins zugesprochen zu werden. Stein sieht Jim als Romantiker und legt die Zwiespältigkeit dieser Denk- und Lebensweise offen. Mit seinem doppeldeutigen Urteil, „He is romantic - romantic […]. And that is very bad - very bad. … Very good, too“ (131), fasst er die Berechtigung der verschiedenen Perspektiven zuvor zusammen. Stein weiß, dass ein Leben in isolierter Selbst-Vergessenheit nicht möglich ist, er weiß, dass man seine Träume an der Wirklichkeit messen muss, er weiß aber auch, dass man nicht alle Dinge, die man tun will, tun kann, dass man gleichsam einige Chancen seines Lebens nutzt, andere aber deshalb notwendigerweise verstreichen lassen muss: And because you not always can keep your eyes shut there comes the real trouble - the heart pain - the world pain. I tell you, my friend, it is not on that you not strong enough are, or not clever enough. Ha! … And all so that you not strong enough are, or not clever enough. Ja! … And all the time you are such a fine fellow too! Wie? Was? Gott im Himmel! How can that be? Ha! Ha! Ha! […] 14 Guerard, Albert Joseph. Conrad the Novelist . Cambridge, MA. 1958, S. 127. Joseph Conrad, Lord Jim (1900) 153 Yes! Very funny this terrible thing is. A man that is born falls into a dream like a man who falls into the sea. If he tries to climb out into the air as inexperienced people endeavour to do, he drowns - nicht wahr? … No! I tell you! The way is to the destructive element submit yourself, and with the exertions of your hands and feet in the water make the deep, deep sea keep you up. So if you ask me - how to be? […] ‘And do you know how many opportunities I let escape; how many dreams I had lost that had come in my way? ’ He shook his head regretfully. ‘It seems to me that some would have been very fine - if I had made them come true. Do you know how many? Perhaps I myself don’t know.’ ‘Whether his [ Jim’s] were fine or not,’ I said, ‘he knows of one which he certainly did not catch.’ ‘Everybody knows of one or two like that,’ said Stein; ‘and that is the trouble - the great trouble.’ (129 / 131) Die Bedeutung des ,destruktiven Elements‘ ist deshalb enorm komplex. Man kann, so wird deutlich, an kein rettendes Ufer im Strom der Zeit flüchten. Vielmehr muss der Ozean der Welt mit allen ‚exertions of your hands and feet‘ handelnd bewältigt werden. Traum und Realität, Subjektivität und Intersubjektivität sollen miteinander verbunden werden. Dem Anspruch dieser Einsicht wird Stein selbst gleichwohl kaum gerecht, da sich sein Leben symbolisch bereits vom Leben ab- und nahezu ästhetizistisch seiner Sammlung lebloser Schmetterlinge zugewendet hat. Die Multiperspektivität Lord Jims trägt somit nicht zur Wahrheitsfindung im Sinne der von Marlow gesuchten Bestätigung eines objektiv gültigen ‚fixed standard of conduct‘ bei. Die verschiedenen Betrachtungsweisen stellen ein Kaleidoskop subjektiver Lebensbewältigungsversuche dar, keiner oder jeder von ihnen ist grundsätzlich (un)berechtigt, was nur den Eindruck nahelegt, dass jeder Mensch für sich, seinem subjektiven Ideal folgend, das Beste aus seiner Position auf dem Ozean seiner Existenz machen muss. Jedes impressionistische Bild, jede Perspektive, jeder Moment des Erzählens und Erinnerns ist in die niemals endende, fließende Bewegung beständigen Werdens - in jenes „ perpetuum mobile des Daseins“ 15 eingebunden. Dass sich die daraus hervorgehenden Repräsentationen der Wirklichkeit in einem stets labilen Gleichgewicht widerstreitender Kräfte befinden, affiziert die gesamte formale Anlage Lord Jims . An die Stelle der chronologischen Abfolge tritt das Prinzip der Simultaneität: Alle Perspektiven, alle Ereignisse sind zugleich in Marlows Erinnerung präsent. Intensiviert wird diese vor allem dadurch, dass eine mündliche Erzählsituation vom Roman simuliert wird. Marlow erzählt Jims Geschichte face-to-face ; seine Geschichte ist angefüllt mit Augenzeugenberichten, Geschwätz, Tratsch, Abschweifungen, Wiederholungen, direkter Zuhörer- Anrede, rhetorischen Fragen, Zitaten, Legenden etc. Dies nimmt zum einen Einfluss auf die narrative Verlässlichkeit der einzelnen Perspektiven (inklusive derjenigen Marlows, die ebenfalls nur eine unter vielen ist); darüber hinaus macht die Abwertung von Schwätzern und Schwadronierern vom Schlage Chesters, Robinsons oder des feisten deutschen Skippers der Patna die Annahme objektiver Wahrheit im Ehrenkodex der Seeleute mehr als zweifelhaft. Auf der Meta-Ebene sprachlicher Repräsentation zeigt sich zum anderen mit der simulierten Mündlichkeit des Erzählens die Aspektverschiebung von der langen Beständigkeit der Schrift hin zur Flüchtigkeit gesprochener Sprache, vom passiv Statischen zum aktiv Dynamischen, vom toten Produkt ( ergon ) zur Tätigkeit ( energeia ), vom Monologischen zum Dialogischen. 15 Hauser, Arnold. Sozialgeschichte der Kunst und Literatur . München 1990, S. 930. 154 Martin Middeke Multiperspektivität, Gleichzeitigkeit im gegenwärtigen Erinnerungsprozess und Mündlichkeit der Darstellung entwerfen ein sylleptisches Mosaik, in dem verschiedene Zeitebenen, Inhaltsaspekte und Perspektiven in Schachtelstrukturen in der Gegenwart verklammert erscheinen - im Verein von einer Handlungsstruktur, in der die teleologisch-lineare Entwicklung in eine Endlosschleife differenter Wiederholungen aufgelöst wird. Marlow weiß am Ende seiner mündlichen Erzählung für seine Zuhörer nicht (mehr), wie die Geschichte Jims endet, er weiß (noch) nichts von der Katastrophe, die sich in Patusan abgespielt hat. Marlow selbst kommentiert, dass Jim sich für ihn im Zwielicht des Erkenntnisprozesses auflöst: „For me that white figure in the stillness of coast and sea seemed to stand at the heart of a vast enigma“ (199); wie der auktoriale Erzähler erinnert, ist dieses Schlussbild Marlows „that last image of that incomplete story, its incompleteness itself, and the very tone of the speaker, had made discussion vain and comment impossible“ (200). Dennoch genießt Marlow unser Vertrauen letztlich deshalb, weil er die Schwierigkeiten seiner Suche nach Wahrheit ausspricht und der Roman auf diese Weise seine eigenen epistemologischen Voraussetzungen thematisiert. Redlichkeit und damit Wahrhaftigkeit und nicht Wahrheit erzeugen hier narrative Verlässlichkeit. Sprache und alle Hilfsmittel, die dem Menschen dazu dienen, seine Umwelt zu strukturieren, werden von Marlow als Fiktionen enttarnt, aber zugleich wird deutlich, dass die Menschen die Fiktionen, jenes ,Als ob‘ existentieller Schutzräume brauchen, um dem Nichts einer unerträglichen Absurdität zu begegnen. Jeder ‚fixed standard of conduct‘ wird somit als ein sozial von Menschen generierter und kein naturgegebener, ontologisch begründeter Sinnzusammenhang dekuvriert. Die Haltung des ,Als ob‘ der Fiktionen funktioniert als notwendiges Gegengift, das den infiniten Regress, das Chaos, die Absurdität, die Angst neutralisieren soll - Fiktionen freilich, die Marlow als unvermeidliche Lügen, ja oft Lebenslügen dekonstruiert -- Lügen wie diejenige, mit der Marlow zuvor in Heart of Darkness Kurtz’ Auserwählter begegnet, als er ihr sagt, dass Kurtz’ letzte Worte ihr galten, statt sie in die Wahrheit - und „The horror! The horror! “ -- einzuweihen. Manchmal lebt man eben besser mit der (Lebens-)Lüge als mit dem ‚horror‘ des Nichts und hält an der hermeneutischen Sinnsuche oder am Glauben an transzendentale Signifikate beliebiger Provenienz fest trotz aller Differenzen und Aporien, die sich in ihnen auftun. V. Zusammenfassend lässt sich mit Blick sowohl auf den Inhalt als auch auf die Form von Conrads Lord Jim konstatieren, dass der Text von einer Vielfalt von Diskursen, von zwar mit einander interagierenden, jedoch zueinander inkommensurablen Sprachspielen und Vernunftarten charakterisiert ist. Der Zeitenabstand der Perspektiven zum Geschehen macht aus der Zeit und der temporalen Differenz zwischen ihnen kein kreatives Feld der Imagination für eine offene Zukunft, keine metadiskursive, neu integrierende Formation, sondern lässt Zeit eher pessimistisch als Zerrüttungsprodukt erscheinen. Die Übergänge, Schwellen und Zwischenräume in solcherart verschiedenen Diskursen / Perspektiven bleiben in einem kaleidoskophaften Nebeneinander statt durch Brückenschläge weniger disjunkt zu wirken. Vielmehr zeigt die Inkommensurabilität und Brüchigkeit der Multiperspektivität den gescheiterten Anspruch an allumfassende Erklärungen, Rahmentheorien Joseph Conrad, Lord Jim (1900) 155 und Sinnzusammenhänge an. Dass Marlow seine eigene Schwäche wie die Schwächen allen Geschichtenerzählens metafiktional aufdeckt - „I don’t pretend I understood him“ (49); „I wanted to know - and to this day I don’t know, I can only guess“ (51); „I’m sitting here talking about him in vain“ (106) -, macht paradoxerweise seine eigentliche Autorität aus und setzt an die Stelle objektiver Wahrheit eine sich im hermeneutischen Verstehensprozess behauptende subjektive Wahrhaftigkeit: „I am concealing nothing from you, because were I to do so my action would appear more unintelligible than any man’s action has the right to be, and - in the second place tomorrow you will forget my sincerity along with the other lessons of the past“ (93). Literaturverzeichnis Primärliteratur Conrad, Joseph: Lord Jim . Hg. Thomas C. Moser. New York, London 1996. [Deutsche Fassung: -: Lord Jim . Zürich2005.] -: The Nigger of the ‚Narcissus‘. Hg. Cedric Watts. Harmondsworth 1988. -: Within the Tides . Harmondsworth 1978. -: „Brief an Edward Garnett“. Letters from Conrad: 1895-1924 . Hg. Edward Garnett. London 1928. Forschungsliteratur Armstrong, Paul B.: „The Hermeneutics of Literary Impressionism: Interpretation and Reality in James, Conrad, and Ford“. Poetics of the Elements in the Human Condition: The Sea - From Elemental Stirrings to Symbolic Inspiration, Language, and Life-Significance in Literary Interpretation and Theory . Hg. Anna-Teresa Tymieniecka. Dordrecht, Boston, Lancaster 1985. 477-499. Bloom, Harold (Hg.): Joseph Conrad . New York, New Haven, Philadelphia 1986. - (Hg.): Joseph Conrad’s Lord Jim . New York, New Haven, Philadelphia 1987. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit: Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. Cotton, Daniel: „Lord Jim: Destruction through Time“. Centennial Review 27.1 (1983): 10-29. Ford, Ford Madox : Joseph Conrad: A Personal Remembrance . New York 1971. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik . Tübingen1975. Goetsch, Paul: Die Romankonzeption in England 1880-1910 . Heidelberg 1967. Guerard, Albert Joseph: Conrad the Novelist . Cambridge, MA . 1958. Middeke, Martin: Die Kunst der gelebten Zeit. Zur Phänomenologie literarischer Subjektivität im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts . text und theorie 1 (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004). Lothe, Jakob: Conrad’s Narrative Method . Oxford 1989. Miller, J. Hillis: Fiction and Repetition . Seven English Novels . Oxford 1982. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral: Eine Streitschrift . Bd. 2. Hg. Karl Schlechta. Darmstadt 1994. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke . Frankfurt a. M. 1986. Wolpers, Theodor: „Formen mythisierenden Erzählens in der modernen Prosa: Joseph Conrad im Vergleich mit Joyce, Lawrence und Faulkner“. Lebende Antike: Symposion für Rudolf Sühnel . Hgg. Horst Meiler und Hans Joachim Zimmermann. Berlin 1967. Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro 157 Ernest Hemingway Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro Timo Müller Am Samstag, den 23. Januar 1954 hatte Ernest Hemingway gerade seine zweite afrikanische Safari beendet und befand sich mit seiner Frau Mary auf einem Sightseeing-Rundflug durch das östliche Uganda. Über den Murchinson-Wasserfällen nahe des Lake Albert kollidierte das Kleinflugzeug mit einem Mast und musste im Dschungel notlanden, was dem erfahrenen Piloten problemlos gelang. Am frühen Abend überquerte ein Linienflug die Unfallstelle und meldete die Notlandung. Es gebe an dieser Stelle kein Lebenszeichen, funkte er, das sei aber nicht alarmierend, da das Flugzeug kaum beschädigt sei. In der Tat hatten die Hemingways unverletzt am Flussufer gecampt und wurden am nächsten Tag von einem der Ausflugsdampfer, die zu den Wasserfällen unterwegs waren, aufgenommen. 1 In die weltweiten Zeitungs- und Fernsehredaktionen hatte es bis dahin allerdings nur der Funkspruch des Linienfliegers geschafft, und der wurde gerade in Deutschland, wo Hemingway auf dem Höhepunkt seines Ruhms stand, auf eigene Weise interpretiert. 2 „Ernest Hemingway im tiefsten Afrika verschollen“, titelte die Bild : „Flugzeugabsturz - wenig Hoffnung“. „Rettung wäre ein Wunder“, legte die Frankfurter Abendpost nach, und die Feuilletonisten bereiteten ergriffene Nachrufe vor. Nach und nach stellte sich der Grund dieser Aufwallung heraus: viele Kommentatoren sahen in dem vermeintlich tödlichen Flugzeugabsturz eine schicksalhafte Verwirklichung eines der bekanntesten Werke des Autors. „Merkwürdige Gedanken befallen uns“, schrieb der Hamburger Anzeiger noch am Montagabend, als die Rettung bereits feststand. „Wenn Ernest Hemingway nicht mehr lebt: sollte dieses Flugzeugunglück den vorgefühlten Tod gebracht haben, dem er ins Auge sah, oder besser, den er vorausahnte, als er ‚Schnee am Kilimandscharo‘ schrieb? […] Hat sich jetzt, wenig entfernt vom ‚Weißen Berg‘, an ihm selbst erfüllt, was er in seiner Kurzgeschichte vorzeichnete […]? “ Ungeachtet der Tatsache, dass die Unfallstelle mehr als 800 Kilometer vom ‚Weißen Berg‘ entfernt war, setzte auch der NWDR sein Abendprogramm aus, damit der Intendant höchstselbst Hemingways Geschichte vorlesen konnte, und am nächsten Morgen kommentierte ein Leitartikel der Welt die Rettung des Autors mit leichtem Bedauern. „Wenn sein Flugzeug über Uganda zerschellt und wenn er im Urwald verschollen wäre,“ fragte der Kommentator ehrfürchtig, „hätte sich dies nicht wie von selber in Leben und Werk gefügt? “ 3 1 Vgl. Meyers, Jeffrey. Hemingway. A Biography . New York 1985, S. 503-505; Reynolds, Michael. Hemingway. The Final Years . New York 1999, S. 277. 2 Vgl. Kvam, Wayne E. Hemingway in Germany. The Fiction, the Legend, and the Critics . Athens, OH 1973, S. 23. 3 Alle zitiert aus „Großes Tamtam.“ Spiegel Nr. 6 (03. 02. 1954): 25-27. Zur Popularität der Geschichte siehe Evans, Oliver. „‚The Snows of Kilimanjaro‘. A Revaluation“. PMLA 76.5 (1961): 601-607, hier S. 601; Moddelmog, Debra A. „Re-Placing Africa in ,The Snows of Kilimanjaro‘. The Intersecting Economies 158 Timo Müller Es hätte zumindest von bemerkenswerter Vorahnung gezeugt, entstand „The Snows of Kilimanjaro“, so der Originaltitel, doch beinahe 20 Jahre vor diesen Ereignissen. Die Geschichte war unter jenen Werken Hemingways, die er im Anschluss an seinen ersten Afrikaaufenthalt (1933-34) verfasste. Inspiriert war sie weniger von dem Jahrzehnte später dräuenden Flugzeugabsturz als von einer banalen Krankheit, die Hemingway sich auf Safari zuzog: der Amöbenruhr, einer schmerzhaften und potentiell lebensbedrohlichen Darminfektion, wegen der er zum nächsten Krankenhaus geflogen werden musste. Wie Harry, der Protagonist seiner Geschichte, konnte Hemingway von seinem damaligen Krankenlager den Kilimandscharo sehen; wie Harry war er durch seine zweite Ehe in eine höhere soziale Schicht aufgestiegen, sorgte sich um den Fortbestand seiner künstlerischen Integrität und nahm Afrika als gesunde, revitalisierende Umgebung wahr. 4 Nach der Rückreise, auf der er sich unter anderem mit Marlene Dietrich anfreundete, begann Hemingway seine Erfahrungen niederzuschreiben und veröffentlichte schließlich mehrere Werke über Afrika: den Erlebnisroman Green Hills of Africa (1935), die Kurzgeschichte „The Short Happy Life of Francis Macomber“ (1936) sowie seine wohl bekannteste Geschichte, „The Snows of Kilimanjaro“ (1936), die im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen soll. Nach einem kurzen Abriss der wichtigsten Symbole, mit denen die Geschichte arbeitet, sollen drei Aspekte näher untersucht werden, die von der Forschung noch nicht ausführlich behandelt wurden: die Darstellung der Umwelt und ihrer Wahrnehmung durch die Figuren; die soziologische Perspektive, welche die Geschichte auf Harrys schriftstellerische Tätigkeit richtet; sowie das Motiv der Wiederholung, das sich auf mehreren Ebenen der Geschichte findet. Dass es sich bei „The Snows of Kilimanjaro“ um einen außergewöhnlich symbolträchtigen Text handelt, deutet nicht nur der bildhafte Titel an, sondern auch das Epigraph, das Hemingway zum ersten Mal einer Kurzgeschichte voranstellt: 5 Kilimanjaro is a snow covered mountain 19,710 feet high, and is said to be the highest mountain in Africa. Its western summit is called by the Masai “Ngàje Ngài,” the House of God. Close to the western summit there is the dried and frozen carcass of a leopard. No one has explained what the leopard was seeking at that altitude. (150) Das Epigraph bestätigt nicht nur den Symbolgehalt des Titels, indem es auf die religiöse Dimension des schneebedeckten Berges verweist, sondern führt mit dem Leoparden ein zusätzliches Symbol ein, das in der Geschichte selbst gar nicht vorkommt, durch die exponierte Nennung aber starkes Gewicht erhält. Die wissenschaftliche Diskussion der Geschichte hat sich des Leoparden entsprechend dankbar angenommen und ihn wahlweise als Verkörperung oder als Gegenpart des Protagonisten interpretiert. Aus biologischer of Capitalist-Imperialism and Hemingway Biography“. New Essays on Hemingway’s Short Fiction . Hg. Paul Smith. Cambridge 1998. 111-136, hier S. 111; mit Bezug auf Deutschland siehe Kvam, Hemingway, S. 56. Die frühe wissenschaftliche Rezeption ist zusammengefasst in Dussinger, Gloria. „‚The Snows of Kilimanjaro‘. Harry’s Second Chance“ Studies in Short Fiction 5 (1967): 54-59, hier S. 55. 4 Vgl. Kennedy, J. Gerald. „Figuring the Damage. Fitzgerald’s ‚Babylon Revisited‘ and Hemingway’s ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. French Connections. Hemingway and Fitzgerald Abroad . Hgg. J. Gerald Kennedy und Jackson R. Bryer. New York 1999. 317-343, hier S. 327-336; Meyers, Hemingway, S. 279; zur literarischen Produktivität des Aufenthalts siehe Mandel, Miriam B. „Introduction“. Hemingway and Africa . Hg. Miriam B. Mandel. Rochester, NY 2011. 1-37, hier S. 17-18. 5 „The Snows of Kilimanjaro“ wird zitiert aus Hemingway, Ernest. The Fifth Column and The First Forty- Nine Stories . New York 1938. Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro 159 Sicht ist die Frage, was der Leopard auf dieser Höhe zu suchen hatte, schnell beantwortet: Er suchte nach Beute. Diese Antwort ist auch historisch bestätigt: Den Kilimandscharo- Leoparden gab es wirklich. Sein Kadaver wurde in den 1920er Jahren von mehreren Bergsteigern vorgefunden, und der russlanddeutsche Missionar Richard Reusch fand bei seinen Aufstiegen auch die Beute, auf die es der Leopard abgesehen hatte, eine Bergziege, die in etwa 100 Metern Entfernung lag. 6 In diesem Sinne könnte der Leopard also tatsächlich ein Sinnbild für Harry sein, der sich als mittelloser Gigolo von zunehmend reicheren Frauen aushalten ließ, insofern ebenfalls auf der ständigen Suche nach Beute und Nahrung war. 7 Beide verließen bei dieser Suche unvorsichtigerweise ihren ursprünglichen Lebensraum: der Leopard die Steppe, Harry das Milieu der einfachen, hart arbeitenden Leute, aus dem er seine schriftstellerische Kraft schöpfte. 8 Im Englischen wird diese Parallele auch durch das Wort „plains“ angedeutet, mit dem Hemingway die Ebene um den Kilimandscharo beschreibt. Es lässt sich sowohl auf die amerikanische Region der „Great Plains“ beziehen, in dem Harrys Kindheitserinnerungen spielen, als auch auf die „plain people“, die einfachen Leute, unter denen er ursprünglich zuhause ist. Die Kritik hat aber auch auf den positiven Symbolgehalt des Aufstiegs verwiesen, des Strebens nach Höherem, das der Leopard ebenso verkörpert. 9 In dieser Lesart steht er also für den Idealismus, den Harry sich bewahrt hat. Noch kurz vor seinem Tod versucht Harry seine Erinnerungen in die Form von Kurzgeschichten und prägnant beschreibenden Vignetten zu bringen, sich also als seriöser Schriftsteller zu beweisen, und die Vision des finalen Flugs zum Kilimandscharo zeigt, dass auch er unvermindert nach Höherem strebt. Allerdings tritt hier auch ein wichtiger Gegensatz zutage: Während der Leopard sich nämlich tatsächlich auf den beschwerlichen Weg zum Gipfel gemacht hat, tut Harry dies nur in seinen Gedanken. 10 In der Realität hat er die bequeme, wohl von seiner Lebensgefährtin finanzierte Safari vorgezogen und damit die körperliche Anstrengung durch bloße Unterhaltung ersetzt. Nicht von ungefähr hat er sich seine letztlich tödliche Verletzung beim Versuch zugezogen, eine Herde von Antilopen zu photographieren - eine Szene, auf die wir noch zurückkommen werden. Das hat zur Folge, dass Harry nun in der Ebene festsitzt und buchstäblich verrottet, während der Leopard nahe dem Gipfel im Eis verewigt liegt. 11 Wie das Epigraph schon andeutet, hat das Streben nach Höherem in Hemingways Geschichte auch eine religiöse Dimension. Der ortsansässige Stamm der Massai bezeichnet den Kilimandscharo als Haus Gottes, ähnlich dem Olymp in der westlichen Tradition, aus der Hemingway und die meisten seiner Leser stammen. 12 Vielleicht gelten Harrys letzte 6 Vgl. Bevis, R. W., M. A. J. Smith und G. Brose. „Leopard Tracks in ‚The Snows …‘“. American Notes and Queries 6 (1968): 115; Childs, Barney. „Hemingway and the Leopard of Kilimanjaro“. American Notes and Queries 2 (1963): 3; Howell, John M. Hemingway’s African Stories. The Stories, Their Sources, Their Critics . New York 1969, S. 99-100. 7 Vgl. Smith, Paul. A Reader’s Guide to the Short Stories of Ernest Hemingway . Boston 1989, S. 354. 8 Vgl. Macdonald, Scott. „Hemingway’s ‚The Snows of Kilimanjaro‘. Three Critical Problems“. Studies in Short Fiction 11 (1974): 67-74, hier S. 73; vgl. Kolb, Alfred. „Symbolic Structure in Hemingway’s ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. Notes on Modern American Literature 1 (1976): item 4. 9 Vgl. Tedlock, E. W., Jr. „Hemingway’s ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. Explicator 8 (1949): item 7; Walcutt, Charles Child. „Hemingway’s ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. Explicator 7 (1948): item 43. 10 Vgl. Johnston, Kenneth G. „‚The Snows of Kilimanjaro‘. An African Purge“. Studies in Short Fiction 21 (1984): 223-227, hier S. 225. 11 Vgl. Tedlock, „Hemingway“. 12 Vgl. Fowler, Austin. Ernest Hemingway’s The Snows of Kilimanjaro . New York 1966. S. 42. 160 Timo Müller Gedanken also auch seinem Aufstieg in den Olymp der Schriftsteller. 13 In der Geschichte selbst ist die religiöse Dimension allerdings eher christlich besetzt. Gleich drei der Szenen in Harrys erster Gedankenrückblende spielen an Weihnachten, und Christus selbst wird viermal angerufen, wobei die missbräuchliche Verwendung seines Namens eher auf seine Abwesenheit in Harrys Welt hindeutet als auf nahende Erlösung. Die Todesvision bedient sich allerdings durchaus religiöser Bildlichkeit. So durchquert das Flugzeug zunächst einen Heuschreckenschwarm, der biblisch nicht nur an die gottgesandte Plage erinnert, sondern auch an die dadurch verlorenen Jahre ( Joel 2: 25), um dann direkt auf das weiße Licht des schneebedeckten Gipfels und der dahinter aufgehenden Morgensonne zuzufliegen: 14 And then instead of going on to Arusha they turned left, he evidently figured that they had the gas, and looking down he saw a pink sifting cloud, moving over the ground, and in the air, like the first snow in a blizzard, that comes from nowhere, and he knew the locusts were coming up from the South. Then they began to climb and they were going to the East it seemed, and then it darkened and they were in a storm, the rain so thick it seemed like flying through a waterfall, and then they were out and Compie turned his head and grinned and pointed and there, ahead, all he could see, as wide as all the world, great, high, and unbelievably white in the sun, was the square top of Kilimanjaro. And then he knew that there was where he was going. (174) Das Flugzeug, das noch zweimal niedrig über dem Lager kreist, bevor es Harry aufnimmt und zum Kilimandscharo fliegt, ist mit dem Wagen verglichen worden, mit dem der biblische Prophet Elia in den Himmel auffährt (2. Könige 2: 11). 15 Die Szene ist im englischen Sprachraum durch den Gospelsong „Swing Low, Sweet Chariot“ bekannt, dessen Sänger ebenfalls von einem niederkommenden Wagen aufgenommen und in die Totenwelt geleitet wird. Der Pilot Compton übernimmt in Hemingways Geschichte die traditionelle Funktion des Führers und ähnelt auch namentlich der Figur des Charon aus der griechischen Mythologie, der die Toten in seiner Barke über den Fluss Styx in die Totenwelt bringt - und dessen Name wiederum an das englische Wort „Chariot“ erinnert. 16 Die religiös-allegorische Dimension der Geschichte speist sich nicht nur aus der griechischen Mythologie und der Bibel, sondern auch aus einem dritten wichtigen Intertext: Dantes Göttlicher Komödie (1321). Auch hier macht sich ein Dichter mittleren Alters an den Aufstieg auf einen Berg (bzw. Hügel), 17 findet sich aber in der Welt der Toten wieder, 13 Fleming verweist auch auf Prometheus’ frevelhaften Aufsteig in die Götterwelt und das an Dädalus und Ikarus erinnernde Motiv des Künstlerfluges (Vgl. Fleming, Robert E. The Face in the Mirror. Hemingway’s Writers . Tuscaloosa 1994, S. 78; 82). 14 Vgl. Galinsky, Hans. „Beobachtungen zum Wortschatz von Hemingways ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. Festschrift Prof. Dr. Herbert Koziol zum siebzigsten Geburtstag . Hgg. Gero Bauer, Franz K. Stanzel und Franz Zaic. Wien 1973. 87-104, hier S. 99. 15 Vgl. Flora, Joseph M. Ernest Hemingway. A Study of the Short Fiction . Boston 1989, S. 86. 16 Vgl. Fleming, The Face, S. 82; Galinsky, „Beobachtungen“, S. 99; Küsgen, Reinhardt. „‚The Snows of Kilimanjaro‘. Hemingway, Bunyan und die Welt der romance “. Motive und Themen in englischsprachiger Literatur als Indikatoren literaturgeschichtlicher Prozesse . Festschrift Theodor Wolpers. Hgg. Heinz- Joachim Müllenbrock und Alfons Klein. Tübingen 1990. 361-375, hier S. 372; Lewis, Robert W., Jr. und Max Westbrook. „‚The Snows of Kilimanjaro‘. Collated and Annotated“. Texas Quarterly 13 (1970): 67-143, hier S. 138. Engstrom (Engstrom, Alfred G. „Dante, Flaubert, and ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. Modern Language Notes 65.3 (1950): 203-205, hier S. 205) und Orrok (Orrok, Douglas Hall. „Hemingway, Hugo, and Revelation“. Modern Language Notes 66.7 (1951): 441-445, hier S. 441) weisen auch auf die Allegorie der „Delectable Mountains“ in Bunyans The Pilgrim’s Progress (1678) hin. 17 Vgl. Engstrom, „Dante“, S. 205; Anderson, David L. „Analogues of the Deserter-in-the-Gauertal Incident. Philoxenia in ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. Hemingway Review 33 (2013): 4-5; 15-26, hier S. 22. Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro 161 in die er von Charon übergesetzt wird. Der wichtigste Bezugspunkt ist dabei der Leopard im Epigraph von Hemingways Geschichte, bei dem es sich, wie ein Kritiker anmerkt, wohl um den zweitberühmtesten Leoparden der Literaturgeschichte handelt. 18 Der berühmteste findet sich bei Dante: er ist in gängigen Übersetzungen das erste der drei Tiere, die sich dem Dichter in den Weg stellen, als er sich zu Beginn des Inferno an den Aufstieg aus dem „finsteren Wald“ machen will. 19 Der Leopard steht hier wohl für die Wollust, die erste der höllischen Sünden, die auch den Zweiten Höllenkreis - den ersten nach der Vorhölle - definiert. 20 Schon vor Dante wurde der Leopard wegen seines prächtigen Fells mit Reichtum assoziiert; die römische Mythologie verbindet ihn zudem mit leiblicher Ausschweifung, da der Wagen des Gottes Bacchus von Leoparden gezogen wurde. 21 Diese Attribute stützen die Auffassung, dass der Leopard in Hemingways Geschichte für den Protagonisten Harry steht: dessen Sündenfall war die Hingabe an materiellen Wohlstand, den er durch unverbindliche sexuelle Beziehungen (Wollust) mit vermögenden Frauen erlangte. 22 Schon bei Dante ist das religiöse Heil, das der Aufstieg aus dem finsteren Wald auf den dahinter aufragenden Berg verspricht, nur durch Überwindung der eigenen Schwächen erreichbar. Einen ähnlichen Gedanken finden wir in Hemingways Geschichte, wo der Kilimandscharo, die höchste Erhebung des Kontinents, auch die hohen Ideale und das Streben nach Verewigung symbolisiert, die Harrys früheres künstlerisches Schaffen gekennzeichnet hatten und die er in Afrika wiedererlangen wollte. 23 Statt sich an den mühsamen Aufstieg zu machen, gibt sich Harry jedoch dem Luxusleben in der Ebene hin und hofft auf eine einfachere Lösung. Er vergleicht sich mit einem Boxer, der sich vor dem Kampf noch schnell in ein Trainingscamp begibt, um in Form zu kommen, und seine letzte Vision gilt einem Flugzeug, das ihn bequem zum Gipfel trägt. Indem er diesen Aufstieg am Ende der Geschichte als Illusion kennzeichnet, kommt Hemingway zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie vor ihm Dante: der Weg zur Unsterblichkeit ist auch für den Künstler ein langer, beschwerlicher Umweg. Mit dem Berg, dem Schnee und dem Leoparden sind nur die prominentesten Symbole der Geschichte genannt. Es ließen sich noch eine Reihe weiterer hinzufügen, so zum Beispiel der Wundbrand, an dem Harry leidet, oder die Geier und Hyänen, die das Safarilager umkreisen und auf seinen Tod warten. 24 Eine Gemeinsamkeit all dieser Symbole besteht darin, 18 Vgl. Anderson, „Analogues“, S. 22. 19 Tatsächlich spricht Dante von „una lonza […] di pel maculato“, einem Luchs- oder Panthertier mit geschecktem Fell also. Allerdings könnte damit auch der Schneeleopard gemeint sein; im Englischen wird allgemein häufig mit „leopard“ übersetzt. Siehe Toynbee, Paget. A Dictionary of Proper Names and Notable Matters in the Works of Dante . Oxford 1968, S. 397; und allgemein Siebzehner-Vivanti, Giorgio. Dizionario della Divina commedia . Mailand 1989, S. 340. 20 Vgl. Allaire, Gloria. „New Evidence Toward Identifying Dante’s Enigmatic lonza “. Electronic Bulletin of the Dante Society of America (1997). http: / / www.princeton.edu/ ~dante/ ebdsa/ ga97.htm 23. Juli 2015; Engstrom, „Dante“, S. 205; Young, Philip. Ernest Hemingway . Minneapolis 1959. 21 Vgl. Elia, Richard L. „Three Symbols in Hemingway’s ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. Revue des Langues Vivantes 41 (1975): 282-285, hier S. 282. 22 Vgl. Elia, „Symbols“, S. 283; Orrok weist darauf hin, dass der Leopard in der Bibel auch mit Blasphemie in Verbindung gebracht wird, und argumentiert, dass Harrys Tod auch eine Bestrafung für dessen lästerliche Abwendung vom Ideal seiner Kunst sei (Orrok, „Hemingway“, 444-445). 23 Vgl. Elia, „Symbols“, S. 285; Evans, „The Snows“, S. 603. 24 Zum Wundbrand siehe Evans, „The Snows“, S. 603; Johnston, „The Snows“, S. 224; Ibáñez, Beatriz Penas. „Hemingway’s Ethics of Writing. The Ironic Semantics of ‚Whiteness‘ in ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. North Dakota Quarterly 70.4 (2003): 94-118, hier S. 104. 162 Timo Müller dass sie der Natur entnommen sind. Neben der räumlichen betont auch die zeitliche Einordnung der Handlung diese Naturnähe. Die Geschichte setzt im Laufe des Nachmittags ein und endet nach Einbruch der Dunkelheit am selben Abend. Harrys Übergang vom Leben zum Tod spielt sich also in der Dämmerung des Tages ab; dem gegenübergestellt ist der imaginäre Flug zum Kilimandscharo, der in der Frische und im Sonnenlicht des nächsten Morgens stattfindet. Durch diese Koppelung mentaler und umweltlicher Prozesse - ein Prinzip, das Hemingways einflussreicher Zeitgenosse T. S. Eliot als „objektives Korrelativ“ bezeichnete - stützt die Geschichte die Idee, dass Harry in der afrikanischen Landschaft zu einer naturnäheren Lebensweise zurückfinden könnte. 25 Der Gedanke, dass die Natur für den modernen, entfremdeten Menschen therapeutischen Wert besitzt, ist eines der Leitmotive in Hemingways gesamtem Werk. 26 Die Kritik hat diesen Gedanken lange Zeit unhinterfragt übernommen und betrachtete die Naturräume, in denen sich Hemingways Figuren bewegen, oft als bloße Illustrationen der Persönlichkeiten und Probleme dieser Figuren. Mit dem Aufkommen ökologischer Ansätze in der Literaturwissenschaft hat sich in den letzten Jahren allerdings herausgestellt, dass die Naturdarstellung in Hemingways Werk über diese illustrierende Funktion hinausgeht und einige der Probleme vorwegnimmt, die uns heute, im Zeitalter der globalen Umweltkrise, immer stärker bewusst werden. 27 Der Gedanke vom therapeutischen Wert der Natur beispielsweise wird in „The Snows of Kilimanjaro“ durchaus kritisch beleuchtet. Während Harry in der Manuskriptversion noch den Namen „Henry Walden“ trug und damit in der Tradition des amerikanischen Outdoor- Pioniers Henry David Thoreau stand, betont die fertige Geschichte seine Entfremdung von der Natur und den Anthropozentrismus, der Harrys Sicht auf seine Umwelt zugrundeliegt. 28 Die Umgebung des Safari-Lagers beispielsweise scheint Harry kaum noch wahrzunehmen. Nur an einer Stelle ganz zu Beginn betrachtet er kurz die Tier- und Pflanzenwelt der Umgebung; ansonsten gilt seine Aufmerksamkeit entweder den ziellosen Unterhaltungen mit Helen oder der Erinnerung an frühere Zeiten. Selbst den majestätischen Kilimandscharo, neben dem sich das Lager offenbar befindet, nimmt er erst in seiner Vision des Todesflugs überhaupt wahr. Aufschlussreich ist der Vergleich mit den Erinnerungsrückblenden. Diese erhalten nämlich mehrere detaillierte, liebevolle Beschreibungen seiner Umwelt, sowohl der natürlichen als auch der städtischen, wie in seinen Erinnerungen an das Leben rund um die Place Contrescarpe in Paris. Damals war Harrys Umweltwahrnehmung offenbar wesentlich ausgeprägter, während er sich nun, in der großartigen Landschaft um den Kilimandscharo, auf Erinnerungen und Wahrnehmungsmuster aus der Vergangenheit zurückzieht. Er erinnert damit an einen Mann, den er selbst in jungen Jahren verachtet hatte: That was one of the things he had saved to write, with, in the morning at breakfast, looking out the window and seeing snow on the mountains in Bulgaria and Nansen’s Secretary asking the old man if it were snow and the old man looking at it and saying, No, that’s not snow. It’s too early for 25 Vgl. Eliot, T. S. „Hamlet and His Problems“. The Sacred Wood. Essays on Poetry and Criticism . London 1960. 95-103, hier S. 100. 26 Vgl. Evans, „The Snows“, S. 602. 27 Zur ökologischen Dimension der Geschichte im Vergleich mit Hemingways Spätwerk siehe Nakjavani, Erik G. R. „Hemingway’s African Book of Revelations. Dawning of a ‚New Religion‘ in Under Kilimanjaro “. Hemingway and Africa . Hg. Miriam B. Mandel. Rochester, NY 2011. 273-298, hier S. 294-295. 28 Zum Thoreau-Bezug siehe auch Johnston, „The Snows“, S. 226. Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro 163 snow. And the Secretary repeating to the other girls, No, you see. It’s not snow and them all saying, It’s not snow we were mistaken. But it was the snow all right and he sent them on into it when he evolved exchange of populations. And it was snow they tramped along in until they died that winter. (153-54) Bei dem Mann in dieser Szene - der ersten von Harrys Gedankenrückblenden - handelt es sich um Fritjof Nansen, den norwegischen Polarforscher, der in fortgeschrittenem Alter vom Völkerbund zum Hochkommissar für Flüchtlingsfragen bestellt wurde und nach dem Griechisch-Türkischen Krieg für die umstrittenen Umsiedelungen der Flüchtlinge in ihre alten Herkunftsländer verantwortlich war. 29 Dieser Aufgabe ist er in Harrys Erinnerung nicht gewachsen, weil er sich auf seinem früheren Ruhm ausruht. Anstatt die Situation der Flüchtlinge sorgfältig zu untersuchen, überschreibt er sie mit den Erfahrungswerten vergangener Expeditionen. Bei dem weißen Belag auf den Bergen kann es sich laut Nansen nicht um Schnee handeln, weil es um diese Jahreszeit gewöhnlich noch nicht schneit. Für diese Nachlässigkeit bezahlen die Flüchtlinge mit ihrem Leben, als sie ohne zureichende Ausrüstung in die Berge geschickt werden. Diese Szene nimmt in vielerlei Hinsicht Harrys eigenen Niedergang vorweg. Wie Nansen haben ihn das fortschreitende Alter und der gesellschaftliche Aufstieg bequem gemacht. Seine Wahrnehmung der Umwelt ist abgestumpft, was zu seiner Verletzung und schließlich zu seinem eigenen Tod im imaginären Gebirgsschnee führt. In Harrys Fall führt die mangelnde Auseinandersetzung mit der Umwelt nicht nur zu dysfunktionalen zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern schränkt ihn auch als Schriftsteller ein. Während er ständig die Erinnerungen durchgeht, die er als Material für künftige Geschichten gesammelt hat, kommt ihm nie der Gedanke, dass seine gegenwärtige Situation - die Erlebnisse auf der Safari und die afrikanische Landschaft - ebenfalls Potential birgt und sich aufgrund der Frische seiner Eindrücke vielleicht besser verarbeiten ließe. 30 Anstatt sich der Landschaft wirklich auszusetzen, wie er es noch als Beobachter im Griechisch- Türkischen Krieg getan hat, lässt er sich auf einer organisierten Safari zu den touristisch wertvollsten Orten bringen und von Einheimischen bedienen. In diesem Sinne ist die Geschichte auch als Parabel auf den westlichen Wohlstandstourismus gelesen worden, der sich für Land und Leute nur insofern interessiert, als sie zur Dekoration und zum Photomotiv taugen - wir erinnern uns, dass Harry sich seine Verletzung beim Photographieren zugezogen hat. 31 Dieses Tourismusmodell impliziert eine Grenze zwischen dem Touristen und dem besuchten Land, die es dem Touristen ermöglicht, das Land zu betrachten, ohne sich ihm auszusetzen. Es ist dieses falsche Gefühl der Immunität von seiner Umwelt, das Harry dazu veranlasst, sich nicht weiter um seine Verletzung zu kümmern, und das damit letztlich zu seinem Tod führt. „I didn’t pay attention to it“, sagt er, „because I never infect“ (153). Aus dieser Perspektive gelesen, fordert uns die Geschichte auf, unser eigenes Verhältnis zu unserer Umwelt in vielerlei Hinsicht zu überprüfen, von unserem Verhalten anderen Menschen gegenüber bis hin zu den ökologischen Folgen unseres Handelns. Diese Appellstruktur hat sich über die Zeit sogar noch verstärkt, da der schneebedeckte Gipfel des 29 Vgl. Meyers, Jeffrey. „Nansen and Hemingway“. Notes on Contemporary Literature 34.4 (2004): 2-4. 30 Vgl. Mehring, Frank. „Between Ngàje Ngài and Kilimanjaro. A Rortian Reading of Hemingway’s African Encounters“. Hemingway and Africa . Hg. Miriam B. Mandel. Rochester, NY 2011. 212-235, hier S. 221. 31 Vgl. Mehring, „Ngàje“, S. 227. 164 Timo Müller Kilimandscharo zu einem weltweit beachteten Mahnmal der Erderwärmung geworden ist. Wissenschaftler haben festgestellt, dass die Eisschicht auf dem Berg seit 1912 um 85 % zurückgegangen ist, und erwarten ihr völliges Verschwinden bis etwa 2030. 32 Dies ist global gesehen keine außergewöhnliche Entwicklung, da die Gletscher überall abschmelzen. Im Falle des Kilimandscharo hat sie allerdings ein enormes Problembewusstsein geschaffen, da es sich bei dem Berg, nicht zuletzt wegen Hemingways Geschichte, 33 um eine vielfach photographierte Touristenattraktion handelt. 34 Viele heutige Leser werden diese Entwicklung im Hinterkopf haben, wenn bei Hemingway von der glitzernden Schneedecke und dem ewigen Eis die Rede ist. In jedem Fall haben sich durch die Erderwärmung die Parameter verschoben, in denen wir Hemingways Geschichte lesen. Schon wegen dem titelgebenden Bild wird die Geschichte in wenigen Jahren einer entlegenen Vergangenheit angehören, in der noch Schnee auf dem Kilimandscharo lag, ähnlich wie das Erzählungen tun, die im Deutschen Kaiserreich oder in Amerika zur Zeit der Sklaverei spielen. Dies hat wiederum konkrete Auswirkungen auf die Bildsprache innerhalb der Geschichte. Insbesondere die Interpretation, dass der Leopard nahe dem Gipfel im Eis „verewigt“ ist und damit als Chiffre für den nach Ewigkeit strebenden Künstler taugt, dürfte heutigen Lesern eher fern liegen; wenn überhaupt, gäbe das Schicksal des Leoparden Anlass zu einer Reflektion über die Vergänglichkeit auch künstlerischen Ruhms. Die Selbstreflektion des Schriftstellers ist ohnehin das zentrale Thema der Geschichte, und zwar sowohl auf der fiktionalen Ebene (durch Harry) als auch auf der metafiktionalen Ebene (durch Hemingway). „The Snows of Kilimanjaro“ ist nicht das erste Werk Hemingways, dessen Protagonist als Schriftsteller tätig ist: schon die Hauptfigur der meisten vorherigen Kurzgeschichten, Nick Adams, ging dieser Tätigkeit nach, wie auch Jake Barnes aus Fiesta / The Sun Also Rises (1926). Während die frühen Protagonisten jedoch am Beginn ihrer Karriere standen und ihre Tätigkeit eine eher untergeordnete Rolle spielte, macht sich Hemingway nun an eine genaue Analyse eines älteren, gescheiterten Schriftstellers. 35 Harry wird sowohl in der Innenals auch in der Außensicht dargestellt, seine Position im literarischen Feld wird zumindest skizziert und wir erhalten sogar Einblicke in seine schriftstellerische Produktion. 36 Über das literarische Feld, in dem sich Harry bewegt, erfahren wir zwei Dinge. Zum einen hat er einen Kollegen, Julian, dessen Ehrfurcht für die Superreichen sich in seinen Geschichten niederschlug und ihm letztlich zum Verhängnis wurde. Bei Julian handelt es sich um eine kaum verhüllte Anspielung auf F. Scott Fitzgerald, den Hemingway in der Erstveröffentlichung noch namentlich nannte, und der weiterhin durch das Zitat aus einer seiner Geschichten identifizierbar ist. 37 Fitzgerald war nach seinen frühen Erfolgen in das internationale Jet-Set aufgestiegen, musste sich seinen Lebensunterhalt aber weiterhin durch die Schriftstellerei verdienen, was ihn so unter Druck setzte, dass er dem Alkoholismus verfiel und in den 1930ern regelmäßig hospitalisiert wurde. Die Anspielung erfüllt also 32 Vgl. Thompson, L. G., et al. „Glacier Loss on Kilimanjaro Continues Unabated“. Proceedings of the National Academy of Sciences 106.47 (2009): 19 770-19 775. 33 Vgl. Hemp, Andreas. „No Snow on Kilimanjaro? “. German Research 2 (2006): 5-9, hier S. 6. 34 Vgl. Mehring, „Ngàje“, S. 212. 35 Vgl. Rovit, Earl. Ernest Hemingway . Boston 1963, S. 35-36. 36 Vgl. Johnston, Kenneth G. „The Silly Wasters. Tzara and the Poet in ‚The Snows of Kilimanjaro.‘“ Hemingway Review 8 (1988): 50-57, hier S. 50-52; Müller, Timo. The Self as Object in Modernist Fiction. James, Joyce, Hemingway . Würzburg 2010, S. 248-251. 37 Vgl. Meyers, Hemingway , S. 277-278; Smith, Short Stories of Hemingway , S. 352. Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro 165 eine doppelt distanzierende Funktion. Auf der fiktionalen Ebene grenzt sich Harry von Julian ab, auf der metafiktionalen Ebene Hemingway von Fitzgerald. Aus soziologischer Perspektive nehmen Harry und Hemingway damit eine Position im literarischen Feld ein, die durch ihren relativen Unterschied zu Julian bzw. Fitzgerald geprägt ist. Allerdings ist diese Position nicht durch künstlerische Meinungsverschiedenheiten geprägt; im Gegenteil solidarisiert sich Harry mit Julian, indem er dessen Niedergang bedauert. Der entscheidende Unterschied ist vielmehr ein ökonomischer. Während Julian zum oberen Ende der ökonomischen Skala hin strebt, ist Harry darum bemüht, zumindest eine ideelle Distanz zur Oberschicht zu wahren. Der Soziologe Pierre Bourdieu, auf den der Begriff des literarischen Feldes zurückgeht, hat ein Raster entworfen, in dem sich Harrys Selbstpositionierung treffend einordnen lässt. Das literarische Feld spannt sich laut Bourdieu an zwei überkreuz verlaufenden Achsen auf: der ökonomischen und der kulturellen. 38 Durch seine Abgrenzung von Julian ordnet sich Harry auf der ökonomischen Achse ein, nicht aber auf der kulturellen, die laut Bourdieu von den Polen des Ästhetischen (Kunst um der Kunst willen) und des Sozialen (Kunst als gesellschaftliches Element) definiert wird. Da keine wesentlichen künstlerischen Unterschiede erkennbar werden, gibt die Passage keinen Hinweis darauf, welchem dieser Pole Harry zuneigt. Ein derartiger Hinweis findet sich in der anderen Passage, in der Harry sich auf das literarische Feld seiner Zeit bezieht, so dass seine Position insgesamt recht genau bestimmt werden kann. In der zweiten Gedankenrückblende beschreibt Harry seine Rückkehr aus dem Griechisch-Türkischen Krieg wie folgt: So when he got back to Paris that time he could not talk about it or stand to have it mentioned. And there in the café as he passed was that American poet with a pile of saucers in front of him and a stupid look on his potato face talking about the Dada movement with a Roumanian who said his name was Tristan Tzara, who always wore a monocle and had a headache […] (164) Auch diese Passage parallelisiert das literarische Feld Harrys und Hemingways, indem sie auf eine historische Figur verweist. Der Schriftsteller Tristan Tzara wird betont negativ dargestellt: Während Harry gerade die existentielle Grenzerfahrung des Krieges überstanden hat und nun mit seinen traumatischen Erinnerungen kämpft, bewegt sich Tzara in der entrückten Sphäre der Pariser Cafés und gibt sich abstrakten Diskussionen hin. Charakterisiert wird er einerseits durch seine körperliche Schwäche, die in deutlichem Kontrast zu Harrys aktiver Lebensführung steht, andererseits durch das Monokel, also eine einseitige Sicht auf die Welt. Ebenso wie Julian / Fitzgerald dient Tzara also als Referenzpunkt im literarischen Feld, von dem Harry und Hemingway sich distanzieren können. Durch den Verweis auf den Dadaismus, den Tzara mitbegründet hatte, erfolgt die Abgrenzung in dieser Passage allerdings explizit aus künstlerischen Gründen. Die dadaistische „Revolution“ in der Literatur erscheint dem Heimkehrer aus einem echten Krieg als affektierte Pose, und die abstrakte, theoretisierte Kunst der Dadaisten steht in deutlichem Gegensatz zu den lebensweltlichen Erfahrungen, aus denen sich Harrys potentielle und Hemingways tatsächliche Geschichten speisen. 39 Durch den amerikanischen Dichter wird der Dadaismus darüber hinaus mit 38 Vgl. Bourdieu, Pierre. Die Regeln der Kunst. Genese und Structure des literarischen Feldes . Frankfurt a. M. 2001. S. 198-205. 39 Vlg. Johnston, „The Silly Wasters“, S. 50-55. 166 Timo Müller Dummheit und materiellem Überfluss assoziiert, während Harry zu dieser Zeit in Armut lebt, dafür aber seine scharfe Beobachtungsgabe schulen kann. 40 Aus soziologischer Sicht distanzieren sich Harry und Hemingway hier also von der kulturellen Extremposition des l’art pour l’art und verorten sich eher in Richtung einer realistischen, gesellschaftlich verankerten Kunst, die ihren Maßstab in der möglichst genauen Wiedergabe tatsächlicher Erfahrungen findet. Diese Prinzipien schlagen sich auch in Harrys schriftstellerischer Produktion nieder, die uns zumindest andeutungsweise vorgeführt wird. Während er nämlich immer wieder betont, dass er seine Erinnerungen nie zu Papier gebracht habe, sind seine gedanklichen Rückblenden erstaunlich präzise ausgearbeitet, sowohl in sprachlicher wie in struktureller Hinsicht. Sie unterscheiden sich darin deutlich von den phrasenhaften Unterhaltungen, die er mit Helen führt, aber auch von den Passagen, in denen er über sich selbst nachdenkt. Dass er diese Rückblenden tatsächlich als Kurzgeschichten versteht, stellt sich erst gegen Ende heraus, als er Helen fragt, ob sie seine Diktation aufnehmen könne. Als sie verneint, sagt Harry sich, dass dafür sowieso keine Zeit mehr sei, dass man theoretisch jedoch alles in einem Absatz komprimieren könne. Daran schließt sich die dritte Erinnerungsrückblende an: There was a log house, chinked white with mortar, on a hill above the lake. There was a bell on a pole by the door to call the people in to meals. Behind the house were fields and behind the fields was the timber. A line of lombardy poplars ran from the house to the dock. Other poplars ran along the point. A road went up to the hills along the edge of the timber and along that road he picked blackberries. Then that log house was burned down and all the guns that had been on deer foot racks above the open fire place were burned and afterwards their barrels, with the lead melted in the magazines and the stocks burned away, lay out on the heap of ashes that were used to make lye for the big iron soap kettles, and you asked Grandfather if you could have them to play with, and he said, no. You see they were his guns still and he never bought any others. Nor did he hunt any more. The house was rebuilt in the same place out of lumber now and painted white and from its porch you saw the poplars and the lake beyond; but there were never any more guns. The barrels of the guns that had hung on the deer feet on the wall of the log house lay out there on the heap of ashes and no one ever touched them. (166) Tatsächlich handelt es sich bei diesem Absatz um eine noch skizzenhafte, aber vielversprechende Miniatur-Geschichte, ähnlich einiger der Vignetten, die Hemingway seiner ersten Kurzgeschichtensammlung In unserer Zeit / In Our Time (1925) beigab. Im Vergleich zu diesen Vignetten fehlt es Harrys Absatz noch etwas an Kompaktheit. Zudem werden die Personalpronomina auffallend uneinheitlich verwendet. Der junge Harry, aus dessen Perspektive erzählt wird, taucht zuerst in der dritten Person auf („he“), dann in der zweiten („you“); die zweite Person wird jedoch gleich darauf auch für den Leser verwendet und damit semantisch unscharf. Dennoch hat der Absatz bereits eine erstaunlich kompakte Binnenstruktur, die sich vor allem aus den häufigen Wortwiederholungen ergibt. Diese entfalten ihre Wirkung sowohl linear, indem sie die Entwicklung der Geschichte vorantreiben, als auch zyklisch, da der letzte Satz das Motiv des Blockhauses wieder aufnimmt, durch den Kontrast zwischen der sorgfältig geweißten Mauer und dem Aschehaufen aber den Verlust hervorhebt, den der Großvater erlitten hat. 40 Vgl. Müller, Timo. „The Uses of Authenticity. Hemingway and the Literary Field, 1926-1936“. Journal of Modern Literature 33.1 (2009): 28-42, hier S. 36-39; Müller, Self as Object , S. 247-250. Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro 167 Nicht nur diese zyklische Struktur, die sich in Hemingways Frühwerk häufig findet, sondern auch der sprachliche Stil der Passage deuten darauf hin, dass Harrys Ideal vom guten Schreiben - „to write [things] well“ - dem seines Autors entspricht. Es dominieren detaillierte, genau beobachtete Beschreibungen, die jedoch nicht ausgeschmückt werden, sondern gerade durch ihre Knappheit bestechen: durch einfaches Vokabular, parataktische Anordnung und den weitgehenden Verzicht auf Adjektive und Adverbien. Die emotionalen Tiefen der Handlung, insbesondere die Verlusterfahrung des Großvaters, werden lediglich angedeutet und können sich in der Vorstellungskraft des Lesers entfalten - ein Prinzip, das Hemingway wenige Jahre zuvor, in Tod am Nachmittag / Death in the Afternoon (1932), mit dem Bild des Eisbergs beschrieben hatte, dessen sichtbarer Teil von einem vielfach größeren Unterbau getragen wird. 41 Als eine Art virtueller Leseprobe unterstreicht die Passage damit noch einmal Harrys Potential, markiert aber gleichzeitig den entscheidenden Unterschied zwischen einem gescheiterten und einem erfolgreichen Schriftsteller: die Fähigkeit nämlich, solche Texte auch auf dem Papier auszuarbeiten. Der erfolgreiche Schriftsteller in dieser Konstellation ist Hemingway selbst, der es schafft, sowohl Harrys Erinnerungen als auch sein eigenes Material in eine fertig ausgearbeitete Geschichte zu integrieren. Auf dieser metafiktionalen Ebene ist „The Snows of Kilimanjaro“ demnach auch eine Parabel über gutes Schreiben, in der Hemingway seine eigenen Fähigkeiten zur Schau stellt, indem er sie mit denen des gescheiterten Schriftstellers Harry vergleicht. In diesem Vergleich kommt dem Element der Wiederholung entscheidende Bedeutung zu, was in der Kritik bisher keine Beachtung gefunden hat. Wie wir gerade gesehen haben, ist die Wiederholung eines von Hemingways bevorzugten Strukturprinzipien, das auch Harry einsetzt, allerdings mit geringerem Erfolg. Seine Geschichte über das Blockhaus des Großvaters beginnt mit kurzen, kompakten Sätzen, die in souveränen Strichen den Handlungsraum skizzieren und die Atmosphäre des einfachen, naturnahen Landlebens hervorrufen. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Handlung, als die Reaktion des Großvaters auf den Verlust seiner Jagdgewehre beschrieben wird, leiert die Passage aber in unnötig lange Sätze aus, die über die emotionalen Tiefen der Geschichte hinwegspülen. Der letzte Satz ist dann sogar so verschachtelt, dass der Leser gezwungen ist, mehr Aufmerksamkeit auf die grammatikalischen Bezüge zu verwenden als auf die Geschichte selbst. Hier dient das Prinzip der Wiederholung - sowohl von Wörtern als auch von paratakischen Satzgliedern - also nicht mehr der kompakten Beschreibung, sondern bildet eher Harrys Gedankenstrom nach, der sich mit abnehmender Konzentration verselbstständigt. Während sich Harry in seinen Erinnerungen noch relativ gut zu konzentrieren vermag, sind seine gegenwärtige Gedankenwelt und seine Kommunikation mit Helen stark durch einen Mangel an Ausdruckskraft beeinträchtigt, der sich in bloßer Wiederholung vertrauter Sprachmuster niederschlägt. Helen gegenüber spricht er ständig dieselben Themen an - seine Krankheit, sein Verlangen nach Alkohol, ihren vermeintlich schlechten Einfluss auf ihn -, die von den beiden offenbar schon so oft durchgegangen wurden, dass sie inzwischen zu Leerformeln geworden sind, die in rituellen Abfolgen von Angriff und Rückzug, von Verletzung und Bedauern wiederholt werden. Sowohl in diesen Unterhaltungen als auch in seiner gedanklichen Selbstanalyse greift Harry häufig auf konventionelle Reime und Alliterationen zurück, auf Stilfiguren der Wiederholung also, die er selbst, in bildlicher 41 Vgl. Hemingway, Ernest. Death in the Afternoon . New York 1932, S. 192. 168 Timo Müller Parallele zu seinem absterbenden Körper, als „rotten poetry“ (verrottende Lyrik) beschreibt. Er bezeichnet Helen als „ritch bitch“, eine arbiträre Beleidigung, die nichts mit Helens tatsächlichem Verhalten zu tun hat; über sich selbst sagt er, dass er sein Talent „by laziness, by sloth, and by snobbery, by pride and by prejudice, by hook and by crook“ verspielt habe (158). Hier handelt es sich um erschöpfte Sprache, wie es die Postmodernisten wenig später nennen sollten: um konventionelle Formeln, die schon zu oft wiederholt wurden, um noch poetische Kraft zu entfalten. 42 Wie ein Wort derartig erschöpft werden kann, zeichnet die Geschichte sogar am konkreten Beispiel nach, am Beispiel nämlich des Wortes „marvellous“ (wunderbar), das den Beginn der Geschichte bildet und danach noch viermal in exemplarischen Zusammenhängen wiederholt wird. „The marvellous thing is that it’s painless“, lautet der erste Satz der Geschichte. Harry sagt ihn zu Helen und bezieht sich auf seine Verletzung, den Wundbrand. Die eigentliche Bedeutung des Wortes, das vom lateinischen mirabilis herrührt, ist hier noch gegeben. Die Tatsache, dass eine völlig schmerzlose Verletzung zum Tod führen kann, entzieht sich dem menschlichen Verstand und hat damit die übernatürliche Anmutung eines Wunders. Im Kontext des Gesprächs mit Helen tritt diese Bedeutung aber in den Hintergrund. Harry ist bemüht, sich als tapferen Kavalier darzustellen, der sich mehr um seine Begleiterin sorgt als um seine Verletzung. Im Zuge dessen verwendet er das Wort „marvellous“ daraufhin eher im alltagssprachlichen Sinn von „großartig“. Er löst es damit von seiner ursprünglichen Bedeutung, die noch von der metaphysischen Sicherheit des Wunderglaubens getragen ist, und gibt es zur beliebigen Verwendung im eigentlich unpassenden Kontext der Alltagskommunikation frei. Die nächsten Stellen, an denen das Wort in der Geschichte auftaucht, sind bezeichnend für diesen Mangel an sprachlicher Sorgfalt. „You kept from thinking and it was all marvelous [sic]“ (157): Mit diesem Satz fasst Harry den Lebensstil zusammen, den er im Kreis der wohlhabenden Bekannten seiner Lebensgefährtin pflegte. Er könnte sich jedoch genausogut auf seine Verwendung von Sprache und insbesondere des Wortes „marvellous“ beziehen: Wer nicht darüber nachdenkt, in welchem Sinn er Wörter verwendet, wird vieles für „wundervoll“ befinden können und keine weiteren Adjektive benötigen, um positive Aussagen zu tätigen. Eine solche sprachliche Monokultur breitet sich auch zwischen Harry und Helen aus, die das Wort in der Folge auf verschiedenste Phänomene beziehen, von Helens Umgang mit dem Jagdgewehr - „You shoot marvellously“, sagt Harry zu ihr (160) - bis hin zu Harrys Gesundheitszustand: „you don’t know how marvellous it is to see you feeling better“, sagt sie kurz darauf, mit wohl unfreiwilliger Ironie (161). 43 Die letzte Verwendung des Wortes findet sich wiederum in Harrys Gedanken. Er beschreibt Helen als „a fine woman, marvellous really“ (162). Dass er für seine Lebensgefährtin keine andere Beschreibung findet als dieses inzwischen erschöpfte und fast bedeutungsleere Wort, das er hier zudem noch oxymoronisch verwendet (ein reales Wunder), ist nicht mehr überraschend: Harry ist sich von Beginn an seiner Unfähigkeit bewusst, noch echte Gefühle für Helen zu empfinden. Es unterläuft allerdings auch den künstlerischen Anspruch, den er an sich selbst noch stellt, die Fähigkeit, Dinge gut zu beschreiben. In diesem Sinne läge seine Aufgabe als Schriftsteller eigentlich darin, Wörter vor solcher 42 Vgl. Barth, John. „The Literature of Exhaustion“. Atlantic Monthly 220 (Aug. 1967): 29-34. 43 Die autorisierte deutsche Übersetzung von Annemarie Horschitz-Horst bildet dieses Phänomen leider nicht ab und gibt das Wort wahlweise mit „fabelhaft“, „ausgezeichnet“ und „wunderbar“ wieder (Hemingway, Ernest. Schnee auf dem Kilimandscharo. 6 Stories . Dt. von Annemarie Horschitz-Horst. Reinbek 1961, S. 73-89). Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro 169 Beliebigkeit zu schützen. Um seine Beobachtungen genau wiederzugeben, müsste er sich des Bedeutungskerns versichern, der ein Wort wie „marvellous“ ausmacht, und in den eben genannten Kontexten nach anderen, treffenderen Wörtern suchen. Harry ist nicht nur außerstande, diese Aufgabe zu erfüllen; er trägt sogar aktiv zum Bedeutungsverlust des Wortes bei, indem er es übertreibend oder euphemistisch verwendet. Es ist genau diese Bequemlichkeit, dieser Mangel an konzentrierter Beobachtung und Beschreibung, durch die er sein schriftstellerisches Talent mit der Zeit eingebüßt hat. Doch das Problem der Erschöpfung durch Wiederholung beschränkt sich bei Harry nicht auf die sprachliche Ebene. Es kennzeichnet auch seinen Lebenswandel, der ihm zwar zunehmenden Wohlstand beschert hat, aber auch eine zunehmende Armut an authentischen Erfahrungen. Zwischen diesen Entwicklungen sieht Harry einen kausalen Zusammenhang. Durch seinen Wohlstand war er nämlich von dem Zwang befreit, sich auf neue Orte und neue Erfahrungen einzulassen. Stattdessen konnte er die schon bekannten Orte und Erfahrungen in immer luxuriöserer Weise genießen. „He had had his life and it was over and then he went on living it again with different people and more money, with the best of the same places, and some new ones“ (157). In diesen spiralenhaften Wiederholungen verloren seine Eindrücke zunehmend an Frische, ein Problem, das er auch an seinen neuen Bekannten beobachtete. „The rich were dull and they drank too much, or they played too much backgammon“, konstatiert er. „They were dull and they were repetitious“ (170). Im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass die Safari, auf der Harry sich gerade befindet, ebenfalls in dieser Spirale der Wiederholung gefangen ist. Zwar hat er sie angetreten, um dem Luxusleben der Reichen zu entfliehen, doch statt dies in einer neuen Umgebung zu tun, wählte er Afrika, weil er dort die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Auch bei der Safari handelt es sich also um eine Wiederholung, und angesichts der Bediensteten, die ihn auf Zuruf mit Whiskey versorgen, scheint auch diese Erfahrung eher durch abgestumpftes Komfortdenken geprägt zu sein als durch körperliche und geistige Frische. 44 Dass zwischen seiner sprachlichen und seiner lebensweltlichen Erschöpfung ein kausaler Zusammenhang besteht, wird in der Szene deutlich, in der Harry sich seine Verletzung zuzieht: … he had not used iodine two weeks ago when a thorn had scratched his knee as they moved forward trying to photograph a herd of waterbuck standing, their heads up, peering while their nostrils searched the air, their ears spread wide to hear the first noise that would send them rushing into the bush. They had bolted, too, before he got the picture. (160) Während die ruhig und schwerfällig wirkenden Wasserbüffel sich durch Aufmerksamkeit und Agilität auszeichnen, fehlt es Harry in dieser Szene an genau diesen Eigenschaften. Er bewegt sich ungeschickt durch das Gelände, so dass er sich nicht nur die fatale Schürfwunde zuzieht, sondern den Büffeln auch seine Anwesenheit verrät. Seine Entscheidung, die Wunde nicht zu desinfizieren, ist also keine unglückliche Ausnahme, sondern eine logische Folge seines generell unvorsichtigen Verhaltens. 45 Diese lebensweltliche und geistige Bequemlichkeit wird in der Szene explizit mit künstlerischer Betätigung in Verbindung gebracht, genauer mit der Photographie, die Harry offenbar für sich entdeckt hat. Sie entspricht als Kunstform am ehesten seinem Naturell, da sie Eindrücke auf Knopfdruck 44 Vgl. Moddelmog, „Re-Placing Africa“, S. 122-123. 45 Vgl. Williams, Wirt. The Tragic Art of Ernest Hemingway . Baton Rouge 1981, S. 129-134. 170 Timo Müller abspeichert und automatisch wiedergibt. Indem er seine Safari photographisch dokumentiert, vermeidet Harry also einmal mehr den mühsamen Prozess des Schreibens. Seine Bequemlichkeit wird hier im realen wie im übertragenen Sinne anschaulich gemacht und als Ursache für die - reale wie metaphorische - Wunde, die zu seinem Tod führt, identifiziert. Einen Abschluss unserer Lektüre mag die Frage bilden, welche Funktion der Wiederholung im Vergleich zwischen Harry und Hemingway, zwischen dem gescheiterten und dem erfolgreichen Schriftsteller, zukommt. Die Gefahren der Wiederholung waren auch Hemingway bewusst, vertraute er doch wie kaum ein anderer Schriftsteller auf die künstlerische Kraft authentischer Erfahrung und einfacher, direkter Beschreibung. 46 In „The Snows of Kilimanjaro“ identifiziert er Wiederholung als einen wichtigen Grund für Harrys Unvermögen, dieses künstlerische Ideal zu erreichen. Hemingway zieht daraus allerdings nicht den Schluss, selbst auf Wiederholungen zu verzichten. Vielmehr macht er sie zu einem zentralen thematischen und stilistischen Prinzip seiner eigenen Geschichte. Schon die zahlreichen biographischen Parallelen zeigen, dass es sich bei „The Snows of Kilimanjaro“ in vielerlei Hinsicht um eine Wiederholung von Hemingways eigenen Erfahrungen handelt; zudem denkt der Schriftsteller Hemingway hier über die Schriftstellerei nach, indem er einen Schriftsteller beschreibt, der über die Schriftstellerei nachdenkt. Auch die Wiederholung von Wörtern, die bei Harry zur Bedeutungserschöpfung führt, trägt bei Hemingway zum Erfolg der Geschichte bei. Die wiederkehrenden Motive von Schnee, Feuer und Jagd verbinden die äußere Handlungsebene mit den Gedankenrückblenden, fügen die Geschichte zu einem ästhetischen Ganzen zusammen. Das wiederholte Auftauchen der Geier und Hyänen erhöht die Spannung und trägt zur sinistren, gedankenschweren Atmosphäre bei. Die Erinnerungsrückblenden selbst sind eigentlich ebenfalls erschöpfte Erfahrungen, die Harry gedanklich schon oft durchgegangen ist, ohne sie je literarisch wiedergeben zu können. Gerade diejenigen Erfahrungen, die Harry als Material für seine Kunst schon aufgegeben hat („you could not write that“), nimmt Hemingway auf und macht aus ihnen kleine Demonstrationen seiner eigenen Virtuosität - die Passage über die Place Contrescarpe in Paris ist wohl das beeindruckendste Beispiel. 47 Er führt uns also vor, dass authentische Beschreibung selbst mit vielfach wiederholten Themen und vielfach wiederholter Sprache möglich ist. Diese Fähigkeit machte ihn zu einem der geachtetsten Schriftsteller seiner Zeit. Mit ihr hat er die Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts geprägt und neben „The Snows of Kilimanjaro“ zahlreiche weitere große Werke der Literatur geschaffen. Literaturverzeichnis Primärliteratur Hemingway, Ernest: Death in the Afternoon . New York 1932. -: The Fifth Column and The First Forty-Nine Stories . New York 1938. -: Schnee auf dem Kilimandscharo. 6 Stories . Dt. von Annemarie Horschitz-Horst. Reinbek 1961. 46 Zur Frage der Authentizität bei Hemingway siehe Müller, „Uses of Authenticity“. 47 Vgl. Macdonald, Hemingway, S. 70; Müller, Kurt. Ernest Hemingway. Der Mensch - Der Schriftsteller - Das Werk . Darmstadt 1999, S. 125. Ernest Hemingway, Schnee auf dem Kilimandscharo / The Snows of Kilimanjaro 171 Sekundärliteratur Allaire, Gloria: „New Evidence Toward Identifying Dante’s Enigmatic lonza “. Electronic Bulletin of the Dante Society of America (1997). http: / / www.princeton.edu/ ~dante/ ebdsa/ ga97.htm. 23. Juli 2015. Anderson, David L.: „Analogues of the Deserter-in-the-Gauertal Incident. Philoxenia in ‚The Snows of Kilimanjaro‘“. Hemingway Review 33 (2013): 4-5, 15-26. Barth, John: „The Literature of Exhaustion“. Atlantic Monthly 220 (Aug. 1967): 29-34. Bevis, R. W., M. A. J. Smith und G. Brose: „Leopard Tracks in ‚The Snows …‘“. American Notes and Queries 6 (1968): 115. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Structure des literarischen Feldes . 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Schon kurz nach seiner Geburt siedelt die Familie von der Schweiz nach Kuba über. Dort beginnt Carpentier mit einem Studium der Architektur, das er nie beendete. Stattdessen widmet er sich in jungen Jahren dem Journalismus, bis ihm sein Engagement für die politische Linke unter der Präsidentschaft des Generals Gerardo Machado y Morales 1928 eine Gefängnisstrafe einbringt. Danach beschließt er, nach Frankreich auszuwandern, wo er insgesamt elf Jahre lebt und engen Kontakt mit den wichtigsten Vertretern des Surrealismus pflegt, darunter André Breton, Paul Éluard, Louis Aragon, Jacques Prévert und Antonin Artaud. Wiederholte Reisen nach Spanien wecken in ihm eine tiefe, bis zu seinem Lebensende anhaltende Faszination für die Architektur und Literatur des Barock, die von anhaltendem Einfluss für sein literarisches Schaffen sein wird. 1939 kehrt Carpentier nach Kuba zurück, wo er seine journalistische Karriere fortsetzt. Ab den vierziger Jahren entwickelt er ein anhaltendes Interesse für die afroamerikanischen Kulturen des karibischen Raumes, das sich zum einen in zahlreichen ethnographischen Studien niederschlägt, aber auch eine besondere Synthese mit dem Konzept des lateinamerikanischen Neobarock eingeht. Ab 1945 lebt Carpentier in Caracas, Venezuela. Nach La Habana kehrt er erst nach dem Sieg der kubanischen Revolution zurück. 1966 wird er schließlich Berater der kubanischen Botschaft in Paris und bleibt dort bis zu seinem Lebensende. Neben zahllosen journalistischen, populärwissenschaftlichen und kulturhistorischen Werken ist Carpentier vor allem als Autor von acht Romanen bekannt geworden, die ihm einen herausragenden Platz in der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts sicherten. Der wichtigste von ihnen, El reino de este mundo (Das Reich von dieser Welt) aus dem Jahre 1949, erzählt in halb romanesk, halb chronikaler Form aus der Sicht eines afrokaribischen Sklaven den Weg Haitis vom französischen Kolonialregime zur Unabhängigkeit. Los pasos perdidos (Die verlorenen Spuren) , erstmals 1953 erschienen, hat die zivilisations- 1 Vgl. zu Biographie und Werk Müller-Bergh, Klaus. Alejo Carpentier. Autor y obra en su época . Buenos Aires 1972. 174 Christian Wehr kritische Begegnung eines Musikwissenschaftlers mit der mythischen Kultur der Karibik zum Thema. El discurso del método (Die Methode der Macht) aus dem Jahre 1974, ist eines der herausragendsten Beispiele für die Gattung des Diktatorenromans. El arpa y la sombra ( Die Harfe und der Schatten) von 1979 schließlich ist so etwas wie ein literarisches Vermächtnis, inszeniert der Roman doch als satirische Gründungsfiktion auf innovative Weise die Entdeckung des Kontinentes durch Kolumbus. Neben Autoren wie dem Kolumbianer Gabriel García Márquez oder dem Mexikaner Juan Rulfo war vor allem auch Alejo Carpentier dafür verantwortlich, dass die hispanoamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts eine eigene, unverwechselbare Stimme erhielt, die ihr im Kanon der globalen Literatur einen festen Platz verschaffte. Carpentiers Bedeutung für die Entwicklung des Romans kann diesbezüglich kaum überschätzt werden. Als einer der ersten erkannte er hellsichtig den hybriden, transkulturellen Charakter der Gesellschaften Hispanoamerikas, die weit mehr von den autochthonen Kulturen der vorkolumbischen Zeit und den Traditionen der afrikanischen Sklaven geprägt waren, als es selbst die Mehrzahl der Ethnologen seiner Zeit wahrhaben wollte. 2 So entwickelte er im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den synkretistischen Identitätsmodellen der postkolonialen Räume eine Kategorie lateinamerikanischer Wirklichkeitserfahrungen, die unter dem Titel des real maravilloso (des Wirklich-Wunderbaren) , in die Literaturgeschichte einging. In keinem anderen Werk lassen sich die poetologische Konzeption und narrative Realisierung dieses Konzeptes besser nachvollziehen als im Reich von dieser Welt , zumal der Text grundlegende Prozesse der kulturellen Hybridisierung anhand einer Schlüsselepisode der karibischen Geschichte sinnfällig macht. Diesbezüglich ist dem Roman ein berühmt gewordenes, programmatisches Vorwort vorangestellt. In ihm entwickelt Carpentier anhand der Kategorie des real maravilloso eine Reihe wegweisender poetologischer Reflexionen zur hispanoamerikanischen Literatur, in deren Zentrum die kulturgeschichtliche Differenzen zu den europäischen Traditionen stehen. Vor dem Hintergrund dieser Ausgangsüberlegungen kann die Lektüre in folgende Schritte gegliedert werden: (1) Die einleitende Darstellung von Carpentiers autochthoner Poetik des hispanoamerikanischen Romans wird sich auf die programmatischen Ausführungen des kanonischen Vorwortes stützen. (2) Dabei besteht eine wichtige, bislang übersehene poetologische Dimension des Prologs darin, dass Carpentier dort in einer biografischen Reminiszenz den Gründungsmythos der Erinnerungskunst schlechthin verbirgt, der solchermaßen zum impliziten Erzählmodell des Romans wird: Die Fabel vom antiken Dichter Simonides, zu dessen karibischen Nachfolger sich Carpentier stilisiert (3). Durch diese Fundierung in einer mythischen Erinnerungssituation profiliert sich der Erzähler als Chronist, der vom Ende der Kolonialgeschichte im karibischen Raum berichtet, dieses historische sujet aber zugleich nach literarischen Verfahren modelliert und aus der Perspektive verschiedener handlungsbeteiligter Figuren vermittelt (4). Auf der Basis eines Resumés der Romanhandlung können dann die besonderen Strategien der erzählerischen Vermittlung in den Blick genommen werden. Sie wechseln, gemäß dem Konzept des real maravilloso , zwischen einer allwissend-auktorialen Sicht und der autochthonen Perspektive des afroamerikanischen Protagonisten (5). Hybride Züge kennzeichnen dabei nicht nur die Ebene der erzählten Geschichte und ihrer 2 Zum Begriff der Transkulturation, der seinen Ursprung in der kubanischen Essayistik hat, siehe Ortiz, Fernando. „El fenómeno social de la transculturación y su importancia en Cuba“. Revista Bimestre Cubana XLVI (1940): 273-278; Rama, Ángel. Transulturación narrativa en América Latina . México 1982; Pratt, Mary Louise. Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation . London 1992. Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) 175 narrativen Vermittlung, sondern auch deren stilistische Formulierung: Alejo Carpentier ist einer der wichtigsten Repräsentanten des lateinamerikanischen Neobarock (6). Damit ist ein literarästhetisches Programm aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts benannt, das die Aktualisierung der barocken Poetik als besonders geeignet erachtete, um einer außereuropäischen Erfahrung angemessen Ausdruck zu verleihen, zu der nicht zuletzt auch die anthropologischen Universalien des Festes und des Exzesses gehören. 3 Eines der Schlüsselverfahren der Hybridisierung liegt dabei in der besonderen Überformung der lateinamerikanischen Geschichtserfahrung durch eine christliche Zeitvorstellung, deren Bedeutung für den Text im Besonderen, aber auch für den hispanoamerikanischen Roman im Allgemeinen diskutiert werden soll (7). Ihre spezifisch hispanomerikanische Umdeutung erfährt diese historische Konzeption sowohl durch den Prozess der Transkulturation (8) als auch durch eine mestizische Zukunftsvision (9). 2. Autochthone Romanpoetik: Zur Programmatik des real maravilloso Das Vorwort des Romans beginnt mit einer persönlichen Reminiszenz. Alejo Carpentier erinnert an einen Besuch der berühmten Ruinen des Schlosses Sans Souci auf Haiti, die der legendäre Sklavenkönig Henri Christophe nach der Befreiung von den französischen Kolonialherren zwischen 1810 und 1813 errichten ließ. 4 Die Besichtigung ist Anlass für eine historisch weit ausholende Reflexion über das literarisch Wunderbare vom europäischen Mittelalter bis zur lateinamerikanischen Moderne. Der Exkurs wirkt auf den ersten Blick äußerst heterogen und wenig systematisch. Carpentier stellt jedoch die geschichtliche Reihe seiner Beispiele in klare Gegensatzverhältnisse. Während das Wunderbare in der Literatur Hispanoamerikas die Wirklichkeitserfahrung authentisch und unmittelbar abbildet, erzeugen die fantastischen, schauerromantischen, symbolistischen und vor allem surrealistischen Poetiken der europäischen Moderne artifizielle Gegenwelten, die, bar jeden Wirklichkeitsbezuges, alleine in der ästhetischen Konstruktion existieren. Autoren vom Marquis de Sade über Arthur Rimbaud und den Comte de Lautréamont bis hin zu André Breton (den Carpentier in Frankreich persönlich kennenlernte) werden zu Bürokraten und Taschenspielern zugleich abqualifiziert, die in eskapistische Kunstwelten flüchten und jede kollektive Dimension von vorneherein verfehlen. Diese Realitätsferne des europäischen Ästhetizismus kulminiere, so Carpentier, in Lautréamonts 1874 geschaffener, kanonisch gewordener Metapher des objet trouvé aus den Gesängen des Maldoror : Es sei „schön“, heißt es dort, „wie die Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“. 5 Versuchte ein Vertreter der europäischen Kunst wie der surrealistisch geprägte Maler André Masson jedoch, die überbordende, an sich schon irreale tropische Natur Martiniques im Bild einzufangen, scheiterte er. Erst einem lateinamerikanischen Künstler wie dem Kubaner Wilfredo Lahm gelang es, die exuberante, exotische, an sich schon irreale 3 Vgl. Shin, Jeong-Hwan: „La estética neobarroca de la narrativa hispanoamericana. Para la definición del barroco como expresión hispánica“. Memoria de la palabra .Actas del VI Congreso de la Asociación Internacional Siglo de Oro. Hgg. María Luisa Lobato und Francisco Domínguez Matito. Madrid / Frankfurt a. M. 2004. 1669-1681. 4 Carpentier, Alejo: Das Reich von dieser Welt . Frankfurt 2014. 115. 5 „beau comme […] la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie! “ Lautréamont. Les Chants de Maldoror . Œuvres complètes . Paris 1938, chant VI, 1, S. 256; vgl. die Referenz auf Lautréamont in Carpentier, Das Reich , S. 116. 176 Christian Wehr Vegetation der Tropen authentisch darzustellen. Die imaginative Armut der europäischen Kunst könne dies niemals erreichen. 6 Allerdings, so räumt Carpentier ein, gab es Epochen in der Geschichte der europäischen Literatur, in denen noch ein authentisches Wunderbares existierte, das nicht von den Taschenspielereien des Traumberichtes oder automatischen Schreibens korrumpiert war: das Mittelalter, die Renaissance und der Barock. Ritterromane wie der Amadís de Gaula oder Tirant lo Blanc, die Werwölfe in Miguel de Cervantes Liebes- und Abenteuerroman Persiles und Segismunda, aber auch Martin Luthers legendäre Begegnung mit dem Teufel führen ein Übernatürliches vor Augen, das noch nicht von der Vernunft entzaubert ist. 7 Implizit macht Carpentier damit die Aufklärung verantwortlich für die Eliminierung des Wunderbaren und die flächendeckende Entzauberung der europäischen Kulturen. Ab dem 18. Jahrhundert hat das Diktat der abendländischen Rationalität das imaginative Potenzial der literarischen, bildlichen und religiösen Welten zerstört. Die Geschichte Lateinamerikas kennt diesen Terror der Vernunft in der historischen Vision Carpentiers nicht. Sie hat den Schatz ihrer Mythologien über die Jahrhunderte nicht nur bewahrt, sondern sogar erweitert und bereichert. Die besondere Form der Wirklichkeitserfahrung, die mit dieser ständigen und ungebrochenen Präsenz des Übernatürlichen inmitten des historisch Realen korrespondiert, fasst Carpentier in die epochemachende Formel des real maravilloso . Sie ist der Kategorie des magischen Realismus, die etwas später vor allem als Hauptmerkmal des so genannten Booms der lateinamerikanischen Literatur der 60er Jahre Anwendung fand, aber eigentlich aus der expressionistischen Malerei der 20er Jahre stammt, eng verwandt. 8 Beide Begriffe statuieren eine untrennbare Kopräsenz des Realen und Übernatürlichen, die - im Gegensatz zur europäischen Rationalität - für die besondere Qualität lateinamerikanischer Wirklichkeitserfahrung steht. Das Vorwort zum Reich von dieser Welt ist die einzige programmatische Formulierung dieses Konzeptes im Bereich der lateinamerikanischen Literatur. Dabei grenzt Carpentier das real maravilloso von den europäischen Strömungen der Fantastik, des Unheimlichen und des Surrealismus mit einer Reihe von Oppositionsmerkmalen ab, die in erster Linie auf anthropologische Kriterien zurückgreifen: Während das Wirklich-Wunderbare eine kollektive Erfahrungsform ist, die auf dem unaufgeklärten, unmittelbaren Glauben basiert und den Erlebniswelten Lateinamerikas selbst inhärent ist, sind die Kopfgeburten der europäischen Literatur rein individuell, darüber hinaus agnostisch und vor allem artifiziell. Eine präzise strukturelle Bestimmung des magischen Realismus, die auch auf das Wirklich-Wunderbare beziehbar ist, hat die brasilianische Literaturwissenschaftlerin Irmelar Chiampi vorgenommen: 9 DISKURSTYP MERKMALSKOMBINATION STRUKTUR realistisch natürlich Disjunktion wunderbar übernatürlich 6 Carpentier, Das Reich , S. 116. 7 Carpentier: Das Reich , S. 117. 8 Scheffel, Michael: Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung . Tübingen 1990. 9 Chiampi, Irlemar: O Realismo Maravilhoso. Forma e Ideologia no Romance Hispano-America. S-o Paulo 1980. 142-144. Für die deutsche Fassung der obenstehenden Übersicht bin ich Bernhard Teuber zu Dank verpflichtet. Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) 177 DISKURSTYP MERKMALSKOMBINATION STRUKTUR phantastisch natürlich und übernatürlich Konjunktion unheimlich nicht natürl. + nicht übernatürl. wunderbar-realistisch natürl. + nicht natürl. Nicht-Disjunktion übernatürl. + nicht übernatürl. Ziel des wunderbaren Realismus ist die Produktion des „Anderen Sinns“, der den Amerikanern von den Kolonisatoren verweigert wurde. Er lässt sich herstellen, indem das logische Prinzip der Disjunktion (zwei kontradiktorische Elemente stehen zueinander in einer exklusiven Beziehung des Entweder-Oder) außer Kraft gesetzt wird und stattdessen das Prinzip der Nicht-Disjunktion eingeführt wird. Formallogisch lässt sich der wunderbare Realismus auf dieser Basis von anderen Diskursen, insbesondere vom Phantastischen und Unheimlichen, exakt abgrenzen. Traditionellerweise sind in den literarischen Traditionen Europas die Merkmalskombinationen des realistischen und natürlichen (etwa im Roman des 19. Jahrhunderts) und des Wunderbaren bzw. Übernatürlichen (wie in der Märchenliteratur) unvereinbar. Eine Besonderheit der fantastischen Literatur besteht darin, dass sie zwei alternative und konkurrierende Erklärungsangebote an den Leser richtet, der die Ereignisse entweder als natürlich oder übernatürlich interpretieren kann. Im Falle des Unheimlichen wird eine Nähe zum Übernatürlichen nur suggeriert, da letzten Endes die rationale Erklärung der fraglichen Ereignisse dominiert. 10 Vor diesem Hintergrund wird das Spezifikum des Wirklich-Wunderbaren deutlich, wie es dem lateinamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts zu eigen ist. Die logischen Bereiche des Natürlichen und Nicht-natürlichen - beziehungsweise des Übernatürlichen und Nicht-übernatürlichen - sind hier ungetrennt: Das Wunderbare bleibt immanenter, nicht isolierbarer Bestandteil der dargestellten Wirklichkeit. An diesem Punkt schlägt Carpentier die Brücke zur Konzeption des Romans. Das narrative und historiographische sujet , die Geschichte der Unabhängigkeitskämpfe Haitis, steckt so voller wunderbarer Details und Ereignisse, so dass sie nur im Modus des real maravilloso adäquat vermittelt werden kann. Insofern ist es konsequent, wenn jeder Text, der die Geschichte Lateinamerikas zum Thema hat, 11 generisch einer hybriden Chronik des Wirklich-Wunderbaren zugeordnet wird, die im Auftrag einer kollektiven Erinnerung vermittelt wird. Damit korrespondiert eine Stilisierung des Autors zum Chronisten, die in den mythologischen Referenzen der ersten Sätze versteckt ist. 3. Narration und Erinnerung: Der Autor als moderner Simonides Der Beginn des Prologs zeigt den Erzähler, wie er zwischen den Ruinen des ehemaligen Regierungspalastes des Sklavenkönigs Henri Christophe wandelt und dabei über die Vergangenheit Haitis sowie das Wunderbare der lateinamerikanischen Geschichte sinniert. In diesem Zusammenhang zeichnet sich die Aktualisierung eines hintergründigen Bezuges zur Geschichte der Erinnerungstechnik ab, die den zahlreichen Interpreten des Romans bislang verborgen blieb. Die einleitenden Sätze evozieren den Gründungsmythos 10 So die Leitthese von Todorov, Tzvetan. Introduction à la littérature fantastique . Paris 1970. 11 Carpentier, Das Reich , S. 121. 178 Christian Wehr der Mnemonik, die Fabel des antiken Dichter-Philosophen Simonides (557 / 556-468 / 46 7 v. Chr.). Mehr als durch sein fragmentarisch überliefertes dichterisches Werk ist er vor allem als Gründungsfigur der Erinnerungskunst bekannt, wie bei Cicero, Plinius, Quintilian und anderen nachgelesen werden kann. In Ciceros Version lautet die Anekdote wie folgt: So bin ich dem Simonides von Keon dankbar, der als erster die Erinnerungstechnik entwickelt haben soll. Denn man erzählt sich, dass Simonides, als er bei einem reichen und vornehmen Manne zu Krannon in Thessalien speiste, ein Lied auf ihn gesungen habe, in dem nach Dichterart zur Ausschmückung Kastor und Pollux ausführlich besungen worden seien. Da habe Skopas in allzu schäbiger Gesinnung zu Simonides gesagt, er werde ihm für dieses Lied die Hälfte dessen geben, was er mit ihm vereinbart habe; die andere Hälfte solle er gefälligst bei seinen Tyndariden holen, die er ebenso gepriesen habe. Kurz darauf habe man Simonides, so heißt es, ausgerichtet, dass er nach draußen kommen solle; zwei junge Männer stünden vor der Türe, die dringend nach ihm riefen. Da sei er aufgestanden und hinausgegangen, habe aber niemanden gesehen. Unterdessen sei der Raum, wo Skopas speiste, eingestürzt. Durch diesen Einsturz sei er selbst mit seinen Angehörigen verschüttet und getötet worden. Als die Verwandten sie bestatten wollten und die Opfer auf keine Weise voneinander unterscheiden konnten, soll er aufgrund der Tatsache, dass er sich daran erinnern konnte, an welcher Stelle der Betreffende jeweils gelegen hatte, Hinweise für die Bestattung jedes Einzelnen gegeben haben. Durch diesen Vorfall aufmerksam geworden, soll er damals herausgefunden haben, dass es vor allem die Anordnung sei, die zur Erhellung der Erinnerung beitrage. 12 Die antike Fabel illustriert die Organisation und Funktion eines räumlich strukturierten Gedächtnisses, wie es über die Dauer von über 2000 Jahren gültig war: Die memoria legt ihre Objekte an imaginären oder realen Gedächtnisorten ab, deren anschließendes Abschreiten die solchermaßen verwahrten Gegenstände wieder aufruft. Wenn Alejo Carpentier also im Vorwort seines Romanes zwischen den Ruinen der früheren Regierungspaläste wandelt und dabei ihre Geschichte beschwört, als deren Chronist er sich zugleich versteht, stilisiert er sich damit zum modernen Nachfolger des Begründers der Gedächtniskunst schlechthin. Wie ein zeitgenössischer Simonides begeht er die verfallenen Gemäuer, um sich die zugehörigen Ereignisse und Personen in Erinnerung zu rufen, darunter etwa Pauline Bonaparte, die von ihrem Bruder Napoleon inmitten der Befreiungskämpfe nach Haiti geschickt wurde und auch im Roman eine wichtige Rolle spielt. Diese mythische Gründungsszene des Romanes, die den Prolog eröffnet, erlaubt es, zur hybriden Struktur und zum Inhalt des Textes selber überzuleiten. 12 „[…] gratiamque habeo Simonidi illi Cio, quem primum ferunt artem memoriae protulisse. Dicunt enim, cum cenaret Crannone in Thessalia Simonides apud Scopam fortunatum hominem et nobilem cecinissetque id carmen, quod in eum scripsisset, in quo multa ornandi causa poetarum more in Castorem scripta et Pollucem fuissent, nimis illum sordide Simonidi dixisse se dimidium eius ei quod pactus esset pro illo carmine daturum, reliquum a suis Tyndaridis quos aeque laudasset peteret, si ei videretur. Paulo post esse ferunt nuntiatum Simonidi ut prodiret; iuvenes stare ad ianuam duo quosdam, qui eum magnopere vocarent; surrexisse illum prodisse vidisse neminem. Hoc interim spatio conclave illud, ubi epularetur Scopas, concidisse; ea ruina ipsum cum cognatis oppressum suis interisse. Quos cum humare vellent sui neque possent optritos internoscere ullo modo, Simonides dicitur ex eo, quod meminisset quo eorum loco quisque cubuisset, demonstrator unius cuiusque sepeliendi fuisse. Hac tum re admonitus invenisse fertur ordinem esse maxume, qui memoriae lumen adferret.“ (Cicero. De oratore / Über den Redner . Lateinisch-deutsch, Hg. und dt. von Harald Merklin. Stuttgart 1997. II, 351-353. 432 f.) Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) 179 4. Romaneske Fiktion und koloniale Chronik Historischer Hintergrund des Romans ist die haitische Revolution von 1790. Am Ende der Kolonialzeit lebten auf Haiti etwa 455 000 Menschen, davon mehr als 400 000 schwarze Sklaven. Der Hauptaufstand gegen die französischen Kolonialherren begann im August 1791 und griff schnell auf das gesamte französische Territorium über. Nach zahllosen, Jahre währenden Massakern an der weißen Bevölkerung wurde 1804 schließlich der unabhängige Staat Haiti proklamiert, 1805 noch zusätzlich das unter französischer Herrschaft stehende San Domingue erobert. Ein Nationalheld der Unabhängigkeitskämpfe, der auch im Zentrum des Romanes steht, war der Sklave Henri Christophe. Als ehemaliger Koch, der sich während der Befreiungskämpfe gegen die Franzosen bis zum Brigadegeneral emporarbeitete, herrschte er zwischen 1811 und 1820 als Henri I über Nord-Haiti und ließ auch die Paläste errichten, von denen Carpentier in seinem Prolog erzählt. Am Ende seiner Regentschaft kam Henri Christophe einem Staatsputsch, der nunmehr gegen ihn selbst gerichtet war, zuvor und erschoss sich mit einer silbernen Kugel. Carpentiers Roman beginnt etwa 20 Jahre vor der Revolution und endet mit der Herrschaft von Henri Christophe. Hauptprotagonist ist der schwarze Sklave Ti Noel, aus dessen personaler Perspektive ein großer Teil der Handlung vermittelt wird. Durch den schwarzen Zauberer Mackandal kommt er in Berührung mit den Vodoo-Kulten der afroamerikanischen Sklaven. Im ersten Teil des Romans verliert der Magier nach einem Unfall mit einer Zuckermühle einen Arm und verlässt daraufhin die Farm, um andere Sklaven zu einem Aufstand gegen die Franzosen anzustiften. Sein Ziel ist die Errichtung eines Reiches freier Farbiger in San Domingue. Mit dem wichtigsten Helfer Ti Noel vergiftet er die Viehställe und Wohnhäuser der Franzosen. Die Folgen sind verheerend. Während des Massensterbens unter den Franzosen bleibt Mackandal selbst unsichtbar und kann trotz intensiver Suche nicht gefunden werden. Seine farbigen Gefolgsleute sind der Überzeugung, dass er der Verfolgung durch die magische Fähigkeit entkommt, die Gestalt verschiedener Tiere anzunehmen. Schließlich kehrt er am Weihnachtsfest auf die Finca zurück, wo er verhaftet und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Seine Hinrichtung und der gescheiterte Sklavenaufstand stehen am Ende des ersten Teiles des Romans. Der zweite beginnt im Jahre 1791, etwa 20 Jahre nach den Ereignissen der ersten Hälfte. Im Zentrum der Handlung steht hier eine zweite Welle von Sklavenaufständen, die vom Voodoozauber der Afroamerikaner begleitet werden und die ganze Insel in Blut tauchen. Ti Noel flieht mit seinem französischen Herrn Lenormand de Mezy auf einem Schiff nach Santiago de Cuba, um dort unter spanischer Obhut Schutz vor den Rebellen zu finden. Diesmal - also zwanzig Jahre nach den ersten, gescheiterten Aufständen - enden die Kämpfe siegreich für die Farbigen: 1793 wird auf der Insel die Abschaffung der Sklaverei ausgerufen. Als Ti Noel nach dem Tod de Mezys dorthin zurückkehrt, findet er jedoch ein von der Revolution verwüstetes Land vor. Schlimmer noch als die Zerstörungen ist für ihn, dass die siegreichen Sklaven die französische Kolonialherrschaft auf groteske Weise imitieren, indem sie nun ihrerseits ein feudales Regime europäischen Typs begründen, an dessen Spitze der ehemalige Koch und nunmehrige König Haitis, Henri Christophe, steht. Ti Noel wird von dessen Schergen festgenommen und zur Zwangsarbeit am Bau des Palastes Sans-Souci gezwungen. Nach dem Selbstmord des Tyrannen kann Ti Noel zu seinem ehemaligen, inzwischen zerstörten Herrenhaus zurückkehren, das er mit Diebesgut aus dem gestürmten Regierungspalast einrichtet. Er kommt zur desillusionierenden Einsicht, dass seine einstigen Leidensgenossen die Terrorherrschaft der früheren 180 Christian Wehr Kolonialherren nur unter veränderten Vorzeichen fortsetzen. In einer Schlusswendung, die nach dem Wirklichkeitskonzept des real maravilloso gestaltet ist, vollzieht Ti Noel die Metamorphose zu einem Geier - eine Fähigkeit, die er von seinem früheren Lehrherrn, dem schwarzen Zauberer Mackandal, erlernte. Die letzte, der biblischen Apokalypse nachempfundene Szene zeigt, wie sich der verwandelte Held in die Lüfte erhebt und inmitten eines grünen, alles verschlingenden Wirbelsturmes verschwindet. Mit dieser mythischen Schlusswendung kommt auch die wirklich-wunderbare Chronik Haitis an ihr Ende. Sie vermittelt im Sinne des poetologischen Programms aus dem Prolog immer wieder auf untrennbare Weise Natürliches und Übernatürliches. Eine ganze Reihe paradigmatischer Ereignisse ließe sich als beispielhaft für diese autochthone Ästhetik anführen: von den erwähnten Metamorphosen über Mackandals Gabe der Unverwundbarkeit bis hin zu halb heidnisch, halb christlichen Auferstehungsszenarien. Auf der Ebene der erzählten Geschichten sind derartige Manifestationen der hybriden Poetik unmittelbar evident. Komplexer und hintergründiger artikuliert sich das Erzählen zwischen den Kulturen jedoch auf der Ebene der narrativen Vermittlung, mit Tzvetan Todorv gesprochen also auf dem Niveau des discours : 13 5. Erzählverfahren: auktoriale und außerokzidentale Perspektive Als herausragendes Beispiel kann eine Beschreibung aus dem ersten Kapitel des Romans gewählt werden, das „Wachsköpfe“ betitelt ist. Es beginnt damit, dass Ti Noel sich mit seinem Herrn in Cap-Français befindet um einen Zuchthengst zu kaufen, und während einer Wartepause ein Schaufenster betrachtet: Während sein Herr sich rasieren ließ, konnte Ti Noel nach Herzenslust die vier Wachsköpfe betrachten, die das Gestell im Eingang schmückten. Die ondulierten Perücken umrahmten unbewegliche Mienen, und die herabfallenden Locken stauten sich auf dem Gestellbrett, über dessen roten Bezug sie sich ausbreiteten. Diese Gesichter - so tot mit ihren starren Augen - schienen doch so lebendig wie der sprechende Kopf, den ein durchreisender Quacksalber vor Jahren nach Cap français mitgebracht hatte und der ihm beim Verkauf eines Elixiers gegen Zahnschmerzen und Rheumatismus helfen sollte. Komischerweise hatte zufällig der Kaldaunenladen nebenan abgehäutete Kalbsköpfe, mit einem Stengel Petersilie auf der Zunge, ausgestellt, die ebenso wächsern aussahen - wie eingeschlafen mitten zwischen scharlachroten Schwänzen, gesülzten Pfoten und den Töpfen, die Kaldaunen enthielten, wie man sie in Caen zubereitete. Nur eine Holzwand trennte die beiden Ladentische, und Ti Noel stellte es sich sehr lustig vor, wenn neben den bleichen Kalbsköpfen auch die Köpfe von weißen Herren bei Tisch serviert würden. Wie man das Geflügel mit seinem Federn schmückt, um es den Gästen bei einem Festessen vorzusetzen, hätte auch ein geschickter und ein bisschen kannibalischer Koch die Köpfe mit ihren aufs schönste frisierten Perücken bekleidet. Es fehlte ihnen nichts weiter als eine Bordüre aus Salatblättern oder Radieschen, in der Form bourbonischer Lilien aufgeschnitten. Im übrigen ergänzten sich die Dosen mit Gummiarabikum, die Flakons mit Lavendelwasser und die Schachteln mit Reispuder, in Nachbarschaft mit den Kasserollen voll Kaldaunen und den Brettern mit Nieren, in diesem seltsamen Beieinander von Gefäßen und Behältern, zu dem Bild eines abscheulichen Gastmahls. Überhaupt gab es eine Unmenge Köpfe an diesem Morgen. Der Buchhändler neben dem Kaldaunenladen hatte an einem Draht mit Wäscheklammern die letzten Bilder aus Paris aufgehängt. Mindestens auf vieren war das Gesicht des Königs von Frankreich zu sehen, umrahmt von Sonnen, Schwertern und Lorbeer. Aber es gab da noch viele andere Köpfe mit Perücken, wahrscheinlich 13 Todorov, Tzvetan. „Les catégories du récit littéraire“. Communications 8 (1966): 125-151. Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) 181 von hohen Herrschaften des Hofes. Die Krieger erkannte man an ihrer angriffslustigen Haltung, die Magistratspersonen an ihren furchteinflössenden Mienen, die Männer des Geistes daran, dass sie über zwei gekreuzte Schreibfedern hinweg lächelten, unter denen Verse zu lesen waren, die aber Ti Noel nichts sagten, denn die Sklaven verstanden nichts von Literatur. Es gab auch farbige Stiche, weniger steif und feierlich, auf denen man Feuerwerk sah, Ballette, in denen Ärzte, mit großen Spritzen bewaffnet, tanzten, ein Blindekuh-Spiel in einem Park, junge Lüstlinge, die ihre Hand in das Dekollete einer Kammerzofe tauchten oder die unvermeidliche Schlauheit des Liebhabers, der, auf dem Rasen zurückgelehnt, entzückt den Durchblick auf die intimen Reize der Dame entdeckt, die sich in aller Unschuld auf einer Schaukel wiegt. 14 Der Beginn ist dem dramatischen Auftakt im Theater, welcher der atmosphärischen Einstimmung dient, vergleichbar. 15 Ti Noel, der beschäftigungslos auf der Straße wartet, bis sein Herr die Rasur beendet hat, betrachtet zwei unmittelbar nebeneinanderliegende Geschäftsauslagen: einmal die des Coiffeurs, der mit Perücken versehene Wachsköpfe ausstellt, und zum anderen die drapierten Innereien und abgezogenen Wachsköpfe im Schaufenster eines angrenzenden Fleischergeschäftes. 16 Die perspektivische Gestaltung der Szene ist ein Meisterstück hybrider Fokalisierung. In der Sicht des personalen Mediums Ti Noel werden die kulturellen Denotate der betrachteten Objekte fundamental ambivalent und generieren auf diese Weise einen ungeahnten historischen Beziehungsreichtum. Möglich wird diese wechselseitige Infiltration der kulturellen Felder und Identitäten durch die metonymische Nachbarschaft von falschen Menschenköpfen und echten Tierköpfen. In der hochgradig synkretistischen Vorstellungswelt Ti Noels wandeln sich die wächsernen Häupter französischer Aristokraten nämlich zum Angebot eines kannibalischen Festmahles. Die autoch- 14 Carpentier, Das Reich , S. 7 f. „Mientras el amo se hacía rasurar, Ti Noel pudo contemplar a su gusto las cuatro cabezas de cera que adornaban el estante de la entrada. Los rizos de las pelucas enmarcaban semblantes inmóviles, antes de abrirse, en un remanso de bucles, sobre el tapete encarnado. Aquellas cabezas parecían tan reales - aunque tan muertas, por la fijeza de los ojos - como la cabeza parlante que un charlatán de paso había traído al Cabo, años atrás, para ayudarlo a vender un elixir contra el dolor de muelas y el reumatismo. Por una graciosa casualidad, la tripería contigua exhibía cabezas de terneros, desolladas, con un tallito de perejil sobre la lengua, que tenían la misma calidad cerosa, como adormecidas entre rabos escarlatas, patas en gelatina, y ollas que contenían tripas guisadas a la moda de Caen. Sólo un tabique de madera separaba ambos mostradores, y Ti Noel se divertía pensando que, al lado de las cabezas descoloridas de los terneros, se servían cabezas de blancos señores en el mantel de la misma mesa. Así como se adornaba a las aves con sus plumas para presentarlas a los comensales de un banquete, un cocinero experto y bastante ogro habría vestido las testas con sus mejor acondicionadas pelucas. No les faltaba más que una orla de hojas de lechuga o de rábanos abiertos en flor de lis. Por lo demás, los potes de espuma arábiga, las botellas de agua de lavanda y las cajas de polvos de arroz, vecinas de las cazuelas de mondongo y de las bandejas de riñones, completaban, con singulares coincidencias de frascos y recipientes, aquel cuadro de un abominable convite. Había abundancia de cabezas aquella mañana, ya que, al lado de la tripería, el librero había colgado de un alambre, con grapas de lavandera, las últimas estampas recibidas de París. En cuatro de ellas, por lo menos, ostentábase el rostro del rey de Francia, en marco de soles, espadas y laureles. Pero había otras muchas cabezas empelucadas, que eran probablemente las de altos personajes de la Corte. Los guerreros eran identifícables por sus ademanes de partir al asalto. Los magistrados, por su ceño de meter miedo. Los ingenios, porque sonreían sobre dos plumas aspadas en lo alto de versos que nada decían a Ti Noel, pues los esclavos no entendían de letras.“ (Carpentier, El reino , S. 18 f.) 15 Pfister, Manfred. Das Drama . München 1982. 124. 16 Vgl. zur Interpretation der Passage Armbruster, Claudius. Das Werk Alejo Carpentiers. Chronik der „Wunderbaren Wirklichkeit“ . Frankfurt 1982, der für einschlägige Erzählverfahren den Begriff der „extraokzidentalen Perspektive“ plädiert (S. 82-85). Auf die Beschreibung der Wachsköpfe nimmt auch Gerhard Wild Bezug, der die Passage freudianisch als fantasmatische Wunscherfüllung liest in: Paraphrasen der Alten Welt: Interkulturelle Ästhetik im Werk Alejo Carpentier . Tübingen 2004, S. 61-63. 182 Christian Wehr thone Wahrnehmung des Sklaven überblendet die Accesoires und Attribute kolonialer Herrschaft mit anthropophagischen Elementen, wenn er, motiviert durch das bourbonische Banner, die Köpfe mit Radieschen und Salatblättern in Lilienform imaginiert. Dabei führt die Bewegung der Beschreibung in einer imaginären Evasion von der Beobachtung des Realen weg hin zum Kannibalisch-Wilden, um dann zirkulär wieder zum semantischen Feld des Kolonialen zurückzukehren. Die Szene evoziert jedoch weit mehr als das hybride Imaginarium eines schwarzafrikanischen Sklaven auf Haiti, der täglich mit der französischen Kultur konfrontiert ist. Sie antizipiert auf bildlicher Ebene auch den weiteren Verlauf der historischen Ereignisse, von denen dann vor allem im zweiten Teil des Romans die Rede sein wird. Zu verweisen ist in dieser Hinsicht vor allem auf den losen Sitz der Perücken, und damit auf deren rituelle Abnahme in den Guillotinierungsorgien während der Terrorherrschaft, die der französischen Revolution folgte. Der Untergrund des rotfarbenen Stoffbezuges, auf denen sich die Locken in der Auslage des Friseurs ausbreiten und kräuseln sowie die wächserne Farbe von Kalbs- und Wachsköpfen verstärken diese Assoziation noch zusätzlich. Motivisch und historisch untrennbar damit verbunden sind natürlich die blutigen Sklavenaufstände, die nur kurze Zeit nach der Großen Revolution in Frankreich sowie auf Haiti ausbrechen und dort die Bevölkerung in einem Gewaltrausch drastisch dezimiert. Damit stellt die hochgradig ambivalente Fokalisierung der Szene nicht nur kulturelle Hybridität aus. Sie erfüllt darüber hinaus auch in diachroner Sicht die Funktion eines mehrfach kodierten Vorausgriffes, mithin einer narrativen und zugleich historischen Prolepse. 17 Die eigentliche origo 18 des Beschreibens wird dabei kunstvoll in der Schwebe gehalten: Letzten Endes bleibt es unklar, ob die Fusion der kulturellen Codes noch aus der autochthonen Sicht eines Vertreters der wunderbaren Wirklichkeit stammt, oder ob sie bereits das Arrangement eines allwissenden Erzählers ist, der hinter dem Medium der Wahrnehmung steht. Derartige Ambiguierungen sind Ergebnisse eines Stilwillens, der an der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, insbesondere an den perspektivischen Neuerungen Gustave Flauberts, geschult ist. Sie lassen sich darüber hinaus aber ebenso als Effekte einer anachronistischen Ästhetik lesen, die in der lateinamerikanischen Literatur ab der Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Signum des Neobarock Karriere gemacht hat. Alejo Carpentier ist neben seinem Landsmann José Lezama Lima einer der Hauptrepräsentanten dieser Bewegung. 6. Neobarocker Stil: Synkretismus und Historismus Zum Verständnis der Programmatik des lateinamerikanischen neobarroco können einige grundlegende Bestimmungen des historischen Barock zu Rate gezogen werden. Heinrich Wölfflins kanonische Studie zu Renaissance und Barock wird nicht nur in der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, sondern auch in der Philosophie - etwa bei Gilles Deleuze 19 - wieder intensiv rezipiert und diskutiert. Sie gibt einige basale und griffige Kriterien zur Identifizierung des barocken Stils zur Hand: im Gegensatz zum Ideal der Renaissance sei er nicht linear, sondern massig und dekonturierend, nicht flächenhaft, sondern räumlich, 17 Genette, Gérard. „Discours du récit“. Figures III, 67-281., hier S. 105-115. 18 Begriff nach Bühler, Karl. Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache . Frankfurt / Berlin / Wien 1978. 102 ff. 19 Deleuze, Gilles. Le pli. Leibniz et le Baroque . Paris 1988. Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) 183 also dreidimensional, nicht regelmäßig sondern unregelmäßig, schließlich nicht statisch und gegliedert sondern bewegt und ungegliedert. Effekt all dessen ist nach Wölfflin eine barocke Vielfalt, die den diametralen Gegensatz zur rinascimentalen Ordnung bildet. 20 Schon diese grundlegende Charakterisierung der Epoche lässt erkennen, warum die barocke Ästhetik nicht nur von Alejo Carpentier als modellhaft erachtet wurde, wenn es um die literarischen Formulierungen der wunderbaren Wirklichkeit geht. Aufgrund ihrer transgressiven und dekonturierenden Züge schien sie ein ideales Medium der Überwindung oder zumindest Subversion kolonialer oder imperialistischer Ordnungen zu sein: ein Gegenmodell zu Diskursen der Ordnung, Kontrolle, Beherrschung, Disziplinierung und vor allem der distinkten, eindeutigen Identitäten. Die magische Wirklichkeit Lateinamerikas repräsentiert ja gerade die Auflösung klarer ethnischer und kultureller Trennungslinien und stellt das Bewegte, Unregelmäßige und Hybride aus. Der hispanoamerikanische Neobarock strebt damit keineswegs die Revitalisierung einer musealen Poetik an. Er versteht sich vielmehr als kulturpolitische Initiative, deren Ziel die Emanzipation von einem ethnischen und kulturellen Imperialismus teils eurozentrischer, teils nordamerikanischer Prägung ist und auch als Rückgriff auf den epistemischen Analogismus gelesen werden kann, der bis zur Aufklärung vorherrschte. 21 Die genannten Kriterien barocker Ästhetik zeigten sich ja bereits in der evasiven, transgressiven und kulturüberschreitenden Dynamik der Perspektivführung in der Beschreibung der Wachsköpfe aus dem ersten Kapitel. Sie setzen sich fort in zahlreichen weiteren Deskriptionen der Revolutionskämpfe und der heidnischen Bräuche des afroamerikanischen Voodoo, die allesamt im Zeichen einer neobarocken Aufhebung von Kultur- und Stilgrenzen stehen. Das Ergebnis ist ein zutiefst synkretistisches Bild der Geschichte Lateinamerikas und ihrer Repräsentanten - ein Bild, das Elemente autochthoner Traditionen mit kolonialem Herrschaftsdenken fusioniert - schließlich ist der Synkretismus ja bereits ein genuin barockes Prinzip. Derartige Überblendungen reichen von kulturellen und politischen Themen bis hin zu einer hybriden Religiosität. Vor allem letzteres kommt in der übergreifenden Konzeption des Romans auf ebenso programmatische wie überraschende Weise zum Ausdruck. 7. Biblische Symbolik: Antiker Mythos und christliche Figura Carpentier selbst versteht seinen Roman, soviel war zu sehen, als geschichtstreue Chronik des Wirklich-Wunderbaren. Dieses historische Substrat wird jedoch überformt von einem komplexen System symbolischer und allegorischer Stilisierungen. Es ist erstaunlich genau an den Strukturen der biblischen Hermeneutik orientiert und öffnet die Chronik auf eine Vielzahl weiterer, uneigentlicher Lektüren. Im Folgenden sollen nur die wichtigsten Elemente und Verfahren dieser Allegorisierung vorgestellt werden, um sie anschließend auf ihre Funktion im Kontext eines spezifisch lateinamerikanischen Geschichtsverständnisses zu befragen. 20 Ich beziehe mich summarisch auf Wölfflin, Heinrich. Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien . Stuttgart 1965, dessen allzu homogenes Epochenverständnis der Renaissance später vielfach korrigiert wurde, etwa in den programmatischen Beiträgen bei Wolf-Dieter Stempel / Karlheinz Stierle (Hgg.). Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania . München 1987. 21 Vgl. Shin, „La estética neobarroca“; Serrano, Pio E. „La escritura barroca en Alejo Carpentier y José Lezama Lima“. Encuentro de la cultura cubana 34 / 35 (2005): 107-116; Wild, Paraphrasen , S. 34-51. 184 Christian Wehr Das auffallendste Strukturmerkmal besteht diesbezüglich in der Zweiteilung der erzählten Geschichte. Beide Hälften des Romans umfassen jeweils 13 Kapitel. Sie stehen in einem Verhältnis von Präfiguration und Erfüllung, das nach dem Modell christlicher Vertextungsverfahren gestaltet ist. Bekanntlich hat allererst die patristische Exegese Altes und Neues Testament in diesen hermeneutischen Bezug gesetzt: Ein großangelegtes System von textuellen Vor- und Rückverweisen sollte belegen, dass die Evangelisten die Erfüllung einer Geschichte erzählen, die sich bereits in den Büchern des alten Testamentes ankündigt. Das Sohnesopfer Abrahams an Isaak, das den Kreuzestod präfiguriert, ist nur eines der bekanntesten Beispiele. Ziel war es, gemäß der christlichen Entelechie zu beweisen, dass das Ende der christlichen Geschichte schon im Anfang enthalten ist und die Reihe der Patriarchen mit Jesus Christus endet. Hinsichtlich der philologischen Bedeutung dieses Verfahrens verweise ich auf den wegweisenden, immer noch aktuellen Aufsatz von Erich Auerbach, der das antizipatorische Verhältnis von figura und implementum , von Ankündigung und Erfüllung eindrücklich beschrieben hat. 22 Im gegebenen Zusammenhang ist wichtig, dass es auch der Konstellation in El reino de este mundo zugrunde liegt und das Verhältnis der beiden Romanteile organisiert. Der Protagonist Ti Noel trägt seinen Namen, da er an Weihnachten geboren wurde. 23 Ihm werden zwölf Kinder geboren, was natürlich auf den alttestamentlichen Patriarchen Jakob ebenso verweist wie auf die zwölf Jünger Jesu. Im ersten Teil des Romans ist Ti Noel noch Schüler des Schwarzen Magiers Mackandal, der ihn in die Geheimnisse und Praktiken des Voodoo- Kultes einführt. Nach dem spurlosen Verschwinden des Meisters setzt er im zweiten Teil des Romans dessen Werk fort. Schon dadurch ist neben den messianischen Überhöhungen Ti Noels ein Verhältnis von Figura und Implementum, von Ankündigung und Erfüllung gegeben, das an die biblische Allegorese gemahnt. Darüber hinaus wird der Lehrer Mackandal bereits im ersten Teil des Romans zur religiösen Gründer- und Erlöserfigur stilisiert. So ist das Kapitel, das vom Unfall mit einer Zuckermühle handelt, der Mackandal einen Arm kostet, mit La poda überschrieben, was „Beschneidung“ bedeutet. Damit wird auf die christologische Allegorie des Weinstockes Bezug genommen, der gestutzt wird, damit in ausreichender Anzahl junge Triebe nachwachsen können. Insofern verweist das Bild emblematisch auf den Erlöser, der geopfert wird, um durch sein eigenes Verschwinden eine umso größere Nachkommenschaft der Gläubigen zu gründen, was ebenso auf den schwarzen Magier Mackandal zutrifft. In dieser Perspektive wird eine typologische Makrostruktur erkennbar, die ein grundlegendes Organisationsprinzip des Romans bildet, da sie Mackandal und Ti Noel in ein Verhältnis von Patriarch und Erlöser setzt. Beide Teile des Textes werden somit über ein System proleptischer und analeptischer Bezüge zusammengehalten. Dieser typologische Subtext differenziert sich auf dem Niveau der narrativen Binnenstrukturen in eine Vielzahl weiterer theologischer Referenzen aus. Wie insbesondere Roberto González Echevarrías wegweisende Studie im Detail gezeigt hat, bildet die erzählte Geschichte insgesamt einen Zyklus, der teils nach liturgischen Modellen, teils nach historischen Ereignissen strukturiert ist. Dies geschieht etwa durch Wiederholungen von Feiertagen und christlichen 22 Auerbach, Erich. „Figura“. Archivum Romanicum 22 (1938): 436-489. 23 Schon Roberto González Echevarría sieht Ti Noel diesbezüglich als „figura Christia“. Vgl. Echevarría, Roberto González. Alejo Carpentier: El peregrino en su patria . Mexico 1993, S. 198. Vgl. hierzu auch weiterführend Wehr, Christian. „Mnemotécnica medieval y novela hispanoamericana. arpentier, Alejo: El reino de este mundo “. Revista brasileira do Caribe XIII.26 (2013): 397-415. Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) 185 Ritualen, aber auch durch numerische Hervorhebungen und einschlägige Datierungen zentraler Ereignisse wie das Verschwinden Mackandals, sein magisches Wiedererscheinen während eines Voodoo-Rituals oder die Rebellion gegen den Sklavenkönig Henri Christophe. 24 Diese liturgische Tiefenstruktur verleiht der Geschichte eine zirkuläre Anlage, die gemäß der christlichen Entelechie von Anfang an auf das verheißene Ende einer zukünftigen Erfüllung gespannt ist. Inhaltlich wird diese Struktur über eine ganze Reihe biblischer Referenzen zusätzlich gestützt. Dazu gehört die Gestaltung des Romanendes nach dem Vorbild der Offenbarung des Johannes, die Metaphorisierung der befreiten Insel zum verlorenen Paradies, die Titulierung eines Kapitels mit „De profundis“ (nach dem alttestamentlichen Bußpsalm), das archaische Stieropfer beim Bau der Festung durch den Sklavenkönig, das an den heidnischen Tanz um das goldene Kalb erinnert, oder die Überschreitung des letzten Kapitels mit „Agnus Dei“, die nochmals die messianischen Konnotationen der Hauptfiguren aufgreift. Damit sind nur die wichtigsten typologischen Strukturen benannt. Ich möchte ihre Beschreibung hier abschließen, um die eigentliche Frage nach der Funktion zu stellen, die eine solch systematische und präzise Überschreibung des haitischen Unabhängigkeitskampfes durch eine Typologie biblischen Ursprungs erfüllt. Eine mögliche Antwort legt nahe, als Verständnishorizont ein obsessiv wiederkehrendes Thema der lateinamerikanischen Essayistik und Literatur aufzugreifen. Die Rede ist von der rekurrenten Mythisierung der conquista , also der Eroberung, zum Sündenfall des gesamten Subkontinentes. Ich greife damit eine Formel des argentinischen Essayisten Hector Murena auf, der vom „segundo pecado original“, also vom Trauma eines zweiten Sündenfalls, spricht. 25 Die ersten Anfänge der conquista standen ja noch im Zeichen christlicher Geschichtserfüllung. Diese allegorische Lesart der Entdeckung manifestiert sich schon im Bordbuch von Christoph Kolumbus, der glaubte, das irdische Paradies entdeckt zu haben, und etwa im Orinoco einen der vier Flüsse des Garten Eden erkannte. Die Tatsache, dass statt der Erfüllung eines christlichen Telos die Eroberung schnell in eine Serie von Gewaltexzessen mündete, der die meisten indigenen Kulturen zum Opfer fielen, verleiht der Eroberung eine Ambivalenz, die noch in der Essayistik und Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts zu finden ist. Demnach fällt die Begründung der neuzeitlichen Geschichte Amerikas untrennbar mit einem Akt flächendeckender Zerstörung zusammen. Die Formel des „zweiten Sündenfalls“ erklärt sich unmittelbar aus diesem kollektiven Trauma einer nicht nur enttäuschten, sondern in ihr gewaltsames Gegenteil kippenden Heilserwartung. In seinem Essay über Das Labyrinth der Einsamkeit ( El laberinto de la soledad , 1950) hat der große mexikanische Autor Octavio Paz aus diesem negativen Gründungsakt die zyklische und unvermeidlich wiederkehrende Gewalt erklärt, welche die lateinamerikanische Geschichte nach Kolumbus prägt: Das anfängliche Trauma der Eroberung, so die freudianische Deutung von Paz, generiert einen kollektiven Impuls der Wiederholung der initialen Gewalt, der bis heute nicht abreißt. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die heilstheologischen Überformungen der haitischen Revolution bei Carpentier genauer deuten: Sie weisen das entscheidende Spezifikum auf, dass die Erlösung, also das Telos christlicher Geschichte, ausbleibt. Die abschlie- 24 Echevarría, El peregrino , S. 192-204. 25 Murena, Hector A. El pecado original de América . Buenos Aires 1965, S. 156. Vgl. hierzu auch Wehr, Christian. „Mythisches Erzählen und historische Erfahrung. Strategien der Geschichtsbewältigung in Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad “. Romanistisches Jahrbuch 54 (2003): 380-404. 186 Christian Wehr ßende Apokalypse mündet nicht in die Wiederkehr des Gottesreiches, die Transzendenz wird verweigert. Schon der programmatische Titel des Romans, der Jesus’ Wort aus dem Johannesevangelium („Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, 18: 36) aufgreift und umkehrt, besagt, das Reich sei von dieser Welt - und eben kein jenseitiges. Die Inversion rückt das Bibelzitat in ein spezifisch lateinamerikanisches Geschichtsverständnis ein. Denn auch El reino de este mundo inszeniert ein Geschichtsbild, das biblisch inspiriert ist, aber gerade in der Negation einer metaphysischen Erfüllung besteht, und stattdessen die zyklische Wiederkehr der Gewalt aufzeigt. Carpentier fügt den historischen Stoff, also die haitische Befreiungsrevolution, mehrfach in ein solch zirkuläres Geschichtsbild ein: durch den Titel, die typologische Struktur der Handlung sowie die entsprechenden Stilisierungen der Protagonisten zu negativen Erlöserfiguren. Zwar suggeriert der messianische Subtext einen Akt der Befreiung von der Kolonialherrschaft und die Gründung einer freien afroamerikanischen Nation. Es zeigt sich jedoch letzten Endes, dass die Herrschaft des Sklavenkönigs das französische Regime nur unter neuen, noch grausameren Vorzeichen fortsetzt: Henri Christophe inszeniert seinen Hof als groteske Imitation des Absolutismus französischer Prägung, die von der Architektur bis zur Mode reicht. So wird Ti Noel nach dem Tode seines französischen Herrn ein zweites Mal versklavt, diesmal von den früheren Leidensgenossen der eigenen Hautfarbe. Dies bedeutet für die implizite Geschichtskonzeption des Romans, dass die teleologische Transzendenz in eine innerweltliche Zirkularität überführt wird wie in vielen anderen lateinamerikanischen Schlüsseltexten. 26 An die Stelle einer Erlösung von der Gewaltherrschaft tritt die Revolution in Permanenz. Inwiefern sich diese paradoxe Geschichtskonzeption eines verweigerten Messianismus, die bereits in Texten des 17. Jahrhunderts formuliert wird, aus postkolonialer Perspektive deuten lässt, soll im Folgenden anhand der Lektüre zweier zentraler Stellen aufgezeigt werden. 8. Transkulturation und Postkolonialismus in El reino de este mundo Ich wähle zuerst den Handlungsabschnitt, in dem Ti Noel von den Schergen Henri Christophes versklavt wird. Zurück von Santiago de Cuba begibt er sich nach dem Tod seines französischen Herrn zu jenen Plantagen, auf denen er früher für die Kolonialherren arbeiten musste: Viel Volk arbeitete auf diesen Feldern unter der Aufsicht peitschenbewehrter Soldaten, die von Zeit zu Zeit einen Kieselstein nach einem Faulenzer warfen. Gefangene, dachte Ti Noel, als er sah, dass die Aufseher Schwarze waren; aber auch die Arbeiter waren Schwarze. Das stand im Widerspruch zu gewissen Kenntnissen, die er in Santiago de Cuba erworben hatte, in den Nächten, in denen er einem Fest beim Rat der französischen Neger hatte beiwohnen dürfen. Jetzt war der Alte stehengeblieben, betroffen von dem unerwartetsten, überwältigendsten Schauspiel, das er je während seines langen Daseins erblickt hatte. Vor einem Hintergrund von Bergen, in die sich die violetten Rinnen tiefer Schluchten einkerbten, erhob sich auf dem hohen Sockel einer steinernen Freitreppe, gleichsam in der Luft schwebend, ein Schloß mit Bogenfenstern, ein rosafarbener Palast. Zur einen Seite die langen Ziegeldächer waren wohl die Nebengebäude, die Kasernen und Pferdeställe. Auf der anderen Seite ein runder Bau, von einer auf weißen Säulen ruhenden Kuppel gekrönt, aus dem mehrere Geistliche in Chorhemden heraustraten. Beim Näher- 26 Vgl. Wehr, „Mythisches Erzählen“. Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) 187 kommen entdeckte Ti Noel Terrassen, Statuen, Arkaden, Laubengänge, künstliche Bäche und Labyrinthe aus Buchsbaum. Am Fuße massiver Pfeiler, die eine große Sonne aus schwarzem Holz trugen, hielten zwei bronzene Löwen Wache. […] Was aber Ti Noel am meisten erstaunte, war die Entdeckung, dass diese Wunderwelt, wie sie noch nicht einmal die französischen Gouverneure des Cap gekannt hatten, eine Welt von Schwarzen war. Denn schwarz waren diese schönen Damen mit dem strammen Gesäß, die jetzt um einen mit Tritonen geschmückten Brunnen Ringelreihen tanzten; schwarz jene zwei Minister in weißen Strümpfen, welche, die kalbslederne Mappe unterm Arm, die Freitreppe herabschritten; schwarz jener Koch mit dem Hermelinschweif an der Mütze, der ein Wild von den Schultern mehrerer von dem Oberjäger angeführter Bauern in Empfang nahm; schwarz jene Husaren, die in der Reitbahn trabten; schwarz der Obermundschenk mit der Silberkette um den Hals, der mit dem Großmeister der Falknerei der Probe schwarzer Schauspieler auf einer Parkbühne zusah; schwarz jene Lakaien mit weißer Perücke, deren vergoldete Knöpfe ein Majordomus in grüner Jacke zählte; schwarz endlich - und wie schwarz! - war die Maria Immaculata, die sich über dem Hauptaltar in der Kapelle erhob und den schwarzen Musikern, die ein ›Salve‹ übten, sanft zulächelte. Ti Noel begriff, dass er sich in Sans-Souci, der Lieblingsresidenz des Königs Henri Christophe, befand, jenes Mannes, der einst Koch in der Straße der Spanier, Besitzer des Gasthofs zur Krone gewesen war und der heute Münzen mit seinen Initialen über der stolzen Devise prägen ließ: Gott, meine Sache und mein Schwert. Der Alte bekam einen fürchterlichen Stockschlag in den Rücken. Ehe er protestieren konnte, führte ihn ein Wächter, mit Fußtritten in den Hintern, in eine der Kasernen ab. 27 Carpentiers Beschreibung des Hofstaates von Henri Christophe kann als weitgehend authentisch gelten. Sie stellt mit deskriptiver Abundanz in den Mittelpunkt, was die postcolonial studies , insbesondere Homi Bhaba, mit einem Begriff aus der Biologie als Mimikry bezeichneten. 28 Der kulturwissenschaftlichen Verwendung dieser Kategorie liegt die his- 27 Carpentier, Das Reich , S. 69-70. “Pero ahora el viejo se había detenido, maravillado por el espectáculo más inesperado, más imponente que hubiera visto en su larga existencia. Sobre un fondo de montañas estriadas de violado por gargantas profundas se alzaba un palacio rosado, un alcázar de ventanas arqueadas, hecho casi aéreo por el alto zócalo de una escalinata de piedra. A un lado había largos cobertizos tejados, que debían de ser las dependencias, los cuarteles y las caballerizas. Al otro lado, un edificio redondo, coronado por una cúpula asentada en blancas columnas, del que salían varios sacerdotes de sobrepelliz. A medida que se iba acercando, Tí Noel descubría terrazas, estatuas, arcadas, jardines, pérgolas, arroyos artificiales y laberintos de boj. Al pie de pilastras macizas, que sostenían un gran sol de madera negra, montaban la guardia dos leones de bronce. […] Pero lo que más asombraba a Ti Noel era el descubrimiento de que ese mundo prodigioso, como no lo habían conocido los gobernadores franceses del Cabo, era un mundo de negros. Porque negras eran aquellas honrosas señoras, de firme nalgatorio, que ahora bailaban la rueda en torno a una fuente de tritones; negros aquellos dos ministros de medias blancas, que descendían, con la cartera de becerro debajo del brazo, la escalinata de honor; negro aquel cocinero, con co1a de armiño en el bonete, que recibía un venado de hombros de varios aldeanos conducidos por el Montero Mayor; negros aquellos húsares que trotaban en el picadero; negro aquel Gran Copero, de cadena de plata al cuello, que contemplaba, en compañía del Gran Maestre de Cetrería, los ensayos de actores negros en un teatro de verdura, negros aquellos lacayos de peluca blanca, cuyos botones dorados eran contados por un mayordomo de verde chaqueta, negra, en fin, y bien negra, era la Inmaculada Concepción que se erguía sobre el altar de la capilla, sonriendo dulcemente a los músicos negros que ensayaban un salve. Ti Noel comprendió que se hallaba e Sans-Souci, la residencia predilecta del rey Henri Christophe, aquel que fuera antaño cocinero en la calle de los Españoles, dueño del albergue de La Corona, y que hoy fundía monedas con sus iniciales, sobre la orgullosa divisa de Dios, mi causa y mí espa da. El viejo recibió un tremendo palo en el lomo. Antes de que le fuese dado protestar, un guardia lo estaba conduciendo, a puntapiés en el trasero, hacia uno de los cuarteles.“ (Carpentier, El reino , S. 96-98). 28 Bhaba, Homi. „The ambivalence of colonial discourse“. The Location of Culture . London 1994. 85-92. 188 Christian Wehr torische Beobachtung zugrunde, dass kolonisierte Ethnien immer wieder zur Nachahmung der hegemonialen, also unterdrückenden Kulturen tendieren. In biologistischer Perspektive ist diese Aneignung artfremder Verhaltensweisen vorderhand als Schutzmechanismus zu verstehen: So, wie bestimmte Organismen in der Lage sind, sich morphologisch ihrem Lebensraum anzupassen und sich dadurch unkenntlich zu machen, errichten kolonisierte Kulturen über die Nachahmung einen überlebenswichtigen Schutz. Wie Homi Bhaba in Rückgriff auf die Theorie des Spiegelstadiums nach Jaques Lacan ausführt, handelt es sich dabei in kolonialen und postkolonialen Zusammenhängen um eine Form der spiegelbildlichen Identifikation. Henri Christophes minutiöse Aneignung der Kultur des französischen Absolutismus und seiner Unterdrückungspraktiken ist dafür ein schlagendes Beispiel. Zugleich tritt jedoch - und auch daran lässt die Perspektive Ti Noels keinen Zweifel - gerade in der grotesk übersteigerten Detailtreue der Imitation die kulturelle Differenz umso schärfer hervor. Homi Bhaba hat hier den paradoxen Kern kultureller Aneignungspraktiken in postkolonialen Situationen erkannt. Denn in der nicht ganz gelingenden Mimikry wird ein untilgbares Residuum kultureller Alterität deutlich, das die Eigenständigkeit markiert und den kolonialen Herrschaftsanspruch letztlich unterläuft. Derartige Aneignungen, die immer auch das andere bewahren, weisen nach Homi Bhaba oftmals eine Nähe zur Posse, zur theatralischen Übersteigerung und Dekuvrierung des Imitierten auf. Vermeintlich identitätsstiftende Oppositionen wie das Innere und das Äußere, das Selbst und das Andere, werden dadurch grundlegend destabilisiert. All dies, vor allem aber die Theatralik und der inszenierte Charakter der Nachahmung werden in der zitierten Passage auf geradezu programmatische Weise deutlich. Carpentier ist einer der ersten lateinamerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts, der diese Ambivalenzen postkolonialer Situationen narrativ mit derartiger Präzision fixierte. Dies zeigt sich noch mehr, wenn man den eng verwandten Begriff der Transkulturation heranzieht, der von Carpentiers kubanischem Landsmann, dem Anthropologen Fernando Ortiz, schon in den frühen 1930er Jahren geprägt wurde. 29 Er bezeichnet Prozesse der Transformation in nachkolonialen Gesellschaften, die sich durch die Konvivenz unterschiedlicher Kulturen und Ethnien auszeichnen. Im Gegensatz zur Akkulturation, die in der nordamerikanischen Anthropologie von einer vollständigen Unterwerfung kolonisierter Völker durch die hegemonialen Kulturen ausgeht, zielt die Transkulturation auf langfristige Kontakte, die mehrstufige und vor allem wechselseitige Phasen durchlaufen, ab. So folgt laut Ortiz einer ersten Dekulturation oder Entwurzelung ein Prozess der Synthetisierung bzw. Neokulturation. Dies bedeutet, dass die kolonisierten Kulturen keineswegs ausgelöscht werden, wie in der früheren ethnologischen Forschung angenommen wurde. Vielmehr gehen sie im Horizont eines potenziell unschließbaren Veränderungsprozesses Synthesen mit den herrschenden Diskursen ein, die wiederum neue, nunmehr hybride Kulturmodelle generieren. In biologistischer Metaphorik wurde dieser Prozess auch mit einem Zeugungsakt verglichen, dessen Nachkommenschaft unverkennbare Züge der Elternparteien trägt, ohne ihnen dabei exakt zu gleichen. Ortiz’ Konzept wurde und wird bis in die heutige Forschung hinein weiterentwickelt. Es kann im gegebenen Zusammenhang die Beobachtung stützen, dass Prozesse der Mimikry und Transkulturation bei Carpentier als wechselseitige gezeigt werden. Der besagten Europäisierung der schwarzen Sklaven steht nämlich eine Assimilation der afroamerikanischen 29 Vgl. Ortiz, „El fenómeno social“. Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) 189 Kulturen durch die französischen Aristokraten entgegen. Auch dies führt Carpentier an einem schlagenden, historisch verbürgten Beispiel vor Augen; Pauline Bonaparte (alias Pauline Borghese, 1780-1825), eine der Schwestern von Napoleon Bonaparte, spielt eine wichtige Rolle im Roman. Auch in der realen Geschichte wurde sie von ihrem Bruder in das heutige Haiti geschickt, um einen Sklavenaufstand niederzuschlagen. Nach dem Tod ihres Mannes blieb sie alleine im revolutionsgeschüttelten Haiti zurück, wo ihre Vorstellung von der neuen Welt zuerst noch von den empfindsamen literarischen Einflüssen des 18. Jahrhunderts geprägt ist. Bald schon lässt sie sich, auch mit ihrer - gleichfalls historisch verbürgten - Promiskuität auf die Kultur der Afroamerikaner ein, in die sie von einem Sklaven namens Solimán initiiert wird. Auch äußerlich von immer dunklerer Hautfarbe taucht sie zunehmend in autochthone Lebensformen ein, während Solimán nach Italien reist, und dort einen gegenläufigen Prozess der Europäisierung durchläuft. Derartige Prozesse der Transkulturation, wie sie von Pauline Bonaparte symptomatisch verkörpert werden, spielen in den späteren Romanen Carpentiers eine immer größere Rolle. Sie konvergieren im Begriff des mestizaje , also der mestizischen Mischung regionaler und europäischer Ethnien. In El reino de este mundo bleibt dieses Thema noch weitgehend implizit, etwa im hintergründigen und komplexen Schlusstableau. Dort steht es für eine Gegenutopie zur Perpetuierung einer Gewalt, die sich im Teufelskreis von Revolution und Gegenrevolution fortsetzt und steigert. 9. Kultureller Synkretismus und die Utopie des mestizaje Im letzten Kapitel, das „Agnus Dei“ überschrieben ist, vertreibt sich der gealterte und desillusionierte Ti Noel die Zeit damit, die Gestalten verschiedener Tiere anzunehmen, wie er es von seinem Lehrer Mackandal lernte. Er begegnet schließlich Gänseherden, die unter dem Sklavenkönig Henri Christophe auf Sans-Souci gezüchtet wurden und nun verwildern. Auch nach seiner Verwandlung in eine Gans wird er von den Tieren abgewiesen und erhält keinen Zutritt zu ihrer Gemeinschaft: Ohne den geringsten Beweis für die Reinheit seines Blutes hatte er versucht, sich in eine Sippe von vier Generationen nachweislich echter Schwimmhäuter hineinzudrängen. Kurzum, er war nichts weiter als ein Metöke. Dunkel verstand Ti Noel, dass diese Ablehnung seitens der Gänse eine Strafe für seine Feigheit war. Mackandal hatte sich jahrelang in Tiere verwandelt, um den Menschen zu dienen, nicht, um aus der Welt der Menschen zu desertieren. In diesem Augenblick wieder Mensch geworden, hatte der Alte einen letzten hellen Gedanken. […] Und er verstand jetzt, dass der Mensch niemals weiß, für wen er leidet und hofft. Er leidet und hofft und arbeitet für Menschen, die er nie kennen wird und die ihrerseits für andere leiden und hoffen und arbeiten werden, ohne glücklich zu sein, denn der Mensch ersehnt immer ein Glück über das ihm gewährte Teil hinaus. Aber die Größe des Menschen liegt gerade darin, das Bestehende bessern zu wollen, sich Aufgaben zu stellen. Im Himmelreich ist keine Größe mehr zu erringen, dort hat alles seine festgesetzte Rangordnung, ein wolkenloses Unbekanntes, eine Existenz ohne Ende, keine Möglichkeit mehr, sich aufzuopfern, nur Ruhe und Seligkeit. Darum gelangt der Mensch - von seinem Leid und seinen Lebensaufgaben niedergedrückt, schön in seinem Elend, fähig zu lieben inmitten aller Plagen - zu seiner Größe, zu seinem höchsten Maß einzig und allein im Reich dieser Welt. Ti Noel kletterte auf seinen Boulle-Tisch und zerkratzte dabei die Intarsien mit seinen hornigen Füßen. In der Gegend der Capstadt wurde der Himmel schwarz wie vom Rauch einer Feuersbrunst. 190 Christian Wehr So war es in der Nacht gewesen, als alle Muschelhörner auf den Bergen und an der Küste gesungen hatten. Der Alte schleuderte den neuen Gebietern seine Kriegserklärung entgegen und gab seinen Untertanen Befehl, zum Angriff auf die unverschämten Unternehmungen der besitzergreifenden Mulatten auszurücken. In diesem Augenblick erhob sich ein mächtiger grüner Wind vom Ozean her, stürzte sich auf die Nordebene und drang mit maßlosem Heulen in das Dondontal. Und während die geschlachteten Stiere auf dem Gipfel der Bischofsmütze brüllten, wirbelten plötzlich der Sessel, der Paravent, die Bände der Enzyklopädie, die Spieldose, die Puppe, der Mondfisch durch die Luft, während die letzten Ruinen der einstigen Plantage zusammenbrachen. Alle Bäume legten sich, die Wipfel nach Süden gerichtet, zu Boden und streckten ihre Wurzeln aus der Erde heraus. Und während der ganzen Nacht zeichnete das Meer, zu Regen geworden, Salzstreifen auf die Flanken der Berge. Und von Stund an wusste keiner mehr etwas von Ti Noel noch von seinem grünen Frack mit den Ärmelkrausen aus lachsfarbener Spitze. Es sei denn vielleicht jener durchnässte Geier, der, als Nutznießer jedes Todes, mit ausgebreiteten Flügeln die Sonne erwartete: ein Kreuz aus Federn, das sich schließlich faltete und seinen Flug in das Dickicht des Bois Caïman tauchte. 30 Dass Ti Noel von den Gänseclans zurückgewiesen wird, hat seinen Grund in der fehlenden „limpieza de die sangre“. Mit der berüchtigten Blutsreinheit wird eine Kategorie aus dem Spanien der Gegenreformation aufgerufen: In den Hochzeiten der Inquisition durchforsteten sogenannte Blutsprüfer Familienstammbäume, um sicherzustellen, ob sich die Altchristen - die cristianos viejos - nicht mit jüdischen oder maurischen Bevölkerungsanteilen vermischt hatten. Nur wer eine lupenreine Genealogie vorweisen konnte, hatte Zugang zu den wichtigen Ämtern und Würden. Im Gegensatz zum tridentinischen Spanien ist die limpieza de sangre in Lateinamerika, wo sie für die kreolischen Eliten eine nicht minder bedeutende Rolle spielte, bislang nur wenig erforscht. Jedenfalls wird die Abweisung Ti Noels aufgrund seines „unreinen Blutes“ allegorisch auf die Gesellschaftsstrukturen des karibischen Raumes in den Zeiten der Unabhängigkeitskämpfe beziehbar. Die beinahe epiphanische Vision seiner afrikanischen Wurzeln, und zugleich das schmerzhafte Bewusstsein, nicht mehr in der Tradition dieses Erbes zu stehen, stempeln ihn zum Außenseiter, der als Mulatte zu den reinblütigen Gesellschaften keinen Zugang mehr hat, weder zur kreolisch-kolonialen noch zur schwarzafrikanischen. Insofern endet der Roman pessimistisch und zukunftslos. Zugleich verliert sich der Held im großartig geschilderten Untergangsszenario eines grünen Sturmes, das nach dem Modell der biblischen Apokalypse gestaltet ist. Es steht für ein Weltenende, das auch die immer noch wütenden Kämpfe der Gegenrevolution sinnlos macht und die Perspektivlosigkeit des kolonialen Konfliktes vor Augen führt. Mit den kreuzförmig gefalteten Flügeln des verwandelten Ti Noel und dem sakralen Titel des Schlusskapitels noch ein letztes Mal emphatisch jener messianische Subtext aufgerufen, der die Hauptfigur zu einem paradoxen Erlöser ohne Transzendenz macht. Zugleich ist die Rede von einem rein diesseitigen Reich bezogen auf eine rein säkulare imitatio Christi , also ein Leiden ohne Versprechen auf Erlösung. So evoziert die transzendenzlose Apokalypse, in der Ti Noel entschwindet, ein Ende des kolonialen Krieges und suggeriert damit die Hoffnung auf eine Zukunft ohne die ethnischen Trennungen der Vergangenheit. Diese Vision bleibt hier noch implizit; nur eine karnevaleske Bootsfahrt nach Santiago de Cuba aus dem ersten Teil des Romans lässt sich diesbezüglich als utopische Enklave lesen. Spätere Romane Carpentiers werden immer ex- 30 Carpentier, Das Reich , S. 112-113. Alejo Carpentier, Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949) 191 pliziter ausbuchstabieren, dass die Zukunft der hispanoamerikanischen Welt in einer synkretistischen mestizischen Kultur liegt. Darin liegt letztlich der tiefere Sinn der säkularen Erlösungstheologie, die auf eine Befreiung vom hegemonialen Denken des Kolonialismus gerichtet ist. Carpentier schreibt sich hier in eine spezifisch lateinamerikanische Utopie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, welche die romantischen Sozialutopien weiterdenkt. Einer seiner Begründer ist Carpentiers Zeitgenosse José Vasconcelos Calderón, ein mexikanischer Politiker, Schriftsteller und Philosoph. Er dachte vermutlich als erster das Ideal eines lateinamerikanischen Nationalismus auf der Grundlage des mestizaje : als Synthese von europäischen, indigenen und afroamerikanischen Kulturen, die zu einer universalen raza cósmica , einer kosmischen Rasse fusionieren. 31 Damit führt das Schlusskapitel die heterogenen Sinnebenen des Textes, so heterogen sie vorderhand erscheinen, letzten Endes über den zeitgenössischen Diskurs des mestizaje zusammen. Dazu gehörten die Poetik des real maravilloso , die Durchdringung europäischer und extraokzidentaler Elemente in der Erzählperspektive, die Weitung der Biographie des Mulatten zur nationalen Chronik, ihre Formulierung in der synkretistischen Poetik des Neobarock, die biblische Überformung der Chronik zu einer Erlösungsfabel ohne Transzendenz, schließlich die postkoloniale Auflösung kultureller Identitäten und ihre Einbettung in eine zumindest implizite Utopie des mestizaje . 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In Deutschland hingegen ist Agnon nur einem kleineren Kreis von Leserinnen und Lesern bekannt, die sich mit jüdischem Leben und jüdischer Literatur in Deutschland und Israel befassen - und dies trotz vielfältiger, bereits in den 1930er Jahren einsetzender und immer wieder neu initiierter Bemühungen um die Verbreitung seiner Schriften in deutschen Übertragungen; dies auch trotz der Relevanz, die Agnons Schriften für den deutschen Erinnerungsdiskurs nach 1945 beanspruchen dürfen. Der Rezeptionslage entsprechend gibt es eine unüberschaubare Fülle hebräischsprachiger Forschungsliteratur zu den Werken Agnons, eine Vielzahl englischsprachiger bzw. ins Englische übertragener Arbeiten 2 und nur eine geringe Anzahl deutschsprachiger oder ins Deutsche übertragener Arbeiten. 3 Dabei muss allerdings prinzipiell offen bleiben, ob dem Werk Agnons mit seiner wissenschaftlichen Erforschung ein Gefallen getan ist. Die titelgebende Figur seines posthum erschienenen Romans Schira (hebr. 1970, dt. 1998), die Krankenschwester Schira, eine durchaus interessierte Leserin, lässt im Gespräch mit ihrem Geliebten, dem Universitätsdozenten Manfred Herbst, ernste Zweifel daran aufkommen: Herbst sagte, Wenn dir ein gutes Buch in die Hände kommt über Dichtung und Dichter, liest du es nicht? Schira sagte, Bücher über Bücher, wozu? Herbst sagte, Manchmal ermöglicht ein gelungener Essay, die Dichtung eines Dichters besser kennenzulernen. Schira sagte, Wenn ich fähig bin, die Gedichte selber zu lesen, wozu brauche ich die Meinung des Essayschreibers darüber? Wozu benötige ich die Meinung anderer bei Dingen, über die ich mir selbst ein Urteil bilden kann. Sagte Herbst, Immerhin wird manches entschleiert, zu dem du nicht allein gekommen wärest. Schira zuckte die Schulter und sagte, Weißt du, Manfred, seit mir eigene Zähne im Mund gewachsen sind, pflege ich meine Speisen mit meinen eigenen Zähnen zu kauen. 4 Das Misstrauen Schiras in die Profession der Literaturwissenschaft berücksichtigend, verstehen sich die folgenden Ausführungen weniger als Erklärungs- und Deutungsangebote 1 S. Y. Agnon ist ein Künstlername. Im Hebräischen werden die beiden Vornamen Schmu’el und Yosef zusammengezogen zu einem Vornamen mit einer eigenen Bedeutung, Shaj (dt. Geschenk). In deutschen Ausgaben wird der Name mit S. J. oder S. Y. Agnon bzw. Samuel ( J.) Agnon angegeben. 2 Vgl. bes. die Arbeiten Gershon Shakeds und Dan Mirons. 3 Vgl. bes. den 2010 erschienenen Sammelband mit dem Titel Agnon and Germany. The Presence of the German World in the Writings of S. Y. Agnon , Hgg. Hans-Jürgen Becker und Hillel Weiss. Jerusalem 2010. 4 Agnon, S. Y. Schira . Dt. von Tuvia Rübner. Frankfurt a. M. 1998, S. 356. 194 Bettina Bannasch als vielmehr als Hinweis auf ein lesenswertes Buch, das Anstoß sein möchte für eigene und eigenständige Lektüren. I. S. Y. Agnon wurde 1888 in der kleinen Stadt Buczacz (Butschatsch) in Galizien in der heutigen Ukraine als Samuel Josef Czaczkes in eine großbürgerliche, religiöse jüdische Familie hineingeboren. Galizien gehörte damals zur alten K.u.K.-Monarchie. Über die Hälfte der Bevölkerung von Buczsacz war zu jener Zeit jüdisch, man sprach polnisch und jiddisch. Agnons Vater war Pelzhändler und chassidischer Rabbiner, seine Mutter war eine gebildete Frau, die ihren Sohn frühzeitig mit der deutschen Literatur und Kultur vertraut machte. 5 1908 verließ Agnon Galizien und wanderte im Zuge der zweiten Alija 6 in das damalige Palästina aus. Neben religiösen Motiven spielte für Agnon die Notwendigkeit, Galizien zu verlassen, um dem Einzug in den Militärdienst zuvor zu kommen, eine Rolle für die Ausreise nach Palästina. 1913 reiste Agnon nach Deutschland. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte zunächst seine Rückkehr. Er lebte erst in Berlin, zum Teil auch in Leipzig. 7 In Berlin machte er Bekanntschaft mit Salman Schocken, dem Eigentümer der Schocken-Bücherei, der ihn ein Leben lang fördern sollte, auch später noch in Israel als Verleger der Tageszeitung Haaretz. Die Jahre zwischen 1921 und 1924 verbrachte Agnon in Bad Homburg, wo er sich dem Kreis um Martin Buber anschloss. Agnon kannte die Verhältnisse im Deutschland der 1910er und 1920er Jahre, die er in einigen seiner Romane schildert, also sehr genau aus eigener Anschauung. Agnons Interesse an den deutschen Juden und an den politischen Entwicklungen in Deutschland ist zweifellos diesem biografischen Umstand geschuldet - nicht zuletzt auch dem Umstand, dass er in dieser Zeit seine Frau kennenlernte, Esther Marx, eine Tochter aus großbürgerlichem Haus. 1920 heirateten die beiden, sie bekamen zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Ein Brand, der die wertvolle Bibliothek Agnons mit 4 000 Büchern zerstörte, wurde zum Anlass für die Familie nach Palästina (zurück) zu gehen. 8 Das Ehepaar Agnon ließ, ebenso wie das Ehepaar Herbst in Agnons Roman Schira , Angehörige in Deutschland und 5 Vgl. Levinson, Pnina Navè. Menschen und Orte. Über Leben und Werk von Samuel Josef Agnon . Bad Homburg 1991, S. 8. Der Protagonist in Schira , der ‚Jecke’ Manfred Herbst, setzt sich überwiegend mit Titeln der deutschen Literatur auseinander (vgl. die von Popien vorgenommene Aufstellung der Referenztexte in Schira . Astrid Popien: The Bookcase of Dr. Manfred Herbst: S. Y. Agnon’s Novel Shira and European Literature. In: Becker, Hans-Jürgen u. Weiss, Hillel (Hg.). Agnon and Germany. The Presence of the German World in the Writings of S. Y. Agnon . Jerusalem 2010, S. 63-113, hier S. 72 f.). 6 Alija bedeutet wörtlich übersetzt ‚Aufstieg‘ und meint die Einwanderung aus dem Herkunftsland in die ‚Heimat‘ Israel aus einer religiösen Motivation heraus, als Rückkehr in die angestammte Heimat der Urväter. Die Bezeichnung zweite Alija zeigt an, dass es mehrere große Einwanderungsbewegungen von Juden in das Gelobte Land gab. Die Alijljot der Neuzeit werden von 1882 an periodisiert und von eins bis fünf durchgezählt, als fünfte Alija bezeichnet man die letzte große Einwanderungswelle in den Jahren zwischen 1932 und 1938. 7 Eine Vielzahl von Beobachtungen, die Agnon in dieser Zeit macht, sind in seinen in Leipzig spielenden Roman Herrn Lublins Laden eingeflossen. Agnon, S. Y. Herrn Lublins Laden Dt. von Inken Kraft. Leipzig 1993 [1974]. 8 Agnon baute in seinem neuen Haus in einem Vorort Jerusalems, in Talpiot - heute ist es ein Stadtteil Jerusalems -, seine Bibliothek wieder auf. Als das Haus von Arabern geplündert wurde, wurde auch diese zweite Bibliothek zerstört. Eine dritte Bibliothek entstand; sie ist zu besichtigen in dem inzwischen zu einer Gedenk- und Veranstaltungsstätte ausgebauten ehemaligen Wohnhaus Agnons. S. Y. Agnon, Schira 195 in Galizien zurück. In den Jahren nach 1933 waren für sie - ebenso wie für die Angehörigen und Bekannten der Herbsts in dem Roman Schira - dringend Ausreisepapiere zu beschaffen. Agnon bemühte sich intensiv darum; in diesem Punkt unterschied er sich deutlich von seinem Protagonisten Manfred Herbst in Schira , der diese Mühen ganz seiner Frau Henriette überlässt und in dieser Angelegenheit, ebenso wie in allen anderen, merkwürdig passiv bleibt. Im Alter von 78 Jahren erhielt Agnon 1966 zusammen mit Nelly Sachs den Literaturnobelpreis. Er starb vier Jahre später 1970. II. In Deutschland wurden die Werke Agnons von Beginn an übersetzt und mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen. Sie erschienen in der Schocken-Bücherei , einer Buchreihe, in der in den Jahren zwischen November 1933 und Dezember 1938 preiswerte Bücher jüdischer Autoren oder Bücher mit jüdischen Themen erschienen; das Erscheinungsbild - schmale Bände in festen bunten Pappeinbänden - orientierte sich an den Ausgaben der Insel-Bücherei. Dabei spielte die Funktion, die der Verleger Salman Schocken den Werken der Schocken-Bücherei zuwies, für das Verständnis der Werke S. Y. Agnons und anderer zeitgenössischer deutsch-jüdischer Autorinnen und Autoren eine wichtige Rolle. In einer programmatischen Erklärung aus dem Jahr 1935 wird die Aufgabe der Schocken-Bücherei so dargelegt: Die Bücherei des Schocken-Verlags will in allmählichem Aufbau aus dem fast unübersehbaren und häufig unzugänglichen jüdischen Schrifttum aller Länder und Zeiten in sorgfältiger Auswahl dasjenige darbieten, was den suchenden Leser unserer Tage unmittelbar anzusprechen vermag. Die alte hebräische Literatur, deren Lebendigkeit sich gerade in kritischen Zeiten bewährt, soll durch einige sinnvolle Auszüge und angemessene Übertragungen, sowie durch zweisprachige Ausgaben dem heutigen Leser erschlossen werden. Aus dem zeitgenössischen jüdischen Schrifttum werden dichterische und erörternde Arbeiten aufgenommen, die in gedrängter Form Gültiges mitzuteilen haben. Verschollene oder nicht gebührend bekannte Werke der jüngeren Vergangenheit werden in Neudrucken herausgegeben. Hinzu kommen in wachsendem Maß Bücher belehrenden Inhalts. 9 Agnon galt als eine der bedeutendsten Kräfte bei den Bemühungen um die Wiederbelebung des Neuhebräischen. Ein Vergleich der Übersetzungen erlaubt es, zumindest andeutungsweise, auch ohne die nähere Kenntnis des Hebräischen, einen Eindruck von dem Resonanzraum zu gewinnen, im dem Agnons Texte entstanden und den sie eröffnen. Salman Schocken sorgte dafür, dass Agnons Texte schon bald nach ihrem Erscheinen von namhaften Autoren wie Nahum Norbert Glatzer, Moritz Spitzer, Max Strauss, Gershom Scholem u. A. ins Deutsche übertragen wurden. Die großen nach 1933 erschienenen Romane Agnons, die heute zumeist in Deutschland mit seinem Namen in Verbindung gebracht werden - allen voran der Roman Gestern, Vorgestern - wurden erst mit deutlichen zeitlichen Verzögerungen ins Deutsche übertragen. Auch sie liegen in hervorragenden Übersetzungen vor, insbesondere gilt dies für die beiden von Karl Steinschneider ins Deutsche übersetzten Romane Gestern, Vorgestern und Nur wie ein Gast zur Nacht , sowie für die preisgekrönte Übersetzung von Schira durch Tuvia Rübner. 9 Aus dem Anhang zu Agnon, S. Y. In der Gemeinschaft der Frommen . Berlin 1935, o. S. 196 Bettina Bannasch Gestern, Vorgestern (hebr. 1945, dt. 1965) erzählt die Geschichte des galizischen Juden Jitzak Kummer, der um 1900 nach Palästina einwandert; am Ende wird er von einem tollwütigen Hund gebissen und stirbt. Unmittelbar vor den ersten Aufzeichnungen zu Schira erschien der Roman Nur wie ein Gast zur Nacht (hebr. 1939, dt. 1964). 10 Er erzählt die Geschichte eines galizischen, nach Palästina eingewanderten Juden, der als berühmt gewordener und wohlhabender Mann für die Dauer eines Jahres in seine ärmliche, von Pogromen heimgesuchte und vom Krieg gezeichnete Heimatstadt zurückkehrt, um dort das brachliegende jüdische Leben wieder zu beleben. Am Ende wird er zusammen mit seiner Frau, die dieses Jahr mit den gemeinsamen Kindern in Deutschland zugebracht hat, nach Palästina zurückkehren; die biografischen Anspielungen und Verfremdungen sind hier vielleicht noch stärker als in den übrigen Erzählungen und Romanen Agnons evident. Für den deutschen (Erinnerungs)Kontext von besonderem Interesse ist der (ebenso wie Schira ) erst posthum erschienene Roman Herrn Lublins Laden (hebr. 1974, dt. 1993), in der deutschen Übersetzung von Inken Kraft. Er ist deshalb so relevant, weil Agnon seine Handlung in Deutschland spielen lässt, und zwar zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Es ist ein Roman, der implizit die Frage nach den Anfängen der Entwicklungen umkreist, die schließlich zur Katastrophe der Shoah geführt haben. Agnon hat sich zu diesem Thema selten, und wenn, dann stets außerordentlich zurückhaltend geäußert; auf eindimensionale Erklärungen hat er in seinen Romanen wie in Interviewäußerungen fast vollständig verzichtet. 11 In Herrn Lublins Laden ist der Bezug auf Deutschland besonders stark gegeben, doch auch viele andere Romane Agnons weisen ihn auf. Das gilt auch für Schira. Zwar spielt dieser Roman nicht in Deutschland, doch vermittelt er ein eindrückliches Bild vom Leben deutscher Juden im Israel der 1930er und 40er Jahre. III. Die Handlung des Romans setzt in Jerusalem Ende der 1930er Jahre mit der Geburt eines kleinen Kindes ein. Henriette Herbst, Gattin des an der Hebräischen Universität unterrichtenden Dozenten für byzantinische Geschichte, Manfred Herbst, bekommt in fortgeschrittenem Alter noch ein Töchterchen. Die Eltern geben ihm den Namen Sara. Sara ist ein Nachkömmling, denn das Ehepaar Herbst hat zwei bereits erwachsene Töchter, Sohara und Tamara. Diese beiden Töchter könnten unterschiedlicher kaum sein: Sohara ist sanft und bisweilen etwas rühr- und redselig; sie lebt in einem Kibbuz und wird sich im Laufe des Romans unter den vielen jeckischen Verehrern, die sich um sie bemühen, schließlich für den langen Abraham entscheiden. Bald schon erwartet sie ein Kind von ihm, es kommt nur wenig später als die kleine Sara zur Welt. Tamara, die andere bereits erwachsene Tochter der Herbsts, ist oft wortkarg und verschlossen. Doch wenn sie das Wort ergreift, erweist sie sich als eine durchaus redegewandte Spötterin, die mit ihren koketten Sprachspielen vor allem den Vater in Verwirrung bringt und in Verlegenheit setzt; ihre Mutter zeigt sich diesen Manövern gegenüber sehr viel gelassener und souveräner. Tamara hat vor kurzem 10 Schira lässt sich in mancher Hinsicht als ein Gegenstück zu diesem Roman lesen. Vgl. Hessing, Jakob. „Die Kreise des Beamten. Verhüllter Untergang: S. J. Agnons unvollendeter Roman ,Schira‘, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 261 (10. 11. 1998), S. 44. 11 Zwar gibt es in Schira einige wenige Bemerkungen diesen Charakters, doch sind sie außerordentlich knapp gehalten; sie tragen eher den Charakter eines ‚Ausbruchs‘ einzelner Figuren als den eines ‚Erklärungsversuchs‘. Der Roman enthält einige längere Passagen, die explizit auf die spezifische Situation in Leipzig und Deutschland eingehen, vgl. bes. S. 184 ff. und S. 194 ff. S. Y. Agnon, Schira 197 erst die Schule abgeschlossen und unterrichtet nun mittellose jüdische Mädchen unentgeltlich im Hebräischen. Im Laufe des Romans schließt sie sich einer Untergrundbewegung gegen die englische Mandatsmacht an. In dem Krankenhaus, in dem Henriette Herbst Sara zur Welt bringt, arbeitet die Krankenschwester Schira, 12 und da sie an diesem Abend Dienst hat, steht sie ihr bei der Geburt bei. Als das Kind auf der Welt ist, bittet Henriette Schira darum, mit ihrem Mann Manfred etwas essen zu gehen; sie sorgt sich um sein Wohlergehen so lange sie im Krankenhaus ist. Dies ist der Beginn der Liebesgeschichte zwischen Manfred Herbst und Schira. Es ist eine erstaunliche Geschichte in vielfacher Hinsicht, erst einmal aber ganz schlicht in der, dass Manfred Herbst zunächst alles andere als entzückt ist, ausgerechnet Schira an diesem Abend im Krankenhaus zu begegnen. Denn er hat sie bereits einige Male zuvor gesehen und bei der ersten Begegnung, wie auch bei den darauf folgenden, nicht eben den besten Eindruck von ihr gewonnen. Es kam eine der Krankenschwestern, hochgewachsen und männlich aussehend, sie trug eine Brille, die von ihren Augen frech abstand und die Sommersprossen auf ihren grauen Wangen aufscheinen ließ wie Nagelköpfe an einer alten Wand. Vor drei, vier Jahren hatte Manfred Herbst sie zum ersten Mal gesehen. Es war, als Jerusalem in tiefer Trauer lag. Der Sohn einer hochgeachteten Familie war von einem Nichtjuden getötet worden, und die ganze Stadt war zusammengekommen, um ihm das letzte Geleit zu geben. Als alle dastanden in Trauer und Kummer, verließ eine Frau in Schwesterntracht erhobenen Hauptes das Krankenhaus, eine glimmende Zigarette im Mund, Frechheit und Unverschämtheit in einer Person. Seitdem wandte Manfred Herbst jedesmal, wenn er ihr begegnete, das Gesicht von ihr ab, um sie nicht zu sehen. 13 Wenige Tage nach der Entbindung kommt Henriette Herbst wieder nach Hause zurück, und das Paar richtet sich mit dem kleinen Kind ein. Der unruhigen Nächte wegen zieht Manfred Herbst sich zum Schlafen in sein Arbeitszimmer zurück. Dort widmet er sich einer umfassenden Studie über Armenbegräbnisse in Byzanz. Doch seine Gedanken wandern immer wieder zu Schira, - und auch seine Füße. Henriette Herbst bekommt von diesen Ausflügen ihres Gatten nicht viel mit, vielleicht interessiert sie sich auch nicht allzu sehr dafür. Gelegentlich kommt es zu merkwürdigen Gesprächen zwischen ihr und ihrem um Ausflüchte verlegenen Mann. Es sind Eigentümlichkeiten, die Henriette Herbst registriert, die sie jedoch nicht weiter verfolgt. Sie ist beschäftigt damit, ihren Alltag zu bewältigen, das kleine Kind nimmt sie in Anspruch, und nicht zuletzt auch das Bemühen, ihrem Mann genügend Freiraum für seine wissenschaftlichen Studien zu schaffen, damit endlich seine überfällige Beförderung vom einfachen Dozenten zum ordentlichen Professor 12 Wie der Autor S. Y. Agnon kommt die weibliche Hauptfigur des Romans Schira aus Galizien. Die Romanfiguren Manfred und Henriette Herbst sind etwa zehn bis fünfzehn Jahre früher als Schira, und damit etwa zur selben Zeit wie der Autor, der 1908 nach Palästina kam, aus Deutschland eingewandert. 13 Agnon, Schira , S. 7 f. Nancy Ezers auf Gershon Shaked und Dan Miron sich berufende Deutung von Schira als einer femme fatale (vgl. Ezer, Nancy. „Flirtation in S. Y. Agnons ,Shira‘“. History and Literature. New Readings of Jewish Texts in Honor of Arnold J. Band . Hgg. William Cutter und David C. Jacobson. Brown University 2002. 125-136, hier S. 128) ist allein schon ausgehend von dieser ersten Schilderung des Erscheinungsbildes von Schira problematisch. Auch im Blick auf die Rolle der sexuelle Verführerin übt Schira zwar auf Manfred Herbst eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, ohne es jedoch darauf anzulegen; sie ist in keiner Passage lasziv oder ‚verrucht‘. Insofern greift auch Ezers in diesem Sinne vorgenommene typologische Gegenüberstellung von Henriette Herbst / Schira als Eva / Lilith zu kurz (ebd.). 198 Bettina Bannasch erfolgen kann. 14 Den Rest ihrer Zeit investiert Henriette Herbst in die zeitraubenden, aufreibenden und oftmals vergeblichen Versuche, noch in letzter Minute Ausreisepapiere für ihre in Deutschland zurückgelassenen Verwandten zu bekommen. 15 Manfred Herbst raucht unterdessen viele Zigaretten in seinem Arbeits- und Schlafzimmer. Er sichtet und ordnet seine Karteikärtchen neu. Er wirft alte Pläne um und meint, endlich einen neuen Anfang, eine neue Struktur für seine Studie gefunden zu haben. Er wirft abermals alles um und entscheidet sich, anstelle einer wissenschaftlichen Arbeit eine Tragödie zu schreiben, die all das enthält, was er nicht in die Form einer wissenschaftlichen Arbeit bringen kann. Doch auch die Tragödie gerät ins Stocken. Am Ende des Romans ist weder die wissenschaftliche Studie noch die Tragödie fertig geworden. Am Ende des Romans ist nicht einmal der Roman fertig geworden. Schira ist ein Fragment. Und doch hat der Roman bei all seiner Unabgeschlossenheit, einen Schluss, genauer: zwei Schluss-Varianten, die ebenso fulminant-knapp wie stimmig sind. In der ersten Variante trifft Manfred Herbst nicht mehr auf Schira. Diese Variante bricht unspektakulär und lapidar mit einem offenen Ende ab. In der zweiten Variante, in der Manfred Herbst zu Schira findet, ist der Wiederbegegnung eine lange Zeit voraus gegangen, in der es ihm gelungen ist, die Geliebte zu meiden - unterstützt durch den Umstand, dass sie umgezogen ist und er sie nicht mehr so mühe- und scheinbar absichtslos auffinden konnte. 16 Unterdessen hat seine Frau ein viertes Kind zur Welt gebracht, nach drei Töchtern ist es der erste Sohn. Manfred Herbst wartet den Tag seiner Beschneidung ab, um dann unmittelbar nach der Feier zu Schira zu gehen. Deren Situation hat sich in der Zwischenzeit dramatisch gewandelt. Sie ist vom Aussatz befallen und lebt in einem von der Welt der Gesunden geschiedenen Bezirk am Rande der Stadt. Als sie Manfred erblickt, weist sie ihn zurück. Sie beschimpft und verspottet ihn, schließlich warnt sie ihn eindringlich: käme er ihr zu nahe, würde er sich den Tod holen. Manfred tritt zu ihr und verbindet sich ihr mit einem Kuss. 17 14 Das hebräische Wort für ordentlich im Sinne eines akademischen Grades ist gamur und es hat zwei Bedeutungen, es meint „vollkommen“ ebenso wie „fertig, erledigt“ - die deutsche Übersetzung findet dafür die schöne Lösung des „fixundfertigen Professors“ (Agnon, Schira , S. 436 u. a.). 15 Das Ehepaar Herbst ist in den 1920er Jahren von Deutschland nach Palästina eingewandert, zu einer Zeit, als es von den Verwandten noch dafür ausgelacht wurde, der Großstadt Berlin die unkultivierte Wüste Palästinas vorzuziehen. Die Zeiten haben sich inzwischen sehr geändert und Henriette Herbst kann längst nicht in allen Fällen helfen, in denen sie sich für ihre Verwandten, Freunde und Bekannten einsetzt. 16 Zum doppelten Schluss in Schira vgl. auch Ezer, „Flirtation in S. Y. Agnons ,Shira‘“, S. 135. 17 Manfred Herbst, der zu Beginn der Handlung Schira nur vom Sehen kannte, hatte ihr damals insgeheim einen Namen gegeben: Nadja. Dieser Name stellt eine Verbindung zu einem der wichtigsten Texte der Moderne her, zu dem surrealistischen Roman Nadja von André Breton. Die wahnsinnige Frau Nadja ist darin die Muse eines Schriftstellers. Am Ende des Romans wird sie in eine Irrenanstalt eingeliefert. Dieser Ort ist auf eine ähnliche Weise von der Gesellschaft der ‚Gesunden‘ geschieden wie der Bezirk der Aussätzigen, in dem Agnons Schira schließlich lebt. Im Unterschied zu Bretons Nadja ist Schira jedoch nicht nur in ihrem Verhalten auffällig ‚anders‘, sondern körperlich krank. Und im Unterschied zum männlichen Protagonisten in Bretons Nadja geht der männliche Protagonist in Agnons Roman Manfred Herbst am Ende mit seiner willentlichen Infizierung durch den Kuss unwiderruflich zu ihr, der Aussätzigen. Für Manfred Herbst sind Nadja und Schira nicht voneinander zu unterscheiden: „Nadja, das ist Schira, das ist Nadja“ heißt es in der Exposition ( Schira , S. 9). Der Erzähler steigert diese Verwirrung noch, wenn er hinzufügt, dass Schira einst ihren Namen im Andenken an die verstorbene Mutter ihres Vaters erhielt. Diese trug den Namen Sara. Im Hebräischen, das nur die Konsonanten notiert, sind die Notierungen von Schira und Sara identisch. Zugleich ist Sara auch der Name, den das Ehepaar Herbst seinem neu geborenen Töchterchen gibt. Dessen Geburt wiederum markiert den Beginn der Liebes- S. Y. Agnon, Schira 199 IV. Dem hebräischen Original entsprechend hebt sich Schira auch in der deutschen Übersetzung von den übrigen Romanen Agnons durch einen besonderen Ton ab. 18 Die brilliante Übersetzung Tuvia Rübners 19 trifft das eigentümliche Changieren zwischen Zaudern und Bezauberung, zwischen Bekenntnis und Ambivalenz, zwischen Zurückhaltung und Anziehung, das nicht nur die Handlungen und Gedankengänge des Protagonisten Manfred Herbst in diesem Roman charakterisiert, sondern auch die der nicht zu fassenden Erzählinstanz. Die Übersetzung folgt ihren mäandernden Abschweifungen und Exkursen, 20 sie zeichnet die ebenso komplexen wie durchsichtigen Selbsttäuschungen des Protagonisten Manfred Herbst nach, seine sprunghaften Assoziationen und logischen Schlüsse, die sich in ihrer unmäßigen Häufung schließlich wechselseitig aufheben. Die Wege und Umwege, die Manfred Herbst geht, gleichermaßen um Schira aufzufinden wie um sie zu meiden, spiegeln sich in den Um- und Abwegen des Erzählens, in den Exkursen und Brüchen, in den Raffungen und Dehnungen. Der Handlungsverlauf in Schira gestaltet sich durchaus „schleppend“. Diese Einschätzung wird an einem für die deutsche Rezeption der Werke Agnons prominenten Ort formuliert, in der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur . 21 Sie weist dem Roman ein eigenes Lemma zu, von dem ausgehend Leben und Werk Agnons in seiner Gesamtheit in den Blick genommen werden. Es mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, einem einzelnen Roman eine solchermaßen zentrale Stellung im Gesamtwerk eines Autors zuzuschreiben, einem Roman zudem, der erstens posthum erschien und Fragment blieb. 22 Berechtigt erscheint es jedoch allein schon angesichts des schlichten Umstands, dass die Arbeit an Schira Agnon jahrzehntelang begleitete. Erste Aufzeichnungen zu dem Roman datieren aus dem Jahr 1939, die letzten Bearbeitungen und Notizen fallen in die Zeit unmittelbar vor Agnons Tod 1970. 23 Schira beispielhaft für das Gesamtwerk Agnons zu lesen erhält seine Berechtigung beziehung von Manfred Herbst und Schira. Die Geschichte von Manfred Herbst, dem untreuen Ehemann, wird damit auch lesbar als eine Geschichte einer ‚natürlichen‘ Generationenabfolge. Am Tag der Beschneidung seines Sohnes, am Tag der Aufnahme seines Sohnes in den Bund Gottes also, verlässt Manfred Herbst seinen Platz in der bürgerlichen Ordnung der Familie, um ihn an seinen ‚rechtmäßigen‘ Nachfolger abzugeben und den ersehnten Ort außerhalb der Gesellschaft einzunehmen. 18 Wesentliche Hinweise verdanke ich in diesem Zusammenhang den zahlreichen Gesprächen mit Itta Shedletzky, die wir im Laufe der vergangenen Jahre über Agnon geführt haben. Sie hat mich auf die Nähe Schiras zu den satirischen und parodistischen Schriften Agnons aufmerksam gemacht und meine Lektüre dieses Romans wie auch vieler anderer Romane und Erzählungen Agnons maßgeblich geprägt und bereichert. 19 Die Übersetzung Tuvia Rübners, eines Lyrikers und Literaturwissenschaftlers aus Bratislava, der 1941 nach Palästina kam, nimmt diesen Ton auf. Rübner versieht den vielschichtigen und anspielungsreichen Text in seiner Übersetzung mit einem erläuternden Apparat, der die Lektüre unterstützt, ohne den Resonanzraum des Textes zu zerstören. 20 Amos Oz bemerkt bereits zur Erzählinstanz in Gestern, Vorgestern : „Die Beweglichkeit des Erzählers, frei von Anführungszeichen, feinen Modulationen und Syntaxunterschieden, erlaubt ihm überraschende Standortwechsel, bei denen er unterschiedliche Positionen beziehen und eine gegebene Wirklichkeit synchron aus verschiedenen Winkeln darstellen kann (…).“ Oz, Amos. Das Schweigen des Himmels. Über Samuel J. Agnon . dt.von Ruth Achlama. Frankfurt a. M. 1998 [1993], S. 87. 21 Necker, Gerold. „Schira“. Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur . Bd. 5. Hg. Dan Diner. Leipzig 2014. 358-366. 22 Es handelt sich bei Schira allerdings um ein recht umfangreiches Fragment; in der deutschen Übersetzung umfasst der Roman etwa siebenhundertfünfzig Seiten. 23 Erste Entwürfe zu Schira entstanden bereits 1939, in den Jahren 1948 / 1949 veröffentlicht Agnon die ersten Kapitel des Romans in Haaretz , der Zeitung Salman Schockens. Es folgen in größerem zeitlichen 200 Bettina Bannasch zweitens im Vergleich mit anderen Erzählungen und Romanen Agnons. Der Vergleich zeigt, dass in Schira viele Themen und Motive des Agnonschen Werks noch einmal gebündelt und in der Darstellung pointiert werden. Schließlich hat die exemplarische Sonderstellung von Schira drittens ihre Berechtigung in der poetologischen Dimension des Romans. Denn Schira lautet nicht nur der Name der Krankenschwester, in die sich der verheiratete Protagonist Manfred Herbst verliebt und mit der er Ehebruch begeht. Sondern das hebräische Wort Schira bedeutet zugleich Dichtung, Poesie. Entsprechend ist das auf Schira gerichtete, sehr konkrete körperliche Begehren Manfred Herbsts auf das Innigste mit seiner Poesie- Verliebtheit verschränkt. Mit dem ‚unrechtmäßigen‘ Begehren nach körperlicher Sinnlichkeit ist in diesem Roman immer auch das - nicht minder ‚unrechtmäßige‘, weil unsoziale - Begehren nach Dichtung und Poesie mitthematisiert. 24 V. Die Herbsts sind nach Palästina eingewanderte Deutsche, sogenannte Jeckes. 25 Mit Manfred Herbst steht in Schira nicht nur ein Jecke im Zentrum des Romans, sondern auch dessen gesamtes jeckisches Umfeld. Im Falle Manfred Herbsts ist dies - keineswegs untypisch - ein akademisches Umfeld, genauer: das der 1918 gegründeten und 1925 eröffneten Hebräischen Universität in Jerusalem. Aus diesem Grund gilt Schira auch als ein Schlüsselroman, der über die Anfangszeit der Hebräischen Universität Auskunft gibt. Charakterzüge von und Anekdoten über Gelehrte wie Gershom Scholem, Martin Buber, Joseph Klausner und andere sind in die Gestaltung der Figuren eingegangen. Doch ist das akademische Milieu, das diese Figuren repräsentieren, so stark typisiert, dass Schira zugleich auch als ein ironischer Schlüsselroman für den Universitätsbetrieb überhaupt gelesen werden kann. Weitaus bedeutsamer aber als diese Ebene des Romans ist seine Thematisierung der Bedrängnisse und Traumatisierungen deutscher Juden im Jerusalem der späten 1930er Jahre. Von einer der Figuren, der aus Berlin gerade noch rechtzeitig ins Exil geflohenen Dichterin Anita Brick, 26 heißt es: Abstand einige weitere Kapitel. 1954, in der Zeit vor seinem Tod, arbeitet Agnon wieder an Schira , bricht das Schlusskapitel noch einmal auf und setzt den Roman fort. Nach dem Bericht seiner Tochter wünschte ihr Vater ausdrücklich eine posthume Veröffentlichung, eine Veröffentlichung mit einem (eigentlich mit zwei) offenen Ende(n). 24 Markiert wird das körperliche Begehren Manfred Herbsts bezeichnenderweise durch ein Zitat. Es greift eine Zeile aus einem Gedicht Chaim Nachman Bialiks, eines der bedeutendsten Dichter des Neuhebräischen, auf: „Fleisch von deinem Fleisch vergisst sich nicht leicht.“ Diese Zeile Bialiks stellt ihrerseits eine Anspielung auf den Text der Genesis dar. Sie durchzieht leitmotivisch den gesamten Roman. 25 Die Bezeichnung Jecke leitet sich aus einem Spottnamen ab, weil es heißt, dass die nach Palästina eingewanderten Deutschen auch unter den klimatischen Bedingungen des neuen Landes an den alten europäischen Bekleidungsgewohnheiten festhielten und weiterhin Jacketts trugen. Die Bezeichnung ist heute noch gebräuchlich, auch die skizzierte etymologische Herleitung. Diese ist zwar umstritten, hält sich gleichwohl hartnäckig und ist insofern - ob etymologisch korrekt oder nicht - ‚zutreffend‘, weil sie Auskunft gibt über das Bild eingewanderter deutscher Juden in Palästina, und auch noch im heutigen Israel. Zur Darstellung der Jeckes in der hebräischen Literatur, darunter auch zu den Herbsts in Schira vgl. Feinberg, Anat. „Abbild oder Zerrbild? - Die Darstellung der Jeckes in der hebräischen Literatur“. Die Jeckes . Hg. Gisela Dachs. Frankfurt a. M. 2005. S. 170-178. 26 Zur allein stehenden Dichterin Anita Brick und ihrer ‚Spiegelungsfigur‘ im palästinensischen Exil, der Gattin des bedeutenden Gelehrten Rika Weltfremdt vgl. Popien, „The Bookcase of Dr. Manfred Herbst“, S. 83. S. Y. Agnon, Schira 201 Aber je besser es ihr geht, desto schlechter fühlt sie sich; sie denkt an Vater und Mutter, die in Berlin unter den Nazis dahinkümmern, und sie vermag nicht das Geringste für sie zu tun. Und manchmal geht ihr durch den Sinn, wer wir sind: wenn wir Menschen sind, wo bleibt dann das menschliche Herz? Man läßt es sich gutgehen und fühlt nicht die Qual unserer Angehörigen in Deutschland und in den anderen unterworfenen Ländern. Schon hatte Anita aufgehört, sich über Hitler und seine Horden zu empören; sie sind Geschmeiß und benehmen sich wie Geschmeiß. Wir aber hier, Einwohner vom Land Israel, wie können wir ruhig dasitzen, essen und trinken und schlafen als sei nichts geschehen. Es kommt vor, daß ich in der Nacht aufwache und schreien will: was sitzen wir da, hört ihr nicht das Wimmern unserer Brüder und Schwestern. Und ich gehe auf die Veranda hinaus und blicke in alle Windrichtungen und frage: woher wird Hilfe kommen? Plötzlich höre ich eine Stimme, Erwacht, rafft euch auf, erhebt euch, und ich sehe ein Licht in den Fenstern, und Juden verlassen ihre Häuser, laufen und eilen. Ich sage zu mir: diese haben die Stimme vernommen, sind erwacht und eilen, das Volk zu retten. Am Ende sehe ich, daß sie ins Bethaus laufen, um ihr Gebet schnell fertig zu haben und an ihre Geschäfte zu gehen, wie gestern und wie vorgestern. 27 Später im Roman wird diese Thematik noch einmal zugespitzt, diesmal bezogen auf Henriette Herbst und ihre unzähligen Ämtergänge, die durch die Pflichten ihres Daseins als Mutter und Ehefrau eingeschränkt werden: Schalkheit ist ein schwierig Ding, doch um das Bittre zu versüßen, treibe ich Spaß und erzähle einen kleinen Witz. Die Nazis wissen, dass Henriette Herbst keine Zeit hat, ihren Verwandten zu schreiben, so liquidierten sie einen Teil von ihnen und sperrten den anderen ein, damit sie Henriette nicht mehr mit ihren Schreiben plagen. 28 VI. Agnon erzählt mit altmodischer Umständlichkeit. Sämtliche Erzählungen und Romane Agnons verzichten darauf, die Handlung straff voranzutreiben. Davon ausgenommen sind die knappen Expositionen. Nicht ohne den Unterton eines gewissen Nationalstolzes bemerkt Amos Oz anlässlich der ersten Seiten von Gestern, Vorgestern : „Schon sind die Spielfiguren auf dem Brett verteilt, die Ausgangslage ist dargestellt, und die Handlung kann ihren Lauf nehmen. Tolstoi hätte dafür wohl hundert Seiten gebraucht.“ 29 Es ist ein ‚Vorsprung‘, der auf den folgenden mehreren hundert Seiten wieder verspielt wird; das betont nachlässige Spiel mit dem Erzähltempo erweist sich als eines der Lieblingsspiele der Erzählinstanz. So heißt es etwa in der Mitte des insgesamt etwa sechshundertfünfzig Seiten starken Romans Gestern, Vorgestern : „Was alles da zur Sprache kam! Was etwa nicht? Wir wollen die Unterhaltung übergehen - sie war so lang, uns liegt an Kürze! “ 30 Auch die ersten Seiten von Schira skizzieren das gesamte Szenario des Romans in aller Knappheit, um sich dann Zeit, sehr viel Zeit zu lassen. So wird etwa in größter Detailverliebtheit beschrieben, wie sich Manfred Herbst und Schwester Schira einander annähern, dann aber wird die Beschreibung der eigentlichen Liebesbegegnung außerordentlich knapp gehalten: 27 Agnon, Schira , S. 558 f. Die Formulierung „wie gestern und wie vorgestern“ ist eine Anspielung auf Agnons Roman Gestern, Vorgestern , der in den 1910er Jahren spielt; durch die historische Perspektivierung verstärkt sie die Klage über den gleichgültigen Lauf der Geschichte. 28 Agnon, Schira , S. 732. 29 Oz, Das Schweigen des Himmels , S. 89. 30 Agnon, S. Y. Gestern, Vorgestern . Dt. von. Karl Steinschneider. Frankfurt a. M. 1969 [1946], S. 316. 202 Bettina Bannasch […] er streichelte ihre Wange. […] Sein ganzes Blut strömte in die Hand, und diese befreite Funken eines starken Feuers, das von der Flamme des Blutes kommt. Schira schloss die Augen und öffnete sie wieder und sah ihn an. Wieder spannte sich eine Art Streifen zwischen ihren Augen, nicht ein Neugierstreifen, sondern wie bei einer Frau, deren Herz sich der Liebe zuwendet. Und die bereit ist, alles für ihre Liebe zu tun. Sie neigte den Kopf nach links, und ihre Augen blickten ihn schräg an und ließen von ihm auch nicht um Haaresbreite ab. Ich unterbreche mittendrin und überspringe die Dinge zwischen Mann und Frau und fahre fort und erzähle, was nachher geschah, also nachdem Herbst Schira verließ. 31 Da die Erzählinstanz so präsent ist und da sie oftmals so selbstironisch in Erscheinung tritt, wird Agnon in deutschsprachigen Arbeiten häufig mit Thomas Mann verglichen. Speist sich Ironie bei Thomas Mann jedoch aus dem Pakt, den der Erzähler mit dem Leser gewissermaßen ‚hinter dem Rücken‘ seiner Figuren eingeht, so verzichtet Agnon auf Bündnisse dieser Art. Er erinnert den Leser vielmehr immer wieder daran, dass er sich nicht allzu vertrauensselig und bequem auf das einlassen sollte, was ihm der Erzähler auftischt. Doch auch wenn die beharrliche Nennung Thomas Manns in diesem Punkt irreführend sein mag, weil sie an einer wichtigen Differenz zwischen Mann und Agnon vorbei geht, so ist sie in anderer Hinsicht doch aussagekräftig. Sie ist es im Hinblick auf die Frage, in welcher Weise der Autor ‚hinter‘ dem Text in das Spiel der Erzählinstanz mit dem Leser einbezogen ist. Auch wenn Agnon, anders als Thomas Mann, erst im hohen Alter der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, so wurde er - wie die Verlagsankündigungen von Schocken zeigen - schon frühzeitig als Hoffnungsträger und prominenter Vertreter der neuhebräischen Literatur wahrgenommen. ‚Hinter‘ den Werken beider Autoren stehen also ausgewiesenermaßen ‚große Männer‘ der Literatur. Viele der Romane Agnons spielen mit der Rolle des berühmten Autors. 32 Dabei erfüllt bei beiden Autoren, bei Agnon wie bei Mann, das ironische Spiel mit dem autobiografischen Material nicht nur die Funktion, die öffentlich anerkannte eigene Größe ironisch zu unterlaufen. Zugleich wird damit der Eindruck von der Größe des Autors ‚hinter‘ dem Text noch einmal befestigt: kann dieses Spiel doch nur der spielen, dem entsprechende Projektionsfiguren der eigenen Person zur Verfügung stehen. In diesem Sinne ist es als ein (selbst)kritischer Kommentar zu verstehen, wenn in Schira der Protagonist Manfred Herbst zu einer Demutsgeste findet und am Ende seines geistreichen Spiels in einem Gespräch auf eine leere Hand blickt. 33 Zum Spiel mit der eigenen Berühmtheit gehört schließlich auch der scheinbar altertümliche Ton, den S. Y. Agnon und Thomas Mann anschlagen - um sich dann jedoch immer wieder als erstaunlich ‚modern‘ zu erweisen. Wenn bei Agnon beispielsweise von Kontrazeptiva und ihrer Benutzung die Rede ist, dann klingt das in seinem Roman über den Laden des Herrn Lublin recht umständlich so: Die Mutter des Mädchens war verheiratet mit dem Besitzer einer Fabrik zur Herstellung von Erzeugnissen aus Gummi, und zwar solcher Produkte, wie sie in Apotheken und Drogerien verkauft werden. Zu Anfang war es ein kleines Geschäft gewesen und die Zahl der Kunden gering. 31 Agnon, Schira , S. 38. 32 Am stärksten spielt mit dieser Rolle der Roman Nur wie ein Gast zur Nacht . In Herrn Lublins Laden wird die Erzählinstanz an einer Stelle sogar direkt mit dem Namen des Autors angeredet: „Agnon, mein Freund, ich sage Ihnen etwas“ (Agnon, Herrn Lublins Laden, S. 190). 33 Agnon, Schira , S. 353. Die Textstelle wird am Ende des vorliegenden Beitrags vollständig zitiert (vgl. Fn 44). S. Y. Agnon, Schira 203 Da die Mehrheit der Bevölkerung begann, Produkte aus Gummi zu benutzen, vergrößerte sich die Zahl der Kunden, und jener Mann tat sich mit einem Partner zusammen. Dieses Detail fügt der Geschichte nichts Wesentliches hinzu. Also weshalb führte ich es hier an? Um dir mitzuteilen, daß der Ehemann der Mutter des Mädchens ein reicher Mann gewesen war. 34 Im Widerspiel von antiquierter und moderner Sprache, von Vergangenheit und Gegenwart behauptet sich zugleich der Anspruch des Agnonschen Werks auf überzeitliche Bedeutung und Kanonizität. VII. In Schira sind es vor allem die beiden erwachsenen Töchter des Ehepaares Herbst, die ganz und gar ‚heutige‘ Figuren mit einer durch und durch ‚heutigen‘ Denk- und Redeweise verkörpern. Beide Töchter leben ein klares politisches Bekenntnis zu dem modernen israelischen Staat, der sich in den Jahren, in denen die Romanhandlung angesiedelt ist, gerade erst konstituiert. 35 Und beide Töchter gestalten ihre Lebensentwürfe, insbesondere ihre Beziehungen zum anderen Geschlecht - zumindest aus der Perspektive ihres Vaters - recht ‚modern‘. Doch während sich Soharas Leben mit Mann und Kind bald schon in geregelteren Bahnen bewegt, ist Tamara weniger leicht zu fassen und ‚an den Mann zu bringen‘. Manfred Herbst möchte sie gern mit einem seiner geschätzten Kollegen, mit Dr. Taglicht verbinden. 36 Als Manfred Herbst einmal versucht, ein anzügliches Geplänkel seiner dem Doktor Taglicht gar nicht einmal abgeneigten Tochter Tamara zu beenden und in eine andere, ‚seriösere‘ Richtung zu lenken, gerät er immer tiefer in die Rolle des antiquierttäppischen, hoffnungslos-weltfremden, stubenhockenden Gelehrten hinein. Tamara sagte, Sonderbar sind die Wissenschaftler, alles, was einer hat oder macht erscheint ihnen als Geschreibe. Es gibt Romane, liebes Papachen, die man nicht schreibt, und ich verrate Dir ganz leise, gerade die sind die interessantesten. Herbst sagte, so willst Du also sagen, dass du dort Romane mit den Lehrern hast. Tamara lachte und sagte, Habt ihr schon solche Menschen gesehen? Sie meinen, die ganze Erdkugel nähmen Lehrer ein. Mein süßes Väterchen, es gibt in der Welt Leute, die keine Lehrer, Dozenten und Professoren sind. Sind Sie auch Lehrer, Doktor Taglicht? Taglicht sagte, Ich bin es gegen meinen Willen. Tamara sah ihn an und fragte, Was heißt Lehrer gegen Willen. Taglicht entgegnete, Wie zum Beispiel Sie. Tamara sagte, Ich, ich bin gerade froh, dass ich Lehrerin bin - aber Frau von einem Lehrer, auf diese Ehre verzichte ich. Taglicht fragte, Und Frau von wem möchten Sie sein? Tamara erwiderte, Haben Sie Geduld, mein Herr, Sie werden es sehen. 37 So wie das changierende Spiel Tamaras sie als besonders begehrenswert erscheinen lässt, entzündet sich das Begehren, das ihren Vater Manfred Herbst in der Begegnung mit jungen Frauen erfasst - allen voran in den Begegnungen mit Schira -, immer dann besonders zuverlässig, wenn ihre geschlechtliche Zuordnung unklar ist: Es entzündet sich etwa an 34 Agnon, Herrn Lublins Laden , S. 165 f. Es dürften Passagen wie diese gemeint sein, die Yoram Kaniuk mit dem etwas enervierten Urteil des ‚Parfümierten‘ belegt hat. 35 Die Romanhandlung spielt Mitte bis Ende der 1930er Jahre, die Staatsgründung Israels erfolgte 1948. 36 Um genau zu sein: es handelt sich bei Dr. Taglicht um den einzig geschätzten seiner Kollegen, auch wenn es sich bei ihm streng genommen insofern nicht um einen Kollegen handelt, als er bezeichnenderweise nicht der Institution der Hebräischen Universität angehört. Selbst die Doktorprüfung konnte man Taglicht, dem Freigeist, nicht regulär abnehmen, sondern nur durch eine List abluchsen. 37 Agnon, Schira , S. 645 f. 204 Bettina Bannasch dem Umstand, dass Schira in ihrer Schwesterntracht besonders männlich und in Männerkleidung besonders weiblich wirkt, es entzündet sich etwa auch an dem Flaum auf der Oberlippe von Lisbeth Neu, der Nichte seines akademischen Gönners an der Hebräischen Universität, die Manfred Herbst den gesamten Roman hindurch immer wieder beschäftigt. Sie rückt seine Tochter Tamara, die ihm so fremd und zugleich so vertraut ist, die ihm so ähnlich ist und ihm zugleich so viel Unbehagen zu bereiten versteht, in die Nähe dieser Frauen. 38 Von diesen Frauen unterschieden sind Frauen, die in ihrer geschlechtlichen Zuordnung ‚eindeutig‘ sind, allen voran die Gattin Henriette. Sie vermag nicht (mehr) das Begehren ihres Mannes zu erwecken. Zwar gelten der gemeinsam mit ihr zugebrachten Lebenszeit liebevolle Erinnerungen, insbesondere der Anfangszeit des Kennenlernens und der Ehe, in der Gegenwart wird Henriette jedoch höchstens Anerkennung zuteil, keinesfalls gelten ihr Begehrlichkeiten. Mit kühlem, bisweilen durchaus denunziatorischem Blick betrachtet Manfred Herbst den alternden Körper seiner Frau. Zwar kommentiert er auch gelegentlich selbstironisch das eigene Altern wenn er darüber reflektiert, ob er wohl für die jungen Frauen, die sein Interesse erregen, umgekehrt auch als ein Objekt ihrer Begierde noch in Frage käme, doch wird der eigene körperliche Verfall nicht in derselben Weise ausbuchstabiert wie der seiner Frau. Die selbstbewussten und in ihrer Geschlechtlichkeit zweideutigen Frauen, die Tochter Tamara und die Geliebte Schira, lachen Manfred Herbst hin und wieder aus und relativieren auf diese Weise seine gelegentlichen Anflüge von ‚männlicher‘ Überlegenheit. VIII. Das Spiel mit den Geschlechterrollen ist eines, das Agnons gesamtes Werk durchzieht und bestimmt; in Schira findet es seine vielleicht nachdrücklichste Ausgestaltung. Es klingt bereits früh in dem von Agnon selbst gewählten Künstlernamen an, den er seit 1924 zu seinem offiziellen Nachnamen wählt. Nach einigen Gedichten in jiddischer und hebräischer Sprache, die unter dem Geburtsnamen Samuel Josef Czaczkes erschienen, veröffentlichte er unter dem Namen S. Y. Agnon 1908 erstmals eine Prosaarbeit. Aus ihr leitete er seinen Künstlernamen ab. Die Erzählung trägt den Titel Agunot , das heißt übersetzt: Gebundene Frauen . Der Singular, aguna, ist ein Terminus der jüdischen Rechtssprechung. Er bezeichnet eine verheiratete Frau, die von ihrem Mann getrennt ist, ohne von ihm einen get , einen Scheidebrief, zu bekommen. Dieser aber wäre erforderlich, um sie von der mit der Eheschließung eingegangenen Bindung wieder zu befreien. Die Vergabe des Scheidebriefes ist ein einseitiger Akt. In Anlehnung an das Schicksal der aguna , der gebundenen Frau, die nach jüdischem Rechtsverständnis - übrigens bis heute - auf die Einwilligung, also schlimmstenfalls auf die Willkür ihres Gatten angewiesen ist, nennt sich Agnon „der Gebundene“. Abgesehen von der geschlechtlichen Umcodierung, mit der diese Namensgebung spielt, indem sie sich auf die erste Erzählung Agnons bezieht, verweist das Bild vom „Gebunde- 38 Einmal meint Manfred Herbst, sie bei einer Demonstration zu sehen. Doch kann er nicht klar erkennen, ob er seine Tochter oder einen jungen Mann vor Augen hat. Dies ist eine bemerkenswerte Unsicherheit, insofern das Changieren zwischen den Geschlechteridentitäten im Roman noch einige Male begegnet; es ist eine bemerkenswerte Unsicherheit auch deshalb, weil sie sich immerhin auf die eigene Tochter bezieht und Manfred Herbst nicht entscheiden kann, ob sie es ist oder ein Fremder. S. Y. Agnon, Schira 205 nen“ möglicherweise auf eine weitere Ebene, die für das Werk Agnons zentral ist: auf die religiöse Dimension seiner Texte. Die ‚Gebundenheit‘, die der Autorenname behauptet, bezöge sich dann auch auf die Gottesbeziehung. Mitgeteilt würde in dem Namen eine frühere, sinnlich erfahrene und damit auch bezeugte Gottesbindung, die in der Gegenwart so nicht mehr besteht. Entscheidend daran wäre, dass die Bestätigung der Auflösung dieser Bindung von Seiten des überlegenen ‚männlichen‘ Partners zu leisten wäre; die (befreiende) Lösung der ehedem institutionalisierten Liebesbeziehung jedoch verweigert wird. Bei Agnon ist die Frage nach der Autorinstanz immer auch die nach der abwesenden göttlichen Instanz. Agnons Werk ist um diese Frage zentriert. Aus diesem Grund wird in deutschsprachigen Arbeiten zu Agnon neben Thomas Mann oft auch Franz Kafka ins Spiel gebracht. In der Tat finden sich gerade unter den frühen Texten Agnons eine Reihe kürzerer Texte, bei denen sich ein Vergleich mit Kafka aufdrängt; für die späteren und längeren Texte gilt dies nicht in demselben Maße. Zugleich aber stehen auch diese frühen Texte für eine so andere Haltung zur Frage der Gottverlassenheit in der Moderne, dass der Vergleich mit Kafka schließlich ebenso unzulänglich erscheint wie der mit Thomas Mann. IX. Die poetische Sprache Agnons ist durchdrungen von biblischem Pathos und durchsetzt mit biblischen Zitaten. Auf der Suche nach transtextuellen Bezügen im Werk Agnons spielt die deutsche Literatur zwar eine wichtige Rolle, 39 doch ist diese in keiner Weise zu vergleichen mit der Fülle an wörtlichen und abgewandelten Zitaten und Anspielungen auf die religiösen Schriften des Judentums. Das gilt auch für Schira . In gewisser Weise mag dies erstaunlich erscheinen, insofern Manfred Herbst als ein an Glaubensfragen nicht sonderlich Interessierter, ja als ein Ungläubiger beschrieben wird; weder das Ehepaar Herbst noch ihre erwachsenen Töchter besuchen im Verlauf des Romans jemals eine Synagoge. Die explizite Charakterisierung Manfred Herbsts als ungläubig erfolgt allerdings durch eine Romanfigur, die nicht zu den bevorzugten Gesprächspartnern Manfred Herbsts gehört. Es ist der getaufte Jude mit dem sprechenden Namen Schächersohn, besessen von dem aufdringlich missionarischen Eifer der Konvertiten, der Manfred Herbst so bezeichnet. Er bezichtigt ihn eines falschen Hochmuts, der sich hinter seinem Unglauben verberge. Ich bitte Sie, Doktor Herbst, worin seid Ihr über mich erhaben. Ich bitte Sie, Doktor Herbst, worin seid Ihr mir überlegen? Vielleicht weil Ihr ohne Religion und Glauben seid? Denkt Ihr etwa, dass man ohne Religion und Glauben auskommen kann? Und wenn wir selbst annehmen, dass der einzelne glaubenlos existieren kann, für die ganze Zeit seines Lebens vermag er es nicht, und ist er selbst die ganze Zeit seines Lebens dazu fähig, eine Gemeinschaft, eine Allgemeinheit, eine Nation sind es keineswegs. Ein Leben ohne Religion führt zu Gesetzeslosigkeit und diese weckt alle bösen Triebe, und Verderbtheit bringt Untergang mit sich. Herbst entgegnete ihm bedächtig, Ist denn ganz Israel ohne Glauben? Überhaupt will ich Ihnen, Herr Schächersohn sagen, dass diese Dinge ganz außer meiner Reichweite liegen, und ich habe keine Absicht, Ihnen nahezutreten wenn ich Ihnen sage, daß dieses Gespräch in meinen Augen überflüssig ist. 40 39 Vgl. Popien, „The Bookcase of Dr. Manfred Herbst“, S. 63-113. 40 Agnon, Schira , S. 364. Mit dem „Israel“, von dem hier die Rede ist, ist nicht der moderne Staat Israel gemeint - die Romanhandlung spielt wie gesagt etwa zehn Jahre vor der Staatsgründung - sondern die Juden in ihrer Gesamtheit. 206 Bettina Bannasch Anders als Schächersohn nimmt Manfred Herbst nicht an, dass Israel „ohne Glauben“ sei; sein Ausweichen auf diesen Teil des Vorwurfs erlaubt es ihm - nicht zuletzt in Bezug auf seine eigene Person - nicht auf die Glaubensfrage Schächersohns reagieren zu müssen. Manfred Herbst bezeichnet das Thema als außerhalb seiner Kompetenzen liegend und zudem als prinzipiell ungeeignet für jede weitere Erörterung. Seine Reaktion lässt sich möglicherweise auch als ein Hinweis darauf lesen, wie Agnon selbst die Behandlung religiöser Fragen in seinen Werken verstanden wissen möchte: Sie spielen unübersehbar eine wesentliche Rolle ohne dass sie jedoch - mit einem ‚Ergebnis‘ gar - eingehender erörtert werden sollen. Auch sind es nicht so sehr religiöse Themen , die in Schira und in anderen Werken Agnons angesprochen werden. Es ist vielmehr die Sprache , die in ihrem ‚altmodischen‘ Duktus ebenso wie in ihren transtextuellen Bezügen religiös geprägt ist. Weitreichende Überlegungen hierzu - und mit ihnen kann der Bogen zurück zu den eingangs zitierten Bemerkungen des Schocken-Verlags geschlagen werden - legt Agnon in Schira bezeichnenderweise nicht Manfred Herbst in den Mund, sondern dessen Studenten. Manfred Herbst trifft in einem der Jerusalemer Kaffeehäuser auf sie. Es entsteht eine etwas peinliche Situation, denn Manfred Herbst befindet sich in der Begleitung seiner Geliebten Schira. Um die Situation zu überspielen, tritt Manfred Herbst an den Tisch der beiden Studenten heran, die sich im angeregten Gespräch befinden. Etwas anbiedernd redet er sie „in einer Sprache, die, wie er annahm, Studentensprache war“ an, um sich zu ihnen zu setzen und sich an ihrem Gespräch zu beteiligen. Dieses hat nichts Geringeres zum Gegenstand als das Wesen der Dichtung und der poetischen Sprache. Manfred Herbst bekennt seinen Studenten: Je intensiver ich mich der Sprache widme, desto mehr sehe ich sie als die vorzüglichste aller Gaben an, die dem Menschen zuteil wurden, seit er auf Erden ist. […] Wir besitzen maßlos Worte, die wir nicht gebrauchen, und da kommt einer, der Dichter heißt, und fügt soundso viele Worte aneinander, und sogleich ist ein jedes von ihnen ein wahrer Genuß und ein richtiger Segen. Meine Herren, ich kam, um Neues zu hören, und am Ende gebe ich veraltete Weisheiten von mir. 41 Die Studenten lassen ihren Professor reden. Erst als er verstummt, ergreifen sie wieder das Wort 42 und gehen an jenen Punkt der Unterhaltung zurück, an dem sie vor seinem Hinzutreten angelangt waren und an dem sie über die Besonderheit der hebräischen Sprache und ihrer besonderen Eignung für die Dichtung sprachen. (…) keine Sprache gleicht dem Hebräischen, und die hebräischsprachige Poesie gleicht keiner anderssprachigen. Finden wir in einer anderssprachigen eine von anderswoher bekannte Fügung von drei, vier Worten, sagten wir: Plagiat. In der hebräischen Poesie hingegen ist jeder, der solche Fügungen gebraucht, lobenswert, und je mehr, desto besser. Da das Hebräische keine Umgangssprache ist und alle seine Schätze in Büchern verborgen liegen, gibt notwendigerweise jeder, der etwas den Büchern entlehnt und in seinem Buch verwendet, dem Entlehnten neues Leben, das wieder etwas aus sich nach seinem Bilde gebiert, und so immer fort und immer weiter. (…) 41 Agnon, Schira , S. 351. 42 Das Gesicht Manfred Herbsts verdüstert sich und die Studenten beziehen dies auf die Unzulänglichkeit ihres Gesprächs. In Wahrheit jedoch ist Manfred Herbst nicht über ihr Schweigen verärgert, sondern plötzlich fällt ihm seine Tochter Sara ein und die eigene Achtlosigkeit, mit der er ihr begegnet, da der Tag ihrer Geburt mit der Bekanntschaft mit Schira zusammenfällt. S. Y. Agnon, Schira 207 Manfred Herbst senkte den Kopf und griff nach dem Tischbesteck, berührte es und zog die Hand wieder zurück. Er schaute auf seine leere Hand und sagte leise, Wessen Besitz gedeckt ist, der darf von überall nehmen. 43 Die Formulierung von dem Entlehnten, „nach dessen Bilde“ wieder etwas Neues geboren wird, erinnert nicht zufällig an die biblische Schöpfungsgeschichte. Die Wiederbelebung des Althebräischen im Neuhebräischen bewahrt und erneuert diese religiöse Qualität; darin unterscheidet sich das Hebräische als Sprache der Dichtung von anderen Sprachen. Die Überlegungen, die Agnon den beiden Studenten in den Mund legt, geben eine verbreitete Auffassung wieder, nach der das Neuhebräische als die gelungene Überführung der Sakralsprache des Althebräischen in die moderne Alltagssprache des Neuhebräischen verstanden wird. 44 Eine einschlägige Überblicksdarstellung aus dem Jahr 1921, die Geschichte der neuhebräischen Literatur von Joseph Klausner, 45 fasst diese Auffassung zusammen. Dabei beschreibt sie das Verhältnis des Althebräischen zum Neuhebräischen nicht als das einer Wieder be lebung, sondern vielmehr als das eines Wieder auf lebens. Denn das Althebräische, so argumentiert Klausner, das zur Zeit des Zweiten Tempels bis 200 n. Chr. noch Umgangssprache war (wenn auch nur unter den Gelehrten) hörte zwar im dritten, spätestens im vierten Jahrhundert n. Chr. auf, Umgangssprache zu sein, lebte jedoch in den heiligen Schriften fort und erhielt sich so durch die Jahrhunderte hindurch. 46 In Klausners Überblicksdarstellung spielt die politische Funktion, die er dem Wiederaufleben des Hebräischen Ende des 19. Jahrhunderts zuweist, eine entscheidende Rolle; Klausner versteht sie als eine „Notwendigkeit für das ganze nationale Judentum“. 47 Die Studenten Manfred Herbsts hingegen berühren in ihrem Gespräch über Sprache und Poesie diesen nationalen Aspekt nicht, und dies, obgleich 43 Ebd. S. 352 f. 44 Die weiter oben zitierte programmatische Erklärung des Schocken-Verlags formuliert eine ganz ähnliche Auffassung. 45 Klausner, Joseph. Geschichte der neuhebräischen Literatur . Deutsche Ausgabe. Hg. Hans Krohn. Berlin 1921. Klausners Geschichte der neuhebräischen Literatu r versteht sich als Einführung und Überblick, sie wendet sich ausdrücklich an deutsche, des Hebräischen nicht mächtige Leser - und damit auch an viele Dozenten der Hebräischen Universität, die zur Zeit ihrer Gründungsphase stark von deutschen Einwanderern geprägt war, etwa ein Drittel der Professuren hatten deutsche Einwanderer inne. Agnon thematisiert in Schira mehrfach den Umstand, dass viele der Dozenten - im Unterschied übrigens zu Manfred Herbst - das Hebräische nicht beherrschen. Klausner war in den 1930er Jahren Professor für Hebräische Literatur an der Universität in Jerusalem - also in eben jener Zeit, in der Agnon die Romanhandlung in Schira ansiedelt - und er war eine der zentralen Figuren des Jerusalemer Universitätsbetriebs. Darf man seinem Großneffen Amos Oz Glauben schenken, so ist ihm in einem der Professoren in Schira ein Denkmal gesetzt, wenn auch ein ganz besonders unvorteilhaftes. In Professor Bachlam meint Amos Oz seinen Großonkel Joseph Klausner identifizieren zu können, der 1919 nach Jerusalem gekommen war und dort einige Jahre lang in unmittelbarer Nachbarschaft zu Samuel Agnon lebte. Oz widmet diesem Großonkel in seinem Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis drei Kapitel (Kap. 9-11). 46 „Zu gleicher Zeit, als das Lateinische im Mittelalter nur die Angelegenheit der Gelehrten, Philosophen und Theologen war, drang die hebräische Sprache dank der Verpflichtung jedes Juden, Bibel zu lernen, auf unmerkliche Art in das jüdische Volk, beeinflusste alle seine Vorstellungen, seine Art, seine Gedanken auszudrücken, mit einem Worte, sie legte ein unverwischbares Siegel auf alle Werke seines Geistes und seiner Rede“ (Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literatur , S. 10). 47 Ebd., S. 12. Dies kann kaum überraschen: Klausner, 1874 in Litauen geboren, wanderte 1919 als nationalliberaler Zionist nach Palästina aus. 208 Bettina Bannasch sich der Roman - vor allem in den Lebensentwürfen der erwachsenen Töchter - durchaus auch politisch artikuliert und positioniert. Der Ehrgeiz der jungen Generation in der neuhebräischen Literatur, so argumentiert Dan Miron in seiner 2010 erschienenen Untersuchung über das Prophetische in der modernen hebräischen Literatur, könne allerdings kaum darauf reduziert werden, dass sie die Sakralsprache des Althebräischen in eine alltagstaugliche, säkulare Sprache umwandelten. Vielmehr machten sich diese Autoren über die Erneuerung und Fortentwicklung der Sprache hinaus einen weiter reichenden Prozeß der Säkularisierung der Gesellschaft zur Aufgabe. Zugleich aber sei gerade dieses Anliegen keineswegs klar umrissen. Vielmehr bezeugten die Werke der neuen Generation eine tiefgreifende Ambivalenz in Bezug auf die Frage, wie weitgehend die Säkularisierung voranzutreiben sei. 48 Es ist eben diese Ambivalenz, die in besonderem Maße die Werke S. Y. Agnons kennzeichnet. 49 Nach der Shoah, so führt Jürgen Habermas im Blick auf das Werk Gershom Scholems aus - und dies kann auch für Agnon geltend gemacht werden -, erhält die Konzeption der hebräischen Sprache und Poesie als einer ‚säkularen Sakralsprache‘ noch einmal ein besonderes und eigenes Gewicht: „Unter den modernen Gesellschaften wird nur diejenige, die Wesentliches ihrer religiösen Überlieferung in die Bezirke der Profanität einbringt, auch die Substanz des Humanen retten können.“ 50 Von dieser Einsicht ist das literarische Werk S. Y. Agnons gekennzeichnet. Das Dilemma, dass der Shoah einerseits keine Funktion zugewiesen werden kann und darf - und sei es jene, als ‚Lehrbeispiel‘ der Geschichte zu fungieren -, dass die Shoah andererseits jedoch zu erinnern ist - „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“, wie Adorno es 1966 formuliert 51 - dieses Dilemma ist nicht zu lösen. Doch sind in der Literatur unterschiedliche Wege gangbar. Agnon findet zu einem Weg, der an die jüdische Tradition vor 1933 anschließen und der nach der Katastrophe der Shoah weiter beschritten werden kann - in Reaktion auf die Shoah, doch nicht nach ihrer Maßgabe. Literaturverzeichnis Primärliteratur Agnon, S. Y.: In der Gemeinschaft der Frommen . Berlin 1935. -: Gestern, Vorgestern (hebr. 1946). Aus dem Hebräischen übersetzt von Karl Steinschneider. Frankfurt a. M. 1969. -: Nur wie ein Gast zur Nacht (hebr. 1951). Aus dem Hebräischen. übersetzt von Karl Steinschneider. Frankfurt a. M. 1964. -: Schira (hebr. 1970). Aus dem Hebräischen übersetzt von Tuvia Rübner. Frankfurt a. M. 1998. -: Herrn Lublins Laden (hebr. 1974). Aus dem Hebräischen übersetzt von Inken Kraft. Leipzig 1993. 48 Vgl. Miron, Dan. The Prophetic Mode in Modern Hebrew Poetry . New Milford 2010, S. 11. 49 Amos Oz illustriert diese Ambivalenz mit einem Zitat aus Agnons Erzählung Tehilla : „An der Klagemauer, so erzählt der Erzähler, stehen Juden, die beten, und solche, die fragen, und von sich selber bezeugt er: ,Manchmal stand ich inmitten der Betenden, manchmal inmitten der Frager‘. Vielleicht ist das der freimütigste Ausspruch unter all den autobiografischen Details, die Agnon in Tehilla verstreut, ein Satz, der wohl nicht nur für die Position des Erzählers in der vorliegenden Geschichte gilt, sondern auch für den Standort anderer Erzähler in anderen Werken Agnons, die Rückschlüsse auf ihren Schöpfer erlauben“ (Oz, Das Schweigen des Himmels , S. 30 f). 50 Habermas, Jürgen. Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen . Stuttgart 1997 [1978], S. 141. 51 Adorno, Theodor W. „Erziehung nach Auschwitz“ Erziehung zur Mündigkeit . Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis 1969 . Frankfurt a. M. 1971, S. 88. S. Y. Agnon, Schira 209 Forschungsliteratur Adorno, Theodor W.: „Erziehung nach Auschwitz“ Erziehung zur Mündigkeit . Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis 1969 . Frankfurt a. M. 1971. Becker, Hans-Jürgen und Weiss, Hillel (Hgg.): Agnon and Germany. The Presence of the German World in the Writings of S. Y. Agnon . Jerusalem 2010. Ezer, Nancy: „Flirtation in S. Y. Agnons ,Shira‘“. History and Literature. New Readings of Jewish Texts in Honor of Arnold J. Band . Hgg. William Cutter und David C. Jacobson. Brown University 200. 125-136. Feinberg, Anat: „Abbild oder Zerrbild? - Die Darstellung der Jeckes in der hebräischen Literatur“. Die Jeckes . Hg. Gisela Dachs. Frankfurt a. M. 2005. 170-178. - (Hg.): Moderne hebräische Literatur: ein Handbuch . München 2005. Habermas, Jürgen: Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen . Stuttgart 1997 [1978 ]. Hessing, Jakob: „Die Kreise des Beamten. Verhüllter Untergang: S. J. Agnons unvollendeter Roman ‚Schira‘“. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 261 (10. 11. 1998): 44. Klausner, Joseph: Geschichte der neuhebräischen Literatur . Deutsche Ausgabe. Hg. Hans Krohn. Berlin 1921. Miron, Dan: From Continuity to Continuity. Toward a New Jewish Literary Thinking . Stanford 2010. Necker, Gerold: „Schira“. Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur . Bd. 5. Hg. Dan Diner. Leipzig 2014.358-366. Levinson, Pnina Navè: Menschen und Orte. Über Leben und Werk von Samuel Josef Agnon . Bad Homburg 1991. Oz, Amos: Das Schweigen des Himmels. Über Samuel J. Agnon. Dt. von Ruth Achlama. Frankfurt a. M. 1998 [1993]. Popien, Astrid: „The Bookcase of Dr. Manfred Herbst: S. Y. Agnon’s Novel Shira and European Literature“. Agnon and Germany. The Presence of the German World in the Writings of S. Y. Agnon Hgg. Hans-Jürgen Becker und Hillel Weiss. Jerusalem 2010. 63-113. Shaked, Gershon: „What Can a Man Do to Renew Himself “. S. Y. Agnon: Critical Essays on His Writings . Tel Aviv 1992. Joy Kogawa, Obasan 211 Joy Kogawa Obasan Geschichte(n) erzählen Katja Sarkowsky Am 22. September 1988 unterschrieben der damalige kanadische Premierminister Brian Mulroney und der Vorsitzende der National Association of Japanese Canadians , Art Miki, das Redress Agreement . In diesem Dokument wurde die Internierung japanischstämmiger Kanadier während des Zweiten Weltkrieges offiziell als ungerecht und als Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten anerkannt. Für diesen symbolischen Akt hatten japanischkanadische Aktivisten jahrelang gekämpft, und er wird als ein Meilenstein in der Geschichte des kanadischen Umgangs mit Minoritätengruppen gesehen, denn 43 Jahre nach Ende des Kriegs benannte er nicht nur eine Unrechtserfahrung öffentlich als solche, sondern erkannte auch die Zugehörigkeit einer lange als ‚fremd’ konstruierten Gruppe - japanische Einwanderer und ihre Nachfahren - zur kanadischen Nation erstmals öffentlich an. Während dieser Zeremonie zitierte der Minister für Multikulturalismus aus einem Roman. Dieser Roman war Joy Kogawas Obasan von 1981. Obasan erzählt aus Sicht der 36-jährigen Naomi Nakane, Grundschullehrerin in dem Dorf Cecil in Alberta, die Geschichte der Trennung, Entwurzelung und Enteignung einer japanisch-kanadischen Familie, die im Kontext der Sicherheitsmaßnahmen nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 zwangsumgesiedelt wird - aus Vancouver erst in das Innere der Provinz British Columbia und dann in die Prärie östlich der Rocky Mountains. Der Roman wurde Anfang der achtziger Jahre zu einem Meilenstein der Literatur über die japanisch-kanadische Erfahrung während und nach dem Zweiten Weltkrieg und ist, bezeichnenderweise, mittlerweile ein wichtiger Bestandteil des englischsprachigen kanadischen Literaturkanons. „No single text concerning the internment has had a greater impact on the Canadian imaginary than Joy Kogawa’s Obasan ,“ 1 wie Scott McFarlane schreibt; der Roman bahnte zudem den Weg für eine Anzahl weiterer Publikationen über diese Zeit. Historische Bearbeitungen der Internierung und der Nachkriegspolitik der „Zerstreuung“ ( dispersal ) der japanisch-kanadischen community und der Deportation vieler, auch kanadischer Bürger ins kriegszerstörte Japan gab es bereits vorher - maßgeblich für die Geschichtsschreibung waren beispielsweise Ken Adachis Studie The Enemy that Never Was (1976) und, zeitgleich mit Kogawas Roman und noch deutlicher in seiner Rassismuskritik als Adachi, Ann Gomer Sunaharas The Politics of Racism: The Uprooting of Japanese Canadians during the Second World War (1981). Diese historischen Studien leisteten einen zen- 1 McFarlane, Scott. „Covering Obasan and the Narrative of Internment.“ Privileging Positions: The Sites of Asian American Studies. Hg. G. Okihiro. Pullman u. a. 1995, S. 402. 212 Katja Sarkowsky tralen Beitrag zur Aufarbeitung und Neubewertung des Geschehenen vor dem Hintergrund dessen jahrzehntelanger Verdrängung aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit. Kogawas fiktionalisierte Version ihrer eigenen Familiengeschichte in Obasan jedoch eröffnete neue Möglichkeiten der kulturellen Auseinandersetzung mit dem Thema zu einer Zeit, als es auch politisch zunehmend um die Frage der Anerkennung des geschehenen Unrechts und mögliche Wiedergutmachungen durch die Regierung ging. Der Stellenwert, der dem Text auch über die Literatur hinaus zukommt, ist daher kaum zu unterschätzen - auch in seiner kulturellen Rolle für das Redress Movement , also die konzertierten Bemühungen japanischstämmiger Kanadier um eine Anerkennung und Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts. Dies ruft noch einmal die eingangs erwähnte Funktion Obasan s in der entsprechenden Zeremonie in Erinnerung. Kogawas Roman gehört somit zu den wenigen literarischen Werken, deren Einfluss auf politische Kontexte direkt beobachtbar ist. Dabei ist Obasan kein offensichtlicher Protestroman mit einer einfach zu identifizierenden politischen Agenda. Er ist strukturell außerordentlich komplex und lotet die Ambivalenzen japanisch-kanadischer Identifikationsmöglichkeiten sowie individueller Subjektkonstitution aus: So wird in der Rahmenhandlung Mitte der 1970er Jahre der Tod des Onkels der Ich-Erzählerin Naomi für diese zum Anlass, Schritt für Schritt die Erinnerungen an ihre Familiengeschichte und die damit verbundenen Verluste zu erzählen. Während diese Erinnerungen erlittenes Unrecht klar benennen, trägt die Integration mehrerer Gegenwarts- und Erinnerungsebenen sowie unterschiedlicher Stimmen und Materialien dazu bei, dass dennoch keine klare Agenda für einen gesellschaftlichen wie individuellen Umgang damit abzuleiten ist. Die im Roman erzählten Erinnerungen der Protagonistin und anderer Charaktere beziehen sich vor allem auf die Internierungs- und Enteignungsgeschichte der Familie, stellvertretend für die der japanisch-kanadischen Minorität, für welche der japanische Angriff auf Pearl Harbor dramatische Veränderungen zur Folge hatte. Im Rahmen des War Measures Act wurde eine Reihe von einschneidenden Maßnahmen ergriffen, so z. B. die Internierung Tausender von Japanese Canadians in Vancouvers Hastings Park unter menschenunwürdigen Bedingungen; die Zwangsumsiedelung aus der sogenannten ‚Verteidigungszone’ (hundert Meilen entlang der Küste Britisch-Kolumbiens); die Trennung von Familien, indem die Männer in Arbeitslager und Frauen und Kinder in Ghost Towns im Provinzinneren geschickt wurden; der Verkauf zurückgelassenen Eigentums durch die staatlichen Treuhänder; die meist erzwungene ‚Rückführung’ - also Deportation - sowohl japanischer Einwanderer als auch kanadischer Bürgerinnen und Bürger japanischer Abstammung nach Japan 1945; die so genannte dispersal policy nach 1945, die darauf abzielte, eine erneute ‚Konzentration’ der japanisch-kanadischen community an der Westküste zu verhindern - einschließlich des Verbots der Rückkehr nach Britisch-Kolumbien bis 1949 und der Umsiedelung vieler in die Präriestaaten, wo sie beispielsweise bei der Zuckerrübenernte eingesetzt wurden. All diese Maßnahmen wurden mit einer für selbstverständlich gegeben genommenen fundamentalen Differenz von Japanese Canadians und deren vermeintlicher Unzuverlässigkeit oder fehlender Loyalität begründet. 2 Sie betrafen 22,000 der 24,000 Japanese Canadians, ca. 75 % davon kanadische Staatsbürger, und stellten gleichzeitig sowohl einen grundsätz- 2 Dies wird ausführlich diskutiert im zweiten Kapitel von Ann Gomer Sunaharas The Politics of Racism. Sunahara, Ann Gomer. The Politics of Racism. The Uprooting of Japanese Canadians During the Second World War. Ottawa 2000 [1981]. S. 23-43. Joy Kogawa, Obasan 213 lichen Wandel als auch eine Fortsetzung der bisherigen Politik dar: einen Wandel insofern, als Internierung und Vertreibungspolitik der kanadischen Regierung zu einer Zerstörung der community -Strukturen an der Westküste führten; eine Fortsetzung, weil diese Maßnahmen und die ihnen zugrunde liegende Logik als eine Radikalisierung des bisherigen Umgangs mit der japanischstämmigen Minderheit verstanden werden müssen, die auf der gleichen ethnischen Paranoia und wirtschaftlichen Konkurrenzsituation aufbauten, die die Diskriminierungspolitik vor allem in British Columbia vor dem Zweiten Weltkrieg kennzeichneten. 3 Vor diesem historischen Hintergrund wurde Obasan vorrangig als ein Roman gelesen, der die Traumata der Internierung literarisch verarbeitet, zumal es sich um einen semiautobiographischen Text handelt; Kogawa war mit ihrer Familie in Slocan, Britisch-Kolumbien, interniert und wurde nach dem Krieg nach Alberta umgesiedelt. Diese Erfahrung der Internierung und Umsiedelung ist inhaltlich zwar zentral für den Roman, aber sie ist vielschichtig verknüpft mit einer Bandbreite an Verlusterfahrungen, die sich in der Erzählung überlagern und metaphorisch miteinander verwoben werden. Daher wird Obasan zudem als ein Roman diskutiert, der, allgemeiner gesprochen, Erinnerungsprozesse thematisiert und inszeniert. Diese sind vorranging individuelle Erinnerungen, die in den Kontext historischer Ereignisse eingebunden sind. Dies betrifft nicht nur die Internierungserfahrung, sondern auch den amerikanischen Atombombenabwurf auf Japan: So verlässt die Mutter der Erzählerin Kanada kurz vor dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, um ihre Familie in Japan zu besuchen; nicht nur kann sie nicht zurückkehren, sie ist auch am 9. August 1945 in Nagasaki und stirbt kurz nach dem Abwurf der Bombe. All dies erfährt die Protagonistin erst im Verlaufe der Romanerzählung als erwachsene Person, die sich an ihre Kindheit erinnert und Schritt für Schritt Lücken mit Hilfe von Briefen und anderen Dokumenten füllt. Der Roman oszilliert zwischen der Aufarbeitung traumatisierender historischer Prozesse und der Auslotung unterschiedlicher Umgangsweisen damit einerseits und der Exploration des psychologischen Zusammenhangs von Verlust, Erinnerungsarbeit und Handlungsfähigkeit andererseits. Im Folgenden möchte ich den beiden - eng miteinander verwobenen - Interpretationssträngen der Geschichtsaufarbeitung und der Entwicklung individueller Handlungsfähigkeit nachgehen und argumentieren, dass sich Obasan - trotz seiner offensichtlichen politischen Wirksamkeit - auch immer wieder der politischen Instrumentalisierung entzieht. Obasan und historische Erinnerung Die Gegenwart der Ich-Erzählerin Naomi umfasst drei Tage im September 1972: der Tag, an dem ihr Onkel, bei dem sie aufgewachsen ist, stirbt und die zwei darauffolgenden Tage, an denen sich die von der Familie Übriggebliebenen zur Trauerfeier einfinden. Ausgehend von diesem Einschnitt erinnert sich Naomi - an ihre Eltern, ihre Kindheit, an ihre Verluste und Ängste. Diese Erinnerungen sind zum größten Teil nicht gewollt, werden nicht aktiv herbeigeführt, sondern eher passiv ertragen. Insbesondere die an den Verlust des Familienheims in Vancouver, das Verschwinden der Mutter und den Tod des Vaters, an den Umzug 3 Miki, Roy. Redress. Inside the Japanese Canadian Struggle for Justice. Vancouver 2005 und Sunahara, Politics . Siehe auch Sarkowsky, Katja. „Ambivalente Einschreibungen: ‚Citizenship‘ und ‚Nation‘ in japanisch-kanadischer Literatur.“ Politik in Nordamerika und Europa. Analysen, Theorien und literarische Rezeption. Hg. J. Grasnik, K. Walter. Wiesbaden 2012, S. 112-119. 214 Katja Sarkowsky in die verlassene Siedlung Slocan im Inneren Britisch-Kolumbiens und dann, nach dem Krieg, in das Präriedorf Granton, aber auch die Erinnerung an den sexuellen Missbrauch durch den Nachbarn in Vancouver vor der Umsiedlung brechen zunehmend über Naomi herein. Naomi ist eine zögerliche und zurückhaltende, aber durchaus selbstironische Erzählerin. Sie beschreibt sich selbst wie folgt: Megumi Naomi Nakane. Born June 18, 1936, Vancouver, British Columbia. Marital status: Old maid. Health: Fine, I suppose. Occupation: School teacher. I’m bored to death with teaching and ready to retire. What else would anyone want to know? Personality: Tense. Is that past or present tense? It’s perpetual tense. I have the social graces of a common housefly. That’s self-denigrating, isn’t it. 4 Diese Passage dokumentiert nicht nur das schwierige Selbstverhältnis der Protagonistin, sondern verweist mit der Verschiebung von ‚tense’ (angespannt, nervös, verkrampft) als Zustandsbeschreibung hin zur grammatischen Zeit auf Vergangenheit, Gegenwart und Verlauf und damit auf die ständige Präsenz des Vergangenen, auch wenn dieses zunächst nicht aktiv erinnert wird. Die Erinnerungen, die den Roman ausmachen, werden ausgelöst durch das Drängen ihrer Tante Emily Kato: Die Aktivistin im Kampf um die Anerkennung und Wiedergutmachung des den Japanisch-Kanadiern geschehenen Unrechts überhäuft Naomi mit Unterlagen und Dokumenten, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, aus denen sich langsam ein Bild des historischen Rahmens der individuellen und Familienerfahrung ergibt, durch die aber auch Lücken der individuellen Erinnerungsfähigkeit geschlossen werden - ein in jeder Hinsicht schmerzhafter Prozess. Hierfür spielt die strukturelle Vielschichtigkeit des Romans eine zentrale Rolle. Obasan wird zwar von der Stimme des homodiegetischen Erzählerin Naomi dominiert; gleichzeitig ist er jedoch von einer „strukturellen Multiperspektivität“ 5 bzw. einer montageartigen Erzählstruktur gekennzeichnet, die nicht nur unterschiedliche Stimmen - wie die der aktivistischen Tante Emily Kato in Form ihres Tagebuchs, oder die der mit Naomis Mutter nach Japan gereisten Großmutter in Form ihrer Briefe - integriert, sondern auch offizielle Dokumente, Zeitungsartikel etc. in den Romantext mit einfließen lässt. Insofern wird Kogawas Obasan vielfach als ein Paradebeispiel für das Genre der historiographic metafiction gelesen. Linda Hutcheon, die den Begriff geprägt hat, definiert dieses als “those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexive and yet paradoxically also lay claim to historical events and personages” 6 - d. h. Texte, die zwar Geschichte (neu) schreiben, die dabei aber gleichzeitig selbstreflexiv die Konstruiertheit von ‚Geschichte’ herausarbeiten und damit, wie Gabriele Helms es mit Blick auf Obasan konstatiert hat, ihren ontologischen und epistemologischen Status erkunden. 7 Dies ist ein schwieriger Balanceakt, denn der Roman stellt die unterschiedlichen Varianten der Geschichte nicht gleichberechtigt nebeneinander und überlässt die Wertung auch nicht der Leserschaft. Obasan erhebt einerseits zwar den Anspruch, eine ‚falsche’ Darstellung von Geschichte zu revidieren, der entsprechend die japanischstämmigen Kanadier eine Gefahr für das Land im Krieg darstellten und 4 Kogawa, Joy. Obasan . New York u. a. 1983. S. 7. Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden in Klammern im Text angegeben. 5 Neumann, Birgit. Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin u. a. 2005, S. 397. 6 Hutcheon, Linda. A Poetics of Postmodernism . London 1988, S. 5. 7 Helms, Challenging Canada , S. 33. Joy Kogawa, Obasan 215 die diskriminierenden Maßnahmen eine zu vertretende Notwendigkeit waren. Andererseits führen die unterschiedlichen Stimmen und Materialien auf einer Metaebene aber auch dazu, dass die Möglichkeit einer ‚objektiven’ und kohärenten Geschichtsschreibung grundsätzlich in Frage steht. Ich möchte im Folgenden zwei Beispiele für die Art der Montage und die unterschiedlichen Materialien und ihre Funktion geben: die Integration der Aufzeichnungen einer historischen Person, an die die Figur der Emily Kato angelehnt ist; und die Integration eines historischen Dokuments. Während beide Strategien das beschriebene Spannungsfeld zwischen historischer Revision und Infragestellung der Möglichkeiten von Geschichte dokumentieren, so haben sie mit Blick darauf doch unterschiedliche Funktionen. Die Aufzeichnungen der Muriel Kitagawa und das Memorandum des Co-operative Committee on Japanese Canadians Zentral für die Integration unterschiedlicher Materialien, an der das Publikum lernend teilhat, sind die Aufzeichnungen von Naomis Tante Emily Kato, die ihr diese - ungefragt - zuschickt. Naomi steht Emily und deren politischem Aktivismus durchaus skeptisch gegenüber: “Aunt Emily, BA , MA , is a word warrior. She’s a crusader, a little old grey-haired Mighty Mouse, a Bachelor of Advanced Activists and General Practitioner of Just Causes” (32) Erst langsam im Laufe von Obasan und dem Folgeroman Itsuka (1992; grundsätzlich überarbeitet und neu publiziert unter dem Titel Emily Kato 2005) entwickelt Naomi eine aktivere Haltung, die stark von Tante Emily beeinflusst wird. Das zugesandte Paket stellt einen ersten Schritt dar: Nur die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wird es der Protagonistin erlauben, persönliche und politische Handlungsfähigkeit zu entwickeln. In diesem Paket findet Naomi die unterschiedlichsten Arten von Materialien und Aufzeichnungen: Zeitungsartikel, Fotos, Emilys Tagebuch, das, im Stil eines Briefes an ihre Schwester - Naomis Mutter - geschrieben, die Ereignisse von Dezember 1941 (der Bombardierung Pearl Harbors) bis Mai 1942 (dem Beginn der ‚Evakuierung’ der Familie aus Vancouver) skizziert. Dieses Tagebuch dokumentiert die zunehmend drangsalierenden Maßnahmen gegen Japanese Canadians ; es bildet das Kapitel 14 des Romans und erfüllt eine geradezu didaktische Funktion - nicht nur für Naomi, sondern auch für das Lesepublikum. Was den Aufzeichnungen Katos jedoch eine zusätzliche Autorität verleiht, ist, dass sie immer wieder, nur leicht modifiziert, eine historische Figur, die japanisch-kanadische Journalistin Muriel Kitagawa, zitieren. Kitagawa war eine der Journalistinnen des The New Canadian, einer englischsprachigen japanisch-kanadischen Zeitung, der einzigen, die während des Krieges nicht aufhören musste zu publizieren; Kogawa hat den Nachlass von Kitagawas Schriften gesichtet, wie aus den Danksagungen deutlich wird, und sie verwendet einige dieser Schriften in nur leicht abgewandelter Form in ihrem Roman. Das mit Sicherheit deutlichste und wirkmächtigste Beispiel hierfür findet sich in einer längeren Passage im siebten Kapitel, in dem Kogawa Emily Kato die Worte Kitagawas beinahe wörtlich in den Mund legt. So heißt es bei Kitagawa in Anlehnung an Sir Walter Scotts Gedicht „My native land“ und dessen zentrale Zeile „This is my own, my native land! “: At first I was rather shy about it, though very proud, because in spite of hardships, of hunger too, there was this feeling of belonging : “This is my own , my native land! ” Then as I grew older and joined the Nisei group taking a leading part in the struggle for political liberty, for economic equality, I waved 216 Katja Sarkowsky those lines around like a banner in the wind: “This is my own, my native land! ” Later still after having been ordered out of my home town, having got permission to live in Toronto, after our former home had been sold over our vigorous protests, after having been re-registered, finger-printed, card-indexed, roped, and restricted, I cry out to you: “ Is this my home, my native land? ” Well, it is. 8 Kogawa lässt Kato diese Zeilen leicht abgeändert schreiben: So many times after that, I repeated the lines: sadly, desperately, and bitterly. But at first, I was proud, knowing that I belonged . “This is my own , my native land! ” Then as I grew older and joined the Nisei group taking a leading part in the struggle for political liberty, for economic equality, I waved those lines around like a banner in the wind: “This is my own, my native land! ” Later still, after our former home had been sold over our vigorous protests, after having been re-registered, finger-printed, card-indexed, roped, and restricted, I cry the question: “ Is this my home, my native land? ” The answer cannot be changed. Yes. It is. For better or worse, I am Canadian. 9 (40) Kogawas Fassung betont noch nachdrücklicher als Kitagawas Original die Bedeutung von Canadianness für die individuelle Identitätsbildung und politische Positionierung. Insbesondere die typographische Anpassung des letzten Satzes macht diesen buchstäblich zum Ausrufezeichen, das die vorangegangenen Fragen in ihren unterschiedlichen Betonungen nicht nur beantwortet, sondern das vor allem deren Versuch, mit den Widersprüchen kanadisch-japanischer Lebensrealitäten während des Krieges umzugehen, in der nationalen Identität aufzuheben sucht. Diese Aneignung von Kitagawas Stimme in Emily Kato ist ein prägnantes Beispiel für die Multiperspektivität des Romans. Darüber hinaus wird auch anhand der zitierten Passage deutlich, dass Kato hier als Stimme des Nisei , also der zweiten, in Kanada geborenen Generation fungiert, und sie steht mit ihrem aktivistischen Engagement sowohl der zögerlichen Haltung Naomis als auch der fatalistischen Einstellung der Einwanderergeneration der Issei entgegen, der auch Naomis ‚andere’ Tante, bei der sie aufwächst, angehört. Emily Kato vertritt damit nicht nur eine bestimmte politische Position, sondern steht für eine ganze Generation. Umstritten ist, ob und wie weit sie als Kogawas eigene Stimme gelesen werden kann, aber unbestritten präsentiert sie die politisch expliziteste und kritischste Position des Romans. Katos / Kitagawas Stimme ist jedoch aus noch zwei weiteren Gründen zentral. Die Multiperspektivität und klare Verortung einzelner Haltungen in dem Versuch der subjektiven Bewältigung verweist zwar auf den konstruierten Charakter von Geschichte - Geschichte als Erzählung aus einer bestimmten und subjektiv verorteten Perspektive - gleichzeitig besteht der Roman jedoch auf einer Version der historischen Wahrheit, die vor allem von Emily Kato repräsentiert wird. Die Dynamik und Agenda des Romans beruhen, wie bereits konstatiert, maßgeblich auf der Spannung dieser beiden Positionen. Zum anderen dient dieser Bezug auf Kitagawa dazu, die gegenwärtigen Debatten im Kontext des Redress Movements in einen historischen Kontext und eine diskursive Kontinuität zu stellen; mit 8 Kitagawa, Muriel. This is My Own: Letters to Wes and Other Writings on Japanese Canadians, 1941 - 1948 . Ed. Roy Miki. Vancouver 1985, S. 287. 9 Für eine weitere Diskussion dieser Passage und ihrer Bedeutung für Fragen von nationaler Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft siehe auch Sarkowsky, Katja. „’Is this my own? ’ - Zugehörigkeit, Citizenship und Literatur.” Theorien der Literatur VI. Grundlagen und Perspektiven. Hg. G. Butzer, H. Zapf. Tübingen 2013. 217-231. Joy Kogawa, Obasan 217 Emily Kato schafft Kogawa eine Figur, in der sie die kritische Dokumentation historischer Ereignisse mit dem Kampf um Wiedergutmachung verbindet. Ein zentrales Argument sowohl Kitagawas als auch des späteren Redress Movement - an dem die historische Figur Kitagawa, die 1974 starb, nicht beteiligt war - war, dass es sich bei den Maßnahmen um Drangsalierungen kanadischer Bürger handelte und damit nicht zuletzt auch um die Verletzung der moralischen Grundlagen der kanadischen Nation. Ein weiteres, wenn auch vor allem strukturell etwas anders gelagertes Beispiel für die Strategie des Zitierens ist die Integration eines Exzerpts aus einem Memorandum, das im April 1946 vom Co-operative Committee on Japanese Canadians an das kanadische Parlament geschickt worden war und gegen die Deportation japanischer Einwanderer und japanischstämmiger Kanadier nach Japan protestierte: It is urgently submitted that the Orders-in-Council [for the deportation of Canadians of Japanese origin] are wrong and indefensible and constitute a great threat to the rights and liberties of Canadian citizens, and that Parliament as guardian of these rights and the representative of the people, should assert its powers and require the Governor-in-Council to withdraw the orders, for the following reasons.” (248) Das Dokument bezieht sich in seinem Protest also nicht auf die Internierung und Zwangsumsiedelung, sondern auf die Deportation nach dem Ende des Krieges. Anders als die Schriften Kitagawas ist es weder modifiziert - wird also nicht zur Stimme einer der Romanfiguren - noch in die Erzählung eingebunden. Seine Positionierung am Ende des Romans suggeriert eine Kontinuität und Ungelöstheit der diskriminierenden Behandlung der japanischstämmigen Kanadier bis in die Gegenwart und betont die auch dokumentarische Agenda des Romans. Insbesondere die Verwendung des letztgenannten Dokuments, aber auch die Integration der modifizierten Texte einer historischen Person können somit als eine Authentifizierungsstrategie gelesen werden. Diese Strategie wurde als eine des „expressiven Realismus“ kritisiert; 10 sie kann aber auch als realistische Annahmen in Frage stellend verstanden werden, da sie auf die soziale Konstitution individueller Erfahrung verweist, denn die Collage von Dokumentation und fiktionalisierter Erinnerung erlaubt keinerlei Illusion darüber, was die Möglichkeit eines kohärenten, ungebrochenen Bildes von Wirklichkeit angeht. 11 Diese unterschiedlichen Elemente in ihrem Spannungsverhältnis von Authentifizierung und Dekonstruktion sind entscheidend für die Art und Weise, wie der Text die hegemoniale Geschichtsschreibung in Kanada herausfordert, in Frage stellt und revidiert: Sie erzählen die Geschichte der japanischstämmigen Kanadier während und nach dem Zweiten Weltkrieg als eine von rassistischer Paranoia und Maßnahmen, die das Bild Kanadas als der ‚besseren nordamerikanischen Nation’ in Frage stellt. Zum Zeitpunkt der Publikation von Obasan war das Selbstbild Kanadas als einer Nation, deren Formation nicht wie die der USA auf einer Frontierlogik und einer Ideologie des Manifest Destiny , sondern auf Verhandlung und Respekt beruhte bereits etabliert, und Obasan verweist auf eine andere Lesart dieser Geschichte, sowie auf Aspekte, die im kollektiven Gedächtnis der Nation lange keinen Platz hatten. In der Tat war die Internierungs- und Umsiedlungspolitik in Kanada noch er- 10 Belsey qt. in Jones, Manina. That Art of Difference. ‘Documentary-Collage’ and English-Canadian Writing. Toronto 1993, S. 121-122. 11 Jones, That Art of Difference , S. 122. 218 Katja Sarkowsky barmungsloser und auch folgenreicher als die in den USA, wo beispielsweise 1945 die ersten Japanese Americans an die Küste zurückkehren durften (in Kanada 1949), wo es keine Zerstreuungspolitik gab, die eine erneute Gemeinschaftsformierung verhindern sollte, und wo auch keine systematische Politik der ‚Repatriierung’ betrieben wurde. Die Geschichte(n) von Verlust und menschenunwürdiger Behandlung, die der Roman erzählt, trug(en) dazu bei, das allzu selbstgefällige Selbstbild der Nation zu relativieren. Hier offenbart sich erneut das historiographische Spannungsfeld, in dem der Roman zu lesen ist: Einerseits wird hier durch die Kombination unterschiedlicher Materialien und Stimmen die Konstruiertheit von Geschichte und die Unmöglichkeit einer kohärenten Version hervorgehoben, andererseits wird klar eine bestimmte Version in einem politischen Kontext favorisiert. Diese unterschiedlichen Elemente und vor allem die Art und Weise, wie sie zu der Ich-Erzählung in Bezug gestellt werden, tragen aber auch maßgeblich zu einer Verknüpfung von Gruppenerfahrung mit individueller Erinnerung und Bewältigung des Erlebten bei. Im Folgenden werde ich mit Blick auf diese Verknüpfung zunächst die Struktur des Romans diskutieren, insbesondere die Gestaltung seines Anfangs und Endes, bevor ich mich dann der Figurenkonstellation und ihrer Funktion für die Agenda des Romans - und dessen Unvereinnahmbarkeit für die Propagierung einer einzigen Form des Umganges mit der Vergangenheit - zuwende. Gruppenerfahrung und individuelle Erinnerung Die Verknüpfung der Erfahrung der Japanese Canadians als ethnischer Gruppe unter Generalverdacht mit individuellen Erinnerungs- und Bewältigungsprozessen der einzelnen Charaktere ist strukturell komplex. So hat der Roman mehrere Anfänge und Enden, die zu einer Schichtung unterschiedlicher Aushandlungsebenen individueller und kollektiver Erfahrung und deren Erzählmöglichkeit beitragen; Naomis Erzählung wird buchstäblich gerahmt von Textpassagen - z. B. dem diskutierten Memorandum am Ende - die die individuelle Erfahrung auf größere Zusammenhänge beziehen. Der Roman beginnt mit einer Passage aus der Offenbarung des Johannes (Revelation 2: 17), der eine Danksagung und eine fast einseitige Passage folgen, die sich mit der Macht des Schweigens auseinandersetzt und deren Erzählstimme unidentifiziert bleibt; es ist das Schweigen über die Vergangenheit, das im Verlaufe des Roman mühsam gebrochen wird. Erst dann beginnt die eigentliche Ich- Erzählung. Diese ist entlang unterschiedlicher Erinnerungsebenen strukturiert, in denen sich das nicht-chronologische Verhältnis von Zeit und individuellem Erleben manifestiert. Kapitel 1 rekapituliert einen Tag im August 1972, einen Besuch der Ich-Erzählerin bei ihrem Onkel, mit dem sie - jedes Jahr - an die gleiche Stelle in der offenen Prärie geht: 9: 05 p.m. August 9, 1972. The coulee is so still right now that if a match were to be lit, the flame would not waver. The tall grasses stand without quivering. […] We come here once every year around this time, Uncle and I. This spot is half a mile from the Barkers’ farm and seven miles from the village of Granton where we finally moved in 1951. ‘Nothing changes ne,’ I say as we walk towards the rise. ‘Umi no yo,’ Uncle says, pointing to the grass. ‘It’s like the sea.’ (1) Bereits im nächsten Kapitel - datiert auf den 13. September desselben Jahres - wird deutlich, dass Naomi ihren Onkel am 9. August zum letzten Mal sah; die Gegenwart der Erzählstimme sind dann die drei Tage, die auf den Tod des Onkels folgen. Diese Eingangspassage des ersten Kapitels ist in verschiedener Hinsicht zentral für die Art und Weise, wie der Joy Kogawa, Obasan 219 Roman historische Ereignisse und individuelle Erfahrung zueinander in Bezug setzt. Der Tag ist der 9. August, also der Tag des Abwurfs der Plutoniumbombe auf Nagasaki 1945; zu diesem Zeitpunkt weiß Naomi noch nicht, dass ihre verschollene Mutter am 9. August 1945 dort war und kurz nach dem Abwurf starb. Der jährliche Besuch des immer selben Ortes in der Prärie ist also ein Gedenkritual, dessen Naomi sich als solchem aber nicht bewusst ist; erst am Ende des Romans wird sie in der Lage sein, um ihre Mutter zu trauern. Die Stasis der peritextuellen Eingangspassage, in der die unidentifizierte Erzählstimme konstatiert: „There is a silence that cannot speak. There is a silence that will not speak. […] I ask the night sky but the silence is steadfast. There is no reply“ (keine Paginierung) scheint am Ende von Obasan in einen aktiven Trauerprozess transformiert. Dessen Vielschichtigkeit wird durch die Dopplung auch des Endes noch einmal herausgestellt. Das erste Ende des Romans, der Abschluss von Naomis Erzählung, findet sie am gleichen Ort in der Prärie wieder, an dem ihre Erzählung beginnt. In der Nacht nach der Trauerfeier für ihren Onkel fährt sie, nun um das Schicksal ihrer Mutter wissend, dorthin; der Ort wird nun zum bewussten Erinnerungsort an ihre Mutter und ihren Onkel, aber auch zu einem Ort der Erinnerung an all die Verluste der Zeit seit 1942, die von der Protagonistin verdrängt wurden. Diese Verluste sind nicht nur persönliche, denn in ihrer langjährigen Weigerung sich zu erinnern, eine Weigerung, die sie erst im Verlaufe der Erzählung schrittweise aufgibt, steht Naomi für diejenigen Japanese Canadians , die - anders als die Emily Katos - die Internierungsgeschichte zu vergessen versuchen. Die Möglichkeit (und Notwendigkeit) der Erinnerung betrifft somit nicht nur Naomi, sondern auch die ethnische Gruppe, der sie angehört, aber auch - und dies ist zentral für die eingangs referierte breite Rezeption des Romans - die kanadische Nation, die sich des Unrechts erinnern muss. Was Naomis Erzählung betrifft, geht mit der Rückkehr an diesen Ort, jetzt bewusst erinnernd und bereit zu trauern, für die Erzählerin ein Lebensabschnitt zu Ende, der vor allem von Stasis und Handlungsunfähigkeit gekennzeichnet war. Dass diese Abschlusspassage die Rahmung schließt, die das erste Kapitel geöffnet hatte, wird jedoch nicht nur durch den Ort deutlich. Beide Besuche an dieser Stelle finden im Dunkeln statt - eingangs kurz nach Sonnenuntergang, im Schlusskapitel kurz vor Sonnenaufgang. Die Symbolik des neuen Tages verweist dabei sowohl auf die Möglichkeit eines Neubeginns für Naomi (und für Japanese Canadians , sowie für Kanada) als auch auf einen Kreislauf der Zeit. Kritiker haben diesen allzu ‚runden’ Schluss oft als kitschig kritisiert. Aber das Buch endet hier eben noch nicht, sondern es schließt mit dem bereits erwähnten Dokument. Der Effekt dieses Abschlusses ist umstritten. Für einige stellt die Liste der Unterschreibenden - allesamt keine Japanese Canadians - einen weiteren Akt des ‚being spoken for’ dar; 12 in dieser Lesart endet das Buch zwar mit einem individuellen Abschluss für Naomi, die Relegation von japanischstämmigen Kanadiern als nicht-selbst-Sprechende bleibt jedoch erhalten, der Text setzt performativ die von ihm kritisierte Politik fort. Für andere wiederum ist das Dokument das notwendige politische Gegengewicht zu dem runden Ende von Naomis eigener Geschichte; so argumentiert Kit Dobson: If readers succumb to a reading in which the racist problems of the past are ‘solved’ by Naomi’s own arrival at reconciliation, the result is a fall into a linear past of ruptures and resolutions, one that posits a synthetic conclusion as the outcome of the dialectic between opposing forces. The 12 s. Helms, Challenging Canada , S. 43. 220 Katja Sarkowsky final interruption of the text, the inserted document, forecloses such a movement towards closure and reasserts a dynamic of unresolved dialogue about the experience of marginalization. 13 Diese Argumentation kann mit Blick auf die Kritik, das Dokument verstärke nur den Eindruck eines ‚being-spoken-for’ explizit noch einen Schritt weitergeführt werden: das Dokument und die Unterbrechung bzw. der Abbruch eines runden Endes, den es darstellt, verweisen nicht nur auf die Nicht-Abgeschlossenheit der rassistischen historischen Erfahrung, sondern es impliziert, gerade weil die Unterzeichnenden keine Betroffenen sind die Notwendigkeit einer eigenen politischen Stimme - die sich dann in den späten 1970ern und 1980ern im Redress Movement ja auch formierte. Einig ist sich die Kritik in der Funktion des Dokuments, dem Eindruck eines allzu versöhnlichen Endes entgegen zu wirken: Naomi hat einen Weg gefunden, mit ihren Erinnerungen und Verlusten umzugehen, aber Kanada hat es noch nicht. Naomis diesbezüglicher Lernprozess ist der Ausgangspunkt für den Redress -Aktivismus, der historisch in den Jahren nach der Publikation des Romans zu der eingangs erwähnten Anerkennung des geschehenen Unrechts führte. Diese beiden Enden - wie auch die geschichteten Anfänge des Romans - sind Teil einer komplexen Auslotung individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse, die der Roman inszeniert, sowie Teil der Auseinandersetzung mit der Frage, wie damit individuell und kollektiv umgegangen werden kann - oder sollte. Neben diesen strukturellen Elementen findet sich diese Auseinandersetzung auch in der Figurenkonstellation wieder, mit der ich meine Diskussion des Romans abschließen möchte. Eine zentrale Figurenkonstellation stellt die Gegenüberstellung der beiden Tanten dar: dies sind Emily Kato, die Schwester von Naomis verschwundener Mutter und in der Darstellung angelehnt an die Journalistin Muriel Kitagawa; und Aya Nakane, die Schwägerin von Naomis Vater, bei der Naomi nach dem Verlust beider Eltern aufwächst. Der Titel des Romans - obasan ist das japanische Wort für ‚Tante’ (Anredeform) - verweist auf die Bedeutung dieser Charaktere. Die beiden Frauen verkörpern grundsätzlich unterschiedliche Weisen des Umgangs mit dem erfahrenen Unrecht: die Thematisierung und das Schweigen, die in einem komplexen Verhältnis zu Erinnern und Vergessen stehen, nicht aber mit ihnen gleichzusetzen sind. Für Emily Kato, in einer bereits zitierten Passage als word warrior bezeichnet, hängt jede erfolgreiche individuelle und kollektive Verarbeitung der Internierung und Zwangsumsiedelung davon ab, ob und wie darüber gesprochen wird: “It matters to get the facts straight […] Reconciliation can’t begin without mutual recognition of facts,” she said. “Facts? ” “Yes, facts. What’s right is right. What’s wrong is wrong. Health starts somewhere” (183). Kato zwingt ihre Nichte gegen deren Willen zur Auseinandersetzung, die sie als eine notwendige Voraussetzung der Heilung betrachtet, und die Darstellung von Katos Aktivismus legt nahe, dass diese Annahme aus ihrer Sicht nicht nur für Individuen, sondern vor allem auch für die ethnische Gruppe und letztendlich die Nation gilt. Der Roman bedient sich zur Thematisierung dieses Prozesses der Erinnerung als Voraussetzung für ‚Gesundheit’ zentral einer Metaphorik medizinischer Eingriffe, auch für den ‚Körper der Nation’; dies gilt vor allem für Tante Emily, die Metaphorik wird aber ebenso von Naomi selbst übernommen, wenn sie in einem inneren Dialog mit ihrer Tante sagt: 13 Dobson, Kit. Transnational Canadas. Anglo-Canadian Literature and Globalization. Waterloo, Ontario 2009, S. 98. Joy Kogawa, Obasan 221 Aunt Emily, are you a surgeon cutting at my scalp with your folders and your filing cards and your insistence on knowing all? The memory drains down the sides of my face, but it isn’t enough, is it? It’s your hands in my abdomen, pulling the growth from the lining of my walls, but bring back the anaesthetist turn on the ether clamp down the mask bring the chloroform when will this operation be over Aunt Em? Is it so bad? Yes. Do I really mind? Yes, I mind. I mind everything. Even the flies. (194) Die Verschiebung innerhalb der Passage belegt im Grunde die Annahme, dass die ‚Wunde’ erst geöffnet werden muss, um dann heilen zu können: Naomi geht vom Schmerz des Erinnerns zur Erinnerung an den Schmerz und an die menschenunwürdigen Lebensumstände in Slocan über; es sind diese Erinnerungen, die eine schrittweise Annäherung an die eigene Vergangenheit und die Basis für zukünftige Handlungsfähigkeit ermöglichen. Das Gegenmodell zu Tante Emily ist die Tante väterlicherseits, die Frau des Onkels, dessen Tod den Anlass zur Erzählung bildet. Sie ist es, die nach der Abreise der Mutter und nach dem Tod des Vaters die Fürsorge für Naomi und ihren Bruder übernimmt. Von Naomi nur ‚Obasan’ genannt liegt eine Identifizierung mit dem Titel des Buches zwar nahe, aber in seiner Verwandtschaftsbezeichnung und der Uneindeutigkeit von Singular und Plural des zugrunde liegenden Wortes ‚oba’ (Tante oder Tanten) verweist er meiner Auffassung nach vor allem auf die Zentralität der Gegenüberstellung beider Tanten. Diese bilden die beiden Pole des Umgangs mit der Vergangenheit, zwischen denen Naomi ihren eigenen Weg finden muss. Denn im Gegensatz zu Emily schweigt Obasan nicht nur über die Erlebnisse während und nach dem Krieg, sondern über alles, was schmerzvoll sein könnte; das Schweigen ist eine Umgangsweise mit der Erinnerung, die vor allem andere schützen soll. Naomi fasst die Gegenüberstellung selbst zusammen wenn sie sagt: “How different my two aunts are. One lives in sound, the other in stone” (32). Und sie erinnert sich: “Didn’t Obasan once say, ‘It is better to forget’? What purpose is served by hauling forth the jar of inedible food? If it is not seen, it does not horrify. What is past recall is past pain” (45). Dies gilt insbesondere für die Erinnerung an Naomis Mutter. Bis ins Erwachsenenalter hält sich Obasan an ihre in einem kurz nach dem Krieg erhaltenen Brief geäußerte Bitte, ihren Kindern nichts von ihrem Schicksal in Nagasaki zu erzählen. „Kodomo no tame“, ‚um der Kinder willen’ ist die Devise, die auch die (Nicht-)Thematisierung der Internierung und Umsiedelung leitet. In dieser Gegenüberstellung stehen sich aber nicht nur zwei Formen der Vergangenheits- und Traumabewältigung gegenüber; der Text - und hier ist die Erzählperspektive zu berücksichtigen - stellt mit den beiden so unterschiedlichen Frauen auch zwei Generationen von Japanese Canadians , und damit auch kulturspezifische Assoziationen, einander gegenüber. Obasan ist eine Issei, eine Einwanderin, während Emily Kato eine Nisei ist, also der ersten in Kanada geborenen Generation angehört. In der Rezeption hat dies dazu geführt, dass die beiden auch bis zu einem Punkt als Vertreterinnen unterschiedlicher Kulturen - einer japanischen und einer nordamerikanischen - und deren Umgang mit traumatischen Erfahrungen zu lesen sind. King-Kok Cheung verweist auf die unterschiedlichen Assoziationen, die mit dem Schweigen verknüpft sind: in Nordamerika assoziiert mit Passivität, wird es in Japan mit kluger Bedächtigkeit in Verbindung gebracht; 14 sie argumentiert, dass die in der frühen Rezeption von Obasan vielfach vorgenommene Hie- 14 Cheung, King-Kok. Articulate Silences. Hisaye Yamamoto, Maxine Hong Kingston, Joy Kogawa. Ithaka 1993, S. 127. 222 Katja Sarkowsky rarchisierung von Schweigen und Sprechen und die teleologische Lesart von Naomis Entwicklung vom Schweigen (verstanden als Verdrängung) zur Möglichkeit des Sprechens - also von Obasans zu Emilys Position - zu eindimensional sei. Vielmehr stehen Schweigen und Sprechen in einem komplexen Verhältnis, wenn es um den Umgang mit traumatischen Erfahrungen geht: “Certainly, words can liberate, but they can also distort and wound; and while silence may obliterate, it also can minister, soothe, and communicate.” 15 In Obasan lotet Kogawa diese Aspekte in ihrem Zusammenspiel und ihren Widersprüchen aus. Der Roman greift Sprechen und Schweigen in den unterschiedlichsten Kontexten auf: mit Blick auf den historischen Rahmen, in dem japanischstämmige Kanadier vor der Wahl standen, sich zu wehren und als Staatsfeinde zu gelten, oder aber zu schweigen und das Unrecht zu ertragen; mit Blick auf die Gegenwart, in der vergangenes Unrecht vergessen werden soll, um Heilung zu ermöglichen, oder aber ausgesprochen werden muss, ebenfalls um Heilung zu ermöglichen; mit Blick auf die Geschichte der Mutter, in der deren Wunsch, ihre Kinder mögen nie etwas von ihrem schrecklichen Schicksal erfahren, um sie nicht zu belasten, gegen die Notwendigkeit steht, das Schweigen zu brechen, um so einen Abschluss und Abschied zu ermöglichen. Auch wenn die Entwicklung nicht als eine lineare vom Schweigen zum Sprechen gedacht wird, so ist das Verhältnis zwischen ihnen im Roman doch entscheidend für Naomis Entwicklung. Zusammen mit der Bewertung der beiden Tanten ändert sich auch ihr Verhältnis zum Schweigen über die Zeit. Die Aktivistin Emily wird über weite Teile des Romans von ihrer Nichte mit kritischer Distanz betrachtet, und Naomis Haltung scheint der ihrer Obasan nahezustehen. Emilys Aktivismus empfindet sie als laut, zudringlich und dem Schmerz nicht unbedingt angemessen: People who talk a lot about their victimization make me uncomfortable. It’s as if they use their suffering as weapons or as badges of some kind. From my years of teaching I know it’s the children who say nothing who are in trouble more than the ones who complain. (34) Ich stimme Cheung daher insofern zu, dass ‚Schweigen’ im Roman nicht per se schlecht ist; aber mit Blick auf die Protagonistin und Ich-Erzählerin wird dennoch deutlich, dass nicht so sehr das Sprechen als vielmehr das Erinnern zentral ist für die Möglichkeit, mit sich und ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen - zumal es auch Bereiche gibt, in denen Schweigen keineswegs als ambivalent dargestellt wird, so beispielsweise in Hinsicht auf den sexuellen Missbrauch, dem Naomi als Kind durch den Nachbarn der Familie ausgesetzt ist. Hier wird deutlich, dass Naomis Schweigen eben nicht Obasans Schweigen ist - und dies hängt mit der individuellen und kulturellen Kontextualisierung des Schweigens zusammen. Obasan ist und bleibt in dieser Hinsicht aus Naomis Perspektive Japanerin, während Naomi selbst sich als Kanadierin sieht, und diese individuelle kulturelle Verortung konstatiert sie zu Ende des Romans: “We come from our untold tales that wait for their telling. We come from Canada, this land that is like every land, filled with the wise, the fearful, the compassionate, the corrupt” (226). Genau dies tut Naomi letztendlich - sie erzählt. Sie thematisiert ihr Sprechen nicht, sondern sie spricht, gibt der Erinnerung verbale, oft assoziative Form. Wie Birgit Neumann hervorhebt: “Novels do not imitate existing versions of memory, but produce, in the act of discourse, that very past they purport to describe.” 16 Diese Vergangenheit 15 Cheung, Articulate Silences , S. 128. 16 Neumann, Erinnerung, Identität, Narration , S. 334. Joy Kogawa, Obasan 223 oszilliert durch die Kombination von Ich-Erzählung und anderen Stimmen und Materialien in einem Spannungsfeld subjektiver Erfahrung und verallgemeinerndem Anspruch, zwischen kritischer Dekonstruktion der Möglichkeit autoritativer Geschichtsschreibung und der gleichzeitigen Konstruktion einer Gegengeschichte. Die subjektive Erfahrung, der Verallgemeinerungsanspruch einer Unrechtserfahrung sowie die Konstruktion einer Gegengeschichte haben den Roman zu einem politisch erfolgreichen Text gemacht. Seine ästhetische Komplexität jedoch, die diese vermeintlich einfache Agenda konstant auch mit Blick auf die Möglichkeit von Geschichtsschreibung und Umgang mit traumatischen Erfahrungen - individuell und kollektiv - zweifelnd reflektiert und die letztendlich Naomi nur einen vorläufigen Abschluss eines Entwicklungsprozesses ermöglicht, macht diesen Roman auch weit über seinen unmittelbaren gesellschaftlichen und historischen Kontext hinaus zu einem der großen nordamerikanischen Texte des 20. Jahrhunderts. Literaturverzeichnis Primärliteratur Kogawa, Joy: Obasan. New York u. a. 1983. Forschungsliteratur Cheung, King-Kok: Articulate Silences. Hisaye Yamamoto, Maxine Hong Kingston, Joy Kogawa. Ithaka 1993. Dobson, Kit: Transnational Canadas. Anglo-Canadian Literature and Globalization. Waterloo, Ontario 2009. Helms, Gabriele: Challenging Canada. Dialogism and Narrative Techniques in Canadian Novels. Montreal 2003. Hutcheon, Linda: A Poetics of Postmodernism . London 1988. Jones, Manina: That Art of Difference. ‘Documentary-Collage’ and English-Canadian Writing. Toronto 1993. Kitagawa, Muriel: This is My Own: Letters to Wes and Other Writings on Japanese Canadians, 1941-1948. Hg. Roy Miki. Vancouver 1985. McFarlane, Scott: „Covering Obasan and the Narrative of Internment.“ Privileging Positions: The Sites of Asian American Studies. Hg. G. Okihiro. Pullman u. a. 1995. 401-411. Miki, Roy: Redress. Inside the Japanese Canadian Struggle for Justice. Vancouver 2005. Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin u. a. 2005. Sarkowsky, Katja: „‘Is this my own? ’ - Zugehörigkeit, Citizenship und Literatur“ in: Theorien der Literatur VI . Grundlagen und Perspektiven. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2013. 217-231. Sarkowsky, Katja: „Ambivalente Einschreibungen: ‚Citizenship‘ und ‚Nation‘ in japanischkanadischer Literatur.“ Politik in Nordamerika und Europa. Analysen, Theorien und literarische Rezeption. Hgg. Jan Grasnik und Katja Walter. Wiesbaden 2012. 109-129. Sunahara, Ann Gomer: The Politics of Racism. The Uprooting of Japanese Canadians During the Second World War. Ottawa 2000 [1981]. S. 23-43. 225 Die Beiträgerinnen und Beiträger Bettina Bannasch ist seit 2010 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Augsburg. Sie studierte Germanistik, Erziehungswissenschaft, Soziologie und Kunstgeschichte in Heidelberg und Berlin. Ihre Forschungsinteresse gilt unter anderem Transnationalität und Transkulturalität (in) der Literatur, deutsch-jüdischer Literatur seit der Haskala, Medien- und Gattungstheorie und Gender Studies, und Bild-Text-Bezügen in der Literatur der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Günter Butzer studierte Literaturwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Erlangen und München. Seit 2007 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Literaturwissenschaft / Europäische Literaturen an der Universität Augsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen unter anderem in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, der literaturwissenschaftlichen Symbolforschung und der Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur. Derzeit arbeitet er zum Dispositiv der inneren Rede, zur Physiologie der Literatur und zu Medienkulturen des Jenseits. Hans Vilmar Geppert. Studium, Promotion und Habilitation in Tübingen. Von 1984 bis 2006 war er Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft / Vergleichende Literaturwissenschaft in Augsburg. Wichtige Publikationen sind unter anderem: Der „andere“ historische Roman ; Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronenwächter“ ; Der realistische Weg ; Literatur im Mediendialog ; Der historische Roman : Geschichte unerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart ; Hrsg. Große Werke der Literatur Bd. 1 ff; Hg. Theorien der Literatur Bd. 1 ff. Jürgen Hillesheim ist seit 2011 Privatdozent am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Er studierte Germanistik, Katholische Theologie und Philosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Ab 1991 war er Leiter der Bertolt-Brecht-Forschungsstätte der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem Georg Büchner, Thomas Mann, NS -Literatur und Bertolt Brecht. Gerhard Kurz studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Heidelberg. Er war von 1984 bis 2008 Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte und allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Gießen. Sein Forschungsinteresse gilt unter anderem dem Werk Friedrich Hölderlins sowie der Ästhetik, der Literaturtheorie, der Sprachtheorie und der literarischen Hermeneutik. Freimut Löser studierte Deutsch und Englisch für das Lehramt an Gymnasien an der Universität Würzburg. Seit 2003 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Augsburg. Zu seinen Forschungsinteressen zählen unter anderem Sangspruchdichtung und Minnegesang, Handschriften und frühe Drucke, Editionstheorie, geistliche Prosa und regionale Literatur. 226 Die Beiträgerinnen und Beiträger Martin Middeke lehrt als Ordentlicher Professor seit 2001 Englische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Er studierte Anglistik, Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaften an der Universität Paderborn. Zu seinen Forschungsinteressen zählen unter anderem die Literatur der Englischen Romantik, Roman und Lyrik des 19. Jahrhunderts, Fin de Siècle, James Joyce - Samuel Beckett, der postmoderne Roman, das zeitgenössische englischsprachige Drama (insbesondere in England / Irland / Kanada), die Interrelationen zwischen Literatur und Historiographie, Biographie - Fiktionale Biographie, und intermediale Bezüge zwischen Literatur und Malerei. Timo Müller studierte Amerikanistik, Englische Literaturwissenschaft und Alte Geschichte an der Universität Augsburg und an der Brandeis University. Er promovierte im Fach Amerikanistik und ist derzeit als Vertretung der Professur für Amerikanistik an der Universität Regensburg tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Modernism, African American Studies, Postcolonialism, Transnationalism & Transatlanticism, und in den Environmental Studies. Katja Sarkowsky studierte American Studies , the New English Literatures und Medieval German Studies und wurde an der Goethe-Universität in Frankfurt a. M. im Fach Amerikanistik promoviert. Bis 2013 war sie Juniorprofessorin für Neue Englische Literaturen und Kulturwissenschaft an der Universität Augsburg; seit Oktober 2013 ist sie Inhaberin des Amerikanistiklehrstuhls an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Literaturen ethnischer Minoritäten in Kanada und den USA , Kulturtheorie, Postkoloniale Theorie, und Citizenship Studies . Kaspar H. Spinner studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Pädagogik an der Universität Zürich und der FU Berlin. Von 1988 bis 2006 war er Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Wichtige Publikationen sind unter anderem: Kreativer Deutschunterricht: Identität - Imagination - Kognition; Kurzgeschichten, kurze Prosa: Grundlagen, Methoden, Anregungen für den Unterricht ; Erziehung oder Lust am Ausleben von Fantasien? Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik ; Hrsg. SynÄsthetische Bildung in der Grundschule ; Hrsg. Lesekompetenz erwerben, Literatur erfahren . Christian Wehr ist seit 2015 Professor für spanische und französische Literaturwissenschaft an der Universität Würzburg. Er studierte Romanistik, Anglistik, Musikwissenschaft und Volkswirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität ( LMU ) in München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Grenzbereich von Literatur, Religions- und Kulturgeschichte, in der spanischen Literatur des Goldenen Zeitalters, im Bereich des lateinamerikanischen Kinos, im Manierismus als kunst- und literaturgeschichtliches Phänomen des 16. Und 17. Jahrhunderts, in der Entstehung des lateinamerikanischen Romans aus den Reiseberichten der Kolonialzeit, und im Wirken bayerischer Kapuziner in Chile. Hubert Zapf ist seit 1991 Inhaber des Lehrstuhls für Amerikanistik an der Universität Augsburg. Er studierte Englisch und Geschichte an der Universität Regensburg und promovierte und habilitierte an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen besonders auf den Gebieten der Literatur- und Kulturökologie, des Ecocriticism , der Neueren Amerikanischen Literatur, der Literaturgeschichte, und der Literatur- und Kulturtheorie.